Aktive Passivität: Krisis und Selbsttransformation der Subjektivität im Denken F.W.J. Schellings 9783495996850, 9783495996843


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German Pages [331] Year 2023

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Einleitung
1. Krisis und Selbsttransformation: Thema und These der Arbeit
2. Stand der Forschung zu den Erlanger Vorlesungen
3. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung
I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk
I.1 Kulmination und Krisis neuzeitlicher Subjektivität
1. Die Blütezeit der Subjektphilosophie bei Descartes, Kant und Fichte
2. Der Grund der Subjektivität beim frühen Schelling
3. Der Abfall vom Absoluten in Schellings Identitätsphilosophie
I.2 Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹
1. Der Übergang zur ›mittleren Philosophie‹
2. Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit
3. Verzweiflung und Selbsttransformation
II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität in Schellings Erlanger Vorlesungen
II.1 Titel und Aufbau der Erlanger Vorlesungen
1. Entstehungsgeschichtlicher Kontext der Erlanger Vorlesungen
2. Der Titel der Vorlesungen und dessen Deutungsperspektive für Schellings Anliegen
3. Aufbau der Erlanger Vorlesungen
II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)
1. Das ›Systemprogramm‹ der Erlanger Vorlesungen (VL 1–4)
a) Der Widerspruch als Voraussetzung des Systems (VL 1 und 3)
b) Das System der Freiheit als Organismus (VL 1 und 3)
c) Das dynamische Prinzip des Systems κατ' ἐξοχήν (VL 4)
2. Konsequenzen für das philosophierende Subjekt (VL 2)
II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)
1. Entzogenheit und Präsenz des Absoluten (VL 4)
2. Ausgriff 1: Die Lauterkeit der ewigen Freiheit (VL 12)
a) Der platonische Dialog Sophistes als Folie für den Begriff des Nicht-Seienden
b) Anknüpfungspunkte in der christlich-philosophischen Mystik
c) Die willenstheoretische Profilierung der ewigen Freiheit als Lauterkeit
3. Ausgriff 2: Täuschung und Selbstverfehlung der ewigen Freiheit (VL 24–26)
a) Das Gesetz der Freiheit
b) Die unvermeidliche Täuschung des Anfangs
c) Der ewige Zirkel der Freiheit
4. Die Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit (VL 5)
5. Der ewige Zirkel der Subjektivität (VL 6–7)
6. Die Mitwissenschaft des Menschen als anthropologische Grundverfasstheit (VL 5)
a) Wissen und Weisheit
b) Der ›offene Punkt‹ der Schöpfung
7. Die Krisis der Subjektivität (VL 4–7)
a) Die Selbstzurücknahme der Subjektivität als Selbstwerdung (VL 4)
b) Geforderte Entscheidung als Krisis (VL 6–7)
c) Vorgriff: Das Scheitern der Krisis (VL 10)
II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung
1. Die intellektuelle Anschauung als Vorform der Ekstasis
a) Die intellektuelle Anschauung beim frühen Schelling
b) Die intellektuelle Anschauung in der Naturphilosophie
c) Die intellektuelle Anschauung als Vernunftanschauung in der Identitätsphilosophie
d) Die Krisis der intellektuellen Anschauung
e) Übergangsformen zwischen intellektueller Anschauung und Ekstasis
2. Rezeptionszusammenhänge der Ekstasis
a) Schellings Plotin-Rezeption
b) Die theosophische Lesart der Ekstase bei Franz von Baader
3. Die Ekstasis und ihr Verhältnis zur intellektuellen Anschauung (VL 7–8)
a) Die Bedeutung der Ekstasis in den Erlanger Vorlesungen
b) Die Ekstasis in der Zeit
II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)
1. Der Prozess des Wissens (VL 8–9)
a) Freiheit und Notwendigkeit im Initialpunkt des Prozesses
b) Der Vollzug des Prozesses
2. Zeugung und Gleichursprünglichkeit der Pole (VL 9)
3. Reflexion und Realität des Wissens (VL 8–9)
a) Die vermittelte Unmittelbarkeit und die Prozessualität des Wissens
b) Die Begründung der Realität des Wissens
c) Die Umbildung des menschlichen Subjektes
4. Dialog und Dialektik (VL 9)
5. Philosophie der Anamnesis (VL 9–10)
6. ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 11)
II.6 Resümee: Skizze einer Neukonzeption der Subjektivität
III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling
III.1 Selbstüberwindung der Subjektivität im Zeitalter des Nihilismus?
III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert
1. Adorno und die ›aktive Passivität‹ der Kunstbetrachtung und des Denkens
2. Ausbildung der ›moralischen Phantasie‹ als ›aktive Passivität‹ bei Günther Anders
3. Entscheidung als mediales Geschehen ›aktiver Passivität‹ bei Heinrich Barth
4. Zusammenfassung
III.3 Ausblick: Die ›aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses
Literatur
1. Primärliteratur
2. Forschungsliteratur
Namensregister
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Aktive Passivität: Krisis und Selbsttransformation der Subjektivität im Denken F.W.J. Schellings
 9783495996850, 9783495996843

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Beiträge zur Schelling-Forschung 13

Johanna Hueck

Aktive Passivität Krisis und Selbsttransformation der Subjektivität im Denken F.W.J. Schellings

https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Beiträge zur Schelling-Forschung 13

Herausgegeben von Lore Hühn (Freiburg) Philipp Höfele (Berlin) Philipp Schwab (Freiburg) Paul Ziche (Utrecht)

https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Johanna Hueck

Aktive Passivität Krisis und Selbsttransformation der Subjektivität im Denken F.W.J. Schellings

https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Freiburg, Univ., Diss., 2021 ISBN 978-3-495-99684-3 (Print) ISBN 978-3-495-99685-0 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Danksagung

Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um die geringfügig überar­ beitete Fassung meiner Dissertation, die im Herbst 2020 an der Philo­ sophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität eingereicht wurde. An dieser Stelle möchte ich denjenigen danken, die Anteil an ihrem Entstehungsprozess genommen haben. Ein aufrichtiger und herzlicher Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Philipp Schwab. Er hat die Entstehung der Arbeit von Anfang an unterstützt und stand mir mit unersetzlichem fachlichen Rat und produktiver Kritik zur Seite. Ebenso herzlich danke ich Frau Prof. Dr. Lore Hühn für ihre unterstützende Begleitung in der Ausarbeitung der Schrift. Herrn Prof. Dr. Ruhstorfer danke ich für die Übernahme des Drittgutachtens. Danken möchte ich außerdem dem Evangelischen Studienwerk Villigst für die Gewährung eines Promotionsstipendiums und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für die Übernahme eines Druckkostenzuschusses. Herrn Hähnel vom Verlag Karl Alber in Frei­ burg danke ich für die Aufnahme in das Verlagsprogramm, ebenso den Herausgebern der Reihe. Die Entstehung einer Dissertationsschrift lebt von Austausch und Gespräch. In diesem Zusammenhang bin ich besonders dankbar für die anregenden Diskussionen und die produktive Arbeitsatmosphäre in den Graduiertenkolloquien von Prof. Dr. Philipp Schwab und Prof. Dr. Lore Hühn in Freiburg. Für inhaltliche Anregungen danke ich Alexander Bilda, Louisa Estadieu, Philipp Höfele, Jan Kerkmann, Georg Spoo, Martin Wittwer und Sören Wulf. Prof. Dr. Harald Schwaetzer und Dr. Lydia Fechner sowie den Kol­ leginnen und Kollegen und Studierenden am Philosophischen Seminar der Kueser Akademie danke ich für den lebendigen Gedankenaustausch, den Rückhalt und den gemeinsamen Weg. Fabian Warislohner sei ein besonderer Dank ausgesprochen für die Unterstützung bei den Korrekt­ uren und der Erstellung des Registers. Dankbar bin ich meiner Familie für ihre Begleitung und meinem Weggefährten Christoph Schomann

V https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Danksagung

für sein beständiges Mittragen. Widmen möchte ich die Arbeit Anna Berres (†2017).   Herdecke, an Pfingsten 2022

VI https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.

Krisis und Selbsttransformation: Thema und These der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.

Stand der Forschung zu den Erlanger Vorlesungen

3.

Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung

. . . .

1 6 15

. .

26

I.

Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

I.1

Kulmination und Krisis neuzeitlicher Subjektivität . . . . 1. Die Blütezeit der Subjektphilosophie bei Descartes, Kant und Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Grund der Subjektivität beim frühen Schelling . . 3. Der Abfall vom Absoluten in Schellings Identitätsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹ 1. Der Übergang zur ›mittleren Philosophie‹ . . . . . . 2. Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit . . . . . . 3. Verzweiflung und Selbsttransformation . . . . . . . .

48 48 53 55

II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität in Schellings Erlanger Vorlesungen . . . . . . . . . . . .

61

I.2

II.1 Titel und Aufbau der Erlanger Vorlesungen . . . . . 1. Entstehungsgeschichtlicher Kontext der Erlanger Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Titel der Vorlesungen und dessen Deutungsperspektive für Schellings Anliegen . . 3. Aufbau der Erlanger Vorlesungen . . . . . . . .

33 39 44

. . .

62

. . .

63

. . . . . .

65 69

VII https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Inhalt

II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4) . . . . . . . . . 1. Das ›Systemprogramm‹ der Erlanger Vorlesungen (VL 1–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Widerspruch als Voraussetzung des Systems (VL 1 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das System der Freiheit als Organismus (VL 1 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das dynamische Prinzip des Systems κατ' ἐξοχήν (VL 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konsequenzen für das philosophierende Subjekt (VL 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. .

71

. .

71

. .

78

. .

84

. .

89

. .

96

II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entzogenheit und Präsenz des Absoluten (VL 4) . . . 2. Ausgriff 1: Die Lauterkeit der ewigen Freiheit (VL 12) a) Der platonische Dialog Sophistes als Folie für den Begriff des Nicht-Seienden . . . . . . . . . . . . b) Anknüpfungspunkte in der christlichphilosophischen Mystik . . . . . . . . . . . . . . c) Die willenstheoretische Profilierung der ewigen Freiheit als Lauterkeit . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausgriff 2: Täuschung und Selbstverfehlung der ewigen Freiheit (VL 24–26) . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Gesetz der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . b) Die unvermeidliche Täuschung des Anfangs . . . . c) Der ewige Zirkel der Freiheit . . . . . . . . . . . 4. Die Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit (VL 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der ewige Zirkel der Subjektivität (VL 6–7) . . . . . . 6. Die Mitwissenschaft des Menschen als anthropologische Grundverfasstheit (VL 5) . . . . . . . . . . . . . . . a) Wissen und Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . b) Der ›offene Punkt‹ der Schöpfung . . . . . . . . . 7. Die Krisis der Subjektivität (VL 4–7) . . . . . . . . . a) Die Selbstzurücknahme der Subjektivität als Selbstwerdung (VL 4) . . . . . . . . . . . . . . . b) Geforderte Entscheidung als Krisis (VL 6–7) . . . . c) Vorgriff: Das Scheitern der Krisis (VL 10) . . . . .

VIII https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

101 102 106 108 110 113 117 118 121 127 131 134 138 143 146 148 149 155 159

Inhalt

II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung . . . 1. Die intellektuelle Anschauung als Vorform der Ekstasis a) Die intellektuelle Anschauung beim frühen Schelling b) Die intellektuelle Anschauung in der Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die intellektuelle Anschauung als Vernunftanschauung in der Identitätsphilosophie d) Die Krisis der intellektuellen Anschauung . . . . . e) Übergangsformen zwischen intellektueller Anschauung und Ekstasis . . . . . . . . . . . . . 2. Rezeptionszusammenhänge der Ekstasis . . . . . . . a) Schellings Plotin-Rezeption . . . . . . . . . . . . b) Die theosophische Lesart der Ekstase bei Franz von Baader . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ekstasis und ihr Verhältnis zur intellektuellen Anschauung (VL 7–8) . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung der Ekstasis in den Erlanger Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ekstasis in der Zeit . . . . . . . . . . . . . .

162 163 164

II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11) . 1. Der Prozess des Wissens (VL 8–9) . . . . . . . . . a) Freiheit und Notwendigkeit im Initialpunkt des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Vollzug des Prozesses . . . . . . . . . . . . 2. Zeugung und Gleichursprünglichkeit der Pole (VL 9) 3. Reflexion und Realität des Wissens (VL 8–9) . . . . a) Die vermittelte Unmittelbarkeit und die Prozessualität des Wissens . . . . . . . . . . . b) Die Begründung der Realität des Wissens . . . . c) Die Umbildung des menschlichen Subjektes . . . 4. Dialog und Dialektik (VL 9) . . . . . . . . . . . . 5. Philosophie der Anamnesis (VL 9–10) . . . . . . . 6. ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 11) .

. .

204 206

. . .

208 213 218 226

. . . . . .

229 232 236 237 244 248

II.6 Resümee: Skizze einer Neukonzeption der Subjektivität

167 171 173 175 180 182 188 191 192 200

256

IX https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Inhalt

III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

III.1 Selbstüberwindung der Subjektivität im Zeitalter des Nihilismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert . . . . . . 1. Adorno und die ›aktive Passivität‹ der Kunstbetrachtung und des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausbildung der ›moralischen Phantasie‹ als ›aktive Passivität‹ bei Günther Anders . . . . . . . . . . . . 3. Entscheidung als mediales Geschehen ›aktiver Passivität‹ bei Heinrich Barth . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

268 270 273 277 282

III.3 Ausblick: Die ›aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . .

284

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

1.

Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

2.

Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

313

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

X https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Einleitung

Das neuzeitliche Denken, das seit Descartes von der Souveränität eines diskursiven Selbstbewusstseins geprägt wurde, erweist sich spätestens in Zeiten von anhaltenden gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und vor allem ökologischen Krisen als erodiert. Insbesondere die Problematik der Vergegenständlichung und Beherrschung der Natur wird hinsichtlich einer zunehmend stärker ins Bewusstsein tretenden ökologischen Problemlage augenfällig. Sie ist mit dem neuzeitlichen Denken aufs engste verwoben, denn es ist gerade die in der Neuzeit ausgebildete Form der Rationalität, die, ausgehend von der starren Ent­ gegensetzung von Subjekt und Objekt, die Natur letztlich als menschliche Konstruktion begreift1 und ihr damit eine Eigenwesenheit abspricht. Insbesondere in der Form technischer Entwicklungen zeigt sich das damit einhergehende Phänomen von Macht und Machbarkeit, das das neuzeitliche Naturverhältnis maßgeblich geprägt hat und die Natur als Reservoir menschlicher Zwecksetzung versteht. Die Folgen davon werden sichtbar in den unwiederbringlichen Veränderungen und Zerstö­ rungsphänomenen der Natur durch den Einfluss des Menschen, von denen exemplarisch das zunehmende Artensterben, eine ausgreifende Degeneration von Böden und eine immer stärkere ›Vermüllung‹ des Planeten, die in bisher ungekanntem Ausmaß z.B. durch Mikroplastik alle Lebensräume durchdringt, genannt werden können. Angesichts der Zerstörung der Natur erfährt sich der Mensch als Täter und Opfer, Subjekt und Objekt zugleich, da er mit der Reichweite seines heutigen Handelns »im Verfügen über die Natur […] zugleich über die Bedingun­ gen seines eigenen Lebens«2 verfügt. Gerade durch die immer stärker hervortretende Gefährdung des Lebens im Allgemeinen wird deutlich, wie eng der Mensch mit diesem natürlichen Leben verbunden ist, wie sehr sein eigenes Leben von dem Leben der Natur abhängt und wie stark die Wirkungen seines Handelns auf ihn selbst zurückfallen. Das Hervortreten dieser Problematik geht einher mit einem allgemeinen 1 2

Vgl. Hösle 1994, 46. Picht 1989, 94.

1 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Einleitung

Misstrauen gegenüber der neuzeitlichen Auffassung eines selbstbestimm­ ten Subjekts. Wenn dieses selbstbestimmte Subjekt der Ausgangspunkt und Urheber der augenfälligen Zerstörung ist, dann scheint das zentrale Projekt der Neuzeit – die Aufklärung als Emanzipation des Subjekts aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit – gescheitert zu sein. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Zweischneidigkeit der Eman­ zipationsbewegung der Neuzeit ganz allgemein zunächst wie folgt anzei­ gen. Ihr Triumph gründet auf dem Leitstern neuzeitlichen Philosophie­ rens: der Entdeckung der grundlegenden Bedeutung der Subjektivität für ein System sicheren Wissens. Als Befreiung des Menschen von der Unmündigkeit dogmatischer Philosophie initiiert und gefeiert, zeigt die Subjektphilosophie ihre Kehrseite allerdings in der ihr inhärenten Gefahr eines unüberbrückbaren Dualismus, an dem sich die Kritik entzündet, die mit der Würdigung der Errungenschaften zugleich mögliche Einsei­ tigkeiten anprangert. Zwar bildet die Emanzipation des Subjektes von seiner natürlichen Eingebundenheit in den Kosmos und die Sozialität die Bedingung der Möglichkeit einer mündigen, freien Individualität; nur aus dieser Emanzipationsbewegung konnte der Boden entstehen für die Entwicklung moderner Naturwissenschaften, für die technologischen Revolutionen der letzten zweihundert Jahre und für die Entstehung moderner Gesellschaften. Die Emanzipationsbewegung ist aber zugleich der Ausgangspunkt für eine scharfe Gegenüberstellung von Mensch und Welt.3 Die Folge davon ist das Wegbrechen eines selbstverständlichen Weltbezuges und die Gefahr eines radikalen Solipsismus, der letzten Endes zum Verlust des Selbstbezuges führen muss. Insofern geht die Emanzipationsbewegung notwendig einher mit einer doppelten Gefähr­ dung: Durch die Loslösung des Subjektes aus seiner Eingebundenheit in eine höhere Ordnung – sei sie gesellschaftlicher, kosmologischer oder theologischer Art – besteht die Gefahr einerseits der Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung, die in einer selbsterwählten Machtstellung des Menschen und einer grundlegenden Verobjektivierung von allem ›Ande­ ren der Subjektivität‹ – seien es andere Menschen, sei es die Natur oder sei es das Göttliche – sich auslebt. Andererseits besteht für das Subjekt in seiner Losgelöstheit die Gefahr, sich in Sinnlosigkeit, Nihilismus und letztlich in der Ohnmachtserfahrung eines grundlegenden Selbstverlus­ tes wiederzufinden. Welt- und Selbstverlust bedingen sich als doppelte Gefährdung des emanzipierten Subjektes gegenseitig und bilden darin 3

Vgl. bspw. Cassirer 1987.

2 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Einleitung

als Kehrseite der Freiheitsmöglichkeit des Subjektes den Abgrund der Moderne, aus dem sich nicht zuletzt die gegenwärtigen Krisen speisen. Diese Feststellung ist nicht neu. Spätestens seit Nietzsche ist die Abgründigkeit des modernen Subjekts und dessen vermeintliche Sou­ veränität und Machtstellung als Grund für die Tendenz der Vergegen­ ständlichung insbesondere der Natur aufgedeckt worden. In der Folge wird in den Diskussionen im Umkreis der ›Kritischen Theorie‹ das Ausgeliefertsein des Einzelnen an unkontrollierbare anonyme Prozesse in Gesellschaft, Politik und Geschichte betont, die mit einer Erfahrung der Ohnmacht einhergehen. In der Postmoderne und im Neostruktura­ lismus gipfelt diese Entwicklung bekanntlich im Diktum vom ›Tod des Subjekts‹4 und findet seinen Ausdruck in dem berühmten Ausspruch Foucaults, nach dem »der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.5 Das Subjekt wird als Zerfallendes, als Produkt von Machtkonstellationen und Ideologien, als Opfer von Diskontinuität und Kontingenz6 oder lediglich als sprachlich konstituierte Position im Satz aufgefasst.7 Das Ergebnis dieses philosophischen Misstrauens gegenüber dem selbstbestimmten Subjekt ist die Tendenz einer latenten Misanthropie, die jeglichen Humanismus als Hybris auffasst. Angesichts der ökologischen Krise stellt sich allerdings die Frage, wie sich ein gewandelter Naturbegriff und eine damit einhergehende Verantwortung gegenüber der Natur stark machen lässt, wenn das menschliche Subjekt als Träger dieser Verantwortung zerfallen ist? Wird nicht gerade an dieser Stelle deutlich, dass die Negierung des Subjekts zu einer Preisgabe verantwortungsethischer Dimensionen führt, die in den gegenwärtigen Krisen mehr denn je gefordert sind?8 Es wäre verfehlt, die Phänomene der Massengesellschaft, der zunehmenden Anonymisierung und die Ohnmachtserfahrungen des modernen Menschen notwendiger­ weise mit der Forderung einer Annihilation des Subjekts zu verbinden, denn wer, wenn nicht das menschliche Subjekt, kann Verantwortung übernehmen für ein bedachtes Umgehen mit Krisen und ein beherztes Handeln angesichts starker gesellschaftlicher Umbrüche? Wenn nun aber die der Welt gegenüberstehende und insofern isolierte, selbstgenügsame Subjektivität zugleich die Ursache des Problems ist, da sie nicht anders kann, als sich vergegenständlichend und damit verzweckend und aneig­ 4 5 6 7 8

Vgl. Nagl-Docekal/Vetter 1987. Foucault 1974, 462. Vgl. Zima 2000, 3f. Lyotard 1983, § 18. Vgl. Höfele 2021b, 364.

3 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Einleitung

nend der Natur und der gesamten Mitwelt gegenüber zu verhalten und zugleich eine Auslöschung dieses Subjekts keine Lösung darstellt, dann liegt der einzige Ausweg offenbar in einer produktiven Transformation des Subjekts. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Nachdenken über kon­ struktive Neukonzeptionen der Subjektivität jenseits einseitiger Weltund Naturaneignung als eine nicht unerhebliche Grundlagenreflexion innerhalb aktueller Problemfelder. Es entsteht die Frage nach einem produktiven Umgang mit der abgründigen Kehrseite der Emanzipations­ geschichte mitteleuropäischen Denkens, denn weder die unhinterfragte Machtstellung des Subjektes, noch die resignative Haltung passivischer Ohnmacht, erscheinen geeignet, der Problematik eines einseitigen Sub­ jektivitätsdenkens und der damit verbundenen Zerstörung der Natur Konstruktives entgegenzusetzen. Es ist vielmehr zu fragen, wie ein Subjektivitätsbegriff zu denken wäre, bei dem das Subjekt die verantwor­ tete Souveränität aufrecht erhält, ohne sich dabei für sein Gegenüber zu verschließen oder es durch seinen verobjektivierenden Zugriff zu negieren, wenn nicht gar zu zerstören. Diese Frage bildet einen Fokus modernen und nachmodernen Denkens, der sich in der Debatte um eine Überwindung der starren Subjekt-Objekt-Trennung konzentriert, und liefert zugleich die Folie für die vorliegende Arbeit. Dabei scheint es sinnvoll, diese Frage nicht nur in ihren Ausprä­ gungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu diskutieren, sondern ihr erstes Aufkommen innerhalb der Blütezeit der Subjektivität in der Klassischen deutschen Philosophie in den Blick zu nehmen, lassen sich doch im Sinne einer geschichtlich-genealogischen Herange­ hensweise Problemfelder heutigen Denkens nicht in aller Tiefe verstehen ohne Einbezug ihrer Entstehung und historischen Entwicklung. Gerade darin zeigt sich die Bedeutung von Philosophiegeschichte, dass sie – gleichsam als geistige Evolution – den Boden unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses bildet, und in diesem Sinne zur Klärung aktueller Fragestellungen eine notwendige Voraussetzung darstellt. Dabei sind es insbesondere diejenigen Momente in der Geschichte, in denen in spannungsvollem Widerspruch zuvor Errungenes in Frage gestellt wird, indem Einseitigkeiten und damit einhergehende Verhärtungen der Para­ digmen sichtbar werden, die für einen geschichtlich-genealogischen Ansatz besonders vielversprechend sind. Hier fallen in einer Gleichzei­ tigkeit von Kontinuität und Diskontinuität Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichsam in eins, indem Abstoßungsbewegungen von

4 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Einleitung

der Vergangenheit zugleich als mögliche Problemfelder der Zukunft auf­ scheinen. Als ein in dieser Weise spannungsvoller Zeitpunkt in der Geschichte lässt sich das Philosophieren um 1800 verstehen. Gerade vor dem Hin­ tergrund der Frage nach konstruktiven Neukonzeptionen des neuzeitli­ chen Subjektivitätsverständnisses kann dieses geschichtliche Moment als paradigmatisch angesehen werden, denn hier tritt das Nachdenken über das menschliche Subjekt in eine Blütezeit, die zugleich kritische Fragen und ein erstes Problembewusstsein auf den Plan ruft. Schon in der nachkantischen Philosophie bildete die Debatte um eine Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung den Antrieb philosophischer Innovationen. Die mit ihr einhergehende Problematik einer doppelten Gefährdung von Übermacht und Ohnmacht der Subjektivität wurde nicht erst in der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts sozusagen nachträglich zum tatsächlichen Eintreten der Abgründigkeit diagnostiziert. Gerade die Zeit der »Entdeckung der Subjektivität«9 zeichnet sich durch ein erstaunlich differenziertes Problembewusstsein hinsichtlich der Gefahr der Vereinseitigung eines suisuffizienten Subjekts aus und liefert zudem Ansätze zu ihrer Vermeidung, ohne in den Dogmatismus der vorkanti­ schen Philosophie zurückzufallen.10 Als derjenige Denker, der dieses Problembewusstsein wie kein anderer zum Austrag gebracht hat, ist Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu nennen. In seiner Philosophie, zunächst freilich dem Projekt idealis­ tischer Subjektivitätsbegründung verpflichtet, wird die unhinterfragte Selbstgenügsamkeit der Subjektivität in Frage gestellt. Schelling weist als einer der Ersten explizit auf die Gefahren der Verabsolutierung wissenschaftlicher und subjektzentrierter Rationalität im Verhältnis zur Natur hin. Weil die neuzeitliche Philosophie Subjektivität auf das empi­ rische Bewusstsein beschränke, gelange sie zu einem reduktionistischen Naturbegriff. Natur wird nicht mehr als »selbstlebendig« aufgefasst, sondern als tote Ressource (SW VII, 19). Dabei ist es Schellings soge­ nannte ›mittlere Philosophie‹ – die Werkphase von 1809 bis zum Beginn der Spätphilosophie um 1827 – in der die Abgründigkeit neuzeitlicher Iber 1999, 11. Dieses Problembewusstsein wird beispielsweise früh in Hölderlins Seyn und Urtheil virulent (vgl. Schulz 1986 sowie Frank 1985) und spiegelt sich zugleich in den frühroman­ tischen Fichte-Studien von Novalis – beides Entwürfe, die die Kritik der Selbstbegründung und Selbstdurchsichtigkeit der Subjektivität im 20. Jahrhundert vorwegnehmen (vgl. Iber 1999). Lore Hühn hat die These vertreten, nach der im Idealismus von Beginn an eine Tendenz zu seiner Selbstaufhebung am Werk sei (vgl. Hühn 1996, VII). 9

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Einleitung

Subjektivität in ausgezeichneter Weise im Fokus steht. In dieser Zeit zielt Schellings Denken im Zentrum auf den Konflikt von emanzipatorischer Freiheitsbegründung und der ihr inhärenten doppelten Gefahr von Weltund Selbstverlust. Es ist insofern nicht verwunderlich, wenn Werke aus dieser Schaffensphase im 20. Jahrhundert besondere Beachtung erfahren haben.11 Die folgende Untersuchung soll zeigen, dass es die sogenannten Erlanger Vorlesungen von 182112 sind, die die Forderung nach einer Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität am deutlichsten thema­ tisieren: Sie stellen die Krisis der Subjektivität in den Mittelpunkt der Überlegungen und liefern zugleich entscheidende Aspekte zu einer Neukonzeption des Subjektivitätsparadigmas. In einer doppelten Ausar­ beitung von Diagnose und Therapie sucht Schelling, so die These, der Zweischneidigkeit der Subjektivität Rechnung zu tragen. Aus diesem Grund bilden die Erlanger Vorlesungen den Ausgangspunkt der vorlie­ genden Untersuchungen, die Schellings Kritik am cartesianisch gepräg­ ten Subjektivitätsverständnis und seinen Ansatz zu einer Reformulierung desselben in den Blick nehmen.

1. Krisis und Selbsttransformation: Thema und These der Arbeit Ziel dieser Arbeit ist es, ein Zweifaches zu zeigen: Einerseits steht Schel­ lings Kritik am transzendentalphilosophischen Projekt autosuffizienter Subjektivität im Mittelpunkt, wie er sie maßgeblich in seiner ›mittleren Philosophie‹ und insbesondere in den Erlanger Vorlesungen von 1821 for­ muliert. Es soll gezeigt werden, dass Schelling mit dieser Kritik die prob­ lematische Kehrseite selbstgenügsamer Subjektivität in den Blick nimmt, indem er ihren verobjektivierenden Zugriff auf die Welt und insbeson­ dere auf die Natur als negativistisch geprägten Verkehrungszusammen­ hang entlarvt. Andererseits wird die These vertreten, dass Schelling hier nicht nur eine fundamentale Kritik am neuzeitlichen Subjektivitätsver­ ständnis vornimmt, sondern zugleich einen positiven und noch heute

Ein Beispiel hierfür bildet die breit rezipierte sog. Freiheitsschrift. Mit den »Erlanger Vorlesungen« sind hier und im Folgenden die ersten Vorlesungen gemeint, die Schelling im Winter 1821 in Erlangen unter dem Titel Initia Philosophiae Universae gehalten hat. 11

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aktuellen Gegenentwurf präsentiert, der zunächst terminologisch in der medialen Figur einer ›aktiven Passivität‹ gefasst werden soll.13 Dieser Gegenentwurf, dessen Darstellung im Zentrum der Untersu­ chung steht, lässt sich vorab folgendermaßen anzeigen: Er zeichnet sich durch die Forderung einer radikalen Selbsttransformation der Subjekti­ vität aus, die eine Sprengung des verobjektiverenden Bewusstseinsmodus impliziert. Weil die neuzeitliche Subjektivität dadurch gekennzeichnet ist, dass sie aufgrund der sie konstituierenden Subjekt-Objekt-Spaltung immer auf ein ›Etwas‹ bezogen ist, bzw. ein ›Etwas‹ will, ist ihre Transformation nur möglich auf der Grundlage einer durchgreifenden Zurücknahme des objektzentrierten Willens und damit einer grundle­ genden Selbstzurücknahme der Subjektivität. Im Folgenden wird gezeigt, dass sich dadurch ein Raum eröffnet, in dem sich das vermeintlich objekthaft verfasste Gegenüber der Subjektivität aussprechen kann, ohne vergegenständlicht zu werden. Damit einher geht ein gewandelter Bewusstseinsmodus bzw. ein gewandelter Begriff des Wissens, der, so die These, die scharfe Subjekt-Objekt-Spaltung des cartesischen Ansatzes überwindet, ohne die Eigenständigkeit der Subjektivität aufzugeben. Im Ergebnis wird dadurch ein Ethos beschreibbar, das jenseits der Dichoto­ mie von autonomer Macht sowie resignativer Ohnmacht eine Haltung ›aktiver Passivität‹ denkbar macht. Als ›aktive Passivität‹ wird hier insofern ein Modus des Selbstvollzuges der Subjektivität verstanden, der sich nicht durch ausschließliche Spontaneität auszeichnet, sondern sich als Selbstvollzug zugleich durch ein Anderes konstituiert weiß. Dieses Andere erscheint dabei nicht als objekthaft verfasstes und vollständig erfassbares Gegenüber, sondern als sich zugleich aussprechendes und entziehendes ›Mitwesen‹, mit dem die Subjektivität in einen dynami­ schen Wechselvollzug eintritt. Entscheidend ist, dass es sich bei diesem Wechselvollzug um eine Form des Verhältnisses handelt, die weder mit den Kategorien der linearen Ursache-Wirkungs-Relation gefasst werden kann, wie es bei einer Wechselwirkung zwischen zwei Objekten der Fall ist, noch auch mit denjenigen der reinen Zwecksetzung, zumal wenn diese aus der Der Terminus »aktive Passivität« wurde unter anderem von Martin Seel in seinem gleichnamigen Buch verwendet. Vgl. Seel 2014. Seel entlehnt ihn von Adorno. Auch bei Heinrich Barth findet er sich wörtlich wieder. Beide Bezüge werden in Kapitel III.2 aufgegriffen. Im Kontext dieser Arbeit steht der Ausdruck für einen Vollzug, der die Neukonzeption der Subjektivität bei Schelling im Kern trifft, auch wenn Schelling den Terminus selbst nicht gebraucht. 13

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Einleitung

Subjektperspektive auf ein objekthaftes Gegenüber gerichtet ist und dieses Gegenüber damit notwendig verzweckt. Sie lässt sich ebenfalls nicht im Sinne einer organischen Wechselwirkung fassen, wie sie in der Diskussion um den Organismusbegriff im Anschluss an Kants Überlegungen in der Kritik der Urteilskraft thematisch wird,14 bei der ein Glied zugleich Ursache und Wirkung des anderen ist. Diese Art der Relation zwischen zwei Instanzen kommt zwar nahe an das hier entwickelte Verhältnis heran, da es sich dabei um ein Wechselbezug handelt, bei dem die Instanzen konstitutiv aufeinander bezogen sind, ohne ihre jeweilige Eigenheit, also ihre spezifische Funktion und Rolle im gesamten des Organismus, aufzugeben, allerdings fehlt den Relata des Organismus – mindestens im kantischen Sinne15 – die subjekthaft verfasste Spontaneität, die in dem hier vorliegenden Relationsgefüge trotz allem Absehen von einer selbstgenügsamen Subjektivität dennoch nicht vollständig aufgegeben wird. Da es sich bei der von Schelling in den Erlanger Vorlesung entwickelten Art der Bezüglichkeit um ein Verhältnis zwischen zwei Subjekten handelt, ließe sich denken, dass z.B. die menschliche Begegnung als Folie gelten kann für die hier vorliegende Verhältnishaftigkeit. Allerdings geht es bei Schelling – wie zu zeigen sein wird – nicht um die Bezogenheit eines bereits gegebenen Subjektes auf ein anderes gegebenes Subjekt, die als bereits gebildete Relata gleichsam ›nachträglich‹ in eine Relation eintreten, sondern die beiden Subjekte sind von Anfang so aufeinander bezogen, dass ihre Relation und sie selbst als Relata zugleich hervortreten – wenn auch zunächst in einer verkehrten Weise, die die Illusion des Getrenntseins entstehen lässt. Erst mit der Selbstverwandlung des menschlichen Subjektes durch das Absehen von dem verobjektivierenden, verzweckenden Zugriff auf das Andere, tritt die eigentliche Form der Relation in actu ein, die zuvor lediglich in potentia dem Gefüge zugrunde lag. Mit Blick auf das menschliche Subjekt bezeichnet die ›aktive Passivität‹ insofern den paradoxalen Vollzug des Innewerdens dieses ›Mitwesens‹ im menschlichen Bewusstsein, der die Spannung zwischen diesem und der Autonomie des erkennenden Subjekts nicht überwinden muss, sondern sich vielmehr aus und in eben jener Spannung konsti­ tuiert. Dies ist nur möglich, wenn das Subjekt weder bloß aktivisch Vgl. hierzu Kapitel II.2. Geht man von Kant zu Schellings ersten naturphilosophischen Schriften, findet sich ein Verständnis der organischen Natur, bei der diese selbst subjekthaft wird. Vgl. hierzu Kapitel II.1 sowie Kapitel III.3.

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1. Krisis und Selbsttransformation: Thema und These der Arbeit

tätig wird, denn dann fällt es gegenüber dem Anderen notwendig in einen verobjektivierenden Modus, noch bloß passivisch das Andere auf sich wirken lässt, da dabei dasselbe in umgekehrter Rollenverteilung geschieht. Nur in einem Vollzug, der zwar aktivisch hervorgebracht wird, dabei jedoch zugleich empfänglich und insofern passivisch bleibt, ein Vollzug, der empfängt, indem er hervorbringt und hervorbringt, indem er empfängt,16 der sich demnach durch Aktivität und Passivität zugleich auszeichnet, kann eine Form der Relationalität entstehen, die eine Verbindung ohne Auflösung der Relata, ein Ineinsgehen ohne Aufgabe der jeweiligen Identität, und insofern ein völlig machtfreies Verhältnis darstellt. Dabei ist das Verhältnis als konstitutives Verhältnis so verfasst, dass es selbst sowohl durch die Relata gebildet wird und zugleich die Relata konstituiert. Nicht nur die beiden Instanzen sind zugleich aktiv und passiv, sondern konsequenterweise verhält sich auch das Verhältnis selbst gegenüber den Relata ›aktiv-passivisch‹. Das Zugleich von Aktivität und Passivität, das in der Wechselwir­ kung der Relata entsteht und für Schelling lediglich momenthaft aktuell werden kann, wird hier als Medialität gedeutet und zwar insofern, als dieser Begriff einerseits den genus verbi bezeichnet, der jenseits des Gegensatzes von aktiver und passiver Verbform liegt, und andererseits das ›Zwischen‹ als Ort des eigentlichen Geschehens markiert, an dem die Alternativen von Dualität (also der Gegenüberstellung zweier Instan­ zen) und Einheit (im Sinne einer Einerleiheit) nicht gelten. Dies wird allerdings nur deshalb möglich, weil das bezeichnete ›Zwischen‹ im eigentlichen Sinne kein Ort, sondern ein zeitlich verfasstes Geschehen im Sinne eines Aktes der Begegnung ist. Vor diesem Hintergrund soll mithilfe der ›aktiven Passivität‹ eine Form der Subjektivität gefasst werden, die sich nicht durch Abgren­ zung bzw. reine Selbstbezüglichkeit, sondern vielmehr durch eine grund­ legende Offenheit für das Andere auszeichnet. Das Subjekt steht dabei der Welt und den Mitwesen nicht mehr gegenüber und greift, gleich­ sam von seinem vermeintlich zentralen, herausgehobenen Standpunkt aus, auf diese zu, sondern es bildet sich vom Umkreis her und weiß sich konstituiert durch seine Einbettung in diesen Umkreis, ohne sich selbst aufzugeben. Die ›aktive Passivität‹ als systematische Figur eines 16 Vgl. hierzu auch die Charakterisierung des Spieltriebs in Schillers ›Ästhetischen Briefen‹: »Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen: der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.« Schiller, NA 20, 378.

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Einleitung

Selbstvollzuges der Subjektivität aus den Ausführungen Schellings von 1821 herauszuarbeiten, ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Da die Genese dieses Ansatzes ihre Spur durch Schellings gesamtes Werk zieht, ist vorweggreifend anzuzeigen und zu begründen, welche Stellung die Erlanger Vorlesungen in diesem Zusammenhang einnehmen, um damit die Wahl dieser Textgrundlage für die vorliegende Arbeit zu begründen. In seinem Frühwerk ist Schelling selbst bekanntlich dem Projekt idealistischer Grundlegung aus dem Ich verpflichtet. Im Anschluss an Kant und Fichte wird ihm der Begriff des ›absoluten Ichs‹ zum Ausgangspunkt des Philosophierens. Schritt für Schritt wird im weiteren Werkverlauf die Selbstgenügsamkeit der Subjektivität systema­ tisch hinterfragt, so beispielsweise in der Naturphilosophie durch die Betonung des Realen gegenüber dem Idealen. Die Spannung zwischen der Subjektivität und der Unbedingtheit des vorgängigen Grundes, die in der Identitätsphilosophie Schellings ab 1801 in der Figur der absoluten Identität als systembegründendes Prinzip entworfen wird, erfährt in der Freiheitsschrift von 1809 durch den Eintrag einer dynamischen Kon­ zeption des Absoluten eine entscheidende Zuspitzung, die in der Figur der systematischen Entzogenheit des Ungrundes vorgestellt wird.17 In der damit einhergehenden Betonung des Bösen als Vollzug menschli­ cher Freiheit wird der unhintergehbare Verkehrungszusammenhang endlicher Subjektivität als Grundstruktur der gesamten Welt dargelegt. Dessen Fundierung in der unvordenklichen Urdezision der sogenann­ ten ›intelligiblen Tat‹ fordert zugleich ihre Transformation in einem zweiten Anfang, deren Konsequenz – so die These – erst in Erlangen vollständig gezogen wird. Denn auch wenn die ab 1810 ausgearbeiteten, aber nicht publizierten Weltalter-Fragmente eine solche Forderung nach Selbsttransformation bereits andeuten, bleibt sie hier bruchstückhaft. In der Einleitung zu den Weltalter-Drucken, die Schelling – im Gegensatz zu dem eigentlichen System – weitestgehend unverändert seit 1810 durch­ gehalten hat, wird davon gesprochen, dass es einer ›Scheidung von sich selbst‹ bedarf, um zur höheren Form der Wissenschaft zu gelangen (vgl. WA I, 8; WA II, 9). Gleichwohl wird diese Forderung nicht gleichermaßen konstitutiv im System verankert, wie das in Erlangen der Fall ist, wo in den ersten elf Vorlesungen die methodische und systemtheoretische Grund­ lage geschaffen wird, die die Notwendigkeit der Selbsttransformation der Subjektivität allererst überzeugend zu untermauern in der Lage ist.18 17 18

Vgl. Schwab 2017 und 2018b sowie Buchheim/Hermanni 2004. Vgl. zur ausführlichen Begründung dieser These das Kapitel II.

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1. Krisis und Selbsttransformation: Thema und These der Arbeit

Vor diesem Hintergrund wurde in Schellings Werk eine schritt­ weise sich entwickelnde Tendenz zur Depotenzierung der Subjektivität konstatiert,19 in deren Verlauf deutlich wird, dass Subjektivität nicht denkbar ist, ohne diejenigen Voraussetzungen, die die Möglichkeit ihrer Selbstbezüglichkeit mit Realitätsgehalt ausstatten.20 Auch wenn die Erlanger Vorlesungen vorderhand als Schlüsselwerk für die Idee der Depotenzierung neuzeitlicher Subjektivität gelesen werden können, wird bei genauerem Hinsehen deutlich – so die These dieser Arbeit –, dass Schellings Aufforderung zur Selbstzurücknahme der Subjektivität in Erlangen keineswegs auf ihre Auslöschung zielt, sondern dass im Gegen­ teil die Selbstbescheidung als Durchgangsmoment zur Selbstverwandlung dient. In diesem Sinne müsste hier vielmehr von einer Potenzierung der Subjektivität gesprochen werden – allerdings unter völlig gewandelten Vorzeichen. Die Erlanger Vorlesungen sind zu lesen als Eröffnung eines Weges zur Selbsttransformation, die gleichsam als konsequenter Schritt aus der Emanzipation des autonomen Ich-Bewusstseins folgen muss, will Letzteres sich nicht in den Gefahren der Selbstüberhebung oder des Selbstverlustes verlieren. Dass Schelling gerade in Erlangen die subjektivitätstheoretischen Ansätze des Idealismus radikal in Frage gestellt hat, ist in der Forschung mehrfach betont worden.21 Dass dies jedoch mit einer neuen Theorie des Bewusstseins einherging, die Schelling zwar nur ansatzweise, aber immerhin mit dem Anspruch verbindet, eine »eigentliche Theorie der Philosophie« zu entwickeln, »wie sie […] noch nirgends gegeben ist« (AA II,10,1, 215), ist bisher zwar konstatiert worden, die ›eigentliche Theorie‹ selbst ist jedoch nicht eigens zum Untersuchungsgegenstand gemacht worden. Um diesem Desiderat Abhilfe zu schaffen und die These der Arbeit zu plausibilisieren, steht im Zentrum der Untersu­ chung eine differenzierte Rekonstruktion der ›eigentlichen Theorie der Philosophie‹ vor dem Hintergrund ihrer Voraussetzungen. Von dort her wird die spezifische Transformationsfigur der Subjektivität in den Erlanger Vorlesungen herausgearbeitet. Im Zentrum stehen dabei diejeni­ gen Motive, die die von Schelling vorgenommenen Verschiebungen im 19 Die Abwendung Schellings von einem Begriff selbstmächtiger Subjektivität wird spätestens seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort einer ›Depotenzierung der Subjektphilosophie‹ diskutiert (vgl. bspw. Baumgartner/ Jacobs 1993. Zum Stichwort ›Depotenzierung‹ vgl. insbesondere den darin enthaltenen Aufsatz von Adolphi). 20 Vgl. Adolphi 1993, 346. 21 Schulz 1986, Hühn 1994, Höfele 2019.

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Einleitung

Begriff der Subjektivität betonen, und die Ansätze für seine spezifische Theorie des Bewusstseins liefern. Die Bedeutung der Erlanger Vorlesungen für diese Untersuchung liegt insofern im Wesentlichen in der Tatsache begründet, dass sie als Höhepunkt von Schellings Kritik an einer einseitigen Auffassung der Subjektivität gelten können und dabei zugleich einen originären und pro­ duktiven Ausweg anbieten. Schelling treibt hier den durch den selbstver­ schuldeten Abfall bedingten Verkehrungszusammenhang neuzeitlicher Subjektivität insofern auf die Spitze, als er dem autonomen Subjekt ein beständiges Verfehlen seiner selbst zuschreibt, dessen einziger Ausweg in einer grundlegenden Umwandlung der Subjektivitätsstruktur besteht, die in der Figur der ›Ekstasis‹ ihren Ausdruck findet. Die Ekstasis findet zwar bereits in den Weltalter-Fragmenten ihre erste Erwähnung,22 allerdings erlangt sie erst in Erlangen ihren systema­ tischen Status hinsichtlich der Forderung nach einer Neukonzeption der Subjektivität, indem ihr Erkenntnismodus über mehrere Vorlesungen kleinschrittig ausbuchstabiert wird. Während die intellektuelle Anschau­ ung im Idealismus zunächst noch für die absolute, unhintergehbare Selbstgewissheit neuzeitlicher Subjektivität steht, kann die Ekstasis, die Schelling als deren Folgefigur einführt (vgl. AA I,10,1, 202), als Symptom für den Herrschaftsverlust der Vernunft und für Schellings Kritik an subjektivitätstheoretischen, transzendental-philosophischen Systemen interpretiert werden. Ihrerseits lässt sich die Ekstasis als eine Denkfigur verstehen, die angesichts der Entzogenheit des Absoluten die Grenze des Subjektes akzentuiert und zugleich die Ohnmacht der Vernunft als Negativitätserfahrung begrifflich eingeholt. Damit ist die Neukonzeption der Subjektivität einerseits durch die systematische Unvordenklichkeit des Absoluten markiert, die auf der anderen Seite eine Haltung der Selbstbescheidung des Subjektes fordert. Bei letzterer bleibt Schelling allerdings nicht stehen. Er profiliert diese vielmehr als Durchgangspunkt für eine Wandlung des Subjekts, das sich nicht mehr als in sich abge­ schlossene und durch einen verobjektivierenden Zugriff auf die Welt konstituierende Instanz erfährt, sondern in einem machtfreien Wechsel­ vollzug mit einem anderen Subjekt wiederfindet, in dem es sich selbst als gewandeltes Subjekt erst bildet. Was Schelling in den Weltalter-Fragmen­ ten lediglich auf ein paar wenigen Seiten in der Einleitung skizzenhaft ausführt und unter dem Stichwort der »Mitwissenschaft« (WA I, 4) Vgl. zur Engführung von intellektueller Anschauung und Ekstasis: Grotsch, Bd. 1, 262 sowie Bd. 2, 107f., 164, 203f., 300–302, 309.

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1. Krisis und Selbsttransformation: Thema und These der Arbeit

kennzeichnet, gewinnt in Erlangen einen prominenten Status, indem die Vorlesungen 1–11 die systemtheoretischen und methodologischen Voraussetzungen der Transformation des Subjektes differenziert ausar­ beiten und damit die in der Freiheitsschrift problematisch bleibende Überbetonung der intelligiblen Tat entlasten. Insofern zeichnen sich vor allem die einleitenden elf Vorlesungen dadurch aus, dass sie eine umfangreiche grundlegende Reflexion und methodologische Selbstvergewisserung sowohl der Voraussetzungen der Krisis endlicher Subjektivität als auch ihrer Transformation liefern. In keiner anderen Schrift Schellings findet sich eine vergleichbare Metho­ denreflexion und -explikation – zumal sie sich hier ausdrücklich auf die ausgezeichnete Erkenntnisart der Ekstasis bezieht. Wohl finden sich in früheren Schriften beispielsweise Ausführungen über die zu vollziehende Abstraktion vom Erkennenden in der intellektuellen Anschauung der Natur (vgl. AA I,10, 85–106) oder spätere Bemerkungen über die positive Philosophie im Verhältnis zur negativen (vgl. SW XIII, 1–174), als eine genuine Methodenreflexion, wie sie in Erlangen dem eigentlichen Sys­ tementwurf vorangestellt wird und diesen damit zu fundieren sucht, kön­ nen sie jedoch nicht gelten. Die einleitenden Erlanger Vorlesungen bieten eine detaillierte, wenn auch in der Durchführung nicht spannungsfreie Schilderung des Erkenntnisvollzuges, der durch die Ekstasis ermöglicht wird. Damit geht Schelling hier über frühere Ausführungen zur intellek­ tuellen Anschauung weit hinaus, indem er vor allem den Vollzug des transformierten Bewusstseins zu explizieren sucht. Dass sich gerade dadurch die Erlanger Vorlesungen als entscheidendes Werk für die Frage einer Transformation des neuzeitlichen Subjektivitätsbegriffs und, damit einhergehend, für einen gewandelten Begriff des Wissens darstellen, macht sie zum zentralen Bezugspunkt für die vorliegende Arbeit. Wenn eingangs gesagt wurde, dass dieser von Schelling dargelegte Ansatz einen noch heute aktuellen Beitrag zur Debatte um die Abgrün­ digkeit und Gefährdung neuzeitlicher Subjektivität zu liefern in der Lage ist, so wird diese Auffassung aus drei Gründen vertreten: Zunächst ist die Aktualität von Schellings Ansatz erstens damit zu begründen, dass das beschriebene Problem einer doppelten Gefahr von Übermacht und Ohnmacht in der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts nicht gelöst scheint. Die anhaltenden gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und ökologischen Krisen liefern den Beweis für das Fehlen eines durchgreifenden Paradigmas jenseits des car­ tesisch geprägten neuzeitlichen Denkens. Aktuelle Debatten zum Mensch-Natur-Verhältnis, zur Kritik an einem technisierten Herrschafts­

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Einleitung

verständnis des Menschen gegenüber der Welt, zur sozialen Gerechtig­ keit und zum Umgang mit dem Fremden können nur auf der Grund­ lage eines Paradigmenwechsels auf begründete und in geschichtlich verantworteter Art und Weise weiter entwickelt werden. Bei der Frage der Selbstüberwindung einer einseitig verstandenen Subjektivität und einer produktiven Neuformulierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses auf der Grundlage eines dynamischen medialen Vollzuges, der sich in der Denkfigur der ›aktiven Passivität‹ fassen lässt, handelt es sich um die Frage nach einem solchen Paradigmenwechsel. Dabei zeichnet sich gerade die Philosophie des 20. und 21. Jahrhun­ derts durch ein Abarbeiten an dem cartesianisch geprägten Denken aus. In diesem Zusammenhang ist zweitens zu bemerken, dass sich in der Philosophie des 20. Jahrhundert Ansätze ›aktiver Passivität‹ finden lassen, die ebenfalls darauf zielen, eine Vergegenständlichung und damit ein Machtgefälle zwischen Subjektivität und ihrem ›Mitwesen‹ zu vermeiden. Exemplarisch werden im vierten Teil der Arbeit drei solcher Ansätze dargestellt und diskutiert. Weil sich bei Schelling eine metho­ disch differenziert ausgeführte Darstellung eines auf dem Grundmotiv ›aktiver Passivität‹ beruhenden Selbstvollzuges der Subjektivität findet, die auf dasselbe Ausgangsproblem eine Antwort zu geben sucht, bietet sein Denken einen Anknüpfungspunkt für spätere Positionen, wenn auch unter gewandelten philosophiehistorischen Voraussetzungen. So gehört insbesondere die Selbstverständlichkeit eines Sprechens vom Absoluten bekanntlich zu einem wesentlichen Merkmal nachkantischer Philosophie. Zwar bleibt das Absolute bei Schelling das ausgezeichnete Gegenüber, aus dessen Bezüglichkeit die Figur ›aktiver Passivität‹ ent­ wickelt wird, das Absolute ist jedoch hier, wie zu zeigen sein wird, bereits selbst in gewisser Weise ›abgründig‹ und prekär geworden. Indem Schelling die Forderung der Selbsttransformation des Subjektes als Voraussetzung für ein nichtmechanistisches, sondern selbstlebendiges Naturverständnis ansieht, zeigt sich die Möglichkeit aktueller Anknüpfungspunkte drittens vor allem hinsichtlich der Debatte um die ökologische Krise. Wenn üblicherweise Schellings naturphiloso­ phischer Ansatz herangezogen wird, um die Aktualität seines Denkens für die Gewinnung eines holistischen Naturverständnisses und einer damit verbundenen ökologischen Ethik zu begründen,23 so soll dies hier gleichsam in entgegengesetzter Richtung von Schellings Neukonzeption der Subjektivität her geschehen. Ein gewandeltes Mensch-Natur-Verhält­ 23

Vgl. bspw. Höfele 2021a sowie Schwenzfeuer 2013 und Schmied-Kowarzik 1985.

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2. Stand der Forschung zu den Erlanger Vorlesungen

nis ist nach diesem Verständnis nur zu gewinnen durch eine Wandlung des Subjekts. Nur wenn die selbstgenügsame Subjektivität sich öffnet für das Andere der Subjektivität – in diesem Falle die Natur als natura natu­ rans –, von der her sie sich selbst konstituiert weiß, lässt sich die Verfü­ gungslogik durchbrechen. Die Figur der ›aktiven Passivität‹ wird dabei gleichsam als Modell für ein anderes Wechselverhältnis auch zwischen Mensch und Natur gewertet.24

2. Stand der Forschung zu den Erlanger Vorlesungen Um den Standort der hier vorliegenden Interpretation der Erlanger Vorlesungen weiter zu schärfen, sei diese in ihren zentralen Punkten im Horizont der bisherigen Forschungen situiert. Allgemein lässt sich diesbezüglich bemerken, dass die Forschung zu den Erlanger Vorlesungen bisher nicht sehr breit ist, obwohl ihnen immer wieder eine prominente Stellung innerhalb des gesamten Werkes eingeräumt wird. Sie werden sowohl biographisch als auch werkgenetisch als wichtiger Moment im Denken Schellings betrachtet (vgl. AA II,10,1, 16), auch wenn die Begrün­ dungen hierfür differieren.25 Diese Einschätzung deckt sich mit dem Selbstanspruch, den der Philosoph in Erlangen öffentlich formuliert, nämlich mit dem oben bereits referierten Ziel, in den vorgetragenen Vorlesungen nicht weniger als eine »eigentliche Theorie der Philosophie« zu liefern, »wie sie […] noch nirgends gegeben ist« (AA II,10,1, 215). Trotz dieses Befundes lag bis vor Kurzem lediglich eine Einzelmonographie zu den Erlanger Vorlesungen von Durner vor, die erstmals eine Interpre­ tation der gesamten Vorlesungen bot. Hinzu kommen diverse Studien, in denen die Erlanger Vorlesungen prominent vertreten sind.26 200 Jahre nach ihrer Entstehung und mit ihrer Neuedition in der Kritischen Ausgabe von Schellings Werken regt sich erneutes Interesse an diesem Werk, das sich in mehreren Dissertationsarbeiten niederschlägt.27 Die für die vorliegende Arbeit relevanten Forschungsthemen lassen sich unter drei Begriffe gruppieren: Originalität der Erlanger Vorlesungen, Vgl. hierzu Kapitel III.3. Vgl. hierzu den editorischen Bericht der kritischen Schelling-Ausgabe (AA II,10,1, 16–113). 26 Bspw. Holz 1970, Bracken 1972, Schulz 1986, Ohashi 1975, Loer 1978, Lanfranconi 1992, Hühn 1994, Peetz 1995 sowie die Erläuterungen von Fuhrmanns in der Edition der Enderlein-Nachschrift 1969. 27 Zu nennen sind hier Lee 2016 und Höfele 2019 sowie Bilda 2023. 24 25

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Einleitung

Bestimmung der Ekstasis und Depotenzierung der Subjektivität. Zu allen drei Aspekten soll im Folgenden der Forschungsstand knapp diskutiert und mit der hier vertretenen Position in Bezug gesetzt werden. Hinsichtlich der Originalität der Erlanger Vorlesungen wurde in der Forschung zunächst die Meinung vertreten, die Vorlesungen 12–36 enthielten nichts eigentlich Neues und seien lediglich als Flickenteppich aus diversen Versatzstücken der Weltalter-Fragmente zu beurteilen.28 Im Gegensatz dazu wird andernorts die Ansicht vertreten, die Erlanger Vorlesungen figurierten als eine Zäsur im Wirken Schellings, da sich in ihnen ein neuer und für die Spätphilosophie konstitutiver Ansatz herausbilde.29 Dabei wird auf der einen Seite ihre Bedeutung in der Aus­ einandersetzung mit Fichte herausgestellt30 oder sie werden als Antwort auf Hegels Phänomenologie des Geistes gelesen.31 An anderer Stelle wer­ den v.a. die Einflüsse theosophischen und mystischen Denkens sowohl auf den Inhalt als auch auf die Sprachlichkeit der Erlanger Vorlesungen betont.32 Eine Sonderstellung innerhalb der mittleren Philosophie räumt, neben Iber,33 vor allem Lee den Erlanger Vorlesungen ein, indem er ihre Bedeutung für die Vollendung der gedanklichen Wende von der Identitätsphilosophie zur mittleren Philosophie hervorhebt, da in ihnen nicht mehr die Selbstposition des Urwesens gedacht wird, sondern dieses in einer ursprünglichen Selbstexzentrizität gefasst wird. Damit möchte Lee zeigen, dass die Erlanger Vorlesungen einen entscheidenden Schritt 28 Es dürfte dieselbe Einschätzung gewesen sein, die Schellings Sohn dazu bewog, den Hauptteil der Vorlesungen nicht in die SW-Ausgabe aufzunehmen, um Doppelungen zu vermeiden. So bemerkt z.B. Fuhrmanns, die Erlanger Vorlesungen seien eine nur geringfügig geänderte Form des Weltalter-Entwurfes, den er »formelhaft« und abstrakt vorgetragen habe (vgl. Fuhrmanns 1969, XIV, XIX). Ebenso wie Lanfranconi zählt er die Vorträge zu einer in ihrer Bedeutung gleichberechtigt neben dem Spätwerk stehenden Weltalter-Philosophie. Vgl. Fuhrmanns 1954a sowie Lafranconi 1992, 57–79. Auch Habermas integriert die Erlanger Vorlesungen stillschweigend in die Reihe der Weltalter-Entwürfe und setzt sie nicht als gesondertes Werk ab (vgl. Habermas 1954). 29 Vgl. Holz 1970, 179; Bracken 1972, 98; Loer 1978, 231‒233; Durner 1979, 19; Schulz 1986, 115f. Diese Einschätzung verdeutlicht Schulz dadurch, dass er in seinem bekannten und nach wie vor wegweisenden Werk v.a. die Erlanger Vorträge und nicht so sehr die Weltalter-Fragmente zur Veranschaulichung seiner Thesen über das Verhältnis von »Vorbereitungszeit« und Spätphilosophie heranzieht. 30 Vgl. Hühn 1994. 31 Vgl. Vgl. bspw. Schmied-Kowarzik 2015, 225. Schmied-Kowarzik hebt die Bedeutung der Erlanger Vorlesungen auch deshalb hervor, weil Schelling dort, wie nie zuvor in seinem Werk, das Primat der Existenz vor dem Denken betone. Vgl. ebd., 256. 32 Vgl. Tilliette 2004, 311; Ohashi 1975. 33 Vgl. Iber 1994, 6f.

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2. Stand der Forschung zu den Erlanger Vorlesungen

über die Weltalter hinaus gehen und dort aufgefundene Spannungen in der Fundierungsfunktion des Absoluten für die Differenz der Endlich­ keit lösen.34 Demgegenüber werden in der vorliegenden Untersuchung die Erlanger Vorlesungen mit der hier übernommenen klassischen Eintei­ lung von Schellings Werk der Phase der ›mittleren Philosophie‹35 seit 1806 zugerechnet, da die Überschneidungen zwischen den WeltalterFragmenten und den Erlanger Vorlesungen bis in die Formulierungen hinein deutlich nachzuweisen sind.36 Dies soll jedoch nicht die Tatsache verdecken, dass gerade die ersten elf Vorlesungen, wie bereits betont, als origineller Neugriff gewertet werden. Zwar finden sich auch hier Motive, die bereits in den Weltaltern enthalten sind – die systemtheoretische Frage nach einem Systemprinzip, das durch alles hindurchgeht und zugleich nichts von allem ist, beispielsweise; auch der Begriff ›Ekstasis‹ fällt bereits in einigen der späten Fragmente zu den Weltaltern –, in ihrer grundlegenden Diskussion von Krisis und Transformation der Subjektivität mithilfe einer umfangreichen Methodenreflexion bieten sie jedoch ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Weltaltern im Spezi­ fischen, aber auch gegenüber allen anderen Werken Schellings. Insofern ist es zwar richtig, wenn die Erlanger Vorlesungen in die Weltalter-Phase eingeordnet werden. In ihrem spezifischen Zugriff sowohl auf die Frage des Heraustretens des Absoluten, und mithin auf diejenige der Entste­ Vgl. Lee 2016, 158. Der Beginn der ›mittleren Philosophie‹ Schellings wird gemeinhin mit dem Umzug Schellings nach München im Jahr 1806 oder aber mit der Entstehung der Freiheitsschrift im Jahr 1809 markiert. Ihr Ende findet sie mit dem Auftreten der Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie, die sich erstmals in der Münchner Vorlesung System der Weltalter findet. Inhaltliche Hauptcharakteristika der ›mittleren Philosophie‹ sind – global gesprochen – 1) der Eintrag einer internen Differenz in das Absolute, 2) die Dynamisierung des Absoluten und damit einhergehend 3) die Betonung der Geschichtlichkeit, sowie 4) die Aufwertung des Bösen bzw. des Verkehrungszusammenhangs, in dem sich die endliche Subjektivität befindet. 36 Die kritische Ausgabe der Erlanger Vorlesungen hat in ihrem Apparat diese Überschnei­ dungen nachgewiesen. Vgl. AA I,10,3, 1033–1399. Gerade im letzten Teil der Vorlesungen (ab Vorlesung 33) werden die wörtlichen Übernahmen aus den Weltalter-Fragmenten häufiger und bilden den Hauptteil des Textes. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Schelling nach eigenen Angaben zu Beginn der dreiunddreißigsten Vorlesung aus gesundheitlichen Gründen die weiteren Ausführungen kürzer zu fassen beabsichtigte: »Der üble Zustand meiner Gesundheit für die ich so zusprechen keinen Augenblick gut sagen kann und die Kürze der – Zeit nöthigen mich, von nun an meinen Vortrag mehr in die Enge zu ziehen, denn ich habe von Anfang an erklaert: meine Absicht gehe auf das Ganze, das System« (AA II,10,1, 525). 34

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hung des Bösen, als auch bezüglich der Gegenfigur der ursprünglichen Trennung in der Ekstasis bilden sie gleichwohl ein originelles Werk. Hinsichtlich des zweiten der oben genannten drei Themenbereiche der Forschung, der Ekstasis, lassen sich folgende Positionen feststellen: Ganz allgemein kann man zunächst bemerken, dass dieser Begriff in den letzten Jahren zunehmend in seiner Bedeutung für das Werk Schellings herausgearbeitet worden ist. Indem er schrittweise die intellektuelle Anschauung ersetzt, wird er als Symptom für den Herrschaftsverlust der Vernunft und eine Kritik an den transzendental-philosophischen Systemen gesehen.37 Geht man demgegenüber von einem systematischen Unterschied zwischen der intellektuellen Anschauung und der Ekstasis aus, wie dies hier der Fall ist,38 lassen sich hinsichtlich der Stellung der Ekstasis und der damit verbundenen Begründung für ihre Einführung in Schellings Werk in der Forschung im Wesentlichen drei Argumentations­ stränge unterscheiden: Die etymologische, die strategische und die systematisch-inhaltliche Begründung. Tilliette mobilisiert vor allem die etymologische Begründungsver­ sion,39 während Durner vornehmlich strategische Gründe ins Feld führt. Letzterer sieht das Problem der intellektuellen Anschauung darin, dass sie das Absolute lediglich in dessen ursprünglichem Zustand der völligen Indifferenz fasst, nicht aber das lebendige, sich entwickelnde Absolute in seinem Prozess.40 Die Ekstasis und der mit ihr einsetzende Prozess des dialektischen Wechselgespräches zwischen Erkennendem und Erkanntem wäre damit im Wesentlichen eine Antwort auf Hegel und käme seiner Kritik an der Irrationalität der intellektuellen Anschau­ ung insofern entgegen, als er das unmittelbar Erkannte schrittweise entfaltet, auseinanderlegt und ins Bewusstsein hebt. Dass Schelling mit der Ekstasis das reflexive Selbstbewusstsein gerade nicht zurückfordert, sondern konsequent überbietet und auf dieser Grundlage einen völlig gewandelten Begriff von Reflexion und Dialektik zu profilieren sucht,

Vgl. Hühn 1994; Hühn 1993; Cusinato 2004; Gourdain 2014. Dabei wird vor allem in der französischsprachigen Literatur die These vorgebracht, die mittlere und späte Philosophie Schellings könne im Ganzen als ›Philosophie der Ekstase‹ bezeichnet werden (vgl. Gourdain 2014; Challiol-Gillet 1998; Courtine 1990). Andernorts wird gar die Ansicht vertreten, in der gesamten Philosophie Schellings sei der Zugang zum Absoluten durch die Ekstase gekennzeichnet (vgl. Ohashi 1975). 38 Vgl. zur ausführlichen Erörterung dieses Unterschiedes Kapitel II.4. 39 Vgl. Tilliette 1970, Band 2, 42. 40 Vgl. Durner 1979, 75. 37

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2. Stand der Forschung zu den Erlanger Vorlesungen

wird bei Durner nicht deutlich.41 Schulz argumentiert, dass mit der Einführung der Ekstasis die von aller fichteschen Ausprägung befreite intellektuelle Anschauung gemeint ist und zielt somit ebenfalls auf einen strategischen Grund für die terminologische Neuausrichtung. Dabei lässt Schulz allerdings unerwähnt, dass Schelling schon mit der intellektuellen Anschauung der Natur sowie der Vernunftanschauung der Identitäts­ philosophie sich von der transzendentalphilosophischen Variante der­ selben entschieden entfernt hatte.42 Innerhalb des systematisch-inhaltli­ chen Argumentationsstranges finden sich wiederum unterschiedliche Schwerpunktsetzungen: In Abgrenzung zu Beierwaltes, der vornehmlich die rezeptionstheoretischen Hintergründe im Neuplatonismus betont,43 gesteht Iber der Einführung der Ekstasis durchaus systematische Gründe zu, wenn er bemerkt, dass sie den Sachverhalt des Selbstverlustes und damit im Gegensatz zur rein epistemologischen Bedeutung der intellektuellen Anschauung ihre praktische Dimension stärker betont.44 Dabei übersieht Iber allerdings die seit 1806 in zunehmendem Maße herausgestellte Bedeutung der Sündenfallthematik und die damit einher­ gehende ›Aufwertung‹ des Bösen. Lore Hühn pointiert am stärksten die inhaltlich-systematische Radikalität der Neukonzeption in Erlangen und widerspricht damit einer rein terminologischen Begründung, wenn sie schreibt, dass die Ekstasis das Paradigma des Selbstbewusstseins sprenge, während die intellektuelle Anschauung dieses unangetastet lasse.45 Hier wird die These vertreten, dass sich der Status der Ekstasis in den Erlanger Vorlesungen aus allen drei Aspekten – etymologischen, stra­ tegischen und systematisch-inhaltlichen – ergibt. Schon der Terminus der Ek-stasis bietet eine Steilvorlage für Schellings Forderung nach einem Absehen der endlichen Subjektivität von sich selbst. Da der Terminus diesen Aspekt im Gegensatz zur intellektuellen Anschauung, die im zeitgenössischen Diskurs zu stark mit der Konzeption der fichteschen Wissenschaftslehre identifiziert wird, entschieden betont, verbinden sich mit seinem Gebrauch etymologische und strategische Gründe. Dass Schelling durch die aufkommende Kritik an der intellektuellen Anschau­ ung ein solcher terminologischer Neugriff gelegen kommt, liegt auf der Hand. Gleichwohl werden in der vorliegenden Untersuchung vor allem 41 42 43 44 45

Vgl. hierzu Kapitel II.5 dieser Arbeit. Vgl. hierzu Kapitel II.4. Vgl. Iber 1994, 244. Vgl. Iber 1994, 243f. Vgl. Hühn 1994, 210.

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die systematischen Gründe für den Status der Ekstasis betont, wobei die etymologischen und strategischen Aspekte gleichsam die Folie dafür bilden. Schellings Forderung nach einem Absehen des Denkenden von sich selbst im Vollzug des Denkens wird hier systematisch eingeholt, allerdings nur hinsichtlich eines bestimmten Aspektes: Der Denkende soll von seinem natürlichen Bewusstsein absehen und sich in eine Form des Nicht-Wissens begeben. Das bedeutet gleichwohl kein Auslöschen des Subjekts, sondern führt, wie oben beschrieben, zu einem gewan­ delten Subjektivitätsparadigma. Dass der Ekstasis dabei lediglich die Bedeutung zukommt, Initialpunkt dieses Wechselgeschehens zu sein und im Mittelpunkt der Vorlesungen vor allem das mediale Prozessgeschehen zwischen erkennendem und absolutem Subjekt steht, soll im Folgenden genauer gezeigt werden.46 Den dritten der oben genannten Forschungsschwerpunkte stellt die Bewertung der Erlanger Vorlesungen als Ansatz einer Depotenzierung der Subjektivität dar. Dass beim späten Schelling die Kritik an der autosuffi­ zienten Subjektivität und der selbstdurchsichtigen Vernunft prominent zum Vorschein tritt, darüber besteht in der Forschung weitestgehend Ein­ helligkeit.47 Allerdings herrschen unterschiedliche Ansichten darüber, wie die Konsequenzen aus dieser Vernunftkritik zu bewerten sind und welche Rolle die Erlanger Vorlesungen dabei spielen. Die Forschungspo­ sitionen lassen sich grob in zwei Interpretationsansätze einteilen: Einige Autoren lesen die Subjektivitätskritik in den Erlanger Vorlesungen so, dass sie in einer Auslöschung des Subjekts mündet – diese gleichwohl in ihrer Gewichtung bei den einzelnen Autoren differierende Auslegung wird im Folgenden zuerst dargestellt. Die andere Position geht demgegenüber davon aus, dass Schelling keine Negation der Subjektivität im Sinn hat, sondern ihre Verwandlung anstrebt. An diese Position, die im zweiten Schritt diskutiert wird, knüpft die vorliegende Arbeit an. Rainer Adolphi, der den Ausdruck »Depotenzierung der Subjekt­ philosophie« geprägt hat, spricht von einer fortschreitenden Depoten­ zierung im Verlauf von Schellings Werk, deren vollständige Konsequenz Schelling in der Spätphilosophie ziehe. Von Schelling könne man lernen, Vgl. Kapitel I.4. Dies macht sich fest an den pointierten Aussagen Schellings z.B. in der Philosophie der Offenbarung, nach denen die Vernunft vom Seienden nur einen negativen Begriff haben könne (SW XIII, 71) und der Wirklichkeit ohnmächtig gegenüber stehe. Der Inhalt der Vernunftwissenschaft sei »nur der beständige Umsturz der Vernunft« und die Vernunft sei »sofern sie sich selbst zur Quelle und zum Prinzip nimmt, keiner wirklichen Erkenntniß fähig« (SW XIII, 152). 46 47

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anders als von den Ansätzen im 20. Jahrhundert, wie ein differenzierter, nicht-einseitiger Begriff von Subjektivität zu explizieren wäre.48 Diesen macht Adolphi in der Spätphilosophie an vier Punkten fest: Scheitern des Fundierungsprogramms der Subjektivität, Dominanz des Willens bzw. des Geschehens vor dem Denken, Aufwertung des Verhältnisses zur Ver­ gangenheit im Gegensatz zum prospektiven »Nach-vorne-raus-leben« philosophischer Subjektivitätsexplikationen sowie die Bedeutung eines aktivischen Lassens. Der Hinweis auf die spezifische Form aktivischen Lassens, die mit Schellings nicht-einseitigem Subjektivitätsverständnis einhergehe, untermauert die hier vertretene These, dass die ›aktive Passi­ vität‹ eine vielversprechende Figur ist, um Schellings Subjektivitätsbegriff der mittleren Philosophie motivisch einzufangen. Auch Christian Iber sieht in der Spätphilosophie den eigentlichen Höhepunkt von Schellings Subjektivitätskritik und in der Weltalter-Philosophie lediglich den Ort ihrer Genese.49 Er findet in der Spätphilosophie ein Abrücken von der Bedeutung der Vernunft als solcher und nicht die Forderung nach einer Umwandlung derselben.50 In dieser Hinsicht steht seine Interpretation quer zu der hier vertretenen These, die den Transformationscharakter des Scheiterns endlicher Vernunft untersucht. Am deutlichsten positioniert sich Philipp Höfele. In der jüngst vorgelegten Dissertationsschrift zum Willensparadigma bei Schelling widmet er den Erlanger Vorlesungen ein ausführliches Kapitel, in dem er sie als die »radikalste Entfaltung« von Schellings »Willenskritik und Gelassenheitsdenken«51 charakterisiert. Bezogen auf das menschliche Subjekt identifiziert Höfele eine für die ›Wiederumwendung‹ notwendige, »in völlige Passivität versetzte Selbst­ zurücknahme, die es für und auf die absolute Freiheit hin ›durchlässig‹ werden lässt«,52 und interpretiert sie als Forderung eines Aufgehens des Subjekts in der Einheit des Absoluten.53 In summa wird die Ekstasis als »radikale Entmündigung und gar Auflösung des Subjekts«54 ver­ standen und mit Schopenhauers ›Verneinung des Wollens‹ verglichen. Insofern spricht Höfele den Erlanger Vorlesungen hinsichtlich der Kritik Vgl. Adolphi 1993, 345. Vgl. Iber 1999, 211. 50 Damit untermauert Iber die Auffassung der Bedeutung des Anderen der Vernunft‹ in › Schellings Denken, die er bereits in seiner Monographie Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip vertreten hatte (vgl. Iber 1994). 51 Höfele 2019, 213. 52 Höfele 2019, 238. 53 Vgl. Höfele 2019, 240. 54 Höfele 2019, 248. 48

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eines auf autonomen Willen sich gründenden Subjektivitätsparadigmas eine entscheidende Stellung zu. Diesen Befund teilt die vorliegende Untersuchung, wobei die Konsequenzen hier anders gedeutet werden: Gerade weil Schelling mehrfach die Wichtigkeit der aufrechterhaltenen Eigenständigkeit der menschlichen Subjektivität gegenüber dem Absolu­ ten in dem mit der Ekstasis einsetzenden Prozess betont,55 wird hier nicht von einer völligen Auslöschung des menschlichen Subjektes zugunsten des Absoluten ausgegangen. Eine Grundintention der Erlanger Vorlesun­ gen wird – anders als bei Höfele – darin gesehen, die Subjektivität durch ihre Krisis in eine Wandlung zu führen, die sie in ein völlig neues Verhältnis zum Absoluten eintreten lässt, ohne sie zu negieren. Insofern wird hier nicht von einer völligen Passivität, sondern explizit von der Figur ›aktiver Passivität‹ gesprochen. Während diese drei Positionen zum Paradigma der Auslöschung der Subjektivität tendieren, legen die folgenden den Fokus auf des­ sen Transformation: Schulz hat in seiner bekannten Monographie die These vertreten, dass im späten Denken Schellings die Philosophie des deutschen Idealismus sich insofern vollende, als hier eine Form der Vermittlung vertreten wird, die er die »Vermittlung der vollendlichen Subjektivität« nennt.56 Diese sei nicht mehr auf ein Drittes angewiesen, in dem sich die Vermittlung dialektisch aufhebt, sondern sie bestehe in einer anderen Bezugsweise, die jenseits der Paradigmen von Aufhebung und Unterjochung sich bewegt.57 Dabei würde der Dualismus von Immanenz und Transzendenz nicht insofern aufgehoben, als die Transzendenz negiert wird, sondern so, dass das Denken die Vergegenständlichung der Transzendenz aufgibt, indem es sich selbst negiert, um dadurch als gewandeltes Denken zu sich zu kommen.58 Die Grundfigur von Schel­ lings Subjektivitätskritik als Scheitern der in sich selbst sich gründen wollenden Subjektivität, das als solches den Selbstüberstieg zu ihrem Anderen fordert, ist nach Schulz nur verständlich, wenn das Andere der Subjektivität nicht als Prinzip, sondern als Medium der gesamten Bewegung der Subjektivität vom Scheitern über den Selbstüberstieg bis hin zur Selbstwerdung im Anderen aufgefasst werde. Er kommt zu dem Schluss: »In der recht verstandenen Lehre vom Medium fällt

55 56 57 58

Vgl. hierzu die Untersuchungen in Kapitel II.5. Schulz 1986, 303. Schulz 1986. Schulz 1986, 121.

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die eigentliche Entscheidung gegen den Subjektivismus.«59 Obwohl Schulz seine Untersuchung auf die Spätphilosophie und die dort von Schelling dargestellte ›Ekstase der Vernunft‹ stützt, verweist er häufig auf die Erlanger Vorlesungen und findet dort den Keim für Schellings positive Philosophie. Insbesondere in der Figur der Ekstasis, in der sich das Denken an ein Ende führt und angesichts der Undenkbarkeit des Absoluten zu einer Umwandlung seiner selbst gelange,60 werde die ›vollendliche Subjektivität‹ vorgeprägt. Auch wenn hier die eigentliche Kulmination der Subjektivitätskritik Schellings in der Spätphilosophie angesiedelt wird, ist die Untersuchung aus zwei Gründen relevant für die vorliegende Arbeit: Zum einen wertet auch Schulz Schellings Kritik zugleich als produktiven Ansatzpunkt für eine Selbsttransformation der Subjektivität hin auf ein gewandeltes Subjektivitätsverständnis. Zum anderen bemüht er eine »recht verstandene Lehre vom Medium« und deutet auf eine Bezüglichkeitsstruktur von Subjekt und Absolutem, die jenseits der Dichotomie von Macht und Ohnmacht angesiedelt wird. Während Schulz zuletzt nur in Andeutungen verbleibt und davon spricht, dass die genaue Form dieser Bezüglichkeit im Dunkeln bleibe,61 wird hier die These vertreten, dass Schelling 1821 mit der Explikation des mit der Ekstasis einsetzenden Prozesses einen Weg aufzeigt, wie eine solche Form der Bezüglichkeit gedacht werden könne – ein Faktum, das Schulz offenbar übersehen hat. Diese als mediales Wechselgeschehen zwischen Subjektivität und Absolutem zu profilieren, ist eine Aufgabe der hier vorgelegten Untersuchung. Einen Schwerpunkt auf die Subjektivitätskritik in den Erlanger Vorlesungen legt Lore Hühn. Sie vertritt die These, dass im Deutschen Idealismus von Anfang an die Tendenz zur Selbstaufhebung am Werk ist, weil dem Begriff der Subjektivität grundsätzlich die Erfahrung von Grenze und Ohnmacht inhäriert.62 Dabei seien es vor allem die Erlanger Vorlesungen, in denen Schelling die Subjektivität als Modus der Selbstver­ kehrung offen legt. Zwar würde dies bereits in Schellings Frühphiloso­ phie angedeutet, indem z.B. die Objektivierung der ursprünglich in freier Produktivität sich auslebenden Natur als gehemmte Verkehrung verstan­

Schulz 1986, 302. »Es [das Denken, J. H.] ist bei sich selbst, wenn es außer sich als Denken ist und seine Wesentlichkeit als die ihm vorgängige Bedingung versteht« (Schulz 1986, 53). 61 Schulz 1986, 301. 62 Vgl. Hühn 1994, VII. 59

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Einleitung

den wird,63 erst 1821 werde die Verkehrung jedoch als sündentheologisch aufgeladener Schuldzusammenhang aufgedeckt, der die Selbstnegation der Subjektivität fordere.64 Dabei wird die Ekstasis, wie auch in der vor­ liegenden Arbeit, als Krisis und Wandlungsmoment zugleich gedeutet, der die ›wahre Philosophie‹ initiiere. Da der Fokus von Hühn jedoch auf der Grenzbestimmung der Erkenntnis liegt, findet dort keine genauere Charakterisierung von Schellings Ansatz einer ›wahren Theorie der Philosophie‹ und mithin des gewandelten Subjektivitätsbegriffs statt. Gleichwohl werden diesbezüglich wertvolle Hinweise gegeben, die hier aufgegriffen und weitergeführt werden, indem der Fokus nicht nur auf der Begrenzung und Krisis neuzeitlicher Subjektivität, sondern darüber hinaus auf der Selbsttransformation derselben liegt. Die Interpretation von Peetz tendiert ebenfalls zum Motiv der Neukonzeption der Subjektivität, auch wenn er diesen vor dem Hin­ tergrund eines politisch verstandenen Freiheitsbegriffes als gescheitert ansieht.65 Peetz arbeitet den Zusammenhang von Schellings passivisch verstandenem Vernunftbegriff mit der Annahme eines Systemprinzips als werdendem Wesen heraus,66 der auch in der vorliegenden Arbeit eine entscheidende Rolle spielt.67 Zudem verweist er auf den hier ebenfalls im Fokus stehenden »Transformationsprozess des Denkens als Neube­ stimmung der Rolle der Subjektivität«,68 den er vor dem Hintergrund von Schellings Platon-Rezeption als »Sokratisches Modell« bezeichnet.69 Da Peetz die Erlanger Vorlesungen allerdings vor dem Hintergrund des Freiheitsbegriffes der Freiheitsschrift liest, den er im Sinne eines ontologisch bzw. naturphilosophisch begründeten Begriffs der Wahl­ freiheit als absolute Entscheidung interpretiert,70 sieht er die Erlanger Vorlesungen insofern als gescheitert an, da die Freiheitskonzeption hier aufgrund des ›Umschlagens‹ der Subjektivität in die ›absolute Freiheit‹ in eine idealistische Autonomiekonzeption zurückfalle.71 Angesichts dieser Interpretation lässt sich festhalten, dass Peetz zwar den transformativen Aspekt des Subjektivitätsbegriffes in den Erlanger Vorlesungen sieht und 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Hühn 1994, 27. Vgl. Hühn 1994, 201. Vgl. Peetz 1995, 250. Vgl. Peetz 1995, 226‒228, 231. Vgl. Kapitel II.2. Peetz 1995, 245. Vgl. Peetz 1995, 242–247. Vgl. Peetz 1995, 193–202. Vgl. Peetz 1995, 248.

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2. Stand der Forschung zu den Erlanger Vorlesungen

ihn ebenfalls mit Schellings neuer ›Theorie der Philosophie‹ in Verbin­ dung bringt, anders als in der vorliegenden Arbeit interpretiert Peetz die Transformation allerdings zu Ungunsten der Subjektivität und unterstellt Schelling ein Unterschlagen der ontologischen bzw. naturphilosophi­ schen Aspekte derselben, wie dieser sie mit dem Begriff der Persönlichkeit in der Freiheitsschrift ausdrücklich hervorhebt. Demgegenüber wird hier davon ausgegangen, dass Schelling durch die Betonung des Verkehrungs­ zusammenhanges durchaus an der Endlichkeit der konkreten Existenz festhält, wenn auch mit einem gewandelten Subjektivitätsbegriff. Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich des Forschungsstandes zu den Erlanger Vorlesungen Folgendes festhalten: Auch wenn sie weit weniger rezipiert sind als die einschlägigen Werke Schellings, wie bspw. das System von 1800 oder die Freiheitsschrift, wird ihnen innerhalb der ›mittleren Philosophie‹ Schellings durchaus Beachtung geschenkt. Die Diskussion der wichtigsten Forschungsbeiträge hat einsichtig gemacht, dass die Deutung von Ekstasis und Subjektivitätskritik differiert zwischen einer vollständigen Annihilation der menschlichen Subjektivi­ tät und ihrem Aufgehen in der Einheit des Absoluten auf der einen Seite und einem Verweis auf eine Transformation der Subjektivität, in der letztere in gewandelter Form als Subjektivität bestehen bleibt, auf der anderen. Überraschend ist dabei der Befund, dass die Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Position (v.a. Schulz, Adolphi, Hühn) maß­ geblich Schellings Hinführungen zur Ekstasis – also das Herausstellen des ›tragischen Verkehrungszusammenhanges endlicher Subjektivität‹, den ›ewigen Zirkel des Wissenwollens‹ und die ›Krisis in der Ekstasis‹ – in den Blick nehmen. Der durch die Ekstasis einsetzende Prozess, mithilfe dessen Schelling seine ›eigentliche Theorie der Philosophie‹ und mit ihr seinen gewandelten Begriff der Subjektivität expliziert, wurde bisher jedoch nicht in den Fokus gestellt.72 Die hier vorgenommene Untersuchung schließt an diejenige Position an, nach der die Forderung nach einer Selbsttransformation zu einem gewandelten Subjektbegriff führt. Um dem identifizierten Forschungsdesiderat Abhilfe zu schaffen, 72 Dies mag auch damit zusammenhängen, dass der Umfang von Schellings Ausführun­ gen zu besagtem Prozess erst mit der Herausgabe von Schellings Vorlesungsmanuskript in der Kritischen Ausgabe in seiner genauen Gestalt sichtbar wird, zeigt sich doch hier erstmals, dass Schelling ihm immerhin drei der elf ersten Vorlesungen widmet. Einzig Peetz ist in seiner Untersuchung auf die Bedeutung von Schellings ›Theorie der Philosophie‹ eingegangen, die er als ›sokratisches Modell‹ bezeichnet (vgl. Peetz 1995, 242‒244).

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Einleitung

macht sich die vorliegende Arbeit insbesondere zur Aufgabe, den mit der Ekstasis einsetzenden Prozess zu analysieren, um damit Schellings Hin­ weise zur Neukonzeption der Subjektivität systematisch aufzubereiten. Der Argumentationsgang und das methodische Vorgehen der Arbeit soll vor dem Einstieg in die Untersuchung nun genauer dargelegt und gerechtfertigt werden.

3. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung In methodischer Hinsicht geht die Arbeit in dreifacher Weise vor: exege­ tisch, problemorientiert und historisch kontextualisierend. Dabei liegt das Ziel auf der systematischen Rekonstruktion der Transformationsfigur neuzeitlicher Subjektivität, deren Grundmotiv in der Figur ›aktiver Passivität‹ zusammengefasst wird. In ihrem dreifachen methodischen Vorgehen liefert die Arbeit zum einen eine detaillierte Exegese der Erlanger Vorlesungen 1–11. Die Exegese wird nach der Methode des close reading in enger Bindung an den Ausgangstext durchgeführt. Als der Arbeit zugrunde liegender Leittext wird das Manuskript von Schellings Hand verwendet, das 2021 erstmals in der Historisch-kritischen Ausgabe von Schellings Werken veröffentlicht wurde (AA II,10,1, 169–599). Wo nötig – bspw. aufgrund von Lücken oder undeutlichen Formulierungen im Manuskript –, wird auf die nun ebenfalls in kritischer Edition vorliegende Fassung aus den Sämmtlichen Werken zurückgegriffen (AA II,10,2, 611–643) bzw., wo die Nachschrift ausführlicher ist, in seltenen Fällen auch auf die Enderlein-Nachschrift73 (AA II,10,2, 671–819) verwiesen. Die Exegese selbst geht zweitens problemorientiert vor anhand der oben ausgefalteten leitenden These, nach der Schelling in den Erlan­ ger Vorlesungen im Zuge seiner Kritik am neuzeitlichen Subjektivitäts­ verständnis zugleich den konstruktiven Gegenentwurf ›aktiver Passivi­ tät‹ liefert. Mithin stehen bei der Interpretation der Vorlesungen vor allem diejenigen Motive im Vordergrund, die die von Schelling vorgenomme­ nen Verschiebungen innerhalb des Begriffs der Subjektivität betonen. Da der Fokus der Arbeit auf der problemorientierten systematischen Rekon­ struktion dieser Transformationsfigur liegt, wird der exegetische Gang 73 Die Enderlein-Nachschrift wurde 1969 erstmals von Fuhrmanns unter dem Titel Initia philosophiae universae veröffentlicht.

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3. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung

durch die ersten elf Vorlesungen zwar im Wesentlichen chronologisch vorgenommen, in systematisch begründeten Fällen jedoch gezielt durch Ausgriffe auf den zweiten Teil der Vorlesungen (Vorlesung 12–36)74 oder durch Vorgriffe innerhalb der ersten elf Vorlesungen75 ergänzt. Ein weiterer methodischer Schwerpunkt der Arbeit liegt drittens in der historisch-konstellativ fokussierten Kontextualisierung von Schel­ lings Kritik und Neukonzeption des Subjektivitätsparadigmas. Das Philo­ sophieren um 1800 ist bekanntlich in einem hohen Grad von Diskurs und wechselseitiger Bezug- und Distanznahme gekennzeichnet. Dem wird hier Rechnung getragen, indem der exegetisch-problemorientierte Gang durch die Erlanger Vorlesungen begleitet wird durch gezielte historische Exkurse und Kontextualisierungen, die die spezifischen Denkfiguren Schellings vor dem rezeptionsgeschichtlichen und konstellativen Hinter­ grund hervortreten lassen sollen. In Summa ergeben die drei methodischen Zugänge einen Gang der Untersuchungen, der sich nach der Einleitung in drei weitere Teile gliedert: Teil I, der zur Kontextualisierung diejenige Linie subjektivitäts­ theoretischen Denkens nachzeichnet, auf die sich Schelling mit seiner Kritik beruft, Teil II, der der Durchführung der Untersuchung gewidmet ist, und einen ausblickartigen Teil III, der die Ergebnisse der Untersu­ chung in den Kontext der Debatten um die Stellung des Menschen im 20. Jahrhundert stellt und den Bogen zieht bis zur aktuellen Diskussion um das Mensch-Natur-Verhältnis. Zur besseren Übersicht werden die Argumentationsgänge der drei Teile kurz skizziert: Der erste Teil der Arbeit soll der historischen und werkgenetischen Einordung von Schellings Subjektivitätskritik dienen und die entscheid­ enden Hintergründe zu den Erlanger Vorlesungen als Voraussetzung für die folgende Untersuchung von Krisis und Selbsttransformation der Subjektivität liefern. Insofern wird hier in einem sowohl historisch-konstellativ als auch werkgenetisch argumentierenden Aufriss in Kapitel I.1 die Entwicklung von Kulmination und Krisis neuzeitlicher Subjektivität um 1800 in ihren wichtigsten Grundzügen nachgezeichnet, denn sie bildet die the­ matische Folie, vor deren Hintergrund sich Schellings Überlegungen in den Erlanger Vorlesungen entwickeln. Mit diesem auf die systematische Zentralfrage der Arbeit fokussierten Durchgang durch ihre Genese soll 74 75

Vgl. Kapitel I.3.2 und I.3.3. Vgl. Kapitel I.3.7, Abschnitt c.

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Einleitung

die Ausgangsthese der Arbeit in ihren historischen Voraussetzungen verdeutlicht werden. Dabei wird diejenige Linie subjektivitätstheoreti­ schen Denkens nachgezeichnet, die für Schellings Philosophie ausschlag­ gebend ist: Die von Descartes initiierte und über Kant und Fichte laufende Entwicklung der Subjektphilosophie wird skizzenhaft darge­ stellt (Kapitel I.1.1) um daraufhin Schellings Abstoßungsbewegung von dieser Linie zu plausibilisieren. Bereits in den frühen Schriften zur Natur- und Transzendentalphilosophie übt Schelling Kritik an einem selbstgenügsamen und selbstdurchsichtigen Subjekt und bindet dieses an die Vorgängigkeit eines es übersteigenden Grundes (Kapitel I.1.2). Damit entsteht jedoch die Frage nach dem Verhältnis des endlichen Subjektes zu diesem Grund, die Schelling mit einer immer stärker hervortretenden ›Theorie des Falls‹ zu beantworten sucht (Kapitel I.1.3). In Kapitel I.2 wird der Übergang zu Schellings ›mittlerer Philoso­ phie‹ thematisiert, der maßgeblich durch die Fragen nach dem Heraus­ treten des Absoluten und dem Problem der Endlichkeit motiviert wird und in der Folge die Frage nach der Selbsttransformation der Subjekti­ vität virulent werden lässt. In einem ersten Schritt werden hierzu die konstellativen und systematischen Gründe für den Übergang in die ›mittlere Philosophie‹ diskutiert (Kapitel I.2.1). Diese nimmt mit der Freiheitsschrift von 1809 ihren fulminanten Anfangspunkt, in der Schel­ ling eine Theorie der konkreten, menschlichen Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen ausarbeitet (Kapitel I.2.2). Die daraus resultierende Gefahr einer Universalisierung des Bösen stellt Schelling vor die Frage nach einem Ausweg, den er in der Freiheitsschrift andeutet, in den Weltaltern in ein umfassendes Ganzes von Theo- und Kosmogenese einzubetten sucht und in den Erlanger Vorlesungen erstmals methodisch ausbuchstabiert (Kapitel I.2.3). Damit führt der argumentative Gang der Kapitel I.1 und I.2 durch die historische und werkgenetische Vorge­ schichte der Erlanger Systemkonzeption, deren Analyse im dritten Teil der Arbeit unternommen wird. Der zweite Teil als eigentlicher Analyseteil der Arbeit faltet sich in sechs Kapitel auf und orientiert sich dabei an den Grundmotiven der ersten elf Erlanger Vorlesungen: Schelling beginnt seine Untersuchung erstens mit einer grundlegen­ den Darstellung seiner system- und prinzipientheoretischen Auffassung, die die im Weltalter-Projekt skizzierte Systemarchitektur im Wesentli­ chen übernimmt und etwas breiter und zusammenhängender ausführt. Dabei wird deutlich, wie eng Schelling die Neukonzeption der Subjekti­ vität an einen gewandelten Wissenschaftsbegriff bindet (VL 1–4). Aus der

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3. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung

Konzeption des Systemprinzips, das sich als das Absolute – gefasst als ›ewige Freiheit‹ – herausstellt, ergibt sich zweitens die Frage nach dem Verhältnis von Absolutem und philosophierendem Subjekt bzw. Bewusst­ sein. Dafür exponiert Schelling eine kosmologisch-metaphysische Rah­ mung, die für die vorliegende Untersuchung insofern wesentlich ist, als ihr Verständnis die Engführung von Epistemologie und Kosmologie (bzw. Ontologie) in Schellings mittlerer Philosophie plausibilisiert (VL 4–7). Das dritte und für diese Arbeit zentrale Thema der ersten elf Vorlesungen entfaltet den Erkenntnisprozess, mit dessen Hilfe Schelling seine ›eigentliche Theorie der Philosophie‹ darlegt (VL 8–11). In Kapitel II.1 wird der Titel der Vorlesungen interpretiert und eine kurze Skizze des Aufbaus des gesamten Vorlesungs-Korpus gelie­ fert. Kapitel II.2 diskutiert System und Systemprinzip und die damit verbundenen epistemologischen Konsequenzen (VL 1–4), Kapitel II.3 untersucht die metaphysische Rahmung von Schellings Subjektivitäts­ verständnis (VL 4–7). Vor dem vierten Kapitel wird ein Diskussionskapi­ tel eingeschoben (Kapitel II.4), das die Figur der Ekstasis in den Kontext der Entwicklung der intellektuellen Anschauung in Schellings Werk stellt. Damit ist die Grundlage gegeben für die zentrale Untersuchung zur ›aktiven Passivität‹, die im Kapitel II.5 anhand der letzten vier Vorlesungen (VL 8–11) vorgenommen wird. Das letzte Kapitel II.6 liefert auf der Basis des zuvor Entwickelten die Skizze einer Neukonzeption der Subjektivität. Im dritten Teil ist dann zunächst die Frage zu beantworten, inwiefern eine produktive Subjektivitätskritik, die in der ›aktiven Passivität‹ ihren Brennpunkt findet, als positiver Ansatz für die Frage nach der Selbstüber­ windung neuzeitlicher Subjektivität auch im 20. und 21. Jahrhundert gelten kann, scheinen doch gerade die Katastrophen des 20. Jahrhun­ derts jegliche Form eines hoffnungsvollen Blicks auf den Menschen zu verbieten (Kapitel III.1). Dem widerspricht das Phänomen, dass gerade in diesem 20. Jahrhundert diverse Ansätze ›aktiver Passivität‹ inner­ halb des philosophischen Denkens auftreten. Vor diesem Hintergrund werden vier exemplarische Beispiele von Ansätzen ›aktiver Passivität‹ diskutiert (Kapitel III.2), um abschließend in einem skizzenhaften Aus­ blick anzuzeigen, inwiefern von Schellings Ansatz ausgehend und unter Bezugnahme auf die Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert für eine der drängendsten aktuellen Problemlagen, nämlich diejenige des Verhältnisses von Mensch und Natur, eine mögliche Perspektivierung angeregt werden kann (Kapitel III.3).

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

Dieter Henrich hat in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhun­ derts die Bedeutung philosophischer Konstellationen für die Herausbil­ dung neuer Gedanken in der Philosophiegeschichte hervorgehoben.1 Dies gilt insbesondere für die Klassische deutsche Philosophie um 1800, die wie keine andere im engen Austausch ihrer Protagonisten ihre Inspirationsquelle fand. Aus diesem Grund greift eine isolierte Betrachtung einzelner Philosophen grundsätzlich, im Besonderen aber bezüglich der hier relevanten Epoche des Denkens, zu kurz. So entsteht auch Schellings Denken im Horizont des Austausches, der Kritik und der Anregung durch seine Zeitgenossen. Hinzuzufügen ist dabei auch die Anregung durch seine intensive Auseinandersetzung mit der Philosophie- und Kulturgeschichte, die sich in der außerordentlichen Breite seiner historischen Kenntnisse widerspiegelt. Die Wandlungen in seinem Werk, und insofern auch der spezifische Ansatz der Erlanger Vorlesungen, sind nicht zu verstehen ohne den Einbezug zeitgenössischer Debatten und ihrer Rezeptionshintergründe. Als zweites Merkmal von Schellings Denken ist die ihm inhärente fortwährende Selbstkorrektur zu nennen, die sich nicht selten der intensiven Auseinandersetzung mit zeitgenössischen und historischen Positionen verdankt.2 Hier wird davon ausgegangen, dass das Werk Schellings gerade aufgrund seiner Ver­ schiebungen und internen Modifizierungen die unermüdlichen Versuche der Selbstüberbietung beweist, die zugleich den einheitlichen Grundzug dieses agilen Werkes nicht verstellen. Dies bedeutet gerade nicht, dass gravierende Spannungen im Werk ausgeblendet werden sollen. Vielmehr treten erst vor dem Hintergrund dieser roten Fäden die einzelnen Werkphasen in ihrer genuinen Charakteristik zutage. Insofern ist zum Verständnis von Schellings Werken deren konstel­ lative und werkgenetische Herleitung entscheidend. Beide Aspekte liefert Kapitel I mithilfe eines historisch angelegten Entwicklungsbogens, der 1 2

Henrich 1991. Vgl. bspw. Sandkaulen-Bock 1990, 7f.

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

die Genese der Frage nach Kritik und Selbstüberwindung des cartesisch geprägten Subjektivitätsverständnisses um 1800 in ihren wichtigsten Linien nachzeichnet. Als historisch fundierter Nachvollzug derjenigen Problemstellung, vor die sich Schelling 1821 gestellt sieht, erhebt dieses Kapitel gleichwohl nicht den Anspruch auf Vollständigkeit der vielschich­ tigen konstellativen Zusammenhänge in der Subjektphilosophie um 1800. Es soll lediglich die Folie für die in dieser Arbeit verhandelte Fragestellung in ihrer Genese aufzeigen.

I.1 Kulmination und Krisis neuzeitlicher Subjektivität Bevor der folgende Teil der Arbeit sich Schellings Kritik und Neukon­ zeption des Subjektivitätsparadigmas widmet, gilt es also zunächst, die Entwicklung von Kulmination und Krisis neuzeitlicher Subjektivität um 1800 in den Blick zu nehmen, damit Schellings Überlegungen in den Erlanger Vorlesungen aus ihrem Kontext verständlich werden. Dabei wird dieser Aufriss lediglich diejenige Linie subjektivitätstheoretischen Denkens aufweisen, die Schelling rezipiert hat. Sie geht von Descartes über Kant bis Fichte und lässt andere wirkmächtige Linien, wie diejenige von Bacon zu Hume und Locke – um nur eine zu nennen – außen vor. Anhand jener Linie sollen entstehende Problemstellungen aufgezeigt werden, die für Schelling zum Ausgangspunkt der Bezugnahme und Kritik werden und zu denen er mit seiner Subjektivitätskonzeption in den Erlanger Vorlesungen Stellung nimmt. Insofern werden eingangs in einer knappen Skizze die Grundin­ tentionen von Descartes, Kant und Fichte aufgezeigt, die hier paradig­ matisch für die ›Entdeckung der Subjektivität‹ stehen. In ihren Ansätzen zeichnet sich die Problematik neuzeitlichen Philosophierens bereits ab: Dass nämlich mit seinen Grundannahmen, dem Zusammenfall von dem Grund des Denkens mit seinem Ort im subjektiven Bewusstsein und der dadurch entstehenden Autonomie, zugleich die Gefahr der völligen Loslösung von allem Anderen der Subjektivität auftritt. Diese Loslösung ermöglicht erstmals eine Entfremdung, die die Voraussetzung für ein Machtgefälle bildet, bei dem die Subjektivität zerstörend auf dieses Andere wirkt (I.1.1). Gerade diese sich abzeichnenden Einseitigkeiten führen zu früher Kritik an einer selbstgenügsamen Subjektivität, die die ihr vorgängigen Voraussetzungen aus dem Blick verliert. Auch wenn Schelling in seiner Frühphilosophie im Anschluss an Kant und Fichte von der Selbstbegründung des Subjektes ausgeht, wird im Folgenden zu

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I.1 Kulmination und Krisis neuzeitlicher Subjektivität

zeigen sein, dass er nicht erst in seiner mittleren Philosophie, sondern mit Beginn seines Philosophierens eine Sensibilität für die Bruchlinien cartesisch geprägter Subjektivität besitzt, die zunächst in dem von Jacobi entlehnten Paradigma des Unbedingten und der Frage nach dem Grund des Bewusstseins ihren Ausdruck findet (I.1.2). Um von dort aus den werkgenetischen Gang Schellings bis hin zu den Erlanger Vorlesungen nachzuvollziehen, wendet sich die Darstellung daraufhin Schellings Weg zu seinem Ansatz der Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität zu. Dieser Weg führt zunächst über eine sich radikalisierende Kritik an Fich­ tes Ansatz, die in dem Maße an Schärfe gewinnt, in dem Fichte selbst anhand einer Depotenzierung des Subjektes dieses aus Schellings Sicht auf seine Endlichkeit beschränkt (I.1.3). Von hier aus ergeben sich dieje­ nigen Problemstellungen, die Schelling im weiteren Werkverlauf zur Selbstkorrektur und Reformulierung seines philosophischen Ansatz in der sogenannten ›mittleren Philosophie‹ führen (Kapitel I.2).

1. Die Blütezeit der Subjektphilosophie bei Descartes, Kant und Fichte Will man wesentliche Aspekte des Aufschwungs neuzeitlicher Philoso­ phie und Wissenschaft holzschnittartig skizzieren, so lassen sich vier fundamentale Grundannahmen derselben benennen: 1) Die Gewissheit der Erkenntnis lässt sich nicht mehr auf einer dogmatischen Ontothe­ ologie begründen, sondern ihre Quelle liegt in der Selbstevidenz des Subjektes. Von dort her gewinnt das Subjekt 2) die Grundlegung seiner Autonomie, denn in der Spontaneität der menschlichen Vernunft liegt die Möglichkeit der Selbstanfänglichkeit begründet. Daraus folgt in der Konsequenz 3), dass das Subjekt sich loslöst von der Eingebundenheit in einen Gesamtzusammenhang, sich mit seinem Selbstbewusstsein dem Objekt gegenüberstellt und das Absolute als absolut Transzendentes in ein unerkennbares Jenseits verbannt.3 Da das Subjekt Quelle der Gewissheit ist, ergibt sich 4) ein Machtgefälle zwischen Subjekt und Objekt, das die Grundlage bildet für die Beherrschungslogik z.B. der Natur in der Neuzeit. Alle vier Grundannahmen prägen diejenige Linie subjektivitätstheoretischen Denkens, die über Descartes zu Kant und Fichte verläuft. 3 Bekanntlich sind es genau diese Konsequenzen, die Hegel in seiner Schrift Glauben und Wissen an Kant, Jacobi und Fichte kritisiert. Vgl. GW 4, 315, 322f.

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Auch wenn die Emanzipationsbewegung des autonomen und selbst­ gewissen Subjektes aus der Distanznahme zur metaphysischen Tradition ihre Dynamik und Stärke gewinnt, bleibt sie von Anfang an auf ihre Herkunftsgeschichte verwiesen, deren Relikte sie zumeist – mehr oder minder bewusst – weiterführt. Denn die Frage, wie sich eine gesicherte Fundierung der Selbstevidenz und Selbstbegründung ohne Rückbezug auf ein Anderes der Subjektivität gewinnen lässt, bleibt problematisch. Aus dieser Spannung zwischen Abstoßung und Verwiesenheit erlangt die neuzeitliche Philosophie ihre Größe und zugleich die ihr von Anfang an innewohnende Brüchigkeit, die die philosophischen Diskussionen um 1800 impulsiert und deren Konsequenzen Schelling in aller Deutlich­ keit zieht.4 Ihre gewichtigsten Protagonisten hat die Blütezeit der Subjektphilo­ sophie – mindestens aus der Perspektive des Deutschen Idealismus – in Descartes, Kant und Fichte. Bei diesen drei Denkern wird die Bedeutung der Subjektivität in einer vorher nie gekannten Weise herausgestellt und einflussreich in die Geschichte eingeführt. Häufig wird Descartes als Vater der neuzeitlichen Philosophie bezeichnet.5 Seine ›Entdeckung‹ der Begründungsrelevanz des cogito in seiner Selbstevidenz hat entscheidende Weichen für das neuzeitliche Philosophieren gestellt.6 Mit Descartes avanciert das Subjekt zum funda­ mentum inconcussum jeglicher Philosophie und Wissenschaft.7 Der Motor für Descartes’ Überlegungen ist das Anliegen, einen sicheren Ausgangspunkt für jegliche Erkenntnis zu finden. Indem der methodische Zweifel durch das ›Als ob‹ der Falschheit jede Erkenntnis infrage stellt, begibt er sich auf die Suche nach einer unbezweifelbaren Gewissheit (vgl. AT X, 362). Diese wird erst dort gefunden, wo sich der Zweifel auf sich zurückwendet und sich damit aufhebt, da er durch Vgl. Hühn 1994. Blick man auf andere Linien subjektivitätstheoretischen Denkens, ergeben sich freilich andere ›Väter‹. Neben der oben bereits erwähnten Linie von Bacon über Hume zu Locke ließe sich auch eine bereits in der Frührenaissance einsetzende Entwicklung von Cusanus über Bruno hin zu Montaigne und Erasmus aufweisen. 6 Vorgebildet findet sich das cogito von Descartes bekanntlich in dem »si enim fallor, sum« von Augustinus (De civitate Dei XI, 26). 7 Daran anschließend erhält der Subjekt-Begriff, der in der Antike klassischerweise als das ›hypokeímenon‹ im Sinne von Substanz und Wesen, das Akzidentien aufnimmt, verstanden wurde, eine völlig neue Deutung. Es wird in der Folge zum erkennenden Ich, das dem erkannten Objekt als Subjekt gegenübersteht (vgl. Art. ›Subjektivität‹ im Hist. Wörterbuch der Phil., Band 10, Sp. 373f.). 4

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die Rückwendung zur Selbstvergewisserung führt (vgl. AT VI, 32).8 Das Subjekt wird als das einzig Sichere, Selbstgewisse aufgefunden, dem die Natur mit ihren mechanisch aufgefassten Gesetzen fremd gegen­ übersteht. Die Welt fällt in eine Dualität von res extensa und res cogitans auseinander, wobei das Primat auf dem Subjekt bzw. dem Bewusstsein gegenüber dem Objekt und dem Sein liegt. Dass sich die Subjektivität zum Zentrum der Welt macht, hat die Abwertung Gottes, der Natur und der intersubjektiven Welt zur Folge.9 Die Erkenntnissicherheit des Subjekts wird mithin ›erkauft‹ durch die Einführung eines scharfen Dualismus sowie einer Mechanisierung und Beherrschung der Natur,10 die als Erbe von Descartes Einzug halten in das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis. Der Natur wird jegliche Subjekthaftigkeit und damit jegliche Eigenwesenheit und Würde abge­ sprochen. In der Folge wird die Frage virulent, wie die Selbstgewissheit des Subjektes aufrechterhalten werden kann, ohne in einen scharfen Dualismus zu verfallen und die Natur zu einem bloßen Mechanismus zu depotenzieren und damit restlos zu verdinglichen.11 Rund 150 Jahre nach Descartes’ ›Entdeckung‹ des cogito wendet sich Kants großes Projekt eines ›Gerichtshofes der Vernunft‹ (vgl. KrV, A X) gegen die in der Folge aufgetretenen einseitigen Systeme des Rationalismus auf der einen und des Empirismus auf der anderen Seite. Mit seinem Ziel, die Möglichkeiten und Grenzen der reinen Vernunft unabhängig von aller Erfahrung aus ihren Gesetzen und Prinzipien zu bestimmen (vgl. KrV, A XII) soll die Bedingung der Möglichkeit von Metaphysik überhaupt ausgelotet werden. Auch wenn für Kant kein Zweifel daran besteht, dass alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, ist die Gesetzmäßigkeit der Vernunft nur aus der Erkenntnis a priori zu bestimmen. Mit seiner ›kopernikani­ schen Wende‹, die auf der Prämisse fußt, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten müssen und nicht umgekehrt unsere 8 Im »Je pense, donc je suis« manifestiert sich die Selbstgewissheit des denkenden Ich, dessen Existenz nicht bezweifelt werden kann, da sich in jedem Akt des Zweifels seine Existenz als Zweifeldes unbezweifelbar erweist. Vgl. hierzu auch Röd 1982, 76‒78. 9 Vgl. Hösle 1994, 53. 10 Vgl. Descartes berühmten Anspruch, dass die Menschen »Herrscher und Besitzer der Natur« (maîtres et possesseurs de la nature) seien (AT VI, 2). 11 Schelling bewertet die Philosophie von Descartes bereits 1802 in ähnlicher Weise, wenn er anführt, dass bei Descartes die Philosophie ihre »erste Richtung auf die Subjektivität durch das cogito ergo sum« nahm, dass bei ihm der »Dualismus der Philosophie sich entschieden ausbildete, [und] die mechanische Physik der neueren Welt zuerst die Gestalt des Systems annahm« (SW V, 247).

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Erkenntnis nach den Gegenständen, erhält nun gerade die Bedeutung der Subjektivität bei Kant eine entscheidende Zuspitzung. Sie, bzw. ihre Vermögen (Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft) werden zum Ausgangspunkt der Untersuchung der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. In allen drei Vermögen deckt Kant durch transzendentale Deduk­ tion apriorische Strukturen auf (Zeit und Raum als Anschauungsformen der Sinnlichkeit, die zwölf Kategorien als Urteilsformen des Verstandes und die drei Ideen als apriorische Begriffe der Vernunft), deren Ein­ heitspunkt in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, d.h. im »ich denke, [das] alle meine Vorstellungen [muss] begleiten können« (KrV, B 132) zu suchen ist. Hier, in der Einheit der Subjekti­ vität, findet Kant den »höchsten Punkt« (KrV, B 134) bzw. »obersten Grundsatz« (KrV, B 135) der Transzendentalphilosophie. Erst mit dieser transzendentalphilosophischen Deutung, die keinen Rückhalt in einer Substantiierung des Subjekts mehr fordert, wie das bei Descartes noch der Fall ist, ist das Projekt der Herausbildung neuzeitlicher Subjektivität vollständig erfüllt.12 Weil Kant den Ausgangspunkt seines Systems in den gegebenen Vermögen der Subjektivität sucht, aus denen sich die Regeln für objektive Erkenntnis a priori gewinnen lassen, werden Verstand und Vernunft ausschließlich an das Subjekt gebunden. Von dem, was über die gegebe­ nen Erkenntnismöglichkeiten des Subjektes hinausgeht, lässt sich nichts wissen. Zwar muss notwendigerweise angenommen werden, dass es eine andere Form der Vernunft als die diskursive gibt, denn sonst ließe sich z.B. lediglich ein infiniter Regress aller bedingten, d.h. menschlichen Erkenntnis denken und deshalb kein vollständiges System der Philoso­ phie liefern, aber über diese »göttliche« Vernunft kann nichts ausgesagt werden. So zeigt sich das Unbedingte als notwendige Annahme13 und zugleich als der »wahre Abgrund für die menschliche Vernunft« (KrV, B 641), der unbegreiflich bleiben muss.14 Ungeachtet dessen, dass Kant an prägnanten Stellen seiner Kritiken die gezogenen Erkenntnisgrenzen mindestens andeutungsweise zu über­ 12 Deshalb wird die etymologische Entstehung des Begriffes ›Subjektivität‹ an Kant festgemacht (vgl. Art. ›Subjektivität‹ im Hist. Wörterbuch der Phil., Band 10, Sp. 457). 13 »Das heißt: ich kann das Zurückgehen zu den Bedingungen des Existierens nie vollenden, ohne ein notwendiges Wesen anzunehmen; ich kann aber von demselben niemals anfangen« (KrV, A 615). 14 Bei Jacobi führt diese Einsicht des Königsbergers bekanntlich zu dem berühmten salto mortale in den Glauben, der alle Demonstration ausschließt.

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winden scheint – so z.B. in der Bemerkung über die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand (KrV, A 15) in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft, oder in der Gefahr der Zir­ kularität der Idee des transzendentalen Ich, von dem sich nicht sagen lässt, was es ist oder wie es ist, sondern lediglich daß es ist im Sinne eines vorprädikativen, vorkategorialen actus purus (KrV, B 157) und das den­ noch als oberster Grundsatz vorausgesetzt werden muss, oder aber in den folgenschweren Absätzen zum Naturzweck in der Kritik der Urteilskraft (KdU, §§ 75–78), in denen Schelling schon früh mit klarem Blick eine Sprengkraft findet, die die von Kant gesteckten Grenzlinien aus sich selbst fragwürdig machen15 – bleibt der Befund, dass Kant lediglich die Prä­ missen und nicht die Resultate gegeben hätte, für die nachkantischen Philosophen fraglos.16 Gerade weil Kant das Subjekt vom Dogmatismus auf der einen und vom Kritizismus auf der anderen Seite zu befreien sucht und durch die kopernikanische Wende gleichsam auf völlig unabhängige Füße stellt, schneidet er die Vernunft von einem ihr vorgängigen Grund ab, ohne diesen gänzlich aufgeben zu können. Das Problem liegt dabei nicht darin – so die hier vertretene These –, dass Kants kopernikanische Wende das Subjekt und seine Vermögen ins Zentrum seiner transzendentalphiloso­ phischen Untersuchungen stellt. Die Schwierigkeit wird vielmehr darin gesehen, dass er dem Subjekt alle über seine natürlichen Erkenntnisver­ mögen hinausgehenden Einsichten z.B. mithilfe einer intellektuellen Anschauung abspricht, das Subjekt insofern von der Erkenntnis z.B. des Göttlichen oder der organischen Natur grundsätzlich ausschließt und dennoch notwendig Aussagen über diese Sphären treffen muss. In dieser Spannung des kantischen Systems liegt die Wurzel für die Dynamik der nachkantischen Philosophie, deren Höhepunkt einer völligen Auto­ nomisierung des Subjekts beim frühen Fichte (vor 1800) zum Umschlag­ punkt für die Forderung nach seiner Selbsttransformation wird. Fichte knüpft bekanntlich an Kants »höchsten Punkt« (KrV, B 134) und »obersten Grundsatz« (KrV, B 135) des »ich denke, [das] alle meine Vorstellungen [muss] begleiten können« (KrV, B 132) an und führt 15 Schelling bemerkt: »Vielleicht aber sind nie auf so wenigen Blättern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden, als in der Kritik der teleologischen Urteilskraft § 76 geschehen ist« (AA I,2, 175). 16 Vgl. den berühmten Ausspruch Schellings in einem Brief an Hegel: »Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?« (F.W.J. Schelling an G.W.F. Hegel, 6. Januar 1795, Fuhrmans, Briefe II, 57.).

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diesen über Kant hinaus. Seine »ursprüngliche Einsicht«17 sagt ihm, dass das transzendentale Ich nicht – wie bei Kant – aus der Einheit des Bewusstseins in der Verbindung von Vorstellungen besteht und somit lediglich als Abstraktion auf der Basis gegebener Vorstellungen gedeutet werden kann.18 Fichte beschreibt das Ich als Selbstverhältnis der reinen Tätigkeit, als Einheit von Selbst- und Existenzgewissheit und fasst das unmittelbare Bewusstsein des Ich-bin als intellektuelle Anschauung. Weil das Ich im Erkennen seiner selbst zugleich sich selbst setzt und damit in der Tathandlung »das Thätige und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird« (AA I,2, 295) ineinsfallen, sieht Fichte sich berechtigt, die von Kant abgelehnte intellektuelle Anschauung für das sich selbst setzende Ich zu reklamieren und damit das Ich als absolute Identität zu profilieren und als einzig möglichen Ausgangspunkt für die Fundierung der Wissenschaft aufzuweisen, auch wenn die intellektuelle Anschauung dadurch ein anderes Gepräge annimmt, als sie es bei Kant hatte. Die Subjektivität ist hier nicht nur, wie schon bei Kant, von jeglicher Substantiierung befreit, sondern wird zudem in der Dynamik einer reinen Tätigkeit gedacht, die nicht mehr auf einem gegebenen Vermögen oder einer Eigenschaft des Subjekts beruht, sondern je und je im Vollzug der Selbstsetzung hervorgebracht wird.19 Mit der Betonung dieser voraussetzungslosen Figur der autonomen Selbstsetzung wird die Stellung des Subjekts gleichsam auf die Spitze getrieben. Es hat sich aus einer ihm vorgängigen Struktur eines kosmo­ logischen Gesamtgefüges gelöst und einzig auf sich selbst gestellt. Das Objekt als Nicht-Ich ist zwar unabdinglich für das Subjekt, weil es durch dessen Anstoß zur Erfahrung gelangt, es bleibt aber als Nicht-Ich ledig­ lich die durch das perennierende Sollen beständig verschobenen Grenze menschlicher Zwecksetzung, deren Eigenwert sich auf ihre Funktion eines durch das Subjekt zu Überwindenden beschränkt. Schelling knüpft in seinen frühen Werken direkt an Fichtes Reformulierung der Transzendentalphilosophie an. Insofern steht sein Nachdenken zunächst ganz im Horizont der Entwicklungslinie einer Vgl. Henrich 1971. Vgl. Förster 2011, 170. 19 Vgl. Hühn 1994, 45 und 53. Damit einher geht bei Fichte zugleich eine Kritik am Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins, das dem Rückfall in einen infiniten Regress nicht aus dem Weg zu gehen in der Lage ist. Fichte deckt dieses Problem sowohl bei Descartes und in der Folge insbesondere bei Kant auf (vgl. Fichte, AA IV,2, 30), ohne die damit einhergehenden Aporien selbst befriedigend lösen zu können. Vgl. hierzu Henrich 1971, 2001 sowie Frank 1985. 17

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Autonomisierung des Subjekts, wie sie sich von Descartes über Kant zu Fichte vollzogen hat. Allerdings treten bei Schelling schon hier erste Bruchlinien und Spannungen auf, die seine spätere Abkehr vom Projekt der neuzeitlichen Subjektphilosophie anzeigen. Schellings Ansatz einer Naturphilosophie, die die Bedingung der Möglichkeit des Zu-sich-Kom­ mens der selbstgewissen Subjektivität aufweisen will und diese damit in einen holistischen Zusammenhang einbettet, wird im Folgenden als frü­ hes Indiz der Krisis neuzeitlicher Subjektivität gewertet.20 Aus ihr speisen sich im weiteren Werkverlauf diejenigen Motive, die, wenn auch in gewandelter Form, in den Erlanger Vorlesungen erneut zum Tragen kom­ men.

2. Der Grund der Subjektivität beim frühen Schelling Die Kritik an der abgelösten Selbstdurchsichtigkeit und Selbstgenügsam­ keit transzendentalphilosophischer Subjektivität lässt nicht lange auf sich warten. Aus ihr speisen sich im Wesentlichen die Suchbewegungen der Frühromantik sowie die wirkmächtigen Bemerkungen Hölderlins in seinem berühmten Fragment Urtheil und Seyn, in dem Hölderlin das Bewusstsein aus einem ihm vorgängigen Einheitsgrund sich konstituie­ ren lässt.21 Allerdings ist es erst die Entwicklung des fichteschen Denkens um 1800, die bei Schelling die drastischen Aussagen über Fichtes Ich-Begriff als Sündenfall der Philosophie evoziert. Ab 1801/1802, besonders pointiert herausgearbeitet in der Wissenschaftslehre von 1804, modifiziert Fichte dieses Problem bekanntlich dadurch, dass er über das Ich hinaus ein absolutes Sein als dessen unverfügbaren Grund annimmt, das erst zutage tritt durch eine Selbstvernichtung des absoluten Ich-Wissens. »Vom Wir oder Ich aus giebtʼs keine Philosophie; es giebt nur eine über dem Ich. Demzufolge hängt die Frage über die Möglichkeit der Philosophie davon ab, ob das Ich zu Grunde gehen und die Vernunft rein zum Vorschein kommen könne« (Fichte, AA II,8, 284). Vgl. hierzu Schmidt 2004. 21 Hölderlin 1998, 7f. Das Fragment hat durch die Arbeiten Henrichs Berühmtheit erlangt. Vgl. hierzu Henrich 1992 sowie Frank 1985, 61–70; Hühn 1994, 87f. und Waibel 2000. Der Grundgedanke Hölderlins lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Bewusstsein ist notwendig eine Beziehungsstruktur der Selbstbezüglichkeit. Die Identität dieser Selbst­ bezüglichkeit des Bewusstseins ist ein relationaler, prozessualer Zusammenhang, der Gegensätze nicht aufhebt, sondern sich aus ihnen konstituiert. Die Identität ist aber zugleich auch nur deshalb Identität, weil ihr ein absolutes Seyn – so der Terminus Hölderlins – vorausliegt. Das Seyn übersteigt also das Selbstbewusstsein, ist aber dennoch mit ihm verbunden und manifestiert sich in ihm, weil letzteres erst aus ihm entsteht. Das Bewusstsein, hier gedacht als Gleichursprünglichkeit von Ich-Bewusstsein und WeltBewusstsein, tritt erst mit dem Akt des Urteilens ein, der nicht als Produkt der Tätigkeit 20

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

Der junge Schelling findet in Fichtes Schriften zunächst den Ansatz, der ihn »zuerst zu einer vollständigen Entwicklung seiner Gedanken« (AA I,1, 250) brachte. Mit seiner Schrift Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt ist Schelling der erste Autor, der sich öffentlich an Fichtes Programmschrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre anschloss.22 Stärker noch als Fichte stellt Schelling hier den Zusammen­ hang zwischen dem absoluten Ich und der Freiheit und Autonomie heraus und macht zugleich klar, dass die von dort her entwickelte Philosophie »unendlich weniger, als das Wissen jeder andern Philoso­ phie auf Egoismus jeder Art hinauslaufen« wird (AA I,1, 287).23 Wie ist dies zu verstehen? Offensichtlich liegt der Grund hierfür in der Auffassung des absoluten Ichs, das Fichte wie Schelling eben nicht mit der endlichen Subjektivität gleichsetzen, sondern vielmehr nah an den Begriff des Absoluten anlehnen. Im Sinne des causa-sui-Gedanken geht Schelling in seiner ein halbes Jahr später erschienen Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie davon aus, dass das absolute Ich als Prinzip der Philosophie beweise, dass »das Wesen des Menschen nur in absoluter Freiheit bestehe« (AA I,2, 78). Es enthält alle Realität (vgl. AA I,2, 111) und alles was ist, ist nur durch das Ich (vgl. AA I,2, 121). Gerade durch seine Absolutheit und Universalität muss diesem Ich nach Schellings Verständnis das Gegenteil von Egoismus zugesprochen werden. Auch in der Ich-Schrift schlägt Schelling demnach in Fichtes Kerbe, wenn er im absoluten Ich dasjenige höchste Prinzip findet, das Kant in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption lediglich vorausgesetzt habe (vgl. AA I,2, 72), und es im Anschluss an Jacobi als Unbedingtes, d.h. nicht zu Verobjektivierendes, profiliert (vgl. AA I,2, 89f.). Allerdings betont Schelling nicht vornehmlich die Selbstgewissheit, sondern vor allem den Realitätsaspekt des absoluten Ichs als »Realgrund alles Wissens« (AA I,2, 91), das durch seinen Realitätsgehalt in der Identität von Denken und Sein den infiniten Regress des reflexiven Wissens verhindere. Mit der Vorgängigkeit des Grundes des Bewusstseins legt Schelling an, was er mit den frühen Schriften zur Naturphilosophie, in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (1795) und des Ich verstanden wird, sondern umgekehrt eben das Ich-Bewusstsein zuallererst bildet. Bewusstsein ist also immer schon Relation von Subjekt und Objekt. Ein unmittelbares Ich-Bewusstsein wie bei Fichte ist Hölderlin zufolge nicht möglich. 22 Vgl. Henrich 2004, 1573. 23 Vgl. Henrich 2004, 1584.

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I.1 Kulmination und Krisis neuzeitlicher Subjektivität

in der Folge im System von 1800, hier bereits in Abgrenzung zu einer einseitigen Subjektphilosophie fichtescher Provenienz, zu elaborieren sucht.24 In den Philosophischen Briefen tauchen erstmals Themen auf, die als Präfiguration von Motiven der Erlanger Vorlesungen gelten können: Hier wird das Absolute bzw. Unbedingte als das allen Gegensätzen vorhergehende Prinzip herausgestellt, das der theoretischen Reflexion allerdings grundsätzlich entzogen ist und nur in der intellektuellen Anschauung geschaut werden kann (vgl. AA I,3, 94).25 Im System von 1800 ist es in der Konsequenz nicht mehr das Ich, das als Prinzip der Philosophie gelten kann, denn es ist nicht über die Gegensätze des Selbstbewusstseins erhaben. Es ist vielmehr ein »Grund der Harmo­ nie zwischen dem Subjectiven und dem Objectiven«, der als »absolut Identisches gedacht werden muß« (AA I,9, 1, 27) und Transzendentalund Naturphilosophie als parallel konstruierte und sich wechselseitig ergänzende Wissenschaften jeweils in einer prästabilierten Harmonie fundiert.26 Diese vorherbestimmte Harmonie sei nur als Tätigkeit denk­ bar, die in der Welt unbewusst, im freien Handeln des Menschen bewusst agiere (vgl. AA I,9,1, 39). Damit überschreitet Schelling Fichtes Begriff vom Ich hin auf ein ontologisches Prinzip, das Natur und Geschichte gleichermaßen umgreift und das als Grundzug seines Denkens – wenn auch in einigen Modifikationen – im Wesentlichen durchgetragen wird. Nur mithilfe dieses übergeordneten Ganzen könne die von Fichte nicht befriedigend gelöste Frage, »wie denn das ganze System des Wissens […] durch das Ich gesetzt sey« geklärt werden (AA I,9,1, 69). Die endliche Subjektivität entstehe durch einen Akt der Selbstanschauung, in dem sich das absolut Identische in Subjekt und Objekt zugleich teile und damit zum Ich werde. Das Ich des Selbstbewusstseins ist also kein absolutes, sondern ein vermitteltes bzw. verkehrtes, das aus seiner ursprünglichen Trennung nur in der Geschichte des Selbstbewusstseins das Prinzip seiner Einheit zurückgewinnt (vgl. AA I,9,1, 91). Damit vollzieht Schelling eine doppelte Modifikation transzenden­ talphilosophischer Subjektivität: Er isoliert sie nicht von ihrem Zusam­ menhang, sondern begreift die auf sich selbst gestellte erkennende Subjektivität vielmehr auf der Grundlage ihrer ›transzendentalen‹ Ver­ gangenheit in Natur und Geschichte. Dies geht Hand in Hand mit Vgl. zur Diskussion Schellings und Fichtes um den Status der Transzendental- bzw. Naturphilosophie um 1800 Schwab 2022. 25 Vgl. hierzu auch Hühn 1994, 155–182. 26 Vgl. hierzu bspw. Schwab 2017, 278. 24

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Schellings Auffassung, der Natur als natura naturans von Anfang an eine Fähigkeit zur Autonomie und Selbstorganisation zuzusprechen und damit eine Universalisierung der Freiheit über die menschliche Subjektivität hinaus zu vollziehen (vgl. bspw. AA I,7, 81).27 Während im System von 1800 Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie als zwei parallele und nicht aufeinander reduzible Wissenschaften aufgefasst werden und Schelling sich deshalb dem Vor­ wurf ausgesetzt sieht, seine Philosophie nicht in einem Systemganzen fassen zu können, reformuliert Schelling im Folgenden in Abgrenzung zur Kritik Fichtes in einem »neuen System« seinen Ansatz, indem er sich auf den Indifferenzpunkt von Natur- und Transzendentalphilosophie stellt – selbstverständlich nicht ohne zu beteuern, dass es sich bei diesem System um dasjenige handelt, das er von Anfang an vertreten habe (vgl. AA I,10, 110). In der Darstellung meines Systems von 1801 wird demgemäß die Vernunft als »totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven« (AA I,10, 116) als absoluter Grund eingeführt, der den transreflexiven Einheitspunkt alles Erkennens bildet. Schelling zielt also auch hier auf einen dem Subjekt vorgängigen Grund von Subjektivem und Objektivem, von dem her das Subjekt sich konstituiert. Um dem Vorwurf des schlichten Dogmatismus zu entgehen, muss Schelling allerdings rechtfertigen, wie das Subjekt sich in der Erkenntnis auf diesen Einheitspunkt zu stellen vermag. Dies wäre nur möglich, wenn es – ausgehend von seiner Konstituiertheit als Subjekt – sich selbst zu übersteigen in der Lage wäre hin auf die vorsubjektive Vernunft. Genau an dieser Stelle scheiden sich die Geister von Fichte und Schelling nicht nur implizit, sondern bis in die öffentliche Stellungnahme – eindrücklich dokumentiert in ihrem Briefwechsel.28 Während Fichte das Hinausgehen des Denkens über sich selbst nicht für möglich erachtet, fordert Schelling eine doppelte Abstraktion des Denkenden im Denken von sich selbst (vgl. AA I,10, 116).29 Schelling erhebt mithin den Anspruch, 27 In der späteren Diktion der Freiheitsschrift kehrt Schelling bekanntlich Fichtes grund­ legendes Paradigma um, indem er pointiert bemerkt, dass »nicht allein die Ichheit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey« (AA I,17, 124). Vgl. hierzu bspw. Grün 1993. 28 Vgl. AA III,2, 1 und 2; sowie Hühn 2012a, 7–66. 29 Die sog. ›Vernunftanschauung‹ wird mithin ähnlich wie die intellektuelle Anschauung der Natur verstanden, in der der Denkende ebenfalls von sich selbst abstrahieren soll, um die reine Tätigkeit der natura naturans fassen zu können, nur dass es sich hierbei nicht um die Anschauung eines Objektiven (Natur) handelt, sondern um die Vernunft, die jenseits von Subjekt und Objekt verortet wird. Vgl. hierzu Kapitel II.4.1.

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dass »das Setzen in der Vernunft kein Setzen des Menschen (des Sub­ jects), und [dass] dasjenige, wovon die Vernunft das Setzen ist, weder ein subjectives, noch ein objectives, sondern eben ein absolutes sey« (Plitt III, 223) und fordert eine von aller Subjektivität befreite Philosophie (vgl. SW X, 148).30 Auch Fichte vertritt – spätestens mit den ab 1800 eintretenden Verschiebungen in der Anlage der Wissenschaftslehre – eine Selbstzurück­ nahme subjektiven Wissens, die sich in dem Stichwort der Selbstvernich­ tung bündeln lässt. Anstatt jedoch dem Subjekt durch die Selbstvernich­ tung einen Zugang zum Absoluten zuzugestehen, verzichtet er auf eine positive Bestimmung des Absoluten und macht es damit zur reinen Transzendenz, die lediglich in einer negativen Annäherung im Sinne der Tradition negativer Theologie zu umschreiben ist.31 Dass Fichte damit das Ich letzten Endes – anders als noch in den frühen Wissenschaftslehren – auf seine Endlichkeit reduziert, ist für Schelling als Denker des Unbedingten ein unverzeihlicher Rückfall. Bereits in dieser Kontroverse mit Fichte wird deutlich, dass es Schelling in der vermeintlichen Depotenzierung der Subjektivität nicht um deren Negation oder Aufhebung, sondern dass es ihm vielmehr um eine Öffnung der endlichen Subjektivität hin auf das Absolute geht. Indem die Subjektivität von sich selbst absieht, bleibt sie nicht in der Endlichkeit befangen, sondern ermöglicht gleichsam den Zugang zum Absoluten, das als Grund ihrer selbst immer schon in impliziter Präsenz anwesend ist. Durch das Aufdecken der Vorgängigkeit eines vorsubjektiven Grun­ des im subjektiven Bewusstsein kommt Schelling zur Kritik an einem selbstgenügsamen und selbstdurchsichtigen Subjekt. In den kommen­ den Jahren gewinnt diese Kritik weiter an Schärfe. Anlass dafür ist Fichtes Subjektivitätskonzeption in der Schrift Die Bestimmung des Menschen von 1800, in denen Fichte – im Gegensatz zu den frühen Wissenschaftslehren – das Subjekt auf seine Endlichkeit reduziert und das Absolute in ein Jenseits verbannt, zu dem sich der Menschen nur qua Glaube in Beziehung setzen kann (vgl. GA II, 221f., 254). In einer pointierten Abgrenzungsbewegung von diesem Ansatz findet in der 30 Vgl. den paradigmatischen Passus aus »Nicht ich weiß, sondern das All weiß in mir, wenn das Wissen, was ich das meinige nenne, ein wirkliches, ein wahres Wissen ist« (SW VI, 140). 31 »Das absolute selbst aber ist kein Seyn, noch ist es ein Wissen, noch ist es Identität, oder Indifferenz beider: sondern es ist eben – das absolute – und jedes zweite Wort ist vom Uebel.« J.G. Fichte an F.W.J. Schelling, 15. Januar 1802, AA II,3,2, 403.

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Folge eine Zuspitzung derjenigen Tendenz in Schellings Werk statt, die die Abgründigkeit neuzeitlicher Subjektivität im Zusammenhang mit ihrer Abkehr von dem sie fundierenden Grund betont und die damit einhergehende Beherrschungslogik z.B. gegenüber der Natur kritisiert.32

3. Der Abfall vom Absoluten in Schellings Identitätsphilosophie Bereits in den Ferneren Darstellungen von 1802 hatte Schelling Fichte vorgeworfen, durch die Rückbindung des absoluten Erkennens an das empirische Bewusstsein das Absolute immer schon verloren zu haben (vgl. AA I,12,1, 95–97). Demgegenüber geht Schelling davon aus, dass das Absolute dem Bewusstsein dann innewohnen könne, wenn letzteres darauf verzichtet, von ihm ein vergegenständlichtes Wissen haben zu wollen.33 Daran anschließend wird in der im selben Jahr erschiene­ nen Schrift Über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt allen neueren Philosophien (wobei Schelling insbesondere Kant und Fichte im Blick haben dürfte) attestiert, sie seien lediglich verschiedene Ausprägungen der unüberwindlichen Entgegensetzung des Dualismus von Descartes (vgl. SW V, 116) und krankten durch die Herauslösung des Subjektes und die Transzendentsetzung des Absoluten in der Folge an einer einseitigen, verobjektivierenden Betrachtungsweise der Natur (vgl. SW V, 121). Erst durch eine Reinigung der Seele nach dem Im Spätwerk Schellings mündet diese Tendenz in der sog. ›Positiven Philosophie‹. Schulz bemerkt in diesem Kontext, die Positive Philosophie sei keine Eröffnung eines neuen Gebietes, sondern das Aufdecken des eigentlichen Wesens des Denkens. Das Denken vollziehe sich hier aus dem Grund des Denkens, der zugleich Grund des Wirklichen sei. Vgl. Schulz 1986, 84. 33 »Jeder ist von Natur getrieben, ein Absolutes zu suchen; aber indem er es für die Reflexion fixiren will, verschwindet es ihm. Es umschwebt ihn ewig, aber er kann es nicht fassen. Es ist nur da, inwiefern ich es nicht habe, und inwiefern ich es habe, ist es nicht mehr. Nur in Augenblicken, wo in diesem Streit die subjektive Thätigkeit sich mit jenem Objektiven in unerwartete Harmonie setzt, tritt es vor die Seele. Solche Augenblicke beschreiben dann diejenigen, denen sie zu Theil werden, als Augenblicke religiöser Weihe.« (AA I,12,1, 99, Anm. 2) Vgl. auch: »Das einzige einem solchen Gegenstand, als das Absolute, angemessene Organ ist eine ebenso absolute Erkenntnisart, die nicht erst zu der Seele hinzukommt durch Anleitung und Unterricht u.s.w., sondern ihre wahre Substanz und das Ewige in ihr ist. […] daher auch die Absicht der Philosophie in Bezug auf den Menschen nicht sowohl ist, ihm etwas zu geben, als ihn von dem Zufälligen, das der Leib, die Erscheinungswelt, das Sinnenleben zu ihm hinzugebracht haben, so rein wie möglich zu scheiden und auf das Ursprüngliche zurückzuführen« (SW VI, 26). 32

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Vorbild von Platons Phaidon bzw. den vorchristlichen Mysterien ließe sich eine Überwindung dieses Dualismus denken (vgl. SW V, 124). Schelling fordert in dieser Phase seiner Identitätsphilosophie eine notwendige Entwicklung des Menschen nach dem Vorbild von Katharsis und Wandlung und knüpft damit an die platonischen Ursprünge seines Philosophierens im Tübinger Stift an.34 Mit der Betonung der Überwin­ dung einer bloß an das empirische Bewusstsein gebundenen Subjektivi­ tät tritt auch die Frage nach dem Ursprung dieser Subjektivitätsform und ihres Bewusstseins auf. Gemäß seines geschichtlich-metaphysisch geprägten Ansatzes nimmt Schelling die ursprüngliche Trennung der Endlichkeit von dem Absoluten als metaphysische Ursache des neuzeit­ lichen Dualismus in den Blick. In diesem Kontext gewinnt für Schelling das Motiv des ›Abfalls‹ als Bedingung der Möglichkeit neuzeitlicher Subjektivität sukzessive an Bedeutung.35 Dabei wird die gefallene End­ lichkeit in der Identitätsphilosophie zunächst im platonischen Sinne als privatio boni und als Schein charakterisiert und bezeichnenderweise in einem Atemzug genannt mit einer von aller Notwendigkeit losgelösten willkürlichen Freiheit, die aufgrund ihrer Losgelöstheit »nichts als Bilder ihrer eignen Nichtigkeit, d.h. die sinnlichen und wirklichen Dinge, producieren« kann (SW VI, 40). Durch den Abfall vom Absoluten wird das Erkennen zu einem bloßen Abspiegeln der Eigenheit, die in diesen Spiegelungen bzw. »Bildern« sich die Objektwelt gegenüberstellt, wobei der Terminus des ›Bildes‹ als unmissverständliche Kritik an Fichtes Bildtheorie zu lesen ist.36

Vgl. hierzu auch die Bemerkungen im Bruno (AA I,11, 355f.). Prominent wird der Abfall in Philosophie und Religion von 1804 erwähnt: »Mit Einem Wort, vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Uebergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar. […] Das Absolute ist das einzig Reale, die endlichen Dinge dagegen sind nicht real; ihr Grund kann daher nicht in einer Mittheilung von Realität an sie oder an ihr Substrakt, welche Mittheilung vom Absoluten ausgegangen wäre, er kann nur in einer Entfernung, in einem Abfall vom Absoluten liegen« (SW VI, 38). Allerdings gibt es Vorformen dieses Motives bereits in früheren Schriften, so z.B. in der Darstellung meines Systems von 1801. Im § 30 begründet Schelling das Verhältnis der quan­ titativen Differenz von Subjektivität und Objektivität zur Indifferenz bzw. Totalität durch einen »Absonderungsakt«, durch den überhaupt erst Differenz erscheint: »Sie [die Indif­ ferenz, J.H.] erscheint nur dem, welcher sich selbst von der Totalität abgesondert hat, und inwiefern er sich absondert, als ein Producirtes; dem, welcher nicht aus dem absoluten Schwerpunkt gewichten ist, ist sie das erste Seyn […]« (AA I,10, 129f.). 36 Vgl. zur Bildtheorie bei Fichte Asmuth 1997. 34

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Von hier aus ist es ein kleiner Schritt, das ›Ich‹ von Fichtes SubjektPhilosophie als »Prinzip der Sünde« zu kennzeichnen – wie Schelling es mit Rückverweis auf Philosophie und Religion in seiner sogenannten Anti-Fichte-Schrift zwei Jahre später unumwunden tut.37 Zudem fasst Schelling das Endliche nach wie vor als bloßen Schein auf und wirft Fichte und seinen Nachfolgern – hier im Besonderen Eschenmayer – vor, es sei ihr bloßer Eigenwille, der ein endliches, wirkliches Sein fordere: Es ist nämlich keineswegs ihre Wissenschaft, sondern bloß ihre Schuld, daß ein solches Endliches für sie dennoch existirt, und es läßt sich dieß nur ableiten aus ihrem von der Einheit abgewandten und eigenen Willen, der ein Seyn für sich will, und eben darum weder sich selbst noch die Dinge sieht, wie sie wahrhaft in Gott sind; und da ferner der religiöse Standpunkt eben der des Sehens aller Dinge in Gott ist, ohne Beweis oder weitere Begründung, sondern eben schlechthin und mit gänzlichem Nichtwissen des Gegentheils, so kann auch von diesem Standpunkt aus ein solches Daseyn einer solchen endlichen Welt, als wir beschrieben haben, nur auf die gedachte Weise abgeleitet werden, nämlich durch ein Abwenden des individuellen Willens von Gott als der Einheit und Seligkeit aller Dinge – durch einen wahren Platonischen Sündenfall, in dem sich der Mensch befindet, welcher die als todt, als absolut mannichfaltig und getrennt gedachte Welt dennoch für wahr und wirklich hält. (SW VII, 82)

Die Endlichkeit, die der neuzeitliche Dualismus ganz selbstverständlich für wirklich hält, ist also für den Schelling der Identitätsphilosophie lediglich Schein, der aufgrund des egoistischen Wollens der Subjektivi­ tät fälschlicherweise als Wirklichkeit aufgefasst wird. Dabei wird die vermeintliche Existenz der Endlichkeit von Schelling nicht etwa als Folge einer bestimmten Systemkonzeption aufgefasst, sondern radikal sündentheologisch als Schuld und Fall markiert. Der Dualismus sei mithin kein factum, sondern eine »willkürliche Vorstellung«.38 Mit der Abkehr vom Absoluten und dem durch den Eigenwillen der Subjektivität aufgerissenen Dualismus gehe dabei zugleich eine inadäquate Auffassung der Natur einher. Pointierter als in den frühen naturphilosophischen Schriften stellt Schelling hier in aller Schärfe die Einseitigkeit eines Natur­ begriffes heraus, der die Natur als »leere Objektivität, bloße Sinnenwelt, vernunftlos, unheilig, ungöttlich, tot« (SW VII, 21) ansieht. Es sei der »Wir haben ihm nachgewiesen, daß er das eigentliche Princip der Sünde, die Ichheit, zum Princip der Philosophie gemacht […]« (SW VII, 26). 38 »[…] jene ganze Vorstellung des Seyns als eines Todten, rein-Objektiven – so wie der Welt als eines in unendliche Mannigfaltigkeit wirklich Gespaltenen – ist eine von der empirischen Subjektivität erzeugte, völlig willkürliche Vorstellung […]« (SW VII, 80). 37

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»Hochmuth und wahnsinnige Dünkel der Erhabenheit über die Natur« (SW VII, 36), der die Ursache nicht nur für die verkehrte Erkenntnis der Natur ist, sondern auch für einen ›unsachgemäßen‹ Umgang mit ihr. Damit deckt Schelling gerade in der Zeit der großen Errungenschaft der Neuzeit – dem Autonomieprojekt neuzeitlicher Subjektivität – die immanenten Abgründe desselben auf. Durch die auf die Autonomisie­ rung der endlichen Subjektivität begründete Erkenntnis werde eine fälschliche Auffassung der Wirklichkeit erzeugt, die nur durch eine verwandelte Geisteshaltung verhindert werden könne. Oder auch in Schellings zu Pathos neigenden Worten: Nicht das Leben der Natur selbst, auch nicht dein wahrer ursprünglicher Sinn ist verschlossen; der eigne innere Geistes- und Herzenstod verhüllt und verschließt dir beide. Das wirkliche Sehen des Lebendigen kann aller­ dings nicht bemerkt werden in jenem tölpischen oder auch hochmüthigen Wegfahren über die Dinge; es gehört dazu der Zug innerer Liebe und Verwandtschaft deines eignen Geistes mit dem Lebendigen der Natur, die stille, nach der Tiefe dringende Gelassenheit des Geistes, damit das bloß sinnliche Anschauen zu einem sinnigen werde. (SW VII, 62)

Für Schelling ist von Anfang an klar, dass mit einer einseitigen rationalis­ tischen Naturauffassung zugleich eine zerstörerische Haltung einhergeht. Dass für Fichte die Natur lediglich zum Gebiet menschlicher Zweckset­ zung degradiert wird, identifiziert Schelling als »ökonomisch-teleologi­ sche[s] Princip«, das Natur zum bloßen Nutzobjekt macht und damit zerstört, denn »soweit nur immer die Natur menschlichen Zwecken dient, wird sie getödtet« (SW VII, 17f.). Damit ist Schelling neben Goethe, Alexander von Humboldt, Hen­ rik Steffens etc. einer der Philosophen, die angesichts der neuzeitlichen Konzeption von Subjektivität auf die Gefahren der Verabsolutierung wissenschaftlicher und subjektzentrierter Rationalität im Verhältnis zur Natur hingewiesen haben. Weil die neuzeitliche Philosophie sich von einer wissenschaftlich-philosophischen Auffassung des Absoluten abwende und Subjektivität auf das empirische Bewusstsein beschränke, gelange sie zu einem eingeschränkten Naturbegriff. Natur wird nicht mehr als »selbstlebendig« aufgefasst, sondern als tote Ressource. Dies sei der erste Schritt zu einem »durch keine Künste weiter zu bemäntelnden Geistestod« (SW VII, 19). Während Schelling in der Phase seiner Identitätsphilosophie auf der Grundlage einer platonisierenden Auffassung der Endlichkeit zu diesem Befund gelangt, findet in der Folge – auch aufgrund zunehmender Kritik

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

identitätsphilosophischer Konzeptionen – eine Reformulierung seines Systemansatzes statt, die eine neue Phase in Schellings Werk einleitet.

I.2 Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹ Diese neue Werkphase, an deren Ende die Erlanger Vorlesungen stehen, wird im Folgenden in den Fokus gerückt, um diejenigen Motive hervor­ zuheben, die 1821 in den Erlanger Systementwurf münden. Während in Schellings identitätsphilosophischer Phase eine platonisch geprägten Auffassung der Endlichkeit vorherrscht, findet zwischen 1806 und 1809 eine Verschiebung statt, deren konstellative Hintergründe zu diskutieren sind (II.2.1). Systematisch steht die Verschiebung im Zusammenhang mit einem gewandelten Begriff des Bösen, dessen Motivation sich entschei­ dend aus der Kritik am neuzeitlichen Autonomieprojekt speist (II.2.2). In der Folge entsteht konsequenterweise die Frage nach alternativen subjekttheoretischen Ansätzen, die in den Erlanger Vorlesungen zu einer konstruktiven Ausformulierung führt (II.2.3).

1. Der Übergang zur ›mittleren Philosophie‹ Aufgrund von Schellings Prädisposition, sich von Gedanken anderer anregen zu lassen, ist es nur natürlich, dass in der Forschung im Wesent­ lichen konstellativ argumentierende Thesen als Begründung für den Übergang von der identitätsphilosophischen Phase in Schellings Werk zu seiner sogenannten ›mittleren Philosophie‹ vertreten werden: Die einen machen die Kritik Hegels an der Dunkelheit der systembegründenden Funktion absoluter Identität fruchtbar für die Selbstkorrekturen, die Schelling 1809 vornimmt,39 die anderen begründen diese vor allem durch die mit der Umsiedelung nach München im Jahre 1806 neuerlich angereg­ ten Auseinandersetzungen mit theosophischem und mystischem Gedan­ kengut.40 Auch die Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Gedanken 39 Vgl. hierzu vor allem die jüngst erschienenen Studien von Philipp Schwab 2018a und 2018b. 40 Vor allem der fruchtbare Austausch mit Franz von Baader wird hier als Inspirations­ quelle ins Feld geführt für den prinzipientheoretischen Neuansatz, den Schelling bereits in der Anti-Fichte-Schrift anlegt und 1809 weiter ausformuliert (vgl. Zovko 1996). Baader und Schelling tauschen sich insbesondere über die Schriften von Friedrich Christoph Oetinger

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I.2 Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹

bei Leibnitz,41 die Abgrenzung zu Jacobis Pantheismusvorwurf42 und die Einwände Eschenmayers gegen die Identitätsphilosophie43 sind als Anlass für und als Einflussquellen auf die Reformulierung, die Schellings Philosophie seit dem Jahre 1806 erfährt, gut untersucht. 1805/06 hatte Hegel die Identitätsphilosophie seines vormaligen engen Jenaer Kollegen vermutlich erstmals öffentlich kritisiert. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bezichtigt er sie eines »Formalismus«, der lediglich oberflächliche Bestimmungen vornehme und die Notwendigkeit der Begriffsbewegung vermissen lasse.44 Des Weiteren sind es die berühmten Polemiken Hegels gegen die Auffassung eines Absoluten als unterschiedslose Identität (vgl. GW 9, 17)45 in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von 1807, die die Entfremdung zwischen den beiden Denkern unter Beweis stellen.46 Ihnen setzt Hegel seinen eigenen Ansatz einer ›Dialektik des Anfangs‹ im Sinne einer »sich bewegenden Selbstgleichheit« (GW 9, 18) und damit ein ›System im

und Jakob Böhme aus, deren Lektüre durch die Bemerkungen in den Briefen dieser Zeit nachgewiesen ist, vgl. Plitt II, 101, 162, 166. Vgl. hierzu auch die Untersuchungen von Jacobs 2001 sowie Koslowski 2001 und SchmidtBiggemann 2002. 41 So wendet sich Schelling gegen die Auffassung des Bösen als Unvollkommenheit und Schwäche des Menschen bei Leibnitz. Vgl. Hermanni 2004, 22. Buchheim vertritt die These, dass Schelling die Idee eines internen Dualismus von Leibnitz übernommen habe (vgl. Buchheim 1997, L). 42 Vgl. Sandkaulen-Bock 1990. 43 Vgl. Tilliette 1970, Bd. I, 231, 312 sowie Lee 2016 und Jantzen 2004. 44 Werke Bd. 15, 672. Da es in der Forschung als umstritten gilt, bis zu welchem Grade die gedruckte Fassung auf der tatsächlich gehaltenen Vorlesung beruht, da der Herausgeber Michelet selbst zugibt, recht frei kompiliert zu haben, ist der Zeitpunkt der ersten öffentlichen Kritik nicht mit absoluter Sicherheit auszumachen. 45 Gleichwohl muss bemerkt werden, dass die wirkmächtig gewordene Kritik mithilfe der Metapher der »Nacht, worin wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind« (GW 9, 17) von Schelling selbst in derselben Metaphorik geübt worden ist. Bereits 1803 hatte Schelling in der Schrift Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie bemerkt: »Denn die Meisten sehen in dem Wesen des Absoluten nichts als eitel Nacht, und vermögen nichts darin zu erkennen.« »[...] so will ich hier noch bestimmter zeigen, wie sich jene Nacht des Absoluten für die Erkenntniß in Tag verwandle« (AA I,12,1, 140). 46 Vgl. zur Entfremdung von Hegel und Schelling um 1807 Krings 1977; Schwab 2018a.

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

Werden‹47 entgegen, das erst am Ende der aus der Notwendigkeit des Begriffs sich ergebenden Entwicklung zum Absoluten vorstößt.48 Auch Schlegels Kritik zielt in dieselbe Richtung, wenn er in Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808) mit unmissverständlichem Seitenblick auf Schelling die Konzeption der Indifferenz als einen leeren Begriff bezeichnet, mit dem der Pantheismus die Unendlichkeit zu fassen suche.49 Damit einher geht der Vorwurf, das Identitätssystem leugne sowohl Freiheit als auch Selbstständigkeit, da es alles Endliche und alle Individuation in Gott aufgehen lasse.50 Zu den wichtigen Kritikern Schellings zählt auch Carl August von Eschenmayer. Bereits kurz nach der Veröffentlichung von Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie wendet er sich gegen die Mög­ lichkeit einer unmittelbaren Selbstbegründung der absoluten Identität, da er nicht sieht, wie aus der absoluten Identität die quantitative Differenz entspringen soll. Neben der Identität müsse demnach eine »absolute Differenz oder ein ursprünglicher Gegensatz«51 angenommen werden. In denselben Zeitraum, in dem diese kritischen Stimmen gegen das Identitätssystem laut werden, fällt Schellings Übersiedlung nach München und der damit einsetzende intensive Austausch mit Franz von Baader, bei dem Schelling vor allem auch von der reichhaltigen theosophischen Bibliothek des Bergrats profitiert, während Schelling Baader mit dem schwäbischen Pietismus Oetingers bekannt macht.52 Wesentliche Termini und Konzeptionen der Freiheitsschrift lassen sich auf die gemeinsame Böhme-Lektüre zurückführen.53 Dabei handelt es

47 »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn« (GW 9, 19). 48 Vgl. Schwab 2018a und 2018b. 49 KFSA, Bd. 8, 217, 243. 50 KFSA, Bd. 8, 199, 247. 51 Plitt I, 340. Vgl. auch Eschenmayers Einwürfe in Die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphilosophie §§ 73, 69–70. 52 Vgl. die Studie von Zovko, die den Austausch und die spätere Distanzierung zwischen Schelling und Baader fundiert aufarbeitet. Zovko 1996, hier vornehmlich 79–107. Vgl. auch Schellings Brief an Windischmann vom 7. August 1809 (Plitt II, 166): »Baader hat viele seltene Bücher über Theosophie und Magie; machen Sie namhaft, was Sie wünschen, so hoffe ich von ihm so wie von unserer in vielen Fächern wirklich herrlichen Bibliothek Vieles verschaffen zu können.« 53 Vgl. Zovko 1996, 140f. und Schwaetzer 2019.

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I.2 Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹

ich nicht nur um den Begriff des Ungrundes,54 sondern auch die Auffas­ sung, dass die Selbst-Offenbarung Gottes nur durch eine ursprüngliche, interne Dualität möglich ist.55 Auch die vorzeitliche Verkehrung des Willens beim Menschen, die Schelling im Anschluss an Kants Religions­ schrift ›intelligible Tat‹ nennt, kennt Böhme bereits, wobei hier nicht der Mensch selbst der Urheber des radikal Bösen ist, sondern gemäß der traditionellen Auffassung des Sündenfalls Luzifer als Verführer die Schuld zugeschrieben wird.56 Wie wenig andere Denker ist Schelling dafür bekannt, seismogra­ phisch auf Anregungen und Kritik zu reagieren und diese zum frucht­ baren Anlass – sei es in affirmativer oder distanzierender Weise – für eigene Überlegungen zu nutzen. Dabei träfe man allerdings nicht den Kern der Sache, wollte man diese Neigung Schellings als Schwäche seines eigenen Standpunktes auslegen. Vielmehr zeugt diese Offenheit von der Beweglichkeit eines Geistes, der in unablässiger Selbstkritik und -korrektur die einmal errungene Sichtweise in Frage stellen lässt. Die Position, Schellings Werk weder als ungebrochene Einheit noch als Geschichte der Zäsuren und des Scheiterns zu sehen, sondern seine Genese aus einer permanenten Selbstüberbietung ernst zu nehmen, findet hier erneut ihre Beglaubigung. Allerdings, so die hier vertretene Auffassung, bietet die Summe der kritischen und affirmativen Bezugnahmen Schellings noch keinen hinreichenden Grund für die Reformulierungen des Systemansatzes, die die mittlere Philosophie Schellings einläuten. Sie können lediglich als Impulse gelten für die Selbstkorrekturen, die aufgrund auftretender Spannungen in den Tiefenschichten des Identitätssystems vorgenom­ men werden. Das eigentliche Motiv für die Reformulierungen liegt, so die These, vielmehr in einer inhaltlichen Verschiebung von Schellings Bei Böhme heißt es beispielsweise in der Schrift De signatura rerum III, 2: »außer der Natur ist Gott ein, verstehet in dem Nichts, dann außer der Natur ist das Nichts […] dann es ist der Ungrund.« Vgl. auch De incarn. Verbi II, cap. 1, 8 sowie Myst. Magn. XLIII, 3. Zugleich liege im Ungrund, der selbst noch nicht Gott ist, bereits »die Kraft oder der Verstand zum Wesen«, »ein unergründlicher ewiger Wille«, in dem »alles liegt und der selber Alles ist, und doch nur Eines ist, und sich aber begehret zu offenbaren, und in ein geistlich Wesen einzuführen […]« (Böhme, Myst. Magn. VI, 1). 55 Vgl. beispielsweise: »Dann ein Ding, das nur einen Willen hat, das hat keine Schied­ lichkeit [.] So es nicht einen Widerwillen empfindet, der es zum Treiben der Bewegniß ursachet, so stehets stille: Dann ein Einig Ding weiß nichts mehr als Eines; Und ob es gleich in sich gut ist, so kennets doch weder Böses noch Gutes, dann es hat in sich nichts, das es empfindlich mache« (Böhme: Theoscopia I, 9). 56 Vgl. Böhme: Psych. vera I, 134. 54

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

Ansatz, die sich unter dem Stichwort ›Akzentuierung der Endlichkeit‹ zusammenfassen lässt und im vorherigen Abschnitt bereits angedeu­ tet wurde.57 So muss der identitätsphilosophische Ansatz beispielsweise eine Rechtfertigung geben für eine der Grundfragen, die den Philosophen zeit seines Lebens umgetrieben hat,58 und auch um 1809 als ein wesent­ licher Motor der Reformulierungen gelten kann: diejenige nach der Begründung für das Heraustreten des Absoluten aus der ursprünglichen Einheit. In der Schrift Philosophie und Religion (1804), die Schelling als Antwort auf Eschenmayers Abhandlung Die Philosophie im Übergang zur Nichtphilosophie (1803) abfasst, erlangt in der Frage des Heraustretens des Absoluten das Fall-Theorem eine zentrale Bedeutung.59 Während Schel­ ling in Philosophie und Religion gleichwohl noch an einem platonischen Sündenfallmodell festhält (vgl. SW VI, 32–34), das auf der identitäts­ philosophischen Auffassung der Immanenz aller Dinge im Absoluten beruht und damit das Absolute als einzig Reales gelten lassen kann (vgl. SW VI, 38)60, wird hier deutlich, dass der identitätsphilosophische Ansatz für die Fundierung der Endlichkeit und einen auf Individuation beruh­ enden positiven Begriff geschichtlicher Wirklichkeit nicht hinreicht.61 Eine positiver Begriff der Endlichkeit lässt sich demnach, so die Schlussfolgerung Schellings, nur durch das Ernstnehmen des unvordenk­ lichen Schuldzusammenhangs gewinnen, wie er ihn in der Figur des radikal Bösen in Kants Religionsschrift dargelegt findet. Schelling greift das Theorem der ›intelligiblen Tat‹ in seiner berühmten Freiheitsschrift auf und spitzt in unmissverständlicher Stellungnahme zu Fichte den Sündenfall als Prinzip des Idealismus zu.62 Vgl. Kapitel II.2.1. Bereits in seinem Erstlingswerk, der sog. Ich-Schrift, stellt Schelling die Frage, wie das absolute Ich dazu komme, aus sich selbst herauszugehen und sich ein Nicht-Ich schlechthin entgegenzusetzen (vgl. AA I,2, 99). 59 Vgl. Hermanni 2004, 181–198. 60 Vgl. SW VI, 40: »Da nämlich das Reale, wie es im Absoluten ist, unmittelbar als solches auch ideal und demnach Idee ist, so kann es, getrennt vom Absoluten, indem es rein als solches in sich selbst ist, nothwendig nicht mehr Absolutes, sondern nur Negationen der Absolutheit, Negationen der Idee produciren.« 61 Vgl. Zovko 1996, 198. 62 Mit Verweis auf die Abhandlung Philosophie und Religion schreibt Schelling in der sog. Anti-Fichte-Schrift: »Wir haben ihm nachgewiesen, daß er das eigentliche Princip der Sünde, die Ichheit, zum Princip der Philosophie gemacht […].« (SW VII, 26) Damit kann die intelligible Tat als Stellungnahme zum fichteschen Theorem der Tathandlung plausibilisiert werden. Lore Hühn liest mithin die Freiheitsschrift als verspätete Antwort 57

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I.2 Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹

2. Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit63 So unterschiedlich die Bewertungen der Freiheitsschrift auch sein mögen,64 hat das Werk wie kein anderes zur regen Rezeption Schellings im 20. Jahrhundert beigetragen. Dies vor allem auch deshalb, weil es als Indiz dafür angesehen werden kann, wie modern Schelling in seiner hier vertretenen Auffassung der Abgründigkeit neuzeitlicher Subjektivität ist, stellt die Freiheitsschrift doch einen Begriff des Bösen heraus, der dieses nicht bloß als Mangel, sondern vielmehr als positive Macht begreift. Friedrich Hermanni hat aufgezeigt, dass Schelling zwischen 1806 und 1809 eine radikale Wende bezogen auf die Theorie des Bösen vollzogen hat.65 Während in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie von 1906 das Böse in platonisch-neuplatonischer Tra­ dition noch als privatio boni verstanden wird, greift Schelling in der Freiheitsschrift auf den kantischen – und im Übrigen auch böhmeschen – Gedanken des Bösen als einer positiven Realität zurück, die durch die Verkehrung der sittlichen Ordnung in einer vorzeitlich geschehenen Selbstüberhebung des Menschen über das moralische Gesetz entsteht.66 Während die ›intelligible Tat‹ bei Kant lediglich das radikal Böse im Menschen erklären soll, überbietet Schelling die Konzeption, indem er die scharfe Kritik aus Philosophie und Religion wieder aufgreift, die intelligible Tat mit Fichtes Tathandlung in Verbindung bringt und sie zum verursachenden Prinzip des grundlegenden Verkehrungszusammenhan­ ges der Wirklichkeit erhebt.67 Als unvordenkliche Urdezision profiliert Schelling die intelligible Tat als Programmformel für die tragische Selbstverfehlung des neuzeitli­ chen Autonomieprojekts, in dessen autopoietischen Selbstsetzungsfigu­ ren er die unhintergehbare Verdrängung ihrer Möglichkeitsbedingungen aufdeckt.68 Indem der Mensch im ursprünglichen Vollzug seiner Freiheit sucht, »selbst schaffender Grund zu werden« (AA I,17, 157), verleugnet auf den Atheismusstreit. Vgl. Hühn 1998. Auch Schulz hat diesen Zusammenhang stark gemacht (vgl. Schulz 1986, 125). 63 Diese griffige Formulierung ist dem Titel der Dissertationsschrift von Lisa Egloff entlehnt (vgl. Egloff 2016). 64 Vgl. Höffe/Piper 1995, 3f. 65 Vgl. Hermanni 2006. 66 Vgl. Kant, Rel., A 12, 42; B 14, 45f. 67 Vgl. Hermanni 2004, 25. 68 Lore Hühn ist es zu verdanken, diesen Zusammenhang in aller Deutlichkeit hervorge­ hoben zu haben (vgl. Hühn 1998, 57–61).

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

er unweigerlich die in Gott liegende Voraussetzung seines Handelns und setzt den Partikularwillen (reales Prinzip) über den Universalwillen (ideales Prinzip). Diese sündentheologisch gedeutete Abkehr bedeutet gleichwohl keine Trennung von Gott. Im Gegenteil wird gerade in der Selbstüberhebung des Menschen die Beziehung zu Gott indirekt beglaubigt und tritt im Modus der Verkehrung in der Folge in allen Handlungen des Menschen als zerstörerischer Hunger der Selbstsucht in die Erscheinung, in dessen endloser Selbstverfehlung der Mensch wie in einem ewigen Zirkel gefangen bleibt.69 Damit wirkt die intelligible Tat »durch die Zeit, (unergriffen von ihr), hindurch als eine der Natur nach ewige That« (AA I,17, 153) und ragt als latent wirkende Verfehlung in alles menschliche Handeln hinein. Durch die schuldhafte erste Verfehlung seiner Freiheit wird der Mensch zum Urheber nicht nur des Bösen in sich selbst, sondern auch in der Welt. Die intelligible Tat wird zu einem wirklichkeitsstiftenden Prinzip, das nicht nur die sittliche, sondern auch die ontologische Ordnung verkehrt und sich auf die gesamte Wirklichkeit erstreckt.70 Das reale Prinzip, das sich im Menschen von Gott losgerissen und damit über denselben erhoben hat, wirkt, solange es nicht erlöst wird, in allem endlichen Leben als »Traurigkeit«. »Daher der Schleyer der Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens« (AA I,17, 164). Indem der Mensch seine Bestimmung – nämlich das Band von idealem und realem Prinzip zu sein – durch den ersten schuldhaften Gebrauch seiner Freiheit verfehlte, hat eine »Corruption« (AA II,8, 141f.) der gesamten Natur stattgefunden, die ein »falsches Leben« mit Krankheit, Verzweiflung und Unruhe nach sich zieht (vgl. SW AA I,17, 136 sowie AA II,8, 142f.). Durch den Fall des Menschen ist auch die Natur auf eine tiefere Stufe gesunken. Ihre Degradierung ist einzig der Schuld des menschlichen Egoismus zuzuschreiben (vgl. AA II,8, 143). Diesen spekulativ anspruchsvollen Zusammenhang der sünden­ theologischen Konzeption einer Urschuld des Menschen als wirklich­ keitskonstituierender Grund für das Leiden in der Natur und in der Welt plausibilisiert Schelling in der Freiheitsschrift vor dem Hintergrund des Willens (in Gott) als gemeinsame Wurzel von Natur und Subjektivität: Weil es eine Korrelation von – klassisch gesprochen – Mikro- und

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Vgl. Hühn 1998, 61f. Vgl. Hühn 1998, 76 sowie Hermanni 2006, 205.

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Makrokosmos gibt, wirkt die Urdezision des Menschen außer und durch alle Zeit auch auf die Natur und korrumpiert sie. Angesichts dieser Diagnose mag die Vermutung naheliegen, Schel­ ling gehe es mit seiner Kritik neuzeitlicher Subjektivität um eine Restitu­ tion voraufklärerischer und vorkantischer Dogmatismen. Das Gegenteil ist der Fall: Dem Verfasser der ›Ich-Schrift‹ geht es nicht darum, die errungene Freiheit neuzeitlicher Subjektivität zu unterminieren oder gar einer romantisierenden uranfänglichen Vorzeit der Alleinheit das Wort zu reden. Der Abfall vom Absoluten bzw. die Emanzipation des Subjektes soll weder vermieden werden, noch ist er rückgängig zu machen. Es ist Schelling lediglich darum zu tun, den Preis für die Autonomisierung der Subjektivität in den Blick zu nehmen und entgegen einer subjektivis­ tischen Vereinseitigung die Frage nach einer Entwicklungsmöglichkeit vom Standpunkt neuzeitlicher Subjektivität aufzuzeigen, die der Subjek­ tivität einen selbst errungenen Zusammenhang wiederum eröffnet, der sie sowohl von ihrer Allmachts- als auch von ihrer Ohnmachtserfahrung zu befreien in der Lage ist. Diese Perspektivierung ist für Schelling allerdings nicht denkbar ohne einen Durchgang durch ein todesähnliches Moment vollkommener Verzweiflung, in dem das Potenzial zur Transformation aufgedeckt wird. So lässt sich die Freiheitsschrift im Werk Schellings als paradig­ matische Scharnierstelle für die Universalisierung des Bösen bei gleich­ zeitiger Andeutung eines möglichen Ausweges lesen.

3. Verzweiflung und Selbsttransformation Mit der Verkehrung der gesamten Wirklichkeit durch die intelligible Tat entsteht das Problem einer durchgehenden Universalisierung des Bösen. Ließe sich kein Ausweg finden, so würde von hier aus der Weg unmittelbar in die radikalsten Formen des Nihilismus führen. Lässt sich demgegenüber ein positiver Ausweg zeigen, dann wäre freilich Schellings eigene Diagnose nicht ernst zu nehmen, da mithin die durchgreifende Wirkung der intelligiblen Tat nicht zu plausibilisieren ist. Es kann also nur innerhalb der durch die Urdezision stattgehabten radikalen Verkehrung der Punkt aufgewiesen werden, dem in seiner Negativität zugleich das Potenzial zur Transformation inhäriert. In Erlangen heißt es demnach, dass der durch den Fall entstandene durchgreifenden Wider­ spruch erst »von den ersten Wurzeln an durch alle seine Verzweigungen bis zur Verzweiflung zu verfolgen [ist], wo dann der Mensch gleichsam

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

gezwungen ist, die Idee jenes höheren Ganzen zu fassen« (AA II,10,2, 617) – was entsprechend nur durch ein gewandeltes Bewusstsein möglich ist. Mit dem Topos der Verzweiflung stellt sich Schelling bewusst in einen kritisch sich abgrenzenden Gesprächskontext mit Hegel: Bekannt­ lich hatte Hegel den Übergang vom Zweifel zur Verzweiflung des natür­ lichen Bewusstseins in der Phänomenologie prominent thematisiert.71 Während Kierkegaard Hegel später vorwerfen wird, dass der Zweifel an der Begriffswahrheit eine Verzweiflung herbeiführt, die bloß auf intellektueller Ebene stattfindet und den Ernst desjenigen Zweifels, der die ganze Persönlichkeit in Mitleidenschaft zieht, außer Acht lässt,72 macht Schelling nicht den Zweifel, sondern die Verzweiflung zum Aus­ gangspunkt der eigentlichen Philosophie. Der dialektische Zweifel ist lediglich Propädeutik. Erst mit dem durch die Verzweiflung geforderten Entschluss zur Wandlung beginne die Wissenschaft. Für Schelling hängt infolgedessen alles davon ab, ob der Mensch aufgrund der Verzweiflung zu einer fundamentalen Umwendung seiner selbst gelangt. Der Imperativ einer grundlegenden Metanoia weist zugleich den Ausweg aus der Uni­ versalisierung des Bösen durch die intelligible Tat – ist doch im Menschen als Urheber des Bösen zugleich die Möglichkeit zur Überwindung dessel­ ben angelegt. So findet Schelling paradoxerweise gerade an der prekärsten Stelle des gesamten Kosmos – im Menschen, wo die »ganze Macht des finstern Prinzips« und »zugleich die ganze Kraft des Lichts« (AA I,17, 134) in größter Spannung zusammentreffen, – den »offenen Punkt« der Schöp­ fung, an dem durch »Transmutation« eine »wirkliche und entschiedne Umwendung« (AA I,17, 156) möglich ist, die die Konsequenzen der intel­ ligiblen Tat rückgängig zu machen sucht, ohne freilich ihr konstitutives Geschehensein ungeschehen machen zu können.73 71 »Er [der Weg des natürlichen Bewusstseins] kann deswegen als der Weg des Zweifels angesehen werden oder eigentlicher als Weg der Verzweiflung; auf ihm geschieht nämlich nicht das, was unter Zweifeln verstanden zu werden pflegt, ein Rütteln an dieser oder jener vermeinten Wahrheit, auf welches ein gehöriges Wiederverschwinden des Zweifels und eine Rückkehr zu jener Wahrheit erfolgt, so daß am Ende die Sache genommen wird, wie vorher. Sondern er ist die bewußte Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem dasjenige das Reellste ist, was in Wahrheit vielmehr nur der nichtrealisierte Begriff ist« (GW 9, 9). 72 Kierkegaard 1843, 225–227, vgl. auch Hühn 2003, 151f. 73 Die These, dass die ›Transmutation‹ in der Freiheitsschrift als Vorläufer der ›Ekstase des Ich‹ und damit als Gegenfigur zur intelligiblen Tat gedeutet werden kann, hat vor mir Lore Hühn prominent vertreten (vgl. Hühn 1998, 77). Mir scheint dieses Argument gerade auch vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung von Schellings Denken in den Weltaltern

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I.2 Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹

Das Motiv des offenen Punktes markiert den systematischen Ort, dem das Potenzial des Menschen zur Conversio nicht nur seiner selbst, sondern stellvertretend auch zur Conversio der gesamten Schöpfung innewohnt. Die herausragende Stellung des Menschen in der Schöpfung stellt ihn paradoxaler Weise vor die Aufgabe, sich gerade nicht zum Herrn derselben aufzuschwingen, sondern sich willentlich zu ihrem Diener, bzw. zu ihrem »Erlöser«74 zu machen. Wenngleich der Begriff des ›Erlösers‹ vorderhand an den souverä­ nen Akt eines autonomen Subjektes denken lässt, in dessen alleiniger Macht das Gelingen der Erlösung liegt, profiliert Schelling im Gegenteil die Erlösung in christologisch anmutenden Termini gerade auf der Grundlage einer selbsterwählten Ohnmacht des Menschen. Weil das natürliche Bewusstsein der Subjektivität aufgrund seiner Selbsterhebung in der intelligiblen Tat immer schon in einem verobjektivierenden Voll­ zug und damit im Verkehrungszusammenhang des Bösen sich vorfindet, in dem die Selbstsucht und der Wille, der etwas will, vorherrschen, bedarf es einer grundlegenden und rückhaltlosen Selbstzurücknahme der Subjektivität. Das Problem liegt allerdings nicht allein darin, dass alles im Menschen der Selbstaufgabe widerstrebt, sondern auch darin, dass der Mensch sie nicht im Sinne eines voraussetzungslosen Anfangenkönnens aus der Autonomie einer suisuffizienten Selbstsetzungsfigur zu inaugurie­ ren in der Lage ist. Zwar spricht Schelling von einer »freye[n] Geistesthat« (AA II,10,1, 201), diese besteht jedoch gerade nicht darin, sich selbst zu setzen, sondern sich selbst zurückzunehmen und damit ein anderes – nämlich die ewige Weisheit, die er in der Selbstüberhebung von ihrer ihr gebührenden Stelle verdrängt hatte – einzusetzen und in sich wirken zu lassen.

und vornehmlich in der Erlanger Vorlesung, die mit der Forderung der Selbstzurücknahme endlicher Subjektivität und der Transformation des verobjektivierenden Bewusstseins ausdrücklich eine Überwindung der unvordenklichen Tat des Menschen anstreben, schlagend zu sein. 74 »Der Mensch ist der Anfang des neuen Bundes, durch welchen als Mittler, da er selbst mit Gott verbunden wird, Gott (nach der letzten Scheidung) auch die Natur annimmt und zu sich macht. Der Mensch ist also der Erlöser der Natur, auf den alle Vorbilder derselben zielen.« (AA I,17, 174) Vgl. hierzu auch die Stuttgarter Privatvorlesungen: »Der Mensch ist das lebendige Wort, was zwischen beiden Welten als Mittelpunkt eintritt. Er ist der Verklärungs-Punckt der Natur, in ihm ist gleichsam die Kette des Universums geschlossen« (AA II,8, 139).

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I. Subjektphilosophie um 1800 und die Genese ihrer Kritik in Schellings Werk

Schelling kann den Moment der Umkehr nicht als autonome Selbst­ setzung akzeptieren, denn »einer Hülfe bedarf der Mensch immer« (AA I,17, 156) und wenn er diese verleugnet, befindet er sich im Bereich des von Schelling an Fichtes Tathandlung kritisierten »Prinzip des Sündenfalls« (SW VI, 43). Er kann ihn ebenso wenig als Gnadenwirkung eines allmächtigen Gottes annehmen, der das passivische Subjekt unvermittelt überkommt, denn damit wäre es um die Freiheit des Menschen schlecht bestellt. Deshalb zielt er in den Erlanger Vorlesungen mit der »Ekstase des Ich« auf das rätselhafte Geschehen eines Selbstvollzuges, der als eigens vollbrachter Selbstvollzug nur durch eine Gabe, die den Vollzug übersteigt, seine Erfüllung findet.75 Bis hier hin wurde exemplarisch gezeigt, wie die Blütezeit der Subjekti­ vität bei Descartes, Kant und Fichte zugleich die Forderung nach ihrer Selbsttransformation auf den Plan ruft. Ausgehend von der Annahme eines vorsubjektiven Grundes des Bewusstseins stellt Schelling in seiner Identitätsphilosophie in Abgrenzung zu Fichte die absolute Indifferenz von Subjekt und Objekt als Prinzip der Philosophie heraus, auf dessen Standpunkt sich das erkennende Subjekt durch das Absehen von allem Endlichen in der Vernunftanschauung stellen müsse, um den Dualismus von Dogmatismus und Kritizismus gleichermaßen zu überwinden. Jegli­ che Philosophie, die sich nicht auf diesen Standpunkt zu stellen vermag und im Endlichen verhaftet bleibt, beruhe auf einem philosophischen Sündenfall, der den Schein der Endlichkeit für Wirklichkeit nimmt. Dabei gelangt Schelling allerdings in Erklärungsnöte bezüglich der Frage nach dem Verhältnis von Absolutem und Endlichkeit, die ihn dazu bringen, seinen platonisch-neuplatonischen Ansatz zugunsten einer Aufwertung der Endlichkeit zu modifizieren und mit einer neuen Konzeption des Bösen einhergeht: Durch die Selbstüberhebung des Menschen in einer vorzeitlichen Urtat sei das Böse und die Krankheit unwiederbringlich in die Wirklichkeit eingeführt. In den Erlanger Vorlesungen wird mit dem Begriff der Ekstasis eine weitere Vertiefung der Subjektivitätskritik vollzogen. In produkti­ ver Abgrenzung zu Fichtes Projekt einer Grundlegung neuzeitlicher Subjektivität aus der unmittelbaren Gewissheit des Selbstvollzuges in der Tathandlung und zu Hegels Projekt eines Panlogismus, der alles aus der 75 Die Spannung zwischen der schöpfungstheologischen Anthropologie und der Trans­ zendentalität menschlicher Freiheit, die in der Philosophie des mittleren Schelling zum Ausdruck kommt, hat Lore Hühn mehrfach betont. Vgl. bspw. Hühn 2007, 209 sowie Hühn 2006, 157f.

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I.2 Subjektivitätskritik in Schellings ›mittlerer Philosophie‹

Selbstbewegung der Idee erklären will, nimmt Schelling in den Erlanger Vorlesungen 1–11 eine doppelte, wenn auch aufeinander bezogene Ver­ schiebung einerseits der Konzeption der Subjektivität und andererseits des Wissens vor, aus der sich eine Neukonzeption der Subjektivität herleiten lässt, die jenseits der Dichotomie von selbstgenügsamer Auto­ nomie und resignierter Ohnmacht aus der erschütternden Erfahrung konsequenter Haltlosigkeit eine Haltung der Offenheit gegenüber dem Anderen der Subjektivität ausbildet.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität in Schellings Erlanger Vorlesungen

Es wurde gezeigt, dass die Forderung nach einer grundlegenden Reform­ ulierung des Subjektivitätsbegriffes im unmittelbaren Kontext der Debat­ ten um die euphorische Entdeckung der Grundlegungsfunktion der Subjektivität um 1800 steht. Schellings Kritik an der Einseitigkeit des durch die Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes stark gemachten Subjektivitätsverständnisses steht mithin vor der Herausforderung, 1) die Kritik angemessen zu begründen, sie 2) durch eine konstruktive Alternative zu überbieten, die 3) nicht der Gefahr unterliegen darf, hinter Kants Projekt einer Fundierung der Metaphysik mithilfe einer kritischen Durchleuchtung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis über­ haupt zurückzufallen. Insofern ist die Kritik Schellings am neuzeitlichen Subjektivitätspa­ radigma zugleich eine kritische Stellungnahme zum Begriff der Wissen­ schaft und des Wissens transzendentalphilosophischer Provenienz. Die Forderung nach einer Transformation selbstgenügsamer Subjektivität hin auf eine Haltung der Offenheit wird von Schelling deswegen in den ersten elf Vorlesungen von 1821 eingebettet in eine grundlegende Revision und Neufassung des Wissenschaftsbegriffs. Die Rekonstruktion von Schellings Kritik und Neukonzeption des Subjektivitätsparadigmas ist insofern im Zusammenhang mit seinen systemtheoretischen und epistemologischen Überlegungen vorzunehmen. Daraus folgt die kon­ zeptionelle Verbindung des Wissenschaftsbegriffes mit der Subjektivi­ tätskonzeption in den Erlanger Vorlesungen. Zur besseren Übersicht wird hier der Bogen des zweiten Kapitels vorab kurz angezeigt: Zu allererst soll mit einem knappen Abriss des entstehungsge­ schichtlichen Kontextes, der Interpretation des Titels und einem kurzen Überblick über den Aufbau der Vorlesungen im Ganzen einerseits der Grund gelegt werden für die folgende Untersuchung, andererseits wird durch die Deutungsperspektive des Titels zugleich aufgewiesen, wie konsequent Schelling seine Forderung nach einer Selbsttransformation der Subjektivität ins Zentrum seiner Vorlesungen stellt (Kapitel II.1).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Die spezifische Auffassung der Philosophie als ein dynamisches, organologisches System der Freiheit, dessen Prinzip sich durch eine radikale Dynamik und Entzogenheit auszeichnet (Kapitel II.2), sowie das spannungsreiche und dabei zugleich konstitutive Wechselverhältnis von erkennendem und absolutem Subjekt (Kapitel II.3) bilden die Voraussetzungen, auf deren Grundlage Schelling seine durch einen gewandelten Subjektivitätsbegriff begründete Theorie der Philosophie ausarbeitet. Aus dieser genannten Konstellation von Wissenschaftsbe­ griff und Subjekttransformation wird die Rolle der Ekstasis sichtbar, wie sie die vorliegende Arbeit zu erhellen sucht: Sie bildet aufgrund der Verschränkung von Subjekt und Wissenschaft den Brennpunkt dieser Theorie.1 Da die Ekstasis als Folgefigur für die intellektuelle Anschauung eingeführt wird, mit ihrer Exposition jedoch gleichwohl gewichtige Ver­ schiebungen des ausgezeichneten epistemischen Zugangs einhergehen, ist vor der Rekonstruktion von Schellings Vorschlag einer Reformulie­ rung neuzeitlicher Subjektivität zunächst das Verhältnis von intellektuel­ ler Anschauung und Ekstasis zu diskutieren (Kapitel II.4). Auf dieser Grundlage kann die eigentliche Diskussion der wechsel­ seitig sich bedingenden Neukonzeption des Wissens und der Subjektivi­ tät anhand von Schellings Durchführung der ›Theorie der Philosophie‹ vorgenommen werden (Kapitel II.5). Dass sich Schellings mithilfe einer Selbsttransformation gewonnener Subjektivitätsbegriff im Kern in der Figur ›aktiver Passivität‹ auf den Punkt bringen lässt, ist zum Abschluss des Hauptteils nachzuweisen (Kapitel II.6)

II.1 Titel und Aufbau der Erlanger Vorlesungen Zu Beginn der Untersuchung gilt es zunächst die Vorlesung als Ganze in den Blick zu nehmen. Dabei spielt, neben ein paar Bemerkungen zu ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext und einem skizzenhaf­ ten Überblick über den Aufbau des Werkes, vor allem der Titel der Vorlesungen eine entscheidende Rolle, birgt er doch eine wichtige Deutungsperspektive für die gesamten Vorlesungen. Der Titel, unter 1 Bereits in den Fragmenten der Weltalter hatte Schelling differenzierte Überlegungen zur systematischen Stelle der Ekstasis vorgenommen. Vgl. zur Engführung von intellektueller Anschauung und Ekstasis: Grotsch, Bd. 1, 262 sowie Bd. 2, 107f., 164, 203f., 300–302, 309. Eine Einbindung in einen umfassenden systematischen Zusammenhang erhält die Ekstasis allerdings erst in Erlangen.

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II.1 Titel und Aufbau der Erlanger Vorlesungen

dem Schelling die Vorlesungen in Erlangen angekündigt hat, lautet Initia philosophiae universae. Die Doppeldeutigkeit des Begriffes ›Initia‹ wird im Folgenden dahingehend interpretiert, dass Schelling mit den Vorle­ sungen im Wesentlichen einen performativen Ansatz verfolgt, indem er die Zuhörer durch den Mitvollzug der Gedanken zugleich zu einer Selbsttransformation anzuregen sucht. Damit ist bereits mit dem Titel ein wesentlicher Schlüssel für die folgende Interpretation der ersten elf Vor­ lesungen gewonnen. Doch zunächst ein paar Bemerkungen zu den historischen Hintergründen der Vorlesung.

1. Entstehungsgeschichtlicher Kontext der Erlanger Vorlesungen Nach einer Phase des Rückzugs tritt Schelling 1821 in Erlangen zum ersten Mal nach beinahe fünfzehn Jahren wiederum an die Öffentlichkeit. Er tat dies aus dem Anliegen heraus, seine Weltalter-Philosophie, an der er über zehn Jahre gearbeitet hatte,2 öffentlich darzustellen,3 obwohl er durch keinerlei Lehrverpflichtung gebunden war.4 Schelling begründete das lange Aussetzen der Lehrtätigkeit in der ersten Vorlesung am

Am 15. September 1810 erscheint in Schellings Jahreskalender der erste Hinweis zu den Weltaltern: »Die 3 Weltalter in dem Manuskript.« Drei Monate später, am 27. Dezember heißt es dann: »Die Weltalter endlich angefangen.« (Schelling: Entwürfe und Tagebü­ cher, 52‒54) In einem Brief an seine zweite Frau Charlotte schreibt Schelling, die Weltalter seien ein Werk, woran er »viele Jahre innerlich entworfen und gearbeitet habe« (Plitt II, 244). Doch offenbar war das Weltalter-Projekt zu groß angelegt, als dass es in ein paar Monaten verschriftlicht werden konnte. Ab 1811 wurden die Weltalter in regelmäßigen Abständen öffentlich angekündigt. Zu Schellings Lebzeiten erschien jedoch lediglich die Beilage zu den Weltaltern unter dem Titel »Über die Gottheiten von Samothrake«, die auf einen öffentlichen Vortrag in der Bayrischen Akademie der Wissenschaften im Oktober 1815 zurückgeht. Das Fragment der Weltalter wurde erst posthum herausgegeben (vgl. zur Entstehungsgeschichte der Weltalter Lafranconi 1992, 59–83). 3 Bereits 1817 schrieb Schelling an seinen Bruder: »Ich habe durch langes Zaudern, fortgesetzte Contemplation, eine Reife der Ausbildung und zugleich einen Standpunct meiner Gedanken erlangt, bei dem ich eine akademische Wirkung nicht sowohl als vortheilhaft für mich, wie für diese verworrene Zeit und Welt halten kann« (Plitt II, 388). Vgl. auch Schubert: Selbstbiographie, Band 3, Abteilung II, 508f.: »Schelling fühlte sich getrieben, zu seinem inneren wie äußeren Berufe als Lehrer, nicht nur durch Schriften, sondern durch das lebendige Wort zurückzukehren; er wollte, so wie einst in Jena, in dem stillen, friedlichen Erlangen, das bescheidene Loos eines Universitätslehrers mit uns theilen.« 4 Vgl. den editorischen Bericht in AA II,10,1, 37. 2

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

4. Januar 18215 mit seinem labilen Gesundheitszustand und bezeichnete die Wiederaufnahme in Erlangen als einen feierlichen Augenblick und wichtigen Moment in seiner Tätigkeit (AA II,10,1, 171; AA II,10,2, 923). Als ein weiterer Grund für sein langes Schweigen müssen zudem die von Schelling mehrmals erwähnten Schwierigkeiten bei der Ausar­ beitung des Weltalter-Projektes angesehen werden. Offensichtlich war es die Größe und Art des Gegenstandes, die dazu führten, dass er die Darstellung nicht zu seiner Zufriedenheit ausführen konnte. Dies dürfte eines der Motive dafür sein, dass Schelling in Erlangen zunächst in elf Vorlesungen die systemtheoretischen und methodologischen Voraus­ setzungen seiner Auffassung der ›Philosophie als Wissenschaft‹ gleich­ sam als Selbstvergewisserung und Fundierung der Weltalter-Philosophie darlegt. Besonders in diesen elf Vorlesungen finden sich diejenigen entscheidenden Neuerungen seiner Philosophie, die hier von Interesse sind.6 Dass diese Neuerungen teilweise erst während der Ausarbeitung der Vorlesungen entwickelt und eingefügt wurden, dafür sprechen die knappen Skizzen und lediglich stichwortartig vorliegenden Vor­ lesungsentwürfe, die zudem mehreren Rekonzeptionalisierungen und Verschiebungen unterworfen waren.7 Vor allem ab der siebten Vorlesung, in der erstmals die Figur der ›Ekstasis‹ eingeführt wird, treten diese Verschiebungen deutlich zutage. Partien, die bspw. bereits für die siebte Vorlesung geplant waren, werden im Laufe der Vorlesungsreihe immer weiter nach hinten verschoben, um dann erst in der elften Vorlesung den Abschluss der Einleitung zu bilden.8 Dafür wird die Darlegung des durch die Ekstasis in Gang gebrachten ›Prozesses der Philosophie‹ in seiner Mehrschrittigkeit in der achten und neunten Vorlesung und in Aspekten auch in der zehnten Vorlesung mehrmals wiederholt und dabei schrittweise vertieft. Gerade in diesem Prozess legt Schelling die konkreten Punkte des Weges zur Selbstüberwindung der Subjektivität und deren Eintritt in den medialen Vollzug eines spannungsvollen dialogischen Geschehens mit dem Absoluten dar.

Vgl. zur Datierung der gehaltenen Vorlesungen AA II,10,1, 14f. Die Einschätzung, dass die ersten elf Erlanger Vorlesungen eine herausragende Rolle in Schellings Werk spielen, teilt auch Fuhrmanns: »Die Einleitung ist in Schellings Schaffen ein relatives Unikum. Nirgendwo eigentlich hat Schelling ähnlich gefragt wie hier. Was in ihr aber zugleich überrascht, ist ihre hohe Konzentration und ihre Lebendigkeit zumal« (Fuhrmanns 1969, 177). 7 Vgl. hierzu den editorischen Bericht AA II,10,1, 82f. 8 Vgl. die Bemerkungen der Herausgeber im editorischen Bericht AA II,10,1, 83. 5

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II.1 Titel und Aufbau der Erlanger Vorlesungen

Inwiefern diese Neukonzeptionen tatsächlich erst 1821 im Verlauf der Vorlesungen entstanden sind oder Schelling bereits zuvor gedanklich vorschwebten, bleibt freilich Spekulation. Fest steht jedoch, dass die ›eigentliche Theorie der Philosophie‹, d.h. die differenzierte Darstellung des Erkenntnisvollzugs, der mit dem Durchgang durch den Umschlags­ moment der Ekstasis eingeleitet wird und die Selbsttransformation der Subjektivität beschreibt, von Schelling anfangs in einem weitaus gerin­ geren Umfang geplant war, und dass ihm entscheidende Details dersel­ ben erst im Zuge ihrer Ausformulierung deutlich vor Augen getreten sein dürften.

2. Der Titel der Vorlesungen und dessen Deutungsperspektive für Schellings Anliegen Die Forderung nach einer Selbsttransformation der Subjektivität bleibt in den Erlanger Vorlesungen nicht nur theoretisch, sondern wird – mindestens dem Anspruch nach – auch performativ durchgeführt. Schelling bedient sich dabei der von Fichte initiierten Methode des ›genetischen Vortrags‹9, die den Zuhörern nicht bloß theoretisches Wissen bieten, sondern sie zu einem Mitvollzug anregen will, der zugleich als Bildungsvollzug gedacht ist.10 Selbsttransformation wird nicht nur in ihren systemtheoretischen, anthropologischen und erkenntnistheoreti­ schen Implikationen exponiert, sondern soll zugleich vollzogen werden. Der Titel der Vorlesungen bietet den entsprechenden Hinweis auf die­ sen Anspruch. Auch wenn der genaue Wortlaut des Titels, mit dem Schelling seine Vorlesungen ankündigte, nicht abschließend festzustellen ist, so ist die Bezeichnung der Initia philosophiae universae sehr wahrscheinlich, da sie in den beiden erhaltenen Nachschriften als Titel angegeben wird (vgl. 9 Vgl. hierzu Fichtes exemplarischen Ausspruch aus Über das Wesen des Gelehrten: »Alle philosophische Erkenntniß ist ihrer Natur nach nicht faktisch, sondern genetisch, nicht erfassend irgend ein stehendes Seyn, sondern innerlich erzeugend und construierend dieses Seyn aus der Wurzel seines Lebens.« (GA I,8, 67). 10 Vgl. hierzu bspw. die spätere Bemerkung aus der Philosophie der Offenbarung: »[…] auch ist der Inhalt gerade dieser Vorträge eben nicht für die Form eines gewöhnlichen Lehrbuchs geeignet; er besteht nicht in einer Folge von fertigen, einzeln aufzustellenden Lehrsätzen, seine Resultate erzeugen sich zwar in stetiger, aber doch durchaus in freier, lebendiger Fortschreitung und Bewegung, deren Momente sich nicht im Gedächtnisse, sondern nur im Geiste festhalten lassen« (SW X, 21).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

AA II,10,1, 76). Dieser Titel weist auf die von Schelling als Neuanfang seiner Vorlesungstätigkeit und als Auftakt der Erlanger Zeit verstandene Darlegung seines Systems im Umriss.11 Zugleich deutet der Titel auf einen doppelten Anspruch, den die Vorlesungen erheben. Das ist zunächst kein geringerer, als Schellings System im Ganzen darzustellen – ein Anspruch, der schon aufgrund ihrer knappen Darstellungsweise hoch gegriffen erscheint.12 Den entscheidenden Hinweis für eine weitere und für den hier betrachteten Kontext wesentlichere Deutungsebene des Titels liefert die Enderlein-Nachschrift. In der dreißigsten Vorlesung verweist Schelling nämlich selbst mit dem Begriff der »Initia« auf dessen von den Römern überlieferte Verwendung für die antiken »Geheimlehren« (AA II,10,2, 776). Dies ist nicht verwunderlich, denn Schelling war mit den in der platonischen Tradition überlieferten Kenntnissen alter Mysterienstätten seit seiner Zeit im Tübinger Stift nicht nur bekannt, er hatte sie dort auch ausführlich studiert.13 Diese Referenz taucht in Schellings Werken häufiger auf: Bereits in dem 1802 erschienenen platonisch anmutenden Dialog Bruno führt Schelling die Philosophie, deren Aufgabe es sei, sich mit den urbildlichen Ideen an sich zu befassen, mit den Geheimlehren des Altertums eng und kennzeichnet beide als »ihrer Natur nach esoterisch« (AA I,11,1, 355).14 Grundmotiv ist die in den Mysterien durchgeführte Reinigung der Seele, die als Voraussetzung für die anamnetische Schau der Ideen dargestellt wird. Diese Motive finden sich auch in den einleitenden Vgl. »Der Gegenstand dieser Vorlesungen ist also kein Theil, sondern das Ganze, Anfang Mitte und Ende, d. i. ein System der Philosophie.« (AA II,10,2, 673) sowie »Was Initia? Wenn der bildende Künstler p Wenn aber p Nun eben p Nicht bloß – – sondern System« (AA II,10,1, 171). 12 Gleichwohl lässt sich durchaus aufweisen, dass alle für Schelling wichtigen Themen – auch die Thematisierung der Naturphilosophie, wenn auch in gewandelter Form einer primär geschichtlichen Philosophie – durchaus vertreten sind. Ob die Erlanger Vorlesungen dem von ihnen erhobenen Systemanspruch gerecht zu werden in der Lage sind, bleibt zu diskutieren. 13 Vgl. Franz 1996, insbesondere die beiden Anhänge (Transkripte von zwei Studienheften Schellings) die das Interesse des jungen Stiftlers für Fragen des »göttlichen Enthusiasmos« sowie für die Parallelen zwischen morgenländischen, griechischen und christlichen Mythen und Mysterienstifter. Vgl. auch Franz 1996, 283–320. 14 Der Dialog Bruno steht ganz im Zeichen einer Mysterienphilosophie, wenn beispiels­ weise der Protagonist des Dialoges bemerkt: »Dann aber rede ich euch an, bittend, daß ihr mir verzeiht, wenn ich euch nicht sowohl sage, welche Philosophie ich für die beste halte, in Mysterien gelehrt zu werden, als vielmehr von welcher ich wisse, daß sie die wahre sei.« (AA I,11,1, 358) Vgl. hierzu auch Schwaetzer 1996. 11

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II.1 Titel und Aufbau der Erlanger Vorlesungen

Erlanger Vorlesungen und werden im Folgenden Teil der Analyse sein. Allerdings werden in Erlangen – so die hier vertretene und im Weiteren zu begründende These – die ursprünglich im Platonismus beheimateten Figuren durch die Dynamisierung des Absoluten deutlich modifiziert. Auch im Anhang zu der Schrift Philosophie und Religion erwähnt Schelling die Opferung des Lebens, den leiblichen Tod und die Aufer­ stehung der Seele als oberste Aufgabe der griechischen Mysterien und setzt diesen transformatorischen Ansatz der Mysterien gleich mit der intellektuellen Anschauung (vgl. SW VI, 68). Den Terminus der Initia bringt Schelling in seiner Spätphilosophie mit den Mysterientraditionen in Verbindung und begründet von dort her deren enge Verwandtschaft mit der Philosophie.15 Dass Schelling sich in den Erlanger Vorlesungen in die Tradition der Geheimlehren zu stellen sucht, darauf deutet auch seine strikte Ableh­ nung von jeglicher Form der Nachschrift (vgl. AA II,10,1, 93f.) sowie die Betonung des aktiven Mitvollzuges der Inhalte, denen er zugleich einen transformativen Charakter zuschreibt (vgl. AA II,10,1, 172).16 Bekanntlich hat Schelling seit 1809 mit einigen Ausnahmen keine umfassenden Werke mehr veröffentlicht, sondern präsentierte seine Philosophie mündlich. Damit knüpft er bewusst an die Tradition der Schriftkritik Platons an, die den aktiven Mitvollzug im Zuhören fordert.17 Die Tatsache, dass sich eine der publizierten Ausnahmen, nämlich die Abhandlung Über die Gottheiten von Samothrake, die Schelling am 12. Oktober 1815 in der Bayrischen Akademie der Wissenschaften als Vortrag gehalten hatte und 15 »Der Zusammenhang oder vielmehr die Aehnlichkeit der wahren Philosophie mit der Einweihung in die Mysterien, die Platon angedeutet, die späteren Platoniker aber vielfach ausgeführt haben, läßt sich unter anderm auch daraus abnehmen, daß bei den Römern die Mysterien initia genannt wurden. Initia aber ist soviel als principia, die Mysterien steigen also zu den Principien, zu den Ursachen selbst auf« (SW XIII, 459). Vermutlich bezieht sich Schelling hier auf den Terminus »Initia« bei Cicero, der bezogen auf Athens Kultstätte Eleusis schreibt: »Nichts ist besser als jene Mysterien, durch die wir aus einem wilden und jenseits des Maßes sich vollziehenden Lebens herauskultiviert sind zur Menschlichkeit (humnaitas) und seelisch maßvolle Bildung erfahren haben, und die ›Initia‹, wie sie genannt werden, erkennen wir so in der Tat als die grundlegenden Prinzipien des Lebens (principia vivendi), und wir haben nicht allein die vernünftige Weise, mit Freude zu leben, empfangen, sondern auch diejenige, mit besserer Hoffnung zu sterben« (Cicero, De legibus II, 36; eigene Übersetzung). 16 Schon in den Stuttgarter Privatvorlesungen hatte Schelling betont, dass es ihm nicht um eine dogmatische, sondern vielmehr eine genetische Art und Weise, d.h. um einen »die eigne innere Thätigkeit des Zuhörers in Anspruch nehmende[n]« Vortrag geht (vgl. AA II,8, 195). 17 Vgl. hierzu die Äußerungen Platons im 7. Brief und im Phaidros (274b–278c).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

die als Beilage zu den Weltaltern geplant war, ausdrücklich mit dem Thema der Geheimlehren beschäftigt, spricht für Schellings Involviert­ heit in das Thema. Auch wenn sich Schelling mit der nachlassenden Publikationstätig­ keit und der immer stärkeren Betonung der Mündlichkeit in Erlangen den Vorwurf einer elitären Veranstaltung für Eingeweihte gefallen lassen muss,18 verweist vor allem die starke Betonung einer geforderten Conver­ sio-Struktur der einleitenden Vorlesungen, die die Selbstüberwindung der Subjektivität zum Ziel hat, fraglos auf diesen Deutungshorizont.19 Mit der Voranstellung der einleitenden Vorlesungen zielt Schelling – so die These – darauf ab, das menschliche Bewusstsein als Austragungsort für das Geschehen von dem Eintreten in die Differenz und deren Überwindung oder – theologisch besprochen – von Abfall und Erlö­ sung zu profilieren und greift damit ein wichtiges Motiv der alten Mysterien auf: das stellvertretende Durchleben von Tod und Auferste­ hung als Einweihungsvorgang. Deutlich wird dabei, dass Schelling ein Verständnis von Philosophie im Blick hat, das sich von ihrer Position als bloße theoretische Fachdisziplin distanziert und sie als existenzielles Bildungsgeschehen ernst nimmt, bei dem der Vollzug des Gedankens zugleich einen ethischen-praktischen Rückschlag auf den Denkenden aufweisen soll. Insofern wird die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität nicht nur theoretisch adressiert, sondern zugleich performativ vollzogen – so mindestens der Anspruch, den die hier dargelegte Deutungsebene des Vorlesungstitels nahelegt. Dies ist insofern plausibel, als ein solcher existenzieller Umgang mit Philosophie um 1800 keine Ausnahme ist. Philosophie wird hier in einem viel stärkeren Maße als heute nicht nur als akademische Disziplin, sondern zugleich als Medium der allgemeinen Menschenbildung verstanden, was die Stellung der Philosophie inner­ Vgl. z.B. die kritischen Bemerkungen von einem der Hörer: »[…] Schelling wurde vom dogmatischen und dialektischen Element dergestalt hin- und hergerißen, das er zu keiner festen Existenz gelangen konnte, sondern alle Offenbarung seines Geistes verschmähend in ein subjektives Mysterien-Wesen versank, das für andere ohne Wirkung und Nutzen, für ihn selbst aber zur größten Pein und Qual war« (Bruchmann 1930, 205f., zitiert in: AA II,10,1, 142). 19 Diese Deutung stützen auch Horst Fuhrmanns in seiner Einleitung zu Initia (vgl. Fuhrmanns 1969, XVII) sowie Lore Hühn, die die Figur des Lassens in den Erlanger Vorlesung mit dem rituellen Ablegen der Kleider bei der Einweihung in die Mysterien vergleicht (vgl. Hühn 1996, 212). Auch Lanfranconi deutet die Erlanger Vorlesungen in dieser Hinsicht (vgl. Lanfranconi 1992, 81). 18

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II.1 Titel und Aufbau der Erlanger Vorlesungen

halb des akademischen Fächerkanons beweist.20 Schelling macht sich diesen Umstand zunutze, indem er mehrmals in den Vorlesungen auf die transformative Bedeutung der Philosophie hinweist.21

3. Aufbau der Erlanger Vorlesungen Schellings Begründung für die notwendige Selbsttransformation der Subjektivität wird im Folgenden den Kern der Untersuchungen bilden. Zur Orientierung soll hier in einem letzten vorbereitenden Schritt der Aufbau der Erlanger Vorlesungen kurz dargelegt werden. Üblicherweise wurden sie in zwei Teile geteilt: einen einleitenden Teil (VL 1–11), der die Fragen nach den systemtheoretischen Voraus­ setzungen und nach der geforderten Methode expliziert, sowie einen zweiten Teil (VL 12–36), der das eigentliche System als geschichtliche Darlegung des Herausgehens des Absoluten aus sich selbst und sei­ nem Eintreten in das Sein der Schöpfung auf differenzierte und außer­ ordentlich kleinschrittige Weise darlegt, wobei Fuhrmanns in seiner Ausgabe den zweiten (Haupt-)Teil der Erlanger Vorlesungen in mehrere thematische Unterabschnitte gliedert, denen er folgende Titel verleiht: Das Absolute als absolute Indifferenz (VL 12–16); Das Absolute als reine Wirklichkeit (VL 17–23); Der Aufbruch der Potenzen in Gott (VL 24–31); Die Lösung des göttlichen Rades (VL 32–33); Die Welt der Ideen (VL 34); Die Setzung der realen Welt (VL 35 und 36).22 Im Zuge der erstmaligen Herausgabe des Vorlesungsmanuskriptes aus Schellings Hand in der Historisch-kritischen Ausgabe von Schellings Vgl. hierzu bspw. Kant: Streit der Fakultäten sowie Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (SW V, 207–352), Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (GA 3) und Humboldts Programmschrift Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (Gesammelte Schriften, Band 10). 21 Vgl. hierzu Abschnitt III.1.2 über die Konsequenzen des Erlanger Systemprogramms für das philosophierende Subjekt. 22 Dem zweiten Teil der Erlanger Vorlesungen, der in den Hauptzügen große Parallelen mit den Weltalter-Fragmenten aufweist, wurde in der Forschung im Gegensatz zu den ersten elf Vorlesungen, die gegenüber den Weltaltern wesentliche Neuerungen bringen, bisher nicht allzu große Beachtung geschenkt. In seiner Monographie zum Gesamtaufbau der Vorlesungen, die neun Jahre nach der Veröffentlichung der Enderlein-Nachschrift durch Fuhrmanns (mit der erstmals der gesamte Erlanger Systementwurf für die Öffentlichkeit verfügbar wurde) erschienen ist, hat Manfred Durner diesem Teil der Vorlesungen eine ausführliche Erörterung gewidmet (vgl. Durner 1979, 149–247). 20

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Werken ist jedoch klar geworden, dass Schelling selbst nur die erste und zweite Vorlesung als Einleitung bezeichnet.23 Die folgenden neun Vorlesungen, die der Grundlegung der ›Philosophie als Wissenschaft‹ gewidmet sind, finden – auch wenn ursprünglich nicht so ausführlich geplant24 – schließlich in der elften Vorlesung ihren Abschluss mit den Worten: »Hiemit beschließe ich die Untersuchung über die Natur der Philosophie als Wissenschaft« (AA II,10,1, 264). ›Einleitung‹ (VL 1–2) und ›Grundlegung‹ (VL 3–11) werden im Folgenden allerdings als in sich geschlossene systemtheoretische und methodologische Reflexion über eine »Theorie der Philosophie« gewer­ tet, die in ihrer spezifischen Auffassung von System und Systemprinzip, von Wissen und Epistemologie direkt auf die Forderung nach einer Selbsttransformation der Subjektivität hinauslaufen. Insofern bilden die ersten elf Vorlesungen die Grundlage für die Untersuchungen des Hauptteils der vorliegenden Arbeit. Im Gegensatz zu den Vorlesungen 12–36 wurden sie bereits in der von Schellings Sohn besorgten Ausgabe der Sämmtlichen Werke veröffentlicht – wenn auch mit einigen Streichungen, die Karl Friedrich August Schelling wohl ebenso wie das Weglassen des zweiten Teils der Vorlesungen aufgrund ihrer inhaltlichen Übereinstimmung mit den Weltalter-Fragmenten vornahm.25 Gemäß ihrem Ziel, die »Natur der Philosophie als Wissenschaft« zu untersuchen, behandeln sie die Fragen 1) nach dem Systembegriff und dessen Voraussetzungen, 2) nach den Möglichkeiten des Systems, d.h. nach dem Systemprinzip als indefinible ewige Freiheit sowie nach der Erkenntnismethode für das Erfassen des Systemprinzips, und 3) nach der Notwendigkeit der Philosophie als Wissenschaft. Das Kernstück des methodologischen Hauptteils der einleitenden Vorlesungen bildet die Einführung des Ekstasis-Begriffs am Ende der siebten Vorlesung sowie die Ausführungen zu dem durch die Ekstasis eröffneten Prozess eines medialen Erkenntnisgeschehens (VL 8–10).

23 Vgl. Schellings Bemerkung zum Ende der zweiten Vorlesung »Mehr bedarf es nicht zur Einleitung« (AA II,10,1, 174) sowie den Editorischen Bericht der Historisch-kritischen Ausgabe, AA II,10,1, 82, Anm. 295. 24 Bereits in den Notizen zur neunten Vorlesung findet sich eine offenbar nicht vorgetra­ gene abschließende Bemerkung (vgl. AA II,10,1, 226f.). 25 Vgl. den editorischen Bericht zur SW-Fassung in der Kritischen Schelling-Ausgabe AA II,10,2, 603–610.

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II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)

II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4) Mit dem Einstieg in die themenzentrierte sukzessive Interpretation der einleitenden Erlanger Vorlesungen wird im Folgenden das Grundthema der ersten vier Vorlesungen, namentlich Schellings spezifische System­ konzeption sowie die darin eingebettete Auffassung des Systemprinzips als Definiens des Indefiniblen, diskutiert. Die paradoxale Struktur des Systemprinzips fasst Schelling in dem Begriff der ›ewigen Freiheit‹, mit der er eine radikale Engführung der Systemkonzeption mit dem Thema der Freiheit unterstreicht. Damit einher geht eine Überbietung vorheriger Systementwürfe Schellings, deren Prinzipien – sei es die absolute Identität, die Copula oder das Band – sich durch Selbstpräsenz und nicht durch Entzogenheit auszeichneten. Die untersuchungsleitende These dieses Abschnittes lässt sich wie folgt formulieren: Schellings hoch dynamische Systemkonzeption der Erlanger Vorlesungen ist zu verstehen als Kritik sowohl der Transzendental- als auch der Identitätsphilosophie. Mit dieser Kritik spitzt Schelling sein Systemverständnis derart zu, dass sich daraus die Notwendigkeit zur Selbsttransformation der Subjektivi­ tät ergibt. Um diese These zu begründen, wird hier in zwei Schritten vorge­ gangen: Zunächst wird erstens das spezifische Systemverständnis der Erlanger Vorlesungen, dessen Zentrum die Auffassung eines lebendi­ gen Wesens als Systemprinzip bildet, hinsichtlich seiner wesentlichen Aspekte unter den Stichworten Widerspruch, Organizität und Dynamik ausgefaltet (II.2.1). Daraufhin ist es möglich, in einem zweiten Schritt die Ausgangsthese dieses Kapitels zu überprüfen, indem die direkten Auswirkungen der Systemspekulation in Erlangen auf die Konzeptionen der Subjektivität argumentiert und begründet werden (II.2.2).

1. Das ›Systemprogramm‹ der Erlanger Vorlesungen (VL 1–4) Auch wenn Schelling in den Erlanger Vorlesungen durch seine spezifische Auffassung einerseits des Absoluten und andererseits der Erkenntnisme­ thode die Grenzen idealistischer Systemspekulation zu sprengen scheint, bleibt der systemtheoretische Anspruch, ein in sich geschlossenes, auf Ganzheit ausgerichtetes Theoriegebäude zu liefern, bestehen. Vor diesem Hintergrund wird die These vertreten, dass Schelling 1821 die system­ theoretischen Konsequenzen aus denjenigen markanten Punkten zu ziehen sucht, die er 1809 mit der Freiheitsschrift als Anspruch aufgeworfen

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

und im weiteren Verlauf des Schaffens mit den Weltaltern als geschichtli­ che Darlegung ausgefaltet hat. Erst 1821 stellt er sich – so die These – den systemtheoretischen Implikationen seiner ›mittleren Philosophie‹. Die daraus resultierende Spannung zwischen Anspruch und Durchführung bildet den Rahmen für die spezifische Ausprägung der Erlanger Konzep­ tion und finden ihren Niederschlag in zwei wesentlichen Aspekten, die im Folgenden auszuführen sind. Zum einen lässt sich zeigen, wie Schellings Verständnis eines Systems im Werden in der Konzeption eines dynamischen Systemprin­ zips sich ausbildet, das Schelling als ›lebendiges Wesen‹ fasst. Dieses Systemprinzip ist es, was in Erlangen den Anstoß zur Erkenntnis einer grundlegendenden Defizienz des diskursiven Bewusstseins liefert und damit zum Ausgangspunkt für die Forderung eines Bewusstseinswandels wird. Des Weiteren ist es die oben bereits erwähnte Aufwertung des Bösen, mit der Schelling die Abgründigkeit neuzeitlicher Subjektivität unterstreicht und zugleich deren Wandlung fordert. Die unkritische Übernahme subjekt- bzw. transzendentalphilosophischer Paradigmen ist aufgrund dieses Befundes für Schelling nicht mehr möglich. Hinsichtlich des hier im Vordergrund stehenden systemtheoreti­ schen Ansatzes ist zunächst seine Herkunft aus der Einführung einer auf der internen Differenz des Absoluten beruhenden Systemkonzeption der Freiheitsschrift zu diskutieren. Bekanntlich schlägt Schelling in den Untersuchungen von 1809 einen dynamischen Ansatz vor, der in der Differenzierung des Anfangs in ein ›Prinzip des Grundes‹ und ein ›Prin­ zip des Verstandes‹, die zugleich eine lebendige Einheit bilden, seinen Ausdruck findet. Während Schelling sich hierbei auf seine Überlegungen aus der Anti-Fichte-Schrift stützt,26 liegt die entscheidende Neuerung der 26 Schelling selbst verweist darauf, dass er diesen Ansatz zum ersten Mal in der Darstellung meines Systems (1801) vertreten hat (AA I,17, 129), akut wird er jedoch vor allem in der 1806 bereits in München verfassten Schrift Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre (›Anti-Fichte‹) und der dort vertretenen Ansicht des ›lebendigen Bandes‹: »Wir haben Sein und Erkennen auch entgegengestellt als Wesen und Form; allein auch so ist noch kein wahrer Gegensatz gegeben, denn das Positive in der Form ist selbst nur das Wesen oder das Sein; und die Selbstbejahung ist so weit noch selbst als bloße, reine Identität begriffen. Erst mit dieser Indifferenz von Wesen und Form ist auch der Gegensatz; […] Wie gelangen wir zu diesem Gegensatz? – Eben nur durch die notwendige Folge der Selbstoffenbarung, die da selber das Sein ist, und in deren Natur wir nun noch tiefer einzudringen haben. Ein Wesen, das bloß es selbst wäre, als ein bloßes Eins […] wäre notwendig ohne Offenbarung in ihm selbst; denn es hätte nichts, darin es sich offenbar würde, es könnte eben darum nicht als Eins sein, denn das Sein, das aktuelle, wirkliche Sein, ist eben die Selbstoffenbarung. Soll

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II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)

Freiheitsschrift in der Einführung des »Ungrundes«.27 Indem Schelling hinter die Differenz von Grund und Existierendem zurückgeht und an dieser Stelle nicht die unterschiedslose Identität als begründendes Prinzip, sondern vielmehr den durch die Figur des dynamischen Entzu­ ges gekennzeichneten Ungrund profiliert, sind für die Begründung der Systemkonstitution im weiteren Werkverlauf der mittleren Werkphase wichtige Entscheidungen gefällt. Kennzeichnend für die Figur des »Ungrundes« als begründendes Prinzip ist, dass er nicht etwa die Gegensätze aufhebt – so argumentiert Schelling noch in der Identitätsphilosophie –, sondern »vor allen Gegen­ sätzen vorhergeht« (AA I,17, 170) und sich gerade durch seine absolute Prädikatlosigkeit auszeichnet. Er wird nicht mehr charakterisiert durch seine unmittelbare Präsenz, sondern gerade durch seine Ungreifbarkeit und Entzogenheit, ohne dabei jedoch »ein Nichts oder ein Unding« (AA I,17, 171) zu sein. Schelling bezeichnet den Ungrund dabei ausdrücklich als ein »Wesen« (AA I,17, 170), das gerade aufgrund seiner Gleichgültig­ keit, bzw. seines Entzuges gegenüber allen Gegensätzen unmittelbarer Ausgang der beiden gleich-ewigen Anfänge – also des ›Prinzip des Grundes‹ und des ›Prinzip des Verstandes‹ – sein kann. In den Stuttgarter Privatvorlesungen, die im Aufbau noch ganz in der dreiteiligen Struktur der Identitätsphilosophie gehalten sind, werden zugleich in konsequenter Weise die in der Freiheitsschrift angelegten Neukonzeptionen des Systemprinzips weitergeführt. Während 1809 im Zuge der Ungrundspekulation noch nicht explizit prinzipientheoretisch argumentiert wurde, bezieht sich Schelling 1810 mit der Frage »Was ist Princip meines Systems?« und dem Begriff des Urwesens auf die Argu­ mentationen in der Freiheitsschrift und trägt sie in seine Prinzipientheo­ rie ein. So wie der Ungrund der Freiheitsschrift als ›lebendiges Wesen‹ die Gegensätze nicht einfach vereint, sondern vor aller Gegensätzlichkeit durch seinen Charakter der Entzogenheit bzw. Gleichgültigkeit diese zuallererst hervorbringt, will Schelling auch das Urwesen der Privatvor­ lesungen nicht als numerische Einerleiheit von Subjekt und Objekt,

es als Eins sein, so muß es sich offenbaren in ihm selbst; es offenbart sich aber nicht, wenn es bloß es selbst, wenn es nicht in ihm selbst ein Anderes, und in diesem Anderen sich selbst das Eine, also wenn es nicht überhaupt das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen ist« (SW VII, 54). 27 Auch mit der These, dass die Einführung des Ungrundes die entscheidende Neuerung der Freiheitsschrift ist, lehne ich mich an die Arbeiten von Philipp Schwab an. Vgl. Schwab 2018b, 213.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

sondern als lebendige Einheit eines aktuellen, wirklichen und zugleich systembegründenden Wesens verstanden wissen. In ähnlichem Duktus spricht Schelling wenig später in der Einlei­ tung in die Weltalter dem systembegründenden Prinzip zugleich einen lebendigen und wesenhaften Charakter zu, wenn er formuliert: Die bisher geltende Vorstellung von der Wissenschaft war, daß sie eine bloße Folge und Entwickelung eigener Begriffe und Gedanken sey. Die wahre Vorstellung ist, daß es die Entwickelung eines lebendigen, wirkli­ chen Wesens ist, die in ihr sich darstellt. (WA I, 3)

Die Einführung des Ungrundes in der Freiheitsschrift und, daraus resul­ tierend, des Motivs eines uneinholbaren Entzugs hängen systematisch mit der Dynamisierung sowohl des Systemprinzips als auch des Systems selbst zusammen. Beide Motive werden argumentativ in der Figur eines lebendigen und wesenhaften Prinzips zusammengefasst. Damit ist aber einem Systemprinzip reinholdscher Prägung, das als oberster Satz einer linear bzw. kausal argumentierenden Kette von auseinander folgenden Sätzen fungiert, eine Absage erteilt, die fundamentale Auswirkungen auf das Wissenschaftsverständnis hat.28 Während Schelling in der Freiheitsschrift den internen Dualismus des Absoluten zunächst betont und von dort her sein System aufbaut, um gegen Ende der Schrift auf dem »höchsten Punkt der ganzen Untersuchung« (AA I,17, 170) den Ungrund als Prinzip einzuführen, der »vor aller Dualität« (AA I,17, 170) den Einheitsgaranten bildet, aus dem unmittelbar und ohne linearen Übergang die Dualität hervorbricht (vgl. AA I,17, 171), wird in Erlangen gleich zu Beginn die Frage nach der ewigen Freiheit als lebendigem Wesen gestellt, die das indefinible Prinzip des Systems darstellt, das durch alles hindurchgeht und zugleich nichts von alledem ist.29 Während also – so ließe sich schlussfolgern – die Freiheitsschrift im Wesentlichen aus einer dualen Struktur argumentiert und damit die Wirklichkeit des Bösen zu begründen sucht und der Ungrund erst gegen Ende als einheitsstiftender Schlussstein der Unter­ suchung eingeführt wird, gewinnt die Bedeutung des Ungrundes als dynamischem Systemprinzip in der Folge eine Relevanz, die Schelling in Schelling hatte schon früh gegen ein erstes Prinzip in der Form eines Grundsatzes argumentiert, der ein bloß theoretisches Verständnis nahelege (vgl. AA I,3, 193). In der Weltalter-Phase knüpft Schelling an diese frühe Kritik an und radikalisiert sie, indem er sich nunmehr grundsätzlich gegen ein konstituierendes Prinzip wendet. Vgl. Schwab 2018b, 216. 29 Vgl. Kapitel II.3.1. 28

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II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)

Erlangen notwendigerweise zu der Frage treibt, wie aus einem solchen Systemprinzip das System selbst und die damit zusammenhängende Erkenntnismethode zu verstehen sei. Das ›Systemprogramm‹, mit dem Schelling 1821 hervortritt, lässt sich insofern als Fortführung der prinzipientheoretischen Dynamisie­ rung des Systems auffassen, wie sie in der Freiheitsschrift angelegt und in den Weltaltern weiter ausbuchstabiert wurde. Es verbindet diese Systemkonzeption zudem mit der durch die Aufwertung des Bösen sich ergebende Abgrenzung von den subjektphilosophischen Ansätzen der Transzendentalphilosophie. Mit der Erlanger Systemkonzeption steht Schelling insofern vor der doppelten Aufgabe, einerseits die Dynamik des Systemprinzips sys­ temtheoretisch zu integrieren, andererseits die Notwendigkeit zur Über­ windung des transzendentalphilosophischen Subjektverständnisses von Anfang an im Systemverständnis einzuschreiben. Was ist Schellings Lösung für diese doppelte Aufgabe? Das Erlanger Systemprogramm wird vornehmlich in den ersten vier Vorlesungen expliziert. Gleich in der ersten Vorlesung formuliert Schelling das kühne Ziel seiner Ausführungen. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger, als das Ganze des Systems der Philosophie dar­ zulegen.30 Damit sind zwei wichtige Weichenstellungen vorgenommen: Zum einen wird der seit Kant programmatisch gewordene Anspruch der Philosophie als einer systematischen Wissenschaft unterstrichen.31 Des Weiteren wird ein Ganzheitsanspruch formuliert, der vorderhand an die Systemkonzeption der Identitätsphilosophie erinnert, in der die absolute Identität als ein Prinzip verstanden, in dem alles inbegriffen ist. Allerdings macht Schelling in seinen Vorlesungen deutlich, dass sich diese Auffassung grundlegend gewandelt hat, wenn er auf den Titel seiner Vorlesungen hinweist: Es gehe ihm um Initia im Plural, nicht um einen einzigen Anfangspunkt, von dem aus sich alles ableiten 30 »Der Gegenstand dieser Vorlesungen ist also kein Theil, sondern das Ganze, Anfang Mitte u. Ende, d.i. ein System der Philosophie.« (AA II,10,2, 673) Da in der SW-Fassung die ersten zwei Vorlesungen fehlen, wird hier auf die Enderlein-Mitschrift verwiesen. 31 Vgl. zur direkten Bezugnahme Schellings auf Kant in der Mitschrift zur Erlanger Vorlesung: »Schelling legt ein besonderes Gewicht auf das System: denn 1) ist es das Wesentliche der Philosophie. 2) das System ist der Preis um den unser Zeitalter ringt. Mit der Philosophie steht es immer noch nicht gut, so lange man nicht über den Plan einig ist, da man dieses doch in anderen Wissenschaften ist, daher man in diesen vorzügliche Fortschritte macht. Es ist daher ein großes Verdienst Kants, daß er darauf besonders drang, daß man sich erst über den Plan verständigen sollte« (AA II,10,2, 676).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

lasse.32 Auch wenn der Systemanspruch betont wird, positioniert sich Schelling mit der Abgrenzung von einem einzigen, obersten Grundsatz von Anfang an in Abgrenzung zu einer linear-deduktiv aufgebauten Systemarchitektur, wie sie Fichte in Anschluss an Reinhold33 in seiner Wissenschaftslehre als Maßstab der Wissenschaft proklamierte.34 Damit verlässt Schelling die Auffassung, dass das System aus einem obersten Grundsatz deduziert werden muss, die er noch in seiner Frühphilosophie und der Identitätsphilosophie vertreten hatte. Stattdessen profiliert er, wie bereits in den Weltalter-Entwürfen, ein organologisches Systemkonzept, dessen Glieder nicht linear-logisch aufeinander bezogen sind, sondern sich »gegenseitig Mittel und Zweck sind u. sich gegenseitig bedingen« bzw. »wechselseitig voraussetzen« (AA II,10,2, 674). In der zweiten Vorlesung heißt es entsprechend: »Ein Satz setzt nicht blos den folgenden, sondern auch den vorhergehenden voraus« (AA II,10,2, 677).35 Diese Formulierungen unterstreichen die organologische Auffassung des Systems,36 indem sie bis in die Formulie­ rung an die Charakterisierung organischer Naturprodukte in Schellings früher Naturphilosophie und an Schellings Kritik der teleologischen Urteilskraft anschließen.37 Damit wendet sich Schelling zunächst gegen die eindimensional ver­ standene Einheit eines übergeordneten Systems. Die Argumentation wird in der SW-Fassung ausdrücklich markiert als »neue Bestimmung« (AA II,10,2, 616), nach der die Einheit des Systems gerade nicht die Gegen­ Vgl. AA II,10,1, 172: »Initia – nicht einer. […] – Es ist Ein – – Wachsthum.« Vgl. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, 353–358. 34 Vgl. bspw. Fichte: GA 2, Begriffsschrift, § 1 sowie GWL, § 1. 35 Daraus folgt für Schelling, dass kein partielles Erfassen der Philosophie möglich ist: »Dieses [die Eigentümlichkeiten der Philosophie, J.H.] sind a) daß Eins das andere nicht einseitig, sondern gegenseitig bedingt und voraussetzt, daß kein partielles Verstehen mög­ lich ist, wie in Mathematik u. Dogmatik; wer in diesen Ein Kapitel versteht, der versteht doch etwas davon, der versteht doch dieses Kapitel. Hier aber muß nothwendig Eines von beiden stattfinden: man versteht entweder Alles, oder gar nichts« (AA II,10,2, 677f.). 36 Der Begriff des Organismus verweist an dieser Stelle auf andere organologisch argumentierte systemtheoretische Überlegungen z.B. indirekt aus der Freiheitsschrift (AA I,17, 175) sowie explizit aus den Stuttgarter Privatvorlesungen (AA II,8, 68f.). 37 Vgl. hierzu bspw.: »Jedes organische Produkt trägt den Grund seines Daseyns in sich selbst, denn es ist von sich selbst Ursache und Wirkung. Kein einzelner Theil konnte entstehen, als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst besteht nur in der Wechselwirkung der Theile. In jedem andern Objekt sind die Theile willkürlich, sie sind nur da, insofern ich theile. Im organisirten Wesen allein sind sie real, sie sind da ohne mein Zuthun, weil zwischen ihnen und dem Ganzen ein objektives Verhältniß ist« (AA I,5, 94). 32

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II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)

sätzlichkeit vertilgt, sondern im Gegenteil ein wirkliches Zusammen­ bestehen der Gegensätze ermöglicht.38 Das Paradigma der kausalen, eindimensionalen Systemarchitek­ tur wird insofern zugunsten einer wechselseitigen, mehrdimensionalen Begründungsstruktur aufgegeben, auch wenn der Anspruch auf ein geschlossenes Ganzes nicht fallengelassen wird.39 Damit einher geht der prinzipientheoretische Anspruch, der ein Unbedingtes fordert, das den Zusammenhang der einzelnen Glieder stiftet und die Notwendigkeit der Gliederung verbürgt. Insofern stellt sich die Frage nach dem Charakter des Systemprinzips einerseits und der daraus folgenden Systemarchitek­ tur andererseits. Vertiefend sind deshalb in der Folge die drei Kernaspekte von Schellings Ansatz in den ersten vier Vorlesungen zu klären: das spezifische Systemverständnis in seinem vorausgesetzten Widerspruch (a) sowie in seiner Organizität (b) und schließlich der Status des System­ prinzips selbst (c).

38 In der SW-Fassung lesen wir: »Im ersten Fall (wenn sie [die Systeme, J.H.] sich alle gegenseitig vertilgten) würde man statt des Systems nur einen bodenlosen Abgrund vor sich sehen, in den alles versinkt, und in dem sich nichts mehr unterscheiden läßt. Nicht vertilgt werden sollen die Systeme, sondern zusammenbestehen, wie die verschiedenen Systeme in einem Organismus.« (AA II,10,2, 616) Diese Passage ließe sich als Reminiszenz auf Hegel und dessen bereits erwähnte Kritik an der absoluten Identität in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes lesen. Nicht ohne Grund sieht Fuhrmanns das Systemverständnis der Erlanger Vorlesungen aus der Auseinandersetzung mit Hegel erwachsen: Er argumentiert in den Anmerkungen zu der Herausgabe der Enderlein-Nachschrift, es sei vor allem das Erscheinen der Encyklopädie im Jahre 1817 gewesen, das Schelling die Größe des Anliegens Hegels, die Philosophie in seiner Weise zu vollenden, indem er sie als Wissenschaft vom Ganzen des Seins darstellte, vor Augen führte (vgl. Fuhrmanns 1969, 180f.) Vor allem die Idee der Selbsterkenntnis bzw. das Zu-sich-Kommen der ewigen Freiheit im Menschen sieht Fuhrmanns von Hegel her angeregt (vgl. Fuhrmanns 1969, 190). 39 Vgl. hierzu bspw. Schellings Bemerkung im System des transzendentalen Idealismus: »Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Anfangspunct zurückgeführt ist.« (AA I,9, 328) Schelling knüpft damit an die grundlegenden Bemerkungen Fichtes zur Vollständig­ keit und Geschlossenheit des Systems in der sog. Begriffsschrift an: »Ein Grundsatz ist erschöpft, wenn ein vollständiges System auf demselben aufgebaut ist, d.i., wenn der Grundsatz nothwendig auf alle aufgestellten Sätze führt, und alle aufgestellten Sätze not­ hwendig wieder auf ihn zurückführen. […] Wir bedürfen eines positiven Merkmals, daß schlechthin und unbedingt nichts weiter gefolgert werden könne; und das könnte kein anders seyn, als das, daß der Grundsatz, von welchem wir ausgegangen wären, das letzte Resultat sey« (Fichte: Begriffsschrift, § 4, GA 2, 35f.).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

a) Der Widerspruch als Voraussetzung des Systems (VL 1 und 3) Das spezifische Systemverständnis in den Erlanger Vorlesungen beruht auf der grundlegenden Voraussetzung, welche die Gesamtheit des menschlichen Wissens aufgrund seiner Abgefallenheit aus der ursprün­ glichen Einheit nicht als harmonisches Ganzes, sondern als fundamen­ talen und nicht zu harmonisierenden Widerspruch begreift. In den Vorlesungen denkt Schelling das System demnach auf der Folie einer defi­ zitären Grundkonstituiertheit menschlichen Wissens, der zugleich die Notwendigkeit zur Selbstüberwindung inhäriert. Damit besteht jedoch die Herausforderung, das Motiv des Widerspruchs in die Systemarchitek­ tur zu integrieren. Um Schellings Ansatz zu verdeutlichen, ist in einem ersten Schritt der Argumentationsgang hin auf das systemfundierende Motiv des Widerstreitenden (ἀσύστατον) zu rekonstruieren. Mit der Benennung der Vorläuferfiguren in Schellings Werk wird in einem zweiten Schritt einsichtig, dass das Motiv selbst sich von den frühen Schriften Schellings herschreibt. Insofern wird hier davon ausgegangen, dass das Motiv nicht erst in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel in Schellings Werk Eingang erhält. Der entscheidende Unterschied zu Hegels Ansatz der Differenz liegt darin, dass Schelling das Widerstreitende bis 1809 als ein Sekundäres, aus der ursprünglichen Einheit Herausgetretenes begreift.40 Mit der Zuspitzung durch sündentheologisch motivierte Argumentatio­ nen ab 1804 gewinnt es an systematischer Schärfe, deren Folgen in die Systemkonzeption von 1821 einfließen und zu deren organologischer und dynamischer Konstruktion führen. Blickt man also erstens auf den argumentativen Ausgangspunkt der Erlanger Vorlesungen so ist Folgendes zu konstatieren: Was das System überhaupt konstituiert, könne nicht bewiesen, sondern nur anschaulich gemacht werden (vgl. AA II,10,1, 171). So weist Schelling bereits in der ersten Vorlesung darauf hin, dass es ihm nicht um ein Setzen und Definieren geht, das vom Subjekt in einem spontanen Erkenntnisakt zu leisten wäre, sondern dass das System der Philosophie vielmehr aufgesucht und aufgewiesen werden muss, dabei allerdings erst im Selbst­ vollzug einsichtig werde. In diesem Punkt findet sich – im Gegensatz zur Systemkonstitution selbst – eine große Nähe zu Fichtes bereits erwähnter genetischer Vortragsmethode, mit der die Zuhörer in das Erzeugen des Gedankens Einsicht erhalten sollen. Auch wenn Schelling 40

Vgl. hierzu auch Schwab 2018a.

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II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)

sich in den Erlanger Vorlesungen kritisch von der systemtheoretischen und subjektphilosophischen Position Fichtes abgrenzt, lassen sich in der Sache argumentative Parallelen – allerdings unter anderen Vorzeichen – finden. Auch Fichte betont schon in den frühen Schriften zur Wis­ senschaftslehre, dass der erste Grundsatz – und mit ihm das Ganze des Systems – nicht bewiesen, sondern nur aufgewiesen werden kann. Eine Gemeinsamkeit, die sich aus dem Anspruch der Unbedingtheit des Prinzips der Philosophie sowohl bei Fichte als auch bei Schelling ergibt.41 In der dritten Vorlesung werden dementsprechend die Vorausset­ zungen erörtert, die der Suche nach dem System des menschlichen Wissens zugrunde liegen. Dabei ist entscheidend, dass Schelling den in der ersten Vorlesung eingeführten organologischen Systemanspruch weiterverfolgt. Da er damit einem Systemverständnis, das im Anschluss an Reinhold und Fichte von der Notwendigkeit eines obersten Satzes ausgeht und von dort in streng deduktiv und linear verfahrender Argu­ mentation das System entfaltet, nicht mehr folgen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als bei der Hinführung zum System zunächst von der in der Philosophie gegebenen Vielzahl von Systemansätzen auszugehen. Genau das ist der Ansatz der Erlanger Vorlesungen. Hier setzt Schelling kein Systemprinzip, sondern verweist zunächst auf das seit dem Beginn der Philosophie immer schon gegebene Vorhandensein eines Streites der Systeme (vgl. AA II,10,1, 180f.). Dieser Urzwist ergebe sich aus der Tatsache, dass alles menschliche Wissen ursprünglich nicht systematisch, sondern widersprüchlich sei. Damit setze jede Suche nach einem Sys­ tem als Zusammenbestehendes (σύστατον) das sich Widerstreitende (ἀσύστατον) immer schon voraus.42 Bezeichnenderweise stehen, trotz der oben benannten methodi­ schen Gemeinsamkeit, diese Bemerkungen denjenigen Fichtes in der Programmschrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre diametral gegenüber. Dort betont Fichte, dass die Voraussetzung für die Wissen­ 41 Vgl. Fichte: Begriffsschrift § 2, GA 2, sowie GWL, 255. Schelling selbst hatte diese Auf­ fassung auch in früheren Schriften bereits vertreten. Vgl. bspw. die Stuttgarter Privatvor­ lesungen, in denen er davon spricht, dass ein System nicht bewiesen, sondern nur aufge­ wiesen werden könne (AA II,8, 68). 42 Schelling betont, er mache »[…] grade den Widerstreit der Systeme zur Voraussetzung des Systems« (AA II,10,1, 185). In der Enderlein-Nachschrift heißt es etwas ausführlicher: »Da das System des menschlichen Wissens so viel ist, als das menschliche Wissen im System, so setzt das suchen nach dem System voraus: 1) das das menschliche Wissen ursprünglich kein System, sondern ein Aσύστατον, ein Nichtzusammenbestehendes, ein Verwirrtes, ein sich selbst Widersprechendes ist« (AA II,10,2, 681).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

schaftslehre und für die Möglichkeit ihres ersten, unbedingten Grundsat­ zes nur durch die Einheit des menschlichen Wissens als eines gegebenen Systems erfüllt wird. Gäbe es entweder überhaupt nichts unmittelbar Gewisses oder bestünde das menschliche Wissen aus mehreren, sich widersprechenden Reihen (wie Schelling es ausdrücklich als Vorausset­ zung für das System menschlichen Wissens fordert), könne es weder einen ersten obersten Grundsatz, noch ein »vollendetes und Einiges System im menschlichen Geiste« geben.43 Hinsichtlich der Vorgängerfiguren für das Streitmotiv ist zweitens zu bemerken, dass der in seinen ersten Ursprüngen auf Heraklit zurückge­ hende Gedanke der konstitutiven Funktion des Widerspruchs44 in Schel­ lings gesamter Philosophie eine entscheidende Rolle spielt.45 Bereits in den Philosophischen Briefen von 1795 betont Schelling, dass der Widerstreit im menschlichen Geist, der entstehe, sobald dieser sich aus der ununterschiedenen Einheit des Absoluten herausbewege, konstitutiv Vgl. Fichte: Begriffsschrift § 2, GA 2. Vgl. hierzu beispielsweise das Fragment über den Krieg als Vater aller Dinge: Diels/ Kranz, Fragment Nr. 53 sowie besonders Fragment Nr. 80. Auch die Fragment Nr. 8 und Nr. 51 machen zum Thema, wie aus dem Widerstrebenden sich die Einheit konstituiert, ohne dabei das Widerstrebende aufzuheben. 45 Diese Gedanken von Heraklit dürfen bei Schelling als bekannt vorausgesetzt werden. Ein Exemplar der Poesis philosophica von Stephanus, die eine Sammlung der Fragmente Heraklits umfasste, und nach der auch Hegel zitierte, befand sich in der Bibliothek Schel­ lings (vgl. Müller-Bergen 2007, 77). Die Untersuchung Schleiermachers »Herakleitos der Dunkle von Ephesos: dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten« in KGA, Abteilung 1, Bd. 6, 101–241, geht ausführlich auf die konstitutive Bedeutung des »Entgegenstrebenden« ein und dürfte Schelling ebenfalls bekannt gewesen sein. Insgesamt spielte Heraklit im deutschen Idealismus eine wichtige Rolle. Neben der Schrift von Schleiermacher, ist Heraklit vor allem auch für Hegel (vgl. Hölscher 1979) und Hölderlin (vgl. dritter und letzter Brief des Hyperion) ein wichtiger Bezugspunkt. Hegel geht sogar so weit, Heraklit als den entscheidenden Ahnherrn zu betrachten: »Bei Heraklit ist also zuerst die philosophische Idee in ihrer spekulativen Form anzutreffen – – Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen« (Hegel, Werke 18, 320). Dass Schelling, bei aller Abgrenzung zu Hegel, sich ebenfalls von Heraklit beeinflussen lässt, hat sicherlich mit Schellings Suche nach einem Eintrag der Differenz in die Einheit des Absoluten zu tun. Auch Leinkauf sieht einen Einfluss herakleitischen Denkens auf die Erlanger Vorlesungen: »So kann man mit jeweils mehr oder weniger guten Gründen sagen, daß etwa an den Stellen in den Initia, wo Schelling ein Prinzip kosmischen Lebens evoziert, das ›das Spannende des Bogens‹ ist, der ›beständig gespannt sein muß, wenn das Leben nicht erschlaffen soll‹ – ein Vorgriff sicherlich auf das, was später die Potenzenspannung sein wird – durchaus als ein Reflex der παλίντονος άρμονία des Heraklit (Fr. B 51) […] aufgefasst werden kann […]« (Leinkauf 1998, 12). 43

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ist für die Philosophie, denn die Philosophie würde aufhören, gelänge es dem Menschen, wieder in das Absolute einzutreten.46 Schon hier klingt das Motiv des Sündenfalls als Ausgangspunkt alles Widerstreites und damit auch aller Philosophie an, das in Philosophie und Religion von 1804 und dann vor allem in der Freiheitsschrift eine entscheidende systematische Stellung einnehmen wird. Auch für die Konstruktion der Natur in den frühen naturphilo­ sophischen Schriften ist die Figur des Streites, im Anschluss an bzw. in Abgrenzung zu dem Theorierahmen einer Duplizität von Kräften wesentlich, wie er von Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft vorgelegt wurde. Die Fortdauer des Streites zweier Kräfte, die für die Konstitution von Naturprodukten als notwendig angenommen wird,47 setzt Schelling in den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1979 parallel mit dem ursprünglichen Streit im Geiste, wie er in

»Hätten wir bloß mit dem Absoluten zu thun, so wäre niemals ein Streit verschiedner Systeme entstanden. Nur dadurch, daß wir aus dem Absoluten heraustreten, entsteht der Widerstreit gegen dasselbe, und nur durch diesen ursprünglichen Widerstreit im menschlichen Geiste selbst der Streit der Philosophen. Gelänge es einmal – nicht dem Philosophen, sondern – dem Menschen, dieses Gebiet verlassen zu können, in das er durch das Heraustreten aus dem Absoluten gerathen ist, so würde alle Philosophie und jenes Gebiet selbst aufhören. Denn es entsteht nur durch jenen Widerstreit, und hat nur so lange Realität, als dieser fortdauert. Wem es also zuerst darum zu thun ist, den Streit der Philosophen zu schlichten, der muß gerade von dem Punkt ausgehen, von dem der Streit der Philosophie selbst, oder, was eben so viel ist, der ursprüngliche Widerstreit im menschlichen Geiste, ausgieng. Dieser Punkt aber ist kein anderer, als das Heraustreten aus dem Absoluten; denn über das Absolute würden wir alle einig seyn, wenn wir seine Sphäre niemals verließen; und träten wir nie aus derselben, so hätten wir kein anderes Gebiet zum Streiten« (AA I,3, 59f.). Die Verwandtschaft der Briefe mit den Erlanger Vorlesungen ist in der Forschung mehrmals betont worden. Vgl. bspw. Hühn 1994, 153f., die mit Schulz die These vertritt, dass bereits in der Frühphilosophie Figuren formiert werden, die in der Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie im Anschluss an die Erlanger Phase virulent werden (vgl. auch Iber 1994, 236f.). 47 Vgl. hierzu bspw. »Wo wir daher Kraft denken, (wie in der Materie,) da müssen wir auch eine ihr entgegengesetzte Kraft denken. Zwischen entgegengesetzten Kräften aber können wir uns nur ein doppeltes Verhältniß denken. Entweder sie sind im relativen Gleichgewicht, (im absoluten Gleichgewicht würden sich beyde völlig aufheben); dann werden sie als ruhend gedacht, wie in der Materie, die deßhalb träg heißt. Oder man denkt sie in fortdauerndem, nie entschiednem Streit, da eine wechselseitig siegt und unterliegt; dann aber muß wieder ein Drittes da seyn, das diesem Streit Fortdauer giebt und in diesem Streit wechselseitig siegender und unterliegender Kräfte das Werk der Natur erhält« (AA I,5, 102). 46

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den Philosophischen Briefen dargelegt ist. Aus diesem Streit erst gehe die wirkliche Welt hervor.48 Ohne an dieser Stelle auf die Verschiebungen in der Systemauffas­ sung zwischen der frühen Transzendental- und Naturphilosophie und den späteren Konzeptionen z.B. im System von 1800 und dann vor allem ab den Ferneren Darstellungen von 1801 eingehen zu wollen,49 sei hier lediglich die Tatsache hervorgehoben, dass das Motiv des Streites und des Widerspruchs auch in den folgenden Schriften in seiner konstitutiven Bedeutung für die Wirklichkeit eine entscheidende Figur bleibt.50 Zugleich – und das ist ein wesentlicher Punkt – denkt Schelling den Widerspruch bzw. den Streit bis 1809 nicht als ein Prius gegenüber einer nachträglich hergestellten Einheit, sondern immer als ein Sekundäres, das durch das Heraustreten aus der Einheit und Unbedingtheit entsteht und damit die objektive Welt in die Erscheinung treten lässt. Das mythologische Bild des Sündenfalls, der Abkehr vom Absoluten, tritt zwar erst ab 1804 in systematischer Funktion in die Systemkonzeptionen ein, durchzieht aber als Figur von Anfang an das Werk.51 So ist es nicht verwunderlich, wenn das Motiv des Widerstreites auch in der Systemspekulation der Erlanger Vorlesungen von Relevanz ist, auch wenn es hier erstmals in das System selbst aufgenommen wird. Während also alles menschliche Wissen ursprünglich widersprüch­ lich sei, zeichne sich das gesuchte System »des Ganzen der Philosophie«, Vgl. »Im todten Objekt ruht alles, in ihm herrscht kein Streit, sondern ewiges Gleich­ gewicht. Wo physische Kräfte sich entzweien, bildet sich allmählich belebte Materie; in diesem Kampf entzweiter Kräfte dauert das Lebendige fort, und darum allein betrachten wir es als ein sichtbares Analogon des Geistes. Im geistigen Wesen aber ist ein ursprüngli­ cher Streit entgegengesetzter Thätigkeiten, aus diesem Streit erst geht – (eine Schöpfung aus dem Nichts) – hervor eine wirkliche Welt« (SW II, 222). Auch im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) wird der ursprüngliche Streit im Selbstbewusstsein parallel gesetzt zum ursprünglichen Streit der Elemente in der Natur (vgl. AA I,7, 83). 49 Vgl. hierzu bspw. Schwenzfeuer 2012, 13–106. 50 Während im System von 1800 der fichtesche Einfluss trotz aller sich abzeichnen­ der Differenz im Motiv des ursprünglichen Streites entgegengesetzter Richtungen im Selbstbewusstsein noch deutlich hervortritt (vgl. AA I,9, 81‒83), wird dasselbe Motiv in der Identitätsphilosophie in abgewandelter Form z.B. auf den Streit von Freiheit und Notwendigkeit, der in der Philosophie der Kunst (1802–1805) das zentrale Thema darstellt, oder aber auf denjenigen von Licht und Finsternis, der im sog. Würzburger System von 1804 als Grundfigur auftritt. 51 Es wurde oft darauf hingewiesen, dass die Frage des Sündenfalls und des Bösen bereits den frühen Schelling beschäftigte, wie die Tübinger Abhandlung De malorum origine (AA I,1, 47–181) beweist. 48

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das Schelling als System κατ' ἐξοχήν52 markiert, dadurch aus, dass es diesen »Urzwist« nicht aufhebt, sondern dass es den Gegensatz in die Einheit integriere, ohne dessen Spannung aufzulösen.53 Entsprechend macht Schelling zu Beginn seiner Systemspekulation in den Erlanger Vor­ lesungen deutlich (SW-Fassung), dass »[…] das wahre System eben nur dasjenige seyn kann, welches Einheit der Einheit und des Gegensatzes ist, d. h. welches zeigt, wie die Einheit mit dem Gegensatz und der Gegensatz mit der Einheit zugleich bestehe […]« (AA II,10,2, 613).54 Damit knüpft er zunächst an den alten Gedanken der Identitätsphilosophie an, nach dem das Prinzip des wahren Systems die Einheit der Einheit und des Gegensat­ zes ist, wobei Schelling hier zu einem anderen Ergebnis kommt: Würde nämlich der Streit im System κατ' ἐξοχήν, bzw. in dessen Systemprinzip vollkommen aufgehoben, verschwände auch das System selbst – ein Paradox, das Schelling im weiteren Verlauf der Argumentationen durch die Konzeption eines sich entziehenden, dynamischen Systemprinzips lösen wird.55 Den Begriff des Systems κατ' ἐξοχήν verwendet Schelling bereits in seiner ersten Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt im Zusammenhang mit der Frage nach der Ersten Wissenschaft: »Jene Wissenschaft [die die letzten Bedingungen aller anderen Wissenschaften enthält, J.H.] könnte dann nur die Wissenschaft der letzten Bedingungen der Philosophie selbst seyn, und insofern befinden wir uns hier, bei der Frage, wie Philosophie überhaupt möglich sey, auf dem Gebiet dieser Wissenschaft, die man alsdann entweder Propädeutik der Philosophie (Philosophia prima), oder, da sie zugleich alle andere Wissenschaften bedingen soll, noch besser Theorie (Wissenschaft) aller Wissenschaft, Urwissenschaft, oder Wissenschaft κατ' ἐξοχήν nennen könnte.« (AA I,1, 272) Selbstverständlich stehen diese Überlegungen noch ganz im Kontext der Wissenschaftslehre Fichtes, zeichnet sich die Wissenschaft κατ' ἐξοχήν für Schelling hier doch gerade durch ihren ersten, unbedingten Grundsatz aus. In der Allgemeinen Übersicht von 1797/98 heißt es dann bereits, dass das System κατ' ἐξοχήν jenseits der Transzendentalphilosophie zu verorten ist, wenn Schelling schreibt: »Wissenschaft κατ' ἐξοχήν heiße die Universal-Wissenschaft, in welche alle transcenden­ tale Erkenntniß sich endlich auflösen muß« (AA I,4, 181). 53 Das Motiv einer internen Dualität, wie Schelling sie in der Freiheitsschrift für das Absolute einführt, wird hier weiter ausbuchstabiert, indem die gesuchte Einheit als in sich differenzierte aufgefasst wird. 54 Das Motiv einer Einheit der Einheit und des Gegensatzes findet sich bereits in Schellings früherem Werk. So bspw. im Bruno (AA I,11, 358f., 415) und in den Stuttgarter Privatvorlesungen (AA II,8, 80, 118). Vgl. darüber hinaus die verwandte Formulierung dieser Struktur in Hegels Differenzschrift (GW 4, 64). 55 Hier greift Schelling auf ein zentrales Motiv seiner früheren Philosophie zurück. So stellt er in den Briefen über Dogmatismus und Kritizismus bspw. seinen eigenen Systemansatz als aufhebende Überbietung aller einzelner Systeme dar. Vgl. Hühn 1994, 153; Durner 1979, 28‒30. 52

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Es geht Schelling also nicht darum, dass das System die Aufgabe erfüllt, Widersprüchlichkeit aufzuheben. Sein Anliegen ist es vielmehr, das Konstitutive der Widersprüchlichkeit stark zu machen und es als die Grundvoraussetzung aller Philosophie zu profilieren.56 Dabei müssen – so die These – zwei Ebenen unterschieden werden: Erstens geht Schelling hinsichtlich des Zusammenbestehens der Widersprüche von einem organologischen Systemverständnis aus, das er in der dritten Vorlesung in Abgrenzung zu Kant und unter Zuhil­ fenahme eines naturphilosophischen bzw. medizinischen Beispiels aus­ führlicher veranschaulicht. Schelling hat zweitens ein System κατ' ἐξοχήν im Blick, das sich erst durch das Zusammenbestehen der Widersprüche im organologischen System gleichsam auf einer höheren Ebene zeige und im eigentlichen Sinne nicht mehr System genannt werden könne, da es selbst »über allem System« sich befindet (AA II,10,2, 540). Dieses ›Über-System‹ ist durch eine radikale Offenheit und vor allem Dynamik gekennzeichnet.57 Beide Aspekte werden im Folgenden zunächst näher erläutert (b), um auf dieser Grundlage einsichtig machen zu können, wie sie zusammengebunden werden durch das Systemprinzip, dessen parado­ xale Struktur die Selbsttransformation des erkennenden Subjektes vor­ rangig zu fordern in der Lage ist (c).

b) Das System der Freiheit als Organismus (VL 1 und 3) Die Auffassung von der widersprüchlichen Verfasstheit menschlichen Wissens hängt eng zusammen mit Schellings Darstellung des Systems als Organismus. Nur mithilfe organologischer Beziehungen können Widersprüche in die Gesamtheit eines Systems integriert werden. Dass diese Systemauffassung keine starr-hierarchische ist, sondern sich durch Dynamik und eine gewisse Offenheit auszeichnet, unterstreicht Schel­ lings Suche nach einem ›System der Freiheit‹. 56 Vgl. hierzu in ähnlichem Duktus auch die Einschätzung von Scheier: »Diese Vernunft ist selbst ein Gefüge, ein ›System‹, das ganz da, ›heraus‹, nur ist sozusagen als seine – notwendig streitbare – Gemeinde, und deren Geist es ist, der philosophisch und nicht philosophiehistorisch interessant bleibt« (Scheier 1993, 4). 57 Schellings Anspruch an ein System der Freiheit ähnelt demjenigen von Novalis, der ein System der Systemlosigkeit fordert: »Das eigentliche Philosophische System muß Freyheit und Unendlichkeit, oder, um es auffallend auszudrücken, Systemlosigkeit, in ein System gebracht, seyn. Nur ein solches System kann die Fehler des Systems vermeiden und weder der Ungerechtigkeit, noch der Anarchie bezogen werden.« (Novalis Schriften 2, 228f., Nr. 648) Vgl. hierzu auch Waibel 2020.

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II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)

Selbstverständlich ist die Anlehnung des Systemgedankens an die naturphilosophische Organismusspekulation um 1800 kein genuin schellingscher Ertrag. Im Anschluss an Kants Überlegungen zur Zweck­ mäßigkeit der Natur in der Kritik der Urteilskraft58 hat der OrganismusBegriff in der nachkantischen Philosophie eine entscheidende Rolle gespielt.59 Es war Schelling, der den entsprechenden Paragraphen aus der Kritik der Urteilskraft bereits früh ihre Bedeutung zugesprochen hat, wenn er betont: »Vielleicht aber sind nie auf so wenigen Blättern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden […]« (AA I,2, 175).60 In der Folge wird bei Denkern und Naturforschern wie Goethe, Alexander von Humboldt, Carl Gustav Carus, Hendrik Steffens, Ignatz Paul Vital Troxler u.a.61 sowie in der Naturphilosophie Schellings der OrganismusBegriff breit diskutiert und für die Kritik an einer mechanistischen Naturauffassung stark gemacht. Als weiterer Bezugspunkt für die Diskussion um den OrganismusBegriff in der nachkantischen Philosophie dürfen Spinoza und Goethe gelten. Die paradigmatischen Stellen in Spinozas Briefen zum Verhältnis des Ganzen zu den Teilen in der Natur waren Schelling bekannt.62 58 Die seit Kant wirkmächtig gewordene Idee des Organismus, der »sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung« verhält und in dem »ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht« und zudem »ein die anderen Teile (folglich jeder den anderen wechselseitig) hervorbringendes Organ« verstanden werden müsse (KdU, A 285–288), wurde von Schelling aufgegriffen und ist entscheidend für seine frühe Naturphilosophie. Vgl. hierzu in einer kritischen Auseinandersetzung Küppers 1992, sowie zum Organismusbegriff in ideengeschichtlicher Hinsicht Evers 1986. 59 Kant selbst knüpfte an die Forschungen von Buffon, Haller, Wolff und Blumenbach an (vgl. Sandkühler 2011, 122f.). 60 Eckhart Förster hat dargestellt, dass die Sprengkraft der hier gemeinten Gedanken Kants vor allem in ihren Überlegungen hinsichtlich der notwendigen Annahme eines anderen Verstandes als des unseren liegt. Denn Kant macht deutlich, dass die notwen­ dig anzunehmende Zweckmäßigkeit der Naturprodukte nur von einer nicht-rezeptiven (nicht-sinnlichen) und also intellektuellen Anschauung erfasst und einem Verstand eingesehen werden kann, der vom Ganzen zu den Teilen geht, also intuitiv ist, und nicht von den Teilen zum Ganzen, wie der menschlich-diskursive Verstand. Von hier nehmen die Diskussionen im die intellektuelle Anschauung bei Fichte und Schelling und um den intuitiven Verstand bei Goethe ihren Ausgangspunkt (vgl. Förster 2011, 147–160). 61 Vgl. Bach/Breidbach 2005. 62 Klaus-Jürgen Grün vertritt in seiner Studie Das Erwachen der Materie die These, dass Schelling vor allem auch von folgender Briefstelle Spinozas beeinflusst worden ist. Dort heißt es: »Bezüglich des Ganzen und der Teile betrachte ich die Dinge insofern als Teile eines Ganzen, als ihre Natur sich wechselseitig so einander anpaßt, daß sie soweit als möglich untereinander übereinstimmen; sofern sie aber voneinander verschieden sind,

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Schelling orientiert sich an Spinozas Konzeption, modifiziert sie jedoch, indem er die statischen Zustände Spinozas dynamisiert.63 Auch die Zusammenarbeit mit Goethe um 1800 in Jena darf als wichtige Anregung für Schellings Organismus-Denken angesehen werden.64 Die konzeptio­ nelle Nähe von Goethes ›Urpflanze‹ zu Schellings Auffassung des leben­ digen Systemprinzips in den Weltaltern und den Erlanger Vorlesungen ist auffallend.65 Die Einführung des Organismus-Gedanken in die systemtheoreti­ schen Spekulationen der nachkantischen Philosophie nehmen ihren Ausgangspunkt ebenfalls bei Kant und dessen Verständnis der Wissen­ schaft als eines Systems, d.h. eines nach Prinzipien geordneten Ganzen (vgl. Kant, MAN, A IV ). Von hier aus entwickelt sich der systemtheo­ retische Anspruch der nachkantischen Philosophie, wie er bspw. in Fich­ tes Wissenschaftslehre zutage tritt.66 Während Fichte linear-deduktiv argumentiert und von einem obersten Grundsatz ausgeht, findet Hegel das Wahre als Ganzes erst am Ende des Systems im Werden.67 Die organologische Systemauffassung in der Weltalter-Philosophie zeichnet sich vor allem durch Dynamik und lebendige Widersprüch­ lichkeit innerhalb eines Ganzen aus. Damit greift er auf dynamische insofern bildet jeder in unserem Geiste eine von den anderen verschiedene Idee und wird darum als ein Ganzes, nicht als ein Teil betrachtet. […] so folgt daraus, daß jeder Körper, sofern er als durch einen bestimmten Modus modificiert existiert, als ein Teil des gesamten Universums betrachtet werden muß, daß er mit seinem Ganzen in Übereinstimmung und mit den übrigen Teilen in Zusammenhang steht« (Spinoza: Sämtliche Werke, Bd. 6, Briefwechsel, 146). Der Brief müsste Schelling in lateinischer Sprache bekannt gewesen sein, weil er in der 1677 in Amsterdam erschienenen Opera Posthuma enthalten war. 63 Vgl. Grün 1993, 29. 64 Bekanntlich war der Austausch von Goethe und Schelling zwischen 1800 und 1802 zu Fragen der Naturphilosophie besonders rege. Auf Goethes Betreiben war Schelling an die Universität Jena berufen worden. Der Geheimrat erhoffte sich aus der Zusammenarbeit mit dem jungen Philosophen Anregungen für seine naturwissenschaftlichen Studien. Vgl. den editorischen Bericht in der Historisch-kritischen Werkausgabe Schellings: AA III,2,1, 97–117. 65 Die Urpflanze als »das wunderlichste Geschöpf von der Welt« wird als »wahrer Protheus« verstanden, der allen Gestaltungen in der Pflanzenwelt zugrunde liegt. Aus ihr lassen sich »Pflanzen ins Unendliche erfinden […] die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten«. Sie ist der geistige Kern, der gleichwohl keine Abstraktion oder Idee ist, sondern den Erscheinungen aller Pflanzen als anschauliche Gesetzmäßigkeit inhäriert. (Goethe 1974, Italienische Reise, 324). 66 Ein System ist bei Fichte in seiner Wissenschaftlichkeit dann beglaubigt, wenn sich am Ende der Untersuchungen der Kreis schließt, und der Grundsatz, von dem das System ausgegangen ist, am Ende als Resultat erscheint. Vgl. Fichte: GA 2, »Begriffsschrift«, § 4. 67 Vgl. hierzu Schwab 2018b.

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Ansätze in der frühen Naturphilosophie zurück, die in der identitäts­ philosophischen Phase in den Hintergrund getreten waren.68 Mit dem Paradigma der Lebendigkeit des Systemprinzips geht die organologische Konzeption des Systemganzen einher. Denn Leben ist nur im Organis­ mus, dessen Glieder und Ganzes sich wechselseitig bedingen. Dies bedeutet, dass das Ganze nicht ohne seine Glieder ist und die Glieder nur im Ganzen des Organismus Glieder sind. Aus diesem Grund verwundert es nicht, wenn Schelling seine Systemkonzeption in Erlangen auf dem Zusammenbestehen des Wider­ sprüchlichen aufbaut, das allein die Lebendigkeit verbürge. Während die von Kant geforderte Widerspruchsfreiheit nur für Wissenschaften des Anorganischen sowie für die Mathematik und Geometrie gelten könne – denen Schelling in Erlangen allerdings gerade deshalb ihre Systematik abspricht – bilde die Widersprüchlichkeit gerade die Voraussetzung für das lebendige System, wie Schelling es im Blick hat (vgl. AA II,10,1, 173).69 Seinen organologischen Systembegriff veranschaulicht Schelling anhand eines Beispiels aus der Natur: Dem Bild des stereometrisch regel­ mäßigen Kristalles, der nach streng geometrischen Gesetzen geformt und dadurch eindeutig bestimmbar, dabei aber unlebendig und bloß materiell ist, setzt er den menschlichen Organismus entgegen, in dem zwar die Möglichkeit der Krankheit liege, der jedoch weit entwickelter und darum höher zu schätzen sei. Mithilfe des Krankheitsbegriffes hatte Schelling bereits in der Freiheitsschrift seine Auffassung des Organismus deutlich gemacht. Anders als Kant spricht Schelling den einzelnen Organen durch die Möglichkeit der Krankheit die Freiheit zu, sich gegen die Gesamtheit des Organismus abzusondern (vgl. AA I,17, 136). In der Krankheit setze sich der Eigenwille des Einzelorgans über den Willen des Gesamtorganismus, wie beim Bösen der Partikularwille sich über den Universalwillen erhebe.70 Bereits in der frühen Naturphilosophie heißt es: »Darum durchdringt alle einzelnen Systeme, die nur diesen Namen verdienen, ein gemeinschaftlicher, regierender Geist; jedes einzelne System ist nur durch Abweichung von dem allgemeinen Urbild möglich, dem sich alle insgesammt mehr oder weniger annähern. Dieses allgemeine System aber ist nicht eine abwärts laufende Kette, wo inʼs Unendliche fort Glied an Glied hängt, sondern eine Organisation, in welcher jedes einzelne Glied in Bezug auf jedes andre wechselseitig Grund und Folge, Mittel und Zweck ist« (AA I,4, 98). 69 Vgl. auch AA II,10,2, 615 (SW-Fassung): »Freilich in der Geometrie gibt es keine Systeme, weil es kein System gibt – und in der Philosophie muß es wohl Systeme geben, eben weil es ein System gibt.« 70 Vgl. ebd. Vgl. auch Egloff 2016, 110–116. 68

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Wie durch die Selbstverabsolutierung eines Organs in der Krankheit das Zusammenspiel aller Organe im menschlichen Körper gehemmt wird, so fällt auch ein Einzelsystem aus der Gesamtheit der Systeme heraus und hemmt damit das Ganze. Ein solches System im schlechten Sinne, das sich als Einzelsystem versteht und über die Gesamtheit erhebt, veranschaulicht Schelling mit einer etymologischen Deutung: σύστημα leite sich vom Stocken der Milch her (vgl. AA II,10,2, 676).71 Ebenso wie jedes einzelne System im Gesamtorganismus der Sys­ teme in den Irrtum verfällt, wenn es sich selbst aus dem Gesamtzusam­ menhang heraushebt und einen Herrschaftsanspruch gegenüber den anderen Systemen erhebt, betont Schelling, dass auch ein einzelner Satz des Systems nur im organischen Ganzen seine Wahrheit erhält. Als ver­ einzelter Satz sei jeder Satz schon allein dadurch, dass er ausgesprochen wird, falsch und gewinne nur aus dem Systemganzen seine Gültigkeit (vgl. WA I, 86f ).72 Dabei radikalisiert Schelling diese Auffassung, indem das Ganze des Systems selbst als Bewegung der ewigen Freiheit gekenn­ zeichnet wird. Ein Teil des Ganzen oder ein Satz des Systems muss notwendig andere ausschließen. Indem jedoch im Aussprechen eines Satzes zugleich das Ausgeschlossene präsent gehalten wird, weigert sich Schelling, ein Teil als Teil zu fixieren und betont die Dynamik des Vollzugs. Der Anspruch an ein System, wie ihn die Erlanger Vorlesungen erheben, setzt also, indem er ein abstrakt gesetztes Systemprinzip und eine deduktiv-logische Ableitung des Systems aus diesem Prinzip als bloß formal und damit ohne jeglichen realen Wahrheitscharakter kenn­ zeichnet, die Notwendigkeit eines zugrundeliegenden Widerspruchs und eines hochdynamischen, organisch verstandenen Ganzen voraus, das das Zusammenbestehen der Widersprüche zuallererst ermöglicht. Indem der Widerspruch ausgehalten und bis zur »Verzweiflung an allem Wissen« (AA II,10,1, 185) verfolgt wird, sei der Mensch gezwungen, die Idee eines höheren Ganzen zu fassen, das als das eigentliche System κατ' ἐξοχήν bezeichnet werden könne. Es sei über alle Systeme im schlechten Sinne erhaben und »frey von allem, über allem« (AA II,10,1, 185) System zu verorten. Dieses aufzusuchende System κατ' ἐξοχήν sei wie Vgl. auch Bilda 2018. Vgl. auch die entsprechenden Bemerkungen in der Freiheitsschrift: »In dem System hat jeder Begriff seine bestimmte Stelle, an der er allein gilt, und die auch seine Bedeutung, so wie seine Limitation bestimmt. Wer nun nicht auf das Innere eingeht, sondern nur die allgemeinsten Begriffe aus dem Zusammenhang heraushebt; wie mag der das Ganze richtig beurtheilen?« (AA I,17, 175). 71

72

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ein gesunder Organismus, der keines seiner Organe insbesondere fühlt, da sie gesund, insofern organisch ineinandergreifend und ungehemmt in einem großen Ganzen, ihre je eigene Funktion erfüllten. Dabei bleibt jedoch die Frage bestehen, was das einheitsschaffende Prinzip dieses Systems ist – auch wenn dieses nicht mehr als oberster Grundsatz an dessen Spitze steht. Denn auch wenn die einzelnen Sätze des Systems nicht abgeleitet werden können von einem obersten Satz, so bedarf es doch einer einheitsstiftenden Instanz, die, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ihre eigentliche Rechtfertigung und zureichende Begründung erst aus den zugrundeliegenden prinzipientheoretischen sowie den daraus folgenden epistemologischen Annahmen gewinnt.

c) Das dynamische Prinzip des Systems κατ' ἐξοχήν (VL 4) Damit sind in einem nächsten Schritt Schellings prinzipientheoretische Überlegungen darzulegen, in denen der Philosoph im Ergebnis zu einem Prinzipienbegriff kommt, der durch seine radikale Dynamik und Entzo­ genheit das erkennende Subjekt unmittelbar auf die Defizienz seiner diskursiven Erkenntnis zurückwirft und das endliche Selbstbewusstsein hin auf eine Selbsttransformation aufbricht. Während Schelling Wider­ spruch und Organizität vornehmlich in der ersten und dritten Vorlesung abhandelt, steht hinsichtlich der prinzipientheoretischen Ausführung die vierte Vorlesung im Fokus, bevor der folgende Abschnitt gleichsam in einem Nachtrag die vier ersten Vorlesungen hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Konsequenzen für das philosophierende Subjekt untersucht. Es wurde gezeigt,73 dass Schelling im Übergang von der Identitäts­ philosophie zur sogenannten mittleren Werkphase mithilfe der von Kant übernommenen und radikalisierten Figur der intelligiblen Tat eine Betonung des Verkehrungszusammenhangs und des Bösen als positive Realität vornimmt. In der Folge führt dies zu einer systemtheo­ retischen Integration des Widerspruchs als grundlegende Konstituente alles menschlichen Wissens im Allgemeinen und des philosophischen Systems im Besonderen. Weil dennoch der Anspruch auf die Ganzheit des Systems nicht aufgegeben wird, greift Schelling auf Figuren seiner Naturphilosophie zurück, um das System als ein organisches zu profi­ lieren, dessen Spezifikum ein Zugleich von Differenz – nämlich der einzelnen ›Organe‹ bzw. Sätze – und Einheit – nämlich hinsichtlich des Zusammenstimmens der einzelnen Sätze im Ganzen – darstellt. Die 73

Vgl. Kapitel I.2.1.

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organologische Systemgestalt bedarf als ›innerer Voraussetzung‹ eines Garanten ihres Zugleich von Einheit und Differenz. Das Systemprinzip als dieser Garant muss Schelling zufolge die Voraussetzungen erfüllen, in jedem der widersprechenden Sätze des Systems gleichermaßen anwesend zu sein, ohne sich in ihnen zu erschöpfen. Dies ist nur gewährleistet durch ein Systemprinzip, das selbst dem Kriterium höchster Dynamik gerecht wird. Dabei sind die Idee eines organologischen Systemverständnisses sowie das Paradigma des Werdens keine originären Gedanken Schellings. Bekanntlich hat Fichte in seiner Wissenschaftslehre ein solches Werden in der »pragmatische[n] Geschichte des menschlichen Geistes« (GA 2, 222) im Blick gehabt und Hegels Phänomenologie kann gleichsam als prominentestes Beispiel eines Systems im Werden gelten. Dass Schelling hier eine dynamische Systemkonzeption grundsätzlich gegen ein konsti­ tuierendes Prinzip im Sinne von Fichtes Erstem Grundsatz stellt, ist allerdings eine spezifische, wenn auch nicht die einzige, Akzentuierung, die er vornimmt.74 Darüber hinaus ist es vor allem die Profilierung des Systemprinzips als wirkliches Subjekt, die das entscheidende Charakte­ ristikum der Systemkonzeption in der Weltalter-Phase ausmacht, das als Lebendiges durch alles hindurchgeht und zugleich nichts von allem ist, denn es wird von Schelling nicht nur als logisches, sondern auch als ontologisches Prinzip gedacht. Das höhere System κατ' ἐξοχήν, das Schelling vorschwebt, lässt sich zunächst als ein unbedingtes System beschreiben, welches allen einzelnen Systemen vorausgeht und diese zugleich begründet, ohne in ihnen aufzugehen. Die damit einhergehende Problematik, die das Unbedingte im Anschluss an Kant als »den wahren Abgrund für die menschliche Vernunft« (KrV, B 641) charakterisiert, das absolut unbegreiflich bleiben muss, da es von keiner Bedingung her verstanden werden kann, die die menschliche Vernunft nach Kant notwendigerweise als Voraussetzung des Begreifens benötigt (KrV, B 620f.), führt bei Schelling spätestens seit der Freiheitsschrift und in Auseinandersetzung mit der berühmten Kritik Hegels an Schellings Begriff der absoluten Indifferenz in der Identitäts­ philosophie zu einer prinzipientheoretischen Neukonzeption.75 Im Ausgang vom gegebenen Widerstreit der Systeme und der Forderung des Zusammenbestehens derselben kann sich Schelling in den Erlanger Vorlesungen einerseits abgrenzen von dem Vorwurf eines 74 75

Vgl. hierzu Schwab 2018b, 216. Vgl. Kapitel I.2.1. sowie Hutter 2003.

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bodenlosen Abgrundes, in den alles versinken würde und worin nichts mehr zu unterscheiden wäre. Letzterer wäre nur dann gegeben, wenn sich die widerstreitenden Systeme gegenseitig aufhöben.76 Andererseits stellt sich gerade vor diesem Hintergrund die Frage nach der Struktur des geforderten Systems κατ' ἐξοχήν sowie seines Systemprinzips. Unter welchen Voraussetzungen kann ein dem Widerstreit zugrundeliegen­ des System gedacht werden, das diesen nicht aufhebt, sondern ihn zugleich begründet? Die entscheidende Voraussetzung, die an die bereits in der Einlei­ tung in die Weltalter gemachte Forderung der Lebendigkeit des System­ prinzips anknüpft (vgl. WA I, 3) und damit dynamische Konzeptionen aus der frühen Naturphilosophie in die geschichtliche Philosophie des mittleren Schelling einträgt, ist die Dynamik des Systems. Das Zusam­ menbestehen der einzelnen, sich widersprechenden Systeme ist nur mög­ lich, durch »die allgemeine Idee der Fortschreitung« (AA II,10,2, 617),77 denn zwei sich widersprechende Sätze können, so die Lösung Schellings, nicht in ein und demselben Moment, sondern nur nacheinander in einer dynamischen Folge gelten. Diese Folge ist – im Gegensatz zu der bloß logisch-deduktiven – als zeitlich-dynamische Folge zu denken, wie sie bspw. im Wachstum einer Pflanze zu beobachten ist. Das in den ersten drei Vorlesungen noch unproblematisch schein­ ende, ja vielmehr als notwendig unterstrichene Nebeneinanderbestehen von widersprechenden Systemen wird in der vierten Vorlesung durch den Aspekt der Dynamik erweitert. Ein Ganzes, das die im Widerstreit stehenden Einzelsysteme nicht so vereint, dass sie als sich widerspre­ chende aufgehoben würden und zugleich in der Lage ist, sie in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen, muss notwendig dynamisch, d.h. als ständig fortschreitende Bewegung, gedacht werden. Damit unter­ 76 »Im ersten Fall (wenn sie sich alle gegenseitig vertilgten) würde man statt des Systems nur einen bodenlosen Abgrund vor sich sehen, in den alles versinkt, und in dem sich nichts mehr unterscheiden läßt. Nicht vertilgt werden sollen die Systeme, sondern zusammenbestehen, wie die verschiedenen Systeme in einem Organismus, und durch dieses ihr Zusammenbestehen eine Ansicht erzeugen, die über allen einzelnen liegt, […].« (AA II,10,2, 616). Die Formulierung des »bodenlosen Abgrundes« lassen sich als eine direkte Replik auf Hegels Kritik über die »Nacht in der alle Kühe schwarz sind« lesen (vgl. GW 9, 17). 77 Vgl. die vollständige Passage aus der SW-Fassung: »Die erste Voraussetzung hierzu [zu einem alles Widerstreitenden in Einklang bringenden Ganzen, J.H.] ist unstreitig 1) die allgemeine Idee der Fortschreitung, der Bewegung in dem System. Denn es ist allerdings unmöglich, dass widerstreitende Behauptungen, wie man zu reden pflegt, zugleich – nämlich in einem und demselben Moment der Entwicklung wahr seyen« (AA II,10,2, 617).

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läuft Schelling den auf statischen Voraussetzungen beruhenden Satz des Widerspruchs, ohne ihm grundlegend zu widersprechen. Zugleich wird die organologische Systemauffassung konsequent an die dynamischen Figuren der frühen Naturphilosophie Schellings angebunden.78 Bereits in der zweiten Vorlesung hatte Schelling eine der gro­ ßen Herausforderungen des Philosophierens folgendermaßen benannt: »Aber Philosophie – Fluß – beständig verändertes – schon wieder ein ganz andres geworden« (AA II,10,1, 173).79 Von Anfang an denkt er das organische System also in höchster Dynamik, die ihrerseits nur durch Selbsttätigkeit und geistige Bewegung erfasst werden könne. Allerdings ist hier nicht unmittelbar einzusehen, warum Schelling in einem nächsten Argumentationsschritt, in dem er nach dem »Prinzip der Möglichkeit« des Systems κατ' ἐξοχήν fragt, die Notwendigkeit eines Subjektes der Bewegung anführt (vgl. AA II,10,2, 617). Dass ein dem Organismus inhärentes Prinzip vonnöten ist, das die einzelnen Momente der Bewegung zur Ganzheit derselben zusammenfasst, ist einleuchtend: Die keimende Rose und die blühende Rose müssen noch immer dieselbe Rose sein, und zwar in dieser individuellen Rose. Warum dieses Prinzip ein ›Subjekt‹ im Sinne einer selbstreferenziellen, autonomen und wesen­ haften Instanz sein müsse, scheint auf den ersten Blick keine notwendige Folgerung zu sein. So ließe sich aus moderner Sicht durchaus eine system­ theoretisches Autopoiesis-Konzeption denken, die Selbstorganisation ohne subjektivitätstheoretische Paradigmen denken kann.80 Auch Hegel hatte in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes dafür plädiert, »das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken« (GW 9, 18). Dabei versteht Hegel jedoch unter der Subjektivität des Wahren etwas anderes als Schelling: Während ersterer Subjektivität als Selbstvermittlung im Sinne eines Sich-auf-sich-Beziehen bei gleichzeitigem Sich-von-sich-Unterscheiden profiliert,81 denkt Schelling das Subjekt nicht nur als ein logisches, sondern als ein wirkliches Wesen und insofern nicht vor dem Hinter­ Im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie von 1799 hatte Schelling der Naturphilosophie analog zur Transzendentalphilosophie die Notwendigkeit eines Unbedingten als Gegenstand zugesprochen. Dieses Unbedingte könne, entsprechend der ursprünglichen Tätigkeit in der Tathandlung der Transzendentalphilosophie, ebenfalls nur als ursprüngliche Tätigkeit (natura naturans) gefasst werden, die als Unbedingtes jedem Naturprodukt (natura naturata) zugrunde liege (vgl. AA I,7, 77‒79). 79 Auch hier liegt der Verweis auf Heraklit und die berühmten Fragmente 95 und 96 nahe. 80 Vgl. bspw. Luhmann 2017. 81 Vgl. Schwab 2018a, 142. 78

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grund reiner Negativität, sondern – wie im Folgenden ausgeführt – dem des ›Entzugs‹. Sicherlich ist Schelling dieser Aspekt von Hegels Vorrede nicht entgangen. Aber auch vor dem Horizont des Grundduktus von Schellings mittlerer Philosophie wird die Emphase, mit der Schelling das System­ prinzip als ›Subjekt‹ bezeichnet, nachvollziehbar. Dieser Grundduktus lässt sich mit der berühmt gewordenen Passage aus der Freiheitsschrift charakterisieren. Dort schreibt Schelling im Rekurs auf Fichte: In der ersten Beziehung bemerken wir, daß es in dem zum System gebildete Idealismus keineswegs hinreicht, zu behaupten, ›daß Thätigkeit, Leben und Freyheit allein das wahrhaft Wirkliche seyen‹, womit auch der subjektive (sich selbst misverstehende) Idealismus Fichte’s bestehen kann; es wird vielmehr gefordert, auch umgekehrt zu zeigen, daß alles Wirkliche (die Natur, die Welt, die Dinge) Thätigkeit, Leben und Freyheit zum Grund habe, oder im Fichte’schen Ausdruck: daß nicht allein die Ichheit alles, sondern umgekehrt auch alles Ichheit sey. (AA I,17, 124)

In der zwanzigsten Erlanger Vorlesung heißt es ebenso pointiert, dass »Alles ursprünglich Subjekt ist« (AA II,10,2, 730). In nuce bedeutet dies, dass Schelling 1) eine starre Zwei-WeltenLehre nicht teilt, da er 2) die klassischerweise an das Subjekt gebundenen Vermögen, wie Vernunft, Tätigkeit, Leben und Freiheit auch dem Objek­ tiven, d.h. der Natur und der Welt, zuspricht. Damit wird aber auch die Grenze zwischen theoretischer und praktischer Philosophie sowie die Trennung von Epistemologie und Ontologie (bzw. Kosmologie) durchlässig.82 Er weitet das Paradigma der Subjektivität von Anfang an auf die Sphäre der Natur aus. Auch wenn das oben angeführte Zitat aus der Freiheitsschrift stammt, findet sich dieser Grundzug seines Denkens bereits in den frühen naturphilosophischen Schriften. Dort wird im Anschluss an Fichte als unbedingtes Prinzip der Naturphilosophie eine ursprüngliche kontinuierlich-wirksame Tätigkeit angenommen, die sich durch Autonomie und Autarkie auszeichnet, und explizit als Subjekt bestimmt wird (vgl. AA I,7, 81f.).83 82 In seiner Studie hat Hogrebe dieses Charakteristikum schellingschen Philosophierens anhand der Weltalter aufgezeigt (vgl. Hogrebe 1989, insb. 127f.). 83 Bereits in den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 hatte Schelling ein geistiges Prinzip in der Natur angenommen, das als solches die Bewegung des Lebens zu einer Einheit ordnet: »Man erwiedert vielleicht, daß doch die Zusammenstimmung aller dieser Bewegungen Leben bewirke; allein dazu gehört ein höheres Princip, das wir nicht mehr aus der Materie selbst erklären können, ein Princip, das alle einzelnen Bewegungen

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Das Diktum »Alles ist Ichheit« bzw. »Alles ist Subjekt« bezieht sich allerdings spätestens seit der Freiheitsschrift nicht nur – so die These – auf die Sphären des Subjektiven und des Objektiven, sondern auch auf die Sphäre der Begriffe in der Philosophie.84 Nur so lässt sich verstehen, warum auch das Systemprinzip ab der Freiheitsschrift und im Anschluss insbesondere in den Stuttgarter Privatvorlesungen und den Weltalter-Fragmenten den systemtheoretisch relevanten Status eines Subjektes erhält. Zur Verdeutlichung sei hier die entscheidende Passage aus dem ersten Weltalter-Druck referiert: Es ist angenommen, ein jedes sogenannte System müsse nach seinem Prin­ cip beurteilt werden. Es fragt sich aber, was unter Princip zu verstehen ist. Inwiefern bey jeder Entwickelung die Einerleyheit des sich entwickelnden Subjekts vorausgesetzt wird, in so fern hat unstreitig ein jedes System nur Ein Subjekt, Ein Lebendiges, das sich in ihm entwickelt. (WA I, 85)

Wenn also ein dynamisches System angenommen wird, wie Schelling es in den Weltaltern und in der Folge auch in den Erlanger Vorlesungen tut, dann muss notwendigerweise auch ein sich entwickelndes Systemprinzip gedacht werden, weil sonst der Ganzheitsanspruches eines in sich kohä­ renten Systems nicht gewährleistet werden könnte. Die Lebendigkeit dieses Prinzips als Subjekt zeigt sich darin, dass es sich ›in‹ dem System entwickelt. Der Ausdruck seiner Entwicklung ist, so könnte man sagen, die äußere Gestalt des Systems.85 In Erlangen wird, trotz des zuvor stark gemachten ursprünglichen Widerspruchs allen menschlichen Wissens, dezidiert darauf hingewie­ sen, dass es sich bei dem Systemprinzip nur um ein einziges Subjekt ordnet, zusammenfaßt und so erst aus einer Mannichfaltigkeit von Bewegungen, die untereinander übereinstimmen, sich wechselseitig produciren und reproduciren, ein Ganzes schafft und hervorbringt. Also begegnen wir hier abermals jener absoluten Vereinigung von Natur und Freyheit in Einem und demselben Wesen […].« (AA I,5, 101) Vgl. auch Krings 1981 und Sandkühler 1989. 84 Dass Schelling die Selbstbewegung des Begriffes in Hegels Denken als bloßen For­ malismus abgelehnt hat und ihm seine Idee des Wesens als Systemprinzip, das sich im Systemganzen entwickelt, entgegengesetzt hat, verwundert dann, wenn man das Augenmerk auf die bei aller Differenz dennoch vorhandenen strukturellen Ähnlichkeiten im Denken der beiden Philosophen legt, vor allem was die Dynamik des Systems und die Autonomie der Selbstbewegung des Begriffs bzw. des Systemprinzips angeht. 85 Dass das lebendige Subjekt als Systemprinzip von Schelling in einer weiteren Spezifi­ zierung des Systemprinzips als Wesen bzw. Ur-Wesen bezeichnet wird, wurde oben bereits angedeutet. Was genau Schelling mit dem Begriff des Ur-Wesens im Blick hat, wird in Kapitel II.3 näher untersucht.

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handeln könne, da sonst die Einheit des Systems auseinanderfalle (vgl. AA II,10,2, 618).86 Zugleich betont Schelling die Differenz der einzelnen Glieder des Systems. In der Enderlein-Nachschrift findet sich dafür ein organisches Beispiel: Die Behauptung, alle Glieder des Systems wären gleich, »das wäre gerade, als wenn man vom Baume sagen wollte, die Wurzel ist Blüthe u. die Knospe Frucht u.s.w.« (AA II,10,2, 683). Mithilfe des Systemprinzips als Subjekt sucht Schelling also den Anspruch auf Identität des Systems und die notwendig anzunehmende Differenz in der Wirklichkeit so in eine Einheit zu bringen, dass die Identität die Differenz nicht aufhebt, sondern vielmehr aus dieser konfiguriert wird, indem die zeitlich verstandene Entwicklungsdynamik als grundlegendes Konstituens des Systemprinzips verstanden wird. Dieses eine Subjekt kann die Einheit jedoch nur stiften, ohne die Differenz aufzuheben, wenn es zugleich in allen einzelnen Sätzen bzw. Gliedern des Systems präsent ist, ohne in ihnen aufzugehen. Wäre es nicht in ihnen anwesend, fielen die einzelnen, widersprüchlichen Sätze auseinander. Dasselbe wäre der Fall, erschöpfte es sich in einem der Glieder. Zudem würde in letzterem Fall die Dynamik des Systemprinzips unterbrochen, weswegen Schelling betont: »Das Durchallesgehen u. Nichtssein« ist das wichtigste Merkmal des Prinzips (AA II,10,2, 683). Insofern sei dieses Prinzip kein oberster Grundsatz, kein Anfangsprinzip, sondern inhäriere dem gesamten System. Dass Schelling dieses Systemprinzip nicht nur als logisches Prinzip, sondern als wirkliches Wesen versteht, hat mit dessen Einbettung in das metaphysisch-kosmologische Gesamtkonzept zu tun, das in Kapitel II.3 zu diskutieren ist. Zuvor gilt es allerdings, eine Rückvergewisserung vor­ zunehmen hinsichtlich der These, nach der Schelling mit den Erlanger Vorlesungen nicht nur eine theoretische Abhandlung intendiert, sondern seine Zuhörer bzw. Leser zugleich in einen Vollzug involvieren will, der zur Anregung einer Selbsttransformation dient.87 Insofern ist zu zei­ gen, dass die Konsequenzen des hier dargelegten Systemverständnisses unmittelbare Auswirkungen auf das erkennende Subjekt und, was hier zunächst nur anfänglich dargestellt werden kann, die Konzeption der Subjektivität im Allgemeinen haben.

86 Da für die vierte Vorlesung das Manuskript aus Schellings Hand nicht vorliegt, wird hier aus der SW-Fassung zitiert. 87 Vgl. die Deutung des Titels der Vorlesungen vor diesem Horizont in Kapitel II.1.2.

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2. Konsequenzen für das philosophierende Subjekt (VL 2) Bereits der Titel von Schellings Erlanger Vorlesungen deutet – wie oben gezeigt – an, was der Philosoph explizit in der zweiten Sitzung gegenüber seinen Zuhörern einholt: Der Anspruch liegt nicht allein darin, die Gesamtheit eines philosophischen Systems samt seiner systemtheoreti­ schen und methodologischen Voraussetzungen darzulegen. Schelling geht es darüber hinaus darum, die Zuhörer zu einem aktiven Mitvollzug der präsentierten Inhalte anzuregen, und sie damit gleichsam performa­ tiv in die geforderte Selbsttransformation der Subjektivität zu involvieren. Die Vorlesungen sind demnach nicht nur als Vermittlung von Wissen, sondern zugleich als Ort eines Bildungsgeschehens gedacht. Ein didakti­ scher Zug, der in der Philosophie um 1800 keine Seltenheit darstellt. Dabei lässt sich die von Schelling angestrebte Performanz des Vor­ trags nicht nur dem Titel entnehmen, sondern auch inhaltlich begrün­ den: So wie das System sich durch ein Zugleich von Differenz und Einheit auszeichnet, ist das Systemprinzip seinerseits charakterisiert durch eine Koinzidenz von Entzogenheit und Präsenz.88 Die Herausfor­ derung hinsichtlich eines solchen Systemprinzips besteht darin, dass es als solches im Literalsinne nicht fest-zu-stellen ist, da es in beständiger Bewegung sich befindet.89 Zudem kann es als wirkliches Subjekt nicht durch verobjektivierende Erkenntnis vollständig erfasst werden, da es sich als Subjekt dieser Form von Erkenntnis entzieht. Wer es als Objekt zu erkennen sucht, wird der eigentlichen spezifischen Form desselben als Subjekt nicht habhaft. Insofern stellen sowohl die Dynamik als auch die Subjekthaftigkeit des Systemprinzips das philosophierende Subjekt vor die Herausforde­ rung, eine Erkenntnismethode zu entwickeln, die dem zu Erkennenden gerecht wird. Dass dies nicht möglich ist, ohne dass das erkennende Subjekt sich seinerseitst radikal ändert, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung deutlich werden. Auch wenn Schelling die unausweichliche Selbstzurücknahme und Selbsttransformation erst in der vierten Vorlesung begründet, weist er von Anfang an darauf hin, dass die Autonomie, die dem Systemprinzip 88 Die spezifische Auffassung des Systemprinzips in seiner Gleichzeitigkeit von Entzogen­ heit und Präsenz wird Thema des folgenden Kapitels (II.3) sein. 89 Vgl. die vierte Vorlesung in der SW-Fassung (AA II,10,2, 617–622) und in der EnderleinMitschrift (AA II,10,2, 683–686).

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als Subjekt zugesprochen wird, Ansprüche an den Philosophierenden erhebe, denen er sich zu stellen habe: Weil die Philosophie sich durch höchste Dynamik auszeichnet, ständig im Fluss sich befindet und nie stillsteht, kann sie nicht passiv aufgenommen werden. Sie müsse als Lebendiges je und je durch eine »rein geistige Thätigkeit« (AA II,10,2, 678) neu erzeugt werden. Philosophie im rechten Sinne existiere nicht ohne ihren Vollzug. Philosophie sei immer Produzieren, nie Produkt, denn als Produkt getrennt von ihrem Produzierenden sterbe sie ab (vgl. AA II,10,1, 173).90 Insofern kann sie aber als Produkt auch nicht bewiesen oder beschrieben werden. Dass es dabei um einen Kampf auf Leben und Tod ginge,91 ist in der Formulierung sicherlich nicht unwesentlich von Schellings Pathos geprägt. Dass Schelling diesem Kampf jedoch die Eigenschaft zuspricht, »unsern ganzen Charakter in Anspruch« (AA II,10,2, 676) zu nehmen, deutet auf die im weiteren Verlauf der Vorlesung wiederholt hervorge­ hobene Auffassung der Philosophie nicht nur als theoretischer Wissen­ schaft, sondern als ›existenziell‹ zu vollziehenden Entwicklungsweg, der das erkennende Subjekt verwandelt. Auch die Tatsache, dass Schelling mit dem Titel der Vorlesungen auf den Deutungshorizont antiker Mys­ terienkultur verweist, steht im Kontext dieses existenziellen Anliegens der Philosophie.92 Wie oben bereits bemerkt, knüpft Schelling mit der Betonung der Selbsttätigkeit des Philosophierenden an einen klassischen Topos nachkantischen Philosophierens an. So hat schon Fichte in Jena in seinen Vorlesungen zur Wissenschaftslehre die Zuhörer dadurch in den Bann gezogen, dass er sie in das Geschehen der Philosophie aktiv zu involvieren suchte. Dass seine Philosophie keine theoretische Wissenschaft ist, die man durch das Auffassen von fertigen Sätzen und das Ansammeln von Wissen erlernen kann, sondern auf der Voraussetzung beruht, dass der Schüler in einer selbst hervorgebrachten Erfahrung den Satz »Das Ich

Vgl. auch die Enderlein-Mitschrift: »[…] der Unterschied zwischen Philosophie und Philosophieren ist dem Unterschied zwischen Gold haben u. Gold machen gleich. Wer philosophiert, der hat auch Philosophie.« (AA II,10,2, 680) Man vergleiche hierzu wiederum die Parallelen mit der frühen Naturphilosophie, in der Schelling den berühmten und nicht weniger berüchtigten Satz formulierte: »Ueber die Natur philosophiren heißt die Natur schaffen. […] Wir kennen die Natur nur als thätig – denn philosophiren läßt sich über keinen Gegenstand, der nicht in Thätigkeit zu versetzen ist« (AA I,7, 78f.). 91 »Kein leichter Kampf. – Leben und Tod« (AA II,10,1, 172). 92 Vgl. Kapitel II.1.2. 90

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

setzt schlechthin sich selbst« in innerer Anschauung erfasst, betont Fichte immer wieder.93 Mit demselben Pathos hatte auch Schelling bereits in seinen frühen Schriften darüber gesprochen, dass Philosophie nicht als Resultat gelehrt werden könne, sondern immer erst im Vollzug zu erzeugen sei, sodass zwischen Erfahrung und Spekulation – praktischer und theoretischer Philosophie nicht mehr unterschieden werden könne (vgl. bspw. AA I,5, 93).94 In den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803 bringt Schelling diesen Zug in dem berühmten Ausspruch auf den Punkt: »Lerne nur, um selbst zu schaffen. Nur durch dieses göttliche Vermögen der Produktion ist man ein wahrer Mensch, ohne dasselbe nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine« (SW V, 241). Es kommt Schelling auf die genetische Form des Philosophierens an, die im Gegensatz steht zur dogmatischen, welche lediglich fertige Sätze lehrt. Die genetische Form zeichnet sich dadurch aus, dass sie »die eigne innere Tätigkeit des Zuhörers in Anspruch nimmt«, wie Schelling es in einem Brief an Georgii vom Februar 1810 formuliert.95 Es ist allerdings nicht allein die geistige Eigenaktivität, die Schelling in Erlangen betont. Im weiteren Verlauf der Vorlesungen geht es nicht nur um die aktivische und generierende Funktion des Philosophierenden in Bezug auf die philosophischen Gedanken, sondern es wird – so die These – das vollständige Anderswerden des Denkens gefordert. Dies ist allerdings nur möglich – und das steht im Kontrast zu der starken Betonung der Eigenaktivität des Philosophierenden –, wenn zunächst alles Eigenwissen sowie alles Wissen-Wollen aufgegeben werde, wie Schelling es im weiteren Verlauf der Vorlesungen fordert. Im Überbli­ cken der elf einleitenden Erlanger Vorlesungen lässt sich hier eine nicht aufzulösende Spannung zwischen der Notwendigkeit aktivischen Her­ vorbringens der Philosophie und dem Aufgeben alles Wissen-Wollens konstatieren.96 Nimmt man diese Spannung ernst und schreibt ihr eine produktive Funktion zu, so müssen die Gegensätze des Hervorbringens 93 Vgl. bspw. Fichtes Brief an Reinhold vom 2. Juli 1795 sowie die berühmte Passage, in der er sich beklagt, dass die meisten Menschen leichter dazu zu bringen seien, sich für ein Stück Lava auf dem Mond zu halten, als in der selbstständigen Ausübung der Tathandlung das Ich anzuschauen (vgl. GA 2, 326). 94 Vgl. zum Ineinsfall von Denken und Handeln auch SW V, 219f. 95 Plitt II, 199. 96 Vgl. Kapitel II.3.7. Ein ähnliches Paradox findet sich in Schellings Bemerkungen zum Irrtum. Einerseits heißt es in der elften Vorlesung, Irrtum entstehe durch das Wissen-Wollen (vgl. AA II,10,1, 258), zugleich betont Schelling, dass die Gefahr des Irrtums eingegangen werden muss, wenn wahrhaft philosophiert werden will, denn »irren =

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II.2 System und Systemprinzip (VL 1–4)

(Aktivität) und des Lassens (Passivität) nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern können in einem Mittelbegriff eines medialen Erkennt­ nisvollzuges gewinnbringend interpretiert werden. Was ist nun bis hierhin gewonnen hinsichtlich der spezifischen System­ konzeption in den Erlanger Vorlesungen? Zunächst wurde deutlich, dass Schelling in Erlangen von der transzendentalphilosophischen Systematik kantischer und fichtescher Prägung abgerückt ist.97 Schon die Aufwertung des Widerspruches als Grundkonstituente für das System bedeutet eine Umkehr der Vorzeichen: Dem menschlichen Wissen wird nicht mehr eine ursprüngliche Ordnung und Systematik zugesprochen.98 Vor dem Hintergrund des durch die intelligible Tat eingeleiteten, universalen Verkehrungszusammenhangs ist das menschliche Wissen gerade nicht per se geordnet, sondern in Widersprüchen befangen. Diese Widersprüche bedeuten jedoch nicht die Unmöglichkeit einer Systematik, sondern konstituieren diese in erster Linie. Insofern ist das System selbst an keinen obersten Grundsatz gebunden, von dem aus linear-deduktiv das Systemganze aufgebaut werden könnte. Um den Ganzheits- und Systemanspruch nicht aufgeben zu müssen, wird der Systembegriff selbst gewandelt: So wie die leben­ dige Natur aus widerstreitenden Kräften konstituiert wird, so auch das System als Organismus, in dem sich die einzelnen Sätze bzw. Systeme wechselseitig bedingen und hervorbringen. In seiner eigentlichen und ursprünglichen Gestalt zeigt sich dieses System allerdings nur, wenn keines der Glieder einen alleinigen Geltungsanspruch erhebt, sondern alle in der Dynamik des Ganzen zusammenstimmen, ohne dabei ihre Eigenheit aufzugeben. Dieser ›Idealorganismus‹ lässt erst das System κατ' ἐξοχήν aufscheinen. gehen« (AA II,10,1, 185) oder, wie Schelling gemäß der SW-Fassung ausführte: »Wer irren will, der muß wenigstens auf dem Wege seyn; wer aber gar nicht einmal sich auf den Weg macht, sondern völlig zu Hause sitzen bleibt, kann nicht irren. Wer sich in die See wagt, kann durch Stürme oder eigne Ungeschicklichkeit freilich vom Wege abkommen und verschlagen werden. Wer aber gar nicht aus dem Hafen ausläuft, dessen ganzes Bestreben vielmehr darin besteht, nicht auszulaufen, sondern durch ein ewiges Philosophiren über Philosophie zu verhindern, daß es gar nie zur Philosophie komme, der hat freilich keine Gefahren zu befürchten« (AA II,10,2, 615). 97 Vgl. zur Revision kantischer Erkenntnistheorie beim mittleren Schelling Ziche 2014, 132. 98 Sowohl Kant als auch Fichte gehen von einer solchen ursprünglichen Systematik des menschlichen Wissens aus. Vgl. bspw. Kant: KrV, A 738 und Fichte: Begriffsschrift, § 2, GA 2, 124.

99 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Ein solches organologisches Systemverständnis ist nur möglich durch eine gewandelte Auffassung des Systemprinzips als lebendiges, d.h. dynamisches Prinzip, das sich in den einzelnen Gliedern ausspricht und zugleich in keinem derselben aufgeht. Die paradoxale Figur eines Systemprinzips, das durch Präsenz und Entzogenheit zugleich sich auszeichnet, wird, wie im Folgenden weiter ausgeführt und begründet werden soll, von Schelling vor dem Hintergrund seiner Weltalter-Philo­ sophie nicht nur als logisches, sondern auch als ontologisches Prinzip verstanden. Damit ist für Schelling die Bedeutung des Vollzuges einer Philosophie κατ' ἐξοχήν, in der jeder einzelne, fest-gestellte und aus dem Zusammenhang gerissene Satz notwendig unvollständig bleiben muss, nicht nur durch die Logik des philosophischen Systems, sondern auch durch das geschichtliche Geschehen der Weltentwicklung verbürgt. Ein Zusammenhang, der insbesondere durch die Figur der sogenannten ›Mitwissenschaft‹ im Folgenden relevant werden wird. Insofern folgt im nächsten Kapitel (II.3) eine genauere Analyse der Struktur des Systemprinzips, das von Schelling zugleich als das Absolute markiert wird und das aufgrund seiner Entzogenheit und Dynamik das erkennende Subjekt auf die Endlichkeit seiner Existenz und die Notwendigkeit einer grundlegenden Selbsttransformation zurückwirft. Hinsichtlich Schellings Konzeption der Subjektivität lassen sich zur Orientierung bereits vorab vier im Folgenden zu entfaltende Aspekte festhalten: Erstens kann das Subjekt nicht unbeteiligt seinem Erkennt­ nis-›gegenstand‹ gegenüber stehen, denn dann ließe er sich schlicht nicht erkennen. Es muss vielmehr zweitens den ›Gegenstand‹ selbst hervorbringen, bzw. in innerer Tätigkeit vollziehen. Insofern ist der ›Gegenstand‹ kein abgetrenntes Objekt, sondern er lebt in der Tätigkeit. Zugleich ist diese Tätigkeit, auch wenn sie vom erkennenden Subjekt vollzogen wird, nicht bloß subjektiv, denn das, was in ihr lebt, weist eine eigene Autonomie und ›Eigenwilligkeit‹ auf, die das erkennende Subjekt übersteigt. Dieser Tätigkeit muss es sich drittens im Vollzug öffnen, um sie zu erkennen. Das setzt voraus, dass das erkennende Subjekt viertens seinen Eigenwillen zur Verfügung stellt, ohne in eine vollständige Passivität zu verfallen, denn dann käme der Vollzug zum Erliegen. Dieses paradoxale »Wechselverhältnis«99 zweier Subjekte (erkennendes Subjekt 99 Auch wenn der Begriff problematisch ist, weil er auf ein Zusammenspiel von zwei getrennten Instanzen deutet, verwendet Schelling ihn selbst für das Verhältnis von erkennendem und absolutem Subjekt, d.h. Systemprinzip (vgl. AA II,10,2, 698, 699). Insofern wird er in der vorliegenden Arbeit, ebenso wie der Begriff des Wechselwirkens,

100 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

und Systemprinzip) wird im Folgenden mithilfe der Figur ›aktiver Passivität‹ als Haltung der Subjektivität gedeutet (vgl. Kapitel II.5). Um die Dimension des »Wechselverhältnisses«, die Schelling hier im Blick hat, zu verstehen, sind in einem nächsten Schritt die Bedeutungs­ tiefe des Systemprinzips als wirkliches Subjekt und dessen Auswirkung auf das erkennende Subjekt näher zu untersuchen.

II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7) Um die Komplexität des Wechselgeschehens von erkennendem und absolutem Subjekt zu erfassen, ist es entscheidend, die metaphysisch-kos­ mologische Rahmung zu verstehen, vor deren Hintergrund Schelling die Selbsttransformation der Subjektivität fordert – liegt doch dieser Horizont heutigen Debatten zunächst fern. Das Kapitel II.3 macht sich dementsprechend zur Aufgabe, die Vor­ aussetzungen für Schellings Frage zu klären, wie sich die Entzogenheit des Systemprinzips auf das erkennende Subjekt auswirkt. Es untersucht das spannungsreiche Verhältnis von absolutem und erkennendem Sub­ jekt, deren doppelte Selbstverfehlung und deren wechselseitige Bezogen­ heit, wobei die ersten drei Abschnitte dieses Kapitels dem Absoluten gewidmet sind, der vierte Abschnitt nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Absoluten durch das menschliche Subjekt fragt, und die folgenden drei Abschnitte die Konsequenzen dieser Frage für Letzteres diskutieren. Als Ergebnis der Untersuchung wird Schellings Forderung nach einer Selbsttransformation vor dem Hintergrund der entsprechenden ›meta­ physich-kosmologischen Klammer‹ einsichtig. Dazu ist es notwendig, zunächst die Bedeutungsdimension des Systemprinzips als wirkliches Subjekt in Betracht zu ziehen. Insofern ist in einem ersten Schritt die paradoxale Konzeption des Systemprinzips als ›ewige Freiheit‹ zu untersuchen, die sich durch ein Zugleich von Ent­ zogenheit und Präsenz auszeichnet (II.3.1). Dieses Zugleich wird erhellt durch Schellings Auffassung von Theo- und Kosmogenese, die mithilfe eines Ausgriffs auf den Erlanger Systementwurf ab der zwölften Vorlesung den Schelling synonym gebraucht (vgl. AA II,10,2, 699), übernommen. Beide Termini werden ergänzt durch den des Wechselgeschehens. Dieser findet sich zwar nicht bei Schelling, spezifiziert aber den vollzugshaften Charakter, der hier in Frage stehenden Figur deutlicher.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

untersucht und in ihrem rezeptionsgeschichtlichen Kontext beleuchtet wird (II.3.2). Erst vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, warum Schelling von einem fundamentalen Verkehrungszusammenhang der Wirklichkeit ausgeht, der sich aus dem Motiv eines negativistisch gepräg­ ten ersten Anfangs ergibt, den Schelling als notwendige Täuschung und Selbstverfehlung des Absoluten auffasst (II.3.3). Hatten die prinzipientheoretischen Überlegungen der ersten Vorle­ sungen das erkennende Subjekt bereits auf die Ungenügendheit seiner gegebenen Erkenntnisweise zurückgeworfen, wird vor dem Hintergrund der Theo- und Kosmogenese die Notwendigkeit der Conversio des erkennenden Subjektes radikal zugespitzt, wie die Frage nach der Bedin­ gung der Möglichkeit der Erkenntnis des Absoluten zeigt (II.3.4). Der innige Zusammenhang von – klassisch gesprochen – Makround Mikrokosmos, den Schellings holistischer Ansatz im Blick hat, weist in der Konsequenz darauf hin, dass es sich bei der Forderung nach einer Selbsttransformation des Subjektes um nichts Geringeres handelt, als um dessen Verantwortung gegenüber dem Ganzen des Universums (II.3.5). Begründen lässt sich diese Verantwortung mit Schellings Auffassung des Menschen, der als Ergebnis des Heraustretens des Absoluten aus der ursprünglichen Einheit zwar abgefallen, dabei aber konstitutiv auf das Absolute bezogen bleibt, das sich im menschlichen Bewusstsein lediglich in seiner Verkehrung zeigt (II.2.6). Aufgrund dieser auf der Verkehrung beruhenden Grundkonstituiertheit des Menschen liegt gerade in der Krisis der auf die Spitze getriebenen Selbstverfehlung der Subjektivität die Möglichkeit zur Selbstverwandlung begründet (II.3.7). In diesem Kapitel wird demnach deutlich, dass Schellings Diag­ nose von der Einseitigkeit autosuffizienter Subjektivität nur vor dem Hintergrund von deren irrtümlicher Verleugnung der konstitutiven Bezogenheit auf das Andere der Subjektivität zu verstehen ist. Dass dies keine Rehabilitation eines dogmatischen Gottesbegriffes bedeutet, der die errungene Mündigkeit des Subjekts aufheben würde, sondern dass das Subjekt gerade in der Ernstnahme seiner Selbstverfehlung den ihn übersteigenden Grund aufscheinen sieht – wenn auch zunächst in verkehrter Weise – macht Schellings Ansatz aus.

1. Entzogenheit und Präsenz des Absoluten (VL 4) Nachdem zuvor die grundlegenden Fragen nach der Systemkonzeption in den ersten Vorlesungen dargelegt wurden, war die Ausführung bei

102 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

dem entscheidenden Punkt angelangt, an dem Schelling zu Beginn der vierten Vorlesung das Systemprinzip als Subjekt des Systems einführt. Zunächst wurde dabei als wichtigste Eigenschaft des Subjekts das mit seiner dynamischen Struktur einhergehende Phänomen beschrieben, nach dem es durch alles hindurchgehe und dabei zugleich nichts von allem sei. In einem weiteren Schritt fragt Schelling zum Ende der vierten Vor­ lesung nach einer genauen Bestimmung dieses Subjektes, von dem bisher lediglich seine radikale Dynamik aufgewiesen und seine Abgrenzung zu den Konzeptionen eines erstbegründenden obersten Grundsatzes fichtescher Prägung vorgenommen wurde. Wenn eine »genaue Bestimmung« (AA II,10,2, 618) des Systemprin­ zips gefordert ist, die dieses als zu Definierendes (von finis, lat. Grenze) in feste Grenzen einschließt und nach dem von Spinoza überlieferten Grundsatz »omnis determinatio est negatio« definitiv von anderem abgrenzt, dann wird zunächst die Unmöglichkeit dieser Forderung einsichtig. Denn das hier vorausgesetzte Systemprinzip, das aufgrund der oben beschriebenen Systemkonzeption und ihrem Ausgangspunkt in den sich widerstreitenden Einzelsystemen als radikal dynamisch charakterisiert wurde, ist zugleich nichts und alles: [Es ist] nichts – nicht etwas, und selbst dieß wäre wenigstens eine negative Definition; allein es ist auch nichts nicht, d. h. es ist alles. Es ist nur nichts einzeln, stillstehend, insbesondere; es ist B, C, D u. s. w. nur, sofern jeder dieser Punkte zu dem Fluß der unzertrennlichen Bewegung gehört. Es ist nichts, das es wäre, und es ist nichts, das es nicht wäre. (AA II,10,1, 619)

Wäre es ›etwas‹, das sich als solches feststellen, d.h. definieren ließe, dann würde es zugleich die Voraussetzung der Bewegung aufheben, da es sich als definitum innerhalb bestimmter Grenzen einschlösse. Stattdessen ist es eine unaufhaltsame Bewegung, die sich in keiner Gestalt fixiert und darum von Schelling »das Incoercible, das Unfaßliche, das wahrhaft Unendliche« (AA II,10,2, 619) genannt wird. Nach Schellings Anspruch soll allerdings das schlechthin »Indefinible« (AA II,10,2 619) selbst zur Definition gemacht werden – ein Paradox, das den Philosophen vorläufig auf die Ungenügendheit seiner Erkenntnismöglichkeit zurückwirft. Entsprechend macht Schelling deutlich, dass hier Anforderungen an den Philosophen gestellt werden, die ein unbeteiligtes Erkennen nicht leisten kann. Zu dem geforderten Systemprinzip, das sich als Indefinibles erwiesen hat, müsse man sich erheben, wolle man seiner mächtig werden (vgl. AA II,10,2 619). Damit knüpft Schelling an seine in den ersten

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

beiden Vorlesungen hervorgehobene Auffassung an, dass Philosophie nicht durch ein mechanisches, passives Aufnehmen von Wissensinhalten betrieben werden könne, sondern dass sie den ganzen Charakter des Philosophierenden in Anspruch nehme, ihn nicht unbetroffen lässt, sondern ihn involviert in einen existenziellen Vollzug, in dem er auf die Notwendigkeit innerer Entwicklung verwiesen wird.100 Bevor in den letzten zwei Abschnitten dieses Kapitels ausführlich auf die Bedeutung dieser Auffassung für das erkennende Subjekt einge­ gangen wird (Kapitel II.3.5 und II.3.6), sei hier zunächst der systemati­ sche Aspekt der Undefinierbarkeit des Systemprinzips weiter vertieft. Zunächst scheint die von Schelling profilierte Charakteristik des System­ prinzips als Indefinibles den klassischen Strukturmerkmalen des Unbe­ dingten als »wahre[m] Abgrund für die menschliche Vernunft« (KrV, B 641)101 zu entsprechen. Es zeichnet sich gegenüber dem definierenden Bewusstsein durch eine radikale Entzogenheit und Nichtobjektivierbar­ keit aus, da es, sobald das Bewusstsein es in seiner Bewegtheit zu fassen sucht, immer schon entglitten ist, nur als äußere Form und leere Hülle im Bewusstsein bleibt, und insofern per definitionem nicht definierbar, also indefinibel ist. Gleichwohl kann das Systemprinzip nicht allein durch Entzogen­ heit gekennzeichnet sein, denn, wie zuvor bereits gezeigt, ist es zugleich im ganzen System, mithin in jedem einzelnen Satz, präsent. Insofern bemerkt Schelling, dass ein bloß negativer Begriff, wie der des Indefinib­ len dem Systemprinzip ebenso wenig gerecht würde, wie eine Definition, denn damit, so Schelling, »haben wir ja gegen unseren eignen Grundsatz gehandelt, nämlich das von jenem absoluten Subjekt nichts schlechthin, nichts so auszusagen sey, daß nicht auch das Gegentheil möglich wäre« (AA II,10,2, 621). Das Systemprinzip, das zugleich alles und nichts ist, müsse jenseits einer bloß positiven oder bloß negativen Definition gefasst werden, denn »es ist nicht so indefinibel, daß es nicht auch ein Definibles werden konnte, es ist nicht so unendlich, das es nicht auch endlich werden konnte, nicht so unfaßlich, das es nicht auch faßlich« (AA II,10,2, 621). Hier wird demnach ein ›Mittelbegriff‹ in der Prinzipienkonzeption angestrebt, der entsprechend der via eminentiae der Negativen Theologie in der Gleichzeitigkeit zweier Polaritäten (Negativität und Positivität)

Vgl. hierzu Bilda 2016, 249, der die existenzielle Dimension der Erlanger Vorlesungen ebenfalls herausstellt. 101 Vgl. auch SW XIII, 163‒165. 100

104 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

mithilfe eines Überstiegs definitorischer Begrifflichkeit deren Steigerung erwirken möchte.102 Von dieser Anforderung an das Systemprinzip ausgehend nimmt Schelling einen weiteren entscheidenden Schritt in der Charakterisie­ rung desselben vor: Weil es sowohl in jeder Gestalt (d.h. in jedem Satz im System) als auch jenseits alles Gestalthaften ist, muss es frei sein können, »sich in eine Gestalt einzuschließen und nicht einzuschließen« (AA II,10,2, 621) sowie aus jeder Gestalt wieder hervorzutreten. Diese Freiheit, so Schelling weiter, sei jedoch kein Prädikat des Systemprinzips, sondern sie sei vielmehr das Wesen desselben. Das Systemprinzip entpuppt sich damit als nichts anderes als die »ewige Freiheit« (AA II,10,2, 621) selbst, die als offener Ort des ›Überseienden‹ vor jeder konkreten Systematik als lebendiges Subjekt dem System κατ' ἐξοχήν innewohnt und vor jeder Objektivierbarkeit zugleich die Möglichkeit jedes konkreten Objektes in sich trägt, d.h. jenseits der Dualität von Seiendem und Nichtseiendem steht.103 Der Terminus des Überseienden findet sich zwar lediglich in der Enderlein-Mitschrift (vgl. AA II,10,2, 684), dennoch ist es eindeutig, dass Schelling in der Konzeption des Systemprinzips als ›ewige Freiheit‹ bewusst an neuplatonische Motive anknüpft.104 Dass das prinzipientheoretische Subjekt in der Lage ist, sich in einem System zu manifestieren, ohne dabei in einem bestimmten Satz des Systems aufzugehen, sondern zugleich jenseits eines jeden Systems zu verbleiben, markiert seine Freiheit. Dabei legen die Formulierungen, dass es Gestalt annehmen und aus ihr wieder hervortreten könne, eine Interpretation nahe, die beide Aspekte als unterschiedliche Momente in der Bewegung des Prinzips versteht. Dies würde bedeuten, dass das Sub­ jekt der Bewegung mal in einer Gestalt eingeschlossen sei, mal sich über Vgl. zum Verhältnis der Bestimmung des Systemprinzips in den Erlanger Vorlesungen mit der ›Negativen Theologie‹ Kapitel II.3.2. 103 Bereits in der Frühphilosophie identifiziert Schelling das Unbedingte mit dem auf das Primat des Praktischen von Kant und Fichte hinzielenden Freiheitsbegriff. Vgl. hierzu bspw. das bekannte Zitat aus der Ichschrift: »Das Ganze unsers Wissens hat keine Haltung, wenn es nicht durch irgend etwas gehalten wird, das sich durch eigene Kraft trägt, und dieß ist nichts, als das durch Freiheit bestimmte. Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« (AA I,2, 101) Diese Tatsache hat in der Forschung zu der These geführt, die Freiheit als roten Faden des sich stets in Wandlung befindenden schellingschen Gesamtwerkes anzusehen. Vgl. zur Freiheitsphilosophie Schellings z.B. Erhardt 1996. Hier argumentiert Erhardt von der deontischen Formulierung des Titelzitates her für ein Prius der Freiheit vor allem Sein und vor aller Notwendigkeit. Vgl. zum Begriff der Freiheit als roter Faden in Schellings Werk auch Hühn 1994, 143–172. 104 Vgl. hierzu der folgende Abschnitt III.3.2., Abschnitt b. 102

105 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

sie erhebe und beide Zustände in einer zeitlichen Abfolge nacheinander statthätten. Dem widerspricht allerdings die Bestimmung Schellings, nach der die Freiheit nicht als Prädikat des Systemprinzips verstanden werden müsse, sondern als Wesen desselben. Als ewige Freiheit ist es nicht mal gestaltlos, mal gestalthaft, in voneinander zu unterscheidenden Momenten, sondern beides zugleich in einer ununterbrochenen Bewe­ gung. Vor diesem Hintergrund spricht Schelling im Folgenden von dem Prinzip des Systems κατ' ἐξοχήν als ›ewige Freiheit‹ im Sinne eines lebendigen Subjektes, das, wie bereits erwähnt, nicht nur logisch, son­ dern zugleich ontologisch aufgefasst wird. Mit der ontologischen Komponente des Systemprinzips wird dabei die Brücke geschlagen zu den Ausführungen im zweiten Teil der Erlanger Vorlesungen (Vorlesungen 12–36), die in enger Parallelität zu den Welt­ alter-Fragmenten eine spekulative Theogonie und Kosmogonie bieten. Denn die ›ewige Freiheit‹ fungiert nicht nur als Systemprinzip für die prinzipientheoretischen und methodischen Ausführungen der ersten elf Vorlesungen, sondern steht zugleich als Ursprung für das sich evol­ vierende Absolute, dessen Entwicklung das Hauptthema der folgenden Vorlesungen bildet. Deshalb soll hier zunächst ein Blick auf die Charakte­ risierung der ewigen Freiheit in den Vorlesungen 12–36 geworfen werden, der dazu dienen soll, die Tiefendimension des Begriffes auszuloten, die Schelling ohne Zweifel bereits in den einleitenden Vorlesungen im Blick hat.

2. Ausgriff 1: Die Lauterkeit der ewigen Freiheit (VL 12) Ausgehend von dem Begriff der ewigen Freiheit als Systemprinzip, der in den ersten elf Vorlesungen in einer Art ›Wissenschaft des Wissens‹ prinzipientheoretisch und methodisch expliziert wird,105 entfaltet Schel­ ling in den Vorlesungen 12–36 seinen eigentlichen Systementwurf als eine Geschichte des sich evolvierenden Absoluten.106 In der Überschrift zur zwölften Vorlesung ist in der Enderlein-Nachschrift vermerkt, dass alles bisher Entwickelte nur zur Einleitung diente (vgl. AA II,10,2, 709). 106 Ebenso wie in den Weltaltern geht Schelling auch hier von einem Begriff des Absoluten aus, der nicht statisch, sondern dynamisch ist. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass Gott als sich entwickelndes Wesen gedacht wird. Vgl. hierzu beispielsweise folgende Passage aus den Weltaltern: »Als stillstehende Kraft ist Gott nicht zu denken, außer in jenen abgezogenen unlebendigen Systemen, die in anderer Hinsicht fast allgemein verwerflich gefunden werden. Ist in ihm Leben und Persönlichkeit, so ist eine fortschreitende 105

106 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

Vor diesem Hintergrund befassen sich die Vorlesungen 12–16 mit der Indifferenz der ewigen Freiheit, bevor die Frage nach der Wirklichkeit derselben gestellt wird. Da sie den Grund für die Undefinierbarkeit und radikale Entzogenheit der ewigen Freiheit plastischer erscheinen lassen und darüber hinaus die Entzogenheit präzisierend charakterisieren als Verkehrung107 seien sie hier – mit einigen Ausblicken auf spätere Passagen – herangezogen, um den paradoxalen methodischen Ausgangspunkt der einleitenden Erlanger Vorlesungen, das Indefinible zum Definiens zu machen, in seiner logischen und zugleich ontologischen Pointiert­ heit herauszustellen.108 Wie bereits in der vierten Vorlesung betont Schelling auch in der zwölften Vorlesung, in der die Frage nicht nach der Erkennbarkeit, sondern nach dem Sein der ewigen Freiheit gestellt wird, abermals deren Charakteristik als Mittelbegriff zwischen Sein und Nicht-Sein. Zur besseren Nachvollziehbarkeit sei hier eine längere Passage zu diesem Problem zitiert: Wenn wir sagten: das Princip der Wissenschaft ist die ewige Freiheit, so dachten wir unwillkürlich dabey: sie ist kein Seyendes. Dieser bloß verneinende Begriff wurde in Ansehung der ewigen Freiheit selbst dadurch wieder aufgehoben, daß wir sagten: sie ist Freyheit d. h. kein Seyendes aber nicht so daß sie nicht auch Nichtfreyheit d. h. ein Seyendes seyn könnte. Aber auch in dieser Erklärung blieb doch immer jenes stehen: Sie ist nicht ein Seyendes. Allein die Frage ist eben: was heißt diß, sie ist kein Seyendes. Es kann doch nicht heißen: Sie ist schlechthin Nichts. Nämlich freylich Nichts, weil nicht Etwas. Aber wenn sie denn nicht Etwas ist, was ist sie denn sonst? Auf diese Frage können wir nicht wieder antworten, Sie ist Bewegung in ihm, worinn er jedoch nur von sich ausgehen und auch nur wieder in sich selbst zurückkehren kann, also zugleich Anfang und Ziel der Bewegung ist. Es ist hier keine arithmetische Progression, kein äußeres Vieles, sondern ein inneres, das aus Einem geht und auch immer Eines oder in sich bleibt« (WA I, 123). 107 Lore Hühn spitzt hinsichtlich der Freiheitsschrift zu, dass sich die innerweltliche Präsenz des Grundes gerade nicht als Entzug, sondern als Verkehrung zeigt. Vgl. Hühn 1998. Für die ewige Freiheit in den Erlanger Vorlesungen darf dasselbe vertreten werden, wobei der Verkehrungscharakter gerade durch die Entzogenheit der ewigen Freiheit manifest wird. 108 Schon im Übergang von der Schrift Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt zur sogenannten ›Ich-Schrift‹ (Vom Ich als Prinzip der Philosophie) verschiebt sich Schellings Fokus von einer epistemisch gefassten Prinzipientheorie hin zu einer Fundierung der Philosophie aus einem »letzten Punkt der Realität«, der »den Realgrund alles unsers Wissens enthält« (AA I,2, 82f.). Vom Anbeginn seines Philosophierens geht Schelling von einem Prinzip der Philosophie aus, in dem Sein und Denken zusammenfal­ len (vgl. AA I,2, 90).

107 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Nichts. Denn alsdann wirklich das vollkommene Nichts. Also mit Einem Wort, wir verlangen einen positiven Begriff auch von dem noch, was sie ist, wenn sie nicht Etwas – nicht ein Seyendes ist. (AA II,10,1, 269)

Die ersten beiden Sätze des Zitates wiederholen das Problem, das Schel­ ling bereits in der vierten Vorlesung ausgeführt hatte: Zunächst ist deutlich, dass die ewige Freiheit kein bestimmtes Seiendes und als solches definierbar wäre, weswegen sie konsequentermaßen als das Indefinible bezeichnet wurde. Allerdings hatte sich die bloße Verneinung ebenfalls als ungenügend herausgestellt, bliebe doch dann nichts anderes übrig, als die ewige Freiheit als ein Nichts zu bezeichnen. Wenn nun die ewige Freiheit aber weder Etwas noch Nichts ist, was ist sie dann? Oder, wie Schelling zuspitzt: »Die Frage eigentlich diese: Was bleibt übrig, wenn nicht Etwas?« (AA II,10,1, 269).109 Um dieser Frage nachzugehen, sind im Folgenden drei Aspekte von Bedeutung, von denen die ersten beiden den Voraussetzungsboden klären, auf dem Schellings Konzeption der ewigen Freiheit erwachsen ist: Erstens ist auf den platonischen Rezeptionshintergrund von Schellings Konzeption des Nicht-Seienden zu verweisen, da er – wie Schelling selbst mehrfach betont – essentiell ist für die Ausführungen in den Erlanger Vorlesungen (a). Zweitens sollen die Anknüpfungspunkte, die Schelling in der christlichen Mystik findet, ebenfalls ihre Erwähnung finden (b). Schließlich ist drittens die daraus folgende willenstheoretische Interpretation der ewigen Freiheit als Lauterkeit zu untersuchen, die Schelling in der Weltalter-Phase im Anschluss an das berühmte Diktum »Wollen ist Urseyn« aus der Freiheitsschrift profiliert (c).

a) Der platonische Dialog Sophistes als Folie für den Begriff des NichtSeienden Mit der Frage »Was bleibt übrig, wenn nicht Etwas?« ist die Untersu­ chung bei einem Problem angelangt, das Schelling mit Recht als eines der Grundprobleme der Philosophie ansieht, denn der »Begriff des

109 Diese Frage weist zurück auf die Keimzelle der Weltalter, das sogenannte Früheste Konzeptblatt, dem Schelling den Spruch der verschleierten Isis als Motto voranstellte: »›Ich bin das, was da war, was ist und was seyn wird, meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgehoben‹, so redete, nach einiger Erzählung, unter dem Schleyer des Isisbildes das geahndete Urwesen einst im Tempel zu Sais den Wanderer an« (WA III, 187).

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

ὸ_Seyenden110 [ist] eben der Proteus in der Philosophie […], der unter so verschiednen Gestalten die Betrachter vielfach geirrt und verwirrt hat« (AA II,10,1, 497).111 Derjenige, den Schelling als großen Gewährsmann für die Wichtig­ keit nach der Frage des Nichtseienden heranzieht, ist Platon, dessen häufige Nennung und Einfluss in den Erlanger Vorlesungen in die Augen sticht.112 In unverhohlener Wertschätzung legt Schelling seinen Zuhörern die Lektüre des Sophistes als »wahren Weihegesang zur höheren Wissen­ schaft« (AA II,10,1, 501) ans Herz.113 Hauptgrund dafür dürfte, diese Ansicht teile ich mit Leinkauf, das von der Identitätsphilosophie sich herschreibende Problem des Übergangs von der Einheit zur Differenz sein, das Schelling in einem ersten Schritt in der Freiheitsschrift mit dem Eintrag der internen Dualität ins Absolute und in der Folge in der Weltalter-Philosophie mit dem von Platon sich herschreibenden Begriff des relativ Nichtseienden zu lösen sucht. Im Gefolge von Platon muss Schelling das Nichtseiende nicht als Mangel, sondern kann es als wirkende Kraft und Wille auffassen, um damit seinen Ansatz einer Dynamik des Absoluten und der Anfäng­ lichkeit des Übergangs in die Differenz zu plausibilisieren.114 In der Dieses Zeichen steht in der Transkription des Vorlesungsmanuskripts für Schellings Symbol für »Nicht-« (vgl. AA II,10,1, 162). 111 Vgl. hierzu auch die verwandten Formulierungen in den Weltaltern: WA II, 140f. 112 Leinkauf hat den platonischen Hintergründen der Vorlesungen von 1821 deshalb einen Großteil seiner Studie zu Schellings Interpretation der Tradition gewidmet. Vgl. Leinkauf 1998, 14–31. Neben dem Problem des Nichtseienden sind es vor allem die Philosopheme des »Erstaunens als Beginn aller Philosophie«, sowie der »Wiedererinnerung« und des »wissenden Nichtwissens«, die in Erlangen als klassische Platonica im Vordergrund der Überlegungen stehen. 113 Vgl. zum Folgenden Platon: Sophistes, 254d-259e. In diesem Abschnitt wird bekannt­ lich im Anschluss an die Überlegung zur κοινωνία τῶν γενῶν (Gemeinschaft der Begriffe) das Verhältnis von Bewegung und Ruhe sowie Seiendem und Nichtseiendem untersucht. Dabei wird deutlich, dass das Nichtseiende nicht im scharfen Gegensatz zum Seienden steht und damit nicht Nichts, sondern bloß verschieden vom Seienden, also relativ nichtseiend ist. 114 Vgl. hierzu folgende Passage aus den Weltaltern: »Aber schon der göttliche Platon hat in der höchsten Allgemeinheit gezeigt, wie nothwendig auch das Nichtseyende sey und wie ohne diese Einsicht überall Gewißheit von Zweifel, Wahrheit von Irrthum nicht unterscheidbar seyn würde. […] Das Nichtseyende ist nicht absoluter Mangel an Wesen, es ist nur das dem eigentlichen Wesen entgegengesetzte, aber darum in seiner Art nicht minder positive Wesen [...]. [...] Nichtseyendes ist es nicht wegen Mangel an Licht oder Wesen, sondern als aktive Verschlossenheit, thätiges Zurückstreben in die Tiefe und Verborgenheit, also als wirkende Kraft, die in ihrer Art ebenfalls ein Wille, also nothwendig ein seyendes und in so fern erkennbares ist« (WA I, 20f.). 110

109 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Auffassung des relativ Nichtseienden ruht nach Schellings Einschätzung das Potenzial, einem monolithischen, unlebendigen Begriff des Einen zu entkommen, der alle Differenz grundsätzlich ausschließt (vgl. SW XIII, 223f.). Mit der Positivität des Nicht-Seienden ist ein differenzierendes Prinzip gewonnen, das die Gefahr der Einerleiheit der Einheit umgeht, sowie – und das ist für die Konfiguration von Schellings Denken seit 1809 entscheidend – den Irrtum und das Böse als positive Kraft zu denken erlaubt. Mit diesem, von Platon angeregten und über ihn hinausgeführten Ansatz, hat Schelling einen Anknüpfungspunkt gewonnen für die Auffas­ sung, dass dem Verneinenden, obwohl ungleich schwerer zu denken, das eigentliche Potenzial zur Anfänglichkeit innewohnt, denn »nur in d. Vernein. ist die Stärke und die Kraft, nicht in der Bejahung, in der Attraktion oder Contraktion, nicht in der Expansion« (AA II,10,1, 499).115 Allerdings lässt sich, wie Leinkauf ebenfalls zeigt, Schellings Auffas­ sung der Dynamik der ewigen Freiheit nicht unmittelbar aus dem plato­ nischen Dialog ableiten. Im Unterschied zu Platon integriert Schelling das Nichtseiende in das Absolute, um dessen Eigenbewegung erklären zu können.116 Insofern verdankt Schelling Platons Überlegungen zum relativ Nichtseienden die Möglichkeit, in der Frage nach dem »was bleibt, wenn nicht Etwas« einen ersten Schritt zu gehen und deutlich zu machen, dass es jenseits des Etwas ein Nichtseiendes gibt, das gleichwohl nicht als bloße Negation aufgefasst werden muss. Von dort aus geht Schelling einen weiteren Schritt, indem er hieraus die Bewegung des Absoluten ableitet. Was Schelling – mindestens bezogen auf den Sophistes – dabei noch nicht möglich ist, ist eine rezeptionsgeschichtliche Untermauerung der Auffassung der ewigen Freiheit als lebendiges Wesen, das willenstheore­ tisch ausgedeutet wird. Dies gelingt ihm erst – so die These – indem er Schlüsselmotive der christlichen Intellektmystik integriert.

b) Anknüpfungspunkte in der christlich-philosophischen Mystik Der Einfluss christlicher Intellektmystik von Autoren wie Meister Eck­ hart und Tauler auf das Denken Schellings ist, trotz der kategorischen 115 Vgl. hierzu auch die Nähe zu Konzeptionen des ›Zimzum‹ der jüdischen Kabbala. Siehe auch Kapitel II.3.3. 116 Vgl. Platon: Sophistes, 228cd sowie Leinkauf 1998, 22f., 29.

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

Absage von Harald Holz in den 70er Jahren, heute unbestritten.117 Spätes­ tens seit Schellings Übersiedlung nach München ist die entsprechende Lektüre z.B. von dem Pseudo-Taulerischen Buch von der geistigen Armut sowie eine erneute Beschäftigung mit Angelus Silesius nachgewiesen.118 In der Folge findet sich in den Weltaltern – insbesondere im ersten Weltalter-Druck von 1811 – und in den Erlanger Vorlesungen mehrere explizite und implizite Verweise auf das intensive Studium mystischer Texte.119 Dabei handelt es sich insbesondere um drei Begriffe, die für die hiesige Untersuchung von Bedeutung sind, und zwar ›Übergottheit‹, ›Lauterkeit‹ und ›Gelassenheit‹: Anknüpfend an die Frage »was bleibt, wenn nicht Etwas« ist es erstens der Begriff der Über-Gottheit, bei dessen Einführung im Text explizit auf die »Mystiker früherer Zeiten« verwiesen wird: Nämlich das absolute Subjekt ist nicht nicht Gott, und es ist doch auch nicht Gott, es ist auch das, was nicht Gott ist. Es ist also insofern über Gott, und wenn selbst einer der vorzüglichsten Mystiker früherer Zeit gewagt hat von einer Uebergottheit zu reden, so wird dieß auch uns verstattet seyn, und es wird ausdrücklich hier bemerkt, damit nicht etwa das Absolute – jenes absolute Subjekt – geradezu mit Gott verwechselt werde. (AA II,10,2, 619)120 117 Holz 1970, 7. In den letzten Jahren sind vor allem Quero-Sanchez und Jung durch ihre ausführlich belegten Studien zum Verhältnis von christlicher Mystik und Schellings Werk hervorgetreten. Vgl. Quero-Sanchez 2018, Quero-Sanchez 2015 und Jung 2020. 118 So verzeichnet das Notizheft Collectanea Exzerpte aus dem Buch von der geistigen Armut sowie aus der Theologia Deutsch. Vgl. das Online-Digitalisat von Nr. 76 des Schel­ ling-Nachlasses der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie Jung 2020, 25. Ein Brief vom April 1811, in dem Schelling sich bei Schubert nach einem mögli­ chen Erwerb der Spener-Ausgabe von Taulers Schriften erkundigt, bezeugt ebenfalls Schellings großes Interesse (vgl. Plitt II, 252f.). 119 Neben den hier angeführten Autoren sind es selbstverständlich die Schriften Böhmes und Oetingers, die Schelling seit seinem Umzug nach München intensiv studiert. Bezeich­ nend ist, dass die verstärkte Rezeption der Intellektmystik von Autoren wie Tauler und Meister Eckhart einhergeht mit den zunehmend kritischen Bemerkungen gegenüber der unmittelbaren aber stummen Schau des »Theosophismus« eines Jakob Böhme (vgl. AA II,10,1, 253). Insofern ließe sich die These aufstellen, dass Schelling in den 20er Jahren in einer Art Figur des Übertreffens hinter Böhme zurück auf Eckhart und Tauler geht. 120 Vgl. hierzu auch die entsprechenden Stellen in den Weltalter-Fragmenten: »Daher wir gewagt, jene Einfalt des Wesens über Gott zu setzen, wie schon einige der Aelteren von einer Uebergottheit geredet, unähnlich darinn den Neueren, die in verkehrtem Eifer diese Ordnung wieder umkehren wollten. Sie ist nicht Gott, sondern der Glanz des unzugänglichen Lichtes, in dem Gott wohnt, die verzehrende Schärfe der Reinheit, welcher der Mensch nur mit gleicher Lauterkeit des Wesens sich nähern kann« (WA I, 16).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Mit diesem Zitat macht Schelling zunächst klar, dass er mit der ewigen Freiheit nicht etwa den dogmatischen Gottesbegriff der christlichen Konfessionen im Blick hat, dessen Schwierigkeit darin liegt, dass er mit bestimmten Vorstellungen verbunden ist und demnach als ›Etwas‹ aufgefasst wird. Darüber hinaus spitzt er den zunächst rein logisch verwendeten platonischen Begriff des relativ Nichtseienden weiter zu, indem er ihn in einer für Dionysius von Areopagita charakteristischen ὑπέρ-Bildung als Übergottheit (ὑπερθεότηϛ) bezeichnet.121 Der Begrün­ der der christlichen Mystik wird von Schelling wenige Jahre später in der Münchner Vorlesung von 1827/28 zum System der Weltalter im selben Kontext in einem Atemzug mit Meister Eckhart und Tauler genannt, was dafür spricht, dass Schelling die Figur der Übergottheit als ein Spezifikum christlicher Mystik verstanden hat.122 Mit der Einführung der Figur der Übergottheit schreibt Schelling der ewigen Freiheit nicht nur ein nichtprädikatives und nichtseiendes Sein zu, sondern vertieft darüber hinaus die Auffassung ihrer Wesenhaftigkeit, ohne damit – so Schellings Anspruch – in einen konfessionellen Dogmatismus zu verfallen. Neben der Figur der Übergottheit ist es zweitens vor allem der Terminus der Lauterkeit, der in der gesamten Weltalter-Philosophie eine entscheidende Rolle spielt und ebenfalls in der mystisch-philosophi­ schen Tradition zuhause ist. Zwar ist Lauterkeit zunächst nur ein schon zu Schellings Zeiten veraltetes Synonym für »Reinheit«, dennoch ist der spezifische Gebrauch bei Schelling eindeutig dem Kontext mystischer Thematik zuzuordnen.123 In einem Fragment zu den Weltaltern definiert Schelling die Lauterkeit als »die reine Bloßheit; Abgeschiedenheit von allem, die an nichts hängt, das keine Berührung verträgt, gleichsam Jungfräulichkeit, vollkommene Einfalt der man also nicht unmittelbar sich nähern kann als durch ein völliges Aufgeben der Erkenntnis« (WA III, 215). Dabei sind die Bloßheit, Abgeschiedenheit und Einfalt ebenfalls Vgl. zu den Wurzeln dieser Figur Halfwassen 2003. Halfwassen vertritt ebenfalls die Einschätzung, dass sich der Terminus der Übergottheit auf Dionysius’ De divinis nomini­ bus IV 1, XI 6 stützt (diese Stelle ist zitiert bei dem von Schelling oft benutzten J. Gerhard, Locorum Theologicorum Tomus Tertius, Tübingen 1764, 72). Vgl. Halfwassen 2003, 184; ebenso Beierwaltes 1972, 71. Auch die Formulierung aus dem ersten Weltalter-Druck (»Glanz des unzugänglichen Lichtes«, WA I, 16) spricht eindeutig für Dionysius als direkte Quelle für den Terminus der Übergottheit. Vgl. hierzu auch Jung 2020, 37. 122 Vgl. System der Weltalter, 148, Anm. L2: »indem nemlich Gott selbst als der über allem Etwas unendlich Erhabene das Nichts genannt wird – Dionysius Areopagita Eckhart Tauler etc.« Den Hinweis verdanke ich Quero-Sanchez 2015, 246. 123 Vgl. Jung 2020, 31. 121

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

Termini, die sich typischerweise bei Meister Eckhart oder Tauler finden, um die vollkommene Reinheit und Abwesenheit jeglicher Bestimmtheit zu charakterisieren.124 Der dritte Begriff, der hier hervorgehoben werden soll, ist die ›Gelassenheit‹, die Schelling sowohl zur Charakterisierung des Verhält­ nisses von Wille und Sein der ewigen Freiheit125 – also bezogen auf das Absolute –, als auch für die Forderung der Selbstüberwindung des erkennenden, menschlichen Subjektes gleichermaßen verwendet. Durch die häufige Verwendung des Verbes lâzen bei Meister Eckhart, gehört der Begriff der Gelassenheit zu einem der bekanntesten, immer wieder diskutierten Termini der mystischen Tradition.126 Anders als die Lauter­ keit, die sich bei Meister Eckhart vor allem auf den intellectus passivus und nicht ausdrücklich auf den Willen bezieht, steht die Gelassenheit für die Aufgabe des menschlichen Egoismus und Eigenwillens zugunsten des göttlichen Willens. Mit diesem rezeptionsgeschichtlichen und terminologischen Anknüpfungspunkt kann Schelling bestimmte Eigenschaften seines Prinzips definieren, die in der Mystik, auf die er rekurriert, nicht bloß Eigenschaften eines Prinzips, sondern eines Wesens sind. Insofern kann er mit ihnen seine willenstheoretische Profilierung der ewigen Freiheit als lebendiges Wesen untermauern.

c) Die willenstheoretische Profilierung der ewigen Freiheit als Lauterkeit Hinsichtlich der Ausgangsfrage, was nach Hinwegnahme aller Prädika­ tion übrigbleibt, greift Schelling auf die Tradition zurück, ohne dabei den eigenständigen Zug seines Philosophierens zu verlieren. Dabei knüpft er vor allem an diejenigen Motive der mystischen Tradition an, die eine Betonung des Willens mit sich bringen. 124 Vgl. hierzu prominent Meister Eckhart: »Swenne ich predige, sô pflige ich ze sprec­ henne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sin selbes und aller dinge. Ze dem andern mâle, daz man wider îngebildet werde in daz einvaltige guot, daz got ist. Ze dem dritten mâle, daz man gedenke der grôzen edelkeit, die got an die sêle geleget hat, daz der mensche dâ mite kome in ein wunder ze gote. Ze dem vierden mâle von götlîcher natûre lûterkeit – was klarheit an götlicher nature sî, daz ist unsprechelich. Got is ein wort, ein ungesprochen wort« Pr 53 (Largier I, 564) (DW II, 528f.). 125 Vgl. den folgenden Abschnitt c. 126 Vgl. etwa Putt 2016, sowie einschlägig Kern 1980.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Schelling hatte argumentiert, dass die ewige Freiheit, die weder als bestimmtes noch als unbestimmtes Sein bezeichnet werden kann, gleichsam vor aller Objektivierung das nichtprädikative Sein an sich selbst ist (vgl. AA II,10,1, 279f.). Dabei ist bezeichnend, dass er das Sein der ewigen Freiheit als reine Lauterkeit unmittelbar mit dem Willen, der nichts will, gleichsetzt und damit die seit der Freiheitsschrift paradigma­ tisch gewordene willenstheoretische Auslegung des Absoluten und der Wirklichkeit aufgreift.127 Dass das Absolute willenshafter Natur ist, findet sich bei Schelling erstmals in der Abhandlung zur Erläuterung der Wissenschaftslehre von 1796/97, die zeitgleich mit seiner ersten naturphilosophischen Schrift (Ideen zu einer Philosophie der Natur) entstand. Dort verwendet Schel­ ling einen gegenüber seinen vorherigen Schriften neuen Begriff des Geis­ tes, indem er ihn als »ewiges Werden« (AA I,4, 86) bzw. als »ursprüngli­ ches Wollen« (AA I,4, 122) bezeichnet.128 Wenig später, nämlich 1799 in der Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, wird der bewussten Tätigkeit des Geistes die bewusstlose Tätigkeit der Natur entgegengestellt, die beide »aus derselben Wurzel« (AA I,8, 29) entspringen. Die ewige Produktivität bzw. unbewusste Tätigkeit der natura naturans, die sich durch die Stufenfolge der Natur hindurch entwickelt, kommt im Menschen zu ihrem Bewusst­ sein.129 Im System des transzendentalen Idealismus von 1800 wird die vergessene Vorgeschichte des Subjektes in der Tätigkeit der unbewuss­ ten Natur festgemacht und im ursprünglichen Wollen des Absoluten verankert. Diese Linie in Schellings Denken, die dem »Regellosen« und »Verstandlosen« (AA I,17, 131), das sich nicht in diskursive Ordnungs­ strukturen auflösen lässt, eine entscheidende Stellung einräumt, ohne es als das schlechthin »Andere der Vernunft« auszugrenzen, gipfelt 1809 in der Freiheitsschrift mit dem legendären Diktum »Wollen ist Urseyn« (AA I,17, 123).

127 Vgl. hierzu Hühn, die die willenstheoretische Auslegung der Wirklichkeit bei Schelling (sowie deren Verarbeitung bei Schopenhauer) und den tragischen Zug der Selbstsucht mehrfach eindrücklich ausgeführt hat. Hühn 2006 sowie Hühn 2010. Vgl. zudem umfas­ send zu Schellings Willensparadigma Höfele 2019. 128 Dieses Wollen sei das »Unbegreifliche, Unfauflösliche – seiner Natur nach Grundlo­ seste, Unbeweisbarste, eben deßwegen aber Unmittelbarste und Evidenteste in unserem Wissen« (AA I,4, 127). Das Wollen entzieht sich allem Wissen, ist aber gleichzeitig die »Quelle des SelbstBewußtseyns« (AA I,4, 128) und fundiert damit die Subjektivität. 129 Vgl. hierzu auch Schwenzfeuer 2012, 146–155.

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Für die Erlanger Vorlesungen ist entscheidend, dass Schelling behufs einer näheren Charakterisierung der ewigen Freiheit den Begriff des gegenstandslosen, lauteren Wollens, bzw. des Willens, der nichts will, betont und damit die für die Weltalter-Philosophie zentrale Konzeption der Gleichgültigkeit und der Lauterkeit des Absoluten in den Vorder­ grund rückt.130 Während sich der Wille des Absoluten nach seinem Eintritt in die Differenz als Eigenwille in blinder Sucht und Begierde äußert, wird der Wille der ewigen Freiheit vor ihrem Eintritt ins Sein als reine Lauterkeit bzw. als Wille, der nichts will, charakterisiert.131 Für den Willen, der nichts will, und der insofern als ursprüngliche Einheit vor der Trennung von Wollen und Sein zu verorten sei, greift Schelling zusätzlich zur Lauterkeit auf den Begriff der »Gelassenheit« (AA II,10,1, 274, 279, 317, 425, 506)132 des Willens gegen das Sein zurück. Dabei versteht Schelling die Gelassenheit zugleich als aktivisch und passivisch, indem der Wille das Sein nicht zum Objekt macht und damit selbst nicht Subjekt wird, lässt der Wille das Sein und wird zugleich von diesem gelassen. Nicht nur bezogen auf das erkennende Subjekt, sondern auch hinsichtlich der ewigen Freiheit kennt Schelling also ein Zugleich von Aktivität 130 Alle diese Motive finden sich in knapper, aber systematisch grundlegender Ausführung bereits in der vierten Vorlesung, in der die ewige Freiheit als Systemprinzip näher charakterisiert wird. Dort heißt es im Anschluss an die Ausführungen zur Indefinierbarkeit des Systemprinzips: »Nämlich statt wesentlicher Freiheit können wir auch sagen: 1) es [das Subjekt als Systemprinzip J.H.] sey das ewige, lautere Können, nicht das Können von etwas (womit schon ein Beschränktes), sondern das Können um des Könnens willen, das absicht- und gegenstandlose Können: dieß ist überall das Höchste, und wo wir es sehen, glauben wir einen Strahl jener ursprünglichen Freiheit zu sehen; 2) es sey Wille – nicht Wille eines von ihm verschiedenen Wesens, sondern es sey nichts als Wille – der lautere Wille selbst, auch nicht der Wille von Etwas (denn damit schon beschränkt), sondern der Wille an sich, nicht der Wille, der wirklich will, doch auch nicht der, der nicht will, nämlich abstößt, sondern der Wille, sofern er weder will noch nicht will, sondern in völliger Gleichgültigkeit ist (einer Gleichgültigkeit, die sich selbst wieder und die Nichtgleichgültigkeit einschließt) – und historisch wenigstens ist Ihnen vielleicht bekannt, daß eben diese Gleichgültigkeit – diese Indifferenz als Form des eigentlichen Absoluten angegeben worden.« (AA II,10,2, 622) Hier wird abermals deutlich, dass das Absolute in seiner Konzeption als lebendiges Subjekt bzw. ewige Freiheit das Systemprinzip selbst ist, dass also an eine strikte Trennung von Logik und Ontologie bei Schelling keinesfalls zu denken ist. 131 Selbstverständlich wird hier »vor« und »nach« nicht zeitlich, sondern logisch aufge­ fasst, da der Übertritt erstens als überzeitlicher Akt verstanden wird und die ewige Freiheit zweitens so aufgefasst werden muss, dass sie zugleich überseiend und seiend ist. Vgl. die beiden vorherigen Abschnitte. 132 Vgl. hierzu Höfele 2019, 234–240.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

und Passivität, mit dessen Hilfe er hier die interne Dynamik der in sich differenzierten Einheit von dem Willen und dem Sein der ewigen Freiheit markiert. Mit seiner willenstheoretischen Profilierung unterstreicht Schelling einerseits den dynamischen Charakter des Absoluten, denn Wille – auch wenn er ruhend ist – bedeutet zugleich immer auch Möglichkeit eines Aktes, einer Tätigkeit. Andererseits betont er damit seine Auffassung des Absoluten als Freiheit, in der die Möglichkeit, zu sein und nicht zu sein, latent vorhanden sei.133 Diese Möglichkeit beruhe auf einem Können der ewigen Freiheit, das Sein anzunehmen oder nicht anzunehmen, was für Schelling so viel bedeutet wie, in der ursprünglichen Einheit von Wille und Sein, die zugleich Indifferenz von Subjekt und Objekt ist, zu verharren, oder aber in die ›Gezweitheit‹ überzugehen.134 Diese Doppel­ gesichtigkeit der ewigen Freiheit, die in ihrer grundsätzlich paradoxalen Struktur gleichsam zwischen diesen beiden Möglichkeiten schwebt, ohne eine der beiden zu verwirklichen, bezeichnet Schelling auch als die »natura duplex« (AA II,10,1, 311) der ewigen Freiheit.135 Die Lauterkeit der ewigen Freiheit als ruhender, willenloser Wille begehre zwar nicht des (konkreten) Seins, dennoch sei sie wesentlich Hunger nach dem Sein (vgl. AA II,10,1, 320). Dieser ursprüngliche Hunger, der vorderhand als ein Mangel, eine Defizienz gedeutet werden könnte, wird von Schelling allerdings ausdrücklich als willenloser und unbewusster Mangel bezeichnet, der insofern nur für uns, aber nicht an sich mangelhaft erscheint (vgl. AA II,10,1, 320).136 Mit diesem ›Kunstgriff‹, Bereits in den Weltalter-Fragmenten heißt es: »Das Höchste ist frei, zu existieren und nicht zu existieren, ist der lautere Wille, steht zwischen Sein und Nichtsein in der Mitte.« (WA II, 45f.). 134 Vgl. hierzu parallele Stellen in den Weltalter-Fragmenten. Bspw. WA I, 22f. 135 Entscheidend ist hier der Begriff des Könnens (bzw. des Seinkönnens), mit dem Schelling unter der Hand die Brücke zu seiner Potenzenlehre schlägt, die freilich in den Erlanger Vorlesungen in der ihr eigenen Ausprägung der mittleren Werkphase erscheint. Im weiteren Verlauf der Vorlesungen spielen die drei Potenzen des Seinkönnenden, Seinmüssenden und Seinsollenden für die spekulative Lehre über den Anfang eine entscheidende Rolle, die hier jedoch nicht im Vordergrund stehen. Schellings Sohn bemerkte bei der Herausgabe der Erlanger Vorlesungen in einem Brief an Beckers die Verwandtschaft der hier entwickelten Potenzenlehre mit derjenigen der Spätphilosophie. Er schreibt: »[T]heils aber ist in den Erlanger Vorlesungen z. B. schon die Potenzenlehre ganz so entwikelt, wie in der späteren positiven Philosophie.« K. F. A. Schelling an H. Beckers. 26.11.1859. BSB München. Nachlass Beckers. Zit. in: AA II,10,2, 610. Vgl. zur Potenzenlehre von Schelling: Schrödter 1986. 136 Dem ruhenden, willenlosen Willen schreibt Schelling das Prädikat des Magischen zu, mit dem er ein willenloses und nicht bewusstes Begehren in Verbindung bringt, das vor 133

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mit dem schon Fichte in der Wissenschaftslehre die Schwierigkeit des Übergangs vom absoluten Ich zum Nicht-Ich zu überbrücken suchte, indem er einerseits die Perspektive des sich selbst setzenden Ichs und andererseits die des darauf reflektierenden Philosophen einführte,137 unterscheidet auch Schelling zwischen der Lauterkeit der ewigen Frei­ heit, deren Defizienz ihr selbst un- bzw. vorbewusst bleibt, weil ihr kein reflexives Bewusstsein zugesprochen werden kann, und der wesentlichen Defizienz der Lauterkeit, die nur mithilfe philosophischer Reflexion gleichsam nachträglich und ›von außen‹ attestiert werden kann. In Summa hat Schelling mit der Charakterisierung der ewigen Freiheit als lauterem Willen Folgendes gewonnen: Er hat erstens hinsicht­ lich der Frage, was jenseits alles prädikativen Seins übrigbleibt, den Begriff des relativ Nichtseienden bzw. Überseienden durch die Figur der Lauterkeit willenstheoretisch zugespitzt und präzisiert. Damit hat er zweitens einen Begriff von Potentialität geprägt, der höchste Dynamik vor ihrer Aktualisierung zu fassen in der Lage ist. Drittens ist auf diese Weise die Möglichkeit des Heraustretens des Absoluten aus der Einheit in die Differenz durch die Struktur des Absoluten selbst grundgelegt. Dennoch kommt Schelling nicht umhin, den tatsächlichen Übertritt in die Differenz zu begründen. Indem er diesen mithilfe der tragischen Figur einer ursprünglichen Selbsttäuschung des Absoluten profiliert, unterstreicht er einerseits den Verkehrungscharakter alles Wirklichen, aus dem sich die Notwendigkeit einer Transformation ergibt, und spitzt andererseits den Freiheitscharakter des Absoluten radikal zu.

3. Ausgriff 2: Täuschung und Selbstverfehlung der ewigen Freiheit (VL 24–26) Um Schellings Begründung für das Heraustreten des Absoluten auf ihren Argumentationsgehalt zu prüfen, wird im Folgenden die Grundstruk­ tur der Selbstverfehlungsfigur des Absoluten diskutiert, die Schelling dem willentlichen konkreten Anziehen des Seins liege (vgl. AA II,10,1, 321). Dort heißt es: »Ja der Begriff des ruhenden nicht wirkenden Willens ist so wesentlich zum Begriff dessen was wir magisch nennen, daß alle Magie für uns verschwindet, so wie wir nur ein Wollen darinn wahrnehmen.« Auch im späteren Verlauf der Vorlesungen, wenn Schelling nach dem Übergang der Möglichkeit der ewigen Freiheit in die Wirklichkeit fragt, kommt das Motiv des Mangels als ewige Macht bzw. Magie des Anfangs zum Tragen (vgl. AA II,10,1, 381). 137 Vgl. Fichte, GA 2, bspw. 270, 315, 342.

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vornehmlich in den Vorlesungen 24–26 darlegt, ist es doch gerade die Grundüberzeugung eines notwendigerweise verfehlten Anfangs – denn Anfang sei nicht zu denken ohne Selbstbetrug (vgl. AA II,10,1, 507) –, der das Potenzial zur Transformation und damit zu einem zweiten Anfang in sich birgt.138 Ausgehend von der reinen Lauterkeit des Absoluten bzw. der ewigen Freiheit ist es die alte Frage nach dem Grund für ihr Heraustreten in die Differenz, der sich Schelling stellen muss. Um Schellings Erlanger Antwort auf die Frage nachzuvollziehen, wird in diesem Abschnitt in drei Schritten verfahren: Zunächst wird der Begründungsversuch für das Heraustreten des Absoluten erstens in seinen Voraussetzungen (a) und zweitens in seiner Durchführung analysiert und im Zusammenhang mit der berühmt-berüchtigten Figur der intelligiblen Tat diskutiert (b), um daraufhin drittens den Zirkel der Selbstverfehlung ewiger Freiheit in der Bedeutung für ihren Status als Systemprinzip und ihr Verhältnis zum erkennenden Subjekt hervorzuheben (c).

a) Das Gesetz der Freiheit Dass, gesetzt es gibt ein Heraustreten des Absoluten aus der ursprüngli­ chen Einheit und Lauterkeit, dasselbe und damit Anfänglichkeit per se durch eine Figur der Selbsttäuschung plausibilisiert werden kann, ist, wie im Folgenden zu zeigen, bei weitem nicht so problematisch, wie die Frage nach dem Grund für das Heraustreten. Denn diese Frage führt an eine Grenze, an der alles Begründen aufhört (vgl. AA II,10,1, 451).139 Dennoch will Schelling sich so weit wie möglich argumentativ an diese Grenze herantasten, indem er zunächst die Voraussetzungen für den Anfang des Heraustretens untersucht. Schellings Ausgangspunkt ist die Lauterkeit der ewigen Freiheit als Gleichgültigkeit des Könnens gegen das Sein und des Seins gegen das Können (A=A), die er im Folgenden ausdifferenziert in die drei Potenzen des lauteren Könnens (–A), des lauteren Seins (+A) und des lauteren Seinkönnens (+ A), wobei ersteres durch eine Leere und einen Mangel sich auszeichnet, der sich das lautere Sein anzieht und so zum lauteren Seinkönnen wird. Alle drei Potenzen werden dabei als Momente in einer Vgl. zur Figur der Anfänglichkeit als Selbstbetrug auch Hühn 2007, 203–213. Bereits in Philosophie und Religion wird der Abfall vom Absoluten als Sprung gekennzeichnet, der »nicht (was man so nennt) erklärt werden« könne (SW VI, 42). Vgl. auch die Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 360. 138

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Bewegung vom Können zum Sein und vom Sein zum Seinkönnen, die Schelling als eine immer anfangende und immer endende Bewegung, »als Rotation mit unendlicher Geschwindigkeit« (AA II,10,1, 394), als immer nur ein und dieselbe in sich zurückgehende Bewegung charakterisiert. Damit ist ein erster Zirkel bezeichnet, den Schelling noch innerhalb der in sich seienden Absolutheit der ewigen Freiheit verortet und der in seiner Bewegung dennoch bereits eine Form der Dynamik markiert, die die reine Selbstgenügsamkeit des Absoluten aufbricht und als Mangel erscheinen lässt – mindestens aus Sicht des Philosophen. An sich seien die drei Potenzen nicht different, sondern nur begrifflich, das heißt für den darüber nachdenkenden Philosophen, sind sie zu unterscheiden. Im »Gegenstand selbst gehen sie wieder zur absoluten Einheit zusammen« (AA II,10,1, 423) und sind in die Einheit der ewigen Freiheit »verzaubert« (AA II,10,1, 399). Damit ist die ewige Freiheit aber »selbst nur blindlings, nicht mit ihrem Wissen und Wollen« (AA II,10,1, 424). Hinsichtlich des Status der Freiheit bedeutet dies allerdings, dass die ewige Freiheit als Lauterkeit noch nicht Freiheit im vollsten Sinne des Wortes ist, denn Freiheit setzt ein Wissen um die Freiheit voraus.140 Aus dem Wesen der Freiheit lässt sich also als Gesetzmäßigkeit ableiten, dass Freiheit eines Wissens seiner selbst bedarf. Weil Selbsterkenntnis einer irgendwie gearteten Form der Vermittlung bedarf, ist sie nur möglich, indem die ewige Freiheit aus der reinen Lauterkeit in die Differenz übergeht. Dabei ist allerdings auch diese Gesetzmäßigkeit noch kein zureichender Grund für den tatsächlichen Übertritt in die Differenz, denn sie begründet noch nicht, warum Freiheit überhaupt sein soll. Hier finden wir bei Schelling den Einsatz eines mit Fichtes »Macht­ spruch der Vernunft« (GA 2, 268, 301) vergleichbaren Sollens, das als Antwort auf die Frage nach dem Grund für das Heraustreten aus der Unbewusstheit der ewigen Freiheit in das Sein ins Feld geführt wird. Schelling introduziert an dieser Stelle eine außerhalb der Lauterkeit ewiger Freiheit wirkende »Macht« (AA II,10,1, 425), die als höchstes

140 Lee hat aufgrund dieser Mangelhaftigkeit der Freiheit des Absoluten die These vertreten, dass das Absolute in den Erlanger Vorlesungen erstmals in Schellings Werk nicht als absolute Selbstposition, sondern als Selbstnegation beschrieben wird und darin einen entschiedenen Vorzug gegenüber den gescheiterten Erklärungsversuchen der Identitätsphilosophie für das Auftreten der Differenz im Absoluten bietet. Vgl. Lee 2016, 157‒159.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Gesetz allen Lebens das Sein-Sollen der Freiheit setzt.141 Dabei scheint es Schelling freilich bewusst, aber nicht weiter problematisch zu sein, dass er mit einer solchen »Macht« ein zweites Prinzip einführt, das zwar als Aspekt der Freiheit als »freye Nothwendigkeit« (AA II,10,1, 426) gekennzeichnet wird, als dieser Aspekt jedoch zugleich notwendig außerhalb der blinden, unbewussten und ursprünglichen Freiheit zu verorten ist, um diese überhaupt zur Erkenntnis ihrer selbst bringen zu können.142 Bezeichnenderweise führt Schelling als Gebot des »höchsten Geset­ zes« nicht etwa den Imperativ »Erkenne dich selbst!« ein, der die unbewusste ewige Freiheit direkt auf das zur Verwirklichung der Freiheit notwendige Selbstbewusstsein verweisen würde, sondern vielmehr die Forderung, die ewige Freiheit solle sich nicht nach ihrem Sein »gelüsten« (AA II,10,1, 428).143 Gerade in der freiwilligen Selbstnegation liege die Selbsterkenntnismöglichkeit der Freiheit, denn nur indem die Freiheit nicht ins Sein übergeht, könne sie als Freiheit bestehen bleiben. Freiwillig aber ist diese Selbstnegation deshalb, weil sie auf der Grundlage des Wissens um die Möglichkeit des Seinkönnens sich vollzieht, die als Mög­ lichkeit durch den Imperativ zur Selbstnegation erstmals erkannt wird.144 Mithilfe der paradoxalen Struktur einer notwendigen Selbster­ kenntnis, die zugleich nur durch Selbstnegation zu erlangen ist, also einer Struktur, die eine aktive Selbstzurücknahme fordert und damit auch auf der Ebene des Absoluten auf die hier im Zentrum stehende Figur 141 Auch in dem von Barbara Loer herausgegebenen Fragment zur Strukturtheorie des Absoluten findet sich die Figur der »Macht«, die die absolute Lauterkeit zur Scheidung ihrer selbst bewegt. Vgl. Loer 1978, 3f. 142 Im weiteren Verlauf vergleicht Schelling dieses Prinzip mit der mythologischen Gestalt der ›Nemesis‹ oder mit dem Begriff des ›Schicksals‹ als verwirklichende aber sich selbst nie verwirklichende Macht. Damit sind wir bei einem Problem angelangt, das in seiner Struktur Ähnlichkeiten mit demjenigen des Anstoßes in Fichtes Wissenschaftslehre oder dem der Selbstaffektion bei Kant aufweist, denn auch Schelling muss notwendig ein zweites, externes Prinzip annehmen, um das Heraustreten der Einheit in die Vielheit erklären zu können. 143 Vgl. Römer 7,7 »Lass dich nicht gelüsten deiner Freiheit.« 144 »Wenn es [das Gesetz, die Macht, J.H.] ihm aber zugleich sagt: Begehre des Seyns nicht wirklich […] sagt es ihm zugleich: das es das seyn K.[önnende, J.H.] ist nicht um wirklich seyend zu seyn, sondern um nicht seyend zu bleiben, es fordert von ihm sich nicht für das wirkliche seyn K. zu nehmen, sondern nur für das seyn K. welches als solches wieder nicht seyend – bloß seyn könnend ist, d. h. indem es ihm von der einen Seite offenbart das es wirklich die ewige Freiheit […] ist, fordert es von der anderen Seiten von ihm sich nicht zu betrachten als […] die ewige Freyheit selbst, sondern als eine bloße Potenz derselben […]« (AA II,10,1, 447f.).

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›aktiver Passivität‹ verweist, gelangt Schelling zu dem Punkt, an dem er den Übergang vom Seinkönnen ins Sein als freie Tat markieren kann, denn durch die Forderung des »ewigen Gesetzes« wird die unbewusste Freiheit zu einer Entscheidung gezwungen, also in eine Krisis gebracht.145 Gerade durch den paradoxalen Charakter der Forderung gelingt es Schelling – freilich unter Zuhilfenahme der Setzung eines ›externen‹ »ewigen Gesetzes« –, innerhalb der indifferenten Prädikationslosigkeit und Lauterkeit des Absoluten eine Entscheidungs­ figur einzutragen, die die Bezeichnung ›ewige Freiheit‹ nicht nur in potentia, sondern auch in actu zu rechtfertigen in der Lage ist. Dass Schelling in der Weltalter-Philosophie auch die Freiheit des Absoluten gerade nicht in der Selbstaffirmation, sondern in der Negation des eigenen Willens nach dem Sein verortet, unterstreicht die Radikalität der Kritik autopoietischer Selbstsetzungsfiguren. Nicht nur die Freiheit des menschlichen Subjekts, auch diejenige des Absoluten gründet hier in dem Opfer des Eigenwillens, das jedoch nicht Selbstauslöschung, sondern vielmehr Selbstwerdung bedeutet. Allerdings – und dies kennzeichnet den vorderhand negativisti­ schen Zug von Schellings mittlerer Philosophie – rührt der tatsächliche Übertritt der ewigen Freiheit in das Sein und damit die »Entscheidung« gegen das bewusste Verharren in der Selbstnegation von dem uranfängli­ chen Scheitern der ersten Entscheidung her, das seither allem Seienden als Verkehrung inhäriert. Mit der ›Selbsttäuschung des Absoluten‹ hebt Schelling dabei die Figur der intelligiblen Tat – freilich nicht ohne entsprechende Verschiebungen – von der Ebene der unvordenklichen Entscheidung des Urmenschen auf diejenige des Absoluten und mutet ihr damit eine weitere Radikalisierung zu.

b) Die unvermeidliche Täuschung des Anfangs In der Freiheitsschrift präsentiert Schelling die sündentheologisch gedeu­ tete intelligible Tat als Ursache für das Böse im Menschen und in der Welt, indem er sie als unvordenkliche Tat des Urmenschen darstellt, die als unhintergehbare Faktizität allen Handlungen des Menschen inhäriert. 145 Den Begriff der Krisis bringt Schelling in Anschluss an Aristoteles (Nikomachische Ethik, 1134a) sowohl mit dem Aspekt der Ausscheidung bzw. Scheidung in Verbindung, als auch mit dem des Gerichtes (vgl. bspw. AA II,10,2, 757f.). Zum Begriff der Krisis im Zusammenhang mit der Ekstasis vgl. Kapitel II.3.7.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Mit der Figur der internen Dualität, mithilfe derer eine Differenzie­ rung »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist« (AA I,17, 129) vorgenommen wurde, hat Schelling sich dem Problem der Theodizee angenommen.146 Mit dem Grund Gottes ist zugleich eine von Gott »unabhängige Wurzel« (AA I,17, 126) der menschlichen Freiheit eingeführt, die die Möglichkeit der Selbstüberhebung des Menschen über Gott in der intelligiblen Tat liefert, ohne Gott mit der Urheberschaft für das Böse in der Welt zu belasten. Die Pointe des internen Dualismus liegt darin, dass Schelling damit zugleich der Gefahr eines manichäischen Dualismus entgeht. Zunächst deshalb, weil er das Prinzip des Grundes als Individuationsprinzip nicht etwa als das Böse im Sinne einer Gegenkraft zum Guten in Gott versteht. Das Böse entsteht ausschließlich durch das Losreißen des Individuati­ onsprinzips vom Universalprinzip im Eigenwillen des Menschen und durch die damit einhergehende Verkehrung des Verhältnisses von Grund und Existierendem. Des Weiteren ist es gerade der Charakter des internen Dualismus, dass er »zugleich eine Einheit zuläßt« (AA I,17, 130, Anm.). Diese führt Schelling ein, indem er am »höchsten Punkt der ganzen Untersuchung« »vor allem Grund und vor allem Existierenden, also überhaupt vor aller Dualität« (AA I,17, 170) ein Wesen annimmt, das er mit dem böhmeschen Begriff des ›Ungrundes‹ benennt.147 Die große Frage, die hierbei entsteht, und der Schelling sich mit seinem Weltalter-Projekt widmet, ist, wie es zu dem unmittelbaren Vgl. zur Frage der Theodizee im Denken Schellings die hervorragende Studie von Hermanni. Dort zeigt Hermanni, dass Schelling mit der Figur der internen Dualität einen vielversprechenden Lösungsansatz für die Theodizee-Problematik anbietet, der – so die Auffassung Hermannis – gleichwohl scheitert, da Schelling mit der unscharfen Verqui­ ckung der von Kant aufgegriffenen transzendentalen Tat, die Schelling in Anlehnung an Fichte prinzipiiert und zugleich die Tathandlung Fichtes moralisiert, indem er ihr trotz ihres vorreflexiven Charakters Zurechenbarkeit abverlangt (vgl. Hermanni 2007, 247– 261). Lore Hühn hat, m.E. zurecht, die These stark gemacht, dass Schelling in den Erlanger Vorlesungen mit der ›Ekstase des Ich‹ die in der Freiheitsschrift lediglich angedeutete Mög­ lichkeit einer Transmutation mindestens das Problem der Unhintergehbarkeit der intel­ ligiblen Tat hintergeht, indem diese »vor dem Hintergrund einer vorweltlichen Vergan­ genheit noch einmal (rück-) gegründet wird« und zugleich einen, wenn auch prekären und momenthaften, Ausweg aus dem Verkehrungszusammenhang aufweist (vgl. Hühn 1998, Anm. 49). 147 Das Problem des zweiten Prinzips wird Schelling damit jedoch nicht ganz los: Wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, muss Schelling in der Weltalter-Philosophie ein außer der Lauterkeit der ewigen Freiheit stehendes Gesetz annehmen, um das Heraustreten derselben aus der indifferenten Einheit erklären zu können, ohne das Absolute selbst mit dem Problem des Bösen zu belasten. 146

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

»Hervorbrechen« der beiden gleichursprünglichen Prinzipien (Grund und Existierendes) aus dem Weder-Noch der Indifferenz des Ungrundes kommen konnte (vgl. AA I,17, 171). Dabei kommt er nicht umhin, die Unhintergehbarkeit der intelligiblen Tat in dem ursprünglichen Übergang von der Lauterkeit der indifferenten Einheit zur ersten Tren­ nung der Prinzipien rückzugründen, dadurch das Misslingen des ersten Gebrauchs der Freiheit nicht allein dem Menschen anzulasten, sondern in erster Instanz im Heraustreten des Absoluten zu verorten und damit erst die Bedingung der Möglichkeit für den Sündenfall zu schaffen.148 Hier findet Schelling das Urbild für den Sündenfall, den er in Erlangen lediglich als »Wiederholung« des früheren »Falls« in Gott auffasst.149 Dass Schelling dabei mit der Einführung des »Gesetzes der Freiheit« wie­ derum ein zweites Prinzip einführt, das außerhalb der ewigen Lauterkeit der Freiheit dieser den Anstoß zum Übergang in die Differenz liefert, beglaubigt einmal mehr die philosophische Erklärungsnot angesichts dieses Übergangs. Nach dem ersten – problematischen – Schritt der Einführung des »Gesetzes der Freiheit«, die zuallererst die Möglichkeit zur Selbster­ kenntnis und damit zur Entscheidung schafft, muss Schelling in einem zweiten Schritt den tatsächlichen Übertritt in das Sein begründen. Denn wenn, wie zuvor gezeigt, die ewige Freiheit in Schellings Systementwurf über die Möglichkeit der freien Entscheidung verfügt, sich ins Sein zu begeben und dadurch sich selbst zu verlieren oder aber in der Verleugnung des Seins in sich selbst zu verbleiben, warum und wie – so die von Schelling in einem nächsten Schritt aufgeworfenen Fragen – konnte es zum Heraustreten der ewigen Freiheit kommen?

148 Vgl. Egloff 2016, 160. Insofern ist sowohl Hermanni als auch Habermas in gewissem Sinne zu widersprechen, wenn sie behaupten, die Weltalter und die Erlanger Vorlesungen kämen nicht zu der systematischen Stelle, an der der Fall überhaupt eintritt, da sie sich zunächst mit der »Vergangenheit«, also der Theogonie, Kosmogonie und Menschwerdung vor dem eigentlichen Sündenfall befassten (vgl. Hermanni 2007, 32f. sowie Habermas 1988, 188). Indem Schelling hier allerdings gerade die »geschichtlichen« Voraussetzungen für die intelligible Tat des Menschen näher untersucht, die in der Freiheitsschrift unterbelichtet bleiben, schreibt er die Figur der tragischen Verfehlung der Freiheit in der ersten Tat in das Absolute selbst ein – gleichsam als Urbild des Sündenfalls. 149 Vgl. AA II,10,1, 506: »Es verhält sich damit [mit der ursprünglichen Täuschung der Lauterkeit und ihrem Heraustreten aus sich selbst, J. H.] gerade, wie nach der Schrift mit dem ersten Menschen – wie denn überhaupt die späteren Ereignisse und Verhältnisse nur Wiederholungen viel früherer und älterer sind – so daß allerdings das eine das andre erläutern kann.«

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Hinsichtlich der Frage nach dem Warum führt Schelling drei Gründe an: Erstens wäre die Entscheidung für das Verbleiben im Inneren letzten Endes nur auf der Grundlage einer fortwährenden Selbstverleug­ nung möglich, die wie ein Gift oder ein Stachel im Organismus besser zu überwinden als im Inneren zu halten ist (vgl. AA II,10,1, 439f.).150 Zweitens sei mit dem Heraustreten eine größere Entfaltung des Lebens möglich, denn in der Innerlichkeit der ewigen Freiheit könnten sich die Potenzen nicht in dem Grade verherrlichen, wie sie es nach dem Heraustreten der ewigen Freiheit aus sich selbst vermögen. Die Freiheit selbst könne damit einen Aspekt (nämlich das Sein) von sich ausleben, der ihr sonst für immer verwehrt bliebe. Wenn sie diesen in einem zweiten Schritt zu überwinden in der Lage sei, habe sie nicht nur eine, sondern beide in ihrer Natur liegenden Möglichkeiten verwirklicht, d.h. sich vollständiger offenbart (vgl. AA II,10,1, 475). Drittens sei die wirkliche, also die bewusste und aktuale Freiheit das Höchste, was sein soll (AA II,10,1, 476). Mit diesen »Erklärungen« setzt sich Schelling freilich der Gefahr aus, eine Teleologisierung der ersten Verfehlung der Freiheit und damit eine Entschärfung und Verharmlosung des Übels vorzunehmen, die Hermanni zufolge in der Freiheitsschrift hinsichtlich der intelligiblen Tat erfolgreich vermieden wurde.151 Dieses Problems scheint sich Schelling durchaus bewusst zu sein, denn er argumentiert, dass zwar Gründe für das Heraustreten aus der Lauterkeit der ewigen Freiheit angegeben werden können, die post festum die Sinnhaftigkeit des Geschehens durch einen »allgemeinsten und höchsten Standpunkt« (AA II,10,1, 487) erhellen. Damit sei aber mitnichten das Faktum der Entscheidung selbst erklärt, die – und das ist der entscheidende Punkt – nicht notwendiger­ weise zugunsten des Seins hätte ausfallen müssen. Denn mit dem Über­ gang vom Seinkönnenden ins Sein als freier Tat sei der Boden »alle[r]

150 Vgl. auch folgende Passage aus der fünfundzwanzigsten Vorlesung: »[…] es ziemt sich aber nicht, das bey irgend Etwas die Gewalt sey, das Seyn der ewigen Freiheit zu negiren – diese Gewalt muß ihm genommen – dieser Stachel des Todes oder wie es im griechischen heißt dieses κεντρον – muß gebrochen werden – Allein diese Gewalt ist ihm nur zu nehmen, wenn es sie wirklich äußert – bleibt es in der Tiefe, in dem Centrum verborgen, so kann ihm nichts etwas anhaben – es muß also dazu gebracht werden wirklich hervorzutreten, nicht damit es hervorgetreten bleibe, sondern daß es überwunden und ihm jene Kraft auf ewig genommen werde« (AA II,10,1, 439f.). 151 Vgl. Hermanni 2007, 240–246.

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Deduktion« (AA II,10,1, 451)152 und damit aller begrifflich-dialektischen Erklärungsweise verlassen.153 Wie denkt Schelling nun aber den tatsächlichen Hergang des Übertritts? In der Forderung zur Selbstverleugnung, die der ewigen Freiheit in dem Imperativ »Begehre nicht des Seins!« entgegentritt, liegt Schelling zufolge zugleich die Tragik der Verfehlung dieser Forderung begründet. Indem nämlich die ewige Freiheit diese Forderung vernimmt, wird sie unwillkürlich aus ihrer Vorbewusstheit gerissen und trennt sich ideell (noch nicht realiter) von ihrem zuvor in der Lauterkeit aufgegangenen Willen, der sich im selben Moment als ein des Seins Ermangelnder in seiner Nacktheit und Leere erkennt. Zugleich entsteht dem Willen damit das Bild seines Seins als eine Imagination, die ihm seine mögliche Allmacht vorspiegelt und die Lust am Sein weckt. Den Begriff der ›Imagination‹ hatte Schelling bereits in der Freiheitsschrift – mit dem sprechenden Prädikat »falsch« – verwendet und auch dort mit der Verführung und illusorischen Vorspiegelung der eigenen Macht gegenüber Gott in Verbindung gebracht und damit, wie in Erlangen, direkt auf das Motiv des Sündenfalls angespielt (vgl. AA I,17, 156f.).154 Indem der Wille in der durch die täuschende Illusion seiner All­ macht entstandenen Hybris sich des Seins bemächtigt, verliert er zugleich seine lautere Macht und findet sich in dem unentrinnbaren Verkehrungs­ zusammenhang des Seins wieder (vgl. AA II,10,1, 496f.).155 Mit Verweis auf den Paulusbrief macht Schelling deutlich, dass ein Anfang nur zu denken ist durch eine Täuschung oder einen Selbstbetrug – ein Zusammenhang, dessen geheime Überlieferung in den Mysterien des Altertums gepflegt worden sei (vgl. AA II,10,1, 507f.).156 Insofern die Tat auf einer notwendigen Täuschung beruhe, sei sie nur durch den Mittelbegriff der Unwillkürlichkeit fassbar, der jenseits der 152 Vgl. hierzu die analoge Argumentation im Fragment zur Strukturtheorie des Absoluten, hg. v. Loer, 34f. 153 Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn Schelling an dieser Stelle selbst auf die christlich-mythologische Figur des Sündenfalls zurückgreift, sich also von der begrifflichdialektischen Erklärungsweise auf eine bildlich-mythologische verlegt. 154 Mit dem Begriff der »falschen Imagination« verweist Schelling mit einer eigenwilligen Übersetzung auf den Ausdruck λογισμός νόϑος aus Platons Timaios, den er allerdings im Sinne der von Böhme und Oetinger verwendeten Bedeutung der Imagination im Zusam­ menhang mit dem Sündenfall verwendet. Vgl. die Meiner-Ausgabe der Freiheitsschrift, Anmerkung Nr. 269. 155 Vgl. hierzu auch Hühn 1994, 215f. 156 Vgl. auch die Aussage, »dass nichts ohne Verleitung, nicht ohne eine Art von Täu­ schung oder Überlistung – Anfang seyn kann« (AA II,10,1, 511).

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Dualität von Freiheit und Notwendigkeit ansetzt.157 Hier heißt es unter Verweis auf den Begriff des Schicksals: Nicht das er durch irgend eine blinde Nothwendigkeit getrieben oder gezwungen war zu wollen – doch schwebte über ihm eine Art von Verhäng­ nis. Denn vorzüglich über diesem ersten Geschehen waltet das Schicksal. Nicht diejenige Nothwendigkeit ist schicksalmäßig welche die Freyheit aufhebt – denn vielmehr nur für freye Wesen gibt es ein Schicksal – nicht diejenige Nothwendigkeit die sie aufhebt sondern die sie voraussetzt, und nicht sowohl in der Vernichtung als in der Verleitung, Verstrickung derselben besteht. (AA II,10,1, 510)158

Das tragische Verhängnis dieser Tat zeigt sich darin, dass sie erst mit der eingetretenen Verstrickung als solche erkannt wird.159 Das eigentliche Ausmaß der Tat wird erst nach ihrem Vollzug ersichtlich. Insofern greifen die Erlanger Vorlesungen auf das Motiv der intelligiblen Tat zurück, wie es in der Freiheitsschrift in kantischer Überbietung erstmals herausgestellt wurde, um es zugleich in seinem Vollzug auszudifferenzieren in die Momente der Forderung zur Selbstverneinung, die notwendigerweise eine Selbsterkenntnis und die Sehnsucht nach dem Sein auf den Plan ruft. Damit weist Schelling auf, wie aus der ursprünglichen Entzweiung der Lauterkeit in das Können und das Sein beide gleichursprünglich aus dieser ersten Tat hervortreten, und so der Anfang ins Werk gesetzt ist. Im Ergebnis dieses ersten Anfangs findet sich die ewige Freiheit nun allerdings unwillkürlich vor in dem zirkulären Verstrickungszusammen­ hang, in dem sie sich beständig durch ihr Wollen selbst zunichtemacht (vgl. AA II,10,1, 436).160 Die durch die unablässige Bewegung der ewigen 157 In den Stuttgarter Privatvorlesungen macht Schelling deutlich, dass gerade für Hand­ lungen dieser Art kein Grund angegeben werden kann: »Aber jede Handlung, die aus absoluter Freyheit kommt, hat wieder etwas Nothwendiges in sich, denn von einer absolut freyen Handlung läßt sich durchaus kein Grund angeben, sie ist, weil sie so ist, wie sie ist absolut, schlechthin, und darum nothwendig […]« (AA II,8, 87). 158 Auch in der Freiheitsschrift ist die intelligible Tat weder als frei-bewusste Tat noch als notwendige Tat gedacht, wenn Schelling sie mit dem paradoxalen Ausdruck der »blinden Wahl« markiert (vgl. SW VII, 374). Für Hermanni scheitert der Theodizee-Versuch Schel­ lings genau an dieser Stelle, da die unbewusste Entscheidung der Zurechnungsfähigkeit ermangele (vgl. Hermanni 2007, 257). Nimmt man jedoch Schellings Anspruch ernst, für die intelligible Tat einen Modus zu reklamieren, der nicht zwischen den Alternativen von Freiheit und Notwendigkeit, von bewusst und unbewusst ausgespielt werden kann, so ist dieses Verdikt abermals zu prüfen. 159 Vgl. hierzu auch Egloff 2016, 140‒142. 160 Vgl. zu dem nie endenden Streit zwischen Ursprung und Geschichte dergestalt, »dass die Geschichte zum Austragungsort eines unauflösbaren Widerspruchs zwischen dem

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Freiheit begründete Entzogenheit derselben für das erkennende Subjekt entpuppt sich hier als eigentlicher Modus der Verkehrung.161

c) Der ewige Zirkel der Freiheit Nicht nur hinsichtlich der Figur der intelligiblen Tat, die in der unver­ meidlichen Täuschung ihre Urform findet, sondern auch bezüglich des »ewigen Zirkels« kennt Schelling mehrere in unterschiedlichen Stadien der kosmogonischen Entwicklung auftretende ›Versionen‹. Der aus der Täuschung des ersten Anfangs sich ergebende Zirkel ist gleichsam die Urform, die auf der Ebene des Vorweltlichen sich abspielt und – ebenso wie seine innerweltlichen Folgeformen – nur durch Selbstaufgabe gesprengt werden kann. Indem der Wille der ewigen Freiheit sein Heraustreten aus dem Zentrum tatsächlich anerkennt, seine innerhalb des ewigen Zirkels nie zu realisierende Macht verneint und sich selbst als Wille aufgibt, erfolgt die Lösung des Zirkels. Nur so kann die ursprüng­ liche Zweiung real und damit das Heraustreten der ursprünglichen Lauterkeit der ewigen Freiheit in die Wirklichkeit der Schöpfung als Uni-versio manifest werden (vgl. AA II,10,1, 528).162 Diese Manifestation ist insofern der einzige Ausweg aus dem ewigen Zirkel, da nur die faktisch gewordene Universio als Ausgangspunkt einer Conversio und damit einer Wiederherstellung der ewigen Freiheit dienen kann (vgl. AA II,10,1, 540, 572f.). Wiederum konstruiert Schelling ein Geschehen von paradoxaler Wechselwirkung, um den komplexen Aufbruch des rotatorischen Zirkels und das Realwerden der Verkehrung jenseits eines einseitig-kausalen Wirkzusammenhanges zu plausibilisieren. Die Schwierigkeit liegt darin, die Scheidung einerseits als eine freiwillige zu profilieren, denn wäre sie notwendig, so ließe sich die Freiheitsfundierung der Schöpfung nicht rechtfertigen. Andererseits ist die Scheidung nur möglich in Anbetracht einer außer dem Zirkel liegenden Macht, da aus dem notwendigen Umtrieb selbst keine Freiheit entstehen kann. Da es unmöglich ist, dass irgendein Leben sich selbst aufgibt (vgl. AA II,10,1, 522), die rotatorische Bewegung aber nur durch Selbst­ wird, was ursprünglich gewollt und in diesem Wollen zugleich verfehlt und verstellt wird« (Hühn 2012b, 32). 161 Vgl. Hühn 1998, 64. 162 Vgl. zum Motiv der Universio in der Spätphilosophie auch SW X, 311 sowie SW XII, 90f. u. 601f.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

zurücknahme bewirkt werden könne, löst Schelling diesen Widerspruch durch ein Wechselgeschehen zwischen der sich steigernden »Angst« (AA II,10,1, 522),163 die aus der Ausweglosigkeit des Zirkels entsteht und ihrem Bezug zu der von aller Entwicklung unbenommenen Lauterkeit (A0): Die beständig zunehmende Angst mündet in einer Todessehnsucht, die allerdings in dem ersehnten Tod keine Erfüllung finden kann, denn damit ginge das ganze Leben zugrunde, ohne das Sollen der ewigen Freiheit verwirklicht zu haben (vgl. AA II,10,1, 522). Gleichwohl werde schon durch die Geneigtheit, sich selbst aufzugeben, die Massivität des ewigen Zirkels gemildert. Allein durch die Intention einer Selbstzurücknahme entsteht eine Öffnung zu »dem Höheren«, d.h. dem willenlosen Willen. Diese Öffnung ihrerseits führe zu einer immer größeren Annäherung zwischen dem im Verstrickungszusammenhang sich verfehlenden Willen und seinem Ursprung und Ziel, dem lauteren Willen. So komme der sich verfehlende Wille letztlich dazu »sich selbst zersprengend – sich […] zu öffnen« gegenüber dem Höheren (AA II,10,1, 522).164 Mit dieser ›Sprengung‹ markiert Schelling den ›zweiten Anfang‹, die eigentliche Schöpfung der Welt, bei dem erstmals die anfängliche – von Schelling noch als geistig bezeichnete – Natur entstehe durch das »Ersinken« (AA II,10,1, 521) des als Grund der Existenz des wahren Absoluten sich hingebenden Willens (vgl. AA II,10,1, 526). Zwei diskursstrategische Ziele sucht Schelling mit der Wechselbe­ züglichkeit von Todessehnsucht und Hinwendung zum ›Höheren‹ zu erreichen: Zum einen will er den Begriff des realen Werdens von der Lauterkeit fernhalten. Er betont, dass gerade durch das ursprüngliche Heraustreten des Willens in der ursprünglichen Täuschung die in der Potentialität der Lauterkeit latent vorhandene Dynamik des Werdens des Absoluten real geworden ist, ohne die Absolutheit der Lauterkeit selbst anzutasten. Denn in der ursprünglichen Täuschung scheiden sich zwar der Wille und das Sein, die zuvor unbewusst und damit ineinander verschränkt in der Lauterkeit lebten, die ewige Freiheit selbst aber in ihrem ursprünglichen Potenzzustand (A0) als uranfängliche Lauterkeit bliebe davon unbetroffen. Nicht Gott selbst sei ein Werdender, sondern er werde etwas, dadurch dass ein Aspekt seiner selbst aus ihm heraustritt

Auch in der Freiheitsschrift spielt das Motiv der Angst eine wichtige Rolle in dem Übergang vom ewigen Zirkel zum Heraustreten aus demselben (vgl. AA I,17, 149). 164 Vgl. hierzu auch WA I, 57.

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und außer ihm seiend wird.165 Vor dem Hintergrund aber grenzt sich Schelling von einem Spinozismus ab, bei dem Gott als schlechthin Absolutes begriffen werde und damit das Endliche einschließe. Wie bereits in der Freiheitsschrift durch die interne Dualität von Grund und Existierendem in Gott, wird auch hier das Wirklich-Werden Gottes nicht in schlechthinniger Identität, sondern in Relation zu dem Endlich-Wer­ den der Natur begriffen (vgl. AA II,10,1, 533).166 Des Weiteren distanziert sich Schelling mit seinem Systementwurf explizit von der Emanationslehre (vgl. AA II,10,1, 534).167 Es ist hier nicht die Präsenz der Überfülle des Absoluten, die dasselbe ohne Eigen­ tätigkeit aus sich herausgehen lässt, sondern die willensparadigmatisch gefasste Potenzialität des Überseienden, das durch seine Entzogenheit die Dynamik des Absoluten in potentia enthält. Denn, so Schelling, »[a]lle Entwickelung setzt Einwickelung voraus. Überall nur in der Anziehung liegt der Anfang, die attrahierende Kraft ist die eigentliche Original- und Wurzelkraft alles Lebens. […]« (AA II,10,1, 558).168 Als Referenzpunkt kann hier, wie in der Forschung mehrfach aufgewiesen, die kabbalistische

165 Vgl. AA II,10,1, 531f.: »Denn nicht das was Gott ist, hat ein anderes zu werden, wohl aber das was ihm bis jetzt gleich ist, mit der Möglichkeit jedoch ihm ungleich zu werden, denn Gott kann nicht seyn gegen das ihm Gleiche sondern nur gegen das ihm Ungleiche. Dieses also muß sich ihm erst ungleich gemacht haben, ein andres geworden seyn, damit Gott als solcher sey. Nun es ihm ungleich geworden, ist Gott als solcher seyend aber nicht durch einen Übergang vom Nichtseyn zum Seyn in ihm selbst – nicht das er in sich selbst ein Seyendes wird – Gott bleibt in sich selbst ewige Freyheit von allem Seyn – nicht dadurch also das Freiheit selbst – sondern daß das was zuvor Nichts und insofern ihm gleich war Etwas wird. Dieses erst macht durch sein Anderswerden den Unterschied zwischen sich und Gott. Dadurch aber wird nicht Gott selbst ein andrer, es wird vorausgesetzt, daß er als der, der er immer schon war, auch wirklich sey. Nicht das, was stehen bleibt als A0 ist ein andres geworden, sondern umgekehrt das was jetzt (A = B) ist hat aufgehört A0 zu seyn.« 166 Als weitere Abgrenzung zum Spinozismus gibt Schelling in den Weltaltern die Kon­ zeption der Potenzenlehre an. Dort heißt es in würdigender und zugleich kritisierender Art: »Spinoza kennt jenes mächtige Gleichgewicht der Urkräfte, die er als ausgedehnte (also doch wohl ursprünglich zusammenziehende?) und denkende (doch wohl des Gegensatzes wegen ausdehnende, ausbreitende?) Urkraft einander entgegensetzt. Aber er kennt auch nur diesen Moment existenzieller Gleichheit. Ob er bey dieser eine Unterord­ nung der einen unter die andre der Natur oder dem Wesen nach annimmt, ist wenigstens zweifelhaft. Haben diejenigen, welche uns eine solche Gleichsetzung zugeschrieben, denn nicht einmal den Begriff der Potenz bemerkt, der unsrer Ansicht eigenthümlich ist und schon allein hinreiche, sie von der spinozischen gänzlich zu unterscheiden?« (WA I, 45). 167 Vgl. zur Kritik an der Emanationslehre auch WA I, 88f. 168 Vgl. WA I, 21f., WA II, 140.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Lehre des ›Zimzum‹ gelten, die in der Selbstzurücknahme des Absoluten den Anfangspunkt der Schöpfung sieht.169 Auch in der Konzeption des ›zweiten Anfangs‹ lässt sich also das Motiv der Selbstzurücknahme ausmachen, die als Zurücknahme zugleich produktiven Charakter hat, und damit strukturell grundlegend ist für die ›aktive Passivität‹. Es ist die paradoxale Konstellation einer aktiven Zurücknahme des Eigenwillens, die Raum lässt für die Manifestation bzw. Ausfaltung einer im Keim, d.h. als Potenz, vorliegenden Kraft. Bezogen auf die Erlanger Prinzipienspekulation bedeutet dies, dass der im ewigen Zirkel sich selbst verfehlende Eigenwille, der durch die Täuschung der ersten Tat aus der ursprünglichen Lauterkeit herausge­ treten ist, erst durch seine innere Selbstüberwindung eine Sprengung des Zirkels erwirkt. Diese Sprengung bedeutet zugleich eine wirkliche Entzweiung des Eigenwillens, der sich aufgibt und damit als Grund der Existenz des Absoluten bzw. als Natur hingibt, und der Lauterkeit des Absoluten, die dadurch erhöht, bzw. transzendent wird. Den gesamten Vorgang bezeichnet Schelling als Uni-versio, denn das, was zuvor im Zentrum war, ist jetzt peripherisch und umgekehrt (vgl. AA II,10,1, 529f.). Damit ist die gesamte Schöpfung als notwendig-freier (d.h. »unwill­ kürlicher«) Verkehrungszusammenhang dargestellt. Der notwendige Zirkel der Selbstverfehlung markiert den tragischen Zug des mittleren Schelling. Es ist ein Zirkel, in den die gesamte Schöpfung in einer »unauf­ hörlich sich selbst verzehrende[n] und wiedergebärende[n] Leben« (AA II,10,1, 519)170 befangen ist – Ausgangspunkt für den ursprünglichen Streit, der sich auch im Widerstreit der Systeme manifestiert.

169 Vgl. Schulte 1994. ›Zimzum‹ bezeichnet die Selbstzusammenziehung Gottes, Gottes Contraktion von sich selbst in sich selbst. Vgl. Christian Knorr von Rosenroth 1684, 70f.: »Contraxerit […] se a se ipso in se ipsum.« Die Konzeption geht ursprünglich auf die lurianische Kabbala zurück. Nach Schultes Einschätzung hat Schelling die Kabbala selbst vermutlich nie studiert, ist aber über die Lektüre Oetingers darauf gestoßen, der die Kabbala Denudata von Rosenroth gelesen und bei einem Rabbiner in Halle gelernt hatte. Äußerungen zum ›Zimzum‹ finden sich in Oetingers bekanntesten Werken, z.B. in der Theologia ex idea vitae deducta von 1765: »Es kann ja weder eine Manifestation noch eine Creation statt finden ohne Attraktion, was die Hebräer Zimzum nennen.« (Dt. Übersetzung Julius Hamberger 1852, 268) Für Schellings Interesse an der jüdischen Mystik zeugt auch die Tatsache, dass er sich jahrzehntelang für die finanzielle Unterstützung der Kabbala-Studien Franz Joseph Molitors beim bayrischen König eingesetzt hat (vgl. Moli­ tor 1827). Vgl. hierzu auch Schulte 1994, 101. 170 Vgl. hierzu auch das von Schelling häufig verwendete Bild des »Rades der Geburten« (WA I, 63‒65, 181). Das Motiv des Rades des Ixion verwendet Schelling bereits in

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

Das Wirklich-Werden der Verkehrung in der Trennung von Natur und Geist eröffnet allerdings zugleich die Forderung und Möglichkeit einer Umkehr, die Uni-versio fordert Conversio, denn erst in der sich selbst erkennenden ewigen Freiheit sieht Schelling den Ziel- und End­ punkt des Geschehens (vgl. AA II,10,1, 196). Dies bedeutet nichts weniger, als dass dem Menschen als höchstem Punkt in der Stufenfolge der Natur, in dem zugleich die niederste Natur und die höchste Form des Bewussts­ eins vereinigt sind (vgl. AA I,17, 134), die Aufgabe zufällt, die »völlige Wiederumwendung des Äußern in’s Innre« (AA II,10,1, 572) zu vollziehen und damit die lautere Freiheit wieder herzustellen. Mit der Schlüsselfrage der einleitenden Vorlesungen nach dem Innewerden der ewigen Freiheit zielt Schelling also auf genau diese Auf­ gabe einer Conversio, die nur vor dem Hintergrund des hier skizzierten Systementwurfes Schellings in ihrer Bedeutungstiefe verständlich wird.

4. Die Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit (VL 5) Mit dem Heraustreten der ewigen Freiheit aus der ursprünglichen Lauter­ keit durch die oben dargelegte Täuschungsfigur wurde der Hintergrund für die Forderung nach einer Wiederherstellung der Einheit von Geist und Natur und der Verwandlung des ewigen Widerstreits ersichtlich. Den Ausgangspunkt dieser Verwandlung, die sich für Schelling zunächst im Menschen zu vollziehen hat, bildet die paradoxale Fragestellung der einleitenden Vorlesungen, wie das Indefinible zu definieren wäre, zu der wir nun im Folgenden zurückkehren. Durch die Hinzunahme von Schellings Ausführungen aus dem zweiten Teil der Erlanger Vorlesungen ist zunächst folgende Vertiefung der Konzeption des Indefiniblen gewonnen: Es ist deutlich geworden, dass Schelling das Systemprinzip mit dem ursprünglichen Prinzip allen Seins gleichsetzt und es aufgrund seiner natura duplex jenseits der Dichotomie von Seiendem und Nichtseiendem verortet. Damit einher geht dessen Charakterisierung als Wille, der nichts will, als Lauterkeit und Gelas­ senheit bzw. als magische Potenzialität, die, insofern sie von Schelling noch über Gott verortet wird, mit traditionellen Gottesbegriffen nicht einzuholen ist. Damit scheitert das Denken aber notwendig an der ewigen Freiheit, die »nicht Gegenstand, sondern Terminus a quo des seiner Dissertationsschrift De malum origine (vgl. AA I,1, 123) sowie im System des transzendentalen Idealismus (AA I,9, 291).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Denkens« (AA II,10,1, 367) und insofern das »Undenkliche« (AA II,10,1, 368) bzw. »Unvordenkliche« (AA II,10,1, 287) ist.171 Diesem Scheitern ist allerdings zugleich eine notwendige Anerkennung der Unvordenk­ lichkeit als Grund des eigenen Denkens inhärent, der dem Denken immer schon vorausliegt, den »es evidentermaßen realisiert, keinesfalls aber konstituiert«.172 Wenn nun mit Blick auf die aufgeworfene Frage Schellings nach dem Erfassen des Unfasslichen in der vierten Vorlesung die ewige Freiheit in ihrer Undenklichkeit zugleich als Systemprinzip, das durch alles hindurchgeht und nichts von allem ist, charakterisiert wird, zeichnet sie sich zwar in ihrer radikalen Dynamik durch eine grundsätzliche Entzo­ genheit für das definierende Denken aus, dabei wird ihr jedoch keine absolute Transzendenz attestiert, sondern eine Mittelstellung zwischen Immanenz und Transzendenz zugesprochen, die die Frage nach ihrer Erkennbarkeit zwar paradoxal, jedoch nicht sinnlos erscheinen lässt. Nimmt man die Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit ernst, so lässt sich als Ergebnis der vorangehenden Ausführungen fest­ halten, dass 1) zur systemimmanenten Bewertung der Bedeutungstiefe des Systemverständnisses und damit der Brisanz der von Schelling vorgebrachten paradoxalen Fragestellung nach dem Definiens des Inde­ finiblen ein grundlegender Zusammenhang der geschichtlichen Expli­ 171 Hier lässt sich die Brücke schlagen zu dem besonders in der Spätphilosophie para­ digmatisch hervortretenden Begriff des Unvordenklichen. Vgl. bspw. die Ausführungen zum Begriff des Unvordenklichen in der Schrift Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie. Sicherlich lässt sich das Motiv des Unvordenklichen, trotz fehlender begrifflicher Nennung, auch in Erlangen finden – mindestens bezogen auf den Aspekt der Entzogenheit des indefiniblen Systemprinzips ist die Interpretation Alexander Bildas, der in den Erlanger Vorlesungen die Urfassung der späteren Konzeption des Unvordenklichen ausmacht, mehr als gerechtfertigt (vgl. Bilda 2016). Allerdings erfährt die Konzeption beim späten Schelling insofern eine Verschiebung, als sie dort ausschließlich für das in sich seiende Prinzip des aller Potenz zuvorkommenden actus des reinen Seins verwendet wird, der sich durch Statik und Starrheit auszeichnet (vgl. SW XIV, 344) und nur im Verein mit dem Sein-Könnenden und dem frei als Geist zwischen dem unvordenklichen Sein und dem Sein-Könnenden Schwebende als das absolut freie Wesen bezeichnet wird (vgl. SW XIV, 339), während in Erlangen die Differenzierung zwischen der ewigen Freiheit als Übersein bzw. Unvordenkliches vor aller Potenz und ihrem gleichzeitigen Hindurchgehen durch alle Potenz und Aktualität noch nicht klar getrennt und insofern noch nicht in die Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie eingetragen erscheint. In der Forschung wurde diesbezüglich vor allem auch das produktive Anknüpfen Heideggers an die Figur der Unvordenklichkeit herausgestellt: Vgl. Hühn 2012b sowie Gabriel 2010. 172 Hühn 1994, 116.

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kation des Absoluten mit der prinzipientheoretischen Ausgangsfrage der Erlanger Vorlesungen angenommen werden muss. Daraus folgt 2), dass das Verhältnis von Absolutem (Systemprinzip) und erkennendem Subjekt einerseits vor der Folie der theo- bzw. kosmogonischen Syste­ mentwurfes mit den dafür bedeutsamen Momenten der ursprünglichen Lauterkeit, der Täuschung des ersten Anfangs, des ewigen Zirkels, der Scheidung der Kräfte und des damit verbundenen Schöpfungsvorgangs zu lesen ist. Auf der anderen Seite spielt dabei die anthropologische Position Schellings eine wichtige Rolle, nach der der Mensch als oberster Punkt der Stufenfolge der Schöpfung durch sein Bewusstsein, bzw. sein »Wissen« dazu bestimmt ist, zum Schauplatz der wiedererrungenen ewigen Freiheit als sich selbst Wissender zu werden (vgl. AA II,10,1, 198). Die zugrundeliegende anthropologische Position Schellings wird erst im folgenden Kapitel auszuführen und zu interpretieren sein. Hier genügt der Verweis auf die Stellung, die Schelling dem erkennenden Subjekt im Systemganzen zuweist, um die Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit in ihrer Pointiertheit nachvollziehbar zu machen. Nach Schellings Auffassung liegt im Menschen der Austragungsort, an dem die Entscheidung zur Umkehr, und damit letztlich zum neuen Anfang einer bewussten Wiederherstellung der ursprünglichen Lauterkeit vollzogen werden kann. Die Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit wird zur exis­ tenziell-ethischen Aufgegebenheit menschlicher Bestimmung. Dadurch tritt der tragische Grundzug der Erlanger Vorlesungen hervor, der die Weltalter-Philosophie im Gesamten charakterisiert. Denn gerade diese menschliche Bestimmung muss insofern notwendig scheitern, als die ewige Freiheit, der es innezuwerden gilt, sich aller Vergegenständlichung immer schon entzieht.173 Als Objekt, in ihrem in die Schöpfung eingetre­ tenen Verkehrungszusammenhang, ist sie zwar überall präsent und zu erkennen, aber nicht als die ewige Freiheit, nicht als Subjekt, nicht wie sie an sich ist (vgl. AA II,10,1, 195). Mit der Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit in der fünften Vorlesung eröffnet Schelling insofern den Raum zunächst für die 173 Vgl. AA II,10,1, 195: »Die Frage: Wie können wir jenes absolute Subjekt, die ewige Freyheit wissen? – Gleich allgemeiner: wie kann sie überhaupt gewußt werden. Nämlich 1) Widerspruch darinn. Sie ist absolutes Subjekt – Urstand Nu(n/r) wie Gegenstand? – Unmöglich als absolutes Subjekt – denn als solches zu nichts in gegenständlichem Verhältnis, das absolut Urständliche dem nichts etwas anhaben kann, das eigentlich Trans­ scendente.«

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Diskussion über die Unzulänglichkeit verobjektivierender Erkenntnis endlicher Subjektivität. Erst in einem zweiten Schritt – thematisiert in Kapitel II.5 – wird die Frage nach dem Innewerden der ewigen Freiheit nicht bloß in ihrer negativen Funktion der Grenzbestimmung des Erken­ nens einsichtig, sondern führt zum Aufweis, unter welchen Vorausset­ zungen das menschliche Bewusstsein durch eine Überschreitung seiner Grenzen zum Ort des Aussprechens der ewigen Freiheit werden kann. Zunächst gerät aller Wunsch nach Erkenntnis der ewigen Freiheit an eine unüberwindlich scheinende Grenze, da er systematisch zugrunde richtet, was er zu erreichen sucht und damit in struktureller Parallelität zur rota­ torischen Bewegung des Absoluten vor seinem Eintritt in die Schöpfung in einen ewigen Zirkel gerät, in dem er aufgrund seiner Konstituiertheit notwendig befangen bleibt.174

5. Der ewige Zirkel der Subjektivität (VL 6–7) Aus der Grundkonstellation des Erlanger Systementwurfes ergibt sich für das erkennende Subjekt, dass es ihm aufgegeben ist, die ewige Freiheit zu suchen, die sich ihm zugleich immer schon entzieht, obwohl sie im Menschen unbewusst lebt. Besonders delikat ist dabei die Tatsache, dass auch die Wissenschaft selbst, die zur Erkenntnis der ewigen Freiheit führen soll, von der ewigen Freiheit als ihrem Prinzip zugleich notwendig ausgehen muss, über dieses aber zunächst nicht verfügt.175 Sowohl 174 Vgl. hierzu auch die pointierten Formulierungen von Lore Hühn: »Der im Wissen manifest werdende Selbstwiderspruch ist folglich kein ursprünglicher, sondern reprodu­ ziert in sich – wenn ein solcher Ausdruck erlaubt ist – einen vergangenen ›Konflikt‹. Jener verweist auf eine ontische Vergangenheit, die ihrerseits im Absoluten verankert und vom Werdensprozeß seiner Selbstverwirklichung einbehalten bleibt. Hieraus erwächst die Aufgabe, eine von Grund auf verkehrte, in der Negativität des Endlichen sich verfangen habende Wirklichkeit von einem Gesamtgeschehen her zu durchleuchten, das diese Verkehrung gleichermaßen als gemachte wie als zu überwindende in den Blick nimmt« (Hühn 1994, 201). 175 Vgl. AA II,10,1, 200: »Die Wissenschaft nicht anfangen von einem Wissen der ewigen Freyheit – dieses Wissen kann nur ein unmitttelbares seyn – und wenn dieses auch etwa in uns ist, und wir so nichts andres sind als dieses Wissen der ewigen Freiheit so ist es doch nur objektiv in uns, d. h. so daß wir es selbst nicht wissen – und eben in das Wissen dieses Wissens sollen wir erst wieder geführt werden – durch die Wissenschaft. Aber die Wissenschaft kann diß selbst nicht anders leisten, als indem sie wieder von der ewigen Freiheit ausgeht. Hier ist also ein offenbarer О. Das Resultat der Wissenschaft soll seyn – ein unmittelbares Wissen der ewigen Freyheit (ein andres ist unmöglich) – aber

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das einzelne erkennende Subjekt als auch das allgemeine System der Wissenschaft finden sich also in einem notwendigen Zirkel vor.176 Aufgrund dieses Sachverhalts kommt der endlichen Subjektivität in ihrer Grundkonstituiertheit die paradoxale Doppelbestimmung zu, nach der sie einerseits als Subjektivität nur in einem Zustand des Zweifels und der ewigen inneren, rotatorischen Unruhe – »in beständiger Spannung gegen die Freyheit«, die sie sucht und die ihr beständig entflieht – leben kann (AA II,10,1, 209). Insofern sind die Erlanger Vorlesungen eines der pointiertesten Indizien für die Umwertung der Subjektivität. Jetzt ist es nicht mehr die selbstgenügsame Macht und Durchsichtigkeit der Subjek­ tivität, die die Wissenschaft durch den obersten Grundsatz eines Ich = Ich zu begründen vermag, sondern das Subjekt findet sich zunächst vor in einem unentrinnbaren Verstrickungszusammenhang, an dem es nur verzweifeln kann. Andererseits liegt gerade in der endlichen Subjektivität die Grundlage des absoluten Bewusstseins der ewigen Freiheit unbewusst verborgen, denn Schelling findet eben im Menschen als dem höchsten Punkt der Schöpfung den Ort, an dem die ewige Freiheit sich selbst bewusst werden kann. Aus dieser inneren Spannung konstituiert sich Schellings Verständ­ nis der endlichen Subjektivität in den Erlanger Vorlesungen und schließt damit unmittelbar an folgende berühmte Formel aus der Freiheitsschrift an: »Im Menschen ist die ganze Macht des finstern Prinzips und in ebendemselben zugleich die ganze Kraft des Lichts. In ihm ist der tiefste Abgrund und der höchste Himmel, […]« (AA I,17, 134). Auch wenn in dieser Spannung und verzweifelten Dynamik der einzige Ausweg in der Selbstüberwindung endlicher Subjektivität zu liegen scheint, lässt sich vor dem Hintergrund der Doppelgesichtigkeit des Subjektbegriffes m.E. nicht einfach von einer grundsätzlichen Depotenzierung der Subjektivi­ tät beim mittleren Schelling sprechen – wird eben dieser Subjektivität um dieses Resultat zu erlangen mus sie selbst von der ewigen Freyheit ausgehen. Allein um von der ewigen Freyheit auszugehen – müßten wir sie schon wissen. Also scheint es können wir ja die Wissenschaft nicht anfangen – ohne ihr Resultat vorauszusetzen. Hier stehen wir endlich an dem Puncte, wo die Schwierigkeit offenbar ist, die uns bisher nur dunkel vorschwebte. Diese hervorzuziehen war eigentlich die Hauptabsicht der bisherigen Untersuchung.« 176 Vgl. AA II,10,1, 209: »Ebendadurch daß der Mensch die Freiheit, die er ist sich zum Objekt macht, verwandelt er sie in Nichtfreyheit und sucht sie doch als Freyheit. Er will sich ihrer als Freyheit bewußt werden und macht sie doch in eben diesem Anziehen zunichte. – Dadurch im Innern des Menschen ein Umtrieb, eine rotatorische Bewegung – überall Ausdruck der Besinnungslosigkeit – dieser innre Umtrieb der Zustand des zerreißenden Zweifels, der ewigen Unruhe.«

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doch zugleich die zentrale Bedeutung zugesprochen, Austragungsort der Entscheidung zur Umkehr zu sein. Auch der Begriff der Subjektivi­ tät wird also hier als spannungsvoller Mittelbegriff aufgefasst, der die paradoxale Gleichzeitigkeit von grundsätzlicher Unzulänglichkeit und höchster Potenzialität vereint. Wiederum in struktureller Parallelität zum Entwicklungsgang des Absoluten vor dem Eintritt in die Schöpfung liegt die Aufgabe des Subjektes nach Schellings Auffassung darin, dass es willentlich und entschieden seinen Eigenwillen aufgibt. Gerade dass der Eigenwille etwas – nämlich die ewige Freiheit – will, macht dieselbe zunichte, denn sie kann nicht als Objekt gewollt werden. Nur durch das Aufgeben des Eigenwillenskönne der Raum eröffnet werden, an dem sich die ewige Freiheit zeigen kann. Auf die Frage, wie dieses zu bewerkstelligen sei, antwortet Schelling: Nicht unmöglich daß eben jenes Selbsterkennen der ewigen Freyheit noch jetzt den Grund seines Bewusstseins ausmacht, jedoch ohne das er es selbst weiß – ohne das er theil hat an jener Erkenntnis – und das er also erst dieses Bewusstsein wiederzuerringen hat – und das Wiederringen dieses Bewusstseins erst – menschliche Philosophie ist. (AA II,10,1, 198)

Worauf Schelling zielt, ist ein wechselseitig sich konstituierendes Erkenntnisgeschehen, bei dem die Verobjektivierungsfunktion des Erkennens durchbrochen wird, indem zwei Subjekte sich wechselseitig und zugleich selbst erkennen, ohne dabei das andere Subjekt zu objekti­ vieren oder selbst objektiviert zu werden. Hier deutet sich bereits an, was mit der Figur der ›aktiven Passivität‹ einzuholen ist: Der Vollzug eines medialen Erkenntnisgeschehens, das jenseits der Dualität von Aktivität und Passivität für eine wechselseitige und konstitutive Bezogenheit von endlichem und absolutem Subjekt figuriert, ohne dabei die jeweilige Eigenständigkeit aufzuheben, also ohne eine vollkommene Wesensei­ nung.177 Nicht ohne Grund führt Schelling die Möglichkeit eines solchen Erkenntnisgeschehens im obigen Zitat im Konjunktiv ein, scheint doch zunächst der Zirkel der endlichen Subjektivität unentrinnbar. Nur in der Selbstaufgabe des Eigenwillens sieht Schelling einen Ausweg aus dem Zustand beständiger innerer Spannung. Wie diese Selbstaufgabe zu verstehen ist und welche Bedeutung sie für die Figur der ›aktiven 177 Nicht ohne Grund grenzt sich Schelling in der Weltalter-Philosophie von der bloßen Schau des Theosophismus ab. Die Berechtigung dieser Abgrenzung wird im Weiteren zu diskutieren sein (vgl. bspw. Kapitel II.4.2).

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Passivität‹ und damit für die Neukonzeption der Subjektivität hat, wird im Kapitel II.5 thematisiert. Zuvor bedarf es allerdings einer Klärung der bereits mehrfach erwähnten anthropologischen Grundüberzeugung Schellings, nach der der Mensch als ›offener Punkt der Schöpfung‹ die Spannung von Abfall und Möglichkeit zur Conversio in sich vereint und damit ein Zugleich von Ohnmacht und Macht darstellt, das für die Stellung der Subjektivität von entscheidender Bedeutung ist. Das von Schelling aufgewiesene Dilemma, vor dem sowohl der einzelne Mensch, als auch die Philosophie in ihrem Anspruch, das System κατ' ἐξοχήν aufzuweisen, stehen, bezieht sich auf den nicht zu lösenden Widerspruch zwischen der durchaus existenziell zu verstehen­ den Aufgegebenheit des Erkenntnisanspruches und der prinzipiellen Unmöglichkeit, diesen Erkenntnisanspruch mithilfe der unmittelbar gegebenen Bewusstseinsverfassung zu erfüllen. Daher rührt in Schellings Augen die Verzweiflung und Angst des Lebens, in denen der Mensch in einem ewigen Zirkel um sich selbst kreist. Allerdings – und dies ist der hoffnungsvolle Zug in Schellings mitt­ lerer Philosophie, der die Tendenz der Vorwegnahme eines modernen Nihilismus durchbricht – sieht Schelling im Menschen zugleich die Mög­ lichkeit, dass er sich selbst in seiner Gewordenheit zu überwinden und durch die Öffnung hin auf ein Höheres seine ›Neugeburt‹ vorzubereiten vermag. Nicht weniger als den Anspruch einer tiefgreifenden Conversio stellt Schelling mit den Erlanger Vorlesungen und ihrem auf die Mysterien der Alten anspielenden Titel der ›Initia‹ an seine Zuhörer.178 Im Rahmen dieses Anspruches und vor dem Hintergrund der notwendigen Wandlung der endlichen Subjektivität, deren Wille immer schon auf ein ›Etwas‹ gerichtet und sich so innerhalb des Verstrickungs­ zusammenhanges der Verobjektivierung bewegt, führt Schelling in der vierten Vorlesung die Vorbedingungen ein für eine innere Entschei­ dung zur Conversio, verstanden als Krisis-Moment, die schließlich die gesuchte Haltung der Gelassenheit des Willens herbeiführen soll. Diese Vorbedingungen ergeben sich aus Schellings Auffassung des Menschen, wie er sie im Anschluss an die Freiheitsschrift und die Stuttgarter Privatvorlesungen in der Weltalter-Philosophie expliziert und in Erlangen zur Grundlage seiner Überlegungen macht. Als Schlüsselbe­ griff dieser Auffassung kann die ›Mitwissenschaft‹ gelten, der sich aus der Tradition einer konstitutiv verstandenen Wechselbezogenheit von Makrokosmos und Mikrokosmos ergibt, wie nun zu zeigen sein wird. 178

Vgl. hierzu auch Kapitel II.1.2 dieser Arbeit.

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6. Die Mitwissenschaft des Menschen als anthropologische Grundverfasstheit (VL 5) Die ›Mitwissenschaft‹ kann als paradigmatischer Begriff für Schellings mittlere Philosophie und insbesondere für die Weltalterphilosophie gelten, wird er doch sowohl in den Weltaltern als auch in den Erlan­ ger Vorlesungen als methodischer Schlüsselbegriff für die Auffassung von Wissenschaft verwendet. Bereits in der zweiten Vorlesung hatte Schelling im Kontext der Frage, welche Ansprüche der Gegenstand der Vorlesungen – das System der Philosophie als Wissenschaft – an den Philosophierenden stelle, bemerkt, dass diese Wissenschaft dem Menschen gleichzeitig unendliche fern und unendlich nah sei.179 Dieses paradoxale Verhältnis beruht auf der seit der Antike tradierten Auffassung der analogischen Struktur von Makrokosmos und Mikrokosmos.180 Es gehe nicht darum, ein allem Menschlichen entrückten und vom »gemeinen Verstand« (AA II,10,1, 174)181 absehendes System aufzustellen, sondern »in den Tiefen des eignen Bewußtseins« den Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte des Absoluten aufzufinden. Der Mensch wird hier als »Mitwisser« der Geschichte des Universums bezeichnet (AA II,10,1, 174).182

179 Vgl. »Unendliche Ferne – über allem Menschlichen. Aber ganz nahe […]. In den Tiefen des eignen Bewußtseins« (AA II,10,1, 174). 180 Schelling verweist hier allerdings nicht auf die antiken Vorläufer dieses Gedankens, sondern auf Hamann. Damit rückt er den Gedanken bewusst in den christologischen Zusammenhang von Hamanns Deszendenztheorie. 181 Die Anmerkungen in AA verweisen an dieser Stelle mit Recht darauf, dass die Aufwertung des allgemeinen Verstandes als kritische Anspielung auf Hegel zu verstehen sein kann (vgl. AA II,10,3, 1042). Dass Schelling den allgemeinen Verstand in seiner mittleren Philosophie im Gegensatz zu den frühen Schriften deutlich aufwertet, kann darüber hinaus als ein Verweis auf seine erneute intensive Auseinandersetzung mit den Schriften Friedrich Christoph Oetingers, die für die Zeit ab Oktober 1809 verbürgt ist (vgl. Plitt II, 178‒180), gewertet werden. Nicht nur in seinem gleichnamigen Werk spricht Oetinger dem sensus communis, der sich in einer Form des »erkennenden Gefühls« zeige, eine entscheidende Bedeutung zu. Dass Schelling hier ebenfalls auf die Bedeutung des Gefühls verweist, kann – neben der Nähe zu Jacobi – ebenfalls ein Hinweis auf die Oetinger-Lektüre sein. Vgl. Oetinger 1754 und Oetinger 1852 sowie Ohly 1979, 35. Auf die Gemeinsamkeiten von Oetinger und Hamann hat bereits Piepmeier verwiesen: Piepmeier 1978, 289. 182 Vgl. zur ›Mitwissenschaft‹ Mine 1983.

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Es ist vor allem diese mittlere Schaffensphase, in der Schelling von der Frage einer »Menschlichkeit der Philosophie« angetrieben wird.183 In der Enderlein-Nachschrift heißt es in der zweiten Vorlesung unter Ver­ weis auf den seit der Antike kolportierten Gedanken der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos: Aber die Philosophie liegt uns ja ganz nahe u. die Verhältnisse des allgemeinen Lebens haben mit dem besondern die größte Aehnlichkeit; es sind ja menschliche Gesetze. […] Der Mensch ist die Welt im Kleinen und umgekehrt. (AA II,10,2, 679)184

Als Mitwisser der Kosmogenese müsse dem Menschen »eine allgemeine Conscientia zugestanden werden, weil er der Mittelpunkt dieser Bewe­ gung ist« (AA II,10,2, 679).185 Im Sinne der Mittel-Stellung des Menschen spricht Schelling im zweiten Weltalter-Druck auch von der »Mitt-Wissen­ schaft« des Menschen (WA II, 112), die einerseits in Verbindung steht mit der alttestamentarischen Auffassung des Menschen als ›imago dei‹ und höchstem Punkt in der Stufenfolge der Natur, dem die Schöpfung zur Sorge beigegeben ist, auf der anderen Seite markiert für Schelling seit der Freiheitsschrift gerade die herausragende Position des Menschen zugleich sein Herausgefallensein aus dem Zentrum und erklärt das eigenmächtige Erheben seines Eigenwillens über den Universalwillen.186 183 Im ersten Weltalter-Druck bemerkt Schelling entsprechend: »[…] je menschlicher wir alles nehmen, desto mehr können wir hoffen, uns der wirklichen Geschichte zu nähern.« (WA I, 10) Eine menschliche Ausdrucksweise bedeutet, dass sie das, was sonst in abstrakten Begriffen umschrieben werden müsste, auf anschauliche und mitvollziehbare Weise darstellt. Sie wird insofern dem wesentlichen Charakter der Erkenntnis gerecht, als sie den Leser in das Beschriebene involviert, ihn direkt anspricht, ihm eine Handreichung für den Nachvollzug bietet. So finde man beispielsweise im Alten und Neuen Testament eine Sprachform, die die »erhabensten Dinge in den klarsten und einfältigsten Worten« fasst, die dadurch dem Leser »so nahe gebracht werden, daß er über diese Nähe erschrickt« (WA I, 70). Von der Heiligen Schrift habe er »zuerst gelernt, das, zu dessen Erkenntniß ich [also Schelling, J.H.] von Jugend auf den heftigsten Trieb fühlte, endlich auf die menschlichste Weise zu suchen und die überfliegenden Gedanken auf das natürliche Maß menschlicher Begreiflichkeit zurückzubringen« (WA I, 70). 184 Vgl. auch die entsprechende Stelle im Manuskript: AA II,10,1, 174. Die Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos und die daraus sich ergebende Nähe der Philosophie zum menschlichen Leben hat zur Konsequenz, dass Schelling von einer allgemeinen Mitwissenschaft sprechen kann, die der Mensch als Mikrokosmos von der Geschichte des Universums haben kann. 185 Der Begriff der ›con-scientia‹ findet sich auch im Manuskript (vgl. AA II,10,1, 174). 186 Die Stufenfolge der Natur entsteht für Schelling in der Freiheitsschrift durch die gradweise Scheidung der Kräfte des Prinzips des Verstandes und des Prinzips des Grundes,

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Diesen widersprüchlichen Zusammenhang erhellt die berühmte Passage aus der Einleitung in die Weltalter, die hier zur Verdeutlichung in vollem Umfang zitiert wird: Dem Menschen muß ein Princip zugestanden werden, das außer und über der Welt ist; denn wie könnte er allein von allen Geschöpfen den langen Weg der Entwicklungen, von der Gegenwart an bis in die tiefste Nacht der Vergangenheit zurück verfolgen, er allein bis zum Anfang der Zeiten aufsteigen, wenn in ihm nicht ein Princip vor dem Anfang der Zeiten wäre? Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich hat die menschliche Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung. In ihr liegt die höchste Klarheit aller Dinge und nicht sowohl wissend ist sie als selber die Wissenschaft. (WA I, 4)

Durch das überweltliche Prinzip, das die Mitwissenschaft ermöglicht, ist der Mensch als Mikrokosmos aufs Innigste mit dem Makrokosmos verbunden, und zwar nicht nur mit dem Makrokosmos als Gewordenem, sondern auch mit seiner Geschichte, die zugleich die Geschichte des überweltlichen Prinzips, der ewigen Freiheit, ist. Aber – und dies verweist nun auf die durch den Fall des Men­ schen bedingte Unmöglichkeit einer unmittelbaren Erkenntnis dieses überweltlichen Prinzips –: nicht frey ist im Menschen das überweltliche Princip noch in seiner uranfanglichen Lauterkeit, sondern an ein anderes geringeres Princip gebunden. Dieses andere ist selbst ein gewordenes und darum von Natur unwissend und dunkel; und verdunkelt nothwendig auch das höhere, mit dem es verbunden ist. Es ruht in diesem die Erinnerung aller Dinge, ihrer ursprünglichen Verhältnisse, ihres Werdens, ihrer Bedeutung. Aber dieses Urbild der Dinge schläft in der Seele als ein verdunkeltes und vergessenes, wenn gleich nicht völlig ausgelöschtes Bild. Vielleicht würde es nie wieder erwachen, wenn nicht in jenem dunkeln selber die Ahndung und die Sehnsucht der Erkenntnis läge. (WA I, 4)

Die ›Mitwissenschaft‹ ist insofern eine Konzeption, die ihrerseits die paradoxale Struktur des Herausgefallenseins des Menschen widerspie­ gelt. Einerseits findet sich der Mensch als Herausgefallener im Verkeh­ rungszusammenhang der Schöpfung vor, andererseits kennzeichnet ihn ein Prinzip, das seine Einbindung in die Geschichte des Makrokosmos die jeweils ein vollkommeneres Wesen der Natur entstehen lässt. Die Erhebung »des allertiefsten Centri in Licht geschieht nur im Menschen.« Deshalb ist im Menschen »der tiefste Abgrund und der höchste Himmel« (AA I,17, 134).

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verbürgt, zugleich aber verdunkelt und unbewusst als Vergessenes im Menschen ruht. Es ist die unhintergehbare Anwesenheit des Absoluten, die sich jedoch nicht als positiv gegebene, sondern als negativ in der Verkehrung sich äußernde Instanz im Menschen darstellt. Das Motiv des Vergessens deutet einerseits auf seinen Status als ermöglichende Voraus­ setzung für den Verstrickungszusammenhang des Seienden, andererseits weist es auf die Möglichkeit der Conversio in der platonisch anmutenden Wiedererinnerung, die infolgedessen, wie im Weiteren herausgestellt, eine wesentliche Stellung in den Erlanger Vorlesungen einnehmen wird.187 Der Verweis auf die Mitwissenschaft in den Weltalter-Fragmenten verdeutlicht, warum Schelling im Erlangener Manuskript zu Beginn der fünften Vorlesung notiert, dass die hier gemeinte Mitwissenschaft nicht historisch, sondern viel inniger zu verstehen sei (vgl. AA II,10,1, 184). Die Philosophie, die nach dem Erkennen der ewigen Freiheit sucht, ist deshalb ein tiefgreifender existenzieller Vollzug, weil das zu Erkennende zutiefst verbunden ist mit dem Erkennenden, auch wenn diese Verbin­ dung zunächst nur unbewusst im Menschen vorhanden ist. Als eine solches kann sie dem Menschen jedoch nicht abgesprochen werden und nimmt somit den Status einer anthropologischen Grundverfasstheit an. Zur Verdeutlichung des Verhältnisses von Erkennendem und zu Erkennendem sowohl in seiner Gegebenheit (als Unbewusstes) als auch in seiner Aufgegebenheit (als zum Bewusstsein zu Bringendes) verweist Schelling an dieser Stelle auf den berühmten Satz bei Sextus Empiricus188 (dem simile-Prinzip des Empedokles folgend189), nach dem Gleiches nur durch Gleiches erkannt werde (vgl. AA II,10,1, 184).190 Dadurch dass Vgl. hierzu Kapitel II.5.5 sowie Hühn 1994, 213 und Egloff 2016, 181. Sextus Empiricus: Adversus mathematicos I, 302f. Auch bei Aristoteles findet sich bereits dieser Grundsatz: Metaphysik Β, 1000b5–8. Schelling selbst verwendet ihn in seiner mittleren Werkphase in den Stuttgarter Privatvorlesungen (Georgii-Nachschrift) ebenfalls als Rechtfertigung für die Frage, wie der Mensch als endliches Wesen das Absolute erkennen könne: »Aber nun 2.) wie kann der Mensch, dieses endliche beschränkte Wesen des Absoluten begreifen? Wer diesen Zweifel aufwirft, scheint vorauszusetzen, es bestehe der Mensch blos in dem endlichen Daseyn seines Wesens. Allein in dem Menschen ist ein gedoppeltes Organ, eines für diese, aber auch eines für eine unendliche Welt. Wenn Gott absolute Identität des Realen und Idealen ist, so ist er auch im Menschen Erkennendes und Erkanntes zugleich. Es ist die göttliche Idee, die in dem Menschen selbst sich darstellt.« Dem folgt der Verweis auf Sextus Empiricus (AA II,8, 75). 189 Vgl. O’Brien 1970. 190 Vgl. darüber hinaus die entsprechende Stelle in der Freiheitsschrift (AA I,17, 112). Vgl. auch die prägnante Passage aus dem ersten Weltalter-Druck: »Daher die so allgemeine Frage: wie wir denn diese Lauterkeit erkennen? Die einzige Antwort ist: werde in dir 187

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die ewige Freiheit selbst im Menschen das Erkennende von sich ist, kann sie erkannt werden (vgl. AA II,10,1, 188).191 Die ganze Bewegung der Selbsterkenntnis der ewigen Freiheit im Menschen ist zugleich ihr »Selbsterweis« und ihre »Selbstdarstellung« (AA II,10,1, 188). Hier zeigt sich abermals die wechselseitige Bezogenheit von Erkennendem und Erkanntem, die nicht in einen einfachen Dualismus von Aktivität im Erkennen und Passivität im Erkanntwerden aufzulösen ist, sondern sich vielmehr durch eine mediale Gleichzeitigkeit aktivischer und passiv­ ischer Momente auszuzeichnen scheint. Diese Gleichzeitigkeit, die an dieser Stelle noch recht dunkel bleibt, wird Schelling im weiteren Verlauf der Vorlesungen näher ausarbeiten in eine Konzeption, die dann in der Interpretation durch die Figur der ›aktiven Passivität‹ gefasst wird. Vorerst ist allerdings dem spannungsvollen Verhältnis von radikaler Entzogenheit und Ferne auf der einen Seite und innigster Bezogenheit und Nähe nachzugehen, die der ewigen Freiheit gegenüber dem Men­ schen eignet, indem als Nächstes die Frage nach dem Verhältnis der ewigen Freiheit zum menschlichen Mit-Wissen weiter vertieft wird. Dazu ist es zunächst naheliegend, Schellings spezifischen Begriff des Wissens näher zu untersuchen, den er im Kern als verkehrte ursprüngliche Weisheit fasst. Der Weisheitsbegriff spielt sowohl in den Weltaltern als auch insbesondere in Erlangen insofern eine wesentliche Rolle, als Schelling ihn in den Horizont sophiologischer Deutungen rückt und damit seine Interpretation des Systemprinzips als lebendiges Wesen zu untermauern sucht (a). Auch diese Konzeption steht im engen Verhältnis zu Schellings Auffassung der Stellung des Menschen. Weil die ursprüngliche Weisheit im Zuge des Heraustretens des Absoluten in selber eine gleiche Lauterkeit, fühle und erkennen sie in dir als das Höchste und du wirst sie unmittelbar als das absolut Höchste erkennen. Denn wie soll dem, der in sich selbst zertheilt und vielfältig ist, die höchste Einfalt Etwas werden. In Ansehung des Menschen ist freylich alle Wissenschaft Erinnerung: in Bezug auf die Ewigkeit nicht, welche nie Vergangenheit werden kann. Nur der Mensch bedarf der Befreyung, damit sein Wesen wieder frey, was es an sich ist, ein Blick der lautersten Gottheit, in welchem so wenig ein Subjekt oder ein Objekt unterschieden ist, als in ihr selber. Daher ist gerade die Erkenntnis des Höchsten die einzige ihrer Art, was Unmittelbarkeit betrifft und Innigkeit« (WA I, 29). Für die Freiheitsschrift hat Peetz auf die systematisch entscheidende Funktion des Empe­ dokles-Verweises aufmerksam gemacht, mit der sich Schelling seines Erachtens gegen die kantische Konzeption eines Dings an sich und die von Jacobi vertretene Abkoppelung des Glaubens vom Wissen stellt (vgl. Peetz 1995, 86). 191 Vgl. hierzu auch die Bemerkung in der Freiheitsschrift, dass »mit dem Gott in sich, der Gott außer sich« begriffen werden könne, der ebenfalls ein Verweis auf Sextus Empiricus folgt (AA I,17, 112).

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die Schöpfung sich in der Selbstverkehrung des Wissens verloren hat, bildet dieses Wissen zugleich den Möglichkeitsort für die Umkehrung (b). Damit ist das Wechselverhältnis von absolutem und erkennendem Subjekt aufgewiesen, das die konzeptionelle Voraussetzung für Schellings neuem Subjektivitätsbegriff in Erlangen bildet.

a) Wissen und Weisheit Es ist die Unterscheidung von Wissen und Weisheit, die die spezifische Auffassung der Mitwissenschaft besonders kennzeichnet. In diesem Zusammenhang wurde gezeigt, dass die spannungsvolle Konzeption der ›Mitwissenschaft‹ das Zugleich von abgefallenem Wissen und der Mög­ lichkeit des Anderswerden dieses Wissens vereint. Dieses Zugleich wurde zunächst begründet durch die Parallelität von Mikro- und Makrokosmos sowie, hinsichtlich der Verkehrungsstruktur, durch die Figur des Abfalls. Ein weiteres und für Schellings mittlere wie späte Philosophie bedeutsames Motiv, das im Hintergrund der ›Mitwissenschaft‹ steht, ist dasjenige der sophiologisch gedeuteten Weisheit. In den Erlanger Vorlesungen wird die ewige Freiheit gleichgesetzt mit der göttlichen Weisheit, der Hl. Sophia des Alten Testaments,192 und knüpft damit an die Tradition der Sophienmystik an, mit der Schelling vor allem durch die Schriften Jakob Böhmes und im Austausch mit Franz von Baader in Berührung gekommen war (vgl. AA II,10,1, 190):193 Vgl. Spr 8,22–30: »Der HERR hat mich gehabt im Anfang seiner Wege: ehe er etwas machte, war ich da. Ich bin eingesezt von Ewigkeit, von Anfang vor der Erden. Da die Tiefen noch nicht waren, da war ich schon bereitet: da die Brunnen noch nicht mit Wasser quollen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln war ich bereitet. Er hatte die Erde noch nicht gemacht, und was dran ist, noch die Berge des Erdbodens. Da er die Himmel bereitete, war Ich daselbst: da er die Tiefe mit seinem Ziel verfassete. Da er die Wolken droben vestete, da er vestigte die Brunnen der Tiefen; Da er dem Meer das Ziel sezete, und den Wassern, das sie nicht übergehen seinen Befehl; da er den Grund der Erden legte: Da war ich der Werkmeister bey ihm, und hatte meine Lust täglich, und spielete vor ihm allezeit.« 193 Vgl. auch: »Die ewige Freiheit aber, die er [der Mensch, J.H.] war, verdrängte er von ihrer Stelle; eben dadurch, daß er sie anziehen wollte, also sich zum Subjekt gegen sie machte, schloß er sie aus (dieß der oft erwähnte Widerspruch); darum wird die Weisheit in jenem alten morgenländischen Buch beständig vorgestellt als die ausgeschlossene – ›sie klagt auf den Gassen‹ (Prov. 1, 20), und wer sie sucht, findet sie leicht, er findet sie ›vor seiner Thür (Sapient. 6,15.) auf ihn warten‹. Beständig fordert sie den Menschen auf, jene innere Spannung aufzugeben, sich selbst und dadurch auch sie wieder, soweit es seyn kann, in Freiheit zu setzen, welches eben in jener Krisis geschieht, die wir als den Anfang der 192

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Von dieser Weisheit spricht ein altvergangenes Gedicht: Wo will man aber Weisheit finden – der Sinn ist: die Weisheit ist nichts Einzelnes – sie weilt nicht im Lande der Lebendigen denn sie bleibt überhaupt nicht, sie haucht durch alles wie der Wind. (AA II,10,1, 190)194

Die Auffassung der ewigen Freiheit als indefinibles Subjekt, das jenseits und zugleich in allem Seienden zu finden sei, schließt unmittelbar an Schellings Auslegung des »Buchs der Sprüche« an, in der die Weisheit im Anschluss an die Tradition der Pneumatologie auf den Hauch des Heiligen Geistes bezogen wird und damit einerseits ihre Dynamik, andererseits ihre Entzogenheit – »selbst Gott weiß nur den Weg zu ihr« (AA II,10,1, 190) – sowie ihre ontologisch wie gnoseologisch bedeutsame Position bezeugt. Hinsichtlich des ontologischen Status der Weisheit ist Folgendes zu bemerken: Auch wenn Schelling ihre Gleichsetzung mit der ›ewigen Freiheit‹ betont, wird sie im Hauptteil der Erlanger Vorlesungen erst nach dem Heraustreten der ewigen Freiheit aus der reinen Lauterkeit eingeführt. Sie nimmt dort eine Mittelstellung ein zwischen der absoluten Transzendenz der ewigen Freiheit als Ur-Potenz (A0) und der Schöpfung, indem sie als ›erste Natur‹ oder geistige Materie gleichsam die geistige Leiblichkeit der ewigen Freiheit bildet (vgl. AA II,10,1, 552).195 Mit den Worten der Freiheitsschrift ließe sich sagen, dass die ewige Freiheit das Prinzip der Existenz Gottes darstellt, während die Weisheit das Prinzip des Grundes verkörpert, das in der Schöpfung zur Grundlage der Materie wird. In dieser Mittelstellung fungiert die Weisheit im gnoseologischen Sinne zugleich als Brücke zum Menschen, in dem sie aufgrund des Verkehrungszusammenhangs allerdings als bloßes Wissen und insofern lediglich als Abschattung bzw. als Umkehrung der wahren Verhältnisse Philosophie, d. h. der Liebe zur Weisheit, bezeichneten« (AA II,10,2, 642). Vgl. zur Figur der Hl. Sophia in den Schriften Jakob Böhmes: Böhme, J.: De electione gratiae. Oder: Theosophiae revelatae tom. II. 194 Bereits in der Freiheitsschrift und in den Weltaltern rekurriert Schelling mit dem Begriff der Weisheit auf das Alte Testament (vgl. AA I,17, 138, 164, 178; WA I, 30). 195 Das Motiv der Geistleiblichkeit hatte Schelling bereits in der Clara sowie in den Stuttgarter Privatvorlesungen intensiv beschäftigt (vgl. SW IX, 53f. sowie AA II,8, 172, 178). Im selben Kontext steht der Begriff der geistigen Materie bei Schelling, der als Ursprung der physischen Materie zu gelten hat. Die erneute Vergeistigung der physischen Materie wird in den Weltaltern als Ziel der Weltentwicklung dargestellt. Vgl. WA IV, 275: »Auch dieser feste Bau der Welt wird sich einst auflösen ins Geistige; aber nur diese äußere Form zerfällt, die innre Kraft und Wesenheit besteht, um in neuer Verklärung offenbar zu werden.« Vgl. zur Sophiologie bei Schelling auch Stahl 2019, 528–542.

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anwesend ist. Während das menschliche Wissen verobjektivierend, d.h. »etwas anziehend« und bloß theoretisch sei, ist die Weisheit »Wissen, das zugleich Wesen, Macht, practisch ist« (AA II,10,1, 190). Obwohl also dem Menschen seit dem Sündenfall keine wirkende Weisheit mehr zukomme, sondern nur ein Wissen, das lediglich die ideale Wiederholung des realen Schöpfungsprozesses der wirkenden Weisheit zu realisieren vermag, sieht Schelling im menschlichen Wissen den »offene[n] Punkt« (AA II,10,1, 191), in dem sich die Weisheit suchen und finden kann. In diesem Wissen sucht der Mensch die Weisheit, die sich zugleich in ihm selbst sucht.196 Durch die Übergangsfigur der Weisheit einerseits als Aspekt des Absoluten, andererseits als dem menschlichen Wissen inhärente – wenn auch verkehrte – geistige Tiefenstruktur, ist der Begriff der Mitwissen­ schaft direkt an die Frage nach der Erkennbarkeit der ewigen Freiheit als Systemprinzip angebunden. Da dieses Erkennen zugleich ein Selbst­ erkennen der ewigen Freiheit als Weisheit und damit eine Transformation des menschlichen Wissens zur Weisheit darstellt, kann das daraus sich ergebende gewandelte Erkennen nicht mehr bloß subjektiv hervorge­ bracht werden. Die Untersuchung der von Schelling dargestellten Entste­ hung des gewandelten Erkennens aus dem komplexen Wechselverhältnis von erkennendem Subjekt und ewiger Freiheit, wird Thema der folgen­ den Kapitel sein. Zunächst ist allerdings das Motiv des ›offenen Punktes‹ näher zu untersuchen. Mit diesem Motiv will Schelling offensichtlich denjenigen Punkt markieren, an dem prinzipiell das Potential für eine Verwandlung angelegt wurde und der insofern von entscheidender Bedeutung ist, als sich Schelling innerhalb der Verkehrungsstruktur des Universums einen Ausweg offenhalten muss, will er die Möglichkeit einer Transfor­ mation überhaupt plausibilisieren. Ohne einen solchen Ausweg wäre der Universalisierung des Bösen und damit dem Nihilismus nichts entgegen­ zusetzen.

196 Vgl. auch: »Nun aber im Menschen nicht mehr diese Weisheit – kein objektives Hervorbringen – bloß ideales Nachbilden nicht der magische Beweger aller Dinge – in ihm nur noch Wissen. Aber in diesem Wissen sucht er die ewige Freyheit oder Weisheit. Wie aber, wenn diese nicht sich selbst in ihm suchte« (AA II,10,1, 193).

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b) Der ›offene Punkt‹ der Schöpfung Das Motiv des ›offenen Punktes‹ markiert den systematischen Ort in den Erlanger Vorlesungen, und allgemein in Schellings ›mittlerer Philosophie‹ seit der Freiheitsschrift, dem das Potenzial des Menschen zur Conversio nicht nur seiner selbst, sondern stellvertretend auch zur Conversio der gesamten Schöpfung innewohnt.197 Schelling verwendet das Motiv erst­ mals in der Freiheitsschrift in einem Zitat Baaders aus dessen Abhandlung Über Starres und Fliessendes, die 1808 in den Jahrbüchern der Medizin erschienen ist.198 Baader greift dort in von Jakob Böhme inspirierter Begrifflichkeit auf die alte Figur von Punkt und Umkreis zurück,199 um die Idee einer Herauswendung des Zentrums in die Peripherie, den Übertritt von der Einheit in die Vielheit als Umstülpung – oder in Schellings Worten – als »Universio« zu veranschaulichen. So wie Schelling in der Freiheitsschrift, beschreibt auch Baader die Erhebung des Eigenwillens über den Universalwillen als Ursache für die Verkehrung der Kräfte und damit letzten Endes als Ursache für Krankheit und Tod.200 Zugleich liege im Eigenwillen die Möglichkeit, sich selbst wiederum zur Basis, d.h. zum dienenden Prinzip für den Universalwillen zu machen. Diese Möglichkeit wird verdeutlicht durch das Motiv des »offenen Punktes«201 als Austragungsort der Entscheidung und damit gleichsam als ›Nadelöhr‹

197 Vgl. zur Verwendung desselben Motives beim »mittleren Schelling« AA I,17, 156; WA I, 36 sowie SW IX, 17 (Clara): »Wir haben in uns einen einzigen offnen Punkt, durch den der Himmel hereinscheint. Dieser ist unser Herz oder, richtiger zu reden, unser Gewissen.« N.b. den Begriff des Gewissens im Kontext der Mitwissenschaft als Conscientia. Vgl. zum Motiv des ›offenen Punktes‹ Heideggers »offenen Ort« in Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24, 379). 198 Baader, Werke III, 296–276. 199 Vgl. zu diesem Motiv in der Philosophiegeschichte Mahnke 1937. 200 Vgl. Baader, Werke III, 275, Anm. 2. 201 »An einer einzigen Stelle des Planentensystems ist jenes finstere Naturcentrum verschlossen, latent, und dient eben darum als Lichtträger dem Eintritt des höheren Systems (Lichteinstrahlung oder Offenbarung des sogenannten Ideellen). Eben darum ist also diese Stelle der offene Punkt (Sonne – Herz – Auge) im System – und erhübe oder öffnete sich auch dort das finstere Naturcentrum, so verschlösse sich eo ipso der Lichtpunct, anstatt des Lichts träte Finsternis ins System oder die Sonne erlösche!« (Baader, Werke III, 276, Anm.) Baader verwendet das Motiv des ›offenen Punktes‹ auch in der Schrift Begründung der Ethik durch die Physik von 1813: »Denn wirklich sollte der Mensch der offene Punkt (Gottes-Leiter) in der Schöpfung in einem noch höheren Sinne sein, als dieses die Sonne ist […]« (Baader, Werke V, 32f.).

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der Geschichte.202 Die herausragende Stellung des Menschen in der Schöpfung stellt ihn paradoxaler Weise vor die Aufgabe, sich gerade nicht zum Herrn derselben aufzuschwingen, sondern sich willentlich zu ihrem Diener zu machen.203 Anders als in der alten imago Dei-Lehre oder in Meister Eckharts Theorie des Seelenfunkens, der als göttliches Prinzip im Menschen ruht, profiliert Schelling das menschliche Wissen nicht als gegebenen göttlichen Aspekt, sondern durch dessen Verkehrungsmoment lediglich als Durchgangsort und Möglichkeitsbedingung. Erst durch einen wil­ lentlichen Entschluss zur radikalen Selbsttransformation erfährt der offene Punkt seine produktive Erfüllung. Durch die Conversio wird demnach erstmalig positiv geschaffen, was zuvor lediglich als radikaler Entzug negativ erfahren wurde. Sie ist als Entscheidung zwar nicht aus der bloß autonomen Selbstanfänglichkeit vermeintlich geschichtsloser Subjektivität zu denken, dennoch wohnt ihr die Fähigkeit zu einem Anfang inne. Im Wissen, als bloßer idealer Abspiegelung der wirkenden Weisheit des Absoluten liegt lediglich die Möglichkeit des Mitwissens verborgen. Indem das Verborgene aus seiner Gebundenheit und Hemmung an das verobjektivierende Bewusstsein befreit, also zur wirklichen Mitwissen­ schaft, d.h. zur Conscientia erhoben wird, erkennt sich der Mensch zugleich als ›offener Punkt‹, als Ort der Entscheidung zur Conversio. Erst durch eine tiefgreifende Krisis der Subjektivität wird eine willentli­ che Selbstzurücknahme des menschlichen Partikularwillens ermöglicht zugunsten einer Öffnung hin zum Universalwillen, d.h. zur ewigen Freiheit, die sich dadurch im Menschen suchen und, nach ihrem eigenen Selbstverlust, erstmalig finden kann. Die Haltung einer ›aktiven Passivi­ tät‹, die durch eine innere Entscheidung zur Aufgabe des Eigenwillens herbeigeführt wird, initiiert demnach einen Neubeginn, der auf der einen Seite die Voraussetzung der Philosophie als Wissenschaft im Sinne Schellings bildet, auf der anderen Seite die Versöhnung der – in diesem Fall kosmologisch gedachten – Natur mit dem Geist zum Ziel hat. 202 In den Stuttgarter Privatvorlesungen spricht Schelling davon, dass sich im Menschen das »sichtbare Drama« der Weltentwicklung abspielt (AA II,8, 178). 203 Auch für Baader schließt die Stellung des Menschen, expliziter als wir es bei Schelling formuliert finden, keine Herrschaft (in Abgrenzung zu Bacon, von dessen Auffassung des Menschen als eines »Chevaliers d’Industrie in der Natur« sich Baader distanziert), sondern vielmehr Verantwortung gegenüber der Kreatur ein. Indem der Mensch sich wieder dem Höheren zuwende, könne er auch die Schöpfung zu ihrer Erlösung führen (vgl. Baader, Werke V, 33).

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7. Die Krisis der Subjektivität (VL 4–7) Bis hierhin ist deutlich geworden, in welchem Ausmaß Schelling seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen mit seiner geschichtlichen Philosophie theo- und kosmogenetischer Entwicklung eng führt. Dass dies zugleich existenzielle Implikationen für das philosophierende Sub­ jekt mit sich bringt, ist bereits angedeutet worden und soll im Folgen­ den anhand einer Interpretation von Status und Bedeutung des KrisisBegriffs in den Erlanger Vorlesungen vertieft werden. Dies ist insofern geboten, als in diesem Begriff der Keim für die Forderung nach einer Selbsttransformation der Subjektivität liegt. Grundlegend lässt sich festhalten, dass die Entscheidung (Krisis)204 zur Aufgabe des Eigenwillens im Sinne einer Selbstzurücknahme der Subjektivität zuwider läuft, denn all ihr Wissen und Wollen ist zunächst darauf ausgelegt, des Seins habhaft zu werden, also in einem verobjekti­ vierenden Zugriff immer schon ›Etwas‹ zu wollen. Der Zirkel, in dem sich die Subjektivität befangen vorfindet, sobald sie die ewige Freiheit als Prinzip des wahren Systems der Philosophie fassen will, ist ausweg­ los, solange die Subjektivität den Modus der Verobjektivierung nicht durchbricht. Zugleich verfügt die Subjektivität in ihrem Wissen über den ›offenen Punkt‹, d.h. über das Potenzial zur Conversio, die allerdings nur willentlich durch eine entschiedene Selbstzurücknahme und eine völlige Umkehr der gewordenen Subjektivitätsstruktur ermöglicht wird. Einige wesentliche Hinweise zur Konzeption der Krisis als systematische Voraussetzungen der Conversio-Figur lassen sich aus den einleitenden Erlanger Vorlesungen herauslesen. Im Folgenden wird in drei Schritten verfahren, um die Bedeutungsdimensionen des Krisis-Momentes auszu­ loten: Zunächst ist erstens zu zeigen, was Schelling mit dem Motiv der Selbstzurücknahme im Blick hat. Dabei wird deutlich, dass die Selbstzu­ rücknahme gerade keine Selbstauslöschung bedeutet, sondern vielmehr eine – freilich gewandelte – Selbstwerdung nach sich zieht, die die Voraussetzung bildet für die Neukonzeption des Subjektivitätsbegriffes, hier aber lediglich in dem Kontext dargelegt werden soll, den Schelling ihm durch philosophiehistorische Verweise verleiht (a). Daraufhin ist in einem zweiten Schritt ein erneuter Blick auf die philosophisch-methodo­ logischen Konsequenzen zu werfen, die das Moment der Entscheidung 204 Schelling verwendet den Begriff der Krisis im Aristotelischen Sinne als Entscheidung, Gericht, Zäsur. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1134a.

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zur Selbstzurücknahme impliziert (b). Der spezifische Duktus von Schel­ lings Entscheidungs-Begriff zeigt sich drittens in der Art und Weise, wie dessen Möglichkeit des Scheiterns in kritischer Abgrenzung zu Jacobi und Eschenmayer expliziert wird (c).

a) Die Selbstzurücknahme der Subjektivität als Selbstwerdung (VL 4) Als erste Bedingung zur Selbstzurücknahme der Subjektivität markiert Schelling das Aufgeben aller gewordenen Ansichten und Vorstellungen. Übernommene Vorstellungen werden auch in den Weltalter-Fragmenten als hinderlich für das Erfassen der wahren Wissenschaft bewertet. Der Philosoph »müsse sich von den Begriffen und Eigenheiten seiner Zeit frey zu machen suchen« (WA I, 6),205 um zwischen dem Falschen und dem Wahren unterscheiden zu lernen.206 Solange er sich nicht von der Vergangenheit und dem Gewordenen auch seiner selbst scheidet, verharre der Mensch im Modus des Notwendigen, und erst diejenigen, »die, in immerwährender Selbstüberwindung begriffen, nicht nach dem sehen, was hinter, sondern was vor ihnen ist«, denen ihr »ganzes Seyn bloßes Werkzeug geworden ist«, können frei werden (WA I, 85). Schelling geht es also zunächst darum, alles Selbstverständliche, alle übernommenen Dogmen, alle vorgefassten Meinungen, kurz alle in der Vergangenheit gebildeten Urteile aufzugeben, ganz im Sinne Vgl. auch: »Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit! Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr. Ebenso jene, welche immer die Vergangenheit zurückwünschen, die nicht fortwollen, indeß alles vorwärts geht, und die durch ohnmächtiges Lob der vergangenen Zeiten wie durch kraftloses Schelten der Gegenwart beweisen, daß sie in dieser nicht zu wirken vermögen.« (WA I, 11) Sowie: »Der Mensch, der sich nicht scheiden kann von sich selbst, sich lossagen von allem, was ihm geworden und ihm sich thätig entgegensetzen, hat keine Vergangenheit oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr« (WA II, 119). 206 Vgl. hierzu auch eine Bemerkung Schellings in einem Brief an Atterbom: »Aber es war doch billig, einmal auch blos auf die eigne Genugthuung zu sehen, und was kann man am Ende für ein höheres Glück begehren, als nur sich ganz auszusprechen? Niemand geht so rein durch seine Zeit, daß sich ihm nicht Vieles anhängt, was seinem eigentlichen Wesen gar nicht angehört. Diese Schlacken wegzuläutern, sich von allem Fremden, Hemmenden loszumachen und so in völlige Freiheit zu setzen, ist eigentlich das Schwere, und indes das Positive meines Werks mit Leichtigkeit und gleichsam im seligsten Genusse schnell und fertig sich bildete, hat jenes negative Geschäft mich Jahre gekostet und nicht wenig Mühe« (Plitt II, 429f.). 205

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des Motivs der Reinigung oder aber des Ablegens der Kleider vor der Einweihung in die Mysterien, wie es Lore Hühn treffend benennt.207 Das Reinigungsmotiv bezieht sich allerdings, wie das obige Zitat verdeutlicht, nicht nur auf den Bereich der Vorstellungen und Urteile, sondern auch auf das erkennende Subjekt selbst. Zum Ablegen vergangenheitsbezogener Urteile und Vorstellungen gehört auch die Vorstellung meiner Selbst als gegebene Reflexivität. Schelling unterstreicht hier die nötige Scheidung vom eigenen Sein und die »immerwährende Selbstüberwindung«.208 Doch damit nicht genug: In einer weiteren Zuspitzung fordert Schelling darüber hinaus zusätzlich die Reinigung von der überkomme­ nen Gottesvorstellung: Hier folgen die radikalen Formulierungen, die bei den Zuhörern in Erlangen für Erschütterung sorgten. Schelling betont, dass es an diesem Punkt alles zu lassen gelte »– nicht bloß, wie man zu reden pflegt, Weib und Kind, sondern was nur Ist, selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seyendes« (AA II,10,2, 619).209 Vgl. Hühn 1994, 212. In einer Abgrenzung von Spinoza und Fichte verdeutlicht Schelling im Weiteren noch einmal seine Position: Weder der eine noch der andere hätten am Ende die letzte Konsequenz gezogen – obwohl Schelling ihnen jeweils zugesteht, dass sie bis zu eben jenem Punkt, an dem alles Gewordene aufzugeben ist, gelangt seien. Spinoza sei von diesem Punkt aus wieder in die Endlichkeit gesunken, indem er das Unendliche zur Substanz und damit zu etwas Totem und Statischen gemacht habe (vgl. AA II,10,2, 620). Fichte auf der anderen Seite habe »im Augenblick, da man erwartet, ihn über alles Seyende sich erheben zu sehen« sich wieder an das eigene Ich geklammert (AA II,10,2, 620). Freilich geht Schelling hier von einer sehr engen Interpretation des Ich-Begriffes bei Fichte aus, indem er das absolute Ich als Subjektivitätsstruktur endlicher Subjektivität identifiziert. Vgl. hierzu auch Hühn, 1994, 87f. sowie Henrich 1971. In den Münchner Vorlesungen von 1832/33 verweist Schelling ebenfalls auf dieses Problem: Fichte hat »zuerst die Freiheit in ihr Recht eingesetzt. Dass er diese Lehre auf das menschliche Ich beschränkte, dies war seine individuelle Schranke. Denkt man sich diese hinweg, so hat er schon verkündet, dass alles durch Freiheit sei.« (Schelling 1832/33, 182). 209 Schelling bezieht sich hier in abgewandelter Form auf Mt 19,29. Vgl. hierzu die Notizen von Platen, die die Wirkung des Gesagten verdeutlichen: »Nicht etwa, setzte er hinzu, muß man Weib und Kind verlassen, wie man zu sagen pflegt, um zur Wissenschaft zu gelangen, man muß schlechthin alles Seiende, ja – ich scheue mich nicht, es auszusprechen, man muß Gott selbst verlassen. Als er dies gesagt hatte, erfolgte eine solche Totenstille, als hätte die ganze Versammlung den Atem an sich gehalten, bis Schelling sein Wort wieder aufnahm, und sich darüber verbreitete, um nicht mißverstanden zu werden, wobei er sich wieder des bildlichen Ausdrucks der Schrift bediente: ›die alles behalten, werden alles verlieren, die alles dahingeben, werden alles gewonnen haben‹. Mir selbst fielen plötzlich bei dieser ganzen Darstellung die Worte Hamlets: ›to be or not to be, that is the question‹, mit ihrer ganzen Zentnerlast aufs Herz, und es war mir, als wäre mir zum erstenmale das wahre Verständnis derselben durch die Seele gegangen« (zitiert in AA II,10,3, 1021f.). 207

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Auch in den Weltalter-Fragmenten spielt Schelling darauf an, dass es Momente im Leben gebe, »da man Gottes entrathen und auch ohne Gott […] still und gelassen bleiben muß« (WA III, 200). Diese vor dem Hintergrund der damaligen Zeit, die Atheismus- und Pantheismusstreit noch in unmittelbarer Erinnerung hat, nahezu ketzerisch klingende Aufforderung ist dennoch nicht nur als pathetisch-provozierender Aus­ ruf, sondern vor allem als konsequenter Schritt innerhalb der Systemauf­ fassung Schellings zu beurteilen. Denn die ewige Freiheit, wie sie Schelling als absolutes Subjekt des wahren Systems vorschwebt, zeichnet sich – wie gezeigt – durch radikale Prädikatlosigkeit aus.210 Daraus folgt, dass jegliche Gottesvorstellung, die notwendigerweise prädikativ verfährt und Gott als ein ›Etwas‹ begreifen will, zu kurz greift. Nicht ohne Grund hatte Schelling die ewige Freiheit in der Tradition des Dionysius von Are­ opagita als »Uebergottheit« (AA II,10,2, 619) bezeichnet und damit ihre Prädikatlosigkeit und Unvordenklichkeit betont. Dabei bleibt Schelling allerdings weder bei der via negativa noch der via eminentiae stehen. Er verwendet die durch den Modus der Verkehrung statthabende radikale Entzogenheit des Absoluten, mit dem das erkennende Subjekt konfron­ tiert wird, als Auslöser der Krisis, in der das Subjekt auf sich selbst und seine unausweichliche Ungenügendheit zurückgeworfen wird. Dadurch wird allerdings zugleich das ungenügende Wissen als offener Punkt der Schöpfung aufgedeckt. Von dieser Grenzerfahrung der Subjektivität aus plausibilisiert Schelling die Notwendigkeit zur Conversio, wobei – so die These, die ich im Folgenden vertreten werde – durch dieselbe kein Heraustreten aus dem Verkehrungszusammenhang in eine erlösende Transzendenz möglich, sondern vielmehr eine zugleich momenthafte und überzeitliche, insofern aber höchst prekäre innerweltliche Wand­ lung der Verkehrung selbst angestrebt wird. Zur Erläuterung des Wandlungsmotivs mobilisiert Schelling im Folgenden diverse Anspielungen sowohl auf das Neue Testament als auch auf die platonische sowie mystische Tradition, die den klassischen Hintergrund für die Figur der Conversio bieten: Zunächst wird auf die in allen vier Evangelien enthaltene Stelle verwiesen, in der die Notwendigkeit des Aufgebens des endlichen Lebens zur Gewinnung des ewigen Lebens betont wird (vgl. AA II,10,2, 619).211 Damit unterstreicht Schelling die paradoxale Grundstruktur der gebote­ Vgl. Kapitel II.3.2. Vgl. Matthäus 16,25; Markus 8,35; Lukas 17,33; Johannes 12,25. Vgl. hierzu auch Hühn 1994, 204 sowie Koch 2012.

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nen Selbstzurücknahme der Subjektivität, die nur durch Verneinung des Verstrickungszusammenhanges des Endlichen zum eigentlichen, freien Leben gelange. Selbstzurücknahme bedeutet hier demnach alles andere als ein völliges Auslöschen der Subjektivität. Während Schelling in den frühen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus trotz aller Kritik an Spinozas »objektivisirte[r] intellektualer Anschauung« (AA I,3, 90) noch für eine Selbstvernichtung des Subjekts plädierte, die zum Identischwer­ den mit dem Objekt führt und die Philosophie beständig der Gefahr der »Schwärmerei« aussetze (AA I,3, 90), wird in Erlangen offensichtlich ein anderes Programm verfolgt: Ohne den Anspruch auf das Innewerden der ewigen Freiheit aufzugeben, soll gleichwohl die Abgrenzung von einer durch die Selbstauslöschung herbeigeführten gänzlich unvermittelten Anschauung des Absoluten ernst genommen werden.212 Das Aufgeben der endlichen Subjektivität soll gerade nicht zu ihrem völligen Verlust, sondern zu ihrer Wiedergeburt und damit zu ihrer Selbstwerdung im eigentlichen Sinne führen.213 Mit dem Motiv des Aufgebens und Lassens aller Hoffnungen und alles Verlangens, das sich im armen und bloßen Willen verwirkliche,214 rekurriert Schelling in einem weiteren Schritt auf die Figur der Gelassen­ heit, bzw. des armen Willens in der Rheinischen Mystik und insbesondere bei Meister Eckhart, dessen Schriften Schelling nachweislich in Form des Tauler-Druckes gelesen hatte.215 Dort wird in der Predigt Qui audit me ebenfalls von der Gelassenheit und insbesondere vom Lassen Gottes als höchste Form der Gelassenheit gesprochen.216 Allerdings darf m.E. auch die Figur des Lassens nicht missverstan­ den werden im Sinne einer Abwendung von allem Immanenten hin zu einer absoluten Transzendenz. Schellings Denken durchzieht von Anfang an ein in unterschiedlichen Ausprägungen formulierter holisti­ scher Zug, der gerade die strikte Trennung zwischen Immanenz und 212 Vgl. die Distanzierung von der Theosophie in der Einleitung zu den Weltaltern (WA I, 7f.). 213 Vgl. hierzu auch die Untersuchung des Rezeptionszusammenhanges des EkstasisBegriffes in Kapitel II.4.2 sowie die Diskussion des Forschungsstandes in der Einleitung, Kapitel 2. 214 »Wer wahrhaft philosophiren will, muß aller Hoffnung, alles Verlangens, aller Sehn­ sucht los seyn, er muß nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen« (AA II,10,2, 620). 215 Vgl. zur Verarbeitung von Motiven aus der christlichen Mystik Kapitel II.3.2.a. 216 Vgl. Meister Eckhart: Qui audit me, 147. Vgl. zur Gelassenheit bei Meister Eckart Haas 1995, 26‒28.

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Transzendenz negiert, ohne dabei in einen einfachen Monismus zu ver­ fallen und dem Pantheismus-Vorwurf das Wort zu reden.217 Gerade in der mittleren Werkphase wird die Struktur der in der Freiheitsschrift erstmals deutlich exponierten ›internen Dualität‹ des Absoluten und ihre Parallele in der durch die Verkehrung des Sündenfalls gegangenen Schöpfung die konstitutive Bezogenheit von Partikularwillen (Prinzip der Natur) und Universalwillen (Prinzip des Geistes) deutlich herausgestellt. Das Lassen alles Gewordenen als Voraussetzung für die Conversio bedeutet hier nicht das völlige Aufgeben des Partikular-Prinzips zugunsten des Universal-Prinzipes, sondern seine Selbstzurücknahme und Selbstver­ wandlung, die die Umkehr eben jener Verkehrung einleiten soll und dem Partikular-Prinzip damit die ihm gebührende Stelle einräumt. Als drittes Motiv wird auf die Figur des Todes in Platons Phaidon als radikales Moment der Umwendung verwiesen, dessen Existentialität Schelling in dramatischen Formulierungen unterstreicht: Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war, dem alles versank, und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein großer Schritt, den Platon mit dem Tode verglichen. (AA II,10,2, 619f.)

217 Dies zeigt sich bereits im Kritischen Journal der Philosophie, das er 1802 und 1803 zusammen mit Hegel herausgab. Dort hatte Schelling ebenfalls auf das Motiv des Todes in Platons Phaidon verwiesen im Zusammenhang mit einer notwendigen Reinigung des Philosophen, die zum Begreifen der Einheit von Sittlichkeit und Intellektualität führe. Dabei betont er allerdings ganz im Duktus der Identitätsphilosophie, dass diese Reinigung keine Abkehr von der Natur, sondern gerade eine Erkenntnis der Identität von Natürlichem und Göttlichem im ›An-Sich‹ beinhalte: »Derjenige also, der nicht seine Seele bis zur Theilnahme an dem Urwissen geläutert hat, ist auch nicht zur letzten sittlichen Vollendung gelangt. Das Reine, schlechthin Allgemeine ist für ihn ein Außer ihm; er selbst demnach steckt noch in dem Unreinen, und ist im Besondern und Empirischen gefangen. […] In diesem Streben nach Reinigung begegnen sich also die Sittlichkeit und die Philosophie. Der Weg zu jener Befreyung ist nicht der bloß negative Begriff der Endlichkeit, daß sie nämlich eine Schranke der Seele ist, denn hierdurch wird sie nicht überwunden. Es bedarf eines positiven Begriffs und einer gleichen Anschauung des An-sich: denn derjenige, der weiß, daß nur für den Schein das Natürliche von dem Göttlichen getrennt, der Leib nur in der unvollkommenen Erkenntniß Leib, und von der Seele verschieden, in dem An-sich aber dasselbe mit ihr ist, wird sich auch am meisten üben, jenen von Sokrates gepriesenen Tod zu sterben, der der Eingang zu der ewigen Freyheit und dem wahren Leben ist.« (AA I,12,2, 473f.) Auch Lore Hühn bringt dieses Motiv in den Erlanger Vorlesungen mit der Motivik alter Einweihungspraxis in Zusammenhang (vgl. Hühn 1994, 212). Vgl. auch Kapitel II.1.2 dieser Arbeit.

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Auch der Tod ist, so macht das Zitat deutlich, in seiner transformativen Bedeutung zu verstehen.218 Er wird gerade nicht als Vernichtung, sondern als Verwandlung aufgefasst. In den Stuttgarter Privatvorlesungen hatte Schelling den Tod als »reductio ad essentiam« (AA II,8, 172) charakter­ isiert, als Rückführung auf das Wesen, das heißt als Transformation bzw. »Bildung« des geistigen Wesens des Menschen, das nicht durch Tren­ nung der Prinzipien im Menschen, sondern vielmehr durch deren »Essentification« und vollständige Verwandlung auf einer höheren Stufe, vollzogen wird (vgl. AA II,8, 172 f ).219 Alle drei Motive veranschaulichen Schellings transformatives Ver­ ständnis der Selbstzurücknahme. Entscheidend ist dabei, dass diese Zurücknahme nicht etwa eine völlige Passivität und Willenlosigkeit zur Folge hat, da sie nur durch einen höchst aktivischen Vollzug erlangt und aufrechterhalten werden kann. Es geht, so die These, nicht darum, sich völlig des Willens zu entschlagen und willenlos zu werden, sondern den Willen umzukehren und zwar nicht nur im Sinne einer anderen Zielrichtung – also das Wollen des Endlichen auf ein Wollen des Ewigen zu verlagern –, sondern im Sinne einer qualitativen Umkehrung. Der Wille, der als ›Etwas-Wollender‹ immer schon ein punktuelles Ziel hat, kann nicht anders, als im Wollen verobjektivierend tätig zu sein, denn sonst würde er sich ziellos im Wollen selbst auflösen. Was Schelling mit dem Willen, der nichts will, vor Augen steht, ist ein Wille, der ohne Objekt und Ziel gleichsam im reinen Wollen verharrt, ohne seine Aktivität einzubüßen.220 Erst damit kann er sich als Partikularwille zur Basis und 218 Vgl. hierzu auch die Thematisierung der Bedeutung des Todes in den alten Mysterien in der Philosophie der Offenbarung (SW XIII, 442–459). 219 Der Terminus ›Essentifcation‹ spielt auf alchimistische Prozesse an. Er meint eine Art ›Einkochen‹, also einen durch Hitze herbeigeführten Zustand der Substanzwandlung. In diesem Sinne ist also wirklich eine radikale Veränderung der Bewusstseins- und Seinsform gemeint. Schelling verwendet auch an anderer Stelle naturphilosophische Termini für die Charakterisierung von bewusstseinsmäßigen Bildungsprozessen. Vgl. beispielsweise die Erläuterung in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in denen der Bildungsmoment als »wahre Intussuszeption« (SW V, 241) bezeichnet wird. Den Begriff der Intussuszeption hatte Schelling im Anschluss an Kant bereits in seinen naturphilosophischen Schriften verwendet. Dort steht er für die wechselseitige chemische Durchdringung von zwei divergenten »Körperindividuen«, »die in Ein identisches Subjekt übergehen« (SW II, 240). 220 Im ersten Weltalter-Druck von 1811 findet sich eine aufschlussreiche Passage zum Willen, der nichts will, die expliziert, was in Erlangen intendiert, aber nicht ausgeführt ist. In den Weltaltern bezieht sich Schelling freilich auf den Willen der ewigen Freiheit und gibt damit dennoch den Sinnhorizont für den Willen des erkennenden Subjektes vor, der sich dem Willen der ewigen Freiheit anzugleichen hat, um sie erkennen zu können: »[…] wie

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

zum rechtmäßigen Grund des Universalwillens machen, ohne sich auf der einen Seite völlig aufzulösen oder auf der anderen Seite wiederum in seine bloße, verobjektivierende Partikularität zurückzufallen. Auch dabei handelt es sich um einen Mittelbegriff, der auf einen Vollzug zielt, in dem Partikular- und Universalprinzip gleichermaßen wirkend und leidend sich verhalten. Wie dieser Vollzug im Detail zu verstehen ist, führt Schel­ ling in der achten und neunten Vorlesungen aus und wird in Kapitel II.5 thematisiert werden.

b) Geforderte Entscheidung als Krisis (VL 6–7) Die conversive Entscheidung als Moment der Krisis im Sinne eines Wendepunktes nimmt eine Schlüsselstellung in der sechsten und siebten Vorlesungen ein. Nachdem im vorherigen Abschnitt der existenzielle Kontext dargelegt wurde, in den Schelling die Figur der Selbstzurück­ nahme einbettet und damit ihre paradoxale Struktur als Selbstwerdung im Selbstverlust hervorgetreten ist, bedarf es nun einer Untersuchung der philosophischen Hintergründe des Entscheidungs-Begriffes, bevor in Kapitel II.5 der eigentliche Vollzug und die Konsequenzen der Conversio analysiert werden. Die durch den im Menschen aufgefundenen ›offenen Punkt‹ gege­ bene Möglichkeit der Conversio wird, wie gezeigt, als Voraussetzung für eine zweite Geburt oder einen zweiten Anfang bezeichnet. Der zweite Anfang seinerseits wird als Umwendung der gegebenen Subjekt-ObjektStruktur beschrieben, die den Weg eröffnet für das Selbsterkennen der ewigen Freiheit im menschlichen Bewusstsein (vgl. AA II,10,1, 197). Da jegliches Erfassen-Wollen der ewigen Freiheit in der gegebenen Sub­ jekt-Objekt-Struktur des endlichen Bewusstseins notwendig zu einem ewigen Zirkel führen muss, wird das Innewerden der ewigen Freiheit nur möglich durch eine radikale Umkehr eben dieser Struktur im Menschen, bei der der Mensch selbst der Ort für die aus dem Objekt ins Subjekt wiederhergestellte ewige Freiheit würde.221 Das bedeutet der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freiheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird« (WA I, 15). 221 »Oder, da dieses Selbsterkennen [der ewigen Freiheit, J.H.] auf der Umwendung aus dem Objektiven ins Subjektive beruht, wenn jene Umwendung in uns geschähe, d.h. wenn

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

aber eine radikale Umkehr transzendentalphilosophischer Erkenntnis­ paradigmen, denn hier wird das, was erkannt werden soll, gleichsam zu dem sich selbst erkennenden Subjekt, also zur aktiven Instanz der Erkenntnis, während das erkennende Bewusstsein selbst lediglich den Austragungsort und die »Basis«222 für das eigentliche Geschehen bildet, sich also zur aufnehmenden, passivischen Instanz verwandeln müsste. Dass diese radikale Umwendung im Menschen zunächst Befremdung und »Erschrecken« hervorruft, scheint sie doch jeglichem AutonomieGedanken zuwider zu laufen, ist Schelling bewusst. Dennoch dürften wir vor diesem Gedanken »nicht erschrecken« (AA II,10,1, 197), denn – Schelling betont abermals die Schlüsselstellung der menschlichen Conversio für die gesamte Geschichte – nur und ausschließlich der Mensch sei »mitten in der Zeit nicht in der Zeit« (AA II,10,1, 197).223 Mit der Notwendigkeit, diese innere Umkehr zu vollziehen, um der ewigen Freiheit als Prinzip des Systems inne zu werden, geht zugleich die Abkehr von der Philosophie als demonstrativer Wissenschaft einher, die in logischen Schlüssen einen Satz aus dem anderen entwickelt und »gleich zuerst von einem Gewußten ausgeht, um von diesem zu andrem Gewußten, von diesem wieder zu andrem u.s.f. zu gelangen« (AA II,10,1, 201).224 Da die ewige Freiheit dem Philosophierenden als Gewusstes, d.h. als feststellbare Definition nicht habhaft wird, sich vielmehr durch radi­ kale Entzogenheit für die verobjektivierende Erkenntnis auszeichnet, fordert Schelling zugleich eine Umkehr der Erkenntnismethode hin zu einer Philosophie, die nur und ausschließlich als »freye Geistesthat« (AA II,10,1, 201) aufgefasst werden könne. Freilich erstaunt diese exklamatorische Betonung der Autonomie und der Spontaneität, erinnert sie doch zunächst unwillkürlich an die Verwendung dieses Motives sowohl bei Fichte als auch in Schellings Frühphilosophie, zumal auch dort in Abgrenzung zu einer »demonst­ rativen Wissenschaft« gebraucht,225 und steht im deutlichen Gegen­ satz zu der geforderten Umkehr transzendentalphilosophischer Paradig­ men. Was Schelling intendiert, ist zwar in der Form mit der Tathandlung Fichtes verwandt, in der Richtung aber radikal gegenläufig. Schelling wir selbst die aus dem Objekt ins Subjekt wiederhergestellte ewige Freiheit wären« (AA II,10,2, 627). 222 Vgl. zum Begriff der Basis bei Schelling Moiso 1995, 192‒194. 223 Vgl. zur Zeitstruktur in den Erlanger Vorlesungen Kapitel II.4.3, Abschnitt a. 224 Vgl. hierzu auch Hühn 1994, 202. 225 Vgl. Fichte, GW 3, 316 sowie Schelling, AA I,2, 109; AA I,9,1, 61. Vgl. auch AA II,10,3, 1070.

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

fügt nämlich hinzu, dass der erste Schritt, der in der freien Geistestat statthat, gerade kein Wissen, sondern vielmehr ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens zur Folge habe (vgl. AA II,10,1, 201). Hier folgt eine entscheidende Passage, die der Verdeutlichung halber vollständig zitiert werden soll: So lang Er [der Mensch, J.H.] noch wissen will, wird ihm jenes absolute Subjekt zum Objekt werden – und er wird es eben darum nicht an sich erkennen. Indem er sagt: ich, als ich, kann nicht wissen, ich – will nicht wissen, indem Er sich des Wissens begibt, macht er Raum für das, was das Wissen ist, nämlich für das absolute Subjekt, von dem gezeigt, daß es eben das Wissen selbst ist, in diesem Act, da er sich selbst bescheidet, nicht zu wissen setzt er eben das absolute Subjekt als das Wissen ein – In dem Act dieses Einsetzens werde ich nun freylich seiner inne – als des Überschwenglichen – und dieses inne Werden könnte man wohl auch ein Wissen nennen. Aber es muß gleich dazu ges. werden: es ist ein Wissen, das in Ansehung meiner vielmehr ein Nichtwissen ist – nicht wissendes Wissen. (AA II,10,1, 201f.)

Der Akt der freien Geistestat im hier gemeinten Sinne besteht also gerade nicht darin, sich selbst zu setzen, sondern sich selbst zurückzunehmen, damit das Absolute sich im Endlichen darstellen kann.226 Dass dieses Zurücknehmen bzw. Aufgeben des Wissenwollens als Tat bezeichnet und als solche im Text zusätzlich hervorgehoben wird, deutet darauf hin, dass Schelling dieses Aufgeben als höchst aktivischen Vollzug versteht, der allerdings in seiner Erfüllung – wie zu zeigen sein wird – dem Subjekt selbst nicht alleinig verfügbar ist.227 Denn die ›Richtung‹ dieses Vollzuges ist nicht vom erkennenden Subjekt auf das ›Objekt‹ orientiert – das ja eben selbst Subjekt ist und durch Verobjektivierung zerstört würde –, sondern könnte gleichsam als Tätigkeit vom ›anderen Subjekt‹, also der ewigen Freiheit, her bezeichnet werden, deren Aktualisierung dennoch vom erkennenden Subjekt selbst ausgeführt werden muss.228 Bis hierhin wurde deutlich, wie durch die aktive Selbstzurücknahme eben jener ›Raum‹ geschaffen wird, der als einziger der ›ewigen Freiheit‹ ermöglicht, als Subjekt innerhalb des Endlichen bestehen zu bleiben. Insofern darf der Begriff des ›Innewerdens‹ als der dieser Form des Wissens angemessenen Bezeichnung durchaus wörtlich verstanden wer­ Vgl. Hühn 1994, 167. Die paradoxale Struktur dieses Vollzuges wird durch den von Schelling in seinen Stichworten gebrauchte Begriff der ›freien Vernichtung‹ betont (vgl. AA II,10,1, 207). 228 Vgl. hierzu auch SW IX, 228. 226 227

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

den. Allerdings handelt es sich um ein Wissen, das sich zwar als solches ausspricht im erkennenden Bewusstsein, das aber von diesem nicht her­ vorgebracht und damit »in Ansehung meiner vielmehr ein Nichtwissen ist«. In paralleler Konstruktion zum Willen, der nichts will, exponiert Schelling das Innewerden als nichtverobjektivierendes Wissen, bzw. als »freyes Denken«: »Denken ist Aufgeben von Wissen – Wissen gebunden, Denken in völliger Freyheit – und schon das Wort deutet darauf daß alles freye Denken das Resultat einer aufgehobenen Spannung – eines Auseinanderhaltens – einer Κρισις ist.« (AA II,10,1, 222f.)

Da Wissen per se verobjektivierend agiert, weil es das Gewusste immer als ein definiertes ›Dies da‹ erkennt, ist die Voraussetzung für ein Heraustreten aus dem Zirkel der Verobjektivierung das Aufgeben alles in definierende Grenzen einschließenden Wissens. Schelling fordert dem­ nach einen Überstieg über das Produkt des Denkens – das ›gebundene‹ Wissen – hin auf diejenige Tätigkeit, die das Wissen erzeugt: das Denken, bzw. das freie Denken, also dasjenige Denken, das vor aller Definition als reine Tätigkeit sich vollzieht. Das Ungewohnte an Schellings Konzeption ist nun, dass er die­ ses Denken nicht als bloß vom erkennenden Subjekt hervorgebracht, sondern vom zu Erkennenden – in dem Fall dem absoluten Subjekt (der ewigen Freiheit) – zugleich gestiftet versteht. ›Freyes Denken‹ wäre demnach kein subjektiv gebildetes Denken, sondern eines, das im Hervorbringen durch das erkennende Subjekt zugleich vom absoluten Subjekt gebildet wird. Schelling denkt hier also einen Ineinsfall der Tätigkeiten zweier Subjekte und entzieht dem erkennenden Subjekt damit die alleinige Urheberschaft des Denkens. Dass es sich bei diesem Ineinsfall der Tätigkeiten um eine mediale ›Wechselwirkung‹229 handelt, die es vermeidet, eines der beiden agierenden Subjekte zu verobjektivie­ ren durch den aus der Sicht einer klassischen Subjekt-Objekt-Struktur paradoxal anmutenden Zusammenfall zweier Vollzüge in einen medialen Vollzug, in dem das Erkennende und das Erkannte in eins gehen (vgl. 229 Der Begriff der ›Wechselwirkung‹ greift hier insofern zu kurz, als dass er sprachlich auf einen Wechsel deutet, so als vollzöge er sich in einer Pendelbewegung zwischen den beiden Relata der Wechselwirkung. Bei dem hier von Schelling intendierten Vollzug ist aber ein Ineinsfall zweier Vollzüge gemeint, der zugleich deren Eigenständigkeit nicht preisgeben muss (vgl. AA II,10,1, 221f.). Da Schelling den Begriff allerdings selbst verwendet (vgl. bspw. AA II,10,1, 220) wird er in der vorliegenden Arbeit unter Vorbehalt seiner Problematik übernommen.

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

AA II,10,1, 199) und der notwendig zugleich passivische und aktivische Facetten beinhaltet, wird in Kapitel II.5 weiter ausgeführt.

c) Vorgriff: Das Scheitern der Krisis (VL 10) Die Entscheidung zur Selbstzurücknahme als freie Geistestat sieht Schel­ ling im höchsten Maße der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt. Das Prob­ lem des Scheiterns wird nicht damit begründet, dass die Krisis selbst zu einer falschen Entscheidung oder zu einem fehlgeleiteten Ergebnis gelange. Es liege vielmehr in der Gefahr, dass es gar nicht erst zur Krisis komme und zwar so, dass die Menschen sich zwar vorfinden im inneren Streit, diesen aber verleugnen und sich »frühzeitig zerstreu[en]«, von ihrem Innern abziehen und in »wohlthätige Betäubung« versetzen lassen (AA II,10,1, 258). Dadurch komme der innere Streit in den meisten Fällen nicht zu einem solchen Grad der Spannung, der die Krisis herbeiführen würde. Aufschlussreich ist hier die Bemerkung von dem sonst so unpolitischen Schelling, dass es gerade die Ungelehrten seien, die die Schulgelehrten zur Krisis zwingen, indem sie aufstehen und auf eigene Hand zu philosophieren beginnen (vgl. AA II,10,1, 255). Das Problem besteht also darin, dass zwar der innere Streit immer schon erregt ist, zugleich aber ohne seinen Durchgang durch die Krisis nicht zu besonnenem Wissen erhoben werden könne. Aus dem unent­ schiedenen Streit aber rührten die Irrtümer. Für Schelling steht die Figur des Irrtums im Zusammenhang mit derjenigen des Bösen und der Krankheit, wie er sie in der Freiheitsschrift entwickelt hat. Der Irrtum und das Böse werden bekanntlich nicht in platonisch-neuplatonischer Tradition als privatio, als bloßer Mangel, d.h. als das Nicht-Wahre angesehen, sondern vielmehr als Verkehrung der Wahrheit bzw. des Guten. Diese Verkehrungsstruktur aber mache seine Gefahr aus. Ein bloßer Mangel an Wahrheit wäre ungefährlich; die Entstellung und Verkehrung der Wahrheit aber sei entsetzlich, weil sie auf derselben Kraft wie die Wahrheit beruhe (vgl. AA II,10,1, 259). Zur Vermeidung des Irrtums sei es dabei nicht möglich, sich auf ein grundsätzliches Nicht-Wissen-Wollen zurückzuziehen – so Schelling mit einem unmissverständlichen Blick auf Jacobi und Eschenmeyer –, denn der Mensch befinde sich »von Natur schon in einem Wissen« (AA II,10,1, 203) und damit auch in jenem inneren Widerstreit, der sich in jedem Menschen wiederholt (vgl. AA II,10,1, 257). Da der Mensch wissen will, »eh’ er weiß, daß er wissen will« (AA II,10,1, 259) hängt dieses

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Wissenwollen nicht von einem bewussten Entschluß ab, sondern ist ein gegebener Zustand, in dem sich das natürliche Wissen wiederfindet. Wobei es, weil immer schon verobjektivierend, ein entstelltes Wissen bzw. eine »Gemisch von Wahrem und Falschen« sei (AA II,10,1, 260).230 Jede Philosophie, die auf der Grundlage dieses natürlichen Wissens operiere, müsse notwendig in Verwirrung geraten, da sie die Verkehrung dieses Wissens nicht berücksichtige – ein Zustand, den Schelling auch der kritischen Philosophie Kants attestiert, dem zwar das große Verdienst zukomme, das Unvermögen des natürlichen Wissens vollständig darge­ legt zu haben, der aber den Schritt über diese kritische Darlegung hinaus in die eigentliche Krisis nicht vollzogen habe (vgl. AA II,10,1, 261).231 Es kommt also alles darauf an, dem natürlichen Wissen in der Krisis zu entsagen und es dadurch in einer Katharsis zu »reinigen« (vgl. AA II,10,1, 260). Erst nach einer solchen Reinigung werde einsehbar, dass es einen Punkt gab, an dem Natürliches und Übernatürliches, Natur und Geist nicht getrennt voneinander bestanden und dass es einer Wie­ derumwendung der Scheidung von Natürlichem und Übernatürlichem bedarf. Denn die »schmerzlich« empfundene Trennung sei einzig und allein auf die Schuld des Menschen zurückzuführen, der sie vollzog, indem er die ewige Freiheit zu einem Objekt machte (vgl. AA II,10,1, 260). Für Schelling ist demnach entscheidend, dass das nicht zu ver­ meidende natürliche Wissen als ein verkehrtes erkannt und in einem existenziell zu verstehenden Weg bis zu seiner Grenze getrieben werde, an der es in einer todesähnlichen Krisis sich öffnet für das besonnene, wissende Nicht-Wissen. Die Stärke der einleitenden Erlanger Vorlesung liegt nun gerade darin, dass sie den Prozess der Conversio sowie die Form des daraus sich ergebenden Wissens methodisch kleinschrittig und präzise darstellt und damit die Folie liefert für eine Neukonzeption des Subjektivitäts-Verständnisses. Zum Ende dieses Kapitels ist wiederum zu fragen, welche Erkennt­ nisse für die Grundthese gewonnen sind, nach der Schelling in den Erlanger Vorlesungen einen Ansatz für einen gewandelten SubjektivitätsBegriff liefert. 230 Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von Lore Hühn zur Kritik Schellings an Jacobis ›salto mortale‹ in Hühn 1994, 192f. 231 Zu Beginn der neunten Vorlesung vereinnahmt Schelling das Prädikat der kritischen Philosophie ausschließlich für sich, indem er diese erst mit der vollzogenen Krisis beginnen lässt (vgl. AA II,10,1, 217).

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II.3 Das absolute Subjekt und seine Verkehrung im Wissen (VL 4–7)

Das Kapitel II.3 hat gezeigt, dass Schelling die ontologischen Grundannahmen in den Erlanger Vorlesungen in unmittelbaren Zusam­ menhang sowohl mit seinen wissenschaftstheoretischen als auch den anthropologischen Prämissen stellt. Ohne ein Verständnis dieser meta­ physischen Rahmung ist der spezifische Zugriff Schellings auf Wissen und Subjektivität in den Erlanger Vorlesungen nicht adäquat zu fassen.232 Zudem verweist diese Rahmung auf eine Bedeutungstiefe, die die Forde­ rung nach der Selbsttransformation der Subjektivität in einen umfassen­ den kosmologischen Zusammenhang setzt, der Schellings holistischen philosophischen Ansatz entspricht. Weil Schelling den Menschen in einem zwar verleugneten, aber dennoch unweigerlich wirksamen Bezug zum Absoluten sieht und das Absolute selbst, anders als noch in der Freiheitsschrift, ebenfalls in einem Verkehrungszustand sich befindet, der nur durch ein sich Aussprechen im Menschen wiederum aufgeho­ ben werden kann, sind beide Entitäten in einem spannungsvollen und zugleich konstitutiven Wechselverhältnis. Im Ergebnis bedeutet dies, dass Selbstgenügsamkeit Selbstverfeh­ lung mit sich bringt – mindestens bezogen auf den Status quo der weltlichen Gegenwart. Die Erkenntnis der konstitutiven Bezogenheit der Subjektivität auf ein anderes Subjekt darf insofern als Hauptertrag dieses Abschnittes gewertet werden. Schellings Auffassung von Subjektivität meint gerade keine in sich abgeschlossene Instanz, die sich aus der Entge­ gensetzung zu einem Objekt definiert, sondern ein Ineinandergreifen von zwei Entitäten, dessen genaue Wechselbeziehung im Weiteren genauer untersucht werden muss. Deswegen besteht die Aufgabe zu klären, inwieweit sich das Verhält­ nis von absolutem und erkennendem Subjekt als nicht verobjektivierend denken lässt, ohne dabei den erkennenden Zugang zum Absoluten zu negieren und einem Offenbarungsglauben das Wort zu reden. Es wird sich zeigen, dass Schelling das mediale Wechselverhältnis von erkennen­ dem und absolutem Subjekt als ein differenziertes Prozessgeschehen auffasst, das er als die bereits mehrfach erwähnte ›eigentliche Theorie der Philosophie‹ bezeichnet und dessen Charakteristikum, wie zu zeigen ist, in der Figur ›aktiver Passivität‹ gefasst werden kann. Bevor in Kapitel II.5 dieser Prozess untersucht und das sich daraus ergebende Subjektivitätsverständnis dargelegt wird, ist zunächst ein ausführlicher Blick auf den Status der im weiteren Verlauf der Erlanger Vorlesungen eingeführten ›Ekstasis‹ zu werfen. Schelling stellt sie als 232

Vgl. Hogrebe 1989, insb. 127–130.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Folgefigur der intellektuellen Anschauung heraus, die, gleichsam als höchster Punkt der Krisis, den eigentlichen Initialmoment des mit ihr einsetzenden medialen Prozesses ausmacht. Nicht nur aufgrund dieser zentralen Stellung, die ihr in den Erlanger Vorlesungen zukommt, son­ dern auch durch ihr Verhältnis mit der für den gesamten Deutschen Ide­ alismus prägenden Figur der intellektuellen Anschauung wird ihr im Folgenden ein ganzes Kapitel gewidmet.

II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung Das Spezifikum der Erlanger Vorlesungen wurde in der Forschung häu­ fig an der Figur der Ekstasis festgemacht.233 Auch wenn diese sich bereits in den unveröffentlichten Fragmenten der Weltalter-Entwürfe findet,234 wird sie in Erlangen erstmals umfassend in den systematischen Zusammenhang von Schellings methodologischen Grundüberlegungen eingebettet. Schelling setzt sie als Folgefigur vorderhand mit der intellek­ tuellen Anschauung gleich. Bei näherem Hinschauen zeigt sich jedoch, dass er mit der Einführung dieser Figur entscheidende Verschiebun­ gen vornimmt, die für den mit der Ekstasis einsetzenden Prozess des medialen Wechselgeschehens von erkennendem und absolutem Subjekt maßgeblich sind. Dabei wird sich, wie zu zeigen ist, insbesondere die geforderte Selbsttransformation der Subjektivität als treibende Kraft dieser Verschiebungen herausstellen. Im vorliegenden Kapitel soll die Frage geklärt werden, inwiefern die Ekstasis sich von der intellektuellen Anschauung unterscheidet, stellen sie doch beide einen ausgezeichneten Erkenntniszugang zum Absoluten dar. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Schelling mit der Ekstasis gleichsam eine ›Sprengung‹ der für das erkennende Subjekt durch systematische Negativität und Entzogenheit gekennzeichneten Struktur des Absoluten anstrebt – anders als dies noch in der intellektuellen Anschauung der Fall ist, die einen unmittelbaren, selbstdurchsichtigen Bezug zum Absoluten reklamiert. Dies soll nicht zugunsten einer Erkenn­ barkeit und Selbstdurchsichtigkeit des Absoluten vollzogen werden – wie sie noch in der Identitätsphilosophie vertreten wird –, sondern eine innerweltliche Transformation des erkennenden Subjektes und der Subjekt-Objekt-Relation selbst motivieren. Damit stellt sich Schelling in 233 234

Vgl. Einleitung, Kapitel 2. Vgl. Grotsch, Bd. 1, 262 sowie Bd. 2, 107f., 164, 203f., 300–302, 309.

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

die Tradition einer platonischen und neuplatonischen Anagogik, ohne allerdings, wie im Folgenden aufzuweisen ist, mit der geforderten Con­ versio eine außerweltliche Einung mit dem Absoluten anzustreben. Der Ort für eine innerweltliche Manifestation des Absoluten wird vielmehr durch die Transformation der natürlich gegebenen Subjektivität gebildet. Damit bewegt sich Schelling auch hier jenseits eines einseitigen Bekennt­ nisses zum Nicht-Wissen des Absoluten als das schlechthin transzend­ ente ›Andere der Vernunft‹ auf der einen und einer unmittelbaren Selbstdurchsichtigkeit des Absoluten in einer intellektuellen Anschauung auf der anderen Seite. Insofern geht es Schelling, so die These, nicht so sehr um Erlösung und die vollständige Erfüllung einer eschatologischen Zielvorstellung, sondern vielmehr um den Aufruf zur Conversio, der sich aus der Spannung zwischen der Gegebenheit endlicher Subjektivität und der nicht zu unterlaufenden Bezogenheit auf das Absolute ergibt. Um im Weiteren die Ekstasis als Ausgangspunkt des medialen Wechselvollzuges von Absolutem und erkennendem Bewusstsein einord­ nen zu können, ist es nötig, einige Vorklärungen in ihrem Verhältnis zur intellektuellen Anschauung vorzunehmen. Dabei ist ein Blick auf die Spielarten der intellektuellen Anschauung in Schellings Werk zu werfen und zu der Frage Stellung zu nehmen, warum die intellektuelle Anschauung für Schelling in Erlangen nicht mehr zu genügen scheint und warum er ausgerechnet auf die Ekstasis als Folgefigur zurückgreift.235 Insofern wird zunächst die Entwicklung der intellektuellen Anschauung im Denken Schellings skizzenhaft nachgezeichnet (III.4.1). Ein Exkurs auf die rezeptionsgeschichtlichen Hintergründe des Ekstasis-Begriffs wird daraufhin die spezifische Bedeutung, die Schelling der Ekstasis verleiht, deutlicher zutage treten lassen (III.4.2). Nach diesen Vorklärun­ gen lässt sich in einem dritten Schritt das systematische Verhältnis von intellektueller Anschauung und Ekstasis diskutieren, um dabei den Status und den epistemischen Zugriff der Ekstasis herauszuarbeiten (III.4.3).

1. Die intellektuelle Anschauung als Vorform der Ekstasis Wenn Schelling in den Erlanger Vorlesungen die Ekstasis als Folgefigur für die intellektuelle Anschauung herausstellt, so greift er damit auf eine höchst umstrittene und äußerst wandelbare Schlüsselfigur der nachkan­ 235

Vgl. zum Verhältnis von intellektueller Anschauung und Ekstasis auch Hühn 2012a.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

tischen Philosophie zurück. Die intellektuelle Anschauung, die sich von der vom Neuplatonismus beeinflussten Philosophie eines Nikolaus von Kues erstmals herschreibt,236 steht wie kein anderer Begriff paradigma­ tisch für die Vielschichtigkeit der philosophischen Diskussionen um 1800, die sich um nichts Geringeres als um die Begründung jeglichen Wissens drehen.237 Umstritten ist die intellektuelle Anschauung vor allem deshalb, weil in ihr die Spannung zwischen dem Projekt einer Grundle­ gung neuzeitlicher Subjektivität und der diesem Projekt bereits inhären­ ten Selbstüberbietung und Destruktion seiner eigenen Ansätze ausgetra­ gen wird.238

a) Die intellektuelle Anschauung beim frühen Schelling Nicht nur allgemein im Idealismus stellt die intellektuelle Anschauung eine Schlüsselfigur dar, auch in der Frühphilosophie Schellings wurde ihr nicht zu Unrecht der Status eines »roten Fadens« zugesprochen.239 In der Ich-Schrift schlägt Schelling zunächst in Fichtes Kerbe, wenn er die intellektuelle Anschauung mit der Selbstevidenz des ›Ich bin!‹ gleichsetzt (vgl. AA I,2, 106) und damit den Zugang zum absoluten Ich als höchstem, unbedingten Prinzip der Wissenschaft sichert. Allerdings betont Schelling nicht vornehmlich die Selbstgewissheit des absoluten Ichs, wie es Fichte tut, sondern vor allem dessen Realitätsaspekt als »Real­ grund alles Wissens« (AA I,2, 91). Anders als für Fichte ist demnach für Schelling vom absoluten Ich kein Bewusstsein möglich. Die intellektuelle Anschauung ist gerade kein Bewusstseinsmodus, sondern als absolute Identität über allem Bewusstsein in der absoluten Freiheit des reinen Ichs zu verorten (vgl. AA I,2, 104f.). Nur durch die »Zernichtung […] des endlichen Ichs« (AA I,2, 128) sei ein Zugang zum Absoluten zu gewinnen. 236 Bekanntlich wird die cusanische »visio intellektualis« als Vorläufer der intellektuellen Anschauung betrachtet, da dort die Rolle des Subjektes erstmals im Sinne des deutschen Idealismus betont wird. Vgl. Helander 1988. Harald Schwaetzer vertritt dabei die These, dass die Konzeption bei Nikolaus von Kues insbesondere derjenigen von Schelling nahekommt. Vgl. Schwaetzer 2007. 237 Vgl. Tilliette 2015. 238 Schulz war der erste, der auf dieses Paradox neuzeitlicher Subjektivitätsbegründung hingewiesen hat (vgl. Schulz 1986, 309). An diese Diagnose anknüpfend hat Lore Hühn ihre Studie zu Fichte und Schelling vorgelegt, die dieses Paradox bis in seine letzten Verzweigungen aufdeckt (vgl. Hühn 1994). 239 Schulz 1986, 115. Eine bisher noch ausstehende grundlegende Untersuchung der intellektuellen Anschauung in Schellings Werk wird in Kürze als Dissertationsschrift von Sören Wulf vorgelegt werden (vgl. Wulf 2023).

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

Auch in den Briefen über Dogmatismus und Kritizismus wird die intellektuelle Anschauung nicht, wie bei Fichte, als Bewusstseinsmodus aufgefasst. Im entscheidenden Passus heißt es: Mit absoluter Freiheit ist auch kein Selbstbewußtsein mehr denkbar. Eine Thätigkeit, für die es kein Object, keinen Widerstand mehr gibt, kehrt niemals in sich selbst zurück. Nur durch Rückkehr zu sich selbst entsteht Bewußtseyn. Nur beschränkte Realität ist Wirklichkeit für uns. […] Wir erwachen aus der intellectualen Anschauung wie aus dem Zustande des Todes. Wir erwachen durch Reflexion, d.h. durch abgenöthigte Rückkehr zu uns selbst. Aber ohne Widerstand ist keine Rückkehr, ohne Object keine Reflexion. (AA I,3, 94)

Damit überbietet Schelling die auf der Selbstbewusstseinsstruktur der Subjektivität begründete Konfiguration der intellektuellen Anschauung, auch wenn die Formulierungen vorderhand an Fichte erinnern.240 Diese Überbietung mag Schelling zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn noch nicht vollständig bewusst gewesen sein, sie markiert jedoch von Anfang an Differenzen zu Fichte.241 Gerade die von den noch nahe an Fichte situierten Formulierungen aus der Ich-Schrift sich abwendenden Formulierungen der Briefe über Kritizismus und Dogmatismus, in denen Schelling die intellektuelle Anschauung erstmals explizit als »Vermögen« (AA I,3, 87) und nicht mehr nur als reine Tätigkeit der Selbstanschauung des Ich bezeichnet, zeigen den genuinen Zugriff Schellings. Damit bahnt er, mindestens potenziell, den Weg zu einer intellektuellen Anschauung, die nicht mehr nur und ausschließlich auf das Ich gerichtet ist. Allerdings steht hier die intellektuelle Anschauung noch im schroffen Gegensatz zu jeglicher Form des Bewusstseins, auch wenn sie deshalb nicht als außervernünftig zu gelten hat (vgl. AA I,3, 94). Vielmehr müsste man ihr den Status des Übervernünftigen, Überbewussten, Präreflexiven zuerkennen, denn aus ihrem Zustand erwacht man wie aus dem Tod, d.h. wie aus einer vorweltlichen (platonisch anmutenden) intellektualen Welt (vgl. AA I,3, 94). In diesem Sinne ist die intellektuelle Anschauung der Briefe auch als außerzeitlich charakterisiert, wobei damit eine dezidierte und für Vgl. Durner 1979, 66. Vgl. hierzu bspw. Schulz: »Es ist ja nicht so, daß Schelling sich über die Denkschwie­ rigkeiten des ethischen Idealismus Fichtes den Kopf zerbrochen hätte und sodann – als eine Verbesserung – ein in sich seiendes absolutes Ich aufgestellt hätte. Schelling ist von Anfang an vom en kai pan des Tübinger Kreises, einem ganz anderen Ausgang als dem, den Fichte bei Kant nahm, bis ins Innerste seines Wesens bestimmt, […]« (Schulz 1986, 119). 240

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Schelling charakteristische Kritik an Spinoza einhergeht. Dieser ziele auf einen unverfügbaren Ort, der sich aller Zeitlichkeit entledigen kann; Schelling seinerseits legt schon hier den Fokus auf eine innerweltliche Selbstverwandlung des Ich, das im Zeitlichen bestehen bleibt, denn das »Erwachen aus dem Tode«, die Rückkehr zu uns selbst wird nicht nur als unvermeidlicher Rückfall in die Endlichkeit, sondern als Bejahung des Lebens herausgestellt (vgl. AA I,3, 94).242 Während die intellektuelle Anschauung in den Briefen noch als außerzeitliches Für-sich-Sein des Ich in der intellektualen Welt gekenn­ zeichnet wird, treten in der Allgemeinen Übersicht von 1797/98 erstmals Andeutungen einer Dynamisierung der intellektuellen Anschauung auf. Dies wird durch die Konzeption des Geistes als »ewiges Werden« (AA I,4, 86), der als inhärentes Prinzip die Geschichte des Selbstbewusstseins bildet, vorgenommen. Die intellektuelle Anschauung wird als Selbst­ anschauung des Geistes im Wollen charakterisiert (vgl. AA I,4, 128). Bezeichnenderweise arbeitet Schelling zeitgleich an den Ideen zu einer Philosophie der Natur, seinem ersten naturphilosophischen Werk, in dem der mechanistischen Auffassung der Natur in Anschluss an Kant ein dynamisches Naturverständnis entgegengesetzt wird, das die Natur als ewig werdende natura naturans versteht, die sich in der Stufenfolge der Natur zugleich als sichtbare Realisierung des unsichtbaren, dynamischen Geistes manifestiert (vgl. AA I,5, 106f.). Einer intellektuellen Anschauung der Natur, die aus der Perspektive Fichtes widersinnig sein muss, wird in der Parallelität der Konzeption einer dynamischen Natur und eines dynamischen Geistes Vorschub geleistet. Bereits 1797/98 wird also diejenige Konzeption des menschlichen Selbstbewusstseins und damit zugleich auch der intellektuellen Anschau­ ung präfiguriert, die im System von 1800 mit der dort prominent vertre­ tenen Auffassung einer ›Geschichte des Selbstbewusstseins‹ ausgefaltet wird (vgl. AA I,9, 25, 91). Dabei tritt das Selbstbewusstsein gerade nicht – und das ist die entscheidende Differenz zu Fichtes früher Wissenschafts­ lehre – als suisuffiziente unmittelbare Gewissheit wie mit einem Pauken­ schlag ins Zentrum des Geschehens. Das Selbstbewusstsein verdankt sich vielmehr einer absoluten Subjektivität, die sich durch die Natur hin­ durch entwickelt und im Menschen zu ihrer höchsten Potenz kommt.243 Rückblickend nennt Schelling diese Voraussetzung die »transcendentale Vergangenheit des Ich« (SW X, 93f.). Diese habe er im System von 1800 242 243

Vgl. Hühn 1994, 181f. Vgl. hierzu bspw. Ewertowski 1999, 84–118.

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

aufweisen und damit die Kluft zwischen Natur und Geschichte durch die Dynamisierung des Bewusstseins zu überbrücken gesucht.244

b) Die intellektuelle Anschauung in der Naturphilosophie Ohne an dieser Stelle näher auf die ästhetische Anschauung in der Kunstphilosophie um 1800 einzugehen,245 sei hier ein Blick auf die von Schelling kühn vorgebrachte ›intellektuelle Anschauung der Natur‹ geworfen, die in dem dafür berühmt gewordenen sogenannten ›Eschen­ mayer-Anhang‹ im Jahr 1801 in der Zeitschrift für spekulative Physik erschienen ist. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist die intellektuelle Anschauung der Natur, wie Schelling sie zu profilieren sucht, insofern relevant, als hier die Idee der Depotenzierung der Subjektivität im Zusammenhang mit epistemologischen Fragen erstmals diskutiert wird. Allerdings wird im Folgenden deutlich werden, dass der Ansatz von 1801 entscheidende Differenzen zur Konzeption der Ekstasis von 1820/21 aufweist und in sich selbst als problematisch gelten muss.246 Wiederum im Rückblick, dieses Mal auf die intellektuelle Anschau­ ung der Natur, formuliert Schelling 1827 in seinen Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie in München Folgendes: Intellektuelle Anschauung wurde der Akt genannt, weil hier nicht, wie in der sinnlichen Anschauung, Subjekt und Objekt ein anderes, sondern dasselbe sind. Nun sage ich in der angeführten Abhandlung [Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, J.H.], nicht das Ich, wie es in der intellektuellen Anschauung als unmittelbar Gewisses ist, sondern das durch Abstraktion von dem Subjekt in der intellektuellen Anschauung Gewonnene, das aus der intellektuellen Anschauung herausgenommene, d.h. allgemeine, bestimmungslose Subjekt=Objekt, das insofern nun nicht mehr ein unmittelbares Gewisses ist, sondern herausgenommen aus der »Ich suchte also mit Einem Wort den unzerreißbaren Zusammenhang des Ichs mit einer von ihm nothwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtseyn vorausgehende transzendentale Vergangenheit dieses Ichs zu erklären, eine Erklärung, die sonach auf eine transzendentale Geschichte des Ichs führte.« (SW X, 93f.) Vgl. hierzu auch Hühn 1994, 31f., 37f. 245 In der Kunstphilosophie präsentiert Schelling die ästhetische Anschauung als die objektiv gewordene intellektuelle (vgl. z.B. AA I,9, 325). 246 Vgl. Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie, und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen vom Herausgeber. AA I,10, 85–106. Vgl. zur Depotenzierung des Subjektes in der intellektuellen Anschauung der Natur auch Durner 1979, 68 sowie prominent Hühn 2012a, 7–66. Auf die Schwierigkeiten dieser Konzeption weist Schwab 2022 hin. 244

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

intellektuellen Anschauung nur noch Sache des reinen Gedankens seyn kann: dieß erst sey der Anfang der objektiven, von aller Subjektivität befreiten Philosophie. (SW X, 148)

Was Schelling im Rückblick als »Herausnehmen« des bestimmungslo­ sen Subjekt-Objekt aus der intellektuellen Anschauung bezeichnet und dadurch als von der Subjektivität geläutertes reines Denken beansprucht, beruht auf der Annahme, dass die Tätigkeit des Ich in der intellektuellen Anschauung aufgeteilt werden kann in eine subjektive und eine objek­ tive Tätigkeit. Diese Teilung wiederum ist nur dadurch möglich, dass Schelling der selbstkonstituierenden Tätigkeit des Selbstbewusstseins in der (subjektiven) intellektuellen Anschauung eine noch-nicht-selbstbe­ wusste Tätigkeit zuspricht. Im ›Eschenmayer-Anhang‹ knüpft Schelling direkt an die Auffas­ sung der Geschichte des Selbstbewusstseins an: Zunächst gibt er Eschen­ mayer als selbsternanntem Anwalt der fichteschen Transzendentalphilo­ sophie zu, dass »die Philosophie über das Philosophieren« (AA I,10, 89) notgedrungen subjektiv ist, denn das Ich finde sich philosophierend immer schon als Ich vor.247 Anders als Fichte248 geht Schelling aber davon aus, dass die Frage nach der Genese des Ichs insofern Sinn ergibt, als das Ich in der Transzendentalphilosophie lediglich als höchste Potenz der Subjektivität angesehen werden muss, nicht aber in ihrem ersten Hervortreten als bewusstlose Tätigkeit verstanden werden kann, die sich erst durch die Natur hindurch zu ihrer höchsten Potenz entwickelt. Deshalb – so Schelling – komme die Wissenschaftslehre nie dazu, ein eigenständiges Objekt außer ihr zu akzeptieren.249 Um zu diesem Insofern muß man Schelling zugestehen, dass er den Vorwurf der Aporie, nach dem sich die nicht selbstbewusste Tätigkeit als solche selbstgewiss werden soll, mindestens gesehen und vorweggenommen hat und damit dem kantischen Gedanken der reinen Apperzeption nicht notwendigerweise widerspricht, wie Lisa Egloff es in ihrer Monogra­ phie vermutet. Schelling zielt vielmehr, wie von Egloff richtig gesehen, gar nicht auf eine Aufhebung des Ichs, sondern vielmehr auf eine Zurücknahme des Ichs zugunsten des Grundes von bewusstem und unbewusstem Sein (reines Subjekt-Objekt). Vgl. Egloff 2016, 71‒73. 248 Bekanntermaßen spricht Fichte in der frühen Wissenschaftslehre der Frage nach dem, was das Ich war, bevor es ein Ich wurde, die Sinnhaftigkeit ab. Vgl. GA 2, 260. 249 In Fichtes früher Wissenschaftslehre kommt das Objekt denn auch bekanntlich nur als Anstoß auf das Subjekt vor – auch wenn, das ist Fichte zugute zu halten, ohne diesen Anstoß auch das Ich nicht als empirisches Ich existieren könnte. Dass die Natur bei Fichte keine Rolle spielt, sieht Schelling früh als Defizienz des fichteschen Systems an, dem er durch die Konzeption der Naturphilosophie als Ergänzung zur Transzendentalphilosophie Abhilfe schaffen möchte. Erst nach dem endgültigen Bruch mit Fichte schwingt sich Schelling 247

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

Objekt zu gelangen, müsse vielmehr das Ich als Anschauungs-»Objekt« depotenziert werden, was Schelling durch Abstraktion vom Ich, also von dem, was »in das Objekt des Philosophen erst durch das freie Handeln – gesetzt wird« (AA I,10, 90), gewährleistet sieht. Schelling schreibt: Ich fordere zum Behuf der Naturphilosophie die intellectuelle Anschau­ ung, wie sie in der Wissenschaftslehre gefordert wird; ich fordere aber außerdem noch die Abstraction von dem Anschauenden in dieser Anschauung, eine Abstraction welche mir das rein Objective dieses Acts zurückläßt, welches an sich bloß Subject-Object, keinesweges aber = Ich ist, aus dem mehrmals angezeigten Grunde. (AA I,10, 92)

Während also die intellektuelle Anschauung des Ichs auf das rein Sub­ jektive des Aktes gerichtet ist, schaut die intellektuelle Anschauung der Natur das rein ›Objektive‹, d.h. die absolute, produktive Tätigkeit der Natur (natura naturans).250 Erst dadurch werde die Natur als lebendige, organische Ganzheit und nicht als toter Mechanismus begreifbar (vgl. AA I,10, 104f.). Spätestens hier ist deutlich, dass sich der Ich-Begriff Schellings fundamental von demjenigen Fichtes unterscheidet.251 Während bei Fichte nach der Abstraktion vom Ich nichts übrigbliebe, weil das Ich zugleich das Tätige ist und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird, geht Schelling davon aus, dass das Ich sich einem Prinzip verdankt, in der sogenannten Anti-Fichte-Schrift zu einer harschen Kritik an Fichtes defizitären und bloß nutzenorientierten Naturbegriff auf: »[…] denn was ist am Ende die Essenz seiner [Fichtes, J.H.] ganzen Meinung von der Natur? Es ist die, daß die Natur gebraucht, genutzt werden soll, und daß sie zu nichts weiter da ist, als gebraucht zu werden; sein Princip, wonach er die Natur ansieht, ist das ökonomisch-teleologische Princip. ›So mußte es seyn, sagt er, (nämlich so mußte uns die Natur einengen), damit das menschliche Leben durch eigne Freiheit die Freiheit gewinne. Dazu ist nun nöthig, daß man die Naturkräfte menschlichen Zwecken unterwerfe.‹ Leider ist dieß bis jetzt bloß mit den mechanisch-wirkenden gelungen; der lebendigen Kraft der Natur hat noch kein Mensch Zaum und Gebiß angelegt, und wenn Fichte an einer andern Stelle sagt, die Natur soll durch das vernünftige Leben in seiner Entwicklung selber belebt werden, so ist auch davon das gerade Gegentheil der Fall, denn soweit nur immer die Natur menschlichen Zwecken dient, wird sie getödtet« (SW VII, 17f.). 250 Bereits im Ersten Entwurf einer Naturphilosophie spricht Schelling davon, dass die Reflexion die absolute Tätigkeit der Natur nicht in ihrem Vollzug, sondern immer nur in ihrem Gewordensein im Produkt erfassen könne. Die ursprüngliche Produktivität der natura naturans, von der die Naturphilosophie ihren Ausgangspunkt nehmen soll, existiere nur für die Anschauung, nicht aber für die Reflexion (vgl. hierzu Durner 1979, 68). 251 Dieser Unterschied tritt auch im Briefwechsel von Fichte und Schelling deutlich zutage (vgl. AA III,2,1, 280). Vgl. hierzu Hühn 2012a, 7–22.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

das ihm als Grund des Bewusstseins vorausliegt. Dieser Grund – das reine Subjekt-Objekt – wird zugleich als Grund der Natur vorausgesetzt und in der Abstraktion vom Ich freigelegt.252 Insofern distanziert sich Schelling von der Auffassung einer selbst­ genügsamen und selbstdurchsichtigen Subjektivität, wie sie seines Erach­ tens in der Transzendentalphilosophie zutage tritt, denn im Gegensatz zu Fichte denkt er einen Identitätsgrund, der der Subjektivität vorausliegt und aus dem heraus sich die Subjektivität zu sich selbst entwickelt. Das Subjekt weiß sich in der intellektuellen Anschauung nicht nur selbst, sondern erkennt sich zugleich 1) als Ergebnis einer Genese, deren Vollzug es bewusstlos mitgemacht hat und dessen Vergangenheit es sich selbst verdankt. Es erfährt 2) in der Selbsterkenntnis darüber hinaus seinen eigenen Grund und damit auch seine innige Verbindung mit der Natur. Dadurch gelingt es Schelling, in einem holistischen Ansatz Subjekt und Natur in einer höheren Einheit zu verbinden, in der sich der Philosophierende immer schon eingebettet vorfindet. Auch wenn Schelling hier zu Recht das Subjekt in seine Grenzen weist, indem er es, ebenso wie die Natur, in einem übersinnlichen Prinzip (reines Subjekt-Objekt) begründet, ergeben sich aus der »intellektuellen Anschauung der Natur« meines Erachtens zwei Probleme: Zum einen ist der Referenzpunkt für die Anschauung der Natur nicht etwa die Natur selbst, sondern die intellektuelle Anschauung des Ichs, die der Abstraktionsbewegung vorauszugehen hat. Anders als Goethe, der konsequent von der Naturbetrachtung ausgeht und von dort aus durch Experiment und Versuchsreihen zur »anschauenden Urteilskraft« aufsteigt, geht Schelling letzten Endes auch für die Natur von derselben Erkenntnismethode wie für das Subjekt aus, nämlich von der intellektuellen Anschauung.253 Anstatt von der Partikularität der Natur induktiv zu ihrem Prinzip aufzusteigen, will er sie deduktiv aus ihrem Prinzip ›hervorbringen‹. Auch wenn er sich dieses Problems bewusst ist und es mithilfe der Abstraktion vom anschauenden Subjekt 252 Lisa Egloff hat kritisch bemerkt, dass das reine Subjekt-Objekt als Grund der Natur zwar vorausgesetzt, aber nicht nachgewiesen wird (vgl. Egloff 2016, 72‒74). 253 Diese Kritik an Schellings Naturphilosophie hat vor allem Eckhart Förster promi­ nent vorgebracht. Dabei geht Förster von der Differenzierung zwischen intellektueller Anschauung und anschauender Urteilskraft bzw. intuitivem Verstand aus, deren Unter­ scheidung er bereits in Kants Kritik der Urteilskraft festmacht. Vgl. Förster 2011, 153f., 250f. Der Vorwurf Goethes, (der frühe) Schelling bleibe am Ende des Tages doch zu sehr Transzendentalphilosoph, wird dadurch verständlich. Vgl. zum Einfluss Goethes auf die Ausbildung von Schellings Naturphilosophie Nassar 2010.

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

in der intellektuellen Anschauung umgehen will, bleibt die Kritik Eschen­ mayers bestehen, die Schelling auch in seinen naturphilosophischen Schriften als Transzendentalphilosoph entlarvt. Als weiteres Problem hat sich gezeigt, dass die Notwendigkeit der Selbstzurücknahme der Subjektivität in der intellektuellen Anschauung der Natur insofern ein abstraktes Postulat bleibt, als Schelling hier weder ausführt, wie sie zu bewerkstelligen sei, noch auf welche Weise die Subjektivität in dieser Anschauung weiter bestehen bleibe. Erst mit der Betonung der Verkehrungsstruktur der Subjektivität, die spätestens mit der Abhandlung Philosophie und Religion von 1804 und dann verstärkt mit der Freiheitsschrift zum Thema wird, gelingt es Schelling, so die These, in den Erlanger Vorlesungen, die Selbst­ zurücknahme der Subjektivität in ihrem transformativen Potenzial und ihrem Eingebettetsein in den Gesamtzusammenhang der Geschichte zu plausibilisieren. Zunächst vollzieht Schelling allerdings einen Schritt in seinem Werk, der ihn von den Gedanken der Geschichtlichkeit und der Dynamik seiner Philosophie hin auf eine statische Systemkonzeption führt, deren Verdienst es dennoch ist, die Bedeutung der höheren Einheit von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie in der sogenannten Identitätsphilosophie hervorzuheben.

c) Die intellektuelle Anschauung als Vernunftanschauung in der Identitätsphilosophie Während die intellektuelle Anschauung der Natur auf die noch nicht bewusste reine Tätigkeit der natura naturans zielt, ist die intellektuelle Anschauung des Identitätssystems auf die absolute Vernunft als Einheit von Subjekt und Objekt und damit als tertium von Transzendental- und Naturphilosophie gerichtet. In struktureller Verwandtschaft zur intellek­ tuellen Anschauung der Natur wird in der Darstellung meines Systems von 1801 – wenngleich der Terminus der intellektuellen Anschauung nicht wörtlich fällt254 – der »Standpunct der Philosophie«, in dem die Indifferenz von Subjekt und Objekt gegenwärtig ist, erreicht, indem vom Denkenden abstrahiert wird (vgl. AA I,10, 116). Dabei ist es das 254 Auch wenn in der Darstellung meines Systems von der intellektuellen Anschauung nicht explizit die Rede ist und Schelling diesen Sachverhalt in seiner späteren Verteidigung des Identitätssystems gegenüber den Vorwürfen Hegels und anderer hervorhebt (vgl. SW X, 147), soll hier mit der Herausstellung der intellektuellen Anschauung der Vernunft die Entwicklungslinie der intellektuellen Anschauung im Identitätssystem verfolgt werden.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

ausgemachte Ziel Schellings, die Vernunft von ihrer Subjektivität zu befreien und in der Vernunftanschauung »zu dem wahren An sich« (AA I,10, 116f.) zu führen.255 Die Vernunftanschauung wird mithin ähnlich wie die intellektuelle Anschauung der Natur verstanden, nur dass es sich hierbei nicht um die Anschauung eines Objektiven (Natur) handelt, sondern um die Vernunft, die jenseits von Subjekt und Objekt verortet wird. Ein Jahr später (Fernere Darstellungen aus dem System der Philoso­ phie, 1802) wird noch überschwänglicher von dem Organ der absoluten Erkenntnisart gesprochen, in der Denken und Sein in ihrer ungetrennten Einheit erblickt werden und die intellektuelle Anschauung – hier wörtlich genannt – als das »alleinige Princip der höchsten Erkenntnißart« (AA I,12, 96) markiert.256 Somit avanciert die Vernunftanschauung in der Identitätsphiloso­ phie zu einer platonisch konnotierten Ideenschau, in der die im indivi­ duellen Selbstvollzug realisierte Einheit von Subjekt und Objekt sich zugleich als Einheit des sich darin bezeugenden Gesamtgeschehens des Intelligiblen herausstellt.257 Auch der Rekurs auf die Geometrie, an der sich die Philosophie zu orientieren habe, weist auf die platonische Prägung der Identitätsphilosophie hin. Während die Geometrie ihre Anschauungen im Raum konstruiere, ist das Medium der Konstruktion für die Philosophie allein im Absoluten gelegen (vgl. AA I,12, 90).258 Bis zu den späten Schriften der Identitätsphilosophie hält Schelling seine Auffassung von einem emphatisch vorgebrachten Teilhabegedan­ ken aufrecht und unterstreicht damit einen prinzipiell unverstellten Zugang zum Absoluten. Im System der gesammten Philosophie von 1804 heißt es entsprechend, der »intellektuellen Anschauung Gottes 255 Vgl. auch Rang 200, 67‒69, der aufzeigt, dass sich Schellings Begriff des Wissens in der Identitätsphilosophie im radikalen Gegensatz zu Kant als Anschauung der Dinge, »wie sie an sich, d.h. wie sie in der Vernunft sind« (AA I,10, 117) darstellt. Damit geht bei Schelling zudem eine Kritik an einem Denken einher, das maßgeblich auf kausallogischen Strukturen beruht. 256 Das System Fichtes kranke demgegenüber daran, dass es nicht zum »Durchbruch« (AA I,12, 95) der absoluten Erkenntnis kam und das absolute Bewusstsein nur im »Medium des im empirischen Bewußtseyn vorkommenden reinen Bewußtseyns sehen« konnte (AA I,12, 96). 257 Vgl. Hühn 2012a, 39. 258 Vgl. auch den Aufsatz von Schelling Ueber die Construction in der Philosophie (GW 4, 277–293). Während die Methode der Konstruktion für Kant der Mathematik vorbehalten blieb, hinterfragt Schelling diese Grenzziehung, indem er mittels der Konstruktion im Absoluten eine Erkenntnismethode zu explizieren sucht, »die direkt, also nicht durch den Umweg über ein stufenweises Subsumieren oder über kausale Ketten, zu Begründungen führt« (Ziche 2011, 151).

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

ist […] jede vernünftige Seele fähig« (AA II,7,1, 431). Dabei wird die Beglaubigung der Teilhabe nur durch ein vollständiges Absehen von der subjektiven Erkenntnis möglich: »Nicht ich weiß, sondern nur das All WEISS in mir, wenn das Wissen, das ich das meine nenne, ein wirkliches, ein wahres Wissen ist« (AA II,7,1, 107). Erst da, wo die Subjektivität voll­ ständig schwinde, sei höchste Erkenntnis des Absoluten möglich. Die Euphorie über die unmittelbare Anschauung des Absoluten qua »Vernichtung aller Subjektivität« (SW VII, 149) und Abstraktion vom Denkenden ist den Zeitgenossen übel aufgestoßen, blendet Schel­ ling doch hier jeglichen Vermittlungsgedanken radikal aus. Dass diese Radikalität Schelling bald den Vorwurf des Irrationalismus einbrachte, zeigt sich an der aufkommenden Kritik und dem damit verbundenen Niedergang der intellektuellen Anschauung.

d) Die Krisis der intellektuellen Anschauung Das Übertreten der von Kant gezogenen roten Linie, das der frühe Fichte mit der Anschauung des Ich und in der Folge vor allem Schelling ohne Zögern vollzogen hatten, wurde von Anfang an mit Kritik überhäuft.259 Es war jedoch in erster Linie die Spielart der intellektuellen Anschauung in der Identitätsphilosophie, die offene Angriffe nach sich zog und die des Irrationalismus und Schwärmertums bezichtigt wurde.260 Dabei bildet die prominente Kritik Hegels in der Einleitung in die Phänomenologie des Geistes von 1807 lediglich die Spitze des Eisbergs, durch die die intellektuelle Anschauung in Misskredit geriet (vgl. GW 9, 12, 18).261 Bereits vor Erscheinen der Phänomenologie hatte sich Schelling gegen den Vorwurf gewehrt, das Absolute der »Vernunftanschauung« sei eine leere, alle Differenzen einebnende Identität und nahm den berühmt gewordenen Satz zur »Nacht, in der alle Kühe schwarz sind« vorweg, indem er anmerkte: Denn die meisten sehen in dem Wesen des Absoluten nichts als eitel Nacht, und vermögen nichts darin zu erkennen; es schwindet vor ihnen in eine bloße Verneinung der Verschiedenheit zusammen, und ist für sie ein rein 259 Paradigmatisch für diese Kritik stehen die Polemiken des Berliner Verlegers Nicolai. Vgl. bspw. Nicolai 1796, 121f. sowie Fambach 1801, 142–176. 260 Vgl. hierzu beispielswiese die Schmähschrift von Schellings Würzburger Kollegen Berg 1804 sowie Köppen 1803. 261 Vgl. darüber hinaus Köppen 1803 sowie Schlegel, KFSA Bd. 8, 217, 243 und später Feuerbach in seinen Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie, LFGW, Bd. 9.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

privatives Wesen, […] so will ich doch hier noch bestimmter zeigen, wie sich jene Nacht des Absoluten für die Erkenntnis in Tag verwandle. (SW IV, 403f.)

Obschon die Kritik Hegels also inhaltlich nichts wesentlich Neues liefert, wenn er sich gegen jede Form der Philosophie wendet, in der das Absolute »nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut« wird (GW 9, 12) und wenngleich er Schelling beim Zusenden der Schrift versichert, mit der Kritik lediglich die Plattheit von Schellings fehlgeleiteten Adepten treffen zu wollen,262 so gibt sie der intellektuellen Anschauung dennoch den letzten »Gnadenstoß«.263 Schelling reagiert empfindlich auf die entsprechenden Passagen aus der Einleitung der Phänomenologie, nicht nur, weil er die Kritik trotz gegenteiliger Versicherung dennoch auf sich zu beziehen scheint, sondern vor allem auch deshalb, weil er in dem alten Freund nicht mehr den Verbündeten, vielmehr denjenigen findet, der das Feuer der ohnehin zermürbenden Kritik weiter schürt.264 Insofern bildet Hegels ›Gnadenstoß‹ gleichsam den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Er führt dazu, dass Schelling nach dem Erscheinen der Phänomenologie den Terminus der intellektuellen Anschauung in seinem Werk meidet. Sowohl in der Freiheitsschrift als auch in den Stuttgarter Privatvorlesungen und den Weltaltern taucht er nicht auf, in Erlangen wird er schließlich explizit ersetzt durch den Begriff der Ekstasis.265 262 »In der Vorrede wirst Du nicht finden, daß ich der Plattheit, die besonders mit Deinen Formen soviel Unfug und Deine Wissenschaft zu einem kahlen Formalismus herabtreibt, zu viel getan habe« (Hegel, Briefe, 1. Band, 161f., 194). 263 Diese treffende Formulierung stammt aus Tilliette 2015, 343. Vgl. auch Schwab 2018a, 135–141. 264 Vgl. Schellings Antwort an Hegel auf die Zusendung der Phänomenologie nach seiner Lektüre der Einleitung: »Inwiefern Du selbst des polemischen Theils derselben erwähnst, so müßte ich, bei dem gerechten Maß der eignen Meinung von mir selbst, doch zu gering von mir denken, um die Polemik auf mich zu beziehen. Sie mag also, wie Du in dem Briefe an mich geäußert, nur immer auf den Misbrauch und die Nachschwätzer fallen, obgleich in der Schrift selbst dieser Unterschied nicht gemacht ist. Du kannst leicht denken, wie froh ich wäre, diese einmal vom Hals zu bekommen« (Plitt II, 123f.). 265 »Man hat dieses ganz eigenthümliche Verhältnis sonst wohl auszudrücken gesucht durch das Wort intellektuelle Anschauung. Anschauung wollte man dies Nichtwissen nennen, weil im eigentlichen Anschauen – oder da diß Wort gemein geworden – im Schauen das Subjekt sich verlirt, außer sich gesetzt ist – intellektuelle Anschauung um auszudrücken, daß es hier nicht wie in dem sinnlichen Anschauen in ein wirkliches Objekt verloren sey, sondern verloren und sich selbst aufgebend in dem was gar nicht Objekt seyn kann. Allein eben weil dieser Ausdruck erst der Erklärung bedarf, so besser ihn ganz bey

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

Dabei ist die Kritik Hegels nicht ausschließlicher Grund für die Aufgabe der intellektuellen Anschauung in Schellings Werk, so die These. Neben den strategischen Gründen, die Schelling bewogen haben dürften, den Terminus zu meiden, da er nun allgemein in Misskredit geraten war, lassen sich auch inhaltliche Gründe ausweisen, die einen konzeptionellen Neugriff plausibilisieren. Wie aus dem Vorherigen ersichtlich, bringen die systematischen Weichenstellungen in der mittleren Philosophie Schellings, die sich in der Betonung des Verkehrungszusammenhangs bei gleichzeitiger Aufwertung des Endlichen exemplarisch bündeln las­ sen, notwendigerweise eine Depotenzierung der selbstdurchsichtigen Subjektivität mit sich, deren Folge eine systematische Ungenügsamkeit der Figur der intellektuellen Anschauung ist (unerachtet der Versuche Schellings, bereits durch die sogenannten ›doppelten Abstraktion‹ die Subjektivität in der intellektuellen Anschauung zu überwinden). Wäh­ rend die intellektuelle Anschauung grundsätzlich von dem unverstellten Zugang zum Absoluten ausgeht, zu der sich der Philosoph lediglich zu erheben bedürfe, ohne zuvor seine Verstrickung mit dem Verkehrungszu­ sammenhang durch eine grundlegende Umwendung der Subjektivität zu transformieren, betont die Ek-stasis die Notwendigkeit des »Außer sich gesetzt werden« der Subjektivität (AA II,10,1, 202).266 Bevor Schelling die Ekstasis prominent in sein Werk einführt,267 experimentiert er in der Freiheitsschrift und den Weltaltern mit diversen ›Übergangsformen‹, die die Leerstelle der intellektuellen Anschauung füllen sollen.

e) Übergangsformen zwischen intellektueller Anschauung und Ekstasis Seitdem die intellektuelle Anschauung in Verruf gekommen war, hat Schelling den Terminus der intellektuellen Anschauung weitestgehend gemieden.268 Allerdings kommt er nicht umhin, mit der dadurch auftre­ tenden Leerstelle umzugehen, denn der Anspruch auf eine epistemologi­ sche Figur, die die Subjekt-Objekt-Struktur zu durchbrechen in der Lage Seite zu setzen. – Eher sagen: Ekstase, Εκστασις – das Außersich gesetzt werden« (AA II,10,1, 202). 266 Vgl. auch Hühn 1994, 209. 267 Schellings erste Erwähnungen der Ekstasis finden sich, wie oben schon erwähnt, bereits in den Fragmenten zu den Weltaltern. Öffentlich und in systematischer Eingebun­ denheit in das Gesamtsystem wird die Ekstasis allerdings erst in Erlangen eingeführt. 268 Vgl. Schwab 2018a, 141, sowie Buchheim 2003, 311f., 314.

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ist und damit den natürlichen Charakter des subjektiven Bewusstseins überwindet, wird zugleich nicht aufgegeben. Das erste Anzeichen einer tastenden Neukonzeption findet sich auf den letzten Seiten der Freiheitsschrift.269 In diesem Werk tritt deutlich zutage, dass Schelling sich 1809 von der intellektuelle Anschauung als Organ für eine absolute Erkenntnisart und mit ihr von dem Standpunkt der absoluten Vernunft verabschiedet hat.270 Da Schelling zugleich den Anspruch auf ein Erfassen des Absoluten nicht aufgibt, muss die Frage entstehen, unter welchen Bedingungen dies ohne die Garantie eines unverstellten Zugangs zum Absoluten möglich ist und wie es sich metho­ disch rechtfertigen lässt. Mit Verweis auf die Abhandlung Über die Analogie des Erkenntnisund des Zeugungstriebes von Franz von Baader, die 1808 in den Jahrbü­ chern für Medizin veröffentlicht wurde,271 differenziert Schelling am Ende der Schrift zwischen dem ordnenden Verstand und der Vernunft als passivem Vermögen und als Ort der Wahrheit, in dem die ursprüngliche Weisheit empfangen wird. Schelling vergleicht die Vernunft mit dem sogenannten »Primum passivum« oder der »ursprünglichen Weisheit«. Mit beiden Begriffen deutet er auf die bei Böhme, Oetinger und Baader prominent vertretene Sophien-Mystik hin, die im Rückgriff auf das Hohelied im Alten Testament die Sophia als göttliche Weisheit deu­ Schwab weist darauf hin, dass Schelling mindestens im Rückblick die Freiheitsschrift als eine Reaktion auf Hegels Kritik verstanden hat. Dies entnimmt er einem Brief Schellings an Beckers, in der er von dem von dem »stillen Widerspruch« gegen Hegel spricht, den schon die »Abhandlung über die Freiheit [...] deutlich genug zu erkennen gegeben hatte« (Plitt III, 113). Vgl. Schwab 2018b, 212. 270 Folgende Einschätzung teilt auch Egloff: »Schelling wählt hier [in der Freiheitsschrift, J.H.] den umgekehrten Weg, wenn er die Spuren der Transzendenz in der Immanenz nach­ zeichnet. Damit wird die unmittelbar zur Betrachtung sub specie aeternitatis führende intellektuelle Anschauung der absoluten Vernunft aufgegeben. Und das absolute Organ im Menschen, welches allein es denken lässt, dass das Absolute im Endlichen gegenwärtig wird, ist nun einer absoluten Erkenntnisart nicht mehr fähig, sondern nur noch der Aufnahme der Manifestation des Absoluten unter den Bedingungen der Endlichkeit […]« (Egloff 2016, 82). 271 Baader, Werke I, 39–48. Die Kernaussage Baaders in seiner Abhandlung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das ideale Prinzip, das wir mit Schellings ›Verstand‹ gleichsetzen können, bleibt unvollkommen und ›impotent‹ ohne das reale Prinzip, in dem es sich aussprechen kann. Eine wahre Erkenntnis findet nur dort statt, wo das ideale Prinzip als das Erkennende und das reale Prinzip als das Erkannte in eins gehen, indem das Erken­ nende dem Erkannten innewohnt, bzw. innerlich wird. Der Begriff des Innerlich-Werdens liegt nah an der Figur des Er-Innerns, die Schelling in den Erlanger Vorlesungen zum wesentlichen Charakteristikum der Erkenntnis des Absoluten macht. Vgl. Kapitel II.5.5. 269

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tet, in der sich Gott erkennt. Auch der mittlere und späte Schelling verwendet den Begriff der Weisheit ausdrücklich in diesem Kontext (vgl. bspw. AA I,17, 178).272 Indem Schelling an den damit verbundenen Deutungshorizont anknüpft, gewinnt er eine Möglichkeit, das Ziel der Transzendierung des natürlichen Bewusstseins nicht allein in einem rein idealen Prinzip zu suchen (Verstand), das in vollkommener Selbstdurch­ sichtigkeit sich von dem realen Prinzip (dem Gemüt oder Gefühl) vollständig abgelöst hat und dadurch die Selbstgenügsamkeit der Sub­ jektivität zusätzlich festschreibt – so der Vorwurf Schellings gegenüber Fichte. Im Gegenteil findet er in der Verbindung von idealem und realem Prinzip in der Vernunft den Ort des sich Aussprechens der Wahrheit. Erst damit sei er in der Lage, ein umfassendes System hervorzubringen, in dem der Verstand nicht den sittlichen Gefühlen widerspreche (vgl. AA I,17, 176). Auch wenn Schelling mit dem angestrebten System den Verstand depotenziert, betont er zugleich dessen Bedeutung und grenzt sich dadurch von einer der Gefahr des Irrationalismus anheimgestellten Philosophie des Gefühls – an dieser Stelle in Rekurs auf Jacobi – deutlich ab. Nur durch die in der Dialektik vollzogene Wechselwirkung von Verstand und Gefühl trete am Ende »aus der äußersten Trennung und Scheidung« (AA I,17, 178) die Wahrheit siegreich hervor, um sich in der Vernunft auszusprechen, die als indifferente Einheit von idealem und realem Prinzip charakterisiert wird, in der Einheit und Differenz in eins fallen.273 Nicht von ungefähr erinnert gerade dieser Ineinsfall von Einheit und Differenz an die intellektuelle Anschauung. Allerdings, und dies ist der entscheidende Unterschied, wird dieser Ineinsfall nicht durch einen bloßen Selbstüberstieg des idealen Prinzips, sondern gerade durch eine Verbindung von idealem und realem Prinzip erreicht. Der Realpol im Menschen wird also nicht diskriminiert, wie bei Fichte, sondern vielmehr integriert. Dass diese Integration nicht ohne wechselseitige Transforma­ tion des Idealen und des Realen möglich ist, wird in der Freiheitsschrift Vgl. Kapitel II.3.6. Die entsprechende Passage sei hier in Gänze zitiert: »Die Vernunft ist in dem Menschen das, was nach den Mystikern das Primum passivum in Gott oder die anfängliche Weisheit ist, in der alle Dinge beisammen und doch gesondert, Eins und doch jedes frey in seiner Art sind. Sie ist nicht Thätigkeit, wie der Geist, nicht absolute Identität beyder Prinzipien der Erkenntniß, sondern die Indifferenz; das Maß und gleichsam der allgemeine Ort der Wahrheit, die ruhige Stätte, darin die ursprüngliche Weisheit empfangen wird, nach welcher, als dem Urbild hinblickend, der Verstand bilden soll« (AA I,17, 178). 272

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und auch in den folgenden Jahren noch nicht ausdrücklich thematisiert. Erst in Erlangen, so die im Folgenden auszuführende These, wird in letzter Konsequenz die radikale Transformation der Subjektivität als Verbindung von Idealem und Realem thematisiert, ohne die Schellings Forderung nach einem holistischen System der Wissenschaft am Ende des Tages steril bleiben muss. Doch zunächst zurück zur Freiheitsschrift: Ausgehend von der dort geforderten Dialektik wird der Übergang über die Stuttgarter Privatvor­ lesungen zum Anfang der Weltalter-Fragmente nachvollziehbar. Wie 1809 in der Freiheitsschrift spricht Schelling auch in Stuttgart von dem idealen und realen Prinzip im Menschen, die sich durch Scheidung und Entgegensetzung wechselseitig aneinander aussprechen und damit zur Klarheit gelangen (vgl. AA II,8, 96). In den Weltaltern finden wir daraufhin jene berühmten Passagen über die Mitwissenschaft, die bereits in Kapitel II.3.6 ausführlich thematisiert wurden. Nicht ohne Grund bringt Tilliette die Mitwissenschaft, die in einem der Fragmente auch als »Mitt-Wissenschaft« bezeichnet wird, mit der cognitio centralis, wie wir sie bei Oetinger finden,274 in Verbindung und wertet sie als Ersatz für die intellektuelle Anschauung.275 Allerdings darf nicht vergessen werden, dass Schelling mit der in den Weltaltern exponierten Mitwissenschaft gerade dem Vorwurf der mystischen Schau entkommen möchte. Explizit grenzt er sich von der »stummen« Schau theosophischer Systeme ab und profiliert die »innere Unterredungskunst« zwischen idealem und realem Prinzip in der menschlichen Seele als Methode der Mitwissenschaft, die nach und nach die unbewusst in der Seele schlummernde Erinnerung an den Ursprung der Dinge ins Bewusstsein zu heben in der Lage ist (WA I, 4f.). Durch die dialogische Struktur der Mitwissenschaft sieht er sich andererseits aber auch, so die These, gegen die Vorwürfe Hegels

274 Die »cognitio centralis« wird von Oetinger als unmittelbare, intuitive Erkenntnis des innersten Wesens der Dinge beschrieben, bei der die Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben wird. Oetinger stellt sie explizit in die Tradition der Sophien-Mystik und bringt sie in ihrer transformatorischen Wirkung in Verbindung mit der Liebe: »Die Centralerkenntnis geschieht durch eine Vergestaltung, Ueberformung, Salbung und Verwandlung der Natur des Erkennenden in die Natur des Erkannten, und eben das geschieht in der Liebe auch.« (Oetinger 1977f., Bd. II, 5, 292). Vgl. auch Griffero 2004. 275 Vgl. Tilliette 2004, 165: »Die Mit-Wissenschaft und Mitt-Wissenschaft bilden den Ersatz für die intellektuelle Anschauung, die von Hegels erbarmungslosen Bemerkungen zu Fall gebracht wurde.« Vgl. Tilliette 2015, 362.

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gefeit, denn hier geht es nicht mehr um ein Anschauen einer absoluten Indifferenz, sondern um ein schrittweise vollzogenes Bewusstswerden.276 Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, wenn sich in den weiteren Entwürfen zu den Weltaltern noch eine andere Aussage hin­ sichtlich der intellektuellen Anschauung findet: Auf einem überlieferten Einzelblatt hat Schelling notiert, dass das Erkennen des Unvordenkli­ chen bzw. des Absoluten vormals mit dem Terminus der intellektuellen Anschauung bezeichnet wurde, da das Unvordenkliche aufgrund seines nicht-prädikativen Charakters und seiner Vorgängigkeit allem Denken »zuvorkomme« und nur in einer nicht-gegenständlichen und also intel­ lektuellen Anschauung gefasst werden könne.277 Anstelle der intellektuel­ len Anschauung führt Schelling hier das »nichtwissende Wissen« ein.278 Auch dieses beziehe sich nicht auf ein Objekt.279 Bereits in den Passagen zur Lauterkeit im ersten und zweiten Weltalter-Druck hatte Schelling auf diese sokratische Form des Wissens verwiesen (vgl. bspw. WA I, 21). Damit profiliert Schelling den Terminus des nichtwissenden Wissens im Zusammenhang mit der intellektuellen Anschauung, der in den Erlanger Vorlesungen eine wesentliche Rolle für das aus der Ekstasis her­ vorgehende Erkennen spielt. In welchem Verhältnis dieses nichtwissende Wissen zur Wiedererinnerung der Mitwissenschaft steht, wird in den Weltaltern nicht weiter ausgeführt. Vielmehr steht dort das nichtwissende Wissen des Unvordenklichen mit dem Prozess der Wiedererinnerung in der Mitwissenschaft in einer eigentümlichen Spannung, insofern ersteres

Vgl. hierzu Hueck 2019a, 241–257. Vgl. WA III, 214. 278 Die Vermutung, dass das Motiv des »nichtwissenden Wissen« aus dem sokratischplatonischen Kontext entnommen ist, ist für die Erlanger Vorlesungen plausibel, da zahlreiche Verweise auf Schellings intensive Platon-Rezeption zu finden sind. Inwieweit auch die cusanische Konzeption durch Schellings Bruno-Lektüre indirekt vermittelt ist, ist in der Forschung nach wie vor nicht eindeutig belegt. Vgl. Leinkauf 1998; Reinhard/ Schwaetzer 2007. 279 »Es [das älteste Wesen, die Lauterkeit, J.H.] ist das von allem Setzen schon voraus Gesetzte, das ehe wir uns bedenken oder uns dessen versehen schon da ist u. den Ort der Unbedingtheit eingenommen hat, so früh wir auch kommen mögen. Eben darum weil es allem Denken zuvorkommt, glaubte man die Erkenntniß desselben nur als Anschauung aussprechen zu können; weil es aber in dieser Anschauung nicht als Gegenständliches sich erhalten kann, so glaubte man diese Anschauung als eine intellektuelle bezeichnen zu müssen. Eben darauf zielte der ander Ausdruck, daß es nur vermöge eines nichtwissenden Wissens gewußt werde, denn alles Wissen bezieht sich zunächst auf einen Gegenstand, wo also kein Gegenstand ist auch kein Wissen oder wenn Wissen nur nichtwissendes Wissen« (WA III, 214). 276

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als unmittelbares, nicht-prädikatives Innewerden charakterisiert wird, letztere erst durch die Vermittlung des inneren Dialoges zustande kommt. In weiteren, nicht zum Druck bestimmten Fragmenten zu den Weltaltern, finden sich die ersten Erwähnungen der Ekstasis, auch hier in Verbindung mit der Figur des Nichtwissens und dem Außer-sichgesetzt-Werden.280 Insofern liegt die Keimzelle für diesen Begriff in der ›großen Werkstatt der Weltalter‹, auch wenn er prominent und in einen umfassenden systematischen Kontext erst in Erlangen zur Geltung gebracht wird. Dabei entsteht die Frage, warum Schellings Wahl in der späteren Phase der Weltalter auf diesen Terminus fiel. Um diese Frage zu beant­ worten, wird es notwendig sein, einen Blick auf den rezeptionsgeschicht­ lichen Kontext dieses Begriffs zu werfen. Mit der Wahl des Terminus’ der Ekstasis stellt sich Schelling in zwei Rezeptionslinien, die den Zeitgenossen durchaus präsent waren: Das eine ist die zeitgenössische Debatte um die Bedeutung des Neupla­ tonismus, der um 1800 insbesondere anhand der Schriften von Plotin diskutiert wurde. Vor diesem Hintergrund wurde der Ekstasis-Begriff in den Erlanger Vorlesungen in der Schelling-Forschung als neuplatonische Figur gewertet. Neben Plotin und dem Neuplatonismus taucht der Ekstasis-Begriff zur selben Zeit prominent in der Philosophie Franz von Baaders auf und dürfte Schelling auch von dort her bekannt gewesen sein. Gleichwohl wird im Folgenden argumentiert werden, dass Schelling dem Begriff eine völlig eigene Bedeutung gibt, die sich weder mit seiner neuplatonischen noch seiner theosophischen Lesart in eins setzen lässt. Um Schellings eigene Interpretation der Ekstasis in Abgrenzung zu anderen Ekstasis-Begriffen deutlich zu machen, sind im Folgenden die erwähnten rezeptionsgeschichtlichen Hintergründe zu klären, bevor vor diesem Hintergrund in Kapitel II.4.3 die Frage nach dem Verhältnis von der Ekstasis zur intellektuellen Anschauung diskutiert wird.

2. Rezeptionszusammenhänge der Ekstasis Auch wenn die wundersame Verwandlung der intellektuellen Anschau­ ung in die Ekstasis aus den bisherigen Überlegungen sowohl aus systema­ tischen, wie aus ›politischen-strategischen‹ Gründen plausibel erscheint – inwiefern es sich hier tatsächlich um eine Verwandlung und nicht 280

Vgl. Schelling 2002, Bd. 1, 262 sowie Bd. 2, 107f., 164, 203f., 300–302, 309.

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vielmehr um einen grundsätzlichen Neugriff handelt, wird im Folgenden diskutiert – ist damit nicht erklärt, warum Schelling ausgerechnet auf den Begriff der Ekstasis zurückgreift. In der Forschung wurde maßgeblich die These stark gemacht, dass hier die Affinität Schellings zum Neuplatonismus und insbesondere zum Denken Plotins zum Ausdruck kommt, da die Ekstasis direkt auf die neuplatonische Tradition zurückweise.281 Diese Interpretationslinie stützt sich vor allem auf die Ansicht, dass Schelling die absolute Freiheit spätestens seit der Freiheitsschrift als absolute Transzendenz der Einheit und damit henologisch versteht.282 Die Ekstasis bei Schelling wäre dem­ nach parallel zu Plotins Enneade IV, 9 als anamnetischer Rückgang auf die Einung mit dem Absoluten in seiner Transzendenz zu verstehen.283 Demgegenüber wird hier die These vertreten, dass die Ekstasis weder eine harmonisierende Einungsfigur darstellt, noch den Weg freigibt für einen anagogischen Aufstieg hin auf die Transzendenz des Absoluten, sondern dass sie vielmehr als conversive Figur die Verkehrung der endlichen Subjektivität aufzuheben sucht, ohne dabei die prekäre Lage des Innerweltlichen hinter sich zu lassen. Gleichwohl darf und soll der platonische und neuplatonische Hin­ tergrund von Schellings Überlegungen nicht vernachlässigt werden, spielt er doch – trotz der hier vertretenen Auffassung der Ekstasis als innerweltliches Geschehen – eine wesentliche Rolle für das gesamte Denken Schellings seit seinen Anfängen. Insofern wird im Folgenden ein kurzer Blick auf Schellings Berührung vor allem mit dem plotinischen Gedankengut zu werfen sein. Der von Beierwaltes und vor ihm von Holz verworfenen Rezeptionslinie der Ekstasis,284 die von Böhme über Oetinger und Baader läuft, wird hier ebenfalls ein Abschnitt gegönnt, denn dass Franz von Baader 1817 eine Abhandlung Über die Ekstase oder das Verzücktsein der magnetischen Schlafredner veröffentlicht, wird trotz der nunmehr bestehenden Differenzen mit dem ehemaligen Freund und Kollegen von Schelling zur Kenntnis genommen worden sein.285 Vgl. Beierwaltes 1972 sowie Halfwassen 2003, 175–193. Vgl. Halfwassen 2003, 177, 182. 283 Vgl. Plotin: Enneade VI 9, 10. 284 Vgl. »Das genuin neuplatonische, insbesondere plotinische Element in Schelling hat eine auf ›theosophische‹ Ableitung seines Denkens eingeschworene Forschungsrichtung bisher verdeckt.« (Beierwaltes 1972, 109) Dazu auch Holz 1970, 35, 38‒40. 285 Vgl. Baader Werke IV, 1–40. Tilliette vertritt die These, dass Schelling über Baader auf den Begriff der Ekstasis gebracht worden ist. Vgl. Tilliette 2015, 375. Vgl. zu Gemeinsam­ keiten und Differenzen von Baader und Schelling Zovko 1996. 281

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Es soll gezeigt werden, dass Schelling zwar neuplatonische und theosophische Gedanken aufnimmt, sie aber in dem ihm eigenen Zugriff als innerweltliche Conversio darstellt. Nicht die transzendente Einung mit dem Absoluten, wie sie noch in der Identitätsphilosophie angestrebt wurde, steht im Vordergrund, sondern vielmehr das prekäre Geschehen einer innerweltlichen Ekstasis, die unter höchster Anstren­ gung nur momenthaft den Verstrickungszusammenhang durchbricht. Dieses Durchbrechen geschieht nicht, indem das Subjekt sich zum Absoluten erhebt, sondern indem es Letzterem vielmehr in sich und damit in der Welt einen Raum eröffnet, in dem es sich aussprechen kann.286 Allerdings hinterlässt dieses Geschehen einen Rückschlag auf das Subjekt, der das Subjekt umbildet und transformiert. Um diese These rezeptionsgeschichtlich zu plausibilisieren, sollen im Fol­ genden also zunächst der neuplatonische (a) und theosophische (b) Überlieferungszusammenhang der Ekstasis untersucht werden.

a) Schellings Plotin-Rezeption Dass der Platonismus für Schelling seit den frühen Tagen im Tübinger Stift eine grundlegende Rolle spielt, wurde bereits festgestellt. Neben dem Studium der platonischen und neuplatonischen Tradition über die einschlägigen Philosophiegeschichten – allen voran derjenigen von Tiedemann, in deren drittem Band Plotin ein ausführliches Kapitel gewidmet ist,287 – kannte Schelling den Neuplatoniker seit 1804/05 in 286 Zwar ohne terminologische Übereinstimmung aber dennoch in der Figur eng ver­ wandt, finden sich bereits in den 1809 verfassten Abhandlungen Baaders Bemerkungen über das innerweltliche Innewerden des Absoluten, das Baader mit dem Begriff des »Durchwohnens« fasst. Vgl. Baader, Werke I, 53. Vgl. hierzu auch Schwaetzer 2020, 427. 287 Vgl. Tiedemann 1793, 263–433. Tiedemann verwendet, im Gegensatz zu Plotin, bei dem wir diesen Begriff lediglich einmal finden, den Terminus der Ektase für die Schau des Einen bei Plotin. Vgl. Tiedemann 1793, 280f. Tiedemann charakterisiert die Ekstase bei Plotin folgendermaßen: »Plotin stellt nemlich als Grundsatz aller Philosophie auf, man müsse durch Ekstase, der Gottheit sich zu nähern suchen. In dieser Anschauung verliehrt die Seele alle anderen Vorstellungen, ausser der des Angeschauten; diese füllt sie mit unaussprechlicher Seeligkeit, und versezt sie in die überschwenglichste Ruhe, weil der Angeschaute durchaus unveränderlich, mithin in steter Ruhe ist. Man erblickt nichts als das herrlichste Licht, weil in Gott nichts ist als Licht. Dieser Zustand heißt Ekstase, Entzückung, auch Vereinfachung (άπλωσις), weil alle Seelenkräfte in eines konzentrirt und, gleich der Gottheit vollkommen Eins und einfach werden müssen.« (Tiedemann 1793, 281). Tiedemann beruft sich dabei auf die Enneaden I, 2, 1; IV, 7, 35; VI, 7, 36 und VI, 9, 11.

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Ausschnitten im Original. Der Anlass für die Lektüre der Originaltexte war eine Streitschrift von Franz Berg, Professor für Kirchengeschichte in Würzburg. Berg veröffentlichte 1804 ein Gespräch, dem er den Titel gab »Sextus oder über die absolute Erkenntnis von Schelling«, in dem er Schellings Idee des Absoluten attackierte. Gesprächspartner sind dort Sextus (Aufklärer und Skeptiker) und Plotin, der die intellektuelle Anschauung verficht und in dem Schelling karikiert sein soll.288 In dem­ selben Jahr bittet Schelling seinen Freund Windischmann, in der Hof­ bibliothek von Aschaffenburg nachzusehen, ob dort die Plotin-Ausgabe von Ficino vorhanden ist, woraufhin dieser ihm 1805 einige übersetzte Plotin-Stellen übersendet.289 Das Plotin-Kapitel Tiedemanns hat nicht nur Schelling beeinflusst. Es spielt auch für die Frühromantiker Novalis und Schlegel eine inspirierende Rolle. Hiervon zeugt die folgende Briefpassage von Novalis an F. Schlegel am 10. Dezember 1798: »Ich weiß nicht, ob ich Dir schon von meinem lieben Plotin schrieb. Aus Tiedemann lernt ich diesen für mich geborenen Philosophen kennen – und erschrak beinah über seine Ähnlichkeit mit Fichte und Kant – und seine idealische Ähnlichkeit mit ihnen. Er ist mehr nach meinem Herzen als beide. Jemand hat mir gesagt, daß meine Entdeckung nicht neu, und schon in Maimons Leben diese wunderbare Übereinkunft bemerkt worden sei. Warum ist aber alles still davon? In Plotin liegt noch vieles ungenutzt – und er wäre wohl vor allen einer neuen Verkündigung wert.« (Novalis: Schriften IV, 369) Novalis setzt die amor Dei intellectualis von Spinoza mit der intellektuellen Anschauung gleich und identifiziert sie mit der plo­ tinischen Ekstasis: »Ehemals war alles Geistererscheinung, jetzt sehn wir nichts als tote Wiederholung, die wir nicht verstehn. Die Bedeutung der Hieroglyphe fehlt. Wir leben noch von der Frucht beßrer Zeiten. Ekstase – Inneres Lichtphänomen = intellektualer Anschauung« (Novalis, Schriften III, 440, Nr. 896). Auch F. Schlegel war begeistert von Plotin und bringt ihn – vermutlich ebenfalls auf Grundlage von Tiedemanns Darstellungen – unmittelbar mit dem Begriff der Ekstase in Verbindung: »Er [Plotin, J.H.] verrät auch unter allen Alexandrinern am meisten Genie, und bewährt sich am fruchtbarsten. Wir finden bei ihm viele Ideen die mit dem neuen Idealismus übereinstimmen… Was den Plotin am meisten auszeichnet, ist seine Lehre von der Ekstase (einer intellektuellen Anschauung der Gottheit); er charakterisiert diesen Akt der übernatürlichen Erkenntnis streng philosophisch als einen Zustand der Entzückung, der nicht so grob ist als Empfindung, sondern, wie man sich in der neuern philosophischen Sprache ausdrücken könnte, als ein Akt des Herausgehens aus sich selbst gedacht werden muß; er nennt es Vereinfachung der Seele, – Vernichtung aller Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit in derselben. Auf diese Vereinfachung der Seele beruft sich nun Plotin als auf die höhere Erkenntnisquelle seiner Philosophie« (KFSA, Band 13, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, Erstes Buch, Einleitung). 288 Nicht unbedeutend für diesen Vergleich dürften die Bemerkungen von Tiedemann sein, Plotin lehre einen groben Spinozismus. Vgl. Tiedemann 1793, 429f. 289 Vgl. F.W.J. Schelling an K.J.H. Windischmann, 07.04.1804, Plitt II, 16. Es handelt sich dabei um Paraphrasen und Auszüge aus folgenden Enneaden: I 4, I 6, II 2, II 4, II 5, II 9, III 2, III 7, V 1, V 3, V 5, V 7, VI 4, VI 5, VI 8 und VI 9. Die Auszüge finden sich im Anhang von

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Schelling kannte darüber hinaus Creuzers Studien mit der kommen­ tierten Übersetzung von der Enneade III, 8. Dies geht eindeutig aus einem Exzerpt hervor, das Beierwaltes in seiner Untersuchung wiedergibt.290 Auch Proklos lernte Schelling über Creuzer kennen.291 Insofern darf dem Philosophen eine, wenn auch durch Sekundär­ werke und Übersetzungen geprägte, eingehendere Kenntnis der Neupla­ toniker und insbesondere der Grundgedanken Plotins zugesprochen werden. Wenn er in seiner mittleren Philosophie, namentlich in der Weltalter-Philosophie, von den ›Platonikern‹ spricht, so ist anzunehmen, dass er hier entsprechend vor allem Plotin im Blick hat. Wie verhält es sich nun aber mit der Nähe von Schellings Eksta­ sis-Figur zur plotinischen Philosophie? Zunächst ist festzuhalten, dass sich im gesamten Werk Plotins nur eine einzige wörtliche Nennung des Ekstase-Begriffs findet.292 In der Enneade VI, 9 (Über das Gute und das Eine), in der Plotin bekanntermaßen über die Erkennbarkeit des Einen handelt, findet sich am Ende die entsprechende Stelle, in der ein Zustand Beierwaltes: Platonismus und Idealismus, 210–214. In der Bibliothek von Schelling befand sich ein Exemplar der Plotin-Ausgabe von Ficino. Vgl. Müller-Bergen 2007, 52. 290 Vgl. Beierwaltes 1972, 103. Zum Interesse Creuzers am Neuplatonismus führt Beier­ waltes aus: »Friedrich Creuzer, der 1805 eine deutsche Übersetzung von Plotins Enneade III 8 ›Von der Natur, von der Betrachtung und von dem Einen‹, 1814 die Enneade I 6 ›Über das Schöne‹ edierte und 1835 die große kritische Ausgabe sämtlicher Enneaden vorlegte (Plotini Opera omnia, Oxford 1835, 3 Bände), hat des öfteren auf die Nähe Plotins zu ›manchen Ideen der neuesten Philosophie‹ hingewiesen, allerdings ohne diesen Hinweis weiter zu explizieren. Sein Interesse an der Philosophie seiner Zeit war ihm aber ein ständiges Stimulans für seine Arbeit an Plotin und Proklos. Was den Plotin anlangt, so hat er mit Bedacht – vermutlich aus philosophischen Gründen – gerade den Schriften über Natur, Betrachtung und das Eine (das Absolute), sowie über das Schöne, den Glanz des Absoluten in den Ideen, zuerst seine besondere Anstrengung zukommen lassen.« (Beierwaltes 1972, 84) Vgl. hierzu auch Schelling an Creuzer. 15.10.1815. In: Plitt II, 362. 291 Plitt II, 104f. Vgl. hierzu auch: Schelling an Creuzer. 27.12.1820. BBAdW Berlin. NL Schelling 231; Schelling an Creuzer. 03.05.1821, in: Plitt III, 5. Creuzer 1820, 2 Bände, Schelling gewidmet. Ein Exemplar davon befand sich in der Bibliothek Schellings. Vgl. Müller-Bergen 2007, 99. Proklos dürfte Schelling darüber hinaus durch seine Korrespondenz mit dem französi­ schen Philosophen Victor Cousin ein Begriff gewesen sein. Victor Cousin widmete den 4. Band seiner Proklos-Ausgabe von 1821, der Buch I und II des proklischen ParmenidesKommentars enthält, Schelling zusammen mit Hegel. Ein direkter Einfluss auf Schelling ist jedoch nicht eruierbar. 292 Dass Plotin um 1800 dennoch als der Denker der Ekstase bekannt war, hat mit der Philosophiegeschichtsschreibung, namentlich mit dem oben bereits erwähnten PlotinKapitel bei Tiedemann zu tun. (Vgl. Leinkauf 1998, 37) Die Engführung der plotinischen Philosophie mit dem Ekstase-Begriff geht ursprünglich auf J. Bruchers Historia critica philosophiae zurück.

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beschrieben wird, der noch jenseits der Schau verortet wird und eine vollkommene Einung mit dem Einen bedeutet: Dagegen war das erstere [die Einung, J.H.] höchstwahrscheinlich gar keine Schau, sondern eine andere Art des Sehens: ein Außer-sich-Geraten, Sichentfalten, Sichaufgeben; ein Streben, es zu berühren, ein Stillstehen, ein Um-es-herum-Denken, um mit ihm in Deckung zu kommen – wenn man denn überhaupt dahin kommen soll, das zu schauen, was im Unbetretbaren ist. (Enn. VI 9 [9], 80)

Zu dieser Einung gelangt die Seele, deren weltliches Dasein »Fall, Flucht und Flügelverlust« (Enn. VI 9 [9], 77)293 bedeutet, wenn sie sich von allem Äußeren löst, sich ganz nach innen wendet, sogar aufhört, sich selbst zu kennen (vgl. Enn. VI 9 [9], 73).294 Dadurch kann die Seele wiederum auf­ steigen zum Einen und – mindestens momenthaft – Gott werden, bevor sie wieder zurückfällt ins Dasein.295 Vor diesem Hintergrund wird in der platonisch orientierten Schellingforschung die Ekstasis als vollständige Transzendierung des Subjektes gedeutet296 und dahingehend von der intellektuellen Anschauung, die einen gewissen Grad an Reflexion nicht aufgebe, abgegrenzt.297 Dass die schellingsche Ausprägung der Ekstasis aber ebenfalls gerade den Vermittlungscharakter, wenn auch in völlig gewandelter Form, nicht aufzugeben bereit ist und sogar explizit mit dem

293

ros.

Hier bezieht sich Plotin auf das platonische Gleichnis der geflügelten Seele im Phaid­

294 Diese Wendungen sind sehr nah an den von Schelling gebrauchten Formulierungen in den Erlanger Vorlesungen. 295 »Wer es gesehen hat, weiß, wovon ich rede: daß die Seele in diesem Moment ein anderes Leben hat, wenn sie ihm nahekommt und ihm bereits nahegekommen ist und an ihm teilhat; so daß sie in eine Verfassung gekommen ist, in der sie weiß, daß ihr der Spender des wahren Lebens gegenwärtig ist. Dann braucht sie nichts anderes mehr; im Gegenteil muß sie alles andere ablegen und in ihm allein stillstehen, nur noch es allein werden und den ganzen Rest wegmeißeln, mit dem wir umgeben sind, so daß wir schnellstens von hier fortwollen und unzufrieden sind, noch an die Gegenseite gefesselt zu sein, weil wir ihn endlich mit dem Ganzen von uns umfangen wollen und keinen Teil mehr haben wollen, mit dem wir nicht mit Gott in Berührung sind. Und da ist es dann möglich, sowohl jenen als auch sich selber zu sehen, in dem Sinne, wie Sehen hier gestattet ist: sich selbst, wie man im Glanz erstrahlt und voll geistigen Lichts oder vielmehr das Licht selber ist, wie man rein, schwerelos, leicht ist, wie man Gott geworden, vielmehr Gott ist – in diesem Moment entzündet, wenn man wieder schwer wird, gleichsam erloschen« (Plotin, Enn. VI 9 [9], 78). 296 Vgl. beispielhaft Leinkauf 1998, 33. 297 Vgl. Beierwaltes 1972, 93.

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Begriff der Reflexion, allerdings in verwandelter Form, hantiert, wird im Folgenden ausgeführt werden.298 Festzuhalten ist hier vorläufig, dass Schelling mit der Wahl des Ektasis-Begriffs bewusst plotinische Anklänge bemüht. Schelling will allerdings weder den Vermittlungscharakter aufgeben, weil er sich expli­ zit von einer a-rationalen mystischen Schau abgrenzen möchte,299 noch spricht er von einer außerweltlichen Einung mit dem absoluten Subjekt. Ganz im Gegenteil beschreibt er das absolute Subjekt vielmehr im endlichen Subjekt als innerweltlich, bzw. innerzeitlich zu sich kommend – also gerade die umgekehrte Bewegung, als die von Plotin beschriebene. Dies zeigt, dass er zwar die Struktur der neuplatonischen Ekstasis übernimmt, diese allerdings fundamental verändert, indem er gleich­ sam ihre Richtung diametral umkehrt. Aufgrund dieses Sachverhaltes kann die Ekstasis bei Schelling als innerweltliches Ineinsgehen zweier Bewegungen, derjenigen des erkennenden Subjektes und derjenigen des sich aussprechenden Absoluten, angesehen werden, die gleichwohl die Eigenständigkeit der beiden Pole nicht aufgibt. Dies gelingt Schelling dadurch, dass er das Ineinsgehen dynamisch denkt, wie im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlich dargestellt wird.300 Für das hiesige Thema bezeichnend ist darüber hinaus eine Passage aus der Enneade VI, 9, die davon spricht, dass in der Einung der erkennenden Seele mit dem Einen die Dualität von Aktivität auf der einen Seite und Empfänglichkeit auf der anderen aufgehoben wird. Weil die Ratio jedoch immer gemäß dem Grundsatz »determinatio est negatio« agiert, sei sprachlich-rational nur schwer zu fassen, was in der Ekstase geschieht. Plotin führt aus: Das Sehen und das, was gesehen hat, ist demgegenüber nicht mehr sprachlich-rational, sondern größer als jede sprachlich-rationale Struktur, es kommt vor ihr und liegt über ihr, genauso wie das Gesehene. […] Man sollte wohl auch nicht einerseits von ›wird sehen‹ und andererseits vom ›Gesehenen‹ sprechen, insofern man unvermeidlicherweise beides als zweierlei anspricht – Sehendes und Gesehenes –, aber nicht beides zusammen als eins; der Versuch, so etwas sprachlich darzustellen ist in der Tat riskant. (Enn. VI 9 [9], 78f.)

Vgl. Kapitel II.5.3. Vgl. die kritischen Bemerkungen gegenüber der Schau beispielsweise eines Jakob Böhmes z.B. in der Einleitung zu den Weltaltern, WA I, 7. 300 Vgl. Kapitel II.5. 298

299

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

So wie Plotin hier von einem Ineinsgehen von Sehen und Gesehenem, von Aktivität und Passivität spricht, wird im Folgenden bezogen auf Schellings Ekstasis-Figur deutlich werden, dass auch er aktivische und passivische Momente verbindet, ja dass für Schelling hier ebenfalls höchste Aktivität mit höchster Empfänglichkeit zusammenfällt und die Ambivalenz der Ekstasis unter anderem dadurch zutage tritt, dass sie zugleich durch das individuelle als auch durch das absolute Subjekt verwirklicht wird.301 Festhalten lässt sich also, dass Schelling mit dem Ekstasis-Begriff als Nachfolger der intellektuellen Anschauung sich durchaus bewusst innerhalb der Tradition des Neuplatonismus verortet. Dass Schelling mit seiner Darstellung der Ekstasis gleichwohl eine Verschiebung des Begriffes vornimmt, die in ihrem Ergebnis nicht mehr als transzendente, sondern vielmehr als immanente Einungsfigur zu denken ist, die eine innerweltliche Sprengung des rationalen Selbstbewusstseins zum Ziel hat, ist bereits in den Grundzügen dargelegt und wird in der folgenden Untersuchung des mit der Ekstasis einsetzenden Prozesses in Kapitel II.5 weiter vertieft werden.302 Durch diese Verschiebung gelingt es Schel­ ling, den Moment von Krisis und Wandlung neuzeitlicher Subjektivität herauszustellen, ohne dabei eine Flucht aus der Brüchigkeit diesseitiger Existenz das Wort zu reden. Gerade in der prekären Lage endlicher Subjektivität wird in der Selbstüberwindung momenthaft eine Verwand­ lung wirklich. Mit der Betonung der Immanenz rückt Schellings Ekstasis-Figur zugleich nahe an die von Baader in seiner Schrift Über die Ekstase oder das Verzücktsein der magnetischen Schlafredner von 1817 hergestellte Verbindung von Magnetismus, Clairvoyance und Ekstase.303 Auch wenn das Verhältnis zwischen Schelling und Franz von Baader zum Zeitpunkt der Übersiedlung nach Erlangen bereits merklich abgekühlt war, soll im folgenden Exkurs Baaders Auffassung der Ekstasis als Rezeptionshinter­ grund für Schelling kritisch befragt werden.

301 Den Zusammenhang der Figuren bei Plotin und Schelling hat auch Leinkauf gesehen. Vgl. Leinkauf 1998, 34. 302 Diese Verschiebung, die zugleich als Kritik an einem völligen Aufgehen des Subjektes in der Transzendenz des Absoluten zu lesen ist, wird flankiert durch Schellings Kritik an der Emanationslehre (vgl. AA II,10,1, 530; vgl. auch WA I, 88f.). 303 Vgl. Baader, Werke IV, 3–40. Die Schrift steht exemplarisch für Baaders Nachdenken über Magnetismus, Clairvoyance und Divination, zu denen weitere kleine Abhandlungen existieren, alle zusammengefasst im IV. Band von Baaders Werken.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

b) Die theosophische Lesart der Ekstase bei Franz von Baader Bevor nun ein Blick auf die umstrittene theosophische Rezeptionslinie des Ekstasis-Begriffes geworfen wird, sei zunächst betont, dass Neupla­ tonismus und Theosophie nicht als Antagonismen zu gelten haben, sondern dass sogenannte theosophische Autoren wie Böhme, Oetinger, Swedenborg und Baader vielmehr von Anfang an wichtige Gedanken aus der platonisch-neuplatonischen Tradition übernommen und sich anverwandelt haben.304 Als wichtigste Differenz zum Neuplatonismus vereint die theosophischen Denker vor allem die Hinwendung zu Natur und Kosmos und deren Aufwertung als in die Erscheinung getretenem Geist, die einem Schelling selbstverständlich nahe lag. Die wechselseitige und wechselvolle Auseinandersetzung zwischen Schelling und Baader umfasst beinahe ein halbes Jahrhundert. Eine erste Kenntnisnahme über die Schriften des jeweils anderen findet im Jahr 1798 statt, in dem Schellings Schrift Von der Weltseele und Baaders Abhandlung Über das pythagoreische Quadrat in der Natur erscheinen. Während die erste Phase der Auseinandersetzung bis zum persönlichen Kennenlernen im Jahre 1806 vor allem von der Diskussion über die duale oder ternarische bzw. quaternarische Kräftestruktur der Natur geprägt ist,305 treffen sich die beiden Naturphilosophen seit Schel­ lings Übersiedlung nach München in ihrem gemeinsamen Interesse für Jakob Böhme, Oetinger und dem tierischen Magnetismus.306 Dieser beiderseitig anregende Austausch kulminiert 1809 und findet seinen Ausdruck in den zeitgleich erschienenen Schriften Über das Wesen der menschlichen Freiheit von Schelling und dem Abhandlungs-Band Beiträge zur dynamischen Philosophie im Gegensatz zur mechanischen von Baader, die den ideellen Dialog widerspiegeln.307 Die im Weiteren stattfindende Distanzierung hatte zunächst noch keine Auswirkung auf die wechselseitige wissenschaftliche Anerkennung. So zeigt eine Stelle aus einem Brief Baaders, dass die beiden Philosophen noch 1817 im Austausch standen und zwar genau über dasjenige Phänomen, das Baader in seiner Ekstase-Schrift verhandelt: den Somnambulismus.308 Im selben Auf diese Tatsache haben sowohl Beierwaltes als auch Zovko dezidiert hingewiesen. Vgl. Beierwaltes 1972, 3, 109; Zovko 1996, 22. 305 Vgl. Zovko 1996, 29–78. 306 Vgl. Zovko 1996, 86–107. 307 Vgl. Schwaetzer 2020 sowie Zovko 1996, 100f. 308 »Dr. Schelling gibt mir die Vermutung, daß die Konvulsionen der Somnambulen öfter Erscheinungen nichtgelungener actio in distans, oder Versuche ihrer Reproduktion im 304

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Jahr kritisiert Schelling allerdings den unvorsichtigen und vorschnellen Umgang Baaders mit den der Gefahr des Obskuren ausgesetzten Fragen des tierischen Magnetismus.309 Spätestens mit Baaders Lobrede auf Hegels Philosophie in seinen Fermenta cognitionis, die im Jahre 1822 erschienen, ist der endgültige Bruch vorprogrammiert, der mit einem letzten Briefwechsel im Jahre 1825 besiegelt wird.310 Baaders Nachdenken über nichtdiskursive Formen des Erkennens ist vielgestaltig und seine Überlegungen zur Ekstasis bilden lediglich einen Teil davon ab. Auch während der Zeit des engen persönlichen Austausches zwischen Schelling und Baader um das Jahr 1809 arbeitet Baader an Erkenntnisfiguren, die – z.B. unter dem Stichwort der »Ein­ wohnung« – nahe an die von Schelling in Erlangen ausgearbeiteten Motive heranreichen, da sie ebenfalls von einem Ineinsgehen zweier Instanzen in einer nichtdiskursiven Erkenntnisform handeln.311 Mit Franz von Baader ist demnach eine Persönlichkeit aufgetan, die Schellings Interesse für geistige Vollzüge jenseits des transzendentalphi­ losophisch geprägten Idealismus teilt. Das komplexe und vielschichtige Verhältnis der beiden Denker auszuweisen ist hier jedoch nicht der Ort, da es lediglich um die rezeptionsgeschichtlichen Hintergründe der Ekstasis zu tun ist, die Baader terminologisch und explizit in seiner bereits erwähnten Schrift von 1817 thematisiert. Dabei geht es vor allem leiblichen Organismus sein könnten, und ich finde diese Vermutung sehr wert, durch weitere Versuche verfolgt zu werden.« Baader, Werke XV, 327. 309 Bei dem schwedischen Dichter Atterbom findet sich folgende Paraphrase: »Schelling behauptet, daß er [Baader] nicht in dem Grade Vorsicht und Ruhe besitze wie nötig und daß er deshalb, obwohl mit der genialen Scharfsinnigkeit begabt, welche geniale Experi­ mente erfordern, sowie mit der Reinheit des Willens, Herzens und der Sitten ausgestattet, welche nothweniges Bedingnis für einen Magnetiseur seien, doch ungeachtet seines etwas einseitigen Enthusiasmus für die Sache nicht genug gegen die Art Zweideutigkeit auf der Hut sei, welche nicht in den faktischen Phänomenen der Experimente, wohl aber in der Nächtlichkeit und Bedenklichkeit des Prinzips liege, das dieselben hervorbringt« (Atterbom 1970, 150f.). 310 Vgl. Zovko 1996, 128‒130. 311 Den Begriff der Einwohnung entwickelt Baader im Zusammenhang mit seinem Vergleich des Erkenntnisvermögens mit dem Zeugungstrieb. Erkennen heiße nicht bloß ein äußerliches Anerkennen, sondern ein dynamisches, d.h. innerliches Durchdringen des Erkannten. »Alles Durch- und Eindringen ist aber in seiner Vollendung ein Umgreifen, und eben darum ein Bilden und Gestalten, folglich ein gestaltempfangendes Erhobenwer­ den des so Durchdrungenen in das Ein- und Durchdringende von ihm.« (Werke I, 42) Durch die dynamische Erkenntnis als Einwohnung bzw. »Inwohnung« entstehe »eine wechselseitige Lust des Erkennenden und Erkannten. Es ist Gottes Lust, sich in seinem Gleichniss [dem in der Erkenntnis aufgehenden Ebenbild des Erkannten] zu besitzen.« (Baader, Werke I, 53) Vgl. hierzu auch Schwaetzer 2020.

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darum, von der Lesart des Ekstasis-Begriffes bei Schelling die Deutung Baaders in den Blick zu nehmen. Wie verhält es sich mit dem Ekstase-Begriff in dieser Abhandlung, deren Inhalt Schelling offensichtlich bekannt war? Baader vertritt dort die Auffassung, dass mit der Entdeckung des Magnetismus und den damit einhergehenden Phänomenen der Clairvoyance und der Hypnose eine Form der diesseitigen Ekstase möglich geworden ist, die in der Tradition lediglich als transzendente Schau bekannt war.312 Der Unter­ schied zum Alltagsbewusstsein bestehe darin, dass der Hellsehende ohne die leiblichen Sinne in die Welt blicke. Diesen sinnlichkeitsfreien Zustand beschreibt Baader auch als »magischen« Zustand,313 in dem im Individualbewusstsein ein Universales (der ›homme général‹) moment­ haft aufscheint. Bezeichnend ist, dass Baader den Zustand des Magi­ schen, der durch die Ekstasis ausgelöst wird, ebenfalls als einen Vollzug beschreibt, der »durch das Zusammentreffen [von] Passivität und Activi­ tät begründet wird«.314 Erst nachdem sich der Mensch so entkörpert (nie­ dere Ekstase) könne sich die höhere Welt im Menschen spiegeln (höhere Ekstase). Während das Alltagsbewusstsein als peripherisch beschrieben wird, rücke die Ekstase den Menschen wiederum ins Zentrum, in dem er ursprünglich verortet war.315 Im Gegensatz zu Schelling bewertet Baader die »niedere Ekstase« als notwendigen Durchgangspunkt zu einer »höheren Ekstase«. Schel­ ling seinerseits unterscheidet in der siebten und achten Erlanger Vorle­ sung ebenfalls zwei Formen der Ekstase, eine »im schlechten Sinn«, die den Menschen von der ihm gebührenden Position in eine gegenteilige versetzt und zur Besinnungslosigkeit führt, und eine, die den Menschen zur Besinnung bringt, indem sie ihn aus der falschen Einheit mit dem sich entziehenden Absoluten befreit und in die Peripherie zurückwirft und in einen Zustand des Nichtwissens versetzt (vgl. AA II,10,1, 209f.). Ebenso wie Baader versteht auch Schelling die Ekstasis als inner­ weltliches Geschehen und kennzeichnet ihren Vollzug durch ein Zugleich von Aktivität und Passivität. Insofern lässt sich durchaus eine systematische Nähe von Schelling und Baader festhalten. Allerdings grenzt Schelling sich ab von jeglicher Form des Irrationalismus, indem er die niedere Ekstase als Besinnungslosigkeit verwirft. Während Baader die 312 313 314 315

Vgl. Baader, Werke IV, 3. Vgl. auch Bonchino 2014, 120. Vgl. Baader, Werke IV, 3. Baader, Werke IV, 11. Vgl. Baader, Werke IV, 5.

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reale Seite des Magischen hervorhebt, bleibt Schelling dem Idealismus stärker verhaftet. Offensichtlich ist es Schellings Anliegen, der Ekstasis gerade nicht den Beigeschmack eines obskuren Somnambulismus zu geben, wenn er mehrfach die Notwendigkeit des Aufrechterhaltens eines – wenn auch völlig gewandelten – Vermittlungscharakters betont (vgl. AA II,10,1, 253).316 Insofern bedient sich Schelling durchaus bewusst der entsprechen­ den Rezeptionshintergründe des Ekstasis-Begriffes, nicht ohne ihnen allerdings durch die spezifische Erlanger Systemkonzeption einen indi­ viduellen Charakter zu geben, der unmittelbar auf das Motiv der Krisis neuzeitlicher Subjektivität weist. Um dies zu verdeutlichen ist im Folgen­ den das Verhältnis von der Ekstasis in den Erlanger Vorlesungen zur Figur der intellektuellen Anschauung näher zu untersuchen.

3. Die Ekstasis und ihr Verhältnis zur intellektuellen Anschauung (VL 7–8) In den beiden vorhergehenden Kapiteln wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, das Verhältnis von der Figur der Ekstasis zur intellektu­ ellen Anschauung zu bestimmen. Die intellektuelle Anschauung wurde in ihren Spielarten im Verlauf von Schellings Werk verfolgt und die rezeptionsgeschichtliche Folie des Ekstasis-Begriffs geklärt. Wenn Schelling in der siebten Erlanger Vorlesung die Ekstasis als unproblematische Folgefigur für die intellektuelle Anschauung stilisiert, verdeckt er damit – wie so oft317 – die nicht unwesentlichen Verschiebun­ gen, die mit dieser Neuformulierung einhergehen. Um die Spannung aufzuzeigen zwischen Schellings Anspruch, die Ekstasis in die Entwick­ lungslinie der intellektuellen Anschauung in seinem Werk bruchlos einzureihen, und den nicht von der Hand zu weisenden Verschiebungen, die mit dieser Reformulierung einhergehen, soll hier die systematische Stellung der Ekstasis im Gesamtgefüge der Erlanger Systemkonzeption diskutiert werden. Dabei sollen die Verschiebungen den Deutungshinter­ grund für Schellings Neukonzeption der Subjektivität in den Erlanger Vorlesungen liefern. Vgl. hierzu auch Kapitel II.5.3. Die Tendenz Schellings, Inkonsistenzen in der Entwicklung seines Werkes durch die Beteuerung der Stringenz und Bruchlosigkeit zu glätten, wenn nicht sogar zu verdecken, ist weithin bekannt. 316

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Hinsichtlich der Bedeutung der Ekstasis wird sich zeigen, dass sie eine doppelte Funktion erfüllt, nämlich zugleich Moment der Selbstauf­ gabe des natürlichen Wissens und Akt der Einsetzung des absoluten Sub­ jektes zu sein (a). In dieser doppelten Funktion fungiert sie als Initial­ punkt für das mit ihr einsetzende Wechselgeschehen von erkennendem und absolutem Subjekt, das sich in der ›aktiven Passivität‹ fassen lässt. Um den Status dieses Initialmomentes näher zu bestimmen, ist in einem zweiten Schritt das Verhältnis der Ekstasis zur Zeit zu untersuchen, besteht dieses doch aus einer komplexen Form der Gleichzeitigkeit von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit, die sich in einer ›Theorie des Augen­ blicks‹ niederschlägt (b).

a) Die Bedeutung der Ekstasis in den Erlanger Vorlesungen Es kommen, wie gezeigt, in Erlangen mehrere Gründe für die Einführung der Ekstasis zusammen. Dabei handelt es sich einerseits um schlicht stra­ tegische Gründe – mit Blick auf die in Verruf geratene Erkenntnisfigur des Frühidealismus –, andererseits aber vor allem um inhaltliche Gründe, die Schelling zur Neukonzeption der intellektuellen Anschauung zwingen und die mit dem Terminus der Ekstasis terminologisch so präzise wie mit keinem anderen gefasst werden können.318 Hier wird – wie oben bereits angedeutet – die These vertreten, dass Schelling in Erlangen die letzte Konsequenz aus der Distanzierung von der intellektuellen Anschauung zieht, indem er die radikale Selbst­ transformation der Subjektivität zur unhintergehbaren Voraussetzung für die Ekstasis macht. Diese Konsequenz beruht auf der seit 1806 immer deutlicher hervortretenden Betonung des Verkehrungszusammenhangs, in den verstrickt sich die endliche Subjektivität vorfindet. Die Ursache für diesen Verkehrungszusammenhang findet Schelling in dem Abfall des Menschen vom göttlichen Prinzip. Mit der Adressierung der Freiheit des Menschen als Vermögen des Guten und des Bösen wird die Bedeutung des Falls bzw. der ›intelligiblen Tat‹ hervorgehoben, die den Verkehrungszusammenhang verursacht hat. Vor diesem Hintergrund kann Schelling nicht mehr von der gege­ benen Struktur der endlichen Subjektivität ausgehend lediglich deren 318 In der Forschung lässt sich im Wesentlichen zwischen drei Argumentationssträngen zur Begründung für die Einführung der Ekstasis unterscheiden: Die etymologische, die strategische und die systematisch-inhaltliche Begründung. Vgl. hierzu die Diskussion zum Forschungsstand in der Einleitung, Kapitel 2.

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

Steigerung in der intellektuellen Anschauung verfolgen. Diese Steigerung käme der Selbstüberhebung des abgefallenen Partikularprinzips über das Universalprinzip und damit dem Bösen gleich. Ein Vorwurf, den Schelling bekanntlich gegenüber Fichte erhebt, wenn er die Tathandlung im Sinne einer autopoietischen Selbstermächtigung als »eigentliches Prinzip des Sündenfalls« (SW VI, 43) bezeichnet. Was Schelling folglich benötigt, ist eine Denkfigur, die eine radi­ kale Conversio fordert und damit letztlich als Gegenfigur zur intelligib­ len Tat der Freiheitsschrift fungieren kann, indem sie das partikulare Bewusstsein von seiner Selbstüberhebung wiederum einsetzt in die ihm gebührende Stelle (vgl. AA II,10,1, 209). Im Gegensatz zur intellektuellen Anschauung, die das empirische Subjekt nicht notwendig als abgefallenes und dadurch »verkehrtes« Subjekt begreift, verlangt die Ekstasis, so die bereits angedeutete These, eine völlige Transformation der Subjektivität und sprengt damit konsequent den Rahmen des reflexiven Selbstbe­ wusstseins, ohne dabei in einen Irrationalismus zu verfallen.319 Dass die Ekstasis die intellektuelle Anschauung radikal überbietet und dabei – paradox genug – einen ungleich differenzierteren epistemi­ schen Status gegenüber der Frage nach der Erkenntnis des Absoluten aufweist, zeigt sich erstens an der Sprengung jeglicher Strukturen des natürlichen Selbstbewusstseins, zweitens an der Umkehr der neuplatoni­ schen Aufstiegsbewegung hin zu einer inkarnatorischen Bewegung des Absoluten und drittens an der Umkehr transzendentalphilosophischer Erkenntnisparadigmen zugunsten eines kleinschrittig ausbuchstabierten medialen Erkenntnisvollzuges, der sich im Wechselgeschehen von erken­ nendem Subjekt und Absolutem manifestiert. Alle drei Punkte werden im Folgenden ausgeführt. Hinsichtlich der Kritik an der Struktur des natürlichen Selbstbe­ wusstseins bietet sich erstens der Terminus der Ekstasis aus etymologi­ schen Gründen insofern an, als er in ausgezeichneter Weise das Absehen der Subjektivität von sich selbst betont.320 Jegliche Philosophie, die die 319 Die rigorose Abgrenzung von einer Glaubens- und Gefühlsphilosophie eines Jacobi oder Eschenmayer zeugt von Schellings Bemühen, die Ekstasis von aller Irrationalität zu befreien. Indem er ihren Vollzug epistemologisch ausbuchstabiert, profiliert er sie als ausgezeichnete Erkenntnisform, wie im folgenden Kapitel (II.5) gezeigt wird. 320 Dass Schelling die Ekstasis tatsächlich auch aufgrund ihrer wörtlichen Bedeutung zum zentralen Begriff in den Erlanger Vorlesungen macht, zeigt eine komplementäre Formulierung in den Mitschriften zur zwanzigsten Vorlesung, in denen Schelling den Begriff der »Enstasis« für das Dasein, nämlich als das nicht gewollte Vorfindliche, den Begriff der Ekstasis für die Existenz des Geistigen verwendet: »Es tritt überall als das

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

natürliche Subjektivität des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt – sei es, indem sie durch Versenkung dieselbe ergründen oder indem sie sie durch Steigerung erhöhen will – verkennt den ursprünglichen Missbrauch der Freiheit in der intelligiblen Tat, der durch alle Zeit hindurch wirkt und allem Handeln des natürlichen Subjektes immer schon einen Verfehlungscharakter einschreibt.321 Gerade nicht das »in te ipsum redi« eines Augustinus,322 sondern das Absehen von der Eigenheit ist für Schelling der einzige Ausweg aus dem Verkehrungszusammenhang des verobjektivierenden Wissens. Nur die radikale Conversio, in der sich der Mensch alles Wissens begibt, sich selbst bescheidet und alles Wissen-Wollen zugunsten eines »Nichtwissens« aufgibt, ist der Ausweg aus dem ewigen und verzweiflungsvollen Zirkel der Subjektivität, die sich allein auf ihre Selbstbezüglichkeit gründen will. Um das hier gemeinte »Nichtwissen« näher zu fassen, findet sich in der siebten Vorlesung die entsprechende Formulierung, die die Eksta­ sis als Folgefigur für die intellektuelle Anschauung einführt. Schelling schreibt in seinem Manuskript: Man hat dieses ganz eigenthümliche Verhältnis [des Nichtwissens zum absoluten Subjekt, J.H.] sonst wohl auszudrücken gesucht durch das Wort intellektuelle Anschauung. Anschauung wollte man dies Nichtwissen nennen, weil im eigentlichen Anschauen – oder da diß Wort gemein geworden – im Schauen das Subjekt sich verlirt, außer sich gesetzt ist – intellektuelle Anschauung um auszudrücken, das es hier nicht wie in dem sinnlichen Anschauen in ein wirkliches Objekt verloren sey, sondern verloren und sich selbst aufgebend in dem was gar nicht Objekt seyn kann. Allein eben weil dieser Ausdruck erst der Erklärung bedarf, so besser ihn ganz bey Seite zu setzen. – Eher sagen: Ekstase, Εκστασις – das Außer sich gesetzt werden. (AA II,10,1, 202)323 Geistige heraus und das Geistige eben ist das einzig Existirende; schon das Wort existo zeigt es an, welches nahe verwandt ist mit εξισταμαις, so daß also existentia entspricht der εκστασις, so wie das Seinkonnende, das Dasein, ενστασις« (AA II,10,2, 733). 321 Vgl. hierzu Hühn 1998, 60. 322 Vgl. Augustinus: De vera religione 39, 72. 323 Bereits in den Weltaltern finden sich diverse Stellen, die in gleicher Manier das Absehen des Subjektes von sich selbst fordern, ohne dabei bereits über den Terminus der Ekstasis zu verfügen. Vgl. beispielsweise: WA II, 103: »Warum rufen dem Menschen alle höheren Lehren so einstimmig zu, sich von sich selbst zu scheiden und geben ihm zu verstehen, daß er alles vermögen und in alle Dinge wirken würde, wenn er nur sein höheres Selbst zu befreyen wußte von dem untergeordneten? Den Menschen hindert das In-sich-gesetzt seyn; höheres vermag er nur in dem Maß, als er sich außer sich zu setzen – außer-sich-gesetzt zu werden vermag, wie es unsre Sprache treflich bezeichnet; […].«

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

Dass die intellektuelle Anschauung hier von Schelling unter der Hand als Selbstaufgabe und nicht als Selbstkonstitution des Subjekts gedeu­ tet wird, widerspricht selbstverständlich jeglicher transzendentalphi­ losophischen Variante derselben und knüpft zugleich an die Lesart Schellings beispielsweise der intellektuellen Anschauung der Natur an, in der er bereits das Absehen von aller Subjektivität gefordert hatte. Allerdings wird auch dort die intellektuelle Anschauung noch vor dem Hintergrund des unhinterfragten Paradigma eines Selbstbewusstseins adressiert, das sich lediglich zu befreien habe von der subjektiven Kom­ ponente, in seiner Struktur dabei jedoch unverändert bleibt und somit den Verkehrungscharakter seiner selbst nicht thematisiert. Nicht so in Erlangen. Das Außer-sich-Setzen des Subjektes markiert einen ungleich radikaleren Schritt, indem es die Sprengung des Rahmens jeglicher Selbstbewusstseinsstrukturen bedeutet. Hier ist, wie Lore Hühn bemerkt hat, die cartesianische Tradition endgültig an eine Grenze gekommen.324 Während die intellektuelle Anschauung, auch die der Natur und letzten Endes auch die Vernunftanschauung des Identitätssystems, die Struktur des natürlichen Bewusstseins zu ihrem Ausgangspunkt nimmt und sie damit unangetastet lässt, überbietet die Ekstasis eben diese Struktur. Sie entlarvt sie als einen »Modus der Selbstverkehrung«325 und durchbricht damit radikal dessen verobjektivierende Aneignungslogik, indem sie das Wissen von der Bewegung des Absoluten her begründet. Mit der Forderung nach einer radikalen Scheidung von sich selbst ermög­ licht die Ekstasis die notwendige Transformation der Subjektivität. Ohne diese Transformation, so der schellingsche Gedanke, muss jeglicher Versuch, die Defizienz des natürlichen Bewusstseins zu überwinden, letzten Endes in sein Gegenteil zurückfallen, da er die Wurzel des Problems nicht zu greifen bekommt und den Fall des Menschen verdeckt, statt ihn zu entlarven. Schelling profiliert die Ekstasis demnach als einen Gegenbegriff zur ›intelligiblen Tat‹.326 Deshalb kennzeichnet er sie als »freie Geistesthat«. Vgl. Hühn 1994, VIII. Vgl. Hühn 1994, 210. 326 Lanfranconi geht so weit, mit Blick auf die Helmes Nachschrift vom System der Weltalter von 1832/33, dem Abfall aufgrund der durch ihn notwendig gewordenen Umkehr eine positive Bedeutung zukommen zu lassen, wenn er bemerkt: »Daß dem ›Abfall‹ jedoch auch eine positive, eine im Schöpfungsplan selbst vorgesehene Bedeutung, ja Notwendigkeit zukommt, – daß nämlich auch diejenige Verkehrung, welche mit dem ›Abfall‹ eintritt, zur bezweckten Umkehrung der Umkehrung unabdingbar ist – macht, weit klarer als die Erlanger Vorlesung, die Helmes-Nachschrift von ›Schellings System der 324 325

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Deshalb spricht er davon, dass sie die Umkehr von der Besinnungslosig­ keit zur höchsten Besinnung gewährleiste. Deshalb bezeichnet er sie als eine Krisis, durch die der Mensch »mitten in der Zeit nicht in der Zeit« in den wiederhergestellten Anfang gestellt sei (AA II,10,1, 197–199). Damit rückt die Ekstasis vordergründig nah an die neuplatonische Lesart heran, denn auch bei Plotin geht es darum, die zu tief gefallene Seele durch den anamnetischen Aufstieg zum Einen von der Verstrickung mit der Endlichkeit zu befreien. Im Gegensatz zu Plotin ist bei Schelling, wie oben bereits angedeutet, nicht eine außerweltliche, sondern vielmehr eine innerweltliche Einung des erkennenden Subjektes mit dem Abso­ luten angestrebt, indem Schelling das »Zu-sich-Kommen« der ewigen Freiheit im erkennenden Subjekt herausstellt. Insofern lässt sich zweitens festhalten, dass die Ekstasis keine Abkehr von der Welt darstellt, sondern dass sich gerade in der kathartischen Umkehr der Subjektivität ein Raum für die innerweltliche Manifestation des Absoluten eröffnet. In der Ekstasis wird die natürliche Subjektivität aufgehoben, die sich im Modus der Verkehrung zu verabsolutieren versucht und dadurch zum Ausdruck des Bösen geworden ist. Die »falsche Einheit« (AA II,10,1, 210) des realen und des idealen Pols im Menschen, durch die das natürliche Bewusstsein konstituiert ist, wird geschieden. Ohne eine radikale Conversio der Strukturen des natürlichen Selbstbewusstseins bliebe das Wissen des Menschen im Modus der Verobjektivierung gefangen, in dem sich das Absolute lediglich durch seine radikale Entzogenheit andeutet.327 In der Entzogenheit bleibt das Absolute allerdings im Modus der Verkehrung als verdrängte Möglichkeitsbedingung der Subjektivität prä­ sent, sodass gerade durch die Verfehlung die Bezogenheit der Subjektivi­ tät auf das Absolute unweigerlich bezeugt wird – wenn auch in der Form eines leidvollen Selbstwiderspruchs.328 Die Verkehrung manifestiert sich im menschlichen Wissen, das lediglich eine Abschattung der ursprünglichen Weisheit darstellt. Denn dieses Wissen ist nicht mehr selbst wirkend und »objektiv hervorbrin­ gend« – das heißt »magisch« –, sondern, wie in Kapitel II.3.6 aufgewie­ sen, nur ideell – subjektiv – nachbildend. Weil dieses Wissen jedoch Weltalter‹ […], also die Nachschrift der Münchener Vorlesung vom WS 1832/33 und SS 1822 klar.« Dort werde der Abfall als Hemmung im Schöpfungsprozess zugleich als Anlass für die Wiederholung des Schöpfungsprozesses in einer höheren Potenz profiliert (vgl. Lafranconi 1992, 261f.). 327 Vgl. hierzu Kapitel II.5.1. 328 Vgl. Hühn 1998, 61f.

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

kein gänzlich Anderes der ursprünglichen Weisheit ist, sondern dem Wesen nach die Weisheit in ihrer Verkehrung in sich birgt, kann es zum Ausgangs- und Durchgangspunkt – zum »offenen Punkt« – für die Rückkehr zur Weisheit werden, indem es durch seine Selbstaufgabe sich wiederum umkehrt (vgl. AA II,10,1, 191). Diese Selbstaufgabe denkt Schelling nun allerdings nicht als allei­ nige und zureichende Urheberschaft für die Umkehr. Sie ist vielmehr nur dann möglich, wenn die ewige Weisheit als dasjenige Wesen, das durch alles hindurchgeht und nichts zugleich ist, sich selbst im Menschen sucht, in dem sie sich verloren hat (vgl. AA II,10,1, 190): »Darum« – so Schelling in den Worten der salomonischen Sprüche – »liegt sie dem Menschen an, sie in sein Innres aufzunehmen – liegt vor der Thür, sie verlangt nichts andres, als daß der Mensch ihr sich öffne, ihr sich gebe« (AA II,10,1, 194). Insofern – und darin liegt die Differenz zu neuplatonischen Auf­ stiegswegen – erfüllt die Ekstasis nicht die Funktion einer aus dem Subjekt hervorgebrachten Abkehr von der Welt und Hinwendung zum Absoluten, sondern Subjekt und Absolutes, bzw. dessen wesenhafter Aspekt als wirkende Weisheit, sind in einem wechselseitigen Bedürf­ tigkeitsverhältnis untrennbar aufeinander bezogen. Weil Schelling im Bewusstsein des Menschen dessen unwiderruflichen Verkehrungscha­ rakter identifiziert, weiß er es zugleich bezogen auf eine ihm hinterlegte Wahrheit eines unschuldigen Urzustands, der gleichwohl immer schon der Vergangenheit angehört.329 Damit liegt in der ursprünglichen Verfeh­ lungstat zugleich der Keim für deren Überwindung, die ebenfalls in der und durch die Zeit hindurch immer nur in der Zukunft liegt, weil sie – qua ihrer Funktion als Sprengung des kausallogischen Verkehrungszusam­ menhangs und des damit verbundenen natürlichen Selbstbewusstseins – die gegenwärtige Zeitlichkeit durchbricht.330 Die Pointe der Ekstasis ist aber nicht allein, dass sie die Gegenfigur zur intelligiblen Tat darstellt, sondern dass sie nur vollzogen werden kann durch ein mediales Geschehen, in dem zwei Subjekte (endliches und absolutes Subjekt) in einem wechselseitig sich bedingenden Vollzug ineinandergreifen, ohne sich gegenseitig aufzugeben. Denn die ewige Freiheit kann sich nur im endlichen Subjekt finden, indem dieses wil­ lentlich seinem Wissen-Wollen entsagt und das endliche Subjekt kann nur seinem Wissen-Wollen entsagen, indem die ewige Freiheit sich in Vgl. zu Schellings Verständnis eines »Organismus der Zeiten« WA I, 73–87. »Es ist daher nicht unmöglich, daß der Mensch die wieder zu sich gekommene ewige Freiheit – absolutes Centrum war – aber eben weil er diese war sich auch wieder peripherisch machte« (AA II,10,1, 198). 329

330

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ihm sucht. Diese wechselseitige Bezogenheit impliziert ein Abrücken von einem reinen Aufstiegsweg zugunsten eines zentralen Geschehens, in dem durch die grundlegende Conversio der Subjektivität der Raum geöffnet wird für die inkarnatorische Manifestation der ewigen Freiheit im – gewandelten – Menschen. Statt einer Abkehr von der Welt steht die Wandlung der Welt im Vordergrund. Erst das damit verbundene »Wiedererringen« eines Bewusstseins, in dem ewige Weisheit und endliches Wissen in eins gehen, wird von Schelling als »menschliche Philosophie« bezeichnet (AA II,10,1, 198).331 Damit treibt Schelling aber drittens die transzendentalphilosophischen Erkenntnisparadigmen über sich selbst hinaus und kehrt sie gleichsam um, indem er das, was erkannt werden soll, zu dem sich selbst erkennen­ den Subjekt macht, also zur aktiven Instanz der Erkenntnis, während das erkennende Bewusstsein selbst lediglich den Austragungsort und die ›Basis‹332 für das eigentliche Geschehen bildet, sich also zur aufnehmen­ den, passiven Instanz verwandeln muss. Das natürliche, verobjektivierende und damit, von der nachkanti­ schen Philosophie her gesprochen, das transzendentalphilosophische Bewusstsein ist für Schelling eine »Umkehrung des wahren Verhältnis­ ses« (AA II,10,1, 203), weil es sich gegen die ewige Freiheit, die es in sich verwirklichen sollte, zum Subjekt und diese damit unweigerlich zum Objekt macht. Da die ewige Freiheit als Absolutes grundsätzlich nicht verobjektivierbar ist, wird das natürliche Bewusstsein ihr immer nur im Modus der Entzogenheit habhaft. Jeglicher Philosophie, die von dieser Form des Bewusstseins aus­ geht, ohne zuvor deren Umkehr zu fordern, wird von Schelling »große Verwirrung« prognostiziert.333 Insofern legt Schelling in den Erlanger Vorlesungen stärker als je zuvor den Fokus auf die Defizienz alles natür­ lichen Wissens und, damit einhergehend, auf die ›Reinigung‹ (vgl. AA II,10,1, 203) bzw. notwendige Verwandlung dieses Wissens. Während die früheren Formen der intellektuellen Anschauung, die mit demselben Impetus eine vom diskursiven Bewusstsein radikal Es ist bezeichnend, dass Schelling nicht den Zielpunkt der Entwicklung – das wiedererrungene Bewusstsein – als Beginn der »Philosophie als Wissenschaft« markiert, sondern gerade die Umkehr und das »Wiedererringen«, also den Weg hin zu einer Überwindung des objektivierenden Bewusstseins. Das ist ein Indiz dafür, dass der Fokus der Erlanger Vorlesungen nicht so sehr auf der gelungenen Verwirklichung der Ekstasis, sondern vielmehr auf deren Prozess liegt. 332 Vgl. zum Begriff der Basis bei Schelling Moiso 1995, 192‒194. 333 Als Beispiel einer solchen Verwirrung gibt Schelling die strikte Trennung von Natür­ lichem und Übernatürlichem an (vgl. AA II,10,1, 204). 331

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II.4 Einordnung: Ekstasis und intellektuelle Anschauung

unterschiedene Zugangsform zum Absoluten forderten, lediglich eine Loslösung vom natürlichen Wissen und ein ›Aufschwingen‹ zur Schau verlangten, muss im Falle der Ekstasis, so die hier vertretene These, das natürliche Wissen in seiner Verkehrung gleichsam gewendet werden hin auf seinen ursprünglichen und in der sündentheologisch aufgeladenen intelligiblen Tat auf tragische Weise unwiderruflich zurückgelassenen Ursprung in der Lauterkeit des Absoluten, indem sich der Partikular­ wille durch Selbstzurücknahme zur Grundlage der Manifestation dessel­ ben bereitet. Diese Verwandlung bedeutet gerade nicht, dass der Mensch, der sich im Verkehrungszusammenhang des endlichen Bewusstseins vorfindet, grundsätzlich allem Wissen entsagen muss. Mit der Abkehr von den transzendentalphilosophischen Erkenntnisparadigmen wird, so Schel­ lings Anspruch, also gerade nicht einer Glaubens- oder Offenbarungs­ philosophie das Wort geredet. Schelling kennt neben dem Wissen des natürlichen Bewusstseins und dem Nichtwissen des Glaubens eine weitere Form, mit der er an die von Sokrates gestiftete Tradition eines nichtwissenden Wissens anknüpft, es aber weniger als Bewusstsein von den eigenen Grenzen des Wissens als vielmehr in verblüffender Nähe zu Nikolaus von Kues als ein gewandeltes Wissen beschreibt,334 dessen das erkennende Subjekt zwar »inne wird« – man beachte die passivische Struktur dieser Formulierung – über das es aber nicht selbst verfügt. Zur Veranschaulichung der Methode und Struktur dieses Wissens sei erneut die hierfür entscheidende Textpassage zitiert: Philosophie ist um es mit einem Wort auszusprechen – freye Geistesthat – ihr erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens für den Menschen. So lang Er noch wissen will, wird ihm jenes absolute Subjekt zum Objekt werden – und er wird es eben darum nicht an sich erkennen. Indem er sagt: ich, als ich, kann nicht wissen, ich – will nicht wissen, indem Er sich des Wissens begibt, macht er Raum für das, was das Wissen ist, nämlich für 334 Vgl. zur docta ignorantia des Nikolaus von Kues eine Passage aus dem Widmungsbrief an den Kardinal Julian zu seinem gleichnamigen Werk: »Empfange nun, ehrwürdiger Vater, was ich schon längst auf den verschiedenen Wegen philosophischer Systeme zu erreichen mich bemühte, vorerst aber nicht zu erreichen vermochte, bis ich auf dem Meer, als ich von Griechenland zurückkehrte, dazu geführt worden bin – ich glaube durch ein Geschenk von oben, vom Vater des Lichtes, von dem alle gute Gabe kommt –, daß ich das Unbegreifliche unbegreiflicherweise in wissendem Nichtwissen erkennend umfasse, und zwar durch das Übersteigen der unauflöslichen Wahrheiten des menschlichen Wissens« (De docta ign., Epistula auctoris, n. 263; Herv. v. Verf.). Vgl. hierzu im Zusammenhang mit der Philosophie Schellings: Schwaetzer 2011.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

das absolute Subjekt, von dem gezeigt, daß es eben das Wissen selbst ist, in diesem Act, da er sich selbst bescheidet, nicht zu wissen setzt er eben das absolute Subjekt als das Wissen ein – In dem Act dieses Einsetzens werde ich nun freylich seiner inne – als des Überschwenglichen – und dieses inne Werden konnte man wohl auch ein Wissen nennen. Aber es muß gleich dazu ges. werden: es ist ein Wissen, das in Ansehung meiner vielmehr ein Nichtwissen ist – nicht wissendes Wissen. (AA II,10,1, 201f.)

Das Aufgeben des natürlichen Bewusstseins eröffnet den Raum, in den das Absolute eintreten kann. Das dadurch ermöglichte »Innewerden« desselben ist gleichwohl keine irrationale Schau oder mystische Einung. Schelling versteht dieses Innewerden durchaus als ein Wissen, allerdings in gewandelter Form, da es dem erkennenden Subjekt nicht verfügbar ist und insofern als »nichtwissendes Wissen« charakterisiert werden muss. Wie genau ein solches Wissen zu verstehen ist, wird in Kapitel II.5 zu klären sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Figur der Ekstasis in den Erlanger Vorlesungen die Funktion erfüllt, zugleich Moment der Selbstaufgabe des natürlichen Wissens und Akt der Einsetzung des absoluten Subjektes zu sein. Als solche bildet sie das Initium eines Wechselgeschehens von erkennendem und absolutem Subjekt, das in der Folge mithilfe der Figur ›aktiver Passivität‹ näher charakterisiert und gefasst werden wird. Zu klären ist allerdings vorab in einem letzten Abschnitt dieses Kapi­ tels, wie sich die Ekstasis zu Fragen der Zeitlichkeit verhält. Folgender Widerspruch könnte konstruiert werden: Als Initialmoment scheint die Ekstasis lediglich punktuell bzw. augenblickhaft zu wirken. Gleichzeitig profiliert Schelling sie als Anfangspunkt eines Prozesses, dessen Vollzug sich im ekstatischen Bewusstsein abspielt und damit eine zeitliche Aus­ dehnung der Ekstasis voraussetzt. Zudem ist das Verhältnis der Ekstasis zur Überzeitlichkeit zu diskutieren, spricht sich doch in ihr das Absolute und damit das Ewige aus.

b) Die Ekstasis in der Zeit Der Ekstasis als ausgezeichnetes Moment der Selbsttransformation inhä­ riert aufgrund ihrer Funktion des Aufbrechens diskursiver Erkenntnis­ strukturen zugleich eine ›Theorie des Augenblicks‹, in der sich die Überzeitlichkeit, bzw. die Ewigkeit in der Zeit manifestiert. Damit knüpft

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Schelling an das platonische Motiv des Kairos an,335 wie es auch im Idealismus, z.B. in Schillers »ästhetischem Zustand«,336 der die Zeit in der Zeit aufheben soll, sich darstellt. Im Folgenden gilt es die spezifische Stellung der Ekstasis zur Zeit herauszuarbeiten. Die Nähe zur klassischen platonischen Konzeption ist dabei unübersehbar. Darüber hinaus wird deutlich werden, wie Schelling, ausgehend von der Konzeption eines ›Organismus der Zeiten‹ in den Weltaltern, den je und je momenthaft vollzogenen Einbruch der Ewigkeit in die Zeit als Stiftung bzw. Ausfaltung der Zeiten (Vergangen­ heit, Gegenwart, Zukunft) versteht. Bereits hinsichtlich der intellektuellen Anschauung stellt sich die Frage, ob sie bezogen auf die Zeit momenthaft oder zeitlich ausgedehnt zu verstehen sei, und wie sie sich zur Vorzeitigkeit verhalte. Ohne hier differenziert auf die Vielschichtigkeit dieser Frage eingehen zu können, sei lediglich daran erinnert, dass die intellektuelle Anschauung in der Identitätsphilosophie als ein Vermögen charakterisiert wurde, dessen prinzipiell jeder Mensch teilhaftig ist, und das als Organ zur Schau des Absoluten der erkennenden Seele immer schon als eine auf Dauer gestellte Voraussetzung innewohnt (vgl. SW VI, 26f.). Diese Auffassung ändert sich spätestens in den Weltalter-Fragmen­ ten radikal: Aufgrund der oben bereits mehrfach hervorgehobenen Betonung des Verkehrungscharakters alles Wirklichen kann Schelling in ihnen einen latent vorhandenen und ursprünglich gegebenen Zugang zum Absoluten nicht mehr vertreten. Gleich in der Einleitung spricht Schelling im Zusammenhang mit der Mitwissenschaft über die »unbe­ schreibliche Realität jener höheren Vorstellungen«, denen man jedoch keine Dauer verleihen wollen darf, da dies »gegen die Natur und Bestim­ mung des jetzigen Lebens streitet« (WA I, 6f.).337 Zunächst lässt sich folglich festhalten, dass Schelling vorsichtig ist, was die zeitliche Ausdehnung außergewöhnlicher Bewusstseinszustände angeht. Um zu verstehen, wie die Ekstasis mit der Zeitlichkeit zusammen­ hängt, lässt sich freilich noch ein weiterer Hinweis aus den Weltaltern entnehmen, die bekanntlich eine organologisch verstandene Zeittheorie darstellen. Der Übergang von einer Zeitphase zur nächsten wird hier prinzipiell mit der Figur einer Krisis im Sinne eines Aktes der Scheidung Vgl. bspw. Platon, Parmenides, 256 c5–e5. Vgl. Schiller, NA 20, 377f., 397. Vgl. hierzu auch Jahnke 1984 sowie Theunissen 1991. Im Speziellen zu Schellings Theorie der Zeit vgl. Wieland 1956. 337 Vgl. auch Hühn 1994, 181. 335

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aufgefasst. So markiert beispielsweise die Scheidung der drei Prinzipien in Gott, deren widerstreitender Zirkel zunächst alle Zeiten in ungeord­ neter Form in sich verschlungen hält, erst den wirklichen Anfang einer geordneten Zeit. Der Akt der Scheidung selbst wird als vorzeitlicher Akt bestimmt, der zugleich eine Zeit in den Dingen setzt (vgl. WA I, 78). In struktureller Parallelität wurde auch die intelligible Tat in der Freiheitsschrift als ein Akt kennzeichnet, der durch die Zeit hindurch dennoch in der Zeit wirke (vgl. AA I,17, 153). Auf der Grundlage seiner organologischen Zeitauffassung, die in jedem Augenblick Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich enthält (vgl. WA I, 80)338 und als diese »ganze Zeit« in jedem Seienden stets aufs Neue entsteht (vgl. WA I, 78), denkt Schelling, das sei hier zunächst festgehalten, die Koinzidenz von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit. Im Akt der Scheidung als zeitlich-über­ zeitliches Moment wird dabei Zeitlichkeit je und je neu entfaltet. Wie ist nun die Ekstasis als Moment der Krisis in den Erlanger Vorlesungen hinsichtlich ihrer Stellung zur Zeit zu verstehen? Deutlich ist, dass Schelling in Erlangen, wie auch in den Weltal­ tern, davon ausgeht, dass der Mensch ohne Scheidung von sich selbst und von den Vorstellungen seiner Zeit nie aus der Vergangenheit339 und damit aus der endlosen Wiederkehr des Gleichen im Sinne einer »scheinbaren Zeit«, in der wir beständig leben, herauskomme (AA II,10,1, 554). Die Ekstasis als Moment der Krisis, die dem ewigen Umtrieb im natürlichen Bewusstsein ein Ende bereitet, wird demnach als Akt der Scheidung von der »scheinbaren Zeit« verstanden. Als ein solcher Akt bildet sie den momenthaften »Übergang« (AA II,10,1, 210) von dem natürlichen Bewusstsein hin zu dem prozessualen Vollzug eines gewandelten Bewusstseins. Dieser prozessuale Vollzug erscheint – so die hier vertretene These – für das gewöhnliche verobjektivierende Bewusstsein instantan. Im Moment der Krisis faltet sich eine Überschau über den Organismus der Zeiten aus.340 Der Prozess, den die Ekstasis als Übergangsmoment Vgl. hierzu auch AA II,10,1, 554. Vgl. »Der Mensch, der sich nicht scheiden kann von sich selbst, sich lossagen von allem was ihm geworden und ihm sich thätig entgegensetzt, hat keine Vergangenheit oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr« (WA II, 119). 340 In der zwölften Vorlesung macht Schelling dies im Übergang zur Exposition des Systementwurfes deutlich: »Der Widerstreit des menschlichen Bewusstseins endet mit einer Κρίσις die wir als Εκστασις Expansion – gleichsam als eine große Expiration betrachten können. Aber diese Expiration kann auch nur einen Augenblick dauren – in dieser Ekstasis geht uns die ewige Freyheit auf, aber als bloßer lautrer Begriff, der über 338 339

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auslöst, ist nicht mit der sukzessiven »scheinbaren Zeit« des verobjekti­ vierenden Bewusstseins zu vergleichen. In der Ekstasis und in dem von ihr ausgelösten Vollzug fallen demnach punktuelle Momenthaftigkeit und Prozessualität ineins. Insofern wird hier Wieland beigepflichtet, der schreibt, die Ekstasis sei »kein Zustand, sondern Vollzug und Geschehen in eins«. 341 Anders als im platonischen Verständnis des nunc stans wird die Zeit nicht hin auf die Ewigkeit überschritten, sondern im Augenblick wird die scheinbare Zeit aufgehoben zugunsten der eigentlichen Zeit, dem Organismus der Zeiten, der aus dem Augenblick gestiftet zugleich prozessual und punktuell zu verstehen ist. Aus diesem Ausnahmezustand einer innerweltlichen Anwesenheit des Absoluten in der Zeit, der im Folgenden näher ausgeführt wird, tritt das erkennende Bewusstsein heraus, sobald es in den verobjektivieren­ den Zugriff des natürlichen Bewusstseins zurückfällt. Ihm kann demnach im Sinne der »scheinbaren Zeit« keine Dauer verliehen werden. Da das erkennende Bewusstsein in besagtem Vollzug jedoch nicht der völligen Selbstauslöschung anheimgegeben war, wirkt das daraus sich ergebende gewandelte Wissen auch in die Zeit hinein. Wiederum ist zum Ende des Kapitels rekapitulierend die Frage zu stellen, welche Erkenntnisse bis hierhin hinsichtlich der in Erlangen exponierten Diagnose von Krisis und Notwendigkeit zur Selbsttransformation der Subjektivität gewonnen sind? Durch den werkgenetischen Durchgang der Entwicklung des Über­ gangs von intellektueller Anschauung zur Ekstasis ist zutage getreten, dass ihr Auftreten im Werk zusammenhängt mit der spätestens seit 1806 immer stärker hervortretenden Betonung des sündentheologisch gedeuteten Verkehrungszusammenhanges der Endlichkeit. Da die Eks­ tasis ein grundlegendes Absehen von der endlichen Subjektivität in einer radikalen Conversio impliziert, fungiert sie als Gegenfigur zur intelligiblen Tat der Freiheitsschrift und zeigt damit den – gleichwohl prekären und momenthaften – Ausweg aus einer Universalisierung des Bösen auf, wie sie der Freiheitsschrift vorgeworfen wurde.342 Als conversive Figur impliziert sie eine grundlegende Sprengung jeglicher Strukturen des natürlichen Selbstbewusstseins, die allerdings allem ist, als das Unfaßliche selbst – aber unmittelbar gegen dieses Unfaßliche richtet sich wieder unser dialektisches Vermögen […]« (AA II,10,1, 268). 341 Wieland 1956, 38. 342 Vgl. Kapitel I.2.2 und I.2.3.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

nicht in Form tradierter neuplatonischer Aufstiegswege aufgefasst wird, sondern auf eine inkarnatorische Bewegung der Manifestation des Abso­ luten im Endlichen zielt, die eher im Kontext der sogenannten Kondes­ zenz zu verorten ist, wie sie beispielsweise Johann Georg Hamann ver­ trat.343 Zudem steht die Ekstasis paradigmatisch für eine Umkehr transzen­ dentalphilosophischer Erkenntnisparadigmen, wird doch mit ihr ein Erkenntnisprozess eingeleitet, der – wie im Folgenden zu zeigen ist – unter völlig gewandelten Vorzeichen stattfindet. Der Umkehrmoment, welcher der Ekstasis inhäriert, wird dabei als momenthaftes Geschehen in der Zeit gefasst, das gleichwohl die scheinbare Zeit punktuell aufhebt, und insofern als zeitlich-überzeitliches Ereignis der wahren Zeit – d.h. derjenigen Zeit, die aus dem Augenblick als Organismus der Zeiten sich entfaltet. In der Figur der Ekstasis ist der Ausgangspunkt für das mit ihr einsetzende mediale Erkenntnisgeschehen profiliert, das in der Folge als ›aktive Passivität‹ aus Schellings Argumentationen in den Vorlesungen 8–11 herausgearbeitet werden soll, um die Grundlage zu legen für die Darlegung von Schellings gewandeltem Begriff der Subjektivität.

II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11) In der Ekstasis als Ausgangspunkt des eigentlichen medialen Erkenntnis­ vollzugs sind die Grundcharakteristika der ›aktiven Passivität‹ bereits vorgeprägt. Die Ekstasis steht für ein Ausbrechen aus dem Verstrickungs­ zusammenhang endlicher Subjektivität, das gleichwohl weder Selbst­ verlust noch Selbsterhöhung bedeutet. Im Moment der Selbstaufgabe wird der Raum geschaffen für das Einsetzen des absoluten Subjektes, ohne dabei das erkennende Subjekt auszulöschen. Die entscheidende Verschiebung, die der ausgezeichnete epistemische Zugang zum Absolu­ ten durch die Ekstasis erfährt, spitzt Schelling mithilfe des durch die Ekstasis initiierten Prozesses systematisch zu. Während also mit der Eks­ tasis zum Ende der siebten Vorlesung das Initialmoment für den neuen Erkenntnisvollzug eingeführt wird, verwendet Schelling die Vorlesungen 8–11 darauf, den eigentlichen Prozess seiner ›Theorie der Philosophie‹ darzustellen. Mit der Interpretation desselben gelangt die Untersuchung somit zu ihrem Höhepunkt, an dessen Ende die Rekonstruktion von 343

Vgl. bspw. Reuter 2005.

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

Schellings Neukonzeption der Subjektivität in einer Synthese zusammen­ geführt werden wird. In der vorliegenden Textgrundlage zeigen sich allerdings bedeu­ tende sachliche Schwierigkeiten in dem Versuch, den Prozess dieses Voll­ zuges in seinen einzelnen Schritten auszuführen: Nach der Einführung der Ekstasis in der siebten Vorlesung verwendet Schelling die nächsten drei Vorlesungen darauf, den Prozess in seiner Mehrschrittigkeit syste­ matisch zu entfalten, wobei er jeweils neu ansetzt und in mehrfachen Wie­ derholungen entscheidende Verschiebungen und Modifikationen unter­ nimmt. Allein die Tatsache, dass die Einleitung in der ursprünglichen Konzeption viel kürzer geplant war und offensichtlich die Vorlesungen 8–11 im Verlaufe der sukzessive stattfindenden Ausarbeitungen eingefügt wurden, spricht dafür, dass Schelling die Darlegung des ›Prozesses‹ erst während des Haltens der Vorlesungen ausgearbeitet hat.344 Das Entscheidende dieser Ausführungen liegt darin, den durch die in der Ekstasis ermöglichten Erkenntnisvollzug als ein mediales Geschehen auszuweisen. Damit bleibt Schelling weder bei der Forderung einer radikalen Überbietung natürlicher Wissenszugänge stehen, noch setzt er an die geforderte Stelle einen klangvollen Begriff, der allerdings nicht näher erläutert und deshalb dem Vorwurf der Unterbestimmtheit und Mystifizierung ausgesetzt ist. Schelling unternimmt vielmehr den Versuch, durch das methodologische Ausfalten des durch die Ekstasis Vgl. hierzu die erhellenden Bemerkungen der Herausgeber im editorischen Bericht der AA-Ausgabe: »Nicht zuletzt ist auch Schellings Manuskript selbst durchgehend der Prozess einer sukzessiven Ausarbeitung, Konzeptionalisierung und Rekonzeptionalisie­ rung zu entnehmen. So hatte Schelling vor allem die Grundlegung der ›Philosophie als Wissenschaft‹ in den ersten elf Vorlesungen offenbar zunächst deutlich kürzer konzipiert. Verschiebungen zeigen sich vor allem ab der 7. Vorlesung: Schelling hat – wie der Abgleich mit den Nachschriften zeigt – eine größere Partie des zunächst für diese Stunde notierten Materials nicht an dieser Stelle vorgetragen, sondern in mehreren Zügen in spätere Vorlesungen übertragen. Für die 10. Vorlesung hat dann Schelling zwei Doppelblätter zugrunde gelegt, die ursprünglich als Beginn der 8. oder 9. Vorlesung dienen sollten, wie der Korrektur der Vorlesungsnummer zu entnehmen ist. So findet sich dann etwa ein längerer Passus zur notwendigen ›Reinigung‹ vom natürlichen Wissen in Anlehnung an Platons ›Sophistes‹ dreimal in verwandtem Wortlaut – zunächst in Materialien zur 7. Vorlesung, dann in einer Vorfassung der 8. oder 9. Vorlesung, die später zur Grundlage der 10. Vorlesung wird (aber dort wiederum gestrichen ist), und schließlich in der 11. Vorlesung, wo er gemäß den Nachschriften dann auch vorgetragen wurde. Auch findet sich bereits in der 9. Vorlesung eine nicht vorgetragene Notiz zum Abschluss der Grundlegung mit den Worten ›Und hiemit denn die Construktion der Philosophie als Wissenschaft vollendet – so deutlich als es nach meiner Einsicht möglich ist.‹ Die Grundlegung wird dann aber erst in der 11. Vorlesung mit ähnlichen Worten beschlossen« (AA II,10,1, 82f.). 344

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

eingeleiteten epistemischen Vollzuges eine Form des Zugangs zum Abso­ luten systematisch zu rechtfertigen. Zum Ende des Kapitels wird deutlich werden, dass sich aus Schel­ lings Überlegungen eine dreifach verstandene Theorie des Medialen ableiten lässt, die in der Figur der ›aktiven Passivität‹ ihren Brennpunkt findet. Damit wird die These von Walter Schulz unterstrichen, nach der dem Medialen das Potenzial zur konstruktiven Gegenposition gegenüber einem einseitigen Subjektivitätsverständnis innewohnt.345 Ziel des Kapi­ tels ist es demnach, die von Schulz nur andeutungsweise vorgebrachte These anhand des in den Vorlesungen 8–11 dargestellten Prozesses zu diskutieren und durch die Figur der ›aktiven Passivität‹ insofern zuzuspitzen, als mit ihr ein systematischer Punkt für die konkrete Neukonzeption des Subjektivitätsverständnisses gefunden ist. Demgemäß besteht die Aufgabe der folgenden Ausführungen darin, die einzelnen Schritte des von Schelling dargelegten Prozesses in den Vorlesungen 8–11 zu rekonstruieren (II.5.1), die wichtigsten Momente und ihre systematische Bedeutung herauszuarbeiten, die sich unter den Begriffen Gleichursprünglichkeit (II.5.2), Reflexions- bzw. Wissens­ begriff (II.5.3), Dialektik (II.5.4) und Erinnerung subsumieren lassen (II.5.5), sowie die Charakteristik des Vollzuges als mediales Geschehen zu rechtfertigen und in der Figur der ›aktiven Passivität‹ münden zu lassen (II.5.6).

1. Der Prozess des Wissens (VL 8–9) Der Prozess-Begriff spielt für Schelling seit seiner frühen Naturphilo­ sophie eine entscheidende Rolle. Von der Naturphilosophie und dem Organismus-Gedanken her schreibt Schelling diesen in der Chemie des 18. Jahrhunderts stark frequentierten Begriff in der Freiheitsschrift,346 in

Vgl. Einleitung, Kapitel 2. In der Freiheitsschrift verweist Schelling mit dem Begriff des Prozesses als stufenweise Entfaltung Gottes in der Schöpfung auf die Naturphilosophie, die eben jenen Prozess aufzuzeigen die Aufgaben habe. Vgl. SW VII, 362. 345

346

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

den Stuttgarter Privatvorlesungen347 und in den Weltaltern dem Gesche­ hen der Theogonie und Kosmogonie ein.348 Bereits in Stuttgart wird der Begriff auch auf epistemische Fragen angewendet, die die Erlanger Figur des Wechselgeschehens zweier Pole präfigurieren. In den Privatvorlesungen erwähnt Schelling zwei Prinzi­ pien im Menschen, »ein bewußtloses, dunkles, und ein bewußtes«, die in einem »Proceß unserer Selbstbildung« das dunkle Prinzip nach und nach zum Licht und zur Klarheit erheben (AA II,8, 94, 96).349 In der Einleitung in die Weltalter wird das Gewusste der Wissenschaft in dersel­ ben Manier als »ein aus dem Innern durch einen ganz eigenthümlichen Proceß immer erst entstehendes« (WA II, 114) bezeichnet, das durch das Wechselgeschehen der beiden Prinzipien im Menschen erzeugt wird.350 Die Bedeutung des Prozess-Begriffes für Schellings gesamte Philo­ sophie darf insofern nicht unterschätzt werden. In der Vorrede zu einer philosophischen Schrift des Herrn Victor Cousin schreibt Schelling ihm sogar den Status des eigentlich Fortschrittlichen in der Philosophie zu und grenzt sich zugleich von einem Prozess-Begriff ab, der eine allzu große Nähe zu Hegels Dialektik erkennen ließe: Denn gerade der Begriff des Processes ist das, was der eigentliche Fort­ schritt war in der neuern Philosophie […]. Wir meinen natürlich nicht den Begriff des Processes in der uneigentlichen und mißbräuchlichen Anwen­ dung […] auf den logischen Begriff; wir meinen den realen Proceß jener Philosophie, die den Begriff des Processes überhaupt zuerst einführte. (SW X, 221)

Dabei ist das Entscheidende von Schellings Prozessbegriff gerade nicht die Zeitlichkeit einer bloßen Sukzession. Mit dem Terminus sucht Schelling m.E. eine nicht bloß quantitative, sondern qualitative und reale Veränderung im Vollzug eines Geschehens zu verdeutlichen, das 347 »Wir können nun zum voraus sagen, daß eigentlich der ganze Proceß der Weltschöp­ fung, der noch immerfort der Lebensproceß in der Natur und in der Geschichte – daß dieser eigentlich nichts anderes als der Proceß der vollendeten Bewußtwerdung, der vollendeten Personalisierung Gottes ist« (AA II,8, 94). 348 Vgl. zum Prozess-Begriff bei Schelling Adolphi 1996. Auch Adolphi betont die Bedeutung des Realpols bzw. des »Grundes« für den Prozessbegriff Schellings. 349 Des Weiteren wird in Stuttgart der Moment der Scheidung des Guten vom Bösen in der Krisis des Jüngsten Gerichtes als »wahrhaft alchemischer Proceß« bezeichnet. Auch hier knüpft Schelling also an naturphilosophische Paradigmen an und überträgt sie auf Theologumena, um die Realität des Geschehens zu unterstreichen (vgl. AA II,8, 182). 350 Im ersten Weltalter-Druck wird der Begriff des Prozesses an dieser Stelle nicht verwendet (vgl. WA I, 5).

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

gleichsam durch den gesamten Organismus der Zeiten hindurchgreift und insofern sowohl zeitlich als auch überzeitlich zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn Schelling den durch die Ekstasis einsetzenden Erkenntnisvollzug explizit und mehr­ fach als ›Prozess‹ kennzeichnet. Mit diesem Begriff unterstreicht er sein Verständnis des hier dargestellten Erkenntnisvollzuges nicht nur als ide­ ales, sondern auch als real-geistiges Geschehen, dem er denselben Status wie dem chemischen Prozess und dem Schöpfungsprozess zuspricht, ein Grundzug des ›mittleren Schelling‹, der die Forderung einer positiven Philosophie partiell vorwegnimmt. Um den von Schelling dargelegten Prozess zu verstehen, ist es notwendig, seinen Anfang und die einzelnen Schritte der von Schelling vorgenommene Gliederung des Prozesses zu rekonstruieren, um so das Ineinander von Moment und Prozess begreifbar zu machen. Dabei wird zunächst an den Punkt angeknüpft, an dem das vorherige Kapitel in der Interpretation angelangt war: Der Initialmoment des Erkennt­ nisprozesses in der Ekstasis wird auf sein Verhältnis zu Freiheit bzw. Notwendigkeit hin untersucht (a). Dies ist insofern geboten, als Schelling die Ekstasis in der siebten Vorlesung einerseits, wie gezeigt, als freie Geistestat markiert, sie aber andererseits eine Vorlesung später durch die durch Notwendigkeit geprägte Gesetzlichkeit eines Naturprozesses charakterisiert. Um den mit der Ekstasis einsetzenden Prozess genauer zu erfassen, wird er daraufhin in seinen einzelnen Schritten dargelegt (b). Dies bildet die Grundlage für die dann folgende Interpretation des Prozesses anhand der oben genannten Themen.

a) Freiheit und Notwendigkeit im Initialpunkt des Prozesses Die Schwierigkeit, vor der Schelling in der Darstellung des genannten Prozesses steht, ist die alte Frage nach Anfänglichkeit. Sie lässt sich im vorliegen Kontext folgendermaßen präzisieren: Wie lässt sich ein Anfangenkönnen dieses Prozesses denken, ohne den Menschen einerseits im Sinne eines autonomen und selbstgenügsamen Subjektes zu dessen alleinigem Urheber zu machen und ihn damit von weiteren Ermöglich­ ungsbedingungen – sei es die Natur oder Gott – abzuschneiden und ohne ihm andererseits alle Freiheit abzusprechen. Zu Beginn der achten Vorlesung beschreibt Schelling, anknüpfend an bereits entwickelte Motive, den Weg hin zur Ekstasis als Initialpunkt des genannten Prozesses. Er wiederholt den Gedanken der durch den

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Widerspruch des immer schon verobjektivierenden Ausgriffs des Men­ schen auf die ewige Freiheit entstehenden rotatorischen Bewegung, die in ihrer Unausweichlichkeit zu einem »Zustand des zerreißenden Zweifels, der ewigen Unruhe« und »der höchsten Unfreyheit« führt (AA II,10,1, 209). Auch wenn in der vorherigen Vorlesung die Ekstasis als Entscheidung und als freie Geistestat charakterisiert wurde, führt Schelling sie hier im Sinne des aus der rotatorischen Bewegung ent­ stehenden Umschlagspunktes in scheinbarer Naturgesetzlichkeit mit der entsprechenden naturphilosophischen Motivik ein, wenn es heißt: »Endlich acme351 – höchster Punct […]« und es wird hinzugefügt: »Entladung, Explosion […]« (AA II,10,1, 210).352 Der Terminus ›acme‹ stammt aus dem Griechischen und bezeichnet die Spitze etwa von Flammen oder aber im Lebendigen die Blüte. Im Sinne des höchsten Punktes einer Entwicklung wurde er auch auf die menschliche Biographie übertragen. Hier bedeutet er, ›in voller Blüte‹ oder ›in der kraftvollsten Periode des menschlichen Lebens‹ stehen.353 Er meint nicht etwa einen Zustand, sondern genau den Moment der größten Entfaltung, der sich allerdings gerade dadurch auszeichnet, dass er im nächsten Moment z.B. in das Verblühen übergeht. Dies zeigt sich auch in der Verwendung des Wortes Ἀκμὴ im 10. Gesang der Ilias, wo es heißt: »νῦν γὰρ δὴ πάντεσσιν ἐπὶ ξυροῦ ἵσταται ἀκμῆς ἢ μάλα λυγρὸς ὄλεθρος Ἀχαιοῖς ἦε βιῶναι« (Ilias 10, 173). In der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß wird Akme mit dem Ausdruck »auf der Schärfe des Messers stehen« übersetzt: »Denn nun steht es allen fürwahr auf der Schärfe des Messers: Schmählicher Untergang den Achaiern, oder auch Leben!«354 Es geht also um die Charakterisierung eines zeitlichen Vollzuges, der in der Kulmination, bzw. im Punkt der Entscheidung ist, bei dem alles auf dem Spiele steht. In Krankheitsvollzügen wurde Ἀκμὴ deshalb 351 Die Herausgeber von AA verweisen hier auf die Übersetzung von Schneider: »Ἀκμὴ.«, »eigentl. d. lat. acies, acumen, Spitze, Schneide, Schärfe [...]« (AA II,10,3, 1079). Vgl. zum Begriff der Akme auch Hueck 2023b. 352 Vgl. hierzu die Verwendung des Terminus ›acme‹ in Baaders 1813 in München veröf­ fentlichten Aufsatz Über die Begründung der Ethik durch die Physik in derselben Hinsicht: »Wie übrigens jenes in sich hinein gehende Kreisen [des Streites und ewigen Zirkels, J.H.] bei einer Akme der Spannung in Explosion, den Blitz, übergeht, bei dessen Aufgang (als das Moment der Krisis) jene Spannung überwunden zurücksinkt, […] kann wenigstens hier nicht ausgeführt werden« (Baader, Werke V, 16, Anm. 2). 353 Vgl. Platon, Plat. Rep. V, 460 und 461. 354 Voss 1806, 249.

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auch als Bezeichnung des Krisismoments der Genesung verwendet.355 Insofern ist es naheliegend, dass das Wort auch mit dem Ausdruck ›der rechte Augenblick etwas zu tun‹ übersetzt wurde und damit im Umkreis des Kairos-Begriffes steht. Ἀκμὴ bezeichnet den Kulminationspunkt eines Prozesses, an dem sich der Umschlagsmoment von einem Hergang in einen qualitativ völlig anderen Hergang vollzieht. Die Prozesse vor und nach der Ἀκμὴ stehen in keinem linear-kausalen Zusammenhang, bedingen sich aber dennoch wechselseitig. Die Ἀκμὴ verbindet zwei Gegensätze (Entstehen und Vergehen, Leben und Tod) als ein momenthaft aufscheinendes Drittes, in dem sich eine Krisis, also ein Entscheidungs- bzw. Schicksals­ ereignis, vollzieht. Es ist dieses Motiv des Umschlags, des Durchgangs durch einen Nullpunkt, bei dem aus einer zugespitzten Situation das Eintreten in eine neue Phase stattfindet, die eine vollständige Wandlung impliziert, in deren tatsächlichem Anfang jedoch eine Unverfügbarkeit liegt, sodass er gleichsam ›von höheren Mächten‹ gewährt wird und nicht vom Menschen inauguriert werden kann, das sich im Akme-Begriff widerspiegelt. Er bedeutet insofern den Kulminationspunkt eines natür­ lichen Prozesses, der gleichwohl als solcher nur durch das Ergreifen des rechten Augenblicks und durch das Einwirken eines Dritten zu seiner Erfüllung findet. Wie steht es nun um das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit an diesem Punkt? Der scheinbare Widerspruch zwischen der als frei charakterisierten Geistestat und dem aus der bis aufs Äußerte getriebenen Spannung notwendig sich ergebenden Umschlag, der – die Naturgesetzlichkeit unterstreichend – mit den aus der Elektrizitätslehre und damit aus der Naturphilosophie entnommenen Begriffe der ›Entladung‹ und der ›Explosion‹ veranschaulicht wird, zeigt das Freiheitsverständnis an, das Schelling hier intendiert. Im Sinne der Betonung des Realen im Gegensatz zu der ›Einarmig­ keit‹ der Transzendentalphilosophie ist es Schelling nicht mehr möglich, die transzendentalphilosophische Freiheitsauffassung autonomer Selbst­ anfänglichkeit zu vertreten. Schon in der Freiheitsschrift hatte er, trotz aller Wertschätzung gegenüber dem idealistischen Freiheitsbegriff, letzt­ lich einen spinozistisch anmutenden Freiheitsbegriff für den Menschen reklamiert, indem er Freiheit und Notwendigkeit in einem Mittelbegriff 355

Vgl. bspw. das Handwörterbuch in griechischer Sprache von Passow, Leipzig 1841, 77.

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zu fassen sucht,356 ohne beide Gegensätze freilich in einer undifferenzier­ ten Einerleiheit gleichsetzen zu wollen (vgl. AA I,17, 116f.). Auch in den Weltaltern und in Erlangen spielt der Versuch, einen Mittelbegriff von Freiheit und Notwendigkeit zu bilden, der gleichwohl keine eindimensionale und unterkomplexe Vermischung darstellt, eine wichtige Rolle. Hinsichtlich der Konzeption von Anfänglichkeit im Heraustreten des Absoluten aus der ewigen Lauterkeit wurde bereits deutlich, wie Schelling mithilfe des Schicksal-Begriffes eine ›freie Not­ wendigkeit‹ zu profilieren sucht.357 In paralleler Argumentation wird auch der Akt der Ekstasis als weder von der autonomen Selbstanfänglich­ keit des Subjektes noch aus einer notwendigen Naturgesetzlichkeit her initiiert dargestellt – so zumindest die Intention Schellings. 1821 betont Schelling insofern einerseits den Freiheitscharakter der Ekstasis, andererseits beantwortet er die Frage »wie er [der Mensch, J.H.] zu dieser Ekstasis gebracht« werde (AA II,10,1, 203) mit dem Motiv der Entladung und Explosion, die aus der auf die Spitze getriebenen Unfrei­ heit des im ewigen Zirkel befangenen, verobjektivierenden Wollens ent­ steht. Beide Aspekte finden ihre Verbindung in dem Schlüsselbegriff der Akme, dem Kulminationspunkt, der als solcher in sich die Aufforderung des Ergreifens des rechten Augenblicks enthält. 356 Vgl. »Aber eben jene innere Nothwendigkeit ist selber die Freyheit; das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigene That; Nothwendigkeit und Freyheit stehen in einander, als Ein Wesen, das nur von verschiedenen Seiten betrachtet als das eine oder andere erscheint; an sich Freyheit, formell Nothwendigkeit ist.« (AA I,17, 152) Spinoza spricht diese »freie Notwendigkeit« nur dem Absoluten zu: »Ich nenne also ein Ding frei, wenn es nur aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert und handelt; […] Gott z.B. existiert notwendig zwar und dennoch frei, weil er allein aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert. So begreift Gott in freier Weise sich selbst und alle Dinge überhaupt, weil es allein aus der Notwendigkeit seiner Natur folgt, daß er alles begreift. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in den freien Willen, sondern in die freie Notwendigkeit setze« (Brief von Spinoza an G.H. Schuller, Sämtliche Werke VI, 219), Schelling bewertet Spinozas Konzeption der freien Notwendigkeit Gottes durchaus posi­ tiv. Aber er kritisiert den »unlebendig[en] und unpersönlich[en]« Gottesbegriff Spinozas, da dieser – im Kontrast zum Idealismus – lediglich die reale Seite Gottes kenne und deshalb am Ende des Tages zu einer »blinde[n] und verstandlose[n] Nothwendigkeit« (AA I,17, 163) führe. Die Identität absoluter Freiheit mit absoluter Notwendigkeit ist schon in der Frühphi­ losophie ein Thema. Vgl. hierzu beispielsweise die Passagen im System von 1800, in denen Schelling deutlich macht, dass Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit bereits ein Bewusstsein voraussetzen und dass deshalb der Akt, der das Bewusstsein konstituiert, selbst ein absolut freier und absolut notwendiger Akt sein muss (vgl. AA I,9, 87). 357 Vgl. Kapitel II.3.3 sowie AA II,10,1, 422 oder auch die parallele Argumentation in den Stuttgarter Privatvorlesungen (AA II,8, 87).

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Die strukturelle Parallele zur Anfangsfigur im Absoluten besteht darin, dass auch hier ein Übergang gesucht wird zwischen zwei völlig disparaten Zuständen: der Übergang von der ursprünglichen Einheit zur Differenz durch das Heraustreten des Absoluten einerseits und der Übergang von dem diskursiven, verobjektivierenden Wissen zum nichtwissenden Wissen in der Ekstasis andererseits. Dieser Übergang kann weder kausal (bzw. notwendig) noch willkürlich vonstattengehen. Wäre ersteres, so wäre die Konsequenz ein starrer Determinismus, den Schelling in seinem Anliegen, die Freiheitsfundierung der Welt zu begründen, vermeiden möchte. Wäre letzteres, so müsste in der Einheit bereits die Möglichkeit zur Differenz vorgebildet oder aber das verob­ jektiverende Bewusstsein einer suisuffizienten Selbstanfänglichkeit fähig sein. Beides kann und will Schelling nicht annehmen. Insofern sucht er in allen Übergangsfiguren einerseits die Unverfügbarkeit, andererseits den sich ereignenden Freiheitsmoment stark zu machen, indem er auf unter­ schiedlichen Ebenen Konzeptionen ›freier Notwendigkeit‹ exponiert. Hinsichtlich der Ekstasis ist es einerseits der Kausalzusammenhang von der sich selbst steigernden Intensität des ewigen Zirkels, der in einer explosionsartigen Scheidung der beiden kreisenden Pole (erkennendes Subjekt und ewige Freiheit) endet. Zugleich bedarf es des tatsächlichen Eintritts des erkennenden Subjektes in die Krisis, denn ihr Scheitern durch ein Ausblenden der Verzweiflung, durch »wohlthätige Betäubung« (AA II,10,1, 258) oder durch ein Negieren des Wissen-Wollens endlicher Subjektivität impliziert jeweils einen möglichen Nichteintritt.358 Insofern wird ein bewusstes auf-sich-Nehmen der Krisis benötigt, auch wenn der Eintritt der befreienden »Entladung« in der Ekstasis dem erkennenden Subjekt nicht verfügbar ist. Das durch den Umschlagspunkt der Ekstasis statthabende »Heraus­ werfen« des Wissen-Wollens aus dem Zentrum des Eigenwillens, in das es durch den ewigen Umtrieb des verfehlenden Suchens verstickt war, lässt dieses als peripherisches Wissen zugleich zum »schlechterdings Nichtwissenden« (AA II,10,1, 210) werden, das allerdings gerade nicht als Irrationales, sondern als Besinnung bezeichnet wird. Indem das partikuläre Wissenwollen aus dem ewigen Umtrieb seines verobjektivier­ enden Zugriffs des Eigenwillens herausgeworfen wird, hat es kein ihm zukommendes Wissen mehr und wird demnach zum Nichtwissenden. Zugleich wird durch das Heraustreten des Eigenwillens an die Peripherie 358

Vgl. Kapitel II.3.7, Abschnitt c.

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gleichsam der Raum eröffnet für das Einsetzen des Universalwillens, das heißt des Absoluten. Dies also ist die von Schelling beschriebene Entwicklung hin zur Ekstasis als Moment der Conversio. Dieser Moment wird seinerseits aber nur als ›Übergang‹ bezeichnet, der das im Folgenden explizierte, eigentliche Prozessgeschehen zwischen dem ›Nichtwissen‹ des erkenn­ enden Subjektes und dem absoluten Subjekt initiiert. Wenn Schelling hier und in gleicher Weise auch am Beginn der neunten Vorlesung explizit darauf hindeutet, dass dies erst der Anfang ist dessen, was es nun zu beschreiben gilt, so wird daraus ersichtlich, dass der Ekstasis zwar eine entscheidende systematische Bedeutung zugesprochen wird, dass es Schelling hier allerdings vor allem darauf ankommt, den durch die Ekstasis eingeleiteten Prozess darzulegen.359

b) Der Vollzug des Prozesses Was die Ekstasis mithilfe der Akme zunächst lediglich leistet, ist das Zerreißen der ›falschen Einheit‹, die im ewigen Zirkel zwischen dem verobjektivierenden Wissen-Wollen und der ewig entfliehenden Freiheit bestand. Aber auch in der Trennung – hier absolutes Subjekt der ewigen Freiheit, dort völliges Nichtwissen – könnten die beiden Pole nicht blei­ ben, denn weder in dem einen noch in dem anderen könne Veränderung vorgehen, »ohne sich in dem andern zu reflectiren« (AA II,10,1, 210). Was Schelling sucht, ist also eine Form des Wechselgeschehens, die gleichwohl die Eigenständigkeit der beiden Seiten – des Absoluten und des erkenn­ enden Subjektes – nicht beeinträchtigt. Weder soll vom erkennenden Subjekt verobjektivierend auf die ewige Freiheit zugegriffen werden, noch soll der epistemische Status der Erkenntnis in einer völligen Einung und Schau aufgegeben werden. Nur im spannungsvollen, nicht zur Ruhe kommenden Zwischen als Austragungsort eines Wechselgeschehens bei­ der Pole sieht Schelling den labilen Ort einer gelingenden ›Vermittlung‹ gegeben. Allerdings beruht der Vermittlungscharakter dieses Geschehens auf einem gewandelten Begriff der Vermittlung und der Reflexion auf 359 Alle bisherigen Untersuchungen der Erlanger Vorlesungen haben ihren Fokus auf die Ekstasis gelegt und übersehen, dass es Schelling vor allem um die methodologische Ausführung einer Wissenskonzeption geht, die nicht im Begriff der Ekstasis aufgeht, sondern vielmehr erst in dem in den Vorlesungen 8–10 kleinschrittig ausgeführten Prozess eingelöst wird. Mit der Einführung des Terminus der Akme spitzt Schelling seine Theorie des Augenblicks auf die Gleichzeitigkeit von Umschlag und freier Entscheidung im momenthaften Vollzug eines Übergangs in einen höheren Zustand zu.

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einer höheren Ebene, der nicht verwechselt werden darf mit demjenigen des natürlichen Bewusstseins. Schon hierbei deutet sich an, dass Schelling Schwierigkeiten hat, einen Wissensbegriff zu markieren, der zwischen der Skylla verobjektivierenden Wissens und der Charybdis irrationaler Schau einen Mittelweg aufzeigt. Bevor auf die einzelnen systematischen Probleme eingegangen wird, seien zunächst die drei Momente des mit der Ekstasis einsetzenden Prozesses thematisiert (vgl. AA II,10,1, 210). Als erster Moment nach der Trennung der beiden Pole durch die Ekstasis werden die beiden Extreme markiert: absolute Innerlichkeit der ewigen Freiheit (A) und absolute Äußerlichkeit des Nichtwissens (B). Durch ihre wechselseitige, korrelative Angewiesenheit ist der Moment der scharfen Trennung jedoch ebenfalls nur ein Umschlagspunkt, der sogleich durch ein erneutes Aufeinanderzustreben der Pole gebrochen wird. Sie verwandeln sich in einem zweiten Moment wechselseitig einander an: A wird selbst äußerliches Objekt = B, und in dem Maße, in dem dies geschieht, wird B wiederum innerlich, also zu A, das Nichtwissen dem selbst äußerlich gewordenen Subjekt wieder zum innerlichen Wissen. Das absolute Subjekt kann aber in diesem zweiten Moment als äußerliches Subjekt nicht stehen bleiben, sondern »wird aus dieser Objektivität wieder hergestellt und wieder aufgerichtet in Subj.« (AA II,10,1, 207). Damit ist auch der zweite Moment wiederum nur Umschlagspunkt für die Wiederherstellung des absoluten Subjektes aus seinem momenthaften Objektsein im dritten Moment. Als dieses Subjekt ist es nun aber nicht mehr ursprüngliches und reines A, sondern ein aus B wiederhergestelltes A, gleichsam ein die Erfahrung des B-Seins mit sich tragendes A. Wiederum im selben Maße, in dem sich das ursprüngliche A aus seiner Äußerlichkeit als Innerliches wiederherstellt, hört das innerlich wissend gewordene B wieder auf, wissend zu sein und sinkt zurück ins Nichtwissen. Allerdings ist auch B hier nicht mehr das bloße Nichtwissen, sondern das »aus Wissen zurückgebrachte Nichtwissen, also wissendes Nichtwissen« (AA II,10,1, 211). Auch im zweiten Durchgang durch den Prozess, den Schelling in der folgenden, neunten Vorlesung direkt hinterherschiebt, findet sich im Wesentlichen dieselbe Figur: Hier wird ebenfalls die Ekstasis und mit ihr das Auseinandertreten der beiden Pole (erkennendes und absolutes Subjekt) als Geburtsstunde der Philosophie bezeichnet. Im zweiten Durchlauf wird dabei die Wechselbewegung der beiden Pole nochmals detaillierter erläutert. Das durch die Krisis von seiner Verstrickung mit dem erkennenden Subjekt im Urbewusstsein befreite absolute Subjekt ist

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als solches nur für das freie Denken des erkennenden Subjektes da. Das freie Denken ist insofern frei, als es gerade kein Wissen, sondern vielmehr ein Nichtwissen ist. In diesem Zustand der Selbstverleugnung, die Schel­ ling gemäß der Figur von Zentrum und Peripherie als Ausgeschlossenheit bezeichnet, wolle das Denken aufgrund der wechselseitigen Neigung zur Vereinigung der beiden Pole allerdings nicht bleiben, sondern es wolle wieder innerlich, also wissend werden (vgl. AA II,10,1, 219). Dies sei nur möglich, insofern das nach der Krisis sich im Zentrum befindliche absolute Subjekt sich wiederum für B (das Nichtwissen) öffne und ihm damit sozusagen den Platz gewähre, um wiederum innerlich, d.h. wissend zu werden. Das erneute Innerlich-Werden von B ist es, das das anamnetische Motiv der Erinnerung markiert (vgl. AA II,10,1, 219). Dieser Zustand wird allerdings nur dadurch aufrechterhalten, dass B im Nichtwissen sich hält und damit die Bewegung von A durch seine anhaltende, retardierende Kraft hemmt, »so daß die Bewegung in A und jeder Schritt dieser Bewegung nur geschehen kann, wie man zu sagen pflegt und was hier recht gut paßt, mit Wissen und gleichsam mit Bewilligung des B« (AA II,10,1, 210). Würde B wiederum wissen wollen und sich A anziehen, statt den spannungsvollen Abstand zu A zu wahren, würde es wiederum zurückfallen in die Vermischung mit A im natürlichen Bewusstsein und damit begänne auch die rotatorische Bewegung von vorne.360 In einer schematischen Darstellung ließe sich der große Bogen der Bewegung von der »falsche[n] Einheit« (AA II,10,1, 210) des natürlichen Bewusstseins nach dem Sündenfall ausgehend, über die Ekstasis und den mit ihr einsetzenden Prozess der Wechselwirkung von erkennendem und absolutem Subjekt, bis hin zur Gefahr des Zurückfallens des erkenn­ enden Subjektes in sein natürliches Bewusstsein und damit auch in die rotatorische Bewegung der Selbstverfehlung, wie folgt aufschlüsseln: Natürliches Bewusstsein:

A/B vermischt und ungetrennt und daher in ewigem Zirkel

Entscheidung/Ekstasis:

A und B treten als solche hervor durch Tren­ nung, dadurch Geburtsstunde der Philoso­ phie

360 Die Gefahr des Rückfalls wird an Schellings Bemerkungen ersichtlich, die darauf verweisen, dass die Ureinheit beständig sucht, sich wiederherzustellen und nur durch die hemmende Kraft des Nichtwissens in B aufrechterhalten wird (vgl. bspw. AA II,10,1, 215, 220).

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Eigentlicher Prozess/Rapport361:

1) B als Nichtwissen in der Peripherie; A als ewige Freiheit im Zentrum; 2) B und A können nicht getrennt voneinan­ der sein, bewegen sich aufeinander zu; in dem Maße, in dem A sich öffnet für B, tritt es in die Peripherie und B tritt ins Zentrum und wird innerlich und wissend, d.h. es wird zu A; 3) Das in die Peripherie getretene A (neues B) kann nicht in der Peripherie bleiben, wird wiederum zu A und tritt ins Zentrum; im selben Maße tritt das zu A gewordene B wiede­ rum aus dem Zentrum in die Peripherie und wird wiederum nichtwissend, aber es ist jetzt »aus Wissen zurückgebrachtes d.h. wissendes Nichtwissen« (AA II,10,1, 211), also Erinne­ rung, die nur durch das Auseinanderhalten der Pole aufrechterhalten wird.

Gefahr des Rückfalls:

A sucht sich in seinem Urzustand wiederher­ zustellen, in dem es nicht von B getrennt ist, denn als von B getrennt hat es sein Inneres, seine Basis verloren (vgl. AA II,10,1, 219f.).

Dieser Durchgang durch den von Schelling beschriebenen Prozess macht deutlich, dass die Ekstasis entgegen eines neuplatonischen Rezeptions­ hintergrundes gerade nicht zur Beruhigung des Wechselgeschehens von erkennendem und absolutem Subjekt in einer einenden Schau führt, sondern einen spannungsvollen, »gewaltsame[n]« (AA II,10,1, 224) Voll­ zug initiiert, der selbst in höchst prekärer Weise den Austragungsort eines gelungenen Wechselgeschehens darstellt, immer der Gefahr unter­ liegend, wiederum in die falsche Einheit und damit in die nie zur Ruhe kommende rotatorische Bewegung zurückzufallen. Was also ist gewon­ Der Begriff des Rapportes stammt aus dem Mesmerismus und bezeichnet dort die Beziehung zwischen Therapeuten und Patient (vgl. Kleine, 1995). Schelling, wie auch Baader, verwenden ihn für ein real-geistiges Wechselgeschehen z.B. im medizinischen Bereich im Anschluss an den Mesmerismus. Darüber hinaus verwendet Schelling ihn z.B. in den Stuttgarter Privatvorlesung für das Wechselspiel zwischen Lebenden und Verstorbenen (vgl. AA II,8, 180f.) oder aber, wie hier, für das Wechselgeschehen von erkennendem und absolutem Subjekt. Der Terminus bezeichnet also ein interpersonales Beziehungsgefüge, das auf real-geistiger Ebene einen Begegnungsmodus impliziert, bei dem die Involvierten wechselseitig ineinandergreifen. 361

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nen und in welcher Hinsicht unterscheidet sich dieser ›Prozess‹, der von Schelling auch als ›Rapport‹362 bezeichnet wird (Wechselgeschehen zwischen A und B nach der Krisis) von dem zur Verzweiflung führenden Zirkel (rotatorischer Umtrieb vor der Krisis) des verobjektivierenden Zugriffes des erkennenden Subjektes auf das ewig sich entziehende Abso­ lute? Während sich das erkennende Bewusstsein, dem im Verhältnis zum Absoluten natürlicherweise die Position des Zugrundeliegenden der ewi­ gen Freiheit zukommt, durch sein nicht zu verhinderndes Wissen-Wollen über seine ihm gebührende Stellung erhebt und durch seine Hybris in den rotatorischen, verzweiflungsvollen Zirkel der Selbstverfehlung verfällt, wird es in der Krisis der Selbstbescheidung von dem Absoluten geschie­ den und in die Peripherie geworfen. Durch die Scheidung wird das Absolute von seiner Vermischung mit dem erkennenden Subjekt befreit und in den »Anfang gestellt« (AA II,10,1, 222). Mit diesem Ausdruck kann Schelling nichts anderes meinen, als dass die ewige Freiheit durch die Selbstbescheidung des erkennenden Subjektes wiederum in den Zustand versetzt wird, in dem sie vor ihrer Verstrickung mit dem Sein, also vor dem durch die Selbsttäuschung des Anfangs markierten ›Fall‹ sich befand.363 Schelling profiliert damit die Figur der Ekstasis als zweiten Anfang, der jedoch zugleich kein Rückgang auf den ersten Anfang im Sinne eines Nullpunktes darstellt; denn das, was als Neues gegenüber dem ersten Anfang durch die Ekstasis zurückbleibt, »gleichsam als Ruine des vorhergegangenen Processes – ist das herausgesetzte und zum Nichtwissen gebrachte B« (AA II,10,1, 222).364 Diesem B wiederum eignet die Kraft, sich als Nichtwissen der niemals stillstehenden Bewe­ gung der ewigen Freiheit (=A) entgegenzustellen und sie dadurch zu Vgl. vorherige Anm. »A ist wieder was im Anfang – wir sind also (was wir eben wollten) durch diese Krisis in den Anfang gestellt, A ist reines, absolutes Subjekt – so sehr Subjekt so sehr an sich, daß es nicht einmal um sich selbst weiß« (AA II,10,1, 222). 364 Die Struktur der durch die in der Ekstasis eingeleiteten Scheidung der Pole, bei der A wiederum in den Anfang versetzt wird, während B gleichsam als Residuum des Vorhergehenden bestehen bleibt, lässt sich parallel lesen mit dem Motiv der Scheidung von sich selbst in der Zeitphilosophie der Weltalter. Dort wird durch einen vorzeitlichen Akt der Anfang der Zeit in der Scheidung der Zeitphasen gesetzt. Dieser Anfang der Zeit setzt mit der Gegenwärtigkeit zugleich die Vergangenheit und die Zukunft – faltet sich gleichsam auseinander. Für Schelling setzt also »jeder Anfang der Zeit eine schon gewesene Zeit« (WA I, 144) voraus. Damit ist auch diese Form der Anfänglichkeit kein Rückgang auf einen absoluten Nullpunkt, sondern immer schon eingebettet in den ›Organismus der Zeiten‹. 362 363

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zwingen, sich gleichsam ›auszusprechen‹. Es geht also in dem durch die Ekstasis in Gang gesetzten Prozess nicht darum, eine Ursprünglichkeit wiederherzustellen, die durch den Sündenfall als Vergangenheit gesetzt wurde. Diese Vergangenheit kann nicht aufgehoben werden. Sie bleibt als Ruine in dem Nichtwissen von B manifest. Es geht vielmehr darum, diese Vergangenheit in der Erinnerung aufzuarbeiten, sich aussprechen zu lassen und dadurch zu einer Form des Wissens zu kommen, die nicht abstrakt-verobjektivierend vorgeht, sondern die er-innernd der ewigen Freiheit innewird. Schelling erhebt dabei den Anspruch, dass der von ihm explizierte Prozess des realen Wechselgeschehens zwischen ewiger Freiheit und erkennendem Subjekt die »eigentliche Theorie des Wissens [bilde, J.H.], wie sie […] noch nirgends gegeben ist« (AA II,10,1, 215). Damit ist er offensichtlich der Ansicht, dass ihm mit den einleitenden Erlanger Vorlesungen eine epistemische Darstellung gelungen ist, die sich von allen seinen bisherigen Systemen und Theorien sowie auch von denjenigen, an die er in affirmativer oder negativer Form anknüpft, grundlegend unterscheidet. Um diese Aussage zu prüfen, werden im Folgenden einige entscheidende Aspekte des Prozesses nachvollzogen (Gleichursprüng­ lichkeit, Reflexions- bzw. Wissensbegriff, Dialektik und Erinnerung), die in der zunächst überblickshaften Skizze des Prozesses noch nicht zur Sprache gekommen sind.

2. Zeugung und Gleichursprünglichkeit der Pole (VL 9) Zunächst ist das von Schelling dargestellte Verhältnis von erkennendem und absolutem Subjekt näher zu untersuchen, da es die Grundlegung für den gewandelten Begriff des Wissens darstellt. Dieses Verhältnis lässt sich brennpunktartig zusammenfassen in dem Motiv der Zeugung, die das gleichursprüngliche Verhältnis der beiden Pole markiert. Um vorweggreifend zusammenzufassen, was im Weiteren detail­ liert auszufalten ist, lassen sich die unterschiedlichen Dimensionen benennen, die für Schellings Aufwertung des Wissens-Begriffes ausschla­ ggebend sind: Den Ausgangspunkt bildet Schellings Verständnis der ›falschen Einheit‹ des natürlich gegebenen, subjektiven Bewusstseins, das in der Ekstasis aufgesprengt wird. Mit der Benennung der ›Einheit‹ unterstreicht Schelling einerseits die in der Entzogenheit sich präsent haltende ewige Freiheit, die den Grund des natürlichen Bewusstseins bildet. Indem er diese jedoch als ›falsch‹ charakterisiert, weist er ande­

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rerseits deren Uneigentlichkeit aus und legt damit von Anfang an die Notwendigkeit einer Transformation dieser Einheit an. Dazu ist zunächst die Sprengung der falschen Einheit notwendig, die Schelling mit dem Terminus ›Zeugung‹ – nämlich Zeugung der beiden involvierten Instan­ zen (erkennendes und absolutes Subjekt) – belegt. Die Zeugung – so die These – fasst zwei wesentliche Aspekte, auf die es dem Philosophen in Erlangen ankommt, zusammen: Zum einen arbeitet Schelling mit seiner spezifischen Auffassung des Zeugungsbegriffes eine Form der Zweiung heraus, die zugleich das Herausfallen in eine scharfe Dualität vermeidet, indem die aus der Einheit sich bildenden Pole konstitutiv aufeinander bezogen bleiben und in dieser Bezogenheit gleichsam ein Drittes bilden. Des Weiteren hebelt er mit dem Motiv der Gleichursprünglichkeit der aus der Zeugung sich ergebenden Pole in pointierter Weise den Satz vom Grund aus, indem das Prinzip von einem einseitigen Ursache-WirkungsVerhältnis ersetzt wird. Diese Aspekte sind nun in einem nächsten Schritt ausführlicher darzulegen. Wie zuvor gezeigt, wird durch die Ekstasis ein ›Sprengen‹, ein ›Scheiden‹, ein ›Auseinandertreten‹ der beiden Pole bewirkt, die im natürlich gegebenen Bewusstsein ineinander verschränkt waren: die ewige Freiheit als das Absolute und das ›Denken‹ des erkennenden Subjektes. Beide haben im natürlichen Bewusstsein, allerdings unbe­ wusst und in dem ewigen Zirkel der Selbstverfehlung befangen, das Selbstbewusstsein des erkennenden Subjektes gebildet. Hieraus erhellt noch einmal, wie konsequent sich Schelling einer ursprünglichen Getrenntheit von erkennendem und absolutem Subjekt verweigert. Im Gegenteil sind diese beiden Instanzen immer schon vereint, allerdings in einer »falsche[n] Einheit« (AA II,10,1, 210), in der sich durch ihren wechselseitigen Verkehrungscharakter die ewige Freiheit nur im Modus des radikalen Entzuges dem erkennenden Subjekt präsentiert. Dieser Entzug ist dabei kein tatsächlicher, sondern ein durch die Verkehrung der Einheit bewirkter, mithin ein illusionärer. Er wurde durch die ursprün­ glichen Täuschung des Anfangs und den daraus resultierenden Zwang zum verobjektivierenden Wissen-Wollen eingesetzt. Zugleich kann der Entzug nicht aufgelöst werden, da er in der unhintergehbaren Einheit von Mikro- und Makrokosmos ruht, die dazu führt, dass im Menschen »ein Prinzip vor dem Anfang der Zeiten« ist (vgl. WA I, 5). Dies ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass der von Schelling elaborierte Prozess des Wechselgeschehens von erkennendem und absolutem Sub­ jekt, der durch die Ekstasis eingeleitet wird, möglich ist. Wären die ewige Freiheit und das erkennende Bewusstsein ursprünglich getrennt,

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könnte überhaupt kein Innewerden der ewigen Freiheit vonstattengehen. Der mit der Ekstasis einsetzende ›Rapport‹ zwischen ewiger Freiheit und erkennendem Subjekt könne nur dadurch zustande kommen, »daß die Freyheit ursprünglich in unsrem Bewusstsein, ja unser Bewusstsein ist – ja das jene ewige Freyheit gar keine Stätte hat, wo sie zu sich kommen kann, als in unsrem Bewusstsein« (AA II,10,1, 212). Die vermeintlich durch prinzipielle Entzogenheit gekennzeichnete ewige Freiheit entpuppt sich in der Ekstasis als immer schon zugrunde gelegte Instanz, deren Gewahrwerden als solche allerdings durch den zunächst unentrinnbaren, objektivierenden Zugriff der Erkenntnis kategorisch verhindert, ja die in ihrer Wesentlichkeit als ewige Freiheit negiert wird. Prinzipiell – so stellt es sich an dieser Stelle heraus – ist diese Entzogenheit also nur für das natürliche und ursprüngliche Bewusstsein gegeben, das sich durch die im Sündenfall begründete Verkehrung und Konstituierung der ›falschen Einheit‹ auszeichnet. Im durch die Ekstasis eingeleiteten Vollzug, und nur hier, stellt sich die Entzogenheit der ewigen Freiheit nachträglich als immer schon latente – wenn auch verkehrte und dadurch uneigentliche – Anwesenheit heraus. Von dieser ursprünglichen, verkehrten Einheit her denkt Schelling nun auch das Getrenntsein der beiden Pole. Sie begründet das wechsel­ seitige Streben der Pole, sich wieder zu vereinen, das er seiner Theorie des medialen Wechselgeschehens zwischen erkennendem Subjekt und Absolutem nach der Scheidung zugrunde legen muss. Denn woher sonst käme der Drang der beiden Pole, sich wieder aufeinander zu zu bewegen, wenn er nicht in der zugrundeliegenden und trotz Trennung wirksamen Einheit begründet wäre? Insofern sind die beiden Pole auch in ihrem Auseinandergetretensein noch immer »zusammen« – so die Formulierung –, aber »als ein Zerissenes, das sich wieder herzustellen sucht« (AA II,10,1, 218). Schelling denkt mithin den ›Zustand‹ nach dem Moment der Schei­ dung in der Ekstasis weniger als einen der Erfüllung, sondern vielmehr als einen »gewaltsame[n] Zustand« (AA II,10,1, 218), in dem gerade durch die im Zerrissensein auftretende Negativität bzw. den Mangel der Einheit ein Wechselgeschehen provoziert wird, an dem sich die beiden Pole wechselseitig »empfindlich« werden.365 Auch hier wird wiederum 365 Vgl. AA I,17, 149. Dieser terminologische Verweis auf die Freiheitsschrift scheint hier insofern berechtigt, als auch dort argumentiert wird, dass der Wille der Liebe (A-Pol) erst durch die Wechselwirkung mit dem Willen des Grundes (B-Pol) zu einer Explikation seiner selbst kommt. Ebenfalls in der Freiheitsschrift finden sich die wiederum auf

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deutlich, dass die Ekstasis, wie oben bereits argumentiert, keineswegs einen plotinisch verstandenen Einungsmoment initiiert.366 Nur in dem durch Zerrissenheit und Differenz gekennzeichneten Wechselgeschehen der Pole kann es zum momenthaften Aussprechen der ewigen Freiheit im menschlichen Bewusstsein kommen. Zugleich, und das ist zunächst überraschend, geht Schelling aus­ drücklich davon aus, dass das Denken – das an dieser Stelle ebenfalls überraschend mit dem Nicht-Wissen, also dem B-Pol gleichgesetzt wird – und das absolute Subjekt ›also solches‹ erst durch die Ekstasis gesetzt, ja sogar »geboren« werden (AA II,10,1, 218). Das widerspricht auf den ersten Blick den Argumentationen bezüglich der ursprünglichen und durch die Ekstasis zerrissenen Einheit, die es wiederherzustellen gilt. Denn eine solche Einheit müsste – wenn auch in einem Modus der Verkehrung – die beiden Relata bereits enthalten, um 1) berechtigterweise als Einheit der Pole bezeichnet zu werden und um 2) das Streben der Pole nach Wiedervereinigung zu begründen. Schelling denkt hier offensichtlich einen Zeugungsvorgang, bei dem aus einer »gemeinschaftlichen Urein­ heit« (AA II,10,1, 218) zwei aufeinander verwiesene Pole hervortreten, die als solche erst durch den Akt der Zeugung konstituiert werden. Ihr ›Vorhandensein‹ in der Ureinheit müsste also durch eine völlig andere Verfasstheit gekennzeichnet sein, sodass in der Ekstasis nicht etwa eine zuvor in einem anderen Plan agierende, als solche bereits gegebene und von dem Vorgang des Innewerdens unbehelligt gelassene ewige Freiheit dem erkennenden Bewusstsein innewird, sondern dass diese als ewige Freiheit mit der Ekstasis ›gezeugt‹ wird und damit »zu sich kommt« (AA II,10,1, 220). Der Begriff der ›Zeugung‹ scheint hier den ausschlag­ gebenden systematischen Punkt zu fassen, denn mit diesem Begriff ist auf ein Geschehen verwiesen, das aus einer Einheit eine Zweiheit entstehen lässt, deren Glieder einerseits in der Einheit beschlossen sein müssen, andererseits durch ihr Hervortreten sich wechselseitig von Grund auf neu konstituieren. Dieser Begriff schreibt sich in Schellings Werk von der frühen Natur­ philosophie her und diese wiederum greift ihn von den entscheidenden Schlüsselpassagen aus der Kritik der Urteilskraft auf. Dort stellt Kant die bekanntlich für die gesamte nachkantische Philosophie maßgeblichen die für die Philosophie Schellings in allen ihren Phasen prominente Figur des Streites verweisenden Passagen, in denen es heißt: »wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben« (AA I,17, 165). 366 Vgl. Kapitel II.4.2, Abschnitt a.

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Überlegungen zu den Naturzwecken an. Die von der Kausalität aus Notwendigkeit (Mechanismus) sich unterscheidende Kausalität nach Naturzwecken muss der Natur insofern zugesprochen werden, als jedes Naturprodukt aus einem natürlichen Bildungsprozess entstanden und insofern »von sich selbst (obgleich im zwiefachen Sinne) Ursache und Wirkung« (KdU, A 286) ist. Der natürliche Bildungsprozess wird von Kant als »Zeugung« begriffen, mithilfe derer aus der Materie ein Indi­ viduum sich bildet, das sich durch sein eigenes »Scheidungs- und Bildungsvermögen[s]« selbst gestaltet (KdU, A 287).367 Der Zeugung wohnt mithin ein Moment der Selbstständigkeit inne, durch den sie sich von einem mechanisch-kausalen Vorgang unterscheidet. Dieser zunächst auf Naturvorgänge bezogene Zeugungsbegriff wird von Schelling in der Naturphilosophie aufgegriffen und später auf andere topoi ausgeweitet. Seit der Freiheitsschrift wird die Zeugung zu einer maßgeblich geschichtlich und erkenntnistheoretisch fundierenden Figur. Mit ihr wird 1809 der Satz vom Grund bezogen auf die Abhängigkeit der Schöpfung von Gott gesprengt. Jede Folge, »die nicht Zeugung, d.h. Setzen eines Selbstständigen ist« (AA I,17, 120) würde einem Gott völlig widersprechen. Damit profiliert Schelling seine berühmte Idee einer »derivierten Absolutheit« (AA I,17, 120) als »Zugleich von Selbst­ anfänglichkeit und Eingebundenheit der menschlichen Freiheit in eine höhere Ordnung«.368 Das Moment der Selbstständigkeit bei gleichzeitiger Aufrechterhal­ tung der konstitutiven Bezogenheit auf das Erzeugende wird in den Weltalter-Fragmenten mit dem Eintritt der Schöpfung in die Zeitlichkeit abgebildet. Hier bildet der Begriff der Zeugung den entscheidenden Übergang aus dem ›vorweltlichen‹, bzw. ›vorzeitlichen‹ Zustand in den ›zeitlichen‹ ab, aus der im ewig widerstreitenden Zirkel befangenen Einheit des Willens, der nichts will und des Willens, der etwas will hin zur Auflösung dieses Streites ohne völlige Trennung und Dualität (vgl. WA I, 53–55). Schelling steht hier vor dem Problem – das bereits in Philosophie und Religion ausführlich erörtert wird –, dass jeglicher ›Übergang‹ aus der Einheit in die Zweiheit, und sei er noch so ›sanft‹, die Einheit und damit die Vollkommenheit des göttlichen Urwesens aufhöbe. Was Schelling also auch dort sucht, ist die Möglichkeit des Hervortretens einer Zweiheit, die die Einheit zugleich nicht zerstört. Dies, so Schelling an entsprechender Stelle, »wäre nun schlechterdings nur möglich, wenn 367 368

Vgl. auch Egloff 2016, 51. Egloff 2016, 97. Vgl. hierzu auch Binkelmann 2015.

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das einende Princip eben dadurch, daß es in sich bliebe, das scheidende Princip setzte, und eben dadurch, daß es das aufschließende Princip setzte, in sich selbst als zusammenziehendes bestünde« (WA I, 55). Eine solches sieht er nur in einer ›Verdoppelungsstruktur‹ gegeben, in der Gott in sich ein von sich selbst Verschiedenes zeugt, wobei ein solcher Zeugungsvorgang wie in dem oben herangezogenen Fall als Übergang von der Vorzeitlichkeit in die Zeitlichkeit oder aber als innertrinitarische und damit grundsätzlich vorzeitige Zeugung gedacht werden kann. Auch wenn sich diese beiden Zeugungsformen bezüglich ihres Verhältnisses zur Zeitlichkeit unterscheiden, sind sie – und darauf kommt es hier an – in systematischer Hinsicht insofern strukturell gleich, als in ihnen aus einer Einheit eine Differenz gebildet wird, in der die entstehenden Instanzen konstitutiv aufeinander bezogen bleiben. Neben dem Motiv der Zweiung unter Vermeidung der Dualität lässt sich noch ein weiteres systematisches Motiv der Zeugung nennen, auf das Schelling ausdrücklich verweist und das mit dem Problem der Gleichursprünglichkeit der Pole in dem in Erlangen beschriebenen Prozess parallel gesetzt werden kann: Schelling spricht in den Weltaltern davon, dass der Vater als Vater erst durch den Sohn zum Vater sich bildet. Dass also – wenn auch als Kraft bzw. Potenz vor dem Sohn vorhanden, der Vater erst am Sohn zum Vater wird. »Daher der Sohn auch wieder Ursache von dem Seyn des Vaters ist und hier vorzugsweise gilt jene den Alchimisten bekannte Rede: des Sohnes Sohn ist der des Sohnes Vater war« (WA I, 59). Was Schelling mit dieser Figur aushebelt, ist – neben der Übergangsfrage von der Einheit zur Vielheit – ein kausales Verständnis des Satzes vom Grund. Der Vater ist nicht einfach die Ursache des Sohnes und dieser dessen Folge, sondern Vater und Sohn gehen gleichursprünglich aus dem Geschehen der Zeugung als wechselseitig sich konstituierende Relata einer nicht-kausalen Beziehung hervor.369 Im Erlanger Systementwurf wiederholt Schelling in der letzten Vorlesung

369 In den Weltaltern reformuliert Schelling den Satz vom Grund auch mithilfe seiner Kri­ tik einer sukzessiven Zeit: »Es erscheint daher nach dieser Ansicht auch der bekannte Satz des sogenannten Kriticismus, den er allein seiner mechanischen Erklärung des Verstan­ desgebrauchs zulieb erfunden, daß nämlich keine reale Folge ohne Zeit gedacht werden könne, nichts weniger als begründet, wie ihm denn selbst die sinnliche Erscheinung widerspricht. Denn auch da, wo nach den gewöhnlichen Begriffen Ursache und Wirkung im Spiel ist, tritt keineswegs eine Zeit zwischen beyde. Die Kreise, die ein in’s Wasser geworfenes Steinchen hervorbringt, sind mit der Wirkung ihrer Ursache zumal da; so an Ort und Stelle der Donner mit dem Blitz« (WA I, 146.).

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diesen Gedanken und profiliert Vater und Sohn in einer paradoxalen Figur als beiderseitige Ursache des jeweils anderen.370 Dieselbe Figur wechselseitiger Konstitution, wie sie mit dem trini­ tätsspekulativen Übertrag auf die Weltalter-Philosophie vorgenommen wird, dürfte Schelling auch bezogen auf das durch die Ekstasis eingelei­ tete Geschehen im menschlichen Bewusstsein im Blick haben – wenn auch mit einer entscheidenden Verschiebung. Auch hier geht nicht ein Relatum dem anderen bewirkend voraus, sondern beide Relata treten »in demselben Act« (AA II,10,1, 218) gleichursprünglich als solche hervor, sodass auch hier ein eindimensionales Verständnis des Satzes vom Grund ausgehebelt wird. Von diesem Standpunkt aus wird abermals einsichtig, warum Schelling von Anfang an konsequent gegen ein deduktiv ableitendes Systemverständnis vorgeht und diesem eine Auffassung des Systemgan­ zen entgegenstellt, das in der Lage ist, Ursache und Wirkung nicht nur linear-kausal, sondern wechselseitig und gegenläufig sich bedingend zu verstehen.371 Bereits dem gesamten ›Systemprogramm‹ liegt damit der Anspruch zugrunde, auf die Medialität von Bezüglichkeiten, d.h. auf die zugleich aktivischen und passivischen Momente des Wechsel­ geschehens hinzuweisen. Allerdings – und hier liegt die Differenz zu den trinitätsspekulativen Figuren – findet innerhalb des Bewusstseinsprozesses in der Ekstasis gerade keine reine Verdoppelung der – zwar bereits im Widerstreit sich befindenden, aber dennoch noch nicht durch den Moment der Trennung gegangenen – Ureinheit statt, ist doch diese Einheit des Urbewusstseins selbst erst durch die ursprüngliche Täuschung der ewigen Freiheit und dem dadurch einsetzenden Verkehrungsprozess entstanden.372 Insofern wird das Heraustreten der Zweiheit von ›reinem Denken‹ und ›ewiger Freiheit‹ in der Ekstasis nicht als Wesensverdoppelung, sondern tatsächlich als Scheidung und Trennung – wenn auch nicht 370 »Wenn daher nicht das reine A0 für sich sondern nur das durch B gegen die Natur in Spannung gesetzte A0 die zweite Potenz zeugen kann (zeugungskraeftig ist) wenn ferner nicht A0 für sich, sondern A0, in das B zurückgesetzt werden oder das aus (A0) = B in A0 = (B) Umgewendete der Vater heißen kann, wenn insofern B für sich zwar nicht der Vater aber doch die väterliche Kraft heißen kann, so ist gleichwohl nicht zu sagen, das auch dieser äußeren Offenbarung nach (denn von dieser allein ist hier die Rede) der Vater vor dem Sohne war, denn der Vater ist selbst nur in dem Sohn und durch den Sohn Vater und der Sohn eben so Ursache von dem Seyn des Vaters, als der Vater Ursache von dem Seyn des Sohnes« (AA II,10,1, 576). 371 Vgl. Kapitel II.2.1. 372 Vgl. Kapitel II.3.3.

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als Zerfall in eine absolute, unbezügliche Dualität profiliert. Diese Scheidung trennt als heilsame Krisis die falsche Einheit, um sie – mindestens momenthaft – einer wahren Einheit zuzuführen, wenn diese auch prinzipiell im innerweltlichen Verkehrungszusammenhang nicht (zeitlich) dauerhaft erhalten werden kann. Diese ›wahre Einheit‹ zeichnet sich nun aber gerade nicht durch ein sofortiges Vereinigen der beiden durch die Ekstasis geschiedenen Pole aus, sondern durch das aktive Auseinanderhalten derselben. Gerade dadurch kann als ein Drittes – parallel zur Figur der dritten Person der Trinität – das ›höchste Wissen‹ als Grundlage der ›Philosophie als Wissenschaft‹ erzeugt werden: Der Proceß der Philosophie oder Erzeugung d. höchsten Wiss. aus jenem Auseinanderhalten des absoluten Subjekts und unsres Wissens, wobey jedoch beyde in einem beständigen Rapport sind. (AA II,10,1, 211)

Hinsichtlich des im vorherigen Kapitel diskutierten Problems der Anfänglichkeit lässt sich nun präzisieren, dass das ›Erzeugen‹ als ›Zeu­ gung‹ zwar durch die Entscheidung der Ekstasis ausgelöst wird, zugleich wohnt dem ›dass‹ der Ekstasis, d.h. ihrem ›Gelingen‹, ein Moment der Kontingenz inne, denn sie kann ebenso gut scheitern, bzw. nicht zur Austragung gelangen.373 Hier verweist die Ekstasis auf das in der Spätphi­ losophie explizierte Selbstverständnis der ›geschichtlichen Philosophie‹ Schellings, in der der ›freie Entschluss‹, der als Geschehen gleichsam vertikal in das Gefüge der Wechselwirkung eingreift.374 Dabei ist es nicht etwa der Philosophierende bzw. Erkennende, der durch die Selbstzurücknahme kausal-aktivisch die Ekstasis auslöst, denn ihr ›Dass‹ und damit die geschilderte Zeugung ist ihm letzten Vgl. Kapitel II.3.7. In der Philosophie der Offenbarung macht Schelling in einer Fußnote deutlich, was er unter »geschichtlich« versteht und was er nicht darunter versteht: Weder wolle er mit dem Ausdruck »geschichtlich« eine Geschichtsphilosophie verstanden wissen, deren Inhalt das gemein Geschichtliche sei, noch meinte er damit einen Stoff, aus dem unmittelbar das Wissen herausdestilliert werden könne. Ebenso wenig sei unter der Geschichtlichkeit der Philosophie gemeint, dass sie nur genetisch entwickelt werden könne. Schelling verbindet mit dem Begriff und der Bestimmung der Geschichtlichkeit die Auffassung, nach der »die Welt die Wirkung eines freien Entschlusses, einer That sey« (SW XIII, 139). Und er fügt hinzu: »Der Ausdruck geschichtlich, von der Philosophie gebraucht, bezog sich also nicht auf die Art des Wissens in ihr, sondern lediglich auf den Inhalt derselben.« (SW XIII, 139) Einige Vorlesungen weiter bringt er den Aspekt des Geschichtlichen als Ergebnis einer freien Tat darüber hinaus mit dem unzweifelhaft Wirklichen in Verbindung. Da heißt es: »In letzter Instanz ist also die Voraussetzung der Philosophie immer nicht irgend ein Abstraktes, sondern ein unzweifelhaft Wirkliches. […] dieses Wirkliche kann eben nur der Geist sein« (SW XIII, 243). 373

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Endes unverfügbar. Was der Philosophierende beiträgt und beitragen muss, ist einerseits der freie Entschluss der aktiven Selbstzurücknahme als Bedingung der Möglichkeit der Ekstasis, andererseits im Geschehen der Ekstasis selbst die ›Mäeutik‹ bzw. das stellvertretende Erleiden des »Geburtsschmerz[es]« (AA II,10,1, 216) – wie Schelling in sokratischer Anlehnung die Rolle des Philosophierenden in der ›Zeugung‹ der beiden Pole (das nichtwissende Wissen und die ewige Freiheit), der eigentlichen »Geburtsstunde der Philosophie« (AA II,10,1, 217), beschreibt. Dass die Ekstasis und die damit verbundene Scheidung und das Heraustreten der beiden beschriebenen Pole tatsächlich eintritt, ist dabei weder vom erkennenden Subjekt autonom herbeizuführen, noch von der ewigen Freiheit gnadenvoll gestiftet, sondern ergibt sich – wie der naturphilo­ sophische Anklang des Motives der »Entladung«, den Schelling in der achten Vorlesung an entscheidender Stelle anführt – aus dem Geschehen des auf die Spitze (akme) getriebenen rotatorischen Umtriebs selbst (vgl. AA II,10,1, 210). Bezogen auf die von Schelling anvisierte Neukonzeption des Sub­ jektivitätsverständnisses wird im Kontext der Einführung des ZeugungsBegriffes abermals deutlich, dass das erkennende Subjekt nicht als selbst­ genügsames, autonomes den Erkenntnisprozess steuern, sondern dass es lediglich einen ermöglichenden Akt vollziehen kann, mit dem es sich zugleich seiner selbstgenügsamen Autonomie begibt, ohne dabei in eine vollkommene Ohnmacht einzutreten. In dienender Funktion, ohne die der gesamte Prozess in sich zusammenbrechen und damit aufgehoben würde, erlangt das Subjekt die ihm eigentlich zukommende Position des ›Geburtshelfers‹, dessen Tätigkeit unerlässlich aber zugleich nicht selbst hervorbringend ist. Mit dieser Stellung des Subjektes in der ekstatischen Erkenntnisge­ nese sucht Schelling eine Form des Wissens zu profilieren, die in der medialen Wechselwirkung der beiden beschriebenen Pole als »unmittel­ bares« (AA II,10,1, 200) ›reales Wissen‹ (vgl. AA II,10,1, 211) ge- bzw. erzeugt wird. In einem nächsten Schritt ist insofern der Blick auf die Dimensionen des in Erlangen prominent hervortretenden Begriffes des Wissens zu werfen.

3. Reflexion und Realität des Wissens (VL 8–9) Die Zeugung des realen Wissens als Grundlage der von Schelling ange­ strebten Wissenschaft wird durch die im ›Rapport‹ stehenden Pole voll­

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zogen. Die Realität dieses Wissens ist – so Schelling – dadurch verbürgt, dass es nicht subjektiv hervorgebracht wird, denn das Subjekt hat sich in der Selbstbescheidung allen Wissens und allen Wissen-Wollens begeben. Es wird nicht vom Erkennenden erzeugt, sondern empfangen. Die paradoxal erscheinende Spannung zwischen dem Aufgeben alles Wissen-Wollens bzw. dem bewusst gesetzten Nicht-Wissen des endlichen Subjektes und dem in der Wechselwirkung des nichtwissenden Subjektes mit der ewigen Freiheit gezeugten Wissen bringt einige Schwierigkeiten mit sich, die Schelling in den Vorlesungen 8–11 in mehrmaligen Anläufen zu lösen sucht. Diese Schwierigkeiten resultieren im Kern aus der Transformation des Vernunftbegriffes und der damit einhergehenden Neukonzeption des Subjektivitätsverständnisses, das sich in der äquivoken Verwendung des Terminus ›Wissen‹ widerspiegelt. Besonders deutlich lässt sich Schellings spezifische positive Auffassung des Wissens an dem Begriff der Reflexion ausweisen. Insofern geht es im Folgenden darum, den gewandelten Reflexionsbegriff Schellings kleinschrittig herauszuarbeiten. Dass Schelling einen ganz anderen Reflexionsbegriff denken muss, als er bspw. in der Transzendentalphilosophie vorliegt, ist ersichtlich aus dem bisher Entwickelten. Allerdings ist noch nicht gezeigt, wie ein solcher Reflexionsbegriff zu denken ist. Die leitenden Fragen für diesen Abschnitt lauten demnach: Was heißt Reflexion unter den neuen Bedingungen? Wie ist in der Folge ein Wissens-Begriff zu verstehen, der einerseits auf Unmittelbarkeit zielt, auf der anderen Seite aber eine gewisse Form der Vermittlung nicht aufgeben kann, ohne dem Vorwurf der Irrationalität zu unterliegen? Wie lässt sich die Realität bzw. Positivität des Wissens gewährleisten, wo die Entstehung von Wissen selbst doch zunächst nur durch den Zugriff eines wissen-wollenden Subjektes zu denken ist, dessen Wissen allerdings immer schon in verobjektivierender Negativität verhaftet bleibt? Im Verfolg dieser Fragen wird deutlich werden, dass Schelling auf eine Form des Wissens zielt, die er »nicht-wissende[s] Wissen«, »gegenstandslose[s] Wissen«, oder aber »freyes Denken« nennt (AA II,10,1, 223). Wie genau diese Form des Wissens, bzw. des Denkens begründet wird, ist im Folgenden zu diskutieren. Weil die ewige Freiheit als das Absolute und das erkennende Bewusstsein in der Ekstasis nicht in eins fallen – das hätte ein vernunft­ loses Schauen zufolge – zugleich aber nicht in einer einfachen Vermitt­ lung eines wissenwollenden, natürlichen Bewusstseins und eines sich entziehenden Absoluten stehen bleiben, sondern durch die Conversio in

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der Ekstasis eine Form der Wechselwirkung eintritt, die weder von dem einen noch von dem anderen Pol gesteuert, sondern als mediales Gesche­ hen sich vollzieht, behält das in dem Vollzug stattfindende Erkennen den Status des Wissens, wenn auch keines mittelbaren, subjektiven Wissens. Schelling denkt den Wechselvollzug vielmehr als ›Fortschreitung‹, in der das Wissen des erkennenden Subjektes in einer ›beständigen Gestaltung‹ durch die ewige Freiheit sich befindet. Dieses Wissen gestalte sich nicht selbst, sondern werde gestaltet, sei also nur ›Reflex‹ der Bewegung der ewigen Freiheit, die selbst keine bleibende Gestalt annimmt. Obwohl das Gestaltet-Werden des Wissens in der von Schelling gewählten pas­ sivischen Formulierung vermeintlich als Machtkonstellation gedeutet werden kann, in der das Absolute über das erkennende Subjekt verfügt und ihm Formen des Wissens einprägt, ist ausdrücklich von einem »freye[n] Verhältnis« (AA II,10,1, 212) die Rede. Schellings Intention ist es, die Genese des Wissens als das Ineinsgehen zweier – eigenständiger – Pole in ihrer Bewegung zu exponieren, die ihre Eigenständigkeit zur Verfügung stellen, ohne sie aufzugeben. Damit ist ein prozessualer Mit­ telbegriff gebildet, der jenseits der Dichotomie von unmittelbarem und vermitteltem Erkennen das Ineinsgehen zweier Bewegungen zu fassen sucht, die gegenseitig in einem machtfreien Wechselverhältnis stehen.375 Die von Schelling angestrebte ›eigentliche Theorie des Wissens‹ lässt sich infolgedessen an vier Aspekten festmachen, die im Weiteren genauer zu untersuchen sind: Mit seiner Neukonzeption des Wissens zielt Schelling auf radikale Dynamik und Prozessualität (a), auf Realität bzw. Objektivität des Wissens (c) und auf eine grundlegende Umbildung des erkennenden Subjektes (d). Alle diese Punkte ergeben sich aus Schellings spezifischem Systemverständnis in den Erlanger Vorlesungen und sind insofern im Vorausgehenden bereits angezeigt worden. Bezogen auf den von Schelling exponierten Prozess des Wissens sind sie im Folgenden allerdings explizit aus der Perspektive des erkennenden Subjektes zu untersuchen, um von dort her die Neukonzeption der Subjektivität zu bestimmen.

375 Die Figur dieses Verhältnisses im Sinne der oben betonten ›Zeugungsterminologie‹ kann vor dem Hintergrund des in den Aphorismen über die Naturphilosophie stark gemachten Liebesbegriffes gelesen werden. Der Begriff der Liebe, wie er 1809 von Schelling exponiert wird, beruht bekanntlich auf der freiwilligen Einung von zwei eigenständigen entgegengesetzten Instanzen, insofern »in jener [der Liebe, J.H.] nicht Entgegengesetzte verbunden werden, die der Verbindung bedürfen, sondern solche, deren jedes für sich seyn könnte« (AA I,17, 172).

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

a) Die vermittelte Unmittelbarkeit und die Prozessualität des Wissens Der Anspruch auf Unmittelbarkeit, der weder aus dem Bereich der Vernunft herausfallen soll und damit irrational würde, noch dem Vorwurf der »Nacht, in der alle Kühe schwarz sind« unterliegen darf, birgt aller­ dings eine Schwierigkeit: Wie kann Unmittelbarkeit gedacht werden, die gleichwohl durch die notwendigerweise zu bewahrende Eigenständigkeit der beiden involvierten Instanzen eine irgendwie geartete Vermitteltheit nicht aufzugeben bereit ist? Sobald aber Vermittlung gedacht wird, ist reine Unmittelbarkeit nicht mehr möglich. Worum Schelling ringt, ist ein Mittelbegriff, der die Gegensätze von Vermittlung und Unmittelbarkeit aufbricht, über sich hinaustreibt und in einer höheren Einheit verbindet. Mit diesem Anliegen gelangt Schelling zu einem Reflexionsbegriff, der sich von der transzendentalphilosophischen Konzeption der Refle­ xion, sei sie kantischer, fichtescher oder auch früher schellingscher Natur fundamental unterscheidet. Reflexion ist hier weder das Bewusstsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zur Sinnlichkeit und zum Ver­ stand (vgl. KrV, B 316),376 noch die in sich selbst zurückgehende Tätigkeit (vgl. GA I,3, 329). Sie ist aber auch nicht mehr eine »Geisteskrankheit«, in der die Entzweiung des Menschen von der Welt festgeschrieben wird (vgl. AA I,5, 71)377 oder freie Reflexion, in der sich die Intelligenz vom Anschauen distanziert und über das unbewusste Produzieren erhebt (vgl. AA I,9, 198). Ebenso wenig ist Reflexion Zurückbeugung auf das eigene Bewusstsein. Schelling denkt hier vielmehr ein Wechselgeschehen zwi­ schen zwei Instanzen, bzw. zwei Subjekten, die beide als Subjekte in die bereits aufgewiesene gemeinsame Bewegung eintreten. Denn da sie »aus einer und derselben Einheit ausgeschieden werden« (AA II,10,1, 210), nämlich aus dem natürlichen Bewusstsein, das sich aus der verkehrten Verstrickung von erkennendem Subjekt und ewiger Freiheit konstituiert hat, »verhalten sie sich fortwaehrend als gleichsam sympathisierende Organe, da in dem einen keine Veränderung vorgehen kann, ohne sich in dem andern zu reflectiren« (AA II,10,1, 210). Reflektiert wird also nicht auf die Vorgänge des Selbstbewusstseins, sondern der Reflex wird als Abspiegelung der Bewegung des absoluten Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Schelling an gegebener Stelle von einer ›Apperzeption‹ der Gestalt der ewigen Freiheit in der Reflexion spricht (vgl. AA II,10,1, 215). Er sieht sich also hier durchaus in der kantischen Tradition der reinen Apperzeption. 377 Bekanntlich hat Schelling erst in der Neuauflage der Ideen im Jahr 1803 den Reflexi­ ons-Begriff eingeführt. In der ersten Ausgabe hatte er den Begriff ›Spekulation‹ verwendet. 376

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Subjektes im Bewusstsein des erkennenden Subjektes durch das Eintre­ ten in eine gemeinsame Bewegung aufgefasst: Die Bewegung selbst und das Bewußtsein dieser Bewegung ist Eins und immer beysammen – jene Bewegung im absoluten Subjekt reflektiert sich in uns unmittelbar als Wissen – und wie das absolute Subjekt stets ein andres und doch immer dasselbe, so ist auch unser Wissen in einer steten Umwandlung – jeden Augenblick ein andres und doch immer dasselbe […]. (AA II,10,1, 212)

Durch die gemeinsame Bewegung der beiden Instanzen gewinnt Schel­ ling die Möglichkeit, eine Form der Unmittelbarkeit zu denken, die die Eigenständigkeit der Pole nicht aufgeben muss, ist doch hier durch das Aufrechterhalten des Nichtwissens von Seiten des menschlichen Subjektes die Möglichkeit eines verobjektivierenden und dadurch eines bloß vermittelten Zugriffes auf die ewige Freiheit verhindert. Allerdings wird durch die Prozessualität des Geschehens die Möglichkeit einer Vermittlung gedacht, die gleichwohl nicht in einer statischen SubjektObjekt-Trennung verbleibt, sondern in einem gleichsam dialogischen Verhältnis zwischen zwei Subjekten als inter-intra-subjektives Gesche­ hen sich vollzieht.378 Dadurch wird die »Reflexion« im Sinne einer wörtlich zu verstehenden Einbildung realen Wissens hervorgebracht, die zugleich dem Kriterium der Dynamik der ewigen Freiheit Genüge tut, da sie selbst als prozesshaftes Geschehen gedacht wird. Reflexion ist also eine in der Bewegung des Prozesses sich ergebende Einbildung bzw. Abspiegelung der ewigen Freiheit in das Bewusstsein des erkennenden Subjekts. Aus dieser Abspiegelung entsteht das freie Denken. Dabei denkt Schelling das Movens der Dynamik konsequent von der ewigen Freiheit als indefinibles Prinzip her, das durch alles hindurch­ geht und zugleich nichts von allem ist. Da sie die Dynamik per se ist, lässt sie sich in keiner Weise festhalten. Wäre nur die absolute Dynamik der ewigen Freiheit, dann wäre allerdings auch keine Möglichkeit des Wissens. Erst indem diese Bewegung durch das Aufrechterhalten des Nicht-Wissens des erkennenden Subjektes gehemmt wird, kann sie sich als reales Wissen durch die Reflexion aussprechen. Insofern entsteht die eigentümliche Form der vermittelten Unmittelbarkeit, die Schelling hier im Blick hat, dadurch, dass die »ganze Bewegung nur als das

378

Vgl. zur Figur des Dialoges das folgende Kapitel II.5.4.

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

beständig aufgehaltene […] unmittelbare Wissen« (AA II,10,1, 247)379 aufgefasst wird. Neben der dialogischen Verhältnishaftigkeit der beiden Subjekte als wechselseitig bedürftige und doch eigenständige Entitäten gewinnt Schelling also mit dem Ineinsgehen der Bewegung eine Möglichkeit, mithilfe der nach der Conversio vollzogenen Scheidung der Pole, die radikale Prozessualität der ewigen Freiheit, die sich dem natürlichen Bewusstsein grundsätzlich entzieht, in eine gewandelte Form dem Wis­ sen einzuschreiben, da das Wissen selbst grundlegend prozessual gedacht wird. Dies insofern, als das Wissen nicht subjektiv hervorgebracht ist und deshalb notwendig verobjektivierend – also ›entprozessualisierend‹ – wirkt, sondern weil es in erster Linie aus dem prozessualen Wechsel­ verhältnis entsteht und sich damit aus der Dynamik der ewigen Freiheit gleichsam herschreibt, bzw. ›reflektiert‹. Anders als das verobjektivie­ rende Wissen, bleibt das nichtwissende Wissen auch im und als Ergebnis prozessual. Dies insofern, als der Prozess selbst, und nicht nur sein Endpunkt, als das Ergebnis verstanden wird. Daraus ergibt sich retrospektiv eine methodische Grundlegung der dynamischen Struktur des Systems als Ganzem, wie Schelling sie in den Vorlesungen 1–3 entwirft.380 Den dort vorgebrachten system- und prinzi­ pientheoretischen Annahmen wird mithilfe der in den Vorlesungen 8–9 dargelegten Methode des Prozessbewusstseins die Zugangsweise eröff­ net. Aus der radikalen Prozessualität des entstehenden Wissens erklärt sich, warum dieses Wissen in Anbetracht des natürlichen Bewusstseins ein Nicht-Wissen bleiben muss,381 steht es doch jeglichem verobjektivier­ enden Zugriff entgegen. Ein prozessuales Wissen kann nur von einem Prozessbewusstsein gefasst werden, und ein solches Prozessbewusstsein findet Schelling erst in dem Ineinsgehen der Bewegung der durch die Ekstasis getrennten Pole, also erst im medialen Wechselgeschehen zwischen menschlichem und absolutem Subjekt.

379 In diesem Zusammenhang macht Schelling in bezeichnender Nähe zu Hegel deutlich, dass Unmittelbarkeit nur das Resultat der Wissenschaft sein kann (vgl. AA II,10,1, 199f.). 380 Vgl. Kapitel II.2.1. 381 »In dem Act dieses Einsetzens [des absoluten Subjektes, J.H.] werde ich nun freylich seiner inne – als des Überschwenglichen – und dieses inne Werden könnte man wohl auch ein Wissen nennen. Aber es muß gleich dazu ges. werden: es ist ein Wissen, das in Ansehung meiner vielmehr ein Nichtwissen ist – nicht wissendes Wissen« (AA II,10,1, 202).

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Allerdings bleibt die Frage bestehen, ob Schelling mit dieser Kon­ zeption den Vorwurf der Irrationalität tatsächlich ausgeräumt hat. Wie soll aus dem per se nicht verobjektivierenden Prozessbewusstsein eine Form des Wissens entstehen, die gleichwohl ihren Status als Wissen zu rechtfertigen in der Lage ist?

b) Die Begründung der Realität des Wissens Bisher wurde gezeigt, wie Schelling durch die doppelte Bewegung von erkennendem und absolutem Subjekt eine radikal prozesshaft gedachte vermittelte Unmittelbarkeit präsentiert. In einem nächsten Schritt wird Schellings Forderung nach der Realität des Wissens hinsichtlich ihrer Begründung diskutiert. Daraus wird sich ergeben, dass diese Realität daher rührt, dass das Wissen vom erkennenden Subjekt nicht hervorge­ bracht, sondern in dem oben beschriebenen Prozess des freien Denkens entgegengenommen wird, an dessen Ende der Gedanke bzw. der Begriff als Ergebnis im erkennenden Bewusstsein zurückbleibt. Bleibt aber das menschliche Subjekt nach der radikalen Selbstauf­ gabe alles Wissen-Wollens in einem rein passivischen Verhältnis zur Bewegung des absoluten Subjektes? In Bezug auf die Zeugung des Wis­ sens wurde ihm bereits ein mäeutisches Moment zugesprochen, dessen Charakter zwar nicht autonom-hervorbringend, dabei jedoch durchaus ermöglichend gedacht werden muss. Diese Figur präzisiert Schelling, indem er dem durch die Selbstzurücknahme des erkennenden Subjektes in der Ektasis gesetzten Nichtwissen – dem B-Pol des exponierten Pro­ zesses – die Kapazität zuspricht, die durch die Ekstasis hervorgetretene ewige Freiheit – den A-Pol des Prozesses – in der ›Abstraktion‹ zu halten, wenn er schreibt: »Nun wird aber A, dieses absolute Subjekt in dieser Abstraction nur erhalten durch B – durch die Gewalt des nicht_wissenden, sich alles Wissens begebenden Wissens […]« (AA II,10,1, 224). Seiner eigenen Natur nach ist die ewige Freiheit gerade dasjenige, was keinen Augenblick standhält, in ständiger Umwandlung sich befindet, in radikaler Dynamik zu denken ist, die weder ist, noch nicht ist, sondern eben durch ihren Charakter als natura anceps sich auszeichnet. Um sie fassen zu können und sich aussprechen zu lassen, bedarf es einer zweiten ›Kraft‹, die anhaltend und retardierend wirkt und an der sich die ewige Freiheit, gleichsam abspiegelnd, reflektieren kann. Indem der B-Pol durch das Aufrechterhalten und Durchtragen des sich allen subjektiven Wissens begebenden Setzens von Nicht-Wissen

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retardierend auf die unaufhaltsame Bewegung des A-Poles wirkt, kann jeder Schritt der Bewegung ewiger Freiheit sich nur »mit Wissen und gleichsam mit Bewilligung des B« (AA II,10,1, 220) vollziehen. Auch hier greift Schelling an systematisch entscheidender Stelle auf Motive der frühen Naturphilosophie zurück, allerdings in modifizierender Verschie­ bung. In der frühen Naturphilosophie wird die Konstruktion der Natur­ produkte und damit die Erscheinungen der natura naturata durch das Zusammenwirken der unendlichen Tätigkeit der natura naturans und die Hemmung einer zweiten, retardierenden Kraft erklärt. Ohne diese zweite Kraft würde die erste, die unendliche Tätigkeit, »mit unendlicher Geschwindigkeit geschehen und keine reale Anschauung« sowie keine Verendlichung verstatten (AA I,7, 80).382 Ebenso wie später in Erlangen, doch dort bezogen auf die epistemische Fragestellung des Innewerdens der unaufhaltsamen Bewegung des Absoluten, stellt Schelling auch im Ersten Entwurf fest, dass das Problem der Naturphilosophie nicht so sehr in der Begründung der natura naturans, also in der absoluten Tätigkeit der Natur liegt, sondern vielmehr in der Erklärung, wie aus dieser abso­ luten Produktivität überhaupt eine Permanenz, ein Produkt, zustande kommen soll.383 Während Schelling dort die zweite, hemmende Kraft als der Natur inhärente Kraft aus der von ihm vorausgesetzten Autonomie und Autarkie der Natur abzuleiten sucht, werden hier die beiden »Kräfte« aus dem Zusammenwirken der beiden Subjekte erklärt. Die Tätigkeit des sich selbst allen Wissens begebenden endlichen Subjektes besteht einzig und allein in der haltenden, retardierenden Funktion, die sich dem »seiner Natur nach keinen Augenblick Stillstehende[n]«, das Schelling als das Beweglichste, bzw. »die Bew. selbst« kennzeichnet, entgegenstellt (AA II,10,1, 224). 382 Erstmals wird diese Figur in den Ideen (AA I,5, 102) im Anschluss an Kants Metaphysi­ sche Anfangsgründe exponiert. Bereits im Ersten Entwurf setzt Schelling die Duplizität der Kräfte als Theorierahmen der Naturphilosophie mit dem ewigen Streit im Bewusstsein der Transzendentalphilosophie parallel: »Man wird behaupten müssen, daß eben desswegen jede einzelne Anschauung nur scheinbar-einzeln, und daß eigentlich in jeder einzelnen zugleich die Anschauung des ganzen Universums enthalten sey. Der ursprüngliche Streit des Selbstbewusstseyns – für die transcendentale Schöpfung eben das, was der ursprüngliche Streit der Elemente für die physische – muß wie das Selbstbewußtseyn selbst unendlich seyn; er kann sich daher nicht in irgend einem einzelnen Product, sondern nur in einem Product, das immer wird, und nie ist, und in jedem Moment des Selbstbewußtseyns neu geschaffen wird, enden« (AA I,7, 83f.). 383 »Das Hauptproblem der Naturphilosophie ist nicht, das Thätige in der Natur, (denn das ist ihr sehr begreiflich, weil es ihre erste Voraussetzung ist), sondern das Ruhende, Permanente zu erklären« (AA I,7, 82).

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In der Figur der treibenden und der retardierenden Kraft im Vollzug des Prozesses modifiziert Schelling aber nicht nur den entscheiden­ den Theorierahmen seiner frühen Naturphilosophie, indem er ihn auf Bewusstseinsprozesse überträgt, er kann damit auch an andere, neuere Konzeptionen seiner Philosophie anknüpfen. Mit der bloß retardieren­ den Funktion der Tätigkeit des Menschen holt er die erstmals in der Freiheitsschrift explizierte Auffassung der Vernunft als empfangendes, passives und nicht als durch Spontaneität geprägtes Vermögen ein, wenn er scheibt: »Hieraus die potentielle, die bloß leidende Natur der Vernunft. Aber eben daraus auch, daß die Vernunft nicht das thätige Princip in der Wissenschaft seyn kann« (AA II,10,1, 223). Dies lässt sich lesen als nachträgliche Rechtfertigung und systema­ tische Begründung der 1809 getätigten Aussage, dass die Vernunft in dem Menschen das sei, »was nach den Mystikern das Primum passivum in Gott oder die anfängliche Weisheit ist«, »die ruhige Stätte, darin die ursprüngliche Weisheit empfangen wird« (AA I,17, 178). Ohne an dieser Stelle näher auf den Charakter der Passivität der Vernunft und dessen systematische Implikationen einzugehen – dies wird in Kapitel II.5.6 nachgeholt – sei hier lediglich hervorgehoben, dass Schelling neben der Rechtfertigung seiner Bemerkungen aus der Freiheitsschrift durch die passivische Struktur der Vernunft bzw. der retardierenden Kraft des menschlichen Subjektes zudem die geforderte Realität des Wissens garantiert sieht.384 Indem das erkennende Subjekt in der Ekstasis sich allen WissenWollens begibt und damit den aktivischen, verobjektivierenden Zugriff des Verstandes zugunsten der passivischen, empfangenden Struktur der Vernunft hinter sich lässt, wird ihm »unmittelbar jenes absolute Subjekt zur höchsten Realität« (AA II,10,1, 211). Die Realität des absoluten Subjektes bzw. der ewigen Freiheit garantiert zugleich die Realität des in der Wechselwirkung von ewiger Freiheit (A) und Nicht-Wissen (B) entstehenden Wissens, das Schelling auch »gegenstandsloses Wis­ sen«, »nicht-wissendes Wissen« oder aber »freyes Denken« nennt (AA II,10,1, 223). Die im Reflex sich als gegenstandsloses Wissen im menschlichen Bewusstsein abspiegelnde Bewegung ist damit, wie Schelling hervorhebt, 384 Schelling denkt allerdings, wie gezeigt, die passivische, empfangende Struktur der Ver­ nunft durchaus nicht ohne Aktivität, denn er spricht ausdrücklich von der retardierenden Kraft derselben sowie von der Notwendigkeit, das Setzen des Nicht-Wissens aktivisch aufrechtzuerhalten, damit sich die empfangende Struktur der Vernunft zeigen kann.

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völlig unabhängig vom erkennenden Subjekt. Damit sei auch das entste­ hende Wissen kein subjektives Wissen ohne alle Realität.385 Der aus dem Prozess hervorgehende Gedanke ist nicht ein durch den Menschen willkürlich hervorgebrachter Gedanke, »in dem Sinn, wie auch eine Chimäre mein Gedanke ist« (AA II,10,1, 223). Gleichzeitig kann der Philosophierende ihn aber dennoch »seinen Gedanken« nennen, weil er »ursprünglich mit dem was jetzt das Denken ist Eins und beysammen war« (AA II,10,1, 223).386 Auf dieselbe Weise argumentiert Schelling hinsichtlich des Begriffes, wobei er auch hier – wie schon zuvor hinsichtlich der Reflexion – eine etymologische Umdeutung vornimmt, mit der er sich einerseits von Kant, insbesondere aber von Hegel abgrenzt: Ich kann sagen: es ist mein Begriff – diß heißt aber nicht so viel: a) es ist Gegenstand meines Begriffs sondern es ist der Begriff selbst. b) es ist nicht wie man zu reden pflegt – bloßer Begriff sondern es ist die ewige Freyheit selbst die nur darum mein Begriff heißt, weil sie im Urbewusstsein das auch mein Bewusstsein war, ursprünglich begriffen ist – denn jeder Begriff nur ein Ausgeschiedenes aus meinem Bewußtsein und heißt eben darum Begriff weil es in ihm begriffen war. (AA II,10,1, 223f.)

Der Begriff ist hier also weder ein durch Spontaneität hervorgebrachtes Produkt des Verstandes, der z.B. als reiner Vernunftbegriff bzw. als Idee die Erfahrungserkenntnis systematisiert,387 noch ist der Begriff eine durch sich selbst bestimmte und in der dialektischen Bewegung sich manifestierende Einheit von Sein und Wesen.388 Ein ›Begriff‹ ist hier das, was im ursprünglichen Bewusstsein, in dem die ewige Freiheit und das menschliche Bewusstsein in verkehrter Einheit bestanden, vorhanden war und durch die Scheidung der beiden Pole und die 385 »Denn die Bewegung selbst ist völlig unabhängig von ihm [dem Philosophen, J.H.], und was sehr wichtig ist – nicht er bewegt sich in seinem Wissen, und erzeugt dadurch Wissen – ein so erzeugtes Wissen subjektiv – ein bloßes Begriffswissen, ohne Realität […]« (AA II,10,1, 225). – Man beachte den mit der Abwertung »bloßen Begriffswissens« eingefügten Seitenhieb auf Hegel. 386 In seiner Berliner Antrittsvorlesung spricht Schelling in diesem Zusammenhang auch von der »gelassenen Vernunft«: »Die positive [Philosophie, J.H.] hat keine Bedingung als nur die, daß die Vernunft ihn ihr sich nicht zum Objekt mache. Sie ist hier die gelassene Vernunft. Insofern, weil der Vernunftbegriff der negativen Philosophie auf einer Bedingung beruht, ist das Notwendigexistierende der unbedingte Vernunftbegriff, in der [sic!] die Vernunft sich von sich selbst befreit zum freien Denken. Nur im freien Denken läßt sich vom Notwendigexistierenden hinwegkommen« (SW XIII, 165). 387 Vgl. Kant: KrV, A 68, B 93 sowie A 310f., B 367f. 388 Vgl. bspw. Hegel zur Lehre vom Begriff in der Enzyklopädie: GW 20, 177‒179.

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daraufhin einsetzende Wechselwirkung nun gleichsam ›ausgeschieden‹, d.h. manifest wird. Er ist damit das prozessuale Ergebnis einer Bewegung, die selbst immer nur ›freies Denken‹ und nie Begriff ist. Mit dieser Figur des aus der unmittelbaren ›Reflexion‹ der ewigen Freiheit im Innern des menschlichen Subjektes entstehenden prozessua­ len ›freien Denkens‹ sieht Schelling dessen Realität gewährleistet. Diese ist jenseits eines subjektiv bzw. transzendentalphilosophisch verstan­ denen Wissens (wie bei Kant) bzw. eines objektiven aus der Selbstbewe­ gung des Begriffs sich ergebenden Wissens (wie bei Hegel) zu verorten und verweist auf das inter-intra-subjektive Wechselgeschehen der beiden Subjekte zurück.

c) Die Umbildung des menschlichen Subjektes Mit dem ›freien Denken‹ bleibt die Wirkung auf das durch die Ekstasis in ein Prozessbewusstsein eingetretene menschliche Subjekt nicht aus. Das Reflektieren des absoluten Subjektes im menschlichen Subjekt lässt letzteres nicht rein passivisch, unbetroffen und distanziert, sondern involviert es in das Geschehen. Schelling schreibt: Wir sind nicht die bloß müßigen Zuschauer jenes absoluten Subjekts – sondern in einem sympathisierenden Verhältnis mit ihm, so daß es uns beständig verwandelt und umgestaltet bis zur Gestalt der vollkommenen Erkenntnis – tiefer Proceß – nicht oberflächlich in unser eignes Innres die Züge seiner Bewegung eingrabend! (AA II,10,1, 213)

Die Erzeugung des von Schelling in Erlangen angestrebten Wissens ist also zugleich ein Bildungsgeschehen, in dem im Vollzug der ›Reflexion‹ ein Rückschlag auf das erkennende Subjekt geschieht, der es verwandelt aus dem Vollzug herausgehen lässt. Nicht nur die radikale Selbstaufgabe als Voraussetzung des mit der Ekstasis eingeleiteten Prozesses ist also Teil der von Schelling stark gemachten Conversio-Figur. Im Vollzug des Prozesses wird das Subjekt verwandelt und umgestaltet, dadurch dass sich die Bewegung des absoluten Subjektes tief in das Innere des menschlichen Subjektes eingräbt. Als Ergebnis tritt das absolute Subjekt als Weisheit im freien Denken in die Erscheinung. Im individuellen Bewusstsein des aus dem Wissen-Wollen herausgetretenen erkennenden Subjektes kommt die ewige Freiheit zu sich selbst, indem sie sich durch das Erkennen des menschlichen Bewusstseins selbst erkennt.

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Erst damit komplettiert sich die Auffassung der Conversio in ihrer paradoxalen Spannung, die einerseits nicht ohne den Selbstvollzug des Menschen in der ›freyen That‹ der Selbstaufgabe alles Wissen-Wollens, andererseits jedoch ebenso wenig aus bloßem eigenem Vermögen zu vollziehen ist, sondern sich der Kraft eines von außen in den Menschen eingreifenden Geschehens verdankt, die allein die kathartische Wand­ lung in der Conversio ermöglicht.389 Aufgrund der Abkehr von allem verobjektivierenden Zugriff der Erkenntnis bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Erkenntnisanspru­ ches steht Schelling allerdings vor der Schwierigkeit, die spezifische Form vermittelter Unmittelbarkeit, die ohne eine Subjekt-Objekt-Struktur auskommt, deutlicher zu profilieren. In unverhohlener Kritik an seinem vormaligen Studienkollegen, greift Schelling dabei auf einen weiteren Begriff des zeitgenössischen Diskurses zurück: Es handelt sich dabei um nichts weniger als den von Hegel wirkmächtig eingeführten Begriff der ›Dialektik‹.

4. Dialog und Dialektik (VL 9) Bereits in Schellings mittlerer Philosophie kündigt sich, insbesondere in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Dialektik-Begriff, die in der Spätphilosophie prominent vorgebrachte Kritik an Hegel an, die im Kern darin besteht, dass es notwendigerweise einer Ergänzung der negativen Begriffsphilosophie um eine positive Philosophie bedarf, die, verkürzt gesagt, das Primat der Existenz gegenüber der Logik hervorkehrt.390 In der in Erlangen stark gemachten paradoxalen Spannung der Conversio-Figur fand Schelling, wie Lore Hühn aufgewiesen hat, »in Schopenhauer, zumal in dessen Theorie der Willensverneinung seinen bedeutendsten Nachfolger […].« (Hühn 2006, 153f.) Nicht von ungefähr rückt Schopenhauer, wenn auch ob des theologischen Gehaltes »verschämt und hinter unzähligen ›Gleichwie(s)‹ und ›Als-ob(s)‹ versteckt« (ebd., 158) das Gesche­ hen in den Kontext des Theologumenon der Gnade: »[…] so ist auch jene Verneinung des Wollens, jener Eintritt in die Freiheit, nicht durch Vorsatz zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältniß des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von außen angeflogen. Daher eben nannte die Kirche sie Gnadenwir­ kung.« (Schopenhauer: Werke (ZA), § 70, W I, 490) Auch Schopenhauer geht davon aus, dass in der Conversio »das ganze Wesen des Menschen von Grund aus geändert und umgekehrt wird […] also wirklich gleichsam ein neuer Mensch an die Stelle des alten tritt.« (Schopenhauer: Werke (ZA), § 70, W I, 500). Vgl. hierzu auch Hueck 2020. 390 Vgl. zur späten Kritik Schellings an Hegels Begriffsdialektik Hühn 2003. 389

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Entgegen der aus der Notwendigkeit der Begriffsbewegung sich ergebenden Dynamik der hegelschen Dialektik betont Schelling mit der Ekstasis und insbesondere mit dem spezifischen Terminus der Akme den Einschlag der Kontingenz im Moment des Entschlusses, der zum Umschlag und damit zum Fortgang des Prozesses führt.391 Das aus den Widersprüchen der Systeme sich ergebende Verfahren der Dialektik sei lediglich als Propädeutik aufzufassen (vgl. AA II,10,2, 617). Demge­ genüber sucht Schelling, wie im Folgenden zu zeigen ist, dem Eintrag der Kontingenz gerecht zu werden, indem er das Wechselgeschehen des dargelegten Prozesses nicht als Dialektik, sondern – so ließe sich formulieren – als Dialogik exponiert. An prominenter Stelle findet sich Schellings Kritik an Hegels Begriffsdialektik erstmals in der Einleitung in die Weltalter. Die 1811 verfasste und dann bis in die letzten Fassungen in nahezu unveränderter Weise übernommene Einleitung in die Weltalter kann als Keimzelle für die in den einleitenden Erlanger Vorlesungen ausgeführten methodologi­ schen Fragestellungen gelten (vgl. WA I, 4f.).392 In ihr wird einerseits das seit der Freiheitsschrift und den Stuttgarter Privatvorlesungen fortge­ schriebene Prinzip der Wissenschaft als lebendiges, sich entwickelndes Wesen explizit gemacht und fest im System verankert, andererseits wird an prominenter Stelle, wie gezeigt,393 der Begriff der Mitwissenschaft 391 In der sechsundzwanzigsten Vorlesung betont Schelling in unverhohlener Kritik an Hegel, dass das »Reich der That«, d.h. die Figur des Entschlusses als Grundlage für einen Übergang in den nächsten, seine Philosophie von derjenigen der »Dialektiker« trenne (vgl. AA II,10,1, 456). 392 Das Argument wird gestützt durch die Tatsache, dass Schelling Passagen aus der Einleitung in die Weltalter 1821 bis in die Formulierungen wiederaufnimmt. Vgl. bspw.: »So bedarf auch der Mensch von Zeit zu Zeit wieder verjüngt zu werden, indem er wieder in jenes tiefe Einheitsgefühl versetzt wird. In diesem schöpft besonders d. Wissenschaftsforsch. stets neue Kräfte – nicht der Dichter allein auch der Philosoph hat seine Entzückungen. Er bedarf ihrer p Aber ein andres ist p Denn wie wir sein Verhältnis zur Ewigkeit denken mögen, darauf zurück, daß was in dieser untheilbar zusammen war, in ihr enthalten und theilweis’ auseinandergelegt werde. Wir leben nicht im Schauen, unser Wissen ist Stückwerk […].« Was Schelling bezeichnenderweise in Erlangen hinzufügt und damit die Bedeutung des Reflexionsbegriffes unterstreicht, ist folgende Passage: »[…] d. h. es muß stückweis, nach Abtheilungen und Abstufungen erzeugt werden – und dieß kann nicht ohne Reflexion geschehn – und Reflexion eben in jenem Auseinanderhalten der Pole, ohne jene reflectirende, retardirende die Bewegung durch beständigen Widerspruch anhaltende Kraft« (AA II,10,1, 252). In der SW-Ausgabe der Erlanger Vorlesungen hat Schellings Sohn diese Passagen – wohl aufgrund der wörtlichen Wiederholung – herausgestrichen. 393 Vgl. Kapitel II.3.6.

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als ausgereifte Folgefigur für das in der Freiheitsschrift thematisierte Gewissen eingeführt.394 Damit legt Schelling, wie ebenfalls dargelegt, die anthropologischen Grundlagen für die Ekstasis, denn durch die Struktur der Mitwissenschaft wird dem Menschen ein aus der Zeitlichkeit herausstehendes überzeitliches Prinzip zugesprochen, das als ›offener Punkt‹ den in der Conversio wiederhergestellten Zusammenhang mit dem lebendigen Prinzip der Wissenschaft als Urwesen zu gewährleisten in der Lage ist. Zugleich ist der Struktur der Mitwissenschaft der Ver­ kehrungszusammenhang der Subjektivität inhärent. Schelling charakter­ isiert die Mitwissenschaft durch die spannungsvolle Doppelstruktur zweier Prinzipien, von denen eines (Idealprinzip) zwar absolut wissend, dabei allerdings an ein anderes, dunkles (Realprinzip) gefesselt und deshalb selbst verdunkelt und unfrei ist. Das dunkle Prinzip wiederum trägt in sich »die Erinnerung aller Dinge, ihrer ursprünglichen Ver­ hältnisse, ihres Werdens und ihrer Bedeutung« (WA I, 4), allerdings ist diese Erinnerung ununterschieden und deshalb unbewusst und ver­ gessen. Erst – und dies wird in den Weltaltern lediglich angedeutet und retrospektiv durch die Einführung der Figur der Ekstasis zehn Jahre später systematisch eingeholt – durch die Scheidung der beiden ineinander verschränkten Prinzipien, die als radikale »Scheidung von sich selbst« (WA I, 4) den Krisis-Charakter der Ekstasis andeutet, wird der ›geheime Verkehr‹ (oder Rapport) als Bewusstwerdungs- bzw. Wiedererinnerungsgeschehen eingeleitet. Der ›geheime Verkehr‹ wird nun aus der aufeinander bezogenen Dualität der Prinzipien als inneres Gespräch zwischen fragendem und antwortendem, wissendem und unwissendem Prinzip geschildert und in dieser dialogischen Struktur mit dem Schlagwort der Dialektik enggeführt.395 Mit dieser Engführung 394 Vgl. zum systematischen Zusammenhang des Gewissens mit der Mitwissenschaft Egloff 2016, 171–187. 395 »Diese Scheidung, diese Verdopplung unsrer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwey Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein wissendes oder vielmehr das die Wissenschaft selber ist, und ein unwissendes, nach Klarheit ringendes, diese innere Unterredungskunst, das eigentliche Geheimniß des Philosophen ist es, von welcher die äußere, die davon Dialektik heißt, der leere Schein und Schatten ist.« (WA I, 5) Im dritten Weltalter-Druck, der Eingang in die SW gefunden hat, heißt es noch expliziter an der platonischen Anamnesis-Lehre sich orientierend: »Dieser innere Verkehr, dieß beständige Gespräch, in dem zwei Principien sind, eines, das das Wissen selbst, das Wissen als Wesen ist, aber nicht weiß, das andere, das wissend ist, aber nicht das Wesen, nicht das Wissen selbst – nur nichtwissendes Wissen – eines, das sich erinnern will, und das andere, das ihm zur Erinnerung hilft. Diese innere Unterredungskunst ist es, von welcher die äußere, die bloß davon Dialektik heißt, nur das Nachbild, und wo sie zur bloßen Form

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scheint Schelling ein Doppeltes zu bezwecken: Zum einen wird der Dialektik, in Abgrenzung zur theosophischen Schau, ein entscheidendes Durchgangsmoment für die Philosophie zugestanden, denn ohne ›dia­ lektische Mündigkeit‹396 werde die Grenze zwischen Philosophie und Theosophie, »welche der Wissenschaftsliebende keusch zu bewahren suchen wird«, auf ungebührende Art überschritten und der stummen Schau, die nicht zur »wirklichen Reflexion« komme, das Wort geredet (WA I, 8). Damit positioniert sich Schelling auf polemische Weise gegen­ über Hegel, dessen Dialektik in seinen Augen einen bloßen Formalismus darstellt. Dieser in Erlangen und im Weiteren in der Spätphilosophie gegenüber Hegel vorgebrachte Hauptkritikpunkt, der dem Kollegen vor­ wirft, er nivelliere sowohl die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit als auch die Freiheit des Systems zugunsten einer bloß logisch verstandenen notwendig sich ergebenden Begriffsbewegung, nimmt vorweg, was z.B. Kierkegaard wenig später zum produktiven Stein des Anstoßes für die Herausbildung seiner Existenzphilosophie wird.397 Gleichzeitig stilisiert sich Schelling mit seiner Auffassung als der wahre Nachfolger platonischer Dialektik. Mit der Charakterisierung des inneren Dialoges als Dialektik scheint sich diese allerdings weniger auf das argumentative Dihairesis- oder Hypothesis-Verfahren der späteren platonischen Dialoge zu beziehen, sondern vielmehr auf die in der

geworden, der leere Schein und Schatten ist.« (SW IX, 238f.) Bezeichnenderweise fällt auch hier bereits der sokratisch konnotierte Begriff des »nichtwissenden Wissens«, das zum zentralen Motiv in den Erlanger Vorlesungen wird. Freilich verwendete Schelling in früheren Werken den Dialektik-Begriff in Anschluss an Kant in positiver Konnotation (siehe »Ich-Schrift«). Auch in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums bildet die Dialektik das Verbindungsglied zwischen Spekulation und Reflexion und wird als entscheidendes Moment der wissenschaftlichen Philosophie markiert (vgl. SW V, 267). Vgl. hierzu Hartkopf 1969. 396 In der Freiheitsschrift wird in der Verteidigung gegen den Pantheismusvorwurf gegen diejenigen polemisiert, die in »dialektischer Unmündigkeit« »eine völlige Unwissenheit über das Wesen der Copula« beweisen, indem sie Identitätsstrukturen fälschlicherweise als Indifferenz auffassen (AA I,17, 116f.). Auch hier wird der Dialektik eine propädeutische Funktion zugesprochen. Gerade in dieser propädeutischen Funktion ist ihr in der Frei­ heitsschrift allerdings insgesamt eine durchweg positive Wertung zu eigen. Die Polemiken gegen den hegelschen Dialektik-Begriff, die sich aus der von Hegel wohl intendierten und von Schelling als solcher aufgefassten Provokation in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes herleiten, setzen erst 1811 mit der Einleitung in die Weltalter ein. Vgl. zu den systemtheoretischen Implikationen des Bruchs zwischen Schelling und Hegel auch Schwab 2018b. 397 Vgl. Hühn 2003.

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Apologie des Sokrates beschriebene innere Unterredungskunst zwischen dem Philosophen und seinem Daimon abzuheben (vgl. AA II,10,1, 216).398 Mithilfe der Deutung des Dialektikbegriffes als innerem Dialog sucht Schelling in den Weltaltern zwischen der Skylla hegelschen ›Forma­ lismus‹ und der Charybdis theosophischer Schau eine Form vermittelter Unmittelbarkeit zu pointieren, die aus dem Gespräch zweier Subjekte ihre Realität und ihren Gehalt erhalten soll. Diese Konzeption weist in direkter Linie auf das zehn Jahre spä­ ter in Erlangen teilweise bis in den Wortlaut wieder aufgenommene Verständnis des Dialektik-Begriffes. Die erste Nennung des Begriffes findet sich in den Stichworten zur achten Vorlesung.399 Dort wird 1) die Notwendigkeit des Auseinanderhaltens der beiden Pole betont und 2) das Wechselgeschehen der beiden Pole als Erinnerung und inneres Gespräch bzw. Dialektik gedeutet. Diese Passage wurde allerdings in der achten Vorlesung offensichtlich nicht vorgetragen, denn sie hat in ähnlichem Wortlaut und in breiterer Ausführung Eingang in den Haupttext der neunten Vorlesung sowie in deren Stichworte gefunden. Hier wird nun die Dialektik bzw. das Gespräch der beiden Prinzipien auf das spannungsvolle Wechselgeschehen der beiden Kräfte (treibende und hemmende) bezogen, wenn Schelling schreibt: Vgl. auch Platon: Apologie des Sokrates 31c–d, 40a–c. Die entscheidende Differenz zu Sokrates bildet allerdings der durch den Verkehrungszusammenhang und die systemati­ sche Aufwertung des Bösen als eigenständiger positiver Kraft geprägte Zug des mittleren Schelling. Die Stimme des Daimon spricht hier nicht unmittelbar. Erst durch die »kräftige Scheidung von sich selbst« bzw. durch die Krisis der entschiedenen Selbstzurücknahme in der Ekstasis wird der Verkehrungszusammenhang gesprengt und das – wenn auch prekäre, weil immer unter der Gefahr des Zurücksinkens in die verobjektivierend wirkende Struktur des natürlichen Bewusstseins – Wechselgeschehen der beiden Prinzipien als innerer Dialog eingeleitet. Vgl. zur aktuellen Diskussion um den Status des Sokratischen Daimonion: Destrée/ Smith 2005. 399 Das Vorlesungsmanuskript setzt sich aus jeweils ein oder zwei Fassungen des Haupt­ textes sowie angehängten zusammenfassenden Stichworten zusammen. Letztere dienten Schelling offensichtlich zur direkten Grundlage für die Vorlesung. Teilweise enthalten die Stichpunkte über die Haupttexte hinausgehende Inhalte, wie in diesem Fall, in dem Schelling in den Stichpunkten auf das innere Gespräch als Unterredungskunst und Dialektik verweist, während der Haupttext der achten Vorlesung dieses Thema vermissen lässt (vgl. AA II,10,1, 209–216). Daraus lässt sich schließen, dass Schelling selbst in der vorbereitenden stichpunktartigen Abschrift des Haupttextes unmittelbar vor dem Halten der Vorlesung bestimmte Änderungen und Überarbeitungen vornahm, was wiederum auf den grundsätzlichen »Werkstattcharakter« der Vorlesungen verweist. Vgl. hierzu auch die Bemerkungen zur Entstehung der Vorlesungen in Kapitel II.1.1. 398

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Man kann sagen: der Philosoph oder jenes Wissen befinde sich mit dem Treibenden, gleichsam unaufhaltsam nach Wissen Verlangenden, in einer beständigen Unterhandlung – er muß ihm jeden Schritt schwer machen – sich gleichsam um jeden Schritt mit ihm streiten – Dieser innre Verkehr, dies beständige Gespräch, in dem zwei Principien sind – Eins das das Wissen selbst – das Wissen als Wesen ist, aber nicht weiß, das andre das wissend ist, aber nicht das Wesen, nicht das Wissen selbst – nur nicht_wissendes Wissen – eines das sich erinnern will und das andre das ihm zur Erinnrung hilft – diese innre UnterredungsKunst ist es, von welcher die äußere, die bloß davon Dialectik heißt, nur das Nachbild, und wo sie zur bloßen Form geworden der leere Schein und Schatten ist. (AA II,10,1, 225f.)400

Das Verhältnis der beiden ›Kräfte‹ wird dabei nicht als ein bloß dynami­ sches Geschehen zweier physikalischer Kräfte verstanden, sondern als dialogisches Verhältnis zweier Subjekte, dessen Bewegung und Dynamik vom Absoluten stammt, dessen Wechselgeschehen und Streitgespräch allerdings von der retardierenden Kraft des Philosophierenden her­ rührt.401 So wie der Prozess selbst – »wie in jeder Bewegung Terminus a quo« (AA II,10,1, 210) – drei Momente hat, ist auch dieses dialogische Verhältnis triadisch angelegt: Während die ewige Freiheit bzw. das absolute Subjekt als urlebendiges Wesen (und nicht der Begriff, wie bei Hegel) die Bewegung des Vollzuges als treibende Kraft bewirkt und das menschliche Subjekt durch das Aufrechterhalten des Nichtwissens sich gegen die Bewegung setzt und sie damit retardiert und aufhält, entsteht als Drittes im Wechselspiel dieser beiden Kräfte das »freye Denken« oder der »Begriff«. Dieses Dritte denkt Schelling dabei offensichtlich nicht als für das menschliche Subjekt verfügbar, sondern als ein Denken, das in Anbetracht des menschlichen Subjektes im Sinne des gewöhnlichen Selbstbewusstseins ein Nichtwissen bleibt, also ausschließlich während des Wechselgeschehens und in dem Wechselgeschehen entsteht. Die Ekstasis als ›außer sich gesetzt-Sein‹ leistet die Abbildung des­ sen, was Schelling als nach der Conversio sich vollziehendes Geschehen 400 Bis in die Formulierungen hinein stimmt diese Stelle überein mit den Passagen zur Dialektik aus der Einleitung in die Weltalter. 401 »[…] sein Wissen [das des Philosophen, J.H.] ist das an sich Unbewegliche – nicht bloß ὸ_Wissen, sondern gegen das Wissen sich Setzende, der Bewegung Widerstrebende – sie Aufhaltende, was sie nöthigt, in jedem Moment Stand zu halten, zu verweilen, und keinen zu überspringen. In diesem Retardiren zeigt sich also auch die eigentliche Kraft des Philosophen« (AA II,10,1, 225).

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darstellen möchte: Ein dialogisches inter-intra-subjektives Wechselge­ schehen zweier Subjekte, das gleichsam auf einer höheren Ebene eine Form von Bewusstsein – weil denkend und begriffsbildend – konstituiert, die allerdings weder objektivierend agiert (es bleiben zwei Subjekte, die sich nicht wechselseitig verobjektivieren), noch ein Wissen hervorbringt, das dem menschlichen Subjekt in seinem natürlichen Bewusstsein ver­ fügbar wäre. Ganz im Gegenteil fiele das ›freye Denken‹ unmittelbar in sich zusammen, sobald das menschliche Subjekt sein Nichtwissen aufgeben und das Ergebnis des Prozesses für sich selbst verlangen würde. Dem Eintrag des freien Entschlusses, auf dessen Grundlage das erkennende Subjekt sich zuallererst in das von Schelling angeführte Nichtwissen hineinbegeben kann, trägt Schelling mit dem als Dialogik aufgefassten Wechselverhältnis Rechnung. Weil hier zwei Subjekte in das Wechselgeschehen involviert sind und damit der Übergang vom einen Moment in den nächsten nicht auf der logischen Selbstbewegung des Begriffes beruht, sondern von dem Sich-Entschließen des erkennenden Subjektes abhängt, sieht sich Schelling in der Lage, der Dialektik Hegels einen Gegenentwurf gegenüberstellen zu können, der seiner Intention einer grundlegenden Freiheitsfundierung des Systems entspricht. Auch hier muss allerdings erneut die Frage entstehen, ob Schelling mit dem dialogisch verstandenen ›nichtwissenden Wissen‹ nicht eine Leerformel schafft, die zwar den Anspruch auf einen epistemischen Charakter erhebt, die aber bei genauerem Hinsehen dennoch als »Nacht, worin alle Kühe schwarz sind« gelten muss, da sie für das natürliche menschliche Bewusstsein letzten Endes vollständig unzugänglich bliebe. Die dahinterliegende Grundfrage muss mit der Schwierigkeit umge­ hen, einerseits das Moment der Conversio in der Ekstasis nicht als gegebenen Übergang, sondern tatsächlich als Zäsur bzw. Sprung ernst zu nehmen und andererseits diesen Sprung nicht als Sprung in ein völlig losgelöstes Jenseits, sondern in einen anderen Bewusstseinsmodus aufzufassen, dessen Vollzug – nämlich der Prozess des dialogischen Wechselgeschehens zwischen absolutem und menschlichem Subjekt – zwar keinerlei Ähnlichkeit mit dem Wissen des natürlichen Bewusstseins hat, laut Schelling aber doch eine Verbindung zwischen den beiden Bewusstseinskonfigurationen nicht unmöglich sein lässt. Die Brücke zwischen dem natürlichen Bewusstsein und dem ›dia­ logischen Prozess-Bewusstsein‹, d.h. zwischen dem natürlichen Wissen und dem ›freien Denken‹, findet Schelling in dem an Platons AnamnesisLehre angelehnten Konzept der Erinnerung.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

5. Philosophie der Anamnesis (VL 9–10) Im Kontext der Grundfrage der Erlanger Vorlesungen nach dem InneWerden der ewigen Freiheit charakterisiert Schelling den mit der Ekstasis einsetzenden Prozess auch als Wiedererinnerung und profiliert ihn somit als anamnetischen Vollzug.402 Dass er dabei einen platonischen Erinnerungsbegriff im Blick hat, der nicht nur eine Rekonstruktion der Vergangenheit intendiert, sondern das ›Er-Innern‹ als aktuales Geschehen fasst und damit die Auslegung des Prozesses als mediale Wechselvollzug zweier Subjekte stärkt, soll im Folgenden gezeigt werden. Dass der Topos der anamnetischen Erinnerung um 1800 Konjunk­ tur hatte, hat sicherlich nicht unwesentlich mit der Platon-Übersetzung Schleiermachers zu tun.403 Aus dem intensiven Austausch mit Schleier­ macher rührt z.B. Schlegels Deutung einer »transzendentalen Erinne­ rung des Ewigen«,404 die der »Erweckung von etwas verlorenem im Ich«405 dient. Auch bei Schelling spielt das Motiv der Erinnerung spätestens seit 1800 eine wichtige Rolle.406 So konstituiert sich das System von 1800 wesentlich aus der Exposition der Geschichte des Selbstbewusstseins (vgl. AA I,9, 25) und insofern aus einer Auffassung, die eine grundlegend anamnetische Struktur der Philosophie annimmt. Im ersten Band der Zeitschrift für spekulative Physik (1801) rekurriert Schelling dann explizit auf die Anamnesis-Lehre Platons, wenn er mit Blick auf seine geschicht­ lich argumentierende Naturphilosophie schreibt: »Die platonische Idee, daß alle Philosophie Erinnerung seye, ist in diesem Sinne wahr; alles Philosophiren besteht in einem Erinnern des Zustandes, in welchem wir Eins waren mit der Natur« (AA I,8, 365). Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, wenn Schelling in der Allgemeinen Deduktion (1801) und in Über den wahren Begriff der Natur­ philosophie (1801) die Naturlehre im Kern als Erinnerungsphilosophie profiliert.407 Als Naturphilosophie, die die Erscheinungen der Natur als Dokumente ihres Entstehens in der Vergangenheit wertet, bietet sie 402 Vgl. zur anamnetischen Funktion der Philosophie in den Erlanger Vorlesungen auch Durner 1979, 125. 403 Vgl. Oesterle 2001. 404 KFSA, Bd. 10, 399. 405 Ebd., Bd. 19, 92. 406 Vgl. zur Bedeutung der Erinnerung in der Philosophie Schellings Shestakova 2012. 407 Vgl. Shestakova 2012, 44.

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

zugleich die vergessene Vorgeschichte des zu sich selbst gekommenen Subjekts, derer das Ich in der Erinnerung innewerden kann.408 Auch wenn Schelling den Topos der Erinnerung von Beginn an mit Platons Anamnesis-Lehre in Verbindung bringt, so sind es doch vor allem die Weltalter, die mit dem Motiv der Mitwissenschaft an dieselbe anknüpfen. Es sei der »bescheidene Begriff des göttlichen Platon von der Wissenschaft, wonach sie in thätiger Erinnerung besteht« (WA III, 207), der dem Prozess des »Wiederbewusstwerdens« (WA I, 5) der beiden im Menschen befindlichen Wesen – demjenigen, das weiß und demjenigen, das nicht weiß – als Vorbild diente. So ist Schelling in den Weltaltern der Auffassung, dass »in Ansehung des Menschen […] alle Wissenschaft Erinnerung« sei (WA I, 16).409 Ähnlich wie im Phaidros, in dem Platon im Mythos des Seelenwa­ gens darüber spricht, wie die inkarnierte Seele eine Wiedererinnerung der Dinge erlangen kann, die sie schaute, als sie im Gefolge der Götter durch den Himmel zog,410 wird in den Weltaltern die Wiedererinnerung durch das Wecken des schlafenden »Ur-Bild[es] der Dinge« (WA I, 4) durch die Unterredungskunst der beiden »Wesen« (WA I, 5) in der menschlichen Seele möglich. Indem Schelling hier die Anamnesis-Lehre Platons mit dem Begriff der Dialektik eng führt (vgl. WA I, 5) stellt er sich in die Tradition der Soliloquien, wie sie von Platon her seit 408 Vgl. Schwenzfeuer 2012, 153. Vgl. hierzu auch die retrospektiven Bemerkungen Schel­ lings zum Verhältnis von Natur- und Transzendentalphilosophie in der Münchner Vorle­ sung zur Geschichte der neueren Philosophie von 1827: »Ich suchte also mit Einem Wort den unzerreißbaren Zusammenhang des Ichs mit einer von ihm nothwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtseyn vorausgehende transzendentale Vergangenheit dieses Ichs zu erklären, eine Erklärung, die sonach auf eine transzendentale Geschichte des Ichs führte.« (SW X, 93f.) »[…] die Aufgabe der Wissenschaft ist, daß jenes Ich des Bewußtseyns den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn selbst mit Bewußtseyn zurücklege. Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn getan und gelitten hat […]« (SW X, 94f.). 409 Vgl. auch WA III, 205: »Wie geht es aber mit jenem Innerlichwerden und dadurch Wissen des Vergangenen zu? Da es in uns schlechterdings nicht hineinkommen kann, so muß es wohl schon da sein, aber wie ein vergessenes und verdunkeltes doch nicht völlig ausgelöschtes Bild in der Seele. Wissenschaft ist also im eigentlichsten Verstande Erinnerung; und wie wir von Dingen, die wir selbst und gegenwärtig mit angesehen haben, kein äußeres Zeugnis, höchstens Hilfe der Erinnerung verlangen, ebenso bey überzeitlichen Dingen, die, da sie die entferntesten schienen, jetzt unendlich naher sich zeigen als viele tausende ja alle in der Zeit geschehenen Dinge.« 410 Vgl. Platon: Phaidros, 249d.

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Augustinus411 und bis zu Hannah Arendt412 in der Philosophie eine wesentliche Rolle spielten.413 Damit profiliert er die Unterredungskunst in einer eigenwilligen Deutung weniger als intersubjektives Geschehen, sondern vielmehr als Wechselrede von zwei intrasubjektiven Prinzipien bzw. ›Wesen‹, die gleichwohl eigenständig sind. Insofern wird die Wiedererinnerung nicht durch das Lehrgespräch, wie etwa im Menon414 möglich, sondern durch das inter-intra-subjektive Wechselgespräch in der menschlichen Seele erlangt. Auch hier deutet alles darauf hin, dass Schelling mit dieser Deutung einen Subjekt-Begriff im Blick hat, der sich von einer monadisch in sich geschlossenen und selbstgenügsamen Konzeption abzugrenzen sucht, indem er das Subjekt von vornherein aus einem dialogischen Verhältnis konstituiert auffasst. In Erlangen knüpft Schelling – wie bereits erwähnt – direkt an die Figuren aus der Einleitung in die Weltalter an, spitzt sie jedoch entscheidend zu, indem er mit der Ekstasis die Möglichkeit des Eintretens in den Prozess der Wiedererinnerung expliziert, zugleich aber auch erschwert: Während in den Weltaltern die Notwendigkeit der »Schei­ dung in sich selbst« (WA I, 5) deutlich ausgesprochen wird, erlangt sie mit der Betonung der Krisis in der Ekstasis einen existenziellen Zug, der die Unabdingbarkeit der Selbsttransformation des Subjektes stärker pointiert, denn erst »[u]nmittelbar […] nach dieser Κρισις415 fängt sich eine neue Bewegung an – eben die der Wiedererinnerung« (AA II,10,1, 217; Herv. d. Verf.). Anders als in der klassischen Tradition der Soliloquien ist die Möglichkeit des inneren Dialogs erst durch diese innere Wandlung des Subjektes möglich, da der Ausgangspunkt im natürlich gegebenen Bewusstsein der Subjektivität zunächst durch den Drang des Wissen-Wollens jeglichen Dialog verhindert. Erst mithilfe des durch die Ekstasis einsetzenden Prozesses wird der Dialog der beiden beteiligten Instanzen gestiftet. Dieser von Schelling beschriebene Prozess, der oben schematisch nachgezeichnet wurde, kann also als Explikation des 1810 in den Weltal­ tern nur angedeuteten inneren Zwiegespräches gesehen werden, zumal Vgl. hierzu die einschlägigen Passagen zur memoria im 10. Buch der Confessiones. Vgl. bspw. die Vorlesungen von 1965 über das Böse, in denen Arendt in Rekurs auf Platon Denken als inneren Dialog mit dem Daimonion beschreibt. Vgl. Arendt 2007, 70‒72. 413 Vgl. zur Tradition der Soliloquien auch Butzer 2008. 414 Platon: Menon, 80a–86c. 415 Im Original fehlt der Akzent. 411

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hier bis ins Wörtliche die Formulierungen aus der Einleitung in die Weltalter übernommen werden.416 Gleichwohl wird elf Jahre später die Notwendigkeit gesehen, das Zwiegespräch methodologisch auszubauen und anhand von den oben untersuchten Schlüsselbegriffen (Zeugung, Reflexion, Unmittelbarkeit, Realität des Wissens) eine fundierte Basis zu schaffen für das Ziel, eine »eigentliche Theorie der Philosophie« (AA II,10,1, 215) zu begründen. Dabei wird die Auffassung, dass diese neue Theorie des Wissens als eigentliche Wissenschaft Erinnerung ist, eben­ falls stark gemacht, wenn Schelling betont: »Die ganze Bewegung [des oben beschriebenen Prozesses des Wissens, J.H.] nur als das beständig aufgehaltene unmittelbare Wissen – als die beständig sich erzeugende – Erinnerung« (AA II,10,1, 216). Zu bemerken ist allerdings, dass der Erinnerungsbegriff hier nicht vornehmlich im Sinne des Heraufholens einer unbewussten, vergessenen Vergangenheit aufgefasst wird, wie man es etwa aus der Einleitung in die Weltalter zu verstehen hat. Auch die Konzeption der Erinnerung erfährt in Erlangen eine nicht explizit gemachte Verschiebung, wenn sie hier als Er-Innerung im Sinne des Innewerdens gedeutet wird. Erinnerung entsteht durch das Innewerden der ewigen Freiheit in dem Prozess der durch das Nichtwissen beständig aufgehaltenen ewigen Bewegung des Absoluten, die als Reflexion in das erkennende Bewusstsein ›eingebil­ det‹ wird. Es wird nicht nur die Mitwissenschaft der Vergangenheit in der Erinnerung rekonstruiert, sondern ›Er-Innern‹ ist ein aktuales Geschehen medialer Wechselwirkung von erkennendem und absolu­ tem Subjekt.417 Bezogen auf den oben beschriebenen Prozess bedeutet dies, dass das absolute Subjekt (A) das aus B in A Umgewendete, und mithin das nichtwissende Wissen des erkennenden Subjektes, als sein Innres erkennt, in dem es sich ›erinnert‹, »d. h. es muß sich erkennen als dieses B, als dieses Innre von A – also als das zu Grunde Liegende, »Eben daraus die Besinnung. Zwey, deren Verhältnis Eins der Ältere, das Vorbild, der Meister, dis das absolute Subjekt, der andre junger, später_geboren, Schüler, dessen Bewusstsein in dem Verhältnis umgestaltet, als es d. Bew. des Vorbildes folgt – eins, das sich erinnern will – und Eins das ihm zur Erinnrung hilft. Diese innre Doppelheit – Verkehr. Gespräch – Unterredungskunst – Dialektik […]« (AA II,10,1, 216). 417 Shestakova ist aus diesem Grund der Ansicht, dass der Erinnerungsbegriff in Erlangen nicht mehr platonischer Natur sei (vgl. Shestakova 2012, 92). Dem ließe sich entgegenset­ zen, dass auch der platonische Erinnerungsbegriff durchaus – mindestens im Sinne der durch die Betrachtung des Schönen angeregte Schau der ewigen Ideen, wie sie im Phaidros dargestellt wird – als aktuales Geschehen und nicht ausschließlich als Rekonstruktion einer vergangenen Schau interpretiert werden kann. 416

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

das Subjekt der zu sich selbst kommenden Freyheit […]« (AA II,10,1, 219). Erinnerung ist also Erkenntnis des durch die verobjektivierende Verkehrung verdrängten eigentlichen Verhältnisses von erkennendem und absolutem Subjekt. In dem momenthaften Inne-Werden der ewigen Freiheit konstituiert sich ein Bewusstsein, das sich selbst als Inneres der ewigen Freiheit erkennt: Unser Bewusstsein war dieses Innre ohne es zu wissen – nur ging es aus und sank in Vergessenheit – jetzt aber aus dieser Vergessenheit zurückkehrend ist es nicht bloß das Innre – sondern SIEHT sich als das Innre der ewigen Freyheit – und ebendarum war es ja zu thun. (AA II,10,1, 222)

Diese Art der Erinnerung figuriert in den Erlanger Vorlesungen als Charakterisierung der Zielsetzung des mit der Ekstasis einsetzenden Pro­ zesses. Der Prozess soll mithilfe der oben beschriebenen Schritte418 zum momenthaften Inne-Werden – Er-innern – der ewigen Freiheit führen. Von hier aus lässt sich im Folgenden der Blick auf die grundlegende These der Arbeit werfen, nach der das Grundcharakteristikum dieses Prozesses in der Figur einer ›aktiven Passivität‹ gefasst werden kann.

6. ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 11) In den vorausgehenden Abschnitten wurden die wesentlichen Aspekte des medialen Prozessgeschehens herausgearbeitet, das Schelling als ›eigentliche Theorie der Philosophie‹ bezeichnet. Als Grundcharakteris­ tika konstituieren diese Aspekte die Figur der ›aktiven Passivität‹, wie sie im Folgenden in einer abschließenden Zusammenschau als Fluchtpunkt der Interpretation zu entwickeln ist. Nach einer Rekapitulation des bis hier für die Frage nach der Selbsttransformation der Subjektivität Gewonnenen soll gezeigt werden, dass die Figur der ›aktiven Passivität‹, auf der das Beziehungsgefüge des zuvor dargestellten inter-intrasubjektiven Geschehens beruht, als eine dreifach zu deutende ›Theorie des Medialen‹ aufgefasst werden kann: als Mitte oder Mittigkeit, als aktivisch-passivische Verbform sowie als Träger eines Prozesses. Angesichts dieses dreifachen Verständnisses von Medialität lässt sich die Haltung ›aktiver Passivität‹ als Voraussetzung für ein momenthaftes Gelingen eines nichtverobjektivierenden Inneseins der ›ewigen Freiheit‹ aufweisen. 418

Vgl. Kapitel II.5.1.

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

Rekapitulierend ist also zunächst festzuhalten, dass im Abschnitt über ›Zeugung und Gleichursprünglichkeit der Pole‹ (III.4.2) die kom­ plexe Bezüglichkeitsstruktur von erkennendem und absolutem Subjekt aufgewiesen wurde. Im Aufdecken des Verkehrungszusammenhanges alles Endlichen erweist sich die Entzogenheit des Absoluten nicht eigentlich als Abwesenheit, sondern vielmehr als negierte, zugleich aber immer schon zugrunde liegende Instanz, die in einer nicht bewussten, ›verkehrten Einheit‹ mit der Subjektivität sich befindet. Die Ekstasis führt zur Scheidung dieser uneigentlichen Einheit, aus der erkennendes und absolutes Subjekt als zwei gleichursprüngliche Pole hervortreten; ein Akt, den Schelling mit dem Terminus der ›Zeugung‹ belegt, deren Charakteristikum darin besteht, dass beide Relata sich wechselseitig in einer nicht-linear-kausalen Beziehung konstituieren. Damit denkt Schelling den Ausgangspunkt des Prozessgeschehens als ein gleichsam von der Mitte her sich ergebender Anfang.419 Anfänglichkeit kann nicht autonom von einer Instanz gesetzt werden, die Krisis der Ekstasis ist kein selbstgenügsamer Akt. Ihr Geschehen ist ›freie Geistesthat‹ und ›Emp­ fängnis‹ zugleich, indem das erkennende Ich sich in seiner Entscheidung als vom absoluten Subjekt begründet erfährt, das absolute Subjekt als solches sich in der Entscheidung als absolute Freiheit erkennt. Die Scheidung bzw. Zeugung der beiden Relata führt deshalb nicht zur Trennung, da beide unwiderruflich aufeinander bezogen bleiben. Mit dem mit ihr einsetzenden Wechselgeschehen der Ein-Bildung des absoluten Wissens in das erkennende Bewusstsein begründet Schelling den Begriff des ›freyen Denkens‹, der als nicht-subjektives, nicht-gegen­ ständliches und reales Wissen aufgefasst wird (III.4.3). Es wird weder vom erkennenden Subjekt hervorgebracht, noch von ihm passivisch als Offenbarung entgegengenommen. Durch das Eintreten in eine gemein­ same Bewegung, in der die beiden Pole nicht in eins fallen, profiliert Schelling eine Form der Prozessualität, die die Möglichkeit einer Vermitt­ lung aufweist, die gleichwohl nicht in einer statischen Subjekt-ObjektTrennung verbleibt, sondern in einem dialogischen Verhältnis zwischen zwei nicht getrennten Subjekten als inter-intra-subjektives Geschehen sich vollzieht. Mit der Verwendung des Dialektik-Begriffes betont Schelling den Vermittlungsaspekt des Geschehens (III.4.4). Auch wenn es in der Zielperspektive um ein unmittelbares Wissen des Absoluten geht, so 419 Auch in den Weltaltern wird Anfänglichkeit – dort bezogen auf den Anfang der Theound Kosmogenese – als eine Struktur von der Mitte her profiliert (vgl. bspw. WA I, 33–43).

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bleibt dieses als Wissen dennoch notgedrungen vermittelt. Dabei wird keine strenge Dichotomie zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung aufrechterhalten, sondern eine Art Mittelbegriff gebildet, der gleichwohl die Differenzen nicht verwischt. Durch die empfängliche Aktivität des erkennenden Subjekts, das willentlich im Nicht-Wissen verbleibt, wird dem Absoluten ermöglicht, sich auszusprechen. Das »Auseinanderhal­ ten« der Pole, das Schelling auch die »besonnene Doppelheit« (AA II,10,1, 249) nennt, dürfe nicht aufgegeben werden, wenn nicht ein Rückfall in eine der Alternativen des herkömmlichen, notwendig durch ein Macht­ gefälle geprägten, Verhältnisses eintreten soll: entweder die gewöhnliche, verobjektivierende Erkenntnis des Absoluten (bloße Vermittlung) oder aber eine Auslöschung der subjektiven Erkenntnis angesichts des Abso­ luten (reine Unmittelbarkeit). Den Prozess der beständig aufgehaltenen ewigen Bewegung des Absoluten, die als Reflexion in das erkennende Bewusstsein ›eingebildet‹ wird, nennt Schelling Erinnerung (III.4.5). Dabei geht es nicht um eine Rekonstruktion der Vergangenheit im aktualen Bewusstsein und genauso wenig um eine kosmisch-transzendente platonisch verstandene Schau, sondern ›Er-Innern‹ wird im Sinne eines Innewerdens als aktuales Geschehen medialer Wechselwirkung von erkennendem und absolutem Subjekt dargestellt. Mit dem so aufgefassten Erinnerungsbegriff unter­ streicht Schelling eine Form der Bezüglichkeit beider Pole, die den Prozess der Selbstzurücknahme, Selbstverwandlung und Selbstwerdung ermöglicht: Indem das erkennende Subjekt das subjektive Wissen-Wol­ len aufgibt und sich auf das absolute Subjekt hin ausrichtet, macht es Raum für dasselbe, das sich dadurch in ersterem aussprechen kann und diesem »inne wird«. Beide Instanzen kommen durch ihr Ineinan­ der-Wirken zu sich selbst: das erkennende Subjekt, indem es seinen vormals verdrängten Grund in sich wirksam werden lässt, das absolute Subjekt, indem es sich im erkennenden Bewusstsein als ewige Freiheit bewusst wird. Alle diese Figuren haben gemeinsam, dass sie auf ein Verhältnisge­ füge weisen, welches nicht mehr auf der Grundlage der Konkurrenz zweier Instanzen operiert und damit notwendigerweise ein Machtge­ fälle impliziert. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht auf eine Aufhebung des Dualismus in einem Dritten angewiesen sind, sondern das Gegensätzliche miteinander und durcheinander zu sich selbst kom­ men lassen.420 Im Grunde wird hier auf anderer Ebene – nämlich auf 420

Vgl. Schulz 1975, 303.

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derjenigen eines im Sinne eines Vorgriffs auf die positive Philosophie verstandenen real-geistigen Erkenntnisgeschehens – aufgegriffen, worauf Schelling in der Freiheitsschrift mit dem Begriff der Liebe verweist: Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Seyn bedürfen, sondern (um ein schon gesagtes Wort zu wiederholen) dies ist das Geheimnis der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere. (AA I,17, 172)

Auf der Ebene des in Erlangen explizierten Erkenntnisgeschehens wird dieses Verhältnis allerdings noch enger zusammengebunden, weil das Absolute, das durch sein Heraustreten in den Verkehrungszusammen­ hang zum Objekt wurde, sich im erkennenden Subjekt wiederum als Subjekt findet: Dann nämlich nicht mehr bloß Subjekt und doch auch nicht so Objekt daß darüber als Subjekt verloren – sondern als Objekt Subjekt ohne zwei zu seyn. Als das Erkannte das Erkennende und als das Erkennende das Erkannte. (AA II,10,1, 196)

Dieses Geschehen, in dem sich durch den differenziert dargestellten Wechselprozess der beiden Pole ein Neues bildet, das »als Objekt Subjekt ist«, bzw. »als das Erkannte[s] das Erkennende« und umgekehrt, wird von Schelling mit der Weisheit (Sophia) gleichgesetzt (AA II,10,1, 196, 259), die sich als solche in dem neugebildeten Bewusstsein findet: »Wenn also in der ganzen Bewegung die sich suchende Weisheit, so das ganze Streben nach Weisheit – Philosophie […]« (AA II,10,1, 196). Insofern ist die Weisheit die dynamische Mitte von dem sich seines subjektiven Wissen-Wollens begebenden Subjekt und dem sich in diesem Subjekt aussprechenden und dadurch vom Objekt zum Subjekt erhobe­ nen Absoluten. Philosophie als Liebe zur Weisheit meint für Schelling genau diesen sich aus der conversiven Krisis der Ekstasis ergebenden Pro­ zess des Wechselgeschehens von erkennendem und absolutem Subjekt, in dem die zu sich selbst gekommene und dadurch in Freiheit gesetzte Weisheit als Medium erscheint (vgl. AA II,10,1, 263f.). Angesichts der rekapitulierten Hauptpunkte der Untersuchung kann der in dieser Arbeit verwendete Ausdruck des ›Medialen‹ in dreifacher Weise verstanden werden: Zum einen werden die entscheidenden Figuren, die die ›eigentliche Theorie der Philosophie‹ bilden, als von der Mitte gestiftete Prozesse gedacht: Die Ekstasis wird weder vom Subjekt initiiert, noch vom Absoluten her gestiftet, sondern durch einen von der Mitte zwischen

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Freiheit und Notwendigkeit sich ergebenden Anfang her impulsiert. Die Trennung der verkehrten Einheit von erkennendem und absolutem Subjekt hat ebenfalls die aus der Mitte sich bildende gleichursprüngliche »Zeugung« von nichtwissendem Subjekt und sich aussprechendem Absoluten zur Folge. Auch der damit einsetzende Prozess der wechselsei­ tigen Verwandlung, wie er in Abschnitt III.4.1 dargestellt wurde, beruht auf einer Bewegung, deren Urheber nicht einer der beiden Pole, sondern vielmehr deren spannungsvolle Wechselbeziehung ist. Insofern kann hier von Medialität als Mittigkeit gesprochen werden. Bedingt durch die Figuren der Mitte lässt sich zweitens ein Aspekt des Medialen aufweisen, der im Sinne des altgriechischen Mediums verstanden werden kann. Im Altgriechischen existiert neben Aktiv und Passiv ein drittes genus verbi, das Medium. In einer ersten Annäherung wird es als Mitte zwischen aktivischem und passivischem Gebrauch eines Verbes beschrieben, insofern es bei aktiver Bedeutung noch eine Zurückbeziehung auf das Subjekt enthält (besonders im Sinne einer Dativ- oder Akkusativ-Valenz); als analoge Beispiele für ein Medium gelten im Deutschen vor allem reflexive Verben. Ein medialer Vollzug wäre demnach ein Geschehen, bei dem zwei Instanzen in eine Interaktion treten, ohne dass die eine oder die andere Instanz nur aktiv oder nur passiv sich verhält. Schellings Formulierung, dass das Erkannte das Erkennende und umgekehrt ist, deutet auf ein solches Geschehen, in dem Medialität als aktivisch-passivischer Vollzug verstanden wird. Zudem wird drittens die ewige Freiheit bzw. die Weisheit als Medium des gesamten Prozesses aufgewiesen: Sie bildet als absolutes Subjekt den verdrängten Grund der menschlichen Subjektivität, der sich im Verkehrungszusammenhang des verobjektivierenden endlichen Bewusstseins als Entzug manifestiert. Nach der Selbstzurücknahme des Wissen-Wollens des endlichen Bewusstsein in der Ekstasis tritt sie als eigentlicher Movens des freien Denkens auf, der durch das nichtwissende Bewusstsein in seiner Bewegung retardiert und dadurch in einer Abspie­ gelung im erkennenden Bewusstsein in die Erscheinung tritt. Daraus resultiert das sich Aussprechen der Weisheit als wahre Philosophie. Insofern kann hier der Begriff des Mediums als Träger, das heißt als zugrunde liegende Instanz, bzw. Sub-jekt, eines Transformationsprozes­ ses interpretiert werden. Dass Schelling also mit dem Ziel, eine ›eigentliche Theorie der Philosophie‹ zu liefern, zugleich eine Kritik der Subjektivität vornimmt, die auf einem Beziehungsgefüge beruht, das weder auf ein Prinzip im transzendentalphilosophischen Sinne noch auf einen Gegenstand, ein

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

Objekt, angewiesen ist, sondern als eine dreifach zu deutende ›Theorie des Medialen‹ aufgefasst werden kann, lässt sich als Resultat der hier vorgelegten Untersuchung festhalten. Damit wird die von Walter Schulz nicht weiter ausgeführte Bemerkung begründet, nach der in der »recht verstandenen Lehre vom Medium […] die eigentliche Entscheidung gegen den Subjektivismus«421 fällt.422 Die nicht weiter ausgeführte These von Schulz, nach der dem Medialen das Potenzial zur konstruktiven Gegenposition eines einsei­ tigen Subjektivitätsverständnisses innewohnt, wird demnach vor dem Hintergrund der hier vorgelegten Untersuchung verständlich. Dabei bleibt jedoch zu fragen, was dieser Befund für den Subjektivitätsbegriff bei Schelling bedeutet. Mit dieser Frage soll in einem weiteren Schritt der Blick auf das Motiv der ›aktiven Passivität‹ gelenkt werden, die als geforderte Haltung des Subjektes angesichts der herausgearbeiteten Bedeutung der Medialität verstanden wird. Die Ausgangsthese der Untersuchung lautete, dass Schelling in den Erlanger Vorlesungen nicht nur eine fundamentale und noch heute aktuelle Kritik am neuzeitlichen Subjektivitätsverständnis vornimmt, sondern zugleich einen positiven Gegenentwurf präsentiert, der auf der Grundlage einer radikalen Selbsttransformation der Subjektivität ein Ethos beschreibt, das jenseits der Dichotomie von autonomer Macht sowie resignativer Ohnmacht eine Haltung ›aktiver Passivität‹ profiliert, die eine grundlegende Offenheit gegenüber dem Anderen der Subjekti­ vität ermöglicht. Was sich in der Erlanger Systemkonzeption und der Auffassung des Systemprinzips nicht als oberster Grundsatz, sondern als lebendiges Wesen bereits andeutet, wird in der Explikation der Ekstasis Schulz 1975, 302. Freilich kennt die Klassische deutsche Philosophie noch andere Figuren der Mitte: Zu nennen ist dabei zunächst und zuallererst Kants Konzeption der Einbildungskraft als Vermögen, das Mannigfaltige der Anschauung mit der Einheit der Apperzeption in Verbindung zu bringen und dadurch Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität im Erkenntnisvollzug zu synthetisieren (vgl. KrV, A 123f.). Fichte hat die Idee der Einbildungskraft bekanntlich in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre aufgegriffen und als »Schweben der Einbildungskraft« eingeführt, das die Gegensätze von Bestimmung und Nicht-Bestimmung, Endlichem und Unendlichem verbindet (GA I, 217f.). Bei Schiller wird im Anschluss daran der Spieltrieb als dritter, kultürlich hervorgebrachter Trieb zwischen den beiden natürlichen Trieben der Sinnlichkeit (Stofftrieb) und des Verstandes (Formtrieb) profiliert. Der Spieltrieb zeichnet sich dadurch aus, dass er so her­ vorzubringen sucht, wie er empfängt und so zu empfangen trachtet, wie er hervorbringt (vgl. NA 20, 354), also ebenfalls zugleich aktivische und passivische Momente enthält. 421

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

und dem mit ihr einsetzenden Erkenntnisprozess in systematischen Schritten ausgeführt: Die Form der Subjektivität, die auf einem sich selbst begründenden, selbstdurchsichtigen Bewusstsein beruht und angesichts des Anderen der Subjektivität notwendig verobjektivierend und damit in Schellings Auffassung ›verkehrend‹ verfährt, verfängt sich in einem circulus vitiosus, sobald sie versucht, das Prinzip bzw. den Grund ihres Bewusstseins zu fassen. Zunächst sieht alles danach aus, dass Schelling in der Konsequenz eine völlige Selbstzurücknahme der Subjektivität fordert, die in einer Haltung reiner Passivität und Gelassenheit ihren Ausdruck findet. Ihren theoretischen Hintergrund findet diese Haltung in der Lehre von der Passivität der Vernunft, mit der sich Schelling spätestens seit der Freiheits­ schrift intensiv auseinandergesetzt hat. Dort hatte Schelling, wie oben bereits erwähnt, die Vernunft mit dem Primum passivum verglichen, wie es in der mystischen Tradition in Verbindung mit der Sophiologie gelehrt wurde.423 Herder war der erste, der in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit die Vernunft mit dem Vernehmen in Verbin­ dung gebracht hat.424 Im Anschluss an ihn findet sich auch bei Hamann und Jacobi die Auffassung, dass der Terminus der Vernunft ursprünglich Vgl. bspw. den Begriff des ›Primum passivum‹ bei Oetinger (Swedenborg, 173, 247f., 271, 341), oder aber die Deutung des intellectus possibilis als Empfänglichkeit bei Meister Eckhart: »Ez ist diu wesenlich vernünfticheit gotes, der diu lûter blôz kraft ist intellectus, daz die meister heizent ein enpfenclîchez.« (DW 3, Predigt 67) Vgl. hierzu die Auslegung von Paul Ziche, der die passive Haltung in der erkennenden Suchbewegung hin auf die Weisheit ebenfalls herausstellt: »Die zitierte Abschlusspassage der Freiheitsschrift formuliert zunächst, sehr platonisch, die Forderung nach der ursprünglichen Weisheit als einem Urbild, das aller bildenden Tätigkeit des Verstandes zugrunde liegt. Auffallend sind hier zwei Gedanken, die in dieser Passage angedeutet werden: Erstens liegt für Schelling vor, oder jenseits, dieser Weisheit noch eine weitere Grundlegungsdimension, nämlich die ›Stätte‹ (SW I,7, 415), der Ort – mit der emphatisch-religiösen Erhebung eines Platzes zu einem bedeutungsvollen Ort, einer Stätte –, an dem oder innerhalb dessen sich diese Weisheit offenbaren kann. Zum Zweiten: Die ursprüngliche, primordiale Weisheit wird in einer Weise beschrieben, die diese eher als das Ziel des Erkenntnisprozesses darstellt. Wir sollen auf diese Weisheit ›hinblicken‹, sie ist der Richtpunkt des Erkennens, damit aber nicht vor aller Erkenntnis bereits bekannt oder erschöpft. Der Ursprung der Erkenntnis ist erst an deren Ende bekannt; bis dahin bleibt eine Offenheit, die als eine Suchbewegung beschrieben werden kann und einem aktiven Fixieren entgegengesetzt ist. Eine derartige Suchbewegung weist, obwohl sie stets fortschreitet, zentrale Kennzeichen von Passivität auf: Das überraschende Finden von etwas Neuem, das also nicht bereits vorweggenommen ist in der aktiven Produktion der Erkenntnis, ist untrennbar mit einer passiven Haltung verbunden« (Ziche 2014, 127). 424 Vgl. Herder 1784, Buch 4, Kapitel 4. 423

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II.5 ›Aktive Passivität‹ und mediales Erkennen (VL 8–11)

von ›Vernehmen‹, Lauschen und Entgegennehmen herkommt (vgl. JWA 2, 208–210), eine Deutung, die Schelling sich, bei aller Kritik an Jacobi, sogleich zu eigen macht. In den Stuttgarter Privatvorlesungen wird die Vernunft als leidendes Vermögen charakterisiert. Sie »ist nur das Aufnehmende der Wahrheit, das Buch, worein die Eingebungen der Seele geschrieben werden« (AA II,8, 166). Und in Erlangen wird mehrfach betont, dass die Vernunft nur das »Aufnehmende der Erkenntnis« (AA II,10,1, 205) und nicht das »thätige Princip in der Wissenschaft« (AA II,10,1, 223) sei. Das ist jedoch nur die eine Seite. In ihrer Funktion als das »Aufneh­ mende der Wahrheit« sei die Vernunft zugleich deren »Probierstein« (AA II,8, 166) – so Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen. Gerade in Erlangen wird mehrfach betont, dass die Spannung zwischen den beiden sich in Wechselwirkung befindenden Polen des Erkenntnisprozesses durch das aktivische Aufrechterhalten des passivischen Nicht-Wissens gewährleistet wird. Insofern besteht die Alternative zur selbstgenügsamen Subjektivität für Schelling offensichtlich nicht darin, der Subjektivität als solcher eine grundsätzliche Absage zu erteilen und einem völlig passivischen Lassen das Wort zu reden. Dies wird dadurch deutlich, dass er zwar eine radi­ kale Aufgabe des Eigenwillens und damit auch des verobjektivierenden Erkennens fordert, was jedoch nicht bedeutet, dass die Subjektivität sich aller Aktivität begeben soll. Im Gegenteil lässt sich gerade in dem von Schelling mehrfach und dezidiert geforderten Aufrechterhalten des Nicht-Wissens, das allein die Bewegung der ewigen Freiheit zu retardieren in der Lage sei und sie damit dazu bringt, sich auszusprechen, indem das Nicht-Wissen sich gleichsam zur Spiegelfläche macht, auf der sie sich reflektieren, bzw. in die sie sich einbilden kann, eine Form der Aktivität ausmachen, die zwar für sich nichts will und passiv ist, die sich aber aktivisch zur Verfügung stellt für ein Anderes und insofern als eine Haltung ›aktiver Passivität‹ bezeichnet werden kann. Im Sinne der grundmotivischen Betonung medialer Strukturen wird also auch hier keine Dichotomie von Aktivität und Passivität, von Selbstverherrlichung und Selbstnegation bedient, sondern ein Mit­ telbegriff gebildet, der zugleich aktivisch hervorbringend und passivisch empfangend ist. Indem die selbstbewusste Subjektivität die Unmöglich­ keit des selbstgenügsamen sich-auf-sich-Selbst-Gründens erkennt, in der Krisis der Ekstasis willentlich eine Verwandlung des verobjektivierenden Eigenwillens herbeiführt, dadurch den Willen gleichsam umkehrt und ihn als Nicht-Wollen zur Verfügung stellt, zeigt sich die Haltung ›aktiver

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Passivität‹, die ein momenthaftes Gelingen eines nichtverobjektivieren­ den Inneseins der Weisheit ermöglicht. Die Subjektivitätskonzeption, die sich aus dieser Haltung ableiten lässt, wird Thema des folgenden Kapitels sein.

II.6 Resümee: Skizze einer Neukonzeption der Subjektivität Den Ausgangspunkt der Arbeit bildete der Verweis auf die doppelte Problematik neuzeitlicher Subjektivität: Die seit dem Beginn des 16. Jahrhundert stattfindende Aufbruchbewegung der Neuzeit, die in der Aufklärung und ihrem Ziel der Befreiung des Menschen aus der selbstver­ schuldeten Unmündigkeit kulminierte, ist in ihr Gegenteil umgeschla­ gen, indem die vermeintliche Souveränität des Menschen als dessen Abgründigkeit aufgedeckt worden ist. Da, wo die Errungenschaften der Emanzipationsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts – seien sie politischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher oder technischer Natur – den Menschen aus den Zwängen tradierter Weltanschauungen, Normen und sozialen Bindungen befreit, auf sich selbst gestellt und als Herrschaftssubjekt stilisiert haben, ist zugleich der Ausgangspunkt für die Negativitätserfahrungen der Moderne gestiftet. Der historische Höhepunkt von Macht und Machbarkeit des Menschen stellt sich hinter­ rücks als Ursprung seiner Ohnmacht dar.425 Der Voraussetzung der Befreiung, das auf sich selbst gegründete, diskursive Selbstbewusstsein der Subjektivität, inhäriert aufgrund seines notwendig verobjektivierenden Zugriffes auf das Andere der Subjektivi­ tät die Tendenz zur Vergegenständlichung alles Nicht-Gegenständlichen. In der Folge stellt sich dieser Zugriff als Ausgangspunkt des Scheiterns heraus, denn in der Vergegenständlichung entflieht das Nicht-Gegen­ ständliche und bleibt lediglich im Modus des Entzuges präsent. Die Subjektivität, vermeintlich auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt, muss sich angesichts ihres Zugriffs auf das Nicht-Gegenständliche ihre Ohnmacht eingestehen. Dort, wo sie dies nicht tut und die Vergegen­ ständlichung als einzigen Modus eines Bezogenseins auf das Andere der Subjektivität begreift, muss sie dieses auf kurz oder lang zerstören, zerstört damit jedoch zugleich die Existenzbedingungen ihrer selbst. Sprechendes Beispiel hierfür sind die anhaltenden ökologischen Krisen Dieses Grundmotiv der Moderne wurde wirkmächtig als ›Dialektik der Moderne‹ von Horkheimer und Adorno expliziert. Vgl. hierzu Kapitel III.

425

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II.6 Resümee: Skizze einer Neukonzeption der Subjektivität

seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sowie die gesellschaftlichen Konflikte einer auf sozialen Antagonismen gegründeten Gesellschaft. Die grundlegende Erfahrung einer als negativ bezeichneten Freiheit in dem Heraustreten aus der Abhängigkeit schafft, das zeigt diese Ent­ wicklung, zunächst nur die Bedingung der Möglichkeit zu einer positiven Freiheit, die in einem Sich-offen-Halten gegenüber dem Anderen der Subjektivität ihren Ausdruck findet. Das Paradox der Freiheit, die im Moment der Befreiung eine freiwillige Entscheidung zur Selbstzurück­ nahme gegenüber ihrem Mit-Seienden fordert, wenn sie nicht in ihr Gegenteil, in eine unfreiwillige Ohnmacht aufgrund der Entzogenheit und Zerstörung ihres Existenzgrundes, zurückfallen will, konfrontiert die neuzeitliche Subjektivität mit einem christlichen, ja christologischen Grundmotiv: Sich selbst aufgeben zu müssen, um sich zu finden, darin liegt ihre Provokation und genau diese Provokation macht Schelling zum Ausgangspunkt seiner Subjektivitätskonzeption in den Erlanger Vor­ lesungen. Im vorangehenden Kapitel wurden die von Schelling angeführten Schlüsselmotive der Neukonzeption der Subjektivität untersucht und in der These von einer dreifachen Theorie des Medialen, die in der Figur ›aktiver Passivität‹ einmündet, zusammengeführt. In einem letzten Schritt ist nun zu fragen, wie eine Subjektivitätskonzeption gedacht werden kann, die sich aus dieser Untersuchung ableiten lässt. Wie oben entwickelt, beruht Schellings Neukonzeption der Sub­ jektivität auf einem gewandelten Bewusstseinsmodus, der gleichwohl nicht als bloß epistemisch verstandener Ansatz theoretischer Philosophie aufgefasst wird, sondern als selbsttransformatives Moment im Sinne einer Conversio, die den gesamten Menschen verwandelt und damit auch existentiell zum Tragen kommt. Das Charakteristikum des gewan­ delten Bewusstseins zeigt sich darin, dass die Subjektivität nicht mehr als in sich abgeschlossene und von ihren Ermöglichungsbedingungen abgekoppelte Instanz sich darstellt, sondern in einer grundlegenden Haltung der Offenheit gegenüber dem Anderen der Subjektivität. Das Verhältnis von der Subjektivität und ihrem Anderen wird in den Erlanger Vorlesungen an dem Verhältnis von Wissen und Weisheit aufgezeigt. Als vormals verdrängter Grund der menschlichen Subjektivität tritt die Weisheit nach der Selbstzurücknahme des Wissen-Wollens als Movens der Bewegung des freien Denkens heraus und konstituiert, zusammen mit dem nichtwissenden Bewusstsein des erkennenden Sub­ jektes, eine neue Form des Bewusstseins, die hier als inter-intrasubjekti­ ves Prozessbewusstsein herausgearbeitet wurde. Die spezifische Form

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

dieses Bewusstseins zeigt sich z.B. anhand des gewandelten Begriffes der Reflexion: Diese wird gebildet durch die Abspiegelung bzw. ›Einbildung‹ der Bewegung der ewigen Freiheit in den intellektualen Vollzug des erkennenden Subjekts, das durch ein widerständiges Retardieren die Bewegung der ewigen Freiheit erstmals aussprechbar macht. Reflexion bildet sich demnach nicht aus Selbstbezüglichkeit, sondern aus intersub­ jektiver Bezüglichkeit. Die Grundannahme, die Schelling hier zu unterstellen ist, lautet demnach: Eine nicht-verobjektiverende Bewusstseinsform lässt sich nicht aus einem selbstgenügsamen, in sich abgeschlossenen Bewusstsein bilden. Bleibt das Subjekt in sich abgeschlossen, muss es per definitionem sich ein Objekt gegenüberstellen. Daraus kann nur ein verobjektivieren­ des, Bewusstsein entstehen. Weil diese Bewusstseinsform die natürlich gegebene ist für das erkennende Subjekt, Schelling aber zugleich diese nicht verabsolutiert, sondern andere Formen des Bewusstseins denken kann und denken will, betont er, dass sie durch einen grundlegenden Entschluss überwunden werden kann. Dieser Entschluss wird als ›freie Tat‹ markiert, deren Freiheit in dem oben ausgeführten Paradox in der Selbstaufgabe des natürlichen Bewusstseins und damit auch der Grundlage endlicher Subjektivität zunächst besteht. Schelling schließt also für das Bewusstsein die Möglichkeit einer Metamorphose nicht aus, sondern integriert genau diesen Wandlungscharakter des Bewusstseins in sein Erlanger Systemverständnis. Mit der systematischen Integration der Bewusstseinsmetamorphose mithilfe des Entschlusses zur Selbstaufgabe formuliert Schelling in der letzten Konsequenz eine Philosophie, die die Trennung von Theorie und Praxis unterläuft und dabei das Subjekt so auf sich selbst zurückwirft, dass es erkennt: Alles hier angestrebte Philosophieren kann nur auf der Grundlage einer fundamentalen Selbsttransformation statthaben. Der praktisch-ethische Impetus dieses Philosophierens trägt einen existenzi­ ellen Zug, der Schelling hier zu einem Vordenker der Existenzphilosophie werden lässt. Dabei erweist sich die Selbstaufgabe in ihrem Vollzug zugleich als Geburtsstunde einer neuen Form von Subjektivität, die einer Haltung bedarf, die als ›aktive Passivität‹ beschrieben wurde.426 Diese Haltung impliziert eine Form der Aktivität, die für sich nichts will, sich dabei jedoch aktivisch zur Verfügung stellt für ein Anderes, das sie zugleich in ihrer Aktivität so auf die Probe stellt, dass das Andere dazu gebracht 426

Vgl. Kapitel II.5.6.

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II.6 Resümee: Skizze einer Neukonzeption der Subjektivität

wird, sich zu zeigen, bzw. sich auszusprechen. Aus dem Wechselspiel der beiden Instanzen entsteht die neue Form des Bewusstseins im Medium der Bewegung der Weisheit. Dieses Bewusstsein ist kein unmittelbares, zugleich aber auch kein vermitteltes, im Sinne des subjektiven Reflexi­ onsbewusstseins. Reflexion bzw. Vermittlung wird hier auf eine andere Ebene gehoben und entsteht – wie gezeigt – aus der Abspiegelung der Bewegung der Weisheit in das sich widerständig und damit retardierend der Bewegung entgegenstellendes Bewusstsein des menschlichen Subjek­ tes. Die Bewegung wird demnach empfangen, ihr sich Aussprechen im Begriff allerdings durch die Ermöglichungsbedingung der retardieren­ den Instanz hervorgebracht. Als Geschehen lässt sich dies vergleichen mit dem Beispiel eines künstlerischen Prozesses. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass der Künstler zwar hervorbringend, zugleich aber an das Hervorgebrachte sich hingebend und von ihm wiederum empfangend ist, indem er im Prozess des Hervorbringens gleichsam eins wird mit dem Hervorgebrachten und sich von diesem leiten lässt, ohne die eigene gesteigerte und verfeinerte Aktivität aufzugeben. Mit der damit gebildeten neuen Form des Bewusstseins entsteht zugleich eine neue Form von Subjektivität. Sie ist nicht mehr die mona­ disch abgeschlossene Subjektivität des cartesischen Subjekts, sondern eine Subjektivität, die sich erst aus dem Ineinanderwirken des erkenn­ enden menschlichen Subjektes mit dem ›absoluten Subjekt‹, d.h. der Selbstbewegung der ewigen Weisheit, ergibt. Erst aus der Wechselbezüg­ lichkeit entsteht diejenige Referenzialität, die Bewusstsein, Bezüglichkeit und Reflexion bildet – allerdings auf der Grundlage einer fundamentalen Aufgeschlossenheit für das jeweils Andere. Beide Instanzen kommen durch ihr Ineinander-Wirken zu sich selbst: Das erkennende Subjekt, indem es seinen vormals verdrängten Grund in sich wirksam werden lässt, das absolute Subjekt, indem es sich im erkennenden Bewusstsein als ewiger Freiheit bewusst wird. Subjektivität wird hier zu einem Ver­ hältnisgefüge, welches nicht mehr auf der Grundlage der Konkurrenz zweier Instanzen operiert und damit notwendigerweise ein Machtgefälle impliziert, sondern sich gerade aus ihrem machtfreien Wechselverhältnis ergibt. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht auf eine Aufhebung des Dualismus in einem Dritten bzw. in einer Einheit angewiesen ist, son­ dern das Gegensätzliche miteinander und durcheinander zu sich selbst kommen lässt. Dadurch wird ein nichtverobjektivierendes Innesein des Gegenübers verwirklicht. Die Weisheit tritt in das Bewusstsein des erkennenden Subjektes ein, indem dieses das Hereintreten ermöglicht.

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II. Die Selbsttransformation neuzeitlicher Subjektivität

Dabei wird davon ausgegangen, dass eben diese Aufgeschlossen­ heit für das Andere der gewandelten Subjektivität auch auf andere Kontexte übertragen werden kann. Gerade in der akuten Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur scheint Schellings Neuansatz der Subjektivität eine vielversprechende Richtungsweisung auch für aktuelle Fragen zu bieten. Die Annahme, dass die aus der Selbstzurücknahme des Eigenwillens und des subjektiv hervorgebrachten Wissens gewonnene Haltung des Sich-offen-Haltens für ein anderes Subjekt nicht nur gegenüber der von Schelling eingesetzten ewigen Freiheit als personal verstandene Weisheit eingenommen werden kann, sondern in paralleler Struktur auch gegen­ über einem menschlichen Du und vor allem gegenüber der Natur als Subjekt, ist von Schelling her insofern zu rechtfertigen, als Schelling diesen Zusammenhang explizit aufzeigt: Indem er das Bewusstsein des Menschen als Austragungsort von Selbstverlust und Selbstwerdung der Weisheit macht, spricht er ihm zugleich die Möglichkeit zu, der offene Punkt für die ›Erlösung‹ der korrumpierten Natur zu werden. Dies lässt sich insofern nachvollziehen, als eine Bewusstseinsmetamorphose und die damit – mindestens in Schellings Verständnis – einhergehende grund­ legende Transformation der Subjektivität als umfassende Persönlichkeit konsequenterweise einen geänderten Umgang mit der Mitwelt – den Mitmenschen und der Natur – zur Folge hätte. Philosophie als Selbst­ transformation im hier beschriebenen Sinne wird zum Ausgangspunkt einer transformativen Wissenschaft im Blick auf gesellschaftliche Prob­ lemlagen. Vor diesem Hintergrund soll in einem abschließenden Ausblick im Folgenden Schellings Hinweise zur Neukonzeption der Subjektivität und deren Zusammenfassung in der ›aktiven Passivität‹ befragt werden hinsichtlich ihres Beitrags für eine Philosophie, die angesichts der Krisen im 20. Jahrhundert der Gefahr des Nihilismus verfällt. Als Antwort auf die machtvolle Stellung der cartesisch-idealistischen Subjektivität treten nämlich gerade im 20. Jahrhundert vermehrt Philosophien auf, die die passivischen Strukturen im Wahrnehmen, Denken und Handeln des Menschen betonen. Dass gleichwohl einige Ansätze gegenüber bloß passivischen Momenten das Augenmerk auf die ›aktive Passivität‹ legen und damit an die von Schelling entwickelten Überlegungen – wenn auch nicht immer explizit – anschließen, soll im abschließenden Kapitel der Arbeit aufgezeigt werden. Ausblickhaft kann zuletzt diskutiert werden, inwiefern die aktive Passivität eine grundlegende Anregung für ein gewandeltes Mensch-Natur-Verhältnis bietet.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

In dieser Arbeit ist der Versuch unternommen worden, Schellings erste elf Erlanger Vorlesungen als eine Theorie des Medialen zu lesen und die Figur der ›aktiven Passivität‹ als Brennpunkt derselben herauszuarbeiten. Über das genuine Interesse an Schellings philosophischem Ansatz hinaus ist dies unter der Annahme geschehen, dass die Figur der ›aktiven Passivi­ tät‹ grundlegende Perspektivierungen eines Subjektivitätsverständnisses aufweist, die über Schelling hinaus reichen, indem sie spätere Entwick­ lungen in der Philosophie vorwegnimmt und Anregung gibt für die Auslotung derjenigen Fragen, die auch in aktuellen Problemlagen, wie etwa in der ökologischen Krise, zutage treten. Auch wenn subjektivitätsphilosophisches Denken in der Postmo­ derne brüchig geworden ist, kommt der Mensch um die Frage nach dem Menschen nicht herum, will er sich nicht in einem performativen Widerspruch verfangen, indem er existierend die eigene Existenz in Frage stellt, oder aber aufgrund der Negation des Menschen das Problem der Vormachtstellung des Menschen lediglich zu verlagern. Denn da, wo vom Menschen abgesehen wird, entstehen andere Machtgefüge – seien es technokratische oder ideologische. Wie lässt sich die genuine Menschlichkeit des Subjekts retten, die gerade in der Bezogenheit und Angewiesenheit auf die Mitmenschen, die Natur und einen geistigen Sinnzusammenhang gedeutet werden kann, ohne auf der einen Seite der Gefahr der Überhöhung und Machtstellung des Menschen und auf der anderen derjenigen einer misanthropischen Selbstzerstörung zu unterliegen? Ausgehend von dieser Frage wird im Folgenden vor dem Hinter­ grund des bisher Entwickelten die Frage nach der Subjektivität und ihrer Selbsttransformation angesichts der großen Krisen des 20. und 21. Jahrhunderts gestellt – werfen diese den Menschen doch in nie gekannter Weise auf sich selbst als Subjekt zurück. Freilich soll hier keine bruchlose und unhinterfragte Linie zwischen Schelling, dem 20. Jahrhundert und der Gegenwart gezogen werden.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

Dazu sind die dazwischen liegenden Entwicklungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl gesellschaftlich als auch philosophisch zu umwälzend, als dass ein direkter Vergleich möglich wäre. Dennoch lässt sich eine doppelte Bezugnahme von Schellings Problematisierung im Rahmen des ›Deutschen Idealismus‹ und den Positionen im 20. Jahrhun­ dert rechtfertigen: Einerseits wirft Schelling auf, was 100 Jahre später historisch virulent wird, wie bspw. die in der Einleitung betonte doppelte Gefährdung, die in der Linie subjektivitätstheoretischen Denkens von Descartes über Kant und Fichte liegt.1 Damit gilt er auch andernorts als Vorläufer der Kritik an einem einseitigen Subjektivitätsverständnis, wie sie im 20. Jahrhundert prägend wurde. Andererseits finden die Abgrenzungsbewegungen des 20. Jahrhunderts gegenüber metaphysi­ schen und idealistischen Positionen durchweg unter Einbezug derjenigen Theoreme statt, auf denen die Notwendigkeit zur Abgrenzung beruht. Das sogenannte ›nachmetaphysische Zeitalter‹ speist seine Konzeptio­ nen zwar nicht immer affirmativ, aber gerade auch in der Abgrenzung zu starken Teilen aus den Gedanken, die mit der klassischen deutschen Philosophie um 1800 eine Blütezeit erreicht haben. Insbesondere Figuren wie Schelling, der Kritik übt an den Einseitigkeiten des Rationalität­ sparadigmas, bei dem jedoch zugleich ein unhinterfragter Begriff des Absoluten bereits brüchig wird, ohne dabei den metaphysischen und epistemisch ausdifferenzierten Horizont der Tradition gleichsam ›über Bord zu werfen‹, bilden deshalb eine widerständige Folie, um den Blick auf das 20. Jahrhundert und die Gegenwart zu schärfen. In diesem Sinne soll im abschließenden Kapitel ein Dreifaches angezeigt werden: Es wird erstens problematisiert, inwiefern im Zeitalter des Nihilismus überhaupt von Selbsttransformation der Subjektivität die Rede sein kann, bewegt sich die Frage nach Transformation doch immer schon im Horizont einer zukünftigen positiven Wendung (Kapitel III.1). Bezeichnenderweise treten im 20. Jahrhundert mehrere philosophische Ansätze auf, die explizit mit dem Terminus der ›aktiven Passivität‹ operie­ ren, um, wie Schelling, mit der Forderung nach einer Überwindung des cartesisch geprägten Subjektivitätsparadigmas produktiv umzugehen. Sie sollen zweitens exemplarisch angeführt werden um zu zeigen, wie hier die ›aktive Passivität‹ gleichermaßen als Alternative zur Machtstellung neuzeitlicher Subjektivität verstanden wird (Kapitel III.2). Abschließend ist die Frage zu stellen, inwiefern der hier diskutierte Ansatz auch für gegenwärtige Problemstellungen fruchtbar gemacht werden kann. Dabei 1

Vgl. Einleitung, Kapitel 1 und Kapitel I.1.

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III.1 Selbstüberwindung der Subjektivität im Zeitalter des Nihilismus?

wird zuletzt eine ausblickartige Perspektivierung der ›aktiven Passivität‹ im Zusammenhang mit aktuellen Debatten um das Mensch-Natur-Ver­ hältnis vorgenommen (Kapitel III.3).

III.1 Selbstüberwindung der Subjektivität im Zeitalter des Nihilismus? Wie kein anderer der Protagonisten klassischen Philosophierens um 1800 hat Schelling das subjektphilosophische Denken seiner Zeit und die eigenen Systementwürfe in ständiger Überbietung und Selbstkorrek­ tur zu vertiefen gesucht. Dabei stieß er auf die tragische Grundfigur neuzeitlichen Denkens, die in seiner Kritik an der selbstgenügsamen und selbstdurchsichtigen Subjektivität ihren Brennpunkt findet und von dort ausstrahlt in die drei grundlegenden Bezüglichkeitsdimensionen der Subjektivität: das Selbstverhältnis, das Welt- bzw. Naturverhältnis und das Verhältnis zum Absoluten. Das Selbstverhältnis wird durch die Defizienzerfahrung des verobjektivierenden Zugriffs auf die Welt als Verzweiflung erlebt, das Weltverhältnis ist aus demselben Grund geprägt von einer Entfremdung von der lebendigen Natur und das Verhältnis zum Absoluten zeichnet sich aus durch dessen Entzogenheit, wenn nicht gar durch dessen vollständige Negation. Im Hintergrund steht die historische Entwicklung einer fortschrei­ tenden Emanzipations- und Aufklärungsbewegung des Subjektes von seiner Eingebundenheit in eine höhere Ordnung, die die eigenen Vor­ aussetzungen negiert. Das vermeintliche Freiheitsversprechen schlägt in die Unentrinnbarkeit eines ewig in sich kreisenden Verfehlungs­ zusammenhanges um, da das Subjekt mit der zunächst nur als negativ auf­ gefassten Freiheit seine es konstituierenden Bezüglichkeitsdimensionen unterschlägt und dabei zugleich unweigerlich auf sie bezogen bleibt. Die Folge davon ist, wie bereits in der Einleitung angezeigt, die doppelte Gefährdung entweder eines Rückzugs in Ohnmacht und Resignation oder die Illusion einer mit einer überzogenen Selbstüberschätzung ein­ hergehenden Allmachtstellung. Beide Gefahren lauern der Subjektivität gleichsam am Abgrund der Moderne auf und bilden die Kehrseite der Emanzipationsbewegung.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

Mit dem Ernstnehmen dieser Kehrseite nimmt Schelling vorweg, was nach ihm Nietzsche2 und in kritischer Überbietung Heidegger3 in ihrer Diagnose eines nihilistischen Grundzugs der Moderne wirkmächtig vorgebracht haben und was – über alle politischen und philosophischen Differenzen hinweg – den Grundtenor des Philosophierens im zwanzig­ sten Jahrhundert ausmacht. Es ist die Figur einer ›Dialektik der Aufklä­ rung‹, bei der der Rationalisierungsoptimismus hinterrücks in Selbstver­ lust, eine völlige Entzauberung der Welt und Ignoranz gegenüber dem Göttlichen umschlägt, die diesen Grundtenor prägnant eingefangen und im Stichwort der ›negativen Totalität‹ festgeschrieben hat. Die Frage, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei ver­ sinkt«4 und damit der Fortschritt in Rückschritt umschlägt, ist die Grundfrage der Frankfurter Schule. Dabei haben Horkheimer und Adorno ihre berühmte Problemanalyse ebenfalls auf die drei oben benannten Bezüglichkeitsdimensionen hin ausgearbeitet: Bezogen auf das Selbstverhältnis lautet die Diagnose, dass der Mensch sich von der Maschine ersetzen lässt, indem er sein Denken verdinglicht und »zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd«,5 macht. So führt die Verdinglichung des Denkens in letzter Konsequenz zu einem ›l’ homme machine‹, der sich selbst als Subjekt nicht mehr antrifft, sondern nur noch als Gegenstand vorfindet. Hinsichtlich des Welt- bzw. Naturverhältnisses stellen die Autoren fest, wie die durch Rationalisierung und Verobjektivierung gewonnene Vermehrung der Macht zugleich mit der Entfremdung von demjenigen

Als das erste Werk seiner »neinsagenden Bücher« darf das Werk Jenseits von Gut und Böse als radikal nihilistisches Werk Nietzsches gelten, in dem Nietzsche sich eine durch­ greifende Kritik an der Moderne zum Ziel setzt: »Nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, neinthuende Hälfte derselben an die Reihe: die Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der grosse Krieg, – die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung« (KSA 6, EH, 355). 3 Heidegger hat in seiner Kritik am vor-stellenden Denken der cartesischen Tradition und der damit einhergehenden Subjekt-Objekt-Spaltung (vgl. HGA 5, 255) die Problematik einer Vergegenständlichung der Natur in seiner Technikkritik in aller Schärfe herausge­ stellt: »Die Welt wird zum Gegenstand. […] Die Erde selbst kann sich nur noch als der Gegenstand des Angriffes zeigen, der sich als die unbedingte Vergegenständlichung im Wollen des Menschen einrichtet. Die Natur erscheint überall […] als Gegenstand der Technik« (HGA 5, 256). 4 Horkheimer, GS 5, 16. 5 Horkheimer, GS 5, 47f. 2

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III.1 Selbstüberwindung der Subjektivität im Zeitalter des Nihilismus?

einhergeht, über das Macht ausgeübt wird.6 Bezogen auf die Natur bedeute dies, dass »[j]eder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, […] nur um so tiefer in den Naturzwang hinein«7 gerät – ein Phänomen, das in der Debatte um das sogenannte ›Anthropo­ zän‹ erneut akut geworden ist.8 Zu guter Letzt wird prägnant darauf hingewiesen, dass die Frage nach einem Verhältnis zum Absoluten nicht mehr nur dementiert, son­ dern gar nicht mehr gestellt wird, da dem vorherrschenden Positivismus jegliche Metaphysik als »sinnloses Geplapper« gilt. »Er [der Positivis­ mus, J.H.] braucht – zu seinem Glück – nicht atheistisch zu sein, weil das versachlichte Denken nicht einmal die Frage stellen kann.«9 Wer noch von Gott redet, ist antiquiert; das Absolute stellt keine ernstzunehmende Bezugskategorie mehr dar. Diesem dreifachen Negativbefund als Ergebnis aufklärerischer Euphorie halten die Begründer der Frankfurter Schule allerdings das Paradox entgegen, dass die gesellschaftliche Freiheit von aufklärendem Denken untrennbar ist.10 Dem Streben nach gesellschaftlicher Freiheit wohne insofern immer schon der Keim zur Selbstzerstörung inne, sobald es »willentlich aus seinem kritischen Element«11 heraustrete und die Kritik zur Affirmation umschlägt. Die dabei entstehende Frage, ob es den Autoren gelingt, durch die Forderung einer permanenten Aufrecht­ erhaltung der Kritik einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Moderne zu weisen, ohne durch die Verwendung der Dialektik selbst eine petitio principii zu begehen, wurde bekanntlich zum Diskussionsgegenstand der Forschung.12 Spätestens in den Minima Moralia mit dem Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt und der Weigerung, das ›richtige‹ Leben anders zu bestimmen als durch die Verneinung des ›falschen‹, zeigt sich, dass Adorno vorderhand das Positive in der Moderne lediglich im Gewand einer durchgängigen Negativität und im Modus der Verkehrung anerkennt.13 Das Aufrechterhalten der Verkehrung zeigt sich auch in Vgl. Horkheimer, GS 5, 31. Horkheimer, GS 5, 35. 8 Vgl. bspw. Höfele, der betont, wie im Anthropozän eine tragische Dialektik zutage tritt, in der kausallogische Bezugsketten zwischen Ursache und Wirkung sich aufzulösen scheinen und dadurch Täter und Opfer in eins fallen: Höfele 2020, 102. 9 Horkheimer, GS 5, 48. 10 Vgl. Horkheimer, GS 5, 18. 11 Horkheimer, GS 5, 17. 12 Vgl. Habermas 1981, 154 sowie Jaeggi 2009, 105. 13 Vgl. hierzu auch Hühn 2002, 177. 6 7

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

der expliziten Aufrechterhaltung der Gegensätze und Differenzen, die nicht in einem Dritten aufgelöst werden sollen. In diesem Sinne versteht Adorno seine Philosophie als dialektisch: »Vermittlung ereignet sich durch die Extreme hindurch.«14 Der Grundgedanke eines Verkehrungszusammenhanges, der das Positive ausschließlich ex negativo integriert, weist zurück auf den Kern­ gedanken Schellings, den er mit der Figur der Entzogenheit des Absolu­ ten in den Erlanger Vorlesungen ausfaltet.15 Allerdings, und hier liegt der entscheidende Unterschied, der Schelling zu einem vormodernen Den­ ker zu machen scheint: Durch das Nadelöhr der Selbsttransformation des Subjektes sieht Schelling einen Ausweg aus der Negativität gewiesen. Was Schelling der durchgreifenden Negativität entgegensetzt ist der Versuch, durch den konsequenten Einbezug anderer Formen der Rationalität als derjenigen des diskursiven, verobjektiverenden Zugriffes auf die Natur und das Absolute, die Negativität bzw. den Entzug des Absoluten als verkehrte Präsenz zu entlarven. Indem die Selbstverwandlung des Men­ schen in der Ekstasis den Weg öffnet für eine Erkenntnisform, die sich als mediales Wechselgeschehen zwischen Absolutem und erkennendem Subjekt ereignet, bildet sie den offenen Ort, an dem die Präsenz des Absoluten momenthaft in die Erscheinung tritt und sich im ›freyen Denken‹ ausspricht. Schelling sieht demnach durchaus eine Möglichkeit, dem Positiven innerhalb der Negativitätserfahrung neuzeitlicher Subjek­ tivität seine Berechtigung zu verleihen – wenn auch auf der Grundlage einer durchgreifenden Selbstverwandlung der Subjektivität, wie sie oben beschrieben wurde.16 Insofern lässt sich zum Abschluss dieser Untersuchung fragen, inwiefern Schellings Forderung nach einer Selbsttransformation neuzeit­ licher Subjektivität angesichts der durchgängigen Negativitätserfahrung der Moderne überhaupt (noch) gerechtfertigt ist? Ist das Philosophieren nach Auschwitz17 in der Lage und im Recht, der Negativität einen Ausweg zu weisen, ohne wiederum unmittelbar in den von Horkheimer und Adorno aufgewiesenen dialektischen Rückschlag zu verfallen? Lässt sich die Idee der Humanität des Menschen angesichts der Realität der Todeslager überhaupt noch retten?18 14 15 16 17 18

Adorno, GS 5, 257. Vgl. Kapitel II.2 und II.3. Vgl. Kapitel II.5. Vgl. Diner 1988 sowie Zimmermann 2005. Vgl. Adorno, GS 6, 359.

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III.1 Selbstüberwindung der Subjektivität im Zeitalter des Nihilismus?

Mit Schelling im Rücken ist die Frage nur mit ›Ja‹ zu beantworten. Denn wo, wenn nicht in der Verwandlung des Menschen, läge der Aus­ gangspunkt für eine grundlegende, den emanzipatorischen Errungen­ schaften der Neuzeit gleichwohl verpflichtete Transformation, solange diese Verwandlung dahingehend verstanden wird, dass sie die verobjek­ tivierende Bewusstseinsverfassung der Subjektivität transformiert, ohne dass dieses seine Selbstständigkeit einzubüßen hat. Tut sie das erstere nicht, ergäbe sich kein Ausweg aus der Negativität, verhindert sie letzt­ eres, so führte dies zu einem Rückfall in den Dogmatismus. Die verwan­ delte Form der Subjektivität könnte demnach nur in der paradoxalen Figur eines Wechselgeschehens bestehen, das sich zugleich durch wech­ selseitige Konstitution und Eigenständigkeit auszeichnet – wie Schelling sie in Erlangen ausarbeitet und wie sie als ›aktive Passivität‹ in der vor­ liegenden Arbeit dargestellt wurde. Dass eine solche Figur auch in der Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert in unterschiedlichen Spielarten präsent war und somit die Frage nach der Rechtfertigung eines solchen Ansatzes auch in der Moderne mindestens durch ihre Existenz mit ›Ja‹ beantwortet werden kann, soll in einem skizzenhaften Ausblick auf exemplarische Positionen der Philosophie im 20. Jahrhundert veranschaulicht werden. Die im Folgenden holzschnittartig dargelegten philosophischen Ansätze weisen aufgrund ihres expliziten Verweises auf Figuren ›aktiver Passivität‹ einen direkten Bezug zum Thema der Untersuchung auf und sollen insofern weniger als Anzeiger für die Hauptlinien des Denkens im 20. Jahrhundert als vielmehr für eine stichprobenartige Sammlung von Positionen stehen, die hinsichtlich der oben aufgeworfenen Frage nach einem Ausweg aus dem Nihilismus der Moderne als Gesprächspartner fungieren können.19 Dabei wird sich zeigen, wie jede der Positionen Stellung nimmt zu einer der drei oben genannten Bezüglichkeitsdimensionen der Subjektivität.

19 Gerade auch im Anschluss an Schelling und Heidegger finden sich weitere Positionen, die in ähnlicher Weise Aktivität und Passivität hinsichtlich der Frage religiöser Erfahrung neu ausloten. Dabei sind in der italienischen Philosophie (Turiner Schule) prominent Luigi Pareyson und Gianni Vattimo und sein Konzept des ›schwachen Denkens‹ zu nennen. Vgl. bspw. Pareyson 2021 sowie Vattimo 2016.

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert Der Begriff der ›Passivität‹ hat im 20. Jahrhundert an Bedeutung gewon­ nen.20 In diversen philosophischen Ansätzen wurden in den letzten Jahrzehnten diejenigen passivischen Aspekte herausgearbeitet, die unse­ rem Wahrnehmen, Denken und Handeln inhärent sind.21 Diese Entwick­ lung wird vor dem Hintergrund der hier thematisierten Vereinseitigung subjektivitätstheoretischen Denkens hinsichtlich der autonomen Mach­ barkeit und Macht übersteigerter Aktivität verständlich, denn »das Passivdenken [geht, J.H.] mit einer philosophischen Entmachtung des neuzeitlichen Subjekts« einher.22 Allerdings birgt die einseitige Betonung passivischer Strukturen die Gefahr einer in Kontemplation verfallenden Selbstgenügsamkeit, deren Selbstverständnis in eine Theorie der Ohn­ macht münden kann. Insofern interessiert im Folgenden nicht so sehr die grundlegende Betonung der Passivität in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr diejenigen Ansätze, die das Verhältnis von Aktivität und Passi­ vität neu ausloten, indem sie sich gegen eine einseitige Betonung des einen oder anderen wenden und damit auf ein selbsttransformatives Moment eines suisuffizienten Subjektivitätsverständnisses aus sind, das gleichwohl die Eigenständigkeit des Subjektes nicht unterläuft. Dabei ist in einem ersten Schritt erneut Adorno zu nennen, der trotz der oben dargelegten negativistischen Diagnose der Neuzeit und ausgehend von seinen ästhetischen Ansätzen ganz explizit eine Figur der ›aktiven Passivität‹ ausarbeitet, die er nicht nur auf rezeptionsästhetische Fragen bezieht, sondern auch auf das philosophische Denken als solches überträgt. In der Weigerung, das Kunstwerk begrifflich zu domestizieren, indem das Denken sich zu einem »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand«23 erzieht, wird auf der Ebene des Kunstwerks, bzw. des philosophischen Denkens, die Idee einer Versöhnung der Subjektivität mit dem Anderen der Subjektivität – dem Nichtidentischen – nicht Vgl. Busch/Draxler 2013. Vgl. Groß 2020, 121. Als ein Beispiel sei hier die Theorie von der passiven Synthesis bei Husserl angeführt (vgl. Husserl 1966). Auch Lévinas betont z.B. in dem Text Die Spur des Anderen die »absolute Passivität« der Subjektivität, die ihr »anarchisch vom Anderen kommt« (Lévinas 1998, 321). Im Anschluss an Lévinas spricht Derrida bspw. von einer »Entscheidung des anderen in mir« als einer passiven Entscheidung (Derrida 2003, 44). 22 Busch 2013, 16. 23 Adorno, GS 10,2, 602. 20 21

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert

verneint.24 Das durch eine Verwandlung der Rationalität gewandelte Verhältnis zum Kunstwerk bzw. zum Gegenstand philosophischen Nach­ denkens wird zum Ansatzpunkt eines Vermittlungsgeschehens zwischen Erkennendem und Erkanntem, das aus dem radikalen Negativismus Adornos herausragt. Damit liefert Adorno einen Ansatz, die SubjektObjekt-Spaltung im Weltverhältnis der Moderne in Frage zu stellen und zu transformieren. In einem nächsten Schritt soll daran anschließend Adornos Zeit­ genosse Günther Anders zu Wort kommen, der in seinem essayistisch gehaltenen Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen nicht nur den rückhaltlosen Befund eines negativistischen Subjektivitätsverständnisses für das 20. Jahrhundert liefert, sondern zugleich eine Verwandlung der Subjektivität fordert, als deren Medium er den aktiv-passivischen Vollzug des Zuhörens von Musik beispielartig anführt und damit – trotz aller inhaltlicher Differenz zu Adorno25 – ebenfalls die Kunst als Ort der Transformation beschreibt. Dadurch dass Anders den aktiv-passiven Vollzug innerhalb des zeitlichen Geschehens der Musik verortet, gelingt es ihm, so die These, die Vermittlung zwischen Subjekt und musikali­ schem Vollzug zu plausibilisieren. Die Figur rückt durch die Betonung der Dynamik nah an Schellings Konzeption der ›aktiven Passivität‹ als prozessuales Wechselgeschehen zwischen erkennendem und absolutem Subjekt heran. Das Ziel von Anders’ Position ist eine Verwandlung des durch Entfremdung und innere Gespaltenheit gekennzeichneten Selbstverhältnisses der Moderne, da durch die Verwandlung des Subjekts in der Musik das Medium für eine Rückkehr zu sich selbst gesehen wird. Hinsichtlich des Verhältnisses zum Absoluten soll ein Denker zu Wort kommen, der seine zeitgleich mit Heideggers Ausarbeitungen von Sein und Zeit entstandene Existenzphilosophie in der Auseinander­ setzung mit Platon, Kant, Augustinus und Kierkegaard entwickelt: Der Schweizer Philosoph Heinrich Barth. Die Figur einer ›aktiven Passivität‹ beschreibt bei ihm das Verhältnis von Transzendenz und Existenz im Akt der Entscheidung, der das menschliche Existieren charakterisiert. Indem er die ›aktive Passivität‹ in den Vollzug der Entscheidung integ­ riert, kommt seine Konzeption ebenfalls nah an diejenige Schellings Vgl. Groß 2020, 191. Das Verhältnis zwischen Anders und Adorno war zeitlebens ein spannungsreiches. Ob Adorno an der Entscheidung beteiligt war, die Habilitationsschrift von Anders zur Musikphilosophie in Frankfurt nicht anzunehmen, ist nach wie vor umstritten (vgl. Ellensohn 2017, 355‒357). 24 25

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

heran, auch wenn Barth sie vornehmlich in Auseinandersetzung mit der Freiheits- und Gnadenlehre von Augustinus ausbildet. Alle drei Positionen sind im Folgenden hinsichtlich ihres Ansatzes einer ›aktiven Passivität‹ skizzenhaft auszufalten, um sie abschließend ausblickhaft mit dem Ansatz Schellings zu perspektivieren.

1. Adorno und die ›aktive Passivität‹ der Kunstbetrachtung und des Denkens Den Begriff ›aktive Passivität‹ entwickelt Adorno erstmals in seinen Vorlesungen über Ästhetik im Wintersemester 1958/59, in der die ent­ scheidende Bedeutung der Kunst für Adornos Werk zutage tritt, zu der er unter anderem durch Schelling inspiriert wurde.26 Während die Philosophie in der Sphäre des Begrifflichen verharrt, ist es die Kunst, die in das Nichtbegriffliche eintritt und damit am stärksten die Rettung des Nichtidentischen vollziehe. Die Kunst muss sich nicht des Diskursiven bedienen, sondern ihre Methode ist die des Mimetischen, das die Span­ nung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen der Phänomene nicht zugunsten des Ersteren auflöst. In der Kunst findet insofern eine Form der »Entsühnung [statt, J.H.] dadurch, daß das Subjekt die Verfügung über sich und sein Anderes in den Dienst des Nichtidentischen stellt«.27 Adorno will den ›Kunstgenuss‹ nicht als selbstsicheres Konsumie­ ren verstanden wissen. In der Kunsterfahrung gehe es vielmehr darum, dass das Subjekt seine eigene Lebendigkeit erlebt mithilfe des Ange­ rührtseins durch das Kunstwerk und sich dabei in Mitleidenschaft ziehen lässt: »Bewusstsein ohne Schauer, ist das verdinglichte.«28 Die Intensität der Kunsterfahrung messe sich an der Qualität des »Mitvollzuges«, der in und mit dem Kunstwerk lebt und es nicht – gleichsam von außen – beurteilt.29 Während jede andere Art des Genusses auf das genießende Subjekt gerichtet sei, führe der Kunstgenuss gerade vom Subjekt weg, denn: [E]s käme weniger darauf an, was einem das Kunstwerk ›gibt‹, als darauf, was man dem Kunstwerk gebe, das heißt: ob man in einer bestimmten 26 27 28 29

Vgl. Adorno, GS 3, 25f. Adorno, GS 7, 430. Adorno, GS 7, 490. Vgl. NL 4,3, 184. Vgl. hierzu auch Seel 2014, 252.

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert

Art von aktiver Passivität, oder von angestrengtem Sich-Überlassen an die Sache, ihr das gibt, was sie von sich aus eigentlich erwartet.30

Hier fällt also prominent der Begriff der ›aktiven Passivität‹ im Sinne einer Hingabe an ein Anderes der Subjektivität. Dass das Kunstwerk oder der Gedanke selbst über eine Art ›Subjekthaftigkeit‹ verfügen könnte, wie Schelling sie dem Systemprinzip zuspricht, und damit die aktive Passivität nicht nur Hingabe an eine Sache, sondern aktiv-passivische Wechselwirkung zweier Subjekte sein könnte, steht bei Adorno nicht im Vordergrund, da es ihm gerade um die Betonung des Nichtidentischen des Kunstwerks geht. Allerdings spricht Adorno dem Kunstwerk eine Autonomie zu, die die alleinige Subjektivität des Betrachters auflösend in Frage stellt.31 Entscheidend ist die Haltung, die der Betrachter gegenüber dem Kunstwerk einnimmt, denn das »Subjekt muß am Nichtidentischen wiedergutmache, was es daran verübt hat«.32 Mit der ›aktiven Passivität‹ betont Adorno auf der Ebene der Rezeptionsästhetik die aktive Konzentration in der Betrachtung des Kunstwerkes, die sich der Herrschaft verweigert, indem das rezipierende Subjekt von sich absieht und sich dem betrachteten Gegenstand im Mitvollzug zur Verfügung stellt, sodass er sich aussprechen kann. Dabei gebietet die Wiedergutmachung die Betonung des ›Gegenständlichen‹ der Kunst, allerdings gerade nicht im Sinne eines verfügbaren Objekts, sondern im Sinne des nicht für das Bewusstsein auflösliche Andere, das als Faktizität des Nichtidentitschen dem subjektiven Bewusstsein als Autonomes und Widerständiges entgegentritt. Diesem ›Gegen-Ständ­ lichen‹ spricht Adorno in gewisser Weise ein Eigenleben zu wenn er unterstreicht, dass jedes Kunstwerk, das diesen Namen verdiene »in sich ein Kraftfeld« sei, das »unter den Augen gewissermaßen lebendig wird«.33 Dieses Lebendig-Werden wird erfahren eben in dem erwähnten Mitvollzug, in dem man »in dem Kunstwerk darin ist, daß man – wie man es ganz schlicht nennen mag – darin lebt«.34 Es käme darauf an, dass der Mensch »in dem Puls, in dem Rhythmus des eigenen Lebens ganz und gar eins wird mit dem Leben des Kunstwerks«.35 Ausgehend von seinen zentralen Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung zeigt Adorno einen Weg auf, wie dem Anderen der Subjektivi­ 30 31 32 33 34 35

NL 4,3, 190. Vgl. Endres 2019, 16. Adorno, GS 6, 149. NL 4,3, 186. Vgl. hierzu auch NL 4,3, 269f. NL 4,3, 188. NL 4,3, 169. Vgl. hierzu auch Bredekamp 2010, 323f.

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tät in einer Weise begegnet werden kann, die die Integrität desselben nicht antastet, sondern es vielmehr durch einen selbstlosen Mitvollzug leben­ dig macht. Hier finden wir also hinsichtlich des spezifischen Verhältnisses von Kunstwerk und menschlichem Subjekt eine Figur angedeutet, die derjenigen Schellings vor allem in der beiderseitigen Autonomie und Eigenlebendigkeit der am Vollzug beteiligten Instanzen angesichts der Problematik einer Gefahr der Verobjektivierung und Zurichtung des Anderen ähnelt. Rund sechs Jahre nach den Vorlesungen über Ästhetik weitet Adorno in seinem Essay Anmerkungen zum philosophischen Denken von 1965 den Gedanken von der Kunsterfahrung auf das philosophi­ sche Denken aus. Adornos Ausgangspunkt bildet die transzendentale Apperzeption bei Kant. Er weist in ihr diejenigen passivischen Momente auf, die beweisen, dass es sich im Denken nicht nur um Aspekte der Spontaneität handelt, sondern dass selbst Kant nicht umhinkomme, dem Denken ebenso auch passivische Momente zuzugestehen, auch wenn Kant diese Momente nicht betone. Denken sei durchaus gebunden an dasjenige, was nicht selbst Denken ist und insofern beweise es sich immer auch als ein Reagieren. Vor diesem Hintergrund müsse sich das philosophische Denken von der Sache, von dem Gegenstand seiner Überlegung, determinieren lassen. In Analogie zur Kunsterfahrung heißt es weiter, die Aktivität des Denkens läge in seiner Anstrengung, seiner Konzentration und »Anspannung des Ichs«, die jedoch zusammen fällt mit der Passivität, in der es empfängt, was es nicht selbst ist. Das Denken müsse sich insofern seinem Objekt anschmiegen, auch wenn es ein solches Objekt zunächst noch gar nicht hat.36 Adorno sucht hier also die aktivische Seite der Konzentration zu verbinden mit der passivischen der Hingabe an den Denkinhalt, ohne allerdings das Subjekt dabei ausmerzen zu wollen, wie dies im Objektivitätsparadigma der modernen Naturwissenschaft der Fall ist. Sein erklärtes Ziel ist es, sich von einem sinnlichkeitsfreien ›reinen Denken‹ bspw. Hegels abzugrenzen und den Vorrang des Objekts vor dem Subjekt, bzw. das dem Denken innewohnende Nicht-Identische, stark zu machen. Dass es auch im ›reinen Denken‹ eine Instanz geben kann, der sich das Denken hinzugeben vermag, auch wenn diese Instanz selbst kein dinglich verfasstes Objekt ist, wie Schelling es in den Erlanger Vorlesungen vertritt, dieser Gedanke ist Adorno freilich fremd. Dennoch geht er davon aus, dass der betrachtete bzw. bedachte Gegenstand selbst 36

Vgl. Adorno, GS 10,2, 601f.

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert

seinen Wahrheitsgehalt im Vollzug des Nachdenkens innerhalb dieses Denkens gleichsam ausspricht. Philosophisches Denken heißt, sich »in die Sachgehalte […] versenken, um in ihnen, nicht über ihnen, des Wahr­ heitsgehalts innezuwerden. Das wäre, heute, Freiheit des Denkens«.37 Adorno will demnach mit der ›aktiven Passivität‹ dasjenige Moment in der Betrachtung bzw. im Vollzug des Denkens stark machen, das nicht rein subjektiv hervorgebracht wird. Zugleich geht es ihm darum, diesen Vollzug nicht als bloßes passivisches Empfangen zu charakterisieren.38 Insofern wird hier deutlich, dass es Adorno im ›Kunstgenuss‹ und im philosophischen Denken darum zu tun ist, eine Form der Intentionalität des Subjektes aufzuzeigen, in der das Subjekt keinen Herrschaftsan­ spruch gegenüber dem Objekt ausübt und damit mindestens ansatzweise der Idee einer mit dem Weltverhältnis versöhnten Subjektivität nahezu­ kommen scheint.39

2. Ausbildung der ›moralischen Phantasie‹ als ›aktive Passivität‹ bei Günther Anders Indem Günther Anders seinen Ansatz ›aktiver Passivität‹ von Anfang an ausschließlich im Kontext musikphilosophischer bzw. -phänomenologi­ scher Überlegungen entwickelt, spielt hier die Prozessualität und damit die Auflösung des Subjekt-Objekt-Paradigmas eine ebenso große, wenn nicht größere, Rolle, als bei Adorno. Auch Anders tut dies als kritischer Zeitgenosse, der in seinem Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen in einer anthropologischen Diagnose die grundlegende Schizophrenie des modernen Menschen und die damit verbundene Notwendigkeit einer Transformation der Subjektivität vertritt. Knapp dreißig Jahre nach seinen frühen philosophischen Arbeiten an einer Anthropologie im Anschluss an Scheler und Plessner und an seine zeitgleich entstandene musikphilosophische Habilitationsschrift

Adorno, GS 10,2, 607. »Die Vorstellung von dem, der sich hinsetzt und ›über etwas nachdenkt‹, um zu eruieren, was er noch nicht wußte, ist so schief wie die umgekehrte von den angeflogenen Intuitionen. Denken gerät in der Arbeit an einer Sache und an Formulierungen; sie sorgen für sein passivisches Element. Extrem gesagt: Ich denke nicht, und das ist wohl Denken« (Adorno, GS 10,2, 606f.). 39 Vgl. Groß 2020, 191. 37

38

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen40 greift Anders in seinem 1956 erschienenen Hauptwerk Grundthesen seines frühen Philosophierens auf, die gleichwohl durch die prägenden Jahre von Nazi-Herrschaft, Emigration, Holocaust und Atombomben-Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki an Drastik und Schärfe gewonnen haben. Anders sieht in der Atombombe ein ›Symptom‹ für die Grundfi­ guration des 20. Jahrhunderts, in der sich der Nihilismus manifestiert und materialisiert und es für den Zeitgenossen vollkommen gleichgültig geworden sei, »ob er die Existenz der Bombe als Zeugnis für die Sinnlosigkeit des Daseins oder umgekehrt die Sinnlosigkeit des Daseins als Legitimationsgrund für die Existenz der Bombe verwendet«.41 Diese manifest gewordene Form des Nihilismus zeige sich anthropologisch in der Tatsache, dass der Mensch im 20. Jahrhundert als ein gleichsam ›schi­ zophrenes‹ Wesen auftritt, weil eine unüberbrückbare Kluft zwischen seinen Vermögen (Herstellungsvermögen, Vorstellungsvermögen und Gefühlsvermögen) bestehe. Hinsichtlich seines Herstellungsvermögens ist der Mensch fähig, z.B. mit Hilfe der von ihm hergestellten Atombombe eine ganze Stadt, ja den ganzen Planeten zu zerstören und die Menschheit als Ganze zu töten. Die Macht des Menschen hat sich diesbezüglich ins Omnipotente gesteigert. Die Menschen sind zu ›Herren der Apokalypse‹ aufgestiegen, was nach Anders in der Folge dazu führt, dass sie »nicht einfach nur Vertreter einer neuen geschichtlichen Generation von Menschen [sind], sondern, obwohl anatomisch natürlich unverändert, durch unsere völlig veränderte Stellung im Kosmos und zu uns selbst, Wesen einer neuen Spezies […]«42 bilden. Auf der anderen Seite sei das Vorstellungsvermögen des Menschen vollständig verkümmert: Während die Vernichtung einer Großstadt technisch kein Problem darstellt, seien die Menschen nicht fähig, diese Vernichtung auch nur annähernd angemessen sich vorzustellen, geschweige denn zu fühlen. Anders fasst dieses Phänomen in die prä­ gnante Feststellung: »Ermorden können wir Tausende; uns vorstellen Die Anspielung im Titel auf den Titel von Schellings Freiheitsschrift dürfte nicht zufällig sein: Anders, der von 1921 bis 1924 (mit Unterbrechungen) in Freiburg und von 1925 bis 1929 u.a. bei Heidegger in Marburg studiert hatte, dürfte die erste Schelling-Interpre­ tation Heideggers in den Marburger Übungen von 1927/28 besucht haben. Vgl. Heidegger 1927/1928. In der Schrift bezieht sich Anders mehrmals direkt auf Schelling – allerdings einzig auf das System von 1800 (vgl. Anders 2017, 25f., 78, 80, 118, 128). 41 Anders 1985, 305. 42 Anders 1985, 239. 40

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert

vielleicht zehn Tote; beweinen oder bereuen aber höchstens Einen.«43 Diese Diskrepanz zwischen den Vermögen des Menschen nennt Anders das »Prometheische Gefälle«44 und stellt fest, dass die Subjektivität – im Gegensatz zu den philosophischen Ansätzen der klassischen Philosophie – sich gerade nicht mehr durch Identität auszeichne, sondern durch eine fundamentale und folgenreiche Nicht-Identität des Menschen mit sich selbst45 und dass Identität erst durch eine Selbstverwandlung hergestellt werden müsse. Ganz grundsätzlich zeige sich darin die Unfähigkeit, »see­ lisch ›up to date‹ auf dem Laufenden unserer Produktion zu bleiben«.46 Auch wenn Günter Anders den Nihilismus und die Abgründigkeit seiner Zeit mit seiner rückhaltlosen Diagnosefähigkeit auf die Spitze treibt, geht er davon aus, dass die Möglichkeit bestehe, das benannte Gefälle zu überbrücken. Diese Möglichkeit der Selbstverwandlung sieht Anders in der anthropologisch begründeten Grundverfasstheit des Men­ schen als unfestgelegtes Wesen garantiert. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen liegt in der Feststellung, dass der Mensch sich gegenüber dem der Welt in »Bedürfniskongruenz« eingebetteten Tier durch einen grundlegenden Defekt auszeichnet, nämlich durch seine prinzipielle Weltfremdheit.47 Der Mensch lebe zwar in der Welt, ja sei selbst Welt, ist ihr jedoch gleichzeitig »in eigenartiger Weise enthoben«.48 Dieses Frei-Sein von der Welt führe zu einer relativen Selbstständigkeit des Menschen und bedeute zugleich, dass dem »Seienden als Ganzem« zugemutet werde, »dass es sich durch seine Differenzierungen und Dividuationen, d. h. durch seine Aufteilungen in bestimmte Wesen und Individuen, sich selbst entfremde; dass sich die Kraft seines Produzierens durch die Mündigkeit und Unabhängigkeit seiner gelungenen Produkte selbst strafe«.49 Die Abgeschiedenheit von der Welt und die damit einhergehende Unfestgelegtheit ist für Anders nicht nur Defizit, sondern zugleich die Voraussetzung für die Wandlung des Menschen. Weil der Mensch sich durch »Unfestgelegtheit« auszeichnet, ist er dazu fähig, sich selbst zu verwandeln:

43 44 45 46 47 48 49

Anders 1985, 267. Ebd. Vgl. Anders 1985, 8. Anders 1985, 15. Anders 2018, 15. Anders 2018, 16. Anders 2018, 16f.

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Die ›Unfestgelegheit des Menschen‹, d.h.: die Tatsache, daß dem Men­ schen eine bestimmte bindende Natur fehlt; positiv: seine pausenlose Selbstproduktion, seine nicht abbrechende geschichtliche Verwandlung – macht die Entscheidung darüber, was als ›natürlich‹ und was als ›unnatürlich‹ angerechnet werden sollte, unmöglich.50

Dass der Mensch nicht festgelegt ist, ist die Bedingung der Möglichkeit seines selbstverschuldeten Untergangs und zugleich das Nadelöhr seiner Verwandlung. Dasjenige, was es auszubilden gilt, um die Kluft zwischen Herstellungs- und Vorstellungsvermögen zu überbrücken, sei die sog. »moralische Phantasie«: Wenn dem so ist [dass wir alle schizophrene Wesen sind, J.H.], dann besteht, sofern nicht alles verloren sein soll, die heute entscheidende moralische Aufgabe in der Ausbildung der Moralischen Phantasie, d.h. in dem Versuche, das ›Gefälle‹ zu überwinden, die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaß dessen, was wir anrichten können, anzumessen; uns also als Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden gleichzuschalten.51

Nicht allein seiner Neigung wegen, sondern auch aus systematischen Gründen argumentiert Anders, dass die dafür notwendigen Exerzitien der Seele, die »moralischen Streckübungen«52, die die unterschiedlichen Vermögen dazu bringen sollen, ihre Fassungskräfte anzugleichen, im Medium der Musik ihr genuines Übungsmaterial finden. Damit greift Anders Überlegungen aus seiner Habilitationsschrift auf, in der er die Musik »als letzte[s] menschliche Mittel, wodurch der Mensch fähig ist, sich fundamental zu verwandeln«53 beschreibt. Die musikalische Situation, die durch ihr genuines »in-Musik-Sein« gekennzeichnet ist und in der der Mensch aus seiner geschichtlichen Existenz heraustritt, ohne sich völlig von dieser abzuspalten,54 zeichne sich durch einen – je nach Musikform differierenden – aktiv-passivisch-neutralen Vollzug aus, in dessen Mitvollzug der Mensch sich dem Medium der Musik anverwandelt, ohne dabei aus dem Medium der Subjektivität herauszu­ treten. Dadurch wird das cartesisch geprägte Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen dem im Hören oder Musizieren mitvollziehenden Subjekt und 50 51 52 53 54

Anders 1985, 309. Anders 1985, 273. Anders 1985, 274. Anders 2017, 164. Vgl. Anders 2017, 35f.

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert

der Musik als Objekt transformiert in ein Zugleichsein von Subjektivität und Objekt.55 Anders geht davon aus, dass das Subjekt im aktivisch-passiven Vollzug des Musikhörens über sich hinauswächst, ohne sich zu verlieren und dabei seine gewohnten »Phantasie- und Gefühlsleistungen« derart überdehnt, dass sie die »angeblich festliegende ›proportio humana‹ sei­ ner Vorstellung und seines Fühlens«56 transzendieren und dadurch zum geforderten seelischen ›update‹ beitragen. Dies zeigt sich dergestalt, dass beide Vermögen sich weiter ausbilden und dadurch die Einseitigkeit eines bis ins Unermessliche gewachsenen Herstellungsvermögens ausgleichen. Auch wenn Günther Anders seine Überlegungen zur Ausbildung moralischer Phantasie angesichts der verheerenden geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts vornimmt, sieht er die Möglichkeit eines Ausweges gegeben, und zwar – »sofern nicht alles verloren sein soll«57 – in der Selbsttransformation des Menschen durch eine Verwandlung seines Selbstverhältnisses. Aufgrund seiner Unfestgelegtheit sieht Anders, so wie Schelling, im Menschen den ›offenen Punkt‹ der Schöpfung. Die Methode der Verwandlung liegt auch bei Anders in einem aktiv-pas­ sivisch sich ereignenden Vollzug zweier Instanzen – in diesem Falle der Hörende und die Musik – in welchem die Subjektivität durch das Sich-Anverwandeln an die Musik dieser innewird, dabei über sich selbst, d.h. die eigene Nicht-Identität, hinauswächst und dadurch wiederum mit sich identisch wird. Während bei Adorno vornehmlich die Dimension des Weltverhält­ nisses und bei Anders diejenige des Selbstverhältnisses im Fokus steht, soll im Folgenden der Philosoph Heinrich Barth hinsichtlich seines Ansatzes ›aktiver Passivität‹ in Bezug auf das Verhältnis zum Absoluten zu Wort kommen.

3. Entscheidung als mediales Geschehen ›aktiver Passivität‹ bei Heinrich Barth Im Anschluss an seine Auseinandersetzung mit Platon und Kant ent­ wickelt Heinrich Barth seinen spezifischen Ansatz einer transzendental begründeten Existenzphilosophie, die bei aller Betonung der konkreten 55 56 57

Vgl. Anders 2017, 126. Vgl. hierzu auch Khittl 2022. Anders 1985, 274. Anders 1985, 273.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

Existenz in ihrer singulären Lebenslage deren transzendentale Begrün­ dung und deren Ausgerichtetsein auf einen sie übersteigenden Richt­ punkt nicht aus den Augen verliert.58 Dabei gewinnt der Begriff der Entscheidung eine prägende Bedeutung.59 Heinrich Barth versteht die menschliche Existenz nicht als Gege­ benheit, sondern als dynamisches Geschehen des In-die-ErscheinungTretens. In ihrem In-die-Erscheinung-Treten richtet sich die Existenz in einem je und je zu vollziehenden Existenzakt aus auf ein telos. Existenzielle Bedeutung erhält der einzelne Akt durch die entworfene Vorwegnahme von Nicht-Seiendem, das als Sein-Sollendes antizipiert wird.60 So bedeutet existere für Barth ein entworfenes Heraustreten in den Horizont offener Möglichkeiten des Menschseins und insofern ein ›Sein in der Entscheidung‹.61 In der Entscheidung richtet sich die Existenz aus auf einen Sinnhorizont, der die Existenz übersteigt und von der her die Entscheidung ihre existenzielle Unbedingtheit erfährt. Den Sinnhorizont selbst denkt Barth weder rein transzendentalphi­ losophisch, noch ontotheologisch, sondern er bildet mit Blick auf die mittelalterliche Transzendentalienlehre einen Begriff ›transzendentaler Transzendenz‹ aus, mit dem er den Anspruch erhebt, die transzendentale Begründung der Existenz nicht nur logisch, sondern existentiell zu fun­ dieren.62

Vgl. zu Heinrich Barths Ansatz bspw. Graf 2008. Den Entscheidungsbegriff hat Barth vermutlich durch seine Auseinandersetzung mit Kierkegaard gewonnen. Die Beschäftigung mit dem Dänen fand vor allem um das Jahr 1925/1926, also während der Endphase der Arbeiten an seiner Kant-Monographie statt, und schlug sich in Vorlesungen und Aufsätzen nieder. Obwohl eine intensivere Aufarbei­ tung der Kierkegaard-Rezeption von Barth noch aussteht, lässt sich annehmen, dass Barth vor allem auch in der Fokussierung auf den Entscheidungsbegriff von Kierkegaard inspiriert war (vgl. Barth 1926, 199). Vgl. auch Schwab 2013. 60 Vgl. EE, 118f. 61 Vgl. GPhE, 25. 62 Heinrich Barth verwendet an dieser Stelle den Ausdruck der ›transzendentalen Transzendenz‹: »Wir verstehen unter ›Transzendenz‹ jenes ›Hinübersteigen‹, das in der ›transzendentalen‹ Begründung der Erkenntnis, wie sie Kant vollzogen hat, sichtbar wird. ›Transzendentale‹ Bedeutung hat das ›Prinzip‹ der Erkenntnis, in deren Einheit alle ihre Formen und Möglichkeiten ihre Voraussetzung haben, wie denn auch alle Aktualisierung der Erkenntnis den Logos als solchen in einem transzendentalen Sinne voraussetzt. In diesem prius der transzendentalen Voraussetzung aller möglichen und wirklichen Erkenntnis meinen wir die reine, kritisch einwandfreie und zugleich wahrhaft bedeutungsvolle ›Transzendenz‹ zu erkennen.« (AH, 116) Vgl. hierzu auch Schwaetzer 2010 und Hueck 2019b. 58

59

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert

Hinsichtlich Barths Auffassung einer Figur ›aktiver Passivität‹ soll im Folgenden ein skizzenhafter Blick auf seine Auslegung der Freiheitsund Gnadenlehre Augustins geworfen werden. Barth beschäftigt sich hier mit dem Problem, wie Entscheidung sich so ereignen kann, dass sie einerseits frei ist, sich andererseits aber nicht unabhängig, bzw. abgekoppelt von dem die Subjektivität übersteigenden Sinnhorizont des ›Logos‹ im Sinne des Absoluten vollzieht. Er argumentiert, dass wir im Falle des so verstandenen Entscheidungsbegriffes nicht in kausal­ logischen Zusammenhängen zu denken hätten. Während Entscheidung üblicherweise als Wirkung einer sie veranstaltenden Ursache verstanden wird, müsse ihr in diesem Fall, wo ihr zwei mögliche Instanzen als Veranstalter gegenüberstehen – nämlich das Absolute und das Ich –, eine andere Form der Relationalität zugesprochen werden.63 Dass die Entscheidung nicht allein durch die menschliche Existenz verursacht werden kann, steht für Barth deshalb fraglos fest, weil die Verbindlichkeit der Entscheidung nicht aus der beziehungslosen Fakti­ zität des Endlichen entstehen könne, sondern nur in Ausrichtung auf einen Sinnzusammenhang, der die Existenz selbst transzendiert. Dass die Entscheidung aber ebenso wenig durch ein unmittelbares Übergreifen eines göttlichen Willens auf die Existenz sich ereignen kann, ist vor dem Hintergrund der Rechtfertigung des Bösen in der Theodizee-Frage sowie der Verteidigung der menschlichen Freiheit und Verantwortung offensichtlich. Auch ein völliges Verschmelzen zwischen Schöpfer und Geschöpf, wie Barth es beim frühen, neuplatonisch geprägten Augustinus kritisiert, käme nicht in Frage, da die Entscheidung ein »einsamer, unge­ borgener Akt«64 ist, der durch ein Eingehen in Gott seinen Charakter als Entscheidung verlöre. Barth findet bei Augustinus einen Ansatzpunkt, um die Verhältnis­ bestimmung auf einer tieferen Ebene – jenseits kausalen Denkens – anzusetzen. Dabei trifft er zunächst auf eine formale Schwierigkeit, die darauf deutet, wie tiefgreifend unsere Denkgewohnheiten durch kausale Relationen geprägt sind, nämlich die logische Struktur unserer Sprache: Unsere Verben verlangen nach einem tätigen Subjekt oder einer Gruppe von tätigen Subjekten, die ein »Zentrum der Auswirkung« bilden.65 Im vorliegenden Falle käme es aber gerade darauf an, dass zwei »Zentren der Auswirkung« – nämlich der in Gott gestiftete Sinnzusammenhang und 63 64 65

Vgl. A, 196. EA, 323. Vgl. A, 131f.

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das in die Entscheidung gestellte menschliche Subjekt – zugleich einen Akt vollziehen, in dem sie als eigenständige Instanzen bestehen bleiben, ohne bloß äußerlich ein ›Kooperationsverhältnis‹ einzugehen. Für einen solchen Fall biete die Sprache kaum »die erforderlichen formalen Mittel, um die doch so feststehende Wahrheit, daß das gute Wollen ebenso von Gott, wie vom Menschen gewollt ist, zum Ausdruck zu bringen«.66 Allerdings findet Barth in derselben Sprache, die zunächst durch ihre logische Struktur hinderlich erscheint, einen Ausweg, indem er als Beispiel einige Verben heranzieht, die aus sich heraus ein mediales Verhältnis zweier Subjekte voraussetzen. Als Beispiele nennt er Verben wie iustificare, adiuvare oder sanare, die keine einseitig aktive oder passive Haltung des jeweiligen Subjektes fordern. So bedarf es im Helfen der Aktivität des Empfangenden, der die Hilfe annehmen muss, und zugleich der Passivität des Gebenden, der sich der Hilfebedürftigkeit des Empfangenden zu öffnen hat. »Tätigkeit ist hier Leiden und Leiden Tätigkeit«67 – wie in der grammatikalischen Form des Mediums im Altgriechischen, auf die Barth mit dem Begriff der »aktiven Passivität« als »Brennpunkt der ganzen Frage« rekurriert.68 In analoger Struktur sei auch das Verb cooperari nicht so zu ver­ stehen, dass zwei ineinandergreifende Handlungen ein synergetisches Ergebnis erzielen. In dem Verb liege ausgesprochen, »daß Gott handelt, daß der Mensch handelt und daß beide Handlungen sich ›zusammen‹ vollziehen«.69 Dieser gemeinsame Vollzug ist aber wiederum nicht so zu denken, dass der Wille des Menschen zuerst als unabhängiges agens existiert und daraufhin in den Vollzug mit Gott eintritt.70 Es geht hier vielmehr um ein Umgriffensein des menschlichen Handelns durch das göttliche, ohne dass dieses jenes auslöscht. Dieses Umgriffensein beinhaltet die Tatsache, dass die menschliche Existenz in ihrem Alltags­ bewusstsein nicht über ihren Ursprung verfügt und deshalb in der Verwirklichung ihrer selbst notwendig auf ihre Voraussetzung bezogen bleibt. Diese Bezogenheit sieht Barth in Augustins Begriff der ›Gnade‹ gegeben, die er als »Beziehung zwischen der aktuellen Entscheidung und ihrem transzendenten Urheber«71 bezeichnet. Allerdings dürfe nicht 66 67 68 69 70 71

A, 132. A, 140. Vgl. hierzu Steinrück 2003. A, 134. Vgl. A, 135. A, 116.

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III.2 Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert

der Fehler gemacht werden, die Beziehung als eine innerweltliche, d.h. als Kausalrelation zu fassen. Deshalb ist die Wirkung der Gnade nicht notwendig, sondern lediglich Ermöglichung, »sie ist keine fremde Über­ macht, sondern gibt sich als aktuelles Können des Menschen kund«72 und ermöglicht damit die »in der Befreiung freie Entscheidung«.73 Insofern kann Barth erklären, dass die menschliche Verantwortung für die Entscheidung durch die Gnade nicht abgeschwächt, sondern gerade bekräftigt wird, und dass sie die menschliche Subjektivität nicht auslöscht, sondern dass Augustin »in voller Schärfe die Paradoxie der doppelten Subjektbeziehung behauptet«,74 nämlich als dialogisch-medi­ ales Beziehungsgeschehen. Auch wenn die Figur der ›aktiven Passivität‹, wie sie Heinrich Barth entwickelt, gegenüber den Ansätzen von Adorno und Anders zunächst einmal mit weniger transformatorischem Impetus ausgestattet zu sein scheint, wird in dem Essay Die Krisis der Vernunft deutlich, dass Barth das Sich-offen-Halten der Subjektivität für den Ruf des sie Übergreifenden durchaus im Kontext einer notwendigen Gegenbewegung zur Vereinsei­ tigung der Moderne versteht.75 Nur indem sich die Existenz dieser Situation stellt, gelange die Entwicklung zu einer »Krisis«, die die Erstarrung und Verhärtung der sich selbst verlorenen Vernunft aufbrechen und sich dadurch »die Frei­ heit zu einem tiefen und vielseitigen Vernehmen [der transzendentalen Transzendenz, J. H.] zu bewahren weiß«.76 Auch Barth sieht demnach in dem ›aktiv-passivischen‹ Wechselgeschehen zwischen der menschlichen Existenz und dem sie übergreifenden Logos eine Möglichkeit, die Gefahr der Vereinseitigung in der Moderne zu transformieren, ohne die Verant­ wortung in der Entscheidung des Einzelnen aufzugeben.

A, 118. A, 121. 74 A, 138. 75 »Daß es aber eine in Selbstverlust geratene Vernunft ist, die sich im Gewoge der Betriebsamkeiten und Zwangsläufigkeiten unserer Gegenwart manifestiert, tritt darin unzweideutig zutage, daß die zur fraglosen Gegebenheit gewordene Vernunft kalt und teilnahmslos über den Menschen hinwegschreitet, wie wenn die zum Betriebe erstarrte Vernunft mit dem Menschen überhaupt nichts mehr zu tun hätte!« (KV, 619f.). 76 KV, 623. 72 73

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4. Zusammenfassung Die in der Einleitung aufgeworfene Problematik neuzeitlicher Philoso­ phie, deren tragisch-paradoxale Figur eines emanzipatorischen Freiheits­ gewinns auf der Grundlage der doppelten Gefahr eines Welt- und Selbstverlustes ausgetragen wurde, hat, wie gezeigt, im 20. Jahrhundert zu philosophischen Ansätzen ›aktiver Passivität‹ geführt. Mithilfe dieser Figur streben alle drei dargestellten Positionen danach, die negative Kehrseite der errungenen Autonomie des Subjektes gleichsam durch eine selbstgewählte Anverwandlung an die Instanzen, auf die die Subjektivität trotz aller Selbstständigkeit bezogen bleibt, produktiv zu transformieren. Konkret bedeutet dies, dass alle drei verhandelten Autoren an dem Punkt ansetzen, den auch Schelling zum Stein des Anstoßes für seine Subjekti­ vitätskritik gewählt hat: an der Problematik des vergegenständlichenden Zugriffes des subjektiven Bewusstseins, das alles Nicht-Gegenständliche wo nicht zerstört, da zumindest verfehlt und damit dasjenige verliert, auf das es sich selbst gründet. Aus der skizzenhaften Darstellung der drei genannten Ansätze ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert ist deutlich geworden, dass diese Figur dort auftritt, wo in vollem Bewusstsein für die Abgründigkeit der Moderne dennoch die Frage nach einer produktiven Stellungnahme nicht ausgeschlossen wird. In allen drei Fällen wird mit der ›aktiven Passivität‹ ein Relationsgefüge angezeigt, das das auf der starren SubjektObjekt-Trennung beruhende cartesische Subjektivitätsverständnis für ungenügend erklärt und ein machtfreies Wechselverhältnis zwischen dem Subjekt und seinem Anderen anstrebt. Während bei Adorno dieses Andere als ›Sache‹ und ›Gegenstand‹ noch verhältnismäßig statisch bleibt, auch wenn dessen Anspruch an das Subjekt bindenden, bzw. intentionsleitenden Charakter hat, wird bei Anders dieses Andere in der Musik in die Zeitlichkeit und damit in das ›Medium des Subjek­ tiven‹ aufgelöst. Da die Musik dem Subjekt gleichwohl als Fremdes gegenübertritt, in die das Subjekt als in sein Anderes sich einlebt, sie mitvollzieht und dadurch über seine gegebenen Verhältnisse der einzel­ nen Vermögen hinauswächst, wird die Differenz in dem In-Eins-Gehen gewahrt, wie es auch bei Schelling der Fall ist. Allerdings bleibt bei Anders die Musik zwar zeitlich verfasstes, aber gleichwohl objekthaftes Gegenüber. Demgegenüber findet bei Barth in der Frage nach der Urhe­ berschaft im Entscheidungsgeschehen ein Wechselverhältnis zwischen Subjekt und ›Logos‹ statt, der weder gegenständlich noch objekthaft gedacht werden kann. Damit reicht Barth am nächsten an Schellings

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Konzeption des ›absoluten Subjekts‹ bzw. der ›Weisheit‹ heran, auch wenn der Existenzphilosoph Schellings metaphysische Rahmung der Theo- und Kosmogenese und des damit verbundenen Abfallgeschehens so nicht teilt. Schellings spezifische Herausforderung eines Verhältnisses zwi­ schen dem endlichen Subjekt und der ebenfalls subjekthaft verfassten ›ewigen Freiheit‹, die durch eine gemeinsame Geschichtlichkeit unauf­ löslich miteinander verbunden sind und sich nur gegenseitig zur Selbster­ füllung verhelfen können, ist aufgrund ihres metaphysischen Gehaltes im nachmetaphysischen Zeitalter des 20. Jahrhunderts fragwürdig gewor­ den. Die selbstverständliche Rede von demjenigen, was in Kapitel II.3 als metaphysisch-kosmologische Rahmung von Schellings Systemkonzep­ tion bezeichnet wurde, also die Frage nach Theo- und Kosmogenese, der Geschichte der ewigen Freiheit und der Mitwissenschaft des Menschen, sind im Zeitalter des Nihilismus zu Begriffen geworden, die nicht mehr aus sich selbst heraus tragend und verständlich sind. Trotz der geänderten philosophiehistorischen Vorzeichen lassen sich gerade im Rückgriff auf Schellings Ansatz produktive Anregungen gewinnen, die insbesondere für die Methode einer ›aktiven Passivität‹ entscheidende Hinweise liefern. In Kapitel II der Arbeit wurde gezeigt, wie differenziert Schelling vor dem Hintergrund seines geschichtlichen Ansatzes und mithilfe des begrifflich fein ausgearbeiteten Instrumentariums klassischen Philoso­ phierens das Wechselverhältnis in der ›aktiven Passivität‹ darzustellen in der Lage ist. Mit seiner ›Theorie der Philosophie‹ liefert er die epistemisch fundierte Methode, die den Weg zur ›aktiven Passivität‹ als Vollzug einer transformierten Bezogenheit auf ein subjekthaft verfasstes Gegenüber kleinschrittig beschreibt. Gerade dieser methodisch hochdifferenzierte Zugriff auf die systematische Frage einer ›aktiven Passivität‹ ist es, der für die Weiterentwicklung der genannten Ansätze in der Moderne eine Inspirationsquelle bilden kann. Dies soll im Folgenden in einem skizzenhaften Ausblick für ein konkretes Feld aktueller Problemlagen – nämlich das in der ökologischen Krise zur Debatte stehende Verhältnis von Mensch und Natur – aufgezeigt werden.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

III.3 Ausblick: Die ›aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses In der Einleitung wurde der Anspruch formuliert, dass der hier ausge­ arbeitete Ansatz einer ›medial‹ verstandenen Subjektivität, wie sie sich aus der Kritik Schellings an einem einseitigen Subjektivitätsverständ­ nis entwickeln lässt, auch für aktuelle Fragen- und Problemstellungen fruchtbar gemacht werden kann. Im Besonderen ist dabei die ökologische Krise erwähnt worden, deren Ursprung in der neuzeitlichen, cartesisch geprägten Rationalität liegt, die die Natur lediglich als Konstruktion der selbstgenügsamen Subjektivität und nicht als Eigenwesen und damit gleichsam als ›Subjekt auf Augenhöhe‹ versteht. Der ebenfalls bereits in der Einleitung erwähnte Georg Picht hat dies in seiner 1973 gehaltenen Vorlesung Über den Begriff der Natur und seine Geschichte pointiert und provokant auf den Punkt gebracht,77 wenn er formuliert: Die Naturwissenschaftler können ihre Forschungen nur deshalb betrei­ ben, weil sie seit Galilei beschlossen haben, die unermeßlich schwierige Frage, was sie zu ihren Erkenntnissen befähigt, auszuklammern. Sie fragen nicht nach der Natur überhaupt, weil sie entdeckt haben, daß der Verzicht (darauf ), diese Frage zu stellen, ihnen den Spielraum gibt, sich unbefangen der Erforschung von Phänomenen innerhalb der Natur zu widmen. Das Problem: Was und wie ist das All überhaupt? Wie kann der Mensch vom All etwas erkennen? liegt in einem Bereich, für den sich heute niemand zuständig fühlt, denn auch die Philosophen haben seit dem Tod von Schelling vor dieser Frage aller Fragen kapituliert. Das hätte man so hingehen lassen können, wenn uns nicht heute drastisch vorgeführt würde, daß die Naturwissenschaft genau deshalb, weil sie nach dem Wesen von Natur nicht fragt, die Natur zerstört.78

Abgesehen davon, dass der Vorwurf gegenüber der modernen Naturwis­ senschaft in seiner Schärfe zu diskutieren wäre, ist der Befund von Picht klar: Dadurch, dass Natur nicht mehr vor dem Hintergrund einer metaphysischen Denkmöglichkeit derselben in den Blick genommen wird, die Natur ausdrücklich als Eigenwesen versteht, entsteht ein reduk­ tionistisches und damit am Ende des Tages zerstörerisch wirkendes Denken und Handeln. Klar ist auch der Befund, dass Picht in Schelling den letzten Protagonisten eines anders gearteten Naturverständnisses 77 78

Vgl. zu dieser Vorlesung Hoyningen-Huene 1997 sowie Schwaetzer 2019. Picht 1998, 4f.

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III.3 ›Aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses

sieht und sich dabei maßgeblich auf Schellings Naturphilosophie bezieht. Selbstverständlich ist Picht weder der erste noch der letzte Denker, der Schellings Naturverständnis zum Bezugspunkt für eine Kritik an einem reduktionistischen Naturbegriff anführt. Bekanntermaßen gab es gerade in den 1980er Jahren eine breitere Diskussion um den Beitrag Schellings79 und denjenigen der romantischen Naturphilosophie im Allgemeinen zu ökologischen Fragestellungen, die heute erneut aufgegriffen und intensiviert wird.80 Bezeichnend ist dabei, dass gerade in denjenigen Beiträgen, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte um das ›Anthropozän‹ auf Schelling zurückgreifen, dies nicht vornehmlich anhand seines naturphilosophischen Ansatzes geschieht. Hier werden vielmehr vor allem anthropologische und ethische Grundgedanken des Philosophen diskutiert, um für einen anderen Umgang des Menschen mit der Natur zu argumentieren.81 So vertritt Philipp Höfele die These, dass es in der aktuellen ökolo­ gischen Krise um eine faktisch vollzogene Depotenzierung der Subjekti­ vität geht, da dem Menschen angesichts der zunehmenden Anzahl und Stärke von Naturkatastrophen seine eigene Ohnmacht eindrücklich vor Augen geführt wird. Dennoch wäre es fatal, gerade in dieser Situation verantwortungsethische Dimensionen aufzugeben, so Höfele.82 Bezeich­ nenderweise führt Höfele hier Schelling und Adorno als Vertreter von Ansätzen einer Wechseldurchdringung von Mensch und Natürlichem an, die »gleichwohl einer völligen Entmachtung und Auflösung des Subjekts, wie sie in manchen posthumanistischen Visionen zu finden sind83 entgegenwirken«.84 In Abgrenzung dazu wird hier stattdessen eine Wechseldurchdringung von Mensch und Natürlichem angenommen, die die verantwortungsethischen Dimensionen dieser Durchdringung nicht aufgibt. Hier wird mithin nach einem Subjektivitätsverständnis gefragt, wie es in der Figur einer ›aktiven Passivität‹ herausgearbeitet wurde. An dieser Stelle scheint ein Anknüpfungspunkt für den Aktualitätsbezug dieser Figur gegeben zu sein, bei dem sich allerdings die Frage stellt nach der Legitimität eines Übertrags von einem Verhältnis des Menschen zum Absoluten, wie Schelling es beschreibt, auf die Mensch-Natur-Beziehung. 79 80 81 82 83 84

Vgl. exemplarisch Schmied-Kowarzik 1985. Vgl. Nassar 2014 und 2020; Pinsdorf 2020 sowie Höfele 2022. Höfele 2021b. Vgl. hierzu auch Hueck 2022. Vgl. hierzu Höfele 2021b, 276. Vgl. hierzu Braidotti/Hlavajova 2018. Höfele 2021b, 364.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

Lässt sich – so ist demnach in diesem abschließenden Ausblick zu fragen – die hier dargestellte ›aktive Passivität‹ als Figur eines gewandelten Subjektivitätsverständnisses auf das in der ökologischen Krise neu zu befragende Mensch-Natur-Verhältnis anwenden, auch wenn Schellings Ansatz in den Erlanger Vorlesungen offensichtlich im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Absolutem formuliert wurde? Und wie wäre eine solche ›Anwendung‹ zu denken, beruht sie doch auf der problematischen Annahme, dass Natur und Absolutes in ihrem Status parallel zu setzen wären? Es kann im Folgenden nicht darum gehen, diese Frage umfassend zu klären, sondern im Sinne eines Ausblicks lediglich den Horizont aufzuzeigen, vor dessen Hintergrund sie zu beantworten ist. Zunächst wird dabei erstens Schellings Thematisierung eines prob­ lematisch gewordenen Verhältnisses des Menschen zur Natur in den Erlanger Vorlesungen angezeigt. Von dort her wird deutlich, wie Schelling den oben ausführlich thematisierten Verkehrungszusammenhang von Mensch und Absolutem mit der Natur engführt, und dass insofern mindestens von Schelling her ein Übertrag der aktiven Passivität auf ökologische Fragestellungen nicht nur naheliegend, sondern geradezu geboten scheint. Daraufhin wird zweitens im Rückgriff auf das vorherige Kapitel deutlich werden, wie richtungsweisend die drei zuvor skizzier­ ten Ansätze einer ›aktiven Passivität‹ im 20. Jahrhundert für die hier aufgeworfene Frage sind. Denn auch wenn die von Schelling dargelegte metaphysische Auffassung der Natur als entfremdetes Absolutes in der Moderne so nicht mehr vertreten wird, wurde die Forderung nach Wah­ rung der Integrität eines autonomen und selbstgesetzlichen Gegenübers der Subjektivität in den drei referierten Ansätzen auf exemplarische Weise deutlich. Nach dieser Bezugnahme auf die Spielarten ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert wird abschließend der Bogen geschlagen zur aktuellen Debatte um das Mensch-Natur-Verhältnis im sogenannten ›Anthropozän‹ bzw. in der gegenwärtigen ökologischen Krise. Zunächst ist also festzuhalten, dass Schelling selbst in den Erlanger Vorlesungen den Bezug zur Natur herstellt. In der siebten Vorlesung bemerkt Schelling, dass die Natur dasjenige Feld ist, innerhalb dessen die sich selbst verfehlende ewige Freiheit, d.h. das im Verkehrungszusam­ menhang sich befindende Absolute, sich selbst wiederum sucht (vgl. AA II,10,1, 203). Insofern darf die Natur als eigentliche Erscheinungsform des Verkehrungszusammenhanges verstanden werden. In der Natur wirkt die ewige Freiheit, allerdings so, dass sie sich selbst nicht hat, sondern ihrer selbst ermangelt und sich insofern sucht. Zur Erinnerung sei hier angefügt, dass Schelling den Verkehrungszusammenhang des Absoluten

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III.3 ›Aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses

und den des Menschen in einem konstitutiven Bezug sieht, in dem sich beide wechselseitig bedingen. Insofern wird hier angedeutet, dass das Verhältnis des Menschen zum Absoluten auf intime Weise mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur zusammenhängt. Am Ende der elften Vorlesung mündet diese Andeutung in einer Verhältnisbestimmung von dem Absoluten als ewiger Freiheit und der Natur im Kontext der Selbsttransformation der Subjektivität. Hier zieht Schelling die Bilanz des bisher Vorgetragenen und greift dabei auf die entscheidenden Figuren der vorhergehenden Vorlesungen zurück: Den ewigen Streit im natürlichen Bewusstsein des Menschen sowie Selbst­ verlust und Suche der ewigen Freiheit im menschlichen Bewusstsein. Nachdem er einige Irrtümer des verkehrten Wissens des natürlichen Bewusstseins aufgezählt hat, kommt er auf den Hauptirrtum zu sprechen, der zugleich den Anlass für die Suche nach einer höheren Form des Wissens bildet: Die Trennung des Natürlichen vom Übernatürlichen (vgl. AA II,10,1, 260), die sich in der strikten Trennung von Materie und Geist, von Natur und Freiheit, ausdrückt. Damit weist er auf den Dualismus als Konsequenz des cartesisch geprägten neuzeitlichen Subjektivitätsverständnisses, der oben als Stein des Anstoßes für Schel­ lings Neukonzeption der Subjektivität angeführt wurde. Der Schmerz, bzw. die zuvor angeführte Verzweiflung über die Trennung sei es, der das Verlangen nach einem Heraustreten aus dem natürlichen Wissen entstehen lasse (vgl. AA II,10,1, 260). In seinem Rekurs auf die Irrtümer des Dualismus fasst Schelling das Verhältnis von Natur und Absolutem in einem kurzen Satz zusammen: »Die sich selbst entfremdete Freyheit Natur, die wieder in sich selbst zurückgewendete Natur ist Freyheit. Es bedarf bloß der Wiederumwendung« (AA II,10,1, 260). Natur ist in Schellings Verständnis demnach gleichzusetzen mit dem verkehrten Absoluten. Diese Gleichsetzung hängt mit dem Subjek­ tivitätsverständnis zusammen, das Schelling in den Erlanger Vorlesungen vertritt, und zwar insofern, als – wie oben gezeigt – sich auch im natürlichen, also diskursiven Bewusstsein des Menschen dieses verkehrte Absolute im endlichen Wissen ausspricht. Die vom sündentheologisch gedachten Fall herrührende Verkehrung des Absoluten wirkt sich unmit­ telbar im menschlichen Bewusstsein und in der Natur aus, – eine These Schellings, die jüngst in der Forschung als »Dependenz des Naturganzen vom menschlichen Bösen«85 beschrieben wurde. 85

Vgl. Höfele 2021b, 353f.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

Bereits in der Freiheitsschrift hatte Schelling die intelligible Tat als ein wirklichkeitsstiftendes Prinzip verstanden, das nicht nur die sittliche, sondern auch die ontologische Ordnung verkehrt und sich auf die gesamte Wirklichkeit erstreckt.86 Dieser spekulativ anspruchsvolle Zusammenhang der sündentheologischen Konzeption einer Urschuld des Menschen als wirklichkeitskonstituierender Grund für das Leiden in der Natur und in der Welt lässt sich nur vor dem Hintergrund der von Schelling vertretenen Korrelation von – klassisch gesprochen – Mikround Makrokosmos denken. Aus diesem Grund wirkt die Urdezision des Menschen außer und durch alle Zeit auch auf die Natur. Und aus diesem Grund ist es auch die Wiederumwendung des Subjekts in der Ekstasis, die eine ›Erlösung‹ bzw. eine Heilung der korrumpierten Natur ermöglichen kann. Schelling sieht im Menschen den Schauplatz, auf dem sich das Drama von Sündenfall und Erlösung der Welt abspielt. Weil es die unwiederbringliche Schuld des Menschen qua Menschsein ist, dass er durch seine unvordenkliche Selbstüberhebung die gesamte Natur mit in den Abgrund gerissen hat, in dessen Folge er die Natur lediglich als verdinglichtes Reservoir für seine Bedürfnisse ansieht, kann sein Ethos gegenüber der Natur nur darin bestehen, die Schuld durch eine radikale Transformation seiner selbst zu überwinden und damit zugleich die Natur aus ihrer Unterordnung zu erlösen. Wenn der Mensch zu einer grundlegenden Selbstverwandlung gelangt, in der er seine Bewusstseins­ form radikal ändert, sodass sich die Natur als sich selbst erkennende in seinem Bewusstsein aussprechen kann, dann erst wird das Erkennen der Natur als eines selbstlebendigen Subjektes gerecht. Es geht Schelling also darum, die Natur nicht als unlebendiges und dem Menschen verfügbares Objekt, sondern als widerständiges, selbst­ lebendiges und autonomes Subjekt zu fassen. Dazu bedarf es einer Form der Erkenntnis, die – so wie die Erkenntnis des Absoluten in den Erlanger Vorlesungen – nicht verobjektivierend ist, sondern in der das Erkannte vielmehr zu dem Sich-Aussprechenden wird, das vom erkennenden Bewusstsein vernommen bzw. wahrgenommen wird. Selbstverständlich ist es bezogen auf ein absolutes Subjekt nachvollziehbar, dass Verobjekti­ vierung notwendig Verfehlung desselben bedeutet. Und nachvollziehbar ist auch, dass eine Form dialogischer Erkenntnis, wie sie in Kapitel II.5.4 entwickelt wurde, zunächst nur zwischen Subjekten denkbar erscheint. Wie lässt sich dieses nun auf den Bereich des Natürlichen übertragen, 86

Vgl. Hermanni 2006, 205.

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III.3 ›Aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses

wenn zunächst nicht von einem Natur-Begriff ausgegangen wird, wie Schelling ihn innerhalb seiner metaphysisch geprägten Naturphiloso­ phie noch unproblematisch annehmen konnte? Hier wird der Bezug zu den im vorherigen Kapitel angeführten Positionen ›aktiver Passivität‹ im 20. Jahrhundert deutlich, denn dort geht es – mindestens bei Adorno und Günther Anders – ebenfalls darum, ein Anderes der Subjektivität so zu fassen, dass dieses Andere nicht gewaltvoll oder reduktiv seiner Eigenartigkeit beraubt wird. Die von Adorno angemahnte Hingabe an das Kunstwerk, der selbstlose Mitvollzug, der das Besondere und Nichtidentische nicht zugunsten eines allgemeinen Begriffs auflösen will, sondern sich diesem so öffnet, dass es sich ungemindert zeigen kann, weist darauf hin, dass auch das Kunstwerk als vermeintlich ›totes‹ Objekt eine Integrität besitzt, die in der Erkenntnis gewahrt oder eben nicht gewahrt werden kann. Das genuin Eigene dieses Objekts kann sich nur zeigen, wenn es in der Erkenntnis nicht überformt wird, wenn die Erkenntnis nicht bloß aktivisch den Begriff bildet, sondern vernehmend-rezeptiv die Eigenheit sich aussprechen lässt. Während die rezeptionsästhetischen Überlegun­ gen von Adorno sich auf die nicht-prozessuale Qualität bspw. eines Gemäldes beziehen, greift Günther Anders mit seinem Ansatz einer ›aktiven Passivität‹ im Mitvollzug der Musik auf eine Prozesskunst aus. Hier ist noch eindeutiger nachvollziehbar, warum ein statisches Gegenüber von Subjekt und ›Objekt‹ nicht möglich ist und somit eine rein verobjektivierende, diskursiv ›feststellende‹ Erkenntnis zu kurz greift, denn der Mitvollzug eines Prozesses bedarf eines Aufgebens statischer Gegenüberstellungen und eines Eintretens in eine Bewegung. In beiden Fällen wird für eine Haltung der Offenheit gegenüber einem Nicht-Subjekthaften – dem Kunstwerk und der Musik – argumentiert, die wie bei Schelling als ›aktive Passivität‹ gefasst wird. Begründet wird diese Haltung jeweils damit, dass eine Verobjektivierung entweder dem ›Objekt‹ nicht gerecht wird, oder schlicht aus dem Vollzug bspw. der Musik herausfällt und diese somit nicht erfassen kann. Die einzige Form, das Kunstwerk bzw. die Musik vollständig zu erkennen, ist durch eine Transformation des Erkenntnismodus und damit in gewissem Sinne durch eine Transformation des erkennenden Subjekts qua Vollzieher der Erkenntnis möglich. Dies angenommen ließe sich ausblickhaft fragen, inwiefern die differenzierte Darstellung des Prozesses des Wissens, mit der Schelling die epistemische Fundierung eines nicht-verobjektivierenden Prozessbe­ wusstseins liefert, eine Anregung sein könnte für eine adäquate, nicht-

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

reduktionistische und insofern ›gewaltfreie‹ Erkenntnishaltung gegen­ über der Natur. Wie könnte beispielsweise der Ansatz der ›aktiven Passivität‹ des Denkens bei Adorno oder der aktiv-passiv-neutrale Mit­ vollzug des Hörens bei Anders mithilfe von Schellings gewandeltem Reflexionsbegriff weiter ausgeführt werden? Davon ausgehend wäre zu bedenken, inwiefern die sich daraus ergebende Konzeption der Subjektivität, die sich nicht als in sich abgeschlossene Instanz versteht, sondern aus der Bezogenheit auf eine nichtobjektivierte Mitwelt der Natur sich konstituiert, einen geeigneten Ansatzpunkt liefert, um eine Philosophie der Subjektivität nach dem ›Tod des Subjekts‹ zu entwickeln, die die Natur als selbstlebendige Eigenwesenheit nicht überformt, son­ dern sich möglichst vollständig aussprechen lässt. Wie ist eine dialogische Subjektivität zu denken, die ihre Begründung nicht in sich selbst, sondern in der Natur und ihren Mitwesen findet und deren Selbstvollzug dennoch selbstbestimmt und selbstverantwortet zu nennen wäre? Mit Blick auf die Natur ließe sich diese Argumentation sowohl auf den unorganischen und damit zunächst statischen Bereich des Natürli­ chen als auch auf den organisch-prozessualen Bereich der lebendigen Natur, um den es gerade in der Debatte um die ökologische Krise vornehmlich geht, übertragen. Zwar ist die Kunst im Gegensatz zur Natur menschengeschaffen, ihre Integrität und Eigen-›Sinnigkeit‹, die sie gegenüber dem menschlichen Subjekt innehat, bedarf allerdings derselben Erkenntnishaltung, soll sie nicht als bloß zuhandene Ressource aufgefasst werden. Auch dies leistet entwickelte Haltung der ›aktiven Passivität‹, die mit einer Subjektivitätsauffassung einhergeht, die sich gerade nicht durch ein Machtgefälle und durch eine rigorose Abgren­ zung gegenüber dem Objekt konstituiert, sondern aus einer holistisch verstandenen dialogischen Wechselbeziehung von Mensch und Natur sich speist. Dabei ist zu begrüßen, dass in der aktuellen Debatte um das sogenannte ›Anthropozän‹87 angesichts der unwiederbringlichen Verän­ 87 Der Begriff »Anthropozän« wurde im Jahr 2000 von dem Meteorologen Paul J. Crutzen und dem Biologen Eugene Stoermer zwar nicht erfunden, aber wirkmächtig in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Vgl. Crutzen/Stoermer 2000. Er soll eine geolo­ gische Epoche bezeichnen, in der der Mensch zum wichtigsten globalen Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde geworden ist. Die Pointe liegt dabei nicht nur in der Reichweite und im Ausmaß des menschlichen Einflusses auf die natürlichen Prozesse, sondern zudem in der Irreversibilität der Folgen menschlichen Handelns. Crutzen und Stoermer vertreten die These, dass das Holozän mit seinen stabilen klimatischen Bedingungen zu einem Ende gekommen sei und durch das

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III.3 ›Aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses

derungen der Natur durch den Einfluss des Menschen das cartesische Weltbild und mit ihm die Beziehung von Mensch und Natur neu befragt werden. Als Ergebnis dieser Befragung ergibt sich, dass auf der einen Seite das Idealbild einer unberührten Natur im Sinne eines romantischen Rousseauismus nicht mehr greift, da es durch den durchgreifenden und nicht rückgängig zu machenden menschlichen Einfluss auf die Natur eine von der menschlichen Kultur abgetrennte Sphäre des ausschließlich Natürlichen nicht mehr zu geben scheint. Auf der anderen Seite ist die Sphäre menschlicher Kultur immer schon auf die Natur verwiesen, weil der Mensch mit der Reichweite seines heutigen Handelns »im Verfügen über die Natur […] zugleich über die Bedingungen seines eigenen Lebens«88 verfügt. Das Problem liegt hier nun allerdings darin, dass das Kind gleichsam mit dem Bade ausgeschüttet wird: Indem näm­ lich die problematische Trennung von Mensch und Natur als überholt erkannt wird, kippt die Debatte in das gegenteilige Extrem, bei dem eine vorschnelle Überblendung der Sphären von Natur und Kultur stattfindet, die zu zwei extremen Positionen führen kann, die in der Anthropozän-Debatte eine nicht unwichtige Rolle spielen: Die erste Position könnte man mit dem Schlagwort »Homonisie­ rung der Welt« kennzeichnen. Ihr Argument ist folgendes: Wenn es keine natürliche Natur mehr gibt, dann ist die Frage, ob ein grundlegender Eingriff des Menschen in die Natur vertretbar ist oder nicht, ebenfalls obsolet. Ganz im Gegenteil wird die Verantwortung des Menschen gerade in dem Hervorbringen neuer Technologien verstanden, die in der Lage sind, einen »neuen Planeten« zu erschaffen. Vertreter dieser Auffassung sprechen von dem Beginn einer »Neuro-Geologie«, von einer »bio-kulturellen Evolution«, in der der Mensch zum »Züchter« einer »Menschen-Welt« avanciert.89 Statt ein machtfreies Verhältnis von Mensch und Natur anzustreben, wird auf der Grundlage einer ungehemmten Machtstellung des Menschen eine völlige Technisierung des Planeten legitimiert. Die zweite Position lässt sich mit der Debatte um einen ›Posthuma­ nismus‹ in Zusammenhang bringen: Weil der Mensch sich im ›Anthro­ Anthropozän abgelöst wurde. Obwohl der Begriff stark umstritten ist, hat er in den letzten Jahren eine erstaunliche Resonanz quer durch die Disziplinen erfahren. Vgl. auch Steffen et. al. 2011 und Crutzen 2002 sowie allgemein zur Anthropozän-Debatte exemplarisch Ehlers 2008, Kersten 2014, Manemann 2014 und Bajohr 2020. 88 Picht 1989, 94. 89 Vgl. für diese Auffassung exemplarisch Schwägerl 2012.

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

pozän‹ als völlig ungenügend, wenn nicht sogar fehlerhaft und deshalb zerstörerisch herausgestellt hat, müsse er überwunden werden.90 Techni­ sche Prozesse und künstliche Intelligenz sollen die Kontingenz, die allem menschlichen Leben durch seine Sterblichkeit zukommt, aufheben. Der Ohnmacht des fehlerhaften Menschen wird eine Überwindung durch das technologische Versprechen vorausgesagt. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich beide Positionen – ob sie nun auf der Grundlage der Macht oder der Ohnmacht des Menschen argumentieren – als Nivellierung der Unterschiede von Natur und Kultur. Sowohl die Natürlichkeit der Natur als auch die des Menschen hat in beiden Extrempositionen keinen Platz. Die Frage, die dabei entstehen kann, ist folgende: Lässt sich ein machtfreies Wechselverhältnis von Natur und Kultur innerhalb einer holistischen Weltauffassung denken, das gleichwohl die spannungsreichen Unterschiede beider Instanzen nicht nivelliert, sondern sich vielmehr gerade aus ihnen speist? Das also weder die Eigenheit und Integrität der Natur noch die Autonomie des Subjektes negiert? Hier kommt nun die Figur der ›aktiven Passivität‹ zum Tragen, denn ich meine, dass sich die grundlegende Kritik Schellings an einem einseitigen Subjektivitätsbegriff, dessen Neukonzeption er in der Bezogenheit des Subjektes auf das Absolute in den Erlanger Vorlesun­ gen entwickelt, als struktur-analoge Figur nicht nur, wie von Adorno und Anders durchgeführt, auf rezeptionsästhetische Fragen beziehen, sondern gerade auch auf das Problem des Verhältnisses von Mensch und Natur – zumal von Mensch und lebendig-organischer Natur – übertragen lässt. Auch hier ist das Verhältnis gekennzeichnet durch eine grundle­ gende Entzogenheit der Natur: Als Produktnatur (natura naturata) lässt sie sich zwar im Labor untersuchen und mithilfe der Technik manipulieren, aber das, was als Leben den Kern der lebendigen Natur (natura naturans) ausmacht, ist dem analytisch-diskursiven Denken immer schon entglitten, wenn es mit seinen Untersuchungen ansetzt. Bezüglich der Makro-Ebene des gesamten Ökosystems lässt sich ebenfalls eine systematische Entzogenheit für das erkennende und handelnde Sub­ jekt feststellen. Timothy Morton bringt das in seinem Aufsatz »Dunkle Ökologie« folgendermaßen auf den Punkt: Er argumentiert, dass der Einzelne beim Drehen des Zündschlüssels eines Autos weder die Absicht habe, den Planeten zu zerstören, noch der Erde zu schaden, weil die Handlung an sich statistisch unbedeutend ist. Gleichzeitig muss er sich 90

Vgl. More 1993.

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III.3 ›Aktive Passivität‹ und die aktuelle Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses

eingestehen: sobald er den Maßstab der Aktion so vergrößere, dass er Milliarden von Schlüsselumdrehungen umfasst, schadet sie der Erde und macht ihn (mit-)verantwortlich für das Anthropozän.91 Dass ich dieses Ausmaß in der tagtäglichen Handlung nicht unmittelbar überblicken kann, schreibt Morton der »Dunkelheit des ökologischen Bewusstseins« zu. Mit Günther Anders könnte man auch von der »Überschwelligkeit« der Phänomene sprechen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich das Erfassen ihrer Ganzheit unseren Erkenntnismöglichkeiten entzieht.92 Auch hier bleibt das menschliche Subjekt bei aller zunächst gegebe­ nen Entzogenheit der Natur dennoch konstitutiv auf dieselbe bezogen. Auch hier wird deutlich, dass der verobjektivierende Zugriff einen Zirkel in Gang setzt, in dem sich der Mensch immer weiter zu verstricken scheint, solange er nicht eine andere Haltung gegenüber der Natur als dem Grund seiner Existenz einzunehmen in der Lage ist. Auch hier bedarf es einer Selbstbescheidung des Subjektes und einer kategoriell anderen Art des Zugriffs auf die Natur, die der konstitutiven Wechselwir­ kung von Mensch und Natur Rechnung trägt, ohne die Eigenständigkeit beider Instanzen zu verwischen. Meine These lautet also, dass sich die von Schelling profilierte Haltung ›aktiver Passivität‹, die das erkennende Subjekt mithilfe seiner Dezentrierung in der »Ekstase des Ich« einnehmen kann, fruchtbar machen lässt für ein dialogisches Mensch-Natur-Verhältnis. So kann der Mensch sich offen halten für eine Pluralität von Naturwahrnehmungen, die sich weder der Illusion einer unverbrüchlichen Machtstellung gegen­ über der Natur noch einer fatalistischen Ohnmachtsbekundung ver­ schreiben. Entscheidend ist hierbei, dass das dialogische Mensch-Natur-Ver­ hältnis seine Grundlage hat in einer Bewusstseinstransformation des Menschen: Eine Ökologie der Natur in diesem Kontext ist nicht zu erreichen, ohne eine ›Ökologie des Bewusstseins‹. Es gilt, die Bewusst­ seinsform der Natur so anzuverwandeln, dass eine lebendige Beziehung, ein ungehindertes Sich-Aussprechen stattfinden kann, ganz im Sinne des von Schelling mehrfach angeführten Simile-Prinzip des Empedokles, nach dem Gleiches nur durch Gleiches erkannt werde (vgl. AA II,10,1,

Morton schließt aus dieser Reflexion: »Ich bin der Detektiv und der Kriminelle. Ein und dieselbe Person. Und ich bin Teil einer Entität, die nun eine geophysische Kraft von planetarem Ausmaß ist.« Morton 2016, 255. 92 Anders 1985, 161f. 91

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III. Die Frage nach Selbsttransformation der Subjektivität nach Schelling

188). Die Erkenntnis des Lebendigen in der Natur ist abhängig von der Verlebendigung des Erkennens.

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Literatur

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WA

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. Manfred Schröter. München 1946.  

Plitt I/II/III Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Aus Schellings Leben. In Briefen, 3 Bde., hg. v. Gustav L. Plitt. Leipzig 1869–1870. Fuhrmanns Briefe I/II/III

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Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, I. Abteilung: Werke (Bd. 1–9); II. Abteilung: Briefwechsel (Bd.10–13); III. Abteilung: Nach­ laß (Bd. 14–23); IV. Abteilung: Vorlesungen (Bd. 24–29), hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff.

KpV

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KrV

Kritik der reinen Vernunft, AA 4 (1. Aufl.); AA 3 (2. Aufl.).

KU

Kritik der Urtheilskraft, AA 5.

MAN

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Rel.

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c) Fichte: GA

Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, I. Werke; II. Nachgelassene Schriften; III. Briefe; IV. Kollegnachschriften, hg. v. der Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cann­ statt 1962–2012.

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NL

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f ) Barth: KV

Barth, Heinrich 1957: »Die Krisis der Vernunft«. In: Reformatio, 614–627.

EE

Barth, Heinrich 1965: Erkenntnis der Existenz. Grundlinien einer philosophischen Systematik. Basel.

AH

Barth, Heinrich 1667: Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik. Abhandlungen. Basel/Stuttgart.

GPhE

Barth, Heinrich 2007: Grundriß einer Philosophie der Exis­ tenz. Regensburg.

A

Barth Heinrich 2019: Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins. Regensburg.

Barth, Heinrich 1926: »Kierkegaard, der Denker. Vier Vorlesungen«. In: Zwischen den Zeiten 4, 194–243.

g) Heidegger: HGA

Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. I: Veröffentlichte Schriften 1910–1976 (= Bd. 1–16); Abt. II: Vorlesungen 1919–1944 (= Bd. 17– 63); Abt. III: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedach­ tes (= Bd. 64–81); Abt. IV: Hinweise und Aufzeichnungen (= Bd. 82–102). Frankfurt a.M. 1975ff.

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h) Weitere Siglen: DW

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Feuerbach, Ludwig 1990: »Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie«. In: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. Werner Schuffenhauer. Berlin.

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Heraklit 1951: »Fragmente«. In: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch, Bd. 1, bearb. v. Hermann Diels, hg. v. Wal­ ther Kranz. 6. Aufl., Berlin.

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Horkheimer, Max 1987: Gesammelte Schriften Band 5: ›Dialektik der Aufklärung‹ und Schriften 1940–1950. Frankfurt a.M.

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Nietzsche, Friedrich 1980: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus­ gabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München/New York.

NA

Schiller, Friedrich 1943ff.: Schillers Werke. Nationalaus­ gabe. Weimar.

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Schlegel, Friedrich 1967ff.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn.

KGA

Schleiermacher, Friedrich 1980 ff.: Kritische Gesamtausgabe. Ber­ lin/New York.

ZA

Schopenhauer, Arthur 1977: Werke in zehn Bänden. Zürich.

i) Weitere Primärliteratur: Anders, Günther 1985: Die Antiquiertheit des Menschen, 1. Band. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München. – 2017: Musikphilosophische Schriften. Texte und Dokumente. München. Arendt, Hannah 2006: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München.

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1. Primärliteratur

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Literatur

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2. Forschungsliteratur

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Literatur

– 2011: »›... in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabenen Beziehung‹. Die Bildung des Intellekts bei Cusanus und im deutschen Idealismus«. In: Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, hg. v. Harald Schwaetzer/Marie-Anne Vannier. Münster, 147–156. – 2019: »Natur, Geist, Existenz – Horizonte einer Naturphilosophie. In Anlehnung an Georg Picht«. In: Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte 10, 337–362. – 2020: »Schellings Freiheitsschrift und Baaders Beiträge zur dynamischen Philoso­ phie«. In: Mystik und Idealismus: Eine Lichtung des deutschen Waldes, hg. v. Andrés Quero-Sanchez. Leiden, 416–435. Schwenzfeuer, Sebastian 2012: Natur und Subjekt. Die Grundlegung der schelling­ schen Naturphilosophie. Freiburg/München (Beiträge zur Schelling-Forschung 3). – 2013: »Überwindung des Anthropozentrismus. Schellings Bedeutung für die moderne Naturethik«. In: Die Natur denken, hg. v. Myriam Gerhard/Christine Zunke. Würzburg, 191–209. Seel, Martin 2014: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste. Frankfurt a.M. Shestakova, Julia 2012: Philosophie als Erinnerung. Dimensionen des Erinnerungsbe­ griffs im Anschluss an Schelling. Berlin. Stahl, Henrike 2019: Sophia im denken Vladimir Solovʼevs. Eine ästhetische Rekon­ struktion. Münster. Steffen, Will/Grinevald, Jaques/Crutzen, Paul/McNeill, John 2001: »The Anthro­ pocene: conceptual and historical perspectives«. In: Philosophical Transactions (Series A) 369, 842–867. Steinrück, Martin 2003: »Das Medium im Altgriechischen und das Beispiel des ›Gebärens/Zeugens‹«. In: Bulletin der Heinrich Barth-Gesellschaft, Nr. 9, 4–12. Stolzenberg, Jürgen 1986: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwick­ lung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart. Theunissen, Michael 1991: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M. Tiedemann, Dieterich 1793: Geist der spekulativen Philosophie. Dritter Band, welcher von der neuern Akademie bis auf die Araber geht. Marburg. Tilliette, Xavier 1970: Une philosophie en devenir. 2 Bde. Paris. – 1974–1997: Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen. 5 Bde. Torino und Mailand. – 2004: Schelling. Biographie. Stuttgart. – 2015: Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt. Vattimo, Gianni 2016: Of Reality. The purpose of Philosophy. New York. Völmicke, Elke 2005: Das Unbewußte im Deutschen Idealismus. Würzburg. Vogt, Markus 2016: »Humanökologie«. In: Die Welt im Anthropozän, hg. v. Wolfgang Haber/Martin Held/Markus Vogt. München, 93–104. Waibel, Violetta 2000: Hölderlin und Fichte 1794–1800. Paderborn. – 2020: System der Systemlosigkeit. Erster Teil: Die ›Fichte-Studien‹ Friedrich von Hardenbergs. Denkwerkstatt im philosophischen Kontext von Kant und Fichte. Zweiter Teil: Ein philosophisch-systematischer Kommentar der ›Fichte-Studien‹ Friedrich von Hardenbergs. Paderborn.

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2. Forschungsliteratur

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Namensregister

Adolphi, R. 11, 20, 21, 25, 207 Adorno, T. W. 7, 256, 264–266, 268–273, 277, 281, 282, 285, 289, 290, 292 Anders, G. 269, 273–277, 281, 282, 289, 290, 292, 293 Arendt, H. 246 Aristoteles 121, 141, 148 Asmuth, C. 45 Atterbom, P. D. A. 149, 189 Augustinus 34, 194, 246, 269, 279–281 Baader, F. 48, 50, 143, 146, 147, 176, 180–182, 187–190, 209, 216 Bach, T. 85 Bacon, F. 32, 34, 147 Bajohr, H. 291 Barth, H. 7, 269, 277–282 Baumgartner, H. M. 11 Beierwaltes, W. 19, 112, 181, 184, 185, 188 Berg, F. 183 Bilda, A. 15, 88, 104, 132 Binkelmann, C. 222 Blumenbach, J. F. 85 Böhme, J. 49–51, 111, 125, 143, 144, 146, 176, 181, 186, 188 Bonchino, A. 190 Bracken, J. 15, 16 Braidotti, R. 285 Bredekamp, H. 271 Breidbach, O. 85

Bruchmann, F. 68 Bruno, G. 34, 179 Buchheim, T. 10, 49, 175 Buffon, G.-L. L. 85 Busch, K. 268 Butzer, G. 246 Carus, C. G. 85 Cassirer, E. 2 Challiol-Gillet, M.-C. 18 Courtine, J.-F. 18 Cousin, V. 184, 207 Creuzer, F. 184 Crutzen, P. J. 290, 291 Cusanus/Nikolaus von Kues 34, 164, 199 Cusinato, G. 18 Derrida, J. 268 Descartes, R. 1, 28, 32–36, 38, 39, 44, 58, 262 Destrée, P. 241 Diner, D. 266 Dionysius 112, 151 Draxler, H. 268 Durner, M. 15, 16, 18, 19, 69, 83, 165, 167, 169, 244 Eckhart 110–113, 147, 152, 254 Egloff, L. 53, 87, 123, 126, 141, 168, 170, 176, 222, 239 Ehlers, E. 291 Ellensohn, R. 269 Empedokles 141, 142, 293

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Namensregister

Enderlein, F. L. 15, 26, 66, 69, 75, 77, 79, 95–97, 105, 106, 139 Endres, M. 271 Erasmus, D. 34 Eschenmayer, K. A. 46, 49, 50, 52, 149, 167, 168, 171, 193 Evers, M. 85 Ewertowski, J. 166 Fambach 173 Feuerbach, L. 173 Fichte, J. G. 5, 10, 16, 28, 32–34, 37–48, 52, 53, 58, 61, 65, 69, 72, 76–80, 83, 85, 86, 90, 93, 97–99, 105, 117, 119, 120, 122, 150, 156, 164–166, 168–170, 172, 173, 177, 183, 193, 253, 262 Ficino, M. 183, 184 Förster, E. 38, 85, 170 Foucault, M. 3 Frank, M. 5, 38, 39 Franz, M. 66 Fuhrmanns, H. 15, 16, 26, 64, 68, 69, 77 Gabriel, M. 132 Georgii, E. F. 98, 141 Goethe, J. W. 47, 85, 86, 170 Gourdain, S. 18 Graf, C. 278 Groß, P. 268, 273 Grotsch, K. 12, 62, 162 Grün, K.-J. 42, 86 Haas, A. 152 Habermas, J. 16, 123, 265 Halfwassen, J. 112, 181 Haller, A. 85 Hamann, J. G. 138, 204, 254 Hartkopf, W. 240

Hegel, G. W. F. 16, 18, 33, 37, 48, 49, 56, 58, 77, 78, 80, 83, 86, 90–94, 138, 153, 171, 173–176, 178, 184, 189, 207, 231, 235–238, 240, 242, 243, 272 Heidegger, M. 132, 146, 264, 267, 269, 274 Helander, B. 164 Henrich, D. 31, 38–40, 150 Heraklit 80, 92 Herder, J. G. 254 Hermanni, F. 10, 49, 52–54, 122–124, 126, 288 Hlavajova, M. 285 Höfele, P. 3, 11, 14, 15, 21, 22, 114, 115, 265, 285, 287 Höffe, O. 53 Hogrebe, W. 93, 161 Hölderlin, F. 5, 39, 40, 80 Hölscher, U. 80 Holz, H. 15, 16, 111, 181 Horkheimer, M. 256, 264–266 Hösle, V. 1, 35 Hoyningen-Huene, P. 284 Hueck, J. 179, 209, 237, 278, 285 Hühn, L. 5, 11, 15, 16, 18, 19, 23–25, 34, 38, 39, 41, 42, 52–54, 56, 58, 68, 81, 83, 105, 107, 114, 118, 122, 125, 127, 132, 134, 141, 150, 151, 153, 156, 157, 160, 163, 164, 166, 167, 169, 172, 175, 194–196, 201, 237, 240, 265 Humboldt, A. v. 47, 85 Humboldt, W. v. 69 Hume, D. 32, 34 Husserl, E. 268 Hutter, A. 90 Iber, C. 5, 16, 19, 21, 81 Jacobi, F. H. 33, 36, 40, 49, 138, 142, 149, 159, 160, 177, 193, 254, 255

314 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Namensregister

Jacobs, W. 11, 49 Jaeggi, R. 265 Jahnke, W. 201 Jantzen, J. 49 Jung, C. 111, 112

Müller-Bergen, A.-L. 80, 184

Kant, I. 8, 10, 28, 32–40, 44, 51–53, 58, 61, 69, 75, 81, 84–87, 89, 90, 99, 105, 120, 122, 154, 160, 165, 166, 170, 172, 173, 183, 221, 222, 233, 235, 236, 240, 253, 262, 269, 272, 277, 278 Kern, U. 113 Kersten, J. 291 Khittl, C. 277 Kierkegaard, S. 56, 240, 269, 278 Kleine, S. 216 Koch, D. 151 Köppen, F. 173 Koslowski, P. 49 Krings, H. 49, 94 Küppers, B.-O. 85 Lanfranconi, A. 15, 16, 68, 195 Lee, J.-H. 15–17, 49, 119 Leibnitz, G. W. 49 Leinkauf, T. 80, 109, 110, 179, 184, 185, 187 Lévinas, E. 268 Locke, J. 32, 34 Loer, B. 15, 16, 120, 125 Luhmann, N. 92 Lyotard, J.-F. 3 Mahnke, F. 146 Manemann, J. 291 Mine, H. 138 Moiso, F. 156, 198 Molitor, F. J. 130 Montaigne, M. 34 More, M. 292 Morton, T. 292, 293

Nagl-Docekal, H. 3 Nassar, D. 170, 285 Nicolai, F. 173 Nietzsche, F. 3, 264 Novalis 5, 84, 183 O’Brien, D. 141 Oesterle, G. 244 Oetinger, F. C. 48, 50, 111, 125, 130, 138, 176, 178, 181, 188, 254 Ohashi, R. 15, 16, 18 Ohly, K. 138 Pareyson, L. 267 Peetz, S. 15, 24, 25, 142 Picht, G. 1, 284, 285, 291 Piepmeier, R. 138 Pinsdorf, C. 285 Piper, A. 53 Platon 24, 45, 67, 109, 110, 125, 153, 179, 201, 205, 209, 241, 243–246, 269, 277 Plessner, H. 273 Plotin 180–187, 196 Proklos 184 Putt, S. 113 Quero-Sanchez, A. 111, 112 Rang, B. 172 Reinhold, C. L. 76, 79, 98 Reuter, C. 204 Röd, W. 35 Rosenroth, C. K. v. 130 Sandkaulen-Bock, B. 31, 49 Sandkühler, H. J. 85, 94 Scheier, C.-A. 84 Scheler, M. 273 Schiller, F. 9, 201, 253

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Namensregister

Schlegel, F. 50, 173, 183, 244 Schleiermacher, F. 80, 244 Schmidt, A. 39 Schmidt-Biggemann, W. 49 Schmied-Kowarzik, W. 14, 16, 285 Schopenhauer, A. 21, 114, 237 Schrödter, H. 116 Schubert, G. H. 63, 111 Schulte, C. 130 Schulz, W. 5, 11, 15, 16, 19, 22, 23, 25, 44, 53, 81, 164, 165, 206, 250, 253 Schwab, P. 10, 41, 48–50, 73, 74, 78, 86, 90, 92, 167, 174–176, 240, 278 Schwaetzer, H. 50, 66, 164, 179, 182, 188, 189, 199, 278, 284 Schwägerl, C. 291 Schwenzfeuer, S. 14, 82, 114, 245 Seel, M. 7, 270 Sextus Empiricus 141, 142 Shestakova, J. 244, 247 Silesius, A. 111 Smith, N. 241 Spinoza, B. d. 85, 86, 103, 129, 150, 152, 166, 183, 211

Stahl, H. 144 Steffen, W. 291 Steffens, H. 47, 85 Steinrück, M. 280 Stoermer, E. 290 Tauler, J. 110–113, 152 Theunissen, M. 201 Tiedemann, D. 182–184 Tilliette, X. 16, 18, 49, 164, 174, 178, 181 Troxler, I. P. V. 85 Vattimo, G. 267 Vetter, H. 3 Waibel, V. 39, 84 Wieland, W. 201, 203 Windischmann, K. J. H. 50, 183 Wolff, C. 85 Wulf, S. 164 Ziche, P. 99, 172, 254 Zima, P. 3 Zimmermann, R. 266 Zovko, M.-E. 48, 50, 52, 181, 188, 189

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Sachregister

Absolutes 10, 12, 14, 17, 18, 21–23, 25, 28, 29, 33, 40, 41, 43–47, 49, 50, 52, 55, 64, 67, 69, 71, 72, 74, 80–83, 100–102, 106, 109–111, 113–123, 125, 128–130, 133, 134, 136, 138, 141, 142, 145, 147, 151–153, 157, 161–164, 172–176, 179, 181–184, 186, 187, 190, 193, 195–201, 203–206, 211–213, 217, 219, 227, 228, 233, 242, 247, 249–252, 262, 263, 265, 266, 269, 277, 279, 285–288, 292 Akme 209–211, 213, 238 Aktive Passivität 7–9, 14, 15, 21, 29, 130, 136, 137, 142, 147, 192, 204, 206, 248, 253, 258, 260–263, 267–271, 273, 280–286, 289, 290, 292 Anschauung, intellektuelle 12, 13, 18, 19, 29, 37, 38, 41, 42, 62, 67, 85, 152, 162–180, 183, 185, 187, 191–195, 198, 199, 201, 205 Bewusstsein 1, 5, 8, 11–13, 18, 20, 29, 33, 35, 38–40, 43–45, 47, 56–58, 68, 72, 102, 104, 114, 117, 131, 133–136, 141, 147, 154, 155, 158, 163–165, 167, 170, 172, 176–178, 193, 195–200, 202, 203, 211, 212, 214, 215, 217–221, 224, 227, 229–236, 241, 243, 246–252, 254, 257–260, 270, 271, 282, 287, 288, 293 Böses 10, 17–19, 28, 48, 49, 51–58, 72, 74, 75, 82, 87, 89, 110, 121, 122, 145, 159, 192, 193, 196, 199, 203, 207, 241, 246, 279, 287

Denken – freies 158, 227, 232, 234–236, 242, 243, 252, 257 – reines 168 Dialektik 18, 49, 177, 178, 206, 207, 218, 237–243, 245, 247, 249, 256, 264, 265 Dialogik 238, 243 Dynamik 34, 37, 38, 62, 71, 75, 84, 86, 88–92, 94–97, 99, 100, 103, 109, 110, 116, 117, 119, 128, 129, 132, 135, 144, 171, 228, 230–232, 238, 242, 269 Ekstasis 12, 13, 16–19, 21, 23–25, 29, 62, 64, 65, 121, 157, 161–163, 167, 174, 175, 179–183, 185–187, 189–205, 208, 211–215, 217–219, 221, 225, 227, 231, 232, 234, 236, 238, 239, 241–244, 246, 248, 249, 251–253, 255, 266, 288 Entzug 73, 107, 147, 219, 252, 256, 266 – Entzogenheit 10, 12, 62, 71, 73, 89, 96, 100–102, 104, 107, 127, 129, 132, 142, 144, 151, 156, 162, 163, 196, 198, 218, 220, 249, 257, 263, 266, 292, 293 Erinnerung 140, 142, 151, 178, 206, 215, 216, 218, 239, 241, 243–245, 247, 248, 250, 286 – Anamnesis 239, 243–245 Existenz 16, 25, 35, 46, 68, 100, 122, 128, 130, 144, 187, 193, 237, 261, 267, 269, 274, 276, 278–281, 293 Freiheit 10, 28, 40, 42, 45, 50, 53–55, 58, 62, 71, 82, 84, 87, 93, 105, 115, 116, 118–124, 126, 127, 129, 131, 135,

317 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Sachregister

143, 145, 149, 150, 165, 169, 176, 188, 192, 194, 199, 208, 210, 211, 213, 218, 220, 222, 224, 229, 233, 234, 237, 240, 251, 252, 257–259, 263, 265, 273, 279, 281, 287 – absolute 21, 24, 164, 181, 249 – ewige 29, 70, 71, 74, 77, 88, 101, 105–108, 110, 112–128, 131–136, 140–145, 147, 148, 151, 152, 154–158, 160, 163, 196–198, 209, 212–214, 216–221, 224, 226–232, 234–236, 242, 244, 247, 248, 250, 252, 255, 258, 260, 283, 286, 287 Gott 35, 46, 50, 51, 54, 57, 58, 69, 106, 111, 112, 122, 123, 125, 128–131, 141, 142, 144, 146, 150–152, 172, 177, 182, 185, 189, 202, 206–208, 211, 222, 223, 234, 265, 279, 280 Ineinsgehen 9, 186, 187, 189, 228, 231 Krise, ökologische 1, 3, 13, 14, 256, 261, 283–286, 290 Krisis 6, 13, 17, 22, 24, 25, 27, 32, 39, 102, 121, 137, 143, 147, 148, 151, 155, 159, 160, 162, 173, 187, 191, 196, 201–203, 207, 209, 210, 212, 214, 217, 225, 239, 241, 246, 249, 251, 255, 281 Lassen 21, 68, 99, 152, 153, 255 – Gelassenheit 47, 111, 113, 115, 131, 137, 152, 254 Liebe 47, 144, 178, 220, 228, 251 Medium 22, 23, 68, 172, 251–253, 259, 269, 276, 280, 282 – Medialität 9, 224, 248, 252, 253 Mitwissenschaft 12, 100, 137–141, 143, 145–147, 178, 179, 201, 238, 239, 245, 247, 283

87, 93, 97, 99, 114, 124, 128–131, 139, 140, 144, 147, 153, 159, 160, 166–171, 178, 184, 188, 195, 201, 207, 208, 211, 222, 224, 229, 232–234, 244, 245, 247, 256, 260, 261, 263–266, 276, 283–288, 290–293 – natura naturans 15, 42, 92, 114, 166, 169, 171, 233, 292 – natura naturata 92, 233, 292 Organismus 8, 76, 77, 84–87, 89, 91, 92, 99, 124, 189, 197, 201, 202, 204, 206, 208, 217, 219 Persönlichkeit 25, 56, 106, 189, 260 Prinzip 10, 20–22, 40, 41, 46, 47, 52–54, 56, 58, 62, 72–75, 79, 80, 83, 88–90, 92–95, 100, 105–107, 110, 113, 120, 122, 123, 131, 132, 134, 135, 139–141, 144, 146–148, 153, 156, 164, 166, 169, 170, 172, 176–178, 189, 192, 193, 207, 219, 223, 230, 234, 238, 252, 254, 255, 278, 288, 293 – Systemprinzip 17, 24, 29, 70–75, 77, 79, 83, 84, 86–88, 90, 91, 93–96, 100, 101, 103–106, 115, 118, 131–133, 142, 145, 253, 271 Reflexion 13, 18, 41, 44, 70, 117, 165, 169, 185, 213, 226, 227, 229, 230, 235, 236, 238, 240, 247, 250, 258, 259, 293 Selbstbewusstsein 1, 18, 19, 33, 38, 39, 41, 82, 89, 120, 166, 168, 187, 193, 195–197, 203, 219, 229, 242, 244, 256 Selbsttransformation 6, 7, 10, 11, 14, 23–25, 27, 28, 33, 37, 55, 58, 61–63, 65, 68–71, 84, 89, 95, 96, 100–102, 147, 148, 161–163, 192, 200, 203, 246, 248, 253, 258, 260–262, 266, 277, 287

Natur 1–6, 8, 13, 14, 19, 23, 27–29, 33, 35, 37, 41, 42, 44, 46, 47, 50, 51, 54, 57, 65, 66, 70, 72, 81, 82, 85,

318 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Sachregister

Streit 44, 69, 79, 81–83, 126, 130, 159, 209, 221, 222, 233, 287 – Widerstreit 79–82, 90, 91, 130, 159, 202, 224 – Widerstreitendes 78, 79, 91 Subjekt – absolutes 101, 104, 111, 133, 151, 157, 158, 186, 187, 192, 194, 197, 199, 200, 204, 213–215, 217, 219, 221, 225, 230–232, 234, 236, 242, 247, 249, 250, 252, 259, 283, 288 – erkennendes 58, 61, 84, 89, 95–97, 100–102, 104, 115, 118, 127, 133–135, 150, 151, 154, 156–158, 162, 186, 196, 198–200, 204, 212–215, 217, 219, 226, 228, 230, 232, 234–236, 243, 247, 249–251, 257–259, 293 Subjektivität 2–14, 16, 17, 19–29, 32, 34–36, 38–41, 43–47, 53–55, 57, 58, 61, 62, 64, 65, 68–72, 92, 93, 95, 96, 100–102, 114, 134–137, 147–152, 157, 161–168, 170–173, 175, 177, 178, 181, 187, 191–193, 195, 196, 198, 203, 204, 212, 228, 239, 246, 248, 249, 252–263, 265–269, 271–273, 275–277, 279, 281, 282, 284–287, 289, 290 Sündenfall 39, 46, 51, 52, 58, 81, 82, 123, 125, 145, 153, 193, 215, 218, 220, 288 – Abfall 12, 44, 45, 55, 68, 118, 137, 143, 192, 195, 196 System 2, 10, 17, 25, 29, 35–37, 41, 42, 45, 49, 50, 62, 66, 69–80, 82–84, 86–96, 99, 100, 103–106, 112, 114, 131, 135, 137, 138, 146, 148, 151, 156, 166, 168, 171, 172, 177, 178, 195, 211, 231, 238, 240, 243, 244, 274 Tat – Geistestat 57, 156, 157, 159, 195, 199, 208–210, 249

– intelligible 10, 13, 51–57, 89, 99, 118, 121–124, 126, 127, 192–195, 197, 199, 202, 203, 288 Transmutation 56, 122 – Conversio 57, 68, 102, 127, 131, 137, 141, 146–148, 151, 153, 155, 156, 160, 163, 182, 193, 194, 196, 198, 203, 205, 213, 227, 231, 236, 237, 239, 242, 243, 257 – Wiederumwendung 21, 131, 160, 287, 288 Ungrund 10, 51, 73, 74, 122, 123 Vergegenständlichung 1, 3, 14, 22, 133, 256, 264 Verkehrung 23, 51, 53–55, 101, 102, 107, 121, 122, 127, 131, 134, 141, 146, 151, 153, 159, 160, 181, 195, 196, 199, 219, 221, 248, 265, 287 – Verkehrungszusammenhang 6, 10, 12, 17, 57, 89, 99, 102, 122, 125, 130, 133, 140, 144, 151, 163, 175, 192, 194, 197, 199, 225, 239, 241, 251, 252, 286, 288 Vernunft 12, 18, 20, 21, 23, 33, 35–37, 39, 42, 43, 84, 90, 93, 104, 114, 119, 163, 171, 172, 176, 177, 229, 234, 235, 254, 255, 281 Verobjektivierung 2, 137, 148, 157, 158, 196, 264, 272, 288, 289 Verstand 36, 37, 51, 72, 73, 85, 138, 139, 170, 176, 177, 229, 234, 235, 253, 254 Wechselwirkung/Wechselverhält­ nis/Wechselvollzug 7–9, 12, 15, 62, 76, 100, 127, 143, 145, 158, 161, 163, 177, 215, 220, 225–228, 231, 234, 236, 243, 244, 247, 250, 255, 259, 271, 282, 283, 292, 293 Weisheit 50, 57, 142–145, 147, 176, 177, 196–199, 234, 236, 251, 252, 254, 256, 257, 259, 260, 283 Wille 7, 21, 22, 46, 51, 54, 57, 87, 109, 113–117, 121, 125, 127, 128, 131, 137,

319 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .

Sachregister

152, 154, 155, 158, 189, 211, 220, 222, 255, 279, 280 Wissen 2, 7, 13, 20, 33, 39–41, 43, 44, 56, 59, 61, 62, 65, 70, 78–80, 82, 84, 88, 89, 94, 96–99, 101, 105–107, 114, 119, 120, 133, 134, 142–145, 147, 148, 151, 157–161, 163, 164, 172, 173, 179, 192, 194–200, 203, 205, 206, 212, 214–216, 218, 219, 221, 225–238,

240, 242, 243, 245–247, 249–252, 255, 257, 260, 287, 289 – nichtwissendes 179, 200, 212, 239 Zeit/Zeitlichkeit 166, 192, 197, 200–204, 207, 222, 223, 239, 282, 288 Zeugung 218, 219, 221–223, 225, 226, 232, 247, 249, 252

320 https://doi.org/10.5771/9783495996850 .