Adelige Moderne: Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848-1918 9783412215491, 9783412209377


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Adelige Moderne: Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848-1918
 9783412215491, 9783412209377

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Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 83 Tatjana Tönsmeyer Adelige Moderne

Tatjana Tönsmeyer

Adelige Moderne Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848–1918

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Umschlagabbildung: Schloss Žirovnice, um 1910. Bis zu diesem Zeitpunkt im Besitz der Grafen Sternberg.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20937-7

Für Ekkehard und Emma Luise

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Der ländliche Raum im 19. Jahrhundert: England und Böhmen im europäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2 Die Akteure der Agrargesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die adeligen Gutsbesitzer: Wirtschaftspraktiken und Selbstverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Verwalter und ihre Position in der ländlichen Gesellschaft. . 2.3 Bäuerliche Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Unterbäuerliche Schichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Die Arbeitswelt der Güter: Praktiken und Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Cottages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Landarbeitergewerkschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Böhmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Deputate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Waldnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Gewässer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 England und Böhmen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . 3.4 Von Rechtsgewohnheiten und bürgerlichen Diskursen . . . . . . . .

119 119 119 129 136 143 144 150 156 162 187

4 Traditionale Foren der Stabilisierung von Adelsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Wohltätigkeit als Herrschaftsbeziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Individuelle Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Institutionelle Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Armenstiftungen des böhmischen Hochadels . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Schulförderung seitens des englischen Hochadels. . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Wohltätigkeit statt Sozial- und Schulpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Pfarr- und Kirchenpatronate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Böhmen: Patronate im Dienst adeliger Herrschaftsausübung . . .

193 194 194 200 211 212 218 225 231 232

55 75 87 100 114

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Inhalt

4.2.2

Die Rolle der Ortsgeistlichen in der ländlichen Gesellschaft Böhmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4.2.3 The landed establishment at prayer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4.2.4 Kirchenpatronate und Konflikthaftigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4.3 Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 4.3.1 Die Repräsentation sozialer Ordnungen im Fest. . . . . . . . . . . . . . . 248 4.3.2 Von der Taufe bis zur Bahre: Feierlichkeiten auf adeligen Gütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4.3.3 Adelsherrschaft und Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4.4 Wohltätigkeit, Kirchenpatronate und Feste als traditionale Foren adeliger Herrschaftsstabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5 Moderne Foren der Stabilisierung von Adelsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Lokalverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Böhmen: Gemeinde- und Bezirksverwaltungen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 England: Magistrate und Grafschaftsräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Vereine und Verbände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Lokalverwaltungen, Vereine und Verbände als moderne Foren adeliger Herrschaftsstabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263 263 266 278 285 303

6 Adelige Moderne – Herrschaft, Staat, Nation und Klasse. Vom Nutzen des Vergleichs für die europäische Geschichte . . . . . . . . . . . . . 307 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Periodika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen und Quellensammlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ortsnamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Tschechisch-Deutsches Ortsnamensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Deutsch-Tschechisches Ortsnamensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

Vorwort

Es ist vermutlich für Historikerinnen und Historiker nicht ganz untypisch, die Entstehung von Büchern als Prozess zu begreifen und, analog zu anderen Entwicklungen, deren Anfangs- und Endpunkte zu beschreiben. Mag die Übergabe des Manuskriptes an den Verlag so ein Endpunkt sein, datiert das Interesse am europäischen Adel weit zurück: Geweckt wurde es in einem Hauptseminar meines viel zu früh verstorbenen akademischen Lehrers Hans Lemberg in Marburg. Ihm wie auch Joachim von Puttkamer, der die Arbeit begleitet hat, als aus Interesse Habilitationsabsichten geworden waren, bin ich für vielfältige Anregungen, gemeinsames Nachdenken und große Anteilnahme sehr dankbar; mehr, als hier angemessen gewürdigt werden kann. Dank sei auch allen Beteiligten am Habilitationsverfahren der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena gesagt, die vor allem als Gutachter daran beteiligt waren. Zu Dank verpflichtet weiß ich mich auch all jenen Personen und Institutionen, die mein Nachdenken über Adel, Vergleich, Moderne und die damit verbundenen Aspekte gefördert und (heraus)gefordert haben. Zu nennen sind das Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas, seine Direktoren, die Geschäftsleitung sowie die Doktorandinnen und Doktoranden. Wichtige Anregungen verdanke ich ferner Colloquiumsdiskussionen und Einzelgesprächen mit John Beckett, Zdenĕk Bezecný, Václav Bůžek, David Cannadine, Eckart Conze, Dittmar Dahlmann, Hans-Werner Hahn, Thomas Kroll, Michael G. Müller, Friedrich Lenger, Alf Lüdtke, Heinz Reif, Miloš Řezník, Martin Schulze Wessel, Luboš Velek und Monika Wienfort. Institutionelle Förderung, für die ich den Institutionen Dank weiß, habe ich durch das GWZO in Leipzig, das Institut für Europäische Geschichte in Mainz, die DeutschTschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission sowie die Karlsuniversität Prag und das Deutsche Historische Institut in London erfahren; vor allem die beiden letzten Institutionen haben meine Archivrecherchen in England und Tschechien unterstützt und mir ein Zuhause auf Zeit gegeben, wofür ich sie in dankbarer Erinnerung behalte. Dank gesagt sei auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Bibliotheken und Archiven; stellvertretend für viele mag hier Rebecca Jackson vom County Record Office Stafford stehen. Ihr und ihrem Mann wie auch Zdenĕk Bezecný und seiner Frau verdanke ich außerdem Fahrten durch Mittelengland und Südböhmen auf adeligen Spuren: Landschaften und Adelssitze, in England nicht selten auch Gehöfte, die ich aus den Quellen kannte, erhielten nun eine Entsprechung in der Realität. Aus dem gesammelten Material wurde im Laufe der Zeit ein Manuskript, das in verschiedenen Stadien Monika Wienfort, Ute Lotz-Heumann, Christiane Lahusen, Antjekatrin Fedler, Jan Vondráček und Michael Zeheter gelesen haben. Auch ihnen

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Vorwort

sei herzlich dafür gedankt. Dank schulde ich ferner den Herausgebern der Reihe „Industrielle Welt“, dem Böhlau-Verlag sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für einen großzügigen Druckkostenzuschuss – dieser sei hiermit abgestattet. Nicht in Worten ausdrücken kann ich die Dankbarkeit, die ich gegenüber meinem Mann und meiner Tochter für ihre Zuneigung und Unterstützung empfinde – ihnen sei das Buch gewidmet. Tatjana Tönsmeyer Berlin, im April 2012

Einleitung

Lange Jahre wurde Adelsgeschichte primär als Niedergangsgeschichte geschrieben. Dies erschien plausibel, galt doch die Zeit um 1800 als adelige Epochengrenze1, nach der sich die Rolle, die der Adel als traditionaler Herrschaftsstand in den europäischen Gesellschaften gespielt hatte, wandelte. Prozesse wie Industrialisierung, Verstädterung, aber auch das Vordringen des Staates in die Fläche, die zunehmende Politisierung wachsender Bevölkerungsgruppen und eine beginnende Demokratisierung schienen wenig Verbindung zum Adel zu haben und wenn, dann sah man ihn häufig als Verlierer gegenüber den aufsteigenden Sozialformationen des Bürgertums und der Arbeiterklasse. Die Schnelligkeit des beobachteten Wandels, so eine der Schlussfolgerungen, habe es dem an seinen Traditionen festhaltenden Adel schwer gemacht, Zugang zu den modernen Zeiten zu finden. Auch die schöne Literatur schien diese Sicht der Dinge zu bestätigen, ob es sich dabei um die Erzählungen von Eduard von Keyserling handelte oder um Romane wie Wiedersehen mit Brideshead von Evelyn Waugh. Hinzu kam eine pessimistische Selbstreflexion im Adel, die Macht- und Einkommensverluste schon zu Beginn der Neuzeit ausmachte. Diese Sichtweise wurde von Historikern nicht selten aufgegriffen und galt als Beweis für den Niedergang einer Elite, die ihre Glanzzeit in der fernen Epoche der Rittertums erlebt habe.2 Dort, wo man über die Existenz des Adels nicht hinwegsehen konnte, wie etwa in Preußen, wurde er über viele Jahre im Rahmen der Sonderwegsthese für die Schwäche des Bürgertums und die unheilvolle Entwicklung hin zum Nationalsozialismus verantwortlich gemacht.3 Als rückständig galten auch jene Regionen des östlichen 1 ��������������������������������������������������������������������������������� Die adelige Epochengrenze beschreibt Rudolf Braun mit dem Übergang von der Personal- zur Territorialherrschaft, ferner zu Rechtsgleichheit und Staatsbürgerschaft sowie der Privatisierung von Eigentum und den aus diesen Prozessen resultierenden Konsequenzen für die adelige Legitimation. In der Folge habe sich der Adel von einer geburtsständischen Elite zu einer nachständischen Leistungselite gewandelt. Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben – Adel im 19. Jahrhundert; in: Europäischer Adel 1750– 1950, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1990, S. 87–95, S. 88ff. Zur Relativierung dieser Epochengrenze jedoch jüngst Ewald Frie: Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? Eine Skizze; in: GG 33/2007, S. 398–415. 2 Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Köln 2008, S. 2 sowie Ders.: Einführung – Adel in der Neuzeit; in: GG 33/2007, S 317–325, S. 317f. 3 Prägend dazu Hans Rosenberg: Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzer; in: Ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 83–101. Mittlerweile differenziert zu diesem Komplex Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2004.

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Einleitung

Europa, in denen die Adelsformationen vor den Bodenreformen und Enteignungen des 20. Jahrhunderts stark gewesen waren. Viel Wissen ist in dem Bemühen erarbeitet worden, das Bürgertum dieser Regionen sichtbar zu machen4 und etwa am Beispiel des russischen Teilungsgebiets von Polen zu zeigen, wie hier die Chance des Überlebens als Adel an das Überleben der Nation und die Rückgewinnung der staatlichen Unabhängigkeit gebunden wurde. Adeligkeit wurde in diesem Kontext in Bezug auf solche Werte neu definiert, die sich weitgehend mühelos in bürgerliche oder volksnationale konvertieren ließen. Diese Beschäftigung mit dem Adel aus dem Geist der Bürgertumsforschung zeigt, wie der Adel die Rolle von Landbürgern übernahm und damit ein funktionales Äquivalent zum „eigentlichen“ Bürgertum bildete.5 Dem gegenüber bedurfte es erst einer kulturgeschichtlich inspirierten Sensibilisierung, um die Aufmerksamkeit im Rahmen der in den letzten Jahren verstärkt einsetzenden Forschung zu den europäischen Adelsformationen auf die Eigenlogiken dieser Gruppen zu lenken, so dass Fragen des adeligen Selbstverständnisses, der 4 ��������������������������������������������������������������������������������� Die Bürgertumsforschung zum östlichen Europa ist mittlerweile außerordentlich umfangreich, siehe als ausgewählte Beispiele Manfred Hildermeier: Bürgertum und Stadt in Rußland 1760–1870, Köln 1986. Stefan Pytlas: Łódzka burżuazia przemysłowa w latach 1864–1914 [Das Industriebürgertum in Lodz 1864–1914], Łódź 1994. Bianca PietrowEnnker: Wirtschaftsbürger und Bürgerlichkeit im Königreich Polen. Das Beispiel von Lodz, dem „Manchester des Ostens“; in: GG 31/2005, S. 169–202. Bürgerliche Wohnkultur des Fin de siècle in Ungarn, hrsg. v. Péter Hanák, Wien 1994. István Diószegi: Die Liberalen am Steuer. Der Ausbau des bürgerlichen Staatssystems in Ungarn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; in: Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, hrsg. v. Dieter Langewiesche, Göttingen 1988, S. 484–498. Elena Mannová: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in der Slowakei, 1900–1989, Bratislava 1996. Helmut Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997. Gary Cohen: Education and Middle Class Society in Imperial Austria, 1848–1918, West Lafayette 1996. Ingrid ����������� Mittenzwei: Zwischen Gestern und Morgen. Wiens frühe Bourgeoisie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Wien 1998. Kleinstadtbürgertum in der Habsburgermonarchie 1862–1914, hrsg. v. Peter Urbanitsch, Wien 2000 sowie jüngst Oliver Kühschelm: Das Bürgertum in Cisleithanien und Károly Halmos: Das Besitz- und Bildungsbürgertum in Ungarn; beide in: Die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Bd. IX, Wien 2010, S. 849–907 und S. 909–950. 5 ���������������������������������������������������������������������������������� Michael G. Müller: „Landbürger“. Elitenkonzepte im polnischen Adel im 19. Jahrhundert; in: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Eckart Conze und Monika Wienfort, Köln 2004, S.  87–105, S.  96ff. und S. 105. Grundsätzlich auch zum Festschreiben eines Stereotyps „Rückständigkeit“ als Konsequenz einer Bürgertumsforschung, die gesellschaftlichen Wandel primär als Projekt der von ihr untersuchten Sozialformation versteht, Ders.: Die Historisierung des bürgerlichen Projekts – Europa, Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit; in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29/2000, S. 163–170.

Einleitung

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familialen Strategien, der Repräsentationen oder auch der adeligen Memoria stärker berücksichtigt wurden.6 Erstaunlicherweise blieb ein zentraler Aspekt adeliger Ei6 Zur deutschen und europäischen Adelsforschung seit den 1990er Jahren siehe: Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, hrsg. v. Ralph Melville und Armgard v. Reden-Dohna, Stuttgart 1988 und Europäischer Adel 1750–1950, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1990. Seither hat sich, zumal mit Blick auf die deutschen Adelslandschaften, viel getan. Siehe vor allem Adel und Bürgertum in Deutschland 1770– 1848, hrsg. v. Elisabeth Fehrenbach, München 1994. Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003, hrsg. v. Günther Schulz, St. Katharinen 2004. Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Heinz Reif, Berlin 2000. Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, hrsg. v. dems., Berlin 2001. Derselbe: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Eckart Conze und Monika Wienfort, Köln 2004. Von Heinz Reif stammt auch die „Pionierstudie“ zu einer deutschen Adelslandschaft: Ders.: Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979. Ferner: Hartwin Spenkuch: Das preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages, 1854–1918, Düsseldorf 1998. Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart 2000. Ewald Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777–1837. Biographien eines Preußen, Paderborn 2001. Monika Wienfort: Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770–1848/49, Göttingen 2001. René Schiller: Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003. Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2004. Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005. Zwischen Revolution und Reform. Der westfälische Adel um 1800, hrsg. v. Werner Frese, Münster 2005. Josef Matzerath: Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006. Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. v. Mark Hengerer und Elmar L. Kuhn in Verbindung mit Peter Blickle, 2 Bde, Sigmaringen 2006. Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, hrsg. v. Eva Labouvie, Köln 2007. Marcus Funck: Feudales Kriegertum und militärische Professionalität. Der Adel im preußisch-deutschen Offizierskorps 1860–1935, Berlin 2007. Marko Kreutzmann: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830, Köln 2008. Silke Marburg: Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008. Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. v. Eckart Conze, Alexander Jendorff und Heide Wunder, Marburg 2010. Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Eckart Conze und Sönke Lorenz, Ostfildern 2010. Bilanzierungen der Forschung finden sich jüngst in zwei Synthesen: Monika Wienfort: Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006 und Wal-

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genlogiken, der tief im kultureller Gedächtnis dieser Sozialformation verankert war, weitgehend unbeachtet: Die Herrschaft über Land und Leute.7 Dies liegt wohl daran, dass gerade diese adelige Eigenlogik von den zuvor genannten „klassischen“ Themen einer Kulturgeschichte des Adels relativ weit entfernt zu sein scheint. Tatsächlich ist jedoch die Herrschaft über Land und Leute ein adeliger Identitätskern und verspricht daher Erkenntnisgewinn, zumal sich hier wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Aspekte adeliger Eigenlogiken verschränken. Hinzu kommt, davon wird in den methodischen Ausführungen noch genauer die Rede sein, dass mit „Herrschaft“ ein Konzept angesprochen ist, das weniger stark zu einer dichotomischen Betrachtung zwischen den Polen „Obenbleiben“ und „Niedergang“ führt, sondern vielmehr den Blick auf jene Praktiken lenkt, mit denen der Adel in Zeiten des Wandels seine Position in einem bestimmten sozialen Umfeld interagierend suchte und fand. ter Demel: Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2005 sowie in dem Band: Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, hrsg. v. Eckart Conze, München 2005. Aus dem Kontext der Monographien zu den verschiedenen europäischen Adelsformationen (mit Ausnahme von Böhmen und England, auf die weiter unten eingegangen wird) seien exemplarisch erwähnt: Claude-Isabelle Brélot: La noblesse rêinventée. Nobles de Franche-Comté de 1814–1870, 2 Bde, Paris 1992. Andreas Grenzer: Adel und Landbesitz im ausgehenden Zarenreich. Der russische Landadel zwischen Selbstbehauptung und Anpassung nach Aufhebung der Leibeigenschaft, Stuttgart 1993. Marek Miller: Arystokracja [Aristokratie], Warszawa 1993. Jurij Lotman: Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., Köln 1997. Natalie Petiteau: Élites et mobilités. La noblesses d’Empire au XIXè siècle (1808–1914), Paris 1997. Anthony Cardoza: Aristocrats in Bourgeois Italy. The Piemontese Nobility 1861–1930, Cambridge 1997. Thomas Kroll: Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento, Tübingen 1999. Marion Lühe: Der venezianische Adel nach dem Untergang der Republik (1797–1830), Köln 2000. Michelle Lamarche Marrese: A Woman‘s Kingdom. Noblewomen and the Control of Property in Russia, 1700–1861, Ithaca 2002. Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Mark Hengerer, Köln 2005. Noblesse française et noblesse polonaise: Mémoire, identité, culture. XVIe–XXe siècles, hrsg. v. Jarosław Dumanowski und Michel Figeac, Bordeaux 2006. Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, hrsg. v. Gabriele B. Clemens, Malte König und Marco Meriggi, Göttingen 2011. 7 „Die eigentliche Grundlage adeliger Macht waren in der Frühen Neuzeit fast in ganz Europa der Besitz von Land und die damit verbundenen Herrschaftsrechte.“ Asch, Adel, S. 52. Grundsätzlich zum Komplex der Herrschaft über Land und Leute, ebd., S. 52–64. Siehe auch Gerrit Walther: Freiheit, Freundschaft, Fürstengunst. Kriterien der Zugehörigkeit zum Adel in der Frühen Neuzeit; in: Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschafts­praxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, hrsg. v. Hans Beck, München 2008, S. 301–322, besonders S. 311f.

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Stellt man „Herrschaft über Land und Leute“ in den Mittelpunkt der Überlegungen, so rückt zunächst eine Tatsache ins Blickfeld, die zwar häufig en passant konstatiert wird, jedoch seltener Ausgangspunkt für weiteres Nachdenken ist: Auch im späten 19. Jahrhundert befanden sich in vielen Regionen Europas Ländereien von beträchtlicher Größe im Besitz einer kleinen Gruppe von Adeligen.8 Besonders ausgeprägt waren diese Besitzkonzentrationen in England und Böhmen, wo einer kleinen Gruppe von Hochadeligen, kaum mehr als jeweils 300 Personen, zwischen einem Drittel und einem Viertel des Grund und Bodens gehörte.9 In der Sicht des Adels stand „Landbesitz“ in engem wechselseitigen Zusammenhang zu „Familie“: Landbesitz und ländlich-agrarische Lebensentwürfe stifteten nicht nur im abstrakten Sinne adelige Identität, sondern sie gaben der Familientradition ihre räumliche Dimension.10 Der ländliche Besitz war somit ein zentraler Pfeiler adeligen Familienbewusstseins, und als solcher entscheidend für die Bewahrung familialer Stabilität in Zeiten politischen und sozialen Wandels.11 Dies gilt nicht nur, wie Eckart Conze am Beispiel der Grafen Bernsdorff gezeigt hat, im 20. Jahrhundert. Stärker noch lässt sich dieser Befund mit Blick auf England und Böhmen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts festhalten. Spätestens seit 1848 kann von einer rechtlich begründeten Adelsherrschaft nicht mehr die Rede sein. Dies hat in der Historiographie häufig zu der erwähnten Niedergangsthese geführt. Der Großgrundbesitz und ein durch ihn geprägter, spezifisch ländlich-adeliger Lebensstil bildeten jedoch die Grundlage einer nach wie vor bestehenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Hegemonie des Adels. Ort dieser Form der Adelsherrschaft war das Gut. Adelsherrschaft war somit primär lokale Herrschaft, doch prägten die lokalen und familialen Lebenswelten adeliges Verhalten auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene.12 8 Siehe dazu zusammenfassend Demel, Adel, S. 70f. und Wienfort, Adel, S. 25 und S. 73– 77. 9 Zu England David Cannadine: The Decline and Fall of the British Aristocracy, London 1996, S. 54f. Zu Böhmen Hannes Stekl: Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert; in: Europäischer Adel 1750–1950, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1990, S. 144–165, S. 163. 10 ���������������������������������������������������������������������������������� Eckart Conze: Adeliges Familienbewußtsein und Grundbesitz. Die Auflösung des Gräflich Bernstorffschen Fideikommisses Gartow nach 1919; in: GG 25/1999, S. 455–479, S. 461. Ewald Frie verweist in diesem Zusammenhang auf das Haus als „Präsenzform des Adels im Raum“. Frie, Adelsgeschichte, S. 407f. Otto Brunner bereits sprich vom Haus des Herren als „organisatorische[m] Mittelpunkt und rechtliche[m] Bezugszentrum der Herrschaft“ und stellt fest: „Man wird das Wesen der Herrschaft nur vom Herrenhaus her erfassen können.“ Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien/Wiesbaden 19594, S. 254f. 11 Conze, Adel, S. 362. 12 Ders. und Monika Wienfort: Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung; in: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert,

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Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist somit der Großgrundbesitz: Seine Bewahrung war die Voraussetzung dafür, dass adelige Besitzer Herrschaft vom Gut her ausüben konnten; auf den Gütern und in ihrem Umfeld interagierten Adelige und die verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen der ländlichen Gesellschaft. Methodisch gewendet: Die Existenz des Großgrundbesitzes in adeliger Hand ist die entscheidende Voraussetzung für eine Erfahrungsgeschichte adeliger Herrschaft in der ländlichen Welt nach der Abschaffung der Privilegien. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht daher die Frage, wie der Adel seine Latifundien als die ihm verbliebene zentrale Ressource zur Aufrechterhaltung von Herrschaft und einer herausragenden Stellung in der ländlichen Welt nutzte. Mit dem hier immer wieder verwendeten Begriff der Herrschaft ist eine erste Andeutung zur Methode bereits gemacht. Gerade Herrschaft ist ein Fundamentalbegriff der Geschichtswissenschaft.13 Mit Blick auf die Moderne wurde Herrschaft üblicherweise als Durchsetzung des bürokratischen Anstaltsstaates im Sinne Max Webers diskutiert. Die Frühneuzeitforschung hat nicht nur die Anfänge dieser Staatsbildungsprozesse untersucht, sondern auch auf die Rolle des Adels im Verlauf dieser Prozesse hingewiesen. Die ältere Literatur hat dabei mit Blick auf das Verhältnis von (kontinentaler) Gutsherrschaft14 und Staat vor allem die Frage diskutiert, ob der Staat in der Lage war, im Kontext der Entstehung von Gutsherrschaft die Untertänigkeitsverhältnisse normativ zu regeln und die Untertanen vor gutsherrlicher Ausbeutung zu schützen. Dort, wo die Ansprüche der Gutsherren nicht wirksam beschränkt wurden, wurde dies als mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Landesherren gegenüber den Ständen gesehen und zum Charakteristikum für Territorien mit gutsherrschaftlichen hrsg. v. dens., Köln 2004, S. 1–16, S. 6 und S. 15. Siehe außerdem Wienfort, Adel, S. 69 und Frie, Adelsgeschichte, S. 407ff. 13 Dietrich Hilger: Herrschaft; in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, 8 Bde, Stuttgart 1982–1997, Bd. 3, S. 1–102. Siehe auch Brunner, Land, S. 245–254. 14 Grundsätzlich zu den Begriffen Guts- und Grundherrschaft Werner Rösener: Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997, S.  106–132. Die jüngere Forschung steht jedoch einer strikten Gegenüberstellung von Guts- und Grundherrschaft immer skeptischer gegenüber. Siehe dazu z. B. mit Blick auf Guts- und Grundherrschaft westlich der Elbe Heide Wunder: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986 sowie Markus Cerman: Agrardualismus in Europa? Geschichtsschreibung über Gutsherrschaft und ländliche Gesellschaft in Mittel- und Osteuropa; in: Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raumes 1/2004, S. 12–29. Stärker auf gutsherrschaftlich geprägte Sozial- und Wirtschaftsstrukturen fokussiert Jan Peters, z. B. Jan Peters: Gutsherrschaftsgeschichte in historisch-anthropologischer Perspektive; in: Gutsherrschaft als soziales Modell, hrsg. v. dems., München 1995, S.  3–21 sowie Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, hrsg. v. dems., Berlin 1997.

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Agrarstrukturen erhoben.15 Dem gegenüber ist für das frühneuzeitliche England auf eine Interessengemeinschaft zwischen Zentralstaat und Grund- bzw. Gutsherren verwiesen worden.16 Dass dies keine insulare Besonderheit war, sondern dass solche Interessenkongruenzen auch auf dem Kontinent bestanden, zeigt zum Beispiel Eduard Maur für das 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel Böhmens.17 Des Weiteren hat die Frühneuzeit-Forschung herausgestellt, dass die Bemühungen zur sozialen Disziplinierung der Untertanen18 und die Implementierung staatlicher Strukturen keine top-down-Angelegenheit waren19, sondern mit einem Prozess der Aneignung seitens der Untertanen einhergingen. Die mittlerweile in eindrucksvoller Zahl vorliegenden Fallstudien20 zeigen nicht die passive Übernahme obrigkeitlich er15 ���������������������������������������������������������������������������������� Zur Auseinandersetzung mit der älteren Forschungstradition Markus Cerman: Untertanen, Herrschaft und Staat in der Frühen Neuzeit; in: Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im „Alten Reich“. Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit, hrsg. v. dems. und Robert Luft, München 2005, S. 1–27, S. 8. 16 So zum Beispiel Alison Wall: Power and Protest in England 1525–1640, London 2000, S. 27–44. Tom Scott: Wandel und Beharrung der Untertänigkeit; in: Cerman und Luft, Untertanen, S. 299–321. 17 Eduard Maur: Staat und (lokale) Gutsherrschaft in Böhmen 1650–1750: in: Ebd., S. 31– 50. 18 Zum Konzept Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit“; in: ZHF 14/1987, S.  265–302. Zu seiner Kritik und Weiterentwicklung Heinz Schilling: Profil und Perspektiven einer interdisziplinären und komparatistischen Disziplinierungsforschung jenseits einer Dichotomie von Gesellschafts- und Kulturgeschichte; in: Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, hrsg. v. dems., Frankfurt am Main 1999, S. 3–36. 19 Mit dieser Diskussion verbunden war eine lebhafte Auseinandersetzung um die Reichweite des Epochenbegriffs „Absolutismus“. Siehe dazu z. B.: Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700), hrsg. v. Ronald Asch und Heinz Duchhardt, Köln 1996 sowie Ernst Hinrichs: Fürsten und Mächte. Zum Problem des europäischen Absolutismus, Göttingen 2000. 20 Aus der breiten Literatur siehe für Böhmen z. B. Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im „Alten Reich“. Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit, hrsg. v. Markus Cerman und Robert Luft, München 2005. Pavel Himl: Die ‚armben Leüte‘ und die Macht. Die Untertanen der südböhmischen Herrschaft Český Krumlov/Krumau im Spannungsfeld zwischen Gemeinde, Obrigkeit und Kirche (1680–1781), Stuttgart 2003. Soziale Strukturen in Böhmen. Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften, 16.–19. Jahrhundert, hrsg. v. Markus Cerman und Hermann Zeitlhofer, München 2002. Mit Blick auf England siehe etwa: Negotiating Power in Early Modern Society. Order, Hierarchy and Subordination in Britain and Ireland, hrsg. v. Michael J. Braddick und John Walter, Cambridge 2001 oder Wall, Power, S. 130–145. Thematisch gehören in diesen Zusammenhang auch die Arbeiten: Herrschaft – Machtentfaltung über adeligen und fürstlichen Grundbesitz in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Heinrich Kaak und

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lassener Gesetze, sondern Untertanen, die zum Beispiel von staatlicher Überwachung Gebrauch machten, wo es ihnen nützlich erschien, in anderen Zusammenhängen diese Regelungen jedoch zu umgehen suchten. Schon Max Weber definierte Herrschaft als Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden. Diese Chance korrespondiert mit einem postulierten Gehorchenwollen, das seinerseits an den Glauben gebunden ist, die Herrschaft sei legitim.21 Für die weitere Untersuchung ist besonders der Aspekt der Chance von Bedeutung, weil durch dieses probabilistische Moment Herrschaftsbeziehungen dynamisiert werden. Herrschaft basiert auf einem bestimmten Typus von Sozialbeziehungen; sie ist eine Form der sozialen Praxis.22 Diesem Verständnis von Herrschaft liegt die Denkfigur des Kräftefeldes zugrunde. Es unterscheidet sich von älteren Vorstellungen einfacher Zweipoligkeit ebenso wie von der „strukturierten Struktur“ Pierre Bourdieus, der sein Konzept vor allem entwickelte, um „Stabilität“ zu erklären, konkret: die der Zusammensetzung der französischen Elite.23 Für die hier interessierenden HerrschaftsproMartina Schattkowsky, Köln 2003. Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Jan Peters, Göttingen 1995. Adel auf dem Lande. Kultur und Herrschaft des Adels zwischen Weser und Ems, 16. bis 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Heike Düselder, Cloppenburg 2004 (bes. S.  92–114). Anna C. Fridrich, Fridolin Kurmann und Albert Schnyder: Dorf und Herrschaft, 16. bis 18. Jahrhundert. Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft, Liestal 2001. Gunter Mahlerwein: Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700–1850, Mainz 2001. Jürgen Heyde: Bauer, Gutshof und Königsmacht. Die estnischen Bauern in Livland unter polnischer und schwedischer Herrschaft 1561–1650, Köln 2000. 21 ������������������������������������������������������������������������������������ Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 19725, S. 122f. Zum Gehorsam siehe jüngst das Themenheft der Historischen Anthropologie und hier besonders die Einleitung: Alf Lüdtke und Michael Wildt: Editorial; in: Historische Anthropologie 15/2007, S. 157–163. 22 Zum Konzept siehe vor allem Alf Lüdtke: Einleitung – Herrschaft als soziale Praxis; in: Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, hrsg. v. dems., Göttingen 1991, S. 9–63. 23 �������������������������������������������������������������������������������� Zur Abgrenzung von der „strukturierten Struktur“ im Sinne Pierre Bourdieus Lüdtke, Alltagsgeschichte, S.  566. Zwar hat Pierre Bourdieu auch das Konzept des Habitus entwickelt, um die gängigen Alternativen aus Determiniertheit und Freiheit, Konditioniertheit und Kreativität, Bewußtem und Unbewußtem, Individuum und Gesellschaft zu überwinden. Den Habitus definiert er als „eine unbegrenzte Fähigkeit, … in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen – zu erzeugen, die stets in den historischen und den sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen.“ Die „konditionierte und bedingte Freiheit“, die er biete, stehe der „unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen.“ Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik

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zesse im Kontext sozialen Wandels ist dagegen das Interpretament des Kräftefeldes hilfreich. Es „situiert“ die Akteure, ohne ihnen Autonomie zu unterstellen oder sie zu determinieren. Vielmehr stehen ihre Kapazitäten, auf Anreize wie Zumutungen im Austausch und in Auseinandersetzung mit anderen, die ebenfalls in diesem Feld manövrieren, zu reagieren, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Damit kommt die Vielfalt der Verhaltensweisen zur Verfolgung eigener Logiken in den Blick, was auch die Gleichzeitigkeit von Folgsamkeit und Widersetzlichkeit, von Zustimmen oder Hinnehmen und Distanzieren – kurz: mehrdeutige Gleichzeitigkeiten – mit ihren vielfältigen Abstufungen einschließt. In diesem Sinne fragt die vorliegende Arbeit nach der Ermöglichung und Begrenzung von Herrschaft und danach, was das Handeln jener regulierte, die sie untereinander aushandelten.24 Die Vorstellung eines Kräftefeldes verweist somit auf jene Ressourcen, die die Akteure in ihren Aushandlungsprozessen zum Einsatz bringen und die für die Ausgestaltung und Stabilisierung von Herrschaft von grundlegender Bedeutung sind. Der Begriff des Aushandelns impliziert im Übrigen nicht, dass dies „auf Augenhöhe“ geschieht, denn die Verteilung der Ressourcen zwischen den verschiedenen Akteuren oder Gruppen von Akteuren ist durchaus nicht einheitlich, unterscheidet sich oft genug von Situation zu Situation. Im Ergebnis ist Herrschaft ein Phänomen begrenzter Dauer; sie muss je neu angemeldet, durchgesetzt und repräsentiert – eben: ausgehandelt – werden.25 Mit Blick auf das Set von Ressourcen, das den jeweiligen Akteuren zur Verfügung steht, hat die Soziologin Ann Swidler das Bild von der Kultur als einem Werkzeugkasten („tool kit“) oder einem Repertoire geprägt.26 Das Handeln ist in ganz überder theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1999, S.  97–121, besonders S.  98 und S.  103. Zur Kritik an den tendenziell statischen Elementen nicht nur des Habituskonzepts, sondern auch des Kapitalienmodells siehe Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 31. 24 Lüdtke, Einleitung, S. 13–18 sowie Ders.: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie; in: Geschichte – Ein Grundkurs, hrsg. v. Hans-Jürgen Goertz, Reinbek 1998, S. 557–578, S. 566. 25 Lüdtke, Einleitung, S. 54. 26 „Culture is a tool kit of symbols, stories, rituals, and world-views, which people may use in varying configurations to solve different kinds of problems.“ Ann Swidler: Culture in Action: Symbols and Strategies; in: American Sociological Review 51/1986, S. 273–286, S.273, siehe auch S.  277 und S.  281. Sie führt dazu weiter aus: „Both individuals and groups know how to do different kinds of things in different circumstances. … People may have in readiness cultural capacities they rarely employ; and all people know more culture than they use (if only in the sense that they ignore much that they hear). A realistic cultural theory should lead us to expect not passive ,cultural dopes‘, but rather the active, sometimes skilled users of culture whom we actually observe.“ Ebd., S. 277. Zu Swidler

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wiegendem Maße nicht dadurch geprägt, dass Akteure sich das jeweils effizienteste Mittel zur Erreichung eines spezifischen Ziels (etwa im Sinne des homo oeconomicus) aussuchen und es verwenden. Tatsächlich entwickeln sie gerade im Alltag nicht Handlungsoptionen neu, sondern greifen stets auch auf schon bekannte zurück.27 Handeln ist somit im Weberschen Sinne häufig traditional, indem es aufgrund von eingelebter Gewohnheit erfolgt.28 Zu solchen eingelebten Gewohnheiten kann auch „eigensinniges“29 Verhalten gehören. Eigensinn ist in dieser Lesart eine der möglichen Ressourcen, ein spezielles Werkzeug aus dem „tool kit“. Noch ein anderer Aspekt ist im Zusammenhang mit der Untersuchung sozialer Praktiken von Bedeutung, auf den ebenfalls Ann Swidler hingewiesen hat: Gruppen oder gesellschaftliche Formation „funktionieren“ häufig nach spezifischen Regeln, siehe auch: Ingrid Gilcher-Holtey: Kulturelle und symbolische Praktiken. Das Unternehmen Pierre Bourdieu; in: Kulturgeschichte Heute, hrsg. v. Wolfgang Hardtwig und HansUlrich Wehler, Göttingen 1996, S. 111–130, S. 112. 27 Swidler, Culture, S. 277. Zum Konzept des Alltags vor allem Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie; in: Geschichte – Ein Grundkurs, hrsg. v. HansJürgen Goertz, Reinbek 1998, S. 557–578 sowie Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hrsg. v. Alf Lüdtke, Frankfurt am Main 1989. 28 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.  12. Nach Swidler sind Traditionen „articulated cultural beliefs and practices, but ones taken for granted so that they seem inevitable parts of life. Diverse, rather than unified, partial rather than all-embracing, they do not always inspire enthusiastic assent. … Traditions … seem ordained in the order of things, so that people may rest in the certainty that they exist, without ne­cessarily participating in them.“ Swidler, Culture, S. 279. 29 Alf Lüdtke schreibt über Akteure, sie seien beweglich, aber „nicht im luftleeren Raum. Sie nutzen und interpretieren situativ und auf ihre Weise Anweisungen wie Anreize. In ihren Aneignungen produzieren sie Eigenes, sie zeigen Eigensinn.“ Lüdtke, Alltagsgeschichte, S.  566. Zu den Aneignungen auch ebd., S.  563. Zwar ist Eigensinn häufig mit Blick auf die Frühneuzeit untersucht worden, doch ist das Konzept auch für das 19. und 20. Jahrhundert anwendbar. Für einen eher „klassischen“ Kontext siehe Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Oberbayern 1848–1910, Reinbek 1989. Die Verfasserin zeigt dörfliche Praktiken wie Brandstiftung, Kindsmord oder Wilderei, die von den bürgerlichen Gerichten als Kriminalität verhandelt wurden, im dörflichen Kontext jedoch „eigensinnigen“ Logiken folgten, die in der materiellen und symbolischen Ordnung einer traditionellen Gesellschaft verankert waren und deren Wertungen unterlagen. In einem eher „untypischen“ Zusammenhang hat dagegen die Verfasserin dieser Arbeit das Konzept „Eigensinn“ angewendet, als sie mit seiner Hilfe Verhaltensoptionen der slowakischen politischen Elite gegenüber einer spezifischen Gruppe von NS-Funktionären untersucht hat, deren „Dienstanweisung“ aus Berlin lautete, den verbündeten Slowakischen Staat „gleichzuschalten“. Siehe dazu: Tatjana Tönsmeyer: Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Pa­derborn 2003.

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ohne dass diese Regeln unbedingt explizit gemacht werden müssten, oder dass die Angehörigen der jeweiligen Gruppe sie benennen könnten. Die Soziologin nimmt diese Beobachtung zum Ausgangspunkt für ihre These, dass es unterschiedliche Arten von Praktiken gibt, darunter auch solche, die in der Lage sind, andere zu „verankern“, und dadurch Regeln des Zusammenlebens und der Interaktion zu stabilisieren. Mit Bezug auf einen Korpus empirischer Studien formuliert sie als Kriterien dieser „Ankerpraktiken“, dass sie kulturell konstituiert werden und sinnstiftend sind. Es kann sich bei diesen Praktiken um öffentlich zelebrierte Rituale handeln, aber auch um unauffällige, alltägliche, „stille“ Verhaltensformen. Unabhängig von ihren konkreten und damit kontextabhängigen Formen sind Ankerpraktiken wirkmächtig: Sie konstituieren die unausgesprochene Realität, wodurch sie soziale Realität, und damit soziale Strukturen, definieren.30 Die angesprochenen empirischen Studien verweisen außerdem darauf, dass Ankerpraktiken offenbar stabiler sind, wenn sie im Mittelpunkt antagonistischer Sozialbeziehungen stehen, wie etwa den Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Fabrikbesitzern.31 Diese Stabilität ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Ankerpraktiken die Infrastruktur wiederholter Interaktionsmuster darstellen. Zu ihrer Stabilität trägt daher die kollektiv eingelebte Gewohnheit der Akteure bei, besteht doch die Notwendigkeit (z. B. innerhalb der ländlichen Gesellschaft) zur Interaktion. Diese Notwendigkeit lässt die Akteure gängigerweise auf vertraute und „erprobte“ Interaktionsmuster zurückgreifen, erscheint ein solcher Rückgriff doch als „richtig“ oder „vernünftig“, als „dem gesunden Menschenverstand entsprechend“.32 Allerdings bestehen die Strukturen, die durch diese Art der Praktiken konstituiert werden, nur so lange, wie die betreffenden Praktiken auch ausgeübt werden.33 Insgesamt ermöglichen diese Ansätze die Erklärung von konsistenten Verhaltensmustern, weil Menschen in bestimmten Situationen immer wieder auf ein spezifisches Set von Handlungsoptionen zurückgreifen. Dies ist für das in der vorliegenden Arbeit untersuchte Kräftefeld der großen adeligen Güter und ihrer Umgebung analytisch von Vorteil, da es gerade um die Untersuchung von aufeinander bezogenen Verhaltensformen verschiedener Akteure geht und um bestimmte Verhaltensformen oder Praktiken, die immer wieder Anwendung finden. Untersucht werden können somit Praxisformen auch des unspektakulären oder „eingespielten“ Verhaltens, die 30 Ann Swidler: What Anchors Cultural Practices? In: The Practice Turn in Contemporary Theory, hrsg. v. Theodore R. Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny, London/ New York 2001, S. 74–92. 31 Siehe in diesem Zusammenhang vor allem Richard Biernacki: The Fabrication of Labour – Germany and Britain, 1640–1914, Berkeley 1995. 32 Clifford Geertz: Common Sense as a Cultural System; in: The Antioch Review 33/1975, S. 5–26. 33 Swidler, What Anchors, S. 85f.

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durch soziale Zusammenhänge stabilisiert werden, ohne diese Zusammenhänge einerseits zu perpetuieren oder andererseits Wandel daraus gänzlich zu verbannen. Anders ausgedrückt: Der Blick wird geschärft für im Alltag langsam vor sich gehende Wandlungsprozesse vor dem Hintergrund einer gewissen Stabilität in der ländlichen Welt, in die aber gleichzeitig jene Veränderungsprozesse „hineinragen“, die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnend sind. Nimmt man also den Großgrundbesitz als Ausgangspunkt einer Untersuchung von Herrschaftspraktiken, dann bieten sich der englische und der böhmische Hochadel mit ihren Latifundien geradezu an. In magnatischer Reinkultur lässt sich hier beobachten, was sonst durch vielfältige Abstufungen stärker verwischt wird: Die adeligen Besitzkonzentrationen waren auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch enorm. Für England und Wales hatte der Return of the Owners of Land von 1876, der auf eine Anfrage Lord Derbys zurückging und mit der radikale Bodenreformpläne als unangemessen zurückgewiesen werden sollten, gezeigt, dass sich ein Viertel des Grund und Bodens in der Hand von 710 fast ausschließlich adeligen Personen befand. Weniger als 5.000 Besitzer teilten sich zu diesem Zeitpunkt nahezu drei Viertel des Territoriums der Britischen Inseln. Vielleicht noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass allein 421 Männer, die überwiegend dem Hochadel angehörten, fast 23 Millionen acres (9,3 Millionen Hektar) ihr Eigen nannten.34 So kommentierte denn auch der Spectator: „Whatever else is uncertain about the position of English 34 ��������������������������������������������������������������������������������������� Cannadine, Decline, S. 54f. Als in den Besitzstrukturen am stärksten aristokratisch geprägte Grafschaften können in den Jahren der Erhebung Rutland, Staffordshire, Dorset, Cheshire, Nottinghamshire und Northamptonshire gelten. F. M. L. Thompson: English Landed Society in the Nineteenth Century, London 1963, S. 33. ���������������������� Mit Blick auf die adeligen Besitzkonzentrationen in England ist in den letzten Jahren diskutiert worden, in welchem Ausmaß Güter in Folge der Agrarkrise und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verkauft worden sind. Während Cannadine vor allem die Verkäufe herausgestellt hat (Cannadine, Decline, S. 103–112), hat Peter Mandler betont, dass viele adelige Familien auch im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein noch über ausgedehnte Ländereien verfügen, die gerade in Zeiten steigender Grundstückspreise einen beträchtlichen Wert darstellen. Peter Mandler: The Fall and Rise of the British Aristocracy; in: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Eckart Conze und Monika Wienfort, Köln 2004, S.  41–58. Ergänzend haben John Beckett und Michael Turner darauf verwiesen, dass die Vorstellung von den umfangreichen Verkäufen auf die Presse des frühen 20. Jahrhunderts zurückgeht. Der Verkauf adeliger Güter sei ein großes Medienereignis gewesen, doch zeige eine genaue Untersuchung der Besitzgrößen, dass der Umfang dieser Verkäufe nicht so beträchtlich war, wie lange angenommen. Dem grundbesitzenden Adel sei die Tendenz der Berichterstattung entgegengekommen, weil er hoffte, dass dies der Landreform-Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen werde. Vortrag Beckett und Turner „The End of the Old Order? The Land Question and the Burden of Ownership in the UK, c. 1880 – c. 1925“ am 22.3.2006 auf der 6. ESSHC in Amsterdam.

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landlords, this one fact is certain: Seven hundred and ten individuals own more than a fourth of the soil of England and Wales, … more, probably, than the same class in any country in Europe, unless it be Hungary or Bohemia.“35 Und in der Tat, auch in Böhmen erreichte die adelige Besitzkonzentration, gemessen an der Gesamtfläche der Region, ein ähnliches Ausmaß: Hier gehörten dem Hochadel 1896 22,5  % der Gesamtfläche des Landes. Dieses knappe Viertel des Grund und Bodens befand sich in der Hand von 160 Besitzern und machte mehr als 1,1 Millionen Hektar aus. Innerhalb dieses Latifundienbesitzes lässt sich noch einmal eine weitere Konzentration beschreiben: 11,4  % der Gesamtfläche des Landes befand sich in der Hand von nur vierzehn Großgrundbesitzern, an deren Spitze mit über 150.000 Hektar die Fürsten Schwarzenberg standen. „Durchschnittliche“ Besitzgrößen von 12.000 und mehr Hektar lassen sich somit sowohl in Böhmen als auch in England finden, und nur am Rande sei vermerkt, dass ähnliche Besitzverhältnisse auch für Mähren und Schlesien nicht untypisch waren.36 Viele dieser Güter waren in Böhmen durch Fideikommisse geschützt, denen in England die Regelungen des strict family settlement entsprachen.37 Es sind nicht nur diese strukturellen Gemeinsamkeiten, die es nahelegen, den hier vorgestellten Überlegungen zur Adelsherrschaft komparativ nachgehen. Zu den Chancen des Vergleichs gehört es darüber hinaus, den „Selbstverständlichkeiten“ der nationalen Meistererzählungen38 zu entgehen und so neue Fragen zu generieren. Nimmt man etwa die Narrative zum böhmischen Adel, so gehört dazu die Vorstellung, er sei „national fremd“ gewesen. Dieses Narrativ geht auf das 19. Jahrhundert und auf die Konstruktion einer tschechischen Nation durch die Nationalbewegung zurück. Danach sei der „eigene“ Adel in der Ständerebellion von 1620 untergegangen, der anwesende im Zuge der habsburgischen Rekatholisierung ins Land gekommen.39 Mit Blick auf das 19. Jahrhundert attestierte die Geschichtsschreibung die35 Zitiert nach J. M. Bourne: Patronage and Society in 19th Century England, London 1986, S. 52. 36 Stekl, Machtverlust, S. 163. Zu den „durchschnittlichen“ Besitzgrößen siehe z. B. Wilhelm v. Medinger: Großgrundbesitz, Fideikommiss und Agrarreform, Wien 1919, S. 34–37; zu England Cannadine, Decline, S. 710f. 37 Zu Böhmen siehe v. Medinger, Großgrundbesitz, zu England John V. Beckett: The Aristocracy in England 1660–1914, Oxford 1986, S. 58f. und S. 63f. Grundsätzlich außerdem auch Wienfort, Adel, S. 70–73 sowie Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 91ff. 38 Siehe dazu z. B.: Zugänge zu historischen Meistererzählungen, hrsg. v. Matthias Middell, Leipzig 2000 oder mit speziellem Blick auf Deutschland: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, hrsg. v. Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, Göttingen 2002. 39 Diese Vorstellung ist von der Frühneuzeitforschung längst überwunden worden. Sie hat unter anderem darauf verwiesen, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl einheimischer

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sen böhmischen Aristokraten eine gewisse Frustration gegenüber der aufsteigenden Nationalbewegung, habe doch der Adel an einer Politik im Stil von Honoratioren festgehalten, sich „selbstverständlich“ keinen Wahlkämpfen gestellt und sei so auf mittlere Sicht den Bürgerlichen unterlegen.40 In der Selbstbeschreibung der tschechischen Nationalbewegung erschien der Adel somit in sozialer und nationaler wie auch religionspolitischer41 Hinsicht als der „Andere“, von dem man sich abgrenzte; eine Lesart, die im Übrigen aus naheliegenden Gründen auch später von einer marxistischen Historiographie nicht in Frage gestellt wurde.42 Die Herrschaftsstrategien einer Familien bereits vor 1620 vom Aussterben bedroht war und insgesamt die Bedeutung des Epochen-„Bruchs“ von 1620 relativiert. Um nur einige der betreffenden Arbeiten zu nennen: Jaroslav Pánek: Poslední Rožmberk. Životní příbĕh Petra Voka [Der letzte Rosenberger. Das Leben von Peter Vok], Praha 1996. Poslední páni z Hradce [Die letzten Herren von Hradec], hrsg. v. Václav Bůžek, České Budĕjovice 1998. Ders. und Petr Mat’a: Wandlungen des Adels in Böhmen und Mähren im Zeitalter des „Absolutismus“ (1620–1740); in: Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (1600–1789), hrsg. v. Ronald G. Asch, Köln 2001, S.  287–321. Václav Bůžek u. a.: Der Adel in den böhmischen Ländern 1526–1740. Stand und Tendenzen der Forschung; in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 137/2002, S.  55–98. Šlechta v habsburské monarchii a císařský dvůr [Der Adel in der Habsburgermonarchie und der kaiserliche Hof ] (1526–1740), hrsg. v. Václav Bůžek und Pavel Král, České Budĕjovice 2003. Pavel Král: Smrt a pohřby české šlechty na počátku novovĕku [Tod und Begräbnisse des böhmischen Adels zu Beginn der Neuzeit], České Budĕjovice 2004. Petr Mat’a: Svĕt české aristokracie [Die Welt der böhmischen Aristokratie] (1500–1700), Praha 2004. Marija Wakounig: Kontinuität und Wandel im böhmischen Adel nach 1620 oder „Der Anfang und das Tor zu all unserem Elend und Trübsal?“; in: Studia Historica Slovenica 1/2004, S. 59–72. 40 Stekl, Machtverlust, S. 161. In diesen Kontext gehört auch die Vorstellung, dass der Adel sich nationaler Rhetorik habe befleißigen müssen, um politisch gegenüber dem Bürgertum nicht völlig ins Abseits zu geraten. Solomon Wank: Aristocrats and Politics in Austria 1867–1914. A Case of Historiographical Neglect; in: East European Quarterly 26/1992, S. 133–148, S. 140 oder Eagle Glassheim: Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge/Mass. 2005, S. 48f. 41 Zur religionspolitischen Abgrenzung siehe Martin Schulze Wessel: Das 19. Jahrhundert als „Zweites konfessionelles Zeitalter“? Thesen zur Religionsgeschichte der böhmischen Länder in europäischer Hinsicht; in: ZfO 50/2001, S. 514–530. 42 �������������������������������������������������������������������������������� Vor 1989 war Forschung zum böhmischen Adel nur im Rahmen der Interpretamente einer marxistischen Historiographie möglich, die in der Adelsherrschaft in Böhmen (und Mähren) eine Ausprägung der Gutswirtschaft preußischen Typs sah, wonach adelige Grundbesitzer die Bauern ausbeuteten und durch Investitionen in die Repräsentation dem Kapitalmarkt Mittel entzogen, die somit nicht der Industrialisierung des Landes zur Verfügung standen. Folgerichtig im Sinne dieser Vorannahmen wurde der Adel für die späte Ausbildung eines Industrieproletariats verantwortlich gemacht. Siehe dazu z. B. Jan Havránek: Die ökonomische und politische Lage der Bauernschaft in den böhmischen

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Sozialformation zu untersuchen, die gegenüber einem bürgerlichen, national-tschechischen oder einem internationalistischen-proletarischen Aufsteiger zum Niedergang historisch geradezu „verdammt“ war, schien wenig gewinnbringend, denn was sollte das den durch das etablierte Narrativ organisierten Kenntnissen an Wissenswertem hinzufügen können? Der Vergleich jedoch, der nach Herrschaft, und damit nach Herrschaftskonkurrenten und konkurrierenden Ordnungsmodellen, also nach funktionalen Äquivalenten fragt, ist eine Form des methodischen Herangehens, sich diesen „Selbstverständlichkeiten“ produktiv zu entziehen. Doch nicht nur die Historiographie zu Böhmen, auch die englische Geschichtsschreibung hat mit Blick auf den Adel gewisse „Selbstverständlichkeiten“ entwickelt. Hier erscheint bis heute eine Trias aus (hoch-)adeligem Grundbesitz, sozialem Status und Macht43 so selbstverständlich, dass die Frage nach den Herrschaftspraktiken bisher gar nicht gestellt worden ist. Auch stimmt die englische Literatur weitgehend darin überein, dass Wilderei und adelige Jagd die entscheidenden Konfliktursachen darstellten.44 Schaut man nach Böhmen und auf den ebenso jagdbegeisterten dortigen Adel, so stellt man fest, dass die Konflikte mit der ländlichen Gesellschaft hier ganz anders geartet waren: Jagd und Wilderei spielten kaum eine Rolle, dagegen ziehen sich Auseinandersetzungen angesichts des Diebstahls von Holz, Kies, Sand oder im Winter Eis wie ein basso continuo durch die adeligen Gutsakten. Das, was in nationalgeschichtlicher Perspektive als „selbstverständlich“ erscheint, stellt sich im Vergleich nicht selten ganz anders, verfremdet dar. In diesem Sinne lässt sich der Vergleich als ein Verfahren zur Generierung von Fragen und zum Testen von Hypothesen verstehen.45 Ländern in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts; in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966, S. 96–132 oder Leoš Jeleček: Die Entwicklung der Landwirtschaft in Böhmen von 1848 bis 1900; in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1989, S. 41–70 sowie Jiří Matĕjček: Šlechta v českých zemích v 19. století (První pokus o přehled) [Der Adel in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert (Erster Versuch eines Überblicks)]; in: Slezský sborník 98/2000, S. 279–299. 43 ����������������������������������������������������������������������������������������� Siehe z. B. Beckett, Aristocracy, S. 43f., Gordon E. Mingay: Rural Life in Victorian England, Gloucester 1990², S. 22f. oder D. C. Moore: The Landed Aristocracy; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 367–382, S. 374 und S. 378. 44 ��������������������������������������������������������������������������������� F. M. L. Thompson: Landowners and the Rural Community; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 457–474. 45 ���������������������������������������������������������������������������������� Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka nennen als methodische Zwecke, denen der Vergleich dienen kann (ohne selbst eine Methode im strengen Sinn zu sein), vier Dimension: Die heuristische, die deskriptive, die analytische und die paradigmatische. Sie machen in diesem Zusammenhang auch auf dessen verfremdende Wirkung aufmerksam, wodurch Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und das Möglichkeitsbewusstsein geschärft werde. Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka: Historischer Vergleich: Methoden, Aufga-

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Kein Vergleich kommt ohne eine Einschätzung von Ähnlichkeiten und Unterschieden aus; dies gehört zu seinen konstitutiven Merkmalen.46 Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Variationen-suchende Komparation47, bei der Unterschiede und ihre Ursachen angesichts von strukturellen Gemeinsamkeiten im Blickpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Zu diesen strukturellen Gemeinsamkeiten gehört die schon angesprochene Flächenhaftigkeit des Großgrundbesitzes, über den die Aristokratie in beiden Regionen auch im späten 19. Jahrhundert noch verfügte: Der Anteil adeligen Besitzes an der Gesamtfläche der beiden Großregionen belief sich auf ähnlich

ben, Probleme. Eine Einleitung; in: Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, hrsg. v. dens., Frankfurt am Main/ New York 1996, S. 9–45, S. 12ff. Zum Testen von Hypothesen siehe Hartmut Kaelble: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 41–47. 46 ������������������������������������������������������������������������������������������� Haupt und Kocka, Vergleich, S. 9ff. und Kaelble, Vergleich, S. 12f. und S. 27. Siehe grundsätzlich auch schon Marc Bloch: Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften; in: Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, hrsg. v. Matthias Middell und Steffen Sammler, Leipzig 1994, S. 121–167 und Otto Hintze: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, Göttingen 1964², S. 251. 47 Bei Vergleichen wird grundsätzlich zwischen generalisierenden und individualisierenden Komparationen unterschieden, bei denen entweder stärker universale Tendenzen oder Unterschiede im Vordergrund stehen. In der Praxis hat sich jedoch eine weitere Aufgliederung nach verschiedenen Vergleichstypen durchgesetzt, zu denen auch der hier genannte Variationen-suchende Vergleich gehört. Siehe dazu grundsätzlich Kaelble, Vergleich, S. 27–34 sowie Theda Skocpol und Margaret Somers: The Uses of Comparative History in Macrosocial Inquiry; in: Comparative Studies in Society and History 22/1980, S. 174–197. Charles Tilly: Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984 oder auch Anton A. van der Braembussche: Historical Explanation and Comparative Method. Towards a Theory of the History of Society; in: History and Theory 28/1989, S. 1–24. Grundsätzlich zum Vergleich siehe ferner Comparison and History. Europe in Cross-National Perspective, hrsg. v. Deborah Cohen und Maura O’Connor, New York 2004. Jürgen Kocka: Comparison and Beyond; in: History and Theory 42/2003, S. 39–44. Hannes Siegrist: Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur, Raum; in: Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, hrsg. v. Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer, Frankfurt am Main 2003, S. 305–339. Chris Lorenz: Comparative Historiography – Problems and Perspectives, in: History and Theory 38/1999, S. 25–39. Diskurse ������������������������������������������� und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, hrsg. v. Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer, Frankfurt am Main/New York 1999. Vergleichende Perspektiven – Perspektiven des Vergleichs. Studien zur europäischen Geschichte von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. v. Helga Schnabel-Schüle, Mainz 1998.

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hohe Prozentsätze. Auch die Größenordnungen je Besitzer waren ähnlich.48 Mitglieder beider Adelsformationen verfügten ferner über weitere Einkommensquellen: Die Forstwirtschaft, der Bergbau, industrielle Unternehmungen sowie städtischer Grundbesitz gehörten dazu. Insgesamt hat man es mit zwei Adelsformationen zu tun, die sich, cum grano salis gesprochen, ökonomisch nicht in der Krise49 befanden. Die beiden Gruppen zeichnen sich durch drei weitere Gemeinsamkeiten aus: Zum einen war bei aller ländlichen Orientierung, die in England in den vielfach publizierten Selbstzeugnissen artikuliert wurde50 und die sich in Böhmen in der häufigen Anwesenheit auf den Gütern zeigt51, die Stadt nicht Inbegriff einer negativ empfundenen Moderne52. Stadtpalais in London, Wien und Prag stellten eine Selbstverständlichkeit dar. In gewisser Weise waren die Angehörigen der beiden Adelsformationen wohl die ersten modernen Pendler, die fast ständig zwischen Hauptstadt und Landsitz unterwegs waren. Zum zweiten handelte es sich beim böhmischen wie beim englischen Hochadel um verhältnismäßig kleine, sozial weitgehend exklusive Gruppen. Gerade mit Blick auf England sei daran erinnert, dass Lawrence und Jeanne C. Fawthier Stone es schon früh explizit als Mythos bezeichnet haben, dass es sich bei der englischen Aristokratie um eine offene Elite handele.53 In diesem Sinne konstatiert auch F. M. L. Thompson: „Historians comparing the society of England and Continental countries have tended to imagine a greater fluidity in the upper reaches of English society than in fact existed.“54 W. D. Rubinstein spricht gar mit Blick auf den Zeitraum zwischen 1780 und 1880 von einem kastenartigen Abschluss der grundbesitzenden Aristokratie ge48 ��������������������������������������������������������������������������������������� Dies gilt unbeschadet des Befundes von David Cannadine, wonach im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus dem britischen Adel zunehmend ein englischer geworden sei, da viele Familien ihre Güter im sogenannten „celtic fringe“ verkauften. Cannadine, Decline, S. 103–112. Die genannten Größenordnungen beziehen sich daher auf die englischen Güter, auch wenn manche der Familien weiterhin über Besitzungen z. B. in Schottland verfügten. Diese bestanden jedoch häufig aus „waste land“ und wurden vor allem als Jagdreviere, nicht jedoch als landwirtschaftliche Betriebe genutzt. 49 Siehe dazu Beckett und Turner, End; zu Böhmen Otto Urban: Die tschechische Gesellschaft 1848–1918, Wien 1994, S. 422. 50 Eine solche Verbundenheit artikulierten etwa Lady Knightley oder auch Lord Shaftesbury. Siehe Louisa Mary Knightley: The Journals of Lady Knightley of Fawsley, 1856–1884, hrsg. v. Julia Cartwright, London 1915. The Life and Work of the 7th Earl of Shaftesbury, hrsg. v. Edwin Hodder, London 1887. 51 Stekl, Machtverlust, S. 154. 52 Malinowski, König, S. 55–72. 53 Für den österreichischen Hochadel siehe William Godsey: Quarterings and Kinship. The Social Composition of the Habsburg Aristocracy in the Dualist Era; in: Journal of Modern History 71/1999, S. 56–104. Zu England Lawrence und Jeanne C. Fawthier Stone: An Open Elite? England 1540–1880, Oxford 1984. 54 Thompson, Society, S. 8.

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genüber den neuen Wirtschaftsmagnaten.55 Ergänzend verweist Patricia Thane darauf, dass keine Gentrifizierung der Mittelschichten bzw. des Wirtschaftsbürgertum stattgefunden habe, sondern unternehmerischen Geist und entsprechende Werte habe es sowohl im Wirtschaftsbürgertum als auch unter adeligen Grundbesitzern gegeben.56 Auch gab es drittens keinen verarmten Kleinadel, der, wie etwa in Preußen57, in die Sozialformation integriert werden musste. Dies lag in Böhmen vor allem daran, dass die Gruppe des Kleinadels insgesamt weitgehend fehlte, was nicht zuletzt auf das Aussterben vieler Familien noch vor der Schlacht am Weißen Berg von 1620 zurückzuführen ist. In England dagegen, dies hat Hans-Christoph Schröder eindrücklich dargestellt, hing nicht nur der Eintritt in den Adel, sondern auch die Stellung innerhalb des Adels weitgehend vom Besitz ab, so dass es keine verarmten Adeligen gab, die den gesamten Adel hätten diskreditieren oder ihn in eine reaktionäre Richtung drängen können.58 Angesichts dieser nicht unbeträchtlichen strukturellen Ähnlichkeiten muss auch auf Unterschiede eingegangen werden: Betrachtet man die Gesamtstaaten, so ist augenfällig, dass die Habsburgermonarchie keine überseeischen Besitzungen hatte. Mit dem Britischen Empire verband sie gleichwohl die Tatsache, dass es sich auch bei ihr um ein Imperium handelte, beide also – um mit Jürgen Osterhammel zu sprechen – Repräsentanten der „im Weltmaßstab dominante[n] territoriale[n] Ordnungsform von Macht“59 darstellten. Auch hat die jüngere Imperienforschung die übliche Unterscheidung zwischen den maritimen Imperien und den kontinentalen Reichen als zu wenig reflektiert in Frage gestellt.60 Jürgen Osterhammel konstatiert darüber hinaus, dass das Habsburgerreich „zahlreiche Merkmale eines typischen Imperiums“61 auf55 W. D. Rubinstein: Men of Property, New Brunswick 1981, S. 219. 56 Patricia Thane: Aristocracy and Middle Class in Victorian England. The Problem of „Gentrification“; in: Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, hrsg. v. Adolf M. Birke , München 1989, S. 93– 108. 57 Malinowski, König, S. 260–282. 58 Siehe zu Böhmen Pavel Král: Das Aussterben böhmischer Adelsgeschlechter an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert; in: Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und Kontinuität des Hauses in der europäischen Adelskultur der frühen Neuzeit, hrsg. v. Horst Carl und Martin Wrede, Mainz 2008, S. 387–398. Zu England Hans-Christoph Schröder: Der englische Adel; in: Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, hrsg. v. Ralph Melville und Armgard v. Reden-Dohna, Stuttgart 1988, S. 22– 88, S. 31ff. 59 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009³, S. 606. 60 Ebd., S. 579 und S. 617ff. 61 Ebd., S. 624.

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gewiesen habe. Mehr noch: „Dass die Herrschaft des Gesetzes und die staatsbürgerliche Gleichstellung im Prinzip überall galten, machten es zu dem ‚modernsten‘ und ‚zivilsten‘ unter den Imperien.“62 Das British Empire dagegen, auch daran lässt Jürgen Osterhammel keinen Zweifel, war im 19. Jahrhundert das erfolgreichste unter den Imperien.63 Spricht die Frage des Empire also nicht gegen den hier vorgenommenen Ver­gleich – zumal Vergleichbarkeit auch keine Gleichartigkeit bedeutet – so gilt dies auch für das Verhältnis der Aristokratie zum Imperium. Mit David Cannadine darf daran erinnert werden, dass bis in die 1880er Jahre galt: „Imperial administration was distinctly unattractive as a patrician career“64, so dass die Mehrzahl der Positionen mit Männern aus der Mittelschicht besetzt waren65. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg änderte sich daran insofern etwas, als nun neben „superannuated politicians“ Adelige aus dem sogenannten celtic fringe oder die jüngeren Söhne aus Familien, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren, um entsprechende Ämter nachsuchten.66Angehörige jener Familien mit großen Ländereien in England, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, fanden nur in seltenen Ausnahmefällen ihren Weg in die Verwaltung der dominions und Kolonien, die ältesten Söhne praktisch nie. Ein für den Untersuchungszusammenhang bedeutsamer Unterschied lässt sich somit weniger mit Blick auf das Empire ausmachen. Eher findet er sich im Kontext der ländlichen Gesellschaften, und hier lässt er sich analytisch fruchtbar machen: Die Rede ist vom Zeitpunkt des Endes der feudalen Herrschaftsrechte. Während diese in England schon seit dem ausgehenden Mittelalter nicht mehr bestanden67, wurden sie in Böhmen endgültig erst in der Revolution von 184868 abgeschafft. Daraus resultiert 62 Ebd., S. 626. Osterhammel verweist hier außerdem darauf, dass auch mit Blick auf den Untergang der geeignetste Vergleich der mit dem British Empire sei. 63 ����������������������������������������������������������������������������������� Ebd., S.  607 sowie ausführlich S.  646–662. Zum jüngeren Imperienvergleich siehe außerdem Jörn Leonhard und Ulrike v. Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2009 sowie Dies.: Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011. 64 Cannadine, Decline, S. 588. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 593–597. 67 Michael Maurer: Kleine Geschichte Englands, Stuttgart 2002, S. 55ff. 68 Christoph Stölzl: Die Ära Bach in Böhmen. Sozialgeschichtliche Studien zum Neoabsolutismus, München/Wien 1971, S.  25ff. Ohne verkennen zu wollen, dass die Existenz einer Revolution einen gravierenden Unterschied darstellt, soll doch erwähnt werden, dass die Mitte des 19. Jahrhunderts auch in England insofern einen Einschnitt kennt, als im Jahre 1846 die corn laws aufgehoben wurden. Colin Matthew: Short Oxford History of The British Isles. The Nineteenth Century, Oxford 2000, S.  8f. und S.  53. Hoppen sieht in den Ereignissen von 1846 einen „crucial ,point of no return‘“, der die Macht der landbesitzenden Klassen zu einem Schatten ihres früheren Selbst habe werden

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eine weitere zu beantwortende Frage dieser Studie: Welchen Einfluss hatte das Fortbestehen bzw. die frühe Abschaffung von feudalen Herrschaftsrechten auf die weiterhin bestehende Form von Adelsherrschaft im Sinne einer sozialen Praxis? Die vorliegende Untersuchung versteht sich daher als im Kern analytische Arbeit, die auf den Vergleich zurückgreift, um Selbstverständlichkeiten nationaler Geschichtsschreibung in ein neues Licht stellen zu können und Fragen zu generieren. Es kommt ihr dabei außerdem zugute, dass ein solcher Vergleich von Adelsformationen wiederholt angeregt wurde.69 Diese Anregungen sind allerdings bisher kaum aufgegriffen worden. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Dominik Lieven, der in seiner vergleichende Studie die Einschätzung teilt, dass sich mit Blick auf den Reichtum ein englischer Herzog während des 19. Jahrhunderts wohl in den obersten Rängen der Habsburger Aristokratie am ehesten unter seinesgleichen gefühlt hätte.70 Mit seiner methodisch geleiteten, komparativen Herangehensweise steht Lieven jedoch in der englischen Geschichtsschreibung eher allein, zeichnet sich diese doch häufig durch implizite Vergleiche aus, die der Selbstvergewisserung durch Abgrenzung Englands bzw. Großbritanniens vom kontinentalen Europa dienen. Dabei kann es zum Beispiel um die Größe der bewirtschafteten Einheiten gehen, von denen es heißt, sie seien auf dem Kontinent nirgends so groß gewesen wie in England71, oder um die Behauptung, dass von allen politischen Eliten in Europa der Adel in Großbritannien die meiste praktische Regierungserfahrung besessen habe72. Auch der Paternalismus sei auf den Britischen Inseln anderer Natur gewesen als auf dem Kontinent: „English paternalism, involving an authoritarianism that was tempered by common law and ancient liberties, was different from Austrian or Russian paternalism. … Society consisted of many different spheres, each with its own hierarchies, though each was part of a larger one. This pluralism distinguished English from Continental paternalism.“73 Inhaltlich wird zu den genannten Einschätzungen im Verlauf der Arbeit noch etwas zu sagen sein, an dieser Stelle steht aber etwas anderes im Vordergrund: Eine weitere Chance des hier vorgestellten Unternehmens besteht darin, auf die im Hinblick auf den Adel vor allem in der englischen Historiographie nicht selten vorkommenden impliziten Vergleiche reagieren zu können. Diese Vergleiche, mit der nicht nur die englische, sondern eigentlich jede nationale Geschichtsschreibung operiert, dienen

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lassen. K. Theodore Hoppen: The Mid-Victorian Generation 1846–1886, Oxford 1998, S. 27 und S. 29. Wehler, Einleitung, S. 15f., Cannadine, Decline, S. 19 sowie Heinz Reif: Der Adel in der modernen Sozialgeschichte; in: Sozialgeschichte in Deutschland, hrsg. v. Wolfgang Schieder und Volker Sellin, 4 Bde, Bd. 4, Göttingen 1987, S. 34–60, S. 59f. Dominik Lieven: Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt am Main 1995, S. 70. Hoppen, Generation, S. 17. Norman Gash: Aristocracy and People. Britain 1815–1865, London 1979, S. 4f. David Roberts: Paternalism in Early Victorian England, London 1979, S. 2f.

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der kulturellen Abgrenzung. Als historische Identitätsfindung sind sie nicht selten Teil der nationalen Mythenbildung.74 Diese Arbeit strebt somit an, durch den Vergleich nicht nur neue Sichtweisen und Fragen an die Gegenstände zu gewinnen, sondern auch durch das Infragestellen nationaler „Selbstverständlichkeiten“, zu denen auch die impliziten Komparationen gehören, einen Beitrag zur Beschreibung Europas als umfassenden Geschichtsraum zu leisten, statt seiner fortgesetzten Teilung in letztlich prinzipiell unterschiedliche, weil unterschiedlich fortschrittliche, Hälften „Ost“ und „West“ das Wort zu reden. Bevor jedoch von diesem umfassenden Europa am Beispiel der Adelsgeschichte ausführlich die Rede sein wird, muss zunächst noch auf einen Vorwurf eingegangen werden, mit dem die komparative historische Forschung immer wieder konfrontiert worden ist. Diese Kritik verbindet sich vor allem mit den Namen Michel Espagne, Michael Werner und Bénédicte Zimmermann. Sie monieren, dass der historische Vergleich jenen zwischen Nationalstaaten privilegiere, wodurch es in der Gegenüberstellung zu einer Festschreibung von Gegensätzen komme, was letztlich die Betrachtung zuvor verabsolutierter Unterschiede nach sich ziehe. Ausgeblendet würden dabei die zwischen den Vergleichseinheiten bestehenden Beziehungen und wechselseitigen Transfers.75 74 Die Zeitgenossen wussten noch um die strukturellen Ähnlichkeiten. Dies zeigt nicht nur das Spectator-Zitat nach der Veröffentlichung des Return of the Owners of Land. Auch der 11. Duke of Bedford klagte: „Political leaders have industriously fostered the misconception, that English land tenure is a solitary exception to the rule of European land-holding.“ A. H. Russell, Duke of Bedford: A Great Agricultural Estate. Being the Story of the Origin and Administration of Woburn and Thorney, London 1897, S. 8. Zur Funktion der impliziten Vergleiche siehe Geoffrey Crossick: And What Should They Know of England? Die vergleichende Geschichtsschreibung im heutigen Großbritannien; in: Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, hrsg. v. Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 61–75 sowie Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts; in: HZ 267/1998, S. 649–685, S. 653–657. Zur Bedeutung der countryside für die Konstruktion von Britishness bzw. Englishness siehe Paul Ward: Britishness since 1870, London/New York 2004, S.  54–66 und Christine Berberich: „I was meditating about England“. The ����������������������������������������������������������������������������� Importance of Rural England for the Construction of Englishness; in: History, Nationhood and the Question of Britain, hrsg. v. Helen Brocklehurst und Robert Phillips, Basingstoke 2004, S. 375–385. ��������������������������������������������� Siehe außerdem auch Bill Luckin: Unending Debate – Town, Country and the Construction of the Rural in England 1870–2000; in: Umwelt und Geschichte in Deutschland und Großbritannien, hrsg. v. Franz Bosbach, Jens Ivo Engles und Fiona Watson, München 2006, S. 77–90 sowie Jeremy Burchardt: Paradise Lost. Rural Idyll and Social Change in England since 1800, London 2002. 75 Siehe zu der Kritik vor allem Michel Espagne: Bordeaux – Baltique. La présence culturelle allemande à Bourdeaux aux XVIIIe et XIXe siècles, Paris 1991 und Ders.: Sur les limites du

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In der Tat müssen solche Warnungen ernst genommen werden, und so hat die Komparatistik darauf mit erhöhter Selbstreflektion reagiert. Diese konkretisiert sich in dem Plädoyer von Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka, kleinere geographische Einheiten für den Vergleich, vor allem Regionen, statt der Nationalstaaten zu privilegieren und in den Überlegungen von Hartmut Kaelble, der darlegt, warum eine Trennung der Vergleichseinheiten in methodischer Hinsicht dennoch geboten ist.76 In dieser Untersuchung stehen daher mit England und Böhmen auch bewusst keine Nationalstaaten, sondern Großregionen im Mittelpunkt des Interesses. Ferner gilt, dass die Adelsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Geschichte transnationaler Beziehungen dieser Sozialformation erst noch geschrieben werden muss. Mit Blick auf die Kontakte zwischen böhmischem und englischem Adel lässt sich jedoch festhalten, dass hier der Vergleich nicht zu einer künstlichen Trennung der Einheiten der Komparation führt, da zumindest direkte Kontakte zwischen den Angehörigen der beiden Gruppen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher selten waren.77 Was für das gesellschaftliche Leben gilt, lässt sich auch für die Heiratskreise comparatisme en histoire culturelle; in: Genèses 17/1994, S. 112–121. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen; in: GG 28/2002, S.  607–636. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity; in: History and Theory 45/2006, S. 30–50. Außerdem: Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001. Hartmut Kaelble: Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer; in: Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, hrsg. v. Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer, Frankfurt am Main 2003, S. 469–493. 76 Siehe die grundsätzlichen Beobachtungen zur Selbstreflexion unter Komparatisten bei Paulmann, Vergleich, S. 671 sowie zu den Konkretisierungen Haupt und Kocka, Vergleich, S. 30f. und Kaelble, Vergleich, S. 20f. 77 �������������������������������������������������������������������������������������� Für die Zeit um die Jahrhundertmitte bzw. den unmittelbar darauf folgenden Jahren wissen wir von böhmisch-englischen Adelsbegegnungen. So hielt etwa Eugen Graf Czernin seine Reise nach England in einem eigenen Reisetagebuch fest. Auch Mitglieder der Familie Russell besuchten Mitteleuropa. Odo Russell und sein Bruder Hastings erinnerten sich zum Beispiel an Kinderjagden, bei denen sie die jungen Prinzen Esterhazy und Schwarzenberg kennengelernt hatten. Nach einem Wienaufenthalt im Jahre 1869 klagte Odo jedoch, dass das Wien seiner Jugend nicht mehr existiere. Dies deckt sich mit dem generellen Befund, dass die Kontakte zwischen dem böhmischen und englischen Adel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich abnahmen, wie z. B. die Sichtung des Gästebuchs der Grafen Waldstein zeigt. Man blieb nun unter sich. Eine Ausnahme stellten die Reisen der Kaiserin Elisabeth dar, die unter dem Namen „Gräfin Hohenelbe“ zur Jagd nach England und Irland fuhr. In ihrer Entourage befand sich unter anderem Karl Graf Kinsky, der 1883 als erster Ausländer im Hindernisrennen das Grand National gewann. Möglichkeiten zu direkter Begegnung boten auch andere Reisen: Karl IV. Schwarzenberg

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festhalten: Eheliche Verbindungen waren außerordentlich selten. Ihnen standen konfessionellen Unterschiede entgegen, war doch der böhmische Adel fast durchgängig katholisch, während der englische überwiegend der Church of England angehörte. Trotz der geringen direkten Kontakte lassen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch Transferprozesse ausmachen, die sich vor allem auf die Strukturen der Selbstverwaltung beziehen. Sie kommen im fünften Kapitel zur Sprache. Um die methodischen Ausführungen noch einmal zu bündeln: Die vorliegende Arbeit untersucht vergleichend, wie englische und böhmische Adelige Herrschaft über Land und Leute im 19. Jahrhundert aufrecht zu erhalten suchten. Diese Stabilisierung von Herrschaft wurde in Aushandlungsprozessen des Alltags erreicht oder verspielt, in Frage gestellt, unterlaufen, hingenommen oder begrüßt. Zentraler Unetwa lernte 1890 auf einer Nilkreuzfahrt Lady Jersey, die Schwester des britischen Premierministers Lord Salisbury, und Lady Galloway kennen (und musste deren Vorurteilen entgegentreten, etwa dass der österreichische Hochadel seine Töchter alle in Klöster stecke). Auch wenn Karl Schwarzenberg die Begegnung mit Angehörigen des britischen Hochadels zu den wichtigsten Erfahrungen seiner Reise zählte, so ergaben sich daraus dennoch keine längerfristigen Kontakte. Dies gilt offenbar auch für die Aufenthalte englischer Adeliger in den böhmischen Bädern. In ihren publizierten Memoiren erwähnen sie manchmal, Besuchskarten bei den Fürsten Schwarzenberg oder Esterhazy abgegeben zu haben. Weiteres ist darüber jedoch ebenso wenig bekannt wie über die Pflege von Kontakten anlässlich der kaiserlichen Jagdbesuche. Auch in diesem Sinne gilt, dass die Geschichte der transnationalen Adelsbegegnungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst noch geschrieben werden muss. Zur Czerninschen Englandreise SOA Třeboň: Reisetagebuch Eugen Graf Czernin, Englandreise 1851. Zu den Kontakten der Russell-Familie Karina Urbach: Bismarck’s Favourite Englishman. Lord Odo Russell’s Mission to Berlin, London 1999, S. 23 und S. 119. Das ������������������������������������������������������ Besucherbuch der Grafen Waldstein umfasst die Jahre 1850 bis 1929. Ein Eintrag englischer Gäste ließ sich darin jedoch nicht finden. SNA Prag: RAV, kart. 104. Zu Karl IV. Schwarzenberg in Ägypten siehe Zdenĕk Bezecný: Karl IV. zu Schwarzenberg. Das Leben eines Adeligen im 19. Jahrhundert; in: Etudes danubiennes 19/2003, S. 95–102, S. 99. Zu den Jagdreisen der Kaiserin Elisabeth Robert Evans: Austria-Hungary and the Victorians. Some Views and Contacts; in: Great Britain and Central Europe 1867–1914, hrsg. v. Robert Evans, Dušan Kováč und Edita Ivaničková, Bratislava 2002, S.  11–23, S.  20. Zu Kuren in Karlsbad weilten etwa 1843 der 7. Earl of Shaftesbury oder 1858 der 8. Duke of Argyell. Hodder, Shaf­tesbury, Bd. 1, S.  502 und George Douglas Eighth Duke of Argyell: Autobiography and Memoirs, hrsg. v. der Dowager Duchess of Argyell, 2 Bde, Bd. 2, London 1906, S. 119ff. Für eine Geschichte der böhmisch-englischen Adelsbegegnungen sind die publizierten Ego-Dokumente allerdings eine eher problematische Quelle. Neben dem, was für diese Quellengattung grundsätzlich gilt, kommt in diesem speziellen Fall hinzu, dass sie für ein englisches Publikum verfasst worden sind. Erwähnt wird daher vor allem, wen man aus der englischen Gesellschaft in Baden-Baden oder Karlsbad getroffen hat. Ob dies nun bedeutet, dass man auch am Kurort weitgehend unter sich blieb oder ob das heimische Publikum wenig Interesse an den „kontinentalen Begegnungen“ hatte, muss daher offen bleiben.

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tersuchungsgegenstand sind daher die Praktiken der Beteiligten, die Interaktionszusammenhänge, in denen diese Praktiken eingesetzt wurden, sowie die Konflikte, die daraus resultierten. Ausgangspunkt all dieser Überlegungen und zentrale strukturelle Gemeinsamkeit ist der flächenhafte Großgrundbesitz, den Aristokraten in Böhmen und in England ihr Eigen nannten: „Herrschaft über Land und Leute“ setzte Landbesitz voraus, damit Herrschaft, auch und gerade informelle, über Leute möglich war. Im Hinblick auf die „Herrschaft über Leute“ ist jedoch auch der wichtigste Unterschied zwischen beiden Adelsformationen festzuhalten: Der Zeitpunkt, zu dem sie ihre ständischen Privilegien verloren. Während diese in England bereits seit dem ausgehenden Mittelalter nicht mehr bestanden, wurden sie in Böhmen vollständig erst mit der Revolution von 1848/49 abgeschafft. Aus dieser Tatsache ergibt sich auch der zeitliche Zuschnitt der Untersuchung: Sie umgreift die zweite Hälfte des langen 19. Jahrhunderts, beginnend nach der Revolution auf dem europäischen Kontinent, als beide untersuchten Adelsformationen nicht mehr über Privilegien verfügten, und endend mit den Jahren des Ersten Weltkrieges. Zwar lassen sich auch in der Zwischenkriegszeit noch Züge der hier analysierten Herrschaftsstrukturen ausmachen.78 Die Unterschiede sind jedoch erheblich: Zunächst erschütterte der hohe Blutzoll, den vor allem der englische Adel auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges entrichtete, dessen Lebenswelt merklich. Die Durchsetzung demokratischer Gesellschaftsverfassungen, Besitzveräußerungen in Großbritannien und die Bodenreform in der Tschechoslowakei sowie später die Nationalisierung von Schlüsselindustrien und Kohlegruben brachten für den Adel in beiden Regionen gewaltige Veränderungen mit sich.79 Blickt man auf die Forschungslandschaft, so sind Fragen der hier dargelegten Art vor allem für Böhmen (und Mähren80) bisher nicht gestellt worden. Dies erstaunt angesichts der Ausführungen zum Narrativ vom „fremden“ Adel wohl nicht. Doch 78 ���������������������������������������������������������������������������������� Jüngst hat Monika Wienfort mit Blick auf die deutschen Adelsformationen dafür plädiert, für die Adelsgeschichte die Zäsur von 1918/19 nicht zu stark zu machen, da sonst die Jahre der Weimarer Republik vor allem als eine Art Abgesang erscheinen. Dagegen favorisiert sie einen zeitlichen Zusammenhang der Jahre 1880 bis1930 als „Klassische Moderne“ und begründet dies mit einem Set von adeligen Praktiken, die es ermöglichen, die Adelsgeschichte dieser Jahre neu und anders zu legitimieren. Explizit nennt sie u. a. Wohltätigkeit und Strategien zur Bewahrung des Familienbesitzes. Monika Wienfort: Adelige Handlungsspielräume und neue Adelstypen in der „Klassischen Moderne“ (1880–1930); in: GG 33/2007, S. 416–438. 79 Cannadine, Decline, S. 71–86; Maurer, Geschichte, 452f. und Glassheim, Nationalists, S. 62–66. 80 Die Forschung zum böhmischen Adel ist allerdings insgesamt deutlich weiter gediehen als jene zum mährischen. Dies hat mit einer gewissen Schwerpunktbildung in der tschechischen Historiographie zu tun. Cum grano salis gesprochen, wird der böhmische Adel vornehmlich an den Universitäten in Prag (Moderne) und Budweis (Frühneuzeit) bearbeitet.

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seit nach der Wende die tschechische Öffentlichkeit den Adel der böhmischen Länder immer mehr als Teil des eigenen kulturellen Erbes entdeckt, ist auch eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zur Reintegration des böhmischen Adels in die Nationalgeschichte auszumachen.81 Diese wird wissenschaftlich begleitet von einer grundsätzlichen Diskussion um den Stellenwert der Erforschung von Eliten in der Geschichtswissenschaft.82 In der Adelsgeschichtsschreibung selbst dominiert neben genealogischen und heraldischen Arbeiten83 vor allem ein familiengeschichtlicher Zugang. Auf breiter Quellengrundlage, aber häufig zurückhaltend in der Thesenbildung, haben die Grafen Kinsky, Buquoy, Chotek und Clam-Martinic sowie die Fürsten Lobkowitz, Windisch-Graetz und vor allem Schwarzenberg „ihre“ Historiographen gefunden.84 Untersuchungen, die diese Ergebnisse im Sinne einer Adelsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte bündeln, fehlen jedoch, anders als für die Frühe Neuzeit85, bisher

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Die mährische Geschichte ist dagegen vor allem an der Universität Brünn vertreten, wo der Schwerpunkt eher auf Forschungen zur lokalen Entwicklung des Bürgertums liegt. Siehe dazu den Forschungsüberblick der Verfasserin zum böhmischen Adel: Tatjana Tönsmeyer: Der böhmische Adel zwischen Revolution und Reform, 1848–1918/21. Ein Forschungsbericht; in: GG 32/2006, S. 364–384, S. 367 und S. 383. Promĕny elit v moderní dobĕ [Elitenwandel in der Moderne], hrsg. v. Zdenĕk Bezecný, Milena Lenderová und Jiří Kubeš, České Budĕjovice 2003. Siehe auch Gernot Stimmer: Eliten in Österreich 1848–1970, 2 Bde, Wien 1997. Siehe dazu z. B. Petr Mašek: Modrá krev. Minulost a přítomnost 445 šlechtických rodů v českých zemích [Blaues Blut. Vergangenheit und Gegenwart von 445 adeligen Geschlechtern in den böhmischen Ländern], Praha 2003³. Jan Županič und František Stellner: Encyklopedie knížecích rodů zemí Koruny české [Enzyklopädie der fürstlichen Familien der Länder der böhmischen Krone], Praha 2001. Michal Fiala und Tomáš Krejčik: Erbovní listiny Archivů Národního Muzea [Wappenbriefe aus dem Archiv des Nationalmuseums], Praha 2001. Jan Halada: Lexikon české šlechty. Erby, fakta, osobnosti, sídla a zajímavosti [Lexikon des böhmischen Adels. Wappen, Fakten, Personen, Sitze und Denkwürdigkeiten], Praha 19994. Aleš Valenta: Dějiny rodu Kinských [Die Geschichte des Geschlechts Kinsky], České Budějovice 2004. Pavel Koblasa: Buquoyové. Stručné dějiny rodu [Das Geschlecht Buquoy. Eine kurze Geschichte], České Budějovice 2002. Ivo Cerman: Chotkové. Přiběh úřednické slechty [Die Choteks. Eine Geschichte des Amtsadels], Praha 2008. Jiří Georgiev: Heinrich Jaroslav Graf Clam-Martinic und „Selfgovernment“ in Österreich; in: Etudes danubiennes 19/2003, S. 75–86. Milan Hlavačka: Der 70. Geburtstag des Fürsten Georg Christian Lobkowicz oder Aufstieg und Fall des konservativen Großgrundbesitzes in Böhmen; in: Ebd., S. 87–94. Hannes Stekl und Marija Wakounig: Windisch-Graetz. Ein Fürstenhaus im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1992. Zdeněk Bezecný: Příliš uzavřená společnost [Eine sehr geschlossene Gesellschaft], České Budějovice 2005. Petr Mat’a: Svĕt české aristokracie [Die Welt der böhmischen Aristokratie] (1500–1700), Praha 2004.

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noch. Als ein weiterer Schwerpunkt, und dies verbindet Arbeiten zur Moderne und zur Frühen Neuzeit, zeichnen sich kulturgeschichtlich inspirierte Studien ab, die sich für adeliges Selbstverständnis interessieren. Die Bedeutung der Familie, eine funktional ausdifferenzierte, spezifische Sprachverwendung und ein neues Ausbalancieren von Öffentlichkeit und Privatheit in den Repräsentationsbauten sind in einer Reihe von Untersuchungen thematisiert worden.86 Ein dritter Komplex von Arbeiten schließlich fragt nach einem Elitenkompromiss in den böhmischen Ländern bzw. spezieller nach dem Verhältnis zum tschechischen Bürgertum und zur Nationalbewegung. Als mögliche Orte eines Elitenkompromisses sind die Hofgesellschaft und die Funktionseliten untersucht worden. Mit Blick auf die Hofgesellschaft fällt das Urteil jedoch eindeutig aus: Der österreichische Hochadel blieb hier auch im späten 19. Jahrhundert ganz unter sich.87 Ebenso zeigen Untersuchungen zu den Funktionseliten eher Exklusions- als Inklusionsmechanismen. So sei es unter den hohen Militärs nie zu einer Verschmelzung zwischen „altem“ und „neuem“ Adel gekommen.88 Die Personalpolitik des Ballhausplatzes habe gar darauf abgezielt, Kandidaten aus dem Bürgertum aus den Reihen des diplomatischen Dienstes fernzuhalten.89 Forschungen zum Verhältnis von Adel und bürgerlicher Nationalbewegung weisen darauf hin, dass anders als ihre polnischen oder ungarischen Standesgenossen sich die böhmischen hohen Herren nicht an die Spitze einer ständischen Freiheitsbewegung setzten, die ihre soziale Basis durch die „Nationali86 ���������������������������������������������������������������������������������������� Radmila Švaříčková-Slabáková: Rodinné strategie šlechty. Mensdorffové-Pouilly v 19. století [Adelige Familienstrategien. Das Geschlecht Mensdorff-Pouilly im 19. Jahrhundert], Praha 2007. Radmila Slabáková: Rodina a její hodnota u rakousko-české aristokracie v 19. století (na příkladu Dietrichsteinů a Mensdorffů-Pouilly) [Die Familie als Wert in der österreichisch-böhmischen Aristokratie im 19. Jahrhundert (am Beispiel Dietrichstein und Mensdorff-Pouilly)]; in: Studie k sociálním dějinám 6/2001, S. 275–285. Dies.: Il est „Höchst Zeit“ aneb Jaký jazyk pro aristokracii v Čechách a na Moravě v 19. století? [Il est „Höchst Zeit“ oder: Welche Sprache nutzte die Aristokratie in Böhmen und Mähren im 19. Jahrhundert?]; in: Komunikace a izolace v české kultuře 19. století, hrsg. v. Kateřina Bláhová, Praha 2002, S. 102–115. Milan Hlavačka: Dětství, dospívaní a rodinná strategie v korespondenci dětí knížeti Jiřímu Kristiánu Lobkovicovi [Kindheit, Heranwachsen und Familienstrategie in der Korrespondenz der Kinder mit dem Fürsten Georg Christian Lobkowitz]; in: Porta Bohemica 2/2003, S.  7–23. Jindřich Vybíral: Století dĕdiců a zakladatelů. Architektura jižních Čech v období historismu [ Jahrhunderte der Erben und Stifter. Die Architektur Südböhmens im Zeitalter des Historismus], Praha 1999. 87 William Godsey: Quarterings and Kinship. The Social Composition of the Habsburg Aristocracy in the Dualist Era; in: Journal of Modern History 71/1999, S. 56–104. 88 Istvan Deák: Beyond Nationalism. A Social and Political History of the Habsburg Officer Corps 1848–1918, Oxford 1990, S. 160f. 89 William Godsey: Aristocratic Redoubt. The Austro-Hungarian Foreign Office on the Eve of the First World War, West Lafayette 1999; die betreffende Einschätzung S. 204ff.

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sierung“ ihrer Werte und Vorstellungen zunehmend verbreitert.90 Die Frage der nationalen Orientierung des böhmischen Adels gehört daher zu den am lebhaftesten diskutierten, und das Spektrum reicht von Stimmen, die an einer supranationalen Orientierung des böhmischen Adels festhalten bis hin zu solchen, die argumentieren, er habe sich zunehmend national positioniert, schon um nicht ins politische Abseits zu geraten.91 Wo aber dieses politische Abseits gewesen wäre, bzw. positiv gewendet, was zu den politischen Zielen des böhmischen Adels gehörte, darüber wissen wir so gut wie nichts. Dieser Befund gilt auch und gerade für die Agrarpolitik und damit zusammenhängende Bereiche einschließlich der Gestaltung der sozialen Verhältnisse auf dem Lande.92 Dies ist angesichts des flächenhaften Großgrundbesitzes des böhmischen Adels durchaus erstaunlich, zeigt aber, wie stark die geschilderten Narrative die Forschung

90 Zu Polen Müller, Landbürger, S. 87–105; allgemein Joachim v. Puttkamer: Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010. 91 Solomon Wank: Some Reflections on Aristocrats and Nationalism in Bohemia, 1861– 1899; in: Canadian Review of Studies of Nationalism 20/1993, S. 21–33. Robert Luft: Nationale Utraquisten in Böhmen. Zur Problematik „Nationaler Zwischenstellungen“ am Ende des 19. Jahrhunderts; in: Allemands, Juifs et Tchèques à Prague. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag 1890–1924, hrsg. v. Maurice Godé u. a., Montpellier 1996, S. 37– 52. Ralph Melville: Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1998. Eagle Glassheim: Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge/Mass. 2005. ��������������������������������������������������������������� Glassheim postuliert gar für die Zwischenkriegszeit: „Noble national identifications were built from politics, not culture.“ Ebd., S. 8. 92 ��������������������������������������������������������������������������������� Die Literatur begnügt sich mit den unisono vorgetragenen Hinweisen, dass dem böhmischen Adel mit dem Kurienwahlrecht zum Landtag und zum Reichsrat sowie mit der Institution des Herrenhauses vielfältige Möglichkeiten offenstanden, die Gestaltung der Politik aktiv zu beeinflussen. Wie diese Institutionen jedoch genutzt wurden, ist bisher noch Desiderat. Siehe diese Literatur zusammenfassend Tönsmeyer, Adel, S.  378–381. Zu den beiden „Fraktionen“ des böhmischen Adels, den sogenannten Feudalkonservativen, die eher dezentralistisch-landespatriotisch orientiert waren, und den zentralistisch ausgerichteten „Verfassungstreuen“ Jiří Georgiev: Strana konzervativního velkostatku [Die Partei des konservativen Großgrundbesitzes]; in: Politické strany. Vývoj politických stran a hnutí v českých zemích a Československu 1861–2004 [Politische Parteien. Die Entwicklung politischer Parteien und Bewegungen in den böhmischen Ländern und der Tschechoslowakei 1861–2004], hrsg. v. Jiří Malíř, Pavel Marek a. u., Brno 2005, S. 59–86 und Luboš Velek: Strana ústavovĕrného velkostatku [Die Partei des Verfassungstreuen Großgrundbesitzes]; in: Ebd., S. 87–108. Mit biographischem Ansatz: Solomon Wank: In the Twilight of Empire. Count Alois Lexa von Aehrenthal (1854–1912). Imperial Habsburg Patriot and Statesman, Wien 2009.

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lange Zeit strukturiert haben. Die ökonomische Macht des böhmischen Adels hat erst in den letzten Jahren stärkere Aufmerksamkeit gefunden.93 Davor hatte lange der Grundsatz gegolten, die Adeligen seien als „Rentiers“ im Grunde des Wirtschaftens gar nicht fähig, die Leitung der Güter habe ganz in der Hand bürgerlicher, tsche93 Siehe dazu jüngst vergleichend Tatjana Tönsmeyer: Grundbesitzender Adel als ländlicher Arbeitgeber. Ein böhmisch-englischer Vergleich; in: Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne, hrsg. v. Ivo Cerman und Luboš Velek, München 2009, S. 247–266. Zur Bewirtschaftung und Verwaltung der Güter, wobei die Besitzungen der Primo- und Sekundogenitur der Fürsten Schwarzenberg besondere Aufmerksamkeit erfahren haben: Antonín Nikendey: Schwarzenberský lesmistr Vilém Soucha [Der Schwarzenberger Forstmeister Vilém Soucha] (1824–1896); in: Výbĕr – Časopis pro historii a vlastivĕdu jižních Čech 33/1996, S.  61–65. Zdenĕk Bezecný: Bývalí poddaní a bývalá vrchnost [Ehemalige Untertanen und die ehemalige Herrschaft]; in: Studie k sociálním dĕjinám 1 (8)/1998, S.  9–21. Bohumil Jiroušek: Rybnikář Josef Šusta v Třeboni [Der Fischmeister Josef Šusta in Třeboň]; in: Jihočeský sborník historický 68/1999, S. 187–198. Raimund Paleczek: Modernisierung des Großgrundbesitzes des Fürsten Johann Adolph zu Schwarzenberg in Südböhmen während des Neoabsolutismus, Marburg 2008. Gustav Hofmann: Hospodaření a majetkové pomĕry Alfreda Josefa Mikulaše a Alfreda Augusta Karla z Windischgratzu v letech 1862 až 1927 [Wirtschaftstätigkeit und Besitzverhältnisse von Alfred Josef Nikolaus und Alfred Karl von Windisch-Graetz in den Jahren 1862 bis 1927]; in: Studie k sociálním dĕjinám 5/2000, S. 5–59. Jiří Záloha: Úřednictvo schwarzenberských velkostatků v Čechách v 2. polovinĕ 19. století [Die Verwaltung der Schwarzenbergschen Güter in Böhmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts]; in: Ebd., S. 93–118. Ders.: Sociální zařizení na statcích hlubockých Schwarzenberků [Soziale Einrichtungen auf den Gütern der Hlubokaer Linie der Schwarzenberger]; in: Ebd. 7/2001, S.  15–28. Adolf Kalný: Priorita třeboňského velkostatku v drenážování [Die führende Rolle des Gutsbesitzes Třeboň bei der Einführung der Drainage]; in: Archivum Trebonense 9/2001, S. 131ff. Anna Smolková: Těžba kamenného uhlí na Schwarzenberském báňském majetku v okolí Kroučové a Kounova od 1. pol. 19. století až do znárodnění v roce 1946 [Die Förderung von Steinkohle in den Schwarzenbergschen Kohlegruben Kroučova und Kounova von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Nationalisierung im Jahre 1946]; in: Studie z dějin hornictví 21/1991, S. 187–226. Der böhmische Hochadel hatte außerdem eine starke Position in der Lebensmittelindustrie, aber auch zum Beispiel in der Eisenproduktion. Im Jahre 1886 befanden sich 80 der 120 Zuckerraffinerien Böhmens in den Händen adeliger Besitzer. Im Jahrzehnt zuvor produzierten böhmische Adelige außerdem etwa 40 % des Eisens der Provinz. Milan Myška: Der Adel der böhmischen Länder. Seine wirtschaftliche Basis und Entwicklung; in: Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, hrsg. v. Ralph Melville und Armgard v. Reden-Dohna, Stuttgart 1988, S. 169–189. Zum adeligen Industrieengagement seit der Frühindustrialisierung siehe Herman Freudenberger: Lost Momentum. Austria‘s Economic Development 1750s – 1830s, Wien/Köln/Weimar 2003, S. 207–254, Ralph Melville: Grundherrschaft, rationale Landwirtschaft und Frühindustrialisierung. Kapitalistische Modernisierung und spätfeudale Sozialordnung in Österreich von den theresianisch-josephinischen Reformen bis 1848; in: Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft

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chischer Verwalter gelegen. Auch dies ist letztlich ein Widerhall der weiter oben skizzierten Interpretamente nationaltschechischer und marxistischer Provenienz, die sich an verschiedenen Punkten berühren und gegenseitig verstärken: Der böhmische Adel wurde entweder als ökonomischer Ausbeuter der Bauern und Landlosen oder als politischer Gegner einer städtisch-tschechischen Nationalbewegung verstanden. Die deutlich späteren Nationalisierungsprozesse auf dem Land94 und die Stabilität gewachsener katholischer Milieus95 ließen die Welt auf den adeligen Gütern und in ihrem Umfeld, das soziale und politische Gefüge der Agrargesellschaft sowie hier ausgeübte Herrschaftspraktiken bis jetzt weitgehend Desiderat bleiben. Auch die Forschung zum englischen Adel weist Desiderate auf; diese sind jedoch anders geartet als jene zu den böhmischen Aristokraten. Hier stellt der Zusammenhang aus Landbesitz, Reichtum und Autorität bzw. sozialer Kontrolle auch für die wissenschaftliche Literatur – uneingeschränkt bis zur Agrarkrise, danach unter gewandelten Rahmenbedingungen96 – eine Selbstverständlichkeit dar, die auf der sozialen und kulturellen Erfahrung einer Gesellschaft beruht, an deren Spitze noch immer eine Monarchin steht und in der der Adel nicht nur in den Klatschspalten der Regenbogenpresse präsent ist. Folgerichtig hat nicht nur der hochadelige Großgrundbesitz als solcher historiographische Aufmerksamkeit gefunden, sondern auch dessen wirtschaftliche Seite sowie die Landwirtschaft im Allgemeinen und das Sozialgefüge der Agrargesellschaft. Zum ersten Bereich gehören etwa die Untersuchungen von John Beckett und Michael Turner zur Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivität sowie der Pachten97, aber auch Arbeiten zur Verwaltung der adeligen Güter und zum adeligen

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und Gesellschaft im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, hrsg. v. Herbert Matis, Berlin 1981, S. 295–313 sowie jüngst Šlechtic podnikatelem – Podnikatel šlechticem. Šlechta a podnikání v českých zemích v 18.–19. století [Vom Adel zum Unternehmer – Vom Unternehmer zum Adeligen. Adel und Unternehmertum in der böhmischen Ländern im 18. und 19. Jahrhundert], hrsg. v. Jiří Brňovják und Aleš Zářický, Ostrava 2008. Dazu schon Peter Heumos: Interessensolidarität gegen Nationalgemeinschaft. Deutsche und tschechische Bauern in Böhmen 1848–1918; in: Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848–1918, hrsg. v. Ferdinand Seibt, München 1987, S. 87–99 sowie Pieter M. Judson: Nationalizing Rural Landscapes in Cisleithania, 1880–1914; in: Creating the Other. ���� Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, hrsg. v. Nancy M. Wingfield, New York/Oxford 2003, S. 127–148. Pavel Marek: Der tschechische politische Katholizismus in den Jahren 1890–1914; in: MIÖG 111/2003, S. 445–469. Thompson, Society, S. 25–44 und S. 109–150 sowie John Bateman: The Great Landowners of Great Britain and Ireland, Leicester 1971 (repr.). Michael Turner, John Beckett und Bethanie Afton: Agricultural Rent in England 1690– 1914, Cambridge 1997 und Dies.: Farm Production in England 1700–1914, Oxford 2001.

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Investitionsverhalten98. Der Agrargesellschaft im Viktorianischen Zeitalter haben sich vor allem F. M. L. Thompson und Gordon E. Mingay in einer Reihe von Werken schon seit den 1960er Jahren angenommen.99 Während Thompson, ausgehend von den ökonomischen Interessen aristokratischer Landbesitzer, den inneren Veränderungsprozessen der ländlichen Gesellschaft auf der Spur ist und dabei insgesamt ein Bild des Macht- und Einflussverlustes zeichnet, begegnen dem Lesepublikum in den Veröffentlichungen von Gordon E. Mingay zumeist benevolente landlords, die sich in paternalistischer Manier um Landarbeiter kümmern und deren gemeinsame Interessen an der Landwirtschaft Konflikte mit den Pächtern in der Regel gar nicht erst aufkommen lassen. So heißt es mit Blick auf die Pächter, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen: „For their part the tenants understood that they were perfectly secure so long as they farmed reasonably, paid theirs rents, showed the respect to the landlord and his family that was customarily expected and turned out to vote when required.”100 Im Ergebnis wird hier die countryside zum Gegenbild der Welt der Industrialisierung. Dieser Entwurf einer Agrargesellschaft und die tendenziell harmonisierende Betrachtung ihrer Konflikte ist nicht unwidersprochen geblieben. So wendet sich z. B. David Cannadine explizit gegen eine romantisierende Sicht der Welt des manor house.101 Außerdem verweisen Studien zur Wilderei, die auch F. M. L. Thompson als vorrangigen Konflikt in der ländlichen Gesellschaft ausmacht102, darauf, dass es einen 98 Graham Mee: Aristocratic Enterprise. The Fitzwilliam Industrial Untertakings 1795–1857, Glasgow/London 1975. David Spring: The English Landed Estate in the Nineteenth Century. Its Administration, Baltimore 1963. J. T. Ward: West Riding Landowners and Mining in the Nineteenth Century; in: Yorkshire Bulletin of Economic and Social Research 15/1963, S. 61–74. Landowners, Capitalists and Entrepreneurs. Essays for Sir John Habakkuk, hrsg. v. F. M. L. Thompson, Oxford 1994 sowie schon zeitgenössisch Henry Herbert Smith: The Principles of Landed Estate Management, London 1898. 99 Thompson, Society. Ders.: Chartered Surveyors. The Growth of a Profession, London 1968. Land and Society in Britain, 1700–1914. Essays in Honour of F. M. L. Thompson, hrsg. v. Negley Harte und Roland Ouinault, Manchester 1996. Gordon E. Mingay: The Gentry. The Rise and Fall of a Ruling Class, London/New York 1976. The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, London 1981. Gordon E. Mingay: A Social History of the English Countryside, London 1990. Ders.: Rural Life in Victorian England, Gloucester 1990². Ders.: Land and Society in England 1750–1980, London/ New York 1994. Siehe auch Jeremy Burchardt: Agricultural History, Rural History or Countryside History? In: Historical Journal 50/2007, S. 465–481. 100 Mingay, Gentry, S. 190f. 101 ����������������������������������������������������������������������������������������� Cannadine wehrt sich gegen eine solche Sicht der Dinge bereits explizit in seiner Einleitung. Cannadine, Decline, S. 4. 102 ������������������������������������������������������������������������������ F. M. L. Thompson: Landowners and the Rural Community; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London 1981, S. 457–474.

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„war in the countryside“ gegeben habe, ausgefochten zwischen Jagdaufsehern und Polizisten auf der einen Seite, und (zumeist männlichen) Mitgliedern der Agrargesellschaft auf der anderen.103 Erscheinen in einem Teil der Untersuchungen die sozialen Verhältnisse als harmonisch geregelt und daher weitgehend statisch, beschränken sie sich in der Interpretation aus der Perspektive einer Sozialgeschichte der Kriminalität häufig auf gewaltsame Konflikte. Der Fokus liegt hier auf einer Geschichte „von unten“, die sich für Autoritäten nur in dem Maße interessiert, wie die Protagonisten der Narration mit ihr in Konflikt geraten; entsprechend schematisch werden sie gezeichnet. Es ist daher zusammenfassend festzuhalten, dass trotz des Vorhandenseins von Untersuchungen zu Einzelaspekten und auch trotz der beiden herausragenden Synthesen zum englischen bzw. britischen Adel von John Beckett104 und David Cannadine105 jene Wandlungsprozesse, die die Stellung des Hochadels in der ländlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten, sowohl für England als auch für Böhmen erst in Ansätzen untersucht worden sind. Angesichts dieser Forschungslage waren umfangreiche Quellenrecherchen zur Beantwortung der gestellten Fragen nötig. Als einschlägige Bestände boten sich dabei grundsätzlich die Überlieferungen der adeligen Gutsverwaltungen an. Dieses reichhaltige Material ist durch adelige Ego-Dokumente und die Überlieferung der Organe der örtlichen Selbstverwaltung sowie jene von Vereinen und Verbänden ergänzt worden. Während für die Mehrzahl dieser Quellengruppen Akten in nicht geringem Umfang zur Verfügung stehen, sind für viele Vereine und Verbände, zumal für die agricultural societies, Unterlagen nicht zentral gesammelt worden, so dass nur jene Splitter auf uns gekommen sind, die sich in den Gutsverwaltungen erhalten haben. Neben diesem handschriftlichen Material wurde ferner die zeitgenössische lokale Presse sowie zeitgenössisches Schrifttum herangezogen. Doch was vorhanden ist, ist nicht immer auch der Nutzung zugänglich. In Tschechien stellt sich die Situation meist so dar, dass Adelsarchive zusammen mit den 103 David Jones: Rural Crime and Protest; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, London/New York 1981, S. 566–579. John E. Archer: By a Flash and a Scare. Incendiarism, Animal Mai­ming, and Poaching in East Anglia, 1815–1870, Oxford 1990. Joshua Getzler: Judges and Hunters. Law and Economic Conflict in the English Countryside, 1800–1960; in: Communities and Courts in Britain 1150–1900, hrsg. v. Christopher W. Brooks und Michael Lobban, London 1997, S. 199–228. ���������� Hans-Christoph Schröder spricht davon, dass zwischen Wildhütern und Wilderern „vielfach … ein förmlicher Kriegszustand“ geherrscht habe. Schröder, Adel, S. 45. 104 John Beckett: The Aristocracy in England 1660–1914, Oxford 1986. 105 David Cannadine: The Decline and Fall of the British Aristocracy, London 1996. An weiteren Gesamtdarstellungen ist neben der Pionierstudie von F. M. L. Thompson: English Landed Society in the Nineteenth Century, London/Toronto 1963 ferner zu nennen: M. L. Bush: The English Aristocracy. A Comparative Synthesis, Manchester 1984 wie auch Ellis Archer Wasson: Aristocracy and the Modern World, Basingstoke 2006.

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Schlössern und Gütern nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 verstaatlicht worden sind. Die Erstellung von Findbüchern datiert daher meist in die 1950er Jahre und lässt die ideologischen Prägungen der Zeit erkennen, sofern überhaupt Findmittel vorhanden sind. Dies führt mitunter zu der paradoxen Situation, dass gerade sehr umfangreiche Bestände nicht oder nur in Teilen zugänglich sind, weil sie (noch) nicht erschlossen sind. In praktischer Hinsicht kommt ferner hinzu, dass die Adelsarchive nicht selten in den Schlössern der betreffenden Familien untergebracht sind (was ohne Frage seinen eigenen Reiz für die Benutzerinnen und Benutzer hat). Im Sinne des tschechischen Archivwesens handelt es sich dabei jedoch zumeist um Zweigstellen der regionalen Staatsarchive mit beschränkten Öffnungszeiten. In England ist man dagegen häufig mit einer genau konträren Situation konfrontiert. Adelige Familienarchive sind hier bis heute vielfach in der Hand gräflicher oder herzoglicher Geschlechter und als solche zum Teil, gegen hohe Entgeltzahlungen, in den jeweiligen Hausarchiven einsehbar; zum Teil befinden sie sich als Depositen in den county record offices. Hier sind sie in manchen Fällen frei zugänglich, in anderen nur nach Genehmigung durch einen Beauftragten der Familie, in wieder weiteren Fällen ist das Kopieren oder Fotografieren genehmigungs- oder kostenpflichtig. Angesichts dieser Archivsituation war es für die Quellenerhebung dieser Untersuchung grundlegend, solche Adelsüberlieferungen auszuwählen, die nicht nur die notwendige Dichte des Materials zur Beantwortung der gestellten Fragen aufweisen, sondern die auch in rechtlicher, finanzieller und praktischer Hinsicht zugänglich sind.106 Ferner wurden sowohl mit Blick auf England als auch auf Böhmen solche hochadeligen Familien ausgewählt, die Güter in verschiedenen Land- bzw. Grafschaften besaßen. Neben einer gleichmäßigen regionalen Verteilung wurde außerdem darauf geachtet, dass sowohl primär landwirtschaftlich orientierte Gebiete als auch solche vertreten sind, die sich in relativer Nähe von Industriezentren befanden bzw. dass die adeligen Besitzerfamilien auch Kohlengruben oder Betriebe des produzierenden Gewerbes ihr Eigen nannten. Für England war ferner wichtig, dass Landstriche erfasst wurden, in denen die Bevölkerung sowohl der Church of England angehörte als auch dem dissent. Analog dazu galt es für Böhmen, Besitzungen zu finden, deren nichtadelige Bewohnerinnen und Bewohner sowohl tschechisch als auch deutsch sprachen, wie auch solche, wo eine Sprache überwog. In der Konsequenz all dieser Kriterien ist die Entscheidung daher für die Marquesses of Londonderry, die Earls of Shrewsberry und die Dukes of Bedford sowie die gräflichen Geschlechter Waldstein, Czernin und Kolowrat (als Besitznachfolger des Gutes Březnice nach den Grafen Pálffy) sowie die 106 Für England geben die beiden Bände der Royal Commission on Historical Manuscripts: Principal Family and Estate Collections. Guides to Sources for British History, Bd. 10 und 11, London 1996 und 1999 einen guten ersten Eindruck. Zu Böhmen siehe Rita Krueger und Eagle Glassheim: Noble Family Archives (Czech Republic); in: Austrian History Yearbook 29/1998, S. 35–42.

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Fürsten Schwarzenberg (Sekundogenitur) gefallen. Ergänzend wurden die Überlieferungen der Earls of Derby und der Dukes of Sutherland sowie der Grafen Chotek und Nostitz-Rieneck herangezogen. Die einzelnen Kapitel werden im Übrigen zeigen, dass damit nicht nur die männlichen Familienmitglieder gemeint sind, denn hochadelige Frauen waren keineswegs nur auf die häusliche Sphäre verwiesen, sondern besaßen nicht selten eigenen Landbesitz und verwalteten diesen auch. Entsprechend konnten sie Patronatsherrinnen sein. Auch bei der Wohltätigkeit spielten sie eine bedeutsame Rolle. Ebenso waren es vielfach Frauen (und Kinder), die dieser Unterstützung besonders bedurften, und wir finden sie auch als Arbeitskräfte auf den Gütern. Kurz: Herrschaft wurde sowohl von Männern als auch von Frauen ausgehandelt, und somit hat diese Untersuchung auch eine geschlechtergeschichtliche Dimension. Der ländlichen Gesellschaft auf den adeligen Gütern und in ihrem Umfeld nähert sich die Untersuchung nicht chronologisch, sondern systematisch und stellt die verschiedenen Interaktionszusammenhänge, in denen Herrschaft ausgehandelt und stabilisiert wurde, in den Mittelpunkt der einzelnen Abschnitte. Zuvor referiert jedoch das erste Kapitel einige Grundzüge des ländlichen Raums in England und Böhmen im europäischen Kontext. Hier geht es um Spezifika der Agrarverfassung, Fragen der land- und forstwirtschaftlichen Produktivität wie auch um kurze Ausführungen zur Agrarkrise. Das zweite Kapitel wendet sich dann den Akteuren und Akteurinnen der Agrargesellschaft zu. Das sind zunächst die Magnaten selbst. Als Besitzer der Güter wird ihr Umgang mit dieser zentralen Ressource untersucht, wobei ihr Selbstverständnis und ihre Wirtschaftspraktiken wichtige Gegenstände sind. Dann folgen Ausführungen zum Verwaltungspersonal, das auf englischen wie böhmischen Gütern ein Bindeglied zu Pächtern und Schaffern, Mägden und Knechten, Landarbeitern und Häuslern darstellte. Diesen bäuerlichen wie unterbäuerlichen Gruppen widmen sich zwei weitere Unterkapitel. Nachdem damit die wichtigsten Akteure und Akteurinnen der Aushandlungsprozesse vorgestellt sind, rücken die Interaktionszusammenhänge in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dies sind zunächst die Güter. Hier ist auffällig, dass trotz der strukturellen Ähnlichkeiten in beiden Großregionen und Gemeinsamkeiten bei Praktiken auf Seiten der Magnaten, im Hinblick auf die typischen Konfliktfelder eindeutige Unterschiede bestanden. Das dritte Kapitel beschreibt zunächst diese Unterschiede und kommt dann in vergleichenden Ausführungen auf die dahinterliegenden Konfliktlogiken zu sprechen, wobei auch die unterschiedliche „Feudalerfahrung“ (und damit der Zeitpunkt der Abschaffung feudaler Herrschaftsrechte) eine Rolle spielt. Das vierte Kapitel thematisiert, eng mit den Gütern zusammenhängend, die eher traditionalen Foren adeliger Herrschaftsstabilisierung: Wohltätigkeit, Pfarr- und Kirchenpatronate sowie Feste, bevor abschießend im fünften Kapitel mit den Lokalverwaltungen sowie den Vereinen und Verbänden jene Handlungszusammenhänge angesprochen werden, in denen Adelige ebenfalls Herrschaft aushandelten, die sie aber weniger (Vereine) bzw. in nachlassendem Maße (Lokalverwaltungen) als traditionale

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Foren begreifen konnten, wollten sie in ihrem Aushandeln erfolgreich sein. Die in den Kapiteln drei bis fünf untersuchten Praktiken verweisen immer wieder auf den damit einhergehenden Versuch, Sinn in einer sich wandelnden Welt zu stiften. Solange diese Sinnstiftung mit ihren materiellen wie immateriellen Aspekten funktionierte, konnte Herrschaft ausgehandelt werden und der großgrundbesitzende Hochadel Böhmens und Englands sich zumindest in den agrarisch-ländlich geprägten Teilgesellschaften stabilisieren. Wenn die Sinnstiftung jedoch nicht mehr funktionierte und Konflikte überhandnahmen, dann konnten – aus adeliger Sicht – Herrschaftskonkurrenten die Szenerie betreten. Das waren zum einen die Funktionsträger der in die Fläche vorrückenden Zentralstaaten, zum anderen Träger konkurrierender Ordnungsmodelle, als die sich in England die Klassengesellschaft, in Böhmen stärker die Nationalgesellschaft erwiesen. Zu all diesen Akteuren und Entwicklungen mussten sich die hochadeligen Latifundienbesitzer verhalten. Da sich bei der Untersuchung dieser Zusammenhänge, zumal im Vergleich, ein mehrpoliges und recht komplexes Bild ergibt, werden die Befunde dazu aus den einzelnen Kapiteln im Fazit noch einmal zusammengeführt. Eine letzte Anmerkung noch: Die Ausführungen zu Böhmen werden zeigen, dass das Tschechische und Deutsche weitgehend parallel verwendet wurden, da die Akteurinnen und Akteure der ländlichen Regionen beider Sprachen mächtig waren. Quellenzitate aus dem Tschechischen sind daher für diejenigen Leserinnen und Leser, die sich von der zeitgenössischen Bevölkerung an diesem Punkt unterscheiden, übersetzt, Ortsbezeichnungen und Personennamen jedoch so belassen worden, wie sie in der zeitgenössischen Überlieferung erscheinen und in einer Ortsnamenskonkordanz am Ende der Untersuchung aufgeschlüsselt.

1 Der ländliche Raum im 19. Jahrhundert: England und Böhmen im europäischen Kontext

Denkt man an das 19. Jahrhundert, so steigen vor dem inneren Auge der meisten Betrachter eher Bilder von rauchenden Industrieschloten und demonstrierenden Arbeitern auf, als von weiten landwirtschaftlich genutzten Flächen und von Bauern, die hinter ihrem Pflug gehen. Tatsächlich ging in England der „Industriellen Revolution“ bereits im 18. Jahrhundert eine „Agrarrevolution“ voraus, die sich durch eine deutliche Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität auszeichnete. Voraussetzung dafür wiederum war die Zusammenfassung der landwirtschaftlichen Anbaufläche durch die „Einhegungen“. Die damit verbundenen gravierenden Umwälzungen in der Agrarverfassung bedeuteten de facto eine Enteignung kleiner Parzellenbesitzer und gemeinschaftlich genutzter Gemeindebesitzungen zugunsten adliger Großgrundbesitzer. Die ländliche Gesellschaft Englands war in der Folge dieser Restrukturierung vor allem durch drei Großgruppen gekennzeichnet: Überwiegend adelige Landbesitzer, Pächter und Landarbeiter.1 Für den ökonomischen Erfolg einer in diesem Sinne deutlich veränderten Landwirtschaft wird in der Literatur vor allem die Stärkung der Marktrationalität herausgestellt. Diese sei zwar nicht an die

1 Zur Agrarrevolution in England siehe u. a. John V. Beckett: The Agricultural Revolution, Oxford 1990. Außerdem: The Agricultural Revolution 1750–1880, hrsg. v. J. D. Chambers und Gordon E. Mingay, London 1966 und Gordon E. Mingay: The Agricultural Revolution in English History. A Reconsideration; in: Essays in Agrarian History, hrsg. v. W. E. Minchinton, Bd. 2, New York 1968, S. 11–27, ferner Patrick O‘Brien: Agriculture and the Industrial Revolution; in: Economic History Review 1977, S. 166–181 und Toni Pierenkemper: Englische Agrarrevolution und preußisch-deutsche Agrarreformen in vergleichender Perspektive; in: Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. ������������ Zur ökonomische Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, hrsg. v. dems., Stuttgart 1989, S. 7–25. Von einer „Agrarrevolution“ könne man in Bezug auf Preußen bzw. Deutschland laut Dipper jedoch erst im 20. Jahrhundert sprechen. Christof Dipper: Landwirtschaft im Wandel. Neue Perspektiven der preußisch-deutschen Agrargeschichte im 19. Jahrhundert; in: NPL 38/1993, S. 29–42, S. 32. Zu den Einhegungen siehe Roger J. P. Kain, Richard R. Oliver und John Chapman: The Enclosure Maps of England and Wales 1595–1918. A Cartographic Analysis and Electronic Catalogue, Cambridge 2004 sowie The Land Question in Britain, 1750–1950, hrsg. v. Matthew Cragoe und Paul Readman, Basingstoke 2010.

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Existenz eines Großgrundbesitzes gebunden, jedoch mit einer solchen Agrarverfassung leichter zu realisieren.2 Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung in Böhmen anders verlaufen zu sein, gehörte Böhmen doch als eines der Kronländer zur Habsburgermonarchie, die wiederum im 19. Jahrhundert überwiegend als Agrarland gilt. Dies ist gewiss für Regionen wie Galizien oder die Bukowina ganz richtig, sicher auch für weite Landstriche des historischen Ungarn. Zu den am stärksten industrialisierten Gebieten Cisleithaniens gehörten jedoch neben dem Wiener Becken gerade Teile Böhmens.3 Die Agrarregionen dieses Kronlandes hatten einen ersten Aufschwung von Produktion und Produktivität bereits um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erlebt, als sich viele adelige Großgrundbesitzer den Methoden der rationellen Landwirtschaft öffneten und nicht selten individuelle Lösungen für die Aufhebung der Robot mit den Untertanen vereinbarten.4 Toni Pierenkemper hat für Preußen-Deutschland dargelegt, dass die Freisetzung der Agrarproduzenten aus den feudalen Bindungen in einem komplexen und auch konfliktreichen Prozess erst den Aufschwung der Landwirtschaft ermöglicht habe.5 2 Pierenkemper führt dieses Argument auch für Preußen-Deutschland an. Pierenkemper, Agrarrevolution, S. 24f. 3 ������������������������������������������������������������������������������������ Zur industriellen Entwicklung der Habsburgermonarchie unter besonderer Berücksichtigung Böhmens siehe Herbert Matis und Karl Bachinger: Österreichs industrielle Entwicklung; in: Die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Bd. 1, Wien 1973, S.  105–232, bes. S.  118–142, Herbert Matis: Die Habsburgermonarchie (Cisleithanien); in: Grundriß der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1848 bis zur Gegenwart, hrsg. v. Karl Bachinger, Hildegard Hemetsberger-Koller und Herbert Matis, Wien 19945, S. 25–33 und Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart; in: Österreichische Geschichte, hrsg. v. Herwig Wolfram, Wien 1995, S. 233–273 und S. 292–313. 4 Ralph Melville: Grundherrschaft, rationale Landwirtschaft und Frühindustrialisierung. Kapitalistische Modernisierung und spätfeudale Sozialordnung in Österreich von den theresianisch-josephinischen Reformen bis 1848; in: Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, hrsg. v. Herbert Matis, Berlin 1981, S. 295–313. Vielfach lagerten diese Entwicklungen auf älteren auf. So hatte untertänige wie gutsherrschaftliche Landwirtschaft z. B. in Poděbrady bereits im 17. und 18. Jahrhundert eine dynamische Entwicklung hin zur marktorientierten Agrarproduktion durchlaufen. Siehe dazu Lenka Matušíková und Alena Pazderová: Regionen mit kommerzieller Landwirtschaft und in agrarischer Randlage im Vergleich; in: Soziale Strukturen in Böhmen. Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften, 16.–19. Jahrhundert, hrsg. v. Markus Cerman und Hermann Zeitlhofer, Wien/ München 2002, S. 126–144. 5 ��������������������������������������������������������������������������������� Pierenkemper, Agrarrevolution, S.  17. Skeptischer gegenüber einem direkten Zusammenhang von Bauernbefreiung und Industrialisierung, speziell mit Blick auf Sachsen und Württemberg, dagegen Dipper, Landwirtschaft, S. 33.

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Dieser Befund gilt nicht nur für bäuerliche Wirtschaften, sondern ebenso mit Blick auf Böhmen, wo die Agrarverfassung ganz wesentlich durch den grundbesitzenden Adel geprägt war. Waren es in England die Einhegungen gewesen, die den Adel zur bestimmenden Gruppe der Agrarverfassung hatten werden lassen, so geht seine starke Position in Böhmen auf die Phase der sogenannten Zweiten Leibeigenschaft nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zurück. In der Folge des beträchtlichen Bevölkerungsrückgangs gelang es dem Adel, seinen Besitz stark zu vergrößern sowie gutsherrschaftliche Verhältnisse mit hohen Frondiensten und großer persönlicher Abhängigkeit der Untertanen durchzusetzen.6 Die Fortwirkungen dieser Entwicklung lassen sich auch im 19. Jahrhundert noch erkennen, waren die böhmischen Länder doch im Rahmen der Habsburgermonarchie 1869 jene Region, die mit 19 % den geringsten Anteil an selbständigen Produzenten im Agrarsektor aufwies und den höchsten an Landarbeitern (81 %).7 Vor allem die adeligen Güter hatten, wie bereits kurz angedeutet, vielfach an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einen bedeutenden Produktivitätsschub erfahren. Einen weiteren kann man in der Folge der Ablösung aller noch verbliebenen Grundlasten nach der Revolution von 1848 feststellen, so dass sich insgesamt die Produktivität des Agrarsektors, ausgedrückt in Getreideeinheiten, bis zum Ersten Weltkrieg vervierfachte.8 Die Zuwächse in der Landwirtschaft waren damit nicht nur 6 Zur sog. Zweiten Leibeigenschaft siehe vor allem Eduard Maur: Gutsherrschaft und „zweite Leibeigenschaft“ in Böhmen. Studien zur Wirtschafts-, Sozial- und Bevölkerungsgeschichte (14. – 18. Jahrhundert), München 2001. Siehe außerdem auch Sheilagh Ogilvie: Communities and „Second Serfdom“ in Early Modern Bohemia; in: Past and Present 187/2005, S.  69–119 sowie dies. und J. S.  S.  Edwards: Frauen und „Zweite Leibeigenschaft“ in Böhmen; in: Bohemia 44/2003, S. 100–145. Verschiedene Autoren haben zeigen können, dass die Protoindustrialisierung in Böhmen durch diese gutswirtschaftlichen Strukturen nicht behindert wurde. Siehe dazu z. B. Milan Myška: Proto-Industrialisierung in Böhmen, Mähren und Schlesien; in: Protoindustrialisierung in Europa. Industrielle Fabrikation vor dem Fabrikzeitalter, hrsg. v. Markus Cerman und Sheilagh Ogilvie, Wien 1994, S. 177–191 sowie Markus Cerman: Protoindustrialisierung und Grundherrschaft. Sozialstruktur, Feudalherrschaft und Textilgewerbe in Nordböhmen (15. bis 17. Jahrhundert); in: Protoindustrialisierung in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hrsg. v. Dietrich Ebeling und Wolfgang Mager, Bielefeld 1997, S. 157–198 sowie Soziale Strukturen in Böhmen. Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften, 16.–19. Jahrhundert, hrsg. v. Markus Cerman und Hermann Zeitlhofer, Wien/München 2002 und Herman Freudenberger: Lost Momentum. Austrian Economic Development 1750s–1830s, Wien/Köln/Weimar 2003, S. 41. 7 Leoš Jeleček: Die Entwicklung der Landwirtschaft in Böhmen von 1848 bis 1900; in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1989, S. 41–70, S. 43. 8 Ebenda, S. 47f. Siehe dazu außerdem J. Křivka: Výnosy hlavních zemědělských plodin v Čechách v letech 1870–1913 [Die Erträge der wichtigsten Feldfrüchte in Böhmen in den

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in Böhmen oder England, sondern auch in vielen deutschen Territorien so groß, dass ein immer kleinerer Anteil aller Erwerbstätigen eine wachsende Bevölkerung zu ernähren vermochte.9 Dieser Befund darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Agrarsektor auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts noch ein bedeutender Arbeitgeber blieb. So wuchs in Deutschland die absolute Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten weiterhin an, während ihr relativer Anteil sukzessive zurückging, so dass 1907 etwa 35 % der Erwerbstätigen in diesem Sektor ihr Auskommen fanden.10 Ähnliche Größenordnungen wies auch Böhmen auf, wo 1910 36,6 % der Erwerbspersonen in der Land- und Forstwirtschaft tätig waren, gegenüber 50,9 % im Jahre 1869.11 Selbst im Mutterland der Industriellen Revolution stellte die Landwirtschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts „still by far the largest single occupation“12 dar. Erst 1851 erreichte die Anzahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft Großbritanniens mit etwa 2,1 Millionen Menschen ihren Höhepunkt, als ungefähr doppelt so viele auf den Feldern wie in den Fabriken arbeiteten.13 Hier fielen dann allerdings die Schrumpfungsprozesse markanter aus: 1910 waren nur noch 10 % der Beschäftigten direkt in der Landwirtschaft angestellt.14 Gleichzeitig stieg jedoch die Zahl derjenigen, die in landwirtschaftsnahen Bereichen beschäftigt waren, wo durch die Technisierung und Chemisierung des Agrarsektors neue Arbeitsplätze entstanden.15 Angesichts der zentralen Rolle des Adels in den Agrarverfassungen Englands und Böhmens, der großen Besitzkonzentration und der Marktorientierung16 adeliger Güter standen die in der Landwirtschaft Beschäftigten in beiden Regionen häufig auf den Gehaltslisten adeliger Großgrundbesitzer bzw. waren deren Pächter.

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Jahren 1870–1913], Praha 1989 und Helmut Wohlschlägl: Das Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion im 19. Jahrhundert. Der Viehbestand; in: Österreich-Ungarn als Agrarstaat. Wirtschaftliches Wachstum und Agrarverhältnisse in Österreich im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Alfred Hoffmann und Michael Mitterauer, Wien 1978, S. 118–194. Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 48. Ebd., S. 48f. Zdenĕk Kárník und Jan Mĕchyř: Social Democracy and Village Dwellers in Bohemia, 1870–1914; in: Urban Radicals, Rural Allies. Social Democracy and the Agrarian Issue, 1870–1914, hrsg. v. Aad Blok, Keith Hitchens, Raymond Markey und Birger Simonson, Bern 2002, S. 301–323, S. 303f. Gash, Aristocracy, S.  320. Die gleiche Einschätzung findet sich auch bei Gordon E. Mingay: Rural Life in Victorian England, Gloucester 1990, S. 22. K. Theodore Hoppen: The Mid-Victorian Generation 1846–1886, Oxford 1998, S. 11. Gordon E. Mingay: The Gentry. The Rise and Fall of a Ruling Class, London/New York 1976, S. 78. Siehe dazu ausführlich Kapitel 2.3. Siehe dazu mit Blick auf Böhmen wie England die Ausführungen in der Einleitung sowie im folgenden Teilkapitel.

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In der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Anfangspunkt dieser Untersuchung, hatten die Agrarproduzenten in beiden Regionen auf gravierende Veränderungen zu reagieren. In Böhmen wurden in der Folge der Revolution von 1848 alle noch bestehenden Dienste und Giebigkeiten abgeschafft und damit die Bauernbefreiung vollendet. Allerdings hatten die ehemaligen Untertanen, anders als etwa in Galizien17, Ablösezahlungen zu leisten. Deren Gesamtsumme belief sich in Böhmen auf 45,2 Millionen Gulden, wovon allein die Familie Schwarzenberg 2,2 Millionen, die der Lobkowitz 1,2 Millionen Gulden erhielt.18 Dieses Kapital nutzten adlige Gutsbesitzer, die nun auch nicht mehr für die Finanzierung der Patrimonialverwaltung aufzukommen hatten, um ihre Betriebe zu modernisieren. Investiert wurde dabei vor allem in die Mechanisierung, da Lohnkosten nach der Abschaffung der Robot stärker zu Buche schlugen, aber auch in die Arrondierung des Grundbesitzes.19 Die Modernisierung der Güter, ihre Ausrichtung auf die Erfordernisse des Marktes und der Übergang zu einer kapitalistischen Wirtschaftsweise: Dies waren die Herausforderungen, denen sich der böhmische Adel nach der Bauernbefreiung zu stellen hatte. Die gute Agrarkonjunktur in den 1850er und 1860er Jahren erleichterte ihm die dabei nötigen Anpassungsprozesse beträchtlich. Dies war auch der Grund, warum der Großgrundbesitz insgesamt aus der Agrarkrise ökonomisch kaum geschwächt hervorging. Sie wies in Böhmen zwei Phasen auf, wobei die erste der Jahre 1873 bis 1879 weniger tiefgreifend war und durch den Verfall der zuvor stark ausgeweiteten Lebensmittelindustrie und durch Missernten mitausgelöst wurde. Da der Preisverfall sich jedoch in Grenzen hielt, erscheint es insgesamt eher angemessen, von einer Stagnation zu sprechen. Stärkere Auswirkungen hatte dagegen die zweite Phase der Krise, die 1879 einsetzte und erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts als überwunden gelten kann. Nachdem ihre Auswirkungen durch eine gute Konjunktur in der Rübenwirtschaft zunächst noch gemildert wurden, lösten die großen Missernten des Jahres 1882 und der Import billigen ungarischen Getreides einen Preisverfall aus. Zwischen 1873 und 1894 sanken die Durchschnittspreise von Weizen um 56 % und von Roggen um 47 %. Mitte der 1880er Jahre wurde darüber hinaus auch die Rübenwirtschaft von der Krise erfasst, die ihren Höhepunkt 1894/95 erreichte.20 17 Zu Galizien siehe z. B. Karl Dinklage: Die landwirtschaftliche Entwicklung; in: Die Habs­­burgermonarchie, hrsg. v. Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Bd. 1, Wien 1973, S. 403–461, S. 404. 18 Karl Grünberg: Die Grundentlastung; in: Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft und ihrer Industrien 1848–1899, Wien 1899, S. 1–81, S. 65. 19 Tatjana Tönsmeyer: Grundbesitzender Adel als ländlicher Arbeitgeber. Ein böhmischenglischer Vergleich; in: Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne, hrsg. v. Ivo Cerman und Luboš Velek, München 2009, S. 247–266 und Stölzl, Ära, S. 35ff.. 20 Jeleček, Landwirtschaft, S.  52ff. Siehe auch Dinklage, Entwicklung, S.  417. Dazu, dass der böhmische Hochadel weitgehend unangefochten aus der Agrarkrise hervorging, auch

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Anders als die häufig verschuldeten Klein- und Mittelbauern21 konnten adelige Großgrundbesitzer jedoch besser auf die Herausforderungen reagieren. Dazu gehörte zum einen eine gewisse Orientierung auf die Gerste, die vom Preisverfall weniger stark betroffen war, weil sie im Brauwesen Absatz fand. Ferner blieb die tierische Produktion von der Krise praktisch unberührt, so dass adelige Gutsbesitzer in Zuchtund Mastbetriebe investierten.22 Vor allem kam ihnen jedoch ihr häufig ausgedehnter Waldbesitz zugute. Angesichts der seit den 1870er Jahren steigenden Preise für Holz kann man für Böhmen in dieser Zeit erstmals seit Jahrhunderten wieder eine gewisse Aufforstung beobachten. Nimmt man außerdem Holzwaren und Papier hinzu, so stellte Holz in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts den wichtigsten Exportartikel der Monarchie dar. Seine wertmäßigen Volumina überstiegen 1891 sowohl jene für Mehl und Getreide als auch für Zucker.23 Neben der leichteren Anpassung an die Gegebenheiten des Marktes milderte auch das Nachgeben der Preise für Kunstdünger und Landmaschinen24 die Auswirkungen der Krise für den Großgrundbesitz, weil dies eine Senkung seiner Kosten bedeutete, wovon die wenig mechanisierten Klein- und Mittelbetriebe nicht zu profitieren vermochten. Insgesamt kann man daher festhalten, daß der adelige Großgrundbesitz auf die mit der Agrarkrise verbundenen Herausforderungen durch die Ausrichtung auf absatzfähige Produkte sowie eine Intensivierung der Anbaumethoden und eine damit verbundene Ertragssteigerung erfolgreich zu reagieren vermochte. Böhmen blieb dadurch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trotz Agrarkrise, im Rahmen der Habsburgermo­narchie der wichtigste Lieferant jener Feldfrüchte, die der Zuckerfabrikation und der Herstellung von Bier dienten.25 Auch der englische Adel musste in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf Herausforderungen reagieren. Zwar fehlte auf den Britischen Inseln ein Pendant zur Revolution von 1848, und feudale Herrschaftsrechte bestanden bereits seit dem ausgehenden Mittelalter nicht mehr.26 Einen Einschnitt gab es gleichwohl, als im Jahr 1846 die 1815 eingeführten Zölle zum Schutz der einheimischen Getreideproduktion

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William Godsey: Quarterings and Kinship. The ������������������������������������������ Social Composition of the Habsburg Aristocracy in the Dualist Era; in: Journal of Modern History 71/1999, S. 56–104, S. 85ff. Die Verschuldung war zum einen auf die zu leistenden Ablösezahlungen zurückzuführen, zum anderen auf Investitionen zur Modernisierung der Betriebe. Dinklage, Entwicklung, S. 454f. Siehe auch Peter Heumos: Agrarische Interessen und nationale Politik in Böhmen 1848–1889, Wiesbaden 1979, S. 25. Jeleček, Landwirtschaft, S. 50, S. 53 und S. 60. Ebd., S. 49 und Dinklage, Entwicklung, S. 442. Jeleček, Landwirtschaft, S. 54. Zum Mechanisierungsgrad siehe Dinklage, Entwicklung, S. 414. Dinklage, Entwicklung, S. 417. Michael Maurer: Kleine Geschichte Englands, Stuttgart 2002, S. 55f. Siehe auch Werner Rösener: Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, S. 102f. und S. 110.

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vor Importen aufgehoben und in den 1850er Jahren weitere Maßnahmen zur Liberalisierung des Außenhandels verabschiedet wurden. Mit dieser „Durchbruchsphase des Freihandels“ endete die Bevorzugung der ländlichen Produzenten vor den städtischen Verbrauchern.27 Die dadurch ausgelösten Veränderungen waren in der Einschätzung von Theodore Hoppen so gravierend, dass danach die Macht der adeligen Großgrundbesitzer nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen sei.28 Unzweifelhaft lässt sich festhalten, dass die Landwirtschaft in England nun gezwungen war, sich stärker einem größer werdenden Markt anzupassen. Diese Umstellung wurde ihr dadurch erleichtert, dass sich die 1850er und 1860er Jahre auch in England durch eine gute Agrarkonjunktur auszeichneten. In dieser Zeit des sogenannten „mid-Victorian high farming“29 stieg die Produktivität und in ihrer Folge auch die Pachten; letztere zwischen 1850 und 1880 um 30 %.30 Die Agrarkrise setzte dann jedoch einer weiteren Steigerung ein jähes Ende. Betroffen waren von ihr vor allem die getreideproduzierenden Regionen im Osten und Süden Englands, die zusätzlich unter einer Reihe von Missernten in Folge von nassen Sommern litten. Wie in Böhmen auch waren dagegen die negativen Konsequenzen in der Fleisch- und Milchwirtschaft weniger zu spüren.31 Dennoch war der Preisverfall bei bestimmten Produkten so markant, dass er eine Abwärtsspirale auch bei den Pachten in Gang setzte. Sie befanden sich in der Mitte der 1880er Jahre etwa auf dem Niveau der frühen 1840er Jahre und erreichten trotz deutlicher Steigerungen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht die Höhe aus der Zeit des High Farming.32 Der Verfall der Pachten wiederum ließ den Marktwert von landwirtschaftlichen Betrieben in manchen Regionen zwischen 1870 und 1900 auf die Hälfte zurückgehen.33 Angesichts dieser Preisentwicklungen versuchten manche adelige Bodenbesitzer, sich auf ihre Güter in England zu konzentrieren, und stießen vor allem Besitzungen in Irland, Schottland und Wales ab.34 Betrachtet man die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Rolle des gutsbesitzenden Adels in Böhmen und England, so kann man festhalten, dass die Jahre 1848 bzw. 1846 jeweils einen Einschnitt markieren. Sowohl die Bauernbe27 Osterhammel, Verwandlung, S. 653 und Colin Matthew: Short Oxford History of the British Isles – The Nineteenth Century, Oxford 2000, S. 4, ausführlich Cheryl Schonhardt-Bailey: From the Corn Laws to Free Trade. Interests, Ideas and Institutions in Historical Perspective, Cambridge/Mass. 2006. 28 Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 29. 29 Michael E. Turner, John V. Beckett und Bethanie Afton: Farm Production in England 1700–1914, Oxford 2001, S. 233. 30 Ebd., S. 225. 31 Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 13f. 32 Cannadine, Decline, S. 92f. 33 Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 22. 34 Cannadine, Decline, S. 103–112.

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freiung als auch die endgültige Aufhebung der Schutzzölle auf Getreide stellten die Landwirtschaft, und damit die adeligen Besitzer von Grund und Boden, vor nicht unerhebliche Herausforderungen. Die gute Agrarkonjunktur der 1850er und 1860er Jahre erleichterte jedoch in beiden Ländern den Akteuren die notwendigen Anpassungsprozesse. Mit einer weiteren Herausforderung sahen sich die Gutsbesitzer dann seit den späten 1870er Jahren in Form der Agrarkrise35 konfrontiert, als die Preise 35 ��������������������������������������������������������������������������������������� Die englische Forschung hat bisher keine Einigkeit darüber erzielen können, wie gravierend die Agrarkrise tatsächlich gewesen ist. Es stehen sich dabei zwei Positionen gegenüber, für die einerseits Theodore Hoppen, andererseits Michael Turner, John Beckett und Bethanie Afton angeführt werden sollen. Hoppen verweist etwa darauf, dass die Forschung angesichts der massiven Klagen der Zeitgenossen lange vernachlässigt habe, dass es trotz Krise jährliche Produktivitätssteigerungen von 0,4 % zwischen den 1860er Jahren und der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gegeben habe. Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 15. Turner, Beckett und Afton sprechen dagegen mit Blick auf den Einbruch bei den Pachten von einer „nationalen Krise von einem Ausmaß, wie es sie 200 Jahre nicht gegeben habe“. M. E. Turner, J. V. Beckett und B. Afton: Agricultural Rent in England 1690– 1914, Cambridge 1997, S. 257. Offenbar war in England der Schock, den die Agrarkrise nach einer Phase, in der die Landwirtschaft sehr rentabel gewesen war, auslöste, so groß, dass die subjektive Wahrnehmung der Situation den Verfall der Pachten sogar stärker beeinflusste als die tatsächlichen Produktionsausfälle. Für die deutsche Agrargeschichtsschreibung war die Beschäftigung mit der Agrarkrise der 1870er bis 1890er Jahre lange ein wichtiges Thema. Darin dominierte, ausgehend von der liberalen Kritik der Kaiserzeit, die Beschäftigung mit einem sich im „Todeskampf “ (Max Weber) befindenden Junker, der zu einer effizienten Bewirtschaftung seiner Güter nicht fähig sei. Die jüngere Forschung hat jedoch das Ausmaß der Agrarkrise auf der Basis von wirtschaftsgeschichtlichen Studien in Zweifel gezogen und auf die stärker subjektiven Krisenempfindungen hingewiesen. Ungeachtet realer Ertragssteigerungen habe die Wahrnehmung des beschleunigten Übergangs vom Agrar- zum Industriestaat und eines Bedeutungsverlusts des agrarischen Ostens gegenüber dem indu­striellen Westen vorgeherrscht. Damit verbunden war bei den Agrarproduzenten die Einsicht, dass sie sich einer zunehmend schärfer werdenden Konkurrenz zu stellen hatten. Siehe dazu Reif, Adel, S. 96f., Walter Achilles: Die Wechselbeziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft; in: Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung 1870–1914, hrsg. v. Hans Pohl, Paderborn 1979, S. 57–101, S. 97–101 und Klaus Heß: Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich. Landwirtschaftlicher Großbetrieb, Großgrundbesitz und Familienfideikommiss in Preußen (1867/71–1914), Stuttgart 1990 sowie ders.: Zur wirtschaftlichen Lage der Großagrarier im ostelbischen Preußen 1867/71 bis 1914; in: Ostelbische Agrargesellschaft in Kaiserreich und Republik. Agrarkrise, junkerliche Interessenpolitik, Modernisierungsstrategien, hrsg. v. Heinz Reif, Berlin 1994, S. 157–172, S. 157f. Skeptisch gegenüber den weitreichenden Thesen von Heß (und in dieser Hinsicht mit Reif, Adel, S. 97 übereinstimmend), aber gleichermaßen kritisch gegenüber einer Einschätzung, das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts sei als tiefgreifende Krise, gar als Depression zu beschreiben, auch René Schiller, der ebenfalls das Krisenbewusstsein primär als Produkt der

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vor allem für bestimmte Getreidesorten wie Weizen drastisch nachgaben. In England führte dies in den betroffenen Regionen zu einem Verfall bei den Pachteinnahmen und in der Folge auch zu einem Nachgeben der Bodenpreise, doch spielten Aristokraten hier nach wie vor eine herausragende Rolle als Besitzer großer Latifundien, die nicht selten mehrere tausend oder zehntausend Hektar umfassten. Dem böhmischen Adel gelang es, aus der Agrarkrise zumindest nicht geschwächt hervorzugehen. Verantwortlich dafür war, dass das Einkommen von vielen gutsbesitzenden Familien nicht primär auf Getreide basierte, sondern auch auf weniger krisenanfälligen Produkten wie Fleisch und Holz. Außerdem investierten diese Familien, die ihre Güter in Eigenregie betrieben36, trotz der Krise stärker in die weitere Mechanisierung, als dies den englischen Pächtern möglich war, was ihnen half, Kosten zu senken und die Produktivität zu erhöhen. Verkäufe von Grund und Boden, gar in größerem Ausmaß, sind daher in der Folge der Agrarkrise aus Böhmen nicht zu berichten. Somit blieben die Besitzkonzentrationen beträchtlich. Auch am Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich noch mehr als 1,1 Millionen Hektar im Besitz böhmischer Magnaten; nur 14 Familien teilten sich 11,4 % der Gesamtfläche dieses Kronlandes.37 Ganz ähnliche Größenordnungen waren auch in England nach wie vor an der Tagesordnung. Die Bewahrung dieses Landbesitzes aber – so konstatiert es Heinz Reif – und damit einhergehend die Sicherung seiner Verbindung zum Land sowie seines alten Vorrangs in der ländlichen Gesellschaft bildeten die grundlegende Voraussetzung für die Stabilisierung des Adels im Lande und für seine Selbstbehauptung in der modernen Welt.38 Eine solche Bewahrung des Landbesitzes gelang adeligen Familien in vielen Regionen Europas. In deutschen Territorien galt häufig der Grundsatz: Je größer ein

subjektiven Wahrnehmung sieht. René Schiller: Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 160–164. Allgemein zur deutschen Agrargeschichte siehe u. a. Werner Rösener: Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997, Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven, hrsg. v. Werner Troßbach und Clemens Zimmermann, Stuttgart 1998 sowie die beiden Forschungsüberblicke von Christof Dipper: Landwirtschaft im Wandel. Neue Perspektiven der preußisch-deutschen Agrargeschichte im 19. Jahrhundert; in: NPL 38/1993, S. 29–42 und Robert v. Friedeburg: Brach liegende Felder. Grundzüge der deutschen Agrargeschichtsschreibung; in: Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raumes 2004, S. 78–93. 36 Auf diesen Unterschied, dass der englische Adel seine Güter überwiegend verpachtete, während der böhmische Adel sie von angestellten Schaffern bewirtschaften ließ, wird das Teilkapitel 2.3 noch genauer eingehen. 37 V. Medinger, Großgrundbesitz, S. 29–42. 38 Reif, Adel, S. 9.

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Gut, desto unwahrscheinlicher sein Verkauf an Nichtadelige.39 Man kann daher, wiederum mit Heinz Reif, nicht nur mit Blick auf die östlichen Provinzen Preußens, auf Westfalen, Württemberg oder Hannover von einer Stabilisierung des Adels im Lande sprechen.40 Gleiches trifft auch für den römischen Hochadel in der Campagna Romana wie für manche nord- und mittelfranzösische Departements zu, für die Magnaten des historischen Ungarn ebenso wie für Böhmen und England. Gerade die angesprochenen Verkäufe in Irland, Schottland und Wales, bei denen es sich im Übrigen häufig um Brachland handelte, ermöglichten es dem Adel, sich auf seine Besitzungen in England zu konzentrieren. Man kann daher mit Cannadine davon sprechen, dass dadurch aus dem britischen zunehmend ein englischer Adel geworden sei.41 Anders gesagt: Wir haben es hier mit einem Adel zu tun, der sich als englischer Adel durch die Konzentration auf den englischen Landbesitz stabilisierte. Betrachtet man die Größenordnungen der Güter, gerade in Böhmen und in England, so handelte es sich dabei um mehr als um eng begrenzte Residuen in einer zunehmend bürgerlichindustriell geprägten Welt, sondern vielmehr um einen festen Bestandteil einer sich modernisierenden Gesellschaft.

39 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wienfort, Adel, S. 66. Anders als lange vermutet, greift eine Interpretation, die die hohen Besitzwechselquoten mit adeligen Landeinbußen gleichsetzt, zu kurz. Dazu und zur Stabilisierung, z. T. gar Erweiterung des adeligen Grundbesitzes in den verschiedenen deutschen Territorien siehe Reif, Adel, S. 9ff. und S. 89–96. 40 Reif, Adel, S. 89. Zu den genannten Territorien Wienfort, Adel, S. 66. Siehe auch Scott M. Eddie: Landownership in Eastern Germany before the Great War. A Quantitative Analysis, Oxford 2008. 41 Zur Campagna Romana Wienfort, Adel, S.  66, zu den französischen Departements Heinz-Gerhard Haupt: Der Adel in einer entadelten Gesellschaft. Frankreich seit 1830; in: Europäischer Adel 1750–1950, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1990, S. 286– 305, S.  292, zu Ungarn, bzw. konkreter, zu Transdanubien, siehe Imre Wellmann: Der Adel im transdanubischen Ungarn 1760–1860; in: Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, hrsg. v. Ralph Melville und Armgard v. Reden-Dohna, Stuttgart 1988, S. 117–167. Zu England Cannadine, Decline, S. 136f.

2 Die Akteure der Agrargesellschaft 2.1 Die adeligen Gutsbesitzer: Wirtschaftspraktiken und Selbstverständnis „Die Ereignisse der Zeit“ haben, so schrieb Christian Graf Waldstein im Sommer 1851, „in den landwirtschaftlichen Domänen eine totale Verwandlung bewirkt.“ Doch beklagte der Graf im Folgenden nicht die Vollendung der Grundentlastung. Vielmehr führte Christian Waldstein aus, dass das Ende der Patrimonialverwaltung „eine weniger kostspielige Verwaltung der Domänen ermöglicht“ und dass bereits in den Jahren seither „nach aufgelöstem Feudalnexus der landwirtschaftlich und mit Intelligenz geführte Betrieb … mehr als den doppelten Ertrag geliefert“ habe.1 Ein solches Denken mag erstaunen, ist doch den verschiedenen europäischen Adelsformationen immer wieder vorgeworfen worden, dass sie des Rechnens und profitorientierten Wirtschaftens nicht mächtig gewesen seien. Für England hat diese These bereits vor einigen Jahren John Beckett zurückgewiesen.2 Auch andere Autoren haben ähnlich argumentiert, etwa David Spring, wenn er davon spricht, dass die lange Geschichte des politischen und wirtschaftlichen Erfolges englischer Adeliger ohne diese Fähigkeiten nicht denkbar sei. Doch konstatiert er auch: „Of all the qualities associated with aristocracy, these are often the least recognized although they may be the most consistently displayed.“3 1 Eintrag des Grafen im Obrigkeitlichen Verordnungsbuch vom 1.6.1851. SOA Praha: RAV 286. 2 John V. Beckett: The Aristocratic Contribution to Economic Development in Nineteenth Century England; in: Les noblesses européennes au XIXe siècle, hrsg. v. der Ecole française de Rome, Rom 1988, S. 281–296. 3 ���������������������������������������������������������������������������������� Spring führt seine Argumentation folgendermaßen fort: „Somehow they tend to be obscured, perhaps by the bourgeois censoriousness that lurks in most of us. The truth of the matter may be that English landowners differed little from industrialists, that they were reasonably businesslike in their procedures, that they rationally maximized their incomes.“ Spring, Administration, S. 181. Gerade weil vor allem der Hochadel, aber auch die gentry, nicht nur über beträchtlichen Bodenbesitz verfügten, sondern weil beide adelige Gruppen auch cum grano salis gesprochen in der Lage waren, diesen Besitz erfolgreich zu bewirtschaften, spricht Hans-Christoph Schröder davon, dass die Herrschaft des Adels in England als Herrschaft von property verstanden und legitimiert worden sei. Schröder, Adel, S. 33 und S. 42. Diese Tatsache spiegelt sich in dem Befund von W. D. Rubinstein wider, dass sich die britische Reichtumselite vom 18. bis zum 20. Jahrhundert durch eine Dominanz von Landbesitz und Handel auszeichnete, während Industrielle unterrepräsentiert waren. Der grundbesitzende Adel insgesamt wiederum wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts reicher, wobei sich die Schere zwischen dem reichen Hochadel und der „minor aristocracy and gentry“ erheblich vergrößerte. Nach Rubinstein ist als Hauptquel-

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Mit Blick auf die deutschen Adelslandschaften konstatiert Arno Mayer, dass deren „feudale Elemente“ ihr wirtschaftliches und administratives Verhalten an „modernen Rationalitätsgesichtspunkten“ orientierten.4 Heinz Reif wiederum spricht von einer „beeindruckenden Selbstbehauptung“, fügt aber gleichwohl hinzu, dass die Mehrzahl der Historiker des deutschen Adels „diese Erfolgsgeschichte mit erkennbarem Unwillen beschrieben“ habe.5 Tatsächlich führte Fritz Redlich bereits in den 1960er Jahren die geringe Beachtung erfolgreichen adeligen Wirtschaftens auf ein antiadeliges Ressentiment des Bürgertums zurück, das eine lange Tradition habe.6 Dass der grundbesitzende Hochadel durchaus willens und in der Lage war, die ökonomischen Chancen zu nutzen, die mit seinem ausgedehnten Landbesitz verbunden waren, zeigt sich nicht zuletzt um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar war man in Böhmen nach der Vollendung der Bauernbefreiung nun durchgängig auf Lohnkräfte angewiesen. Doch hielt sich der damit verbundene Einschnitt oft in Grenzen, weil die Robot vielerorts bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen abgelöst worden war, hatte sie sich doch für den an neuen

le dafür das erfolgreiche Erschließen von weiteren Einkommensquellen jenseits des Landbesitzes anzusehen. Rubinstein, Men, S. 247 und S. 196. Diesem ökonomischen Erfolg war es geschuldet, dass der güterbesitzende Hochadel weiterhin eine sozial-kulturelle Leitrolle in einer zunehmend von Industrialisierung gekennzeichneten Welt spielen konnte. So konstatiert das Ehepaar Stone: „Between 1590 and 1880 the English landed elite were remarkably successful in maintaining continuity in family names, estates, and seats. … By and large, the power, wealth, and even status of the landed elite survived more or less intact until 1880.“ Einhergehend mit diesem Befund weisen sie die Vorstellung von einer offenen Elite als Mythos zurück. Dieser sei darauf zurückzuführen, dass die Ausnahme für die Regel genommen worden sei. Stone und Stone, Elite, S. 400–405. Hieran schloss sich in der britischen Historiographie eine lebhafte Debatte um das Ausmaß der gentrification des Bürgertums an. Auf diese Debatte kann hier nicht weiter eingegangen werden, doch sei auf die Diskussionsbeiträge von F. M. L. Thompson: Aristocracy, Gentry and the Middle Classes in Britain 1750–1850; in: Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, hrsg. v. Adolf M. Birke, München 1989, S. 15–35, Patricia Thane: Aristocracy and Middle Class in Victorian England. The Problem of „Gentrification“; in: Ebd., S. 93–108 und Michael Thompson: The Landed Aristocracy and Business Elites in Victorian Britain; in: Les noblesses européennes au XIXe siècle, hrsg. v. Ecole française de Rome, Rom 1988, S. 267–279 verwiesen. 4 Arno J. Mayer: Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848–1914, Frankfurt am Main 1988, S. 19. 5 Heinz Reif: Einleitung; in: Adel und Bürgertum in Deutschland I. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, hrsg. v. dems., Berlin 2002, S. 7–27, S. 7f. 6 Fritz Redlich: Europäische Aristokratie und wirtschaftliche Entwicklung; in: ders.: Der Unternehmer, Göttingen 1964, S. 280–298, S. 283f.

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agrarwissenschaftlichen Kenntnissen ausgerichteten rationellen Landbau als nicht mehr effizient genug erwiesen.7 Böhmische Adelige verfügten somit durchaus über Erfahrungen in der Durchführung von Reorganisationsmaßnahmen auf ihren Latifundien und antworteten daher auch auf die Grundentlastung mit einer weiteren Anpassung. So restrukturierte Christian Graf Waldstein die Gutsverwaltung, indem er 1851 einen Wirtschaftsrat mit weitreichenden Kompetenzen an ihre Spitze setzte und genaue Regelungen für die Abwicklung aller Finanzgeschäfte erließ.8 Zu Jahresbeginn 1856 übernahm der Graf dann die oberste Leitung selbst, weil seinem Wirtschaftsrat aus Altersgründen die vielen Reisen, die die ausgedehnten Besitzungen erforderten, nicht mehr möglich waren. Auf der nächsten Ebene standen die Leiter der einzelnen „Departements“, mit denen er sich alle 14 Tage zu „Dienstkonferenzen“ traf. Hier sollte „alles … durch Abstimmung entschieden werden“; nur wenn man sich nicht einigen könne, liege die Entscheidung beim Grafen.9 Die regelmäßige Anpassung der Verwaltungsstrukturen, um die Effizienz der Gutsbetriebe sicherzustellen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte vieler Herrschaften. Im März 1868 erging zum Beispiel die Anweisung des Fürsten Jan Adolf II. Schwarzenberg zur Erarbeitung eines neuen Statuts sowie ausführender Bestimmungen, die schließlich von 18 seiner führenden Wirtschaftsbeamten formuliert wurden. Dienst- und Wirtschaftsvorschriften wurden getrennt, Kompetenzen festge7 Beispielhaft hat diese Entwicklungen Helena Smíšková für die Herrschaft Děčín unter Franz Anton Graf Thun beschrieben, der 1808 mit seiner Volljährigkeit die Verwaltung der Herrschaft übernahm. Mit der Einführung der Wechselwirtschaft gab er seinen Untertanen die Möglichkeit zur freiwilligen Reluition der Robotpflichten, führte neue Verwaltungsstrukturen ein und dezentralisierte Entscheidungskompetenzen. Helena Smíšková: Správa děčínského panství za Františka Antonína Thun-Hohenstein (1808–1844) [Die Verwaltung der Tetschener Herrschaft unter Franz Anton Thun-Hohenstein 1808– 1848]; in: Sborník archivních prací 22/1972, S. 356–411 und dies.: František Antonín Thun-Hohenstein a správa děčínského panství v letech 1808–1844 [Franz Anton ThunHohenstein und die Verwaltung der Tetschener Herrschaft in den Jahren 1808–1844]; in: Z Minulosti Děčínska a Českolipska 3/1977, S. 163–187. Siehe ferner grundsätzlich auch Melville, Grundherrschaft, S. 295–313 und Milan Myška: Der Adel der böhmischen Länder. Seine wirtschaftliche Basis und Entwicklung; in: Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, hrsg. v. Ralph Melville und Armgard v. Reden-Dohna, Stuttgart 1988, S. 169–189, besonders S. 175–179. Sehr früh schon hat Jerome Blum auf das Interesse adeliger Besitzer an einer kapitalistischen Agrarproduktion seit dem Vormärz hingewiesen. Blum sieht daher im grundbesitzenden Adel auch die treibende Kraft hinter den österreichischen Agrarreformen; die Hauptgründe dafür seien ökonomischer Natur gewesen. Jerome Blum: Noble Landowners and Agriculture in Austria, 1815–1848, Baltimore 1948, S. 239–246. 8 Eintrag vom 20.11.1851. SOA Praha: RAV 286. 9 Eintrag vom 5.12.1855. Ebd.

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legt, die Berichterstattung geregelt und geklärt, was dem Fürsten bei den monatlichen „Dienstbesprechungen“ vorzulegen war. Personalakten wurden auf den Schwarzenbergschen Gütern schon seit dem 18. Jahrhundert geführt.10 Eine solche Aktenführung empfahl sich schon angesichts der Vielzahl von Personen, die für die in Eigenregie bewirtschafteten Güter notwendig waren. Die Fürsten Schwarzenberg der Primogenitur, denen ca. 150.000 Hektar forst- und landwirtschaftlich genutzter Besitz sowie die dazugehörigen Betriebe wie Sägewerke, Brauereien oder Zuckerfabriken gehörten, beschäftigten allein auf dem Gut bei Český Krumlov 153 Wirtschaftsbeamte und Bedienstete.11 Die Bürokratisierung der Gutsverwaltung und ihre fallweise Anpassung an die wirtschaftlichen Erfordernisse waren daher ein Zeichen für die Professionalisierung der Bewirtschaftung. Wenn auch der überwiegende Teil des böhmischen Adels seine Güter agrarkapitalistisch bewirtschaftete12, so war doch auch diese Regel nicht ohne Ausnahme. Die wohl bekannteste stellt die ältere Linie der Fürsten Windisch-Graetz dar, die mit einem Besitz von knapp 20.000 Hektar an Ländereien zu den 14 größten physischen Grundbesitzern Böhmens gehörte.13 Vor allem Alfred I. Fürst Windisch-Graetz war es geschuldet, dass sich die Familie lange dem Rentabilitätsdenken verschloss, und die Majoratsherren nur mühsam und spät die Rolle agrarischer Großunternehmer annahmen14, lautete doch einer der bekanntesten Aussprüche des Feldmarschalls: „Geschäfte macht kein Windisch-Graetz“15. Die Distanz zu einem profitorientierten Wirtschaftsgebaren zeigte sich auch in der Personalauswahl des Fürsten. Als hoher Militär ernannte er den Rittmeister Emil Zimmermann zum Leiter seiner Güter, da 10 Jiří Záloha: Úřednictvo schwarzenberských velkostatků v Čechách v 2. polovinĕ 19. století [Die Verwaltung der Schwarzenbergschen Güter in Böhmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts]; in: Studie k sociálním dĕjinám 5/2000, S. 93–118, S. 97ff. Zur Anpassung von Wirtschaftsverwaltungen an die jeweiligen Erfordernisse siehe auch Petr Kopička: Správa velkostatku Mĕlník v 16. až 20. století [Die Verwaltung des Gutes Mĕlník vom 16. bis zum 20. Jahrhundert]; in: Porta Bohemica 2/2003, S. 24–76, S. 43ff. (am Beispiel Lobkowitz) und Bezecný, Příliš, S. 65f. (am Beispiel Schwarzenberg Sekundogenitur). 11 Záloha, Úřednictvo, S. 104f. Die hohe Zahl von Personal erforderte eine höhere Forma­ lisierung der Verwaltungsstrukturen als in England. 12 Stekl, Machtverlust, S. 163. Profitdenken lässt sich beim böhmischen Adel bereits im 18. Jahrhundert nachweisen. Siehe dazu Freudenberger, Lost Momentum, S. 207 und besonders S. 222ff. 13 Hannes Stekl und Marija Wakounig: Windisch-Graetz. Ein Fürstenhaus im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 103. 14 Ebd., S. 273ff. 15 Zitiert nach ebd., S. 119. Wie in der Interpretation des englischen Adels als einer offenen Elite, die das Ehepaar Stone als Mythos zurückgewiesen hat, basiert auch die Vorstellung vom böhmischen Adel als einer Sozialformation, die dem Geldverdienen distanziert gegenüber gestanden habe, darauf, dass eine Ausnahme, hier die Familie Windisch-Graetz, für die Regel genommen worden ist.

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er dessen militärischen Führungsstil und seine traditionelle Loyalität hoch schätzte.16 Erst in der Zwischenkriegszeit schaffte mit Fürst Ludwig Aladár ein Angehöriger des Hauses den Schritt zum modernen Agrarunternehmer.17 In den 1870er Jahren hatte bereits Alfred III. Windisch-Graetz versucht, einige Maßnahmen durchzuführen, um die Erträge der Güter zu steigern. Doch musste er feststellen, dass vielen seiner Angestellten die Fähigkeit zur Erfüllung ihrer Aufgaben sowie zur Konzeption und Durchführung der geplanten Maßnahmen fehlte. Ängstlich warnten sie den Fürsten etwa vor der Ausweitung von Verpachtungen und empfahlen lediglich die Anhebung des Pachtzinses auf den bereits verpachteten Besitzungen. Der erste akademisch gebildete Zentraldirektor wurde auf den Windisch-Graetzschen Gütern erst seit 1881 beschäftigt, als Dr. Richard Bernardt diese Aufgabe übernahm. Bernardt war es auch, der monatliche Wirtschaftsberichte oder spezielle Subkonten einführte, die einen Überblick über die Rentabilität einzelner Wirtschaftszweige oder Betriebe vermittelten.18 Maßnahmen dieser Art, sowohl was die Auswahl sachkundigen Personals betraf als auch mit Blick auf Wirtschaftsführung und Berichtswesen, hatten die Mehrzahl der böhmischen Großgrundbesitzer bereits mindestens eine Generation früher realisiert. Besonders früh erkannte Franz Anton Graf Thun die Bedeutung geschulten Personals, als er 1844 Anton Emanuel Komers mit der Leitung seiner Güter betraute, einen der herausragenden Agrarexperten seiner Zeit.19 Anders als die Majoratsherren aus dem Hause Windisch-Graetz hielt sich Franz Anton Thun wie auch viele seiner Standeskollegen regelmäßig auf seinen Gütern auf. Dies ermöglichte ihnen eine direktere Kommunikation von wirtschaftlichen Interessen wie auch von Herrschaftsansprüchen. Ihren Ausdruck fand diese Kommunikation in den vielfältigen Stellungnahmen der Besitzer zur Bewirtschaftung der Güter. So war sich etwa Jaromir Graf Czernin nicht zu schade, mit seinen Wirtschaftsräten

16 Ebd., S. 129. 17 Ebd., S. 141. 18 Ebd., S. 128ff. Siehe auch Gustav Hofmann: Hospodaření a majetkové poměry Alfréda Josefa Mikuláše a Alfréda Karla z Windischgrätzů v letech 1862 až 1927 [Wirtschaftstätigkeit und Besitzverhältnisse von Alfred Josef Nikolaus und Alfred Karl von WindischGraetz in den Jahren 1862 bis 1927]; in: Studie k sociálním dějinám 5/2000, S. 7–59. 19 A. E. Komers war bereits seit 1832 auf den Thunschen Gütern beschäftigt. Im Jahre 1868 wurde er Delegierter des Agrarkongresses in Wien, den das Ackerbauministerium veranstaltete, um einen Einblick in die Geschicke der Landwirtschaft zu erhalten. Siehe Smíšková, Thun-Hohenstein, S. 170 und Verhandlungen des Agrarischen Congresses in Wien 1868. Nach den stenographischen Protokollen zusammengestellt und herausgegeben vom k. k. Ackerbau-Ministerium, Wien 1868. Auch publizierte er über Fragen der Landwirtschaft und Gutsverwaltung. Siehe Anton Emanuel Komers: Landwirtschaftliche Monographie des fürstlich Fürstenberg’schen Domainen-Komplex Pürglitz, Prag 1871.

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zu diskutieren, wie man am besten gegen Schädlinge vorgehen sollte, die die Erbsenblüte bedrohten.20 Auch die verschiedenen Anreizsysteme hinsichtlich der Bezahlung des Personals kommunizierten das Interesse der adeligen Besitzer, ihre Güter profitorientiert zu bewirtschaften. So hatte Franz Anton Thun bereits vor der Jahrhundertmitte Entscheidungen bezüglich der Bewirtschaftung einzelner Höfe dezentralisiert und beteiligte die dort angestellten Schaffer an den Gewinnen, die sie erwirtschafteten.21 Ähnlich agierten auch die Grafen Waldstein: Als Graf Christian 1855 einen neuen Direktor für die Domänenverwaltung brauchte, berief er den bisherigen Oberdirektor Gratil, weil er auf den ihm unterstellten Herrschaften höhere Gewinne erwirtschaftet hatte als andere Oberdirektoren.22 Mangelnde Gewinne konnten andererseits auch zu Kündigungen führen. Nachdem Graf Waldstein zur Kenntnis nehmen musste, dass die Einnahmen in einer Reihe von Meierhöfen „deutlich unter ihre Möglichkeiten gesunken“ waren, zog er die verantwortlichen Hofbesorger und Wirtschaftsdirektoren zur Verantwortung. Sollten sie nicht über Vorschläge verfügen, wie die Wirtschaftlichkeit „in kürzester Zeit“ zu verbessern wäre, liefen sie Gefahr, ihre Stellen zu verlieren.23 Entlassungen gab es in der Tat immer wieder, häufig im Zusammenhang mit der Bekämpfung von tatsächlicher oder vermeintlicher Korruption, wenn etwa die Milcherträge „selbst sehr bescheidenen Ansprüchen“ nicht genügten oder wenn Fischheger ihre Wachen vernachlässigten bzw. sich gar selbst am Fischdiebstahl beteiligten.24 Hinzu kamen nicht selten empfindliche Strafen für andere Vergehen.25 20 Wirtschaftsbericht für den Monat Juli 1858, Aufzeichnungen Jaromir Graf Czernin, 23.8.1858. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1023. 21 Smíšková, Správa, S. 410f. 22 Eintrag vom 5.12.1855. SOA Praha: RAV 286. 23 ��������������������������������������������������������������������������������������� Eintrag vom 17.3.1854, ebd. Allerdings blieb die angemessene Entlohnung der Beschäftigten auch weiterhin ein Thema. So klagte Christians Sohn Ernst 1860, dass die „Ungleichförmigkeit der Lohnbezüge“ auf den böhmischen Besitzungen den „rationellen Betrieb“ der Schafzucht beeinträchtige. Er führte daher formale Lohnklassen ein und ließ alle in der Schafzucht Angestellten eingruppieren. 26.1.1860, ebd. 24 Cirkular des Fürsten Schwarzenberg an die Herrschafts- und Gutsverwaltungen des Großgrundbesitzes Worlik, 2.8.1865. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852 sowie Wirtschaftsbericht vom 14.8.1867. Ebd., kart. 989. Auch auf den Waldsteinschen Gütern gehörten Entlassungen zu den Maßnahmen der Korruptionsbekämpfung. Siehe dazu den Eintrag im Obrigkeitlichen Verordnungsbuch vom 26.4.1860. SOA Praha: RAV 286. 25 So etwa, wenn das Aufsichtspersonal bei der Ernte so viel Getreide auf den Feldern beließ, dass beim Nachklauben oder Nachrecheln ganze Garben zustande kamen. Diejenigen, bei denen ganze Garben gefunden wurden, konnten nicht mehr mit einer Beschäftigung auf den Schwarzenbergschen Gütern rechnen, das unaufmerksame Personal hatte die entgangenen Einnahmen zu ersetzen. Gutsverwaltung Orlik, Relation vom 21.8.1867. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 969. In einem anderen Fall verfügte der Fürst eine Begrenzung

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Finanzielle Anreizsysteme für das Personal wie auch Bestrafungen bis hin zu Entlassungen waren Praktiken, mit denen adelige Besitzer ihr Interesse an einer gewinnorientierten Bewirtschaftung der Güter kommunizierten. Gleichwohl war es ihnen damit nicht möglich, alle Formen von „Aneignungen“ seitens ihrer Angestellten zu vermeiden. Diese beharrten, davon wird noch die Rede sein, durchaus auf ihrem Verständnis des Wirtschaftens wie auch dessen, was sie als ihnen zustehend empfanden. Dies bezeugen nicht nur die Wirtschaftsberichte, in denen immer wieder eine veraltete Bewirtschaftung kritisiert wurde, sondern auch die Eingaben, mit denen Bedienstete höhere Löhne zu erhalten suchten. Diesen Versuchen des Aushandelns setzten die Besitzer immer wieder Grenzen. Ein Aushandeln war es gleichwohl, wie das Beispiel einer Verfügung Jaromir Graf Czernins vom Neujahrstag 1862 zeigt. Er sei „nicht geneigt …, die bestehenden Gehalte meiner Beamten und Diener permanent zu erhöhen.“ Wenn sie aber „unverschuldet in ihren Vermögensverhältnissen gedrückt sind oder sich durch redliche und fleißige Dienstausübung hervorthun“, dann sei er willens, ihnen „eine Unterstützung beziehungsweise Remuneration angedeihen zu lassen“.26 Der Graf erhielt daraufhin von der Gutsdirektion eine Liste mit zehn seiner Angestellten, vom Direktionsschreiber bis zum Fischheger, die diese für Gratifikationen vorschlug. Seine Zustimmung verband der Graf mit der Ermahnung: „Ich erwarte, daß vorstehende Bittsteller [sic!] ihren Dienstpflichten treu und fleißig nachkommen.“27 Doch nicht nur in ihrem Umgang mit dem Personal kommunizierten die böhmischen Adeligen durch Anreizsysteme und Entlassungen ihre ökonomischen Interessen. Auch andere Praktiken dienten dem Ziel einer möglichst effizienten Bewirtschaftung, vor allem das Berichtswesen und die Buchführung. Schon die bisher angeführten Quellenzitate haben gezeigt, dass die adeligen Besitzer mit ihren Anweisungen in ganz konkreten Einzelfällen in das Alltagsmanagement der Güter involviert waren. Eine Vielzahl von Verordnungsbüchern, Wirtschaftsberichten (mit einer Extraspalte für die Kommentare der „Herrschaft“) und eine schier unendliche Zahl von Briefen geben über dieses Involviertsein detailliert Aufschluss.28 der privaten Geflügelhaltung auf seinen Gütern, um Flurschaden zu verhindern. Zuwiderhandlungen wurden mit Abschlachtungen bestraft. Cirkular vom 8.2.1912. Ebd., kart. 852. 26 Jaromir Czernin an das Wirtschaftsoberamt Neuhaus, 1.1.1862. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1425. 27 Vorlage der Liste und Bestätigung derselben, 22. und 27.2.1862. Ebd. 28 Angesichts der großen Fülle diesbezüglicher Quellen ist es nur möglich, auf einige der äußerst umfangreichen Bestände zu verweisen. Für die Grafen Waldstein ist von den Obrigkeitlichen Verordnungsbüchern schon die Rede gewesen. Ferner liegen umfangreiche Bestände mit Wirtschaftsanweisungen und Instruktionen für den gesamten in Frage stehenden Zeitraum (und darüber hinaus) vor. SOA Praha: RAV 286, 3751 (kart. 88), 3771 (kart. 92) und 5561 (kart. 287). Siehe außerdem die jeweils mehrere hundert Schriftstüc-

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Auch finden sich in diesen Quellen immer wieder Beispiele für das Selbstverständnis ihrer Verfasser. So berechnete Eugen Czernin nach einer Besichtigung der Landarbeiterunterkünfte des Dukes of Bedford die Rendite, die diese cottages dem Duke einbrachten, nur um festzustellen, dass ihr Bau wenig mit „Großmuth“ zu tun habe, dafür aber viel mit einer gut kalkulierten Investition.29 Auch Egbert Graf Belcredi war der Auffassung, die Landwirtschaft könne „vernünftig nur ganz americanisch [sic]“30 betrieben werden, also kapitalistisch und damit gewinnorientiert. Hugo Morgenstern attestierte dem (adeligen) Großgrundbesitz auch fast 50 Jahre später noch, dass er rechnen könne, und dies besser als der bäuerliche Mittelbesitz.31 In allen diesen Aussagen und auch in den zuvor geschilderten Praktiken spiegelt sich die Betonung des Eigentums, wie es der böhmische Adel gerade auch in der Revolution von 1848 vertreten hatte.32 Soziale Veränderungen wie die Abschaffung der Untertänigkeit nahm er hin, was ihm umso leichter fiel, als seine Besitzungen unangetastet blieben. Diese trachtete er, erfolgreich zu bewirtschaften. Entsprechend bezeichnete sich Eugens Sohn Jaromir selbst als „fleißigen, rationellen Landwirt“.33 Und Friedrich Thun riet

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ke umfassenden Wirtschaftsanweisungen und Wirtschaftsberichte allein für die Czerninsche Herrschaft Neuhaus/Jindřichův Hradec, die für die Jahre zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg vorliegen. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 991 und 1020–1024. Wirtschaftsberichte aus der Überlieferung der Fürsten Schwarzenberg finden sich in fast allen Beständen der Gutsverwaltung, wie in den bereits zitierten. Siehe außerdem z. B. die Geschäftsprotokolle der Herrschaftsdirektionen, etwa für Orlík. SOA Třeboň: Vs Orlík, knihy [Bücher] 703–720. „Am Anfang des Ortes die vom Herzog für Arbeiter neu erbauten Häuser in cottage Form, sehr gesund und comfortable. Wenn man hört, daß der Gründer sich von den Bewohnern 3 Prozent des verwendeten Kapitals zahlen läßt (der in England gesetzmäßige Zinsfuß also wie bei uns 5 Prozent) und er hierdurch überdieß so nöthige Arbeitskräfte gewinnt, so verschwindet das Verdienst des Großmuths.“ Tagebuch Eugen Czernin, Eintrag vom 4.9.1851. SOA Třeboň, Zweigstelle JH. Jaromír Boček [i. e. Antonín Okač]: Z deníků moravského politika v éře Bachově. Egbert Belcredi 1850–1859 [Aus dem Tagebuch eines mährischen Politikers der Ära Bach. Egbert Belcredi], Brno 1976, S. 90. Hugo Morgenstern: Gesindewesen und Gesinderecht in Österreich; in: Mittheilungen des k. k. Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium, Wien 1902, S. 187. Zur Betonung der Eigentumsidee siehe Stekl, Machtverlust, S. 157. So forderte Jaromir Graf Czernin in seinen Anmerkungen zum Wirtschaftsbericht für Juli 1858, durch vermehrte Kompostdüngung die Erträge zu erhöhen, denn „ein fleißiger rationaler [„rationaler“ ergänzte er sogar noch nachträglich, in dem er es über die eigentliche Zeile schrieb] Landwirt muß bedacht sein, diese Gewinne auch ohne zu großen kostspieligen Aufwand zu erzwecken.“ Allein in diesem Bericht ist noch an mindestens fünf Stellen von Wirtschaftlichkeit die Rede. So kritisierte er, dass die Abrechnung des gemahlenen Korns nicht befriedige, kommentierte die Bierbrauerei mit den Worten „Wird stets ein gutes Bier erzeugt, so kann auch auf wünschenswerten Absatz gerechnet werden.

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seinem Sohn Franz, auf eine Militärkarriere zugunsten eines Studiums der Agrarwissenschaften mit Chemie, Technologie, Verwaltung und Buchführung zu verzichten, denn in zwei bis vier Jahren werde er es müde sein, Offizier zu spielen. Die Landwirtschaft dagegen sei nützlich und sehr lukrativ.34 Der Sohn folgte dem Vorschlag des Vaters und sammelte nach dem Ende des Studiums auch praktische Erfahrungen auf den Gütern eines Bekannten35, bevor er die Familienbesitzungen übernahm. Eine solche Vorbereitung war im Übrigen kein Einzelfall: Auch der Erbprinz Adolf Josef aus dem Hause Schwarzenberg übernahm 1861 zunächst die Oberleitung über drei Domänen, um sich mit der praktischen Seite der Gutsverwaltung vertraut zu machen.36 Betrachtet man die böhmischen Gutsbesitzer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, dass sie die Herausforderungen, die mit der Vollendung der Bauernbefreiung und dem Ende der Patrimonialverwaltung verbunden waren, aktiv angingen: Sie technisierten die landwirtschaftlichen Betriebe37 und reformierten die Gutsverwaltungen. Zentral dafür war kompetentes Personal. Diesem kommunizierten sie in einer Vielzahl von Wirtschaftsinstruktionen, aber auch durch ein finanzielles Anreizsystem (bzw. durch Entlassungen im Falle von schlechten Erträgen oder bei Veruntreuungen) ihre Absicht, mit den Gütern Gewinne zu erwirtschaften. Dabei behielten sie sich nicht nur grundsätzliche Entscheidungen selbst vor, sondern die Überlieferungen der Gutsverwaltungen zeigen hochadelige Besitzer, die auch in das Alltagsmanagement der Besitzungen involviert waren. In den Quellen spiegelt sich ferner ein entsprechendes Selbstverständnis wider, das weit davon entfernt war, eine Renditeorientierung als „nicht standesgemäß“ abzulehnen. Insgesamt waren viele böhmische Adelige mit ihren Maßnahmen erfolgreich, warfen Auf die möglichste Eintreibung der Geldrechte ist ein wachsames Auge zu halten“, empfahl seinen Beamten eine „zwecklich gute Bauamtsführung mit kluger Sparsamkeit“, rügte „uralte Gepflogenheiten“ in der Teichbewirtschaftung und forderte, dass auch bei den Wiesenkulturen „auf sicheren Ertrag gerechnet werden“ müsse. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1023. 34 Friedrich Thun war der Vater des zuvor genannten Franz Anton Thun-Hohenstein. Friedrich Thun an seinen Sohn Franz, Tetschen, 11.10.1870. SOA Litoměřice, Zweigstelle Dĕčín: RA Thun, A 3 XIX, Friedrich Thun, M1. Ich danke meinem Kollegen Janne Nokki aus Helsinki dafür, dass er mich auf diesen Briefwechsel aufmerksam gemacht hat. 35 Leopoldine Thun-Hohenstein: Erinnerungen aus meinem Leben, Innsbruck 1926³, S. 179. 36 ��������������������������������������������������������������������������������� Guido Krafft: Ein Großgrundbesitz der Gegenwart. Monographische Skizze der Besitzungen des Fürstenhauses Schwarzenberg in Böhmen, als Beitrag zur Frage der Selbstverwaltung oder Verpachtung von Großgütern in Österreich, Wien 1872, S. 175ff. 37 Franz Horský, Fürstlich Schwarzenbergscher Herrschaftsinspektor, ließ 1850 in nur drei Monaten vierzehn Sämaschinen, 123 Kultivatoren und sechzig tiefgehende Pflüge in einer böhmischen Gerätefabrik anfertigen. Dinklage, Entwicklung, S. 412. Verwendet wurden für diese Investitionen nicht selten die erhaltenen Ablösesummen. Siehe dazu Stölzl, Ära, S. 25–29 und S 41. Zur Technisierung allgemein auch Jeleček, Entwicklung, S. 45f.

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doch die Güter ausreichend Gewinn ab, um ihren Besitzern einen im adeligen Sinne angemessenen, d.h. den repräsentativen (Selbst-)Verpflichtungen Rechnung tragenden Lebensstandard zu ermöglichen. Grundsätzlich ähnliche Befunde lassen sich auch für England festhalten. Wie in Böhmen war eine Renditeorientierung selbstverständlich, wenn auch hier die Güter fast durchgehend verpachtet und nicht als Eigenbetriebe geführt wurden.38 Diesem Zweck diente eine immer detailliertere Buchführung; eine Entwicklung, die man besonders auf den Bedfordschen Gütern gut verfolgen kann. Die darauf basierenden reports umfassten um die Jahrhundertmitte bereits an die 100, 1867 jedoch schon mehr als 400 Seiten. Je stärker sie den Charakter von „Geschäftsberichten“ annahmen, desto mehr überwog statistisches Material und desto seltener wurden Schilderungen von Einzelheiten, die sich auf den Gütern ereignet hatten.39 Einher gingen diese Maßnahmen vor allem unter dem 7. Duke of Bedford, Lord Francis Russell, mit strikten Anweisungen, die Ausgaben zu kontrollieren und nach immer neuen Einsparmöglichkeiten zu suchen.40 Neben der Ausgabenkontrolle standen Bemühungen um eine Verbesserung der Einnahmen. Diesem Ziel dienten die sogenannten improvements auf den verpachteten Höfen, für die die adeligen Besitzer ganz oder teilweise aufkamen41, wie auch die zunehmende Technisierung der Betriebe42. Ein weiteres Instrument, dessen Nutzen 38 Verpachtungen der Ländereien an geschäftstüchtige Pächter und die Bewirtschaftung durch landlose Lohnarbeiter gelten in der englischen Literatur vielfach als die „purste“ Form des Kapitalismus. Siehe in diesem Sinne z. B. Spring, Administration, S. 12, Beckett, Aristocracy, S. 136 oder Lieven, Abschied, S. 106f. 39 Siehe die Berichte des Verwalters Bennett aus den Jahren 1850–1868 (BaLARS: Bennett Papers, Microfilms 127, 128 und 129), den Jahren 1868–1887 (Ebd.: R5/869/4 – R5/869/13, R5/870/1 und /2, R5/871) und für die Jahre 1881–1885 (Ebd.: Microfilm 190). Siehe auch als walisisches Beispiel C. J. Napier: Aristocratic Accounting. The Bute Estate in Glamorgan, 1814–1880; in: Accounting and Business Research 21/1991, S. 163–174. 40 Spring, Administration, S. 26–34. 41 Ebd., S.  148–158. Dort auch zum Public Money Drainage Act von 1846 und dem Improvement of Land Act von 1864. Siehe dazu auch Gash, Aristocracy, S.  321. Aus den Jahren 1875 und 1877 stammten zwei weitere Gesetze, die die Kompensation von Pächtern regelten, wenn sie in improvements investiert hatten. Geregelt wurden auch Kompensationen für Wildschäden. BPP 1875, Bd. VII, S. 217–221 und BPP 1877, Bd. I, S. 25–31. Mit Blick auf eine Grafschaft in Mittelengland, Staffordshire, und die Rolle des dort ansässigen Adels bei den improvements siehe auch C. R. J. Currie: Agriculture 1793–1875; in: A History of the County of Stafford, hrsg. v. M. W. Greenslade und D. A. Johnson, Bd. 6, Oxford 1979, S. 91–121, S. 93. 42 �������������������������������������������������������������������������������������� So waren z. B. im durch Landwirtschaft wie durch industrielle Ansiedlungen gleichermaßen gekennzeichneten Staffordshire in den späten 1860er Jahren Dresch- und Mähmaschinen durchgehend verbreitet. Der erste mit Dampf betriebene Pflug wurde in dieser

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sich jedoch nicht unmittelbar finanziell bemerkbar machte, war die Förderung von Modellbetrieben43 und von Agrargesellschaften; von letzteren wird mit Blick auf England und Böhmen noch im fünften Kapitel die Rede sein. Ein direktes Involviertsein in die Geschäfte der Güter spricht, wie in Böhmen auch, aus der überaus umfangreichen Korrespondenz der Besitzer mit ihrem Verwaltungspersonal. Auch hier zeigt sich, dass die adeligen Besitzer in das Alltagsmanagement eingebunden waren, und dies bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus. Als Beispiel mögen hier die Dukes of Bedford stehen, die aufgrund von Londoner Besitzungen, Minen und landwirtschaftlichen Gütern im 19. Jahrhundert zu den reichsten Familien des Landes gehörten.44 Der chief agent von Lord Bedford, dem 11. Duke, übermittelte etwa dem übrigen Verwaltungspersonal: „His Grace desires to make it a strict rule on the estate that no legal proceedings, however trivial their nature, shall be taken without his sanction.“45 Eine solche „Generallinie“ galt nicht nur in juristischen Fragen. Aus dem gleichen Jahr stammte die Anweisung des Herzogs, dass ihm alle Fälle, in denen Löhne aus Krankheitsgründen ganz oder teilweise ausgesetzt würden, zur Entscheidung vorzulegen seien.46 Auch seine Lordschaft musste offenbar auf die Einhaltung seiner Regeln dringen, denn zwei Jahre zuvor hatte er an seinen Verwalter Charles Hall geschrieben: „In future when there is any case of illness [Unterstreichung i. O.] among those employed on Park Farm please report to me at once. Peppitt the cowman has been ill with influenza a week before I heard of it.“47 Doch nicht nur der Kuhhirte Peppitt erhielt die Aufmerksamkeit des Dukes, der in vielen Fällen eine Pflege der Kranken veranlasste.48 Auch dass einer seiner keeper die siebzig Jahre alte Witwe Mrs. Stapleton („respectable but not able to support herself “) aufgenommen hatte, wurde ihm zur Billigung vorgelegt, verbunden mit dem Hinweis, dass das vom

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Grafschaft 1857 von Lord Hatherton auf seinen Ländereien eingesetzt. Currie, ���������������� Agriculture 1793–1875, S. 108f. Siehe Stuart Macdonald: Model Farms; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 1, London 1981, S. 214–226. Macdonald ��������������������������������������� hält die Versuchsbetriebe allerdings für wenig nützlich und eher für eine Modeerscheinung. Gleichwohl unterhielten z. B. auch die Dukes of Bedford einen solchen Betrieb, der sich dem Obstanbau widmete. Siehe First Report of the Experimental Fruit Farm, London 1897. Ein zweiter Bericht stammt aus dem Jahr 1900. Die Woburn Experimental Farm hatte bereits der 9. Duke of Bedford gegründet, der auch Präsident der Royal Agricultural Society war. Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 5.2. Zu der model farm der Earls of Shrewsbury siehe den Staffordshire Advertiser vom 20.8.1864; zu ähnlichen Betrieben in Böhmen siehe Heumos, Interessen, S. 17, der ihnen allerdings durchaus einen Vorbildcharakter einräumt. Cannadine, Decline, S. 710. Schreiben vom 5.3.1899. BaLARS: R4/25. Schreiben vom 21.6.1899. Ebd. Schreiben vom 30.12.1897. Ebd. Schreiben vom 21.6.1899. Ebd.

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keeper bewohnte cottage nur ein Zimmer habe, so dass er dort, Mrs. Stapleton hingegen in der Küche schlafe.49 Weder sind die angeführten Beispiele Einzelfälle50 noch eine Besonderheit der Dukes of Bedford, wie die umfangreiche Korrespondenz anderer adeliger Besitzer mit ihren Verwaltern und die sogenannten estate diaries zeigen.51 Die aristokratischen landlords wählten ihr leitendes Personal selbst aus, sie kommunizierten ihr Interesse an guten Beziehungen zwischen Verwaltern und Pächtern und entschieden über Investitionen.52 49 Schreiben vom 8.3.1884. BaLARS: R4/932. Hier geht es um eine Bewilligung durch den 10. Duke of Bedford. 50 Allein in der Bedfordschen Überlieferung finden sich eine Vielzahl ähnlich gelagerter Anfragen und Entscheidungen. Siehe dazu BaLARS: R4/25, R4/932 und R4/938. 51 Siehe z. B. für die Marquesses of Londonderry die Bestände D/Lo/E 514, D/Lo/E 515, D/Lo/E 832, D/Lo/C 562, D/Lo/C 186, D/Lo/C 197, D/Lo/C 198, D/Lo/C 621, D/ Lo/C 210, D/Lo/C 314 oder D/Lo/F 1048, die im County Record Office in Durham (CROD) lagern. Ähnlich umfangreich und aussagekräftig für das Involviertsein in das Alltagsmanagement ist z. B. auch die Überlieferung der Earls of Shrewsbury. Siehe dazu die Bestände D 240/E/C/3/5, D 240/E/C/3/6, D 240/E/C/4/1 bis D 240/E/C/4/8 (hierin sind auch die estate diaries für die Güter Alton und Ingestre enthalten), D 240/ J/10/2/1–3, die im County Record Office in Stafford (CROSt) einsehbar sind. Gerade das Gutstagebuch für Ingestre aus dem Jahre 1874 gibt einen kleinteiligen Eindruck, welche Entscheidungen entweder vom 19. Earl getroffen oder ihm zur Bestätigung vorgelegt wurden, so etwa: Vermietungen von cottages (z. B. 3.1., 6.1., 15.1., 3.2., 4.2., 3.3.) und Anträge auf Reparaturen (z. B. 31.1., 2.2., 7.2.). Die Einträge zeigen den Earl als einen sparsamen Mann, der selten unmittelbar einer Ausgabe zustimmte, sondern in vielen Fällen den Verwalter hinschickte, um die Lage vor Ort in Augenschein zu nehmen. CROSt: D 240/E/C/4/3. Manchmal war der Earl gar so sparsam, dass ihn sein Verwalter warnte, man dürfe in „diesen Zeiten“ nicht „zu vorsichtig“ sein, weil es sich sonst außerordentlich schwierig gestalte, überhaupt einen Pächter zu finden. Ingestre estate diary, Ginders an Earl Shrewsbury, 10.6.1873. CROSt: D 240/E/C/4/2. 52 �������������������������������������������������������������������������������������� In diesem Sinne John V. Beckett: Agricultural Landownership and Estate; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850–1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/I, Cambridge 2000, S. 693–758, siehe auch Beckett, Contribution, S. 282 und Thompson, Landed Society, S.  151f., Mingay, Rural Life, S.  47 und T. W. Beastall: Landlords and Tenants; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London 1981, S. 428–438. ���������������������������������������������������������������� Theodore Hoppen dagegen sieht in den Gutsbesitzern keine „economic men“. Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 22. – Die Arbeiten der Kritiker wie jener, die die wirtschaftlichen Fähigkeiten der Aristokratie positiv bewerten, basieren häufig auf generalisierenden Aussagen, ohne eine tiefergehende, quellenbasierte Untersuchung. Denn bei aller grundsätzlich erfolgreichen ökonomischen Tätigkeit gab es auch Ausnahmen, so z. B. Frances Anne, Marchioness of Londonderry. Probleme entstanden auf den Besitzungen der Londonderrys um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als nachgeborene Kinder abgesichert werden mussten und dabei die Teilung des nordenglischen Besitzes ebenso

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Wie in Böhmen auch war eine der Grundvoraussetzungen für den Erfolg der geschilderten Praktiken ein substantielles Maß an Anwesenheit. Dieses war in beiden Regionen53 gegeben. In manchen Fällen ging sie so weit wie beim 7. Duke of Bedford, der morgens zwischen vier und fünf Uhr aufstand, im Winter sein eigenes Feuer entzündete und bis in den Vormittag hinein, nicht selten auf nüchternen Magen, Briefe schrieb, unter anderem an seinen Verwalter Christopher Heady.54 Natürlich kamen alle diese Adeligen auch ihren vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Verpflichtungen nach. Sie wussten diese jedoch auch bei Abwesenheit mit der Oberaufsicht über die Güter zu verbinden, wie etwa aus den estate diaries hervorgeht. So übermittelte Charles Talbot, 20. Earl of Shrewsbury, seine Anweisungen auch von verschiedenen Mittelmeerhäfen, wo er mit seiner Yacht unterwegs war.55 Manchmal ging das Engagement gar so weit wie bei Lord Wantage, der in Reaktion auf die Ag-

diskutiert wurde wie die Frage, was Teil des strict family settlements sein sollte. Ihren Hintergrund hatten diese Überlegungen in den zwei Ehen des 3. Marquess of Londonderry. Sein Sohn aus erster Ehe erbte den Titel und die irischen Besitzungen. Nach ihm wurde sein Halbbruder, der älteste Sohn von Frances Anne und dem 3. Marquess, 5. Marquess, der die irischen und nordenglischen Güter (wieder) vereinigte. Letztere hatten seit dem Tod des 3. Marquess 1854 bis zum Tod von Frances Anne 1865 unter ihrer Oberaufsicht gestanden. Zwar erkannte sie eine gewisse Notwendigkeit zur Begrenzung der Ausgaben, doch folgten ihren Überlegungen kaum Taten, sieht man von der Reduzierung der Landarbeiterlöhne und der Senkung ihrer coal allowances ab. Nach ihrem Tod sanierte der 5. Marquess mit tatkräftiger Unterstützung des Verwalters John B. Eminson die Besitzungen. Siehe dazu CROD: D/Lo/C 210, D/Lo/C186 und D/Lo/C 218, wobei allein in dem letzten Bestand 725 Briefe Eminsons an den 5. Marquess aus den Jahren 1866 bis 1875 überliefert sind. 53 ������������������������������������������������������������������������������������������� Mit Blick auf die englische Aristokratie schreibt Spring gar: „No other elite, with the exception of the Prussian, was as much resident upon its estates.“ Spring, Administration, S. 11. Dies ist nur eines von vielen Beispielen für implizite Vergleiche in der englischen bzw. britischen Historiographie. Sie sind darauf zurückzuführen, dass in der Historiographie lange Zeit eine positive Identitätsstiftung im Vordergrund stand. Die impliziten Vergleiche dienen daher nicht selten der kulturellen Abgrenzung und sind weniger als komparative Aussagen im eigentlichen Sinne zu verstehen. Siehe dazu mit Blick auf die englische Forschung Geoffrey Crossick: And What Should They Know of England? Die vergleichende Geschichtsschreibung im heutigen Großbritannien; in: Haupt und Kocka, Vergleich, S.  61–75 sowie grundsätzlich Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts; in: HZ 267/1998, S. 649–685, besonders S. 653 und S. 657. 54 Spring, Administration, S. 26. 55 Siehe die Schreiben von Ende Dezember 1881 und Anfang Januar 1882. CROSt: D 240/J/10/2/1.

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rarkrise die Bewirtschaftung seiner umfangreichen Ländereien in Berkshire fast vollständig selbst übernahm.56 Es lässt sich also auch für England festhalten, dass die ganz überwiegende Zahl adeliger Gutsbesitzer ihre Güter renditeorientiert bewirtschaftete und dabei selbst engagiert blieb. Sie waren damit insgesamt erfolgreich, denn ein Bankrott, wie bei den Dukes of Buckingham 1847 in Folge eines extravaganten Lebensstils ohne Ausgabenkontrolle, bildete die große Ausnahme von der Regel.57 Empört schrieb die Times, der Verlust der Güter stelle „public treason“ dar und sprach von einem „heavy blow at the whole order to which he [der 2. Duke of Buckingham] unfortunately belongs.“ Mehr noch: „In the midst of fertile lands, and an industrious people, in the heart of a country where it is thought virtuous to work, to save and to thrive, a man of the highest rank, and of a property not unequal to his title, has flung all away by extravagance and folly”58 – ein Widerhall der Legitimierung der englischen Aristokratie über den Besitz und dessen erfolgreiche Bewirtschaftung zum Nutzen der ganzen Nation. Mögen in England und Böhmen auch die Bewirtschaftungsformen (Verpachtungen bzw. Eigenbetriebe) unterschiedlich gewesen sein, so war Angehörigen beider hochadeliger Gruppen ein Involviertsein in das Alltagsmanagement der Gutsverwaltungen gemeinsam, getragen von der Absicht, Gewinne zu erwirtschaften, mit denen ein repräsentativer Lebensstil finanziert werden konnte. Angesichts dieses Befundes mag sich die Frage stellen, warum adelige Familien in beiden Regionen bei aller Profit­ orientierung im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre Industriebeteiligungen abstießen. Anders, als es Heinz Gollwitzer annahm, handelte es sich dabei jedenfalls nicht um einen Rückzug hinter die Fassade patriarchalischen Stilllebens auf dem Lande.59 Die erwähnten Beteiligungen gingen auf die frühen Phasen der Industrialisierung zurück. Herman Freudenberger hat in seinen Arbeiten immer wieder auf die adeligen Unternehmer in Böhmen (wie auch in Mähren) hingewiesen, etwa auf die beiden Zweige des gräflichen Hauses Waldstein mit ihrem seit 1715 bestehenden Spinnereibetrieb, einer Gewehrfabrik sowie einer Eisengießerei60 oder auch auf Josef Johann Prinz 56 Mingay, Rural Life, S. 40. 57 ����������������������������������������������������������������������������������� John V. Beckett: The Rise and Fall of the Grenvilles, Dukes of Buckingham and Chandos, 1710–1921, Manchester/New York 1994. Grundsätzlich zur Diskussion über adelige Verschuldung siehe David Cannadine: Aristocratic Indebtedness in the Nineteenth Century. The Case Re-opened; in: Economic History Review, 2nd ser., 30/1977, S. 624–650 sowie die Fortsetzung der Diskussion in ebd., 33/1980, S. 564–573. Siehe auch Beckett, Aristocracy, S. 295–321. 58 Zitiert nach Beckett, Grenvilles, S. 243. 59 Heinz Gollwitzer: Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten, 1815–1918, Wien 1957, S. 288ff. 60 Die Eisengießerei verkauften die Grafen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Emil Škoda; aus dem Betrieb wurde später der größte Rüstungskonzern der Tschechoslowakei. Herman Freudenberger: The Waldstein Woolen Mill, Boston 1963. Grundsätz-

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Schwarzenberg als Begründer der Schwarzenberg-Bank61 sowie auf die Grafen Sternberg, Buquoy, Rottenhan oder Harrach62. In der Folge dieser adeligen Investitionstätigkeit befanden sich 1846 vierzig von 47 Hochöfen mit einem Ausstoß von 90 % der Landesproduktion in der Hand hochadeliger Besitzer, und das vor dem Hintergrund, dass die Eisenproduktion in den Jahrzehnten des Vormärz eine lebhafte Aufwärtsentwicklung genommen hatte. Auch 80 % der geförderten Braunkohle und knapp 20 % der Steinkohle stammten 1848 aus Gruben, die sich in adelig-grundherrlichem Besitz befanden.63 Nicht wesentlich anders sah es in den Jahren nach der Jahrhundertmitte aus: Hannes Stekl konstatiert, dass der überwiegende Teil des böhmischen Adels kapitalistisch aktiv gewesen sei und die Grundentlastungserlöse in den Eisenbahnbau, in Industrieunternehmungen und Bankgründungen investiert habe.64 So produzierten in den 1870er Jahren Eisengießereien in adeligem Besitz noch 41 % des böhmischen Ausstoßes. Gleichfalls gehörten 80 von 120 Zuckerraffinerien adeligen Familien.65

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lich zu den beiden Linien der Grafen Waldstein und ihren verschiedenen wirtschaftlichen Unternehmungen siehe auch ders., Lost Momentum, S. 210–221. Einen optischen Eindruck der Waldsteinschen Eisenwerke in Sedlec bei Rokyčany in den 1870er und 1880er Jahren vermitteln zeitgenössische Fotographien. Siehe dazu die Abbildungen im Katalog Tvář průmyslové doby. Svědectví fotografie [Das Gesicht des industriellen Zeitalters. Das Zeugnis der Fotographie], hrsg. v. Národní technické muzeum v Praze, Praha 2007, S. 64 und S. 74. Freudenberger, Lost Momentum, S. 224–232 sowie ders.: The Schwarzenberg-Bank. A Forgotten Contribution to Austrian Economic Development, 1788–1830; in: Austrian History Yearbook 27/1996, S.  41–64 und Herbert Matis: Die Schwarzenberg-Bank. Kapitalbildung und Industriefinanzierung in den Habsburgischen Erblanden 1787– 1830, Wien 2005. Freudenberger, Lost Momentum, S. 232–244. Siehe auch ders.: Progressive Bohemian and Moravian Aristocrats; in: Intellectual and Social Developments in the Habsburg Empire from Maria Theresia to World War I. Essays dedicated to Robert A. Kann, hrsg. v. Stanley B. Winters und Joseph Held, New York/London 1975, S. 115–130. Zur �������� Harrachschen Glasfabrik in Nový Svět um 1900 Národní technické muzeum, Tvář, S. 97. Melville, Grundherrschaft, S. 309. Im Pilsener Revier waren u. a. die Grafen Sternberg, Waldstein, Wurmbrand, Kolowrat-Krakowsky, Wrbna sowie die Fürsten Metternich, Trautmannsdorff, Auersperg und Thurn-Taxis als Montan- bzw. Hüttenunternehmer tätig; im Kladnoer Revier die Fürsten Fürstenberg, im westböhmischen Braunkohlegebiet die Grafen Nostitz und Westphalen. Stölzl, Ära, S. 151. Zur Eisenverhüttung auf den böhmischen Gütern siehe auch Aleš Zářický: Der Geburtsadel an der Schwelle des Industriezeitalters. Das Beispiel der Familie Larisch-Mönnich; in: Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne, hrsg. v. Ivo Cerman und Luboš Velek, München 2009, S. 121–131. Stekl, Machtverlust, S. 157. Eagle Glassheim: Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge/Mass. 2005, S. 13.

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Zu diesem Zeitpunkt hatte das adelige Interesse an industriellen Unternehmungen seinen Zenit jedoch überschritten. Stekl verweist darauf, dass es Mitte der 1860er Jahre zu einem Exodus adeliger Aufsichtsratsmitglieder aus den Leitungsgremien von Industriebetrieben und Banken gekommen sei.66 Freudenberger datiert den Rückzug gar schon in die 1830er Jahre. Keinesfalls entscheidend sei dafür jedoch gewesen, dass sich eine wirtschaftliche Tätigkeit nicht mit dem adeligen Ethos habe verbinden lassen, wie es jene Adeligen bewiesen, die auf eine kapitalistische Betätigung nicht verzichteten.67 In der Einschätzung der Rolle böhmischer adeliger Unternehmer in der Habsburgermonarchie geht Freudenberger gar so weit, dass er die Verlangsamung der wirtschaftlichen Dynamik der Monarchie auf deren Rückzug aus dem ökonomischen Engagement zurückführt.68 Die erste These wurde indirekt auch schon von den Zeitgenossen bestätigt, so etwa von Gustav Graf Blome: „Übrigens sind unsere sogenannten Konservativen, zumal die böhmischen Großgrundbesitzer, reine Individualisten, mithin Liberale, ohne es zu wissen.“69 Wie in Böhmen und manchen anderen zentraleuropäischen Regionen70 spielte auch in England die Aristokratie eine nicht unbedeutende Rolle in den frühen Phasen der Industrialisierung. Zu ihren bevorzugten Aktivitäten gehörten der Abbau von Bodenschätzen, die sich unter ihren Ländereien befanden, besonders von Kohle, sowie der Kanalbau und die Eisenerzeugung.71 Schaut man allein nach jenen Familien, die sich der Erschließung von Kohlevorkommen und ihrem Abbau widmeten, so ergibt sich eine stattliche Liste von Namen, zu denen etwa für den Nordosten Englands 66 Stekl, Machtverlust, S.157. 67 Dazu gehörten etwa die Grafen Nostiz. Erwein Graf Nostiz betrieb noch im frühen 20. Jahrhundert zwei Eisenwerke. SOA Plzeň, Zweigstelle Žlutice: Vs Jindřichovice, kart. 217. 68 Freudenberger, Lost Momentum, S. 47–54. 69 ������������������������������������������������������������������������������������ Zitiert nach Lothar Höbelt: Adel und Politik; in: Die Fürstenberger. 800 Jahre Herrschaft und Kultur in Mitteleuropa, hrsg. v. Erwein Eltz, Korneuburg 1994, S. 365–377, S. 369. Das Zitat ist nicht datiert, stammt aber dem Kontext nach aus den 1890er Jahren. 70 Zu Sachsen siehe Thierry Jacob: Das Engagement des Adels der preußischen Provinz Sachsen in der kapitalistischen Wirtschaft 1860–1914/18; in: Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Heinz Reif, Berlin 2000, S. 273–330, S. 291ff. In Galizien beteiligte sich der Adel im späten 19. Jahrhundert an der Erschließung der Ölvorkommen, die zu einem kurzfristigen Boom führten. Siehe dazu Alison Fleig Frank: Oil Empire. Visions of Prosperity in Austrian Galicia, Cambridge/Mass. 2005. 71 Beckett, Aristocracy, S.  206–228 und S.  252f. sowie Lieven, Abschied, S.  159ff. Zum Kanalbau vergleichend in England und Böhmen Freudenberger, Lost Momentum, S. 102f. ������������������������������������������������������������������������� Außerdem auch M. W. McCahill: Peers, Patronage and the Industrial Revolution, 1760–1800; in: Journal of British Studies 16/1976, S. 84–107 und W. M. Hughes: Lead, Land and Coal as Sources of Landowners’ Income in Northumberland between 1700 and 1850, University of Newcastle 1963 (PhD Thesis).

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neben den Dukes of Northumberland die Earls of Scarbrough sowie die Adelsfamilien Lambton, Bowes, Liddell, Wortley, Clavering, Vane-Tempest und Brandling gehörten, in Yorkshire die Fitzwilliams und die Dukes of Norfolk, in Lancashire die Earls of Crawford und Balcarres sowie der 3. Duke of Bridgewater, in Leicestershire die Earls of Moira sowie schließlich in den westlichen Midlands die Earls of Dudley und die Dukes of Sutherland.72 Der 4. und 5. Earl Fitzwilliam investierten beide außerdem auch in die Eisenerzförderung und in die Errichtung von Kokereien.73 Auch die Earls of Dudley aus Staffordshire zeigten sich als industrialists, gehörten ihnen doch zwölf Bergwerke, neun Hochöfen, 96 Puddelöfen sowie zehn Walzwerke.74 Stadtentwicklung, speziell mit Blick auf Wohngebiete für die gehobene Mittelschicht, gehörte ebenfalls zu den adeligen Betätigungen. Da viele dieser stadtnahen Besitzungen von den Eigentümerfamilien nicht verkauft werden konnten, weil sie den Bindungen des strict familiy settlement unterlagen, bestand hier kaum das Interesse an einer kurzfristigen Profitmaximierung, sondern eher an einer langfristigen Rendite.75 Viele Unternehmer aus dem englischen Adel zogen sich jedoch spätestens nach der Jahrhundertmitte aus dem direkten Industrieengagement zurück, indem sie ihre Gruben und Eisenwerke verkauften, wenn sie sich als nicht mehr ausreichend profitabel erwiesen76, und den Erlös in Wertpapiere investierten. Häufig verfügten sie dann 72 Beckett, Aristocracy, S.  212. Angesichts dieser Besitzkonzentration ist es erstaunlich, dass Werner Berg in seiner vergleichenden Studie über die Entwicklung des Kohlebergbaus in England und Deutschland die Frage, wer „das Kapital“ oder „die Bodenbesitzer“ in sozialer Hinsicht waren, gänzlich unbeachtet lässt, aber auf die große Rolle des Staates verweist, der erst spät, dann aber in Form der Nationalisierung des englischen Bergbaus im 20. Jahrhundert sehr massiv in das Geschehen eingriff. Dies ist jedoch nur zu verstehen, wenn man bedenkt, dass viele der Kohlengruben adeligen Besitzern gehörten, die bis zum Ersten Weltkrieg, wenn auch in abnehmenden Maße, über beide Kammern des Parlaments auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen konnten und auch nahmen. Siehe Werner Berg: Allgemeine Entwicklungslogik und nationale Eigenständigkeit im Industrialisierungsprozess. Der Fall des britischen Kohlebergbaus im Vergleich (1830–1947), Berlin 1996. 73 ������������������������������������������������������������������������������������ Ausführlich dazu Graham Mee: Aristocratic Enterprise. The ������������������������������ Fitzwilliam Industrial Undertakings 1795–1857, Glasgow/London 1975, S. 23–77. 74 J. T. Ward: West Riding Landowners and Mining in the 19th Century; in: Yorkshire Bulletin of Economic and Social Research 15/1963, S. 61–74, S. 63. 75 David Cannadine: Lords and Landlords. The Aristocracy and the Towns 1774–1967, Leicester 1980. Cannadine betont jedoch stark, dass entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg adeliger städtischer Unternehmungen vor allem die Lage der Besitzungen im Stadtgebiet war, was wiederum entscheidend dafür war, ob die betreffende Klientel sie attraktiv fand. Dieser Befund gilt nach Cannadine sowohl für London als auch für die großen Provinzstädte. 76 ���������������������������������������������������������������������������������� Ein entsprechender Eintrag über eine aus Rentabilitätsgründen geschlossene Londonderrysche Grube findet sich etwa im Tagebuch des Earl of Derby unter dem 20.11.1878.

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über breit gestreute Portfolios, in denen sich heimische Aktien ebenso fanden wie Anteile an Unternehmen im Commonwealth. Nicht nur sicherte dieses Investitionsverhalten den betreffenden Familien eine höhere Liquidität, sondern die in Übersee angelegten Gelder unterlagen außerdem auch weder der heimischen Einkommenssteuer noch den sogenannten death duties.77 Wer nicht verkaufte, verpachtete die industriellen Unternehmungen häufig nach dem Vorbild der landwirtschaftlich genutzten Besitzungen.78 Ausnahmen gab es gleichwohl, und sie zeigen, ähnlich wie das bisher geschilderte Investitionsverhalten, unternehmerische Entscheidungen einzelner Adeliger. So gründete zum Beispiel der 7. Duke of Devonshire noch 1866 die Barrow Haematite Steel Company, das größte Bessemerwerk des Landes.79 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Marquesses of Londonderry (die Familie Vane-Tempest), denen nicht nur große landwirtschaftlich genutzte Güter gehörten, sondern auch Kohlereviere bei Durham im Norden Englands, so dass Lord Charles, der 7. Marquess of Londonderry, um 1880 auf der Einkommensskala der britischen Landbesitzer den 14. Platz einnahm.80 Auch zehn Jahre später stammte immer noch ein Achtel der in Yorkshire geförderten Kohle aus Betrieben, die unter der Verwaltung ihrer adeligen Besitzer standen.81 Zwar zogen sich adelige Familien in Böhmen wie in England nach der Jahrhundertmitte aus ihren industriellen Beteiligungen vielfach zurück, ein tiefes Unverständnis für marktwirtschaftliche Zusammenhänge wie es mit Blick auf den The Diaries of Edward Henry Stanley, 15th Earl of Derby (1826–1893) between 1878 and 1893. A ������������������������������������������������������������������������������ Selection, hrsg. v. John Vincent, Oxford 2003, S. 58. Aus Rentabilitätsgründen wandte sich der Marquess of Londonderry auch am 27.2.1912 im House of Lords gegen die Einführung der Minimum Wage for Miners’ Bill: Eine Grube in Durham zahle Mindestlöhne, und die Erfahrung zeige, dass die Menge der geförderten Kohle abnehme. Auch lohnten sich Investitionen in die Gruben nicht mehr, was letztlich zu deren Schließung und zu einem Steigen der Arbeitslosigkeit führen werde. CROD: D/Lo/F 1086. 77 Siehe dazu ausführlich mit vielen Beispielen Cannadine, Decline, S. 100, S. 124f. und S. 134f. 78 ������������������������������������������������������������������������������ Verpachtet wurden Gruben und andere Unternehmen häufig auch schon im 18. Jahrhundert. Grundsätzlich zu den Verpachtungen siehe Beckett, Aristocracy, S. 213f. und Ward, West Riding Landowners, S. 65f. Neben den von Ward genannten Beispielen der Earls of Fitzwilliam und der Dukes of Norfolk gehören auch die schon erwähnten Earls of Shrewsbury in die Gruppe der adeligen Grubeninhaber, die ihre (in Wales gelegenen) Bergwerke 1825 verpachteten. Beckett, Aristocracy, S. 213. 79 Lieven, Abschied, S. 159 und Moore, Landed Aristocracy, S. 374. Siehe außerdem auch David Cannadine: The Landowner as Millionaire. The Finances of the Dukes of Devonshire, 1800–1926; in: Agricultural Historical Review 25/1977, S. 87–97. 80 H. Montgomery Hyde: The Londonderrys. A Family Portrait, London 1979, S. 19 und Cannadine, Decline, S. 710. 81 Beckett, Aristocracy, S. 215.

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deutschen Adel konstatiert worden ist82, spielte dabei jedoch – das zeigen die hier vorgelegten Befunde – keine Rolle. Entscheidend war für den Adel dabei vielmehr die Aufrechterhaltung einer Differenz zwischen Stadt und Land83 als Voraussetzung für eine, wenn auch unter veränderten Bedingungen und in veränderter Form, zu bewahrende Herrschaft über Land und Leute. Gerade für England ist ja die Trias aus Landbesitz, Reichtum und Autorität bzw. sozialer Kontrolle in der Literatur immer wieder betont worden.84 Autorität wurde u. a. dadurch aufrechterhalten, dass sich viele aristokratische Arbeitgeber in paternalistischer Weise – davon wird noch ausführlicher die Rede sein – um „ihre“ Arbeiter auf den Gütern und in den Gruben kümmerten, für Unterkünfte sorgten, in Krankheitsfällen halfen und hinterbliebene Familien nach Unglücken versorgten. Ein grundsätzlicher Bruch war jedoch erreicht, wenn Arbeiter in Gewerkschaften eintraten. In diesem Fall wurde die vermeintliche „Undankbarkeit“ durch den Entzug von Arbeitsplatz und Unterkunft bestraft.85 Dies galt grundsätzlich für Landarbeiter wie für Bergleute oder Beschäftigte in den Fabriken, denn die Gewerkschaften stellten als konkurrierendes soziales Ordnungsmodell den gesellschaftlichen Herrschaftsanspruch der Aristokratie in Frage. Während adelige Arbeitgeber die Entwicklung von Bergarbeitergewerkschaften jedoch nicht verhindern konnten und sich deshalb häufig, wenn auch nicht immer, aus dieser Wirtschaftstätigkeit zurückzogen, waren ihre Möglichkeiten, die Bildung von Landarbeitergewerkschaften86 zu verhindern, deutlich größer. Dies lag nicht zuletzt daran, dass ihre Stellung als ländliche Arbeitgeber weitgehend ungefährdet war: Wer in England und Böhmen nicht auf adeligen Gütern arbeiten wollte, musste nicht selten die Landwirtschaft (und damit angestammte Lebensumstände) ganz verlassen und in die Industrieregionen abwandern, denn bäuerliche Betriebe stellten in beiden Regionen seltener Landarbeiter ein. Diese Tendenz war in England sogar noch ausgeprägter als in vielen Teilen Böhmens, weil die sogenannten owner-occupiers selten waren, während es zum Beispiel in der böhmischen Tiefebene prosperierende Großbauern gab.87 Diese waren sich jedoch mit dem grundbesitzenden Adel durchaus einig, dass eine gewerkschaftliche Organisation der Landarbeiter nicht zu ihren Interessen gehörte. Eine Stadt-Land-Differenz als Trennlinie gegenüber dem Bürgertum beschrieben auch die vielen publizierten adeligen Selbstzeugnisse. Für den deutschen Adel 82 ���������������������������������������������������������������������������������� Hartmut Berghoff: Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich – Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten; in: Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Heinz Reif, Berlin 2000, S. 233–271. 83 Moore, Landed Aristocracy, S. 378f. 84 Ebd., S. 374 und S. 378. Mingay, Rural Life, S. 22f. Beckett, Aristocracy, S. 44–49. 85 Siehe zum Beispiel Mee, Enterprise, S. 139f. und S. 176–183 sowie Ward, West Riding Landowners, S. 73. 86 Siehe dazu ausführlicher Kapitel 3.1.3. 87 Siehe dazu ausführlicher die Teilkapitel 2.3 und 2.4.

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im 20. Jahrhundert haben Marcus Funck und Stephan Malinowski das Verfassen solcher Schriften als adelige Praktik zur Erzeugung von Distinktion beschrieben. Als adelige „Marker“ funktionierten dabei die Topoi Naturnähe und Naturbeherrschung einerseits sowie die Herrschaft über Land und Leute andererseits.88 Einschlägige Quellen liegen auch für England89 (und mit gewissen Einschränkungen ebenso für Böhmen90) vor. Auffällig ist, dass sich die adeligen Verfasserinnen und Verfasser durchgängig als dem Lande verbunden präsentieren91, so dass David Cannadine zu dem Schluss kommt, die Aristokratie sei auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts „fundamentally landed in ethos“92 geblieben. Die Eigenlogiken des Adels zeigten sich auch darin, dass bei aller wirtschaftlichen Aktivität und Renditeorientierung die direkte Umgebung des Familiensitzes von indu­striellen Unternehmungen ausgenommen wurde. So klagte Lady Elizabeth Grosvenor, die Frau des 2. Marquess of Westminster: „We are in a state of approaching frenzy from receiving by last night’s post a prospectus of a railway from London to Exeter by Salisbury cutting our Matcombe property right through and going within sight of the house, which of course if carried into effect would force us to give 88 Marcus Funck und Stephan Malinowski: Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik; in: Historische Anthropologie 7/1999, S.  236–270. Zur ländlichen Orientierung siehe auch Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart 2000, z. B. S. 362–368. 89 Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Edwin Hodder: The Life and Work of the George Douglas Campell, Eighth Duke of Ar7th Earl of Shaftesbury, London 1887. ������������������������������������������ gyll (1832–1900). Autobiography and Memoirs, London 1906. Lady Wantage: Lord Wantage, V. C., K. C. D., privately published 1907. The Journals of Lady Knightley of Fawsley, hrsg. v. Julia Cartwright, London 1915. The Private Diaries of Sir Algernon West, hrsg. v. H. G. Hutchinson, London 1922. Barbara Charlton: Recollections of a Northumbrian Lady 1815–1866, hrsg. v. L. E. O. Charlton, London 1949. 90 ��������������������������������������������������������������������������������� Zwar lagern in den tschechischen Adelsarchiven vielfach Tagebücher adeliger Autorinnen und Autoren, doch wurden diese Selbstzeugnisse im 19. Jahrhundert so gut wie nie publiziert. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass der böhmische Adel aufgrund seines Reichtums und weil ein Bürgertum insgesamt eher schwach ausgeprägt war, weniger vor der Notwendigkeit stand, sich von diesem soziokulturell abzugrenzen. An der grundsätzlichen ländlichen Orientierung ändert dieser Befund jedoch nichts. So kommt William Godsey in seiner Untersuchung der Wiener Hofgesellschaft zu dem Schluß: „The rela­tionship to rural life remained a defining character of the court nobility.“ ���� Godsey, Quarterings, S. 85. 91 Lady Knightley beschreibt sich gar als „the true country bumpkin that I am“. Cartwright, Journals, S. XVII. Über Richmond Park, wo sie als junges Mädchen den Frühling und Sommer verbrachte, heißt es: „There I learnt to live the happiest life in the world, that of an English country gentlewoman.“ Ebd., S. 2. 92 Cannadine, Decline, S. 137.

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up the place.“93 In ähnlicher Weise lehnte der 7. Duke of Bedford den Abbau von Eisenerzfunden auf dem Midland estate in Sichtweite des herzoglichen Hauses mit der Begründung ab, „because it would disfigure the countryside“.94 Der 15. Earl of Derby wiederum kaufte 1878 ein weiteres Gut, das an seinen Stammsitz Knowsley angrenzte und kommentierte in seinem Tagebuch: „It is not a good investment, but considering how Knowsley is surrounded by yearly increasing nuisances [durch den Ausstoß chemischer Betriebe] I do not believe that my successors will blame me for securing to them, within easy distance of London, an extent of land sufficient to give the enjoyment of a country place, free of annoyance of being overlooked & trespassed upon.“95 Auch in diesen Beispielen spiegelt sich das Bestreben wider, Distinktion aufrechtzuerhalten. Grundbesitzende Adelige zeigten sich somit sowohl in England als auch in Böhmen in ihren Wirtschaftspraktiken renditeorientiert. Auch waren sie in das Alltagsmanagement der Güter involviert. Gerade in den frühen Phasen der Industrialisierung spielten sie außerdem eine beträchtliche Rolle und zeigten, dass wirtschaftlicher Erfolg adeligem Standesbewusstsein nicht widersprach. Der häufig zu beobachtende Rückzug aus diesem Engagement – der keinesfalls allgemein war, wie die angeführten Beispiele gezeigt haben – diente vor allem der Markierung einer Distinktionslinie zwischen Stadt und Land. Das „Land“ jedoch mit der dazugehörigen ländlichen Bevölkerung war in den Augen des böhmischen wie des englischen Adels sein angestammtes Herrschaftsgebiet. Daher versicherte Graf Czernin 1850 auch einem adeligen Freund, zu „verkaufen … [und] fort[zu]ziehen“ sei „das beste Mittel … die Aristokratie … zu Grunde zu richten, denn nur durch großen Grundbesitz kann sie noch ihren Feinden trotzen.“96 Um aber den „Feinden“ trotzen zu können, mussten die Güter Gewinne abwerfen. Ihre adeligen Besitzer stellten zu diesem Zweck Personal ein, von dem in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird.

2.2 Die Verwalter und ihre Position in der ländlichen Gesellschaft Zwar hat das vorangegangene Kapitel gezeigt, dass die adeligen Besitzer in vielfältiger Weise in das Alltagsmanagement ihrer Güter involviert waren, doch enthob sie das weder in England noch in Böhmen der Notwendigkeit, Verwaltungspersonal ein93 Zitiert nach Beckett, Aristocracy, S. 244. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1836. Siehe grundsätzlich auch ebd., S. 220. 94 Zitiert nach Spring, Administration, S. 43. 95 ������������������������������������������������������������������������������������� Eintrag vom 5.7.1878. Vincent, Diaries, S. 28. Aus einer Notiz vom 1.7.1878 geht hervor, dass naheliegende Chemiebetriebe eine Geruchsbelastung darstellten. Ebd., S. 27. 96 Eintrag im Tagebuch von Eugen Graf Czernin, 16.9.1850. SOA Třeboň, Zweigstelle JH.

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zustellen. Vor allem die Beziehungen zwischen den Besitzern und ihrem chief agent bzw. Domänendirektor waren häufig sehr eng, waren sie doch aufeinander angewiesen: „Management in its higher reaches was very much a co-operative enterprise, in which even the most sybaritic owner would concern himself in matters of great consequence, and the most enterprising owner might feel himself hemmed in by his agents, prisoner of his steward on estate affairs and of his lawyer on family arrangements.”97 Wenn auch auf englischen Gütern weniger Verwaltungspersonal angestellt war als auf böhmischen, so stand doch auch hier der sogenannte chief agent an der Spitze einer Verwaltungsbürokratie. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte der 4. Duke of Northumberland auf seinen gut 60.000 Hektar umfassenden Ländereien unter dem chief agent bis zu drei supervising agents in Alnwick Castle, denen wiederum zwölf bis dreizehn bailiffs (oder resident agents) in den Ortschaften unterstanden. Hinzu trat weiteres Personal für die von der Familie betriebenen Minen, außerdem in London ein zentraler Buchhalter und der Anwalt des Dukes.98 In den Spitzenpositionen handelte es sich um außerordentlich lukrative Stellen. So verdiente z. B. Christopher Heady, der Hauptverwalter des 7. Duke of Bedford, um die Mitte des 19. Jahrhunderts 1.800 £ jährlich; ein Einkommen, das dem eines Spitzeneisenbahnmanagers entsprach.99 Üblich war außerdem, dass dem agent ein Haus mit Garten gestellt wurde, dazu coal und gas allowances.100 Bei der Auswahl eines neuen Verwalters griffen adelige Gutsbesitzer nicht selten auf Vermittler zurück. Ein entsprechendes Schreiben ist zum Beispiel in der priva97 Thompson, Landed Society, S. 151. 98 Spring, Administration, S.  8–12. Eine ähnliche Verwaltungsstruktur wiesen auch die Bedfordschen Güter auf. Ebd., S.13f. 99 ������������������������������������������������������������������������������������� Eric Richards: The Land Agent; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London 1981, S. 439–456, S. 441. 100 Siehe dazu z. B. den Vertrag zwischen dem Marquess of Londonderry und John Gibson vom 19.3.1848. Gibson stieg mit einem Jahresgehalt von 350 £ ein; der Vertrag sah eine jährliche Steigerung bis 1852 um 25 £ vor. Zur Verfügung gestellt wurden ihm neben Haus mit Garten auch „Dienstpferde“, deren Verpflegung, soweit sie für Dienstgeschäfte im Einsatz war, von dem Marquess ersetzt wurde. CROD: D/Lo/E 536. Der Vertrag von Earl Vane mit seinem Verwalter J. B. Eminson vom 18.10.1869 setzte ein Jahresgehalt in Höhe von 800 £ fest, Haus mit Garten, freie Kohle- und Gaslieferungen und bestimmte außerdem, dass Eminson nicht mehr als zwei Pferde halten dürfe. CROD: D/Lo/E 535 (Dok. 9). Ebenfalls aus den 1860er Jahren stammen weitere Verträge in diesem Bestand mit dem Hafenmeister, der ein Gehalt von 150 £ jährlich erhielt sowie einen Mietzuschuss von 15 £ p. a. (Ebd., Dok. 16, 1.1.1861) und mit Matthew Waister als railway manager der Londonderryschen Gruben. Ihm wurde eine Dienstwohnung gestellt, sein Jahresgehalt belief sich auf 250 £ (Ebd., Dok. 18, 1.2.1861). Auf den Shrewsburyschen Gütern bekam der sub-agent George Warton Marriott Esq. ein Gehalt von 400 £ p. a. sowie eine Kohlezuteilung. Verpflichten musste er sich, auf eigene Kosten ein einsatzbereites Reitpferd zu unterhalten. Vertrag vom 2.12.1879. CROSt: D 240/F/4/6.

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ten Korrespondenz des 19. Earl of Shrewsbury überliefert, der solche Dienste in Anspruch nahm, um in zunächst indirekten Kontakt zu einem Kandidaten für den Verwalterposten zu treten. Seine Kontaktperson teilte ihm mit: „Mr. Scott … has now upwards of 1.000 £ a year from Lord Lichfield , [he] is no doubt a most desireable person of an agent for landed estates. … I have not told him whose agency it is & as he has only been a short time with Lord Lichfield [der den Shrewsburys benachbarte Großgrundbesitzer], he will not probably apply as it might seem not quite fair towards Lord Lichfield.“ Mit Blick auf einen weiteren Kandidaten heißt es dann: „After your last kind letter, re. politics, I wrote to Alfred & he is a free agent, to go in for political struggle ….“101 Zwar befand sich der Berufsstand der Verwalter etwa seit den 1830er Jahren in einem Prozess der Professionalisierung, doch bestand bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die beste Ausbildung darin, als Lehrling bei einem anerkannten Verwalter zu beginnen, so dass sich in diesem Beruf viele Söhne und Neffen von agents fanden, aber auch Farmer, die etwa die Funktion eines bailiff als eine Art Nebengewerbe ausübten, ausgeschiedene Militärs ebenso wie qualifizierte Juristen. Eine formellere Ausbildung setzte sich erst in 1880er Jahren durch, als das Royal Agricultural College in Cirencester die Mehrzahl seiner Absolventen in den Beruf des Verwalters entließ.102 Da die englischen Güter verpachtet wurden, bestand die wichtigste Aufgabe der Verwalter in der rent collection. Ohne einen fähigen Verwalter war auch eine Kontrolle der Ausgaben nicht zu gewährleisten.103 Außerdem waren die agents an der Auswahl 101 Undatiertes Antwortschreiben, dem sachlichen Kontext nach aus dem Jahre 1873. CROSt: D 240/J/8/6. 102 ����������������������������������������������������������������������������������� Richards, Land Agent, S. 443ff. Zur Professionalisierung siehe Thompson, Landed Society, S. 153–156. Beckett datiert dagegen die Anfänge der Professionalisierung bereits ins 18. Jahrhundert. Beckett, Aristocracy, S.  142–149. Als Fallstudie siehe außerdem auch Sarah Webster: Estate Improvement and the Professionalisation of Land Agents on the Egremont Estates in Sussex and Yorkshire, 1770–1835; in: Rural History 18/2007, S. 47–69. Grundsätzlich zu den Verwaltern auch Gordon E. Mingay: Rural Life in Victorian England, Gloucester 1990, S. 127–146. Einen kurzen Überblick über die auf den Gütern in Staffordshire angestellten Verwalter gibt Currie: Agriculture 1793–1875, S. 93f. Auch in dem Anwachsen einer Fachliteratur spiegelt sich die zunehmende Professionalisierung. Siehe z. B. David Low: On Landed Property and the Economy of Estates, London 1844. J. L. Morton: The Resources of Estates, London 1858. Henry Herbert Smith: The Principles of Landed Estate Management, London 1898. Auch das Journal of the Royal Agricultural Society versorgte interessierte Besitzer und ihre Verwalter regelmäßig mit Beiträgen zur Professionalisierung der Gutsverwaltung. 103 ������������������������������������������������������������������������������������� Dabei war nicht immer jeder Besitzer mit seinem Verwalter in dieser Hinsicht auch zufrieden. ������������������������������������������������������������������������������� So notierte Edward Stanley, der 15. Earl of Derby, am 25.4.1878 in seinem Tagebuch, nachdem er die Einnahmen und Ausgaben verzeichnet hatte: „It is in Hale’s [i.e. the chief agent’s] department that the waste, for such I must consider it, goes on: & seeing him today I spoke seriously, but in a friendly way about it. I am not however sanguine

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neuer Pächter beteiligt104 und für den täglichen Umgang mit ihnen zuständig. Einerseits wandten sich die tenants mit all ihren Anfragen an sie, andererseits hatten sie die Entscheidungen der Besitzer zu übermitteln und ggf. durchzusetzen. So bat etwa der Farmer Mousley um einen Termin bei einem der Verwalter des Earls of Shrewsbury, da die Wasserversorgung auf seinem Hof nun „so impure“ sei „that most of us have diarrhoea.“ Über das Gespräch berichtete der Verwalter dem Earl, der bestimmte, dass ein Kostenzuschuss von drei Pfund zur Instandsetzung der Wasserleitungen zu zahlen sei, der Pächter die Arbeiten aber selbst auszuführen habe.105 Neben der Korrespondenz geben auch die estate diaries Auskunft über die Alltagsaufgaben der Verwalter. Der 19. Earl of Shrewsbury schickte mal seinen Unterverwalter Bolam, um nachzusehen, ob eine Reparatur auch wirklich notwendig sei106, mal – wenn es sich um größere Maßnahmen handelte – seinen chief agent Ginders. Die folgende Episode zeigt, wie die verschiedenen Ebenen der Verwaltung zusammenspielten. Ginders berichtete dem Earl von dem Schreiben eines Pächters, der daran erinnerte, dass ihm ein Wagenunterstand und ein Schuppen zugesagt worden sei, und der sich außerdem um die Pachtung eines weiteren Hofes bewerbe. Letzteres werde aber vom zuständigen lokalen Unterverwalter nicht empfohlen. Seine Lordschaft ließ Ginders daraufhin wissen: „Have never personally visited this farm. Use your discretion but report what you have decided upon.“107 Es wird in den nächsten beiden Teilkapiteln noch davon die Rede sein, dass viele adelige Besitzer in der Tat ihre Pächter (bzw. in Böhmen: Schaffer) und manchmal auch die Landarbeiter persönlich kannten. An dieser Stelle jedoch ist zunächst festzuhalten, dass die Verwalter in der Agrargesellschaft eine intermediäre Rolle innehatten, die bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein bestand.108

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of much good being done.” Vincent, Diaries, S. 9. Wie wichtig die Ausgabenkontrolle durch den Verwalter war, zeigt auch das Beispiel der Marquesses of Londonderry. Nach dem Tod von Frances Anne bemühte sich ihr Sohn, die Güter zu sanieren. Zusammen mit seinem Hauptverwalter Eminson legte er fest, dass keinerlei Käufe ohne seine Zustimmung und nur nach Vorlage bei Eminson getätigt werden durften. Nur auf diese Weise war es dem Verwalter möglich, den Finanzfluss der Güter auch wirklich zu kontrollieren. CROD: D/Lo/C 218. Zum Erheben der Pacht und der Auswahl von Pächtern siehe Spring, Administration, S. 9 und Richards, Land Agent, S. 442. Mousley an den Verwalter Southall, 16.7.1877. CROSt: D 240/E/C/3/6. Siehe z. B. die Einträge im estate diary allein vom Januar (6.1., 15.1., 21.1., 26.1.) 1874 . CROSt: D 240/E/C/4/3. Eintrag vom 9.6.1874. Ebd. Siehe dazu z. B. das Ausgangsbriefbuch von W. C. T. Mynors, dem Verwalter des 20. Earl of Shrewsbury, aus dem Jahre 1906. CROSt: D 240/E/C/3/19. In der Literatur ist diese Rolle der Verwalter mit einer Diskussion darüber verbunden, ob sie zu einer Über-

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Angesichts dieser intermediären Position konnten sie das soziale Klima nachhaltig beeinflussen. Dafür war von großer Bedeutung, auf welche Weise sie Entscheidungen übermittelten und ggf. vorstrukturierten, denn sie hatten sowohl die Renditeinteressen der Besitzer zu berücksichtigen als auch gute Pächter zu halten. Hinzu kam, dass sie auch eine Vielzahl von weiteren Funktionen, teils informell, vielfach aber auch formell, in der ländlich geprägten Welt wahrnahmen. Dazu gehörte z. B. schon vor der Jahrhundertmitte die Registrierung von Wählern109 und auch in späterer Zeit ihre „Begleitung“ zu den Wahlurnen110 oder andere Formen der direkten oder indirekten Wahlbeeinflussung111. Doch auch formelle Positionen sind in diesem Kontext zu erwähnen: So gehörten Verwalter den Gemeinderäten an112, dienten den poor law unions als guardians113, waren Mitglieder von Regierungskommissionen wie der Land Improvement Commis­sion114 oder der örtlichen Magistrate115. Selbst in der Zwischenkriegszeit war der Verwalter des Marquess of Londonderry, Malcolm Dillon, noch justice of the peace und Mitglied des county council.116 Mit Blick auf die geschilderte Vielfalt der Rollen, die vor allem die Spitzen der Gutsverwaltungen inne hatten, hat die Literatur sie als sehr konservative Kraft117, gar als „stoutest defenders“118 der alten Agrarordnung beschrieben. Dies ist naheliegend, kapitalisierung der Landwirtschaft beigetragen haben oder eher zu ihrer notwendigen technischen Modernisierung. Siehe dazu Richards, Land Agent, S. 455. 109 ������������������������������������������������������������������������������������� Eve Cottingham: The Bedford Estates and Agricultural Politics in early Victorian England, St. Hughes College/Oxford 1981 (Master Thesis), S. 8f. 110 Schreiben des Wahlkampfmanagers Charles Hard an den Verwalter Eminson, 24.4.1871. CROD: D/Lo/C 316. 111 ����������������������������������������������������������������������������������� Richards, Land Agent, S. 446. Siehe auch K. D. Reynolds: Aristocratic Women and Political Society in Victorian Britain, Oxford 1998, S. 130. 112 ����������������������������������������������������������������������������������� David Micklejohn, Verwalter des Marquess of Londonderry, war z. B. Mitglied der Gemeinderäte von Thorpe und Grindon. CROD: D/Lo/F 713. Zur Mitwirkung der Verwalter in den Institutionen der Lokalverwaltung siehe auch die Ausführungen in Kapitel 5.1.2. 113 �������������������������������������������������������������������������������� William Warham, ebenfalls beim Marquess of Londonderry als Rechnungsprüfer angestellt, war von 1881 bis 1897 guardian of the poor bei der Easington Union. CROD: D/ Lo/F 714. 114 Ginders, der schon erwähnte Verwalter der Earls of Shrewsbury, war Mitglied dieser Kommission. Eintrag im Ingestre estate diary vom 27.1.1874. CROSt: D 240/E/C/4/3. 115 ��������������������������������������������������������������������������������� Der schon erwähnte Verwalter Eminson wurde auf Vorschlag des Earls of Durham Mitglied des städtischen Magistrats von Durham. Siehe das Schreiben des Clerks of the Peace Office vom 14.1.1870 und Eminson undatiertes positives Antwortschreiben, das auf das erste unter Nennung von dessen Datum Bezug nimmt. CROD: D/Lo/C 313. 116 CROD: Findbuchhinweis zu dem Bestand D/Lo/F. 117 Richards, Land Agent, S. 454. 118 Ebd., S.  440. Diskutiert wird in der englischen Forschung in diesem Zusammenhang auch, ob die Verwalter eher die soziale Kohärenz der ländlichen Gesellschaft gefördert

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denn sie verdankten ihre eigene exponierte Position in den ländlich-agrarisch geprägten Regionen Englands ihrer Funktion als Verwalter eines adeligen Gutsbesitzers und somit als Vertreter eines lokal bedeutenden Arbeitgebers. Für diesen waren sie in seinem Bemühen, die Güter effizient zu bewirtschaften und Herrschaft, wenn auch in sich wandelnder Form, in der ländlichen Welt aufrechtzuerhalten, von zentraler Bedeutung. Auch in Böhmen war die Leitung der großen Güter eine kooperative Aufgabe für die Majoratsherren und ihr Verwaltungspersonal. Grundlage für die Tätigkeit des Verwaltungspersonals waren die auf allen Gütern erlassenen Amtsinstruktionen mit Vorschriften zum Berichtswesen und die vielfältigen Anweisungen, das Procedere auch einzuhalten.119 Diese waren nötig, da dem leitenden Personal auf den böhmischen Gütern, wegen der Bewirtschaftung in Eigenregie, wesentlich mehr Menschen direkt unterstanden als auf den englischen. So beschäftigten die Fürsten Schwarzenhätten (eine Position, wie sie etwa David Spring vertritt) oder ob sie eher zu ihrer Desintegration beigetragen haben. In diesem Sinne argumentiert Thompson: Angesichts der Professionalität der Verwalter und dem nachlassenden Interesse der Besitzer an der ländlichen Gesellschaft sei ihre Basis und das, was sie lange Zeit zusammengehalten habe, nämlich eine Kultur der Ehrerbietung, die in einem persönlich vermittelten Paternalismus gewurzelt habe, nach und nach verloren gegangen. Thompson, Landed society, S. 183. Die weiteren Ausführungen dieser Arbeit werden jedoch noch im Detail zeigen, dass von dieser Art des Rückzugs nicht gesprochen werden kann. 119 Záloha, Úřednictvo, S. 97ff. Zum Reglement auf den Czerninschen Gütern siehe z. B. „Amts-Instruktionen für die Exzcellenz Graf Czerninschen Domänen“ vom 1.12.1887 sowie die „Amts-Instruction für die Domäne Neuhaus“ vom 18.1.1907 (beide: SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 991) oder die „Dienstes-Instructionen für die hochgräflich Georg von Waldstein-Wartenberg’schen Beamten und das Dienstpersonale, gültig vom 1. März 1900 (SOA Praha: RAV 3751, kart. 88). Anweisungen, die Dienstvorschriften auch einzuhalten, finden sich in reichhaltiger Zahl. Siehe z. B. den Wirtschaftsbericht der Schwarzenbergschen Wirtschaftsdirektion Worlik vom 19.5.1867, in dem erklärt wird, dass die Erkrankung eines Schaffers an den Blattern dazu geführt habe, dass er der angeordneten Berichtstätigkeit nicht nachkommen konnte. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 995. Siehe auch die wiederholten Anweisungen, das Procedere zu beachten, auf den Czerninschen Gütern, z. B. in dem eindringlichen Schreiben der Wirtschaftsdirektion Neuhaus an die Herrschafts-Inspektion, 21.1.1858. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1023. Zu den vielfältigen Anweisungen gehören auch die, die Geräte pfleglich zu behandeln (9.4.1867. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 995) und die landwirtschaftlichen Betriebskosten niedrig zu halten (12.2.1862. SOA Praha: RAV 3751, kart. 88). Angesichts der großen Zahl der Beschäftigten konnte es zwischen verschiedenen Abteilungen durchaus zu Auseinandersetzungen um die angemessene Anwendung des Reglements kommen, siehe dazu den Streit zwischen dem Rentamt und der Industriedirektion Worlik im Frühjahr 1899. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. Ähnlich gelagert war ein Streit zwischen der Bauverwaltung und der Zentralverwaltung Worlik im Jahre 1906. Ebd., kart. 995.

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berg (Primogenitur), die in Böhmen mit etwa 180.000 Hektar Gutsbesitz an der Spitze der Reichtumspyramide standen, im Jahre 1873 743 Beamte, 1471 Dienstleute und mehr als 17.000 Arbeiter.120 Damit die große Zahl von Bediensteten nicht aus den Augen verlor, wem sie letztlich unterstand, ließen manche adeligen Besitzer ihre Portraits in den Amtsstuben aufhängen.121 Ebenso wie unter den chief agents in England finden sich auch unter den Domänendirektoren in Böhmen führende Agrar- und Forstfachleute ihrer Zeit, wie der schon erwähnte Anton Emanuel Komers, aber auch Josef Šusta oder Vilém Soucha.122 Anders als in England wurden außerdem in der Habsburgermonarchie und speziell in Böhmen schon relativ früh große Anstrengungen unternommen, die Professionalisierung dieses Berufs durch ein spezielles Schulwesen voranzutreiben. Seine Anfänge reichen bis in das Jahr 1850 zurück, als auf Anregung der adelig dominierten Patriotisch-Ökonomischen Gesellschaft (PÖG) zwei Ackerbauschulen in TetschenLiebwerd und Rabín entstanden, die bald den Andrang an Interessenten nicht mehr bewältigen konnten.123 Bis zur Jahrhundertwende umfasste dieses Schulwesen das gesamte Spektrum von Ausbildungsstätten für das land- und forstwirtschaftliche Hilfspersonal bis hin zur Hochschule für Bodenkultur in Wien.124 Mit dieser frü120 Ohlas od Nežárky – Týdeník pro poučení a zábavu, pro zajimy obecné a společenské, 24.5.1873. Aufschluss über die Beschäftigten auf den böhmischen Gütern geben auch die verschiedenen Schematismen (für die Sekundogenitur der Fürsten Schwarzenberg z. B. vorhanden im SOA Třeboň) sowie allgemein Ignaz Tittel: Schematismus landtäflicher Güter, grösserer Rustikalwirtschaften, Beamten und Pächter, Prag 1910. 121 Siehe z. B. die entsprechende Anweisung der Grafen Waldstein. SOA Praha: RAV 3751, kart. 88. 122 Bohumil Jiroušek: Rybnikář Josef Šusta v Třeboni [Der Teichmeister Josef Šusta in Třeboň]; in: Jihočeský sborník historický 68/1999, S.  187–198. Antonín Nikendey: Schwarzenberský lesmistr Vilém Soucha [Der Schwarzenbergsche Forstmeister Vilém Soucha] (1824–1896); in: Výbĕr – Časopis pro historii a vlastivědu jižních Čech 33/1996, S. 61–65. 123 Stölzl, Ära, S. 42f. 124 Zu den Schulen für die auf unteren Ebenen in der Land- und Forstwirtschaft sowie deren Verwaltung Beschäftigten siehe Franz Günther: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft des österreichischen Großgrundbesitzers und Güterbeamten, Wien 1901, S. 46 und S. 62. In der Forstwirtschaft gab es zu diesem Zeitpunkt bereits Staatsprüfungen zum „Forstwirth“, ebd., S. 68. Eine ähnliche Professionalisierung wies auch die Teichwirtschaft auf, die besonders in Südböhmen einen bedeutenden Wirtschaftszweig darstellte. Jiroušek, Rybnikář, S.  198. Wie selbstverständlich das Durchlaufen einer solchen Ausbildung um die Jahrhundertwende geworden war, zeigen zum einen die Bewerbungen, z. B. bei der Leitung der Güterverwaltung Czernin (SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1425), zum anderen Absolventenlisten der Hochschule für Bodenkultur. Unter den Absolventen des Jahres 1910 fanden sich sowohl Landwirte und angestellte Schaffer als auch Gutsleiter, Domänendirektoren, Zuckerfabriksbesitzer oder, in der Person von

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hen Professionalisierung ging auch die Organisation der Betreffenden im Verein der Güterbeamten einher. Er bestand seit den 1880er Jahren, gab seine eigenen Mittheilungen heraus und hatte 1901 6.500 Mitglieder.125 Eine entsprechende Organisation wurde in England mit der Land Agents’ Society erst 1902 gegründet.126 Gemeinsam ist beiden Gruppen wiederum, dass die böhmischen Verwalter, ähnlich wie ihre englischen Kollegen auch, in vielfacher Weise in der Agrargesellschaft präsent waren. Fast alle waren Mitglieder im Böhmischen Forstverein, in der Zemská Jednota Rybářská pro Království České (Landesverein der Fischwirtschaft für das Königreich Böhmen) sowie in verschiedenen Agrarvereinen und deren jeweiligen lokalen oder regionalen Gliederungen.127 Neben den Mitgliedschaften in diesen Vereinen, in denen sich das professionelle Selbstverständnis der Betreffenden widerspiegelte, waren sie auch in den Organen der Selbstverwaltung tätig. So ließ sich Graf Czernin nach den Wahlen von 1864 in mehreren Gemeindeausschüssen durch seinen Verwalter Václav Bartůnek vertreten. Dieser wiederum unterstützte in den Reichsratswahlen 1871 die Kandidatur des Grafen. Im Jahre 1873 kandidierte der Czerninsche Oberförster Georg/Jiří Wachtel.128 Auch Christian Fürst Lobkowitz und Karl III. Fürst Schwarzenberg ließen sich in den Organen der Selbstverwaltung durch ihr leitendes Personal vertreten.129 Hinzu traten weitere Funktionen: So wurde etwa Vilém

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Julius Baumgartner, der Wirtschaftsrat und Zentraldirektorstellvertreter der Güter des Fürsten Kinsky; insgesamt 230 Absolventen, darunter als „private Teilnehmerin“ auch eine Frau. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 990. Ex negativo bestätigt sich hierin auch noch einmal die bereits geschilderte Rückständigkeit in der Auswahl des Verwaltungspersonals auf den Gütern der Fürsten Windisch-Graetz. Siehe dazu das Kapitel 2.1. Günther, Vergangenheit, S. 51 und S. 66. Richards, Land Agent, S. 444. Siehe z. B. zu den Mitgliedschaften des Czerninschen Oberförsters Wachtel SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1431. Im Jahre 1868 traten Ernst Franz Graf Waldstein und alle seine Beamten nach Auseinandersetzungen sowohl aus dem Böhmischen Forstverein als auch aus der PÖG aus. SOA Praha: RAV 3873, kart. 107. Mitglied im Forstverein war auch Vilém Soucha. Nikendey, Lesmistr, S. 64. Václav Šusta dagegen war Mitglied und 1911 stellvertretender Vorsitzender des böhmischen Vereins für die Fischwirtschaft in Budweis. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 989. Siehe zu den Vereinen grundsätzlich auch Kapitel 5.2. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 150. Zu Lobkowitz siehe Milan Hlavačka: Der 70. Geburtstag des Fürsten Georg Christian Lobkowicz oder Aufstieg und Fall des konservativen Großgrundbesitzes in Böhmen; in: Etudes danubiennes 19/2003, S. 87–94. Zu Schwarzenberg SOA Třeboň: Schwarzenberská ústřední kancelář Orlík nad Vltavou, kart. 279 (Vertretungen vor allem aus den 1860er Jahren). Siehe grundsätzlich zu diesem Kontext auch die Ausführungen im Kapitel 5.1.1.

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Soucha, Schwarzenbergscher Oberförster, 1878 Vorsitzender des Forstmännischen Schiedsgerichts in Bolechov.130 Man kann daher festhalten, dass zwischen böhmischen und englischen Verwaltern eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten bestanden, wozu auch gehörte, dass sie in den Agrargesellschaften präsent waren. Unterschiede gerade mit Blick auf diese Stellung gab es jedoch auch, und die Unterschiede lassen sich vor allem darauf zurückführen, dass auf böhmischen Gütern eine andere Konflikthaftigkeit bestand. Sie reichte traditionell in die Zeit vor 1848 zurück, als es Aufgabe des Verwaltungspersonals war, Zinsungen und Giebigkeiten bei den Untertanen einzutreiben.131 So notierte Ernst Czernin 1850 in seinem Tagebuch, er habe einen Drohbrief erhalten, der die Verwüstung seiner Meierhöfe für den Fall ankündigte, dass sein ehemaliger Oberamtmann sich nach seiner Pensionierung auf der Czerninschen Besitzung Schönhof niederlasse.132 Konflikte entstanden jedoch auch nach der Abschaffung der Feudallasten, hatte das Verwaltungspersonal doch vor allem die Anweisungen der adeligen Besitzer durchzuführen bzw. die Durchführung zu kontrollieren. Immer wieder kam es dabei zu Entlassungen, sei es, weil die Erträge der den Schaffern unterstellten Meierhöfe zu niedrig ausfielen133, sei es, dass Unregelmäßigkeiten in der Wirtschaftsführung auftraten134. Manchmal kam es auch zu Veruntreuungen größeren Ausmaßes, so im 130 Nikendey, Lesmistr, S. 64. 131 Zu diesem Konfliktverhältnis aus zeitgenössischer Perspektive Günther, Vergangenheit, S. 38 und S. 60f. Siehe auch Alois Brusatti: Die Stellung der herrschaftlichen Beamten in Österreich in der Zeit von 1780–1848; in: Betrachtungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Ausgewählte Schriften von Alois Brusatti, aus Anlaß seines 60. Geburtstags, hrsg. v. Herbert Matis, Berlin 1979, S. 78–89 und Arnošt Klíma: Ein Beitrag zur Agrarfrage in der Revolution von 1848 in Böhmen; in: Economy, Industry and Society in Bohemia in the 17th–19th Centuries, hrsg. v. dems., Prague 1991, S. 205–214, S. 207f. 132 Am Tag zuvor war die Aktenübergabe der Patrimonialverwaltung an die staatlichen Kommissare abgeschlossen worden. Eintrag vom 2.7.1850. SOA Třeboň, Zweigstelle JH. 133 ������������������������������������������������������������������������������������ Siehe dazu z. B. die Auseinandersetzung auf den Schwarzenbergschen Gütern 1865: Cirkular des Fürsten an die Herrschafts- und Gutsverwaltungen, 2.8.1865. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. Siehe auch zu ähnlichen Fällen auf den Waldsteinschen Gütern: SOA Praha: RAV 286 (Einträge vom 17.3.1854 und 26.4.1860). 134 Die Macht der Wirtschaftsdirektoren konnte dabei sehr weit gehen, wie ein Beispiel aus der Czerninschen Überlieferung zeigt: Der Direktor hatte den Rentamtsadjunkten Albin Faltus 1906 entlassen, nachdem es zu Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung der Czerninschen Brauerei gekommen war. Faltus versuchte sich in einem Schreiben an den Grafen gegen die Entlassung zu wehren, schließlich habe er Unregelmäßigkeiten angezeigt und somit den gräflichen Besitz „vertheidigt“. Dem Direktor warf Faltus Formfehler bei seiner Entlassung vor, denn weder habe es je zuvor Kritik an seiner Arbeit gegeben noch sei er für die Entlassung überhaupt zuständig, denn diese liege nicht in Neuhaus,

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Jahre 1867 auf dem Schwarzenbergschen Gut Orlík. Ausgangspunkt war der Umstand, dass ein Schaffer von einem Jahreseinkommen von 250 fl. „mehrere tausend Gulden“ hatte zurücklegen können, wovon er ein Haus in der nahegelegenen Bezirksstadt Písek erworben hatte. Zu einem echten Skandal wuchs sich das Vorkommnis aus, als nach der Bestrafung des Schaffers der Schlossschullehrer dem Fürsten mit der Bitte um Strafmilderung schrieb, denn der Verkauf von Naturaldeputaten135 (die dem Schaffer seine „Mehreinnahmen“ ermöglicht hatten) sei weit verbreitete Praxis, die auch von ihm selbst und dem Schlosskaplan so gehandhabt und von der örtlichen Wirtschaftsverwaltung geduldet werde. Eine weitere Untersuchung bestätigte die Ausführungen des Lehrers, so dass der Schwarzenbergsche Wirtschaftsinspektor voller Schrecken feststellen musste, „daß der Mangel [an] cordialer Gesinnung, daß Mißgunst und Selbstsucht neben patriarchalischer Gemüthlichkeit recht gut bestehen können, wenn die letztere das Mittel seyn soll, Willkür und althergebrachten Schlendrian ungestört auszuüben und auszunützen.“136 Erschüttert war der Wirtschaftsinspektor, dass auch die Spitzen der Verwaltung zumindest über die beschriebenen Praktiken hinweggesehen hatten: „Einem niederen Diener – der verkörperten Indolenz – gegenüber mag zwar ein nachsichtiges und mildes Beurtheilen seines Thuns und Lassens immerhin noch berechtigt seyn, ein Beamte[r] aber sollte in Wahrung seiner eigenen Würde [zur] Ein[sicht] in die Nothwendigkeit gelangen, die Überschreitung absolut lautender Vorschriften verantworten zu müssen.“137 Offenbar hatten viele der Beschuldigten versucht, sich entweder mit der Unkenntnis der geltenden Vorschriften herauszureden oder aber für den Verkauf der Naturaldeputate ihre Frauen verantwortlich zu machen. Dagegen wandte sich der Güterinspektor mit dem Hinweis, dass die betreffenden Vorschriften in den meisten der Orlíker Kanzleien auslägen und Grundlage des täglichen Dienstgeschäfts zu sein hätten. Gänzlich in Rage brachte ihn schließlich der Versuch, „Pflichtverletzungen sondern bei der Domänenadministration der Czerninschen Güter in Petersburg. Seit seiner Entlassung habe er bereits 15 Gesuche geschrieben, doch nur in einem Fall auch nur Antwort erhalten, diese in dem Sinne, dass die betreffende Stelle bereits besetzt sei. In seiner Verzweiflung klagte der ehemalige Adjunkt: „Weshalb greift er [der Direktor Behálek] meine Existenz auf eine derart ungerechte Weise an? Hat er mir denn meine Existenz geschenkt?“ Schreiben vom 23.12.1906. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1425. Siehe mit Blick auf die Waldsteinschen Besitzungen auch SOA Praha: RAV 3760, kart. 89 und RAV 3850, kart. 101. 135 Grundsätzlich zu den Naturaldeputaten als einem der typischen Konfliktfelder auf den böhmischen Gütern Kapitel 3.2.1. 136 ������������������������������������������������������������������������������������ Bericht der Güterinspektion Worlik über den Vortrag des Wirtschaftsinspektors in Anwesenheit des leitenden Worliker Verwaltungspersonals, 14.8.1867. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. 137 Ebd.

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auf die Schultern der Hausfrauen zu laden“. Denn: „Abgesehen von den Worten der Schrift, welche im Manne das Haupt, und in seinem Weibe die Gehilfin erkennt, ist es meiner Ansicht nach unzulässig, vielleicht sogar unmännlich, feige und rücksichtslos, der Frau eine Verantwortung in dienstlichen Angelegenheiten aufzuerlegen, welchen sie ganz ferne steht.“138 Auch in diesem Fall kam es – natürlich – zu Entlassungen.139 Bei der Betrachtung von Konflikten zwischen Verwaltern und Mitgliedern der Agrargesellschaft auf den böhmischen Gütern ist noch einmal daran zu erinnern, dass hier wesentlich mehr Menschen beschäftigt wurden als in England, also auch die Gruppe derer, die an Auseinandersetzungen beteiligt sein konnte, größer war. Wenn in England, cum grano salis gesprochen, Konflikte ein Ausmaß annahmen, da die Betreffenden entlassen wurden, dann zogen sie fort – als Pächter auf einen neuen Hof, als Mitglied einer labouring gang oder im schlimmsten Fall als vagrants. Diese Praxis der Konfliktlösung, verbunden mit dem Interpretament, die englische Agrargesellschaft sei durch adeligen Paternalismus geprägt gewesen, führte vielfach zu der Vorstellung einer englischen countryside, die weitgehend durch harmonische Sozialbeziehungen gekennzeichnet war.140 In Böhmen jedoch blieben auch diejenigen, die in Auseinandersetzungen verwickelt gewesen waren, häufig am Ort und damit Teil der lokalen Gesellschaft.141 Somit hatten in Böhmen alle beteiligten Parteien tradierte und reale Erfahrungen mit Konflikten. Dies hatte für die Verwalter böhmischer Güter die Konsequenz, dass ihre Stellung in der ländlichen Welt immer wieder in Frage gestellt wurde, wie es etwa das Beispiel eines Diebstahls von Flusssand zeigt. Anstifter zu diesem Diebstahl war ein Notar aus der nahegelegenen Bezirksstadt Písek, der sich dazu der Hilfe zunächst eines Schwarzenbergschen Pächters, dann zweier ortsansässiger Bauern bedient hatte. Das Ausheben des Sandes war noch dazu in Anwesenheit des örtlichen Bürgerwächters geschehen. Verwalter Schimmanek hatte den Sand, der auf fürstlichem Territorium „zwischengelagert“ worden war, gefunden und dem Bürgerwächter Vorhaltungen gemacht, den Abtransport durch die beiden Bauern in Anwesenheit des Notars jedoch nicht verhindern können. Letzterer hatte gar vor Zeugen erklärt, wie der Verwalter erbost der Wirtschaftsdirektion berichtete, „daß ihn ein Verbot unsererseits nur ein Lachen koste, daß ihm niemand verwehren kann, im Flusse Sand zu gewinnen und daß überhaupt sich ein Verwalter … mit ihm nicht messen könne.“142

138 Ebd. 139 Ebd. 140 �������������������������������������������������������������������������������������� Siehe zu den Konflikthaftigkeiten ausführlich das dritte Kapitel mit seinen Unterkapiteln. 141 Siehe zu England wie zu Böhmen die folgenden Teilkapitel. 142 Schimmanek/Verwalter an die Herrschaftsdirektion Worlik, 13.6.1887. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 969. Schimmanek verband seinen Bericht mit der Aufforderung, „das

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Ganz unzweifelhaft stellten Konflikte dieser Art in Böhmen die soziale Position zumal der mittleren Verwaltungsbeamten in der ländlichen Gesellschaft in Frage. Diese versuchten darauf einerseits mit Professionalisierung143, andererseits mit der Bewahrung eines engen Familienzusammenhangs durch die Rekrutierung von Mitarbeitern aus dem verwandtschaftlichen Umfeld144 zu reagieren, um ihre Position zu festigen. Beide Strategien bewirkten jedoch auch, dass sie sich häufig aus der Agrargesellschaft heraushoben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl in England als auch in Böhmen vor allem die Spitzen der Gutsverwaltungen intermediäre Positionen in einer Gesellschaft einnahmen, die nach wie vor stark agrarisch geprägt war. Diese Position verdankten sie ihrer Stellung als leitende Angestellte lokal bedeutender Arbeitgeber. Konflikte zwischen Besitzern und Verwaltern stellten die absolute Ausnahme dar. Es mochte fähigere und weniger fähige Verwalter geben, illoyale jedoch lassen sich in den adeligen Überlieferungen nicht finden. Ein gutes Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen war nicht nur unerlässlich, um die renditeorientierte Bewirtschaftung der Güter zu gewährleisten. Auch die Aufgabe, den Herrschaftsanspruch der adeligen Besitzer zu kommunizieren, setzte ein vertrauensvolles Verhältnis voraus. Dieser Herrschaftsanspruch musste in England in einer (Agrar-)Gesellschaft verhandelt werden, die Konflikte vielfach durch Migration löste, während in Böhmen die Konfliktparteien Teil der lokalen Gesellschaft blieben. Diese lokalen Gesellschaften wiederum Nöthige gegen das unstatthafte Beginnen des Notärs gütigst zu veranlassen und selben zum Ersatz für den Sand zu beordnen.“ Ebd. 143 ����������������������������������������������������������������������������������� So berichtete Günther etwa, dass das theoretische Wissen der Gutsbeamten bei Schaffern, Gesinde und Tagelöhnern Spott auslösen könne. Günther, Vergangenheit, S. 63. 144 So stammten etwa beide Elternteile des Forstmeisters Vilém Soucha aus Familien, die im Verwaltungsdienst der beiden Schwarzenbergschen Linien tätig waren. Nikendey, Lesmistr, S. 61f. Ähnliche Praktiken waren auch jenseits der Spitzenebene der Angestellten zu verzeichnen. So waren die (Ober-) Förster der Schwarzenbergschen Reviere Drhovle und Worlik in den 1850er und 1860er Jahren zwei Brüder; zumindest einer der Söhne des Drhovler Oberförsters folgte seinem Vater auf eine ähnliche Laufbahn. Siehe dazu das Konzept ohne Unterschrift eines leitenden Forstbeamten des Reviers Worlik vom 1.9.1910 (der dem Fürsten Reformvorschläge für die Reorganisation seiner Reviere unterbreitete und dabei auch auf die Leistungen seines Vaters und Onkels verwies). SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. Siehe grundsätzlich auch Záloha, Úřednictvo, S. 96. Von Josef Šusta als einem herausragenden Teichwirt seiner Zeit ist bereits die Rede gewesen (siehe Jiroušek, Rybnikář); sein Sohn Václav war im Jahre 1911 stellvertretender Vorsitzender der Zemská Jednota Rybářská pro Království České in Budweis. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 989. Den Grafen Czernin dienten Vater und Sohn Wachtel als Forstmeister (SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH kart. 1431) sowie Vater und beide Söhne der Familie Gebhart als Verwalter, Wirtschaftsadjunkt und Forstbeamter (Totenschein von Jindřich Gebhart, 18.9.1918. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1425).

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waren sowohl in Böhmen wie in England in sich differenziert; ihre wichtigsten Gruppen sollen daher in den beiden folgenden Teilkapiteln vorgestellt werden.

2.3 Bäuerliche Gruppen Nach dem Zensus von 1851 bewirtschafteten in England und Wales 249.431 Bauern und Viehzüchter 24,7 Millionen acres (etwa zehn Millionen Hektar). Ihnen gingen 111.604 helfende Familienangehörige zur Hand.145 Dreißig Jahre später war die Zahl der Farmer und Viehzüchter auf 223.943 gesunken, die Zahl der bewirtschafteten acres dagegen auf 27,4 Millionen gestiegen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 1911, wurden immer noch 27,2 Millionen acres von nunmehr 208.761 farmers und graziers bestellt.146 Schon diese Zahlen zeigen den Rückgang der in der Landwirtschaft Beschäftigten. Nimmt man noch die Gruppe der Landarbeiter und den hier zu verzeichnenden Rückgang hinzu und bedenkt auch die Tatsache, dass Frauen seit dem späten 19. Jahrhundert immer seltener in der Landwirtschaft arbeiteten147, so sank der Anteil der direkt im Agrarsektor Beschäftigten von 20 % im Jahre 1850 auf unter 10 % um 1900.148 145 Mingay, Rural Life, S. 50. Zahlen ausschließlich für England liegen nicht vor, da im 19. Jahrhundert Statistiken der genannten Art für England und Wales gemeinsam erhoben wurden. Arbeiten zur Geschichte von Bauern, mit der großen Ausnahme der englischen bzw. britischen Geschichte, thematisieren häufig deren Beziehungen zum grundbesitzenden Adel nur mit Blick auf das Mittelalter und die frühe Neuzeit. Bedenkt man jedoch die Bodenbesitzkonzentration in den Händen des Adels nicht nur in England und Böhmen, sondern auch z. B. in Frankreich, Spanien, Teilen Italiens, in Südwestdeutschland, den ostelbischen Gebieten, in Polen oder Ungarn, so ist diese Verkürzung der Schilderung bäuerlicher Sozialbeziehungen für das 19. und z. T. auch 20. Jahrhundert bedauerlich. Zum adeligen Bodenbesitz siehe etwa Wienfort, Adel, S. 25. Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bauern und zur sog. peasant society Robert Redfield: Peasant Society and Culture. An Anthropological Approach to Civilization, Chicago 1956, Christof Dipper: Bauern als Gegenstand der Sozialgeschichte; in: Sozialgeschichte in Deutschland, hrsg. v. Wolfgang Schieder und Volker Sellin, 4 Bde, Bd. 4, Göttingen 1987, S. 9–33, Werner Rösener: Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993 sowie Werner Troßbach und Clemens Zimmermann: Die Geschichte des Dorfes, Stuttgart 2006. Siehe auch das Themenheft Rural Societies 1850–1940, hrsg. v. Lutz Raphael als Band 2/2004 des Journal of Modern European History. 146 Gordon E. Mingay: The Farmer; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850– 1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/I, Cambridge 2000, S. 759–809, S. 759. 147 Ders.: A Social History of the English Countryside, London/New York 1990, S. 171. 148 Ders., Gentry, S. 78. Detailliertes Zahlenmaterial auch bei Bethanie Afton und Michael Turner: The Agrarian Population; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850–1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/II, Cambridge 2000, S. 1940–1954.

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Die Betonung liegt jedoch auf dem Wort „direkt“. Denn die zunehmende Mechanisierung und Chemisierung der Landwirtschaft zeigt sich auch darin, dass die Anzahl derer, die in agrarnahen Bereichen arbeiteten, wie Schmiede, Sattler, Wagenmacher und andere, zwischen 1841 und 1911 kontinuierlich stieg. Nach Thompson kamen 1841 in den englischen und südschottischen Grafschaften auf 100 Bauern und Landarbeiter 27 „supporting und servicing workers“. 1881 war das Verhältnis 100:47, 1911 schon 100:67149 – Ausdruck einer zunehmenden Verflechtung der Agrarregionen über Marktbeziehungen mit den stärker industrialisierten Gebieten des Landes. Zwar zeigen die aggregierten Daten allgemeine Trends, doch verbergen sie auch große regionale Unterschiede. Während der „typische“ farmer in Lincolnshire um die Mitte des 19. Jahrhunderts 120 acres (knapp 50 Hektar) schlecht drainierten Lehmbodens mit seinen nächsten Verwandten und drei oder vier Landarbeitern bewirtschaftete, was ihm ein einfaches, aber weitgehend auskömmliches Leben ermöglichte, schufteten in den Fens viele Familien auf den sogenannten smallholdings von nicht mehr als fünf acres und lebten davon mehr schlecht als recht.150 Bei allen, hier nur angedeuteten, Unterschieden lässt sich jedoch festhalten, dass der sogenannte tenant farmer, also der Pächter eines bäuerlichen Betriebs, weit verbreitet war. Zahlen aus den Jahren 1887 bis 1891 belegen, dass nur 14 % aller Bauern ihr Land selbst besaßen, vier Prozent sowohl gepachtete als auch eigene Böden bewirtschafteten und die große Mehrheit von 82  % aller Landwirte reine Pächter 149 F. M. L. Thompson: Rural Society and Agricultural Change in Nineteenth-Century Britain; in: Agrarian Organization in the Century of Industrialization: Europe, Russia, and North America, hrsg. v. George Grantham, Greenwich/London 1989, S. 187–202, S. 197f. Während die Produktivitätssteigerung der englischen Landwirtschaft im 19. Jahr­ hundert unbezweifelt ist, konstatiert Thompson auch: „One prime reason why farmers were able to become more and more productive appears to have been that they could draw on the labours of more and more workers behind the scenes who were not counted as part of the farm labour force any more.“ Ebd., S. 198. 150 Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 17. Ausführlich zu den verschiedenen Regionen B. A. Holderness und Gordon E. Mingay: The South and South-East; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850–1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/I, Cambridge 2000, S. 367–375, B. A. Holderness: East Anglia and the Fenlands; in: Ebd., S.  376–388, John R. Walton: The Midlands; in: Ebd., S.  389–401, Christine Hallas: The Northern Region; in: Ebd., S. 402–410, Sarah Wilmot: The South-West – Wiltshire, Dorset, Somerset, Devon and Cornwall; in: Ebd., S. 411–426. Doch ���������������� auch innerhalb dieser Regionen unterschieden sich die Bedingungen für die Landwirtschaft zum Teil deutlich. Siehe als Beispiele Ausführungen zur Grafschaft Staffordshire, die zu den Midlands gehört, und zum südwestlichen Lancashire. Zu Staffordshire: C. R. J. Currie: Agriculture 1793–1875; in: A History of the County of Stafford, hrsg. v. M. W. Greenslade und D. A. Johnson, Bd. 6, Oxford 1979, S. 91–121, S. 115ff. und ders.: Agriculture 1875–1975; in: Ebd., S. 122–148, S. 125f. und S. 137. Zu Lancashire Alistair Mutch: Rural Life in South West Lancashire, 1840–1914, Lancaster 1988.

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waren.151 Von ihnen wird im Folgenden vor allem die Rede sein, da sie über die Pachtverträge in einem direkten Verhältnis zu den adeligen landlords standen. Pachtverträge wurden seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zunehmend auf jährliche Laufzeiten umgestellt. Neben der Festlegung des Pachtzinses schrieben sie gewisse Mindeststandards der Bewirtschaftung der Äcker vor (etwa die Beachtung bestimmter Fruchtwechselfolgen) und banden das Unterpflügen von Weideflächen an die Zustimmung des adeligen Besitzers. Auch regelten sie Steuerfragen. In den meisten Fällen hatte der Pächter die örtlichen Steuern, die sogenannten rates, zu zahlen sowie das Betriebskapital aufzubringen. Für die schon angesprochenen improvements erhielt er dagegen meistens einen Zuschuss des landlords, während er selbst die Arbeitskraft zur Verfügung stellte. Die Verträge regelten daher auch, welche Kompensationszahlungen ein Pächter bei einem Wechsel von seinem Nachfolger zu erwarten hatte.152 Die englische Literatur betont jedoch zumeist, dass die Pachtbeziehungen bis weit in das 19. Jahrhundert hinein überaus stabil gewesen seien. Nicht selten sei ein Hof vom Vater über den Sohn auf den Enkel übergegangen, so dass sich „Pächter-Dynastien“ ausgebildet hätten. Neben der Möglichkeit der „Weitergabe“ eines Hofes innerhalb der Familie und relativ niedrigen Pachtzinsen charakterisierten nach Gordon E. Mingay gegenseitiger Respekt und Vertrauen das Verhältnis zwischen adeligem Besitzer und den Pächtern.153 Ferner habe es zum Selbstverständnis adeliger Gutsbesitzer gehört, eine Schutzfunktion für „ihre“ Pächter zu übernehmen, da dies wiederum entscheidend für das Ansehen der landlords in der lokalen Gesellschaft gewesen sei.154 Erst mit der Agrarkrise der 1870er Jahre habe sich das Verhältnis grundsätzlich gewandelt. Viele Pächter hätten aufgeben müssen und seien durch neue ersetzt worden, die keine Bindungen zur lokalen Gesellschaft hatten. Ihr Hauptinteresse habe auch nicht darin bestanden, diese aufzubauen, sondern vor allem darin, den Pachtzins möglichst zu drücken. Die alte, über Generationen gewachsene Verbundenheit 151 �������������������������������������������������������������������������������������� Mingay, Farmer, S. 761f. Hier auch zur regionalen Verteilung: In den Grafschaften Surrey und Berk­shire lag der Anteil der sog. owner-occupiers bei mehr als 30 %, während er in dem Gürtel, der sich von Northumberland und Durham im Nordosten südwärts durch Lancashire und Cheshire nach Wales erstreckte, bei unter zehn Prozent lag. Erstaunlicherweise beschreibt Hoppen eine regionale Verteilung der owner-occupiers, die jener von Mingay exakt widerspricht. Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 18. Dabei dürfte es sich jedoch um einen Fehler handeln. 152 Michael Turner, John V. Beckett und Bethanie Afton: Agricultural Rent in England 1690–1914, Cambridge 1997, S. 8–11 und S. 21f. und T. W. Beastall: Landlords and Tenants; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London 1981, S.  428–438, S. 431. Beide Publikationen verweisen jedoch auch in diesem Zusammenhang auf die regionalen Unterschiede. 153 Beastall, Landlords, S. 432, Mingay, Farmer, S. 771–775. 154 Mingay, Gentry, S. 190.

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sei unter diesen Bedingungen zusammengebrochen, zumal sich die adeligen Besitzer angesichts ihrer Einkommenseinbußen auch kostspielige Hilfen nur noch bedingt hätten leisten können.155 Es ist hier nicht der Ort, das Ausmaß der Agrarkrise zu diskutieren156, deren Bild jedoch, wie in Deutschland auch, lange durch die zeitgenössischen Klagen der direkt Betroffenen geprägt war. Eine stichprobenartige Untersuchung der Dauer von Pachtverhältnissen am Beispiel der Marquesses of Londonderry soll jedoch helfen, den Befund etwas zu nuancieren. Die Familie Vane-Tempest-Stewart besaß im Norden Englands, wo der Anteil selbständiger Bauern besonders niedrig war, große Ländereien. Im Jahr 1854 übernahm Frances Anne nach dem Tod ihres Mannes, des 3. Marquess of Londonderry, die Leitung der Ländereien, die sie bis zu ihrem eigenen Tod 1865 inne hatte. Aus diesen Jahren, die zur Periode des sogenannten mid-Victorian high-farming zählen, sind Pachtzeiten auf zwei Gütern überliefert. So gehörten zum Gut Long Newton 14 Höfe, von denen sechs zwischen 1854 und 1865 jeweils in der Hand des gleichen Pächters waren, bei den übrigen acht Betrieben kam es jedoch insgesamt zu zehn Wechseln, keiner davon war ein Übergang vom Vater auf den Sohn. Einen ähnlichen Befund kann man auch für das Gut Penshaw festhalten. Fünf von neun Höfen wurden zwischen 1854 und 1865 stets von den gleichen Pächterfamilien bewirtschaftet, auf den übrigen vier waren Wechsel zu verzeichnen, wiederum keine innerhalb einer Familie.157 Leider liegen solche Auswertungen nicht flächendeckend vor, zumal auch nicht immer entsprechendes Quellenmaterial überliefert ist. Die Stichprobe dürfte jedoch ein Indiz dafür sein, dass zwar die regelmäßige Erneuerung von Pachtverträgen im Interesse der Beteiligten war und somit relativ häufig vorkam,

155 Mingay, Rural Life, S. 65, ders., Farmer, S. 776ff., wo er darauf verweist, dass viele der neuen Pächter aus Schottland stammten. 156 So verweist Hoppen darauf, dass es auch in den Jahren der Agrarkrise noch Wachstum in der Landwirtschaft gegeben habe, dieses jedoch mit einem halben Prozent sehr niedrig ausfiel und angesichts der vorausgegangenen Jahre einer guten Agrarkonjunktur das Bild des Niedergangs der Landwirtschaft nicht in Frage zu stellen vermochte. Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 15. In die gleiche Richtung argumentiert auch Thompson, wenn er feststellt, dass die Preise für Düngemittel und Viehfutter noch stärker fielen als jene für Agrarprodukte, so dass das Nettoeinkommen der Farmer in absoluten Zahlen sich sogar aller Wahrscheinlichkeit nach leicht verbessert habe. Die eigentlich Leidtragenden der „Agrardepression“ seien die adeligen landlords gewesen. Thompson, Rural Society, S. 192f. 157 ���������������������������������������������������������������������������������� CROD: D/Lo/Interim List Acc. 1251 (D) Estate Ledger, Bd. 7. ���������������������� Solche Aufschlüsselungen würden auch helfen, das Ausmaß der durch die Agrarkrise verursachten Wechselhäufigkeit besser beurteilen zu können. In Staffordshire bewirtschafteten immerhin fast 20 % der Pächter die Höfe, die sie zwischen 1861 und 1880 übernommen hatten, auch noch nach 1886. Currie, Agriculture 1875–1975, S. 141.

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landlord-tenant-Beziehungen über mehrere Generationen jedoch eher nicht die Regel waren. Die langjährigen Pachtbeziehungen führten dazu, dass die adeligen Landbesitzer ihre Pächter häufig persönlich kannten und Entscheidungen daher häufig ad personam trafen. So notierte der Earl of Shrewsbury nur in Ausnahmefällen, dass er einen bestimmten Pächter nicht kenne oder eine Farm noch nicht besucht habe. Üblicherweise schickte er dann seinen Verwalter, der sich einen Eindruck aus erster Hand verschaffen sollte, damit auch in diesen Fällen individuell entschieden werden konnte.158 Das Interesse an direktem Kontakt zu den Pächtern spricht aus hochadeligen Tagebuchaufzeichnungen. So notierte der Earl of Derby nach einem Gang über seine Güter: „Meet [sic!] the tenant of Underriver Farm, an intelligent conversible sort of man, & some talk with him about the neighbours, crops &c.“159 Der 8. Duke of Argyll wiederum hielt, als er nach dem Tod seines Vaters die Güter übernahm, fest: „Lost no time in establishing personal intercourse with numerous tenantry.“160 Direkte Beziehungen sollten auch die jährlichen rent dinners herstellen sowie die Veranstaltungen der regionalen Agrargesellschaften mit ihren Landwirtschaftsschauen und die lokalen Märkte, die nicht selten von Mitgliedern der ortsansässigen Adelsfamilie eröffnet wurden.161 Vor zwei Missverständnissen muss in diesem Zusammenhang jedoch gewarnt werden. Zum einen bedeuteten „direkte“ Beziehungen keinesfalls, dass es sich dabei um Kontakte zwischen sozial Gleichen gehandelt hätte. Dies war auch mit Blick auf die reichsten Pächter und die aristokratischen Landbesitzer nie der Fall. Der landlord stand mit seiner Familie hoch an der Spitze der sozialen Hierarchie der Agrargesellschaft, die Pächter nahmen darin ihre Position je nach dem eigenen sozialen Status ein, der nicht zuletzt durch ihren Wohlstand sowie ihren Einfluss in Gemeinde und Lokalverwaltung bestimmt war. Das Kennen, von dem hier die Rede ist, basierte auf der zumindest temporären Anwesenheit der adeligen Gutsbesitzer auf ihren Ländereien, wie es die oben genannten Beispiele illustriert haben und wie es im Kontext der böhmischen und englischen Gutsverwaltungen bereits beschrieben worden ist. Denn: Um Herrschaft im Sinne einer sozialen Praxis aufrechtzuerhalten, mussten die Mitglieder der adeligen Besitzerfamilien in der Agrargesellschaft präsent sein. In diesem Sinne ist hier von direkten Beziehungen zwischen Menschen die Rede, die ganz unterschiedliche Positionen in der sozialen Hierarchie der ländlichen Gesellschaft einnahmen.

158 CROSt: D 240/E/C/4/2 und D 240/E/C/4/3. 159 Eintrag vom 27.4.1878. Vincent, Diaries, S. 9. 160 Zitiert nach David Roberts: Paternalism in Early Victorian England, London 1979, S. 133. 161 Siehe dazu Kapitel 4.3.2 und 5.2.

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Zum anderen: Auch wenn die englische Literatur vielfach auf die von gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragenen Beziehungen verweist sowie von der „traditionellen Ehrerbietung gegenüber dem landlord“162 spricht, darf dies nicht zu der Annahme verleiten, durch diese Praktiken seien Konflikte zwischen den Pächtern und den adeligen Besitzern weitgehend oder gar vollständig verhindert worden163. Konflikte konnten entstehen, wenn Besitzer Verwalter anstellten, deren primäres Interesse darin bestand, einen möglichst hohen Pachtzins zu erwirtschaften164 oder farmer fürchten mussten, von ihren Nachfolgern keine ausreichende Kompensation für ihre Investitionen zu erhalten. Erstmals wurden diese Fragen 1875 mit dem Agricultural Holdings Act gesetzlich geregelt. Angesichts der weitverbreiteten Ablehnung jeglicher Eingriffe in die als privat angesehene Vertragsgestaltung seitens der Landbesitzer war das Gesetz jedoch für die Besitzer nicht bindend, sondern schrieb vor allem Empfehlungen fest. Erst der Agricultural Holdings Act von 1883 schuf eine verbindliche gesetzliche Grundlage, auf der Pächter Kompensationen einklagen konnten.165 Tatsächlich sind Streitfälle jedoch häufig nicht von den Gerichten gelöst worden166, sondern vor wie nach 1875 bzw. 1883 durch den Wegzug der betreffenden Pächter167. 162 Z. B. Mingay, Rural Life, S. 47, siehe auch Beastall, Landlords, S. 430. 163 Detailliert dazu Kapitel 3.1, mit den drei Unterkapiteln. 164 Richards überliefert solche Fälle z. B. aus Northamptonshire. Richards, Land Agent, S. 443. 165 Mingay, Farmer, S. 797ff. 166 Siehe zur Gerichtsnutzung, die im 18. und 19. Jahrhundert signifikant niedriger war als vor 1700, Christopher W. Brooks: Litigation and Society in England, 1200–1996; in: Lawyers, Litigation and English Society Since 1450, hrsg. v. dems., London 1998, S. 63– 128. Doch auch die landlords vermieden offenbar nach Möglichkeit den Gang vor das Gericht, anders als dies noch für Böhmen zu zeigen sein wird, wenn es sich um Auseinandersetzungen mit Pächtern handelte. In den estate diaries finden sich dann Anweisungen an die Verwalter wie „Let him go“ oder „Deal with him as best as you can“. Betonen muss man jedoch auch, dass Klagen über Pächter, die z. B. als „Kompensationsersatz“ alles mitnahmen, was nicht niet- und nagelfest war, eine Ausnahme darstellen. CROSt: D 240/E/C/4/3 (diverse Einträge für die zweite Jahreshälfte 1874) und D 240/E/C/4/2 (z. B. Eintrag vom 29.3.1873). 167 ������������������������������������������������������������������������������������ Aus dem Jahr 1860 hat sich z. B. in der Shrewsbury-Überlieferung ein längerer Briefwechsel zwischen dem Pächter James Myolt und dem Verwalter Samuel Ginders erhalten, in dem Myolt über das Ausmaß der in Aussicht gestellten Kompensation klagte, Ginders ihn aber zurechtwies (und letztlich noch in der Beendigung eines Pachtverhältnisses die traditionelle Ehrerbietung einforderte), seine „remarks“ seien „much stronger than the case requires“, schließlich habe Lord Shrewsbury nicht den Wunsch gehabt „to part with you as a tenant“, sondern: „You leave the premise entirely to suit your convenience after having occupied it (upon your own admission) at a reasonable rent for a considerable time.“ (Schreiben vom 24.2.1860). Der gesamte Briefwechsel zieht sich von Februar bis Juli 1860 und endet mit dem Wegzug des Pächters. CROSt: D 240/E/F/8.

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Hier wie in vielen anderen Auseinandersetzungen, von denen im folgenden dritten Hauptkapitel noch die Rede sein wird, zeigt sich die überaus starke Position der adeligen Besitzer in den Aushandlungsprozessen. Dazu gehörte etwa, dass viele landlords den Alkoholkonsum unter ihren Pächtern und Landarbeitern zurückdrängen wollten. Auch die adelige Jagd und die Frage der Kompensation bei Wildschäden, sei es durch die Tiere, die die Saat auffraßen, sei es durch das Niederreiten des Getreides durch Jagdgesellschaften, gehört in diesen Kontext. Ferner erwarteten adelige Landbesitzer zumeist von ihren Pächtern, dass sie bei Wahlen entsprechend den politischen Präferenzen des landlords stimmten. Manche Autoren gehen in diesem Zusammenhang so weit, auch hierin lediglich ein Zeichen des gegenseitigen Vertrauens zu sehen: „Loyalty, cus­tom and a genuine wish for guidance at election times caused tenants to welcome advice on how to vote.“168 Auch in Böhmen ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der direkt in der Landwirtschaft Beschäftigten merklich zurückging. Zählten zur Landbevölkerung um die Mitte des Jahrhunderts noch 64,4 % der Einwohner und Einwohnerinnen dieses Kronlandes, so belief sich ihr Anteil im Jahre 1910 nur noch auf 33,8 %.169 Gleichzeitig hatte auch die böhmische Landwirtschaft beträchtliche Produktionsgewinne vorzuweisen. Mit 26,4  % des Territoriums und 35,5 % der Bevölkerung Cisleithaniens wurden 39 % der Kartoffelernte, 52,6 % der Getreideernte, 77,8 % der Hopfenernte und sogar 93,2 % der Zuckerrübenernte eingefahren. Außerdem wurde 46,6 % der Grundsteuer der westlichen Monarchiehälfte in Böhmen aufgebracht, worin sich die hohe Besteuerung des Bodens widerspiegelte.170 Doch wie so häufig verdecken allgemeine Trends auch in diesem Fall regionale Unterschiede. So sah die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine vertiefte Ausprägung der historischen Nord-Süd-Polarität zwischen den Rüben- und Getreidegebieten einerseits und jenen Regionen andererseits, die sich auf den Anbau von Kartoffeln und Futterpflanzen spezialisierten.171 Neben den regionalen Unterschieden ist zu bedenken, dass die böhmische Agrargesellschaft auch in sozialer Hinsicht vielfach in sich differenziert war; stärker noch, als dies die vorangegangenen Schilderungen mit Blick auf die englische dargelegt haben. Zum Erbe des Dreißigjährigen Krieges gehörte es, dass die böhmischen Länder innerhalb der Monarchie den geringsten Anteil selbständiger Produzenten und den größten Anteil von Landarbeitern an den in der Landwirtschaft Beschäftigten aufwiesen. Noch in den 1850er Jahren gab es im Bezirk Příbram 726 sogenannte ganze 168 Beastall, Landlords, S. 436. 169 ����������������������������������������������������������������������������������������� Jeleček, Landwirtschaft, S. 47. Leider fehlen für Böhmen Zahlen, wie wir sie dank der Arbeiten von Thompson für England haben, die den Zuwachs an agrarnahen Beschäftigten erfassen. 170 Jeleček, Landwirtschaft, S. 51f. 171 Heumos, Interessen, S. 24–28.

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Bauern (d. h. Bauern, deren Grundsteuer 14 fl. 30 kr. überstieg), 254 halbe Bauern (mit einer Steuerleistung zwischen 9 fl. 3kr. und 14 fl. 30 kr.) sowie schließlich 3.118 Häusler (deren Grundsteuerleistung 9 fl. 3kr. nicht erreichte). Im Bezirk Falkenau standen 949 Bauern 3.096 Häuslern gegenüber, im Bezirk Neudeck nur 262 Bauern immerhin 1.548 Häuslern.172 Im Jahre 1869 belief sich das Verhältnis von selbständigen Produzenten zu Landarbeiter auf 19 zu 81 %.173 Zwischen den Bauern und den Häuslern bzw. der Dorfarmut bestanden gerade seit der Grundentlastung und der folgenden Gemeindegesetzgebung nicht selten scharfe Spannungen, versuchte doch die häufig bäuerlich dominierte Selbstverwaltung die Zahl der Armen in den Ortschaften niedrig zu halten und ehemaligen dörflichen Allgemeinbesitz unter die eigene Kontrolle zu bringen.174 Vor allem die besitzenden Großbauern175 waren die Gewinner der Grundentlastung. Sie konnten die Ablösezahlungen relativ problemlos leisten und nutzten die gewonnene Arbeitszeit nicht selten zur Vergrößerung der Anbauflächen, häufig durch Pacht. Wesentlich schlechter war es um die kleinen und mittleren Bauern bestellt. Sie gerieten oftmals in eine Verschuldungskrise hinein, an deren Ende die Versteigerung ihres Besitzes stand.176 Ein Zwischenergebnis dieser Entwicklung, die bis zum Ende des Jahrhunderts anhielt, spiegelt sich im schon genannten Zahlenverhältnis zwischen Landbesitzenden und Landarbeitern innerhalb der böhmischen Agrargesellschaft wider. Eine weitere, hiermit zusammenhängende Folge war jedoch auch eine drastische Erhöhung der Klein- und Kleinstlandwirtschaften von unter fünf bzw. von unter zwei Hektar.177 172 Stölzl, Ära, S. 31. 173 Jeleček, Landwirtschaft, S. 43. 174 Stölzl, Ära, S. 31–34. 175 ���������������������������������������������������������������������������������� Zu den Besitzklassen siehe Heumos, Interessen, S.  17. Danach ergeben sich die folgenden Unterteilungen: Sog. Parzellenwirtschaften hatten nicht mehr als zwei Hektar, kleine Bauernwirtschaften zwei bis fünf Hektar, die mittleren fünf bis 20 Hektar. Als große Bauernwirtschaften galten solche, die 20 bis 100 Hektar umfassten, während in die Gruppe des Großgrundbesitzes Betriebe mit über 100 Hektar gezählt wurden. 176 Jaroslav Purš: Die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft der böhmischen Länder in der Zeit von 1849 bis 1879; in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1963, S.  31–96, S.79f. und S.  90. Verschuldung war jedoch nicht ausschließlich ein „neues“ Phänomen, sondern auch die untertänige Landwirtschaft kannte es bereits. Siehe dazu die Fallstudie von Josef Křivka zum Raudnitzer Gutsbesitz der Herren Lobkowitz. Auf den fünf Gütern, die zur Raudnitzer Herrschaft gehörten, waren 10 % der untertänigen Landwirte verschuldet, wobei die jeweilige Verschuldung unterschiedlich ausgeprägt war. Josef Křivka: Zadlužení poddanského zemědělství na roudnickém panství v 18. století [Die Verschuldung der untertänigen Landwirtschaft auf der Raudnitzer Herrschaft im 18. Jahrhundert], Praha 1986, S. 81. 177 Jeleček, Landwirtschaft, S. 47.

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Die geschilderten Verschiebungen schlugen sich auch in der sogenannten Revision des Katasters von 1897 nieder: Auf 43 % aller Besitzungen wurde nicht mehr als ein halbes Hektar Nutzfläche bewirtschaftet, was weniger als ein Prozent am Anteil der Gesamtnutzfläche Böhmens ausmachte. Weitere 38 % der Wirtschaftseinheiten umfassten zwischen einem halben und fünf Hektar, was 12,5 % der Gesamtnutzfläche entsprach. Mehr als ein Drittel des Acker- und Waldbodens, nämlich 37,64 %, entfiel dagegen auf nur 0,18 % Großgrundbesitzer. Allein 151 fast ausschließlich adelige Latifundienbesitzer, die je mehr als 2.000 Hektar ihr Eigen nannten, besaßen mehr als ein Viertel der land- und forstwirtschaftlichen Nutzfläche.178 Diese Zahlen zeigen zunächst, dass die böhmische Agrargesellschaft ökonomisch und sozial stärker in sich differenziert war als die englische, wobei gleichwohl die Zahl der selbständigen bäuerlichen Produzenten in beiden Großregionen ähnlich niedrig war. Außerdem belegen sie, dass besonders mittlere Bauern unter den Folgen der Grundentlastung und dem (krisenhaften) Einbruch der Agrarkonjunktur in den 1870er Jahren zu leiden hatten. Schließlich unterstreichen sie noch einmal die herausragende Stellung des grundbesitzenden Adels, auch dies eine Gemeinsamkeit von England und Böhmen. Fragt man angesichts dieser Differenzierungen nach dem Verhältnis des böhmischen Adels zu „den“ Bauern, so kann man zunächst festhalten, dass gerade die Beziehungen zu den Mittelbauern vor allem als Konkurrenzverhältnis zu beschreiben sind, in dem die bäuerlichen Produzenten häufig dem Großgrundbesitzer unterlagen, weil sie als verschuldete Familienbetriebe nicht so günstig wirtschaften konnten wie die technisierten adeligen Güter. Anders als bei den Mittelbauern bestanden zwischen dem Adel und den Großbauern einerseits sowie zwischen Adel und den Klein- bzw. Kleinstbauern andererseits vielfach direkte Beziehungen, und dies, ähnlich wie in England, über die Pacht. Insgesamt waren in Böhmen 20 % des landwirtschaftlich genutzten Bodens verpachtet. Da trotz Industrialisierung sowie Ab- und Auswanderung der ländlichen Bevölkerung Bodenmangel bestand, kam der Pacht eine große Bedeutung zu.179 Auf die Möglichkeit, Parzellen zu pachten, um sie bewirtschaften zu können, waren vor allem die Klein- und Kleinstbetriebe der Häusler dringend angewiesen. Die Beziehungen zu den adeligen (aber auch bürgerlichen) Besitzern gestalteten sich dabei vielfach konfliktreich. Dies war immer dann der Fall, wenn die Besitzer Pachtverträge kündigten oder nicht erneuerten, um den Boden selbst zu bewirtschaften, was eine höhere Rendite versprach.180 Konfliktmuster wie dieses bestanden in England 178 Ebd., S. 46f. 179 Ebd., S. 55. 180 Die Fürsten Schwarzenberg ließen, motiviert durch das englische Beispiel, für ihre Güter in einer Studie die Renditechancen von Verpachtungen im Vergleich zur Eigenwirtschaft untersuchen. Der Autor der Untersuchung sprach sich jedoch grundsätzlich für die Ei-

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nicht, da die ganz überwiegende Mehrzahl der Besitzer die Selbstbewirtschaftung, also das Halten von Höfen „in hand“, ablehnte und nur in dem seltenen Fall darauf zurückgriff, wenn sich kein geeigneter Pächter finden ließ. In Böhmen dagegen konnten die Auseinandersetzungen so massiv werden, dass zum Beispiel 1872 in die Gemeinde Josefov gar eine Militäreinheit aus Časlav gerufen wurde, um gegen protestierende Häusler vorzugehen und den angestellten Pflügern des Grafen Thun ihre Arbeit zu ermöglichen.181 Weniger konfliktträchtig gestalteten sich dagegen die Pachtbeziehungen zwischen den Großbauern und dem Adel. Leider liegen hier keine genauen Zahlen vor, doch verweist die Literatur darauf, dass gerade die Großbauern vielfach Pächter des Großgrundbesitzes waren.182 Beide Gruppen waren auch in der Patriotisch-Ökonomischen Gesellschaft und im Landeskulturrat organisiert.183 Dass sich die Interessen nicht selten deckten, bekundeten auch schon die Zeitgenossen, so zum Beispiel der Großbauern Prokůpek aus dem ostböhmischen Kutlíř: „Jeder einsichtige Mensch wird zugeben müssen, dass sich Bauern und Großgrundbesitzer weder auf volkswirtschaftlichem Gebiet noch im Hinblick auf soziale Verhältnisse und Interessen unterscheiden. Die Feinde des Großgrundbesitzes sind auch die Feinde des Bauern und umgekehrt.“184 Noch eine weitere Gruppe der bäuerlichen Bevölkerung stand neben den Pächtern in direkten Beziehungen zu den adeligen Besitzern, die Schaffer. Sie hatten auf genwirtschaft aus, nicht zuletzt weil es seiner Auffassung zufolge nicht genügend „tüchtige und intelligente Pächter“ gebe. Krafft, Großgrundbesitz, S. 3. Lieven macht in seiner vergleichenden Untersuchung von Adelsgesellschaften im Übrigen gerade die Landpacht für das schlechte Abschneiden der englischen Landwirtschaft im internationalen Vergleich verantwortlich. Lieven, Abschied, S. 136. 181 Purš, Kapitalismus, S. 47 und S. 81. 182 �������������������������������������������������������������������������������� Jan Havránek: Die ökonomische und politische Lage der Bauernschaft in den böhmischen Ländern in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts; in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966, S. 96–132, S. 115 und S. 120 sowie Heumos, Interessen, S. 18. Schematismen wie diejenigen von Procházka oder Tittel verzeichnen im Durchgang der adeligen Güter auch die Meierhofpächter namentlich. Aus diesen Aufzeichnungen geht hervor, dass auf der Mehrzahl der böhmischen adeligen Besitzungen nur einzelne Meierhöfe verpachtet waren. Johann F. Procházka: Topographisch-Statistischer Schematismus des Grossgrundbesitzes im Königreiche Böhmen, Prag 1891². Ignaz Tittel: Schematismus landtäflicher Güter, grös­serer Rustikalwirtschaften, Beamten und Pächter, Prag 1910. 183 Heumos, Interessen, S. 18. 184 Was die sozialen Verhältnisse betraf, so werden ihm die adeligen Leser seines Beitrages im Českoslovanský list hospodářský vom 1.8.1878 sicher nicht gefolgt sein; diese Aussage darf man eher als Beispiel (groß-)bäuerlichen Selbstbewusstseins lesen. Ungeachtet dieser Einschränkung verweist das Zitat gleichwohl darauf, dass die Schnittmenge gemeinsamer Interessen ganz offenbar größer war als die möglichen Konfliktfelder.

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den Meierhöfen die Oberaufsicht über Haus, Hof und Stall, waren ferner auf den Feldern, Wiesen oder in den Hopfengärten beschäftigt und führten auch die sogenannten Arbeitsregister (in die u. a. die Arbeitsstunden des Gesindes eingetragen wurden). Auf den größeren Meierhöfen gingen ihnen dabei Jungschaffer zur Hand. Je nachdem, was auf dem Hof produziert wurde, waren dort auch Oberdrescher, Schafmeister, Baumgärtner oder Gartengehilfen angestellt sowie Mägde und Knechte.185 Eingestellt wurden vom Schaffer bis zum Schäfer alle mit der Bestätigung des Großgrundbesitzers, was kein reiner Formalakt war, da ihm in vielen Fällen auch die Bewerbungen zuvor vorgelegen hatten.186 Schwieriger ist es jedoch zu klären, wie viele Schaffer auf den böhmischen Besitzungen arbeiteten. Dies liegt zum einen daran, dass sie nur in Ausnahmefällen in den Schematismen verzeichnet sind. Eine solche Ausnahme stellt der Eintrag über die Schwarzenbergsche Fideikommissherrschaft Třeboň dar. Hier waren 1910 vierzehn Schaffer beschäftigt, ferner neun Jungschaffer, je sechs Schäfer und Oberknechte, drei Oberdrescher sowie je ein Wiesenheger, Flurenwächter und Gartengehilfe – insgesamt 41 Personen.187 Zum anderen ist die Zahl auch deshalb schwer zu bestimmen, weil Schaffer ganz unterschiedliche „Zugangsvoraussetzungen“ für ihre Tätigkeit hatten. Während sie auf den Schwarzenbergschen Gütern um die Jahrhundertwende häufig eine Ackerbauschule absolviert hatten188, zeigt die Überlieferung der Grafen Czernin, dass ihre Schaffer zuvor sowohl Wirtschaftsinspektoren als auch Hofknechte gewesen waren189. Entlohnt wurden sie auf der Mehrzahl der Güter sowohl mit einem Festgehalt als auch mit einem Deputat an Naturalien. Dazu gehörten Zuteilungen an Getreide, Kartoffeln, Milch und Holz, ferner eine Wohnung sowie eine zumindest bescheidene Altersvorsorge durch die Möglichkeit, in einen Pensionsfonds einzuzahlen. Hinzu trat auf manchen Gütern eine Gewinnbeteiligung am Erlös der Erträge des jeweiligen Meierhofes.190

185 Krafft, Großgrundbesitz, S. 114. 186 Ebd., S. 122. 187 ����������������������������������������������������������������������������������������� Tittel, Schematismus, S. 343. Der Zahl der tatsächlich in der Landwirtschaft dieser Herrschaft Arbeitenden lag jedoch höher, denn in dieser Aufstellung fehlen die Gruppen des Gesindes und der Tagelöhner. 188 Krafft, Großgrundbesitz, S. 122. 189 ���������������������������������������������������������������������������������� Anweisung an die Direktion der Herrschaft Chudenitz, 6.10.1897. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: II Vs JH 14, Spisy, kart. 6. 190 Ebd. und Anweisung des Grafen Czernin an die Direktion der Herrschaft Jindřichův Hradec, 21.4.1910. Ebd. Zu den Altersversorgungsleistungen und den sog. Tantiemen als Gewinnbeteiligung auf den Schwarzenbergschen Gütern siehe Krafft, Großgrundbesitz, S. 123. Diese wurden nach genau gestaffelten Sätzen im Übrigen auch an das Gesinde gezahlt.

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Von den Naturaldeputaten, die auf fast allen böhmischen Gütern bis zum Ersten Weltkrieg gezahlt wurden, auch wenn dies den Wirtschaftsverwaltungen häufig erhebliche Probleme bereitete, wird später noch ausführlicher die Rede sein. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass Schaffer zum Beispiel Milch und Sahne direkt an die Berechtigten ausgaben, was vielfältiges Konfliktpotential barg, wenn etwa die Schaffer Ansprüche auf Abgabe in Frage stellten oder wenn sie die Kontrolle dieser Ansprüche nachlässig handhabten bzw. sich gar selbst bereicherten. Veruntreuungen etwa waren ohne Beteiligung der Schaffer kaum möglich; auch dagegen sollte die Gewinnbeteiligung wirken.191 Von der Konflikthaftigkeit in der böhmischen Agrargesellschaft ist bereits die Rede gewesen – die Schaffer gehörten zu jenen Gruppen, die häufig in solche Konflikte verstrickt waren. Wollten adelige Gutsbesitzer ihre Herrschaft aufrechterhalten, so hatten sie diese in England und Böhmen mit den Mitgliedern einer Agrargesellschaft auszuhandeln, die in sich vielfältig differenziert war. Direkte Beziehungen bestanden dabei nicht nur zu den Verwaltern, sondern in beiden Großregionen auch zwischen dem grundbesitzenden Hochadel und den Angehörigen bäuerlicher Gruppen. Auffällig ist, dass vor allem die Nationalhistoriographien diesem Verhältnis häufig einen besonderen Charakter zuschreiben bzw. zugeschrieben haben. Mit Blick auf England tendieren allerdings manche Darstellungen dazu, es zu idealisieren: „For their part the tenants understood that they were perfectly secure so long as they farmed reasonably, paid their rents, showed the respect to the landlord and his familiy that was customarily expected, and turned out to vote when required.“192 Beschreibungen wie diese193 sind jedoch weniger als Rekonstruktion einer historischen Realität zu verstehen, sondern eher als Konstruktion von Identität: Als angeblich organische Einheit wird hier die

191 So hatte sich etwa der Orlíker Schaffer Josef Schneider an die Güter-Inspektion in Prag gewandt, weil es bei der Abgabe von Sahne an die Gutsbeamten in Orlík wiederholt zu Problemen gekommen war. Die Güterinspektion hatte ihrerseits das Anliegen des Schaffers gegenüber der Orlíker Herrschaftsdirektion als „billig und recht“ bezeichnet und um Abhilfe nachgesucht. Siehe das betreffende Schreiben vom 10.12.1856. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. Typischer waren jedoch jene Fälle, in denen der Arbeitgeber Maßnahmen gegen erhöhten Milchbezug ergreifen musste. Siehe z. B. den Wirtschaftsbericht für die Herrschaft Orlík vom 20.10.1867. Ebd. Schaffer waren nicht nur immer wieder an solchen „Unregelmäßigkeiten“ beteiligt, sondern in manchen Fällen auch an echten Veruntreuungsskandalen, wie das schon geschilderte Beispiel aus dem gleichen Jahr zeigt, als sich ein Schaffer an dem Verkauf von Deputaten in einer Weise bereichert hatte, dass er sich ein Haus in der Bezirksstadt Písek hatte leisten können. Bericht der Güterinspektion Worlik über den Vortrag des Wirtschaftsinspektors in Anwesenheit des leitenden Worliker Verwaltungspersonals, 14.8.1867. Ebd. 192 Mingay, Gentry, S. 190f. Siehe in diesem Sinne auch Beastall, Landlords, S. 429f. 193 Siehe dazu die schon zuvor im Verlauf des Kapitels angeführten Zitate.

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grüne englische countryside194 zum romantischen Gegenmodell der grauen Industrieregionen mit ihren Klassenkonflikten verklärt. Ist vermeintliche Konfliktfreiheit das zugrundeliegende Motiv dieser identitätsstiftenden Narration, so tendierte zumal die ältere tschechische Nationalhistoriographie dazu, den böhmischen Adel in verschiedener Hinsicht zum Gegner zu stilisieren und seine Rolle in der tschechischen Gesellschaftsgeschichte tunlichst zu minimieren. Eingangs war bereits dargelegt worden, dass der böhmische Adel in der Sicht der bürgerlichen Nationalbewegung in sozialer, nationaler und konfessioneller Hinsicht als der „Andere“ konstruiert worden ist, von dem man sich abgrenzte. Hinzu kam noch ein zweiter Aspekt: Führend in der Tschechoslowakei war die Partei der Agrarier, die in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts zu einer bedeutenden Kraft in den böhmischen Ländern geworden war. Auch ihre Identitätskonstruktion war antiadelig, sah sie doch im Bauern, der seine Scholle pflügt, das Urbild des friedliebenden, demokratischen Slawen (und Tschechen). Die Bodenreform der Tschechoslowakei, 1919 verkündet, sollte daher den Adel als Träger des alten, „feudalen“ Regimes entmachten und die neue Trägerschicht des Staates, vor allem im tschechischen Landesteil, stärken sowie zu einer grundlegenden sozialen und nationalen Umgestaltung der böhmischen Länder beitragen.195 Diese doppelte, gegen den Adel gerichtete, sowohl bürgerliche als auch bäuerliche Identitätskonstruktion lässt in der Stärke der Abgrenzung noch einmal die bedeutende ökonomische, soziale und politische Position der adeligen Latifundienbesitzer aufscheinen. 194 ����������������������������������������������������������������������������������� Zur Bedeutung von Vorstellungen des ländlichen England für das nationale Selbstverständnis siehe Paul Ward: Britishness since 1870, London/New York 2004, S. 54–66. 195 Zu den Agrariern siehe Hans Lemberg: Die agrarischen Parteien in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakischen Republik; in: Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Heinz Gollwitzer, Stuttgart 1977, S. 323–358, Peter Heumos: Die Entwicklung organisierter agrarischer Interessen in den böhmischen Ländern und in der ČSR. Zur Entstehung und Machtstellung der Agrarpartei 1873–1938; in: Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat, hrsg. v. Karl Bosl, Wien 1979, S. 323–376 sowie Jaroslav Rokoský: Agrární strana [Die Agrarpartei]; in: Politické strany. Vývoj politických stran a hnutí v českých zemích a Československu 1861–2004 [Politische Parteien. Die Entwicklung der politischen Parteien und Bewegungen in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakei 1861–2004], hrsg. v. Jiří Malíř, Pavel Marek a. u., 2 Bde, Bd. 1, Brno 2005, S. 413–441. Zur Bodenreform als soziales und nationales Reformprojekt siehe Joachim v. Puttkamer: Die tschechoslowakische Bodenreform von 1919. Soziale Umgestaltung als Fundament der Republik; in: Bohemia 46/2005, S. 315–342 und Glassheim, Nationalists, S. 50–82. Siehe außerdem auch Karel Sommer: Průbeh a výsledky pozemkové reformy v pohraničí českých zemí [Verlauf und Ergebnisse der Bodenreform im Grenzgebiet der böhmischen Länder]; in: České národní aktivity v pohraničních oblastech první Československé republiky [Tschechische nationale Aktivitäten im Grenzgebiet der Ersten Tschechoslowakischen Republik], hrsg. v. Olga Šrajerová, Olomouc 2003, S. 35–108.

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2.4 Unterbäuerliche Schichten Weder Schaffer noch Pächter bewirtschafteten die adeligen Ländereien allein, sondern sie taten dies zusammen mit Landarbeitern, Tagelöhnern, Mägden und Knechten, kurz den Angehörigen unterbäuerlicher Schichten. Betrachtet man die verschiedenen Gruppen der Agrargesellschaften Europas vergleichend, so sind es gerade diese Gruppen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem stärksten Veränderungsdruck ausgesetzt waren, weil die Gesindearbeit aufhörte, ein lebenslanger Broterwerb zu sein. Die Umstellung auf Hackfrüchte und die Einführung von Dreschmaschinen beschränkte das Arbeitsplatzangebot auf wenige Monate im Jahr, ohne dass in vielen Regionen die ausgefallenen Verdienstmöglichkeiten im Rahmen der Landwirtschaft ersetzt worden wären. In der Folge dieser Entwicklung veränderten die Dörfer ihr soziales Erscheinungsbild: Landflucht führte zu Bevölkerungsverlusten, aber gleichzeitig lässt sich auch ein Zuzug von Menschen beobachten, die ihren Unterhalt in den neugeschaffenen Stellen des gewerblichen, nicht selten agrarnahen, oder Dienstleistungssektors fanden. Sie blieben vielfach auf einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, und damit auf die Parzellenpacht, angewiesen. In manchen Regionen, wie dem östlichen Oberitalien, kombinierten Unternehmer ihre Fabriken mit Agrarbetrieben, um Arbeiterfamilien ein ganzjähriges Auskommen zu ermöglichen und so deren Abwanderung zu verhindern.196 Wie für andere Gruppen der Agrargesellschaft bedeutete die Revolution von 1848 auch für die unterbäuerlichen Schichten einen Wendepunkt; zu den Nutznießern der Entwicklung gehörten sie jedoch nicht. Schon seit der frühen Neuzeit zeichnete sich Böhmen im Rahmen der Habsburgermonarchie durch eine hohe Zahl von Landlosen aus. In der Folge dieser Entwicklung und verstärkt durch die Verschuldungskrise bei den kleinen und mittleren Bauern standen im Jahr 1869 einem Anteil von 81 % Landarbeitern nur 19 % selbständige Produzenten in der Landwirtschaft gegenüber.197 196 �������������������������������������������������������������������������������� Christof Dipper: Landwirtschaft im Wandel. Neue Perspektiven der preußisch-deutschen Agrargeschichte im 19. Jahrhundert; in: NPL 38/1993, S. 29–42, S. 38. 197 ����������������������������������������������������������������������������������������� Jeleček, Landwirtschaft, S. 43. Zur frühen Neuzeit siehe Maur, Gutsherrschaft, S. 211 sowie mit Blick auf das Leben der agrarischen Unterschichten in der Zeit Maria Theresias und Josefs II. Michael Mitterauer: Lebensformen und Lebensverhältnisse ländlicher Unterschichten; in: Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, hrsg. v. Herbert Matis, Berlin 1981, S. 315– 338. In der Fortführung dieser Arbeiten hat Mitterauer die Typologie der „Gesinde-“ und der „Tagelöhnergesellschaft“ im Zusammenhang mit vieh-, getreide-, wein- und hauswirtschaftlich geprägten „Ökotypen“ formuliert. Siehe dazu Michael Mitterauer: Formen ländlicher Familienwirtschaft; in: Familienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften, hrsg. v. Josef Ehmer und Michael Mitterauer, Wien/Köln/ Graz 1986, S.  185–323. Diese Studien betreffen die Donau- und Alpenländer Öster-

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In ökonomischer Hinsicht verschlechterte sich die Situation der unterbäuerlichen Schichten unmittelbar nach der Jahrhundertwende oft genug, da diese Gruppen ihre Ansprüche gegenüber der ehemaligen Obrigkeit auf Armen- und Waisenhilfe sowie Unterstützung in Notfällen verloren. Außerdem sah das Jahr 1848 das Ende der sogenannten kleinen Waldnutzung und damit das – häufig genug unterlaufene – Verbot des Holzlesens.198 Auch das soziale Gefüge innerhalb der Dörfer veränderte sich. Die Furcht der besitzenden Bauern, dass sich angesichts der von den Gemeinden aufzubringenden Sozialausgaben ihre eigene ökonomische Situation verschlechtern könnte, ließ sie die Exekutivbefugnisse der Gemeindevertretungen gegen die Landlosen zum Einsatz bringen, indem sie das Ausstellen von Heimatscheinen und Ehebewilligungen sowie die Duldung von Fremden in den Gemeinden vielfach verweigerten.199 In Mitteleuropa zeichneten sich die unterbäuerlichen Schichten vor allem durch vielfältige Untergliederungen, Abstufungen und regionale Spezifika aus.200 In Böhmen gehörten neben dem Gesinde und den Tagelöhnern vor allem die Deputatisten und die Familianten zu dieser Schicht. Das Gesinde bestand aus persönlich freien, unverheirateten Mägden und Knechten, die vor allem beim Großgrundbesitz in einem dauernden Kontraktverhältnis standen. Ihre Entlohnung setzte sich aus Geld und Naturalien sowie einer Unterkunft zusammen. Deputatisten nannte man seit 1848 verheiratete Knechte. Auch sie standen in einem ständigen Arbeitsverhältnis, das dem des Gesindes hinsichtlich der Zusammensetzung der Entlohnung ähnelte, doch traten die Deputatisten als ganze Familien in Dienst. Auf den böhmischen Gütern nahm ihre Zahl nach und nach auf Kosten des Gesindes zu.201 Gerade diese beiden Gruppen mussten, wie das Gesinde und die Insten in vielen deutschen Regionen auch202, zwar ein erhebliches Maß an Verlust von persönlicher Freiheit in Kauf reichs, jedoch leider nicht Böhmen, so dass in diesen Untersuchungen die für Böhmen typische Prägung durch adeligen Großgrundbesitz keine Rolle spielt. 198 ��������������������������������������������������������������������������������������� Stölzl, Ära, S. 28. Siehe zu den daraus resultierenden Konflikten mit dem waldbesitzenden Adel Kapitel 3.2.2. 199 Stölzl, Ära, S. 32. Siehe allgemeiner dazu auch Troßbach und Zimmermann, Geschichte, S. 190–200. 200 ������������������������������������������������������������������������������������� Ausführlich zu den deutschen Territorien Jürgen Kocka: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 147– 218. 201 Oldřiska Kodedová: Die Lohnarbeit auf dem Großgrundbesitz in Böhmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; in: Historica 14/1967, S.  123–174, S.  146f. Da die Deputatisten mit ihren ganzen Familien arbeiteten, heißt dies, dass häufig auch die Kinder mit anfassen mussten. Dies war schon ein zeitgenössisches Thema. Siehe dazu K. K. Arbeitsstatistisches Amt im Handelsministerium: Erhebung über die Kinderarbeit in Österreich im Jahre 1908, Wien 1911. 202 Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 158–180.

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nehmen, waren ökonomisch jedoch besser gestellt als die Tagelöhner und nicht selten auch als die Häusler. Während das Gesinde häufig in der Viehzucht und der Milchwirtschaft eingesetzt war, teilten sich Deputatisten und Tagelöhner die Feldarbeit. Letztere stammten häufig aus der Gruppe der Häusler, arbeiteten zum Teil ständig, zum Teil gelegentlich auf den Gütern, wurden ebenfalls teilweise in Naturalien entlohnt und sahen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend den Bemühungen der Gutsverwaltungen ausgesetzt, Akkordlöhne einzuführen.203 Alle diese Gruppen fanden vor allem auf dem Großgrundbesitz Lohn und Brot; dies galt besonders für die Tagelöhner, die zu zwei Dritteln auf Gütern mit über 100 Hektar arbeiteten.204 Gemeinsam war allen Gruppen auch, dass sie den Gesindeordnungen unterlagen, die 1857 für Prag und 1866 für das übrige Böhmen ausgegeben worden waren und bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Kraft blieben. Wie die Gesindeordnungen in den deutschen Ländern, vor allem in Preußen, formulierten auch die böhmischen grundsätzliche Unterschiede zwischen Gesinde und Lohnarbeitern, indem sie das Gesinde nicht nur als Arbeitskraft der Verfügungsgewalt des Arbeitgebers, sondern auch als Person der Hausgewalt ihres Herren unterstellten. Die Pflichten des Gesindes gegenüber der Herrschaft waren ausdrücklich unspezifisch, festgeschrieben war jedoch eine überaus weitgehende Identifikation mit dieser. Wenn auch diese Herrschaftsbefug­nisse, zu denen in Österreich bis ins frühe 20. Jahrhundert ein Züchtigungsrecht gehörte, mit gewissen Fürsorgepflichten korrespondierten, wie der Verköstigung, einer gewissen Pflicht zur Pflege im Krankheitsfall und der „Auflage“, das Gesinde nicht über seine Kraft hinaus zu beanspruchen, so schrieben die Gesindeordnungen doch ein deutlich asymmetrisches Verhältnis zwischen Herrschaft und Dienerschaft fest.205 So eindeutig das Bild mit Blick auf das Herrschaftsverhältnis ist, das durch die ökonomische Macht der Herrschaftsbesitzer und deren rechtlicher Absicherung in den Gesindeordnungen bestimmt war, so uneinheitlich ist es, wenn man versucht, das Lohnniveau zu bestimmen. Zwar stiegen die Löhne seit der Jahrhundertmitte an, doch variierten sie stark je nach Art des Kontrakts, zwischen Männern und Frauen und nach der Art der verlangten Arbeit. Hinzu kamen große regionale Unterschiede

203 Purš, Kapitalismus, S. 47 und S. 52ff. 204 Havránek, Bauernschaft, S. 120. 205 Siehe das „Gesetz vom 7. April 1866, womit für das Königreich Böhmen im Anschluß der Landes-Hauptstadt Prag eine Dienstboten-Ordnung erlassen wird“, die Dienstbotenordnung für Mähren von 1886 sowie die „Dienstordnung für das Hauspersonal (Gesindeordnung) für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien“ vom 28. Oktober 1911. Allgemein zu den Gesindeordnungen mit Blick auf die deutschen Territorien Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 126f.

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mit höherer Entlohnung nahe den Industriezentren und umso niedrigeren, je monostruktureller eine Region auf Land- oder Forstwirtschaft ausgerichtet war.206 Festhalten lässt sich jedoch, dass zwar die freie Lohnarbeit auf dem Vormarsch war, gerade auf dem adeligen Großgrundbesitz jedoch dazu Naturalleistungen, Stellung einer Unterkunft, z. T. auch Parzellen zur eigenen Bewirtschaftung kamen. Diese Naturalleistungen sind in ihrer Bewertung ambivalent. Während sie einerseits die Abhängigkeit der Betreffenden erhöhten und ihre Rolle als Konsumentinnen und Konsumenten beschränkten, konnten sich Lebensmittelzuteilungen in Zeiten steigender Preise auch positiv auswirken. Außerdem ist für Böhmen festzuhalten, davon wird in einem späteren Kapitel noch ausführlich die Rede sein, dass Naturaldeputate, obwohl sie den Wirtschaftsführungen erhebliche Probleme bereiteten, vom Domänendirektor bis zur Tagelöhnerin üblich waren und offenbar den Interessen der Empfangenden entsprachen. Bei allem Fortschreiten der Lohnarbeit auf den böhmischen Gütern, allein beherrschend wurde sie nicht. Auch hier findet sich die von Jürgen Kocka beschriebene „merkwürdige Mixtur aus Lohnarbeit und Gesindestatus, Kleinbauernexistenz und Untertänigkeit, Kapitalismus und Feudalismus.“207 Eben diese „Mixtur“ sorgte auch dafür, dass die Möglichkeit einer Vergesellschaftung auf der Basis von Lohnarbeit ebenso begrenzt blieb wie auf der Grundlage eines scharf profilierten Berufsbildes. „Die Ausdifferenzierung von Wirtschaft und Gesellschaft hatte vor allem im ländlichen Bereich noch nicht jenen Grad erreicht, der lebenslange Klassen- oder berufsspezifische Zugehörigkeiten ermöglichte oder erzwang.“208 Mit Blick auf Böhmen kann man hinzufügen, dass dies durchaus im Interesse des grundbesitzenden Adels war, da es ihm die Aufrechterhaltung seiner Herrschaft wesentlich erleichterte, ja geradezu eine der Voraussetzungen dafür war. Eine weitere Voraussetzung ist in einer (noch) begrenzten Mobilität zu sehen.209 Aus der Perspektive des Adels, dessen Chance auf Herrschaft ihre ökonomische Ba206 Kodedová, Lohnarbeit, S. 154f. und S. 158f. Zu den Löhnen in den 1850er Jahren siehe Stölzl, Ära, S. 343. 207 Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 175. 208 Ebd., S. 218. 209 Zur Migration innerhalb Böhmens und der Habsburgermonarchie siehe Kárník und Měchýř, Social Democracy, S. 317, mit Blick auf die 1850er Jahre und den Schwerpunkten der Binnenwanderung in Böhmen Stölzl, Ära, S. 342. Noch weiter zurück reicht die Untersuchung von Hermann Zeitlhofer: Formen der Seßhaftigkeit bei Hausbesitzern und Landlosen in der südböhmischen Pfarre Kapličky 1640–1840; in: IMIS-Beiträge 18/2001, S. 51–67. Festhalten muss man jedoch, dass die Untersuchungen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar die generellen Trends zeigen, etwa dass aufgrund der weiteren Technisierung in der Folge der Agrarkrise die Landwirtschaft immer weniger Menschen habe ernähren können, der Anfang der Landflucht somit in die 1880er Jahre falle. Siehe dazu z. B. Jeleček, Landwirtschaft, S. 54 und grundsätzlich auch Purš, Kapi-

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sis in seiner starken Position als ländlichem Arbeitgeber hatte, stellte die Migration jedoch auch nach der Jahrhundertmitte kein Problem dar. Bis in die 1890er Jahre hinein kannte der Großgrundbesitz keinen Arbeitskräftemangel; die meisten Beschäftigten kamen immer noch aus dem direkten Umfeld der Latifundien.210 Lebenslange Dienstzeiten auf den adeligen Ländereien waren bei vielen Mägden und Knechten nicht die Ausnahme, sondern die Regel.211 Diese langen Dienstzeiten führten auch dazu, dass die adeligen Arbeitgeber „ihre“ Leute häufig kannten. So finden sich im Tagebuch von Eugen Graf Czernin immer wieder Eintragungen, die seinem Personal gelten. Nicht nur Mitarbeiter der Gutsverwaltung erwähnte der Graf regelmäßig, sondern auch den Forstmeister Wachtel und den Jäger Fiegl. Ebenso war ihm der Tod eines alten Zimmermanns, der bereits unter seinem Vater auf den Gütern gearbeitet hatte, einen Eintrag wert oder das traurige Schicksal der „Frau des Hammelknechts“, die er auf einem seiner regelmäßigen Inspektionsritte traf: Sie hatte erst den Schwiegersohn, dann den eigenen Sohn verloren.212 Hier zeigt sich wieder, wie auch schon in den beiden vorangegangenen Katalismus. Keine Untersuchungen gibt es jedoch für Böhmen, die, ähnlich wie Thompson dies für England getan hat (Thompson, Rural Society, S. 198), der Frage nachgehen, wie stark die Verschiebungen hin zu den agrarnahen Handwerks- und Dienstleistungsbereichen waren. Außerdem, und dies ist wohl die größte Schwäche der aggregierten Daten, lässt sich auf ihrer Basis nicht feststellen, wer eigentlich die Migrierenden waren. Ungeklärt ist z. B. wie groß der Anteil der verschuldeten Kleinbauern war, die in der Agrarkrise endgültig ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten und daher in die Industrieregionen abwanderten. Aus den adeligen Überlieferungen lässt sich jedenfalls kein Arbeitskräftemangel herauslesen, auch nicht in den 1880er Jahren. Die ländliche Bevölkerung scheint aus der Perspektive gerade dieser Quellen vielmehr als eine weitgehend stabile, weil die Bindung an den adeligen Großgrundbesitz ein zwar nur bescheidenes, aber relativ auskömmliches Leben bedeutete. 210 Kodedová, Lohnarbeit, S. 143. 211 Einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1947 zufolge arbeiteten selbst zu dieser Zeit auf dem Schwarzenbergschen Gut Orlík noch mehr als hundert Männer und Frauen, die bereits seit 25 Jahren ausschließlich auf diesem Gut beschäftigt waren, einige wiesen sogar mehr als 55 Dienstjahre auf. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 850. 212 ���������������������������������������������������������������������������������� Siehe dazu z. B. die Einträge aus dem Jahre 1850: Innerhalb nur weniger Wochen berichtete Eugen Graf Czernin über Beförderungen und Pensionierungen und führt die Betreffenden dabei namentlich an (Einträge vom 29.6., 30.6., 22.9., 26.9.1850), von einem Dinner, bei dem sein Forstmeister Wachtel zugegen war (22.8.1850), vom Tod eines alten Zimmermeisters (1.9.1850) und des Jägers Fiegl durch einen Unfall mit Hund und Gewehr (21.9.1850). Die trauernde alte Frau eines Hammelknechts erwähnte er am 10.7.1850. Tagebuch des Grafen Eugen Czernin, SOA Třeboň, Zweigstelle JH. Für viele adelige Selbstzeugnisse gilt, dass Bürgerliche nur als Gruppe vorkommen und die Einzelnen, anders als Mitglieder des Adels, nicht namentlich wiedergegeben werden. Dieser Befund lässt sich auch am Beispiel des Tagebuchs von Eugen Czernin zeigen. Eine

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piteln, dass die Besitzer nicht nur auf ihren Gütern anwesend waren, sondern auch präsent in der ländlichen Welt: Ohne diese Präsenz war Herrschaft nicht aufrechtzuerhalten. In dieser Logik liegt es auch, dass der Adel nicht nur selbst anwesend war, sondern auch Interesse daran hatte, die lokale ländliche Bevölkerung an die Güter zu binden, die sich in Böhmen oft über Hunderte von Hektar erstreckten. Man kann das etwa daran erkennen, dass die Zahl der Deputatisten zunahm, also die Anstellung von Familien, und zwar das ganze Jahr über. Dies war gerade adeligen Arbeitgebern möglich, da Milchwirtschaft, Viehzucht, aber auch die großen Forste saisonunabhängige Beschäftigung boten.213 Manche Familien, wie etwa die Primogenitur der Fürsten Schwarzenberg, betrieben gar wenig rentable Kohlengruben, um ihre Landarbeiter auch in den Wintermonaten beschäftigen zu können214 und somit Migration zu beschränken. Nur am Rande sei angemerkt, dass solche Maßnahmen nicht auf ein vermeintlich fehlendes Rentabilitätsdenken zurückgeführt werden können, sondern sie waren Investitionen in die Aufrechterhaltung von Herrschaft. Auch aus der Sicht der Angehörigen der unterbäuerlichen Schichten machte der lebenslange Dienst beim adeligen Großgrundbesitz in verschiedener Hinsicht Sinn, blieben doch diese Gruppen aus der in den 1880er Jahren eingeführten Unfall- und Krankenversicherung ausgeschlossen und waren daher in diesen Fällen und im Alter auf eine Unterstützung ihres (ehemaligen) Arbeitgebers angewiesen. Nicht nur sind die adeligen Überlieferungen voll von den entsprechenden Bittgesuchen sowie vielen Bewilligungen215, auch eine zeitgenössische Erhebung kam zu dem Schluss, dass Gesinde im Alter häufig auf die Straße gesetzt werde. Am stärksten trete dieses weitere Gruppe von Menschen, die der Graf namentlich anführt, sind jedoch gerade seine leitenden Beamten und Angestellten, die er dadurch als zu seiner „Welt“ gehörig charakterisiert (im Gegensatz zu Bürgerlichen, die im Übrigen in seinen Aufzeichnungen nur selten vorkommen). Zu den adeligen Selbstzeugnissen und ihrer Funktion für die Konstituierung der Sozialformation siehe Josef Matzerath: Der durchschossene Hut des Freiherrn v. Friesen. Zur Institutionalisierung von Adeligkeit; in: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Eckart Conze und Monika Wienfort, Köln u. a. 2004, S. 237–246. 213 ���������������������������������������������������������������������������������� Gerade die Forstwirtschaft war im adeligen Portfolio von besonderer Bedeutung. Angesichts der seit den 1870er Jahren steigenden Preise für Holz kann man für Böhmen in dieser Zeit erstmals seit Jahrhunderten wieder eine gewisse Aufforstung beobachten. Jeleček, Landwirtschaft, S. 49. 214 Anna Smolková: Těžba kamenného uhlí na Schwarzenberském báňském majetku v okolí Kroučové a Kounova od 1. pol. 19. století až do znárodnění v roce 1946 [Die Förderung von Steinkohle in den Schwarzenbergschen Kohlegruben Kroučova und Kounova von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Nationalisierung im Jahre 1946]; in: Studie z dějin hornictví 21/1991, S. 187–226. 215 Siehe dazu ausführlich die Kapitel 4.1.2 und 4.1.3.1.

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Phänomen im Handel in Erscheinung, „am schwächsten in der Landwirtschaft. … Es scheint, als ob in letzterer noch immer größere Rücksicht auf das im Dienste alt gewordene Gesinde genommen würde und die Altersversorgung für das Gesinde daselbst eine bessere wäre.“216 Ohne Zweifel hatte die Chance auf Altersunterstützung, die Beschäftigung ganzer Familien und ihre Unterbringung auf den Höfen disziplinierenden Charakter, bestand doch die Gefahr, dass die Mitglieder einer Deputatistenfamilie im Konfliktfall „alles“ verloren: Arbeit, Unterkunft, Chance auf Altersversorgung. Man kann daher sagen, dass die ökonomische Abhängigkeit unterbäuerlicher Schichten so groß werden konnte217, dass sie sich wenig von der rechtlich bestimmten Abhängigkeit vor 1848 unterschied. Die Herrschaft des Adels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts basierte somit auf seiner starken Stellung als ländlichem Arbeitgeber, und dies nicht nur in Böhmen, sondern auch in England. Betrachtet man die Lebens- und Arbeitsbedingungen unterbäuerlicher Schichten in Böhmen und England, so lassen sich einige Gemeinsamkeiten festhalten. In beiden Regionen war der Adel mit seinem ausgeprägten Großgrundbesitz ein wichtiger ländlicher Arbeitgeber; dies galt umso mehr, als bäuerliche Betriebe sich häufig bemühten, nur mit Familienangehörigen zu wirtschaften und nach Möglichkeit auf Lohnkräfte zu verzichten. Grundsätzlich ähnlich war auch der Veränderungsdruck, dem die Landwirtschaft als Ganze durch neue überseeische Konkurrenz unterworfen war, der sich aber auch durch veränderte Anbaumethoden und eine zunehmende Mechanisierung218 ergab. Diese Entwicklungen ließen gerade die Beschäftigungsverhältnisse unterbäuerlicher Schichten prekär werden. Hinzu trat eine dritte Gemeinsamkeit, die weniger offensichtlich ist: In beiden Regionen zeichnete sich das 19. Jahrhundert durch eine markante, wenn auch jeweils anders gelagerte Zäsur aus. Was für Böhmen die Revolution von 1848 bedeutete, waren in England die 1830er und 1840er Jahre mit der Einführung des neuen Armenrechts und den Swing riots. Ziel des Aufruhrs war es, im Sinne der von E. P. Thompson beschriebenen moral economy, die alte Ordnung wieder herzustellen, in der die Armen ein Recht auf Arbeit oder Unterhalt hatten. Die Eliten akzeptierten diese Gewohnheitsrechte jedoch nicht mehr und setzten Polizeigewalt ein, um den neuen Gesetzen Nachdruck zu verleihen. Erst mit der Jahrhundertmitte ebbten diese, nicht selten blutig ausgetragenen Konflikte 216 Morgenstern, Gesindewesen, S. 104. 217 Eindrücklich schildert dies bereits zeitgenössisch in deutlich sozialkritischer Absicht Max Winter am Beispiel der Holzknechte der Schwarzenbergschen Waldungen der Primogenitur. Siehe dazu Stefan Riesenfellner: Der Sozialreporter. Max Winter im alten Österreich, Wien 1987, S. 81–103. 218 Siehe dazu z. B. Alistair Mutch: The Mechanization of Harvest in South West Lancashire 1850–1914; in: AHR 29/1981, S. 125–132 und David Hoseason Morgan: Harvesters and Harvesting, 1840–1900. A Study of the Rural Proletariat, London 1982.

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ab.219 Dies war einer gewissen Ermüdung geschuldet, aber ebenso der einsetzenden guten Agrarkonjunktur, die schließlich in bescheidenem Umfang auch den unterbäuerlichen Schichten zugutekam. Zudem lernten die Eliten, das neue Instrumentarium der Armengesetze geschmeidiger zu handhaben, während gleichzeitig deren sozialdisziplinierende Funktion220 Wirkung zu zeigen begann. In fast allen Darstellungen zur englischen Agrargesellschaft wird auf ihre „klassische“ Dreigliederung hingewiesen: Landlord – tenant farmer – agricultural labourer. Die beträchtlichen regionalen Unterschiede, von denen bereits die Rede war, hatten jedoch auch für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Landarbeiter weitreichende Konsequenzen. Von großer Bedeutung waren in diesem Zusammenhang vor allem Siedlungsmuster. Im Norden Englands dominierten vielfach große Höfe, die eigene Siedlungseinheiten bildeten, zu denen auch die Unterkünfte der Landarbeiter gehörten. Diese hatten zumeist Jahresverträge und wurden mit ihren Familien zusammen angestellt; ein Bild, wie es auch für den böhmischen Großgrundbesitz gezeichnet worden ist. Die Bezahlung bestand hier neben einem Lohnanteil in der Stellung eines cottage mit Kohlen sowie in der Zuteilung von Naturalien. Hinzu kamen manchmal eine Parzelle und die Erlaubnis, ein Schwein zu halten; auch dies Charakteristika, wie wir sie aus Böhmen kennen. Naturalien als Bestandteil der Bezahlung waren im Übrigen auf den farm-based settlememts bis ins 20. Jahrhundert hinein üblich, dies nicht zuletzt deswegen, weil die nächsten Einkaufsmöglichkeiten häufig weit entfernt lagen. Auch wenn man die Bedingungen im Norden und Nordosten Englands nicht im positiven Sinne überbewerten sollte, so kann man doch festhalten, dass sie sich für die Landarbeiter deutlich günstiger darstellten als im Süden des Landes, was nicht zuletzt auch daran lag, dass Konflikte moderiert werden mussten, um das angestrebte, längerfristige Zusammenleben zu ermöglichen. Die größere Nähe zwischen master und labourer auf diesen Höfen erleichterte das.221 Eine Art Übergangsform in Richtung Süden stellte Yorkshire und speziell East und West Riding dar. Auch hier überwogen einzelne Höfe, doch war die Anstellung 219 Alun Howkins: Reshaping Rural England. A Social History 1850–1925, London 1991, S. 61ff. Zur moral economy siehe E. P. Thompson: The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century; in: Past and Present 50/1971, S. 76–136. Klassisch auch Eric Hobsbawm: The Machine Breakers; in: Ders.: Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1964 sowie ders. und George Rudé: Captain Swing, London 1969. Eine Diskussion des Konzepts der moral economy findet sich bei Manfred Gailus und Thomas Lindenberger: Zwanzig Jahre „moralische Ökonomie“. Ein sozialhistorisches Konzept ist volljährig geworden; in: GG 20/1994, S. 469–477. 220 ����������������������������������������������������������������������������� Bernd Weisbrod sieht im neuen Armenrecht ein „grandioses Zwangserziehungsprogramm zur Verfertigung des ‚economic man‘“. Bernd Weisbrod: „Neue Armut“. Markt und Moral unter dem Neuen Armenrecht; in: „Victorian Values“. Arm und Reich im viktorianischen England, hrsg. v. dems., Bochum 1988, S. 65–96, S. 73. 221 Howkins, Reshaping, S. 19ff. und S. 24.

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ganzer Familien unüblich. Jungen ab einem Alter von 13 bis 14 Jahren und junge Männer waren direkt auf den Höfen untergebracht. Das sogenannte living-in stellte hier, ähnlich wie der Gesindestatus in Böhmen, nur eine Phase im Leben dar, bis etwa Klein(st)besitz (vergleichbar den Häuslern) geerbt wurde und die Betreffenden an Heirat denken konnten. Mädchen verließen ihr Zuhause noch früher als ihre Brüder, da sie in ihrer Heimatregion kaum Aussichten hatten, ein eigenes Einkommen zu erwerben, und gingen zumeist in den Süden, wo ebenfalls die Praxis, ganze Familien anzustellen, unbekannt war.222 Je weiter man nach Süden kam, umso stärker überwog eine dörflich geprägte Siedlungsstruktur, wobei zwischen open und closed villages zu unterscheiden ist. „Offene“ Dörfer waren jene, in denen sich der Bodenbesitz auf mehrere Personen verteilte (vor allem aus der Gruppe der gentry, aber auch einzelne Hochadelige konnten hinzutreten), so dass Zuzug möglich war. Bei den „geschlossenen“ Dörfern handelte es sich zumeist um Gutsdörfer. Hier befand sich der Grund und Boden wie auch die cottages in der Hand eines adeligen Besitzers, der nicht nur über den Zuzug entschied, sondern auch alle religiösen wie säkularen Institutionen kontrollierte. Während in diesen Dörfern zumeist fast die ganze Bevölkerung auf dem adeligen Gut beschäftigt war, verdingten sich die Bewohner der open villages nicht selten als Tagelöhner223, oft genug im Rahmen der berüchtigten agricultural gangs. Das gang system war vor allem in den Getreideregionen Ostenglands verbreitet. Eine gemischte Gruppe, zu der auch Frauen und Kinder gehörten, wurde von einem Anführer zu einem Tagessatz an einen farmer verdingt, wofür der Anführer den Löwenanteil des erhaltenen Lohns einstrich. Für die Bauern boten solche Beschäftigungsverhältnisse Vorteile, weil sie dadurch die Zahl ihrer festangestellten Arbeitskräfte reduzieren und gleichzeitig den foreman einsparen konnten, dessen Aufgaben nun der Anführer der gang übernahm. Die gangs stammten häufig aus größeren offenen Dörfern und waren den Zeitgenossen gerade wegen der Beschäftigung von Frauen und Mädchen ein Dorn im Auge. Schon die open und closed villages wurden mit moralischen Bewertungen aufgeladen, wie die Berichte der Kommission „On the 222 ������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., S. 22 und S. 53f. Siehe zu den regionalen Besonderheiten und Beschäftigungsverhältnissen auch Peter Dewey: Farm Labour; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850–1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/I, Cambridge 2000, S. 810– 862, S. 812–825 und S. 838–848. �������������������������������������������������� Grundsätzlich außerdem auch Barry Reay: Rural Englands. Labouring Lives in the Nineteenth Century, Basingstoke/New York 2004, Alan Armstrong: Farmworkers. A Social and Economic History 1770–1980, London 1988, besonders S. 88–155 sowie W. A. Armstrong: The Workfolk; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 1, London 1981, S.491–505 und Alun Howkins: In the Sweat of thy Face. The Labourer and Work; in: Ebd., S. 506–520. 223 Howkins, Reshaping, S.  24f. Zur Dorfstruktur ebenfalls, allerdings mit Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert, Martin Trevor Wild: Village England. A Social History of the Countryside, London 2004.

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Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture“ aus den Jahren 1867 bis 1872 zeigen. Geschlossene Dörfer schienen der Hort einer festgefügten, geordneten sozialen Welt zu sein, während die offenen häufig mit Unmoral, Alkoholkonsum und einem liederlichen Lebenswandel gleichgesetzt wurden. Dies galt in gesteigerter Form für die agricultural gangs, die von der viktorianischen Öffentlichkeit in der Nähe von Kriminalität und Vagabundentum gesehen wurden.224 224 Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture, BPP 1867–1872 und Royal Commission on Labour. The �������������������� Agricultural Labourer, England. BPP 1893/94, Bd. XXXV. Speziell zu den agricultural gangs wurden im Rahmen dieser Erhebung eigene Berichte verfasst, so etwa der Sixth Report of the Commissioners, Children’s Employment Commission. BPP 1867, Bd. XVI. Hier werden nicht nur die Praktiken detailliert geschildert, sondern es finden sich auch Zahlen zu ihrer Verbreitung. So wurden in Huntingdonshire mehr als 500 gangs gezählt, im Cambridgeshire 1.386, in Norfolk 956 und in Suffolk etwa 500. Ebd., S. 74f. Die gangs umfassten häufig bis zu 40 Mitglieder, vor allem Frauen und Kinder. Ebd., S. 71. Allgemein war die Einschätzung, dass die moralischen Standards in diesen Arbeitseinheiten niedrig seien; besonders gemischte gangs wurden abgelehnt, weil sie für Frauen und Mädchen eine moralische Gefährdung bedeuteten, nicht zuletzt, weil die gangmaster häufig Männer von zweifelhaftem Ruf seien. Auch müssten kleine Kinder zu früh zu lange und zu schwer arbeiten. Ebd., S. 77ff. und S. 83. Den Berichterstattern war jedoch auch bewusst, dass gerade die größeren farmer gegen jede Regulierung des gang systems waren, da es sie mit flexiblen, billigen Arbeitskräften versorgte. Ebd., S. 86f. Zwar wurden Vorschläge zur Lizenzierung der gangmaster im Agricultural Gangs Act von 1867 weitgehend umgesetzt (obwohl unklar bleibt, inwieweit diese Vorschriften dann Beachtung fanden). BPP 1867, Bd. I. Die Empfehlung der Kommission, wonach Jungen unter zehn und Mädchen unter 13 Jahren nicht weiter als eine Meile entfernt von der elterlichen Wohnung im Rahmen einer gang eingesetzt werden durften, fand jedoch kein Gehör. BPP, Bd. XVI, S. 81f. Zur Situation der Frauen und Kinder siehe auch weitere Berichte in BPP 1868–1869, Bd. XIII, darin unter anderem der Tremenheere-Bericht, dessen Verfasser in verschiedenen Grafschaften nicht nur mit den Bauern, sondern auch mit Landarbeiterfamilien, Lehrerinnen und Geistlichen sprach. Insgesamt kann man festhalten, dass vielfach besonders die Beschäftigung von Frauen und Mädchen außer Haus als anstößig galt, während man im Sinne der Zeit vom moralischen Nutzen von Kinderarbeit überzeugt war, galt doch Müßiggang als moralische Schwäche, der durch eine frühe Beschäftigung der Kinder vorgebeugt werden sollte. Bernd Weisbrod verweist jedoch darauf, dass vielerorts die verstärkte Einbeziehung von Frauen und Kindern erst Folge des neuen Armenrechts war, weil gleichzeitig die Löhne auf die Mindestbedürfnisse unverheirateter Männer zugeschnitten wurden. Weisbrod, Armut, S.  78. Zur Kinderarbeit siehe grundsätzlich Pamela Horn: Children‘s Work and Welfare, 1780–1890, Cambridge 1994 sowie die Diskussion um ihr Ausmaß Peter Kirby und Hugh Cunningham: Debate – How Many Children were ‚Unemployed‘ in Eighteenth- and Nineteenth-Century England? In: Past and Present 187/2005, S. 187–215. Dennoch führten die genannten Erhebungen auch zu einem Gesetz, das vor allem sehr junge Kinder schützen sollte: A Bill to Regulate the

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Dagegen haben jedoch bereits kritische Zeitgenossen die Realität wesentlich genauer beschrieben. Francis G. Heath schildert etwa die beschwerliche Feldarbeit der Tagelöhner in Westengland, die schon bei gutem Wetter außerordentlich kräftezehrend war. Bei starkem Regen jedoch konnten sie nicht arbeiten, so dass sie den ganzen Tageslohn verloren und entsprechend bei leichterem Landregen nach einem Fußmarsch von zwei bis drei Meilen durchnässt ihr Tagewerk antraten, um ihre Einkünfte nicht zu verlieren.225 Schärfer noch kritisierte Adam Badeau, ein Angehöriger der amerikanischen Botschaft in London, 1886 die Lebensbedingungen der Landarbeiter: Ihr einziges Kapital bestehe in ihrer Arbeitskraft. Doch die Löhne, die sie für den Einsatz derselben erzielten, seien so niedrig, dass sie davon sich und ihre Familien nicht ernähren könnten. Auch Sparen sei außerhalb ihrer Möglichkeiten, so dass sie sich im Alter an die Kirchengemeinden wenden müssten, um Unterstützung zu erhalten. Über Bildung verfügten sie nicht; ihr einziges Vergnügen sei es zu trinken. Damit nicht genug: [The labourers] „have, of course, no independence, and are in reality serfs to the soil. … But it is upon their poverty, degradation, and misery that the grandeur and luxury of the aristocracy are founded. One is the direct course of the other.“226 Dies war gewiss nicht die Mehrheitsmeinung in England, doch unzweifelhaft lässt sich festhalten, dass die Arbeitsbedingungen in der Tat hart waren. So hatten die ploughmen im Sommer schon um vier Uhr in der Früh im Stall zu sein, wobei als Sommer die Zeit vom 1. März bis zum 31. Oktober galt. Die Arbeit mit den Pferden auf den Feldern dauerte neuneinhalb Stunden, unterbrochen von einer Stunde Mittagspause. Abends mussten die Tiere natürlich ebenfalls versorgt werden.227 Dies führte dazu, dass die Arbeitszeiten derjenigen, die mit Tieren zu tun hatten, länger waren, als die der Feldarbeiter. Insgesamt sanken die Zeiten für letztere im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf etwa zehn Stunden pro Tag, vor Beginn des Ersten Weltkrieges dann noch einmal geringfügig auf neuneinhalb Stunden. Im Winter wurde jeweils etwa eine Stunde weniger gearbeitet.228 Employment of Children in Agriculture – The Agricultural Children Act, 1873. BPP 1873, Bd. I. 225 Francis George Heath: The English Peasantry, London 1874, S. 50. Siehe auch die sehr kritischen Stellungnahmen von F. E. Green: The Tyranny of the Countryside, London 1913 sowie ders.: A History of the English Agricultural Labourer 1870–1920, London 1920 und Charles Booth: The Aged Poor in England and Wales, London/New York 1894. Booth ����������������������������������������������������������������������������������� stellt umfangreiches statisches Material nicht nur für die städtischen Regionen, sondern auch für die überwiegend ländlichen Grafschaften zusammen. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Thema „Old Age in Villages“. Booth, Aged Poor, S. 333–416. 226 Adam Badeau: Aristocracy in England, London 1886, S. 234. 227 Freeford Manor: Rules for Agricultural Workers, c. 1840. CROSt: D 661/19/10/36/2. 228 ��������������������������������������������������������������������������������� Dewey, Farm Labour, S. 841f. Siehe ���������������������������������������������������� dazu grundsätzlich auch die Days and Wages Accounts, die in vielen Gutsverwaltungsakten überliefert sind, so z. B. für die Güter Al-

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Auch auf den Gütern der Dukes of Bedford, die den Zeitgenossen als Musterpaternalisten galten, unterschieden sich die Arbeitsbedingungen nicht wesentlich vom eben geschilderten. Die Erhebung der Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture aus dem Jahre 1868 erbrachte für die Gemeinde Woburn, also den Stammsitz der Dukes of Bedford, dass hier keine Frauen in der Landwirtschaft beschäftigt wurden, doch war schon der Berichterstatter der Meinung, „I should advocate such employment as decidedly preferable to straw plaiting or lace making r. e. viewed in a physical & moral light.“229 Die in den gangs angestellten Jungen konnten immerhin zumeist lesen, z. T. auch schreiben. Doch auch in Woburn war man gegen die Festsetzung von Höchstentfernungen, die Kinder und Jugendliche zur Arbeit gehen durften, und hielt eine Regelung, wonach die Feldarbeit auf einen halben Tag beschränkt werden sollte, um so den Schulbesuch zu erhöhen, für undurchführbar. Immerhin, Schulen gab es auf den Bedfordschen Gütern in jeder Gemeinde. Doch auf die Frage, wie man die Schulbildung der Landarbeiterkinder verbessern könne, plädierte der Verwalter des Dukes of Bedford „for a gradual rather than a compulsary change. If the men give up beer drinking as a habit no legislation interference would be necessary. Encourage industry & economy & then you have an antidote to vicious & idle habits.“230 Arbeitskontrollen waren fast immer auch moralische Kontrollen, denn häufig wurde die Vernachlässigung von Pflichten auf den Konsum von Alkohol zurückgeführt. So schrieb etwa Hall, einer der Verwalter des Dukes of Bedford, an mehrere Pächter: „I frequently see the Duke’s horses and carts standing outside public houses in the neighbourhood. It is very undesirable that this should take place. The men can have no sufficient reason to go to public houses during the hours in which they are in charge of horses and carts. Secondly, they are wasting their own time and the time of the horses. Thirdly, there is the danger of an accident occurring through the horses being unattended, and also of their catching cold. Please give orders to all men under your charge that they are not allowed to enter public houses during their working hours and when in charge of horses and carts, and that when they are doing so in the future, it will be regarded as disobedience to orders, and will be dealt with accordingly.“231 ton und Ingestre der Earls of Shrewsbury. CROSt: D 240/E/F/6/1 (1857–1858), D 240/E/F/6/2 (1857–1859), D 240/E/F/6/4 (pension account, 1857–1859), D 240/E/F/6/1 (1889) und D 240/E/F/16/1 (1866–1870). 229 Copy of circular of enquiries with return made for Woburn Parish – Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture, Woburn Parish 1868. BaLARS: R4/895/1 und R4/895/2. 230 Zitat und vorstehende Ausführungen ebd. 231 Memorandum Hall an die Pächter Stanton und Peto, Hawkes vom 14.1.1909. BaLARS: R 4/25. Ähnlich gelagert war auch der Fall, als der Verwalter des Marquess of Londonderry, Yeoman, Freitagnacht um elf Uhr feststellen musste, dass der Hilfsknecht Bywell

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Über solche Einzelfälle hinaus gibt es in fast allen Gutsverwaltungen Aufzeichnungen über die Arbeiter, in denen notiert wurde, wie lange sie schon auf dem jeweiligen Gut beschäftigt waren, ob es sich bei ihnen um „decent labourers“ handelte oder um Trinker, um „rowdy characters“, um Männer, die niemals lange bei einer Beschäftigung blieben, die entlassen worden waren (z. T. nach jahrzehntelangen Dienstzeiten), weil sie zu spät zur Arbeit erschienen waren oder bei denen es sich in den Augen ihrer Arbeitgeber um Wilderer handelte.232 Wer einmal auf einer solchen Negativliste gelandet war, hatte nur geringe Chancen, von dem hochadeligen Arbeitgeber wieder eingestellt zu werden, wenn er seine Beschäftigung verloren hatte.233 Weitere Kontrollmechanismen verschärften die große Abhängigkeit der Landarbeiter von ihren adeligen Arbeitgebern, so etwa die bereits als ambivalent charakterisierte Teilentlohnung in Naturalien und die Unterbringung auf den Höfen. Doch auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb diese Kombination aus payment in kind und Geldanteil üblich. Auch dauerte es seine Zeit, bis die Landarbeiter Geldzahlungen als solche akzeptieren lernten. Dass dies ein Prozess war, zeigt auch eine Zeile aus einem damals bekannten Lied: „They give to them their wages now, like beggars at the door.“234 Insgesamt stiegen die Landarbeiterlöhne über die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, doch bewegten sie sich stets nur etwa auf der Hälfte der Höhe dessen, was Industriearbeiter verdienten.235 Pferde verdreckt in den Stall eingestellt hatte. Er stellte ihn unmittelbar zu Rede (hier zeigt sich, dass die Unterbringung auf dem Gut auch in solchen Fällen die Kontrollmöglichkeiten für den Arbeitgeber vergrößerte) und war empört, dass Bywell nicht ganz nüchtern war. Laut Yeoman sei Bywell frech geworden und habe gekündigt, so dass er bis zum folgenden Tag das Gut verlassen musste. Nach so einem Vorfall war mit einer erneuten Beschäftigung auf einem der Güter der Familie Vane-Tempest-Stewart nicht mehr zu rechnen. Siehe zur Bekämpfung des Alkoholkonsums auch Kapitel 3.1.2. 232 ����������������������������������������������������������������������������������� Siehe z. B. die verschiedenen Aufzeichnungen des Bedfordschen Verwalters Benson allein aus dem Jahre 1884. BaLARS: R4/932 und R4/938. 233 Aus eben diesem Jahr, vom 8.12.1884, stammt auch der Klagebrief an den herzoglichen Verwalter von Albert Smith, der nach vielen Jahren der Beschäftigung nun keine weitere Anstellung auf den Gütern des Dukes fand. Er versuchte, eine Art Gewohnheitsrecht für sich zu reklamieren, habe er doch bereits länger auf den Gütern gearbeitet als zwei seiner Kollegen und beschwert sich nun: „I are not having justice done by me, sir. [sic!]“. BaLARS: R4/931. 234 Zitiert nach Howkins, Reshaping, S. 43. 235 Dewey, Farm Labour, S. 827–837 und S. 856. Hier findet sich auch der Hinweis, dass die Löhne im Südwesten besonders niedrig waren, während sie im Nordosten, angesichts der größeren Nähe zu industrialisierten Gegenden und zu den Kohlengruben, durchweg höher lagen. Mit Blick auf die mittelenglische Grafschaft Staffordshire siehe auch Currie, Agriculture 1793–1875, S. 121 und ders., Agriculture 1875–1975, S. 144f. Auch zeitgenössisch wurde bereits die Lohnentwicklung im Agrarsektor verfolgt. Siehe dazu Board of Trade/Labour Department: Earnings of Agricultural Labourers. Report, London

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Schwerer ins Gewicht fiel häufig das Angewiesensein auf die cottages236, die im ganzen Untersuchungszeitraum von vielen Berichterstattern als unzureichend in ihren hygienischen Bedingungen und als den moralischen Verfall befördernd kritisiert wurden, weil nicht selten zwölf und mehr Personen in ein bis zwei Zimmern hausten. Ty­pisch war etwa die Aussage von Reverend B. C. Smith aus Holcut, der den Berichterstattern der schon erwähnten Royal Commission mitteilte: „My firm conviction is that you may preach what you please, and educate as you please, but will never make people value morality, education, or religion [eine interessante Reihenfolge für einen Geist­lichen] who are condemned to live in homes a decent farmer would be ashamed to put his beasts into. Good cottage accommodation is the first requisite.“237 Die Überbelegungen gingen zumindest zum Teil auf das poor-law-System zurück: Um die Anzahl derer zu begrenzen, die ggf. auf Unterstützung angewiesen sein konnten, ließen adelige (wie auch die kleine Zahl bürgerlicher) Landbesitzer entweder keine weiteren cottages bauen oder die vorhandenen abreißen.238 In der zweiten Jahrhunderthälfte erkannten jedoch immer mehr Gutsbesitzer, dass sie um den Bau von cottages nicht mehr länger herumkamen.239 Der Kampf um die Reduktion der poor rates blieb gleichwohl bestehen, und oft genug meldeten die Verwalter voller Ge1900–1905. Zur Lohnentwicklung der Landarbeiter siehe außerdem auch Howkins, Reshaping, S. 95f. sowie grundsätzlich mit umfangreichem statistischem Material Bethanie Afton und Michael Turner: Wages; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850–1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/II, Cambridge 2000, S. 1993–2019. 236 Siehe hierzu das Kapitel 3.1.1. 237 Culley-Bericht für Bedfordshire im Rahmen der Erhebung der Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture. BPP 1867/68, Bd. XVII. 238 Dewey, Farm Labour, S. 845f. Siehe grundsätzlich auch Anthony Brundage: The Making of the New Poor Law. The Politics of Inquiry, Enactment, and Implementation, 1832– 1839, New Brunswick 1978. Brundage betont, dass ungeachtet der Verregelung, die mit dem neuen Armenrecht einherging, seine praktische Handhabung durchaus vielfältige Spielarten aufwies, weil viele hochadelige Entscheider daran festhielten, örtlich jeweils eigene Vorstellungen durchzusetzen. Ebd., S. 144. 239 ������������������������������������������������������������������������������ Typisch waren etwa die Aufzeichnungen von den Gütern der Marquesses of Londonderry, die im Nordosten Englands lagen. Hier konnte man sich im Spätsommer 1863 nicht mehr der Erkenntnis verschließen, dass es einen großen Mangel an Unterkünften für Landarbeiter gebe und ihre Unterbringung direkt auf dem Gut erstrebenswert sei. Im November und Dezember 1863 wurde dann eine Aufstellung aller cottages erarbeitet, um eine Übersicht über ihren Zustand und die Zahl der Bewohner zu erhalten. Der Bau wurde jedoch zunächst hinausgezögert, und man „löste“ das Problem, indem man in den Wintermonaten Arbeitskräfte entließ, die man dann auch nicht unterbringen musste, womit gleichzeitig Lohnkosten sowie Bauinvestitionen gespart werden konnten. Korrespondenz des Verwalters für Wynyard, Brown, mit Frances Anne, Marchioness of Londonderry, vom 18.8., 17.11., 3.12. und 7.12.1863. CROD: D/Lo/C 186.

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nugtuung, dass es ihnen gelungen war, die overseers nach harten Verhandlungen dazu zu bewegen, diese Lokalsteuern niedriger anzusetzen, als es ihre Intention gewesen war.240 Insgesamt kann man daher festhalten, dass auch die englischen Landarbeiter, ähnlich wie die Angehörigen unterbäuerlicher Schichten in Böhmen, in einem Konfliktfall Gefahr liefen, „alles“ zu verlieren: Arbeit und Unterkunft für sich und ihre Familien. Es wird später noch ausführlich davon zu reden sein, wie weitreichend die Konsequenzen dieser Abhängigkeit waren. Nicht nur duldeten adelige Landeigentümer, die fast durchgehend der Church of England angehörten, keine dissenters auf ihren Gütern und erst recht keine Landarbeitergewerkschaften241, so dass, nicht anders als in Böhmen auch, die Angehörigen der unterbäuerlichen Schichten in vielen Fällen auf adelige Wohltätigkeit242 angewiesen blieben. Man kann daher ferner konstatieren, dass unter einer Schicht von vermeintlichen Unterschieden zwischen Knechten, Mägden, Tagelöhnern, Deputatisten und agricultural labourers die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen recht ähnlich waren. Diese waren vielfach durch disziplinierende Maßnahmen ihrer adeligen Arbeitgeber geprägt, so dass in der Tat das Ausmaß der ökonomisch bedingten Abhängigkeit nicht selten einer nicht mehr bestehenden rechtlichen verhältnismäßig nahe kommen konnte. In diesem Sinne kann man Adam Badeau zumindest rückblickend durchaus zustimmen.

2.5 Zusammenfassung In England und Böhmen, wo vor allem der Hochadel ausgedehnte Ländereien besaß, waren die Besitzer dieser Güter wichtige Akteure in der ländlichen Gesellschaft: Sie betrachteten das Land als ihr angestammtes Herrschaftsgebiet und waren bestrebt, diese Herrschaft auch im ökonomischen Sinne aufrechtzuerhalten. Adelsökonomie war daher vor allem Gutsökonomie. Für den böhmischen wie für den englischen Adel war eine grundsätzliche Renditeorientierung selbstverständlich. Gerade in Böhmen erkannten viele Adelige sehr schnell, dass der Abschluss der Grundentlastung ihnen nicht nur neue Einnahmequellen durch die bäuerlichen Ablösezahlungen bringen würde, sondern dass der aufgelöste „Feudalnexus“, wie sich Christian Graf Waldstein ausdrückte, auch die 240 ������������������������������������������������������������������������������������ Typisch etwa die Nachricht des gerade erwähnten Verwalters von Wynyard, der eine Reduktion um 50% durchsetzte. Schreiben vom 14.12.1863. Ebd. Stolz vermeldete auch sein Nachfolger Yeoman am 1.8.1871: „After a hard fight I have made them take the whole [Unterstreichung i. O.] of it off again.“ Ebd.: D/Lo/C 621. 241 Zum dissent wie zu den Landarbeitergewerkschaften siehe Kapitel 3.1.3, zum dissent außerdem auch Kapitel 4.2.3. 242 Zur adeligen Wohltätigkeit siehe Kapitel 4.1 mit den jeweiligen Unterkapiteln.

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Ausgaben markant senkte. Das Ziel fast aller böhmischer Magnaten war somit nach 1848 die Anpassung der Güter an die „neue Zeit“. Diesem Ziel dienten verschiedene Strategien, darunter Investitionen in die weitere Mechanisierung, die Reorganisation der Gutsverwaltungen, die Auswahl von geschultem und häufig auch akademisch ausgebildetem Personal sowie die Einführung finanzieller Anreizsysteme. Alle diese Maßnahmen sowie ein detailliertes Berichtswesen und eine immer ausgefeiltere Buchführung lassen sich als Praktiken verstehen, mit denen die Besitzer ihr Interesse an einer gewinnorientierten Bewirtschaftung der Güter kommunizierten. Auch wenn in England die Latifundien nicht in Eigenregie bewirtschaftet, sondern verpachtet wurden, so lassen sich bei den Praktiken viele Gemeinsamkeiten entdecken: Buchführung, Berichtswesen, Ausgabenkontrolle, Bemühungen um Verbesserungen auf der Einnahmenseite sowie eine fortschreitende Technisierung prägten auch hier das Bild. Ausgehend von diesem Befund können für Böhmen und England weitere Gemeinsamkeiten festgehalten werden: Die Quellen zeigen hochadelige Gutsbesitzer, die in das Alltagsmanagement der Güter involviert und in substantieller Weise auf den Gütern anwesend waren. Weil sie präsent waren, konnten sie mit ihren Verwaltern Details von der Erbsenblüte bis zur Erkrankung von Kuhhirten besprechen. Sie kommunizierten so gleichermaßen wirtschaftliche Interessen wie Herrschaftsansprüche. Die Renditeorientierung der beiden Adelsformationen ging mit einer starken Betonung des Eigentums einher. Beides war durchaus standesgemäß. Dies zeigt sich auch im industriellen Engagement beider Adelsgruppen, das gerade in der frühen Phase der Industrialisierung besonders stark war, als sie in den Abbau von Bodenschätzen, vor allem von Kohle, sowie den Aufbau von Kokereien und Eisenwerken investierten. Für den Verlauf des 19. Jahrhunderts ist hier ein Rückgang zu verzeichnen, der vor allem dem Ziel geschuldet war, die Differenz zwischen Stadt und Land zu bewahren, um – wenn auch unter sich verändernden Bedingungen und in veränderter Form – die Herrschaft über Land und Leute aufrechtzuerhalten. So blieb die Aristokratie „fundamentally landed in ethos“ (Cannadine). Eigenlogiken zeigten die beiden Adelsgruppen auch, wenn sie bei aller Renditeorientierung keine Industrieunternehmen in der direkten Umgebung der Familiensitze duldeten, gleichzeitig aber ihre landwirtschaftlichen Güter so bewirtschafteten, dass sie ausreichend Gewinne abwarfen, um ihren Besitzern einen im adeligen Sinne angemessenen, d. h. den repräsentativen (Selbst-)Verpflichtungen Rechnung tragenden Lebensstil zu ermöglichen. Eine große Bedeutung für die Realisierung der ökonomischen und sozialen Ziele der Aristokratie hatten in England wie in Böhmen die Spitzen der jeweiligen Gutsverwaltungen. Ohne ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen adeligem Gutsbesitzer und seinem leitenden Verwaltungspersonal waren weder die Güter gewinnorientiert zu bewirtschaften noch Herrschaftsansprüche erfolgreich zu kommunizieren. In diesem Sinne hatten die Verwalter für die adeligen Besitzer gleich in doppelter Hinsicht

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eine wichtige Funktion. Dies spiegelte sich u. a. auch darin wider, dass es sich gerade bei den Positionen des chief agent oder des Domänendirektors um sehr lukrative Stellen handelte. Unter ihren Inhabern finden wir sowohl in England als auch in Böhmen führende Agrar- und Forstexperten der Zeit. Es verwundert daher auch nicht, dass sich der Beruf des Verwalters bereits seit den 1830er Jahren in einem Prozess der Professionalisierung befand, dem in Böhmen schon früh (früher als in England) ein differenziertes Fachschulwesen sowie ein eigener Verein der Güterbeamten diente. Zu den zentralen Aufgaben der Gutsbeamten gehörte in beiden Großregionen die Übermittlung und Durchsetzung der Entscheidungen des adeligen Besitzers (und damit Arbeitgebers) sowie die Ausgabenkontrolle; beides ging oft Hand in Hand. Bei der Realisierung dieser Aufgaben nahmen die Verwalter eine vermittelnde Rolle zwischen der Aristokratie und anderen Gruppen der ländlichen Gesellschaft ein. Aufgrund dieser Rolle, die sich auch auf Tätigkeiten in der Lokalverwaltung, sozialen Einrichtungen sowie örtlichen Vereinen erstreckte, konnten die Verwalter nicht selten das soziale Klima beeinflussen. Die Chancen in dieser Hinsicht muss man jedoch in England höher veranschlagen als in Böhmen. Dies lag daran, dass Konflikte in England, sofern sie ein gewisses Ausmaß erreichten, häufig durch Wegzug gelöst wurden, indem Pächter sich einen neuen Hof in einer Nachbargrafschaft suchten und Landarbeiter im besseren Fall in ein open village umzogen, im schlechteren sich dem fahrenden Volk anschlossen. In Böhmen dagegen blieben die Konfliktparteien zumeist Teil der lokalen Gesellschaft. Deren Mitglieder verfügten somit sowohl über tradierte Erfahrungen von Konflikthaftigkeit aus den Zeiten vor der Ablösung der Feudallasten wie auch über vermittelte oder eigene aus der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit. Dies machte es zwar den böhmischen Verwaltern nicht unmöglich, das soziale Klima zu beeinflussen, doch operierten sie, trotz der geschilderten Gemeinsamkeiten, die sie mit ihren englischen Kollegen verband, in dieser Hinsicht unter anderen und für sie schwierigeren Rahmenbedingungen. Fasst man die Befunde hinsichtlich weiterer Gruppen der ländlichen Gesellschaft zusammen, so kann man konstatieren, dass es bei aller regionalen Differenzierung innerhalb Böhmens und Englands doch einige gemeinsame Trends gab: Während die Anzahl der direkt in der Landwirtschaft Beschäftigten sank, stieg gleichzeitig die Zahl derjenigen, die in agrarnahen Sektoren ihr Auskommen fanden. Auch stieg in beiden Regionen die Produktivität des Agrarsektors insgesamt. Als Gemeinsamkeit lässt sich ferner festhalten, dass direkte Beziehungen zwischen grundbesitzendem Adel und bäuerlichen Gruppen vor allem auf der Basis von Pachtverhältnissen bestanden. Gerade in England bildeten die tenant farmers die größte Gruppe innerhalb der Bauernschaft. Auch Böhmen war im Rahmen der Habsburgermonarchie die Region mit dem geringsten Anteil selbständiger Produzenten; eine Entwicklung, deren Anfang im Dreißigjährigen Krieg zu suchen ist. Hier bestanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts direkte Beziehungen über Pachtverhältnisse vor allem zwischen dem hochadeligen Großgrundbesitz und den Großbauern

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sowie zwischen Adel und Klein- bzw. Kleinstbauern. Als dritte Gruppe mit direkten Beziehungen, auf Kontraktbasis, traten in Böhmen noch die Schaffer hinzu, eine Art angestellte Bauern. Gerade die Großbauern bzw. großen Pächter und den grundbesitzenden Adel verbanden häufig gemeinsame wirtschaftliche wie auch politische Interessen, wie etwa die Verhinderung von Landarbeitergewerkschaften. Ungeachtet dessen gehören zum Gesamtbild natürlich auch Konflikte. Dabei wie auch in allen Aushandlungsprozessen hatten die hochadeligen Landbesitzer und Arbeitgeber eine überaus starke Position. Dieser Befund gilt für die verschiedenen unterbäuerlichen Gruppen noch in verstärktem Maße, denn sie fanden primär auf den Gütern des Großgrundbesitzes Anstellung; bäuerliche Betriebe dagegen versuchten zumeist, ohne Lohnkräfte auszukommen. Während auf den ersten Blick die Unterschiede zwischen England und Böhmen zu überwiegen scheinen, mit der differenzierten Struktur aus Knechten, Mägden, Tagelöhnern und Deputatisten einerseits, und den agricultural labourers, die in open oder closed villages lebten andererseits, bringt eine genauere Betrachtung Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten ans Licht. Im Norden Englands etwa wurden ganze Familien auf den Gutshöfen angestellt, ähnlich den böhmischen Deputatisten. Das living-in in Yorkshire wiederum wies eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit dem Gesindestatus auf, während die closed villages im Süden gemeinsame Züge mit den Gutsdörfern in Böhmen hatten. Unbekannt waren auf den adeligen Gütern in Mitteleuropa allenfalls die agricultural gangs. Auch waren unterbäuerliche Schichten in beiden Großregionen jene Gruppen, die sich im Rahmen der Agrargesellschaft einem besonders ausgeprägten Veränderungsdruck ausgesetzt sahen; die Stichworte Überseekonkurrenz, veränderte Anbaumethoden und zunehmende Mechanisierung mögen hier genügen. In der Konsequenz bedeuteten all diese Veränderungen, dass die Beschäftigungsverhältnisse zunehmend prekär wurden. Einschnitte in den sozialen wie ökonomischen Besitzstand ländlicher Unterschichten hatte es außerdem bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben, als in England wie in Böhmen Rechtsgewohnheiten unterbäuerlicher Schichten ihre traditionale Legitimierung verloren. Bestehen blieb dagegen in beiden Regionen eine Entlohnung, die sich aus Geld, Naturalien, der Stellung einer Unterkunft und der Möglichkeit zur Parzellenpacht zusammensetzte. Diese Form der Bezahlung hatte disziplinierenden Charakter, liefen doch die Betreffenden im Konfliktfall Gefahr, „alles“ zu verlieren, da sie ihre Familien nicht mehr ernähren konnten und kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Einher ging dieses Abhängigkeitsverhältnis mit der Chance, bei (lebenslangem) Wohlverhalten Unterstützung in Not-, Krankheitsoder Todesfällen seitens der adeligen Familie zu erhalten. Im Ergebnis kann man daher konstatieren, dass sich die ökonomische Abhängigkeit unterbäuerlicher Schichten in beiden Großregionen wenig von einer Situation in Mitteleuropa von vor 1848 unterschied, als es sich um ein rechtlich bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis gehandelt hatte. Man kann daher auch mit Blick auf die zweite

Hälfte des langen 19. Jahrhunderts von Adelsherrschaft sprechen, die sich nun jedoch moderner Formen bediente: Ihre Basis fand sie im Großgrundbesitz, dem Interesse des Adels an dessen gewinnorientierter Bewirtschaftung, die mit seiner Präsenz auf den Gütern einherging und in der daraus resultierenden überaus starken Stellung der Gutsbesitzer als ländlichen Arbeitgeber.

3 Die Arbeitswelt der Güter: Praktiken und Konflikte

Das Aushandeln und Aufrechterhalten von Herrschaft ist, wie eingangs dargelegt, ein Prozess, der eine kontinuierliche Interaktion bedingt: Herrschaft muss stets neu angemeldet, repräsentiert und durchgesetzt werden, auch und gerade in Konfliktfällen. Zu den strukturellen Ähnlichkeiten, die in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet worden sind, gehörte die Tatsache, dass in beiden Großregionen adelige Gutsbesitzer eine starke Stellung als ländliche Arbeitgeber besaßen. Gerade angesichts der dargelegten Gemeinsamkeiten ist es auffällig, dass die typischen Konfliktfelder in der Arbeitswelt der Güter sich in England und Böhmen durchaus voneinander unterschieden. Während in England häufig die cottages, Fragen des Alkoholkonsums und die Mitgliedschaft von Landarbeitern in Gewerkschaften im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen standen, entzündeten sich Streitigkeiten in Böhmen zumeist an Deputaten, der Waldnutzung sowie den Rechten an Gewässern. Die folgenden Kapitel werden diese Konfliktfelder vor dem Hintergrund, wie Adelige hier ihre Herrschaft aushandelten, untersuchen, dabei nach den angewandten Praktiken der verschiedenen beteiligten Akteure fragen und schließlich vergleichend auf die jeweils zugrundeliegenden Konfliktlogiken zu sprechen kommen. Dabei zeigt sich, dass spezifische Mischungsverhältnisse aus Traditionalität und Modernität die ländlichen Regionen prägten, diese also Teil übergreifender Modernisierungsprozesse waren.

3.1 England 3.1.1 Cottages

Landarbeiter bekamen in England eine kombinierte Entlohnung, die sich aus Geldzahlungen, der Stellung einer Unterkunft sowie Zuteilungen von Lebensmitteln und ggf. auch Heizmaterialien zusammensetzte. Fallweise kam dazu die Erlaubnis, eine Parzelle zur Selbstversorgung zu pachten oder ein Schwein zu halten. Diese Art der Bezahlung, und besonders die Koppelung der Unterkunft an die Arbeitsstelle, hatte vor allem disziplinierenden Charakter, da ein Landarbeiter im Konfliktfall alles verlor und mit seiner Familie Gefahr lief, ohne einen penny und ohne ein Dach über dem Kopf auf der Straße zu stehen.1 Den disziplinierenden Charakter gerade der cottages weisen auch Aufzeichnungen auf vielen Gütern nach, die angelegt wurden, um Aufschluss über deren Bewohner zu geben. In den Shrewsburyschen Beständen etwa hat sich eine Liste aus dem 1 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.4.

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Die Arbeitswelt der Güter: Praktiken und Konflikte

Jahre 1873 erhalten, in der die cottage-Bewohner des zum Gut Ingestre gehörenden Dorfes Salt verzeichnet sind. Während die überwiegende Mehrzahl der 36 genannten Männer einer regelmäßigen Beschäftigung auf dem Gut nachging, hieß es in Einzelfällen auch „works for anybody“ oder aber „too idle to work“. Einem weiteren cottager wurde vorgeworfen, dass er seine Frau der Gemeindehilfe überlasse, was im Klartext bedeutete, dass sie den lokalen Steuerzahlern zur Last falle.2 Dass die cottages ein Instrument zur Kontrolle der Landarbeiter waren, lässt sich ferner auch daran ablesen, dass die adeligen Gutsbesitzer häufig selbst die Entscheidung trafen, wer dort einziehen durfte.3 Doch längst nicht alle Landarbeiter und ihre Familien waren bereit, sich dem strengen Reglement der geschlossenen (Guts-)Dörfer zu unterwerfen. Hier mochten zwar die Lebensbedingungen im Großen und Ganzen besser sein, doch bestand gleichzeitig die Gefahr, wie sich zeitgenössische Beobachter ausdrückten, „that the individual himself may become part of the estate. And this danger is often realized keenly. We repeatedly found villages in which the farms were poor, the work was precarious, and everything had a forlorn and ,out-at-elbows‘ aspect, glorying in their superiority over some adjacent village who [sic!] inhabitants were better housed and fed but ,couldn’t call their souls their own‘.“4 Eine Wahlmöglichkeit war den Betreffenden jedoch selten vergönnt, weil vielfach ein großer Mangel an Unterkünften in den ländlichen Regionen Englands bestand: Mit der Verabschiedung des neuen Armenrechts in den 1830er Jahren hatten adelige Gutsbesitzer oft genug cottages abreißen lassen, um auf diese Weise die Anzahl der örtlichen Dorfbewohner und damit die Zahl derjenigen, die ein Recht auf Sozialleistungen der Gemeinden hatten, zu reduzieren, da dies wiederum ihre Lokalsteuern senkte. Wo die Häuser noch standen, waren sie häufig so vernachlässigt worden, dass sich schon relativ bald Probleme abzeichneten: Wollte man Landarbeiter beschäftigen, mussten sie irgendwo wohnen. Darauf machte einer der Bedfordschen Verwalter, Thomas Bennett, bereits im März 1843 aufmerksam: „However undesirable it is for a landlord to increase his cottage property, yet there is a duty incumbent upon him to provide decent dwellings for the people to live in who are necessary for the cultivation of the soil.“5 2 List of cottagers at Salt with their employment, September 1873. CROSt: D 240/E/C/1/75. 3 Es zeigt sich also auch in diesem Zusammenhang, dass die landlords in das Alltagsmanagement ihrer Güter involviert waren und viele Menschen aus deren lokalem Umfeld persönlich kannten. Siehe zu den Entscheidungen, wer in cottages einziehen durfte, z. B. die Aufzeichnung Lord Londonderrys vom 20.10.1894 (CROD: C/Lo/C 352, Bl. 384) oder entsprechende Einträge im estate diary von Ingestre, z. B. vom 27.3. oder 23.4.1873. CROSt: D 240/E/C/4/2. 4 B. Seebohm Rowntree und May Kendall: How the Labourer Lives, London 1913, S. 319f. 5 Schreiben Bennett vom 8.3.1843. BaLARS: R 3/4682.

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Doch nicht nur auf den Bedfordschen Gütern machte sich dieser Mangel bald bemerkbar, sondern auch die Verwaltungsakten anderer Latifundien zeigen ein ähnliches Bild.6 Zu ihrem Unwillen mussten die Besitzer außerdem feststellen, dass sich die Vernachlässigung von Jahren und zum Teil Jahrzehnten nicht so schnell beheben ließ. Im Jahre 1862 berichtete wiederum Thomas Bennett über die cottages im Bezirk Woburn, also jenem Gut, das den Stammsitz der Dukes of Bedford umgab, dass in Ampthill von 50 cottages nur 15 neu seien, die verbleibenden 35 dagegen nach und nach ersetzt werden müssten. In Houghton waren gar alle 24 Häuser in einem sehr schlechten Zustand, in Lidlington 26 von 40, in Millbrook mussten nach der Einschätzung des Verwalters die meisten der 44 cottages abgerissen werden, wenn erst neue gebaut waren – und auch in den übrigen zum Gut gehörenden Dörfer sah die Situation nicht anders aus.7 Gerade die Dukes of Bedford gingen wegen ihrer umfangreichen cottage-Baumaßnahmen als „Musterpaternalisten“ in die Literatur ein, ließen sie doch allein auf dem Gut Woburn im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts an die tausend cottages reparieren oder neu bauen.8 Der 11. Duke of Bedford hatte außerdem genaue Vorstellungen, wie die Unterkünfte „seiner“ Landarbeiter auszusehen hatten: „The arrangements and designs of a cottage are matters of supreme importance. … It is … found that, if two dwelling-rooms of the same size are provided, one is often kept idle as a parlour, where china dogs, crochet antimacassars, and unused tea-services are maintained in fusty seclusion. This idle parlour adds nothing to the comfort of the cottager. The best plan is to divide the ground floor into one good living-room, one kitchen, one back kitchen or scullery, and one spacious and airy pantry.“9 So wie hier wird auch im weiteren Verlauf der Ausführungen noch wiederholt davon die Rede sein, dass adelige Gutsbesitzer, modern gesprochen, in die Privatsphäre ihrer Beschäftigten eingriffen, ja, sich 6 Siehe dazu die Aufzeichnungen aus der Gutsüberlieferung der Marquesses of Londonderry. Erstmals ist davon in einem Bericht aus dem Jahre 1854 die Rede, als eine Kalkulation aufgestellt wurde, was es kosten würde, die cottages des Gutes Long Newton in einen bewohnbaren Zustand zu bringen. Der Verwalter empfahl, die notwendigen Reparaturen bald vorzunehmen, da sich bei fortgesetztem Verfall die Kosten nur noch weiter erhöhen würden. Report on the Southern Estate Farms by Mr. Abraham up to 1st October 1854. CROD: D/Lo/E 513. Im Jahre 1863 machte der Verwalter von Wynyard, Mr. Brown, Frances Anne, die zu dieser Zeit die Oberaufsicht über die Güter für ihren noch minderjährigen Sohn führte, erneut auf das Problem der Unterkünfte aufmerksam. Sie ließ ihren Verwalter eine Übersicht über die vorhandenen cottages aufstellen. Siehe dazu die Schreiben Browns an Frances Anne vom 18.8., 17.11. und 3.12.1863. Ebd.: D/Lo/C 186. 7 Bericht des Verwalters Bennett über den Zustand der cottages für den Woburn district, 1862 (ohne genauere Datierung). BaLARS: R4/195. 8 Gutachten aus dem Jahre 1875, jedoch ohne genauere Datierung. BaLARS: R 4/200. Zu den Dukes of Bedford als Musterpaternalisten auch Roberts, Paternalism, S. 273. 9 Russell, Estate, S. 86.

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ihr Anspruch auf Herrschaft mit Vorstellungen von Privatheit kaum verbinden ließ10; dies deutet sich schon in dem Zitat an, wonach die Bewohner von Gutsdörfern nicht einmal ihre Seelen als ihren rechtmäßigen Besitz behaupten konnten. Bei allem adeligen Paternalismus sollten außerdem die Ausführungen des Dukes of Bedford nicht darüber hinwegtäuschen, dass zum einen die materiellen Gegebenheiten längst nicht überall jenen von Woburn entsprachen, denn immerhin gehörte dieses Geschlecht zu den drei reichsten Familien des Landes.11 Zum anderen hatten auch die Herzöge sehr genau im Blick, welche Summen sie in die Instandhaltung der cottages investierten.12 So wurde im Jahre 1875 die Leitung der königlichen und kirchlichen Güter mit einer Evaluation der getätigten Investitionen beauftragt. Deren Bericht kam zu dem Ergebnis: „The outlay has been considerably in excess of what may be called the ‚commercial‘ necessities of the Estate“. Man empfahl daher dringend, „that …the cost of repairs were thrown on the tenant“. Unter den gegenwärtigen Bedingungen würden außerdem für Baumaßnahmen „500 mechanics“ beschäftigt, die man weitgehend entlassen könnte, wenn man die Pächter stärker in die Erhaltung und den Neubau der Landarbeiterunterkünfte einbeziehe. Schließlich könne man auch das Verwaltungspersonal effektiver einsetzen, bei gleichzeitig reduzierter Zahl, wenn die Baumaßnahmen nicht mehr durch Beschäftigte des Gutes durchgeführt und überwacht werden müssten. Aufgrund all dieser Ausführungen kam der Berichterstatter zu dem Ergebnis: „The system … is in my opinion about the most expensive that can be devised.“13 10 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 3.3 und 3.4. Zum bürgerlich geprägten Konzept von Privatheit/Privatsphäre siehe Christoph Heyl: A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London (1660–1800), München 2004, der in seiner Arbeit darauf hinweist, dass sich das Bürgertum nicht zum Schutz vor dem Staat in seine eigenen vier Wände zurückzog, sondern aus Angst vor der als Moloch empfundenen Großstadt. Außerdem José Harris: Private Lives, Public Spirit. A Social History of Britain 1870–1914, Oxford 1993. Privatheit ������������������������������������������������������������� wurde nicht zuletzt in den Romanen der Zeit vorgedacht und konstruiert. Siehe dazu Patricia McKee: Public and Private. Gender, Class and the British Novel (1764–1878), Minneapolis 1997. Mit Blick auf das Mittelalter und die Frühneuzeit siehe außerdem: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, hrsg. v. Gert Melville und Peter von Moos, Köln/Wien/Weimar 1998. 11 Cannadine, Decline, S. 710. 12 Siehe dazu die jährlichen Bennett reports aus den Jahren 1850–1868 (BaLARS: Bennett Papers, Microfilms 127, 128 und 129), den Jahren 1868–1887 (Ebd.: R5/869/4 – R5/869/13, R5/870/1, R5/870/2 und R5/871) und für die Jahre 1881–1885 (Ebd.: Microfilm 190) sowie die Aufstellung „A statement of the number of Cottages built by his Grace the Duke of Bedford on the Beds and Bucks Estates from 1843 to 1861 + those now required“. Daraus lässt sich erkennen, dass zwar 374 cottages und sechs Schulgebäude gebaut worden waren, aber immer noch 336 weitere cottages gebraucht wurden. Ebd.: R 4/194/1. 13 Gutachten aus dem Jahre 1875, jedoch ohne genauere Datierung. BaLARS: R 4/200. Dass es sich bei den Baumaßnahmen der Dukes of Bedford um unrentable Investitionen

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Insgesamt sahen adelige Gutsbesitzer in den cottages primär ein Herrschaftsinstrument, das Investitionen erforderte. Auch die Dukes of Bedford bildeten von dieser Regel nur insofern eine Ausnahme, als bei ihnen in der Tat die Summe der Ausgaben höher war als bei fast allen anderen Magnaten. Für die ländliche Bevölkerung hieß dies jedoch, dass sich die Wohnungsbedingungen über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, angesichts des großen Mangels, nur langsam besserten.14 Überbelegungen – „8 persons – only one [Unterstreichung i. O.] sleeping room – oldest daughter 18, next 13“15 – waren ebenso an der Tagesordnung wie Untervermietungen. Diese brachten die Verwalter in Rage, denn was für die Bewohner der cottages eine aus Eigensinn geborene Praxis war, im Sinne einer Notbehelfsökonomie die eigene Misere zu lindern, darin sahen die agents eine unerlaubte Nebeneinnahme auf Kosten der adeligen Besitzer.16 Besonders schwierig war die Situation für Witwen, so dass sich immer wieder ihre ängstlichen Anfragen überliefert haben, ob sie auch nach dem Tod ihres Mannes in ihrem angestammten cottage bleiben durften. Eine verbreitete, auf frühneuzeitliche Rechtsgewohnheiten17 zurückgehende Praxis der cottage-Bewohner, dieses Problem für sich zu lösen, bestand darin, das Wohnrecht testamentarisch zu „vererben“. Der Earl of Shrewsbury zum Beispiel und seine Verwalter waren über diese Bestrebungen verärgert, stand dahinter doch in ihren Augen – ebenso wie bei den Untervermietungen – der Versuch, das Eigentumsrecht zu gehandelt habe, ist auch heute noch ein Topos der Sekundärliteratur. Siehe dazu z. B. Michael Haviden: The Model Village; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 414–427, S. 417. Dagegen hatte schon Graf Czernin deren Rentabilität in seinem Tagebuch berechnet. Siehe den Eintrag vom 4.9.1851. SOA Třeboň, Zweigstelle JH. 14 Dewey spricht etwa davon, dass der housing standard bis zum Ersten Weltkrieg „extremely low“ geblieben sei, vor allem in Südengland, wo cottages gängig überbelegt waren. Dewey, Farm Labour, S. 845ff. 15 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ingestre estate diaries, Eintrag vom 15.1.1874. Zu dem Eintrag kam es, weil die betreffende Familie, obwohl sich schon acht Personen das cottage teilten, noch Untermieter aufnehmen wollte. Der Earl of Shrewsbury entschied am 3.2.1874: „No lodgers allowed by me.“ CROSt: D 240/E/C/4/3. Zu den Überbelegungen siehe auch die schier unendliche Zahl von Beispielen in den Erhebungen der verschiedenen Kommissionen, die sich mit der Situation in der Landwirtschaft befassten. Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture, BPP 1867–1872 und Royal Commission on Labour. The Agricultural Labourer. England, BPP 1893/94, Bd. XXXV. 16 Bennett war nicht in der Lage zu erkennen, dass das Untervermieten sowohl für den „Vermieter“ als auch für den Mieter eine ökonomische Notwendigkeit darstellte und ereiferte sich daher, dies Beispiel zeige, „how little compassion this class of people has for each other.“ Schreiben an den Verwalter Healy vom 8.3.1843. BaLARS: R 3/4682. 17 Siehe dazu Werner Rösener: The Agrarian Economy, 1300–1600; in: Germany. A New Social and Economic History, hrsg. v. Bob Scribner, 3 Bde, Bd. 1, London 1996, S. 63–84, S. 77.

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unterlaufen. Ihre Entscheidungen zeigen wiederum, dass Besitzer und Verwalter viele Mitglieder der ländlichen Gesellschaft persönlich kannten: Auch in diesen Fällen wurde ad personam entschieden, doch erhöhte man jenen Witwen, die in „ihrem“ cottage bleiben durften, die Mieten, um die Eigentumsrechte des adeligen Besitzers unmissverständlich zu unterstreichen.18 Das Alter der cottages, ihr häufig heruntergekommener Zustand und massive Überbelegungen – acht, zehn oder mehr Menschen in nur einem Raum – ließen die Unterkünfte der ländlichen Unterschichten zu einem Thema für die lokale wie nationale Öffentlichkeit werden. Die ersten, die am Ort auf unzureichende sanitäre Bedingungen hinwiesen, waren die nuisance officers. Über sie klagte etwa der 19. Earl of Shrewsbury: „Why is Mellard [der nuisance officer] always at Ingestre estate?“19 Auch Thomas Bennett beschwerte sich über einen medical officer, der es sich nicht habe nehmen lassen, so lange Maßnahmen anzumahnen, bis sie endlich zu seiner persönlichen Zufriedenheit ausgefallen seien.20 Auf fast allen Gütern wurden daher cottageOrdnungen erlassen, die hygienische Zustände gewährleisten sollten.21 An den Überbelegungen, die eine Konsequenz des Wohnungsmangels waren, konnten sie jedoch ebenso wenig ändern wie die Berichte der lokalen rural sanitary authorities.22 Doch nicht nur den Lokalverwaltungen war bewusst, dass die Lebensumstände der Landarbeiter häufig außerordentlich ungünstig waren. Auch das Journal der Royal Agricultural Society brachte bereits in den 1850er Jahren eine Serie, die sich u. a. 18 Ingestre estate diaries, Einträge z. B. vom 20.2., 13.4. und 5.8.1874. CROSt: D 240/E/C/4/3 sowie z. B. aus dem Vorjahr vom 27.3., 23.4., 31.10. oder 30.11.1873. Ebd.: D 240/E/C/4/2. 19 Ingestre estate diaries, Eintrag vom 13.2.1874. Ebd.: D 240/E/C/4/3. 20 Schreiben Bennett an Healy vom 8.3.1843. BaLARS: R 3/4682. 21 Auf den Bedfordschen Gütern finden sich solche Regularien seit dem Jahre 1848 (und bis 1925) als Teil der Cottage Agreements. Ebd.: R 5/547-R 5/549. Zusätzlich hat sich eine Regelung über die cottages des Bezirks Woburn vom 1.6.1869 erhalten, die dem foreman die Oberaufsicht über die Einhaltung zuweist. Ebd.: R 4/202/4. Inhaltlich weitgehend identisch, jedoch undatiert die „Rules and Regulations to be observed by the tenants of the Wolseley Garden Allotment“ der Earls of Shrewsbury. CROSt: D 240/N/9/18. 22 Siehe dazu z. B. die Minutes of Cheadle Rural Sanitary Authority der Jahre 1872–1888. CROSt.: 1425/1/1 oder die Jahresberichte der Bedford Rural Sanitary Authority. ��� BaLARS: R 4/940. Für die ländlichen Regionen sind die Bemühungen der medical und nuisance officers bisher noch kaum untersucht worden. Lange Zeit standen bei der Behandlung dieser Fragen nur die Hauptstädte im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Die Fallstudie von Christopher Hamlin für die Jahre 1873/74 konzentriert sich nun auf Orte jenseits der Hauptstädte in England und Wales und kommt zu dem Ergebnis, dass es geradezu so etwas wie einen „sanitary activism“ gegeben habe, dass aber beträchtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen und Städten bestanden, wobei vor allem die Größe und der Typus der Stadt eine bedeutende Rolle spielten. Christopher Hamlin: Sanitary Policing and the Local State, 1873–1874. A Statistical Study of English and Welsh Towns; in: Social History of Medicine 18/2005, S. 39–61.

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diesem Thema widmete. Über die cottages der labouring poor in Oxfordshire hieß es hier etwa: „Many of which have only one bedroom. So long as this is the case ministers may preach, and the legislature may pass sanitary measures, but the moral and physical contagion will be unchecked. Parents and children, grown boys and girls, are huddled together in the same room, nay, sometimes in the same bed – a state of things destructive of all sense of decency and self-respect. It is very well for cholera committees to abolish noisome cesspools and filthy pigstigs, but a more prolific source of infection is found in every overcrowded bed-room.“23 Die Grafschaft war damit keine Ausnahme, denn auch über weitere counties war Ähnliches zu lesen, so über das weiter nordöstlich gelegene Lincolnshire: „A greater part of the cottages are small, low, and incommodious; the interior is generally damp, and ill-ventilated, and parents, sons and daughters are frequently crowded into a single sleeping room.“24 Die Schuldigen waren schnell ausgemacht: „Parish and pro­ prietors … wish to keep down the population in their respective parishes, with a view of having less poor rate to pay. … In the neighbourhood of Kirton-in-Lindsey there is again the same lack of cottages, the owners neither building nor repairing them, because they would be obliged to support the families which might settle there.“25 Der Autor sparte nicht mit Kritik an einer solchen Praxis: „This practise is not only disgraceful, but impolitic; for how are the labouring population to respect and honour the higher classes under such treatment as this? … It is unwise and imprudent, because the farmers also suffer by it; the men will not go to the more distant occupations, until every source fails them nearer home and distress obliges them to this extra toil, so that hands are often scarce in remote situations.“26 Die Kritik an den Missständen wurde schon bald zu einem Thema, das nicht nur Agrarkreise beschäftigte.27 So zog zum Beispiel S. G. Finney gegen die adeligen Gutsbesitzer zu Felde und machte sie für den moralischen Verfall ganzer gesellschaftlicher Gruppen verantwortlich: „He who exalts his hunter and dogs, and debases his peasantry, by permitting them to live in bad localities, in low-built, unventilated, damp 23 Clare Sewell Read: Farming of Oxfordshire. Prize Report; in: Journal of the Royal Agricultural Society 15/1854, S. 189–276, S. 265. 24 John Algernon Clarke: Farming of Lincolnshire. Prize Report; in: Journal of the Royal Agricultural Society 12/1851, S. 259–424, S. 407f. 25 Ebd., S. 409. 26 Ebd., S. 410. 27 Zu den Kritikern gehörte auch der schon zuvor zitierte Adam Badeau, Angehöriger der US-amerikanischen Botschaft: „The great majority of cottages is wretchedly built, often on very unhealthy sites, miserably small, very low, badly drained. … They are fit abodes for a peasantry pauperized and demoralized by the utter helplessness of their condition. … The worst things I have told are neither exceptional nor rare. … I wonder what would be the end – and how long it would be deferred – of the aristocracy of England.“ Badeau, Aristocracy, S. 235ff.

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tenements, with not a room for each sex, is a debaser of human nature; for what is the use of a clergyman, or any one [sic!] else, preaching morality to a family who cannot be separated when they retire to rest, but brothers and sisters from five to twenty years of age, all sleeping in one room. No preaching, no threats of hereafter, will ever overcome such a demoralising system as this.“28 Insgesamt wiederholen sich die Versatzstücke dieses Diskurses.29 An erster Stelle stand nicht die alltägliche Not der Landarbeiter und ihrer Familien, sondern das Anprangern eines moralischen Missstandes, getragen vom Streben nach der für die viktorianische Zeit so typischen respectability, die sich mit offenkundigen Hinweisen auf Sexualität und die fehlende Trennung der Sphären für die Geschlechter schlecht vertrug.30 Zumeist wurde diese Kritik mit der Befürchtung verbunden, dass die erzieherische Kraft der Geistlichen nachlasse und dass die Landarbeiter den Respekt vor den sozial Höhergestellten verlören. Die fehlende Schicklichkeit der Unterkünfte konnte außerdem auch ökonomische Konsequenzen haben. Doch ganz im Vordergrund der Diskussion stand die morality. Es dauerte bis in die späten Jahre des 19. Jahrhunderts, bis adelige landlords sich öffentlich gegen die Vorwürfe zur Wehr setzten. Manche hatten sich auch vorher schon durchaus selbstkritisch mit dem Zustand der cottages auseinandergesetzt, wie etwa der 7. Earl of Shaftesbury. Er musste, als er seinem Vater als Inhaber des strict family settlements folgte, voller Schrecken erkennen, dass er zwar, getragen von evangelikalem Eifer, öffentlich gegen den Verfall von Landarbeiterunterkünften gewettert 28 S. G. Finney: Hints to Landlords, Tenants and Labourers. Or, what Landlords ought to do, what Tenants can do, and what Labourers would do, if allowed with the Agricultural Balance Sheet, London 1860, S. 36. 29 In diesen Zusammenhang gehören zum einen auch Empfehlungen, wie ein cottage zu bauen sei, so dass es den moralischen Anforderungen genüge. Siehe dazu z. B. C. Bruce Allen: Cottage Building; And Hints for Improved Dwellings for the Labouring Classes, London 1866, zum anderen die schon angesprochene umfangreiche Berichterstattung der königlichen Kommissionen, die sich mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft befassten und natürlich auch Daten zu den Unterkünften erhoben. Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture, BPP 1867–1872 und Royal Commission on Labour. The Agricultural Labourer. England, BPP 1893/94, Bd. XXXV. 30 Zur respectability grundlegend Asa Briggs: The Age of Improvement 1783–1867, London 1979² und F. M. L. Thompson: The Rise of Respectable Society. A Social History of Victorian Britain 1830–1900, London 1988. Siehe außerdem auch Hoppen, MidVictorian Generation, S.  64–72 sowie Alun Howkins: Poor Labouring Men. Rural Radicalism in Norfolk 1872–1923, London 1985, S. 33 (zu den Methodisten und der respectable working class). Ferner Janet Howard: Gender, Domesticity, and Sexual Politics; in: Matthew, History, S. 163–193, S. 163–170 und „Victorian Values“. Arm und Reich im viktorianischen Zeitalter, hrsg. v. Bernd Weisbrod, Bochum 1988.

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hatte, ihm dabei jedoch der Zustand jener auf den Familienbesitzungen entgangen war, die ebenfalls der Instandsetzung bedurften.31 Die wirklichen Verteidigungsschriften erschienen jedoch erst zu einem Zeitpunkt, als sich die Bedingungen einigermaßen gebessert hatten, was sowohl an den Investitionen der Gutsbesitzer in die cottages lag32, als auch daran, dass kurz vor der Jahrhundertwende die Zahl derer, die in der Landwirtschaft arbeiteten und untergebracht werden mussten, merklich zurückgegangen war. Henry Herbert Smith, langjähriger chief agent des Marquess of Lansdowne und einer der renommiertesten Verwalter seiner Zeit, ging 1898 in seinem Buch über die Prinzipien der Gutsverwaltung gar zum Gegenangriff über: Der materielle Wohlstand des Landarbeiters habe sich enorm verbessert, verglichen mit der Situation fünfzig Jahre zuvor. Er sei nun besser untergebracht, besser gekleidet, besser ernährt und habe mehr Geld, das er nach seinen Wünschen ausgeben könne, als jemals in der gesamten Geschichte seiner Existenz. Trotz dieser vielen Verbesserungen sei er aber ruhelos und unzufrieden. Von überall her höre man Klagen über die merkliche Verschlechterung der Arbeitsqualität, denn es gehe den Landarbeitern nur noch darum, möglichst hohe Löhne für die geringste Menge einer angenehmen Tätigkeit zu erhalten.33 In diesem Zusammenhang kam Smith auch auf das Management von cottages zu sprechen. Es sei nicht nur außerordentlich teuer, sondern erfordere auch ein beträchtliches Maß an Umsicht. Gerade, wenn cottages erneuert werden müssten, hagele es von allen Seiten Kritik: Sollten Unterkünfte abgerissen werden, weigere sich die Bevölkerung umzuziehen 31 ���������������������������������������������������������������������������������������� Hodder, Life, Bd. 3, S. 367. Der Graf übernahm den väterlichen Besitz bereits 1851. Seine Tagebuchaufzeichnungen, in denen er sich mit seinem politischen Leben, aber auch mit der Situation auf den Gütern auseinandersetzte, ließ er erst 1887 veröffentlichen. Immerhin notierte er darin am 24.5.1853, dass er sich entschlossen habe, alte Gemälde aus dem Familienbesitz zu verkaufen, um cottages in Stand setzen lassen zu können: „It is far better“, so schrieb er, „to have well-inhabited cottage property, people in decency and comfort, than to have well-hung walls which persons seldom see, and almost never admire unless pressed to do so.“ (Ebd., S. 452). An Shaftesburys gutem Willen, sich der Unterkünfte anzunehmen, kann wenig Zweifel bestehen, doch auch er klagte nur einen Monat nach dem zitierten Eintrag, am 29.6.1853: „To build cottages is nearly as ruinous as to guild your saloons; it is an enormous expenditure, and no rent. A pair of cottages cost me four hundred pounds, and the rent I receive from them is ₤ 2 10 s., or at most ₤ 3, for each cottage, garden included.“ (Ebd., S. 453). Dennoch ließ er trotz der Ausgaben auf seinen Gütern auch mehrere Schulen bauen und schaffte das sogenannte truck-system ab, wonach Landarbeiter ausschließlich mit Waren und nicht mit Geld bezahlt wurden, wie es auch in Fabriken nicht selten praktiziert wurde, was er ebenfalls öffentlich scharf kritisiert hatte. Ebd., S. 368ff. 32 Zu jenen adeligen Landbesitzer, die in cottages investierten, siehe Roberts, Paternalism, S. 133f. 33 Henry Herbert Smith: The Principles of Landed Estate Management, London 1898, S. 29f.

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und lamentiere laut, sie werde verjagt. Geschehe aber nichts, und befänden sich die cottages daher in schlechtem Zustand, sehe sich der Besitzer Vorwürfen der Vernachlässigung ausgesetzt. So oder so, er habe kaum die Chance, dass seinen Bemühungen Gerechtigkeit widerfahre.34 Auch der 11. Duke of Bedford suchte der eigenen Sicht Gehör zu verschaffen und betonte, dass er keine befriedigendere Form der Philanthropie für den Besitzer eines großen Landgutes kenne, als die Bereitstellung von guten cottages, auch wenn dies einen „beträchtlichen finanziellen Verlust“ bedeute.35 Es war Teil nicht nur seiner Legitimationsstrategie, dass der Adel, anders als der nur an Profitmaximierung interessierte Kapitalist, seine Arbeitskräfte nicht ausbeute, sondern dass er sich in paternalistischer Weise um seine „Schutzbefohlenen“ kümmere und damit dem allgemeinen Wohl diene. Entsprechend rechtfertigte der Herzog sich (und seine Standeskollegen) 1897 damit, dass er, obwohl die Landwirtschaft nur noch mit Verlusten verbunden sei, von keiner der Verpflichtungen Abstand genommen habe, die mit dem Besitz großer Güter einhergingen. Er sei derjenige, „who obtained nothing from it, [and] was only recompensed by the feeling that he was instrumental in maintaining a system which in the past has added, and in the present is still adding, to the welfare of thousands.“36 An anderer Stelle wurde der Duke noch deutlicher: „The owner is … the principal loser by the mere fact of responsible possession“37, denn mit rein ökonomischem Denken sei weder die Finanzierung von Kirchen oder Schulen zu vereinbaren noch die Zahlung von „Pensionen“ an lang gediente Arbeitskräfte. Alle diese Maßnahmen kämen aber nicht nur den Betroffenen, sondern mittelbar auch dem Staat und der Gesellschaft zugute, müssten doch andernfalls die Kommunalsteuern erhöht werden, um diese Aufgaben durch die Allgemeinheit finanzieren zu lassen.38 Bilanziert man die öffentliche Debatte um die Landarbeiterunterkünfte, so standen bürgerliche Werte wie morality und respectability, die für das viktorianische Zeitalter typisch waren, in ihrem Mittelpunkt. In den Hochzeiten des Protestes gegen die Missstände blieben agrarische Kreise jedoch auffällig still und meldeten sich erst gegen Ende des Jahrhunderts, als die Situation sich in verschiedener Hinsicht gebessert hatte, zu Wort. Stellvertretend für die adeligen Gutsbesitzer ist hier der 11. Duke of Bedford zitiert worden. Gerade angesichts der umfangreichen cottage-Baumaßnahmen seiner Familie konnte er darauf verweisen, dass der Adel wisse, was die Landarbeiter brauchten (zum Beispiel keine zwei Wohnzimmer) und dass sie dies gerade vom grundbesitzenden Adel erhielten, trotz der damit verbundenen großen finanzi34 Ebd., S. 108–111. 35 A. H. Russell, Duke of Bedford: A Great Agricultural Estate. Being the Story of the Origin and Administration of Woburn and Thorney, London 1897, S. 81 und S. 83. 36 Ebd., S. 2. 37 Ebd., S. 56. 38 Ebd., S. 101ff.

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ellen Verluste. Auch stellte der Duke in seiner Verteidigungsschrift die Nützlichkeit adeliger landlords für die gesamte ländliche Gesellschaft heraus; für die Landarbeiter, weil er ihnen Arbeit gebe und sie unterbringe, für alle anderen, weil er deren Lokalsteuern dadurch senke, dass er aus eigenen Mitteln für Maßnahmen aufkomme, die sonst aus den rates zu zahlen wären. Anders ausgedrückt: Der Hochadel verfolgte aktiv eine auf die ländliche Gesellschaft zielende Vergesellschaftungsstrategie. Gleichzeitig ist das Bemühen um Aufrechterhaltung der Differenz gegenüber dem Bürgertum erkennbar, wie dies ähnlich auch am Beispiel des adeligen Industrieengagements beschrieben worden ist39: Der Adel zeichne sich nicht durch reines Profitdenken aus, wie dies für die Bourgeoisie typisch sei, sondern er könne über einen langen Zeitraum nachweisen, dass er zum Wohlergehen der Bevölkerung beigetragen habe. Unausgesprochen schwingt hier mit, dass jedes neue „System“ erst einmal zeigen müsse, dass es bei gleichen Kosten leistungsfähiger sei. Bei aller öffentlichen Diskussion, in deren Mittelpunkt – das sei noch einmal hervorgehoben – die Hebung der respectability und nicht die Beseitigung sozialer Missstände stand, blieb die Lösung, der cottage-Bau, privater Natur. F. M. L. Thompson, einer der besten Kenner der englischen ländlichen Gesellschaft, kommt daher auch zu dem Ergebnis, dass die neu gebauten Unterkünfte bis zur Jahrhundertwende nicht mehr als fünf Prozent der Landarbeiterfamilien zugutekamen40; dies immer vor dem Hintergrund, dass die Beschäftigungszahlen im Agrarsektor in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückläufig waren. Ähnliche Muster, wie die hier geschilderten, wird auch das folgende Kapitel beschreiben, das sich einem weiteren Konfliktfeld in der Arbeitswelt der Güter und den dort üblichen Praktiken zuwendet: Dem Umgang mit dem Alkohol. 3.1.2 Alkohol

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Bier ein normaler Bestandteil der täglichen Verpflegung von Landarbeitern, mit Extra-Zuteilungen zu den Erntezeiten.41 Auch 39 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.1. 40 F. M. L. Thompson: Landowners and Rural Community; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 457–474, S. 470f. 41 Siehe dazu z. B. die Artikel im Journal of the Royal Agricultural Society aus den 1850er Jahren, speziell Liam Bearn: On the Farming of Northamptonshire, Prize Report; in: Journal of the Royal Agricultural Society 13/1852, S. 44–113. Bearn spricht davon, dass „a quart per day“ eine normale Menge gewesen sei. Ebd., S. 89. In Dorsetshire waren dagegen für Männer, die Mäharbeiten ausführten, zwei Gallonen am Tag ein übliches Maß. Louis H. Ruegg: Farming of Dorsetshire, Prize Report; in: Journal of the Royal Agricultural Society 15/1854, S. 389–454, S. 445. Siehe mit Blick auf Staffordshire auch Currie,

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die Verwalter waren sich dessen bewusst, dass diese Zuteilungen erwartet wurden und als Belohnung hoch geschätzt waren: „Nothing does so much good as giving a little beer.“42 Auch wurden um diese Zeit nicht selten dem Bierkonsum noch positive Seiten abgewonnen. So hieß es etwa im Journal der Royal Agricultural Society aus dem Jahre 1854: „There are many operations of agriculture in which beer is doubtless of much service to the labourer; it washes down the dust, quenches the thirst, cheers him, and stimulates his flagging energies. A moderate quantity will do all this, while an excess makes him drowsy and unfit for work.“43 Das entscheidende Problem war in dieser Wahrnehmung noch nicht die Versorgung auf den Feldern, sondern vielmehr das unkontrollierte Trinken in den Kneipen: „This miserable infatuation produces wretchedness, poverty, and crime.“44 Auch wenn die Bierzuteilungen nicht unmittelbar nach der Jahrhundertmitte abgeschafft wurden45, so wurde exzessiver Alkoholkonsum doch zunehmend schärfer geahndet. Landarbeiter, die ihren Pflichten nicht nachkamen, weil sie getrunken hatten, wurden nun entlassen.46 Auch Pächter sahen sich stärker damit konfrontiert, Agriculture 1793–1875, S. 120 sowie allgemein D. J. Oddy: Food, Drink and Nutrition; in: The Cambridge Social History of Britain, 1750–1950, hrsg. v. F. M. L. Thompson, 3 Bde, Bd. 2, Cambridge 1990, S. 251–278 und Brian Howard Harrison: Drink and the Victorians. The Temperance Question in England 1815–1872, Keele 1994², S. 300. Oddy verweist darauf, dass angesichts der weitverbreiteten Verunreinigung von Gewässern nicht nur in der unmittelbaren Umgebung der Industriebetriebe die Vorstellung bestand, Wasser müsse mit Alkohol zu Desinfektionszwecken versetzt werden und dass daher dem Bierkonsum eine besondere Bedeutung zugekommen sei. Oddy, Food, S. 264f. 42 Schreiben Bennett an Healy vom 25.5.1846. BaLARS: R 3/5098. 43 Read, Oxfordshire, S. 264. Auch in einem Werk über die cottage-Ökonomie aus dem Jahre 1848 wird noch deutlich, dass das Bierbrauen zu den selbstverständlichen häuslichen Tätigkeiten gehörte. �������������������������������������������������������������� Siehe dazu William Cobbett: Cottage Economy. Containing Information Relative to the Brewing of Beer, Making of Bread, Keeping of Cows, Pigs, Bees, Ewes, Goats, Poultry and Rabbits, and Relative to Other Matters Deemed Useful in the Conduction of the Affaires of a Labourer’s Family, Hartford 1848. 44 Read, Oxfordshire, S. 264. 45 Die königliche Kommission, die sich mit Kinder- und Frauenarbeit befasste, hielt in ihren Berichten fest, dass auch Jungen ab einem Alter von zehn oder zwölf Jahren bereits die „übliche Bierzuteilung“ erhielten. Siehe dazu die Erhebungen für die Kirchengemeinde Woburn aus dem Jahre 1868 im Rahmen der Tätigkeit der Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture. BaLARS: R 4/895/2. 46 ������������������������������������������������������������������������������������� Am 20.2.1870 z. B. entließ der Verwalter des Marquess of Londonderry, Mr. Yeoman, einen Stallknecht mitten in der Nacht, als er feststellte, dass dieser wegen Trunkenheit die Pferde nicht versorgt hatte. CROD: D/Lo/C 621. Siehe auch das Kündigungsschreiben für einen Kutscher, den der Sohn der Marquess in betrunkenem Zustand gesehen hatte, vom 7.1.1894. CROD: D/Lo/C 352, Bl. 401. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reichte auf den Bedfordschen Gütern bereits der Besuch einer Kneipe während der Dienstzeit,

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dass adelige landlords nicht nur ihren Bierkonsum eingeschränkt sehen wollten47, sondern auch den ihrer Familienangehörigen48. Um dieses Ziel zu erreichen, drohten Gutsbesitzer ihren Pächtern mit dem Verlust der Höfe.49 Wessen Lebenswandel in dieser Hinsicht nicht untadelig war, hatte keine Chance, überhaupt für eine Pacht in Frage zu kommen.50 „Strictly sober and strictly honest“51 zu sein, wurde immer mehr zu einer unumgehbaren Einstellungsvoraussetzung. Aus Sicht der adeligen Gutsbesitzer ließ sich der Alkoholkonsum auf verschiedene Weise bekämpfen. Neben die Reduzierung oder Abschaffung der Bierzuteilungen trat das Verbot, in den Gutsdörfern Kneipen zu eröffnen. Höchst empört reagierte der 19. Earl of Shrewsbury auf die Anfrage, ob er eine „refreshments booth“ auf seinem Gut Alton während des Flower Show Day erlaube. Er lehnte mit dem Hinweis ab, dass er das Trinken verhindern und nicht unterstützen wolle.52 Eine solche Haltung war unter adeligen landlords durchaus verbreitet und führte dazu, dass es bis zur Jahrhundertwende in der Mehrzahl der closed villages keine Kneipen gab53; auch unabhängig von der Menge des tatsächlich getrunkenen Alkohols, zur Kündigung. Siehe das diesbezügliche Schreiben des Verwalters Hall vom 14.1.1909. BaLARS: R 4/25. 47 In einem Schreiben vom 21.10.1871 berichtete der Verwalter Yeoman dem Marquess of Londonderry über sein Gespräch mit einem Pächter, John Butler. Dieser war sich bewusst, dass ihm die Kündigung drohte, weil er immer wieder zur Flasche griff. Doch legte in diesem Fall der Verwalter für den Pächter ein gutes Wort bei seiner Lordschaft ein, denn Butlers Vater sei ebenfalls ein Pächter gewesen, Butler jun. habe die Farm wesentlich verbessert und wenn er nüchtern sei, sei er der ruhigste, höflichste und gutartigste Mensch. Yeoman schloss mit der Bitte, ihm noch eine letzte Chance zu geben. CROD: D/Lo/C 621. 48 Seinem Pächter R. Smith aus Swanston ließ Lord Chetwynd-Talbot bestellen, dass er „notice to quit“ erhalte, wenn sich sein Vater noch einmal, Tag oder Nacht, auf dem gepachteten Hof aufhalte. Auch hier war Alkohol der Grund, der seine Lordschaft zu der Einschätzung kommen ließ, Smith sen. sei ein Mann von schlechtem Charakter. CROD: D/Lo/C 352, Bl. 398. 49 Siehe z. B. CROD: D/Lo/C 621 und D/Lo/C 352, wobei Pächter (im Gegensatz zu Landarbeitern) offensichtlich wenigstens eine Chance bekamen, ihren Lebenswandel zu ändern, bevor die Kündigungsdrohung vollstreckt wurde. 50 ������������������������������������������������������������������������������������� So wurde der verwitweten Pächterin Mrs. Haskell nahegelegt, einen Hof aufzugeben, obwohl sie diesen mit ihrem verstorbenen Mann 19 Jahre lang gut bewirtschaftet habe, da sie dazu allein aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, ihre Söhne aber als Pächter nicht Frage kämen, weil sie „unsteady men“ [Unterstreichung i. O.] seien; auch dies ein Hinweis auf die Neigung zum Alkoholkonsum. Schreiben des Verwalters Yeoman vom 6.9.1870. CROD: D/Lo/C 621. 51 Aufzeichnung des Verwalters Micklejohn vom 4.2.1901. CROD: D/Lo/C 352. 52 Anfrage im Alton estate diary vom 19.6.1873, ablehnende Antwort vom 28.6.1873. CROSt: D 240/E/C/4/4. 53 Howkins, Reshaping, S. 22 und S. 26. Zu den mit dem Alkoholkonsum einhergehenden Ritualen und zu seiner sozialen Bedeutung, etwa der Symbolisierung der Aufnahme oder

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dies ein Grund, warum viele Landarbeiter die langen Fußmärsche aus den offenen Dörfern zur Arbeit in Kauf nahmen und sich dieses bisschen Freiheit im wahrsten Sinne des Wortes erliefen. Manche Gutsbesitzer beließen es nicht bei Bemühungen, den Alkoholkonsum zu unterbinden, sondern boten, wie die Dukes of Bedford, die sich auch hier als „Musterpaternalisten“ zeigten, in den sogenannten temperance drinks Ersatz an.54 Bis sich Kaffee und Tee als solche durchsetzten, dauerte es jedoch einige Zeit. Während der Großgrundbesitzer Charles Lawrence beides als gesünder und preiswerter als Bier pries55, beklagte der Walpole-Bericht56 die veränderten Ernährungsgewohnheiten im Norden Englands. Der Berichterstatter Henley zitierte „erfahrene Zeugen“, die bestätigten, dass es nun die Arbeitskraft von drei Männern brauche, wo früher zwei ausreichend gewesen seien und begründete dies folgendermaßen: „The change of food of the working people is deteriorating their physical health and strength. It appears that this

Beendigung einer ökonomischen, rechtlichen oder sozialen Beziehung, siehe z. B. Oddy, Food, S. 265f. und Harrison, Drink, S. 44. Insgesamt ist das Phänomen jedoch eher für frühere Zeiten, als die hier untersuchten, oder mit Blick auf die Industriegesellschaft behandelt worden. Siehe dazu z. B. The World of the Tavern. Public Houses in Early Modern Europe, hrsg. v. Beat Kümin und B. Ann Tlusty, Aldershot 2002, Peter Clark: The English Alehouse. ������������������������������������������������������������������� A Social History, 1200–1830, London/New York 1983 oder mit vergleichendem Blick auf die Industriereviere Manchester und Aachen Gunther Hirschfelder: Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700–1850). Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, 2 Bde, Köln 2003f. Eine Betrachtung des Alkoholkonsums in der ländlichen Gesellschaft, gar noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist dagegen selten. Siehe dazu jedoch Regina Schulte: Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Oberbayern 1848–1910, Reinbek 1989, S.  66f., wo sie darauf verweist, dass auch in den Wirtshäusern die sozialen Strukturen der ländlichen Gesellschaft ihre Abbildung, etwa in den Ehrenplätzen, fanden und dass einer Brandstiftung häufig nicht nur ein Besuch in einem Wirtshaus vorausging, sondern dass es sich bei den Tätern auch vielfach um Männer handelte, die zuvor aus der Dorf- und Wirtshausgemeinschaft herausgefallen waren und die sich auf diese Weise rächten. 54 Schreiben der Verwaltung der Park Farm an den chief agent Benson vom 21.7.1884, dass der Duke einen Bericht angefordert habe, ob temperance drinks angeboten worden seien und ob sie Anklang gefunden hätten. BaLARS: R 4/932. Eine Antwort auf diese Anfrage ist leider nicht überliefert. 55 Charles Lawrence: To my Labourers on the Economy of Food and the Real Sources of Bodily Strength with some Suggestions for their Improvement, London 1860, S. 10f. 56 Die diversen königlichen Kommissionen setzten sich aus verschiedenen Teilkommissionen zusammen, die Erhebungen für die einzelnen Regionen zusammentrugen. Der WalpoleBericht basiert auf den Ergebnissen solcher Teilkommissionen der Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture.

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undesirable change has arisen since coffee, tea and sugar have become lower in price and more attainable by the working class.“57 Als typischer erwies sich jedoch die Broschüre von Charles Lawrence, der versuchte, „seinen“ Landarbeitern ernährungswissenschaftliche Grundlagen zu vermitteln, um auf diese Weise die Vorstellung zu bekämpfen, dass starkes Bier jene Körperkräfte verleihe, auf die es in der Landwirtschaft ankomme.58 Über den Erfolg dieser Ausführungen in der „Zielgruppe“ darf man Zweifel haben, schrieb doch der Verfasser selbst: „I do not expect that many of you would understand the valuable information“59, die in Tabellen mit ernährungswissenschaftlichen Daten zu einzelnen Lebensmitteln enthalten sei, aber es gebe in jeder Gemeinde einen Geistlichen, der gern bereit sei, sie zu erläutern. Mehr noch: „Our advice to you is not mere matter of opinion, about which people may differ, but is founded on absolute proofs which, in the main, cannot be disputed.“60 Weitere Passagen belegen, dass auch diese Schrift primär als Herrschaftsmittel intendiert war: „We believe you to be honest, well conducted, and well intentioned; but we must in truth add, you are thoughtless, and careless of consequences (the common fault of persons in your position,) and that your services are not, therefore, so valuable as they might be, and ought to be.“61 Und: „We wish to see amongst labourers a more earnest desire for improvement, and to mend their condition by becoming, thereby, more generally useful.“62 Bedenkt man dann noch die Maximen, mit denen die Schrift schloss, wie etwa: „There are no gains without pains“ oder „Better go to bed supperless, than rise in debt“63, dann muss man sich keinen Illusionen über die Aufnahme dieser Broschüre hingeben. Zitiert worden ist sie hier dennoch in einer gewissen Ausführlichkeit, weil sie im Stil und in der Argumentation Gemeinsamkeiten mit der zuvor geschilderten Diskussion über die cottages aufweist. Das erste, was ins Auge springt, ist der stark paternalistische Tonfall in volksaufklärerischer Absicht; Landarbeiter wurden wie Kinder wahrgenommen, die der Leitung sozial höhergestellter Klassen bedurften. „Erzogen“ werden sollten sie zu vernünftigen, umsichtigen64 Menschen, die den Anforderungen der viktorianischen Gesellschaft an respectability und morality genügten, in diesem 57 Walpole-Bericht, Teilbericht Henley für Northumberland; in: BPP 1867, Bd. XVII, S. 414. 58 Lawrence, Labourers, S. 7f. 59 Ebd., S. 13. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 17. 62 Ebd., S. 18. 63 Ebd., S. 20f. 64 Siehe zu den Werten des viktorianischen Zeitalters Matthew, History, S. 2–10 und S. 132f. sowie Ian Bradley: The Call to Seriousness. The Evangelical Impact of the Victorians, London 1976.

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Sinne nützlich waren und sich ständig bemühten, sich zu bessern.65 Anders ausgedrückt: Es ging, ähnlich wie dies zum Beispiel auch schon mit Blick auf das „Vererben“ von cottages geschildert wurde, um das Austreiben von eigensinnigen Praktiken, zu denen in den Augen der adeligen Arbeitgeber auch der Bierkonsum gehörte. Eigensinnige Praktiken, vor allem ländlicher Unterschichten, aber auch der Pächter, waren „Rückzugsgebiete“ dieser Menschen, in denen ihre Eigenlogiken zum Tragen kamen. Als solche standen sie den Herrschaftsansprüchen des Adels sowie seiner Neigung zur Profitmaximierung bei der Bewirtschaftung der Güter entgegen. Anders als die cottages, deren Neubau und Unterhalt ein teures Unterfangen war, ließ sich der Alkoholkonsum jedoch mit deutlich geringerem finanziellen Aufwand bekämpfen. Noch eine weitere Gemeinsamkeit verbindet die Konfliktfelder „cottages“ und „Alkoholkonsum“: Das Bestehen einer öffentlichen Auseinandersetzung darüber, der sich der Adel jedoch weitgehend erfolgreich entzog. In diesem Fall wurde sie vor allem von der temperance-Bewegung getragen, die, scheinbar ähnlich den adeligen Bestrebungen, die Abstinenz von alkoholischen Getränken in der Bevölkerung durchsetzen wollte. Sie entstand in den 1830er Jahren vor allem in den Industrieregionen Englands als eine Form der self-help, und dies besonders dort, wo die dissenters ihre Hochburgen hatten. Vielen ihrer frühen führenden Mitglieder gelang über die Abstinenzler-Bewegung der soziale Aufstieg, so dass sie in den 1870er und 1880er Jahren als white-collar-class Teil der respectable society geworden waren.66

65 In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn in Woburn auf die Frage der Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture, mit welchen Mitteln eine Erhöhung des Schulbesuches zu erreichen wäre, eine Antwort lautete: „If the men give up drinking as a habit no legislative interference would be necessary. Encourage industry and economy and then you have an antidote to vicious & idle habits.“ Copy of circular of enquiries with return made for Woburn Parish, Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture 1868. BaLARS: R 4/895/1. 66 Lilian Lewis Shiman: Crusade against Drink in Victorian England, Houndsmill/London 1988, S. 244–247. Zur temperance-Bewegung siehe außerdem Harrison, Drink, v. a. S. 28, S. 95, S. 140ff., S. 159 und S. 280–288. Die Abstinenzler-Bewegung war keine rein englische Angelegenheit, sondern auch in Irland sowie in den USA bekannt. Siehe dazu z. B. John F. Quinn: Father Mathew’s Crusade. Temperance in Nineteeth-Century Ireland and Irish America, Amherst 2002. Ausgehend von der temperance-Bewegung in den USA plädiert Jürgen Martschukat für eine gouvernementale Geschichte des Rausches bzw. des Alkohols, um zu untersuchen, auf welche Weise der Alkoholkonsum, der als Verkörperung von Unvernunft, Untugend und Kontrollverlust gerade weißer Männer gesehen wurde, staatlicher- wie gesellschaftlicherseits bekämpft wurde. Jürgen Martschukat: Feste Bande lose schnüren. „Gouvernementalität“ als analytische Perspektive auf Geschichte; in: ZF 3/2006, S. 277–283.

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In ländlichen Regionen dagegen fand die temperance-Bewegung nur wenig Anklang.67 Hier blieben die Selbsthilfestrukturen schon deshalb deutlich schwächer ausgeprägt, weil die typischen Trägerschichten aus dem Kreis der Nonkonformisten fehlten, da gerade auf den landwirtschaftlichen Gütern dissenting chapels nur in seltenen Ausnahmefällen geduldet wurden. Auch betrachtete der englische Hochadel, der mit wenigen katholischen Ausnahmen der Church of England angehörte, die temperance-Bewegung wegen ihrer engen Verbindung zu den Nonkonformisten außerordentlich skeptisch. Dies galt auch für die Church of England selbst, die aus genau diesem Grund bis in die 1870er Jahre hinein das Engagement einzelner ihrer Geistlichen zugunsten der Abstinenzler ahndete. Eine eigene National Union for the Suppression of Intemperance gründete die Staatskirche erst in eben diesen Jahren.68 In ihren Reihen fanden sich dann auch einige Hochadelige, doch blieb deren Zahl zunächst beschränkt, wie der zweite Jahresbericht von 1873 zeigte, als der Union nur die beiden Marquesses of Exeter and Hertfort angehörten, sowie der Earl of Shrewsbury (von dem wir bereits im Zusammenhang mit seinem Protest gegen das Aufstellen einer refreshments booth gehört haben), außerdem die Earls of Shaftesbury, Mar, Russell und Brownlow.69 Erst die Jubiläumsfeier fünfzehn Jahre später zeigte, dass die hochkirchliche Union zur Mäßigung des Alkoholkonsums in der Mitte des adeligen wie kirchlichen Establishments angekommen war, übernahmen nun doch mehrere adelige Frauen die Schirmherrschaft über den Wohltätigkeitsbasar dieser Veranstaltung.70 Alle diese Aktivitäten und auch private Äußerungen von hochadeligen Tagebuchschreibern71 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abstinenz-Bewegung auf dem Lande schwach blieb.72 So verfügte selbst die Agricultural Labourers’ Wages 67 68 69 70 71

Shiman, Crusade, S. 244f. und Harrison, Drink, S. 148. Shiman, Crusade, S. 45–57. Jahresbericht für 1873. CROSt: D 240/H/19. Shiman, Crusade, S. 108. Siehe dazu etwa den frustrierten Tagebucheintrag des Earls of Derby vom 24.4.1878, nachdem er einen Tag als Gerichtsherr in Kirkdale im Rahmen der dortigen sessions verbracht hatte: „Another trait of English manners. A decent sort of artisan, a printer, comes to a little fortune … & passes the day in various public houses treating everybody who will drink with him. Naturally before the end of the day he is dead drunk & is robbed. But what a notion of pleasure! & none of the witnesses seemed to think the proceeding other than ordinary & natural. I could not but make the old remark: that in 9 cases out of 10 drink was at the bottom of the mischief. It hardly ever happens that a sober man is robbed by a sober man: at least among the persons who come before these sessions.“ Vincent, Diaries, S. 8. 72 ��������������������������������������������������������������������������������� Als Beispiel mag neben dem schon geschilderten Befund von Shiman, dem sich grundsätzlich auch Oddy anschließt (Oddy, Food, S. 266), die folgende Episode dienen: In den verschiedenen Komitees des local government waren Abstimmungen, gar solche, die knapp

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Bill von 1887 nur: „Every farmer or other employer of labour paying to any farm labourer or servant in husbandry, not [Hervorhebung T. T.] residing or boarding with his or her employer, wages or portion of wages in beer, cider, or other intoxicating liquors, shall be liable to a penalty not exceeding twenty shillings for the first offence, and not exceeding forty shillings for the second and subsequent offences.“73 Mit der Bindung der Strafbarkeit an den Wohnort der Landarbeiter war praktisch nur der Ausschank von alkoholischen Getränken an Bewohner der open villages strafbar. Der gutsbesitzende Adel konnte somit, ungeachtet einer von der temperance-Bewegung in den Städten getragenen Diskussion um die respectability, weiterhin Alkoholkonsum als alltägliche Praktik ländlicher Gruppen nach eigenem Gutdünken etwa zu Erntezeiten dulden wie auch dort bestrafen, wo es ihm im Sinne der Durchsetzung seiner Herrschaft nützlich erschien. 3.1.3 Landarbeitergewerkschaften

Die beiden vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, wie stark adelige Herrschaft das mögliche Handeln anderer Gruppen der ländlichen Gesellschaft vorstrukturierte, indem der Adel in alltägliche Praktiken eingriff, Eigenlogiken und damit Eigensinn möglichst zu unterbinden suchte und mit ökonomischen Mitteln „Privatheit“ als Raum, in den seine Herrschaft nicht reichte, zumindest in den Gutsdörfern unterband. Grundsätzlich ähnliche Muster wird auch dieses Kapitel zeigen, das sich mit den zumeist kurzlebigen Landarbeitergewerkschaften befasst. Agricultural unions bildeten sich besonders in Ost- und Südengland in den 1870er Jahren.74 Eine ihrer Hochburgen war Norfolk, wo die Gründungen eine Art Vorläuferphase seit den 1830er Jahren aufwiesen. Nachdem hier weder Aufruhr

ausgingen, die große Ausnahme. Als Rev. A. H. Talbot, ein Verwandter des 19. Earls of Shrewsbury (der gleichzeitig 4. Earl of Talbot war), jedoch am 23.1.1893 in einer Sitzung des Lunatic Asylum Committee in Stafford vorschlug, dass in dem neu errichteten Irrenhaus an nicht [!] arbeitende Insassen kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden sollte, kam es darüber in der Abstimmung zu einem deutlich engen Ergebnis, denn sein Vorschlag wurde mit 11 zu 9 Stimmen angenommen. CRDSt: CC/B/11/1. 73 BPP 1887, Bd. I. 74 J. P. D. Dunbabin: Rural Discontent in Nineteenth Century Britain, London 1974, S. 74. Wenig Verbreitung fanden sie dagegen im Norden Englands, auch wenn hier der Nonkonformismus, gerade unter den Bergleuten, stark vertreten war, weil einerseits die Löhne auch in der Landwirtschaft höher waren als im Süden und Osten des Landes und andererseits das living-in, siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.4, noch weit verbreitet war, was beides Arbeitskonflikten entgegenwirkte bzw. für spezifische Formen der Konfliktmoderierung sorgte.

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noch Brandstiftung die ländlichen Armen in die Rechte einer moral economy75 wieder eingesetzt hatten, suchten die Betroffenen nach einer neuen Inspirationsquelle und fanden sie im Nonkonformismus, besonders bei den Primitiven Methodisten. Am Zensussonntag von 1851 stellten sie immerhin 15 % der Gottesdienstbesucher englandweit und sahen sich als eine Minderheit, die sich im Kampf mit ihrer Umwelt befand. So hieß es in einem ihrer meist gesungenen Kirchenlieder: „Dare to be a Daniel, Dare to stand alone, Dare to have a purpose true, Dare to make it known.“ Besonders zu den farmern und landlords standen die Primitiven Methodisten in Opposition; es ist fast unnötig zu wiederholen, dass sie ihre chapel nicht auf Gutsbesitz errichten durften, sondern auf die open villages angewiesen waren. Hier bildeten diese jedoch Orte einer alternativen Kultur, die Bedürfnisse nach Spiritualität, Gemeinschaft und Geselligkeit bedienten, die andernfalls unerfüllt geblieben wären. Festzuhalten gilt es auch, dass sich gerade unter den Laienpredigern der Primitiven Methodisten viele Landarbeiter bzw. ehemalige Landarbeiter befanden, die sich in diesem Kreis eine bessere Bildung sowie organisatorische Fähigkeiten aneignen konnten und in Strukturen eingebunden wurden, die über das enge Umfeld des Dorfes hinausreichten76 – alles Qualifikationen, die sie für die Übernahme von Aufgaben in den Landarbeiterorganisationen prädestiniert sein ließen. Neben diesen Voraussetzungen lassen sich eine Reihe Faktoren auf nationaler wie lokaler Ebene benennen, die die Bildung von Gewerkschaften in den 1870er Jahren beförderten. Der Rückgang von Kriminalität und die Etablierung von unions im städtisch-industriellen Umfeld, speziell deren Kampf 1871/72 für den 9-StundenTag, gehörten dazu ebenso wie der Ausbau des Eisenbahnnetzes, die zunehmende Verbreitung der penny post und die Reduzierung ländlicher Abgeschiedenheit durch das Wirken von Emigrationsagenten.77 Auf lokaler Ebene kam zum Beispiel in Norfolk hinzu, dass hier viele Landarbeiter über das bereits beschriebene gang system beschäftigt wurden. Weite Wege zur Arbeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse mit niedrigen Löhnen und lange Zeiten der Arbeitslosigkeit waren daher für sie genauso charakteristisch wie, angesichts eines Nebeneinanders von offenen und geschlossenen Dörfern, die weitverbreitete Zugehörigkeit zum dissent. Dies wiederum schloss Landarbeiter weitgehend von der Wohltätigkeit adeliger landlords und örtlicher Geistlicher aus.78 Angesichts dieser Bedingungen waren Arbeitsaussetzungen zu den Erntezeiten oder gar Streiks keine Seltenheit und traten besonders zwischen 1870 und 1895 häufig auf. Gerade in diesen Jahren wurde meist auch der Ruf nach gewerkschaftlicher Organisation laut. Die unions basierten somit auf den Praktiken lokaler ländlicher 75 76 77 78

Siehe hierzu ebenfalls die Ausführungen in Kapitel 2.4. Howkins, Men, S. 40–45. Hier auch das Zitat aus dem Kirchenlied. Dunbabin, Discontent, S. 73f. Howkins, Men, S. 8f.

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Auseinandersetzungen, fanden in ihnen ihre Verankerung, gingen ihnen jedoch nicht voraus.79 Angesichts der Lokalität dieser Konflikte blieb aber auch die Gewerkschaftsbewegung in Süd- und Ostengland ein lokales Phänomen, nicht zuletzt weil ihre wirksamste Organisationseinheit, die chapel, eine lokale Institution war.80 Zu überregionaler Bedeutung gelangte dagegen die Warwickshire Union unter der Leitung des wohl bekanntesten ländlichen Gewerkschaftsführers seiner Zeit, Joseph Arch.81 Auch Arch gehörte den Primitiven Methodisten an. Aus seiner Gründung wurde 1872 die National Agricultural Labourers’ Union, die Ende des Jahres bereits 40.000 Mitglieder zählte, auf ihrem Höhepunkt 1874 gar 80.000. Angesichts dieser organisatorischen „Macht“ gelang es ihr, Lohnerhöhungen durchzusetzen.82 Doch der schnell erreichte Höhepunkt verweist auch auf die Kurzlebigkeit dieser gewerkschaftlichen Bemühungen. Adelige Landbesitzer und Pächter reagierten 1874 mit Aussperrung sowie mit verstärkter Mechanisierung und stimmten sich in ihrem Vorgehen eng untereinander ab, so dass sich die Streikkasse der Gewerkschaft schnell leerte.83 Besonders hart traf die streikenden Landarbeiter, dass es sich bei den Aussperrungen nicht selten um solche „for life“ handelte84, so dass ihnen nur die Migration blieb. Auf diese Notsituation reagierte die Union, indem sie eigene Emigrationsagenten einschaltete, wodurch sie jedoch dazu beitrug, ihre Anhängerschaft zu verringern.85 Es erstaunt nicht, dass es unter diesen Bedingungen innerhalb der Landarbeiterbewegung zu Auseinandersetzungen kam, die zu Spaltungen und Ausgründungen führten. Dies jedoch verschärfte die Situation für ihre Mitglieder auch deshalb weiter, weil der Organisationsgrad, der schon zu Hochzeiten nie mehr als 50 % erreicht 79 Ebd., S. 28f. 80 Ebd., S. 34. 81 Der Gewerkschaftsführer verfasste eine Autobiographie, die unter dem Titel Joseph Arch: The Story of His Life Told by Himself, London 1898, erschien. 82 Howkins, Reshaping, S.185f. und Dunbabin, Discontent, S. 75. Siehe grundsätzlich auch Pamela Horn: Labour Organizations; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London 1981, S. 580–590 sowie J. P. D. Dunbabin: The Revolt of the Field; in: Past and Present 26/1963, S. 68–96, ders.: The Incidence and Organisation of Agricultural Trades Unionism in the 1870s; in: AHR 16/1968, S. 114–141, und, aus regionalem Blickwinkel, Minute Book of the Oxford District of the National Agricultural Labourers’ Union, reprinted as Agricultural Trade Unionism in Oxfordshire, 1872–1881, hrsg. v. Pamela Horn, für die Oxfordshire Record Society, Bd. 48, Oxford 1974 sowie als frühe Publikation Reg Groves: Sharpen the Sickle! The History of the Farm Workers’ Union, London 1949. 83 Howkins, Reshaping, S. 187f. sowie ausführlich zu Norfolk ders., Men, S. 57–79. Zu den Aussperrungen siehe auch F. Clifford: The Agricultural Lock Out of 1874, Edinburgh/ London 1975. 84 Howkins, Reshaping, S. 109f. 85 Dunbabin, Discontent, S. 82.

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hatte, nun weiter absank, so dass landlords und farmers nach wie vor auf ein ausreichend großes Arbeitskräftereservoir zurückgreifen konnten. Schließlich war es dann die Agrardepression, die die gewerkschaftliche Organisation von Landarbeitern bis zur Jahrhundertwende zum Erliegen kommen ließ.86 Abgesehen von der Agrarkrise, die in diesem Fall den Herrschaftsinteressen des grundbesitzenden Adels förderlich war, war es vor allem seine ökonomische Macht als ländlicher Arbeitgeber, die es ihm ermöglichte, sich mit Hilfe der Aussperrungen in Aushandlungsprozessen mit streikenden Landarbeitern durchzusetzen. Hinzu kam die Tatsache, dass die Gewerkschaftsgründungen fast durchgängig auf nonkonformistischen chapel-Strukturen aufruhten, diese jedoch in den geschlossenen Dörfern der großen adeligen Güter so gut wie nicht existierten. Damit soll nicht gesagt sein, sie hätten hier keine Sympathien genossen, aber es fehlte an Möglichkeiten, diese wirkmächtig auszudrücken, und, was noch wichtiger gewesen sein dürfte, die „Kosten“ solcher Sympathiebekundungen wären außerordentlich hoch gewesen, wie die Ausführungen im vorvergangenen Kapitel zu cottages und „Kombilöhnen“ als adeligen Herrschaftsinstrumenten gezeigt haben. Man kann also auch in diesem Zusammenhang festhalten, dass adelige Herrschaft das Verhalten dörflicher Bevölkerungen zwar nicht zu bestimmen vermochte, deren Handlungsoptionen aber in einer Vielzahl von Fällen zumindest vorstrukturierte bzw. die Wahlmöglichkeiten angesichts von drastischen Konsequenzen einschränkte. Bei all ihren Maßnahmen gegen die unions wussten sich die adeligen Gutsbesitzer nicht nur mit den Pächtern einig, mit denen sich die Gelegenheit zur Vergesellschaftung von Interessen ergab, sondern sie hatten auch die Hochkirche auf ihrer Seite. Antiklerikalismus war unter den nonkonformistisch organisierten Gewerkschaften und im ländlichen Radikalismus weit verbreitet. Hier spielte vor allem eine Rolle, 86 Ebd., S. 76–79. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts belebte sich die Landarbeiterbewegung wieder. Siehe dazu Howkins, Men, S. 80–104. Ihren Durchbruch erzielte sie jedoch fast überall erst nach dem Ersten Weltkrieg (ebd., S. 154–175), so auch in Mittelengland, z. B. in Staffordshire. Currie, Agriculture 1875–1975, S. 146. Erst im späten 19. Jahrhundert nahmen sich auch politische Parteien der Belange von Landarbeitern an, vor allem die Liberalen. Siehe dazu Patricia Christine Lynch: The Liberal Party in Rural England, 1885– 1910. Radicalism ������������������������������������������������������������������������� and Community, Oxford 2003. In manchen Regionen, wie dem ländlichen Shropshire, wo der dissent schwach war, gelang es jedoch auch den Konservativen, in der Zwischenkriegszeit die Unterstützung der Landarbeiter zu gewinnen. Ein gemeinsames gemäßigtes Anglikanertum sowie ländliche Vergemeinschaftsstrategien (wie Paternalismus, Fuchsjagden und Gedenken an die Opfer des Krieges), die auch die Bauern bzw. Pächter einschlossen, brachten den Torries hier Stimmengewinne. Siehe dazu Nicholas Mansfield: Farmworkers and Local Conservatism in South-West Shropshire, 1916–1923; in: Mass Conservatism. The Conservatives and the Public since the 1880s, hrsg. v. Stuart Ball und Ian Halliday, London 2002, S. 36–57. Für das Funktionieren dieser Vergesellschaftung führt Mansfield explizit kulturelle Faktoren an. Ebd., S. 36.

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dass die örtlichen Geistlichen meist in einem engen Verhältnis zum lokalen Adel standen, vor allem wenn dieser die jeweiligen Patronatsrechte innehatte.87 Außerdem spielten die Geistlichen in den Dörfern eine zentrale Rolle bei den public charities, der Handhabung des Armenrechtes und in den Dorfschulen – Institutionen, die von ihnen in einer Art und Weise betreut wurden, die der Aufrechterhaltung der tradierten sozialen Ordnung dienten.88 Der Hochkirche wiederum war nicht nur die nonkonformistische „Konkurrenz“ als solche ein Dorn im Auge, sondern unionism und temperance-Bewegung mit ihren wechselseitigen Beziehungen schienen ihr auch im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der überlieferten Ordnung bedrohlich.89 Nur sehr wenige anglikanische Geistliche unterstützten daher die Landarbeiterbewegung.90 Typisch war vielmehr die Aussage des Bischofs von Oxford auf dem Annual Church Congress in Bath 1873: Die Geistlichkeit verfüge nicht über die Kenntnisse, die es brauche, um die Höhe von Löhnen benennen zu können, und selbst wenn sie sie hätte, wäre keine Seite an ihre Vorschläge gebunden. Schließlich, und das war für den Bischof zentral: „To regulate wages is not the proper business of the Church of Christ.“91 Die anglikanische Hochkirche wie die gutsbesitzende Aristokratie waren bestrebt, die Landarbeiterorganisationen wo immer möglich zu unterbinden, da sie in ihren Augen konkurrierende Ordnungsmodelle verfochten. Angesichts seiner starken Position als ländlichem Arbeitgeber gelang dies dem Adel auf seinen Gütern durch die Aussperrungen bis in das späte 19. Jahrhundert hinein weitgehend. Anders jedoch sah die Situation in den Industriebetrieben und Bergwerken92 aus. Hier musste der Adel, wenn auch sozusagen zähneknirschend, die unions dulden.93 Ungeachtet dessen zeigt sein Umgang mit den Arbeitern ähnliche paternalistische Züge, wie wir sie auch mit Blick auf die Landarbeiter beobachten konnten. So ereiferte sich etwa der 3. Marquess of Londonderry 1843 in einem offenen Brief an streikende Bergleute in seinen Gruben, sie seien „stupid“, „insane“ und „beaten“. Schlimmer noch: „I found you … indifferent to my really paternal advice and kindly feelings.“94 87 88 89 90

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Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 4.2.3. Dunbabin, Discontent, S. 248. Ebd., S. 251. Zu den seltenen Ausnahmen gehört Rev. Girdlestone, der sich an seinem Einsatzort in Devon für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen von Landarbeitern einsetzte und im Gegenzug den Unwillen der Pächter wie auch der Kirchenobrigkeit zu spüren bekam. Heath, Peasantry, S. 145–157. Zitiert nach ebd., S. 240. Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.1. Zum Umgang adeliger Industrieunternehmer mit den Gewerkschaften siehe z. B. Ward, West Riding Landowners, S. 65 (am Beispiel der Earls Fitzwilliam) sowie auch Mee, Enterprise, S. 187–190. Zitiert nach Roberts, Paternalism, S. 135.

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Unter seinem Enkel, dem 6. Marquess of Londonderry, hatte sich der Tonfall geändert, doch das paternalistische Gedankengut bestand genau wie fünfzig Jahre zuvor. Wie sein Großvater vor ihm war auch er überzeugt, dass eine Gesellschaft dann am besten funktioniere und soziale Verwerfungen zu vermeiden seien, wenn Männer von Autorität, Besitz und Stand ihren Verpflichtungen denen gegenüber nachkämen, die mit ihnen in einer Gemeinschaft lebten und ihnen durch Ehrerbietung verbunden waren. Die Autorität sollte in dieser Weltsicht Kontrolle und Ordnung gewährleisten, die hierarchische Gliederung Menschen ihren Platz in einer Welt zuweisen, in der Gleichberechtigung keine Rolle spielte. Gedacht war diese Welt als Summe organischer Einheiten der Güter, Dörfer und Gemeinden, die in den Augen des paternalistischen Adels zwar nicht frei von Leiden und auch Ungerechtigkeit wären, aber doch „persönlichere“ und „wärmere“ Orte als die von den Kapitalisten dominierten Städte.95 „At the heart of a paternalist’s hierarchical outlook“, so David Roberts, 95 ����������������������������������������������������������������������������������� Ebd., S.  8 und S.  275. Siehe grundsätzlich auch A. P. Thornton: The Habit of Authority. Paternalism in British History, London 1964 sowie Andreas Rödder: Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne (1846–1868), München 2002. Zentral für den viktorianischen Konservatismus dieser Jahre war nach Rödder die Auseinandersetzung mit dem radikalen Liberalismus, die in zentraler Weise über den beiderseits reklamierten Anspruch auf die societas civilis geführt wurde. Dieses genuin vormoderne Konzept habe in seiner sozial und inhaltlich ausgeweiteten Form eine konstitutive Bedeutung für die Konservativen behalten. Ebd., S.  39. Dazu führt Rödder aus, dass die Gesellschaft nach dieser Vorstellung tradiert, organisch, hierarchisch und in weitgehend staatsfernen Einheiten verfasst sein sollte, da ihr dies Beständigkeit und Dauerhaftigkeit verleihe. Hieraus resultierte die Wertschätzung lokaler Organe und ihrer Selbstverwaltung. Den aristokratischen Großgrundbesitzern kam die Aufgabe der sozialen Führung zu, denn ihr Eigentum verleihe ihnen materielle, geistige und moralische Unabhängigkeit, auch verfügten sie über die notwendige Bildung und Muße. Die sozialmoralische Verpflichtung des Hochadels äußere sich in seiner uneigennützigen Gemeinwohlorientierung, auf die die Masse der Bevölkerung mit Ehrerbietung zu antworten habe. Ebd., S. 222–229 und S. 272–278. Mit Blick auf Deutschland siehe zum Paternalismus auch Werner Rösener: Adelsherrschaft als kulturelles Phänomen. Paternalismus, Herrschaftssymbolik und Adelskritik; in: HZ 268/1999, S. 1–33, wobei der Schwerpunkt von Röseners Ausführungen in der Vormoderne liegt, doch weist er auch darauf hin, dass die von ihm geschilderten Praktiken auch in die Moderne hineinwirkten. Ähnlich wie Rösener argumentiert auch Robert M. Berdahl: „Paternalismus lieferte den Rahmen und die Ideologie für Autorität in Gesellschaften, in denen sowohl eine enge psychische Nähe als auch eine große soziale Distanz zwischen den Beherrschten und ihren Herren bestand.“ Robert M. Berdahl: Preußischer Adel. Paternalismus als Herrschaftssystem; in: Preußen im Rückblick, hrsg. v. Hans-Jürgen Puhle und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1980, S. 124–145, S. 124. Auch Berdahl denkt hier eher an das 18. und frühe 19. Jahrhundert, doch lässt sich nicht nur für England und Böhmen, sondern auch für Preußen zeigen, dass zumindest „paternalistische Attitüden“ durchaus weiterhin bestanden und Teil jener Strategien waren, mit de-

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„is a strong sense of the value of dependency, a sense that could not exist without those who are dependent having an unquestioned respect for their betters.“96 Es waren genau diese Vorstellungen, die John Stuart Mill den Paternalismus als „theory of dependence“97 geißeln ließen. Aller Konkurrenz der Gewerkschaft zum Trotz wünschte auch der 6. Marquess „seine“ Bergleute nach Möglichkeit in eben dieser Abhängigkeit zu halten, als er ihnen nach der Beilegung des vier Monate dauernden Silworth Streik 1891 erklärte, dass er den Streik bedauere, da es dafür keine wirklichen Gründe gegeben habe und die Männer nur um die Gelegenheit gebracht worden seien, gutes Geld zu verdienen. Jetzt jedoch gelte es, jene „friendly relations that have hitherto always existed“ wiederherzustellen, denn sie seien „absolutely essential for the benefit of those whose interests are identical (as must ever be the case with employer and employed) to work together on terms of perfect harmony.“ Um dieses Ziel zu erreichen, appellierte er an die Bergleute, sie mögen in einem zukünftigen Fall von Meinungsverschiedenheiten „not hesitate to communicate their views to me personally“ und versicherte ihnen „that such a course on their part will ensure my deepest sympathy, and their request shall receive every possible consideration; for I am convinced that to ensure that perfect harmony and good feeling to which I have alluded, it is the duty of a large employer to, as far as in his power lies, be in complete touch with the men in his employ.“98 Anders als noch sein Großvater war der 6. Marquess of Londonderry nicht harsch im Umgang mit den streikenden Bergleuten und behandelte sie auch nicht (mehr) wie Kinder. Unvermindert hielt er jedoch an den paternalistischen Zielen einer „perfekten Harmonie“ und vor allem einer „organisch strukturierten Gesellschaft“ fest, die keine intermediären Strukturen der Interessenvertretung wie Gewerkschaften brauchte, da sie auf Vertrauen99 gegründet sei. Dieses speise sich aus direktem Kontakt und väterlichem Kümmern sowie aus identischen Interessen.

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nen der grundbesitzende Adel versuchte, seine Herrschaft auch nach der Abschaffung von Privilegien aufrechtzuerhalten. Siehe dazu Christiane Eifert: Paternalismus und Politik. Preußische Landräte im 19. Jahrhundert, Münster 2003. Sie verweist darauf, dass der Begriff des Paternalismus in analytischer Hinsicht jedoch problematisch sei, da er sich einer Operationalisierung entziehe, so dass sie seine Verwendung eher als deskriptive Kategorie empfiehlt; wie dies in den obigen Ausführungen ja auch geschieht. So Roberts, Paternalism, S. 3, der sich lange Jahre mit dem Phänomen des Paternalismus in England befasst hat. John Stuart Mill: Principles of Political Economy, London 1885, S. 456. Adresse des Marquess of Londonderry vom 26.3.1891. CROD: D/Lo/X 45. Vertrauensappell und Paternalismus passten im Weltbild des Marquess gut zusammen, beschreibt Vertrauen doch eine Haltung, in der der Vertrauende einer anderen Person die Sorge um eine Sache überlässt, die ihm besonders wichtig ist. In der Sprache des 18. Jahrhunderts bedeutete Vertrauen zu haben, dass man „seine Wohlfahrt zuversichtlich von dem anderen“ erwartete und hoffte, „Gutes zu erhalten“. Siehe zur Begriffsbestimmung

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Wenn auch diese Strategien auf den adeligen Industriebesitzungen angesichts der gewerkschaftlichen Organisation wenig erfolgreich waren, so finden sich hier doch jene argumentativen Versatzstücke wieder, mit denen der Adel auch seine Herrschaft in der ländlichen Welt zu legitimieren suchte: Der direkte Kontakt, der zum Kennen zwischen den Betreffenden führte und dem Adeligen individuelle Entscheidungen in der Form „väterlicher“ Fürsorge ermöglichte sowie die Betonung der gemeinsamen Interessen. Dies war insofern für den Adel leicht zu behaupten, als die typischen Konflikte in der Landwirtschaft lokalen Charakter hatten, und die Gutsbesitzer durch die Bekämpfung der unions zu verhindern suchten, dass diese sie als Beispiele struktureller Ausbeutung in überregionalem oder gar nationalem Ausmaß deuteten. Indem also adelige Gutsbesitzer verhinderten, dass sich die Landarbeiter überregional organisierten, vermieden sie nicht nur wie im Falle der cottages oder auch der temperanceBewegung eine überregionale öffentliche Diskussion über einen Missstand in der ländlichen Welt, sondern sie erhielten auch ihre lokale Herrschaft aufrecht und als solche ist Adelsherrschaft in dieser Untersuchung ja stets angesprochen worden, als Herrschaft auf den Gütern und in ihrem direkten Umfeld.

3.2 Böhmen Im Gegensatz zu England entzündeten sich in Böhmen die „typischen“ Konflikte zwischen dem Adel und den verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft nicht am Zustand der cottages, am Alkoholkonsum oder an den Bemühungen von Landarbeitern, sich gewerkschaftlich zu organisieren, sondern vielmehr an der Frage der Deputate, der Waldnutzung sowie der Rechte an Wasser oder Kies. Mit den dahinterliegenden Mustern werden sich nun die folgenden Teilkapitel beschäftigen. 3.2.1 Deputate

Der typische Alltagskonflikt auf böhmischen Gütern drehte sich um Deputate, darum, wem sie in welcher Höhe und Qualität zustanden, wie sie im Rahmen der Gutsverwaltungen abzurechnen waren und wie sich Deputate überhaupt mit einer an Effizienz und Gewinn orientierten Bewirtschaftung der adeligen land- und forstwirtschaftlichen Betriebe vertrugen. Die Konflikte um die Deputate waren allgegenwärtig, weil es die Zuteilungen in vielerlei Formen gab, so zum Beispiel als Weizen-, Gerste-, Hafer-, Kartoffel-, Bier-,

von Vertrauen Ute Frevert: Vertrauen. Eine historische Spurensuche; in: Vertrauen. Historische Annäherungen, hrsg. v. ders., Göttingen 2003, S. 7–66, S. 8f.

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Milch-, Brennholz- oder als Fahrdeputate.100 Auch bargen sie deshalb viel Potential für Streitfälle, weil sie – im Grundsatz – allen Gruppen von Beschäftigten zustanden. Das Gesinde hatte ein Recht auf Holzzuteilungen für die Gesindestube101, gestaffelt nach den verschiedenen Hierarchiestufen gehörten für die Verwaltungsbediensteten Zuteilungen an Getreide, Kartoffeln, Milch und Brennholz als Vertragsbestandteil zu ihrer Entlohnung; dies übrigens durchgängig bis zum Ersten Weltkrieg.102 Spezielle Gruppen erfreuten sich weiterer Vergünstigungen. So kam das Brauereipersonal in den Genuss von Bierdeputaten103, den Domänenärzten standen sogenannte Fahrdeputate zu.104 War schon grundsätzlich die Logistik und Abrechnung all dieser Zuteilungen für die verschiedenen Gruppen nicht unkompliziert, so gab es eine Art von Deputaten, die geradezu prädestiniert für das Hervorrufen von Schwierigkeiten war: Die Milchund Sahnedeputate. Die Probleme entstanden zum einen dadurch, dass es sich angesichts der Verderblichkeit von Milch und Sahne um tägliche Deputate handelte, während lagerfähige Produkte, wie Getreide, Kartoffeln und vor allem Brennholz, nur einmal im Jahr in der bezugsberechtigten Gesamtmenge ausgefolgt wurden. Da Milch und Schmetten jedoch täglich bei den Schaffern geholt werden konnten, ließen die Hausfrauen nicht selten „anschreiben“, wenn sie einmal mehr oder weniger 100 ������������������������������������������������������������������������������� Umfangreiches Material mit Bezug auf die Schwarzenbergsche Besitzung Orlík findet sich z. B. für die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem Bestand SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852 und ebd., kart. 855. 101 Siehe z. B. den Direktionsbericht für die Herrschaft Worlik vom 6.7.1864. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. Dem Bericht ging eine Inspektion voraus, die eine Herabsetzung der Holzzuteilung „auf das angemessene Maß“ vorschlug. Dafür regte die Güterinspektion einen neuen Antrag auf der Basis dessen an, was in den vergangenen fünf Jahren an Holz verbraucht worden sei. „Mehrere Dirnen“ wurden ferner in dem Bericht ausdrücklich für ihren sparsamen Umgang mit Brennholz gelobt. 102 Siehe die verschiedenen Verträge der Gutsverwaltung Neuhaus vom 6.10.1897 und vom 21.4.1910, die die Deputate für Hofknechte, Schaffer und Wirtschaftsinspektoren ausweisen. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: II JH 14, Spisy, kart. 6. 103 Siehe z. B. die diesbezügliche Anweisung des Grafen Czernin an das Oberamt Neuhaus vom 29.4.1870. Der zum 1.5.1870 neueingesetzte Braumeister Franz Moural, der seinem Vater auf diesem Posten folgte, erhielt neben seinen jährlichen Bezügen Naturalien in Form von Getreide, Butter, Salz, Karpfen, Bier, Brennholz sowie eine Unterkunft samt Obstgarten. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1425. Auch hieran kann man ablesen, wie wichtig die Erträge aus der Bierproduktion für die Grafen Czernin waren. 104 ����������������������������������������������������������������������������������� Zu den Fahrdeputaten der Ärzte auf den Czerninschen Gütern siehe z. B. die Instruktionen der Wirtschaftsverwaltung vom 27.5.1908 und vom 22.5.1911. Nachdem der Arzt zunächst Hafer und Heu für den Unterhalt von Pferden erhalten hatte, wurde diese Regelung wieder aufgegeben, und er hatte nun das Recht, sich von der Domänendirektion und vom Forstamt entweder Kutsche und Pferd zur Verfügung stellen oder sich von ihnen zu seinen Patienten fahren zu lassen. Beide Dokumente ebd.

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als die ihnen zustehende Menge brauchten.105 Angesichts der Vielzahl der Beschäftigten auf böhmischen Gütern war diese Praxis eine schier unerschöpfliche Quelle für Fehler und Konflikte.106 Doch damit nicht genug: Auch die Abrechnung dieser stets schwankenden Mengen im Rahmen der Gutsverwaltungen war häufig so kompliziert107, dass hierin eine weitere Fehlerquelle lag. Gleichzeitig öffnete die Verzwicktheit des Procederes aber auch Aneignungen Tor und Tür, die sich in der allgemeinen Unkenntnis des Reglements gut verstecken ließen.108 Ohne die tätige „Mithilfe“ von Schaffern und Gutsverwaltungsbediensteten waren weder Aneignungen noch Veruntreuungen möglich. Auch wenn die Gutsinspektionen dagegen vorzugehen suchten, so waren ihre Handlungsoptionen insgesamt eher beschränkt. Ein Mittel bestand darin, die Deputate an die durchschnittliche

105 ���������������������������������������������������������������������������������� Diese Praxis stand auch am Anfang des großen Veruntreuungsskandals auf dem Schwarzenbergschen Gut Orlík, von dem bereits im Zusammenhang mit der Notwendigkeit zur Kontrolle der vielen Angestellten auf den böhmischen Gütern (Kapitel 2.2) die Rede gewesen ist. Vortrag des Wirtschaftsinspektors von Worlik, 14.8.1867. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. 106 Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel 2.2. 107 Grundsätzlich waren Deputate an die durchschnittlichen Jahresproduktionsmengen z. B. von Milch oder Holz gebunden. Darauf beruhte die sogenannte Passierung, das Ansetzen eines Wertes für den Verbrauch, der dann an Deputaten ausgefolgt wurde. Weit verbreitet, aber nicht überall erlaubt war es, dass die Nutznießer der Zuteilungen ihre nicht verbrauchten Deputate verkauften, obwohl sie sie hätten zurückgeben müssen. Es gab also, zumindest verwaltungstheoretisch, einen Unterschied zwischen ausgefolgten und tatsächlich verbrauchten Deputaten. Letztere wurden reluiert, d.  h. es wurde ihnen ein buchmäßiger Wert zugeschrieben, der dann über bestimmte Gebühren in der Gesamtbuchführung des betreffenden Gutes von den dortigen Einnahmen abgezogen wurde – insgesamt ein Verfahren, das, wie schon gesagt, an verschiedenen Stellen für Fehler, auch unbeabsichtigte, Aneignungen sowie für Veruntreuungen anfällig war. Siehe zum Verfahren z. B. den Vortrag des Wirtschaftsinspektors von Worlik, 14.8.1867. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. 108 Auch dies zeigt das Beispiel des eben erwähnten Veruntreuungsskandals aus dem August 1867 eingängig, ohne dass es sich dabei um einen Einzelfall handelte. Auch die Monatsberichte sind voll von Hinweisen, entweder seitens der Güterinspektion oder seitens der adeligen Besitzer, dass gerade die Reluitionen nicht korrekt angesetzt wurden. Davon betroffen waren nicht nur Milch-, sondern auch alle anderen Deputate. So ereiferte sich wiederum der Wirtschaftsinspektor von Worlik am 15.8.1865, dass die „von der Herrschaftsdirektion praecise gegebenen Vorschriften auch praecise befolgt“ werden müssten. In diesem Fall konnte der Inspektor die Ablösung von Holzgebühren nicht bestätigen und drohte, dass „der Herr Direktor Holzverrechner die Sperrung seines Gehalts zu gewärtigen hat“, wenn er die bestehenden Vorschriften nicht umgehend in Anwendung bringe. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852.

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jährliche Milchleistung zu koppeln109, also ein Anreizsystem zu schaffen, so dass steigende Milchmengen zu höheren Deputaten führten. Durchschlagender Erfolg war solchen Maßnahmen jedoch zumeist nicht beschieden: Im August 1865 sah sich Karl III. Fürst Schwarzenberg veranlasst, in einem Zirkular an alle (!) seine Herrschafts- und Gutsverwaltungen zu bemängeln, dass die Milcherträge der Meiereien „selbst sehr bescheidenen Ansprüchen nicht“ genügten, und er daher Veruntreuung annehmen müsse. Schwarzenberg forderte eine deutliche Verbesserung der Überwachung des Melkvorgangs und entließ wiederholt Schaffer, deren Meiereien keine ausreichend hohen Erträge abwarfen.110 Wirklich beseitigt werden konnte das Problem dadurch jedoch nicht. Auch waren es nicht nur die Schaffer, denen Veruntreuungen und Regelwidrigkeiten vorgeworfen wurden. Eine Revision auf Orlík im Sommer 1867 ergab zum Beispiel, dass insgesamt zehn Beamte und Bedienstete aufgrund von falsch bestimmten Jahresdurchschnittswerten um ein Drittel zu hohe Milchdeputate in Anspruch genommen hatten. Bereits in einer ersten Revision war dies aufgefallen und die Betreffenden angewiesen worden, Ersatz zu leisten. Angesichts der beträchtlichen Beträge versuchten sie den Fürsten zu überzeugen, dass es sich keinesfalls um Veruntreuung handele, sondern dass ihnen nicht bewusst gewesen sei, dass das Abrechnungsreglement, wie sie schrieben, rückwirkend anzuwenden sei (die Revision hatte ergeben, dass der erhöhte Milchbezug sich bereits auf zwei zurückliegende Jahre erstreckte). Ferner habe der Fürst „gewiss nicht die Absicht, die Diener in ihrem Einkommen zu schmälern“, zumal es „dem niederen Personale in den gegenwärtigen schweren Zeitverhältnissen … hart fiele“ für die Verluste aufzukommen, und im Übrigen „der Beweis einer faktischen Milchübernahme schwer zu liefern wäre.“ Damit waren die Schaffer ins Spiel gebracht, die nach Ansicht der zehn Unterzeichner gegebenenfalls regresspflichtig seien. Der Fürst möge daher gnädigst seine Zustimmung zu der eingereichten Passierung geben.111 Das Schreiben führte zu einer weiteren Revision, die ergab, dass die Schaffer in diesem Fall keine Schuld traf, wie der Orlíker Gutsinspektor feststellen musste: „Es will angenommen werden, dass die Herrschaftsdirektion von der Loyalität alles des109 Zirkular des Fürsten Schwarzenberg an seine Herrschafts- und Gutsverwaltungen, 2.8.1865. Ebd. 110 Ebd. Entlassungen kamen natürlich auch im Zusammenhang mit dem bereits mehrfach erwähnten großen Orlíker Veruntreuungsskandal vom August 1867 vor. Ebd. Zu Entlassungen kam es auch auf den Waldsteinschen Gütern, wenn die Meierhöfe nicht genügend Gewinn abwarfen und die Grafen Misswirtschaft bzw. Veruntreuung am Werk sahen. Siehe z. B. den entsprechenden Eintrag in das Obrigkeitliche Verordnungsbuch vom 17.3.1854. SOA Praha: RAV 286. 111 ������������������������������������������������������������������������������������ Hohe Resolution vom 24.7.1867 mit der Bitte des fürstlichen Dienstpersonals um Behebung der Rechnungsmängel in Bezug der Milchpassierung, abschriftlich im Wirtschaftsbericht Worlik vom 20.10.1867, betr. Dienstpersonal. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852.

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sen, was sie in vorliegendem Berichte zu sagen sich getraute, überzeugt war; es will ferner angenommen werden, dass Abschriften im Text angeführter Erlasse absichtslos nicht [Unterstreichung i. O.] beigelegt wurden; es will ferner angenommen werden, dass die irrige Verfassung der Milchdurchschnittsberechnung – dadurch veranlasst, dass nicht die Zahl der eingestellten, sondern nur der gemolkenen Kühe zur Basis genommen wurde – keine absichtliche Fälschung war; es kann aber nicht angenommen werden, dass die Herrschaftsdirektion die Ansätze der mittels Resolution vom 30. April 1859 Z. 1269 herabgelangten Besoldungs- und Deputats-Tabelle ignorierte, und zwar schon darum nicht, weil die durch diese Tabelle erfolgten Gehaltsregulierungen by Gehaltserhöhungen in Verrechnung gelangten.“112 Der Gutsinspektor, von dem man angesichts der verschiedenen Skandale annehmen darf, dass ihm seine Aufgaben nur begrenzt Vergnügen bereiteten, hielt daher mit fürstlicher Billigung an der Forderung nach finanziellem Ausgleich für den überhöhten Bezug von Milchdeputaten fest.113 Wie dieses Beispiel zeigt, hatten die Schaffer in der Tat häufig eine schwierige Stellung innerhalb der Gutsgesellschaft und mussten sich bewusst sein, dass sie sich nicht selten gegen ihr soziales Umfeld stellten, wenn sie den Renditeinteressen der adeligen Gutsbesitzer bei der Bewirtschaftung der Meierhöfe nachkamen. So forderte bereits im Jahre 1856 der Worliker Schaffer Josef Schneider, keine Schmetten mehr an die (bezugsberechtigten) Gutsverwaltungsbeamten abgeben zu müssen. Diese hätten dadurch keinen Nachteil, da die Herstellung von Sahne angesichts der Milchdeputate ja im eigenen Haushalt möglich sei. Der Schaffer aber sei „durch die im Ganzen nicht unbeträchtliche Milchabgabe“ in der Schmettenerzeugung stark eingeschränkt, zumal auch Diener ohne Deputat das Recht besaßen, bei ihm Milch für den Hausgebrauch zu kaufen, und er diesen Wünschen nachkommen müsse. Die Güterinspektion fand es „billig und recht“, dem Gesuch nachzukommen, so dass die Schaffer fortan keine Sahne mehr abgeben mussten.114 Die (Haus-)Frauen, die nun mehr Arbeit hatten, wird diese Regelung – verbunden mit dem Privilegienverlust in der hierarchisch gegliederten sozialen Welt der Güter – wenig gefreut haben.115 112 Wirtschaftsbericht Worlik vom 20.10.1867 mit der Stellungnahme des Gutsinspektors, 14.11.1867. Ebd. 113 Ebd. 114 Güterinspektion Prag an Worliker Herrschaftsdirektion, 10.12.1856. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. 115 Die Gender-Dimension vieler Konflikte scheint in den Quellen häufig nur indirekt auf, doch waren Frauen in ihren verschiedenen Rollen von den getroffenen Maßnahmen nicht selten in anderer Weise betroffen als Männer, wie auch die hier geschilderte Episode zeigt. So wird auch nachvollziehbar, warum sich der Gutsinspektor bei dem großen Veruntreuungsskandal auf Orlík 1867 dagegen verwahrte, dass die Beschuldigten versuchten, ihren Anteil am Geschehen auf ihre Frauen abzuwälzen. Siehe das ausführliche Zitat in Kapitel 2.2.

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Nicht nur diese Episode deutet darauf hin, dass die Abgabe von Deputaten den Marktinteressen der adeligen Besitzer widersprach. Bemerkenswert ist jedoch, dass auf fast allen Gütern versucht wurde, Deputatszuteilungen und Renditeorientierung auszutarieren. So unternahm Fürst Schwarzenberg im Frühjahr 1873 erneut einen Versuch, die Verrechnung der bezogenen Milchdeputate zu vereinfachen und führte dafür als Gründe an, er sei „von der Absicht geleitet, die zur Führung eines eigenen Haushaltes angewiesenen Bediensteten mit ihrem Milchbedarf durch Bezug derselben aus den herrschaftlichen Meiereien möglichst sicher zu stellen.“116 Gleichzeitig sollten aber auch, weil „der Bezug durch die Haushalte wegen unterschiedlichen Bedarfs schwankend ist, … die Milchkäufer bei ihren Visitationen nicht beirrt werden.“117 Auch hier wurde das grundsätzliche Bezugsrecht nicht in Frage gestellt, jedoch verfügt, dass die Ansprüche verfielen, wenn die Milch nicht abgeholt werde.118 Ältere „Anschreibe“-Praktiken waren damit nicht mehr erlaubt. Hinter allen Maßnahmen dieser Art stand das Bemühen, jene Milchmengen sicherer zu bestimmen, die auf dem Markt abgesetzt werden konnten, also Interessen am Ertrag der Meierhöfe. Man mag sich angesichts der Schwierigkeiten, die mit den Bezugsrechten von Naturalien verbunden waren, fragen, warum adelige Arbeitgeber in Böhmen daran dennoch in ihrer Mehrzahl bis zum Ersten Weltkrieg festhielten und diese nur selten in Geldzahlungen umwandelten.119 Zu den wenigen Ausnahmen gehörten die Fürsten Windisch-Graetz, die 1881 eine Gehaltsreform auf ihren Gütern durchführten. Von den bisherigen Sachleistungen blieben nur Holzzuteilungen, Stellung von Quartieren und Gartenbenutzung erhalten, beim Forstpersonal auch das Recht zur Tierhaltung. Alle anderen Naturaldeputate wurden mit Rücksicht auf die verwaltungstechnischen Probleme, die ihre Abrechnung hervorrief, abgeschafft.120 Diese Ausnahme ist deshalb so bemerkenswert, weil es gerade die Familie Windisch-Graetz war, die sich in ihrem Umgang mit dem Grundbesitz von anderen böhmischen Geschlechtern unterschied: Ihre Mitglieder waren nur selten auf den Gütern anwesend, suchten manche Sitze nie auf und hatten während der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen, da die Besitzungen nicht ausreichend effizient bewirtschaftet wurden.121 Anders als viele andere Familien, deren Mitglieder sich häufig auf ihren Gütern aufhielten, war den Windisch-Graetz offenbar das 116 ����������������������������������������������������������������������������������� Cirkular an die Herrschaftsdirektionen Worlik, Wossow, Cimelitz und die Gutsverwaltungen Aujezd, Bukowan, Zalužan und Tochowitz, an das Forstamt und die Forstverwaltung in Wossow, an die Verwaltung der Dampfsäge und an die Rechnungsrevision vom 30.4.1873. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Auf manchen Gütern wurde eine Art Zwischenlösung gefunden, indem die Deputate in Einkaufsrechte zum „Produktionspreis“ umgewandelt wurden. 120 Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 130. 121 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.1.

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Gespür dafür verloren gegangen, dass es sich bei den Deputaten und auch bei vielen „kleineren“ Formen der alltäglichen Aneignungen seitens der verschiedenen Gruppen der auf den Gütern beschäftigten Mitglieder der ländlichen Gesellschaft um in alten Traditionen wurzelnden Eigensinn handelte, ausgeprägt in vormoderner Zeit und von entsprechenden Rechtsgewohnheiten getragen. Böhmische adelige Arbeitgeber waren in ihrer Mehrzahl insofern „modern“, als sie ein Interesse an einer möglichst effizienten Bewirtschaftung ihrer Latifundien zeigten und dieses Interesse, wo immer möglich, aufgrund ihrer starken ökonomischen Stellung in der ländlichen Gesellschaft kommunizierten und durchsetzten. So konnten sie auf vielfältige Weise Handlungsoptionen von Angehörigen der Agrargesellschaft vorstrukturieren. Anders ausgedrückt: Sie hatten in vielen Fällen eine gute Chance, dass ihren Anweisungen Folge geleistet wurde. Doch diese Chancen fanden ihre Grenzen in den Eigenlogiken der ländlichen Gesellschaft und in den daraus resultierenden Praktiken.122 Diese Verhaltensweisen wiederum fanden ihre gemeinsame Grundlage in kulturell konstituierten und sinnstiftenden Ankerpraktiken123; hier: in Rechtsgewohnheiten, die in die „Feudalzeit“ zurückreichten. Der böhmische Adel war daher nicht nur in dem geschilderten Sinne „modern“, er war gleichzeitig „vormodern“ genug, um um die Wirkmächtigkeit dieser Praktiken und Rechtsverständnisse zu wissen. Genau deswegen bemühten sich adelige Gutsbesitzer um ein Austarieren von Marktinteressen und Deputaten. Die Deputate waren somit zwar auch ein Herrschaftsmittel, aber aus adeliger Sicht ein durchaus ambivalentes.124 In ihrer Gleichzeitigkeit aus modernen und vormodernen Anteilen erweist sich die auf der Gutsökonomie aufruhende adelige Herrschaft als in ihren wesentlichen Grundzügen kulturell konstituiert.

122 Die amerikanische Soziologin Ann Swidler spricht in diesem Zusammenhang von Werkzeugen („tools“) und verwendet das Bild von der Kultur als einem Werkzeugkasten (tool kit) oder einem Repertoire: „Culture is a tool kit of symbols, stories, rituals, and world-views, which people may use in varying configurations to solve different kinds of problems.“ Swidler, Culture, S. 273, siehe auch S. 277 und S. 281. Sie führt dazu weiter aus: „Both individuals and groups know how to do different kinds of things in different circumstances. … People may have in readiness cultural capacities they rarely employ; and all people know more culture than they use (if only in the sense that they ignore much that they hear).“ Ebd., S. 277. Siehe dazu auch die methodischen Ausführungen in der Einleitung. 123 Ann Swidler: What Anchors Cultural Practices; in: The Practice Turn in Contemporary Theory, hrsg. v. Theodore R. Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny, London/New York 2001, S. 74–92. 124 Auch die Deputate trugen in ihrer Ambivalenz dazu bei, die schon verschiedentlich angesprochene andere Konflikthaftigkeit auf böhmischen als auf englischen Gütern zu erzeugen.

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3.2.2 Waldnutzung

Anders als der englische Adel, der seine Wälder vor allem zur eigenen Erholung nutzte, betrieben böhmische Adelige in ihren Waldungen intensive Forstwirtschaft.125 Die Erträge daraus waren wichtiger Bestandteil ihrer Einkünfte, zumal die Konjunktur für Holz und Holzwaren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwiegend gut bis sehr gut war, im Export in den späten Jahren der Monarchie sogar die Erlöse landwirtschaftlicher Produkte übertraf.126 Mit den großen adeligen Waldungen und ihrer zunehmend intensivierten Nutzung gingen Konflikte zwischen adeligen Besitzern und verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft einher. Für die Zeit der Erbuntertänigkeit stellen diese Auseinandersetzungen einen geradezu klassischen Topos dar.127 Doch ebbten sie vielerorts 125 Zum dort beschäftigten Forstpersonal gibt es bisher keine eigene Studie, ebenso wenig wie für das Gutspersonal. Tittels Schematismus vermittelt jedoch einen guten Eindruck von der Anzahl der Forstreviere in adeligem Besitz und den dort Angestellten. Siehe Tittel, Schematismus. 126 ������������������������������������������������������������������������������ Zur Konjunktur von Holz und Holzwaren einschließlich Papier sowie zu deren Bedeutung für den österreichischen Export siehe Dinklage, Entwicklung, S. 442. Auf die Bedeutung des Forstbesitzes und seiner intensiven Nutzung weisen für verschiedene deutsche Territorien auch Heinz Reif (allgemein) und René Schiller (ostelbische Provinzen Preußens) hin. Siehe Reif, Adel, S. 11f. und Schiller, Rittergut, S. 66f. 127 Siehe neben anderen zum Beispiel die Arbeiten von Werner Rösener, Peter Blickle, Joachim Allmann oder, mit Blick auf Bayern, von Winfried Freitag. Werner Rösener: Der Wald als Wirtschaftsfaktor und Konfliktfeld in der Gesellschaft des Hoch- und Spätmittelalters; in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 55/2007, S. 14–31. Peter Blickle: Wem gehört der Wald? Konflikte zwischen Bauern und Obrigkeiten um Nutzungs- und Eigentumsansprüche; in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 45/1986, S. 167–178. Joachim Allmann: Der Wald in der Frühen Neuzeit. Eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Untersuchung am Beispiel des Pfälzer Raumes 1500–1800, Berlin 1989. Winfried Freitag: Landbevölkerung, Forstpersonal und ‚gute Waldordnung‘ in der „Bayrischen Vorstordnung“ von 1568; in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 55/2007, S. 32–57. Einen Überblick vom Mittelalter bis zur Moderne bietet: „Weil das Holz eine köstliche Ware …“. Wald und Forst zwischen Mittelalter und Moderne, hrsg. v. Andreas Hedwig, Marburg 2006. Hier ist besonders der Beitrag von Joachim Radkau über den Wald als Lebenswelt und Konfliktfeld hervorzuheben. In vergleichendem Zugriff für Deutschland und Spanien thematisiert auch der Sammelband Von der Gottesgabe zur Ressource. Konflikte um Wald, Wasser und Land in Spanien und Deutschland seit der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Maria Luisa Allemeyer, Manfred Jakubowski-Tiessen und Salvador Rus Rufino, Essen 2007, den Wandel des Eigentumsbegriffs, der mit den Waldnutzungsreformen einherging. Gerade bei den Konflikten um die Waldnutzung im 19. Jahrhundert zeigt sich, dass sich hier ebenfalls nicht vereinfachend „moderne“ und „traditionale“ Nutzungspraktiken gegenüberstanden, sondern dass Zuschreibungen, was als modern gelten konnte, Teil der Auseinanderset-

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auch später keinesfalls ab, wie dies auch in Böhmen nicht der Fall war. Zwar waren mit der Ablösung der Feudallasten in der Folge der Revolution von 1848 adelige Eigentumsrechte an den Forsten festgeschrieben, alte Rechtsgewohnheiten, die vor allem den ländlichen Unterschichten zugutekamen, wie etwa die sogenannte kleine Waldnutzung, dagegen abgeschafft worden.128 Dass diese gesetzgeberischen Maßnahmen jedoch keineswegs das Ende althergebrachter Praktiken bedeuteten, zeigen die in adeligen Archiven kilometerweise überlieferten Akten zum „Waldfrevel“. In Monatslisten verzeichnete das Forstaufsichtspersonal für die einzelnen Reviere „Übertretungen gegen die Sicherheit des Waldeigentums und Forstfrevel“, die dann bei der zuständigen Bezirksbehörde zur Anzeige gebracht wurden. Meist handelte es sich um geringe Mengen von Holz bzw. Reisig sowie um Gras (denn auch die Allmenden waren 1848/49 abgeschafft worden129), selten vermeldete das Forstpersonal einmal, dass ihm eine ganz Schubkarre voll Diebesgut in die Hände gefallen sei. Auffällig ist auch, dass in vielen Fällen alte Frauen aktenkundig wurden130, was darauf verweist, dass diese Praktiken häufig die letzte Zuflucht für verarmte Witwen darstellten. Angesichts der zumeist kleinen Mengen und der spezifischen Klientel bestanden auf manchen Gütern Sammelbewilligungen für verarmte Dorfbewohner und -be­ wohnerinnen. Hier hatte das Forstpersonal jedoch streng darauf zu achten, dass das erlaubte Reisigsammeln nicht in gesetzeswidrigen Waldfrevel ausartete.131 Wo diese Linie zu ziehen sei, darüber bestanden zum Teil unterschiedliche Auffassungen zwischen den Forstverwaltungen und den adeligen Besitzern. So blieben die Vorstöße

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zungen war. Siehe dazu Jonathan Sperber: Angenommene, vorgetäuschte und eigentliche Normenkonflikte bei der Waldnutzung im 19. Jahrhundert; in: HZ 290/2010, S. 681–702. Für die Moderne befasst sich mit verwandten Fragen auch das Göttinger Graduiertenkolleg zur interdisziplinären Umweltgeschichte, das im Projektbereich C Konflikte um naturale Grundstoffe vom 18. bis zum 20. Jahrhundert behandelt, u. a. auch den Wald. Stölzl, Ära, S.  28. Mancherorts, etwa in den ausgedehnten Waldungen der Fürsten Schwarzen­berg (Primogenitur), wurden gar robotartige Verpflichtungen auf vertraglicher Basis bei den Holzknechten eingeführt, ohne dass damit auch alte, auf Rechtsgewohnheiten basierende Nutzungsformen re-etabliert worden wären. Riesenfellner, Sozialreporter, S. 88ff. Ebd. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. Der Bestand umfasst Monatslisten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Detailliert ausgewertet wurden die Unterlagen für die Jahre 1875–1890. Man darf davon ausgehen, dass es sich bei den Frauen in der Tat um Witwen handelte, und nicht etwa um „Familienstrategien“ in der Hoffnung, dass man mit den Delinquentinnen milder umgehen werde als mit ihren Männern oder (erwachsenen) Kindern, denn diese wären regresspflichtig gewesen und hätten außerdem ihre Chancen auf Beschäftigung auf den Gütern zumindest verschlechtert, wenn sie nicht gleich entlassen worden wären. Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 123.

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des Schwarzenbergschen Wirtschaftsdirektors Farka in den Jahren 1868 und 1871 erfolglos, der Fürst möge erlauben, nur noch in jenen Fällen eine exekutive Eintreibung der Waldschadensersätze gerichtlich zu veranlassen, wenn eine Pfändung auch Aussicht habe, die betreffenden Beträge einschließlich der Gerichtskosten einzutreiben. Erst 1878 konnte sich Karl IV. zu einem solchen Verfahren entschließen.132 Damit wurden zwar die „uneinbringlichen Ausgabeposten“ reduziert133, doch wie schwer sich das Problem als solches in den Griff bekommen ließ, zeigt unter anderem die Tatsache, dass Direktor Farka auch berichten musste, dass „vom Jahre 1877 noch über 200 zuerkannte Waldschadenersätze heute im Rückstande und daß alle güthlichen Einmahnungen unbeachtet geblieben sind.“ Der Fürst forderte daher, „mit der größten Strenge“ vorzugehen.134 Aber auch damit war es nicht in jedem Fall getan, wie ein weiteres Schreiben aus dem Jahre 1882 zeigt. In sechs Fällen war eine Pfändung seitens der Gutsdirektion als aussichtsreich eingeschätzt und gerichtlich angeordnet worden, aber dennoch erfolglos geblieben. Mal ergab der Versuch einer Pfändung, dass der Betreffende, wie im Falle von Josef Kuchař, „gar nichts besitzt“, mal, dass der einzige Besitz, wie bei Martin Katapisch, in „einem alten Tisch, einer alten Bettstatt und einer zerbrochenen Handuhr“ bestand.135 Auch bei Johann Topinka blieb die Pfändung erfolglos; er wurde „wegen Veruntreuung zu Arrest verurtheilt“; Johann Peschata verließ gar seine Familie und lebte von Bettelei.136 Offensichtlich dürfte sein, dass bei den hier geschilderten Fällen Armut für den Diebstahl ausschlaggebend war. Sie hatte in der Vormoderne ihren Platz in einer gottgewollten Ordnung. Rechtsgewohnheiten wie die kleine Waldnutzung halfen, diese Ordnung aufrechtzuerhalten, indem sie die Praktiken der Dorfarmut, ihre Not wenigstens in Ansätzen handhabbar zu machen, sanktionierten. Je stärker sich jedoch moderne Vorstellungen von Besitz und seiner gewinnbringenden Bewirtschaftung in einer Gesellschaft durchsetzten, umso mehr wurde aus einer Rechtsgewohnheit Diebstahl, den es gerichtlich ahnden zu lassen galt. Um das daraus resultierende Konfliktpotential zu verringern, versuchten böhmische Adelige, eine in den Praktiken der Dorfarmut weiterexistierende Rechtsgewohnheit (kleine Waldnutzung) durch eine andere zu ersetzen: Im Sinne der traditionellen Hilfe für Witwen und Waisen wurden Holzgeschenke an Bedürftige verteilt. Der gewohnheitsmäßige Charakter dieser Unterstützung wurde jedoch seitens der ehema132 Direktionsbericht Worlik des Direktors Farka vom 4.3.1878. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. 133 Ebd. 134 Ebd. und Anweisung des Fürsten vom 22.4.1878 in Antwort auf den genannten Bericht. Ebd. 135 Direktionsbericht Worlik des Direktors Farka vom 20.5.1882. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. 136 Ebd.

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ligen Herrschaft zunehmend ausgehöhlt, indem Holzzuteilungen für eine bestimmte Anzahl von Jahren bewilligt wurden, die Betreffenden jedoch nach Ablauf dieser Zeit erneut vorstellig werden mussten. In den Genuss solcher Geschenke kamen vor allem die Angehörigen von ehemaligen Bediensteten.137 Nicht immer jedoch war Armut der Auslöser von Diebstählen. So hatte der Knecht Wenzel Petranek im Mai 1864 Bauholz gestohlen und war dabei vom Heger Josef Hawranek gefasst worden. Ohne jedes Unrechtsbewusstsein für die eigene Tat drohte Petranek dem Heger noch im Gerichtsgebäude: „Ti kluku! Merkuj si to, ja tě musim zabit. [Du Lausekerl! Merk Dir das, ich werde Dich erschlagen.]“ Der Heger habe noch Glück gehabt, dass er im Wald nicht bewaffnet gewesen sei.138 Am 25. Juli 1864 jedoch schien Hawranek sein „Glück“ verlassen zu haben. Als er abends in dem Dorf Kosteletz einige Frauen beauftragen wollte, am nächsten Tag die Baumschule auszujäten, wurde er „von einem Haufen Knechte und Bauernsöhne … mörderisch und mit Lästernamen angefallen [und] mit Steinen beworfen.“ Auch drohten ihm die jungen Männer, immerhin elf an der Zahl unter dem Rädelsführer Petranek, ihn zu ermorden. Als der Heger sich zum Bauern Hora flüchtete, beschimpfte die Gruppe den Bauern und forderte die Herausgabe des Hawranek. Hora begab sich daher zum Amtsvorsteher Raiek, dieser möge dem Aufruhr Einhalt gebieten. Davon war der Amtsvorsteher jedoch weit entfernt und beschied dem Bauern: „Co je tobě do hejmiho Hawranka, wihoit ho wen, ať si snim dělaji co chtěji. [Was geht dich der Hawranka an? Schmeiß ihn raus, sollen sie doch mit ihm machen, was sie wollen.]“ Erst weit nach Mitternacht habe sich der Tumult gelegt. Das Oberforstamt Worlik forderte angesichts dieser Vorkommnisse die Schwarzenbergsche Anwaltschaft auf, Anzeige beim k. k. Gericht zu erstatten.139

137 Diesen Sachverhalt illustrieren exemplarisch eine Annahme und eine Ablehnung von Bittgesuchen seitens des Fürsten Schwarzenberg um die Zuteilung von je drei Klafter Stockholz. In beiden Fällen handelte es sich um Witwen, die um die Fortsetzung ihrer Holzzuteilung baten. Diese wurde im ersten Fall bewilligt, weil die Betreffende verwitwete Tochter des verstorbenen Kosteletzer Reitjägers war. Ihr wurde eine Prolongierung des Holzbezuges um drei Jahre bewilligt. Fürst Schwarzenberg an die Worliker Herrschaftsdirektion, 26.9.1857. Der Bitte der anderen Witwe kam der Fürst jedoch nicht nach: Da „für die Fortdauer dieser Unterstützung keine besonderen Gründe sprechen und die Bittstellerin im Genuße einer Stadtpension sich befindet, [wird] keine Folge gegeben.“ Ders. an die Worliker Herrschaftsdirektion, 14.10.1860. Beide Schreiben SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. Zum Phänomen adeliger Wohltätigkeit als Herrschaftsinstrument siehe außerdem ausführlich Kapitel 4.1 mit seinen Unterkapiteln. 138 Oberforstamt Worlik an die Schwarzenbergsche Anwaltschaft Worlik, 28.7.1864. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 969. 139 Die Schilderung der Ereignisse und die Zitate entstammen ebenfalls dem Bericht des Oberforstamtes an die Anwaltschaft vom 28.7.1864. Ebd.

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Zwar gibt es natürlich auch Beispiele, dass sich die Gemeindebediensteten als Vertreter der öffentlichen Ordnung verstanden und gemeinsam mit dem Gutspersonal einem Diebstahl nachgingen.140 Doch mussten die Gutsangestellten sich immer dessen bewusst bleiben, dass dies nicht zuletzt davon abhing, ob es sich bei dem Delinquenten um einen armen Häusler handelte oder um einen in die Dorfstrukturen gut integrierten Knecht oder Bauernsohn. Die Beschäftigten der adeligen Domänen nahmen jedenfalls oft genug eine Sonderrolle in der dörflichen Welt ein und wurden nicht selten mit dem dort herrschenden Ärger über auf den Gütern getroffenen Maßnahmen konfrontiert.141 Umso größer war das Interesse der Gutsleitungen und der adeligen Besitzer, ihren Angestellten und deren Entscheidungen Respekt zu verschaffen. Das bedeutete nicht nur, tätliche Angriffe, wie den geschilderten, zur Anzeige zu bringen, sondern auch respektloses Verhalten zu unterbinden. So drohte zum Beispiel die Güterinspektion Worlik Josef Kautsky, dem Pächter des Wirtshauses „Am Pradlo“, dass sein Vertrag gekündigt werde, wenn er unter seinen Gästen abfälliges Reden über das fürstliche Forstpersonal dulde.142 Auch honorierten adelige Besitzer lange Beschäftigungszeiten in ihren Forsten und Forstverwaltungen143 und nahmen gern die Brüder, Söhne und Neffen dieser Männer in Dienst.144 140 ����������������������������������������������������������������������������������� Der Zaluzaner Gärtner Wenzel Porčal entdeckte im Januar 1863, dass die Holzverkleidungen von Alleebäumen in kalter Wintersnacht gestohlen worden waren. Da Schnee lag, konnte er den Täter schnell ausfindig machen, weil frische Spuren zu dessen Hütte führten. Mit einem Gemeindebediensteten überführte er Franz Benda, der gerade dabei war, die Holzverschalungen zu verheizen. Protokoll vom 30.1.1863. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 969. 141 Die beiden auf frischer Tat ertappten Holzdiebe Korecký und Mandík behaupteten bei ihrer Festnahme, dass der Heger Jaresch ihnen ihr Diebesgut überlassen habe. Die Vernehmung ergab schließlich, dass die beiden dem Heger aus „Rache“ schaden wollten, weil das Dorf, aus dem sie stammten, keine Jagderlaubnis für eine bestimmte Feldflur erhalten hatte (ohne dass der betreffende Heger daran beteiligt gewesen war), was als Benachteiligung gegenüber anderen Dörfern empfunden wurde. Die beiden hatten nach der Devise gehandelt: Wenn schon kein Wild, dann wenigstens Holz. Protokoll der Inspektionskanzlei Worlik, 16.11.1864. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. 142 Protokoll, 4.3.1865. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 930. 143 So entließ Graf Czernin etwa seinen Revierförster Wenzel Bohutinsky nach mehr als 50 Jahren Dienst in seinen Forsten in den Ruhestand und setzte ihm eine großzügige Pension aus. Schreiben Czernin an die Central-Direktion Neuhaus, 11.9.1896. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: II JH, Spisy, kart. 6. Die Witwen solcher Männer (und ihre ggf. noch minderjährigen Kinder) waren die ersten Adressatinnen adeliger Wohltätigkeit. Siehe dazu ausführlich Kapitel 4.1.2 und 4.1.3.1 144 ����������������������������������������������������������������������������������� Diese Praxis ist aus den Gutsverwaltungen insgesamt bekannt. Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.2. Es sei an dieser Stelle allerdings nicht verschwiegen, dass auch das Forstpersonal Aneignungen nicht immer ablehnend gegenüberstand, zum Beispiel

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Doch allen Bemühungen um Eindämmung des illegalen Abtransports von Holz und um Stärkung des Ansehens der Forstleute zum Trotz: Holzdiebstähle ließen sich ahnden, unterbinden ließen sie sich nicht. Die Perzeption, dass der adelige Wald am Ende doch eine Art Gemeineigentum darstellte, blieb Teil der dörflichen Vorstellungswelt, ebenso die damit einhergehenden Praktiken der Aneignung. Diese waren vielfach ökonomisch motiviert, doch zeigt ihre Verwurzelung in spezifischen Rechtsgewohnheiten ihre kulturelle Konstituierung: Die Angehörigen der ländlichen Gesellschaft in Böhmen hatten im Verlauf des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vielfach die Erfahrung gemacht, dass sich adelige Grundherren Gemeindeeigentum in Form von Weiden, Wäldern und Teichen angeeignet hatten, um ihre Besitzungen zu erweitern.145 In der Folge dieses Prozesses, und verstärkt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden ländlichen Unterschichten, die (lange Zeit) nur unvollständig in das System der Geldwirtschaft eingebunden waren, von der legalen Waldressourcennutzung ausgeschlossen.146 Adelige Gutsbesitzer konnten somit aufgrund ihrer starken ökonomischen Position zwar mit Hilfe des Forstpersonals ihre Interessen an einer zunehmend intensivierten Waldnutzung durchsetzen, mussten jedoch gleichzeitig akzeptieren, dass vor allem ländliche Unterschichten an Praktiken festhielten, die in durch falsche Holzpassierungen, so dass vor allem die Mitglieder der Forstverwaltung, weniger der direkten Forsthege, im Anschuldigungsfall mit der Androhung von Gehaltssperrungen zu rechnen hatten. Siehe dazu zum Beispiel die Direktionsberichte für die Herrschaft Worlik vom 12.6. und 1.8.1865. Beide SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852 sowie die Maßnahmen zur Kontrolle des Forstpersonals auf den Gütern der Fürsten Windisch-Graetz, wo beklagt wurde, dass die Neigung, sich fürstliches Eigentum anzueignen, besonders auf den unteren Hierarchieebenen „deutlich ausgeprägt“ sei. Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 124. 145 Klíma, Beitrag, S. 208ff. Noch komplizierter wurde die Situation dadurch, dass selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht alle bäuerlichen Servitutsrechte bereinigt waren. Dies galt nicht nur für Böhmen, sondern auch für Niederösterreich und die Krain, obwohl das Reichsgesetz vom 5. Juli 1853 Bestimmungen „über die Regulierung und Ablösung der Holz-, Weide- und Forstproduktenbezugsrechte, dann einiger Servitutsund gemeinschaftlicher Besitz- und Benutzungsrechte festgesetzt“ hatte. Siehe Dinklage, Entwicklung, S. 442f. 146 Ähnliche Entwicklungen beschreibt Bernd-Stefan Grewe auch für die bayerische Pfalz, wobei sein Hauptaugenmerk allerdings auf der Beantwortung der Frage liegt, ob es die zeitgenössisch häufig beklagte „Holznot“ überhaupt „real“ gegeben habe. In seiner exemplarischen Antwort kommt er zu dem Schluss, dass angebotsseitig die Kapazitäten im Untersuchungszeitraum nie ausgeschöpft wurden, während ein Mangel an Waldressourcen durchaus bestanden habe, denn die Forstverwaltungen ließen stets weniger Holz schlagen als nachwuchs. Grewe sieht hinter dieser Ressourcenverknappung allerdings weniger eine beabsichtigte Erhöhung der Preise als Motivation am Werk und stärker waldbauliche Ordnungsvorstellungen. Bernd-Stefan Grewe: Der versperrte Wald. Ressourcenmangel in der bayerischen Pfalz (1814–1870), Köln/Weimar/Wien 2004.

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vormodernen Rechtsgewohnheiten wurzelten. Diese Handlungsweisen überlebten nicht selten sogar das Ende der Monarchie. Noch im Alter erinnerte sich Franz Fürst Kinsky – er starb 1975 – wie in der Zwischenkriegszeit Männer bei ihm vorstellig wurden, wenn sie Holz zum Bau oder zur Reparatur einer Hütte brauchten oder alte Frauen in seinen Wäldern Reisig sammelten, um es in Tragekörben verstohlen nach Hause zu bringen.147 3.2.3 Gewässer

Neben den Deputaten und den Wäldern stellten die verschiedenen Gewässer ein drittes Konfliktfeld zwischen den hochadeligen Großgrundbesitzern und den verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft dar. Die Auseinandersetzungen entzündeten sich zum einen an Fischteichen, zum anderen an Fließgewässern. Fischteiche finden sich vor allem in Südböhmen vielfach, ist die Region doch bis heute ein Zentrum der Fisch- und besonders der Karpfenzucht. Jene adeligen Familien, die hier ihre Besitzungen hatten, verfügten nicht nur über ausgedehnte Wälder, sondern in ihrem Besitz befanden sich auch Fischzuchtbetriebe. Alle diese Familien beschäftigten sogenannte Teichheger148, die tags, vor allem aber nachts Fischdiebstähle verhindern sollten. Handelte es sich bei den gefassten Dieben um Gutsangestellte oder Pächter, so ließ sich der Vorfall aus der Sicht der Besitzer bzw. der Wirtschaftsdirektionen schnell ahnden: Die Betreffenden wurden entlassen und auch für die Zukunft von Beschäftigung oder Pacht ausgeschlossen, die erfolgreichen Heger erhielten ein Belohnung.149 Schwieriger gestaltete sich die Angelegenheit, wenn der Täter ein Dörfler, aber nicht auf den Gütern angestellt war. Denn dann bekamen die Heger, ähnlich wie ihre Kollegen, die zum Schutz der adeligen Wälder angestellt waren, nicht selten den Unmut ganzer Ortschaften zu spüren. So klagte ein tschechisch schreibender Teichheger 147 Vladimír Votýpka: Böhmischer Adel. Familiengeschichten, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 197. 148 ��������������������������������������������������������������������������������� Sie unterstanden den Fischmeistern, diese wiederum den Wirtschafts- oder Domänendirektionen. Siehe z. B. die Amts-Instruction für die Domaine Neuhaus,18.1.1907. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 991. 149 Siehe z. B. die Worliker Wirtschaftsresolution für April 1862, SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 905, oder die Aufzeichnung, ebenfalls Wirtschaftsdirektion Worlik, vom 2.8.1888, ebd., kart. 989. In einem anderen Fall gab es schwere Verdachtsmomente gegen einen Worliker Zimmerwärter, einen Heger zum Diebstahl animiert zu haben. Zwar konnte der Vorfall, der nicht den Gerichten übergeben wurde, von der Wirtschaftsverwaltung nicht zweifelsfrei geklärt werden, doch wurde der Betreffende mit der Zahlung einer Strafe in Höhe von fünf Gulden zu Gunsten des Pensionsfonds belegt. Bericht vom 14.8.1867. Ebd. In diesem Karton findet sich eine Vielzahl weiterer Fälle von Fischdiebstahl bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein.

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der Gutsdirektion Worlik, er habe den František Rozhoň bereits dreimal ertappt, wie er mit Angel und Kescher in den fürstlichen Teichen gefischt habe. Auch sei Rozhoň jedes Mal angeklagt, doch nie verurteilt worden, weil sich die Zeugen des unerlaubten Angelns am Ende stets geweigert hätten, vor Gericht zu erscheinen und dies selbst dann, wenn sie dazu eine Aufforderung der zuständigen Bezirkshauptmannschaft erhalten hätten. Er selbst sei jedoch von den Bewohnern des Ortes Myslní Nestražovice beschimpft und ein „hrubář [Schandmaul]“ genannt worden, der den armen Leuten nicht einmal die „kleinsten Fischlein“ überlasse, dafür jedoch vom Fürsten ein zweites Pferd in Aussicht gestellt bekommen habe. Die Dörfler hofften gar, so der Heger, dass beim nächsten Gewitter der Blitz in ihn und seine Familie fahre, und so fragte er: „Co mám proti tomu dělati? [Was soll ich dagegen tun?]“ Klarer war ihm offensichtlich, wie er der Fischdiebstähle Herr werden wollte, denn er bat die Gutsverwaltung, bei den Bezirkshauptmannschaften in Blatná und Písek zu erwirken, dass ihm die zuständigen Gendarmeriestationen in Březnice bzw. Mirovice zur Unterstützung einen Polizisten schickten.150 Dieses Ansinnen dürfte kaum Chancen auf Erfolg gehabt haben, doch wurde es immerhin zunehmend üblich, dass die Wirtschaftsverwaltungen ihre Heger „zu ihrer eigenen Sicherheit“151 mit Schusswaffen ausstatteten. Dazu mussten bei den zuständigen Bezirkshauptmannschaften Waffenscheine (genannt: Waffenpass) und Dienstausweise beantragt werden. Letztere hatten die Heger nicht nur den Vertretern der öffentlichen Sicherheitsorgane vorzuzeigen, sondern auch „den von den Amtshandlungen Betroffenen“.152 Waren die böhmischen Konflikte, die sich an den Fischteichen entzündeten, vom juristischen Standpunkt her – Diebstahl – meist einfach zu klären, wenn auch nicht immer leicht zu ahnden, so ergibt sich bei der Betrachtung der Auseinandersetzungen um die Fließgewässer ein etwas anderes Bild. Hier entzündeten sich die Konflikte meist daran, dass Dorfbewohner Wasser ableiteten oder sich Sand, Kies, Schotter oder Eis aus Flüssen aneigneten. Gerade das Ableiten von Wasser aus durch Fideikommisse gebundenen Flüssen war in der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet.153 Nur selten kam es zu Einigungen auf „güthlichem Wege“, 150 ��������������������������������������������������������������������������������������� Schreiben eines Fischhegers mit unleserlicher Unterschrift vom 2.8.1888 an die Direktion Worlik. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 989. 151 Aus dem Antrag der Wirtschaftsdirektion an die Bezirkshauptmannschaft vom 6.5.1902, die Heger Jan Ledinský und František Blažek mit Waffenscheinen auszustatten. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 989. 152 �������������������������������������������������������������������������������������� Siehe die Anträge der Wirtschaftsdirektion an die Bezirkshauptmannschaft und die überlieferten Waffenscheine sowie Dienstausweise aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ebd. 153 Umfangreiches einschlägiges Material findet sich etwa in den Czerninschen Beständen, z. B. in den Unterlagen des Gutsbesitzes Neuhaus. Siehe dazu SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 41–44. Jeder dieser Kartons enthält etwa 1000 Seiten mit Streitfäl-

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wie etwa 1856 zwischen der Domänendirektion Neuhaus und dem Lohgerbermeister Příhoda, so dass der Wirtschaftsverwalter Bartůnek seine Klage vor dem zuständigen Bezirksgericht zurückzog.154 Wesentlich häufiger gingen die Auseinandersetzungen durch die verschiedenen behördlichen Instanzen. So hatten 1914 vier Wiesenbesitzer aus den Orten Blauenschlag und Heinrichschlag zu akzeptieren, dass sie Gräben und Stauanlagen abbauen mussten, mit denen sie Wasser aus Czerninschen Flüssen ableiteten. Zwar hatten die Grafen schon auf der Ebene der Bezirkshauptmannschaft mit ihrer Beschwerde gegen die Betreffenden Recht erhalten, die Wiesenbesitzer reichten dagegen jedoch Rekurs ein. Nachdem sie mit ihren Einsprüchen auch bei der Statthalterei in Prag keine Unterstützung fanden, musste sich schließlich das Ackerbauministerium in Wien mit der Angelegenheit befassen. Es bestätigte die Entscheidung der Bezirkshauptmannschaft: Da es sich bei dem in Rede stehenden Bach um privates Fließgewässer handele, konnten Ausleitungen nur mit Zustimmung des Fideikommissinhabers erfolgen oder auf dem Rechtswege erstritten werden, nicht jedoch durch behördliche Entscheidung.155 Ungeachtet einer durch das Wasserrecht eindeutig festgelegten Rechtslage bewiesen viele „Ableiter“, ähnlich wie die Wiesenbesitzer, große Hartnäckigkeit in ihrem Bemühen, sich Wasser anzueignen. Der schon genannte Czerninsche Wirtschaftsdirektor Wenzel Bartůnek etwa musste sich mit einem Brauereibesitzer mehr als fünfzehn Jahre auseinandersetzen. Dieser, Samuel Kaufried mit Namen, hatte zunächst einen Uferdurchbruch vornehmen lassen, um Wasser aus dem gräflichen Naserfluss abzuleiten. Obwohl er auf Beschwerde der Domäne Neuhaus hin den Durchbruch len, wobei jene um Wasserentnahmen (und hier vor allem von Mühlenbesitzern) dominieren. Die Auseinandersetzungen umfassen den gesamten Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Auseinandersetzungen um Wasserwege oder Wasserleitungen und speziell mit Mühlenbesitzern kamen jedoch auch auf anderen Gütern vor. Siehe dazu z. B. die Bestände SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 370 (Wasserwege, Wasserleitungen) oder ebd., kart. 886 (Auseinandersetzung mit einem Mühlenbesitzer, 23.5.1910). Auch waren Auseinandersetzungen dieser Art insgesamt keine böhmische Spezialität. Zu Brandenburg siehe etwa Rita Gundermann: Macher, Meliorationen und Modernisierung: Bauern und Adel in der Auseinandersetzung um das Wasser (Brandenburg 1830–1880), Tagung Herder-Institut Marburg 1999. 154 Bartůnek an das k. k. Bezirksgericht Neuhaus, 22.7.1856. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 41. 155 K. k. Statthalterei in Böhmen/Prag an k. k. Bezirkshauptmannschaft Neuhaus, 25.3.1914. Ebd. Das Beschreiten des Rechtsweges, d. h. durch eine zivilrechtliche Klage, war allerdings keinesfalls erfolgversprechend, da an den bestehenden Eigentumsverhältnissen angesichts des Fideikommisses kein Zweifel bestehen konnte. Der Behördenweg wurde deswegen von den „Wasserableitern“ versucht, weil das Wasserrecht Cisleithaniens den Gemeinden gewisse Einspruchsmöglichkeiten zusprach. Diese bezogen sich jedoch nicht auf die Durchsetzung der Rechte Einzelner, sondern auf die Interessen eben der Gemeinden, etwa mit Blick auf sanitäre Bestimmungen oder das Feuerlöschen.

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wieder verschütten musste156, versuchte er es in der Folge mit einem Schlauch, den er unter Steinen verstecken ließ157, später gar mit einem Metallrohr, das die Zuleitung zu einem mittels Dampfkraft betriebenen Wasserhebewerk sicherstellen sollte.158 In allen diesen Fällen erhoben die Grafen Czernin erfolgreich Einspruch gegen die Maßnahmen des Brauereibesitzers, dessen Rekurse, auch wenn sie in mindestens einem Fall ebenfalls der Statthalterei in Prag vorgelegt wurden, wirkungslos blieben159: Kaufried musste jeweils den ursprünglichen Zustand wieder herstellen und in einem Fall auch eine Geldstrafe in Höhe von 10 fl. zahlen, weil er den Anweisungen der Bezirkshauptmannschaft nicht rechtzeitig Folge geleistet hatte.160 Die Bezirkshauptmannschaft erwies sich in den Auseinandersetzungen als moderne Behörde, die sich an formaljuristischen Gesichtspunkten orientierte, den verfahrensrechtlichen Ansprüchen genügte und deren Mitarbeiter hauptamtliche, einschlägig ausgebildete Beamte waren.161 Die geschilderten Streitfälle im Kontext des Wasserrechts zeigen außerdem, dass die Bezirkshauptmannschaft Jindřichův Hradec nicht nur selbstverständlich die Schriftlichkeit wahrte, sondern auch relativ flott agierte. Für ihre Entscheidungen im Konflikt zwischen der Domäne Neuhaus und dem Brauereibesitzer Kaufried brauchte sie jeweils nur wenige Tage. Zur Lösung technischer Sachfragen – etwa ob nach einem unrechtmäßigen Uferdurchbruch der ursprüngliche Zustand als wiederhergestellt gelten konnte – setzte sie Kommissionen ein, die Besichtigungen vor Ort vornahmen. Dabei konnte sie auf amtliche Ingenieure zurückgreifen, die technische Gutachten erstellten. Hinzu kam gerade beim Wasserrecht, dass die Bezirkshauptmannschaften verschiedenen Ansprüchen gerecht werden mussten, galt es doch, nicht nur die aus den Fideikommissen herrührenden Besitzrechte adeliger Familien zu wahren, sondern auch die Interessen der Gemein156 �������������������������������������������������������������������������������� K. k. Bezirkshauptmann Hrdlička an Herrn Samuel Kaufried, Fabrikbesitzer in Neuhaus, 13.12.1872. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 41. 157 K. k. Bezirkshauptmann Hrdlička an Wenzel Bartůnek/Direktor der Domäne Neuhaus, 20.12.1872. Ebd. 158 Kundmachung k. k. Bezirkshauptmannschaft Neuhaus, 26.2.1886. Ebd. 159 K. k. Bezirkshauptmann Hrdlička an Wenzel Bartůnek/Direktor der Domäne Neuhaus, 20.12.1872 und Samuel Kaufried an die k. k. Bezirkshauptmannschaft, 29.12.1872. Ebd. 160 ��������������������������������������������������������������������������� K. k. Bezirkshauptmann Hrdlička an Wenzel Bartůnek/Direktor der Domäne Neuhaus, 21.11.1872, ders. an dens., 15.4.1873, K. k. Bezirkshauptmann Hrdlička an Samuel Kaufried, 26.6.1873 und Protokoll bei der Bezirkshauptmannschaft Neuhaus, 2.11.1885. Jeweils SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 41. 161 �������������������������������������������������������������������������������������� Siehe grundsätzlich zur Professionalisierung europäischer Verwaltungen im 19. Jahrhundert Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 76–85; zu Österreich Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848, Wien 1991 sowie Karl Megner: Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k. k. Beamtentums, Wien 1985.

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den im Zusammenhang mit ihrer Wasserversorgung zu berücksichtigen. Auch musste die Rechtsfindung „höheren Orts“ bestehen können, hatte der jeweilige Bezirkshauptmann doch stets damit zu rechnen, dass die Betroffenen Rekurs gegen seine Entscheidungen bei der k. k. Statthalterei oder gar beim Ministerium einreichten.162 Berücksichtig man alle diese Punkte, so kann man durchaus festhalten, dass – wie das Beispiel Jindřichův Hradec zeigt – die böhmischen Bezirkshauptmannschaften deutliche Züge bürokratischer Leistungsverwaltungen aufwiesen. Hinzu tritt ein weiterer Aspekt: Die Revolution von 1848 hatte den Besitz des Adels unangetastet gelassen. In der Konsequenz war es daher den Familien möglich, das eigentlich traditionale Rechtsinstitut des Fideikommisses zur Absicherung moderner Besitzrechte zu nutzen. Dies zeigt sich neben den geschilderten Beispielen auch eindrücklich an der folgenden Episode: Im Jahre 1885 schlossen die Grafen Waldstein mit der Gemeinde Plzenec und etwa 30 namentlich genannten Einwohnern des Ortes einen Vergleich, nachdem die Grafen zuvor viermal Klage gegen den Ort und die genannten Bewohner beim zuständigen Gericht in Plzeň eingereicht hatten. Streitgegenstand waren die Nutzungsrechte am Fluss Úslava.163 162 Siehe dazu exemplarisch die geschilderte Auseinandersetzung mit dem Brauereibesitzer Kaufried. Ihr Ende fand sie schließlich nach mehreren Ortsbesichtigungen, Auflagen der Bezirkshauptmannschaft und Rekursen in der Entscheidung der Bezirkshauptmannschaft, festgehalten in einem Protokoll vom 2.11.1885. Wieder war der Entscheidung eine Ortbesichtigung vorausgegangen, diese hatte am 28.10.1885 zusammen mit einer Anhörung stattgefunden. Bei der Anhörung waren neben den Vertretern der beiden Streitparteien und der Bezirkshauptmannschaft ein Vertreter der Gemeinde Jindřichův Hradec und ein k. k. Ingenieur anwesend, letzterer hatte auch das technische Gutachten verfasst. Interessant ist, dass der Brauereibesitzer Kaufried bei keiner der beteiligten Parteien Zustimmung zu seiner Position finden konnte, wonach die Rechte der Domäne Neuhaus nicht tangiert würden, weil er der Naser nur wenig Wasser entnehme. Zum Protokoll siehe SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 41. 163 SOA Praha: RAV 3712, kart. 77. Aneignungen dieser Art waren im Übrigen kein Einzelfall, und nicht nur Heger sahen sich mit dem Ärger von überführten Personen konfrontiert. Am 13.6.1887 berichtete der Verwalter Schimmanek an die Orlíker Herrschaftsdirektion, dass er in der Herrschaft Klingenberg trotz aller Bemühungen einen Diebstahl von Flusssand durch den Píseker Notar Mach nicht habe verhindern können. Zwar hatte der Verwalter den Notar auf frischer Tat ertappt, als dieser nicht nur den Schwarzenbergschen Pächter Johann Červenka gewonnen hatte, den Sand aus der Moldau auszuheben, sondern dies war auch noch im Beisein des Bürgerwächters Franz Waněk geschehen. Auch hatte Schimmanek zumindest den Bürgerwächter von der Unrechtmäßigkeit des Vorgehens überzeugen können und so die „Zwischenlagerung“ des Sandes durchgesetzt, doch bereits in der nächsten Nacht hatte der Notar mit Hilfe zweier Woslower Bauern den Sand abtransportiert, obwohl der „geläuterte“ Bürgerwächter Einwendungen gemacht habe. Gegenüber Schimmanek hatte der Notar erklärt, „daß ihn ein Verbot unsererseits nur ein Lachen koste, daß ihm niemand verwehren kann, im Flus-

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Der vor Gericht erzielte Vergleich bestätigte die gräflichen Eigentums- und Nutzungsrechte an dem betreffenden Fluss (in genau bestimmten Gemarkungen) und nannte als „Rechte der Gemeinde“ ausdrücklich nur Baden, Waschen, Vieh Tränken sowie das Wasserschöpfen für den heimischen Gebrauch bzw. zum Feuerlöschen. Teil des eigentlichen Vergleichs war jedoch die Zustimmung des Grafen Ernst Franz, dass auch Eis, Sand und Schotter für den Hausgebrauch, nicht jedoch für gewerbliche oder industrielle Zwecke und nur nach Absprache mit dem Herrschaftsdirektor und in von diesem bestimmten Mengen abgebaut werden dürfen. Ferner verfügte das Gericht noch, dass die Gemeinde beim Bau und Erhalt von Straßen und Wegen Sand und Kies aus der Úslava gewinnen dürfe, auch dies nur in enger Absprache mit dem Herrschaftsdirektor und in den von ihm benannten Mengen.164 Verschiedene Aspekte dieses Vergleichs lohnen es, sie sich noch einmal genauer zu vergegenwärtigen. Zum einen kommen darin zwei Rechtstraditionen zum Ausdruck: Dominierend ein liberales Eigentumsrecht, aus dem die gräflichen Nutzungsrechte hervorgehen, daneben und untergeordnet, aber nach wie vor vorhanden, die explizit so genannten „Rechte der Gemeinde“ vom Baden bis zum Löschwasser-Schöpfen sowie das Zurverfügungstellen von Sand, Kies und Eis für den Hausgebrauch; also tradierte Rechte, die auf Gewohnheit beruhten. Zum anderen verweist das Beispiel auf eine veränderte adelige Herrschaftspraxis. Denn: Zur Aufrechterhaltung von Herrschaft schalteten die Grafen Waldstein staatliche Gerichte ein, bedienten sich also einer vermittelnden Instanz, und stimmten im Ergebnis einem Vergleich zu (wenn dieser auch ihre Rechtsposition bestätigte). Was uns aus der Quelle entgegentritt, ist das Bemühen um Deeskalation einer Konfliktsituation durch Verrechtlichung, strukturell nicht unähnlich derjenigen, die auch den Umgang mit den behördlichen Waffenscheinen und Dienstausweisen für Heger charakterisiert. Abschließend eine dritte Anmerkung, die für alle Konfliktfelder dieses Kapitels Geltung hat: Die beschriebene Verrechtlichung veränderte adelige Herrschaftspraxis, weil der Staat (bzw. seine Behörden und Instanzen) als ein dritter Akteur neben dem gutsbesitzenden Adel und den verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft die Szene betrat. Was man außerdem beobachten kann, ist, dass der Staat seine eigenen Interessen – Polizeirechte im Kontext der Waffenscheine, den Erhalt und Ausbau von Straßen und Wegen165 oder die kommunale Wasserversorgung – schützte. Wir se Sand zu gewinnen, und daß überhaupt ein Verwalter mit ihm nichts anfangen soll [sic! im Sinne von: keinen Streit] – überhaupt [sich] mit ihm nicht messen könne.“ Dies wollte der Verwalter nicht auf sich sitzen lassen und ersuchte daher die Herrschaftsdirektion um Klageeinreichung. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 969. 164 SOA Praha: RAV 3712, kart. 77. 165 Längst nicht immer zeigten sich die Behörden so um den Zustand von Straßen und Wegen bemüht. Vielmehr beklagte z. B. das Forstamt Worlik in einem Schreiben an die

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haben es also auch mit Beispielen für das Vorrücken des Staates in die Fläche zu tun, was ihm in den konkreten Situationen deshalb möglich war, weil er – in Form der Gerichte oder der Bezirkshauptmannschaften – als Vermittlungsinstanz angerufen wurde.

3.3 England und Böhmen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Betrachtet man die drei Konfliktbereiche in der englischen ländlichen Gesellschaft in der Zusammenschau, so lässt sich festhalten, dass der englische Adel beim Bau (oder beim Verfallenlassen) von cottages, bei seinen Bemühungen um die Einschränkung des Bierkonsums und bei der Bekämpfung von Landarbeitergewerkschaften letztlich immer nach ein und derselben Logik handelte: Alle diese Maßnahmen zielten darauf, Gruppen der ländlichen Gesellschaft zu disziplinieren und auf diese Weise Herrschaft aufrechtzuerhalten. Diesem Ziel dienten auch Broschüren und Reden, die in legitimatorischer Absicht verbreitet wurden: Der gutsbesitzende Adel stellte hier seine Herrschaft in paternalistischem Tonfall als natürlich, nützlich und durch den Lauf der Zeiten bewährt dar, so dass die Herrschaftsgebiete der Güter als organische Einheiten des Zusammenlebens erschienen. Die geschilderten Herrschaftspraktiken des Adels basierten auf seiner herausgehobenen ökonomischen Position als ländlichem Arbeitgeber. Daraus resultierte seine starke Stellung in den Aushandlungsprozessen mit den verschiedenen Mitgliedern der ländlichen Gesellschaft. Daher bedeutete Adelsherrschaft für diese Gruppen, dass „ihr“ Arbeitgeber das Feld ihres möglichen Handelns, ihre Handlungsoptionen, zwar nicht einfach bestimmen, aber doch vorstrukturieren konnte. Dies versuchte der Adel auch sehr gezielt zu tun. Deswegen kannten adelige Gutsbesitzer viele Menschen auf ihren Gütern und trafen ihre „Herrschafts“-Entscheidungen individuell, wenn sie etwa dieser Witwe ein cottage beließen, jenem Pächter aber notice to quit gaben. Diese Praktiken erhöhten im Weberschen Sinne die Chancen, für Befehle bestimmten Inhalts Gehorsam zu finden, und sie schränkten die Aushandlungsspielräume der anderen Akteure merklich ein, vermochten sie jedoch nie ganz auszuschalten, wie die zuständige Herrschaftsdirektion vom 19.9.1897, dass die privaten Wege im Annahöfer Revier in denkbar schlechtem Zustand seien, weil auf ihnen auch viele Fuhrwerke zu einer nahegelegenen Mühle führen, denn der öffentliche Weg zur Mühle sei in so schlechtem Zustand, dass er nicht befahrbar sei. Der Müller habe bereits Teile dieses öffentlichen Weges auf eigene Kosten instand setzen lassen, der Revierförster schlage nun für den Schwarzenbergschen Privatweg ähnliches vor, um dem Missstand abzuhelfen. Das Forstamt Worlik jedoch beantragte bei der Herrschaftsdirektion die Einschaltung der Behörden, damit der öffentliche Weg repariert werde und der fürstliche nicht weiter durch den Mühlenverkehr in Mitleidenschaft gezogen werde. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. Siehe grundsätzlich zu diesem Themenkomplex auch Kapitel 5.1.1.

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Beispiele eigensinnigen Verhaltens zeigen. Dazu gehörte neben dem Festhalten am Alkoholkonsum das „Vererben“ der cottages oder auch der Anspruch auf ein gewisses Maß an Privatheit und Unabhängigkeit, das sich im Wohnen in den open villages ausdrückte, auch wenn dies für die Betreffenden bedeutete, dass sie häufiger arbeitslos waren als die Bewohner der sogenannten geschlossenen Dörfer, weitere Wege zu ihren Arbeitsorten zurückzulegen hatten und zumeist von der charity der adeligen Gutsbesitzerfamilie ausgeschlossen blieben. Schaut man vergleichend nach Böhmen, so kann man sehen, dass die verschiedenen Gruppen der ländlichen Unterschichten, wenn sie auf adeligen Gütern arbeiteten, ebenfalls „Kombilöhne“ erhielten, wozu auch die Stellung einer Unterkunft gehörte.166 Auch hier waren dies Strategien adeliger Arbeitgeber, die als disziplinierende Herrschaftspraktiken intendiert waren, drohte doch böhmischen Deputatistenfamilien im Konfliktfall ebenso der Verlust von Einkommen und Unterkunft. Ähnlich wie in England bedeuteten diese vom adeligen Arbeitgeber gestellten Unterkünfte auch in Böhmen keine Privatheit für ihre Bewohner, denn die adeligen Besitzer behielten sich hier ebenso vor, in die Lebenspraktiken der dort Wohnenden einzugreifen, indem sie Untervermietungen oder die Aufnahme von erwachsenen Kindern unterbanden167 oder genau festlegten, wie viele Tiere jemand auf dem Land um die Unterkunft herum halten durfte.168 166 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.4. Anders als die cottages in England haben die Unterkünfte der Arbeitskräfte auf den böhmischen Gütern auch in der Forschung so gut wie keine Aufmerksamkeit gefunden. Eine der wenigen Ausnahmen ist ein Aufsatz von Jan Žižka, der sich mit dem Bau von Wirtschafts- und Wohngebäuden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Herrschaft Zlonice der Fürsten Kinsky befasst. Es passt ins Bild, dass auch in dieser Untersuchung eher die Wirtschafts- als die Wohngebäude im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Jan Žižka: Hospodářské dvory na panství Zlonice [Wirtschaftshöfe der Herrschaft Zlonice]; in: Časopis památkového ústavu středních Čech v Praze 13/1999, S. 3–22. Unterkünfte für Gutsangestellte wurden auch auf anderen böhmischen Gütern errichtet, siehe als nur als ein weiteres Beispiel die umfangreichen Unterlagen, einschließlich Bauzeichnungen, für solche Wohnhäuser, die die Fürsten Schwarzenberg im Örtchen Staré Sedlo, das zum Gut Orlík gehörte, im Jahre 1892 errichten ließen. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 850. In diesem Bestand finden sich auch weitere Dokumente über Baumaßnahmen, etwa zum Bau von Wohngebäuden bei der fürstlichen Ždakover Dampfbrettsäge, Aufzeichnungen vom 19.6. und 10.7.1869. Ebd. 167 ����������������������������������������������������������������������������������� So schrieb Fürst Schwarzenberg persönlich am 28.8.1888 an seine Herrschaftsdirektion in Orlík, er habe zwar „dem Hlinka … eine Dienstwohnung“ zugewiesen, keinesfalls aber sei er zu dulden gewillt, „daß derselbe in dieser Wohnung ein Individuum – und sei dies auch sein Sohn – beherberge, welches zu selbständigem Erwerb befähigt“ sei. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 989. 168 Die private Geflügelhaltung auf den Meierhöfen war offenbar ein Problem, gegen das das Verwaltungspersonal immer wieder vorgehen musste. So verfügte ein Circular der

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Anders als ihre englischen Standeskollegen gingen böhmische Adelige jedoch nicht „flächendeckend“ gegen den Alkoholkonsum ländlicher Gruppen vor, auch wenn es natürlich Entlassungen wegen Trunkenheit gab.169 Vielmehr hatten sie, da auf den meisten Gütern Bier gebraut wurde, ein Interesse daran, dass ein wohlschmeckendes Getränk erzeugt wurde, das gute Gewinne einbrachte.170 Wirtschaftsdirektion Orlík vom 8.2.1912 mit Verweis auf in dieser Sache bereits erlassene Anordnungen, dass je Haushalt Wirtschaftsbeamte bis zu 24 Hühner halten dürften, Bedienstete bis zu zwölf und Gesinde, „insofern solche [i. e. die Hühnerhaltung] diesem fallweise überhaupt gestattet wird“, nicht mehr als sieben Hühner. „Absolut verboten“ blieb die „Gänsehaltung in freiem Auslaufe“, denn das Geflügel verursachte insgesamt beträchtlichen Flurschaden. Geahndet wurden Übertritte durch „sofortige Abschlachtung jedes über die bewilligte Zahl vorgefundenen Geflügels“. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852. Weitere Auseinandersetzungen um die Geflügelhaltung Schwarzenbergscher Bediensteter finden sich im gleichen Bestand im kart. 851. 169 Siehe den Verweis auf diesbezügliche Regelungen z. B. auf den Czerninschen Gütern, Schreiben des Rentamtsadjunkten Albin Faltus vom 23.12.1906. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1425. 170 Zur Schwarzenbergschen Bierproduktion in Protivín siehe Anna Smolková und Oldřich Šeda: Protivínský pivovar v proměnách času [Die Brauerei in Protivín im Laufe der Zeiten], České Budějovice 1998, wobei die Arbeit über die Schwarzenbergsche „Zeit“ hinausgreift und die Geschichte der Brauerei bis in Gegenwart erzählt. Die Fürsten Schwarzenberg waren jedoch keineswegs die einzigen Hochadeligen, die Brauereien unterhielten. So kommentierte Jaromir Graf Czernin die Bierproduktion des Jahres 1856/57 auf seinen Gütern mit den Worten: „Wird stets ein gutes Bier erzeugt, so kann auch auf wünschenswerthen Absatz gerechnet werden. Auf die möglichste Eintreibung der Geldrechte ist ein wachsames Auge zu haben.“ Wirtschaftsbericht der Herrschaftsdirektion Neuhaus für den Monat Juli 1858 und die Erledigung desselben durch den Grafen vom 23.8.1858. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1023. Anders als der Earl of Shrewsbury, der selbst das tageweise Aufstellen einer refreshments booth unterband (siehe Kapitel 3.1.2), hatten die Fürsten Schwarzenberg keine Probleme mit der Verpachtung von Schänken, die sich z. T., wie das Wirtshaus „Am Pradlo“, in der Nähe des Třeboňer Schlosses befanden. Siehe dazu die umfangreichen Unterlagen im Bestand SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 930 und kart. 931, die sich auf den Zeitraum 1854–1936 beziehen. Auffallend an diesen Unterlagen ist nicht die Bekämpfung von Alkoholkonsum, sondern dass Eingaben um Pachten sowohl auf Tschechisch als auch auf Deutsch verfasst waren, und dass die Pachtverträge im gesamten Zeitraum zweisprachig, links deutsch, rechts tschechisch, abgefasst wurden. Bemerkenswert an diesen Unterlagen ist ferner, dass sich der Fürst immer wieder selbst mit den Bittgesuchen um Erteilung von Pachten beschäftigte und dann die notwendigen Anweisungen an seine Wirtschaftsdirektion gab. Siehe dazu z. B. die Schreiben vom 12.4.1860 oder vom 31.8.1869. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 930. Eine enge Verbindung von drink industry und agrarischen Interessen hatte es in England bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus ebenfalls gegeben. Harrison, Drink, S. 57.

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Auch die Gründung von Landarbeitergewerkschaften musste der böhmische Adel nicht unterbinden, denn insgesamt erfolgte die Vergesellschaftung agrarischer Interessen, auch im bäuerlichen Milieu, in Böhmen erst sehr spät. Peter Heumos führt als Begründung dafür eine ausgeprägte ökonomische Binnendifferenzierung an und die Existenz von bereits vor der Bauernbefreiung bestehenden geschlossenen, gegeneinander abgegrenzten, kleinräumigen soziokulturellen Milieus. Diese fielen nicht mit den Sprachgrenzen zusammen und hatten auch nach 1848 trotz der Ausbildung überregionaler Märkte oder des Eisenbahnnetzes im Kern Bestand, weil sie spannungsabpuffernd wirkten und soziokulturelle Sicherheit vermittelten.171 In diese kleinräumigen soziokulturellen Milieus waren auch die verschiedenen unterbäuerlichen Gruppen eingebunden, so dass hier vor dem Ersten Weltkrieg kaum auch nur Ansätze einer gewerkschaftlichen Organisation festzustellen sind, zumal diese, ähnlich wie auch in England, erst um die Jahrhundertwende von den politischen Parteien „entdeckt“ wurden. Es waren in Böhmen vor allem die Sozialisten, die mit den Wahlrechtserweiterungen der Jahre 1897 und 1907 ihre ausschließliche Konzentration auf die Industriearbeiterschaft aufgaben und sich zunehmend um dörfliche Wähler bemühten, wobei ihr Augenmerk allerdings vor allem den kovozemědělci, wörtlich den Metallbauern, galt, d. h. Industriearbeitern, deren Frauen Nebenerwerbsbetriebe bewirtschafteten.172 Eine Situation wie in England in den 1870er Jahren entstand somit in Böhmen nicht, und der dortige Adel musste sich entsprechend auch nicht gegen ein konkurrierendes Ordnungsmodell durchsetzen. Womit sich adelige Gutsbesitzer jedoch sehr wohl auseinanderzusetzen hatten, und dies, wie wir gesehen haben, in beiden untersuchten Regionen, das waren eigenlogische Praktiken bäuerlicher Gruppen wie ländlicher Unterschichten. Dagegen mussten adelige Arbeitgeber, die in Böhmen wie in England zu den fortschrittlichsten Landwirten gehörten, immer wieder Überzeugungsarbeit setzen, wenn sie technische Neuerungen einführen wollten, mochte dies die Akzeptanz von Drainage173, den Anbau von Zuckerrüben174 oder das Einhalten bestimmter Fruchtwechselfolgen betreffen. So beklagte Lord Vane, der spätere Marquess of Londonderry, in einer Broschüre aus dem Jahre 1850, dass das Festhalten an einer veralteten Fruchtwechselfolge den Boden auslauge und seine Investitionen in die Entwässerungssysteme zunichte 171 ����������������������������������������������������������������������������������� Peter Heumos: Interessensolidarität gegen Nationalgemeinschaft. Deutsche und tschechische Bauern in Böhmen 1848–1918; in: Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848– 1918, hrsg. v. Ferdinand Seibt, München 1987, S. 87–99. 172 Kárník und Měchýř, Social Democracy, S. 301–323. 173 ������������������������������������������������������������������������������������� Mingay, Rural Life, S. 54. Zur Pionierrolle der Fürsten Schwarzenberg bei der Einführung der Drainage in Böhmen wie auch auf dem Kontinent insgesamt siehe Adolf Kalný: Priorita třeboňského velkostatku v drenážování [Die führende Rolle des Gutsbesitzes Třeboň bei der Einführung der Drainage]; in: Archivum Trebonense 9/2001, S. 131ff. 174 Für England siehe Howkins, Men, S. 5ff.; für Böhmen Krafft, Großgrundbesitz, S. 182.

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zu machen drohe: „I deplore and have a right to complain that the drainage has not been followed by such spirited and improved cultivation as to enable you to realise the advantages which it is calculated to afford.“ Sollten die Pächter an ihren veralteten Anbaumethoden festhalten, so drohte er ihnen: „You need not look for my sympathy to your old mistaken habits.“175 Nach langen Ausführungen, was zu ändern sei, schloss er mit den Worten: „Their [der zuvor genannten Maßnahmen] success and our united prosperity (for remember our interests are the same), depends altogether on the manner in which they are carried into execution.“176 Ganz ähnlich verhielt sich auch Graf Czernin seinen Pächtern gegenüber: Als sich sein Domänendirektor für einige von ihnen verwenden wollte, weil diese durch Regenfälle Ernteeinbußen erlitten hatten, beschied ihm der Graf nur, auch den Pächtern hätte die Verwendung sogenannter Hutmandeln freigestanden, was auf seinen Gütern die Verluste deutlich reduziert habe. Da die Pächter dies jedoch abgelehnt hätten, müssten sie die Konsequenzen nun selbst tragen.177 Schwerer hatten es die böhmischen Adeligen und ihr leitendes Personal, wenn sie mit aus ihrer Sicht veralteten Praktiken unter den eigenen (mittleren und niederen) Angestellten aufräumen wollten. Während auf dem einen Gut, das vor allem Fischzucht betrieb, hartnäckig – und zum großen Ärger seines adeligen Besitzers – daran festgehalten wurde, Teiche „nach uralter Gewohnheit“ abzulassen178, brachten den Schwarzenbergschen Wirtschaftsrat in Orlík Praktiken beim Abkalben in Rage. Diese führten dazu, dass viele Jungtiere von Erstlingskühen nur einen schlechten Preis erzielten oder gar notgeschlachtet werden mussten, jedenfalls für die Zucht ungeeignet waren. Noch aus der Mitschrift seines Vortrags lässt sich seine Verärgerung herauslesen, donnerte er doch die Anwesenden an: „Wo existiert denn ein Naturgesetz, welches den Erstgeborenen alle Lebensfähigkeit [und] volles Gedeihen abspricht?“ Um dem Missstand abzuhelfen, verfügte er, dass Abkalbungen nur noch in bestimmten Ställen stattfinden durften und dass diese Regelungen auch für sogenannte „Deputatskühe“ galten, die wegen der Milchdeputate179 bei Bediensteten im Stall stünden. Ihnen hätten die Ökonomieleiter Ersatzkühe für die trächtigen Tiere zur Verfügung zu stellen.180 175 ����������������������������������������������������������������������������������� Beide Zitate: Lord Londonderry to the Tenantry of the Wynyard, Longnewton, and Seaham Estates, 25.1.1850, S. 4. CROD: D/Lo/E 1048. 176 Ebd., S. 11. 177 Wirtschaftsbericht der Herrschaftsdirektion Neuhaus für den Monat Juli 1858 und die Erledigung desselben durch den Grafen vom 23.8.1858. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1023. 178 Ebd. 179 Siehe dazu Kapitel 3.2.1. 180 Vortrag des Wirtschaftsrates in der Inspektionskanzlei Orlík, 14.7.1872. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 852.

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Leider ist nichts darüber bekannt, wie erfolgreich diese Maßnahme war. Doch führte das Aufeinandertreffen von eingewurzelten, eigensinnig beibehaltenen Praktiken und Anordnungen seitens des agrarwissenschaftlich geschulten Personals immer wieder zu Konflikten, so dass noch eine Schrift aus dem Jahre 1901 über die Güterbeamten darauf verwies, deren theoretisches Wissen könne bei Schaffern, Gesinde und Tagelöhnern Spott auslösen.181 Wie hartnäckig die genannten Gruppen an ihren Praktiken festhielten, lässt sich nicht zuletzt an der Stabilität des Vorurteils vom unbeweglichen, dummen Bauern erkennen. So klagte ein Berichterstatter der Bezirkshauptmannschaft České Budějovice 1853: „Die unverbesserliche Indolenz des Landmannes, das starre Festhalten an der Übung des Vaters und Großvaters, das unüberwindliche Misstrauen gegen jede empfohlene Neuerung“ sei nicht auszurotten.182 Auf dem Gonobitzer Gut der Fürsten Windisch-Graetz wiederum wurde der neue Verwalter 1858 gewarnt: „Den Winzern dürfen Sie ja nicht trauen. Diese Leute scheinen unter der Maske des Blödsinns zu Übervorteilungen geneigt, ja vielleicht auch schon daran gewöhnt.“183 Vermeintliche Tumbheit und die sprichwörtliche Bauernschläue mochten jedoch nicht selten Hand in Hand gehen, denn während ein Stimmungsbericht gerade noch die Indolenz beklagt hatte, ereiferte sich ein anderer darüber, dass die Bauern der Regierung ihre Emanzipation nicht dankten, sondern den Beamten minutiös alle Steuern nachrechneten, um sich dann darüber zu beklagen.184 Während die verschiedenen Gruppen bürgerlicher (Guts- wie Staats-)Beamter nicht selten Mühe hatten, bäuerliche bzw. ländliche Logiken zu verstehen, waren diese den adeligen Gutsbesitzern vertrauter.185 Auch mussten sie, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, ein gewisses Maß an Eigensinn grundsätzlich dulden. Diese Prämisse hielt adelige Gutsbesitzer jedoch weder in Böhmen noch in England davon ab, in Einzelfällen zu überaus drastischen Maßnahmen zu greifen, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen. Die erste Episode spielte sich zu Anfang des Jahres 1884 auf den Gütern des Dukes of Bedford ab. Der herzogliche Verwalter teilte dem foreman Robert Brewster im Januar mit, dass seine Dienste mit Auslaufen des Quartals nicht mehr gebraucht würden und dass er daher zu diesem Zeitpunkt auch das von ihm bewohnte cottage zu räumen habe. Es werde ihm dann auch sein Jahreslohn ausbezahlt. Was der Kern des vorangegangenen Konflikts gewesen sein mag, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, doch versuchte Robert Brewster zu seinen Gunsten geltend zu machen, dass er seit 32 Jahren in den Diensten des Dukes stehe, nun aber verleumdet worden sei, denn er habe sich 181 182 183 184 185

Günther, Vergangenheit, S. 63. Zitiert nach Stölzl, Ära, S. 42. Zitiert nach Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 128. Stölzl, Ära, S. 26. Siehe dazu die Kapitel 3.2.1 bis 3.2.3 zu Böhmen.

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immer nur für die Erhaltung des herzoglichen Eigentums eingesetzt (indem er etwa verhindert habe, dass Pferde die Rinden von Bäumen auf dem Gut abfräßen). Auch verwies Brewster darauf, dass er bereits 51 Jahre alt sei und eine Frau sowie sieben Kinder zu ernähren habe. Der Protest nützte der Familie jedoch nichts: Der „Musterpaternalist“ Bedford beauftragte einen emigration agent, der Anfang April eine Schiffspassage für die Brewsters zum Preis von 180 £ buchte, was ein Vielfaches des Jahreslohnes eines Gutsvorarbeiters darstellte. Ziel der Reise war Queensland/Australien. Familie Brewster verließ in der Tat mit einem am 23. April 1884 auslaufenden Schiff Europa.186 Fast zeitgleich, im Jahre 1879, spielte sich die zweite angesprochene Episode auf einem Gut der Grafen Waldstein ab. Anders als im Falle Robert Brewsters ist hier überliefert, warum die Familie des Schaffers Josef Ježek zwangsweise versetzt wurde. Stein des Anstoßes war das Verhältnis der Tochter des Schafferehepaars mit einem Pater. Wie der zuständige Ökonomie-Inspektor in seinem Bericht festhielt, „moqui[e]ren“ sich darüber nicht nur die Hofleute, sondern auch die Dorfbewohner von Zweretitz; „am meisten sprechen die Schulkinder davon“. Der örtliche Wirtschaftsverwalter hatte dem Schafferehepaar nahegelegt, den Kontakt zu dieser Tochter abzubrechen, doch das hatte die Frau des Schaffers nachdrücklich abgelehnt. Auch „der Herr Inspektor“ sei „kein Herrgott“ – so zitierte er sie – und könne daher einer Mutter nicht den Umgang mit ihren Kindern verbieten. Da durch die Folgen dieser Affäre aber der Schaffer und seine Frau beim Meiereigesinde alle Achtung verloren hätten, forderte der Inspektor dringendst die Versetzung der Familie, die der Graf auch gewährte. Zwar verfügte die Habsburgermonarchie nicht über dominions, so dass der Familie Ježek keine Verschickung nach Übersee drohte, doch wurde mit Kleinbranitz eine Waldsteinsche Besitzung ausgesucht, die die größte mögliche Entfernung zum „Ort des Geschehens“ aufwies.187 Gerade von böhmischen Gütern sind weitere Vorfälle bekannt, in denen adelige Besitzer ihre ökonomischen und ihre Herrschaftsinteressen, die ja zusammengehören, mit drastischen Mitteln durchsetzten. Bereits an früherer Stelle ist darauf verwiesen worden188, dass die Grafen Thun 1872 verpachtete Parzellen nach Auslaufen der Verträge mit Hilfe einer herbeibeorderten Militäreinheit wieder in Besitz nahmen, um sie in Eigenregie zu bewirtschaften. Nicht weniger zimperlich ging auch Karl III. Fürst Schwarzenberg 1861 gegen die Bewohner der Gutsdörfer Kožlí und Velký Vír vor,

186 Siehe die Aufzeichnungen des Verwalters Benson aus den Monaten Januar bis April 1884. BaLARS: R 4/932. 187 Der erste Bericht in dieser Sache datiert vom 8.9.1879, die erfolgte Versetzung wurde unter dem 22.9.1879 berichtet. SOA Praha: RAV 3760, kart. 89. 188 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.3.

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in denen er nicht in die Gemeindevertretungen gewählt worden war: Er verbot ihre weitere Anstellung.189 Während die Konfliktfelder zwischen grundbesitzendem Adel und ländlicher Gesellschaft sich in den beiden untersuchten Regionen deutlich unterschieden, verhielten sich böhmische und englische Hochadelige bei der Durchsetzung ihrer Herrschaftsinteressen durchaus ähnlich. Hinzu kamen noch weitere Gemeinsamkeiten: Weder in England noch in Böhmen konnten die betroffenen Gruppen auf wirkungsvolle Hilfe von außerhalb der ländlichen Gesellschaft rechnen. Der englischen bürgerlichen Öffentlichkeit ging es, wie am Beispiel der cottages und des Alkoholkonsums bereits dargelegt, um die Hebung von respectability und nicht um die Beseitigung eines sozialen Missstandes. Die Nöte von Landarbeitern sowie von Pächtern und erst recht ländliche Eigenlogiken blieben ihr weitgehend fremd. Dies zeigt sich neben den schon geschilderten Diskursen besonders deutlich an den Auseinandersetzungen um die vagrants. Selbst nach dem „Großen Hunger“, bei dem in Irland in Folge der Kartoffelfäule in den späten 1840er Jahren nach Schätzungen mehr als 1,1 Millionen Menschen umkamen und allein zwischen 1845 und 1855 weitere 2,1 Millionen emigrierten, sahen viele englische Zeitgenossen in den Landstreichern und Bettlern nichts anderes als arbeitsscheues, unmoralisches Volk, das sich der Kriminalität und Prostitution hingab, sich nicht an das Reglement der workhouses hielt und als unde­ serving poor den lokalen Steuerzahlern auf der Tasche lag.190 189 Zdeněk Bezecný verweist in seiner Untersuchung noch auf weitere ähnliche Fälle. Siehe dazu Bezecný, Příliš, S. 68f. 190 Bettelei war auch ein Thema für die BPP, so z. B. in den Jahren 1866 und 1871. In einem Bericht des Poor Law Inspectors W. H. T. Hawley an den President des Poor Law Board vom 2.12.1865 plädierte Hawley nachdrücklich für ein einheitliches Vorgehen gegenüber den Bettlern, da „sympathy with them only tended to encourage mendicancy and imposture, and to waste the money of hardworking ratepayers on worthless objects who would not work themselves.“ BPP: 1866, Bd. XXXV, S. 643. Entsprechend der viktorianischen Neigung, Statistiken zu führen, finden sich diese auch in den BPP, z. B. im genannten Bd. XXXV aus dem Jahre 1866, wo nach Grafschaften die vagrants aufgeführt wurden, die relief erhielten (S. 634f.). Eine Anfrage des Unterhauses vom März 1870 nach den „criminal and vagrant lunatics“ wurde ebenfalls statistisch beantwortet. Siehe dazu BPP: 1871, Bd. LVIII. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung der vagrants insgesamt siehe auch C. J. Ribton-Turner: A History of Vagrants and Vagrancy and Beggars and Beg­ging, London 1887. Zur great famine Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 564–571. Er führt aus, dass mit Blick auf Irland in der englischen Öffentlichkeit die Überzeugung vorherrschte, dass die Regierung nicht in das freie Spiel der Marktkräfte eingreifen solle. Daneben bestanden Ideen des social engineering: Wenn Irland schon nicht in eine Industriegesellschaft verwandelt werden könne, dann sei wenigsten die Landwirtschaft dem englischen Modell anzugleichen, mit wohltätigen landlords, prosperierenden Pächtern und ehrerbietigen Landarbeitern. Die sog. Gregory clause des Poor Law Extension Act von

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Während es daher in den englischen Debatten der bürgerlichen Öffentlichkeit darum ging, sich selbst als Instanz zu etablieren, die in Fragen der Respektabilität tonangebend war – ein Anspruch, den die englische Aristokratie überwiegend mit Schweigen überging – gab es in der böhmischen Öffentlichkeit solche Auseinandersetzungen erst gar nicht. Die Unterkünfte von Landarbeitern oder der ländliche Alkoholkonsum waren für sie, mag sie tschechisch- oder deutschsprachig gewesen sein, kein Thema. So konnte der bierbrauende böhmische Hochadel, wie geschildert, weiterhin vor allem seinen Absatz im Auge haben oder Eugen Graf Czernin sich nach einem Besuch in Woburn 1851 von dem Musterpaternalistentum der Dukes of Bedford unbeeindruckt zeigen. Der Graf notierte in seinem Tagebuch: „Am Anfang des Ortes die vom Herzog für Arbeiter nun erbauten Häuser in cottage form, sehr gesund und sehr comfortable und als große Wohlthat gepriesen. Wenn man hört, daß der Gründer sich von den Bewohnern 3 Prozent des verwendeten Kapitals zahlen läßt (der in England gesetzmäßige Zinsfuß also wie bei uns 5 Prozent) und er hierdurch überdies die so nöthigen Arbeitskräfte gewinnt, so verschwindet das Verdienst des Großmuths. Meine erbauten Pausken [?] … tragen mir kein Prozent!“191 Auch die fehlende gewerkschaftliche Vertretung in Böhmen passt ins Bild: Erst sehr spät konnten vor allem „teilindustrialisierte“ Gruppen auf eine Unterstützung ihrer Belange von außerhalb der ländlichen Gesellschaft hoffen. Noch eine dritte Gemeinsamkeit, die Böhmen und England verband, ist neben dem Interesse des Adels an der Durchsetzung von Herrschaft und der fehlenden Unterstützung ländlicher Gesellschaften durch das Bürgertum oder organisierte Gewerkschaften festzuhalten: Die Regierungen in London wie auch in Wien, mochten sie sich auf liberale oder auf konservative Mehrheiten stützen, sahen bei allen Unterschieden den Schutz von Eigentumsrechten und die Gewährung von Vertragsfreiheit als Wert an, dem sie sich verpflichtet fühlten.192 Dahinter verbarg sich keine „Adelsschutz“-Gesetzgebung, sehr wohl aber eine der besitzenden Klassen, zu der die Aristokratie in beiden Großregionen gehörte. Im Ergebnis blieben die Konflikte zwischen grundbesitzendem Adel und den verschiedenen Gruppen der Agrargesellschaft daher auf den ländlichen Raum beschränkt. Bündnispartner von außerhalb oder staatliche Unterstützung fanden Bauern, Pächter, Häusler, Landarbeiter oder die Angehörigen der ländlichen Unter1847 schloss daher die Besitzer kleiner landwirtschaftlicher Einheiten aus bzw. um Hilfe zu erhalten, mussten sie ihre Besitzungen den landlords überschreiben. Ebd., S. 570f. 191 Eugen Graf Czernin, Reisetagebuch der Englandreise, Eintrag vom 4.9.1851. SOA Třeboň, Zweigstelle JH. 192 Eine grundsätzliche Änderung trat in England erst mit der Regierung Lloyd Georges und dem People’s Budget von 1909, also einer stärkeren Besteuerung des Grundbesitzes, ein. Siehe dazu Cannadine, Decline, S. 69f. In Böhmen blieb eine Bodenreform erst der tschechoslowakischen Regierung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vorbehalten.

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schichten erst spät. Der grundbesitzende Adel konnte daher seine Herrschaft hier aufgrund seiner starken ökonomischen Position, über tradierte Praktiken und durch flexible Anpassung an die Gegebenheiten der Moderne bis zum Ersten Weltkrieg aufrechterhalten. Im Vergleich, so sei an dieser Stelle festgehalten, lässt sich also zeigen, warum angesichts vieler Gemeinsamkeiten zwischen England und Böhmen jene Themen, an denen sich in England die Konflikte entzündeten, in Böhmen weit weniger Potential für Auseinandersetzungen bargen. Hier standen Naturaldeputate und Nutzungsrechte an Wäldern und Gewässern im Mittelpunkt von Streitigkeiten, und im Unterschied zu England waren diese – ausgenommen die Landarbeitergewerkschaften – originäre Konflikte der ländlichen Gesellschaft, die nicht auf in sie diskursiv hineingetragenen, konkurrierenden Machtansprüchen bürgerlicher Gruppen beruhten. Gerade weil in Böhmen der Ort dieser Auseinandersetzungen die ländliche Welt war, konnten großgrundbesitzende Adelige sie nicht mit Schweigen übergehen, wie es ihren englischen Standeskollegen in den Diskussionen um eine bürgerlich geprägte respectability vielfach möglich war, sondern sie mussten aushandelnd agieren. Betrachtet man die Konflikte in Böhmen von der Seite der verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft, so fällt auf, dass ihre Vertreter in beträchtlichem Maße Eigenlogiken folgten, wenn sie sich Naturaldeputate, Holz, Fische, Wasser, Sand oder Kies aneigneten. Zur Legitimation ihres Tuns beriefen sie sich auf Rechtsgewohnheiten aus der Zeit der Erbuntertänigkeit. Methodisch gewendet kann man daher formulieren, dass diese Akteure der ländlichen Gesellschaft im Alltag auf bestimmte Praktiken „zurück“-griffen, mit denen sie ihre Interessen gegen die ökonomisch überaus starken adeligen Großgrundbesitzer und Arbeitgeber durchzusetzen versuchten. Diese Handlungsweisen wiederum waren selbstverständlich nicht beliebig, sondern wurzelten ihrerseits in bestimmten Ankerpraktiken, konkret: in einem vormodernen Rechtsverständnis, in dem Rechtsgewohnheiten einen hohen Stellenwert hatten. Diese Berufung auf Rechtsgewohnheiten zur Legitimierung des eigenen Handelns zieht sich wie ein roter Faden durch die drei Kapitel, in denen die typischen böhmischen Konfliktfelder beschrieben worden sind. Im Kontext einer lokal gebundenen, nicht mehr rechtlich fundierten, sondern in Aushandlungsprozessen je neu angemeldeten, durchgesetzten und repräsentierten Herrschaft böhmischer adeliger Großgrundbesitzer lässt sich daher die Stabilität von Verhaltensweisen ländlicher Gruppen im Kontext von Wandlungsprozessen beschreiben und somit die kulturelle Formung sozialer Strukturen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Akteure der ländlichen Gesellschaft in der Vormoderne „stecken“ geblieben wären. Vielmehr nutzten sie tradierte Konflikterfahrungen193 und Rechtsinstitute, um ihre aktuellen Anliegen zu realisieren und Pro193 ����������������������������������������������������������������������������������� Diese tradierten Konflikterfahrungen sind für Böhmen wie für viele Regionen Mitteleuropas mit Blick auf die Frühe Neuzeit recht gut erforscht. Grundsätzlich zeigen die

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bleme zu lösen. Sie trafen dabei in Böhmen auf einen Hochadel, dem zwar einerseits diese traditionalen kulturellen Praktiken aus seinem langen Herrschaftsgedächtnis wohl vertraut waren, der aber andererseits häufig recht modern agierte: Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er zunehmend staatliche Instanzen zur Deeskalation der Konflikte und zur Durchsetzung seiner materiellen Interessen einschaltete. Gleichzeitig, und dies wird ebenfalls mit Blick auf die Naturaldeputate wie auch die Aneignungen/Diebstähle aus seinen Forsten und Gewässern deutlich, konnte er seine Herrschaft nicht aufrechterhalten, ohne gewisse Aneignungspraktiken zu tolerieren. Angesichts der schier unendlichen Zahl der an sich kleinen Alltagskonflikte war eine Verhinderung realistischerweise nicht zu erwirken, ja nicht einmal eine Bestrafung aller tatsächlichen Täter. Viele böhmische Adelsfamilien bemühten sich daher um eine Art zweigleisiger Strategie: Sie versuchten, Fügsamkeit dadurch zu erzeugen, dass sie in konkreten Einzelfällen durchaus harte, z. T. drakonische Strafen verhängten194, gleichzeitig aber Rechtsgewohnheiten, die sie nicht vollständig verschiedenen Studien, dass die Streitkulturen nicht nur ausgesprochen vielgestaltig waren, sondern dass den Gewaltpraktiken in den ländlichen Gesellschaften auch eine spezifische Bedeutung zukam. Die offensichtliche Konflikthaftigkeit der Gesellschaften muss dabei nicht unbedingt als negativ interpretiert werden, sondern die verschiedenen Autoren und Autorinnen zeigen vielmehr die Fähigkeit der Akteure, mit Konflikten kommunikativ umzugehen, sie auszuhalten, einen Schlichter einzuschalten, die Gerichte in ihrem Sinne zu nutzen (oder dies zumindest zu versuchen) sowie eine Reihe weiterer Praktiken. Welche der Praktiken aber auch immer zur Anwendung kamen: Zu sehen ist, dass das Austragen von Streit stets kulturellen Regeln unterlag, die nicht selten bis in die Moderne tradiert wurden, wobei sie im Verlauf dieses Prozesses Veränderungen und Adaptionen erfuhren. Zur Frühneuzeit siehe u. a. Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im „Alten Reich“. Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit, hrsg. v. Markus Cerman und Robert Luft, München 2005. Ogilvie, Communities, S. 69–119. Pavel Himl: Die ‚armben Leüte‘ und die Macht. Die Untertanen der südböhmischen Herrschaft Český Krumlov/Krumau im Spannungsfeld zwischen Gemeinde, Obrigkeit und Kirche (1680–1781), Stuttgart 2003. Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit, hrsg. v. Magnus Eriksson und Barbara Krug-Richter, Köln 2003. Soziale Strukturen in Böhmen. Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften, 16.–19. Jahrhundert, hrsg. v. Markus Cerman und Hermann Zeitlhofer, Wien/München 2002. Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, hrsg. v. Jan Peters, Berlin 1997. Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Jan Peters, Göttingen 1995. 194 Die Kapitel 3.2.1 bis 3.2.3 sowie Ausführungen früher in diesem Kapitel haben gezeigt, dass adelige Arbeitgeber in Böhmen durchaus nicht zimperlich waren, wenn es darum ging, Gutsangestellte und Dörfler, die ihnen negativ aufgefallen waren, zu entlassen, strafweise auf entfernte Besitzungen zu versetzen oder von einer zukünftigen Beschäfti-

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negieren konnten, in etwas umwandelten, das man aus heutiger Perspektive als Sozialleistungen eines großen Arbeitgebers beschreiben kann195. Dazu gehörte etwa die Verpflegung im Dienst196, die Krankenversorgung – die Grafen Nostiz gründeten gar eine eigene „Betriebs-Krankenkasse“ – 197, die Einrichtung von Pensionsgung auf den Gütern auszuschließen. Dies gilt auch nicht nur für die Forst- und Teichwirtschaft, sondern auch für die eigentliche Landwirtschaft. Siehe dazu das Beispiel der Getreidediebin Maria Novák, bei der bei einer Hausdurchsuchung 19 Garben Samengetreide und 15 Garben Gerste gefunden worden waren. Die Beschuldigte berief sich darauf, dass sie das Getreide nicht geklaut habe, sondern durch Nachrechen sammeln konnte. Dies mochte weder die zuständige Gutsdirektion in Worlik glauben noch Fürst Schwarzenberg selbst, dem der Fall vorgelegt wurde. Der Fürst entschied daher, dass es zum einen die Aufgabe des Aufsichtspersonals gewesen wäre, einen solchen Diebstahl zu verhindern, der Betreffende daher Ersatz zu leisten habe, Maria Novák aber „vom heutigen Tage an von jeder herrschaftlichen Arbeit auszuschließen ist“. Relation vom 21.8.1867. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 969. Dienstentlassungen regelten außerdem z. B. auch die Amtsinstruktionen der Czerninschen Güter. Sie schrieben in der Fassung von 1.12.1887 im § 10 fest: „Die weitere Ausübung des Disciplinarrechts des Centraldirektors wird hiermit nicht näher defini[e]rt, sondern der Gewissenhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit desselben überlassen.“ Zur Pflicht gemacht wurde ihm aber die sofortige Entlassung bei Lüge, Ungehorsam oder Veruntreuung in Amtsangelegenheiten. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 991. 195 Ausführlicher dazu im Kapitel 4.1 mit den jeweiligen Unterkapiteln. Siehe dort auch die Ausführungen, warum diese Art der Sozialleistungen in England durchweg weniger verbreitet war. 196 Siehe dazu z. B. die Czerninschen Amtsinstruktionen vom 1.12.1887, § 58. Ebd. Auf den Schwarzenbergschen Gütern wurde schon seit den 1850er Jahren mit verschiedenen Maßnahmen zur Verköstigung des Meiereigesindes experimentiert. Siehe das Cirkular der Güterinspektion Prag an die Herrschaftsdirektionen Worlik und Cimelitz sowie an die Gutsverwaltungen zu Aujezd, Bukowan, Zalužan und Tochowitz, 2.4.1863. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 995. 197 Statut der Betriebs-Krankenkasse des Graf Erwein von Nostitzschen Eisenwerkes in Tothau und Schindlwald, 13.5.1889. SOA Plzeň, Zweigstelle Žlutice: Vs Jindřichovice, kart. 217. In den ländlichen Gegenden war jedoch die Versorgung durch den Domänenarzt typischer. Dieser kümmerte sich zumeist um „Dienstunfälle“ und war für alle Beschäftigten auf den Gütern zuständig, manchmal fungierte er darüber hinaus auch als Tierarzt. Siehe z. B. das Bewilligungsschreiben von Ernst Graf Waldstein an den Oberverwalter Hoffmann bzgl. der Leistungen von Dr. Schröder vom 28.2.1865. SOA Praha: RAV 3751, kart. 88. Schon zeitgenössisch kritisierte jedoch Max Winter, dass in den Schwarzenbergschen Waldungen es ganz in der Willkür des Försters stehe, ob Waldarbeitern ärztliche Behandlung und Medikamente tatsächlich zuteilwurden. Riesenfellner, Sozialreporter, S. 92. Allgemein zur Krankenfürsorge auf den Waldsteinschen Gütern, SOA Praha: RAV 3686, kart. 75. Zur ärztlichen Versorgung auf den Czerninschen Gütern siehe die Instruktionen vom 27.5. und 19.7.1908. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 1425. Problematisch konnte die Situation werden, wenn auf einen Arbeitsun-

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fonds198, die Unterstützung von Witwen und Waisen199 oder auch die Unterstützung im Todesfall200. Denn, so Alf Lüdtke: „Nur wenn die Ausübung von Herrschaft auch Vorteil und Befriedigung für die Beherrschten, vornehmlich für die Mächtigen unter ihnen, gewährte, ließ sich das gesellschaftliche Kräftefeld be-herrschen.“201 Diesen Nutzen aber, oder anders gesagt, diese Erhöhung der Chancen auf Gehorsam gegenüber Anordnungen, wollten sich böhmische Aristokraten durchaus erhalten. Während sich also in Böhmen in der Zeit der sogenannten Zweiten Leibeigenschaft im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg adelige Herrschafts- und Besitzverhältnisse erneut verfestigten202, diese Verhältnisse aber auch die ländliche Bevölkefall Dienstunfähigkeit folgte. So hatte sich der Maschinenwärter Anton Žak auf dem Schwarzenbergschen Gut Čimelic Verletzungen zugezogen, die ihn arbeitsunfähig hatten werden lassen. Der Fürst sah jedoch das Verschulden ausschließlich auf der Seite des ehemaligen Maschinenwärters und war nach einer Genesungszeit nicht mehr bereit, ihn durch Wohltätigkeitsmaßnahmen zu unterstützen. Anton Žak zog daraufhin vor Gericht, ein Verfahren, das sich aus den späten Jahren der Monarchie bis in die Tschechoslowakei hineinzog, und an dessen Ende der Fürst zur Zahlung einer Rente verurteilt wurde. Siehe die Aufzeichnungen vom 8.6.1911, 3.2.1917, 1.2.1921 und 19.9.1924. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 969. Zu den Maßnahmen der Schwarzenbergschen Primogenitur Jiří Záloha: Sociálni zařízení na statcích hlubockých Schwarzenberků [Soziale Einrichtungen auf den Gütern der Hlubokaer Linie der Schwarzenberger]; in: Studie k sociálním dějinám 7/2001, S. 15–28, S. 17–21. 198 �������������������������������������������������������������������������������������� Diese bestanden auf vielen böhmischen Gütern. Krafft, Großgrundbesitz, S. 122. In Hluboka bestand der Pensionsfonds bereits seit 1765. Záloha, Sociálni zařízení, S. 15ff. Aus dem frühen 20. Jahrhundert überliefert Max Winter jedoch Klagen von Forstarbeitern, die geltend machten, dass sie zwar Abzüge zu Gunsten der Pensionskasse, Auszahlungen im Alter jedoch nicht erhalten würden. Riesenfellner, Sozialreporter, S. 93. 199 Diese Einrichtungen gingen fast alle auf die Zeit der Erbuntertänigkeit zurück. Siehe etwa das Czerninsche Witwen- und Waiseninstitut, zu dem ein umfangreicher Bestand überliefert ist. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Fond: II / JH 14 – Černínský penzijní fond vdov a sirotků, 1803–1931 oder auch die entsprechenden Bestände der Familie Kolowrat im SOA Praha: Velkostatek Březnice, kart. 522. 200 ������������������������������������������������������������������������������������ Die Czerninschen Amtsinstruktionen sahen etwa für den Todesfall „eines aktiven Beamten oder Dieners“ die volle Lohnfortzahlung für ein Vierteljahr vor „zur Bestreitung der Krankheits-, Arztens-, Apothekers- und Begräbniskosten“. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 991. 201 ��������������������������������������������������������������������������������������� Alf Lüdtke: Einleitung – Herrschaft als soziale Praxis; in: Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, hrsg. v. dems., Göttingen 1991, S. 9–63, S. 55. 202 ���������������������������������������������������������������������������������� Zur Zweiten Leibeigenschaft siehe vor allem Eduard Maur: Gutsherrschaft und „zweite Leibeigenschaft“ in Böhmen. Studien zur Wirtschafts-, Sozial- und Bevölkerungsgeschichte (14.–18. Jahrhundert), München 2001, Ogilvie, Communities, S.  69–119 sowie dies. und J. S. S. Edwards: Frauen und „Zweite Leibeigenschaft“ in Böhmen; in: Bohemia 44/2003, S.  100–145. Verschiedene Autoren haben gezeigt, dass die Proto-

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rung mit bestimmten Rechten ausstatteten, an denen sie bis ins späte 19. Jahrhundert (und zum Teil darüber hinaus) eigensinnig festhielt, zeigt uns der Blick nach England ein anderes Bild. Feudale Herrschaftsrechte bestanden hier seit dem ausgehenden Mittelalter nicht mehr.203 Ähnlich jedoch wie in Böhmen nach der Revolution von 1848 war die ökonomische Stellung des grundbesitzenden Adels in England hiervon nicht betroffen. Diese wirtschaftliche Macht setzte er zu Beginn der Neuzeit ein, als er, zusammen mit kirchlichen Gutsherren, seinen Grundbesitz auf Kosten kommunaler Nutzungsrechte ausdehnte, um entweder seine Schafherden vergrößern zu können oder aber große Parklandschaften für die Jagd anzulegen. Während die Bauerngemeinden im Hochmittelalter noch dank königlicher Schutzgesetze und der Hilfe königlicher Gerichte eine gemäßigte Form der enclosures hatten erwirken können, fanden sie im 15. Jahrhundert bei ihrem Widerstand gegen die Pächter, die die Einhegungen vorantrieben und nicht selten herrschaftliche Funktionen als Schultheiße oder Steuereintreiber versahen, keine Unterstützung mehr vor den Hofgerichten.204 In der Konsequenz führten die enclosures daher nicht nur zur Abschaffung des dörfindustrialisierung in Böhmen durch diese gutswirtschaftlichen Strukturen nicht behindert wurde. Siehe dazu z. B. Milan Myška: Proto-Industrialisierung in Böhmen, Mähren und Schlesien; in: Protoindustrialisierung in Europa. Industrielle Fabrikation vor dem Fabrikzeitalter, hrsg. v. Markus Cerman und Sheilagh Ogilvie, Wien 1994, S. 177–191, Markus Cerman: Protoindustrialisierung und Grundherrschaft. Sozialstruktur, Feudalherrschaft und Textilgewerbe in Nordböhmen (15. bis 17. Jahrhundert); in: Protoindustrialisierung in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hrsg. v. Dietrich Ebeling und Wolfgang Mager, Bielefeld 1997, S. 157–198 sowie Freudenberger, Lost Momentum, S. 41. 203 Rösener konstatiert: „Vom 15. Jahrhundert an verschwanden in England allmählich die letzten Reste der Hörigkeit, so dass die englischen Bauern zu Beginn der Neuzeit innerhalb der europäischen Bauernschaft zweifellos den freiheitlichsten Rechtsstatus erlangt hatten.“ Rösener, Bauern, S. 110, siehe auch ebd., S. 102f. Außerdem Maurer, Geschichte, S. 55f. sowie Colin Platt: Medieval England. A Social History and Archaeology from the Conquest to A. D. 1600, London 1972. 204 Hartmut Zückert: Allmende und Allmendaufhebungen. Vergleichende Studien zum [sic!] Spätmittelalter bis zu den Agrarreformen des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart 2003, S. 138–219. Michael Turner und Donald Woodward: Theft from the Common Man – The Loss of ‘Common’ Use Rights in England; in: History, Economic History and the Future of Marxism. Essays in Memory of Tom Kemp (1921–1993), hrsg. v. Terry Brotherstone und Geoff Pilling, London 1996, S.  51–78. Siehe außerdem auch Gordon E. Mingay: A Social History of the English Countryside, London/New York 1990, S. 26– 30 (zu den Rechtsgewohnheiten, die in mittelalterlichen Feudalbeziehungen wurzelten) sowie S. 38–43 (zu den Einhegungen und den dadurch hervorgerufenen Veränderungen in der Frühen Neuzeit) und Nicholas Blomley: Making Private Property. Enclosure, Common Right and the Work of Hedges; in: Rural History 18/2007, S. 1–21. Siehe außerdem auch: Gemeinheitsteilungen in Europa. Die Privatisierung der kollektiven

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lichen Gemeinbesitzes, sondern verfestigten auch die typische Dreiteilung der englischen Agrargesellschaft aus grundbesitzendem Adel, ten­ant farmer und agricultural labourer, wovon oben205 schon die Rede war. Einher ging diese weitere ökonomische Stärkung des Adels mit einer von der englischen Literatur beschriebenen culture of deference.206 Die starke wirtschaftliche Stellung des Adels, die nur wenige eigenständige Agrarproduzenten übrig gelassen hatte, die Kultur der Ehrerbietung und die frühe Abschaffung von Rechtsgewohnheiten, auf die sich die Angehörigen der ländlichen Gesellschaft hätten berufen können – also das Fehlen von Ankerpraktiken – , waren in der Konsequenz dafür verantwortlich, dass sich eigensinnige Praktiken, wie sie für Böhmen beschrieben worden sind, zumindest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum (mehr) beobachten lassen.207 Nutzung des Bodens im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Stefan Brakensiek, Berlin 2000 ( Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2000/2). 205 Siehe dazu die Kapitel 2.1 zum Adel, 2.3 zu den bäuerlichen Gruppen und hier speziell zu den Pächtern in England sowie 2.4 zu den unterbäuerlichen Gruppen und hier speziell zu den Landarbeitern in England. 206 ������������������������������������������������������������������������������������� Schröder, Adel, S. 56f. Grundsätzlich auch David Cresap Moore: The Politics of Deference. A Study of the Midnineteenth Century English Political System, Hassocks 1976, außerdem Mingay, Gentry, S. 189–193 und Howkins, Reshaping, S. 97–100. In enger Verbindung zur Ehrerbietung stehen in der englischen (ländlichen) Gesellschaft Paternalismus und Patronage. Siehe dazu grundsätzlich David Roberts: Paternalism in Early Victorian England, London 1979 sowie Thompson, Landed Society, S. 16 und Rödder, Herausforderung, S. 226 und S. 229. 207 Siehe z. B. zum alten Recht des Ährensammelns Mingay, Social History, S.  106f. und Tim Shakesheff: Wood and Crop Theft in Rural Herefordshire, 1800–1860; in: Rural History 13/2002, S. 1–17. Zu dessen böhmischen „Pendant“ den Vorfall, der in Fußnote 194 in diesem Kapitel geschildert wird. Diese wie auch andere Formen der Aneignungen finden wir in der englischen Quellenüberlieferung für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts so gut wie nicht mehr. Eine der seltenen Ausnahmen, die die Regel des „Nichtvorkommens“ betont, ist eine Erlaubnis zum stick-picking von Mr. Benson, dem Verwalter des Dukes of Bedford, vom 23.2.1884, an Samstagen statt an Dienstagen, was den Vorteil habe, dass es dem Schulunterricht nicht im Wege stehe. BaLARS: R4/938. Hier handelt es sich allerdings kaum mehr um eine Rechtsgewohnheit der örtlichen Bevölkerung, an der diese eigensinnig festhielt, sondern die Erlaubnis ist eher mit den Sozialleistungen böhmischer Adeliger zu vergleichen. Es ist daher auch kein Zufall, dass sich diese Ausnahmebewilligung gerade in der Überlieferung der Dukes of Bedford gefunden hat, die in ihrem Selbstverständnis als Musterpaternalisten dem böhmischen Adel mit seinen Sozialleistungen am nächsten kamen. Angemerkt werden sollte vielleicht in diesem Zusammenhang außerdem noch, dass Aneignungen bei den Naturaldeputaten in England schon aus dem Grunde weniger wahrscheinlich waren, als es sich hier bei den Farmen um kleinere Einheiten handelte als in Böhmen, und die Pächter Diebstähle unmittelbar ahndeten, da es sich dabei um ihre direkten Verluste handelte.

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Dies sollte jedoch nicht so verstanden werden, dass der grundbesitzende Adel in England, zumal die Aristokratie, der ländlichen Gesellschaft Eigenlogiken grundsätzlich „ausgetrieben“ hätte. Das war nicht der Fall, was man daran sehen kann, dass die betreffenden Gruppen an bestimmten Praktiken festhielten, etwa wenn Pächter und Landarbeiter weiterhin Alkohol konsumierten oder wenn Landarbeiter versuchten, eine Beschäftigung als gewohnheitsmäßiges „Recht“ durchzusetzen208 bzw. cottages zu vererben.209 Auch zeigten sich Eigenlogiken in bestimmten Formen von Aneignungen, wie zum Beispiel der Wilderei.210 Die Wilderei war ein geradezu ubiquitäres Phänomen: Moderne Schätzungen gehen davon aus, dass in den 1820er Jahren ein Siebtel aller verurteilten Straftäter in England wegen der game laws einsaß, der Zeitgenosse und radikale Publizist William Cobbett schätzte ihren Anteil gar auf ein Drittel. Noch im Jahre 1870 gab es immerhin mehr als 100.000 Strafverfahren wegen Wilderei in England und Wales.211 Für den weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts lassen sich allerdings schlechter Zahlen erheben, weil poaching nun auf den petty sessions verhandelt wurde, deren Aktenüberlieferung zumeist lückenhaft ist. Das register of convictions für die Grafschaft Stafford­ shire führt zwischen 1874 und 1889 immerhin durchschnittlich 86 Verurteilungen wegen Wilderei pro Jahr an.212 208 Siehe z. B. den Brief eines Landarbeiters, der nach vielen Jahren der Beschäftigung keine weitere Arbeit auf den Gütern des Dukes of Bedford bekam, an dessen Verwalter vom 8.12.1884. Er versucht eine Art Gewohnheitsrecht für sich zu reklamieren, habe er doch bereits länger auf den Gütern gearbeitet als zwei seiner Kollegen und beschwert sich nun: „I are not having justice done by me, sir. [sic!]“. BaLARS: R4/ 931. 209 Siehe dazu die Kapitel 3.1.2 (Alkohol) und 3.1.1 (cottages). 210 ���������������������������������������������������������������������������������� Ähnlich wie der Holzdiebstahl gehört auch das Phänomen der Wilderei in den sozialgeschichtlichen Kontext der frühneuzeitlichen Konflikte um die Nutzung von Wäldern und ihren Ressourcen. Dies hat z. B. Norbert Schindler in seiner Studie über Wilderer im Salzburger Raum gezeigt. Norbert Schindler: Wilderer im Zeitalter der französischen Revolution, München 2001. 211 ����������������������������������������������������������������������������������� Schröder, Adel, S. 44f. Während Wilderei lange vor allem als ein Phänomen der landwirtschaftlichen Regionen Süd- und Ostenglands angesehen wurde, verweist eine neuere Untersuchung darauf, dass durchaus auch die Mitte und der Norden des Landes ihren Anteil daran hatten, wie dies ja auch die exemplarische Untersuchung für das mittel­ englische Staffordshire zeigt oder die Unterlagen aus den Beständen der Marquesses of Londonderry. Siehe auch Harvey Osborne und Michael Winstanley: Rural and Urban Poaching in Victorian England; in: Rural History 17/2006, S. 187–212. 212 CROSt: Q/RCr/6. Das register of convictions, das sich auf die gesamte Grafschaft bezieht, listet die folgenden Delikte auf: „Assaults“, „excise laws“, „drunkenness“, „game“, „weights and measures“, „sale of food act“ und „miscellaneous“, d. h. bei diesen Statis­ tiken geht es um jene Delikte, die auf den petty sessions abgeurteilt worden sind, denn Diebstähle, Raub, Betrug, Mord, auch Vergewaltigungen kommen nicht bzw. die ersten drei Gruppen von Straftaten nur in seltenen Ausnahmefällen vor. Mit Abstand an der

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Auch auf den adeligen Gütern hatten die Verwalter ständig ein Auge auf mögliche Verletzungen des Jagdrechts. So veranlasste der agent des Marquess of Londonderry mal die Anklage der Frau eines ehemaligen Arbeiters wegen des fortgesetzten Verkaufs von gewilderten Hasen (das Urteil lautete auf drei Monate Gefängnis)213, in einem anderen Fall drohte er einem Pächter mit Kündigung, weil dessen Vater angeblich wildere214. Geradezu ungehalten wurde Earl Vane, als ihm sein Verwalter Wyllie von einem Pächter schrieb, der behauptete, das Recht zu haben, Hasen und Kaninchen auf dem gepachteten Grund und Boden zu schießen, damit sie sich nicht zu einer Plage entwickelten. Mylord ließ seinen Verwalter umgehend wissen, dass nie ein Pächter von ihm je eine solche Erlaubnis erhalten habe, der Pächter im Falle eines Falles den keeper rufen solle, der als einziger berechtigt sei, die betreffenden Tiere zu schießen215 – und ganz offenbar auch entscheiden konnte, ob überhaupt eine „Plage“ vorliege. Schon diese wenigen Beispiele216 zeigen, dass sich mit dem Begriff der Wilderei unterschiedliche Konfliktlinien verbanden: Die Pächter wollten häufig vor allem den Schaden begrenzen, der ihnen durch das Auf- bzw. Abfressen von Saat und Pflanzen erwuchs. Zwar stand ihnen dafür eine Entschädigung zu, doch gab es auch nach den gesetzlichen Regelungen zur game compensation von 1881 und 1906 Auseinandersetzungen über ihre angemessene Höhe, weil Verwalter und adelige Besitzer stets geneigt waren, die Witterung oder ein Verschulden des Pächters als Grund für schwache Ernten anzunehmen, um die Zahlungen für Wildschäden zu drücken.217 Spitze steht Trunkenheit, gefolgt von „unanständiger Sprache“, gaming und betting. In das Mittelfeld der Häufigkeit gehören Verstöße gegen den Education Act oder gegen das school board, ferner Baden im Kanal, „furious driving“, „not in control of horses“, „cart without name“, unbeleuchtetes Fahrrad, Fahrradfahren auf Fußwegen, der Diebstahl von Äpfeln, Kartoffeln oder Rüben sowie Tierquälerei. Unter poaching habe ich folgende Verurteilungsbegründungen zusammengefasst: „Night poaching“, „poaching“, „poaching prevention act“, „game“, „game laws“, „game trepass“, „in possession of game“, „taking game without licence“ und „taking eggs“. Gemessen an der Gesamtzahl der Delikte sinkt der Anteil der aggregierten Daten für die Wilderei zwischen 1874 und 1889 von 6 auf 3 %. 213 Schreiben vom 7.3.1877. CROD: D/Lo/C 614 (19). 214 Schreiben aus dem Jahre 1894, genaues Datum unleserlich. CROD: D/Lo/C 352. 215 Schreiben zwischen Earl Vane und dem Verwalter Wyllie vom 26.7., 31.7. und 3.8.1866. CROD: D/Lo/C 314 (12–14). Allerdings scheint es unter der Mutter des Earls, Lady Frances Anne, ein solches Recht gegeben zu haben. Siehe dazu das Schreiben des Verwalters Brown an Lady Frances Anne vom 5.10.1863. CROD: D/Lo/C 186. 216 ������������������������������������������������������������������������������������ Die angeführten Beispiele sind nur eine kleine Auswahl. Weiteres einschlägiges Material findet sich etwa in folgenden Beständen: BaLARS: R3/4887, R3/4913, R3/4914, R3/5004, R3/5006, R3/5098 sowie R4/934. 217 Siehe z. B. die Schreiben des Verwalters Wyllie an die Marchioness Frances Anne vom 29.9. und 5.10.1863. CROD: D/Lo/C 314 sowie das Schreiben des Verwalters Yeoman

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Stärker ins Gewicht fiel eine zweite Konfliktlinie: Die Auseinandersetzungen mit den in den Augen der ländlichen Bevölkerung schier „allmächtigen“ Wildhütern. Sie waren diejenigen, die jagen durften218, was nicht selten Neid hervorrief. Schwerer jedoch wog, dass sie Einfluss auf existentielle Dinge nehmen konnten: Sie entschieden, ob wirklich eine Hasenplage bestand, oder, da sie außerdem diejenigen waren, die die Wilderer verfolgten bzw. festnahmen, ob jemandem Arbeitsplatzverlust219 oder gar Verhaftung und Verurteilung220 drohte. Dieser Machtposition waren sich die keeper wohl bewusst, was sich daran zeigte, dass sie ihre Befugnisse nicht selten überschritten.221 Der ländlichen Bevölkerung waren sie daher im Allgemeinen verhasst, HansChristoph Schröder spricht gar von einem „förmlichen Kriegszustand“: Allein in den Jahren 1843/44 wurden 26 gamekeeper ermordet. Zu ihrer Beliebtheit trug im Übrigen auch nicht bei, dass sie in einigen Grafschaften auch nach dem Police Constable an den Marquess of Londonderry vom 12.10.1871, in dem Yeoman seine Unzufriedenheit mit der Einschätzung des valueers zu Papier bringt, dieser habe den durch Wild entstandenen Schaden und damit die zu zahlende Entschädigung wesentlich zu hoch angesetzt. CROD: D/Lo/C 621. Zum Ground Game Act von 1881, der Pächtern erstmals die Möglichkeit gab, Hasen und Kaninchen ungeachtet aller Regelungen in ihren Pachtverträgen auf eigenem Grund und Boden zu jagen, und dem Agricultural Holdings Act von 1906, der die Fragen der Entschädigung genauer und stärker zu Gunsten der Bauern regelte, Mingay, Farmer, S. 799f. Mingay weist an dieser Stelle jedoch auch darauf hin, dass nur wenige Pächter trotz der verbesserten Rechtslage den Mut aufbrachten, ihre Rechte nun auch vor Gericht einzuklagen. 218 Aufzeichnungen dazu des bailiff für Wynyard, David White Miller, an den Marquess of Londonderry vom 15.3., 27.3. oder auch 9.4.1877. CROD:D/Lo/C 614 (20, 21, 23). Siehe auch die Schreiben zwischen Earl Vane und dem Verwalter Wyllie vom 26.7., 31.7. und 3.8.1866. CROD: D/Lo/C 314 (12–14). 219 Siehe z. B. die Anweisung des 11. Dukes of Bedford vom 9.5.1898, die keeper mögen stärker darauf achten, dass Nester und Gelege von Fasanen nicht zerstört werden, und dass diejenigen, die dabei erwischt würden, mit dem Verlust des Arbeitsplatzes zu rechnen hätten. BaLARS: R 4/25. 220 Schreiben vom 7.3.1877. CROD: D/Lo/C 614 (19). 221 �������������������������������������������������������������������������������� Dazu gehörte etwa der eigenmächtige Abschuss von Rotwild mit Freunden (Aufzeichnung vom 18.8.1884; BaLARS: R 4/932) oder das Jagen auf den Gütern benachbarter Großgrundbesitzer. Ein solches Vorkommnis aus dem Jahre 1879 ist in den Akten des Dukes of Sutherland überliefert, dessen Wildhüter Wilderer aufgebracht hatten, die sich als keeper eines benachbarten Großgrundbesitzers entpuppten, und die, da ihr Arbeitgeber auf einer Australienreise war und sein Bruder keine ausreichende Vollmacht hatte, um eine gerichtliche Untersuchung einzuleiten, auch lange nicht abgeurteilt werden konnten. CROSt: D593/K/1/3/67B. Lady Frances Anne wiederum beklagte eine laxe Moral beim sonntäglichen Kirchenbesuch und ließ daher den Verwalter ihren Wunsch übermitteln, „that the keepers should some times [Unterstreichung und Getrenntschreibung i. O.] go to church.“ Schreiben vom 20.2.1870. CROD: D/Lo/C 621.

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Act von 1872 polizeiliche Aufgaben wahrnahmen: Noch vor dem Ersten Weltkrieg gab es auf dem Lande doppelt so viele Wildhüter wie Polizisten.222 Damit dürften auch die Unterschiede zu den böhmischen Praktiken deutlich geworden sein: Zwar waren dort die Heger ebenfalls bewaffnet, aber streng von den Polizeibeamten geschieden und verlangten ggf. deren Unterstützung bei der Festnahme von Wilderern oder Fischdieben, mussten sich jedoch grundsätzlich sowohl gegenüber Sicherheitskräften als auch gegenüber festgenommenen Wilderern ausweisen.223 Blut floss dabei nur in sehr seltenen Ausnahmen.224 Von einer Machtfülle wie in England kann also keinesfalls die Rede sein; auch hier griff der habsburgische Staat verregelnd und somit deeskalierend ein. Dabei waren böhmische Adelige ebenso jagdbegeistert wie ihre englischen Standesgenossen225, und auch die Jagdgesetze der Habsburgermonarchie bevorzugten den (adeligen und bürgerlichen) Großgrundbesitz, band doch das kaiserliche Jagdpatent 222 Schröder, Adel, S. 45. Siehe auch Carolyn Steedman: Policing the Victorian Community. The Formation of the English Provincial Police Forces 1856–1880, London 1984. Auch in Bayern hat nach Regina Schulte bis 1848 „Krieg“ im Wald und im Gebirge geherrscht. Seit 1806 konnten für Wilderei Zuchthausstrafen von bis zu 16 Jahren ausgesprochen werden. Schulte, Dorf, S. 181. 223 ���������������������������������������������������������������������������������� Siehe zum Waffenpass und der Stellung der böhmischen Heger die Ausführungen in Kapitel 3.2.3. 224 Trotz meiner umfangreichen Recherchen in der Überlieferung böhmischer Adeliger ist mir nur ein Fall bekannt, bei dem der Sohn eines Bediensteten in einer Schießerei mit Wilderern zu Tode kam; keiner, in denen ein Wildhüter einen Wilderer auf frischer Tat erschossen hätte. Der erwähnte Vorfall ereignete sich im Jahre 1861. SOA Třeboň: Schwarzenberská ústřední kancelář Orlík, kart. 265. 225 ������������������������������������������������������������������������������������� Das zeigen die erlegten Strecken, von denen in vielen englischen wie böhmischen Quellen die Rede ist. Siehe dazu z. B. CROD: D/Lo/C 576 und 710 sowie D/Lo/E 953, 955, 968, 969 (für die Marquesses of Londonderry), SOA Praha: Rodinný archiv Chotek, kart. 339 (Grafen Chotek), außerdem SOA Praha RAV: kart. 104, 105 und 270 sowie die Inventar-Nr. 5240 und 5247 (für die Familie Waldstein). Ähnliche Unterlagen befinden sich im Prinzip in allen Adelsüberlieferungen in England und Böhmen. So sehr sich die Art der Dokumente innerhalb der Überlieferung ähnelt, so gibt es doch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Böhmen und England: Die böhmischen Jagdeinladungen enthalten immer auch Karten jenes Gebietes, in dem die Jagd stattfinden sollte, denn der böhmische Adel bewirtschaftete, anders als der englische, seine Güter in Eigenregie, hatte also ein Interesse daran, dass er bei der Jagd nicht seine eigenen Felder niederritt. Diesem Ziel dienten die betreffenden Karten. Zur Jagd im Allgemeinen siehe außerdem Werner Rösener: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Düsseldorf 2004. Hier steht die höfische Jagdkultur stark im Mittelpunkt, die moderne Jagd nach 1848 findet dagegen wenig Berücksichtigung. Mit der Jagd in der Frühneuzeit befasst sich auch Martin Knoll: Umwelt, Herrschaft, Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert, St. Katharinen 2004. Einen der eher seltenen Blicke auf die Zeit nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wirft dagegen Wolfram

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vom 7. März 1849 die Jagdausübung an den Besitz von mindestens 200 Joch zusammenhängender Liegenschaften. Für den Staat standen dabei zwei Momente im Vordergrund: Mit dieser Regelung kam er dem durch die Grundentlastung betroffenen Adel wenigstens insofern entgegen, als er ihm die Jagd als Distinktionsmöglichkeit gegenüber den Bauern beließ und deren Forderungen nach Jagd auf eigenem Grund und Boden nicht nachgab. Entscheidender war jedoch das Interesse des Staates, das Sicherheitsrisiko einer bewaffneten Bauernschaft auszuschalten. Diesem Ziel diente auch eine Verordnung des Innenministeriums aus dem Jahre 1852, die die öffentliche Verpachtung von Jagden von den Gemeinden auf die Bezirksbehörden übertrug und in einer geheimen Zusatzklausel anordnete, Bauern möglichst von der Jagd auszuschließen. Entsprechende Regelungen blieben auch im weiteren Verlauf des Jahrhunderts in Kraft, daneben wurde das Geltendmachen von Wildschäden zunehmend schwieriger.226 Unzufriedenheit lösten diese Maßnahmen unter der örtlichen Bevölkerung zwar aus, doch gehörte Wilderei als Aneignung von etwas, was den Menschen nach eigenem Empfinden zustand, kaum zu jenen Praktiken, mit denen sie ihrem Unmut Ausdruck verliehen. Vielmehr versuchten sie, ähnlich wie bei den Auseinandersetzungen um das Wasserrecht, den Weg der Aushandlung über die staatlichen Behörden zu nehmen. Im Kreis Mladá Boleslav etwa sammelten die Bauern in den späten 1850er Jahren Unterschriften, um bei den Behörden gegen die gängige Praxis der Verpachtungen zu protestieren.227 Jan Mošovský, ein Bauer aus dem Örtchen Nevězice, wandte sich gar als Einzelperson an den Gemeindeausschuss, um eine Verpachtung von Jagdgründen an Karl III. Schwarzenberg zu verhindern. Allerdings bekam Mošovský später Angst vor der eigenen Courage und bat den Fürsten, ihm zu verzeiG. Theilemann: Adel im grünen Rock. Adeliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866–1914, Berlin 2004. 226 ���������������������������������������������������������������������������������������� Dinklage, Entwicklung, S. 441 und Stölzl, Ära, S. 51f. Ähnlich wie ihre englischen Standeskollegen sahen auch böhmische Adelige in Wildschadensersatzforderungen vor allem eine bäuerliche Strategie, sich wenig um ihre Landwirtschaft kümmern zu müssen und trotzdem Profit zu machen. Ernst Graf de Silva-Tarouca, dessen Familie bereits seit der Frühneuzeit Güter in Böhmen besaß, begründete damit explizit die Aufgabe von Pachten jenseits seiner eigenen Besitzungen im späten 19. Jahrhundert: „Der kluge Landwirt war nämlich zur Erkenntnis gelangt, daß es für ihn viel bequemer und auch rentabler sei, die Felder schlecht zu bearbeiten, wenig zu düngen und doch oder gerade deshalb im Wege der Wildschadenvergütung sehr befriedigende Erträge zu erzielen. Als infolge großer Dürre eine Mäuseplage auftrat, wurde auch diese als Wildschaden hingestellt und berechnet, und das schlug dem Faß den Boden aus. Zum Glück fiel diese Katastrophe mit dem Ausgang der Pachtperiode zusammen, und so erklärte ich den Gemeinden, daß ich keine ihrer Jagden mehr pachten wolle.“ Ernst Graf v. Silva-Tarouca: Glückliche Tage. Jagdgeschichten aus fünf Jahrhunderten, Berlin 1938³, S. 13. 227 Stölzl, Ära, S. 52.

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hen, weil er sonst befürchte, „že příjde [sic] mezi blázny do Prahy [dass er zu den Irren nach Prag kommt]“.228 Auch in England stellte das Jagdrecht eine rechtliche Bevorzugung des Adels dar. Noch 1816 konnte für sieben Jahre verbannt werden, wer unbewaffnet, aber mit einem Netz angetroffen wurde. Zuvor galt gar die Todesstrafe für denjenigen, der bewaffnet und maskiert Wilddiebstahl beging.229 Die Unerbittlichkeit, mit der der englische Adel sein Jagdprivileg durchsetzte, und die Hartnäckigkeit mit der er daran im ganzen 19. Jahrhundert festhielt, erklärt sich daraus, dass es andere Adelsprivilegien für die Gesamtheit von Aristokratie und gentry nicht gab, es sich also um das einzige klare Statussymbol des Adels handelte.230 Dadurch ließ sich die Jagd231 zur Distinktion sowohl gegenüber dem Bürgertum als auch gegenüber den anderen Gruppen der ländlichen Gesellschaft nutzen. Gegenüber dem Bürgertum schrieb der Adel dem Wild den Charakter eines nichtkommerzialisierten Gutes232 zu, um sich so von der bürgerlichen Welt des Kommerzes abzugrenzen. Bei der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen der ländlichen Gesellschaft stand dagegen die Dichotomie „Besitz an 228 Zitiert nach Bezecný, Příliš, S. 72. 229 Der Raub von Schafen und Kühen wurde im Übrigen nicht in dieser Härte geahndet. Schröder, Adel, S. 44. Siehe auch Mingay, Social History, S. 143. Zur Entwicklung der game laws im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts siehe Alun Howkins: Economic Crime and Class Law. Poaching and the Game Laws, 1840–1880; in: The Imposition of Law, hrsg. v. Sandra B. Burman, New York 1979, S. 273–288, S. 276ff. 230 Schröder, Adel, S. 46. 231 Mit „Jagd“ ist in den vorstehenden Ausführungen vor allem das shooting gemeint, das, wie geschildert, von Bauern wie Landbevölkerung abgelehnt wurde, und daher zu einer Vergemeinschaftung gegen den grundbesitzenden Adel führte. Während das shooting soziale Grenzen markierte und soziale Kosten verursachte, beförderte die Fuchsjagd eine Vergemeinschaftung zwischen dem grundbesitzenden Adel bzw. seinen Verwaltern einerseits und zumindest den größeren Pächtern andererseits. Thompson, Landowners, S. 460–464. In diesem Sinne zur Fuchsjagd auch Schröder, Adel, S. 46 sowie aus zeitgenössischer Perspektive Smith, Principles, S. 309f. Grundsätzlich zur Fuchsjagd auch Raymond Carr: English Foxhunting. A History, London 1986. Zuvor ist bereits mit Alf Lüdtke davon die Rede gewesen, dass die Ausübung von Herrschaft auch Vorteile für die Beherrschten, zumindest für die Mächtigen unter ihnen, beinhalten musste. Lüdtke, Einleitung, S. 55. Einen solchen Vorteil stellte die gemeinsame Fuchsjagd und die damit verbundene Chance zur Distinktion gegenüber anderen Gruppen der ländlichen Gesellschaft für die tenant farmers dar, die zur Teilnahme daran eingeladen wurden. 232 Zu den adeligen Distinktionsstrategien „Naturnähe“ und „Naturbeherrschung“ siehe auch die Ausführungen in Kapitel 2.1. Zum Wild als einem nichtkommerzialisierten Gut außerdem Schröder, Adel, S. 46. Diese Vorstellung ging auf die Rechtslage des frühen 19. Jahrhunderts zurück, als Wild nicht verkauft werden durfte (um die Wilderei zu unterbinden). Die Verfechter adeliger Jagdprivilegien bezeichneten deshalb Wildgeschenke als sozialen Kitt in der ländlichen Gesellschaft. Howkins, Crime, S. 275.

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Tieren “ bzw. „Verfügungsgewalt über sie“ versus „Nichtbesitz an Tieren/fehlende Verfügungsgewalt über sie“ im Vordergrund. Die Wilderei wurde nicht zuletzt deswegen so unerbittlich bekämpft, weil sie stets auch eine Leugnung dieses adeligen Anspruchs darstellte. In den Augen der Wilddiebe waren „all the wild things under heaven … free for all“ und konnten daher keinem Menschen als Eigentum gehören.233 Bei dem Versuch, dieses Rechtsverständnis vor den Gerichten durchzusetzen, waren die poachers jedoch chancenlos.234 Denn: Nicht nur folgten die game laws einer anderen Rechtsauffassung, sondern sie wurden auch von justices of the peace angewandt, bei denen es sich überwiegend um Angehörige der gentry handelte oder auch um die jüngeren Brüder von peers. Sie ahndeten Wildereidelikte strenger als andere Verstöße gegen Eigentumsrechte. Auch kam es vor, dass Friedensrichter über Fälle von Wilddiebstahl entschieden, die auf ihren eigenen Gütern stattgefunden hatten und von ihren eigenen keepern angezeigt worden waren.235 Es sind diese Zusammenhänge, warum auch die Forschung bis heute nicht selten von „class law“ spricht und darauf verweist, dass die Gerichtsnutzung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts niedriger lag als vor 1700.236 Angesichts dieser Umstände ist es wenig erstaunlich, dass 233 Zit. nach Howkins, Crime, S. 285. Siehe dazu auch D. J. V. Jones: The Poacher. A Study in Victorian Crime and Protest; in: Historical Journal 22/1979, S. 825–890 und, mit regionalem Zuschnitt, Timothy Shakesheff: Rural Conflict, Crime and Protest. ����� Herefordshire, 1800–1860, Woodbridge 2003. 234 ���������������������������������������������������������������������������������������� Regina Schulte zeigt in ihrer Arbeit, dass die Logiken dörflicher Wilderer und bürgerlicher Gerichte nicht zusammengingen. Schulte, Dorf, S. 177–222 sowie S. 258–271. Mit Blick auf eine frühere Zeit siehe auch Alexander Schunka: Soziales Wissen und dörfliche Welt. Herrschaft, Jagd und Naturwahrnehmung in Zeugenaussagen des Reichskammergerichts aus Nordschwaben (16.–17. Jahrhundert), Frankfurt am Main 2000. 235 Schröder, Adel, S. 44f. 236 Siehe z. B. Howkins, Crime, S.  273–288 oder Joshua Getzler: Judges and Hunters. Law and Economic Conflict in the English Countryside, 1800–1960; in: Communities and Courts in Britain 1150–1900, hrsg. v. Christopher W. Brooks, London 1997, S. 199–228, außerdem auch E. P. Thompson: Whigs and Hun­ters, New York 1975 so­ wie, mit Blick auf das 18. Jahrhundert, Albion’s Fatal Tree. Crime and Society in Eighteenth Century England, hrsg. v. Douglas Hay u. a., London 1975. Massiv kritisiert hat Hays Vorstellung von den Gerichten als Instrument zur Unterdrückung der Armen dagegen John Langbein: Albion’s Fatal Flaws; in: Past and Present 98/1983, S. 96–120. Zur Gerichtsnutzung bzw. ihrem deutlichen Rückgang siehe Christopher W. Brooks: Lawyers, Litigation and English Society Since 1450, London 1998 sowie Communities and Courts in Britain 1150–1900, hrsg. v. Christopher W. Brooks und Michael Lobban, London 1997. Auch in anderen Rechtsbereichen lassen sich strukturell ähnliche Entwicklungen beschreiben. Willibald Steinmetz spricht in seiner Untersuchung zum englischen Arbeitsrecht, in der die Justizpraxis auf lokaler Ebene im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, ebenfalls von einer „nachlassenden Attraktivität der Gerichte“ sowie von einer „Flucht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus den Lokalgerichten

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gerade bei Anklagen wegen Verletzung der game laws die Chancen auf Freispruch nicht gut standen, mit einem Verhältnis von 1:6 (in den Jahren zwischen 1857 und 1871) im Übrigen deutlich schlechter als bei jedem anderen Delikt.237 Es ist an verschiedener Stelle schon von der unterschiedlichen Konflikthaftigkeit in England und Böhmen die Rede gewesen sowie davon, dass auf der Insel Konflikte nicht selten durch Migration gelöst wurden. Dies galt auf spezielle Weise auch für Wilderer, die ihre Strafe abgesessen hatten: Mochten sie in den open villages noch Unterschlupf finden, so waren ihnen die Gutsdörfer definitiv verschlossen. Nicht selten wurden zum Entsetzen der bürgerlichen Vertreter der respectability aus wildernden Land- oder Saisonarbeitern wildernde Vagabunden.238 Dass den Betroffenen angesichts der sozialen Ächtung, die sie vielfach erfuhren, kaum eine andere Möglichkeit blieb, vermochten ihre Kritiker nicht zu erkennen. Doch nicht nur gefasste Wilddiebe, die sich zumeist aus der Schicht der ländlichen Armen rekrutierten239, hatten kaum Chancen vor den Gerichten. Auch farmer mussten erkennen, dass ihnen der Rechtsweg nur selten nutzte. Dies galt auch für die Entschädigung von Wildschäden. Zwar hatte der Ground Game Act ihre Position gestärkt240, doch mochte es weiser sein, dieses Recht nicht einzuklagen. Oder, wie ein farmer aus Lancashire 1894 formulierte: „There is a written law to give us the hares and rabbits and an unwritten law that says we may not take them.“241 Gegenüber den Pächtern konnte der grundbesitzende Adel seine auf ökonomischer Stärke basierende Macht ausspielen; wo ländliche Unterschichten diese Macht

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in England“ ab 1875, während es zeitgleich zu einer „arbeitsrechtlichen Prozeßflut in Deutschland“ gekommen sei. Willibald Steinmetz: Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002, S. 155 und S. 637. Die Entwicklungen in England seien zum einen auf Zugangsbarrieren v. a. für Arbeitnehmer sowie auf das Nebeneinander von statute law und common law, das sich zugunsten der Arbeitgeber ausgewirkt habe, zurückzuführen (Ebd., S. 641f.). Zwar seien ausgeprägte Fälle von Klassenjustiz nach 1875 seltener geworden, doch hätten die strukturellen Bedingungen der Rechtspraxis in der Arbeiterbewegung ein diffuses Gefühl der Benachteiligung erzeugt, was sich in der Meistererzählung von der Klassenjustiz niedergeschlagen habe. Ebd., S. 643. Englische Historiker, die mit Blick auf die strukturellen Benachteiligungen vor den Gerichten für ländliche Unterschichten von Klassenjustiz sprechen, verorten sich selbst ebenfalls häufig als politisch links stehend oder marxistisch. Schröder, Adel, S. 45. Siehe dazu z. B. Ribton-Turner, Vagrants, S. 263, S. 277 und S. 318. Howkins, Crime, S. 278f. und S. 281f. In diesem Sinne auch John E. Archer: By a Flash and a Scare. Incendiarism, Animal Maiming, and Poaching in East Anglia, 1815–1870, Oxford 1990, S. 250. Siehe dazu die Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel. Zitiert nach Howkins, Reshaping, S. 161. Auch Mingay verweist darauf, dass nur wenige Pächter den Mut aufbrachten, ihr Recht einzuklagen. Mingay, Farmer, S. 799f.

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eigensinnig zu unterlaufen suchten, wurden ihre Praktiken kriminalisiert. Dies war nicht nur bei der Wilderei der Fall, sondern auch bei anderen sozialen Protestformen. In der Tat ist die Unterscheidung zwischen „reiner“ Kriminalität242 und sozialem Protest nicht immer einfach, da viele Delikte einen janusköpfigen Charakter aufwiesen. Dies gilt etwa für das Öffnen und Entfernen von Toren und Zäunen, die Zerstörung von landwirtschaftlichem Gerät oder die Verstümmelung von Tieren – Handlungen, die häufig als (Rache-)Drohung gegenüber Mitgliedern einer Dorfgemeinschaft gemeint waren und nicht selten der von den Besitzenden so gefürchteten Brandstiftung vorausgingen.243 Brandstiftungen erlebten im Kontext der Swing Riots und der Proteste gegen das neue Armenrecht einen Höhepunkt, der die (besitzenden) Zeitgenossen sehr beunruhigte. Doch auch nach der Jahrhundertmitte blieb diese Praxis aktuell. So spricht Peter Dewey davon, dass das Anzünden von Heuschobern bis in die 1870er Jahre „a regular feature of the East Anglian countryside“ war, wie auch anderer Regionen vor allem Südostenglands. Ausbrüchen von arson gingen meist Lohnsenkungen und Entlassungen von Landarbeitern in größerem Umfang voraus.244 Auch wenn Brandstiftungen für Böhmen in diesem Ausmaß weitgehend unbekannt sind, so stellen sie doch keine englische Besonderheit dar, wie etwa Studien zu Bayern oder Russland zeigen.245 242 Zur Kriminalität im Allgemeinen Crime and Society in England, 1750–1900, hrsg. v. Clive Emsley, London/New York 1996², David Jones: Crime, Protest, Community and Police in Nineteenth Century Britain, London 1982 sowie Law, Crime and English Society 1660–1830, hrsg. v. Norma Landau u. a., Cambridge 2002. Mit speziellem Blick auf die ländliche Gesellschaft u. a. J. P. D. Dunbabin: Rural Discontent in Nineteenth Century Britain, London 1974, Timothy Shakesheff: Rural Conflict, Crime and Protest – Herefordshire 1800–1860, Woolbridge 2003, David Jones: Rural Crime and Protest; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, London/New York 1981, 2 Bde, Bd. 2, S. 566–579 sowie bereits aus zeitgenössischer Perspektive John Glyde: Localities of Crime in Suffolk; in: Journal of the Statistical Society in London 19/1856 (Part 1), S. 102–106. 243 Jones, Rural Crime, S. 572f. Grundsätzlich auch John E. Archer: By a Flash and a Scare. Incendiarism, Animal Maiming, and Poaching in East Anglia, 1815–1870, Oxford 1990. 244 ��������������������������������������������������������������������������������������� Dewey, Farm Labourer, S. 855, Archer, Flash, S. 250–257 sowie aus strafrechtlicher Perspektive Raymond Cocks: The Private Use of Public Rights. Law and Social Conflict in Nineteenth-Century Rural England; in: Private Law and Social Inequality in the Industrial Age. Comparing Legal Cultures in Bri­tain, France, Germany, and the United States, hrsg. v. Willibald Steinmetz, Oxford 2000, S. 45–67, S. 53–56. 245 Schulte vergleicht explizit Bayern mit East Anglia und kommt zu dem Schluss, dass auch die Brandstifter in Oberbayern nicht selten von der dörflichen Gemeinschaft gedeckt wurden, dass ihre Taten jedoch zumeist nicht den Charakter einer spezifischen politischen Aktionsform wie in England aufwiesen. Schulte, Dorf, S. 88ff. und S. 276. Zu Russland siehe Cathy Frierson: All Russia is Burning! A Cultural History of Fire

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Besonders deutlich erkennbar wird die soziale Seite der Delikte auch bei den Verstößen gegen das reformierte Armenrecht. Wenn man bedenkt, dass in den 1820er Jahren in vielen Dörfern bis zu 60 % der Bewohnerinnen und Bewohnern von Unterstützung abhängig waren, um überleben zu können, wird nachvollziehbar, dass die Ausschreitungen der 1830er Jahre häufig einen starken Rückhalt in der dörflichen Gemeinschaft fanden.246 Doch gab es Proteste gegen das poor law auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So gehörten poor law officials zu jenen Gruppen, die immer wieder überfallen oder tätlich angegriffen wurden. In manchen Regionen rissen erzürnte Landarbeiter im Bau befindliche workhouses nieder. Besonders deutlich wird die Kriminalisierung von Eigenlogiken auch daran, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verurteilungszahlen für das Verlassen oder Nichtunterstützen der eigenen Familie deutlich stiegen, verbunden mit zunehmenden Anklagen wegen „vagrancy“ sowie „disorderly behaviour in the workhouse“.247 Ähnlich wie bei den weiter oben beschriebenen Konfliktfeldern „Alkohol“ und „cottages“ waren die Angehörigen einer bürgerlichen, an den Prinzipien der respectability orientierten Schicht von Offiziellen nicht in der Lage zu erkennen, dass die Eigenlogiken, die hinter den beschriebenen Protestformen standen, sich aus alten Rechtsgewohnheiten, wie frühen Formen des Armenrechts, speisten und der Verbesserung der ökonomischen Situation der Betreffenden dienen sollten. Insofern kann man zum Beispiel mit Blick auf die Holzdiebstähle durchaus Ähnlichkeiten zu Böhmen konstatieren. In Böhmen waren es jedoch nicht nur die ländlichen Armen, die sich auf Rechtsgewohnheiten beriefen, sondern, wie wir gesehen haben, auch bäuerliche Klein- und Mittelbesitzer.248 Und and Arson in Late Imperial Russia, Seattle 2003. ������������������������������������� Frierson zeigt, dass Feuer und Brandstiftung kein peripheres Problem im späten Zarenreich darstellten, sondern macht die beiden Phänomene dafür verantwortlich, dass der russischen Landwirtschaft keine nachhaltige Entwicklung wie in West- und Mitteleuropa beschieden war. Gleichzeitig weist sie jedoch die von den Zeitgenossen und der Forschungsliteratur geteilte Meinung zurück, das Verhältnis der russischen Bauern zum Feuer sei vor allem durch Unkenntnis, Aberglauben und Fatalismus gekennzeichnet gewesen. Vielmehr war es ein elementarer Bestandteil der ländlichen Alltagswelt, und gerade die Brandstiftung hatte im lokalen Kontext der Dörfer als kollektive Warnung, nicht zuletzt derer, die die moralische Ökonomie im Sinne E. P. Thompsons bedrohten, seinen festen Platz. In diesem Sinne kann man durchaus Gemeinsamkeiten bäuerlicher Protestformen von England über Bayern bis nach Russland konstatieren. 246 Klassisch dazu Eric Hobsbawm und George Rudé: Captain Swing, London 1969 sowie George Rudé: The Crowd in History. A Study of Popular Disturbances in France and England, 1730–1848, New York 1964. Siehe auch Cocks, Use, S. 54. 247 Jones, Rural Crime, S. 571–574. 248 Cocks verweist darauf, dass es im Zusammenhang mit den enclosures durchaus auch Rechtsstreitigkeiten um zuvor bestehende Rechtsgewohnheiten gab. Diese Auseinandersetzungen wurden auch vor Gericht ausgetragen, doch waren die Beteiligten zumeist Großgrundbesitzer, z. T. sogar auf beiden Seiten streitende (Hoch-)Ade­lige. Cocks, Use,

Von Rechtsgewohnheiten und bürgerlichen Diskursen

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auch wenn der Befund paradox anmutet: Ihre Chancen, vor den Gerichten wenigstens in Teilen Recht zu erhalten, waren größer, obwohl sie sich in einem moderneren Gerichtswesen auf traditionale Rechte beriefen.

3.4 Von Rechtsgewohnheiten und bürgerlichen Diskursen Betrachtet man die durch großen adeligen Bodenbesitz stark geprägten ländlichen Gesellschaften Englands und Böhmens in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts im Vergleich, so treten in beiden Großregionen unter einer Schicht von Unterschieden grundsätzlich ähnliche soziale Strukturen zutage.249 Gleichzeitig zeigt sich bei einer Analyse der typischen Konfliktfelder, dass diese sich deutlich unterscheiden; Auseinandersetzungen um cottages, Alkoholkonsum und die Bildung von Landarbeitergewerkschaften prägten das Bild in England, solche um Deputate und Nutzungsrechte an Wäldern und Gewässern jenes in Böhmen.250 Diese unterschiedlichen Konfliktfelder lassen sich vor allem dadurch erklären, dass sich jeweils andere Opponenten gegenüberstanden. Während es sich in Böhmen um originäre Auseinandersetzungen innerhalb der ländlichen Gesellschaft handelte, so dass der Adel aushandelnd eingreifen musste, beruhten jene um Landarbeiterunterkünfte und Alkoholkonsum auf in sie diskursiv hineingetragenen, konkurrierenden Macht­ansprüchen bürgerlicher Gruppen. Der englische Adel konnte sie daher, mit Ausnahme der Landarbeitergewerkschaften, mit Schweigen übergehen. Noch ein weiterer Unterschied ist festzuhalten: Den Konfliktfeldern unterlagen unterschiedliche Konfliktlogiken und jeweils andere Erfahrungen von Konflikthaftigkeit. Während in Böhmen die nichtadeligen Akteure auch nach 1848 auf Rechtsgewohnheiten zurückgriffen, die auf einem vormodernen Rechtsverständnis basierten, war dieser Weg den englischen Pächtern und Landarbeitern nicht möglich, weil Rechtsgewohnheiten hier bereits wesentlich früher, nämlich seit Ausgang des Mittelalters, unterbunden worden waren. Konflikte wurden daher im Untersuchungszeitraum häufig durch Migration gelöst, indem sich Pächter einen Hof in einer anderen Grafschaft suchten, Landarbeiter sich einer agricultural gang oder aber einer Gruppe von Vagabunden anschlossen. Eine Klärung vor Gericht war die Ausnahme. In Böhmen dagegen blieben die Streitparteien sehr viel häufiger am Ort, so dass die Beteiligten über tradierte und eigene Konflikterfahrungen verfügten. Auch wurden im Untersuchungszeitraum Auseinandersetzungen nicht selten gerichtlich geklärt, S. 48ff. Insgesamt kann man im Unterschied zu Böhmen aber feststellen, dass ländliche Arme an diesen Gerichtsverfahren nicht beteiligt waren und dass sie insgesamt seltener vorkamen als in Böhmen. 249 Siehe dazu Kapitel 2.5. 250 Siehe zu England die Kapitel 3.1.1 bis 3.1.3, zu Böhmen die Kapitel 3.2.1 bis 3.2.3.

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Die Arbeitswelt der Güter: Praktiken und Konflikte

oft genug durch Klageeinreichung seitens der adeligen Gutsbesitzer. Sie konnten viele Verfahren auf dem Rechtsweg für sich entscheiden, doch erkannten die Gerichte dabei nicht selten gewisse rechtsgewohnheitliche Praktiken seitens der dörflichen Streitpartei an. So unterschiedlich sich Konfliktfelder und Konflikthaftigkeiten ausnehmen mögen, so erstaunlich mag eine Gemeinsamkeit vor allem für diejenigen sein, die sich mit der böhmischen Szene auskennen: Die Abwesenheit von Nationalismus. Was für England mit Blick auf die ländliche Gesellschaft mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit ist, ist es angesichts der gängigen Interpretamente vom nahezu allgegenwärtigen Nationalitätenkonflikt in Böhmen nicht. Doch die Vielzahl der untersuchten Konflikte aus dem Umfeld der Gutswirtschaft zeigen eindrücklich, dass zwar Streitigkeiten aller Art bestanden, nicht jedoch solche, die man als ethnisch oder national motiviert bezeichnen könnte. Vielmehr ist der Politisierungsgrad ethnischer Zugehörigkeiten ganz offensichtlich niedrig, und Zweisprachigkeit bei Bitt- und Bewerbungsschreiben ebenso die Regel wie bei Vertragsabschlüssen oder im Umgang mit den Behörden.251 So wie die Durchsetzung der respectability ein bürgerliches Projekt in England war, so war es die Nation in Böhmen. Der Widerhall dieser bürgerlichen Projekte blieb jedoch in den ländlichen Gesellschaften beider Großregionen begrenzt. Damit sind die Gemeinsamkeiten angesprochen, und es gab durchaus noch weitere, vor allem beim Verhalten des Adels. Konkret zu nennen sind etwa jene Praktiken, die der Realisierung seiner Renditeziele dienten. Damit war der Hochadel sowohl in England als auch in Böhmen – Ausnahmen wie die Fürsten Windisch-Graetz oder die Dukes of Buckingham bestätigen auch in diesem Fall die Regel – so erfolgreich, dass sich seine Vertreter einen Lebensstil leisten konnten, der ihren Vorstellungen von Repräsentation entsprach. Gegenüber den verschiedenen Gruppen der Agrargesellschaft begründeten die mit Effizienz und Gewinnstreben geführten Güter seine starke Stellung als ländliche Arbeitgeber. Diese starke Position wiederum fand ihren Niederschlag in verschiedenen disziplinierenden Praktiken, wie zum Beispiel dem Zahlen von Kombilöhnen oder den Eingriffen in die Privatsphäre der Angestellten, die zeigen, in welchem Ausmaß wirtschaftliche Interessen und Herrschaftsinteressen ineinander verwoben waren. Für die verschiedenen Gruppen der Gutsbediensteten 251 Gerade die jüngere amerikanische Forschung zur Habsburgermonarchie verweist darauf, dass verschiedene regionale, ethnische und konfessionelle Identitäten relativ lange nebeneinander bestehen konnten und dass die Ausbildung von geschlossenen nationalen Einheiten ein verhältnismäßig langwieriger Prozess war. Siehe dazu an einem städtischen Beispiel Jeremy King: Budweisers into Czechs and Germans. A ������������������������ Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton/Oxford 2005² und Pieter M. Judson: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, New York/Oxford 2006.

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und Pächter wiederum bedeutete dies, dass ihre ökonomisch bedingte Abhängigkeit nicht selten einer nicht mehr bestehenden rechtlichen verhältnismäßig nahe kommen konnte. Die vergleichende Betrachtung zeigt außerdem, dass der Adel sowohl in Böhmen als auch in England flexibel auf Herausforderungen seiner Herrschaftsansprüche reagierte. Zumindest ein gewisses Maß an Überzeugungsarbeit, zum Beispiel mit Blick auf agrartechnische Neuerungen, wie auch an Duldung von eigensinnigen Praktiken konnten adelige Gutsbesitzer nicht vermeiden. In Böhmen bemühten sie sich daher nicht selten darum, Rechtsgewohnheiten durch zeitlich befristete und nur bei entsprechendem Wohlverhalten zu gewinnende Sozialleistungen zu ersetzen. Dies ging immer mit der gleichzeitigen Bereitschaft einher, in konkreten Fällen hart durchzugreifen, sei es in England gegen Wilderer, sei es in Böhmen im Umgang mit Fischoder Getreidedieben. Neben der ökonomischen Basis und der Flexibilität bei der Anwendung von Herrschaftspraktiken ist in diesem Zusammenhang noch eine dritte Gemeinsamkeit anzusprechen: Grundlage für die Aufrechterhaltung und immer wieder neue Durchsetzung von Herrschaft in Aushandlungsprozessen war die Tatsache, dass adelige Gutsbesitzer in Böhmen wie in England in substantiellem Maße auf ihren Gütern anwesend und in deren Alltagsmanagement eingebunden waren252, dass sie viele derjenigen, die dort arbeiteten, persönlich kannten und somit Entscheidungen ad personam treffen konnten.253 Adelsherrschaft auf den Gütern und ihrem direkten Umfeld war somit öffentlich und basierte geradezu darauf, Privatheit zu unterbinden. Landarbeiter, Deputatisten, Häusler, Pächter oder Schaffer konnten nicht auf ein „My home is my castle“ hoffen. Auch wenn die sprachliche Konnotation in eine andere Richtung weist, war dies eine bürgerliche Prägung.254 Privatsphäre wäre der Raum gewesen, in den adelige Herrschaft nicht hineinreichte. Solange jedoch Arbeitsstelle und Unterkunft aneinander gekoppelt blieben und ganze Familien im Extremfall auf entfernte Besitzungen oder gar nach Übersee verschickt werden konnten255, kann davon nicht die Rede sein. Herrschaft präsentiert sich somit als adelige Chance, Verhaltensoptionen anderer Mitglieder der ländlichen Gesellschaft im Sinne der eigenen Interessen vorzustrukturieren und dies umso mehr, wenn die betreffenden Gruppen keine Unterstützung ihrer Belange außerhalb der Agrargesellschaft durch das Bürgertum, Parteien oder Gewerkschaften, fanden. 252 Siehe dazu Kapitel 2.1. 253 Siehe dazu Kapitel 2.3 und 2.4. 254 Auch hätten die Gruppen der Agrargesellschaften in Böhmen wie in England gewusst, dass das „Innenleben“ eines Schlosses angesichts der großen Zahl der Bediensteten nicht wirklich „privat“ im bürgerlichen Sinne gewesen ist, sondern eher Vorstellungen eines erweiterten Haushalts entsprach. 255 Siehe dazu die Beispiele in Kapitel 3.3.

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Die Arbeitswelt der Güter: Praktiken und Konflikte

Damit bleibt noch die Frage nach dem Staat als Akteur. Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in der Habsburgermonarchie schützten liberale wie konservative Regierungen Besitzrechte und den Grundsatz der Vertragsfreiheit mit Maßnahmen, die nicht primär zum Schutz des (Hoch-)Adels getroffen worden waren, doch diesem wie den besitzenden Schichten insgesamt zugutekamen. Mit Blick auf den Staat enden hier allerdings die Gemeinsamkeiten zwischen Böhmen und England. Während staatliche Instanzen in den Konflikten der ländlichen Gesellschaft Englands kaum eine Rolle spielten256, bedienten sich böhmische Adelige vielfach der Gerichte und Bezirkshauptmannschaften als vermittelnder Instanzen, um ihre Eigentumsrechte durchzusetzen, gleichzeitig aber auch Konfliktsituationen durch Verrechtlichung zu deeskalieren257. Diese Verrechtlichung veränderte die adelige Herrschaftspraxis, weil der Staat als dritter Akteur neben dem gutsbesitzenden Adel und den verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft die Bühne betrat, oder, anders ausgedrückt, durch das Anrufen seitens des Adels die Chance erhielt, konfliktlösend (und nicht konflikthervorrufend) in die Fläche vorzurücken. Vergleiche dienen, neben anderem, stets auch der Ermittlung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Im vorliegenden Fall finden wir die Unterschiede vor allem bei den Konfliktfeldern und -logiken sowie mit Blick auf die Rolle des Staates. Die Herrschaftspraktiken des gutsbesitzenden Adels weisen dagegen viele Gemeinsamkeiten auf. Auch enthüllt die komparative Betrachtung strukturelle Äquivalente: Rechtsgewohnheiten (als Ankerpraktiken für eigenlogisches Verhalten) waren in Böhmen, etwa beim nahezu allgegenwärtigen Holzsammeln/Holzdiebstahl, viel stärker ein Thema als in England, doch auch dort waren sie nicht völlig verschwunden, wie die ebenfalls weitverbreitete Wilderei zeigt. Anders als die vielfach impliziten Vergleiche der englischen bzw. britischen Historiographie, deren primäres Ziel nicht selten in einer positiven Identitätsstiftung durch kulturelle Abgrenzungen zu sehen ist258, zeigt dieser systematische, Variationen-suchende Vergleich259, dass unter den europäischen Adelsgesellschaften in der Tat Gemeinsamkeiten bestanden, vor allem im Hinblick auf ihre Herrschaftspraxis und deren kulturelle Grundlagen. Denn: Adelsherrschaft war in England wie in Böhmen, aber auch in vielen anderen Regionen Europas, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein rechtliches Phänomen im Sinne einer Sicherung dieses Herrschaftsverhältnisses durch Privilegien, sondern ein kulturelles. Herrschaft musste in Aushandlungsprozessen je neu angemeldet, repräsentiert und durchgesetzt werden. Dies geschah zumeist in Auseinandersetzungen des Alltags und seitens der nichtade-

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Siehe etwa zur geringen Rolle der Gerichte ebd. Siehe dazu die Kapitel 3.2.2 und 3.2.3. Crossick, And what, S. 71. Kaelble, Vergleich, S. 31.

Von Rechtsgewohnheiten und bürgerlichen Diskursen

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ligen Akteure durch Praxisformen unspektakulären Verhaltens260, die nicht in einer Bipolarität von Unterwürfigkeit und Widerstand aufgingen, sondern sehr viel stärker durch die Gleichzeitigkeit von Hinnehmen und Aneignen bzw. eigensinnigem Verfolgen eigener Interessen geprägt waren. Im Ergebnis kann man daher für England und Böhmen eine Stabilisierung des Adels im Lande261 konstatieren. Schon allein angesichts ihres Ausmaßes waren die adeligen Besitzungen auch in der Moderne mehr als nur eine begrenzte Residue in einer bürgerlich-industriell geprägten Welt.

260 Lüdtke, Einleitung, S. 49f. 261 ������������������������������������������������������������������������������������� Heinz Reif hat eine solche Stabilisierung für die verschiedenen deutschen Adelsformationen konstatiert. Reif, Adel, S. 89.

4 Traditionale Foren der Stabilisierung von Adelsherrschaft

Spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts war adelige Herrschaft in England wie Böhmen (und in vielen anderen Regionen Europas) nicht mehr rechtlich fundiert. Bestehen blieb jedoch der flächenhafte Großgrundbesitz und ein tradierter Herrschaftsanspruch über Land und Leute. Die vorangegangenen Kapitel haben an zwei magnatisch geprägten Regionen gezeigt, wie die erfolgreiche, renditeorientierte Bewirtschaftung der Latifundien dem grundbesitzenden Adel eine starke Stellung im Gefüge der ländlichen Welt als wichtigem Arbeitgeber sicherte. Jene, die auf den Gütern arbeiteten, befanden sich daher nicht selten in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der jeweiligen Adelsfamilie. Die folgenden Kapitel werden sich nun jenen Praktiken widmen, mit denen der Adel versuchte, seine Herrschaft im Umfeld der Gutsdörfer und Landstädte über das Ökonomische hinaus zu stabilisieren. Thematisiert werden dabei zunächst die eher traditionalen Interaktionszusammenhänge: Wohltätigkeit, das Ausüben von Kirchenund Pfarrpatronaten sowie Feste. Betrachtet wird, welche Eigenlogiken das Handeln der verschiedenen Akteure bestimmten und wo dem Herrschaftsanspruch des Hochadels Konkurrenten erwuchsen. Dabei ist auffällig, dass zwischen den verschiedenen Feldern, auf denen adelige Herrschaft ausgehandelt wurde, Wechselwirkungen bestanden: Erst die in den Gutsbetrieben erwirtschafteten Gewinne ermöglichten die Unterstützung von altgedientem Personal oder die Finanzierung von Schul- und Kirchenbauten. Auch griffen eine paternalistisch intendierte Wohltätigkeit und Kirchenpatronate ineinander. Doch die Chance, „obenzubleiben“, hing für den Adel auch mit den Erwartungen der verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft zusammen. Bereits eingangs war dargelegt worden, dass die Ausübung von Herrschaft stets auch Vorteil und Interessen- bzw. Bedürfnisbefriedigung der Beherrschten, vornehmlich der Mächtigen unter ihnen, bedeuten musste.1 Gemäß dieser Logik sprach der Duke of Bedford davon, dass er „instrumental [sei] in maintaining a system which in the past has added and in the future is still adding, to the welfare of thousands“2, und betonten viele andere adelige Vertreter in England wie in Böhmen ebenfalls ihre Nützlichkeit für die verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft, aber auch für den Staat als Ganzen. In diesem Sinne gehörte auch die adelige Demonstration von Nützlichkeit zu jenen Praktiken, durch die das mögliche Handeln anderer Gruppen der ländlichen 1 Siehe dazu die Ausführungen in der Einleitung sowie speziell Lüdtke, Einleitung, S. 55. 2 Russell, Estate, S. 2.

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Gesellschaft zwar nicht vorbestimmt werden konnte, aber doch zumindest vorstrukturiert wurde, indem die hohen Kosten bestimmter Verhaltensformen sichtbar gemacht wurden. „Nützlich“ waren adelige Gutsbesitzer vor allem für jene, die sich in lebenslangem Wohlverhalten übten und auf Privatsphäre als den Raum, in den adeliges Herr­ schaftshandeln nicht hineinreichte, weitgehend verzichteten. Sie reagierten ihrerseits nicht selten mit Praxisformen des unspektakulären Verhaltens, so dass eine Gleichzeitigkeit von Hinnehmen und einem In-der-Distanz-den-eigenen-Orientierungen-Folgen3 zu beobachten ist, wie es auch für den Kontext der Gutswirtschaft beschrieben wurde. Herrschaft musste daher stets neu angemeldet, durchgesetzt und repräsentiert werden. Die Chance (aus adeliger Perspektive) auf Fügsamkeit nichtadeliger Gruppen wiederum stieg, wenn es eine lange, gar über Generationen reichende Erfahrung von Herrschaft gab, wenn die Konflikte, die mit den Aushandlungsprozessen einhergingen, nicht die Grenze zur Gewalttätigkeit überschritten, und wenn die „Beherrschten“ aus der Herrschaft Nutzen zogen, vor allem wenn der Nutzen ein Ausmaß erreichte, dass man im Ergebnis von (lokaler oder regionaler) Vergesellschaftung sprechen kann. Dies konnte nur gelingen, wenn die jeweilige Adelsfamilie, auch dies kennen wir bereits aus dem Zusammenhang der Gutswirtschaft, zumindest zeitweise auf ihren Gütern anwesend war und dadurch Kontakt zur dort lebenden und arbeitenden Bevölkerung hatte. Ohne ein solches „Kennen“ war Adelsherrschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Herrschaft über Land und Leute nicht auszuhandeln oder zu stabilisieren.

4.1 Wohltätigkeit 4.1.1 Wohltätigkeit als Herrschaftsbeziehung

Adelige Wohltätigkeit im ländlichen Raum kam traditionell Witwen und Waisen sowie Alten, Arbeitsunfähigen und Kranken zugute.4 Im Umfeld der Gutswirtschaft 3 Siehe dazu die ausführlichen methodischen Überlegungen in der Einleitung sowie Lüdtke, Einleitung, S. 50. 4 Fast alle Adelsfamilien förderten ferner als Mäzene die Hochkultur, deren Ort jedoch kaum die ländliche Welt, sondern vor allem die jeweiligen Hauptstädte waren, wo etwa nationale Museen und Kunstsammlungen, Opernhäuser, Orchester, Bibliotheken und ähnliche Einrichtungen unterstützt wurden. Gewiss diente auch diese Unterstützung der adeligen Repräsentation, doch zielte sie vorwiegend auf ein städtisches oder höfisches und nicht auf ein ländliches Publikum. Eine Schnittstelle im Hinblick auf die Repräsentation bildeten die Schlösser und Landsitze, deren Stil durch die Hochkultur geprägt, deren Ort jedoch die ländliche Welt war. Sie gehören allerdings nicht in den Kontext der Wohltätigkeit. Zur mäzenatischen Förderung der Hochkultur siehe z. B. Philipp Ther: In der Mit-

Wohltätigkeit

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setzte sich diese Gruppe zu nicht unerheblichen Teilen aus Mägden und Knechten, Landarbeiter- und Häuslerfamilien zusammen, deren Löhne zu niedrig waren, um te der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien/München 2006, S. 261ff. (zum Stände- und Nationaltheater), zum Nationalmuseum Gerhard Hanke: Das Zeitalter des Zentralismus 1740 bis 1848; in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, hrsg. v. Karl Bosl, 4 Bde, Bd. 2, Stuttgart 1974, S. 415–647, S. 632ff. sowie aus der Perspektive der Fürsten Schwarzenberg Bezecný, Příliš, S. 115–119. Zu den Repräsentationsbauten Jindřich Vybíral: Století dĕdiců a zakladatelů. Architektura jižních Čech v období historismu [ Jahrhunderte der Erben und Stifter. Die Architektur Südböhmens im Zeitalter des Historismus], Praha 1999 und Jiří Kuthan: Aristokratická sídla období romantismu a historismu [Aristokratische Sitze im Zeitalter der Romantik und des Historismus], Praha 2001. Zu England siehe Mark Girouard: The Victorian Country House, New Haven/London 1979 und Jill Franklin: The Victorian Country House; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 399–413 und Beckett, Aristocracy, S. 325–337. Zur ländlichen Armut, die mit Blick auf den hier interessierenden Untersuchungszeitraum als insgesamt deutlich weniger gut erforscht gelten kann als die städtische, siehe etwa Mark Freeman: Social Investigation and Rural England, 1870–1914, Woodbridge 2003, Anne Digby: The Rural Poor; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 591–602. Siehe außerdem auch Gordon E. Mingay: Land and Society in England 1750–1980, London/New York 1994, wo er der Armut und dem Armenrecht ein eigenes Kapitel widmet. Ebenfalls einen englischen Schwerpunkt hat der Sammelband Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800–1940, hrsg. v. Andreas Gestrich, Steven King und Lutz Raphael, Bern/Frankfurt am Main 2006, in dem außerdem auch Schottland, Irland und Deutschland thematisiert werden. Siehe ferner David Englander: Poverty and Poor Law Reform in Britain – From Chadwick to Booth, 1834–1914, London 1998. Hinzu tritt an zeitgenössischem Material z. B. der Aged Poor Report aus den BPP 1895, Bd. XIV R.C. und Charles Booth: The Aged Poor in England and Wales, London/New York 1894, mit einem umfangreichen Kapitel (S. 333–416) zu den ländlichen Armen. Zu Böhmen, allerdings für einen etwas früheren Zeitraum, siehe Alice Velková: Fenomén stáří ve venkovské společnosti na přelomu 18. a 19. století [Das Phänomen der Alten in der ländlichen Gesellschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert]; in: Študie k sociálním dějinám, 6/2001, S. 145–156. An zeitgenössischer Literatur siehe auch Karl Englis: Das Armenwesen im Königreiche Böhmen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Mitteilungen des Statistischen Landesamtes des Königreiches Böhmen (Bd. 13), Prag 1908 sowie, allerdings für Niederösterreich, Josef Schöffel: Die Institution der NaturalVerpflegs-Stationen, der Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten und ihre Einwirkung auf die Eindämmung des Landstreicher- und Bettelunwesens in Niederösterreich, Wien 1900. Nicht nur diese Quelle verweist darauf, dass die Bettelei auch im 19. Jahrhundert ein immer noch weitverbreitetes Phänomen war. Anders als in der Armutsforschung zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit hat sie jedoch in der zur Moderne bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden, wo Themen wie der Pauperismus, die Arbeiterfrage, die Entwicklung des Sozialstaates oder die Aktivitäten von karitativen und sozialen Vereinen und Verbänden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen. Während sich nun ein kürzlich

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Traditionale Foren der Stabilisierung von Adelsherrschaft

sich und ihre Anverwandten zu ernähren, die Hilfen nach Unglücken (z. B. nach Bränden) brauchten oder weil der Ernährer der Familien einen (Arbeits-)Unfall hatte, krank, alt oder verstorben war. Mit Blick auf die Formen lassen sich individuelle Gaben, zum Beispiel bei Notfällen oder zu den hohen kirchlichen Feiertagen, sowie Stiftungen als institutionalisierte Form von Hilfe unterscheiden. Im Folgenden sollen zunächst einige Grundzüge der Wohltätigkeit diskutiert werden, bevor es um die individuellen Formen gehen wird, in denen sich englische und böhmische Adelige stark ähnelten. Ein weiteres Teilkapitel wird sich dann den Stiftungen als Trägereinrichtungen institutionalisierter Wohltätigkeit zuwenden, wobei für Böhmen Armen-, für England Schulstiftungen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen werden. Gemeinsam ist den verschiedenen Formen der Wohltätigkeit in beiden untersuchten Großregionen, dass sie als Herrschaftspraktiken zu verstehen sind. Gerade weil der Adel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch eine lokal gebundene Form von Herrschaft ausüben konnte, hatte er ein so markantes Interesse daran, Menschen an seine Besitzungen zu binden. In der Tat erscheint gerade die ländliche Gesellschaft Böhmens in der Adelsüberlieferung als wenig mobil. Böhmen kannte natürlich als die neben Wien am stärksten industrialisierte Region der Habsburgermonarchie genauso wie das insgesamt stärker industriell geprägte England Mobilität.5 Doch wer wegging, entzog sich der lokal gebundenen Herrschaft des Adels. Wer etwa im Industrierevier Kladno sein Glück versuchte, dort verunglückte und arbeitslos wurde, der war zwar auf seine ggf. ländliche Heimatgemeinde angewiesen, wollte er Armenunterstützung in Anspruch nehmen. Mit der Hilfe des dortigen Großgrundbesitzers konnten diese Menschen jedoch nicht rechnen. Dies spiegelt sich in den adeligen Archiven wieder: Hier finden sich zwar Bittbriefe von in Not geratenen Menschen in großer Zahl. Diese stammten jedoch stets von Angehörigen der ländlichen Gesellschaft und nicht von „Heimkehrern“. In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, einige methodische Überlegungen zum Wesen der Wohltätigkeit anzuschließen. Ausführlich hat sich damit François Ewald im Kontext der Patronatsökonomie vor allem der frühen Industrialisierungszeit beschäftigt. Entscheidend bei der Wohltätigkeit ist, dass ihre Bedeutung erschienener Sammelband mit dem Phänomen der Bettelei in europäischen Großstädten befasst (Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform, hrsg. v. Beate Althammer, Frankfurt am Main 2007), ist es für den ländlichen Raum, zumal der Habsburgermonarchie, nach wie vor kaum untersucht worden. 5 ������������������������������������������������������������������������������� Siehe dazu Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart; in: Österreichische Geschichte, hrsg. v. Herwig Wolfram, Wien 1995, S. 264–267 und José Harris: Private Lives, Public Spirits. Britain 1870–1914, London 1994, S. 41–45.

Wohltätigkeit

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nicht allein in der Unterstützung liegt, die sie gewährt, „sondern zuallererst in der Tatsache, dass sie eine soziale Beziehung ist. Eine grundlegende soziale Beziehung, denn sie verbindet das miteinander, was ansonsten unweigerlich in zwei einander feindliche Klassen, die der Reichen und die der Armen, aufgeteilt bliebe.“6 Ferner ist offenkundig, dass es sich bei der durch Wohltätigkeit gestifteten Beziehung um eine asymmetrische handelt. Im Kern besteht ihr Charakter darin, dass sie ökonomische und juristische Beziehungen durch affektive ersetzt, durch Anerkennung, Respekt und Zuneigung. Eine solche Beziehung lässt sich nicht verrechtlichen. Nicht nur würde ein Recht auf Almosen der Logik des Eigentumsrechts widersprechen. Auch ginge damit das Recht der Armen einher, Almosen in letzter Konsequenz mit Gewaltmitteln (und seien sie staatlicher Natur) einzutreiben. Damit liefe die Legalisierung einer Beziehung der Wohltätigkeit letztlich auf ihre Zerstörung als Machtbeziehung hinaus.7 An die Stelle des Rechts, so könnte man in Anlehnung an Georg Simmel formulieren, tritt die Dankbarkeit.8 Auffällig in Ewalds Ausführungen ist, dass sein Patron vieles mit einem adeligen Großgrundbesitzer gemeinsam hat: „Die affektive Präsenz des patron ist die Bedingung dafür, dass Frieden und Harmonie im Unternehmen herrschen. Der ‚Absentismus des Großbesitzers‘ [sic!] ist die häufigste Ursache für Desorganisation und Zwietracht in den Werkstätten. Nichts läuft dem Patronatswesen so sehr zuwider wie Anonymität. Das Patronatswesen definiert einen Modus der Menschenführung, der nie die Gestalt einer unpersönlichen und bürokratischen Verwaltung annehmen darf. Im Gegenteil, sie vollzieht sich über den direkten Kontakt zwischen dem patron und seinen Arbeitern. Der patron darf seine Arbeiter nicht als Masse, als statistische Population behandeln. Er muss sie individuell und als einzelne kennenlernen, mitsamt ihren Bedürfnissen, Charakteren, Persönlichkeiten, Qualitäten und Fehlern, mitsamt ihrem Privatleben. … Die Bedingungen der Individualisierung, Personalisierung und Nähe müssen erfüllt sein, damit die Maßnahmen des Patronats, die durchweg als ‚Opfer‘, ‚Anerkennung‘ oder ‚freiwillige Zuwendung‘ dargestellt werden, in den Augen derer, denen sie zugutekommen, nicht als administrative Maßnahmen erscheinen, die den Regeln einer unpersönlichen Geschäftsführung folgen, sondern als Beweise einer jeweils individuellen Aufmerksamkeit und des Interesses, dass der patron dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden jedes [sic!] seiner Arbeiter entgegenbringt. Erst dann können die väterlichen, familienähnlichen Beziehungen geknüpft werden, die den Unternehmer mit seinen Arbeitern verbinden.“9 6 François Ewald: Der Vorsorgestaat, Frankfurt am Main 1993, S. 71. 7 Ebd., S. 71f., S. 156 und S. 169. 8 Siehe dazu ausführlicher Stephen Pielhoff: Stifter und Anstifter. Vermittler zwischen „Zivilgesellschaft“, Kommune und Staat im Kaiserreich; in: GG 33/2007, S.  10–45, S. 13f. 9 Ewald, Vorsorgestaat, S. 154f.

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Anwesenheit auf den Gütern sowie das Kennen und Vertrautsein mit den Lebensund Arbeitsbedingungen der dort Tätigen gehörte auch, wie wir bereits gesehen haben, für den englischen und böhmischen Adel zu den Voraussetzungen für seinen ökonomischen Erfolg und damit für die Aufrechterhaltung von Herrschaft. Hinzu trat, was nach Ewald den Angelpunkt des Patronatswesens darstellt, nämlich die Permanenz der Beschäftigung.10 Auch hier finden sich wiederum Analogien zum Adel, etwa wenn die Fürsten Schwarzenberg wenig rentable Kohlengruben im Winter bewirtschafteten11, um ihrem Personal in der kalten Jahreszeit, wenn die Arbeit auf den Feldern ruhte, eine Beschäftigungsmöglichkeit zu geben. Doch wie schon dieses Beispiel zeigt, kamen die Vorteile des Patronatswesens dem Arbeiter nicht deshalb zugute, weil er ihrer bedurfte, sondern weil er dem Unternehmen angehörte; sie waren Belohnung für seine Treue.12 Hier wird das implizite adelige Vorbild besonders gut erkennbar, war doch bereits der feudale Klientelverband ein wechselseitiges Treue- und Schutzverhältnis zwischen Adel und Vasallen13, so dass auch die adelige Rhetorik des 19. Jahrhunderts in genau dieser Tradition von gegenseitigem Verbundensein durch Schutz und paternalistisches Kümmern stand. In die Reihe der Charakteristika, die die frühe Patronatsökonomie ebenso kennzeichneten wie die wesentlich ältere Adelsherrschaft, nämlich auf Permanenz angelegte Beschäftigungsverhältnisse und damit einhergehend affektive Nähe und Schutz, die schließlich zum Individualisieren und Personalisieren von sozialen Beziehungen führten, gehört als logische Folge auch das Binden von Menschen an ein bestimmtes Territorium. Mit „Territorialisieren“ ist bei François Ewald jedoch nicht der in der 10 11 12 13

Ebd., S. 157. Siehe dazu auch Kapitel 2.1. Ewald, Vorsorgestaat, S. 158. Ein expliziter Bezug findet sich gar, wenn Ewald mit Littré den Unterschied zwischen Lohn und Dienst erläutert. Nach Littré wurden damit ursprünglich „die Pflichten, die ein Vasall seinem Herren gegenüber erfüllen mußte, wofür dieser ihm Schutz gewährte“ bezeichnet. Weiter Ewald: „Die Beihilfe ist das, was die Arbeit zu einem Dienst macht und zugleich den geleisteten Dienst entlohnt; das Mittel, mit dessen Hilfe sich der Patron seiner Arbeiter, ihrer Treue und ihres guten Willens zu versichern trachtet, und zugleich die Belohnung ihres Wohlverhaltens. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man sagen, daß die gesamte Patronatsökonomie darin besteht, die Ökonomie der Arbeit wieder in den Rahmen einer Ökonomie des Dienstes zu stellen, und daß die Praktiken des Patronatswesens den Tausch Arbeit gegen Lohn durch den Tausch Dienst gegen Beihilfe ersetzen wollen. Im System des Patronats tauscht man nicht Lohn gegen Arbeit, sondern einen Dienst gegen einen anderen.“ Ewald, Vorsorgestaat, S. 165f. Der Bezug auf den Adel wird sogar in der Kapitelüberschrift deutlich, lautet sie doch „Adel verpflichtet“ (Ebd., S. 131). Ewald braucht allerdings nicht mehr als eine Zeile, um von diesem Ausgangspunkt zum Industriepatron überzuleiten. Vom Adel ist trotz der vielen Anklänge an dessen Lebenswelt, Traditionen und Diskurse dann nicht mehr die Rede.

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Frühneuzeitforschung eher in einem breiteren Sinne verwendete Begriff gemeint.14 Vielmehr schreibt er: Die „Patronatsökonomie … verknüpft die Sicherheit mit Seßhaftigkeit. Ihr Ziel ist, den Arbeiter an den Boden zu binden, ihn auf der Grundlage und am Ort des Unternehmens zu sozialisieren und zu territorialisieren.“15 Mit Blick auf die hier interessierenden Zusammenhänge adeliger Herrschaft ausgedrückt: Wer migrierte, entzog sich dieser Herrschaft, gehörte – ständisch gesprochen – nicht mehr zum Herrschaftsverband und konnte daher auch nicht mehr mit Wohltätigkeit rechnen. Adelsherrschaft fiel es darüber hinaus ihrem Wesen nach leichter, Menschen zu territorialisieren, war sie doch, da auf der Gutswirtschaft aufruhend, „ortsstabil“, während die Industrie sich immer neue Räume zu erschließen trachtete. Noch ein weiterer Aspekt sei hier kurz angesprochen, der uns im Verlauf der Untersuchung noch beschäftigen wird: Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass in den Agrarregionen Böhmens bei all der Vielfalt der Alltagskonflikte Nationalismus nur selten und auch erst spät eine Rolle spielte, anders ausgedrückt, dass das bürgerliche Pro­jekt der Nation in der zweisprachigen Welt der ländlichen Gesellschaft wenig Resonanz fand.16 Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Adel in seiner Gesamtheit lange einem böhmischen Landespatriotismus verbunden blieb, obwohl ihm die bürgerli­chen Alttschechen durchaus eine führende Rolle in der tschechischen Nationalbewegung zudachten.17 Mit einer expliziten nationalen (Selbst-)Verortung hätten adelige Gutsbesitzer jedoch ihre Position in der ländlichen 14 In der Forschung zur Frühen Neuzeit beschreibt der Territorialisierungsbegriff den Übergang vom Personenverbandsstaat zum Flächenstaat. Stichworte für den Staatsbildungsprozess seit dem Spätmittelalter sind daher: Ämterbildung, Bürokratisierung und Entpersonalisierung von Herrschaft bzw. Entindividualisierung der Person des Herrschers. Siehe dazu Otto Hintze: Wesen und Wandlung des modernen Staates; in: Ders.: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, hrsg. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 1962², S. 470–502, S. 476–480 und Gerhard Oestreich: Ständetum und Staatsbildung in Deutschland; in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 277–289. 15 Ewald, Vorsorgestaat, S. 159. 16 Siehe dazu Kapitel 3.4 sowie die Ausführungen in den noch folgenden Kapiteln. 17 Zum Verhältnis zwischen dem böhmischen Adel und den sog. Alttschechen siehe Otto Urban: Der böhmische Landtag; in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Bd. 7/2, Wien 2000, S.  1991–2055, Pavel Cibulka: Český Klub na Říšské radě [Der Tschechische Club im Reichsrat] (1879–1887); in: Český časopis historický 92/1994, S. 45–62 und Eagle Glassheim: Between Empire and Nation. The Bohemian Nobility 1880–1918; in: Constructing Nationalities in East Central Europe, hrsg. v. Pieter M. Judson und Marsha L. Rozenblit, New York 2005, S. 61–88. Außerdem Aleš Valenta: Karel Schwarzenberg (1859–1913). K politice české konzervativní šlechty v první polovině devadesátých let devatenáctého století [Zur Politik des konservativen böhmischen Adels in der ersten Hälfte der 1890er Jahre], in: Střední Evropa 10/1994, S.  75–85 und Libor Tomášek: Karel III. Schwarzenberg. K politické

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Welt massiv gefährdet. Sollte eine Gemeinschaftsbildung als Ergebnis des Territorialisierens erfolgreich sein, konnten sich adelige Großgrundbesitzer nur als böhmische Patrioten, nicht jedoch als deutsche oder tschechische Nationalisten präsentieren. Dies fiel ihnen umso leichter, als eine solche Position dem tradierten Selbstbild der böhmischen Magnaten entsprach.18 Nur im Nebensatz sei erwähnt, dass der englische Adel in Irland gegenüber der irischen Nationalbewegung eine eindeutig ablehnende Haltung einnahm, womit er sich dort letztlich um seine Herrschaftschancen brachte.19 Die Wohltätigkeit, so kann man vorwegnehmen, verband nicht nur, was sonst zwei Klassen gewesen wären, nämlich arm und reich. Bis zu einem gewissen Maß verhinderte sie auf den adeligen Gütern im zweisprachigen Böhmen auch die nationale Aufladung dieser entstehenden Klassen. 4.1.2 Individuelle Hilfen

Vielfältig waren die individuellen Eingaben von in Not geratenen Dorf- und Kleinstadtbewohnern, mit denen sie sich in Böhmen wie in England an die örtlichen Adelsfamilien wandten20: Die einen baten um Unterkünfte, andere, nach einem lančinnosti české šlechty v šedesátých letech 19. století [Zur politischen Tätigkeit des böhmischen Adels in den 1860er Jahren]; in: Jihočeský sborník historický 63/1994, S. 101–114. 18 Zum böhmischen Landesbewusstsein seit der Frühen Neuzeit, das in den ständischen Freiheiten und dem Selbstbewusstsein der Adelsnation wurzelte, siehe Joachim v. Puttkamer: Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 6–11 und S. 16f. 19 ������������������������������������������������������������������������������������� Siehe dazu Virginia Crossman: Building the Nation. Local ���������������������������������� Administration in Rural Ireland 1850–1920; in: Journal of Modern European History 2/2004, S. 188–207. Cross������ man zeigt in ihrem Beitrag, wie die Anhänger der irischen Nationalbewegung die poor law boards im land war nutzten, um sich gegenüber den Großgrundbesitzern zu positionieren, gleichzeitig aber ihre eigenen Anhänger mit Arbeit, Geld oder Diensten zu versorgen. Zum sogenannten Bodenkrieg, einer Serie von Kampagnen um Agrarreformen, siehe auch Cannadine, Decline, S. 63ff. 20 Bittgesuche finden sich in den Überlieferungen des böhmischen Adels in großer Zahl; häufiger noch als in englischen Archiven, wo die Adelssammlungen nicht selten Leihgaben sind und die jeweiligen Familien geschlossene Bestände mit Bittbriefen z. T. nicht an die Archive abgegeben haben. Doch auch für England sind weit mehr als nur Einzelfälle überliefert. Umfangreiche böhmische Bestände befinden sich etwa im SOA Praha im Bestand Velkostatek Březnice 2065, kart. 543 mit Unterlagen, die die Jahre 1855–1898 umfassen. Bemerkenswert ist, dass das Gut nach dem Aussterben des letzten Besitzers aus der Linie der Grafen Kolowrat an Antonia Gräfin Pálffy überging, ohne dass sich im Hinblick auf die Almosengewährung ein Unterschied ausmachen ließe. Vielfältige Bittgesuche sind ferner in den Beständen SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 424 und 426 (Grafen Czernin, für die Jahre 1587–1943) oder auch SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 996 (Fürsten Schwarzenberg, für die zweite Hälfe des 19. Jahrhunderts) überliefert.

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gen Arbeitsleben, um Unterstützung nach einem Unfall oder um Gewährung einer Pension21, um Brennholzzuteilungen22, die Übernahme von Begräbniskosten23, die Unterstützung wohltätiger Basare24, oder die Finanzierung von Bibeln25. In Böhmen sprachen außerdem Häusler beim ehemaligen Grundherren vor, wenn ihre Unterkünfte einem der nicht seltenen Feuer zum Opfer gefallen waren.26 In vielen dieser Fälle, wie zum Beispiel auch beim Auftreten von Epidemien, waren adelige Großgrundbesitzer bereit zu helfen. So stellte etwa der Earl of Shrewsbury 1872, als in 21 Für Böhmen siehe z. B. die Schreiben an den Fürsten Schwarzenberg vom 5.9.1888, 22.12.1891, 8.2.1901, 14.10.1908 oder auch 1.7.1911, die belegen, dass es solche Bittgesuche auch um die Wende zum 20. Jahrhundert nach wie vor gab. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 996 (1888–1908) und kart. 969 (1911). Für England siehe z. B. die Bittbriefe an die Countess Vane aus dem Jahre 1872, CROD: D/Lo/C 626; die Eintragungen im Tagebuch des 15. Earl of Derby vom 4. und 6.1.1879 (Vincent, Diaries, S. 85f.); das Schreiben an den Verwalter des Dukes of Bedford vom 13.6.1884 (hier brauchte die Familie eines Landarbeiters, der 20 Jahre im Dienste des Dukes gestanden hatte und seit einigen Wochen mental verwirrt war, Unterstützung) oder die Scheiben vom Januar 1895 des Verwalters des Marquess of Londonderry, in denen es um die Pension für eine alte Frau ging, die nicht ins almshouse wollte, CROD: D/Lo/C 352, Bl. 400–404. Diese Auswahl von Quellen wiederum zeigt, dass die Bittschreiben die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch auf der Tagesordnung blieben. 22 SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866 (z. B. die Schreiben vom 26.9.1857 und vom 14.10.1860) oder auch kart. 996 (Schreiben vom 22.12.1891). 23 ������������������������������������������������������������������������������������ Siehe dazu z. B. das Schreiben Karl Schwarzenbergs vom 1.11.1898, der dem Knecht Josef Habarta auf seinen Bittbrief vom 31.10.1898 hin (also innerhalb von zwei Tagen) 10 Gulden als Geschenk bewilligte, um damit die Begräbniskosten für die Beerdigung seiner Frau zu zahlen. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 996. Die Amtsinstruktionen der Czerninschen Güter aus dem Jahre 1887 sahen für Beamte und Diener vor, dass „den Rechtsnachfolgern oder der Umgebung des Verstorbenen der vierteljährliche volle Gehaltsbezug mit Ausschluss der Wohnung als sogenanntes Sterbequartal zur Bestreitung der Krankheits-, Arztens-, Apothekers- und Begräbniskosten“ zustehe. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 991. 24 Siehe z. B. die Schreiben von Rev. Scott an Mary Cornelia, Countess Vane, vom 10.9. 1870 und vom 13.2.1871. CROD: D/Lo/C 626. 25 Dankschreiben eines E. Hepplewhite für das Geschenk von Bibeln an die Countess Vane, o. D., aber dem Kontext nach vom April 1872. CROD: D/Lo/C 626. 26 Angesichts der Tatsache, dass in England auf den Gütern Beschäftigte zumeist in einem dem Gutsbesitzer gehörenden cottage untergebracht waren, finden sich diese Bitten hier selten. Für Böhmen siehe die umfangreichen Bestände z. B. im SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs Petrohrad, kart. 74 (Czernin). SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 873 und kart. 874 (Schwarzenberg). SOA Praha: Vs Březnice, kart. 526 (Kolowrat/Pálffy). Die Hilfen hatten dabei unterschiedliche Reichweiten. Zum Teil erhielten die Betroffenen Kredite, zum Teil verbilligtes Holz, das sie gleich oder später bezahlen konnten, zum Teil auch Holzgeschenke.

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der ländlichen Umgebung der Stadt Stafford die Pocken ausgebrochen waren, dem Bürgermeister ein cottage als Krankenstation zur Verfügung und übernahm die anfallenden Instandsetzungskosten.27 Typisch war in beiden Regionen auch das Verteilen von Weihnachtsgeschenken an die örtlichen Armen. Am 11. Dezember 1869 kündigte der Staffordshire Advertiser an: „Through the liberality of the Countess of Shrewsbury, in addition to a present of flannel, the inhabitants of the Stafford almshouses will be supplied with the good old English fare of roast beef, plum pudding, and beer, to cheer them up on Christmas day.“28 Diese Geschenke waren keine Ausnahme, sprach ein anderer Zeitungsbericht doch vom „usual seasonable gift“29 der Gräfin. Beschenkt wurden außerdem die Armen der beiden Familiengüter Alton und Ingestre mit Kleidung und Lebensmitteln, wie die über Jahre geführten Listen mit Geschenken ausweisen.30 Auch in Böhmen war ein solches Verteilen von Geschenken an Bedürftige weit verbreitet: So unterstützten die Grafen Kolowrat zu Weihnachten die örtlichen Armen. In den 1860er Jahren profitierten auf dem Gut Březnice davon immerhin zwischen 230

27 Schreiben von Lord Shrewsbury an das Stafford Borough Council vom 2.6.1872 (der für die weitere Abwicklung den Bürgermeister an seinen Verwalter Ginders verwies). Stafford Borough Council Order Books CROSt: D 1323/A/1. Zu den Hütten-Hospitälern im Allgemeinen siehe auch Henry C. Burdett: The Cottage Hospital. Its Origin, Progress, Management and Work with an Alphabetical List of Every Cottage Hospital at Present Open, and a Chapter on Hospitalism in Cottage Hospital Practice, London 1877 sowie Edward John Waring: Hütten-Hospitäler, ihre Zwecke, ihre Vorzüge, Berlin 1872. 28 Staffordshire Advertiser vom 11.12.1869. 29 ����������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Ausgabe vom 24.12.1870. Die gleiche Ausgabe erwähnt ferner einen weihnachtlichen Grafschaftsball am 21.12., bei dem der Earl of Shrewsbury mit seiner Frau anwesend waren, sowie eine Festveranstaltung des 27th Staffordshire Rifle Corps, auf der die Gräfin einen Preis überreichte. Weihnachten war somit eine Zeit mit vielen Repräsentationspflichten für den Adel; siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel 4.3.2. 30 Christmas present record book of the 20th Earl of Shrewsbury, 1888–1915. CROSt: D 240/J/10/4. Die Listen verzeichnen zunächst „friends“ (einschließlich der Familienmitglieder), dann folgen „servants“, dann die verschiedenen „charities“ sowie schließlich Einzelpersonen. Interessanterweise erhielten z. B. zwar auch die keeper oder die schoolmistress Geschenke, jedoch keine Kleidung oder Truthahnzuteilungen, sondern gerahmte Fotografien der gräflichen Familie; auch dies ein Mittel, Präsenz zu zeigen. Im Jahre 1891 profitierten neben 21 Personen, überwiegend Frauen, die über die charities in Ingestre und Alton mit Kleidung und Decken beschenkt wurden, weitere 32 Personen von der gräflichen Wohltätigkeit; hier handelte es sich um individuelle Zuteilungen von Truthahn und Rindfleisch. Auch der 18. Earl of Shrewsbury beschenkte arme Familien auf seinen Gütern, siehe dazu z. B. die Dankschreiben von den Besitzungen in Rimpton (Somerset) aus dem Jahre 1859. CRSt: D 240/J/7/3.

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und 240 Personen.31 Ähnlich verhielten sich die Grafen Waldstein. Die Gräfin Sophie dachte zu den Feiertagen besonders an arme Schulkinder und stattete diese mit Kleidung, Schuhen und Strümpfen aus.32 Einbezogen in diese Wohltätigkeitspraktiken wurden auch die Kinder: Der zehnjährige Georg August Lobkowitz schrieb seinem Vater Anfang Dezember 1880, dass er und seine Geschwister nach der Heiligen Messe am Nikolaustag die armen Kinder von Hořín, wo eines der Güter des Fürsten gelegen war, mit Kleidung, Gebäck und Geselchtem beschenken würden.33 Solche Beziehungen funktionaler Emotionalität zwischen adeligen Kindern und den „Leuten“ verwandelten sich im Laufe der Jahre in Bindungen, in Anhänglichkeiten und Loyalität34, ohne dass dadurch Standesunterschiede eingeebnet worden wären. Adelige Wohltätigkeit, dies zeigt das Involviertsein der Kinder, zielte somit auf Gefühlslagen, um Herrschaft mit positiven Empfindungen zu verknüpfen. Eindringlich zeigen die Quellen, wer die Bittstellerinnen und Bittsteller waren und wer von ihnen eine Chance hatte, in den Genuss adeliger Wohltätigkeit zu kommen. Die bereits genannte Gräfin Waldstein ließ zu Weihnachten auch den Armen von Hirschberg, wo sich eines der Güter der Familie befand, Geldspenden zukommen. Zuvor holte sie jedoch beim Dechant der Gemeinde Auskünfte über die Betreffenden ein. Vor allem alte Frauen, Witwen oder Ledige, die im Armenhaus lebten, standen auf ihrer Liste. Während der Geistliche über die eine schrieb „Sie hat immer, so lange es ging, sich geplagt. Jetzt lebt sie von Almosen“ oder über eine andere „Sie hat zwei Söhne und wird von diesen etwas unterstützt“ (beide Frauen bekamen je drei Kronen), fielen in anderen Fällen die Urteile kritischer aus. So heißt es über eine weitere 70-jährige Frau, sie „hat einen Haufen Kinder, jedes von einem anderen Manne, welche Kinder sich nicht kümmern“ oder über eine 80-jährige Witwe, die im Haus ihres Sohnes lebte, dass sie sich trotzdem die Suppe im Kloster hole. Diese beiden gingen leer aus. Ohne Chancen war auch ein 60-jähriger Mann, über den der Dechant zu berichten wusste: „ … lebt im Armenhaus … und vertrinkt gleich alles. Er könnte noch arbeiten, verläßt sich aber auf ’s Betteln.“ Unterstützung dagegen erhielten zwei 31 Tschechischsprachige Listen der örtlichen Armen vom 23.12.1867 und vom 13.12.1869. SOA Praha: Vs Březnice, kart. 522. 32 So erhielten 1910 79 Jungen und Mädchen der ehemaligen Herrschaften Stiahlau und Kotzenitz Kleidergeschenke, wofür sich die Kosten auf mehr als 600 Kronen beliefen. Aufzeichnung vom 19.11.1910 und Rechnung (ohne Schuhe) vom 24.3.1911. SOA Praha: RAV 3680, kart. 72. Auch im Jahre 1913 kamen wiederum arme Schulkinder in den Genuss solcher Kleidungsgeschenke. Diesmal beliefen sich die Kosten auf fast 2.000 Kronen, dabei allein 440 Kronen für 176 Paar Schuhe. Ebd. 33 Milan Hlavačka: Dětství, dospívaní a rodinná strategie v korespondenci dětí knížeti Jiřímu Kristiánu Lobkovicovi [Kindheit, Heranwachsen und Familienstrategie in der Korrespondenz der Kinder mit dem Fürsten Georg Christian Lobkowitz]; in: Porta Bohemica 2/2003, S. 7–23, S. 13. 34 Conze, Bernstorff, S. 368.

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alte Männer, die ebenfalls im Armenhaus lebten und auch keinen kleinen Nebenbeschäftigungen auf den Meiereihöfen mehr nachgehen konnten, aber doch Mittel und Wege gefunden hatten, wenigstens ein bisschen zum eigenen Unterhalt beizutragen: Der eine, so erfuhr die Gräfin, könne „nicht ordentlich werden“, habe zwei verkrüppelte Kinder und gehe mit dem Leierkasten herum, der andere habe „bei sich die Enkel, deren Eltern jedenfalls ihn zahlen dafür“. Beide Männer bekamen Geldgeschenke der Gräfin, der erste vier Kronen, der zweite drei Kronen.35 Was uns in dieser Quelle entgegentritt, ist so etwas wie die böhmische Variante der englischen deserving poor36: Menschen, die aus Gründen von Alter und Krankheit nicht mehr selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnten und deren Familienangehörige ebenfalls zu arm waren, um altgewordene Eltern voll zu unterstützen. Hinzu trat ein Bemühen, wenigstens etwas Geld selbst zu verdienen (wobei der Leierkasten in England wohl kaum die Einschätzung als „respectable“ erhalten hätte). Gewisse „Mängel“ im Verhalten, wie das vom Geistlichen mehrfach notierte „kann nicht ordentlich werden“, schlossen zumindest in Böhmen eine solche Person nicht von der adeligen Wohltätigkeit aus, sehr wohl jedoch die Tatsache, uneheliche Kinder von verschiedenen Männern zu haben37 oder Alkoholismus. Noch ein weiteres, die Wohltätigkeit des böhmischen und englischen Adels verbindendes Charakteristikum gilt es festzuhalten: Nicht nur wussten die jeweiligen Adeligen, wer von ihren Gaben profitierte, diese Menschen hatten auch durchweg 35 ����������������������������������������������������������������������������������� Dechant von Hirschberg an Sophie Gräfin Waldstein, 13.12.1913, sowie Empfangsbestätigung über ausgezahlte Spenden zu Weihnachten 1913. SOA Praha: RAV 3680, kart. 72. 36 ���������������������������������������������������������������������������������� Typisch für das moralische Verständnis des viktorianischen Englands war die Unterscheidung zwischen non-deserving und deserving poor. Zur ersten Gruppen gehörten z. B. Mütter mit unehelichen Kindern, Wilderer, Trinker und vor allem auch Vagabunden. Sie erhielten die sogenannte indoor relief im Arbeitshaus (das häufig einem Gefängnis recht nahe kam). Bei den deserving poor handelte es sich in den Augen der Zeitgenossen z. B. um Witwen, Kranke, Alte bzw. all jene, die von Situationen betroffen waren, die sich ihrer eigenen Kontrolle anerkanntermaßen entzogen. Sie erhielten outdoor relief in ihrem eigenen Zuhause, unterstützt ggf. durch private Wohltätigkeit. Doch auch diese Hilfen fanden Kritiker im 19. Jahrhundert problematisch, da sie die Pauperisierung als solche weder verhinderten noch reduzierten; sie plädierten deswegen für die self-help als bessere Lösung (oft genug jedoch ohne zu realisieren, dass die betreffenden Menschen dazu kaum in der Lage waren). Digby, Poor, S. 594. Siehe zu diesem Komplex auch, allerdings mit wenig Bezug zur ländlichen Welt, „Victorian Values“. Arm und Reich im viktorianischen England, hrsg. v. Bernd Weisbrod, Bochum 1988. 37 Regina Schulte verweist darauf, dass in bäuerlich geprägten Gesellschaften uneheliche Kinder zumindest in den Augen der Dorfbewohner kein Vergehen darstellten, solange eine Frau alle Kinder von dem gleichen Mann hatte, da Heiratsgenehmigungen vielfach schwierig oder nicht zu erhalten waren. Moralisch problematisch in den Augen der Umwelt dieser Frauen wurde es erst, wenn sie mehrere Kinder mit unterschiedlichen, gar noch verheirateten, Männern hatten. Schulte, Dorf, S. 169–173.

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einen Bezug zu den Gütern. Die Erhebungen der böhmischen Adeligen bezogen sich durchgängig auf ihre „Herrschaften“. Nicht anders verhielt sich der englische Hochadel: Der Earl of Shrewsbury beschied einem Geistlichen, er müsse so viele alte Menschen „on the es­tate“ unterstützen, dass er nicht auch noch für jene „away from home“ zahlen könne.38 Ähnlich argumentierte auch der Earl of Derby, als er eine Unterstützung beendete: „As I am under no local obligation … the withdrawl has no necessary significance.“39 In einem anderen Fall unterstützte er eine Unternehmung, der er eher ablehnend gegenüberstand, nur widerstrebend: „I shall attend no meeting in its favour, nor do more than give what custom & my local position make necessary.“40 Es ist nur naheliegend, dass unter diesen Umständen die Bittstellerinnen und Bittsteller auf ihr enges Verbundensein mit der jeweiligen adeligen Familie verwiesen41, in Böhmen gar noch bis in die 1870er Jahre hinein auf die Erbuntertänigkeit Bezug nahmen, indem sie es sich zur Ehre anrechneten, dass ihre Eltern immer treue Untertanen gewesen seien42. Doch auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts war die durch lange Dienstjahre erwiesene Treue ein typisches Argumentationsmerkmal. So begründete Antonín Suchý seine in tschechischer Sprache vorgetragene Bitte um Wohnung und Unterhalt damit, dass er seit 34 Jahren auf den Gütern des Fürsten Schwarzenberg als Fischmeister beschäftigt sei und davon zehn Jahre auch zusätzlich in der Forstwirtschaft ausgeholfen habe. Die nächtlichen Wachen, zumal im Winter, um die Teiche vor Fischdieben zu schützen, und eine Lähmung der rechten Hand in Folge der schweren Holzverladearbeiten machten es ihm jedoch nun nicht mehr möglich, für sich und seine Frau zu sorgen. Auch verfügten sie beide nicht über Ersparnisse, da sie sieben Kinder großgezogen hätten. Ohne die Güte des Fürsten, die allgemein bekannt sei, seien sie daher auf Bettelei angewiesen. Helfe er ihnen aber, so wollten sie stets für seinen und seiner Familie Segen in dieser und der nächsten Welt beten.43 Sehr ähnlich begründete Josef Novotný, ein ehemaliger Teichheger, sein Ansinnen, „dauerhafte Unterstützung“ zu erhalten: Er habe 44 Jahre gedient, an allen Nachtwachen teilgenommen und sei „einigemale [sic!] mit den Fischlein ziemlich in

38 Undatiertes Schreiben des Earl, dem Kontext nach von Mitte Januar 1882. CROSt: D 240/J/10/2/1. 39 Tagebucheintrag vom 21.11.1878. Vincent, Diaries, S. 58. 40 Tagebucheintrag vom 26.4.1878. Ebd., S. 9. 41 Ex negativo lässt sich dies wiederum in den Tagebucheinträgen von Lord Stanley erkennen, der immer wieder monierte, dass ihn Menschen um Unterstützung baten, ohne eine solche Verbindung herzustellen oder zu begründen, warum gerade er in diesem Falle helfen solle. Siehe dazu z. B. die Einträge vom 21.5., 7.6. oder 25.6.1878. Ebd., S. 17, S. 21 und S. 26. 42 Bezecný, Příliš, S. 71. 43 Schreiben von Antonín Suchý an den Fürsten Schwarzenberg, 5.9.1888. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 996.

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Gefahr“ gewesen. Ohne die Unterstützung des Fürsten, für den er täglich beten wolle, sei er auf Bettelei oder die Gemeinde angewiesen.44 In Fällen wie diesen hatten die Bittsteller gute Chancen, Hilfen zu erhalten, wie dies auch in England der Fall war. Lord Stanley etwa notierte in seinem Tagebuch, dass er der Witwe eines keeper keine Pension habe aussetzen können, weil ihr Mann dafür nicht lange genug in seinen Diensten gestanden habe, doch erhielt sie zumindest drei Jahre lang Zahlungen.45 Ungeachtet dessen blieb die Lage der ländlichen Armen stets prekär: Eine Erhebung aus dem Jahre 1913 zeigte, dass in England ein Landarbeiter nur in den fünf nördlichen Grafschaften genug verdiente, um eine Familie mit drei oder mehr Kindern zu ernähren.46 Fasst man die bisherigen Befunde zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Wer auf den adeligen Gütern sein Leben lang gearbeitet hatte, in den dazugehörigen Gutsdörfern wohnte, dabei weder disziplinarisch noch moralisch (eine Unterscheidung eher der heutigen Zeit) negativ aufgefallen war und sich in einer unverschuldeten Notlage befand, „der“ durfte auf individuelle Hilfen rechnen. Dieser „der“ war in der Mehrzahl der Fälle eine arme, verwitwete oder ledige Frau. In einer besonderen Notlage befanden sich zudem Mütter von kleinen Kindern, wenn der Ernährer der Familie durch Krankheit oder Tod ausfiel oder die Familie verlassen hatte.47 Für Böhmen fällt darüber hinaus noch zweierlei auf: Die Bittbriefe waren sowohl auf Tschechisch als auch auf Deutsch abgefasst, in den verwendeten Argumentationsmustern und Stilisierungen unterschieden sie sich dagegen nicht. Gemeinsam war deutsch wie tschechisch schreibenden Bittstellerinnen und Bittstellern außerdem, dass sie in Aussicht stellten, angesichts von erwiesener „Güte“ oder „Großherzigkeit“ für das Wohl der adeligen Familie in dieser und der nächsten Welt beten zu wollen. Dies lässt sich gewiss ebenso wie der Verweis auf die Erbuntertänigkeit bis in die 1870er Jahre hinein als eine spezifische Stilisierung begreifen. Doch ungeachtet dessen handelt es sich hierbei ferner um das Einbringen eigener Möglichkeiten in einen Aushandlungsprozess: Ein Anerkennen von auch religiös legitimierter Herrschaft, 44 Schreiben von Josef Novotný an den Fürsten Schwarzenberg, 14.10.1908. Ebd. 45 Tagebucheintrag vom 4.1.1879. Vincent, Diaries, S. 86. Gerade die keeper genossen häufig eine besondere Stellung auch mit Blick auf ihre „Pensionsberechtigung“. Nur zwei Tage zuvor hatte der Earl notiert, dass er seinen Wildhüter Brailsford gesehen habe, der sehr krank aussehe und wahrscheinlich für den Rest seines Lebens nicht mehr arbeitsfähig sei. „It is chiefly his own fault, but great allowance must be made for the hardship of a keeper’s life.“ Eintrag vom 4.1.1879. Ebd., S. 85. 46 Digby, Poor, S. 600. 47 So bat Eliza James Lady Vane um Unterstützung: Ihr Mann, der seine letzte Stelle vor einem halben Jahr mutwillig verlassen habe und seither arbeitslos sei, habe nun auch sie verlassen: „He has brought his home to poverty“, sie selbst sei „in ill health and broken hearted without food or money for firing.“ Schreiben vom 27.4.1871. CROD: D/Lo/C 626.

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verbunden mit dem indirekten Appell an die Selbstverpflichtung des Adels. Offenbar ist darüber hinaus, dass die Praktiken, die in den Aushandlungsprozessen verwendet wurden, kulturell geprägt waren: Was im böhmisch-katholischen Umfeld selbstverständlich war, war im anglikanisch geprägten ländlichen England unbekannt. Noch eine weitere Schlussfolgerung ergibt sich aus diesen Ausführungen, die im engen Zusammenhang mit einem Befund aus dem Kapitel über die Gutswirtschaft steht: Wer auf den Gütern lebte, arbeitete und ggf. auf Wohltätigkeit angewiesen war, durfte auf etwas wie Privatsphäre nicht hoffen, denn Privatsphäre wäre der Raum gewesen, in den adelige Herrschaft nicht hineinreichte. Die Schaffung eines solchen Raumes wurde nicht nur durch die geschilderte Kopplung von Arbeitsstelle und Unterkunft unterbunden48, sondern auch dadurch, dass die Betreffenden auf adelige Wohltätigkeit angewiesen blieben und sich somit die geschilderten Erhebungen gefallen lassen mussten, um diese Hilfen zu erhalten. Ungeachtet dessen tritt uns in den Quellen wiederum der Eigensinn von Menschen aus der ländlichen Unterschicht entgegen: Was zum Beispiel wie eine der „üblichen“ Bitten um Unterkunft und leichte Handarbeit für eine alte Frau aussieht, entpuppt sich durch die Rückfrage des Fürsten an die Wirtschaftsverwaltung als Umzugsversuch. Dieser wurde unterbunden und der Bittstellerin beschieden, dass sie (aber nur sie und nicht auch ihr Sohn) weiterhin unentgeltlich in einer Hütte zusammen mit einer anderen Frau wohnen dürfe, sie sich mit dieser aber zu vertragen habe.49 Nicht viel anders gestaltete sich ein englisches Parallelbeispiel: Auch hier war die Bittstellerin eine alte Frau, die ihre eigenen Wünsche auszuhandeln versuchte, nämlich in einem cottage wohnen zu bleiben und weder ins almshouse noch zu ihrer verheirateten Tochter ziehen zu müssen. Da sie beim Verwalter Micklejohn kein Gehör fand, wand sie sich an die Marchioness of Londonderry, die sie jedoch zurück an den Verwalter verwies. Dieser ließ Lady Londonderry wissen, „we are only beginning our trouble with her“, wenn sie am Ort bliebe, so dass ihr eine höhere Pension ausgesetzt wurde für den Fall, dass sie zu ihrer Tochter zöge, als wenn sie ins örtliche almshouse ginge. Das cottage musste sie auf jeden Fall räumen.50 War die Demonstration von Eigenlogiken in der hier geschilderten Weise also (noch) kein Grund, jemanden von der individuellen Wohltätigkeit auszuschließen, stellte sich die Situation ganz anders dar, wenn Landarbeiter- oder Häuslerfamilien sich offen dem Herrschaftsanspruch einer Adelsfamilie widersetzten, sei es im Rah48 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 3.1.1, 3.1.3, 3.3 und 3.4. 49 ����������������������������������������������������������������������������������� Bittschreiben von Anna Šnajdrová an den Fürsten Schwarzenberg, 8.2.1901, und Anweisung des fürstlichen Wirtschaftsdirektors Farka an sie, 17.2.1901. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 996. 50 Schreiben Micklejohn an die Bittstellerin vom 9.1.1895, ders. an die Marchioness of Londonderry vom 19.1.1895 (hieraus das Zitat) und ders. erneut an die Bittstellerin vom 19.1.1895. CROD: D/Lo/C 352, Bl. 400–404.

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men der von Häuslern und Kleinbauern getragenen Protestbewegung wie im Jahre 1872 in den böhmischen Gemeinden Josefov und Býchorý51, sei es in England durch die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft: Dies zog den Ausschluss ganzer Familien einschließlich der Kinder von der adeligen Wohltätigkeit nach sich.52 In den Quellen treten uns jedoch nicht nur die zahlreichen Menschen der ländlichen Welt entgegen, die um milde Gaben baten und sie ggf. auch empfingen, sondern auch die Gebenden. Während im Kapitel zur Gutswirtschaft auf adeliger Seite die Akteure überwiegend Männer waren, treten nun Frauen53 und Kinder, die an die Praxis der Wohltätigkeit von klein auf herangeführt wurden, hinzu. Nicht nur die Kinder des Fürsten Lobkowitz verteilten am Nikolaustag Geschenke, sondern auch Georgiana Liddell, jüngste Tochter des 1. Baron Ravensworth (und später verheiratet mit dem 2. Baron Bloomfield), berichtet, dass sie schon als Kind angehalten worden sei, einen Teil ihres Taschengeldes für wohltätige Zwecke auszugeben.54 Herrschaft, ihre Aushandlung, aber auch ihre Aufladung mit positiven Empfindungen wurden also schon von klein auf eingeübt.

51 Purš, Kapitalismus, S. 81f. 52 Howkins, Men, S. 35. 53 Adelige Frauen lebten nicht in einer abgeschlossenen Sphäre. Vielmehr galt, mit K. D. Reynolds gesprochen: „A working aristocracy required women as well as men to function fully, and not simply for the hereditary dimension.“ K. D. Reynolds: Aristocratic Women and Political Society in Victorian Bri­tain, Oxford 1998, S. 220. Zur Wohltätigkeit von Aristokratinnen, ebd., S. 103–110. Mit Blick auf die deutschen Adelslandschaften sei für adelige Frauen Wohltätigkeit im 19. Jahrhundert zum „wichtigsten nichtfamiliären Betätigungsfeld“ geworden. Monika Wienfort: Wohltätigkeit; in: Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, hrsg. v. Eckart Conze, München 2005, S. 252. Zur Lebenswelt adeliger Frauen siehe auch dies., Frauen; in: ebd., S. 91–95, speziell zur Wohltätigkeit S. 93. Die Wohltätigkeit adeliger Frauen ist auch ein Topos in Romanen und Novellen. So lässt etwa Eduard v. Keyserling die Prinzessin Agnes der jungen Prinzessin Marie, einer der Hauptfiguren, raten, „etwas zu haben, wofür man lebt. Da ist die Wohltätigkeit, du könntest eine Kochschule gründen für die Mädchen des Dorfes oder eine Nähschule und ihnen zu Weihnachten bescheren.“ Eduard v. Keyserling: Fürstinnen, München 2005, S. 143 (Originalausgabe von 1917). Ob das „in die Hütten der Armen Gehen“, das Keyserling ebenfalls erwähnt (ebd., S. 144) allerdings in Böhmen oder England jemals praktiziert wurde oder ob es sich dabei eher um einen literarischen Topos gehandelt hat, ist schon angesichts der Tatsache, dass es sich bei den beiden hier behandelten Untersuchungsregionen um solche mit magnatischen Strukturen handelte, zweifelhaft. In den Quellen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es jedenfalls keinen Hinweis darauf. Anders mag es in Teilen der deutschen Adelslandschaften gewesen sein, wo sich Landbesitz auch in den Händen eines weniger reichen, niederen Adels befand. 54 Reynolds, Aristocratic Women, S. 104.

Wohltätigkeit

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Bei aller Bereitschaft, in Notlagen zu helfen, hatte die Mehrzahl der Adeligen jedoch auch stets im Blick, was sie die Wohltätigkeit kostete.55 Der 20. Earl of Shrews­ bury ließ zum Beispiel seinen Verwalter Mynors kurz vor Weihnachten 1881 (von Paris aus) wissen, dass die von ihm unterstützte Krankenstation auf seinem Gut in Alton im vergangenen Jahr fünf Pfund als donation und nicht als subscription erhalten habe, der Betrag mithin in diesem Jahr nicht wieder gezahlt werden müsse.56 Doch ungeachtet aller Kosten blieben zum Beispiel gerade die Krankenstationen im Besitz der jeweiligen Adelsfamilie. Als nämlich der 19. Earl den Stadtoberen von Stafford 1872 ein cottage zur Bekämpfung der schon erwähnten Pockenepidemie zur Verfügung stellte, schrieb er dem Bürgermeister auch: „I … propose to remain in possession of my own property keeping the control of the Cottage in my own hands during the existence of the small pox, and leave it for the future to decide what terms, if any, I will make with the Borough & County Institutions to make it a refuge in case of contagious diseases.“57 Gerade die Tatsache, dass die Adelsfamilien sowohl in England als auch in Böhmen genau im Blick hatten, wie hoch ihre Ausgaben für milde Gaben waren, weist darauf hin, dass es sich bei der Wohltätigkeit um eine Herrschaftspraktik handelte. Sollte sie als solche funktionieren, so musste sie darauf zielen, die „Beherrschten“ zu individualisieren, sie musste Anonymität aufheben und auf Permanenz ausgerichtet sein.58 Diesem Zweck dienten die beschriebenen Listen der namentlich genannten örtlichen Armen und die Erhebungen bei den Dorfgeistlichen. Hieraus erschließt sich 55 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts beliefen sich die Ausgaben für die charity bei der englischen Aristokratie ungefähr auf vier bis sieben Prozent des Bruttoeinkommens. Digby, Poor, S. 595. Eine entsprechende Aggregierung der Daten liegt für Böhmen bisher noch nicht vor. Ausgewiesen wurden die Ausgaben in den Renten der einzelnen Herrschaften. Siehe dazu die in Kapitel 2.1 angesprochene Buchführung; hier wiesen auch die Verwalter englischer Adeliger die Summen aus, die für wohltätige Zwecke gezahlt wurden. Lord Stanley zum Beispiel gab sich darüber hinaus in seinem Tagebuch Rechenschaft darüber, was er für Wohltätigkeit, Kunstwerke etc. ausgab. Siehe etwa den Eintrag vom 28.12.1878. Vincent, Diaries, S. 68. Der Duke of Bedford argumentierte in seiner Verteidigungsschrift des hohen Adels mit den Ausgaben der Familie, die diese in den Jahren 1856 bis 1885 für Kirchen, Schulen, „estate pensions and allowances“ sowie für Wohltätigkeit getätigt habe und verwies explizit darauf, dass mit einer rein ökonomischen Bewirtschaftung solche Ausgaben nicht zu vereinbaren seien. Russell, Estate, S. 101ff. Für die eigenen Unterlagen bestimmt waren etwa Aufstellungen wie die, welche Witwen Pensionen in welcher Höhe erhielten. Siehe z. B. eine Liste vom 6.3.1908, die sich auf die Güter in Bedfordshire und Buckinghamshire bezog. BaLARS: R5/948. 56 Schreiben vom 21.12.1881. Out-letter books of the 20th Earl of Shrewsbury, CROSt: D 240/J/10/2/1. 57 Schreiben von Lord Shrewsbury an das Stafford Borough Council vom 2.6.1872. Stafford Borough Council Order Books, CROSt: D 1323/A/1. 58 Siehe dazu ausführlich Kapitel 4.1.1.

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auch, warum stets auf lange Dienstjahre oder gar auf Loyalitäten verwiesen wurde, die in Böhmen bis in die Zeit der Erbuntertänigkeit zurückreichten, denn die Dauerhaftigkeit einer sozialen Beziehung59 gehörte zu den Voraussetzungen wie den Zielen von Wohltätigkeit als Herrschaftspraxis. Solange der moderne Sozialstaat außerdem erst im Entstehen begriffen war und die Armenhilfe der Kommunen nicht mehr bot als Hilfen zum Überleben60, waren die Unterstützungszahlungen und Sachspenden des Adels für viele Menschen aus den ländlichen Unterschichten eine überaus wichtige Ergänzung ihrer Ökonomie der Notbehelfe.61 Auch wenn eingangs bereits dargelegt worden ist, dass sich Wohltätigkeitsbeziehungen ihrem Charakter nach nicht verrechtlichen lassen, weil dies auf ihre Zerstörung als Machtbeziehung hinausliefe62, so lässt sich in den Aushandlungsprozessen doch ein Pochen seitens der ländlichen Gesellschaft auf Einhaltung von Rechtsgewohnheiten erkennen. Für Böhmen wird der Aushandlungscharakter besonders deutlich, da sich der Adel hier einerseits bemühte, zum Beispiel die rechtsgewohnheitliche kleine Waldnutzung in zeitlich befristete Holzgeschenke umzuwandeln, um die die Betreffenden nach zwei oder drei Jahren erneut nachsuchen mussten (und die ihnen dann ggf. nicht wieder erteilt wurden)63, andererseits aber auch die Gemeinden aushandelnd aktiv wurden. So konnte Bedřich/Friedrich Schwarzenberg ein von ihm geschätztes Jagdrevier günstig pachten, weil die betreffende Gemeinde sich dafür im Gegenzug wohltätige Unterstützung erwartete.64 59 ������������������������������������������������������������������������������������ Die Dauerhaftigkeit einer sozialen Beziehung war z. B. bei Wanderarbeitern nicht gegeben. Sie standen deshalb außerhalb der paternalistischen Strukturen von regulärer Anstellung, Ehrerbietung, aber auch Wohltätigkeit. Howkins, Reshaping, S. 97. Howkins verweist daher darauf, dass z. B. die Christmas charity (ebenso wie Erntefeste) in Norfolk erst zu einem Zeitpunkt besonders gepflegt wurden, als die Zahl der Landarbeiter deutlich gesunken war, und es vor allem kaum noch Wanderarbeiter gab. Howkins, Men, S. 13. 60 Zum vom Adel gestalteter Sozial- und Bildungspolitik siehe Kapitel 4.1.3 mit den beiden Unterkapiteln und besonders 4.1.4. 61 Zur economy of makeshifts, die seit den 1970er Jahren zunächst vor allem für die Forschung zu England Früchte getragen hat, siehe mit Blick auf die neueren Arbeiten z. B. The Poor in England, 1700–1850. An Economy of Makeshifts, hrsg. v. Steven King und Alannah Tomkins, Manchester 2003. 62 Ewald, Vorsorgestaat, S. 71 und ausführlicher Kapitel 4.1.1. 63 Dazu Kapitel 3.2.2. In den Schwarzenbergschen Akten sind zwei entsprechende Bittgesuche um Verlängerungen von Holzzuteilungen von Witwen überliefert. Während die eine die gewünschte Unterstützung für weitere drei Jahre erhielt, wurde sie der anderen nicht gewährt, da „für die Fortdauer dieser Unterstützung keine besonderen Gründe sprechen und die Bittstellerin im Genusse einer Stadtpension sich befindet.“ Schreiben des Fürsten an die Worliker Herrschaftsdirektion vom 26.9.1857 (Verlängerung) und vom 14.10.1860 (Absage). SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. 64 Protokoll vom 20.9.1900. Ebd., kart. 867.

Wohltätigkeit

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Auch aus England ist gerade im Kontext der Wohltätigkeit von einem solchen Pochen auf Rechtsgewohnheiten zu berichten. So brachte die Einführung des neuen Armenrechts in den 1830er Jahren vielerorts zum Teil gewaltsame Konflikte mit sich, weil in den Augen der Betroffenen ein Recht durch einen Kontrollmechanismus ersetzt worden war.65 Noch eine Generation später klagten die armen Bewohner der Gemeinde Eversholt beim Duke of Bedford, dass sie „in the habit of receiving from time immemorial [kursive Hervorhebung T. T.] annually on St. Thomas Day a certain supply of coal or an equivalent in wood and money“ gewesen seien.66 Auch ein Dankschreiben aus Rimpton in Somerset an den 18. Earl of Shrewsbury, der die Armen der Gemeinde zu Weihnachten beschenkt hatte, belegt ein waches Bewusstsein für rechtsgewohnheitliche Praktiken, heißt es in dem Brief doch: „… though you possess nothing in the parish to give us a claim upon your bounty.“67 Man kann in manchen Situationen für den Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gar von einem Bemühen sprechen, Rechtsgewohnheiten neu zu etablieren. Dies war etwa dann der Fall, wenn die lokale Presse, wie in dem zu Beginn dieses Teilkapitels geschilderten Beispiel, Weihnachtsgeschenke an die örtlichen Armen als „usual seasonable gift“ bezeichnete.68 Angesichts der Tatsache, dass es sich dabei um einen Fall der eher seltenen städtischen Wohltätigkeit der Familie Chetwynd-Talbot handelte69, ist es hier allerdings eher eine bürgerliche Klientel, die durch mediale Vermittlung70 ihre eigenen Lokalsteuern niedrig halten wollte. 4.1.3 Institutionelle Hilfen

Neben den individuellen Hilfen verfügte gerade der europäische Hochadel mit seinen Stiftungen über ein weiteres Instrument der institutionalisierten Form von Wohltä-

65 David Jones: Rural Crime and Protest; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 566–579, S. 570. 66 The Petition of the poor inhabitants of Eversholt to His Grace the Duke of Bedford, 1860, ohne genaues Datum. BaLARS: R4/818/10. 67 Schreiben vom 17.1.1859. CROSt: D 240/J/7/3. Dies ist einer der seltenen Fälle, wo die Unterzeichner dem Grafen und seiner ganzen Familie Gottes Segen in dieser und der nächsten Welt wünschen, jedoch nicht anbieten, dafür zu beten. 68 Staffordshire Advertiser vom 24.12.1870. 69 Zu den charities in Stafford, bei denen es sich so gut wie ausschließlich um bürgerliche Stiftungen handelte, siehe A History of the County of Stafford, hrsg. v. M. W. Greenslade und D. A. Johnson, Bd. 6, Oxford 1979, S. 265–273. 70 Noch um eine weitere Rechtsgewohnheit stritt sich das bürgerliche Stafford u. a. mittels der Lokalzeitung mit der gräflichen Familie, nämlich um die Abhaltung des coursing day. Siehe dazu Kapitel 4.3.2.

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tigkeit. Obwohl es sich bei Stiftungen um eine jahrtausendealte Denkform71 und ein universalgeschichtliches Phänomen handelt72, hat die Forschung zum 19. Jahrhundert doch einige Zeit gebraucht, bis sie sich dieses Thema erschlossen hat.73 So klagte Dieter Hein noch vor wenigen Jahren, dass die geringe Beachtung, die Stiftungen im 19. Jahrhundert in der Literatur gefunden hätten, „in denkbar stärkstem Kontrast“74 zu ihrer Verbreitung und Bedeutung stünde. Gedacht war bei dieser Aussage an bürgerliche Stiftungen. Noch ungünstiger stellt sich die Situation dar, wenn nach adeligen Stiftungen gefragt wird, zumal nach solchen, die sich nicht der mäzenatischen Förderung der Hochkultur widmeten, sondern die in der Tradition des christlichen Totengedenkens und der adeligen Memoria75 im ländlichen Raum wirken sollten. Untersucht man, welche Stiftungen der böhmische und englische Adel im Untersuchungszeitraum vor allem unterstützte, so kommen für Böhmen Armenstiftungen, für England Schulstiftungen in den Blick. 4.1.3.1 Armenstiftungen des böhmischen Hochadels

Vom Adel getragene Armenstiftungen und durch sie abgesicherte Armenspitäler waren in Böhmen auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit.76 Im 71 Michael Borgolte: Einleitung; in: Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v. dems., Berlin 2000, S. 7–10, S. 7. 72 Ludwig Steindorff: Stiftungen. Erbe der Vormoderne in Ost und West; in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 55/2007, S. 481f., S. 481. Siehe auch Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen, hrsg. v. Michael Borgolte, Berlin 2005. 73 Zu Stiftungswesen und mäzenatischem Handeln am Beispiel vor allem des deutschen Bürgertums siehe etwa das Themenheft von Geschichte und Gesellschaft 33/2007 sowie Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln, Bürgersinn und kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Jonas Flöter und Christian Ritzi, Köln 2007, Mäzenatisches Handeln. Studien zur Kultur des Bürgersinns in der Gesellschaft, hrsg. v. Thomas W. Gaehtgens und Martin Schieder, Berlin 1998 und Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Jürgen Kocka und Manuel Frey, Berlin 1998. 74 ������������������������������������������������������������������������������������ Dieter Hein: Das Stiftungswesen als Instrument bürgerlichen Handelns im 19. Jahrhundert; in: Stadt und Mäzenatentum, hrsg. v. Bernhard Kirchgässner und Hans-Peter Becht, Sigmaringen 1997, S. 75–92, S. 76. 75 �������������������������������������������������������������������������������������� Eckart Conze: Familiengedächtnis; in: Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, hrsg. v. dems., München 2005, S. 84f. Auf die umfangreiche Forschungslage zur Vormoderne kann hier nicht näher eingegangen werden. Siehe jedoch jüngst: Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und Kontinuität des Hauses in der europäischen Adelskultur der frühen Neuzeit, hrsg. v. Horst Carl und Martin Wrede, Mainz 2008. 76 ���������������������������������������������������������������������������������� Zu den immerhin elf Armenspitälern der Primogenitur der Fürsten Schwarzenberg siehe z. B. Jiří Záloha: Sociální zařizení na statcích hlubockých Schwarzenberků [Soziale

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Folgenden soll am Beispiel der Czerninschen Armenstiftung in Neuhaus/Jindřichův Hradec gezeigt werden, wie der böhmische Hochadel mittels dieser Institute Herrschaft durch Wohltätigkeit ausübte. Die Grafen Czernin führten ihre Geschichte in Böhmen bis in das 12. Jahrhundert zurück. Im Untersuchungszeitraum gehörten der Chudenitzer Linie des Geschlechts, von der hier die Rede ist, mehr als 30.000 Hektar, darunter die ehemaligen Herrschaften Chudenitz, Neuhaus, Neubistritz, Petersburg und Schönhof.77 Die Herrschaft Neuhaus/Jindřichův Hradec in der Nähe der gleichnamigen südböhmischen Stadt hatte im Jahr 1840, also vor der Grundentlastung in der Folge der Revolution von 1848, 25.272 Einwohner. Davon lebten 7.604 in der Stadt Jindřichův Hradec.78 Bereits seit dem Jahr 1399 bestand hier eine Armenstiftung bei der Kirche St. Johannes Baptist. Dieses Institut wurde durch eine frühe Stiftung des Jáchym von Hradec79 (Neuhaus) im Jahre 1564 deutlich aufgewertet. Offenbar in Reaktion auf die Reformation wurden je 20 Plätze für arme Männer und Frauen gestiftet. Wäre zuvor eher die Übergabe an ein Kloster naheliegend gewesen, nahm die Adelsfamilie nun diese Form der Wohltätigkeit durch ein eigenes Institut selbst in die Hand und verband damit die Pflege ihres ständischen Prestiges. Ähnlich wie es auch die Forschung zur Armenversorgung spätmittelalterlicher Städte gezeigt hat, wurde Wohltätigkeit zunehmend an Verpflichtungen geknüpft. Konkret ging es bei diesen Verpflichtungen um die Anerkennung der Herrschaft durch Wohlverhalten, was nicht nur in Zeiten von Reformation und Gegenreformation religiöses (bzw. konfessionelles) Wohlverhalten einschloss.80 Aufgelöst wurde die Stiftung erst im Dezember 1948 durch die kommunistischen Machthaber der Tschechoslowakei. Zu diesem Zeitpunkt erhielten noch zwei Männer und drei Frauen Unterstützung aus den Mitteln der Czerninschen Armenstiftung; einer der Männer, der ehemalige Mühlengehilfe Jan Klement, seit bereits 17 Jahren.81 Der wohl bekannteste Nutznießer des Armenspitals dürfte aber Einrichtungen auf den Gütern der Hlubokaer Linie der Schwarzenberger]; in: Studie k sociálním dějinám 7/2001, S. 15–28, S. 21–27. Zum Armenspital der Grafen Waldstein in Dauba siehe SOA Praha: RAV 3686 IV–5/III, Bl. 11. 77 Zur Familie Petr Mašek: Modrá krev. Minulost a přítomnost 445 šlechtických rodů v českých zemích [Blaues Blut. Vergangenheit und Gegenwart von 445 adeligen Familien in den böhmischen Ländern], Praha 2003, S. 51ff. Zu den Besitzungen Wilhelm v. Medinger: Großgrundbesitz, Fideikommiss und Agrarreform, Wien 1913, S. 34. 78 Einleitung zum Findbuch „Velkostatek Jindřichův Hradec [Großgrundbesitz Neuhaus], 1451 – 1947 (1949)“ von Ludek Tischler und Ladislav Zeman, Třeboň 1968. 79 Zu Jáchym von Hradec (1526 – 1565) siehe Petr Maťa: Svĕt české aristokracie [Die Welt der tschechischen Aristokratie], Praha 2004, S. 1015. 80 ���������������������������������������������������������������������������������� Wolfgang v. Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit, München 1995, S. 44–53. 81 Anweisung der Zweigstelle des Nationalausschusses zur Auflösung der Armenstiftung vom 3.12.1948. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Ústav chudých, kart. 12.

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Eugen Graf Czernin gewesen sein, der bei Kriegsende hier unterkam, bevor er wenige Monate später aus der Tschechoslowakei über die Schweiz nach München ausreisen konnte.82 Die Czerninsche Armenstiftung blickte somit bei ihrer Auflösung auf eine 550-jährige Geschichte zurück. Auch in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen mehrere Aufstockungen des Stiftungsvermögens durch Mitglieder der gräflichen Familie: Rudolf Graf Czernin verfügte 1868 testamentarisch, dass eine ihm gehörende Bauernwirtschaft im Dorf Niedermühl in der ehemaligen Herrschaft Neuhaus bei seinem Tod der Armenstiftung zufallen solle. Die Erträge aus der Verpachtung dieser Wirtschaft bestimmte er ausschließlich für die Armen aus der ehemaligen Herrschaft und möglichst aus dem Dorf Niedermühl. Diese hatten „bei den Andachtsübungen der Hospitäler meiner, des ganzen Czerninschen Stammes und dessen Vorfahren im Besitz der Herrschaft Neuhaus im Gebete eingedenk [zu] bleiben.“83 Nicht „auf ewige Zeiten“, wie bei seinem jüngeren Bruder Rudolf, sondern nur so lange er lebe, sollte eine Regelung von Jaromir Czernin Geltung haben. Der Fideikommissinhaber nahm 1888 das 40-jährige kaiserliche Regierungsjubiläum zum Anlass, fünf Pfründlerstellen abzusichern. Das Jubiläum, so ließ er verlauten, sei im Sinne seiner Majestät statt „durch ostentativ prunkende Feste … durch Akte der Wohltätigkeit und der Freude für die Ärmsten seines Reiches“ zu feiern.84 Begünstigte dieser Maßnahme waren Arme der Stadt Neuhaus und der ehemaligen gleichnamigen Herrschaft. Auch verfügte der Graf, die Auswahl der Pfründler liege ausschließlich bei ihm. Ein Auszug aus einem Rechnungsbuch aus dem Jahre 1906 belegt, dass der Verfügung entsprochen wurde: Zu diesem Zeitpunkt profitierten von ihr fünf Frauen.85 82 Vladimír Votýpka: Böhmischer Adel. Familiengeschichten, Wien 2007, S.  171 und S. 173. 83 Stiftungsurkunde vom 20.7.1868 und Dokument mit ausführenden Bestimmungen vom 1.5.1871. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Ústav chudých, kart. 12. 84 Kaiser Franz Josef verbot 1888 Hof und Regierung, aus Anlass seines 40-jährigen Thronjubiläums Feierlichkeiten auszurichten. Die Untertanen sollten stattdessen für wohltätige Zwecke zur Unterstützung der Armen spenden. Dies war seine Maxime auch bei Geburtstagen, Heirats- und vorangegangenen Thronjubiläen. Aus Anlass seines 50-jährigen Thronjubiläums erlaubte Franz Josef dann Feierlichkeiten, auch wenn er sich wiederum Wohltätigkeit zugunsten der Armen wünschte. Daniel L. Unowsky: The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria, 1848–1916, West Lafayette 2005, S. 79, S. 116 und S. 83. Die Stiftungen und Spenden, die aus Anlass seines 50-jährigen Thronjubiläums zusammenkamen, verzeichnet Carl Henop: Das Jubiläumsjahr 1898. Ein Gedenkbuch an die humanitären und festlichen Veranstaltungen aus Anlaß des 50. Regierungsjubiläums Sr. Majestät des Kaisers Franz Josef I. am 2. Dezember 1898, Wien 1898. 85 Widmung der Pfründlerstellen vom 2.12.1888 sowie Rechnungsbuch von 1906. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Ústav chudých, kart. 13.

Wohltätigkeit

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Stiftungen, wie die Wohltätigkeit insgesamt, waren keine rein männliche Angelegenheit. Zwei weitere Maßnahmen gehen auf Josefine Gräfin Czernin zurück, die Ehefrau des eben genannten Grafen Jaromir. Sie spendete 1903 eine Pfründlerstelle, nachdem sie nach schwerer Krankheit genesen war, um „meinen Gott ergebenen Dank durch einen Akt der Wohltätigkeit zum Ausdruck zu bringen.“ Des Weiteren dankte sie damit „für die rege, aufrichtige, mir gewidmete Theilnahme, welche die Einwohner der Stadt Neuhaus (: Jindřichův Hradec) während meiner Krankheit und bei meiner Genesung freundlich und allseitig bekundeten.“86 Die Gräfin verfügte, dass sie sich die Auswahl der Begünstigten selbst vorbehalte, dass vor allem ehemalige Bedienstete der Domäne berücksichtigt werden sollten und dass sie ihre Wahl auf der Basis jener Bittbriefe treffen werde, die ihr die Domänendirektion vorlege.87 Zehn Jahre später, 1913, ergänzte die Gräfin die Widmung um einen Passus, der auf die Empfehlung des Domänendirektors Eduard Behálek zurückging, indem sie verfügte, dass „jede Einmischung der Staatsbehörden ausdrücklich vermieden werden soll!“88 Im Juni 1911 wurde die Gräfin erneut tätig – durch die Gründung der „Josefine Czernin-Paarschen Krankenpflege Stiftung“. Mit diesen Mitteln wurde eine Ordensschwester finanziert, die arme Kranke außerhalb des Krankenhauses versorgte.89 Wieder begründete Josefine Czernin ihre Stiftung mit einer Verbundenheit gegenüber der Stadt. Könne die Krankenpflege jedoch nicht weiter von dem bereits tätigen oder einem anderen katholischen Orden übernommen werden, so seien die Zahlungen unverzüglich einzustellen und das Stiftungsvermögen aufzulösen. Auch in diesem Dokument wurde eine Einflussnahme seitens der Stadt ausdrücklich ausgeschlossen.90 Angemerkt sei, dass sich in diesem Fall auch der prompte Dank des Bürgermeisters erhalten hat. Während das Stiftungsdokument der Gräfin auf Deutsch abgefasst ist, schrieb der Bürgermeister tschechisch – das gegenseitige Verstehen wurde dadurch ganz offensichtlich nicht eingeschränkt.91 Was aus allen diesen Unterlagen spricht, war eine Bereitwilligkeit, zur Unterstützung der armen Bevölkerung von Stadt und ehemaliger Herrschaft Neuhaus in gewissem Umfang beizutragen. Ungeachtet der immer wieder artikulierten religiösen Motivation stand dabei der Bezug zum adeligen Besitz, über den stets die Erinnerung an die ehemaligen Grundherren aktiviert wurde, unmissverständlich im Vordergrund. Bezeichnend für das Selbstverständnis der Mitglieder der gräflichen Familie ist, dass 86 Stiftungsdokument vom Juni 1903 (keine genauere Datierung vorhanden). Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 ���������������������������������������������������������������������������������� Aus diesem Stiftungsdokument geht hervor, dass die Gräfin die Ordensschwestern bereits seit mehreren Jahren „aus eigenem“ unterstützte, damit sie Aufgaben innerhalb des Krankenhauses nachgehen konnten. Stiftungsdokument vom 2.7.1911. Ebd. 90 Ebd. 91 Dankschreiben des Bürgermeisters vom 5.7.1911. Ebd.

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sie in den verschiedenen Stiftungsdokumenten von den „Herrschaften“ durchgängig ohne das Attribut „ehemalig“ sprachen. Nimmt man die Gebetsverpflichtungen etwa bei Rudolf Czernin hinzu – zu gedenken war des „ganze[n] Czerninsche[n] Stamm[es] und dessen Vorfahren im Besitz der Herrschaft Neuhaus“ – so kann man das als eine rückwärtige Verlängerung von Herrschaft in unvordenkliche Zeiten verstehen, die gleichzeitig bis in die Gegenwart andauerte. Die Herrschaft erschien dadurch überzeitlich und gottgewollt. Den ländlichen Armen präsentierte sie sich nicht selten außerdem als ihr gesamtes Leben umfassend. Nach Jahren der Arbeit auf den gräflichen Gütern baten sie in Bittschreiben an den Domänendirektor eben dieser Güter um Aussetzung einer Pension, um Sachspenden wie Feuerholz oder um Aufnahme in das Armenspital. Als Pfründlerinnen oder Pfründler unterstanden sie einer Spitalleitung, deren Personal sich wiederum aus der Gutsverwaltung rekrutierte.92 Dennoch hat schon die zeitgenössische Forschung festgestellt, dass man diesen Strukturen eine gewisse Versorgungsleistung nicht absprechen konnte. So bilanzierte Hugo Morgenstern in seinem statistischen Werk über das Gesindewesen zu Anfang des 20. Jahrhunderts: „Da nun das Gesinde im höheren Alter schwerlich aus eigenem Antriebe mehr seinen Dienst verlässt und erfahrungsgemäß auch höchst selten eine Pension erhält, so geht daraus hervor, dass es noch immer weit verbreitete Sitte ist, selbst treue, ausgediente Dienstboten im Alter auf die Straße zu setzen und sie dem Elend und der Gnade der Heimatgemeinde oder von Wohlthätern auszuliefern. Am stärksten tritt diese traurige Erscheinung beim Gesinde im Handel, am schwächsten in der Landwirtschaft hervor. Es scheint, als ob in letzterer noch immer größere Rücksicht auf das im Dienste alt gewordene Gesinde genommen würde und die Altersversorgung für das Gesinde daselbst eine bessere wäre.“93 Herrschaft war in den methodischen Ausführungen als soziale Praxis im Sinne von Aushandlungsprozessen zwischen Akteuren bzw. Gruppen von Akteuren beschrieben worden, wobei die „bargaining power“ unter den betreffenden Akteuren höchst unterschiedlich verteilt sein konnte. Von den weitreichenden Machtchancen des Adels ist bisher die Rede gewesen. Doch die Quellen zeigen durchaus auch Aspekte des Aushandelns. So wehrten sich die Insassen des Czerninschen Armenspitals zum Beispiel 1859 erfolgreich gegen die Auflage der Spitalleitung, „den in der Männerstube befindlichen Altar in einem die Andacht und Gottesfurcht fördernden Zustand zu erhalten“, indem sie dagegen beim Untersuchungsgericht Neuhaus klagten. Die Domänenverwaltung wies daraufhin die Spitalverwaltung an, solche Praktiken in

92 Ebd., kart. 43. Siehe auch die Amts-Instruction für die Domäne Neuhaus vom 18.1.1907, S. 6. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 991. 93 Hugo Morgenstern: Gesindewesen und Gesinderecht in Österreich; in: Mittheilungen des k. k. Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium, Wien 1902, 3. Heft, S. 104.

Wohltätigkeit

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Zukunft zu unterlassen, ebenso jedoch den Klägern eine Rüge wegen ihres „vorgreifenden Benehmens“ zu erteilen.94 Auch wurden offenbar Menschen in der Einrichtung geduldet, die selbst keine Pfründler waren, wenn sie deren Ablauf nicht durcheinander brachten. Aktenkundig geworden ist so ein Fall zum Beispiel im Jahre 1856, als im Spital Läuse auftraten. Die Insassen sagten übereinstimmend aus, das Ungeziefer gehe auf die geistig kranke Tochter eines der Pfründler zurück. Die Gutsverwaltung veranlasste die Überstellung der Frau an die städtischen Einrichtungen und erteilte der Spitalleitung die strenge Auflage, vermehrt auf Reinlichkeit zu achten, um das Ansehen der Institution gegenüber der Stadt nicht zu schädigen. Wäre die Betreffende selbst Pfründlerin gewesen, so hätte die Ausweisung nur auf Antrag beim Grafen und nach dessen positiver Antwort erfolgen können.95 Ähnlich wie die Aufnahme in die Armenstiftung behielt sich das Haus Czernin auch den Ausschluss aus derselben vor. Beide Episoden zeigen, dass nicht zuletzt der Staat bestimmte, wie erfolgreich einzelne Gruppen in ihren Aushandlungsprozessen sein konnten, indem er „Spielregeln“ vorgab. In der Habsburgermonarchie hatten liberale Regierungen der 1860er Jahre Stiftungen einer zum Teil strikten Aufsichtsverwaltung unterstellt.96 Damit unterschied sich die Wiener Regierungspraxis deutlich von der englischen, wo die Zen­ tralregierung bis in die 1880er Jahre viele Entscheidungen in die localities delegierte97, was zur Stabilität der Stellung dortiger adeliger Großgrundbesitzer in der ländlichen Gesellschaft nicht unbedeutend beitrug. In Böhmen hatte dieses Setzen von Normen zur Folge, dass sich die adeligen Stiftungsträger und ihr leitendes Personal kontinuierlich in Auseinandersetzungen mit den verschiedenen behördlichen Instanzen befanden, versuchten diese doch, die Finanzen der Armenstiftung zu kontrollieren (Bezirke, Kreise) und Einfluss auf die 94 ������������������������������������������������������������������������������������ Anweisung an die Spitalleitung vom 28.5.1859. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Ústav chudých, kart. 57. 95 Dokumente in dieser Angelegenheit vom 4.11., 17.11., 19.11. und 2.12.1856. Ebd. Offenbar gab es immer wieder das Bemühen von Insassen, Familienangehörige über ihre Pfründlerstelle mitzuversorgen. Siehe dazu das Dokument vom 21.1.1858. Ebd. 96 Vor allem liberale Regime in katholischen Ländern tendierten dazu, aus ideologischpolitischen Gründen das Monopol kirchlicher Hilfe zwar nicht zu brechen, aber doch durch eine zum Teil strenge Aufsichtsverwaltung zu kontrollieren, wie dies zum Beispiel in Italien der Fall war. Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 101f. Auch die liberalen Regierungen der Habsburgermonarchie folgten diesem Muster. 97 Cannadine, Decline, S. 180. Zur Wertschätzung, die die localities parteiübergreifend in England genossen, Andreas Rödder: Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne (1846–1868), München 2002, S. 270–279. Siehe auch Raphael, Recht, S. 29, ferner die Ausführungen in Kapitel 5.1.2.

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Auswahl der Pfründler (Städte) zu nehmen.98 Die „Läusegeschichte“ zeigt daher einerseits den Umgang mit den städtischen Behörden, denen man keinen Vorwand für ein Eingreifen liefern wollte. Andererseits wird in dieser Episode auch der Umgang mit den Armen deutlich: Gewisse Praktiken, wie der Aufenthalt von Familienangehörigen, die keine Pfründler waren, wurden im Alltag geduldet. Nie jedoch reichte die Duldung so weit, dass sie die Letztzuständigkeit über Aufnahme in das Spital und Ausweisung aus demselben seitens des gräflichen Hauses in Frage gestellt hätte. In der Sicht des Adels – und auch das zeigt das Beispiel der Armenstiftung – war die Stadt umkämpftes Herrschaftsgebiet, deren Behörden Herrschaftskonkurrenten. Für die Armen bedeuteten diese Spielregeln, dass sie ihre Bedürfnisse entweder gegenüber den kommunalen oder den gräflichen Einrichtungen auszuhandeln hatten. Ihre Position blieb dabei zugegebenermaßen in beiden Fällen eher schwach, aber nicht völlig aussichtslos, wenn es ihnen zum Beispiel gelang, die Behörden zu „nutzen“, um ihre Interessen gegenüber der gräflichen Einrichtung durchzusetzen, wie das Beispiel der Beschwerde schreibkundiger Spitalbewohner zeigt. 4.1.3.2 Schulförderung seitens des englischen Hochadels

Vielleicht noch deutlicher, dass es sich bei den Stiftungen um Herrschaftsinstrumente handelte, zeigt sich bei der hochadeligen Unterstützung von Schulen in England. In der Tat engagierten sich viele Familien in der einen oder anderen Weise bei der Förderung von Schulen: Sei es, indem sie den Grund und Boden zur Verfügung stellten, auf dem Schulen errichtet werden konnten, oder cottages, die die Unterrichtsräume beherbergten. Typisch war auch, dass Baumaterialien für Renovierungszwecke oder Lehrmittel gespendet wurden. Nicht selten fanden sich Adelige außerdem bereit, bei finanziellen Engpässen einzuspringen und fehlende Beträge zu zahlen, wenn die entsprechenden subscriptions der Geistlichen nicht den vollen Betrag, der für eine Renovierung oder Ausstattung nötig gewesen wäre, erbrachten.99 Hinzu kamen die Schulstiftungen: Sie ließ sich der Duke of Bedford im Jahre 1850 immerhin fast 500 Pfund kosten, was eine beträchtliche Summe darstellte. 98 Siehe zum Beispiel den Erlass der Bezirkshauptmannschaft Neuhaus, worin die Graf Czerninsche Armenstiftung angehalten wurde, „sich in Zukunft jeder eigenmächtigen Änderung mit [sic!] dem Stammvermögen des Spitals zu enthalten“ vom 17.6.1876. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Ústav chudých, kart. 34. 99 Greenslade und Johnson, History, S. 262, siehe auch das Bittschreiben von Rev. Hendersen/ Old Bailey an Earl Vane, 15.12.1870, CROD: D/Lo/C 577, oder das Schreiben, mit dem der 20. Earl of Shrewsbury der Gemeinde Rugeley 1891 Land zur Vergrößerung des Schulgeländes zur Verfügung stellte, CROSt: D 240/C/4/1 Zu Renovierungen siehe z. B. das Schreiben des Liddlington School Board vom 9.1.1884 an Mr. Feening in der Bedfordschen Gutsverwaltung, in dem sich das board für die schnelle Instandsetzung der Schulküche bedankt, BaLARS: R 4/938.

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Seine Geschäftsbücher weisen außerdem noch einmal fast 200 Pfund an „Einmalzahlungen“ aus.100 In den 1860er Jahren blieb die Unterstützung stets mindestens auf diesem Niveau, in manchen Jahren belief sie sich gar auf mehr als das Doppelte.101 In diesen Zahlen spiegelt sich jenes Engagement wider, das der Familie den schon erwähnten Ruf als „Musterpaternalisten“ eintrug. Mögen die Unterstützungsleistungen in absoluten Zahlen bei anderen Familien auch nicht so hoch gewesen sein wie bei den Russells, so hatten doch auch andere adelige Schulförderer stets genau im Blick, wie hoch ihre Ausgaben waren.102 Kontrolliert wurden aber nicht nur die Ausgaben, auch über die Schulen selbst wollten viele Adelige zumindest eine gewisse Aufsicht ausüben. In einer Aufzeichnung des Verwalters der Bedfordschen Güter vom Dezember 1847 heißt es etwa, dass unter den trustees der Maulden Schulstiftung auf jeden Fall jemand sein sollte, der in Verbindung mit dem Duke stehe, „in order that his Grace may have information from time to time as to the manner in which the Trust is conducted and to be a check upon the farmers and inhabitants who might outvote the Rector if he wished to improve the management at any time. “103 Auch weitere Beispiele zeigen, dass die Bereitschaft, Schulen zu unterstützen, durchaus vorhanden war, man die Aufsicht darüber jedoch möglichst nicht aus der Hand zu geben gedachte (wie dies in ähnlicher Weise auch bei den cottage-Krankenhäusern der Fall war). So beantwortete der Earl of Shrewsbury 1874 die Bitte eines Dorfgeistlichen nach entsprechender Finanzierung positiv, verband dies aber mit der Aufforderung, er möge die Einrichtung eines school boards nach Kräften vermeiden.104 Die school boards gingen auf den 1870 in Kraft gesetzten Education Act zurück. Man muss sich in diesem Zusammenhang vor Augen halten, dass sich das englische Elementarschulwesen, von dem hier die Rede ist, ganz überwiegend in freier Trägerschaft befand, wobei die Church of England eine der wichtigsten Trägerinstitutionen darstellte. Außerdem unterhielten auch die verschiedenen Gruppierungen der Nonkonformisten eigene Schulen. Alle diese Schulen waren sogenannte voluntary schools, und das Bereitstellen eines flächendeckenden Lehrangebots gehörte nicht zu den Zielen ihrer Träger. Eben dies sollte mit dem Gesetz von 1870 erreicht werden, da die Regierung angesichts der Tatsache, dass in den Industrierevieren etwa ein Viertel der Kinder überhaupt keinen Schulunterricht erhielt, eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung befürchtete. Die neuen Regelungen sahen daher vor, dass für je100 Bennett-Berichte. BaLARS: Microfilm Nr. 127. 101 Bennett-Berichte. BaLARS: Microfilm Nr. 128. 102 Siehe dazu die Geschäftsberichte z. B. der Earls of Shrewsbury für die 1880er und 1890er Jahre, CROSt: D 240/J/10, sowie der Marquesses of Londonderry z. B. für 1881, CROD: D/Lo/E 840. 103 Schreiben vom Dezember 1847 (nicht genauer datiert). BaLARS: R4/791. 104 Eintrag im Ingestre estate diary vom 24.10.1874. CROSt: D 240/E/C/4/3.

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des Kind ein Platz in einer Elementarschule zur Verfügung gestellt werden musste. Wo die Plätze in den voluntary schools dafür nicht ausreichten, mussten die rate payers in der jeweiligen Gemeinde aus ihrer Mitte ein school board wählen, das mittels kommunaler und begrenzter staatlicher Mittel neue Schulen einrichtete. Auch wurde das Prinzip eingeführt, dass Kinder an Elementarschulen, egal welcher Trägerschaft, die staatliche Zuwendungen bekamen, nicht mehr zum Religionsunterricht gezwungen werden durften.105 Diese Regelung war einer der Punkte, der den nachhaltigen Widerstand der anglikanischen Hochkirche, aber auch weiter Kreise des grundbesitzenden Adels gegen das Gesetz mobilisierte.106 Es vermag daher kaum zu erstaunen, dass vor allem in den ländlichen Regionen nur wenige school boards eingeführt wurden. Gerade die Church of England investierte, nicht selten dank der Stiftungen adeliger Unterstützer, in den Bau von weiteren Schulen. Zwischen 1871 und 1895 verdoppelte sich daher der Anteil von Kindern, die in Schulen in freier Trägerschaft unterrichtet wurden, von 1,2 Millionen auf 2,4 Millionen. In Schulen unter der Aufsicht von school boards wurden demgegenüber im Jahre 1895 nur 1,9 Millionen Kinder unterwiesen.107 Ziel des grundbesitzenden Adels war also eine von den Geistlichen ausgeübte Kontrolle der Schulen unter Beibehaltung des traditionellen Religionsunterrichts im Sinne der anglikanischen Hochkirche.108 Wo sich die Einführung von school boards nicht vermeiden ließ, bemühten sich die adeligen Großgrundbesitzer zumeist darum, das Gremium nur mit der nötigen Mindestzahl von fünf Mitgliedern zu besetzen. 105 Pamela Horn: Education in Rural England, 1800–1914, New York 1978, S. 118. Siehe grundsätzlich auch Anne Digby: Social Institutions; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850–1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/II, Cambridge 2000, S. 1465–1500 sowie allgemein W. B. Stephens: Education in Britain, 1750–1914, Basingstoke 1998. 106 Eine gewisse Lösung erfuhr der Konflikt zwischen den später geschaffenen staatlichen Grafschaftsschulen und den kirchlichen voluntary schools erst mit dem Gesetz von 1902, das die letzteren als einen eigenen Sektor den ersteren unterstellte, die dafür aber öffentliche Mittel erhielten und zumindest einen Teil ihrer Selbständigkeit im Hinblick auf die religiöse Gestaltung des Schullebens behalten konnten. John Lawson und Harold Silver: A Social History of Education in England, London 1973, S. 370f. Wie sehr die kirchlichen voluntary schools z. B. Lord und Lady Londonderry am Herzen lagen, geht aus mehreren Schreiben aus dem frühen 20. Jahrhundert hervor. Auch hier ist allerdings einer der angesprochenen Punkte, dass man nicht in den Bau einer voluntary school inves­ tieren wollte, solange nicht klar war, ob es auch bei der bestehenden Gesetzeslage bleibe und man nicht noch mit einer „Enteignung“ durch Übertragung an die Grafschaftsinstitutionen zu rechnen habe. Siehe die betreffenden Schreiben vom 14.12.1903 (CROD: D/Lo/F 1135), 23.4.1906 (Ebd.: D/Lo/E 521) und 18.4.1906 (Ebd.: D/Lo/E 523). 107 Lawson und Silver, History, S. 320. 108 �������������������������������������������������������������������������������������� Allgemeiner wird noch das folgende Kapitel 4.2.3 auf das Verhältnis von grundbesitzendem Adel und der örtlichen Geistlichkeit eingehen.

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Diese Körperschaften bestanden dann aus dem Ortsgeistlichen, der wegen der Regelungen zum Religionsunterricht den boards häufig genug prinzipiell ablehnend gegenüberstand, dem churchwarden sowie aus drei im Sinne der Grundbesitzer vertrauenswürdigen Pächtern. Solche school boards standen in dem Ruf, eher das Fernbleiben vom Unterricht zu ermöglichen, als den regelmäßigen Schulbesuch sicherzustellen.109 Gerade die farmer waren häufig der Meinung, dass Kinder von Landarbeitern so früh wie möglich arbeiten sollten und sahen sich selbst als Zahlmeister der Nation. Auf der Jahrestagung 1881 der Bedfordshire Agricultural Society verlieh einer der Kämmerer der Gesellschaft diesem Gefühl Stimme: „Simply because a man was the occupier of land he was asked, and he might say compelled, to pay the greater portion of all the rates and taxes of the country (hear, hear). He was asked first of all to educate the children of the lower classes, in addition to his own (applause). … Next to that they were denied the labour of those children at a certain time of their life when they were of value to them as occupiers of land. Again, they lost all control over them. The moment they were educated, they went away into their [sic!] towns, cities and manufacturing districts, to build up the fortunes of the manufactures (hear, hear, and applause). In a few years they returned, and what for? To ask us again to support them in their old age (applause).“110 Hochadelige Schulförderung bot somit die Chance, zur Vergesellschaftung von Interessen zwischen Gutsbesitzern und (Groß-)Pächtern beizutragen, oder war, anders ausgedrückt, ein Angebot an die Mächtigen unter den „Beherrschten“, in der bestehenden sozialen Ordnung einen Gewinn – niedrigere Kommunalsteuern111 – zu erkennen, da sich Herrschaft in Aushandlungsprozessen nur dann stabilisieren ließ, wenn zumindest diese Gruppe von ihr auch profitierte. Wie zäh um Herrschaft gerungen wurde, und zwar zwischen den ländlichen Eliten aus grundbesitzendem Adel, anglikanischer Geistlichkeit und (Groß-)Pächtern einerseits und dem Staat andererseits, zeigt der weitere Gang der Gesetzgebung mit dem Agricultural Children Act von 1875, dem Education Act von 1876 und dessen Neufassung von 1880. Aus allen drei Gesetzen spricht das Bemühen, den Schulbesuch 109 Horn, Education, S. 314 ff. Siehe auch die Aufzeichnung vom 5.7.1884 über die Zusammensetzung eines örtlichen school board auf den Bedfordschen Gütern, das genau dem beschriebenen Muster entspricht. BaLARS: R 4/938. 110 Bedfordshire Times, 23.7.1881. Die farmer in Bedfordshire waren mit dieser Sicht der Dinge keine Ausnahme. Siehe dazu Mingay, Social History, S. 170f. sowie Howkins, Re­ shaping, S. 178. 111 Die Chance, dass Adelsherrschaft die Kommunalsteuern niedrig hielt, beschränkte sich dabei nicht auf den Schulsektor. In seiner schon angesprochenen Verteidigungsschrift des adeligen Großgrundbesitzes führte der Duke of Bedford aus: „Weekly allowances to labourers are in the nature of old age pensions. They cannot be justified from a commercial point of view; but, inasmuch as a weekly allowance keeps a man from a workhouse, the system assists the State and saves the ratepayer.“ Russell, Estate, S. 111.

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zu erhöhen, ihn schließlich verpflichtend zu gestalten. Verbot der Act von 1875 die Beschäftigung von Kindern unter acht Jahren in der Landwirtschaft und erlaubte ihn bei jenen von acht bis zwölf Jahren nur, wenn sie ein gesetzlich festgelegtes Minimum von Schulbesuch nachweisen konnten, so wurden diese Regelungen 1876 weiter ausformuliert und galten nun grundsätzlich auch für Schulen in freier Trägerschaft. Kinder zwischen fünf und zehn Jahren unterlagen nun der Schulpflicht, jene zwischen zehn und zwölf Jahren mussten mindestens 250 sogenannte attendances nachweisen, um beschäftigt zu werden, Zwölf- bis Vierzehnjährige mindestens 150, es sei denn, sie bestanden eine Abschlussprüfung erfolgreich, so dass sie früher arbeiten gehen konnten. Um die Chancen auf Durchsetzung der Regelungen zu erhöhen, wurde eine neue Instanz in jenen Regionen geschaffen, in denen es keine school boards gab, die attendance committees. Sie hatten das Recht, Eltern mit einer Strafe zu belegen, die ihre Kinder nicht in die Schule schickten. Dies kam jedoch außerordentlich selten vor. Eher argumentierten die committees, man dürfe Familien aus den arbeitenden Schichten nicht des Beitrags berauben, den ihre Kinder zum Familieneinkommen beitrügen.112 Zwar boten die attendance committees, je nachdem wie sie besetzt waren, zumindest eine gewisse Chance, den Schulbesuch zu erhöhen. Der Gesetzgeber musste jedoch erkennen, dass sie in vielen localities erst gar nicht eingerichtet wurden. Der Education Act von 1880 machte daher ihre Einführung grundsätzlich verbindlich. Aber auch diese legislative Maßnahme konnte nicht verhindern, dass die illegale Beschäftigung von Kindern ohne ausreichenden Schulbesuch nach wie vor eine verbreitete Praxis darstellte. So stellte ein Komitee der National Union of Teachers 1887 in einer Untersuchung über die Schulen in ländlichen Gegenden fest, dass in mehr als einem Drittel der Bezirke verbotene Kinderarbeit vorkomme und dass der Unwillen der school boards, die bestehenden Regelungen durchzusetzen, das zentrale Hindernis bei der Erhöhung des Schulbesuches darstelle. Nur aus etwa zehn Prozent der Bezirke wurde keine ungesetzliche Kinderarbeit gemeldet.113 Nicht zuletzt diese Zahlen zeigen, dass der grundbesitzende Adel durchaus erfolgreich darin war, seine Herrschaft zu stabilisieren. Dies kostete Geld, was sich nicht nur in der Buchführung der Güter niederschlug, sondern auch in den Diskussionen um die Verfasstheit der Elementarschulen: Auch hier standen die Kosten und nicht 112 Roger Sellman: The Country School; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 542–553, S. 546f. 113 Horn, Education, S. 136–139. Zur Kinderarbeit in der Landwirtschaft siehe auch die einschlägigen Ausführungen bei Pamela Horn: Children’s Work and Welfare, 1780–1890, Cambridge 1995 und Peter Kirby: Child Labour in Britain, 1750–1870, Basingstoke 2003, außerdem die Erhebungen der Royal Commission on the Employment of Children, Young Persons and Women in Agriculture, BPP 1867–1872. Zur Kinderarbeit in Böhmen siehe: Erhebung über die Kinderarbeit in Österreich im Jahre 1908, hrsg. v. k. k. Arbeitsstatistischem Amt im Handelsministerium, Wien 1911.

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die Qualität des Unterrichts im Vordergrund, und dies, obwohl schon Zeitgenossen kritisierten, dass das 1862 eingeführte payment by results zu einer Verschlechterung der schulischen Leistungen geführt habe.114 Zudem blieb die religiöse und moralische Unterweisung ungebrochen vorrangig, obwohl schon zeitgenössische Kritiker den Ausbildungsstätten der religiösen Gemeinschaften, die ein Monopol auf die Ausbildung der Elementarschullehrer hatten, attestierten, wenig sachorientiert zu sein. Dies war jedoch auch nicht unbedingt ihr Hauptanliegen, denn, so legte ein führendes Mitglied der Church of England dar: „The efficiency of a training school is not to be measured wholly or chiefly by its power of communicating knowledge. It is not for the knowledge acquired … that it is most valued, but rather for the morale and discipline of the students which is associated with the laborious, the faithful, and the punctual discharge of a duty.“115 Was sich in diesen Worten widerspiegelte, war die für England und vor allem für die vom Adel geprägte ländliche Welt immer wieder beschriebene „Kultur der Ehrerbietung“.116 Diese culture of deference, etabliert schon in der Vormoderne, erleichterte dem Adel seine Aushandlungsprozesse beträchtlich. Wo sich daher seine Herrschaft ohne Schulen aufrechterhalten ließ, war dies für ihn eine willkommene Situation; wo sich Schulen jedoch als geeignetes Instrument zum Aushandeln von Herrschaft erwiesen, dort richtete er sie ein (bzw. unterstützte entsprechende Vorhaben) und hatte die dabei entstehenden Kosten im Blick. Dies zeigt sich geradezu exemplarisch bei den Schulen der Marquesses of Londonderry. Die Marquesses of Londonderry bezogen ihr Einkommen nicht nur aus der Landwirtschaft, sondern sie gehörten auch zu den größten Kohlengrubenbesitzern im Norden Englands. Seit 1846 finanzierten sie Schulen für die Kinder der bei ihnen beschäftigten Bergarbeiter.117 Im Jahre 1858 wurden an diesen Schulen immer114 Sellman, Country School, S.  544f. Vorrangig war die religiöse und moralische Unterweisung; zentrales Unterrichtsbuch die Bibel, die nicht nur die Fibel ersetzte, sondern die Lehrer auch mit Rechenaufgaben versorgte, etwa wenn die Kinder die Söhne zusammenzählen sollten, die Jakob mit seinen vier Frauen hatte. Payment by results bedeutete, dass neben der religiös-moralischen Unterweisung auch Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen abgeprüft wurden, und sich die staatlichen Zuschüsse nach den erreichten Ergebnissen richteten. Horn, Education, S. 118. Siehe zum viktorianischen Elementarschulwesen mit etwas anderem Akzent auch Sidney Pollard: Viktorianische Werte im Bildungssektor. Zur Logik des viktorianischen Elementarschulwesens; in: „Victorian Values“. Arm und Reich im viktorianischen England, hrsg. v. Bernd Weisbrod, Bochum 1988, S. 149–176. 115 Horn, Education, S. 85. 116 Schröder, Adel, S. 56f., Mingay, Gentry, S. 189–193, Howkins, Reshaping, S. 97–100 sowie Rödder, Herausforderung, S. 226 und S. 229. 117 Schreiben des Gutsverwalters an die Marchioness of Londonderry, 20.8.1861. CROD: D/Lo/E 517.

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hin 1.500 Kinder von 16 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet.118 Anders als die Bewohner der Gutsdörfer gehörten die Bergleute nicht selten den Methodisten an und waren außerdem zum großen Teil gewerkschaftlich organisiert. Da die Bergleute ihre sunday schools häufig für gewerkschaftliche Belange nutzten119, sollten die von den Bergwerksbetreibern eingerichteten Schulen vor allem dazu dienen, diese Verbindung von Nonkonformismus und politischer Mobilisierung unter Kontrolle zu halten. Im Gegensatz zu den Bergarbeiterkindern waren jene der Landarbeiter vom Unterricht in den genannten Schulen zunächst explizit ausgeschlossen. Dennoch stellte ein Bericht aus dem Jahre 1861 fest, dass in den insgesamt fünf Schulen mittlerweile ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Kinder nicht aus Bergarbeiterfamilien stammte. Der Verwalter beklagte, dass die Schulen überlaufen seien und die non-colliery-Kinder, weil sie höheres Schulgeld zahlten, mehr Aufmerksamkeit des Lehrpersonals erhielten. Beides wirke sich negativ auf die Leistungen der Bergarbeiterkinder aus – und, so darf man vermuten, auf die Akzeptanz der Schulen seitens ihrer Eltern. Um die Gruppen wieder zu trennen, suchte der Verwalter nach einer möglichst kostengünstigen Lösung, um die Kinder aus den Gutsdörfern an einem anderen Ort unterrichten zu lassen.120 Ein Zusammenhang zwischen Schulförderung und adeliger Jagdleidenschaft mag nicht auf den ersten Blick ersichtlich sein, es gibt ihn gleichwohl. Von den Konflikten, die sich daraus und vor allem aus der scharfen Ahndung der Wilderei ergaben, ist bereits die Rede gewesen.121 Sie führten zu einer markanten Zunahme der Polizisten in bestimmten Grafschaften. F. M. L. Thompson konnte statistisch nachweisen, dass gerade in diesen Regionen die adelige Unterstützung von Schulen niedriger war als in jenen Grafschaften, in denen es kaum durch Jagd und Wilderei hervorgerufene Konflikte gab: Dort, wo die education als Mittel zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung versagte, war der Adel deutlich weniger bereit, in sie zu investieren und einer „undankbaren“ Bevölkerung dabei zu helfen, sich zu bilden.122 Anders ausgedrückt: Hier standen Kosten und Nutzen des Herrschaftsinstruments „Schule“ für den gutsbesitzenden Adel nicht mehr in einem Verhältnis, das ihn weiterhin darauf zurückgreifen ließ.

118 Rev. Scott/New Seaham Parsonage an Frances Anne, 28.7.1858. Ebd.: D/Lo/E 516. 119 Robert Moore: Pitmen, Preachers and Politics. The Effect of Methodism in a Durham Mining Community, Cambridge 1974. 120 Schreiben des Gutsverwalters an Frances Anne, 20.8.1861. Ebd.: CROD: D/Lo/E 517. 121 Siehe dazu Kapitel 3.3. 122 F. M. L. Thompson: Landowners and the Rural Community; in: The Victorian Coun­ tryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 2, London/New York 1981, S. 457–474.

Wohltätigkeit

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4.1.4 Wohltätigkeit statt Sozial- und Schulpolitik

Mit der Bewahrung ökonomischer Macht, wie sie im zweiten und dritten Kapitel beschrieben worden ist, ging auch soziales Prestige einher. Besonders eng war diese Verbindung bei der Wohltätigkeit, die sich ein verarmter Adel nicht (oder zumindest nicht in dem Maße) hätte leisten können wie die böhmischen und englischen Magnaten mit ihrem effizient bewirtschafteten Großgrundbesitz. Betrachtet man die Wohltätigkeit dieser beiden Adelsformationen genauer, so fällt auf, dass es eine Reihe von Gemeinsamkeiten gibt: Da waren zunächst die individuellen Hilfen, die die Adelsfamilien zu hohen kirchlichen Feiertagen sowie bei akuten Notfällen gewährten. Hier galt stets, dass die Betroffenen sich in Situationen befinden mussten, die sie nicht selbst verschuldet hatten bzw. die sich ihrer eigenen Kontrolle entzogen. Die geschilderten Beispiele lassen adelige Wohltätigkeit als eine Herrschaftspraktik erkennbar werden, zielte die Unterstützung doch im Kern darauf, Menschen durch stabile asymmetrische Beziehungen an die Besitzungen der Adelsfamilien zu binden, sie zu individualisieren und dadurch Anonymität aufzuheben. Damit wiederum sollten außerdem Klassenbildungs-123 und Nationalisierungsprozesse, wenn schon nicht verhindert, so doch wenigstens verlangsamt werden. Auch bedeutete Wohltätigkeit eine Form der Sozialisierung und in diesem Sinne der Einübung von Herrschaft sowie von Verhaltensformen der Dankbarkeit und Ehrerbietung durch Männer und Frauen von Kindesbeinen an. Darüber hinaus hatte Wohltätigkeit für den Adel noch einen weiteren positiven Aspekt, konnte er doch auf dieser Basis seine Nützlichkeit behaupten und dadurch zur Gemeinschaftsbildung in der ländlichen Welt beitragen, was letztlich seine Herrschaft über Land und Leute stabilisierte, gleichzeitig aber den Staat mit seinen Institutionen außen vor hielt. Diese grundsätzlichen Beobachtungen gelten auch für die institutionalisierte Form adeliger Wohltätigkeit, die Stiftungen. Auch sie wurden von den böhmischen und englischen Magnaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Ordnung genutzt. Feststellbar sind jedoch unterschiedliche „Schwerpunktsetzungen“: Während der böhmische Adel eher in Armenstiftungen investierte, bevorzugte der englische die Schulförderung. Zwar kannten auch die englischen Magnaten jene endowed charities, die den böhmischen Armenstiftungen entsprachen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts waren diese aus der frühen Neuzeit stammenden Institute jedoch oftmals „aus der 123 Bereits in Kapitel 3.1.3 waren Gewerkschaften als ein konkurrierendes Ordnungsmodell angesprochen worden, das es aus der Sicht des Adels nach Möglichkeit zu unterbinden galt. Dem dienten nicht nur die dort bereits beschriebenen Maßnahmen, sondern auch der in Kapitel 4.1.2 angesprochene Ausschluss von Landarbeitern sowie ihren Frauen und Kindern von der adeligen Wohltätigkeit, sollten sich die Männer einer union anschließen.

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Mode“ gekommen: Zahlungen wurden zwar zumeist getätigt, aber Aufstockungen oder Neueinrichtungen, wie sie zum Beispiel bei verschiedenen Mitgliedern des Grafengeschlechts Czernin beobachtet werden konnten, sind nicht überliefert.124 Als Herrschaftsinstrument hatten sich Armenstiftungen in England, anders als die individuelle Wohltätigkeit, ganz offenbar überlebt. In Böhmen waren es dagegen die Schulstiftungen, die sich für den Adel als nicht mehr hilfreich im Sinne der Verfolgung eigener Interessen erwiesen. Hier hatte der Staat nach der Revolution von 1848 im Rahmen der Gemeindegesetzgebung die Aufgaben des Adels bei der Unterhaltung der Schulen geregelt und ihm die Gebäudeinstandhaltung, einen Beitrag zur Heizung sowie ggf. die Unterstützung des Lehrpersonals zugewiesen. Auch wenn sich die daraus resultierenden Konflikte nach und nach legten125, so demonstrierten doch eine ganze Reihe von böhmischen Adeligen ihren Widerstand gegen die zwangsweise Einbeziehung als steuerpflichtige Mitglieder in die Gemeinde gerade dadurch, dass sie die Kirchen- und Schulpatronatsleistungen verweigerten, was zu Kollisionen mit den unteren Behörden führte. So zwang etwa die Bezirkshauptmannschaft Plan 1852 den Grafen Berchem-Haimhausen durch die Androhung von „Militärassistenz“, seine Schulpatronatspflichten zu erfüllen.126 Diesen Pflichten kam der Adel im Übrigen umso bereitwilliger nach, je eher sie den Charakter von freiwilliger Wohltätigkeit hatten. Als im Jahre 1866 die Statthalterei in Prag entschied, dass sich Karl III. Fürst Schwarzenberg als ehemaliger Herrschaftsbesitzer an den Kosten für einen Unterlehrer und die Heizung des Schulgebäudes in Staré Sedlo zu beteiligen habe, akzeptierte er dies erst nach einem Rechtsstreit. Der Bitte der Gemeinde Radobice aus dem Jahre 1864, wo er seit diesem Jahr nicht mehr

124 Der Bestand der endowed charities wurde verschiedentlich erhoben; daraus gehen auch die Anteile, die der Hochadel an ihnen hatte, hervor. Siehe dazu BPP 1867/68, Bd. LII, Part I; BPP 1868/69, Bd. XLV; BPP 1871, Bd. LV sowie BPP 1898, Bd. LXV. 125 Siehe dazu etwa die Beispiele routinemäßiger Abwicklung von Schulangelegenheiten aus den Beständen Waldstein wie die Quittung vom 14.3.1860, mit der Andreas Mink der Kasse der Herrschaft Neuperstein die Zahlung von 21 Gulden Miete bestätigte, die er für die in seinem Haus eingerichtete Schule erhalten hatte. SOA Praha: RAV 3746, kart. 87. Siehe außerdem das Schreiben des Gemeindevorstehers der Gemeinde Kummer vom 12.10.1869, mit dem dieser beim Rentamt von Hirschberg um die Stellung von Scheitholz zur Heizung der Schulräume nachsuchte, da am 10.10. der Unterricht wieder begonnen habe; das Holz wurde, ohne dass es darüber zu Auseinandersetzungen kam, geliefert. Ebd. Umfangreiches Material zum Umgang in Schulfragen zwischen ehemaligen Herrschaften und den zuständigen Behörden finden sich z. B. auch in den Beständen SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 106, 107, 111, 112 und 114 (Czernin) oder SOA Praha: Velkostatek Březnice 2059, kart. 523 (Pálffy). 126 Stölzl, Ära, S. 38.

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gesetzlich verpflichtet war, entsprechende Kosten zu tragen, kam er jedoch wohlwollend nach – die Zahlungen wurden bis zum Ersten Weltkrieg geleistet.127 Wie sehr auch die gesetzlich verpflichtenden Zahlungen immer noch Aushandlungscharakter hatten, zeigen die Anweisungen von Ernst Franz Graf Waldstein für die Vertreter der Virilstimme in den Gemeindevertretungen. Ihnen schärfte er mit Blick auf Schulangelegenheiten ein, bei allen baulichen Maßnahmen wie auch bei der Konstituierung neuer Schulgemeinden, die „Errichtung neuer oder Überwälzung fremder Lasten auf den Herrschaftsbesitz“ zu verhindern, es dabei jedoch, wegen des ungewissen Ausgangs, nicht auf Prozesse ankommen zu lassen. Vielmehr ließen sich die herrschaftlichen Interessen am besten im Gemeindeausschuss oder Ortsschulrat mit „Intelligenz und conciliantem [sic!] Wesen“ durchsetzen.128 Diese Beispiele zeigen, wie stark der habsburgische Staat mit gesetzgeberischen Maßnahmen den schulischen Bereich129 verregelte. Dem grundbesitzenden böhmischen Adel wies er dabei die Rolle eines (Mit-)Financiers zu, gegen die dieser sich zwar wehrte, ohne jedoch seine Position gegenüber dem Staat als einem Herrschaftskonkurrenten verbessern zu können. Machten also adelige Schulstiftungen schon aus diesen Gründen keinen Sinn, hätte er sich seit den 1880er Jahren damit außerdem in Konkurrenz zu den nun entstehenden und rasch stärker werdenden nationalistischen Schulvereinen130 begeben. Dies jedoch lag ganz gewiss nicht im Interesse des böhmischen Adels, hätte er doch so den Nationalisierungstendenzen in der Gesellschaft Vorschub geleistet und dadurch seine Herrschaftsbasis national eingeschränkt. So wie sich die Armenstiftungen in England im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Herrschaftsinstrument für den grundbesitzenden Adel eigneten, so galt das aus den besagten Gründen ebenfalls für Schulstiftungen in Böhmen. Bemerkenswert ist, dass der englischen Adel die Schulförderung just in dem Moment für sich „entdeckte“, als sich auch hier der Staat, getragen von der Diskussion um die Einführung und Kontrolle von Schulpflicht, anschickte, diesen Bereich zu verregeln. Die adelige Förderung diente also vor allem der Untermauerung des Anspruchs, dass keine Notwendigkeit zu staatlichen Maßnahmen bestehe. School boards und school attendance committees konnten englische Adelige gleichwohl nicht verhindern. Auch sie sahen sich mit einem Staat konfrontiert, der bei aller Neigung zur Dezentralisierung und zum cheap government zunehmend in die Fläche vorrückte, jedoch weniger 127 Zdeněk Bezecný: Bývalí poddaní a bývalá vrchnost [Die ehemaligen Untertanen und die ehemalige Herrschaft]; in: Studie k sociálním dĕjinám 1 (8)/1998, S. 9–21, S. 12. 128 Instruktionen vom 23.1.1884. SOA Praha: RAV 3701, kart. 76. 129 Siehe grundsätzlich dazu Gary Cohen: Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848–1918, West Lafayette 1996, besonders S.  37ff. sowie zur „Vorgeschichte“ James Van Horn Melton: Absolutism and the 18th Century Origins of Compulsory Schooling in Prussia and Austria, Cambridge 1988. 130 Judson, Guardians, S. 19–65.

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nachdrücklich als dies der habsburgische Staat tat, der stärker durch bürokratische Traditionen geprägt war. Sowohl der böhmische als auch der englische Adel hatten es somit in ihrem Bemühen, ihre Herrschaft über Land und Leute aufrechtzuerhalten, mit einem konkurrierenden Staat zu tun, die böhmischen Magnaten allerdings mehr, die englischen weniger. Stiftungen geben somit nicht nur, wie Michael Borgolte formuliert hat, einen hervorragenden Indikator für das soziale Gefüge ihrer Entstehungszeit ab131, sondern verweisen, solange sich die jeweiligen Akteure weiterhin der zum Teil schon seit Generationen bestehenden Institutionen bedienen, auch auf die Strukturen der jeweils zeitgenössischen Gesellschaft. Sie bieten daher in der Tat die Chance, „menschliche Wirksamkeit durch die Zeiten zu erkunden“.132 Die Chancen auf Wirksamkeit waren eng mit dem Aushandlungscharakter von Wohltätigkeit und Herrschaft verbunden. Während dabei jedoch in Böhmen der gemeinsame Katholizismus eine wichtige Rolle spielte (Adelige begründeten ihre Maßnahmen religiös, Bittstellerinnen und Bittsteller boten ihre Gebete als Gegengabe an), finden wir Vergleichbares in England nicht. Statt religiöser Argumentation tritt uns hier eher einerseits eine institutionelle Zusammenarbeit zwischen Adel und Vertretern der anglikanischen Hochkirche entgegen, andererseits der Nonkonformismus. In den geschlossenen Gutsdörfern nicht geduldet, stellte er für Angehörige der englischen Agrargesellschaft gleichwohl eine Möglichkeit dar, sich adeligen Herrschaftsansprüchen zu verweigern – um den Preis stark prekärer Beschäftigungsverhältnisse und des weitgehenden Ausschlusses von Wohltätigkeit (bzw. des vollständigen, sofern noch gewerkschaftliche Organisation, die ja gerade unter Nonkonformisten relativ hoch war, hinzutrat). Dies verweist uns noch einmal auf den Aspekt des „Nutzens“ adeliger Herrschaft am Beispiel der Wohltätigkeit für die verschiedenen Gruppen der „Beherrschten“. Solange der Sozialstaat erst im Entstehen begriffen war, bedeuteten die adeligen Hilfen für die ländlichen Armen Englands wie Böhmens in der Tat einen unmittelbaren Nutzen. Dies galt vor allem für jene Gruppen der Agrargesellschaften beider Großregionen, für die Armut zumindest stets ein reelles Lebensrisiko blieb. Doch auch über die Genannten hinaus „bot“ adelige Herrschaft denjenigen etwas, mit denen sie ausgehandelt wurde: In England eine Begrenzung der Kommunalsteuern, in Böhmen die Zahlung von, modern gesprochen, Sozialleistungen großer Arbeitgeber; in beiden Fällen waren dies auch Chancen auf die Vergesellschaftung von Interessen in einer ländlich geprägten Welt. Ohne diese Demonstration von Nützlichkeit hätte eine paternalistische Herrschaftslegitimation weder bei ihren Adressatinnen und Adressaten verfangen können noch sich eine Kultur der Ehrerbietung weiterhin aufrechterhalten lassen. Wie über131 Borgolte, Einleitung, S. 8. 132 Ebd.

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aus eng diese Aspekte gerade im Bewusstsein des Adels zusammenhingen133, zeigt ein Aufruf von Vincenz Karl Fürst Auersperg vom Dezember 1848, der nur ein halbes Jahr zuvor vor einem wütenden Bauernhaufen hatte fliehen müssen. Er forderte seine ehemaligen Untertanen auf, „aus beiderseitigem freien Willen“ ein „Familienbündnis“ einzugehen, bei dem er „Vater“ und sie seine „guten und treuen Kinder“ sein sollten. Diesen „Bezirkskinder[n]“, wie er sie auch nannte, sollten jene Vorteile zugute kommen, „die bisher meinen wohlverhaltenen [sic!] Untertanen verliehen wurden“. Namentlich nannte der Fürst Zutritt zu seinem Wald, um Klaubholz und Waldstreu zu sammeln, „Beschenkung“ oder „Zuwartung“ mit Baumaterial nach Feuersbrünsten, Bevorzugung bei Verpachtungen und Beschäftigung, die „unentgeltliche Benützung von Zuchttieren“ (für jene, die in diesem Bereich angestellt waren) sowie schließlich „die besondere Berücksichtigung … bei Beteiligung mit Armenportionen, Spital und ärztlicher Behandlung“.134 Noch bevor Auersperg dann die Bedingungen formulierte, die für jene gelten sollten, die zu seinem „Familienverband“ gehören wollten (Treue und Festigkeit im christlichen Glauben und zum Kaiser sowie Anerkennung der Eigentumsrechte, wobei Juden explizit vom ersten Punkt ausgenommen wurden), machte er unumstößlich klar: „Ich behalte mir vor, jedes meiner Bezirkskinder (welche ich stets selbst [Hervorhebung i. O.] aufnehme), ganz nach meinem Belieben und zu jedem Augenblicke wieder aus meinem Familienverhältnisse auszuscheiden.“135 Diese Festlegung erinnert nicht nur an jene der Grafen Czernin im Zusammenhang mit der von ihnen getragenen Armenstiftung, sondern mit „Bezirkskindern“ im „Familienverband“ formulierte der Fürst auch und vor allem seinen weiterbestehenden Herrschaftsanspruch über Land und Leute. Ob nun explizit, wie der Fürst Auersperg und die Dukes of Bedford, oder implizit, wie es für den böhmischen und englischen Adel insgesamt typisch war, es steht fest, dass das Demonstrieren von Nützlichkeit zu den Praktiken des Hochadels gehörte, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten und damit seine wichtigsten Konkurrenten um diese Herrschaft, die in die Fläche vorrückenden Staaten, auf die Plätze

133 Siehe zu dem Komplex „Nützlichkeit – Paternalismus – Kultur der Ehrerbietung“ auch die Ausführungen in den Kapiteln 2.1, 2.5, 3.1.1, 3.1.3 (hier besonders jene zur Reaktion des Marquess of Londonderry zum Silworth Streik 1891), 3.3 und 4.1.3.2. 134 Aufruf des Fürsten Vincenz Karl Auersperg an seine früheren Untertanen, Dezember 1848. Abgedruckt in Ralph Melville: Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1998, S. 356–359. Das Dokument ist im Übrigen eines der wenigen, das an die Bewohner der „ehemaligen Herrschaften“ gerichtet ist, weil Auersperg wohl noch unter den Eindrücken der Revolutionsereignisse stand. Bald schon sprachen böhmische Adelige dann wie zuvor nur noch von ihren „Herrschaften“. 135 Ebd., S. 357.

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zu verweisen.136 Wie wir gesehen haben, war die allgemeine Schulpflicht eines der Felder, auf dem diese Auseinandersetzungen ausgefochten wurden, die Gewährung von Armenunterstützung137 und die Einführung verschiedener Sozialversicherungen ein anderes. Als die Regierung Taaffe, die u. a. vom feudalkonservativen böhmischen Adel getragen wurde, in den 1880er Jahren Sozialreformen durchführte, brachten diese einem nicht unbedeutenden Teil der industriellen und gewerblichen Arbeiter den Versicherungsschutz bei Unfall oder Krankheit, nicht jedoch den in der Landwirtschaft Beschäftigten. Diese Gesetzgebung ist ihrem Wesen nach als antikapitalistisch charakterisiert worden und als Bemühen der Agrarier, sich einen Konkurrenzvorteil gegenüber Industrie und Gewerbe zu verschaffen.138 Abgesehen davon, dass man wohl ebenso argumentieren kann, dass gerade das Verschaffen eines Konkurrenzvorteils seitens der feudalkonservativen Agrarier ein Beispiel für deren kapitalistisches Denken darstellte, erschließt sich die Logik ihres Vorgehens eher, wenn man außerdem berücksichtigt, dass die Betroffenen durch diesen Ausschluss weiterhin auf adelige Wohltätigkeit angewiesen blieben, während eine Unfall- und Krankenversicherung der individualisierenden Absicht adeliger Herrschaftspraktiken zuwiderlief. Die Geschichte der Einführung dieser Versicherungen belegt also, dass auch für das 19. Jahrhunderte gilt, was Eckart Conze für das 20. Jahrhundert am Beispiel der Grafen Bernstorff gezeigt hat139, nämlich, dass die lokalen Lebenswelten des Adels dessen Agieren auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene prägten. 136 Bürgerliche Gruppen als solche, also nicht in ihrer Funktion als Staatsbeamte, waren dagegen in der ländlichen Welt Englands und Böhmens kaum Herrschaftskonkurrenten für die Magnaten. Auch unterschieden sich Adel und Bürgertum durchaus in der von ihnen favorisierten Form der Wohltätigkeit. Fest der charity verpflichtet, lehnte der englische Hochadel die vom Bürgertum betriebene Philanthropie, die nicht auf tatsächlichen oder konstruierten face-to-face-Beziehungen beruhte, nachdrücklich ab. Siehe dazu Reynolds, Aristocratic Women, S. 103–118. Auch bei der Ablehnung der Philanthropie handelt es sich, ähnlich wie in Kapitel 2.1 am Beispiel des Verfassens von adeligen Selbstzeugnisse erläutert worden ist, um eine Praktik zur Erzeugung von Distinktion. 137 Siehe dazu die verschiedenen Beispiele, dass sich die Grafen Czernin eine Einflussnahme der Stadtverwaltung Jindřichův Hradec auf „ihre“ Armenstiftung verbaten, Kapitel 4.1.3.1. Der gleichen Logik ist es geschuldet, wenn Fürst Schwarzenberg 1860 einer Witwe die Verlängerung von kostenlosem Holzbezug nicht gewährte, da „für die Fortdauer dieser Unterstützung keine besonderen Gründe sprechen und die Bittstellerin im Genusse einer Stadtpension sich befindet.“ Schreiben vom 14.10.1860. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 866. 138 Sandgruber, Ökonomie, S. 302f. Siehe grundsätzlich auch Kurt Ebert: Die Anfänge der modernen Sozialpolitik in Österreich. Die Taaffesche Sozialgesetzgebung für die Arbeiter im Rahmen der Gewerbeordnungsreform (1879–1885), Wien 1975. 139 Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart 2000.

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Ein letzter Aspekt: Adelsherrschaft war nur dann lokal zu stabilisieren, wenn Mitglieder der adeligen Familien in der dörflichen Welt auch präsent waren. Dies war in Böhmen wie in England, aber auch in vielen anderen Regionen Europas140 der Fall, und hier demonstrierten die Magnaten gleichermaßen große soziale Distanz und Zugehörigkeit zu einer ländlich-agrarisch geprägten Gemeinschaft. Wohltätigkeit war dabei eine Praktik, diese affektiven Bindungen sowohl zu demonstrieren als auch gleichzeitig die soziale Distanz aufrechtzuerhalten, ihr Konfliktpotential aber zu entschärfen.

4.2 Pfarr- und Kirchenpatronate Ein enges Bündnis aus Thron und Altar gilt für die Habsburgermonarchie geradezu als Gemeinplatz.141 Ähnlich eng waren jedoch auch die entsprechenden Bindungen mit Blick auf die als Staatskirche firmierende Church of England im 19. Jahrhundert. Hochadelige Gutsbesitzer hingen in dieser Zeit in Böhmen fast durchgängig dem Katholizismus an, in England, mit sehr wenigen Ausnahmen wie den ebenfalls katholischen Dukes of Norfolk, der anglikanischen Hochkirche. Gemeinsam war außerdem vielen Familien in beiden Regionen nicht selten eine Tradition christlicher Frömmigkeit und öffentlichen Engagements zu Gunsten religiöser Belange. Dieses Engagement wie auch die Wandlung persönlicher Frömmigkeitsformen und ihr Zusammenhang mit Chancen zur Ausübung von Herrschaft in den beiden ländlichen Gesellschaften hat jedoch im Rahmen der Forschung bisher für England142 mehr Aufmerksamkeit gefunden als für Böhmen143. 140 Siehe dazu etwa Bertrand Goujon: Re-inventing ‚Seignorial‘ Charity in NineteenthCentury Europe. The Example of the Dukes and Princes of Arenberg; in: Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa, 1850–1930/Poor Relief and Charity. Rural Societies in Europe, 1850–1930, hrsg. v. Inga Brandes und Katrin Marx-Jaskulski, Frankfurt am Main 2008, S. 187–201. 141 Daniel Unowsky hat jüngst im Rahmen seiner Studie über Kaiserfeierlichkeiten gezeigt, wie gerade unter Franz Josef habsburgische, kirchliche Rituale wieder eingeführt und den Zeitbedingungen, im Sinne einer invention of tradition, angepasst wurden. Unowsky, Pomp, S. 11–32. 142 Siehe dazu die im Kapitel 4.2.3 angesprochene Literatur. 143 In seinem immer noch grundlegenden Überblick über die Geschichte der katholischen Kirche in der nichtungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie braucht Peter Leisching gerade einmal zwei Seiten um das Verhältnis Adel – Kirche im Allgemeinen zu beschreiben. Auf die Bedeutung dieses Verhältnisses für die ländliche Gesellschaft geht er dabei nicht ein. Peter Leisching: Die römisch-katholische Kirche in Cisleithanien; in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hrsg. v. Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Bd. 4, Wien 1985, S. 1–247, S. 126f.

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Zurückzuführen ist dieses Desiderat nicht nur auf die marxistische Historiographie der Tschechoslowakei, von der man kaum erwarten konnte, dass sie sich besonders der Geschichte ihrer weltanschaulichen Gegenspieler widmen würde. Es hat auch mit dem Interesse an bürgerlichen Gruppen und Parteien wie den Jungtschechen oder den Nationalen Sozialisten zu tun, die unter anderem ein deutlicher Antiklerikalismus verband.144 Mit Blick auf die Jungtschechen konnte Martin Schulze Wessel zeigen, dass sie ihr Lager nicht mit sozialen oder nationalpolitischen Gesichtspunkten, sondern mit religionspolitischen konstruierten, entlang einer Demarkationslinie ‚Laizismus – Klerikalismus‘. Als Laizisten bedienten sie sich dann in den Auseinandersetzungen mit den kirchlich orientierten Kräften nationaler historischer Symbole, wozu etwa die hussitische Tradi­tion gehörte.145 Angesichts der bereits im Kapitel über die Wohltätigkeit angesprochenen Bedeutung von Stiftungen, Patronatsrechten und der Rolle der Geistlichkeit in Böhmen wie in England erscheint es jedoch naheliegend, vor allem die Patronatsrechte daraufhin zu untersuchen, welches Potential sie für die Aufrechterhaltung adeliger Herrschaft hatten. Dies soll im Folgenden geschehen. 4.2.1 Böhmen: Patronate im Dienst adeliger Herrschaftsausübung

Die Revolution von 1848 bedeutete für den böhmischen Adel den Verlust seiner Privilegien. Die Ausnahme von dieser Regel stellten allerdings die Patronatsrechte dar. Besonders die Patronate der böhmischen hochadeligen Großgrundbesitzer bildeten, wie Peter Leisching schreibt, häufig „geradezu eine Diözese innerhalb des Bistums“146. So umfasste das Patronat des Worliker Zweigs der Fürsten Schwarzenberg achtzehn Kirchen und Pfarreien, neun Filialkirchen und drei Kapellen.147Als Patrone hatten sie für diese subsidiäre Zahlungen zur Erhaltung der Gotteshäuser zu leisten; die entsprechenden Unterlagen finden sich in großer Zahl in allen adeligen Familienüberlieferungen.148 Auseinandersetzungen über die „gelieferte“ Qualität scheinen dabei 144 Zu den Nationalen Sozialisten und ihrem Antiklerikalismus T. Mills Kelly: Without Remorse. Czech National Socialism in Late-Habsburg Austria, Boulder 2006, S. 60f. 145 Martin Schulze Wessel: Das 19. Jahrhundert als „Zweites konfessionelles Zeitalter“? Thesen zur Religionsgeschichte der böhmischen Länder in europäischer Hinsicht; in: ZfO 50/2001, S. 514–530, S. 523. 146 Leisching, Kirche, S. 96. 147 Bezecný, Příliš, S. 66. 148 Siehe z. B. die Anweisungen des Fürsten Schwarzenberg für den Kapellenbau an die Wirtschaftsverwaltung Orlík, 28.3.1903 (die Hälfte der bereitgestellten Gelder sollte erst ausgezahlt werden, wenn mit dem Bau auch wirklich begonnen worden war). SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 872. Ferner als weitere Beispiele: Vortrag des Oberamts Neuhaus für den Grafen Czernin über die für die Kirchen-, Pfarr- und Schulbaulichkeiten zur

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überaus selten gewesen zu sein.149 Aufgrund der „Zahlungsverpflichtungen“ versuchte der böhmische Adel gegenüber dem Staat, und speziell dem Ministerium für Kultur und Unterricht sowie dem Handelsministerium, durchzusetzen, Patronatspost sei wie Behördenpost zu behandeln und somit portofrei. Er blieb hierin jedoch erfolglos, da die Ministerien auf dem privaten Charakter dieser Post beharrten.150 Seine Kosten hatte der Adel also auch in dieser Hinsicht im Blick. Mit den Patronaten waren in verschiedener Hinsicht Möglichkeiten zur Ausübung von Herrschaft verbunden.151 An erster Stelle zu nennen ist die Beteiligung des Patrons an der Auswahl der Ortsgeistlichen. Hier spielten die Bischöfe eine eher schwache Rolle, da sie nur in seltenen Fällen die Pfarrämter frei vergeben konnten. Wesentlich häufiger waren sie an das Präsentationsrecht eines Patrons gebunden, sei dieser der Landesfürst, ein öffentlicher Fonds oder eine Stiftung, ein Kloster oder eine Staatsdomäne mit ihren Kameralpfründenpatronaten. Hinzu traten dann noch die zahlreichen privaten Patronate, die auf die ehemaligen Herrschaften zurückgingen. Die Auswahl der Pfarrer erfolgte vor allem bei letzteren vorwiegend nach der Gunst des Patronatsherren.152 Diese Geistlichen erinnerten in den von ihnen gelesenen Messen an den Patronatsherren und seine Familie; eine Praxis, die wir bereits aus den GebetsverpflichVerfügung gestellten Mittel, 10.4.1863. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 50; Unterlagen zu vier Patronatskirchen der Grafen Nostitz-Rieneck aus den Jahren 1873 bis 1884; SOA Plzeň, Zweigstelle Žlutice: Vs Jindřichovice, kart. 24 sowie umfangreiches Material aus den Beständen der Grafen Waldstein aus den Jahren 1865 bis 1907, SOA Praha: RAV 3747, kart. 86 (Renovierungen der Kirchen in Mohelnic, Hirschberg, Kleinbösig, Bosin und Tuhan). Hinzu trat noch die freiwillige Beschenkung, wie etwa im Falle der Gräfin Maria Waldstein, der Patronatskirchen z. B. mit Paramenten. Begünstigt waren hier insgesamt neun Kirchen. Siehe dazu das Schreiben an die Waldsteinschen Patronatsämter vom 13.5.1898. Ebd.: RAV 3749, kart. 86. 149 Jedenfalls sind der Verfasserin trotz intensiven Quellenstudiums keine bekannt. 150 Bezirkshauptmannschaft Neuhaus an das Patronatsamt des Dominiums Neuhaus, 31.12.1853. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 50. 151 Die Interpretation der Ausübung von Patronatsrechten als Instrument im Aushandlungsprozess von Herrschaft schließt nicht die damit häufig ebenfalls verbundene individuelle Religiosität der adeligen Patrone (oder auch Stifterinnen und Stifter) aus. Die individuelle Frömmigkeit ist jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung, sondern das konkrete Handeln. Dieses konnte, ob nun der oder die Betreffende tief gläubig oder eher religiös indifferent war, die gleichen Formen haben; die Bewertung der individuellen Motivation entzieht sich somit weitgehend der Beurteilung im Rahmen einer historischen Analyse. Siehe jedoch zu den Mitgliedschaften von Angehörigen des böhmischen Adels im Malteser-Ritter-Orden, dem Deutschen-Ritter-Orden und dem Sternkreuzorden für Damen sowie auch in der 1901 entstandenen Antiduellliga, die deren katholische Gesinnung unterstreichen, Leisching, Kirche, S. 127f. 152 Ebd., S. 95f.

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tungen der Stiftungen kennen.153 Messen für die Mitglieder der Patronatsfamilien wurden auf jeden Fall an den Namens- und Geburtstagen des Fideikommissinhabers und seiner Frau gelesen sowie an den Sterbetagen seiner Eltern, manchmal auch für weitere Personen aus der engeren Familie.154 Auch dafür, dass diese Gottesdienste nicht ungehört von den Mitgliedern der ländlichen Gesellschaft verhallten, war gesorgt. So legten die für Böhmen gültigen Dienstboten- und Gesindeordnungen von 1857 und 1866 fest, dass der Dienstgeber für regelmäßigen Kirchgang zu sorgen hatte (diesen den Betreffenden aber auch ermöglichen musste).155 Die „Absenti[e]rung vom Gebete“ konnte einschneidende Folgen haben: In Jindřichův Hradec etwa war der Pfründler Kučera wiederholt nicht zur Andacht erschienen, worauf er zurechtgewiesen und ihm von seiner Essensration „vier Bierbolletten“ [sic!] abgezogen wurden. Statt sich jedoch zu fügen, war der Pfründler nach den Worten des Gutsverwalters der Domäne Neuhaus gegen ihn „sehr grob und roh“ geworden und dies „vor allen Pfründlern“. Ein solcher Angriff auf die Autorität wurde geahndet: Dem Pfründler wurde sein Status als „Internist“ aberkannt. Als „Externist“ hatte er keine Unterkunft mehr im Spital, wurde aber von dort versorgt.156 Ähnlich wie dies im Fall der Wohltätigkeit bereits gezeigt worden ist, ließen sich auch die Patronatsrechte nutzen, um gleichermaßen affektive Nähe und soziale Distanz zu demonstrieren. Eine gute Gelegenheit dafür boten kirchliche Feierlichkeiten157, zum Beispiel Grundsteinlegungen oder Einweihungen. Bei diesen Anlässen waren viele Adelige persönlich anwesend, so zum Beispiel Karl III. Fürst Schwarzenberg bei der Grundsteinlegung 1872 für eine neue Kirche in Zalužany.158 Auch an der 153 Siehe dazu Kapitel 4.1.3.1. 154 Siehe z. B. das Schreiben des Fürstlich Paarschen Patronatsamtes an das Pfarramt Drahles vom 15.1.1887; SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 49. Diese Praxis wurde auf jeden Fall bis ins frühe 20. Jahrhundert beibehalten, wie die Schreiben des Pfarrers Srch [sic!], Pfarramt Weißwasser, an die Waldsteinsche Zentralkanzlei vom 4.1.1914 und das der Zentraldirektion Waldstein an die Patronatsämter Münchengrätz, Hirschberg und Stiahlau vom 19.1.1914 zeigen. Beide SOA Praha: RAV 3749, kart. 86. 155 Paragraph 16 der Dienstbotenordnung von 1866 sah vor: „Der Dienstherr hat den Dienstboten zu einem sittlichen und anständigen Betragen in und außer dem Hause, sowie insbesondere zum Besuche des Gottesdienstes an Sonn- und Feiertagen und des gesetzlich vorgeschriebenen sonntägigen Wiederholungs-Unterrichts zu verhalten.“ Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Böhmen 1866, IV. Stück. Entsprechende Regelungen finden sich auch in der am 2.8.1857 erlassenen Ordnung für den Prager Kreis. Siehe dazu Stölzl, Ära, S. 34f. 156 Verwalter der Domäne Neuhaus an das Patronatsamt, 8.8.1885. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Ústav chudých, kart. 57. 157 Ausführlicher zu den Festen siehe Kapitel 4.3. 158 Bezecný, Bývalí, S. 11.

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Einsegnung einer neuen Kapelle in der Gemeinde Velká nahm er teil. Er nutzte diese Gelegenheit, um den Hof des Bauern Jan Beneš zu besuchen, der den Fürsten daraufhin um ein Bildnis bat, „aby mojí [sic] potomci tuto čest a milost, která se mému domu stala, vždy před očima na paměti měli [damit meine Nachfahren diese Ehre und Gnade, die meinem Haus erwiesen wurde, immer zur Erinnerung vor Augen haben mögen].“159 Anwesenheit, wozu auch diejenige in den Messen der Patronatskirchen gehörte160, war in vieler Hinsicht die Voraussetzung für eine starke Position der Magnaten in ihren Aushandlungsprozessen von Herrschaft mit den verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft, denn sie sorgte dafür, dass die Adeligen viele der Menschen kannten, die auf ihren Gütern arbeiteten, dort auf Unterstützung und Wohltätigkeit angewiesen waren und die Gottesdienste besuchten. Doch wie sie die Güter nicht ohne ihre Verwaltungsstäbe effizient bewirtschaften konnten, so bedurften sie auch anderer Vermittler ihres Herrschaftsanspruchs. Das folgende Kapitel wird sich daher mit den Ortsgeistlichen und ihrer intermediären Rolle in der ländlichen Gesellschaft befassen. 4.2.2 Die Rolle der Ortsgeistlichen in der ländlichen Gesellschaft Böhmens

Die katholischen Geistlichen hatten vor allem in den ländlich geprägten Gemeinden eine einflussreiche Stellung inne. Diese verdankten sie der Tatsache, dass sie dort nicht nur Seelsorger und Religionslehrer waren, sondern dass ihr kirchliches Amt auch mit öffentlichen Aufgaben verbunden war, was eine Zusammenarbeit mit den unteren Verwaltungsbehörden bedingte: Neben den Ortsschulräten waren sie in der Armenfürsorge und häufig auch im katholischen Vereinswesen tätig.161 Zusätzlich zu den formellen Positionen erfüllten die Ortsgeistlichen auch viele informelle Aufgaben, die jedoch für die örtliche Bevölkerung nicht weniger wichtig waren. So verfassten sie (oder die Lehrer) für die nicht oder wenig Schreibkundigen die Bittbriefe an die Mitglieder der jeweiligen Adelsfamilie.162 Auch hatten sie vor der Verteilung „milder Gaben“ vielfach die Bittstellerinnen und Bittsteller im Hinblick auf ihre Bedürftigkeit und Würdigkeit einzuschätzen, wie wir dies am Beispiel des De159 Zitiert nach ebd., S. 18. 160 Der Topos ist klassisch; siehe dazu etwa für die Primogenitur der Fürsten Schwarzenberg Riesenfellner, Sozialreporter, S. 97f. 161 Leisching, Kirche, S. 96. 162 Bezecný, Bývalí, S. 17. Wer nicht schreibkundig war, unterzeichnete mit drei Kreuzen, versehen mit dem Hinweis „to je [das ist] …“ Siehe z. B. die Bittschreiben mit dieser Form der Unterschrift auch noch aus den 1880er Jahren im Bestand SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 872.

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chanten von Hirschberg gesehen haben, der die entsprechenden Anfragen der Gräfin Waldstein beantwortete.163 Der auswählende Charakter dieser Beurteilungen wurde auf den Schwarzenbergschen Gütern im frühen 20. Jahrhundert noch verstärkt, als der Fürst die Patronatsämter 1906 beauftragte, sie mögen in Anbetracht des Umfangs der Bitten um Unterstützung und Almosen die Bittschreiben gleich mit einer lateinischen Notiz versehen, ob sie die betreffende Person für bedürftig und würdig erachteten.164 Bei dieser Einschätzungspraxis blieb es zum Ende der Monarchie, wie eine Anfrage des Czerninschen Witwen-und-Waisen-Pensions-Instituts vom März 1918 an das Pfarramt Ledetz zeigte, das vor der Aufnahme einer Bewerberin über deren „sittliche[s] Verhalten und die moralische Unbescholtenheit“ Auskunft geben sollte.165 Die Geistlichen hatten somit, ähnlich wie das Gutsverwaltungspersonal166, eine starke Stellung in den ländlichen Gemeinden. Diese hing von ihrem engen Verhältnis zum Gutsbesitzer und Patronatsherren ab, der ihrer Bestellung zustimmen musste167 und von dem sie auch in finanzieller Hinsicht abhingen168. Ein solches Nähe- und auch Abhängigkeitsverhältnis konnte die Geistlichen allerdings auch „zwischen die Fronten“ von ortsansässigem Adel und Lokalverwaltung führen. Von der Unterstützung von Ordensschwestern für die Krankenpflege in Jindřichův Hradec ist bereits die Rede gewesen.169 Was auf den ersten Blick primär als karitative Hilfe erscheint, 163 Dechant von Hirschberg an die Gräfin Sophie von Waldstein, 13.12.1913, sowie Em­ pfangsbestätigung über ausgezahlte Spenden zu Weihnachten 1913. SOA Praha: RAV 3680, kart. 72. Ausführlich dazu Kapitel 4.1.2. 164 Bezecný, Bývalí, S. 15f. 165 Schreiben vom 23.3.1918. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Fond: II / JH 14 – Czerninscher Witwen-und-Waisen-Pensionsfond, Spisy, kart. 6. 166 Siehe dazu Kapitel 2.2. 167 Siehe das vorausgegangene Kapitel 4.2.1. 168 Die Einkommen der Pfarrer setzten sich aus verschiedenen Positionen zusammen, wobei auch nach 1848 die Pfründen nicht selten einen großen, wenn auch je nach Pfarre unterschiedlichen Anteil ausmachten. Wo diese nicht zum standesgemäßen Leben reichten, was zumeist der Fall war, traten staatliche Zahlungen aus dem Religionsfonds, die sogenannten Congrua, hinzu. Da auch sie nur sehr selten angehoben wurden, verdiente auch nach der Congrua-Anpassung ein Lokführer im Jahre 1898 das Anderthalbfache eines Kaplans. Leisching, Kirche, S. 99–107. Angesichts dieser Situation ist es wenig erstaunlich, dass sich der neubestallte Probst von Neuhaus an den Grafen Czernin mit der Bitte wandte, er möge ihm, wie seinem Vorgänger auch, ein Bierdeputat bewilligen, da er als Anfänger viele Auslagen zu bestreiten habe. Der Graf entschied die Bitte in der Tat positiv, was dem Probst eine Zuteilung von 45 Hektolitern Bier für die Jahre 1875 und 1876 einbrachte. Siehe das Schreiben von Dr. Johann Turner, Probst von Neuhaus, an den Grafen Czernin vom 26.2.1876 und dessen positive Antwort vom 22.4.1876. Beide SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 71. 169 Siehe dazu Kapitel 4.1.3.1.

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wenn auch an die Auflage gebunden, dass es sich bei den Krankenpflegerinnen um katholische Ordensschwestern handeln müsse, erwies sich für die Stadt bei näherer Betrachtung als kostspieliges „Geschenk“, verlangte die Gräfin doch, dass die Stadt den Schwestern ein Zimmer und eine Kapelle bereitstelle und ausstatte. Der Neuhäuser Probst Jirák wusste zu berichten, dass sich dagegen namentlich im dritten Wahlkörper „Hetzer“ aussprachen, und der Stadtrat die Angelegenheit daher ruhen lasse. Nur „unter fortwährender Hinweisung“ auf den Sachverhalt habe er erreicht, dass der zuständige Ausschuss schließlich entsprechende Räumlichkeiten ins Auge gefasst habe, und er wolle „wie ein Demosthenes sprechen“, um alle Einwendungen gegen die Schwestern zu zerstreuen.170 Die Rednergabe, die für diese Form des Aushandelns nötig war, scheint ihm gegeben gewesen zu sein, auch wenn damit das Tauziehen zwischen gräflichem Haus und der Stadt Jindřichův Hradec längst nicht beendet war. Konflikte zwischen den Geistlichen und ihren Patronatsherren waren jedoch überaus selten. Einer der ganz wenigen Fälle, wo die missliebige Predigt eines Kaplans, der sich auf „Krankenurlaub“ in einem Waldsteinschen Gutsdorf befand, Anstoß erregte, führte überaus schnell nicht nur zur Einschaltung des Patronatsamtes, sondern auch des Bischofs und zu dessen Schreiben an den gräflichen Patron.171 Etwaiger Stimmungsmache von der Kanzel herab, wofür oder wogegen auch immer, waren somit äußerst enge Grenzen gesetzt. Dies galt auch für nationalistische Äußerungen. Anders als in Slowenien oder in der Slowakei, wo katholische Geistliche nicht selten das Rückgrat der Nationalbewegungen bildeten172, sind zumindest in den böhmischen Patronatsakten nationalpolitische Bestrebungen der Pfarrer und ihrer Kapläne kein Thema.173 Denn: Wollte der böhmische Adel seine Herrschaftsinteressen auch 170 Schreiben von Dr. Alois Jirák, Probst von Neuhaus, an die Gräfin Czernin vom 7.10.1904. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 71. 171 Schreiben des Bischofs von Leitmeritz an Ernst Franz Graf Waldstein, 5.6.1863. SOA Praha: RAV 3749, kart. 86. Leider ist nicht überliefert, was der Inhalt der „inkriminierten“ Predigt war. 172 Zu Slowenien siehe Judson, Guardians, S. 114–119, zur Slowakei Daniela Kodajová: Slovenské národné hnutie a náboženská otázka na prelome 19. a 20. storočia; in: Slovensko na začiatku 20. storočia [Die slowakische Nationalbewegung und die Religionsfrage an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert; in: Die Slowakei am Anfang des 20. Jahrhunderts], hrsg. v. Milan Podrimavský und Dušan Kováč, Bratislava 1999, S. 205–215. 173 Hätten die Geistlichen der Patronatskirchen durch nationalistische Äußerungen auf sich aufmerksam gemacht, was dem Adel nicht verborgen bleiben konnte, so hätten sich darüber Unterlagen in den Patronatsakten bzw. in der Überlieferung der Gutsverwaltungen finden lassen müssen. Dies ist jedoch bis auf sehr wenige Ausnahmen nicht der Fall. Eine solche Ausnahme betrifft den Probst von Jindřichův Hradec, Josef Zátka. Die deutschsprachige Todesanzeige vom 20.5.1873 weist ihn als wirklichen bischöflichen Konsistorialrat, Vikar, Schuldistriktsaufseher sowie bischöflichen Ordinariatsaufseher am k. k. Gymnasium Neuhaus aus. Im tschechischsprachigen Nachruf im Ohlas od Nežárky vom

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weiterhin in einer nicht selten gemischtsprachigen Bevölkerung erfolgreich aushandeln, so konnte ihm nicht an einer Nationalisierung dieser Bevölkerung gelegen sein. Nationalpolitisch aktive Geistliche hätten jedoch ihre intermediäre Rolle als Vermittler adeliger Herrschaftsinteressen bei der Erfüllung ihrer vielfältigen formellen wie informellen Aufgaben nicht wahrnehmen können. 4.2.3 The landed establishment at prayer

„As such, the Church of England war truly the landed establishment at prayer: rural, propertied, privileged, and suffused by a tone of aristocratic social authority.”174 Bindeglied dieser engen Beziehung zwischen anglikanischer Hochkirche und großgrundbesitzendem Adel waren auch in England neben der individuellen Frömmigkeit die kirchlichen Patronate, die advowsons, mit denen – wie in Böhmen – das Präsentationsrecht für die Besetzung von Pfarrstellen einherging. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts war es zu einer stetigen Zunahme von Pfründen im Besitz der Aristokratie gekommen175, so dass in den späten 1870er Jahren das Präsentationsrecht für etwa die Hälfte der 130.000 livings beim Großgrundbesitz lag. Allein der Duke of Devonshire 24.5.1873 wird dessen Wirken für Kirche, Schule und Gesellschaft in höchsten Tönen gelobt und darauf hingewiesen, dass er sich schon seit früher Jugend für die tschechische Sprache und die Geschichte seiner Heimat interessiert habe, was ihn später zur Mitgliedschaft in der Matice česká führte. Beide Dokumente SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 71. Bei dieser Begebenheit ist nicht nur festzuhalten, dass ein Probst, auch wenn er einem Patronatsherren unterstand, doch eine andere Stellung erreicht hatte, als ein einfacher Dorfgeistlicher, sondern auch, dass es sich bei Josef Zátka um den einzigen Geistlichen handelt, der aufgrund seiner nationalpolitischen Aktivitäten in den Czerninschen Akten „auffällig“ wurde. Zu den Konsequenzen von Zátkas Engagement mag gehören, dass sein Nachfolger Vrzák erst Anfang 1874, also nach mehr als einem halben Jahr, als neuer Probst in Neuhaus begrüßt wurde. Der Ohlas od Nežárky berichtet unter dem 31.1.1874 von ihm vor allem, dass er schon in fortgeschrittenem Alter sei. Sein Nachfolger war dann der schon erwähnte Dr. Turner, der um das Bierdeputat nachsuchte, dessen Nachfolger wiederum Dr. Jirák, der die Sache der Ordensschwestern in der Krankenpflege vor dem Neuhäuser Stadtrat wortgewaltig vertrat; keiner von ihnen also ein prononcierter Vertreter der Interessen der tschechischen Nationalbewegung. Inwieweit jene Geistlichen, die nicht einem adeligen Patron unterstanden, nationalpolitische Ziele unterstützten, ist im Einzelnen noch Desiderat. Bekannt ist etwa, dass der Bischof von Budweis, Jan Valerian Jirsík, für einen tschechischen demokratischen Katholizismus eintrat. Leisching, Kirche, S. 233. Siehe grundsätzlich zu diesem Komplex auch Barbara Schmid-Egger: Klerus und Politik in Böhmen um 1900, München 1974. 174 Cannadine, Decline, S. 255. Zur Church of England und der englischen Gesellschaft insgesamt siehe E. R. Norman: Church and Society in England, 1770–1970, Oxford 1976. 175 Beckett, Aristocracy, S. 352.

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übte die entsprechenden Rechte für 38 Gemeinden aus.176 In vielen Fällen wurden auf diese Weise die jüngeren Söhne des Familienoberhaupts oder auch entferntere männliche Verwandte versorgt177, so dass ein Aufstieg vom Ortsgeistlichen zum Bischof durchaus möglich war, wenn es sich dabei um Lord William Cecil, einen jüngeren Sohn von Lord Salisbury handelte178. Entsprechend eng waren Kirchenhierarchie und hoher Adel bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts, jedenfalls bis zum Einbruch der Agrarkonjunktur179, miteinander verbunden.180 Während das mit den Kirchenpatronaten verbundene Präsentationsrecht also englischen und böhmischen Adeligen ähnlich weitgehende Möglichkeiten bei der Auswahl von Geistlichen für die Kirchen ihrer Besitzungen bot, unterschied sich jedoch der Zuschnitt der Patronatsrechte durchaus. Nicht zufällig übersetzt der Cassell’s von 1937 advowson nicht nur mit „kirchlichem Patronat“, sondern an erster Stelle mit „Pfründenbesetzungsrecht“.181 Eine rechtlich bindende Verpflichtung zur Leistung von subsidiären Zahlungen für die Gotteshäuser wie in Böhmen182 war damit nicht verbunden. Zwar stellten viele landlords Baugrund für Kirchen zur Verfügung, übernahmen Reparaturkosten183 und nutzten Grundsteinlegungen oder Einweihungen, um Nähe zur Bevölkerung zu demonstrieren184, doch zeigen die konkreten Beispiele, dass die Geistlichen oft genug auch eigene Mittel für Instandsetzungsmaßnahmen beisteuerten185. An anderer Stelle wiederum wurden Zusagen 176 Cannadine, Decline, S. 255. 177 Beckett, Aristocracy, S. 352. 178 Cannadine, Decline, S. 257f. Siehe dazu auch Michael Bentley: Lord Salisbury’s World. Conservative Environments in Late-Victorian Britain, Cambridge 2001, S. 16. 179 Zur vom Einbruch der Agrarkonjunktur ausgelösten Finanzkrise der Church of England siehe Cannadine, Decline, S. 260 und Alan D. Gilbert: The Land and the Church; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 1, London/New York 1981, S. 43–57, S. 51f. 180 Neben Cannadine, Decline, S. 257f., auch Mingay, Social History, S. 126 und Gilbert, Land, S. 47f. und S. 50. 181 Cassell’s German and English Dictionary, London 1937, S. 8. 182 Zu Böhmen siehe Kapitel 4.2.1. 183 Beckett, Aristocracy, S. 352f. 184 So übernahmen etwa Lord und Lady Vane, der spätere Marquess of Londonderry und seine Frau, die Grundsteinlegung der neuen Kirche in Silworth am 31.8.1870. Entsprechendes Schreiben vom 2.8.1870, CROD: D/Lo/C 626. Zwischen der Marchioness Frances Anne und einem ihrer Geistlichen kam es 1860 zum Eklat, weil dieser mit dem zuständigen Bischof einen Termin für die Einweihung eines von ihr finanzierten Kirchenneubaus ausgewählt hatte, an dem sie nicht anwesend sein konnte. Anders als es Rev. Scott übermittelt worden war, wollte die Patronin allerdings sehr wohl an der Einweihung teilnehmen. Siehe das Schreiben vom 27.9.1860. CROD: D/Lo/C 201. 185 Siehe hier zum Beispiel die recht umfangreichen Maßnahmen der Marchioness of Londonderry in den 1850er und 1860er Jahren. Aus dem Briefwechsel zwischen ihr und

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nur teilweise eingehalten186 oder Grundstücke, zum Beispiel für die Erweiterung von Friedhöfen, nicht einfach übertragen, sondern an die Kirche verkauft187. Die Initiative zu den verschiedenen Maßnahmen ging jedenfalls vor allem von den Geistlichen aus, wobei auffällig ist, dass diese sich in ihren Bitten nicht auf eine gewohnheitsmäßige Unterstützung beriefen. Und: Mögen sie auch immer wieder Gehör gefunden haben, so ist sich die Forschung doch einig, dass der Zustand vieler Gotteshäuser beklagenswert war, was zum Ansehensverlust der Church of England im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts beitrug.188 Wie auch immer der bauliche Zustand der Kirchen im Einzelnen gewesen sein mag: Die Patronatsrechte ermöglichten dem englischen Adel die Auswahl von Klerikern, die seine Auffassung von der Richtigkeit sozialer Hierarchien teilten und in den Gottesdiensten kommunizierten. Dies taten sie in den geschlossenen Gutsdörfern vor relativ gefüllten Reihen189 und nicht selten auch zu jenen Zeiten, die die adeligen

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Rev. Fox geht aber auch hervor, dass Fox geplante Maßnahmen wiederholt auch mit eigenen Mitteln unterstützte. Briefwechsel zwischen Frances Anne und dem Reverend vom 3.11.1856 bis zum 29.10.1862. Auf eigene Zahlungen wies Fox z. B. in seinen Briefen vom 18.2.1857 und vom 5.6.1858 hin. CROD: D/Lo/C 194. Hintergrund des Kirchenneubaus war die Ausgründung einer neuen Gemeinde, die durch das große Bevölkerungswachstum, vor allem durch Bergarbeiter, notwendig wurde. Lady Frances Anne ließ sich bestätigen, dass sie die Patronatsrechte auch über die neue, von ihr finanzierte Kirche innehatte. Siehe das entsprechende Agreement aus dem Jahre 1860. Ebd.: D/ Lo/E 660. Zur Finanzierung der laufenden Unterhaltskosten des Geistlichen siehe ebd.: D/Lo/E 873. Der 19. Earl of Shrewsbury finanzierte z. B. die Renovierungsarbeiten an der Kirche St. Chad im Jahre 1875; das dem Vikar William Beresford versprochene Wohnhaus wurde jedoch nicht gebaut. Greenslade und Johnson, History, Bd. 6, S. 246. Siehe z. B. den Eintrag im Ingestre estate diary vom 18.2.1873. CROSt: D 240/E/C/4/2. Eine Spende in Höhe von fünf Pfund für die neue Orgel der Gemeinde von Kingston stellte dagegen kein Problem dar. Eintrag vom 2.6.1874. Ebd.: D 240/E/C/4/3. Beckett, Aristocracy, S.  370, auch Mingay, Social History, S.  129 und Gilbert, Land, S. 56. Howkins, Reshaping, S. 26. Allerdings kümmerten sich seit den 1860er Jahren die Arbeitgeber auf den hiring fairs in den Yorkshire Wolds nicht mehr darum, ob ihre Landarbeiter auch bereit waren, an den sonntäglichen Gottesdiensten teilzunehmen; ähnliche Entwicklungen sind für die 1870er Jahre für Lidsey in Lincolnshire zu beobachten. Digby, Institutions, S. 1472. Zu den hiring fairs siehe auch Gary Moses: Reshaping Rural Culture? The Church of England and Hiring Fairs in the East Riding of Yorkshire c. 1850–1880; in: Rural History 13/2002, S. 61–84. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es sich bei beiden Grafschaften nicht mehr um lowland-Gebiete handelte, in denen die Church of England stark war. In großen Teilen Yorkshires hatte der Zensussonntag nur etwa 25 % der attendances für die Church of England erbracht. Howkins, Reshaping, S. 184.

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Patrone dafür festsetzten190, in Kirchen überdies, deren System der bevorrechtigten Kirchenbänke191 auch symbolisch adelige Herrschaft in der bestehenden sozialen Ordnung repräsentierte. Entsprechend hielt der Earl of Derby in seinem Tagebuch fest: „Church early to show myself to the people.“192 Hält man sich diesen Befund vor Augen, so mag es scheinen, als sei die englische Aristokratie in ihren Aushandlungsmöglichkeiten von Herrschaft im Vergleich zur böhmischen insofern in einer günstigeren Position gewesen, als sie zwar über ähnlich weitgehende Rechte verfügte, diese jedoch weniger Pflichten und damit geringere Kosten nach sich zogen. Ein umfassendes Bild erhält man jedoch nur, wenn die Rolle des Nonkonformismus einbezogen wird.193 Der Zensussonntag des Jahres 1851 brachte für die anglikanische Hochkirche zwei unschöne Tatsachen ans Licht: Während etwa die Hälfte der Bevölkerung überhaupt keinen Gottesdienst besuchte, entfielen nur gut 40 Prozent der Kirchgänger auf die Church of England194, aus der bis 1918 „a religious denomination rather than a broad church“195 wurde. Eine vergleichbare Herausforderung erwuchs der katholischen Kirche in Böhmen vor dem Ersten Weltkrieg nicht. Nimmt man etwa die Diözese Budweis, eine von vier in Böhmen, als Beispiel, so hatte sie hier einen Anteil von über 90 Prozent in der Bevölkerung; in jedem der 34 Vikariate lebten im Übrigen mehr Juden als Pro­testanten, wobei auch erstere selten mehr als zwei oder drei Prozent der Bevölkerung ausmachten.196 190 Rev. Iliff hatte seine Mühe, Lady Frances Anne davon zu überzeugen, den Gottesdienst so früh wie möglich abzuhalten, da dies seiner Ansicht nach die Zahl der Besucher durchaus erhöhen würde, denn die Kirche von New Seaham werde vor allem von Bergarbeitern und ihren Familien besucht, bei denen es üblich sei, das Mittagessen um 12 Uhr einzunehmen, und die an dieser Gewohnheit auch am Sonntag festhielten. Die von der Kirchenpatronin Lady Frances Anne festgesetzte Zeit nach zehn Uhr, die ihr selbst besser passte, stand diesen Gewohnheiten entgegen. Schreiben Iliff an Frances Anne, 23.3.1857. CROD: D/Lo/C 196. Am 28.5.1857 berichtete der Geistliche „fair numbers“ für den sonntäglichen Gottesdienstbesuch und vom „good feeling among the people“. Ebd. 191 Siehe dazu z. B. die Auseinandersetzung über die mögliche Abschaffung der pew rents 1873 in Seaham, das zum Besitz der Marquesses of Londonderry gehörte. Dagegen verwahrten sich vor allem die seat holders. CROD: D/Lo/E 663. 192 Eintrag vom 9.6.1878. Vincent, Diaries, S. 21. Nicht anders verhielt sich auch der Marquess of Salisbury. Siehe dazu Bentley, Lord, S. 16. 193 Zum ländlichen Nonkonformismus siehe Howkins, Reshaping, S. 179–185, Alan Everitt: The Pattern of Rural Dissent. The 19th Century, Leicester 1972, S. 18–23, S. 27f., S. 32f. und S. 42ff., Dunbabin, Discontent, S. 252f. sowie Digby, Institutions, S. 1481–1486. 194 Gilbert, Land, S. 44 und Beckett, Aristocracy, S. 370. 195 Digby, Institutions, S. 1480. 196 Willibald Ladenbauer: Das Sociale Wirken der katholischen Kirche in der Diöcese Budweis, Wien 1899, S. 35–50.

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Die Hochburgen der Church of England befanden sich vor allem in den südlichen und östlichen lowlands mit eher kleinen, überschaubaren Gemeinden, die sich in der Hand nur eines adeligen Bodenbesitzers befanden.197 Hier verhinderten die landlords die Ansiedlung von Nonkonformisten, vor allem von Methodisten, die die größte Gruppe des dissent stellten, und lehnten sie auch als Pächter ab.198Als sich Methodisten in den 1860er Jahren zum Beispiel in Hatfield, gelegen in der Grafschaft Herefordshire, niederlassen wollten, wusste dies der Marquess of Salisbury zu verhindern. Zwei Zeitgenossen erinnerten sich: Die Methodisten „were anxious to buy a piece of ground for a chapel, but word went round from Hatfield House and the High Church party, that no ground was to be sold to Methodists. That [Hervorhebung i. O.] class of people were not wanted in aristocratic Hatfield.“199 Bedenkt man, dass Nonkonformisten zumeist liberalen Kandidaten ihre Stimme gaben, der Marquess aber einer der führenden Konservativen im Lande war, erstaunt dies Vorgehen auch in politischer Hinsicht wenig.200 Ein solches Vorgehen funktionierte jedoch nur in den geschlossenen Dörfern, wo die adeligen Gutsbesitzer neben der Stärkung des politischen Gegners durch den dissent auch die von ihm häufig getragenen Landarbeitergewerkschaften verhindern wollten.201 Doch selbst in den Gutsdörfern, bzw. in ihrem direkten Umfeld, kam es zu Auseinandersetzungen, die manchmal eine Intensität annahmen, dass darüber sogar die örtliche Presse berichtete. So verlautbarte der Bedfordshire Mercury im April 1874: „Earl Russell on the legal position of dissenters“. Hintergrund war, dass Reverend C. T. Proctor auf dem Friedhof von Richmond – das Gelände hatte der Earl der Gemeinde zur Verfügung gestellt – eine Mauer zwischen den Gräbern von Anglikanern und Nonkonformisten hatte errichten lassen, die früher nur ein Fuß197 Gilbert, Land, S. 44. Einer neueren Untersuchung zufolge war vor allem die Entfernung zum nächsten Gotteshaus entscheidend für den Kirchenbesuch in ländlichen Gegenden. So stellt Crockett die mit statistischen Mitteln belegte These auf, dass der Kapellenbau der Nonkonformisten in jenen Regionen, in denen die nächste Gemeindekirche mehr als eine Meile entfernt war, ihnen den Zulauf bei den attendances brachte, der sich im Zensus von 1851 niederschlug. Alasdair Crockett: Rural-Urban Churchgoing in Victorian Britain; in: Rural History 16/2005, S. 53–82, vor allem S. 61 und S. 64. 198 Mingay, Social History, S. 127. Gilbert verweist auf Beispiele, allerdings aus Wales, wo der Nonkonformismus wesentlich stärker war, die zeigen, dass adelige landlords Pächter vor die Wahl stellten, entweder mit ihrer Familie zum sonntäglichen Kirchenbesuch zu erscheinen oder die Kündigung des Pachtvertrags zu gewärtigen. Gilbert, Land, S. 49. 199 Zitiert nach Howkins, Reshaping, S. 28. 200 Siehe zum Zusammengehen von Nonkonformismus mit den Liberalen sowie der Anglikaner mit den Konservativen Richard D. Floyd: Religious Dissent and Political Modernization. Church, Chapel and Party in Nineteenth Century England, New York 2007 sowie Dick Leonard: A Century of Premiers – Salisbury to Blair, Basingstoke 2005, S. 8f. 201 Siehe dazu das Kapitel 3.1.3.

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weg trennte. Dieser war jedoch in den Augen von Earl Russel „a very reasonable and proper arrangement“ gewesen. Da der Earl nicht an dem vestry meeting teilnehmen konnte, das sich mit der durch den Mauerbau geschaffenen Situation befasste, hatte er dessen Mitgliedern seine Position in einem Brief dargelegt, darin die bisherige Trennung durch den Fußweg gelobt, den vicar an den Rechtsstatus des dissent erinnert und damit an dessen Rechte auf einen Teil des Friedhofsgeländes. Er verlieh ferner seiner Überzeugung Ausdruck, dass der Geistliche gewiss die Mauer wieder niederreißen lassen werde, oder aber der Bischof ihn darauf aufmerksam machen möge, dass sie nicht zu „peace and goodwill“ auf der Erde beitrage.202 Gestärkt durch diesen Brief verfasste das vestry meeting eine Resolution, die die Mauer als „extremely objectionable and inconvenient“ bezeichnete. Noch bevor die Sitzung beendet war, erreichte ihre Teilnehmer die Nachricht, dass Unbekannte sie niedergerissen hätten. Reverend Proctor setzte daraufhin eine Belohnung von 20 Pfund für Hinweise aus, die zur Ergreifung der Täter führten, die „evil and maliciously disposed“ das Recht in die eigenen Hände genommen hätten.203 So versuchte er, wenn schon nicht die Mauer zu retten, so doch wenigstens sein Gesicht zu wahren. Ob ihm das gelang, mag man bezweifeln, denn nicht nur hatte ihn sein Patronatsherr zur Ordnung gerufen – und dies war durch den Zeitungsbeitrag vor den Augen der lesenden Grafschaftsöffentlichkeit passiert –, sondern mit dem Aussetzen einer Belohnung, deren Höhe weit über den monatlichen Einkünften eines Landarbeiters lag204, hatte er ferner in Zeiten, in denen die Kirche von England wegen ihres Schweigens in den Fragen der lebenslangen Aussperrung von Gewerkschaftsmitgliedern und der sozialen Situation der Landarbeiter insgesamt vielfach kritisiert wurde205, mangelndes Fingerspitzengefühl bewiesen. Die geschilderte Episode war kein Einzelfall. Gerade in jenen Gegenden, in denen sich auch adelige Bergwerke in der Nähe von Gutsdörfern befanden, waren Auseinandersetzungen zwischen anglikanischen Geistlichen und dem dissent häufig. Dies zeigt 202 Bedfordshire Mercury vom 11.4.1874. Die Zeitung druckte den Brief von Earl Russel im Wortlaut ab; auch alle weiteren Zitate aus dem vestry meeting stammen daraus. 203 Ebd. 204 Noch 1902 lagen die Wochenlöhne, Naturalien eingerechnet, von Landarbeitern in der Grafschaft Bedfordshire bei durchschnittlich 16 s. 6 d. Dunbabin, Discontent, S. 239. 205 Siehe die kirchenkritische Berichterstattung und vor allem die entsprechenden Leserbriefe im Bedfordshire Mercury aus dem zeitlichen Umfeld der „Maueraffäre“ wegen der Nichtbeachtung des Schicksals der Landarbeiter vom 28.3.1874 („Why are they laggards instead of coming out bravely to the front in these troublous times of lock-out?“), vom 11.4.1874 („Sleeping sentinels“) und vom 9.5.1874 (hier wird der Bischof von Manchester für sein Eintreten für die von Aussperrungen bedrohten Landarbeiter gelobt). Allgemein Digby, Institutions, S. 1470f. Zu dem Geistlichen Girdlestone, der als einer der wenigen Anglikaner schon früh die Landarbeitergewerkschaften unterstützte, Gilbert, Land, S. 54.

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auch ein Beispiel von den Besitzungen der Marquesses of Londonderry im Norden Englands. Hier versuchte Reverend Scott Earl Vane vom Bau einer chapel abzuhalten, zu der der Earl bereits seine schriftliche Zustimmung gegeben hatte. Der Verwalter Eminson erinnerte seine Lordschaft an die gegebene Zusage und argumentierte: „At every other pit similar concessions are granted and not only so but chapels are usually built for them. How can we be singular in the matter? Your Lordship already grants them a site at Seaham Harbour, why should you refuse one at the Colliery? Our seniors did not forbid others preaching in another name. Let Mr. Scott be more tolerant and then he will fill his church + the dissenters will then really ,lose ground‘ [doppelt unterstrichen i. O.].“206 Anders als dies in Böhmen der Fall war, standen anglikanische Geistliche viel stärker im Mittelpunkt von Konflikten. Gerade in den Gemeinden, in denen auch ein nonkonformistischer minister anwesend war, gab es Auseinandersetzungen um die church tithes, die Verwaltung und Verteilung der charities sowie um die Dorfschulen, in denen der dissent vor allem eine Brutstätte für neue Anhänger der Hochkirche sah.207 Die Amtsträger der Church of England wiederum versuchten, der Ausbreitung des dissent dadurch entgegenzuwirken, dass sie den landlords mitteilten, welche ihrer Landarbeiter zum Nonkonformismus neigten, und deren Entlassung forderten.208 Waren die Konflikte in jenen Gemeinden, in denen auch Nonkonformisten heimisch waren, schon kaum zu übersehen, so sahen sich anglikanische Geistliche auch dort in Auseinandersetzungen verstrickt, wo sie nicht mit der Existenz einer chapel konfrontiert waren. Zwischen die Fronten der ländlichen Gesellschaft führte die Kleriker nicht selten ihr Amt als Friedensrichter209, was zur Folge hatte, dass die dörflichen Gruppen sie zusätzlich mit der herrschenden Klasse identifizierten. Im Rahmen der etablierten ländlichen Sozialordnung waren sie es jedoch am ehesten, die den Finger in die Wunden „Schulen“ und „cottages“ legten.210 Dies wiederum trug ihnen den Ärger der Pächter ein. 206 Schreiben Eminson an Earl Vane, 21.9.1871. CROD: D/Lo/C 587. 207 Mingay, Social History, S. 128f., siehe auch Gilbert, Land, S. 55f. (zur Benachteiligung der dissenters bei der Verteilung milder Gaben). 208 Howkins, Reshaping, S. 183. 209 Cannadine, Decline, S. 261, siehe auch Digby, Institutions, S. 1478f. und Mingay, Social History, S. 126. 210 Zu den Farmern als der Gruppe, die cum grano salis gesprochen, gegen Schulbildung für Landarbeiterkinder war, siehe Kapitel 4.1.3.2 und den Geistlichen, denen dies zumeist sehr bewusst war, Howkins, Reshaping, S. 178f. und Mingay, Social History, S. 129. Diese Tatsache spiegelte sich auch in dem Brief des Dukes of Bedford wider, in dem es heißt, dass in der Maulden Schulstiftung auf jeden Fall jemand sein solle, der in Verbindung mit ihm stehe, „[to] have information from time to time as to the manner in which the Trust is conducted and to be a check upon the farmers and inhabitants who might outvote the Rector if he wished to improve the management at any time.“ Schreiben nicht genauer

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Damit nicht genug: Auch Konflikte mit den Patronatsherren finden sich in englischen Quellen häufiger als in böhmischen. Als zum Beispiel Reverend Scott es wagte, Lady Frances Anne mitzuteilen, sie sei „sometimes not quite as considerate as might be expected of the feelings of us poor clergymen and of what is due to our office“211, bekam er zur Antwort, „your letter of the 5th is not a proper one to write to me“212. Hintergrund war eine Unstimmigkeit hinsichtlich der Teilnahme der Marchioness an der Einweihung einer neuen Kirche, zu der sie sich nach ursprünglich anders lautender Absicht entschloss. Dem Reverend jedenfalls blieb sein „Canossa“ nicht erspart: „I have great course for gratitude to your Ladyship and very many + powerful motives for avoiding all that would give you pain, and if there is one occasion on which I would think with even more than ordinary pain from everything that would offend you, that occasion is the consecration of the church which you have so mercifully built, and of which, by your Ladyship’s presentation I am the unworthy minister.“213 Blieb diese Auseinandersetzung wenigstens noch verhältnismäßig „privat“ (in dem Sinne, dass vor allem das Umfeld davon erfuhr), so war der Richmonder Amtskollege von Reverend Scott vor den Augen der lesenden Grafschaftsöffentlichkeit214 durch seinen Patronatsherren in die Schranken verwiesen worden. Auf den Seiten der örtlichen Zeitung nahm auch ein Zusammenstoß zwischen dem 20. Earl of Shrewsbury und immerhin acht Geistlichen seinen Anfang. Letztere hatten ihn aus Anlass seiner Volljährigkeit – und damit der Nachfolge seines früh verstorbenen Vaters im strict family settlement – im Staffordshire Advertiser kritisiert; Hintergrund war die

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datiert als Dezember 1847. BaLARS: R4/791. Zur Situation bei den Unterkünften siehe Kapitel 3.1.1. Auch hier waren es häufig die Geistlichen, denen die Misere bekannt war, die jedoch dagegen, außer durch die Unterstützung von penny clubs, kaum etwas tun konnten. Zu diesen Versuchen der Kleriker, die schlimmsten Missstände wenigstens zu lindern, siehe Digby, Institutions, S. 1469f. Siehe auch das Beispiel des Dorfes Keele in Mittelengland, wo es ebenfalls der Ortsgeistliche war, der sich dem Einfluss des landlords noch am ehesten widersetzte. Tony Phillips: The Landlord and the Village of Keele; in: The History of Keele, hrsg. v. Christopher Harrison, Keele 1986. Grundsätzlich zum Verhältnis von anglikanischen Geistlichen und den ländlichen Armen auch Robert Lee: Rural Society and the Anglican Clergy, 1815–1914. Encountering and Managing the Poor, Woolbridge 2006. Schreiben Scott an Frances Anne, 5.9.1860. CROD: D/Lo/C 201. Undatiertes Schreiben von Frances Anne an Rev. Scott, in dem sie auf dessen Brief vom 5.9.1860 Bezug nahm. Ebd. Rev. Scott an Frances Anne, 27.9.1860. Ebd. Ganz geschluckt hatte er die „Kröte“ immer noch nicht, denn er fuhr fort: „Therefore (although I still feel that I ought to have been informed of your application for the postponement of the consecration, and I am sure your Ladyship will pardon me for saying so) I readily and sincerely regret and retract anything in my mode of expressing my feelings which has given your Ladyship pain.“ Siehe dazu die Ausführungen weiter oben in diesem Kapitel im Zusammenhang mit dem Bau einer Mauer zwischen den verschiedenen Bereichen des Richmonder Friedhofs.

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Tatsache, dass der Earl beabsichtigte, eine geschiedene Frau zu heiraten. Der Graf kündigte daraufhin den Betreffenden seine Unterstützungszahlungen, die er bisher deren Gemeinden, Schulen, reading-room- und clothing-club-Projekten hatte zukommen lassen.215 Offenbar hatte seine Lordschaft recht impulsiv reagiert, denn nach diesem ersten Paukenschlag, auf den manche der Geistlichen mit dem Hinweis reagierten, dass vor allem die Gemeindemitglieder unter den ausbleibenden Zahlungen zu leiden hätten, ließ er seinen Verwalter Mynors wissen: „Make it generally known, that if the parishoners say they have nothing to do with the newspaper thing + they have no unkindly feelings towards us I will then be ready to go into the question on my return to England.“216 Im gleichen Brief an Mynors klagt er auch über den Zuständigen beim Staffordshire Advertiser, Mr. Mord, der sich geweigert habe, einen Brief von Mr. Coxon, der auf seiner Seite stehe (und sein Großpächter war) abzudrucken.217 Noch drei Tage später war die Wut weiter verraucht. Nun schrieb er: „I don’t want to fall out with tenants + the poor folk over the job.“218 Auseinandersetzungen mit Geistlichen waren ganz offensichtlich eine Sache. Wenn diese jedoch dazu führten, dass ganze Gemeinden betroffen waren, dann gefährdete dies die adeligen Chancen, Herrschaft erfolgreich auszuhandeln, so dass ein neues Nachdenken über angemessenes Handeln notwendig wurde. 4.2.4 Kirchenpatronate und Konflikthaftigkeiten

Kirchen- und Pfarrpatronate sind in den vorangegangenen Ausführungen als eines der Instrumente des großgrundbesitzenden Adels vorgestellt worden, derer sich die böhmischen und englischen Magnaten bedienten, um Herrschaft auszuhandeln: Über das Präsentationsrecht lag die Auswahl der Geistlichen faktisch bei ihnen.219 In Böhmen waren die Patronate außerdem mit der Verpflichtung verbunden, subsidiäre Zahlungen für die Kirchen zu leisten. Diese staatliche Regelung mochte dem Adel bei ihrer Einführung nicht gefallen haben. Sie erwies sich aber für ihn insofern als vorteilhaft, als dass dadurch ein mögliches Konfliktfeld verregelt wurde. Je weniger

215 Mehrere Schreiben, 21.–27.12.1881. CROSt: D 240/J/10/2/1. 216 Brief vom 30.12.1881. Ebd. 217 Ebd. 218 Schreiben vom 2.1.1882. Ebd. 219 Zu Patronatsrechten im Kontext der Aushandlung von Herrschaft im 20. Jahrhundert siehe Conze, Adel, S. 109–128. Zwischen dem von Conze beschriebenen protestantischen Umfeld und dem hier untersuchten katholischen oder anglikanischen gab es dabei keine wesentlichen Unterschiede.

Pfarr- und Kirchenpatronat

247

Konflikte es jedoch in einem Bereich gab, umso größer waren hier für den Adel seine Chancen auf Erfolg im Aushandeln von Herrschaft. Dies zeigt der vergleichende Blick auf England eindrücklich. Ließen sich ökonomische Konflikte auf den Gütern vorwiegend durch Migration lösen220, so war dies bei jenen in den Kirchengemeinden nicht der Fall. Die betroffenen Menschen blieben häufiger am Ort, so dass sich Konflikttraditionen etablierten, die durch Erfahrungen immer wieder aktualisiert werden konnten und wurden. Auf der Ebene der Kirchengemeinden bildeten sich solche Traditionen vor allem zwischen Anglikanern und Nonkonformisten aus. Die Konflikte waren hier, wie die vorausgegangenen Ausführungen gezeigt haben, vielfältig und zumeist endemisch. Um sie zu verhindern, unterbanden adelige Grundbesitzer fast immer die Gründung von nonkonformistischen chapels auf ihren Gütern. So von Konkurrenz befreit, habe – so konstatiert John Beckett – die englische Aristokratie es versäumt, „to build enough churches and to make the Anglican establishment appear relevant“221. Anders als die böhmischen Adeligen vergaben deren englische Standeskollegen damit die Gelegenheit, ihre eigene Position und die ihrer Geistlichen, die eine intermediäre Rolle in der ländlichen Gesellschaft spielen sollten, zu stärken. Dieser Unterstützung hätten die anglikanischen Würdenträger umso stärker bedurft, als sie auch in jenen parishes, in denen es keine Nonkonformisten gab, in Auseinandersetzungen mit Landarbeitern, Pächtern und sogar mit ihren adeligen Patronatsherren verstrickt waren. Unter den verschiedenen Konflikten war jener um die unions222 für den Adel am gefährlichsten, weil sie als auf Klassenbildung basierendes Ordnungsmodell die ihrem eigenen Anspruch nach über den Klassen stehende adelige Herrschaft über Land und Leute grundsätzlich in Frage stellten. Der Zusammenhang aus Nonkonformismus und Gewerkschaftsbildung verweist auf die Bedeutung der Religion bei der Herausbildung der Klassengesellschaft in England223, und der Zensussonntag von 1851 hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass der dissent auch in den ländlichen Regionen Englands eine Realität war. Mit diesem Konfliktherd war also weiterhin zu rechnen. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten: Je höher die Konflikthaftigkeit, desto schlechter die adeligen Chancen, Herrschaft erfolgreich auszuhandeln und zu stabilisieren.

220 221 222 223

Siehe dazu Kapitel 2.2. Beckett, Aristocracy, S. 370. Siehe dazu Kapitel 3.1.3. Ebd. In einen zeitlich weiteren Zusammenhang gestellt, finden sich diese Überlegungen auch bei David Hempton: Religion and Political Culture in Britain and Ireland. From the Glorious Revolution to the Decline of Empire, Cambridge 1996.

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Dies zeigt noch einmal der vergleichende Blick nach Böhmen. Hier war der Adel weniger durch ländliche Klassenbildungs-224 als durch Nationalisierungsprozesse in seinem Herrschaftsanspruch über Land und Leute bedroht. Um diesen zu untermauern, verwies er auf seine Nützlichkeit für die ländliche Gesellschaft in Form von Wohltätigkeit, Sozialleistungen225 sowie den Bau von Kirchen und deren Instandhaltung. In der ganz überwiegend katholisch geprägten Agrargesellschaft Böhmens konnten die Ortsgeistlichen mit ihrer engen Bindung an den Patronatsherren und seine Familie diese Nützlichkeit im Rahmen eines religiös fundierten sozialen Ordnungsmodells durch Wort und Tat propagieren und somit eine wichtige intermediäre Rolle spielen. Infragegestellt wurden sie dabei, anders als ihre anglikanischen Amtsbrüder nicht, vor allem nicht durch nationalpolitische226 Auseinandersetzungen.

4.3 Feste 4.3.1 Die Repräsentation sozialer Ordnungen im Fest

Soziale Ordnungen sind ihrem Charakter nach nicht etwas einmal Gegebenes, sondern müssen, wenn sie Bestand haben sollen, in einem andauernden Prozess fortlaufend ausgehandelt werden. Dies gilt auch für Adelsherrschaft im Rahmen der ländlichen Gesellschaften Englands und Böhmens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, war es für den großgrundbesitzenden Hochadel in den beiden untersuchten Regionen umso einfacher, in diesen Aushandlungsprozessen erfolgreich Herrschaft zu stabilisieren, wenn das Maß von Konflikthaftigkeit niedrig blieb, wenn also die verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft Beteiligte des Aushandlungsprozesses blieben und sich diesem nicht entzogen, etwa durch Migration in die Großstädte und Industriereviere. Involviert in den Aushandlungsprozess blieben die verschiedenen Gruppen und Einzelakteure dann, wenn sie aus der Herrschaft des Adels Nutzen zogen. Dieser konnte im engeren Sinne materiell sein, also Lohn und Brot (sowie Unterkunft und die Chance auf Sozialleistungen) bedeuten227, oder auch, etwa in Zeiten sozialen 224 Ländliche Klassenbildungsprozesse lassen sich in Böhmen im Untersuchungszeitraum noch kaum beobachten. Siehe dazu Kapitel 2.4. 225 Zur Wohltätigkeit und den Sozialleistungen siehe das Kapitel 4.1 mit den jeweiligen Unterkapiteln. 226 Als geradezu günstig erwies es sich in diesem Zusammenhang, dass der habsburgische Staat dem Adel die Schulen weitgehend entzogen hatte, die durch die Aktivitäten nationalistischer Schulvereine zu einer Arena nationalpolitischer Auseinandersetzungen wurden und in die der Adel ohne die staatliche Schulpolitik wohl verwickelt worden wäre. Siehe dazu Kapitel 4.1.4. 227 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 2.4 und 3.3.

Feste

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Wandels, Sicherheit durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft meinen. Bei den Festen228 kann man ähnlich wie bei der adeligen Wohltätigkeit zeigen, dass auch hier der Adel affektive Zusammengehörigkeit demonstrierte und gleichzeitig soziale Distanz aufrechterhielt, das daraus resultierende Konfliktpotential jedoch zu entschärfen suchte.229 Dies war durchaus möglich. So zeigen die Erntefeste auf den Gütern der Grafen Bernstorff, dass sie es der gräflichen Familie erlaubten, „ein gewisses Maß an paternalistischer Intimität mit den ‚Leuten‘ an den Tag zu legen, ohne dass dadurch die klar definierte Rangordnung verwischt worden wäre.“ Mehr noch: „Die Möglichkeit der Intimität beruhte gerade auf der Akzeptanz des Sozialgefüges.“230 Die im Folgenden untersuchten Feste treten uns somit als Repräsentationen des ländlichen Sozialgefüges entgegen.231 Als solche waren sie sinnhafte Verarbeitungen von Lebensverhältnissen und kollektiven Erfahrungen. Hierdurch ermöglichten sie es Menschen, sich in ihrer Realität zurechtzufinden und auf sie einzuwirken; etwa indem sie Herrschaft aushandelten. Repräsentationen eröffnen somit Handlungsmöglichkeiten, beschränken sie aber auch, weil sie keine beliebigen Optionen anbieten.

228 Wenn es um „Adel“ und „Festkultur“ geht, so liegt der Schwerpunkt in der Forschung eindeutig bei der Vormoderne und bei den Höfen. Selbst jene Adelsstudien zum 19. Jahrhundert, die sich mit diesem Komplex befassen, berichten zwar von Eheschließungen, Bällen u. ä. m., allerdings stehen auch hier die Stadtpalais und Höfe als Orte dieser Feste im Mittelpunkt des Interesses. Dass es sich bei all diesen Veranstaltungen jedoch auch um Repräsentationen adeliger Herrschaft in der ländlichen Welt handelte, wird zumeist nur en passant oder gar nicht erwähnt. Siehe mit Blick auf die Frühe Neuzeit etwa Uta Deppe: Die Festkultur am Dresdner Hof Johann Georgs II. von Sachsen (1660–1679), Kiel 2006 oder mit speziellem Bezug zu Böhmen Slavnosti a zábavy na dvorech v rezidenčních mĕstech raného novovĕku [Feierlichkeiten und Unterhaltung auf den Höfen der Residenzstädte in der Frühen Neuzeit], hrsg. v. Václav Bůžek und Pavel Král, České Budĕjovice 2000; zum 19. Jahrhundert z. B. die Ausführungen bei Bezecný, Příliš, S. 82–104, Radmila Svaříčková-Slabáková: Rodinné strategie šlechty. Mensdorffové-Pouilly v 19. století [Adelige Familienstrategien. Die Grafen Mensdorff-Pouilly im 19. Jahrhundert], Praha 2007, S. 130–143 und auch Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 91f. und S. 242–264. 229 Vgl. dazu Kapitel 4.2.4. 230 Beide Zitate Conze, Adel, S.  369. Zu Erntefesten im 19. Jahrhundert, ebenfalls im deutschen Sprachraum, siehe auch Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 159f. (speziell zur sogenannten Kartoffelhochzeit) und S. 215. Zwiespältig ist jedoch die Einschätzung, die „demonstrative Ausspielung der Unterschiede in der Lebensweise seitens der Herrschaft“ hätte als „Distanz- und Herrschaftssicherung“ gedient. Ebd., S. 160. Die soziale Distanz war sowieso allen Beteiligten bewusst, Herrschaftssicherung dagegen jedoch nur möglich, wenn sich die Feste nicht auf die Markierung der sozialen Unterschiede beschränkten, sondern auch der Herausstellung der (Guts-)Gemeinschaft dienten. 231 Zur adeligen Repräsentation durch Mäzenatentätigkeit im Bereich der Hochkultur siehe die Ausführungen in der Fußnote zu Beginn von Kapitel 4.1.1.

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Sie sind damit Praktiken, durch die die Akteure einander zu verstehen geben, wer sie sind. 232 Bereits an früherer Stelle ist darauf hingewiesen worden, dass Adelsherrschaft öffentlich war. Dies bedeutete nicht nur die Unterbindung von Privatheit als Raum, in den sie nicht hinein-„regieren“ konnte233, sondern auch, dass sie in, vor und für eine bestimmte (ländlich-agrarisch geprägte) Öffentlichkeit inszeniert wurde. Glückten diese Inszenierungen, so konnte eine Verbindung zwischen den „Aufführenden“ und dem „beteiligten Publikum“ entstehen, eine Verbindung, die eine Gemeinschaft konstituieren konnte. Anders formuliert: Gesellschaften verständigen sich in Inszenierungen und Ritualen; sie versichern sich in derartigen Akten ihrer selbst und schaffen ihre Wertordnungen.234 Untersucht worden ist dies bisher vor allem an Beispielen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit.235 Mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert standen besonders jene Gelegenheiten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, bei denen sich moderne (National-)Gesellschaften in Großereignissen selbst inszenierten236 oder Selbstreprä232 Roger Chartier: Kulturgeschichte zwischen Repräsentation und Praktiken; in: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, hrsg. v. dems., Berlin 1989, S. 7–19. Siehe auch Jörg Baberowski: Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel; in: Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, hrsg. v. dems., Frankfurt am Main 2008, S. 9–13, S. 9f. 233 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 3.1.1, 3.1.3, 3.3 und 3.4. 234 Der Begriff des Publikums darf in diesem Zusammenhang nicht fälschlicherweise so verstanden werden, dass es sich bei den so Bezeichneten nicht um Akteure, sondern um passive Zuschauer gehandelt habe. Zurückgehend auf die Theaterwissenschaften geht die Forschung zu den Inszenierungen heute davon aus, dass Bedeutung erst im Zusammenwirken von Aufführenden, Publikum und Aufführungsbedingungen generiert wird. Siehe dazu Jürgen Martschukat und Steffen Patzold: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur; in: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hrsg. v. dens., Köln 2003, S. 1–31, S. 2–6. 235 Barbara Stollberg-Rielinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neuere Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit; in: ZHF 27/2000, S.  389–405. Siehe auch Martschukat und Patzold, Geschichtswissenschaft, S.  12–22. Diese Beobachtung korrespondiert im Übrigen mit dem Hinweis, dass auch adelige Festkultur bisher vor allem für die Vormoderne untersucht worden ist. 236 Groß- und Weltausstellungen sowie nationale Feste sind in diesem Kontext die bisher am häufigsten untersuchten Gegenstände. Siehe mit Blick auf die Ausstellungen die fast 100-seitige Bibliographie von Alexander Geppert, Jean Coffey und Tammy Lau: International Exhibitions, Expositions Universelles and World’s Fairs, 1851–2005 auf http:// www.csufresno.edu/library/subjectresources/specialcollections/worldfairs/ExpoBibliography3ed.pdf (4.9.2008). Zu den Festen, wie etwa dem Wartburgfest oder auch dem

Feste

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sentationen von Diktaturen in Massenaufführungen237. Die folgenden Ausführungen sollen jedoch zeigen, dass Feste als Repräsentationen der sozialen Ordnung auch im Rahmen der Stabilisierung von Adelsherrschaft in den ländlichen Gesellschaften Böhmens wie Englands ihren festen Platz hatten. 4.3.2 Von der Taufe bis zur Bahre: Feierlichkeiten auf adeligen Gütern

Vielfältig waren die Feste, die auf den adeligen Besitzungen in England und Böhmen gefeiert wurden. Sie folgten zum einen dem Kirchenkalender, zum anderen dem Agrarjahr. Herausragend war das Weihnachtsfest238, dazu kamen Patronats- und Erntefeste239, bischöfliche Visitationen (in Böhmen nicht selten mit der Firmung verbunden)240 sowie in England rent dinners241. Gefeiert wurden außerdem besondere Vorkommnisse im Haus des adeligen Gutsbesitzers: Taufen, Volljährigkeiten und Majoratsübernahmen, Hochzeiten und runde Geburtstage; traurige Anlässe waren

deutschen Nationalfest von 1814, siehe exemplarisch Michael Maurer: Feste zwischen Memoria und Exzeß. Kulturwissenschaftliche und psychoanalytische Ansätze einer Theorie des Feste; in: Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik, hrsg. v. dems., Köln 2004, S. 115–134 oder Wolfgang Hardtwig: Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich; in: Geschichtskultur und Wissenschaft, hrsg. v. dems., München 1990, S. 264–301. 237 Siehe dazu z. B. Malte Rolf: Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006; Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Regimen, hrsg. v. Arpad v. Klimo und Malte Rolf, Frankfurt am Main 2006; Christoph Kühberger: Metaphern der Macht. Ein kultureller Vergleich der politischen Feste im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland, Berlin 2006 sowie Dictatorship and Festivals, hrsg. v. Dietrich Beyrau, München 2006. 238 Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel 4.1.2. 239 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 4.2 und 4.3.1 sowie Howkins, Men, S. 13 und S. 35 und ders., Reshaping, S. 70–73. 240 Siehe z. B. das Schreiben des Pfarrers Johann Linkart an seinen Patronatsherren, den Grafen Waldstein, vom 30.9.1892, in dem er von einer bischöflichen Visitation berichtet. SOA Praha: RAV 3749, kart. 86 oder den Bericht des Wirtschaftsdirektors Farka an den Fürsten Schwarzenberg über die Firmung, die der Bischof von Budweis in sieben Gemeinden, die zum Schwarzenbergschen Patronat gehörten, gespendet hatte, vom 7.4.1892. SOA Třeboň: Ústřední Kancelář Orlík, kart. 380. 241 Siehe dazu z. B. die Einträge des 15. Earls of Derby in seinem Tagebuch am 7. und 8.1.1878. Vincent, Diaries, S. 86f. oder ein Schreiben des 20. Earls of Shrewsbury an seinen Verwalter Mynors vom 19.12.1881 bezüglich der Vorbereitung des bevorstehenden rent dinner. CROSt: D 240/J/10/2/1.

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Sterbefälle.242 Festlich begangen wurden ferner Geburtstage in den Herrscherhäusern, Regierungsjubiläen, Besuche gekrönter Häupter auf den Gütern, zum Teil auch Jahrestage militärischer Ereignisse.243 Nicht vergessen werden sollen schließlich die Agrar­ ausstellungen mit ihren verschiedenen Wettbewerben (zum Beispiel im Pflügen) und Preisen (etwa den „Moralpreisen“ für Landarbeiter)244 sowie Schul­feste.245 Bei vielen dieser Feste waren mehrere hundert Menschen anwesend, ganze Dörfer beteiligten sich. So notierte Lord Shaftesbury in seinem Tagebuch im Herbst 1869: „My little village is all agog with the birth of a ‚son and heir‘ in the very midst of 242 Angesichts der Vielfalt dieser Ereignisse können hier nur exemplarische Belege aufgeführt werden. Siehe für Böhmen z. B. Bezecný, Příliš, S. 88, S. 97–104 (Taufe, Hochzeit und Beerdigung) sowie ders., Bývalí, S. 9 und S. 19 (Hochzeiten, runde Geburtstage), siehe außerdem auch Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 91f. (Hochzeiten) und S. 258–264 (Beerdigungen). Umfangreiches Material findet sich ferner in dem Bestand SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 862 (Hochzeiten, runde Geburtstage, Beerdigungen). Mit Blick auf England sind exemplarisch zu nennen Roberts, Paternalism, S. 134f. (Volljährigkeiten, Majoratsübernahmen), Howkins, Reshaping, S. 76f. (Geburt des Stammhalters). Zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen siehe außerdem Hodder, Life, Bd. 3, S. 253; Thompson, Landed Society, S. 76–81; CROD: D/Lo/F 581 (1) sowie den Durham Chronicle vom 27.4.1864 wie auch vom 17.6.1864. 243 Auch hier sind die möglichen Beispiele sehr vielfältig. Siehe für Böhmen etwa das „Cirkular betreffend die Theilnahme am Gottesdienst am Feiertage des Kaiserjubiläums, erlassen am 27.11.1873“, worin Graf Waldstein festlegte, seine Beamten und Bediensteten hätten „in corpore“ zu erscheinen. SOA Praha: RAV 3751, kart. 88. Die Grafen Waldstein unterstützten ferner Festlichkeiten, auf denen der Gefallenen von 1866 aus den Gemeinden Hühnerwasser und Münchengrätz gedacht wurde, und unterhielten die Friedhöfe. Ebd.: RAV 3887, kart. 109 und RAV 3866, kart. 106. Auch machte Kaiser Franz Joseph zumindest zweimal auf den Waldsteinschen Gütern Station, als er Böhmen besuchte, so 1866 und 1891. Ebd.: RAV 3866, kart. 106. Nachdem Queen Victoria aus ähnlichem Anlass Woburn besucht hatte, den Sitz der Dukes of Bedford, äußerte sie später, der Buckingham Palace sei ihr im Vergleich doch recht bescheiden vorgekommen. Die Zimmer, die bei dieser Gelegenheit für sie eingerichtet worden waren, sind heute im öffentlich zugänglichen Teil von Woburn zu besichtigen. 244 Purš, Kapitalismus, S. 54. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 916. Zu England Howkins, Re­ shaping, S. 78–81. Zu den „Moralpreisen“ auch Troßbach und Zimmermann, Geschichte, S. 171. Die Preise waren so verbreitet, dass sie zum literarischen Topos wurden, etwa in der „Babička“ (Die Großmutter) von Božena Nĕmcová oder in Gustave Flauberts „Madame Bovary“ (München 1999, S. 196ff.). 245 Zu den Schulfesten finden sich erstaunlicherweise keine Unterlagen in der adeligen Quellenüberlieferung. Sie waren jedoch zumindest in Böhmen weitverbreitet, getragen zumeist von den nationalistischen Schulvereinen, von denen bereits die Rede war. Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass jene Schulen, die auch nach den 1860er Jahren noch unter adeligem Patronat standen, sich in dieser Konkurrenzsituation nicht an dem allgemeinen Brauch der Schulfeste beteiligt hätten.

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them, the first, it is said, since about 1600, when the first Lord Shaftesbury was born. The christening yesterday was an ovation. Every cottage had flags and flowers; we had three triumphal arches, and all the people were exulting ,He is one of us‘ – ,He is a fellow-villager‘ – ,We have now got a lord of our own‘. The tenants too, and clergy, have, in great consultation, resolved to present a piece of plate as an heirloom.“246 Kaum anders sahen Taufen auf böhmischen Gütern aus; immer gehörten auch Almosen für die Dorfarmen hinzu.247 Die Feierlichkeiten sollten Gemeinschaft stiften, verbanden daher die Chance auf Teilhabe mit der Möglichkeit zum Teilnehmen, damit im Sinne von Legitimationsritualen die bestehende herrschaftliche Ordnung und ihre Repräsentationen mit positiven Gefühlen verknüpft werden konnten. Dies war speziell bei Taufen von besonderer Wichtigkeit, denn zumal bei jenen der erstgeborenen Söhne ging es stets um die Fortsetzung der Familientradition und damit von Adelsherrschaft überhaupt. Adelige Familienereignisse waren daher von den Taufen an öffentliche Ereignisse. Folgerichtig führte Bedřich II. Fürst Schwarzenberg in einem Lebenslauf seine Taufe als seinen ersten öffentlichen Auftritt auf – vor den Honoratioren der Gemeinden, in denen die Familie ihre Besitzungen hatte, d. h. den Starosten und der Geistlichkeit sowie der Beamtenschaft und der örtlichen Bevölkerung.248 Eingangs war dargelegt worden, dass sich Gesellschaften in Inszenierungen verständigen, sich darin ihrer selbst versichern und ihre Wertordnungen schaffen.249 Feste stellen in diesem Kontext eine Form dar, identitätsrelevantes Wissen zur Verfügung zu stellen.250 Der Tagebucheintrag des Earl of Shaftesbury bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck: Er selbst, aber auch die Dorfbewohner versicherten sich eines soziokulturellen Milieus, das durch Hierarchie wie durch Gemeinschaft geprägt 246 Hodder, Life, Bd. 3, S. 253. Shaftesbury schreibt im Übrigen weiter: „This is really gratifying. I did not think that there remained so much of the old respect and affection between peasant and proprietor, landlord and tenant.“ Die Anhänglichkeit der dörflichen Bevölkerung führte er auf das Wirken seines Sohnes und dessen Anwesenheit auf den Besitzungen zurück. Ebd. Solche Bindungen konnten durchaus so stabil sein, dass sie sogar eine Zeitlang den Verlust des Besitzes überdauerten. Sie spiegelten sich z. B. im Verhalten des Fürsten Max Egon zu Fürstenberg, einem der größten böhmischen Gutsbesitzer, wider. Bedroht von der tschechoslowakischen Bodenreform, trat er Schloss Lana und mehrere tausend Hektar Boden an den Staat ab und übergab die verbliebenen Besitzungen samt einem kleineren Schlösschen seinem Sohn. Zur Taufe seines Enkels kehrte er im Juni 1923 jedoch nach Lana zurück und wurde von der Bevölkerung dort stürmisch begrüßt. Alfons Clary-Aldrigen: Geschichten eines alten Österreichers, Berlin/Wien 1977, S. 248. 247 Bezecný, Příliš, S. 88. 248 Lebenslauf von 1919; Taufe am 1.11.1862. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 862. 249 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 4.3.1. 250 So Maurer, Fest, S. 120f. in Anlehnung an Jan Assmann.

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war251 und seine Legitimation nicht zuletzt aus der langen Dauer252 wie den mit dieser Ordnung verbundenen positiven Gefühlen253 zog. Allgemeiner gefasst: Die Feste, die auf den Gütern gefeiert wurden, repräsentierten die ländlichen Gesellschaften als hierarchisch gegliederte Gemeinschaften. Dies verkörperte gewissermaßen in nuce die adelige Vorstellung von Herrschaft über Land und Leute. Besonders gut erkennbar wurde dies auch anlässlich von Beerdigungen: Auf den Schwarzenbergschen Gütern erfuhr die Trauergemeinde eine Einteilung in vier Formationen. Die erste bestand aus dem leitenden Gutsverwaltungspersonal und den Angehörigen der Bezirksausschüsse mit ihren Frauen, die zweite aus den Geistlichen, Lehrern und den unteren Beamten der Gutsverwaltung. Dann folgten Heger, Schaffer, Delegierte der verschiedenen Vereine sowie die Mitglieder der Gemeindeverwaltungen. In der vierten und letzten Formation schließlich fanden Schulkinder, die Jugend und das Volk („lid“) ihren Platz. Die Sargträger stammten zumeist aus der Forst-, manchmal auch aus der Gutsverwaltung. Sie waren die einzigen, die kraft dieses Amtes die fürstliche Gruft betreten durften. Alle überlieferten Beerdigungsprogramme legten außerdem, vor wie nach 1918, die Reihenfolge des Trauerzuges fest. Den Abschluss bildete dabei stets das „vysoké panstvo, (za kterým nepůjde více nikdo) [die hohe Herrschaft, hinter der niemand mehr geht; Unterstreichung i. O.].“254 Viele der Elemente dieser feierlichen Inszenierungen von Adelsherrschaft waren überaus langlebig.255 Eingewurzelt in Traditionen und gleichermaßen immer wieder praktiziert und aktualisiert, überlebten sie nicht nur das Ende der Monarchie, 251 Hodder, Life, Bd. 3, S. 253. 252 Der Earl of Shaftesbury erinnerte an die Geburt des ersten Lord Shaftesbury um 1600. Ebd. 253 In dem kurzen Quellenzitat werden eine ganze Reihe von Äußerungen positiver Gefühle genannt: „all agog“ sei das Dorf gewesen; auch berichtet er von „ovations“ und dass dies „really gratifying“ für ihn gewesen sei. Ebd. 254 Zu Beerdigungsfeierlichkeiten auf böhmischen Gütern siehe z. B. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 862; im Jahre 1910 wurde Wilhelmine Fürstin Schwarzenberg zu Grabe getragen, 1918 Kristina Prinzessin Schwarzenberg, 1936 Friedrich Fürst Schwarzenberg. Aus dem Programm der Beerdigung des Fürsten Friedrich stammt auch das angeführte Zitat. Siehe mit Blick auf das Haus Windisch-Graetz auch Stekl und Wakounig, WindischGraetz, S. 252f. und S. 264. 255 „Langlebig“ ist dabei nicht mit „unverändert“ oder gar „unveränderlich“ zu verwechseln. Zum einen waren viele der vermeintlich unveränderlichen Rituale der Habsburgermonarchie eher „Erfindung von Tradition“ als die unausgesetzte Fortschreibung derselben seit unvordenklichen Zeiten, wie etwa Daniel Unowsky jüngst am Beispiel der Fußwaschung am Gründonnerstag oder der Fronleichnamsprozession gezeigt hat. Unowsky, Pomp, S.  26–32. Zum anderen folgten auch Feuerwerke oder Ehrenbögen in ihrer je spezifischen Gestalt der Mode der Zeit, unabhängig davon, dass sie gleichzeitig als Elemente „von langer Dauer“ nicht nur Bestandteil der Festivitäten des 19. (und frühen) 20. Jahrhunderts, sondern auch der Vormoderne waren.

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sondern reichten zum Teil auch bis in die Vormoderne zurück. Zu diesen Elementen gehörte das Almosengeben256, die Illumination der Parkanlagen, Feuerwerke, die Ausrichtung von Tanz und Unterhaltung für „alle Stände“ oder das Aufstellen von Ehrenbögen. Alle diese Elemente finden sich zum Beispiel im Festprogramm adeliger Hochzeiten. Auch bekamen die Bräute Blumensträuße überreicht und wurden auf den böhmischen Gütern „v řečí české a německé [in tschechischer und deutscher Sprache]“257 willkommen geheißen. Was in diesen Repräsentationen adeliger Herrschaft aufscheint, sind frühneuzeitliche Huldigungsfeierlichkeiten, waren diese doch Manifestationen von Obrigkeit und zugleich Bestätigung der Erwartungen der Untertanen, dass diese in guter und gerechter Weise herrschen werde. Das lange Gedächtnis des Hochadels als Herrschaftsstand floss somit ebenso in seine Repräsentationen ein wie auch sein Anspruch, immer noch „Obrigkeit“ zu sein, wie es die Festanordnungen zeigen, und die Erwartungen der „Untertanen“ befriedigen zu können, etwa durch Geldgeschenke oder durch Demonstrationen des splendor familiae. Erst vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn Pfarrer Linkart seinem Patronatsherren, dem Grafen Waldstein, im Jahre 1892 über eine bischöfliche Visitation berichtete, zu Ehren des hohen geistlichen Herren seien alle Häuser beflaggt und der Ort mit dessen Insignien geschmückt gewesen, auch habe man abends Böllerschüsse abgegeben und einen Fackelzug veranstaltet. Empfangen worden sei der Bischof zuvor von vierzig Reitern, die ihm bis Stranka entgegengeritten waren258 – bis zu jenem Ort, der die Grenze der Herrschaft markierte. Mit der Langlebigkeit vieler Elemente der Feierlichkeiten ging auch ihre ritualisierte Form einher. In seinem Tagebuch vermerkte Lord Stanley unter dem 7. Januar 1878: „Rent day dinner, for the Knowsley tenants, where M. [seine Frau] and I appear as usual & I make the usual speech. All very cordial. [beide kursiven Hervorhebungen T. T.]“259

256 Siehe dazu auch die Verfügung im letzten Willen des Fürsten Karl Schwarzenberg, 15.9.1914. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 862. Hier ist explizit festgelegt, dass die Betreffenden für seine Seele beten sollten. 257 Hochzeit von Karl V. Schwarzenberg mit Eleonore, geb. Gräfin Clam-Gallas, Festprogramm für den 28.1.1910. Ebd. Zum Überdauern der genannten Elemente (wie Beleuchtung des Schlosses oder traditioneller Fackelzug der Dorfbewohner) über das Ende der Monarchie hinaus, siehe auch die Schilderung der Hochzeitsfeierlichkeiten von Maria, der zweiten Tochter von Ludwig Prinz Windisch-Graetz, mit Stephan Graf Károlyi im Frühjahr 1930. Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 91. 258 Pfarrer Linkart an den Grafen Waldstein, 30.9.1892. SOA Praha: RAV 3749, kart. 86. Auch die erste Begrüßung von Karl Schwarzenberg und seiner Frau erfolgte im Übrigen an den Grenzen der Herrschaft Orlík, auch wenn den beiden Neuvermählten offenbar keine „Reiterscharen“ entgegengeschickt wurden. 259 Vincent, Diaries, S. 86.

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Doch auf Festen konnte adelige Herrschaft auch unterlaufen oder herausgefordert, die hierarchisch gegliederte Gemeinschaft in Frage gestellt werden. So klagte das Oberamt Neuhaus gegenüber der Verwaltung der dortigen Armenstiftung: „Es ist die unliebsame Wahrnehmung gemacht worden, dass die Pfründler zu den öffentlichen Feierlichkeiten nicht mehr in der vorgeschriebenen Ordnung, alle zusammen und paarweise, erscheinen. … Sollten wohlgemeinte Ermahnungen und Zurechtweisungen nicht fruchten, so ist zur Anwendung der üblichen Strafen zu schreiten.“260 Bedauerlicherweise ist nicht überliefert, worin die Strafen bestanden, doch wissen wir aus anderen Zusammenhängen, dass eigensinnige Pfründlerinnen und Pfründler mit Abzug bei ihren Rationen zu rechnen hatten oder sich ihr Status durch die Einstufung als „Externist“ deutlich verschlechtern konnte.261 Angesichts ihrer geringen Möglichkeiten, sich in Aushandlungsprozessen durchzusetzen262, darf vermutet werden, dass sie ihre Rolle im Rahmen der adeligen Repräsentationen zumindest solange wieder spielten, bis sich die nächste Gelegenheit ergab, Eigen-Sinn zu praktizieren. Eigenlogiken kommunizierte auch das bürgerliche Stafford. Hier kam es 1869/70 zu Auseinandersetzungen über den jährlichen coursing day auf dem Gut Alton der Earls of Shrewsbury. Die Veranstaltung hatte einen städtischen Jahrmarkt ersetzt, den der Stadtrat 1837 abgeschafft hatte. Was genau der Anlass für die Missstimmigkeiten war, bleibt unklar. Noch im Dezember 1869 wurde seine Lordschaft jedenfalls im Staffordshire Advertiser damit zitiert, es sei ihm ein Vergnügen gewesen, die Besucher in Alton zu sehen.263 An anderer Stelle jedoch heißt es, er habe über deren „disorderly behaviour“264 geklagt, was großen Alkoholkonsum implizierte. Zu einem wirklichen Konflikt wuchs sich das Vorkommnis jedoch erst aus, als der Bürgermeister von Stafford, erneut auf den Seiten des Staffordshire Advertiser, es als Recht der Stadt bezeichnete, das Corporation Coursing Meeting in Alton abzuhalten.265 Damit war eine ganz neue Situation geschaffen, denn nun ging es nicht mehr um ein einzelnes Ärgernis, sondern um das grundsätzliche Verhältnis der Familie Chetwynd-Talbot zur Stadt Stafford. Was diese, vertreten durch den Bürgermeister, als ihr Recht ansah, war „what his lordship considers has been hitherto acceded out of courtesy.“266 Er entschloss sich daher, „to withdraw the permission he so courteously gave until the question has been 260 Schreiben vom 25.6.1860. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Ústav chudých, kart. 57. 261 Siehe dazu die entsprechenden Beispiele in Kapitel 4.2.1. 262 Immerhin sind Fälle überliefert, in denen Pfründler ihre Rechte vor Gericht durchzusetzen wussten, siehe dazu die Ausführungen im Kapitel 4.1.3.1, doch ist wohl kaum zu erwarten, dass sie im vorliegenden Fall Chancen hatten, ihren Eigensinn gerichtlich legitimiert zu finden. 263 Staffordshire Advertiser, 11.12.1869. 264 Zitiert nach Greenslade und Johnson, History, S. 256. 265 Staffordshire Advertiser, 24.12.1870. 266 Ebd.

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amicably settled.“267 Dabei blieb es für fast zwanzig Jahre. Erst 1888 führte der 20. Earl of Shrewsbury – jener, der bei der Mojoratsübernahme von einigen Geistlichen öffentlich kritisiert worden war268 – die Hetzjagden wieder ein.269 In beiden geschilderten Beispielen gelang es somit den Adelsfamilien, ihre Position in den Aushandlungsprozessen zu behaupten und damit ihre Vorstellungen von der soziokulturellen Ordnung durchzusetzen. Mag dies im Falle der Pfründler aus Jindřichův Hradec wenig erstaunlich sein, so fügte sich doch auch die Stadt Stafford, die immerhin mehr Handlungsoptionen hatte als die böhmischen Armen. Einen städtischen Jahrmarkt, wie er noch bis 1837 bestanden hatte, bevor der coursing day eingeführt worden war, organisierte sie jedenfalls nicht. Bei näherer Betrachtung bleibt auch die Bilanz des Herstellens einer (Gegen-) Öffentlichkeit mit Hilfe der Presse als Praxis in den Aushandlungsprozessen ambivalent. Zwar wurde auf deren Seiten sichtbar, dass Konflikte bestanden, doch fällt andererseits vieles, was publiziert wurde, unter die Kategorie „Schloss“-Berichterstattung. Als zum Beispiel die älteste Tochter des 19. Earls of Shrewsbury, Lady Theresa Talbot, Charles Stewart Viscount Castlereagh, den ältesten Sohn des Marquess of Londonderry, im Oktober 1874 heiratete, fand dieses Ereignis seine geradezu adäquate Repräsentationsform auf den Seiten der Grafschaftspresse. Hier wurden nicht nur die Familientraditionen ausgebreitet und daran erinnert, dass der Vater von Lady Theresa der „Premier Earl in the English and Irish peerage“ sei, konnte die Familie doch ihren Titel bis in das Jahr 1442 zurückverfolgen, sondern auch alle anwesenden Angehörigen des Hochadels wie der gentry wurden namentlich aufgeführt. Mehrere Spalten nahm schließlich der Abdruck der Geschenkliste ein, die auch die Pächter der verschiedenen Güter umfasste („Staffordshire tenants, gold bracelet with large diamond star, ruby, diamond, and sapphire pin, with illuminated address“), den Verwalter Ginders und sein Frau („flower china vase with raised butterflies“) oder die Schulkinder aus dem Gutsdorf Ingestre („large illustrated Bible“).270 Ob selbst anwesend bei den Feierlichkeiten, wie mehr als tausend Pächter271, ob informiert durch mündlichen Bericht eines der Gäste oder aus der Presse: Der splendor familiae hatte auch dank der Zeitungsberichterstattung272 geleuchtet, adelige Herrschaft ihre Repräsentation über

267 Ebd. 268 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 4.2.3. 269 Staffordshire Advertiser, 17.3.1888. 270 CROD: D/Lo/F 581. 271 H. Montgomery Hyde: The Londonderrys. A Family Portrait, London 1979, S. 65f. 272 Grundsätzlich der gleiche Befund gilt auch für die Berichterstattung in der Presse Böhmens, zum Beispiel aus Anlass von runden Geburtstagen. Siehe dazu etwa den Artikel im Čech vom 18.7.1894 (70. Geburtstag von Karl III. Schwarzenberg) oder im Mirovicko vom März 1933 (70. Geburtstag von Bedřich Schwarzenberg).

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die bei der Festivität anwesende ländliche Gesellschaft hinaus im bürgerlichen Medium gefunden. 4.3.3 Adelsherrschaft und Feste

Adelsherrschaft wurde im alltäglichen Umfeld der Gutswirtschaft ebenso wie bei besonderen Anlässen ausgehandelt und stabilisiert. Dies zeigen in England wie in Böhmen die Feste des Kirchen- und Agrarjahres sowie jene Feierlichkeiten, mit denen besondere Ereignisse in den Familien der adeligen Gutsbesitzer begangen wurden. Sie durchbrachen den auch im späten 19. Jahrhundert nach wie vor durch lange Stunden schwerer Arbeit gekennzeichneten Alltag und boten eine Chance auf Teilhabe im Rahmen ritualisierter Abläufe. Auch belegen die Feste in beiden Großregionen einmal mehr, dass Adelsherrschaft öffentlich war; schon Taufen wurden als öffentliche Auftritte inszeniert, auf denen der zukünftige Fideikommissinhaber „seinen Leuten“ präsentiert wurde. In den Festordnungen war die gesamte lokale Gesellschaft symbolisch anwesend. Somit repräsentierten sie die adelige Sicht der ländlichen Gesellschaft als hierarchisch gegliedert, aber nicht in Klassen oder Ethnien aufgespalten. Außerdem wurde bei den Festen das Bestehen von affektiven Bindungen herausgestellt und damit ein Gegenentwurf zur „kalten“ Welt des Industriekapitalismus angeboten. Der Nutzen, den Adelsherrschaft zu bieten hatte, lag somit auch in der Vermittlung eines Gefühls von Zugehörigkeit und Aufgehobenseins in Zeiten sozialen Wandels. Diese Sichtweise wurde auch von der bürgerlichen Presse nicht in Frage gestellt. Gerade bei großen Ereignissen, wie Hochzeiten oder runden Geburtstagen, kann man eher von „Schloss“-Berichterstattung sprechen, die der Verbreitung des splendor familiae diente.

4.4 Wohltätigkeit, Kirchenpatronate und Feste als traditionale Foren adeliger Herrschaftsstabilisierung Die Abschaffung formaler Herrschaftsrechte und Privilegien stellte Adelsformationen in ganz Europa vor die Aufgabe, wenn sie an ihrem überlieferten Herrschaftsanspruch über Land und Leute festhalten wollten, diesen stärker als bisher mit den verschiedenen Gruppen der Agrargesellschaft auszuhandeln. Das Repertoire, dessen sich englische und böhmische Hochadelige dabei bedienten, war vielfältig und beinhaltete auch Praktiken, die aus eher traditionalen Interaktionszusammenhängen von Herrschaftsstabilisierung bekannt sind, wie Wohltätigkeit, die Ausübung von Pfarrund Kirchenpatronaten oder das Ausrichten von Festen, hatte es der Adel doch in langen Phasen seiner Herrschaft verstanden, sich nicht nur auf militärische und po-

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litische Machtmittel zu verlassen, sondern auch sein kulturelles Kapital zum Einsatz zu bringen. Wohltätigkeit, Patronate und Festkultur waren einerseits durch Traditionen geprägt, da diese Praktiken bis weit in die Vormoderne zurückreichten. Es wurden daher scheinbar überkommene Formen beibehalten, wie die feierliche Begrüßung hoher Gäste an den Grenzen der Güter bzw. der alten Herrschaften.273 Andererseits aber erfolgte gleichzeitig eine Anpassung an die Zeitbedürfnisse – und das heißt an die aktuelle Funktion im Aushandlungsprozess von Herrschaft. Dies lässt sich besonders gut bei der adeligen Wohltätigkeit beobachten. Sie wurde in England wie in Böhmen zum einen als individuelle Hilfe für Bedürftige praktiziert.274 Zum anderen kannte die Aristokratie in beiden Regionen Stiftungen als Instrumente institutionalisierter Hilfe. Dass es sich hierbei jedoch nicht nur um praktiziertes Christentum durch „gottgefällige Werke“ handelte, zeigt sich in den je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen des englischen und böhmischen Adels. Beim böhmischen Adel überwogen Armenstiftungen, die sich nicht selten, wie etwa die Czerninsche Armenstiftung275, bis ins Mittelalter zurückverfolgen ließen. Im 19. Jahrhundert sollten diese Institutionen sowie auch verschiedene Maßnahmen, die man modern gesprochen als Sozialleistungen großer Arbeitgeber bezeichnen kann276, nachweisen, dass die bestehende soziale Ordnung mit der bedeutenden Rolle, die der großgrundbesitzende Adel darin spielte, für die verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft Vorteile gegenüber einem Staat bot, dessen Sozialversicherungsgesetzgebung die überwiegende Mehrzahl der Menschen im ländlichen Raum (noch) außen vor ließ. Deutlich wird in diesem Zusammenhang auch, dass für den böhmischen, aber auch den englischen Adel, der Staat ein Herrschaftskonkurrent war. Seitdem nämlich die liberalen Regierungen im Wien der 1860er Jahre den Bereich der Schulen gesetzlich so verregelten, dass der Aristokratie wenig Handlungsspielraum blieb, diesen im Sinne ihrer Interessen zu nutzen, zog sie sich hiervon weitgehend zurück, es sei denn, einzelne Ortschaften baten explizit um die Übernahme von Schulpatronaten277, womit sie ihrerseits der jeweiligen Adelsfamilie eine Chance zur Aushandlung von Herrschaft boten. Auch für die englische Aristokratie galt, dass ihre Unterstützung von Schulen als Herrschaftsmittel anzusehen ist. Dies lässt sich zum einen daran erkennen, dass in jenen Grafschaften, in denen aufgrund von Wilderei die sozialen Beziehungen oh273 274 275 276

Siehe dazu Kapitel 4.3.2. Siehe dazu Kapitel 4.1.2. Siehe dazu Kapitel 4.1.3.1. Zu den verschiedenen Maßnahmen, von der Verköstigung des Gesindes bis zur Übernahme von Arztkosten, siehe Kapitel 3.3. 277 Siehe dazu die Beispiele im Kapitel 4.1.4.

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nehin angespannt waren, wo das Aushandeln von Herrschaft also durchaus auch gewaltsame Aspekte hatte, die adelige Schulförderung signifikant niedriger lag, als in jenen counties, in denen diese Konflikte weniger verbreitet waren oder nicht bestanden278: Für die schulische Bildung einer „undankbaren“ Bevölkerung wurde kein Geld ausgegeben, denn dieses hätte seine Bestimmung, herrschaftsstabilisierend zu wirken, nicht erfüllen können. Zum anderen war auch hier, wie in Böhmen auf dem Feld der Sozialpolitik, der Staat ein Herrschaftskonkurrent. Zwar zeichnete sich der englische dadurch aus, dass er wesentlich stärker als der habsburgische dezentral agierte und viele Entscheidungskompetenzen in die localities delegierte oder dort beließ. In den 1870er Jahren konnten die Regierungen in London jedoch nicht weiter ihre Augen vor der Tatsache verschließen, dass es um die Schulbildung auf der Ebene der elementary schools nicht gut bestellt war. In genau dem Moment, in dem jedoch die Zentralregierung daran ging, diesen Bereich stärker zu verregeln, erhöhte der gutsbesitzende Adel seine Schulförderung279 – um nachzuweisen, dass staatliche Maßnahmen nicht nötig seien. Auf der Ebene der Praktiken lassen sich also viele Gemeinsamkeiten zwischen englischen und böhmischen Magnaten feststellen, denn Familien in beiden Regionen nutzten Wohltätigkeit, Patronate und Feste, um Herrschaft auszuhandeln und zu stabilisieren. Sie hatten es dabei zumindest in Fragen der Schul- und Sozialpolitik mit Zentralstaaten zu tun, die sich durchaus als Herrschaftskonkurrenten erwiesen; in England in diesem Kontext stärker als es im Umfeld etwa der Konfliktregulierung in der Arbeitswelt der Güter280 der Fall war. Doch auch von Unterschieden muss gesprochen werden. In Böhmen waren Gebets- und Gedenkverpflichtungen gegenüber dem adeligen Wohltäter (bzw. der Wohltäterin) und Patronatsherren genauso weitverbreitet wie das „Angebot“ von Bittstellerinnen und Bittstellern, im Falle erwiesener Gunst für das Seelenheil der Mitglieder der adeligen Familie zu beten. Hierin spiegeln sich einerseits Aushandlungsprozesse mit Gabe und Gegengabe wider, andererseits im Vergleich zu England auch andere Formen von Alltagsreligiosität, die in den ländlichen Regionen Böhmens ganz überwiegend durch den Katholizismus geprägt war. Dieser wiederum kannte Konkurrenten, wie sie der anglikanischen Hochkirche in den dissenting chapels und einem auch unter den Landarbeitern verbreiteten Antiklerikalismus erwuchsen281, nicht. Ein weiterer Befund tritt hinzu: In England wie in Böhmen gingen die Kirchenpatronate für den Adel mit dem Recht einher, den Geistlichen für die betreffende Kirche vorzuschlagen, was faktisch in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf dessen Auswahl hinauslief. Auch sollten diese Geistlichen in beiden Regionen hel278 279 280 281

Siehe dazu Kapitel 4.1.3.2. Siehe dazu Kapitel 4.1. Zur Konfliktregulierung in der Arbeitswelt der Güter siehe Kapitel 3.3. Zum Nonkonformismus und Antiklerikalismus siehe Kapitel 4.2.3.

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fen, Adelsherrschaft zu legitimieren. Diese Aufgabe konnten jedoch die katholischen Geistlichen in Böhmen besser erfüllen als die anglikanischen in England. Das hat einmal mit der schon angesprochenen höheren Konflikthaftigkeit durch die Konkurrenz zwischen church und chapel zu tun. Zum anderen kommt erneut der Staat als Akteur ins Spiel. Während in England die adeligen Kirchenpatrone sich um den baulichen Zustand der Gotteshäuser oft genug wenig kümmerten, so dass Kritik an deren fehlender Instandhaltung laut wurde, regelte der habsburgische Staat auch die Aufgaben, die mit den Patronatsrechten verbunden waren, stärker. Das führte dazu, dass die Kirchen insgesamt keine auffälligen Zeichen von Vernachlässigung zeigten und daher keinen Anlass zur Entfremdung zwischen Patronatsherrn und dem religiösen Teil der ländlichen Bevölkerung boten. Während also der Staat der englischen Aristokratie mehr Freiräume in der Handhabung der Patronatsrechte beließ, und die Aristokratie diese kostensparend in einer von Auseinandersetzungen mit den Nonkonformisten belasteten Umwelt einsetzte, dadurch jedoch den Angehörigen der Church of England nur (noch) einen eingeschränkten Nutzen vermittelte, mithin an Boden im Aushandlungsprozess von Herrschaft verlor, war es in Böhmen der habsburgische Staat, der auch den Patronatsbereich verregelte, dadurch zwar den Hochadel zwang, die betreffenden Bestimmungen zu erfüllen, es diesem dadurch aber auch ermöglichte, seinen Nutzen für die betreffenden Gruppen der ländlichen Gesellschaft zu demonstrieren und seine Herrschaft zu stabilisieren. Adelsherrschaft, das wird in der Zusammenschau der verschiedenen Praktiken deutlich, wurde von allen Mitgliedern adeliger Familien ausgehandelt – also von Männern ebenso wie von Frauen (und von Kindern früh eingeübt) – und umfasste das ganze Leben der „Beherrschten“, in den Gebetsverpflichtungen der Messstiftungen reichte sie gar über den Tod hinaus. Dieser umfassende Herrschaftsanspruch ging einher mit – man könnte auch anderes akzentuieren und sagen: resultierte aus – einer großen sozialen Distanz. Dennoch gehörte zu dem, was Adelsherrschaft den Bewohnerinnen und Bewohnern der (Guts-)Dörfer und Landstädte zu bieten hatte, auch affektive Bindungen. Gerade in diesem Sinne waren Feste, wiewohl außeralltägliche Ereig­nisse, Repräsentationen adeliger Herrschaft. Sie boten die Chance zum Beteiligtsein am splendor familiae und wiesen gleichzeitig den Teilnehmenden ihren Platz in der Feiergemeinde wie in der hier repräsentierten ländlichen Gesellschaft zu. Sie boten Zugehörigkeit und forderten dafür „Spielregel“-Befolgung.282 Ein letzter Aspekt: Adelsformationen, wollten sie weiterhin über Land und Leute herrschen, mussten den „Beherrschten“ etwas bieten und sie mussten sich mit der Konkurrenz der in die Fläche vorrückenden Staaten auseinandersetzen. Herausgefordert wurde Adelsherrschaft jedoch in England und Böhmen auch durch jene Akteure, die konkurrierende Ordnungsmodelle durchsetzen wollten, in England die Klassengesellschaft, in Böhmen die Nationalgesellschaft. Was große Feierlichkeiten, 282 Siehe dazu Kapitel 4.3.2 und 4.3.3.

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etwa Hochzeiten auf den adeligen Gütern in England noch verdeckten283, nämlich die fortschreitende Ausdifferenzierung der Agrargesellschaft in Klassen, vermochte der böhmische Adel besser zu bremsen: Nationalisierungsprozesse waren in der ländlichen Welt auch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei weitem nicht abgeschlossen, Nationsbildung ein immer noch eher fremdes bürgerliches Projekt.

283 Siehe dazu Kapitel 4.3.2.

5 Moderne Foren der Stabilisierung von Adelsherrschaft 5.1 Lokalverwaltung In Böhmen wie in England war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das weitere Vordringen des Staates in die Fläche gekennzeichnet. Was jedoch in England stärker Prozesscharakter hatte, bedeutete für Böhmen mit der Abschaffung der Patrimonialverwaltung in Folge der Revolution von 1848 eine abrupte Veränderung.1 Die habsburgische Gemeindegesetzgebung der Jahre 1849, 1859, 1862 und 1867, wenn auch grundsätzlich getragen von dem Bestreben, eine einheitliche Gestaltung der inneren Verwaltung zu erreichen, ließ bei der Gemeindeverwaltung angesichts der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in den verschiedenen Kronländern eine gewisse Differenzierung zu. So beschrieb das Reichsgemeindegesetz von 1862 vor allem Rahmenbestimmungen, die in Landesgemeindeordnungen ausgearbeitet werden mussten. Seit Ende 1867 wurde dann die gesamte Gemeindegesetzgebung der Kompetenz der Landtage zugewiesen.2 Im Ergebnis kann man von einer gewissen Doppelgeleisigkeit sprechen: 1868 wurden die Bezirkshauptmannschaften endgültig als alleinige landesherrliche Organe der allgemeinen Lokalverwaltung konstituiert und blieben so bis zum Ende der Monarchie bestehen. Den Ortsgemeinden wiederum wurde, in Böhmen mit dem Landesgesetz von 1864, ein selbständiger staatsfreier Wirkungskreis zugeschrieben, was nach Einschätzung der Literatur deren Stabilität 1 Ralph Melville: Von der Patrimonialverwaltung zur Gemeindeselbstverwaltung in Böh­men und Österreich um 1848; in: Documenta Pragensis 14/1997, S.  51–64. Zur Übergabe des Schriftgutes der ehemaligen Patrimonialverwaltung wurden verschiedene Kommissionen gegründet, die diese Übergabe sicherstellen sollten, siehe dazu z. B. die Cirkularverordnung der k. k. Gerichtseinführungskommission für das Kronland Böhmen vom 30.4.1850. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 54. Auch in den adeligen Überlieferungen findet sich umfangreiches Schriftgut über die Abgabe der betreffenden Akten. Siehe dazu z. B. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 428 und 429 (Schwarzenberg). Graf Czernin notierte in seinem Tagebuch, dass der für die Region zuständige „Bezirkscomisär“ Baron Malowez mit ihm und seiner Frau zu Abend gespeist habe. Er fuhr fort: „Gegen seine Person ist nichts einzuwenden, aber sonderbar ist er doch. Dass einem so ein Herr Bezirkscomisär gegenwärtig in das Haus fällt u. sich darin einnistet, wo doch seine Geschäfte … den … ehemaligen Herrschaftsgebieter nichts angehe[n]“, irritierte ihn ganz offenbar. Tagebucheintrag Eugen Czernin, 19.6.1850. SOA Třeboň, Zweigstelle JH. 2 Jiří Klabouch: Die Lokalverwaltung in Cisleithanien; in: Die Habsburgermonarchie, hrsg. Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Bd. 2, Wien 1975, S. 270–305, S 274f.

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und Leistungsfähigkeit bis zum Ersten Weltkrieg begründete.3 In den Zuständigkeitsbereich der Ortsgemeinden fiel vor allem die Verwaltung des Gemeindevermögens und Fragen der Gemeindezugehörigkeit („Heimatrecht“), ferner die Zuständigkeit für die Ortspolizei und damit die Markt-, Gesundheits-, Gewerbe-, Bau- und Brandschutzaufsicht.4 Aus dem Stadionschen Gemeindekonzept, entwickelt 1849 mit der Ziel der bereits erwähnten Vereinheitlichung und Zentralisierung der Verwaltungsstrukturen5, wurde das Dreiklassenwahlrecht übernommen, das als modifiziertes Zensuswahlrecht bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer im Jahre 1907 bestand; ferner die Bachsche Wahlberechtigung für juristische Personen. In Böhmen (wie auch in Mähren, Schlesien, Galizien, der Bukowina sowie Niederösterreich und der Krain) erhielten außerdem die größten Steuerzahler eine Virilstimme in den Gemeindevertretungen6, was im ländlichen Böhmen fast immer dem Adel zugute kam. Abgesehen davon, dass seine Vertreter in der ersten Kurie wählten, konnten sie auch in der zweiten und dritten kandidieren. Was Böhmen mit England verband, war nicht zuletzt die bereits von Otto Hintze konstatierte Tatsache, dass es sich bei beiden Großregionen um ständische Landschaften handelte. Hier, wie in vielen zu Ostmitteleuropa gehörenden Territorien auch, hatte sich die Selbstverwaltung seit der Frühen Neuzeit vorrangig als regionale Standesherrschaft in der Hand adeliger Gutsbesitzer etabliert.7 Bis in die 1880er Jahre hinein sah es auch in der Tat so aus, als sei die Macht von gentry und Hochadel zumindest in den ländlichen Grafschaften Englands ungebrochen. Nach wie vor stellten sie eine Vielzahl der lord-lieutenants8 und Friedensrich3 Ebd., S. 280f. 4 Jan Janák, Zdeňka Hledíková und Jan Dobeš: Dějiny správy v českých zemích od počatků státu po současnost [Die Geschichte der Verwaltung in den böhmischen Ländern von den Anfängen des Staates bis in die Gegenwart], Praha 2005², S. 362. 5 Ralph Melville: Der böhmische Adel und der Konstitutionalismus. Franz Stadions Konzept einer postfeudalen Neuordnung Österreichs; in: Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848–1918, hrsg. v. Ferdinand Seibt, München 1987, S. 135–145. Siehe auch ders., Adel, S. 220–254. 6 Klabouch, Lokalverwaltung, S. 281. Siehe zur Virilstimme auch Solomon Wank: Aristocrats and Politics in Austria 1867–1914. A Case of Historiographical Neglect; in: East European Quarterly 26/1992, S. 133–148, besonders S. 136 und 139. 7 Raphael, Recht, S. 145. 8 Diese wiederum wurden bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein vor allem mittels Patronage besetzt. So suchte z. B. der Marquess of Londonderry bei Robert Peel, als dieser 1841 Ministerpräsident geworden war, um verschiedene Botschaftsposten und militärische Funktionen nach, wurde jedoch nicht berücksichtigt. Erst im folgenden Jahr bot ihm Peel das Amt des lord-lieutenants für die Grafschaft Durham an, obwohl

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ter9 und sprachen auf den petty und quarter sessions Recht. Noch 1887 gehörten drei Viertel der county magistrates in England und Wales dem hohen oder niederen Adel an bzw. rekrutierten sich aus dessen leitendem Personal und aus der Gruppe seiner (Groß-)Pächter. Dies war schon deswegen der Fall, weil sich viele lord-lieutenants, wie etwa der Duke of Buckingham, weigerten, Männer mit einem anderen sozialen Hintergrund zu ernennen.10 Tatsächlich kann man etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geradezu von einer Hochzeit des local government sprechen, denn auch politische Gegner waren sich in ihrer Ablehnung zentralisierter Staatstätigkeit11 und der Wertschätzung der vielfältigen Institutionen der Selbstverwaltung einig.12 Gleichzeitig nahm trotz aller weitverbreiteten Abneigung gegen den Zentralstaat dessen legislative Tätigkeit zwischen 1833 und 1855 bedeutend zu, wobei wiederum mehr als ein Drittel der Gesetze das local government stärkte, indem es die Rechtskompetenz der Friedensrichter, Versammlungen der Kirchengemeinden sowie der poor law unions oder local health boards vergrößerte.13 Diese Vorliebe für die lokale Selbstverwaltung führte zu einer Vielzahl von Institutionen; neben den schon genannten gehörten dazu auch jene für Schulen oder Straßen sowie die Grafschaftspolizei und örtlich eingerichtete Ausschüsse und Körperschaften, mit denen ad hoc auf Probleme reagiert werden konnte. Sie alle hatten je eigene Kompetenzen, wozu auch das Recht gehörte, Steuern oder Abgaben zu erheben. Auch die größten Befürworter des local government konnten daher ihre Augen kaum vor der Tatsache verschließen, dass unklare und einander häufig überlappende Kompetenzbereiche zu Unübersichtlichkeit und Reibungsverlusten führten. Diese wurden noch dadurch verschärft, dass die Besetzung der Ämter höchst unterschied-

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es mit dem Sohn des Amtsvorgängers einen (ebenfalls adeligen) Kandidaten (mit eher noch größerem Landbesitz im county) gab, der sich berechtigte Hoffnungen auf das Amt machte, die durch Londonderrys Ernennung enttäuscht wurden. Der Marquess wiederum nutzte sein Amt, um die Position der Tories unter den county magistrates zu stärken, ging dabei jedoch so taktlos vor, dass er starke Gegenwehr hervorrief. Alan Heesom: Problems of Patronage: Lord Londonderry’s Appointment as Lord Lieutenant of County Durham, 1842; in: Durham University Journal 70/1977–78, S. 169–177. Gegenüber dem 18. Jahrhundert, als sich der Adel vom Amt des Friedensrichters zurückzog, kann man im 19. Jahrhundert wieder ein verstärktes Interesse daran beobachten. Lieven, Abschied, S. 272f. Siehe auch Mingay, Rural Life, S. 27. Cannadine, Decline, S. 154. In seiner Ablehnung zentralstaatlicher Tätigkeit war sich das gesamte politische Spektrum einig; auch stand dieser Ablehnung keine positive Theorie staatlicher Tätigkeit gegenüber. David Roberts: The Social Conscience of the Early Victorians, Stanford 2000, S. 375– 395. Rödder, Herausforderung, S. 270–273. Roberts, Conscience, S. 396 und S. 399.

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lich gestaltet war; nicht immer erfolgte sie auf der Basis von Wahlen und selbst dort, wo dies der Fall war, konnte die jeweilige property qualification durchaus unterschiedlich ausfallen.14 Reformbedarf war also durchaus vorhanden, zumal es nach den Wahlrechtsreformen von 1884/85 zunehmend schwieriger war zu begründen, warum (Land-)Arbeiter bei Parlamentswahlen ihre Stimme abgeben konnten, nicht jedoch auf lokaler Ebene.15 Mit dem County Council Act von 1888 wurde daher die Lokalverwaltung auf eine neue Grundlage gestellt. Ähnlich wie in Böhmen, wo dem gutsbesitzenden Adel Neuerungen durch die Virilstimme erträglich gemacht werden sollten, bestand nach dem Gesetz von 1888 in England (und Wales) die Möglichkeit, aldermen zu kooptieren, so dass Adelige, die für die Grafschaftsräte nicht kandidiert hatten oder nicht gewählt worden waren, dennoch ihren Platz in den Vertretungen finden konnten. Auch blieben die Entscheidungskompetenzen der councils (vorerst) begrenzt, da die Zuständigkeit der school boards erst 1902 auf sie überging, die des Armenrechts sogar erst 1929.16 Insgesamt brachte die Einführung der county councils die Professionalisierung der Grafschaftsverwaltung voran. Was sie darüber hinaus für die Stellung des Adels in der ländlichen Welt bedeutete, ist in der englischen Forschung umstritten. Während Cannadine in ihnen deutlich mehr als nur die alten quarter sessions unter neuem Namen sieht17, verweist Beckett darauf, dass die Macht des Adels in den localities weitgehend intakt geblieben sei, wenn er auch Veränderungen in der Art und Weise des Regierens habe hinnehmen müssen.18 5.1.1 Böhmen: Gemeinde- und Bezirksverwaltungen

Nach den Gemeindewahlen im Jahre 1861 schrieb Eugen Graf Czernin an den Gemeindevorsteher von Schamers, die Tatsache, dass er als ehemaliger Grundherr in den dortigen Gemeindeausschuss gewählt worden sei, habe ihn „sehr erfreut“ und ihm die „wohltuende Überzeugung verschafft, daß die alten Bande der Anhänglichkeit an meine Familie, die uns durch Jahrhunderte in Freud und Leid an einander [sic!] ge14 Hoppen, Mid-Victorian Generation, S. 107. Hier findet sich auch eine Liste der verschiedenen Körperschaften und Einrichtungen, zu denen neben den 65 Grafschaften und den 97 borough quarter sessions im Jahre 1870 auch 224 municipal borough councils und 667 poor law unions gehörten, ferner 852 turnpike trusts und 404 rural highway authorities. Siehe auch Bourne, Patronage, S. 26f. 15 Cannadine, Decline, S. 139. Die Auswirkungen waren gravierend: In Cheshire etwa waren nun 100.000 Männer statt zuvor 20.800 wahlberechtigt. Ebd., S. 141. 16 Ebd., S. 157 und S. 166. 17 Ebd., S. 166f. und S. 161. 18 Beckett, Aristocracy, S. 432.

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knüpft hatten, durch die neuen Staatseinwirkungen nicht gelockert wurden.“19 Er bat daher darum, seinen Wählern den „wärmsten Dank“ zu übermitteln, bevor er damit schloss, dass er sich „der frohen Zuversicht hin[gebe], daß wir bei der Gemeinsamkeit unserer Interessen auch für die Zukunft das Band der Eintracht gewinnen werde[n].“20 Fast wie in einer Programmschrift finden sich in diesem Brief die Überzeugungen und Erfahrungen, die dem adeligen lokalpolitischen Agieren auf der Ebene der Gemeindevertretungen zugrunde lagen: Die Selbstbeschreibung als (ehemaliger) Grundherr, das Vorhandensein paternalistisch geprägter personaler Bindungen, erprobt und bewährt über einen langen Zeitraum hinweg, und das Verständnis vom Staat als einem in dieses autonome Verhältnis eindringenden Konkurrenten. Gleichzeitig war dies ein Deutungsangebot der sozialen Beziehungen in der ländlichen Welt, und wenn der Graf von den gemeinsamen Interessen sprach, so lässt sich dies als InAussicht-Stellen eines Nutzens verstehen. „Modern“ anmuten mochte der Dank an seine Wähler, doch auch dieser Dank war ständisch formuliert, denn er stattete ihn nicht für erwiesenes Vertrauen, sondern für „Anhänglichkeit“ ab. Immerhin, nach den Wahlen des Jahres 1850 hatte der Graf noch lapidar in seinem Tagebuch vermerkt: „Man wollte mich zum [Gemeinde-]­Vorsteher wählen und ich sollte deshalb befragt werden, doch ich war gerade nicht zu Hause.“21 Wie die „Herren Wähler“22 1861 auf den gräflichen Brief reagierten, ist nicht überliefert. Gewiss erfuhren sie jedoch, dass Eugen Czernin kurz darauf nicht nur in Schamers, sondern auch in fünf weiteren Gemeinden, in denen er ebenfalls in die Gemeindeausschüsse gewählt worden war, die „Anhänglichkeit“ belohnte: Er ließ Geldgeschenke zur Unterstützung der örtlichen Armen durch die Gutsdirektion verteilen.23 Wahlen zu den Gemeindevertretungen waren eine aufwendige Angelegenheit. Jene des Jahres 1861 dauerten vom Januar bis in den März hinein; der Graf war in insgesamt 30 Gemeinden wahlberechtigt.24 Zwar sind aus diesem Jahr keine Steuer19 Graf Czernin an den Gemeindevorsteher der Gemeinde Schamers, 28.3.1861. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 150. 20 Ebd. 21 In dem fünfköpfigen Gremium saßen neben ihm und dem Pfarrer, der seinem Patronat unterstand, auch der „Jude Falk“, wie er eigens notierte; zum Vorsteher war der „alte Bauer Mach“ gewählt worden. Tagebucheintrag vom 9.9.1850. SOA Třeboň, Zweigstelle JH. 22 Graf Czernin an den Gemeindevorsteher der Gemeinde Schamers, 28.3.1861. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 150. 23 Anweisung an das Wirtschaftsoberamt, 7.4.1861. Ebd. Dass Wohltätigkeit zu politischen Zwecken eingesetzt wurde, war in einem Ausmaß verbreitet, dass es auch als literarischer Topos bekannt ist. So ließ Gustave Flaubert seinen Marquis d’Andervilliers „große Mengen Brennholz verteilen“ als eine der Maßnahmen, mit der er seine Kandidatur für die Deputiertenkammer vorbereitete. Gustave Flaubert: Madame Bovary, München 1999, S. 62. 24 Bezirkshauptmannschaft Neuhaus an das Wirtschaftsoberamt Neuhaus, 16.1.1861. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 150.

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unterlagen überliefert, bei den Gemeindewahlen des Jahres 1864 jedoch wiesen diese ihm die Virilstimme in vierzehn Gemeinden zu.25 Schon allein diese Vielzahl von Gemeindeausschussmitgliedschaften machte es notwendig, dass sich Eugen Czernin in den Gremien vertreten ließ.26 Auch wenn die Geschichte der Lokalverwaltung noch zu den großen Desideraten der Forschung zu den böhmischen Ländern gehört27, so lässt sich doch festhalten, dass nicht nur die Czernins – neben Eugen Czernin war auch sein ältester Sohn Jaromir bei Gemeindewahlen im dritten Wahlkörper erfolgreich28 – durchaus Interesse an den Organen der Lokalverwaltung hatten, sondern dass die großgrundbesitzende Aristokratie hier insgesamt vertreten war: Ob es sich dabei um die Grafen Kolowrat, Waldstein, Harrach, Clam-Martinic oder Belcredi (letzterer in Mähren) handelte bzw. um Angehörige der fürstlichen Geschlechter Schwarzenberg, Lobkowitz oder Kinsky29 – sie alle kandidierten bei unterschiedlichen Gelegenheiten erfolgreich für 25 Aufstellung der Wirtschaftsdirektion Neuhaus für den Grafen Czernin, 18.7.1864. Ebd. Interessant mag in diesem Zusammenhang das Beispiel der Gemeinde Wenkerschlag sein. Hier waren im Jahre 1864 elf Wahlberechtigte im ersten Wahlkörper nach ihrem Steueraufkommen vertreten, darunter der Graf als der mit Abstand größte Steuerzahler (290 fl.). An zweiter Stellte folgte die Gemeinde Wenkerschlag selbst (91 fl.), dann fünf Bauern und drei Müller mit jeweils zwischen 44 und 73 fl. Aufzeichnung vom 9.6.1864. Ebd. 26 Siehe dazu die Vertretungsvollmachten für leitende Angestellte aus seiner Guts- und Forstverwaltung vom 20.3.1865, 17.7.1867 und 30.7.1876. Ebd. Siehe zu diesem Kontext auch die Ausführungen im Kapitel 2.2. 27 Gray Cohen macht dafür die lange währende Dominanz einer decline-These in der Forschung zur Habsburgermonarchie verantwortlich. Gary Cohen: Neither Absolutism nor Anarchy. New Narratives on Society and Government in Late Imperial Austria; in: Austrian History Yearbook 29/1998, S. 37–61, hier besonders S. 37ff. Zur Selbstverwaltung siehe jedoch Peter Urbanitsch: Zentralmacht und regionale Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert; in: Ústřední moc a regionální samospráva [Zentralmacht und regionale Selbstverwaltung]. XXIII. Mikulovské Sympozium, Brno 1995, S.  85–104 und Milan Hlavačka: Zlatý věk české samosprávy. Samospráva a její vliv na hospordářský, sociální a intelektuální rozvoj Čech 1862–1913 [Das goldene Zeitalter der tschechischen Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung und ihr Einfluss auf die wirtschaftliche, soziale und intellektuelle Entwicklung Böhmens 1862–1913], Praha 2006. 28 Jaromir Czernin wurde sowohl 1870 als auch 1876 in verschiedenen Gemeinden im dritten Wahlkörper in die Gemeindeausschüsse gewählt. Bericht mit den Wahlergebnissen der Wahlen am 11.9.1870 in den Gemeinden Buchen und Motten vom 12.9.1870 sowie Schreiben des Gemeindevorstandes bzgl. der Wahlergebnisse in der Gemeinde Buchen vom 23.12.1876 an den Grafen; beide Dokumente SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 150. 29 Zu den Grafen Kolowrat siehe z. B. die Vollmachten für seinen Wirtschaftsdirektor, ihn bei den Gemeindeausschusssitzungen zu vertreten, vom 8.2.1861 und vom November 1870 [nicht genauer datiert]; beide Dokumente SOA Praha: Vs Březnice, kart. 522, zu Waldstein die im Verlauf des Kapitels noch folgenden Ausführungen, zur Wahl

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die diversen Ämter in den Gemeindeverwaltungen. Ganz offenbar war für sie alle eine Mitarbeit in diesen Gremien nicht „untragbar“30, wie die Literatur lange angenommen hat. Herausragend in seinen lokalpolitischen Aktivitäten war Friedrich Fürst Schwarzenberg. Er verband ein umfangreiches Engagement in den Vereinen und Verbänden des Agrar- und Forstwesens31 mit Aufgaben in der Lokalverwaltung. Nachdem er bereits im Alter von fünfzehn Jahren Mitglied im Böhmischen Forstverein geworden war, begann er fünf Jahre später, 1882, seine Karriere in der Gemeindeselbstverwaltung, als er zum Stellvertretenden Vorsteher des Kreisausschusses von Březnice gewählt wurde; dieses Amt hatte er 25 Jahre inne.32 Wiederum fünf Jahre später, 1887, nach Abschluss von Jurastudium und Promotion sowie der Übernahme einer Vielzahl weiterer Vereins- und Verbandsfunktionen33, wurde er zum Kreisvorsteher des Kreises Mirovice gewählt.34 Dieses Amt übte er siebzehn Jahre lang, bis 1904, aus. Jan Harrachs zum Bürgermeister von Jilemnice 1875 Glassheim, Nationalists, S. 96. Zu den erfolgreichen Kandidaturen von Georg Christian Fürst Lobkowitz und Heinrich Graf Clam-Martinic bei den Wahlen zur Bezirksselbstverwaltung in Mělník bzw. Slaný Georgiev, Strana, S.  75. Clam-Gallas wirkte bereits seit 1850 als Bezirkshauptmann in Mělník. Unter dem 18.9.1850 vermerkte Eugen Czernin in seinem Tagebuch: „Hinrich als Melniker Bezirkshauptmann sehr beschäftigt.“ SOA Třeboň, Zweigstelle JH. Zu Egbert Graf Belcredi als mährischem Beispiel in dieser Reihe siehe dessen Tagebucheintrag vom 11.7.1850; Jaromír Boček [i. e. Antonín Okač]: Z deníků moravského politika v éře Bachově. Egbert Belcredi 1850–1859 [Aus den Tagebüchern eines mährischen Politikers der Ära Bach. Egbert Belcredi], Brno 1976, S. 20f. Zu den verschiedenen Tätigkeiten des Fürsten Georg Christian Lobkowitz in der Lokalverwaltung siehe Milan Hlavačka: Der 70. Geburtstag des Fürsten Georg Christian Lobkowicz oder Aufstieg und Fall des konservativen Großgrundbesitzes in Böhmen; in: Etudes danubiennes 19/2003, S.  87–94 und ders.: Okresní samospráva jako představitelka venkovských elitních sborů a její vliv na formování české občanské společnosti v Čechách do první světové války [Die Bezirksselbstverwaltung als Vertretung der ländlichen Eliten und ihr Einfluss auf die Ausbildung der tschechischen Zivilgesellschaft in Böhmen bis zum Ersten Weltkrieg]; in: Občanské elity a obecní samospráva 1848–1949 [Bürgerliche Eliten und Gemeindeselbstverwaltung 1848–1948], hrsg. v. Lukáš Fasora, Jiří Hanuš und Jiří Malíř, Brno 2006, S. 174–188, S. 178–181. Auch Octavian Fürst Kinský war, wie Jan Harrach, bei Bürgermeisterwahlen erfolgreich; dieses Amt versah er in Chlumec in den Jahren 1864 bis 1866; Aleš Valenta: Dějiny rodů Kinských [Die Geschichte des Geschlechts Kinsky], České Budějovice 2004, S. 173. 30 So etwa Stekl und Wakounig, Windisch-Graetz, S. 222. 31 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 5.2. 32 Tschechisch verfasster Lebenslauf o. D. von Bedřich Schwarzenberg. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 862. 33 Ebd. 34 Ebd. Einen guten Eindruck seiner Tätigkeit als Bezirksvorsteher von Mirovice vermittelt der Bestand SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 873, in dem sich Protokolle, Tageordnungen u.

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Hinzu kam 1889 auch die entsprechende Funktion im Kreis Milevsko. 1893 wurde er in den böhmischen Landtag gewählt, zwei Jahre später erstmals in den Reichsrat. Diesem gehörte er auch nach den Wahlen von 1897 und 1901 an.35 Zwar fand mit dem Untergang der Habsburgermonarchie die (lokal-)politische Tätigkeit des Fürsten ihr Ende, doch noch 1933 stimmte die Lokalzeitung Mirovicko aus Anlass seines 70. Geburtstages das Hohe Lied auf ihn an, sei er doch ein „pilný a svěd[o]mitý český politik, nadšenec české samosprávy [fleißiger und gewissenhafter tschechischer Politiker, ein Begeisterter der tschechischen Selbstverwaltung]“, von Geburt ein hoher Adeliger, „chováním vzácný demokrat [im Verhalten ein Demokrat, wie es ihn selten gibt]“ und als Person „vzácně ušlechtilého smýšlení [von wahrhafter edler Gesinnung].“36 Mit seinen Standeskollegen verband Friedrich/Bedřich Fürst Schwarzenberg ein ausgeprägtes Interesse an der Lokalverwaltung, wobei die Gemeindeausschüsse für die meisten von ihnen das wichtigste Tätigkeitsfeld darstellten. Dies ist wenig erstaunlich, denn zum einen waren die Mitglieder der jeweiligen Adelsfamilien als zumeist größte Steuerzahler am Ort natürlich daran interessiert, wie diese Gelder und insgesamt die Finanzen der Gemeinden verwaltet wurden, auch um ihre eigene Steuerlast und – im Fall von Misswirtschaft oder Fehlkalkulationen – die ohnehin schon vielfältigen Bitten um Unterstützung37 nicht mehr als nötig anwachsen zu lassen. Hinzu kam, dass die Magnaten von den Entscheidungen der jeweiligen Gemeinde- und Bezirksvertretungen in vielen Fällen direkt betroffen waren, einerseits weil die Gemeinden versuchten, Lasten auf sie abzuwälzen38, andererseits weil auf dieser Ebene zum Beispiel Entscheidungen über Infrastrukturmaßnahmen getroffen wurden. Dazu gehörten etwa der Ausbau und die Instandhaltung des Straßennetzes. Den ehemaligen Herrschaftsbesitzern kam es dabei darauf an, dass die Lokalverwaltungen die von ihä . m. befinden. 35 Tschechisch verfasster Lebenslauf o. D. von Bedřich Schwarzenberg. Ebd., kart. 862. Zu den Reichsratswahlen von 1897, in denen Schwarzenberg als gemeinsamer Kandidat der böhmischen Parteien, zurückgehend auf eine Annäherung der Konservativen und der Jungtschechen, für den Kreis Budweis erfolgreich war, siehe Zdeněk Bezecný: „Němci nebojí se nikoho mimo Boha a prince Schwarzenberga“. Bedřich ze Schwarzenberku a volby do říšské rady v roce 1897 [„Die Deutschen fürchten sich vor niemandem, außer vor Gott und dem Prinzen Schwarzenberg“. Friedrich zu Schwarzenberg und die Reichsratswahlen von 1897]; in: Jihočeský sborník historický 72/2003, S. 70–80. 36 Ausgabe vom März 1933. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 862. 37 So sah sich Jaromir Graf Czernin 1881 mehr oder weniger gezwungen, die Freiwillige Feuerwehr von Ohmeleschen, die sich beim Kauf ihrer Ausrüstung verschuldet hatte und nun den Kredit nicht tilgen konnte, zu unterstützen. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs Petrohrad, kart. 80. 38 So wies Graf Waldstein seine Virilstimmenvertreter in den Gemeindevertretungen an, die „Errichtung neuer oder Überwälzung fremder Lasten auf den Herrschaftsbesitz“ nach Kräften zu vermeiden. Anweisung vom 23.1.1884. SOA Praha: RAV 3701, kart. 76.

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nen getätigten Zahlungen auch in voller Höhe anerkannten. Gleichzeitig mussten sie jedoch häufig genug ihre Gutsverwaltungen an die bestehenden Pflichten, etwa zur sogenannten Beschotterung der Bezirksstraßen, nachdrücklich erinnern.39 Ein weiteres Feld, das ebenfalls in diesen Kontext gehört, war der Ausbau des Eisenbahnnetzes durch eine Trassenführung, die den adeligen Produzenten eine Anbindung an die Märkte ermöglichte.40 Auch hier war eine Zusammenarbeit mit der lokalen Selbstverwaltung von großer Wichtigkeit, da diese über den Verkauf von Gemeindegrundstücken entschied.41 Nicht selten boten gerade Fragen der Trassenführung von Bahnstrecken eine gute Gelegenheit zur Vergesellschaftung von Interessen, wenn sich etwa adelige Gutsbesitzer beim Landesausschuss Gehör zu verschaffen wussten, dass eine bestimmte Linie im öffentlichen Interesse liege.42 39 Siehe z. B. die Berichte der Orlíker Gutsdirektion in dieser Angelegenheit vom 17.1.1854 (Anerkennung der getätigten Zahlungen), vom 18.9.1865 und 15.9.1868 (mit der scharfen Erinnerung des Fürsten an die Adresse seiner Gutsverwaltung, ihren Pflichten nachzukommen, da sich sonst die Kleingrundbesitzer ihrerseits auf den Großgrundbesitz beriefen, wenn sie ihren Pflichten nicht mehr nachkommen wollten) oder auch vom 20.11.1886. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 873. Siehe auch den Schriftwechsel aus der Gutsverwaltung des Fürsten Kolowrat, z. B. vom 24.5.1873, 22.2.1874 oder vom 10.4.1874. SOA Praha: Vs Březnice, kart. 522. 40 Zum adeligen Engagement im Kontext des Eisenbahnbaus siehe z. B. mit Blick auf die Aktivitäten von Ernst Franz Graf Waldstein zwischen 1856 und 1883 SOA Praha: RAV 3855, kart. 102 oder zur Einflussnahme auf die Trassenführung durch das Haus Aehrenthal Wank, Neglect, S. 138 und Josef Hons: Hrabě Karel Chotek a první české železnice [Karl Graf Chotek und die erste tschechische Eisenbahn]; in: Dějíny věd a techniky 31/1998, S. 65–79, außerdem Freudenberger, Momentum, S. 104f. und Heumos, Interessen, S. 25f. sowie grundsätzlich zur Entwicklung der Eisenbahn auch Milan Hlavačka: Industrielle Revolution und Verkehrsrevolution in den Böhmischen Ländern; in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1989, S. 71–86. Grundsätzlich ähnlich agierte auch der sächsische Adel, der sich stark für eine Trassenführung einsetzte, die die Eingliederung der Gutsbetriebe in die Transportnetze der Region ermöglichte. Jacob, Engagement, S. 295f. 41 Siehe etwa die Tagesordnungen der Bezirksausschusssitzungen von Jechnitz vom 9.7.1865, 6.9.1865 oder 20.12.1865. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs Petrohrad, kart. 54. 42 Bezirksobmann Rothau an Erwein Graf Nostitz, 23.11.1904. Hierin teilte der Bezirksobmann dem Grafen mit, dass das Eisenbahnministerium die Vorkonzession für den Bau der Eisenbahn Annathal-Rothau-Neudek nicht erteilt habe, da die Trasse nur im privaten Interesse der gräflichen Eisenwerke liege. Die Obmänner der Bezirksvertretung Graslitz und Neudek wollten nun ihrerseits um die Erteilung der Vorkonzession nachsuchen, da ihrer Auffassung nach der Bau in erster Linie „in öffentlichem Interesse“ liege. Der Bezirksobmann von Rothau wiederum bat in seinem Schreiben den Grafen, er möge zu Gunsten der Trassenführung beim Landesausschuss intervenieren. In seinem Antwortschreiben an den Obmann vom 14.12.1904 sicherte der Graf ihm seine volle Unterstützung zu. SOA Plzeň, Zweigstelle Žlutice: Vs Jindřichovice, kart. 217.

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Nicht immer waren sich jedoch die lokalen Funktionsträger und die Mitglieder der örtlichen Adelsfamilie so einig wie im Falle des Bahnprojektes Rothau-Neudek.43 Etwa zeitgleich schloss die Gutsverwaltung Orlík im Namen des Fürsten Schwarzenberg „nach langen lebhaften Auseinandersetzungen“ mit dem Landesausschuss und der örtlichen Flussregulierungskommission einen Vergleich, wer zu welchem Anteil die Stau- und Wehranlagen der Moldau bei Klingenberg zu unterhalten habe. Der Fürst musste sich in diesem Fall von seiner eigenen Anwaltschaft die Annahme des Vergleichs empfehlen lassen, da dieser nur seine gesetzlichen Verpflichtungen wiederholte.44 Dies hätte ihm wohl auch sein Bruder, der Bezirksvorsteher von Březnice, Mirovice und Milevsko sagen können. Schon diese Episoden zeigen, dass das adelige Agieren auf der Ebene der Selbstverwaltung nicht immer konfliktfrei verlief, dass Kompromisse gefunden werden mussten, die Gesetz- und Regelhaftigkeit bürokratischer und demokratischer Verfahren45 einzuhalten waren, und dass sich die Adeligen, wenn auch manchmal unwillig, in dieses Reglement einordneten, da es ihnen Informationskanäle46 und Handlungsspielräume eröffnete, die sie – ähnlich wie auch im Kontext des Vereinswesens47 – nutzten, um ihre Herrschaft durch Angebote zur Vergesellschaftung von Interessen zu stabilisieren.

43 Ebd. 44 Direktionsbericht Worlik, 11.8.1906. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 850. 45 Dass diese Verfahren und ein entsprechendes Amtsverständnis jedoch Dinge waren, die sich insgesamt erst entwickeln mussten, zeigen auch die schon in anderem Zusammenhang angeführten Beispiele, etwa des Bürgerwächters, der den Diebstahl von Sand ermöglichte oder des Gemeindevorstehers, der einem Bauern beschied, er möge doch den zu ihm geflüchteten Heger einer randalierenden Gruppe junger Männer übergeben, die sich an ihm rächen wollten, weil er einen von ihnen vor Gericht gebracht hatte. Siehe ausführlich zu diesen Beispielen, die sich mühelos ergänzen ließen, die Kapitel 2.2 und 3.2.2. Selbstverständlich waren von diesen „Lernprozessen“ nicht immer adelige Beamte und Angestellte betroffen. So musste sich der Bezirksausschuss von Petersburg (dem der Graf Czernin angehörte) in seiner Sitzung am 20.12.1865 mit der Beschwerde eines Johann Klaus befassen, der sich über den Gemeindevorsteher von Kollschwitz beschwerte, dass dieser ihn nicht zu den Ausschusssitzungen einladen lasse, obwohl er dessen Mitglied sei. Hintergrund der Beschwerde dürfte gewesen sein, dass es einen von Klaus erwirkten Beschluss gegen den Standort eines Viehstalls eines Dritten gab, der rechtskräftig war, jedoch vom Gemeindevorsteher nicht in die Tat umgesetzt wurde. Der Beschwerdeführer argwöhnte nun, dass er nicht mehr zu den Ausschusssitzungen eingeladen werde, um ihm die Möglichkeit zum ordnungsgemäßen Protest zu nehmen. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs Petrohrad, kart. 54. 46 Anweisungen an die Virilstimmenvertreter des Grafen Waldstein, 23.8.1915. SOA Praha: RAV 3701, kart. 76. 47 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 5.2.

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Dies setzte ein möglichst niedriges Maß von Konflikthaftigkeit voraus, was längst nicht immer gegeben war. Karl III. Schwarzenberg etwa verfügte nach den Gemeindewahlen von 1861, dass Häusler aus den Gemeinden Kožlí, Velký Vír und mindestens zwei weiteren Ortschaften keine Anstellung auf den Gütern mehr finden konnten, wofür er die jeweils Zuständigen in der Gutsverwaltung persönlich haftbar machte. Hintergrund dieser drastischen Maßnahme, die de facto die Entlassung der Betreffenden bedeutete, war, dass er in diesen Gemeinden nicht in die Ausschüsse gewählt worden war.48 Sehr schnell fanden sich daher Delegationen aus den betroffenen Ortschaften bei ihm ein, die ihr Vorgehen mit „Unkenntnis“ begründeten und ausführten, „protož my an dlouhá léta chleba Vaší Osvícenosti požívali, prosime co nejponíženěji překročili-li jsme jednáním tímto by nám odpuštěno bylo [weil wir seit langen Jahren das Brot Euer Erlaucht genießen, bitten wir auf das Demütigste, dass unser Verhalten uns vergeben werden möge].“49 Wie die Episode zeigt, ging der Fürst also ganz offenbar davon aus, ein „Recht“ auf die Sitze im Gemeindeausschuss zu haben und setzte es mit drastischen Maßnahmen durch, was ihm angesichts der Tatsache, dass er lokal der bedeutendste Arbeitgeber war, nicht schwerfiel. Auch auf den Gütern der Grafen Waldstein wurden Handlungsoptionen vorstrukturiert, hier die der Gutsbeamten: So nannte Ernst Franz politisches Engagement zwar eine „Schuldigkeit dem Staat gegenüber“, die „männlich und würdig zu erfüllen“ sei.50 Doch führte er aus, dass die politische Betätigung auch „Leidenschaft“ freisetze, wodurch die Gefahr bestehe, dass „leicht erregbar Gemüther … ihre näher gelegenen Dienstpflichten theilweise oder ganz vernachlässigen.“51 Der Graf ließ seine Beamten wissen, dass er „diese traurige Erfahrung bei keinem machen [möchte], der in meinem Dienst steht“52 und erließ ein Verbot jeglicher politischer Betätigung. Was als, wenn auch spezielle Maßnahme der Deeskalation gedacht war, führte zu landesweiter Aufmerksamkeit, weil ein zu dieser Zeit entlassener Angestellter der Gutsverwaltung den gräflichen Erlass den Národní Listy zuspielte. Das jungtschechische Blatt nutzte die Gelegenheit zur Adelsschelte, was wiederum die Waldsteinschen Beamten zu einer Ergebenheitsadresse gegenüber ihrem Dienstherren veranlasste; sie sprachen darin von „unwandelbarer Treue und inniger Anhänglichkeit“ und legten ihr „Geschick“ in die „Hände“ des Grafen.53 48 Bezecný, Příliš, S. 68f. Skeptisch hatte der Fürst auch in den Jahren nach der Revolution das Verhalten der ehemaligen Untertanen beobachten lassen. Zwischen 1848 und 1854 wurde der „Ausweis über das Benehmen der einzelnen, zum Dominium Worlik gehörenden Gemeinden gegen das durchlauchtigste Haus“ geführt. Ebd., S. 69. 49 Zitiert nach ebd. 50 Erlass vom 4.4.1862. SOA Praha: RAV 3751, kart. 88. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ergebenheits-Kundgebung von Seiten der herrschaftlichen Beamten; datiert nur als Reaktion auf den Erlass vom 4.4.1862. Ebd.

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Es nimmt nicht wunder, dass überall da, wo Magnaten auf solche Weise ihre Positionen durchzusetzen wussten, auch Unmut entstand. So schimpfte der Bauer Jan Vondrák während der Gemeindewahlen 1862 in einer zum Gutsgebiet Orlík gehörenden Čimelitzer Kneipe, dass der Fürst [Schwarzenberg] die Wahlen fälsche – angesichts der Entlassungen im Jahr zuvor keine ganz falsche Einschätzung – und er ihn und seine Familie daher erschießen würde, wenn er könnte. Dafür musste er sich vor Gericht verantworten.54 „Leiser“ ging die Gemeinde Nosadl, die zur Waldsteinschen Herrschaft Doksy gehörte, bei ihrer Gegenwehr gegen die gräfliche Machtposition vor. Als im Spätsommer 1864 Wahlen zum Amt des Gemeindevorstehers anstanden, wurden diese auch abgehalten, allerdings ohne dass der Graf darüber informiert worden wäre. Seine Stimmenanteile als Virilstimmeninhaber hatten die übrigen Wahlberechtigten kurzerhand unter sich aufgeteilt und versuchten dies damit zu legitimieren, dass sie behaupteten, der Virilstimmenbesitzer könne gar nicht in den Gemeindevorstand gewählt werden. Der Graf verwies dagegen auf das Gemeindegesetz, wonach er als Virilstimmenbesitzer berechtigt sei, eine Wahl in den Ausschuss oder Vorstand der Gemeinde abzulehnen. Daraus folge jedoch gerade seine prinzipielle Wählbarkeit in diese Ämter. Er bestand daher darauf, dass die Wahl ungültig sei. Wie so viele andere Konfliktfälle in der ländlichen Welt Böhmens landete auch dieser vor dem zuständigen Gericht.55 Ein möglichst „leises“ Vorgehen war auch vielen Adeligen nicht fremd, etwa wenn die Kandidatenlisten für den jeweiligen Wahlkörper im kleinen Kreis zusammengestellt wurden.56 Doch so, wie die Gerichte Verstöße gegen die Wahlordnung ahndeten, prangerte die Presse es an, wenn politische Betätigung verboten oder in Hinterzimmern Kandidatenlisten erstellt wurden.57 Daher legte Ernst Franz Graf Waldstein schließlich seinen (Virilstimmen-)Vertretern nahe, Auseinandersetzungen und vor allem gerichtliche Widerspruchsverfahren wegen ihres ungewissen Ausgangs möglichst zu vermeiden und die herrschaftlichen Interessen im Gemeindeausschuss mit „Intelligenz und conciliantem Wesen“ durchzusetzen.58 54 Bezcný, Bývalí, S. 18. 55 Schriftwechsel vom 28.8., 30.8. und 16.9.1864. Hinzu kommt ein weiterer undatierter Brief, der zwischen den beiden letztgenannten verfasst worden sein muss. SOA Praha: RAV 3711, kart. 77. 56 Schreiben „Namens einiger Wähler des 1. Wahlkörpers“ an den Grafen Czernin, o. D., dem Kontext nach kurz vor dem 17.9.1869, in dem dem Grafen eine solche Kandidatenliste zugestellt und er um seine Zustimmung gebeten wurde. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 150. 57 In der Presse wurden namentlich der Bezirkshauptmann Hrdlička und der gräfliche Forstmeister Wachtl angegriffen; auf weitere Akteure kaum verhüllt verwiesen. Pokrok vom 17.9.1869. 58 Anweisungen für die Vertreter der Virilstimme in den Gemeindevertretungen, 23.1.1884. SOA Praha: RAV 3701, kart. 76.

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Betrachtet man die Ausführungen zu Böhmen zusammenfassend, so kann von einer Abstinenz des hohen Adels in den Organen der Lokalverwaltung keine Rede sein. Auch beschränkten sich die Magnaten keineswegs mit ihrem Engagement auf jene Gemeinden, in denen ihnen die Virilstimme ein Mitspracherecht sicherte. Vielmehr kandidierten sie vielerorts auch im zweiten und dritten Wahlkörper erfolgreich, ließen sich aus praktischen Gründen wie auch solchen der Distinktion jedoch häufig von ihrem leitenden Personal vertreten. Ihr Hauptinteresse galt dabei den Gemeindeund Kreisausschüssen, wiewohl das Beispiel von Friedrich Fürst Schwarzenberg zeigt, dass Adelige auch über lange Jahre als Kreisstarosten erfolgreich sein konnten. Diese auf die Ausschüsse zielende Strategie war naheliegend, denn sie sicherte den Magnaten Informationen und ein Mitspracherecht dort, wo es, wie etwa bei den Gemeindefinanzen und den verschiedenen Maßnahmen zum Erhalt und zum Ausbau der In­ frastruktur, die direkten Interessen des Großgrundbesitzes betraf. Böhmische Adelige nutzten die Organe der Gemeindeselbstverwaltung, um im Rahmen der vom Staat gesetzten Normen und bürokratischen Verfahren ihre Interessen auszuhandeln. Hätten sie auf die Partizipation an der Lokalverwaltung verzichtet, so hätten sie damit eine Chance vertan, ihre Herrschaft aushandelnd zu stabilisieren.59 59 In manchen Fällen, etwa im Hause Schwarzenberg, nutzten Adelige auch diese lokale Vergesellschaftung, um Mandate für den böhmischen Landtag oder den Reichsrat zu erringen. Diese Strategien sind bis jetzt jedoch noch nicht untersucht worden. Die Forschung hat, wenn sie sich angesichts der Niedergangsthese überhaupt mit dem politischen Agieren des böhmischen Adels befasst hat, nach dessen Verhältnis zur tschechischen Nationalbewegung gefragt. Siehe dazu den Literaturbericht Tönsmeyer, Adel, S. 378–381. Zwar gibt es einige wenige Ansätze, doch die gehen kaum darüber hinaus, überhaupt ein politisches Engagement einzelner Adeliger zu konstatieren, oder sie wenden sich jenen Institutionen zu, in deren Rahmen ein solches Engagement ausgeübt wurde. Über konkrete Meinungsbildungsprozesse, auch über die Auseinandersetzungen zwischen dem feudalkonservativen und dem verfassungstreuen Adel, ist noch sehr wenig bekannt, über die konkrete Politikgestaltung, etwa im Bereich der Agrarpolitik, nichts. Dabei wäre dieses außerordentlich interessant, wie die Ausführungen von Ebert zur Gewerbeordnungsnovelle von 1885 zeigen. Sowohl im Abgeordneten- als auch im Herrenhaus war die Aristokratie recht erfolgreich, z. B. eine Regelung der Arbeitspausen oder ein Beschäftigungsverbot von Kindern und Frauen in der Landwirtschaft zu verhindern, wie sie es gleichzeitig in der neuen Gewerbeordnung festgeschrieben wissen wollte, und dies, obwohl (besser wohl: weil) in der Landwirtschaft von solchen Regelungen doppelt so viele Menschen betroffen gewesen wären. Kurt Ebert: Die Anfänge der modernen Sozialpolitik in Österreich. Die Taaffesche Sozialgesetzgebung für die Arbeiter im Rahmen der Gewerbeordnungsreform (1879–1885), Wien 1975, S. 216, S. 222f., S. 227f., S. 232f. und S. 242ff. – Zu den ersten Ansätzen, adeliges politisches Engagement zu konstatieren, siehe Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie, hrsg. v. Tatjana Tönsmeyer und Luboš Velek, München 2011. Libor Tomášek: Karel III Schwarzenberg. K politické činnosti české šlechty v šedesátých letech 19. století [Karl

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Dieser Befund mag angesichts der Tatsache erstaunen, dass der böhmische Adel vor allem in den 1850er und 1860er Jahren gegen die Reformen der Lokalverwaltung massiv polemisierte. Noch 1860 klagte Eugen Graf Czernin, dass sich nun „der Herr mit 32 oder 64 Ahnen … jedem rohen Ortsvorstand beugen“ müsse und dass der „unwissende Bauer, der öfters nicht schreiben konnte, der Vorgesetzte seines gebildeten

III. Schwarzenberg. Zur politischen Tätigkeit des böhmischen Adels in den 1860 Jahren]; in: Jihočeský sborník historický 63/1994, S. 101–114. Aleš Valenta: Karel Schwarzenberg (1859–1913). K politice české konzervativní šlechty v první polovině devadesátých let devatenáctého století [Karl Schwarzenberg (1859–1913). Zur Politik des böhmischen konservativen Adels in der ersten Hälfte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts]; in: Střední Evropa 43/1994, S.  75–85. Felix Höglinger: Ministerpräsident Heinrich Graf Clam-Martinic, Köln/Graz 1964. Jaroslav Purš: Volby do českého zemského sněmu v dubnu 1872 [Wahlen zum böhmischen Landtag im April 1872], Praha 1987. Otto Urban: Der böhmische Landtag; in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Bd. 7/II, Wien 2000, S. 1991–2055. Šarka Lellková: Der Beginn des passiven Widerstandes der Deutschen im böhmischen Landtag, 1886/87; in: Parliaments, Estates and Representation 23/2003, S. 143–152. Lothar Höbelt: The Great Landowners’ Curia and the Reichsrat Elections during the Formative Years of Austrian Constitutionalism 1867–1873; in: Parliaments, Estates and Representation 5/1985, S. 175–183. Pavel Cibulka: Český Klub na Ríšské řade (1879–1887) [Der Tschechische Club im Reichsrat (1879–1887)]; in: Český Časopis Historický 92/1994, S.  45–62. Luboš Velek: Strana ústavoverného velkostatků [Die Partei des Verfassungstreuen Großgrundbesitzes]; in: Politické strany. Vývoj politických stran a hnutí v českých zemích a Československu 1861–2004 [Politische Parteien. Die Entwicklung der politischen Parteien und Bewegungen in den böhmischen Ländern und der Tschechoslowakei 1861– 2004], hrsg. v. Jiří Malíř, Brno 2005, S.  87–108. Jiří Georgiev: Strana konzervativního velkostatků [Die Partei des konservativen Großgrundbesitzes]; in: ebd., S. 59–86. Robert Luft: Die Mittelpartei des mährischen Großgrundbesitzes 1879–1918; in: Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848–1918, hrsg. v. Ferdinand Seibt, München 1987, S. 187–243. Lothar Höbelt: Konservatismus in Österreich; in: Stand und Probleme des Konservatismus, hrsg. v. Caspar v. Schrenck-Notzing, Berlin 2000, S. 233–242. Jan Havránek: Česká politika, konzervativní aristokraté a uspořádání poměrů v habsburské říši 1860 až 1867 [Tschechische Politik, konservative Aristokraten und das Ordnen der Verhältnisse im Habsburgerreich von 1860 bis 1867]; in: Sborník historický 17/1970, S. 67–96. Solomon Wank: Aristocrats and Politics in Austria 1867–1914. A Case of Historiographical Neglect; in: East European Quarterly 26/1992, S. 133–148. Nur am Rande in diesen Kontext gehört Gerald Stourzh: Die Mitgliedschaft auf Lebensdauer im österreichischen Herrenhaus 1861–1918; in: MIÖG 73/1965, S. 63–117, doch auch das Herrenhaus als Ort, an dem Adelige ihre politischen Interessen auszuhandeln suchten, harrt bisher noch einer entsprechenden Untersuchung.

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reichen Herrn“ werde.60 Bei solchen Klagen ließen es viele Adelige nicht bewenden: Sie verfassten Broschüren, in denen sie für das Ausscheiden des Großgrundbesitzes aus den Strukturen der Gemeindeverwaltung kämpften und alles andere als „Verbrechen“ brandmarkten.61 Die Strategie des Adels gegenüber der Lokalverwaltung war daher eine doppelte: Er nutzte ihre Organe insgesamt erfolgreich, um seine Herrschaft lokal zu stabilisieren. Gleichzeitig verteidigte er mit seinen Forderungen auf Ausscheidung des Gutsbesitzes aus den Gemeindestrukturen einen Rechtsanspruch gegenüber seinem Herrschaftskonkurrenten – dem Staat. Von diesem forderte er unter dem anglisierenden Schlagwort „self government“ für seine Güter einen Rechtsstatus, der jenem aus der Zeit der Patrimonialverwaltung möglichst nahekam.62 Denn schließlich, so Egbert Graf Belcredi, sei ein „Friedensrichter, wie er in England existiert, nichts anderes als ein veredelter Patrimonialrichter“63. So erfolgreich der böhmische Adel mit seiner Strategie gegenüber den ländlichen Wählern war, so erfolglos blieb er bei der Realisierung seiner Forderungen gegenüber dem Staat. Zwar sollte die Virilstimme die ehemaligen Herrschaftsbesitzer gegenüber der neuen Gemeindegesetzgebung milde stimmen, doch den geforderten Ausschluss des Gutsbesitzes aus den Gemeindestrukturen, wie dies etwa in Galizien64 konzediert wurde, konnten die böhmischen hohen Herren nicht erwirken. Damit allerdings kamen sie dem Vorbild England näher, als es ihre politische Rhetorik vermuten ließ, denn auch dort waren die landed estates Teil der Strukturen des local government, was

60 Zitiert nach Stölzl, Ära, S. 38. Bereits zu Beginn des Kapitels ist vom lokalpolitischen Engagement Eugen Czernins die Rede gewesen, außerdem wurde er auch bei den Wahlen von 1864 in eine Vielzahl von Gemeindeausschüssen gewählt, in drei Gemeinden außerdem auch in das Amt des Gemeindevorstehers. In zwei Fällen nahm er diese Wahl jedoch nicht an. Prager Zeitung vom 14.10.1864. Die Ablehnung mochte auf die Zusammensetzung der jeweiligen Gremien zurückzuführen sein, so dass der Graf vielleicht wenig Raum zum Aushandeln seiner Interessen zu erkennen vermochte. 61 Siehe z. B. [Albert Nostic:] Die Bildung von Gutsgebieten in Böhmen. Von einem Mitglied der böhmischen Gemeindekommission, Prag 1860. Egbert Belcredi: Die Frage lautet: Ausscheiden oder Nichtausscheiden aus der Gemeinde, o. O. 1860. J. J. Clam-Martinic: Die wesentlichen Verbrechen des Gemeindegesetzes, o. O. 1860. 62 Jiří Georgiev: Jindřich Jaroslav Clam-Martinic a počátky obecní samosprávy v Rakousku [Heinrich Jaroslav Clam-Martinic und die Anfänge der Gemeindeselbstverwaltung in Österreich]; in: Pravněhistorické studie 36/2003, S. 75–111. Jiří Adámek: Rakouský centralismus a snahy o autonomní velkostatek v letech 1848–1863 [Der österreichische Zentralismus und die Bemühungen um die Autonomie des Großgrundbesitzes in den Jahren 1848–1863]; in: Sborník archivních prací 24/1974, S. 42–66. 63 Tagebucheintrag aus dem Juli 1850. Boček, Z deníků, S. 20. 64 Klabouch, Lokalverwaltung, S. 280f.

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erst die Voraussetzung für die Bewahrung der lokalen Machtstellung englischer Aristokraten bildete. Nun besteht das Besondere bei Transfers stets darin, dass der Rezeptionsprozess des zu Transferierenden unter der Perspektive des Anverwandelns an die eigenen Interessen und Bedürfnisse erfolgt. Das Codewort vom „self government“ zielte daher auch nicht an erster Stelle auf die Lokalverwaltung, sondern wesentlich grundsätzlicher wurde hier das Verhältnis zwischen (monarchischem) Staat und Adel verhandelt. Denn in der Tat, davon wird im folgenden Teilkapitel noch die Rede sein, delegierte der englische Staat wesentlich länger Entscheidungen in die localities als dies in der stärker zentralistisch ausgerichteten Habsburgermonarchie der Fall war. Dem böhmischen Adel jedoch schien dieser „staatsarme“ Raum – oder, stärker methodisch gewendet, dieser Raum, in den der Staat erst wesentlich weniger stark vorgerückt war – überaus attraktiv. Eben deswegen berief er sich auf das Vorbild Englands: Auf eine Monarchie, die die starke Position des Adels nicht in Frage stellte. 5.1.2 England: Magistrate und Grafschaftsräte

Während in Böhmen der Konflikt zwischen den Magnaten und dem Zentralstaat lange Zeit den Blick darauf verstellt hat, dass die Selbstverwaltung einer jener Interaktionszusammenhänge blieb, den Adelige nutzten, um Herrschaft auszuhandeln und zu stabilisieren, ist sich die Forschung zu England darin einig, dass hier die Lokalverwaltung bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein geradezu eine Hochburg von peers und gentry blieb. Dies zeigt schon ein Blick auf ihre zahlenmäßige Beteiligung. So waren 22 der 42 lord-lieutenancies in England die gesamte Zeit von 1660 bis 1914 in der Hand von Magnaten, weitere sieben hatten erstmals nach 1900 einen nicht-hochadeligen Amtsinhaber.65 Ähnlich sah die Situation bei den county magis­trates aus, wo am Vorabend der Reform der Grafschaftsverwaltung drei Viertel der Mitglieder dem Adel (peers oder gentry) angehörten bzw. dessen Verwalter oder Pächter waren.66 65 Beckett, Aristocracy, S. 375. Zur Besetzung des Amtes mittels Patronage siehe die Einführungen in das Kapitel 5.2. Die lord-lieutenants ernannten auch ihre Stellvertreter, die deputy lieutenants. Auch hier war bei der Auswahl der Kandidaten üblicherweise Patronage im Spiel, nicht selten wurden jüngere Familienmitglieder berücksichtigt, wie dies etwa im Januar 1849 bei den Londonderrys der Fall war. CROD: D/Lo/F 491. 66 Cannadine, Decline, S. 154; siehe auch Beckett, Aristocracy, S. 377f. Dort auch zu den Friedensrichtern und ihren Kompetenzen. Beckett verweist außerdem darauf, dass es sich dabei um einen Rückgang von 86 % 1842 auf eben 74 % im Jahre 1887 handelte. Ebd., S. 392. Die Liste der Friedensrichter für die Stafford Division zeigt auch an einem regionalen Beispiel eindrücklich, wie stark der Adel hier involviert war. CROSt: D 1323/T/1/22.

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In ihrem Interesse an der Lokalverwaltung glichen sich also englischer und böhmischer Hochadel, und auch die in diesem Kontext angewandten Praktiken wiesen Ähnlichkeiten auf. An erster Stelle gehört dazu, dass auch die peers bestrebt waren, die verschiedenen Körperschaften mit ihren Anhängern zu besetzen. So suchte der 19. Earl of Shrewsbury als Verwalter einen Mann, der bereit war, „to go in for political struggle“.67 Der spätere 6. Marquess of Londonderry wiederum installierte seinen Verwalter Eminson 1870 als Mitglied des county magistrate.68 In den Folgejahren versuchte er als Konservativer außerdem wiederholt, das Zahlenverhältnis bei den örtlichen Friedensrichtern zu Ungunsten der Liberalen zu verändern.69 Von ihren Verwaltern erwarteten adelige Arbeitgeber nicht selten, dass sie auf den Ausgang von Abstimmungen Einfluss zu nehmen wussten. Wenn auch das Ausmaß, in dem die agents dies taten, umstritten ist, so greift doch die in der Literatur anzutreffende Einschätzung zu kurz, dass sie damit einen „genuine wish for guidance“ der Pächter70 erfüllten. Zu bedenken ist ferner, dass die property qualification des Wahlrechts zu der Vorstellung führte, die Stimme sei eine Form von Besitz, die sich bei (Parlaments-71)Wahlen verkaufen lasse.72

67 Undatiertes Schreiben des Earls aus seiner Privatkorrespondenz des Jahres 1873. CROSt: D 240/J/8/6. 68 Siehe die Schreiben vom 14.1.1870 und die undatierte Annahme des Amtes durch Eminson. CROD: D/Lo/C 313. Zu Eminsons Amtsführung ebd. Eminson war außerdem auch Mitglied des Local Board of Health in Dawdon, später des Urban Sanitary Authority Office in Seaham. Noch 1907 besetzte die Familie ganze parish councils mit „eigenen“ Leuten, wie das Beispiel der Kirchengemeinde Thorpe zeigte. Ebd: D/Lo/F 713. Ein ähnliches Verhalten legten auch andere landlords an den Tag. So vertrat der Pächter Coxon die Interessen des Earl of Shrewsburys in der Cheadle Rural Sanitary Authority mindestens von 1872 bis 1887. CROSt: D 1425/1/1. Dem Stafford Rural District Council wiederum gehörten von 1881 bis 1890 ein Onkel des Earls, William Chetwynd, und sein Verwalter, Samuel Ginders, an. Ebd.: D 659/4/1. Siehe zu diesem Themenkomplex grundsätzlich auch Thompson, Landed Society, S. 162f. 69 Siehe die diversen Schreiben in dieser Angelegenheit vom November und Dezember 1868. CROD: D/Lo/F 505. Außerdem Schreiben vom 26.2.1880 und besonders vom 28.10.1880. Ebd.: D/Lo/C 588. 70 Beastall, Landlords, S. 436. Ähnlich auch Mingay, Rural Life, S. 47. 71 Stärker noch als dies bisher für Böhmen bekannt ist, gehörte es in England in vielen adeligen Familien zu den Selbstverständlichkeiten, dass der spätere Inhaber des strict family settlement sich auf seine Tätigkeit im Oberhaus durch ein Parlamentsmandat vorbereitete. Siehe dazu z. B. Beckett, Aristocracy, S. 418–467 sowie Cannadine, Decline, S. 184–195. 72 In einem Schreiben vom 24.4.1871 bat etwa der Wahlkampfmanager der Konservativen in Durham den Verwalter von Earl Vane, für einen Feuerwehrmann eine im Hinblick auf Bezahlung und Kohlenzuteilung gleichwertige Stellung in den Londonderryschen Kohlengruben zu finden, dann sei dieser bereit, für den konservativen, vom Earl geförderten

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Eine Einflussnahme auf die lokalen Geschicke war jedoch ganz offensichtlich weit verbreitet. Nach der Ansicht von James Loch, Verwalter von Lady Stafford, der späteren Duchess of Sutherland, sollte ein landlord „simply … express his own opinions and wishes; and in most instances, where a good feeling exists between him and his tenants, the bulk of them will adopt the course most agreeable to him.“73 Viele Verwalter ließen es dabei nicht bewenden und erinnerten die Pächter daran, dass, wenn sie nicht den Wünschen ihres landlords folgten, dieser sich nicht mehr in der Lage sehen werde, gewisse Reparaturen zu übernehmen oder reduzierte Pachten bzw. günstige Kredite zu gewähren.74 Die auf diese Weise ausgeübte soziale Kontrolle wurde dadurch verstärkt, dass die Pächter als Gruppe betroffen waren, wodurch sie sich ihr schlechter entziehen konnten, so dass die englische Forschung im Ergebnis von einer culture of deference spricht.75 Hinzu kam ein weiterer Aspekt, der nicht gering geachtet werden sollte: Das adelige Angebot von Nutzen. Wie das folgende Beispiel zeigt, beschränkte es sich nicht auf das Inaussichtstellen von Reparaturen oder auf eine dem Pächter entgegenkommende Vertragsgestaltung. Im konkreten Fall geht es um einen Konflikt innerhalb der Stafforder poor law union zwischen den Unterbezirken Stafford town und Stafford rural in den Jahren 1849/50. Aktenkundig wurde die Auseinandersetzung, als sich die Steuerzahler der Stadt Stafford darüber beschwerten, dass sie den Löwenanteil der Armenunterstützung zu leisten hätten, ohne auf die Geschicke der poor law union Einfluss nehmen zu können, denn: „Mr. Talbot was elected Chairman by a majority of the Guardians then composed of tenants of his brother“76, dem Earl Talbot. Die Zahl der möglicherweise Bedürftigen hatte der Earl zuvor auf die für die Zeit „klassische“ Art und Weise reduziert: Durch den Abriss von cottages, so dass sich die Landarbeiter weiter entfernt liegende Unterkünfte suchen mussten.77 Die Episode illustriert, wie verschiedene adelige Praktiken zur Stabilisierung von Herrschaft ineinandergriffen, im konkreten Fall die Einflussnahme auf die personelle Zusammensetzung einer lokalen Körperschaft und der gemeinsame finanzielle Vorteil aus der Senkung der Lokalsteuern. Kandidaten, zu stimmen. „I shall feel obliged if you will attend it as we shall require every vote”, so der Wahlkampfmanager. CROD: D/Lo/C 316. 73 Zitiert nach Reynolds, Aristocratic Women, S. 130. Immerhin empfahl James Loch, dass, wenn doch einmal ein Pächter nicht dem so kommunizierten Wunsch seines landlord entspreche, dieser dessen Verhalten auf „honest and conscientious motives“ zurückführen möge. Ebd. 74 Richards, Land Agent, S. 446. 75 Hoppen, Mid-Victorian Generation, S.  255. Sehr ausführlich auch Moore, Politics of Deference, S. 19–133. Siehe auch die Ausführungen zur Kultur der Ehrerbietung in den Kapiteln 2.3, 3.1.3, 3.3.2, 4.1.3.2 und 4.1.4. 76 CROSt: D 1323/S/8/4. 77 Ebd.

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Bei allem adeligen Interesse an der Lokalverwaltung als Instrument der Herrschaftsstabilisierung bleibt mit F. M. L. Thompson festzuhalten, dass dies zwar für viele Magnaten Bedeutung hatte, doch längst nicht für alle.78 Dies war auch darauf zurückzuführen, dass sich die Teilnahme an den sessions recht zeitaufwendig gestaltete.79 Die Tagebucheintragungen des 15. Earl of Derby, Lord Stanley, vermitteln einen Eindruck von ihrem Alltag in den späten 1870er Jahren. Hier finden sich nicht nur Illustrationen vom Umfang der Tätigkeit und der Art der gefällten Urteile – „In these two days I passed about 35 sentences, 7 years the longest, one day the shortest. They averaged 6 to 12 months.“80 –, sondern auch sein eigenes Amtsverständnis und das seiner Kollegen wird deutlich. Unter dem 12. September 1878 notierte er zum Beispiel: „Walk to the sessions house [in Preston]. … Was elected as usual to the chair. … about 60 magistrates present at first but, as always happens, they tailed off, & after nearly 7 ½ hours sitting we ended less than a dozen.“81 Auch Lord Stanley verhielt sich nicht anders. Am 31. Oktober 1878 zum Beispiel schrieb er: „I made an excuse to leave, being in truth exhausted with three days sitting in air which is foul beyond endurance & makes me ill after a time.“82 Die Sitzungen seien „a nuisance“83 gewesen, was gewiss besonders dann der Fall war, wenn sich auch nach sechsstündiger Verhandlung nicht klären ließ, wem eine Ente gehörte und ob daher ein Diebstahl verhandelt werden musste oder nicht.84 Mit praktischen Erfahrungen wie diesen mochte nicht nur der Staat Handlungsbedarf im Hinblick auf eine Reform der Grafschaftsverwaltung sehen, sondern auch adeligen Akteuren deren Professionalisierung angezeigt erscheinen. Ein entscheidender Schritt auf diesem Weg war die Einführung der county councils im Jahre 1888 und die ersten Wahlen zu den neuen Körperschaften im darauf folgenden Jahr. Nach der Auszählung aller Stimmen zeigte sich, dass der landed interest vielfach seine Position hatte verteidigen können.85 Etwa die Hälfte der neuen Grafschaftsräte waren Magistrate, bei den aldermen lag der Prozentsatz noch höher. Auch standen an der Spitze der neuen county councils in zwei von drei Fällen die Vorsitzenden der quarter ses­sions 78 Thompson, Landowners, S. 458f. 79 Digby geht davon aus, dass die Magistrate etwa zwei Tage pro Woche dafür veranschlagen mussten. Anne Digby: The Local State; in: The Agrarian History of England and Wales, 1850–1914, hrsg. v. Edward John T. Collins, Bd. 7/II, Cambridge 2000, S. 1425–1464, S. 1433. 80 Tagebucheintrag vom 24.4.1878. Vincent, Diaries, S. 8. 81 Und das, obwohl es um die Schulden der Grafschaft ging. Eintrag vom 12.9.1878. Ebd., S. 38. 82 Eintrag vom 31.10.1878. Ebd., S. 50. 83 Ebd. 84 Eintrag vom 30.10.1878. Ebd. 85 Cannadine, Decline, S. 158.

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oder der jeweilige lord-lieutenant.86 In Bedfordshire war es zum Beispiel der 11. Duke of Bedford, der dem dortigen Grafschaftsrat vorstand und diesen als Verlängerungen seiner Gutsverwaltung in Woburn betrachtete. In Huntingdonshire nutzte die Sandwich-Familie die Lokalverwaltung, um ihre lokale Herrschaft zu stabilisieren, in Wiltshire die Familien Bath und Lansdowne.87 Doch für sie alle galt, dass sie sich die Macht nun in stärkerem Maße als zuvor teilen mussten88; ein „Schicksal“, das auch dem böhmischen Adel nach der Reform der Lokalverwaltung um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht erspart geblieben war. Dies zeigte sich nicht nur darin, dass örtlich „neue“ Männer in die councils gewählt wurden, sondern auch in der Zunahme des bürokratischen Formalisierungsgrades, zum Beispiel durch Geschäftsordnungen, die Verhaltensformen, wie sie Lord Stanley für Preston so anschaulich beschrieben hat, nach und nach der Vergangenheit angehören ließen. Dafür, wie die Einführung der Grafschaftsräte Wandlungsprozesse auslöste, wenn auch häufig zunächst gradueller Natur, ist das county Staffordshire mit seiner engen Nachbarschaft von Agrar- und Industrieregionen ein gutes Beispiel. Von den dortigen 59 Wahlbezirken entsandten etwa die Hälfte, nämlich 27, ihre Kandidaten in den county council, ohne dass sich diese gegen einen Herausforderer hätten durchsetzen müssen, darunter fünf Adelige, drei Militärangehörige (alle zuvor Magistrate), vierzehn Industrielle sowie mit William Coxon ein farmer (und Pächter des Earls of Shrewsbury).89 Adelige fanden sich im Übrigen auch unter den 23 aldermen: Neben dem Earl of Lichfield und Lord Burton, Basil T. Fitzherbert, ein Verwandter von Baron Stafford, und Reverend A. H. Talbot90, der zur Familie des Earls of Shrewsbury gehörte. Wieso gerade diese Kandidaten „unopposed“ blieben, ist im Einzelfall wegen des Fehlens von Quellen kaum mehr nachzuzeichnen. Die Tatsache als solche ist jedoch als Ergebnis von Aushandlungsprozessen zu verstehen, zu deren erfolgreichem Abschluss – im Sinne der Kandidaten ohne Herausforderer – ihre Anwesenheit vor Ort ebenso gehörte wie die Notwendigkeit, dass die aushandelnden Gruppen wie auch immer geartete gute Erfahrungen miteinander gemacht hatten. Nichts anderes verbarg sich hinter der Einschätzung des Staffordshire Advertiser, der mit Blick auf die Wahlniederlage von Basil Fitzherbert gegen einen Pächter in der Eccleshall division schrieb: „In this division no political question was raised, and the issue may be described as one of tenant-farmer versus magistrate.“91 86 Beckett, Aristocracy, S. 393 und Cannadine, Decline, S. 158f. Mit Blick auf die Positionsbehauptung der gentry siehe Mingay, Rural Life, S. 27. 87 Cannadine, Decline, S. 166. 88 Ebd., S. 159. 89 Staffordshire Advertiser vom 26.1.1889. 90 Ebd. 91 Ebd. Während Fitzherbert verlor, konnten sich jedoch in anderen Wahlbezirken die ehemaligen Magistrate gegen ihre Herausforderer durchsetzen. Ebd.

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In die Gruppe der aldermen wurde Fitzherbert dessen ungeachtet von „Seinesgleichen“ kooptiert. In den übrigen 32 divisions hatten sich die neuen Grafschaftsräte gegen Mitbewerber durchsetzen müssen, und keinem gelang dies mit so großem Stimmenvorsprung wie dem 20. Earl of Shrewsbury.92 Dem vorausgegangen war eine Vorstellungstour durch die Kirchengemeinden der division Stafford rural, wo er als „large landowner, employer of labour and a heavy taxpayer“ sowie als „thorough man of business“93 vorgestellt wurde. Der Earl selbst betonte in seinen Reden, dass er hoffe, „under all circumstances to remain friendly with all“.94 Scheine seinen Zuhörern einer der Mitbewerber der geeignetere Kandidat zu sein, so mögen sie für diesen stimmen und ihre Stimme dem Besten geben. Doch ließ er sie nicht im Ungewissen, dass er „hart kämpfen“ werde. An Selbstbewusstsein mangelte es dem Grafen jedenfalls nicht: „Of course, …, I think I am the best, and I want you to think the same.“95 Außerdem forderte der Earl of Shrewsbury, der als Konservativer antrat, die Politik außen vor zu lassen, nur um unmittelbar darauf auf die Frage der Altersversorgung zu sprechen zu kommen: „Give a man fair wages for his work, so that he could have a little to spare, and then let him take care of himself.“96 Was aus heutiger Sicht paradox anmuten mag, ist als zeitgenössisches Beispiel dafür zu verstehen, wie der Zuständigkeitsbereich von Politik verhandelt wurde.97 „Wages“ und „pensions“, so ließ der Earl seine Zuhörer und potentiellen Wähler wissen, fielen in seinen Augen nicht in die Kompetenz des Staates, sondern in jene von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Implizit machte er damit auch eine Aussage über sein Verständnis der county councils, nämlich, dass er in ihnen keinesfalls Agenturen einer staatlichen Zentralisierung sah.98 92 Shrewsbury siegte mit 1134 Stimmen und damit mit einem Vorsprung von 833 Stimmen über seinen Konkurrenten, Rev. Perry, der 301 Stimmen hinter sich hatte bringen können; ein dritter Kandidat unterlag weit abgeschlagen mit 211 votes. Ebd. Die division Stafford Rural, in der der Earl siegreich war, hatte im Jahre 1888 nach zeitgenössischen Schätzungen eine Bevölkerung von 15.061 Personen. Staffordshire County Council. A Complete Record for 1889, Stafford 1889. 93 Staffordshire Advertiser vom 22.12.1888. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Das Folgende ist in Anlehnung an die methodischen Überlegungen von Willibald Steinmetz entwickelt. Die Weigerung, über Politik zu sprechen, ließe sich danach als einer jener „elementaren Sätze“ verstehen, mit denen politische Akteure Zuständigkeitsbereiche von Politik verhandelten. Willibald Steinmetz: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780–1867, Stuttgart 1993, S. 13–47. 98 Jegliche staatliche Zentralisierung war bei den Zeitgenossen unbeliebt. Siehe dazu Roberts, Con­science, S. 375–395.

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In diesem Sinne sind auch seine sich anschließenden „wirtschaftspolitischen“ Ausführungen zu verstehen, in denen weder vom „Staat“ noch von „Politik“ die Rede war, sondern von seinem prosperierenden Droschken-Taxi-Unternehmen. Dessen Wagen und Geschirre würden alle in Staffordshire produziert und auch die Pferde stammten nach Möglichkeit aus heimischer Zucht.99 Zusammengenommen bildeten diese Aussagen einschließlich jener, mit allen auch weiterhin gut auskommen zu wollen, ein Sinnstiftungsangebot, das versprach, die Interessen der Anwesenden an der Aufrechterhaltung einer bestehenden sozialen Ordnung im Rahmen der neuen Körperschaft zu verfolgen. Es war genau dieses Angebot, das die etwa hundert Anwesenden in Jubelrufe ausbrechen ließ100, wodurch sie ihrerseits eine soziale Verpflichtung im Rahmen eines Gemeinschaftserlebnisses eingingen, für das gemeinsame Ideal tätig zu werden.101 Mit ihrer Stimmabgabe für den Earl of Shrewsbury lösten sie diese Selbstverpflichtung ein. Anzumerken bleibt noch, dass adelige Repräsentation einmal mehr ihr adäquates Medium in der Grafschaftspresse fand: Sie druckte nicht nur die Reden des Earls ab und berichtete über den Jubel, sondern sie nannte vor allem viele der Anwesenden namentlich102 und tat somit kund, wer zu der sich bildenden Gemeinschaft gehörte. Nicht wenige Adelige hatten bei Einführung der Grafschaftsräte befürchtet, dass damit das Ende ihrer Einflussmöglichkeiten auf die Lokalverwaltung gekommen sei. Erleichtert bemerkte Lord Harrowby, Vorsitzender des county councils von Stafford­ shire, gegenüber Lord Salisbury: „We shall all have to live in the country for the next three years, to keep things straight.“103 Anwesenheit, das haben die Ausführungen schon mehrfach gezeigt, war die Voraussetzung dafür, dass Herrschaft ausgehandelt werden konnte. Die Grafschaftsräte, so könnte man bilanzieren, waren einerseits nicht einfach die alten quarter sessions unter neuem Namen104, doch andererseits bedeutete ihre Einführung auch keinen Sturz der „alten“ Elite105: Sozialer Wandel, das kann man hieran ablesen, vollzog sich als langfristiger Prozess oft über graduelle Veränderungen. Der englische Hochadel war mit der Einführung der Grafschaftsräte in etwa dort angekommen, wo sich seine böhmischen Standeskollegen seit der Mitte des Jahrhunderts 99 Staffordshire Advertiser vom 22.12.1888. 100 Ebd. 101 Eine ähnliche Funktion hatten auch die Toasts auf den Dinnerveranstaltungen der Landwirtschaftsschauen. Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 5.2. 102 Staffordshire Advertiser vom 22.12.1888. In diesem Fall führte der Staffordshire Advertiser von hundert Anwesenden 28 namentlich auf, also mehr als ein Viertel. Zur adeligen Repräsentation auf den Seiten der Grafschaftspresse siehe auch die Ausführungen in Kapitel 4.3.2. 103 Zitiert nach Beckett, Aristocracy, S. 395. 104 Cannadine, Decline, S. 161. 105 Beckett, Aristocracy, S. 395.

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bereits befanden. Konfrontiert mit einem stärker in die Fläche vorrückenden Staat, als dies zuvor der Fall gewesen war, und einer damit einhergehenden Bürokratisierung und Professionalisierung der Lokalverwaltungen, mussten sie jene Felder106 bestimmen, die ihnen zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft geeignet erschienen107 und dieselbe aushandelnd, durch Angebote zur Verfolgung gemeinsamer materieller Interessen sowie durch Sinnstiftung qua Gemeinschaftsbildung, stabilisieren.

5.2 Vereine und Verbände Vereinsgeschichte ist lange Zeit vor allem als „Teilgeschichte der bürgerlichen Emanzipation“ geschrieben worden108, mit den Vereinen und Verbänden als Interessenorganisationen von Klassen und Berufsgruppen im Kontext gesellschaftlicher Mobilisierung und Modernisierung. In Zentraleuropa, und auch in Frankreich, ganz zu schweigen von Russland, wo der Staat eine starke Position innehatte, ging die His106 Dies kann man z. B. daran sehen, dass der Earl of Shrewsbury nach seinem Wahlerfolg 1889 in verschiedenen Ausschüssen der Grafschaftsverwaltung mitarbeitete, so in jenem, der für Straßen und Brücken zuständig war wie auch in dem, der sich mit ansteckenden Krankheiten bei Tieren befasste (in beiden Ausschüssen saß er gemeinsam mit seinem Pächter Coxon), ferner auch in den beiden Ausschüssen für Finanzen im Allgemeinen und für die Lokalsteuern im Besonderen. Die Familie war außerdem noch durch den alderman Rev. Talbot in der Grafschaftsverwaltung vertreten, der in den beiden Ausschüssen für das Sanitätswesen und die Anstalten für Geisteskranke saß. Staffordshire Advertiser vom 26.1.1889. Die minute books der beiden letztgenannten Ausschüsse sind überliefert (CROSt: CC/B/9 und CC/B/11), doch finden sich hier keine Aufzeichnungen über Diskussionen oder uneinheitliche Abstimmungen, so dass sie als Quellen für Meinungsbildungsprozesse, und damit auch für die Art und Weise des Aushandelns von Herrschaft, wenig aussagekräftig sind. 107 In diesem Sinne kann auch der von John Beckett konstatierte spätere Rückzug aus den Institutionen der Lokalverwaltung (Beckett, Aristocracy, S. 395) eine durchaus rationale Entscheidung zugunsten jener Interaktionszusammenhänge sein, die den jeweiligen adeligen Akteuren erfolgversprechender im Sinne ihrer Ziele erschienen. Angehörige des Hochadels, wie auch der gentry, verhielten sich somit in Bezug auf die Grafschaftsräte ähnlich wie zuvor im Hinblick auf die Institutionen des neuen Armenrechts: Auch aus diesen zogen sie sich sukzessive zurück, um die Routineaufgaben den gewählten guardians zu überlassen. Brundage, Making, S. 184. Mit anderen Worten: Sie konzentrierten sich auf jene Interaktionszusammenhänge, die ihnen zur Gestaltung ihrer Interessen nützlich erschienen. 108 So auch jüngst Helmut Rumpler: Von der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ zur Massendemokratie – Zivilgesellschaft und politische Partizipation im Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie; in: Die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Bd. 8/I, Wien 2006, S. 1–14, S. 1.

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toriographie daher davon aus, dass für politische Partizipation im Sinne zivilgesellschaftlicher Entwicklung wenig Raum sei. Oder, wie es Geoff Eley mit Blick auf das deutsche Kaiserreich formuliert hat: „If the main story was decline and degeneration of liberalism and the public sphere, then the value of looking at the associational arena tends to fall.“109 War in diesem Kontext überhaupt vom Adel die Rede, so entweder verbunden mit dem Hinweis, dass Adelige Politik nur im Stil von Honoratioren betrieben110 oder es wurde argumentiert – dies ist in der Forschung jedoch mittlerweile überholt – dass sie Vereine als moderne Organisationsform zur Verfechtung rückständiger bis reaktionärer Inhalte genutzt hätten.111 Hinter Ansätzen dieser Art steht ein insgesamt modernisierungstheoretisch geprägtes Geschichtsbild, mit dem Nationalstaat als Ziel einer teleologisch gedachten Entwicklung, zu deren logischen Konsequenzen der unvermeidlich scheinende Untergang der multinationalen Habsburgermonarchie gehörte.112 Untersucht man Ver109 Zitiert nach Stefan-Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914, Göttingen 2003, S. 107. 110 Stekl, Machtverlust, S. 161. 111 So die frühe Forschung zum Bund der Landwirte. 112 So spricht Helmut Rumpler mit Blick auf das Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit in der Habsburgermonarchie davon, dass darin nicht nur eine „Modernisierungschance, sondern auch eine Gefahr“ bestanden habe, denn „im Bereich der ‚öffentlichen Meinung‘ [habe] zuerst und am stärksten das Gift des populistischen ‚Ethnonationalismus‘ seinen verheerenden Nährboden“ gefunden. Rumpler, Öffentlichkeit, S. 2f. Siehe grundsätzlich auch den die Forschung zur Habsburgermonarchie bilanzierenden Aufsatz von Gary Cohen. Er weist die älteren Narrative zur Geschichte der Habsburgermonarchie mit ihrem Abheben auf „Niedergang“, „Krise“, „Paralyse“ und „fehlende Anpassungsfähigkeit“ bzw. „Modernisierungsunfähigkeit“ als nicht mehr dem state of the art entsprechend zurück. Vielmehr seien verschiedene Phasen der Massenpolitisierung und -mobilisierung mit jeweils unterschiedlichen sozialen Trägerschichten festzustellen. Mit dieser Entwicklung einer recht lebhaften Zivilgesellschaft, die auf Gestaltung der politischen Agenden vor allem in der Lokal- und Bezirksverwaltung Einfluss gewann, sei eine Demokratisierung einhergegangen, wenn auch nicht in dem Sinne, dass sie durchgehend die gesamte politische Kultur erfasst habe. Doch sei festzuhalten, dass die Zivilgesellschaft sich kraftvoll von den grassroots her entwickelt habe und dass die diversen Verwaltungen sehr wohl in der Lage waren (bis hin zu den Ministerpräsidenten), mit diesen politischen Gruppen Kompromisse auszuhandeln. Gleichermaßen blieb der starke bürokratische Staat bestehen und wurde von den verschiedenen politischen Gruppen auch weithin anerkannt; dies vor allem deswegen, weil sie hofften, ihn im Sinne ihrer eigenen Interessen nutzen zu können. Ähnlich wie Eley am Beispiel des Deutschen Kaiserreichs argumentiert auch Cohen, dass viele der Desiderate (hier: zur Politikgestaltung auf der Ebene der Lokalverwaltung und der Provinzlandtage) nicht zuletzt Folge der Niedergangsthese in der Historiographie seien, wodurch das Interesse für jene Bereiche, in denen eine erfolgreiche Anpassung an die Herausforderungen der Zeit beobachtet werden könne, gar nicht erst geweckt worden sei. Cohen, Neither, S. 37–61.

Vereine und Verbände

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eine und Verbände jedoch im Kontext von kulturellen Praktiken113, so kommen jene Phänomene in den Blick, in denen sich traditionale und moderne Aspekte überlagern und verschränken. Es fällt dann zunächst auf, welch dynamische Entwicklung das Vereinswesen in der Habsburgermonarchie nahm. Während in Österreich 1867 erst 4.331 Vereine bestanden, steigerte sich ihre Zahl auf 18.553 im Jahre 1882, im Jahre 1910 zählte man dann bereits mehr als 103.000.114 Bemerkenswert ist außerdem, dass der böhmische Adel in all jenen Bereichen, in denen er Herrschaft aushandelte und wo ihm an deren Stabilisierung gelegen war, Vereine und Verbände zu diesem Zweck engagiert zu nutzen wusste. Dies gilt an erster Stelle für den Agrarbereich. Zu jenen Institutionen, in denen sich zunehmend traditionale und moderne Elemente verschränkten, gehörte in Böhmen die k. k. Patriotisch-Ökonomische Gesellschaft (PÖG), die 1788 aus der im Jahre 1769 gegründeten Gesellschaft zur Beförderung des Bauerntums und der freien Künste hervorging. Sie verdankte ihre Entstehung physiokratisch-aufklärerischen Strömungen der Zeit, konkret aber auch der schwierigen Lage der böhmischen Landwirtschaft nach dem Siebenjährigen Krieg.115 Vor wie nach 1848 spielten adelige Großgrundbesitzer eine wichtige Rolle in der Gesellschaft und ihren Bezirksvereinen. In den 1850er Jahren zum Beispiel stand Karl Fürst Schwarzenberg dem Prager Bezirksverein vor, in Pardubice hatte Heinrich Graf Chotek den Vorsitz inne, in Kolín Graf Althann, in Žatec Ritter Schwarzenfeld. Den Bezirksverein in České Budějovice leitete Johann Fürst Lobkowitz116, jenen in Mladá Boleslav Hugo Fürst von Thurn und Taxis.117 Auch neue Gründungen standen zumeist unter dem Protektorat eines Aristokraten, wie der 1853 in Louny auf Anregung und unter führender Beteiligung von Adolf Fürst Schwarzenberg gegründete Bezirksverein.118 Der Adel dominierte jedoch nicht nur die Spitzen dieser Vereine, sondern unter den Mitgliedern fanden sich auch viele seiner Wirtschafts- und Forstbeamten,

113 Maurice Agulhon hat dies mit Hilfe des Konzepts der „sociabilité“ gezeigt. Maurice Agulhon: Vu des coulisses; in: Essais d’ego-histoire, hrsg. v. Pierre Nora, Paris 1987, S. 9–59. 114 Rumpler, Öffentlichkeit, S. 7. 115 Heumos, Interessen, S. 12. Siehe zur Frühphase der PÖG auch Rita Krueger: Mediating Progress in the Provinces. Central Authority, Local Elites, and Agrarian Societies in Bohemia and Moravia; in: Austrian History Yearbook 35/2004, S. 49–79, außerdem aus dem Kontext der zeitgenössischen Literatur F. Špatný: Stručný dějepis c. k. vlasteneckohospodářské společnosti v Čechách [Kurze Geschichte der k. k. Patriotisch-Ökonomischen Gesellschaft in Böhmen], Praha 1863. 116 Heumos, Interessen, S. 18. 117 Verhandlungen und Mittheilungen der Patriotisch-Ökonomischen Gesellschaft in Böhmen für das Jahr 1857. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 176. 118 Heumos, Interessen, S. 18.

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neben Großbauern, Geistlichen und, in kleinerer Zahl, Angehörigen der landstädtischen Eliten.119 Ähnlich wie bei den Festen120 repräsentierten die adeligen Vorsitzenden an der Spitze der Bezirksvereine die ländliche Gesellschaft bzw. in diesem Fall deren gebildete und besitzende Schichten. Dies war nur möglich, weil auch die adeligen Mitglieder in die Geschicke der Vereine involviert waren. Sie unterstützten die von den Vereinen getragenen Schulen und Einrichtungen121, stellten Örtlichkeiten für die Durchführung von Agrarausstellungen zur Verfügung122 und beteiligten sich an diesen Schauen auch selbst123, warben bei den Gemeindevorstehern darum, diese möchten alle Interessierten mit den Statuten der Vereine bekannt machen124 und sie nahmen vor allem an den diversen Plenar- und Ausschusssitzungen teil. So drang Adolf Fürst Schwarzenberg auf der Generalversammlung des landwirtschaftlichen Kreisvereins zu Budweis vor achtzig erschienenen Mitgliedern darauf, Ertragsausfälle nicht nur auf die 119 Ebd. Siehe auch das Schreiben des Präsidiums der PÖG an den Grafen Czernin vom 17.7.1857, in dem es ihm unter anderem die gewählten Mitglieder des Ausschusses des Filialvereins Budweis übermittelte. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 176. 120 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 4.3.2 und 4.3.3, wobei es sich in diesem Zusammenhang allerdings um die ganze ländliche Gesellschaft handelte und nicht um einen spezifischen Ausschnitt daraus, wie bei den Vereinen. 121 Im Kreis Jindřichův Hradec zum Beispiel eine Ackerbauschule, in Český Krumlov eine Warmwasserröstanstalt für Flachs. Beide Dokumente SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 176. 122 So appellierte der Vizepräsident des landwirtschaftlichen Vereines der PÖG von Budweis, Platzer, an dessen Präsidenten, den Grafen Czernin, mit Blick auf die Abhaltung der bevorstehenden Landwirtschaftsausstellung, bei der auch der Staatspreis für Rindviehzucht für die Region vergeben werden sollte: „Der Vereinsausschuß, der diese wichtige Angelegenheit gemeinschaftlich mit Fachmännern der Umgebung in Erwägung gezogen hat, ist zu der Überzeugung gelangt, daß das Gelingen dieser Ausstellung vor allem und am meisten von der hochherzigen Förderung Euer Wohlgeboren abhängt. Es ist hier nämlich kein Ort so günstig gelegen, so allen Anforderungen entsprechend, wie die Restauration Rudolfov beim Bachsenhof mit der angrenzenden Wiese.“ Schreiben vom 1.8.1869. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 176. Adelsherrschaft, das war schon wiederholt festgestellt worden, musste auch Nutzen bringen. Hier mögen sich die Beteiligten gedacht haben, dass der Graf doch seine Wiese von Mensch und Tier zertrampeln lassen möge. Aushandelnd hatten sie eine starke Stellung inne, denn ablehnen konnte er schlecht, so dass die Ausstellung auf der betreffenden Wiese stattfand. 123 Schreiben des Grafen Czernin an die Oberdirektion Neuhaus, 9.2.1866. Ebd. Siehe auch die in der Beilage des Prager Abendblatts [o. D.] abgedruckten Preise, die die Teilnehmer auf der allgemeinen Landes-Jubiläumsausstellung in Prag im Jahre 1890 erzielten. Unter den Preisträgern befindet sich der Orlíker Zweig der Fürsten Schwarzenberg mit allein acht Auszeichnungen. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 916. 124 Gedruckter Aufruf in tschechischer und deutscher Sprache an die Gemeindevorsteher vom 6.12.1868. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 176.

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wetterbedingt schlechte Ernte zurückzuführen. Vielmehr sei auch die schädliche Abhängigkeit vom Getreidebau auf Kosten der Viehzucht und die Notwendigkeit zur Drainage zu bedenken. In der sich anschließenden Diskussion wurde vor allem auf die Schwierigkeiten abgehoben, den Futtermittelanbau zu erhöhen, der die Voraussetzung für eine erfolgreiche Viehwirtschaft sei; der Fürst blieb mit seiner Position in der Minderheit.125 Aktiv beteiligt waren Adelige auch an der Arbeit der Ausschüsse.126 Mochten die hier und auf Versammlungen verhandelten Gegenstände, vor allem im Neoabsolutismus, auch „unpolitischer“ Natur gewesen seien, so diente das Prozedere mit Statuten, gewählten Funktionsträgern, Ausschüssen, Tagesordnungen und Rednerlisten insgesamt doch der Einübung demokratisch geprägter Verfahrensabläufe. Es würde allerdings zu weit gehen, sich die PÖG als Institution vorzustellen, durch die die Magnaten mit einem Mandat zur Vertretung der Interessen der örtlichen Agrargesellschaft versehen wurden. Als etwa angesichts der starken Teuerungsrate die arme Bevölkerung des Bezirks Nymburg im Oktober 1854 bei der PÖG eine Petition einreichte, bei der Regierung ein allgemeines Verbot der Alkoholerzeugung aus Kartoffeln, der „Nahrung der Armen“, zu befürworten, wurde das Gesuch vom Geschäftsführer der Gesellschaft, Albert Graf Nostitz, wegen adeliger Wirtschaftsinteressen abgelehnt.127 Auch zum Untergang der Patriotisch-Ökonomischen Gesellschaft trugen Vertreter des böhmischen Adels ihr Scherflein bei: Bei der Vorbereitung der Wiener Weltausstellung von 1873 kam es zum Eklat, als die Regierung Auersperg es ablehnte, für Böhmen eine eigene Ausstellungskommission zu bilden und statt dessen bestimmte, dass die böhmischen Handelskammern mit den einzelnen Gewerben innerhalb eines Ausstellungsteils „Cisleithanien“ vertreten sein sollten. Dagegen lief nicht nur das tschechische Bürgertum Sturm, auch der feudalkonservative Adel verteidigte das böhmische Staatsrecht. Diesem Protest schloss sich auch die PÖG an. Als sie für das Königreich Böhmen eine selbständige Kommission forderte, wie sie

125 Bericht über die Generalversammlung des landwirtschaftlichen Kreisvereins zu Budweis, 13.10.1853. Ebd. 126 So leiteten das Generalkomitee zur Vorbereitung der Feierlichkeiten aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der PÖG Adolf Fürst Schwarzenberg und Eduard Frh. v. Hohenbruck. Verhandlungen und Mittheilungen der Patriotisch-Ökonomischen Gesellschaft in Böhmen für das Jahr 1857. Ebd. Auch dem Ausschuss, der die Landwirtschaftsausstellung des südostböhmischen Bezirks im Jahre 1888 vorbereitete, gehörten Mitglieder des Adels an, u. a. die Grafen Czernin und Vratislav sowie Baron Leonhardi, ferner auch leitendes Verwaltungspersonal der örtlichen adeligen Güter, so Josef Šusta für die Schwarzenbergsche Herrschaft Wittingau (der außerdem auch Mitglied der Zemědělská rada war), sowie von der Czerninschen Herrschaft Neuhaus der Forstmeister Jiří Wachtel und der Wirtschaftsdirketor Karel Jičinský (ebenfalls auch Mitglied der Zemědělská rada). Tschechischsprachiges Einladungsschreiben vom Januar 1888. Ebd. 127 Stölzl, Ära, S. 297.

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Ungarn bewilligt worden war, wurde sie wegen Überschreitung ihrer Statuten, die politische Betätigung verboten, aufgelöst.128 Doch auch die Nachfolgeinstitution der Agrargesellschaft, der seit 1873 bestehende Landeskulturrat für das Königreich Böhmen (die Zemědělská rada pro království České) bot dem großgrundbesitzenden Adel Möglichkeiten, seine Herrschaft auszuhandeln und zu stabilisieren. Zwar wurde der Landeskulturrat als zentralistische Behörde mit gegenüber der PÖG deutlich verstärktem staatlichen Einfluss eingerichtet und war mit den landwirtschaftlichen Vereinen nur noch im Schriftverkehr verbunden129, was vor allem den feudalkonservativen Adel erboste. Bitter klagte sein Sprachrohr, das Vaterland, „daß die k. k. landwirtschaftlichen Vereine und Gesellschaften nichts Anderes sind und nichts Anderes sein dürfen, als Marionetten, die der Ackerbauminister am Schnürchen zieht.“130 Der Attraktivität der Vereine tat dies jedoch keinen Abbruch: Im Jahre 1875 waren ca. 22.000 Personen in 138 land- und forstwirtschaftlichen Vereinen im Landeskulturrat organisiert.131 Kaum zehn Jahre später war die Zahl der Vereine gar auf 514 gestiegen, so dass Schätzungen davon ausgehen, dass sie zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung auf dem Lande erfassten.132 An der Spitze der örtlichen Vereine wie der „Dachverbände“ standen außerdem, wie in Zeiten der PÖG, vielfach Adelige.133 So leitete Karl III. Schwarzenberg 35 Jahre lang, von 1869 bis 1904, die Česká lesnická jednota (den Böhmischen Forstver128 Heumos, Interessen, S. 102. Die Auflösung erfolgte im März 1872. Ebd., S. 13. Der Hinweis auf eine Rede Schwarzenbergs, zu dieser Zeit Vorsitzender der PÖG, als Auslöser für die Auflösung findet sich bei Georgiev, Strana, S.  68. Georgiev zählt die PÖG zu den politischen Vorfeldorganisationen der Feudalkonservativen. Ebd. Austritte hatte die PÖG im September 1868 zu verzeichnen, als Ernst Franz Graf Waldstein und seine Beamten sowohl die PÖG als auch den Böhmischen Forstverein verließen, allerdings ist unklar, ob hier die Weltausstellung bereits ihre Schatten vorauswarf. Überliefert sind diverse Briefe in dieser Angelegenheit aus dem September 1868, aus denen u. a. ersichtlich wird, dass das leitende Personal zum Teil unmittelbar nach Bekanntwerden des Austritts des Grafen auch die eigene Mitgliedschaft niederlegte. Eine entsprechende Aufforderung seitens des gräflichen Dienstherren gab es auch später nicht, wohl aber die Erhebung, wer Mitglied der beiden Organisationen war. Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch hatten sich bereits alle Beamten, die Mitglied waren, für den Austritt ausgesprochen. SOA Praha: RAV 3873, kart. 107. 129 Heumos, Interessen, S. 102. 130 Vaterland vom 12.6.1875. 131 Heumos, Interessen, S. 20. 132 Jiří Pokorný: Vereine, Verbände und Parteien in den böhmischen Ländern; in: Die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Bd. 8/I, Wien 2006, S. 609–703, S. 644. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass nicht alle diese Vereine in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang mit dem Landeskulturrat standen, auch wenn die Gründung rein bäuerlicher Vereine nur langsam voranschritt. Ebd. 133 Heumos, Interessen, S. 102. Siehe auch Pokorný, Vereine, S. 644.

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ein), elf Jahre davon auch gleichzeitig die Zemědělská rada, dies von 1880 bis 1891.134 Sein Neffe Bedřich (II.) wurde bereits im Alter von 15 Jahren, 1877, Mitglied des Böhmischen Forstvereins, 1884 erfolgte seine Wahl in die Zemědělská rada für Písek und die Aufnahme in das Kuratorium der dortigen Landbauschule. Im darauffolgenden Jahr wurde er zum Vorsitzenden des Kreisvereins in Milevsko gewählt. Diese Aufgaben verband Bedřich Schwarzenberg mit zahlreichen Funktionen in der Lokalverwaltung135, doch blieben die Vereine und Verbände des Agrar- und Forstwesens stets eines seiner „Standbeine“ in der ländlichen Welt, ob es sich dabei um den Verein der Fischteichbesitzer handelte (1891 mit ihm als „Protektor“ gegründet), jenen zur Förderung der Geflügelzucht (dessen Vorsitzender er 1895 bis 1912 war) oder den der Spirituosenerzeuger (Vorsitzender von 1900 bis 1909). Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sehen ihn dann an der Spitze der Zemědělská rada (erstmals 1909 gewählt, letzte Wiederwahl 1926) und der Lesnická jednota (1912–1919).136 Auch jene böhmischen Adeligen, die nicht in diesem Maße Ämter und Vorsitzfunktionen in den Vereinen und Verbänden des Agrarwesens „sammelten“, nutzten ihre Mitgliedschaften in den genannten Institutionen, um durch Teilnahme an der Vereinstätigkeit137 ihre Herrschaft in der ländlichen Welt zu stabilisieren. Dass es nach wie vor um das Aushandeln von Herrschaft ging, zeigt sich auch daran, dass die böhmischen adeligen Großgrundbesitzer ihnen missliebige Gründungen sehr wohl zu verhindern wussten: An einer eigenen Vertretung der Bauern war ihnen zum Beispiel nicht gelegen. Deren Interessenvertretung blieb auch nach der Liberalisierung des Vereinsgesetzes 1867, als die Gründung sogenannter freier Vereine, also ohne Anbindung an die PÖG bzw. an den Landeskulturrat, möglich war, schwach. Landwirtschaftskammern wurden daher als Chance gesehen, bäuerlichen Belangen stärker Gehör zu verschaffen. Solche Kammern lehnten jedoch die Landwirtschaftsgesellschaften der verschiedenen Kronländer, darunter auch die böhmische, ab: Während sie in den frühen 1860er Jahren noch gehofft hatten, über die Kammern Einfluss auf die Regierung gewinnen zu können, war ihnen gegen Ende des Jahrzehnts klar geworden, dass diese Hoffnung trog und dass ihnen in den Kam134 Georgiev, Strana, S. 68. 135 Siehe dazu Kapitel 5.1.1. 136 Tschechisch verfasster Lebenslauf o. D. von Bedřich Schwarzenberg. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 862. 137 Siehe dazu z. B. die Vorbereitung der Landwirtschaftsausstellung für den südböhmischen Kreis im Jahre 1888, an der sich mehrere Adelige sowie Beamte aus ihren Forst- und Wirtschaftsverwaltungen beteiligten. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 176. In diesen Kontext gehört im Übrigen auch die Teilnahme und/oder Förderung der Festveranstaltungen der Vereine, wie z. B. der Bälle. Siehe dazu die Unterstützung, die Karl Schwarzenberg dem Ball des landwirtschaftlichen Vereins in Milevsko zuteil werden ließ (wo er außerdem verschiedene Funktionen in der Lokalverwaltung inne hatte), der dort am 8. Februar 1914 feierlich begangen wurde. SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 872.

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mern ein Konkurrent erwüchse, mit dem sie als Vertreterinnen der Interessen des Grundbesitzes ihren Einfluss auf Gesetzgebung und Subventionsvergabe nicht teilen wollten.138 Als Institution der Lobbypolitik diente den Magnaten auch die 1898 gegründete Österreichische Zentralstelle zur Wahrung land- und forstwirtschaftlicher Interessen beim Abschluss von Handelsverträgen.139 Betrachtet man die Aktivitäten des böhmischen Adels auf dem Feld der agrarischen Interessenvertretung zusammenfassend, so fällt zunächst auf, dass seine Vertreter als Gruppe keinerlei Scheu gegenüber Vereinen und Verbänden hatten140, sondern dass sie vielmehr versuchten, diese in den Dienst ihrer ökonomischen wie auch Herrschaftsinteressen zu stellen. Gerade für ihren Anspruch, auch weiterhin über Land und Leute herrschen zu können, waren die Kreis- und Bezirksvereine der Agrargesellschaften von großer Bedeutung. Ohne ein gewisses Maß von Anwesenheit hätten adelige Gutsbesitzer den Kontakt zu reichen Bauern, kleineren Gutsbesitzern und leitenden Beamten der Landstädte verloren. Um hier im (aushandelnden) Gespräch zu bleiben, waren auch die Spitzen der Guts- und Forstverwaltungen Mitglieder der lokalen Vereine. Je erfolgreicher im Übrigen die adeligen Großgrundbesitzer und ihr leitendes Personal in der lokalen Vernetzung waren, je besser es ihnen gelang, den Nutzen der Vergesellschaftung agrarischer Interessen herauszustellen, umso eher war es auch möglich, die Vereinsbildung bäuerlicher, zumal kleinbäuerlicher Gruppen, wie die Kammerbildung, zu verhindern. Gegenüber Kleinbauern oder Häuslern war aus Sicht des Adels nicht das Angebot, agrarische Interessen zu vergesellschaften, die Strategie, die Erfolg im Aushandeln von Herrschaft versprach, sondern Wohltätigkeit141 und die Förderung religiös-karitativer Vereine142. Neben die lokale Vergesell138 Siehe zur Verhinderung der Kammern durch die (primär adeligen) Gutsbesitzer Stefan Malfèr: Landwirtschaftliche Interessenvertretung im Spannungsfeld Zentralismus – Selbstverwaltung in Österreich. Eine Fallstudie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts; in: Ústřední moc a regionální samospráva [Zentralmacht und regionale Selbstverwaltung], IV. Sympozium „Spojující a rozdĕlující na Hranici“ [„Gemeinsames und Trennendes an der Grenze“], Brno 1995, S. 291–302. Zu den bäuerlichen Vereinsgründungen siehe auch Ernst Bruckmüller: Landwirtschaftliche Organisation und gesellschaftliche Modernisierung. Vereine, Genossenschaften und politische Mobilisierung der Landwirtschaft vom Vormärz bis 1914, Salzburg 1977. 139 Pokorný, Vereine, S. 1072ff. 140 Nicht alle Gründungen des Adels erwiesen sich als erfolgreich. Dies zeigt jedoch vor allem adelige Experimentierbereitschaft mit dem Ziel, mit Hilfe von Vereinen möglichst die eigenen Interessen umzusetzen. Wenig erfolgreich war der „Verein der Grundbesitzer in Böhmen“ (Melville, Adel, S. 233f.) und der „Club der Landwirte in Wien“, später „Club der Land- und Forstwirte in Wien“ (Pokorný, Vereine, S. 1070f.). Beiden Gründungen war nur eine kurze Lebensdauer beschieden. 141 Siehe dazu die Kapitel 4.1.2 und 4.1.3.1. 142 Siehe dazu die noch folgenden Ausführungen in diesem Kapitel.

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schaftung von Agrarinteressen und die Verhinderung von bäuerlicher Konkurrenz trat als dritter Aspekt adeligen Umgangs mit Vereinen und Verbänden der explizite Lobbyismus zur Verteidigung der eigenen, ökonomischen Interessen. Vereine und Verbände waren somit vor allem im Agrarbereich für den böhmischen Adel eine moderne Ergänzung jener eher traditionalen Foren wie Wohltätigkeit, Patronatswesen und Festkultur, mittels derer er seine Herrschaft im Lande zu stabilisieren wusste. Es waren jedoch nicht nur die Agrarvereine, derer sich der böhmische Adel zur Aushandlung und Stabilisierung von Herrschaft bediente. Hinzu traten noch zwei weitere wichtige Gruppen: Zum einen die erwähnten katholischen Vereine, zum anderen jene, die primär einen lokalen Bezug hatten, wie örtliche Gesangsvereine oder solche der Freiwilligen Feuerwehr. Von diesen beiden Gruppen wird nun zu sprechen sein. Unter den konservativ-katholischen Vereinen nahm die Katolicko-politická jednota pro království České (Katholisch-politischer Verein für das Königreich Böhmen) eine prominente Position ein. Sie wurde im September 1871 gegründet und zählte zu ihren Mitgliedern neben Bürgerlichen, die dem alttschechischen Lager nahestanden, vor allem viele namhafte Vertreter des böhmischen Hochadels wie Karl Erwein Graf Nostitz-Rieneck, Ferdinand Fürst Lobkowitz, die Fürsten Karl und Friedrich Schwarzenberg, Georg Graf Buquoy oder Heinrich Graf Clam-Martinic. Zu den Zielen der Vereinigung gehörten die Stärkung der Rolle der katholischen Kirche in der Gesellschaft und die Bekämpfung des laizistischen Schulwesens.143 Während die Jednota vor allem die Chancen auf Aushandeln von Herrschaft durch das Angebot zur Vergesellschaftung von Interessen mit konservativen, bürgerlichen Gruppen in böhmischen (Land-)Städten bot, zielten die Vinzenz-Vereine auf eine andere Klientel, nämlich vor allem auf kleinbürgerliche Schichten und Handwerker. Die frühen Gründungen des Vereins fallen in die 1850er Jahre, neben Böhmen finden sie sich auch in den Alpenländern und Galizien. Seine Wurzeln hatte der Verein, der eine große einheitliche Organisation mit sogenannten „Konferenzen“ bildete, im Armenvereinswesen; zu seinen Haupttätigkeiten gehörte die Förderung der männlichen Jugend. Inhalte wie Organisationsstruktur machten die Vinzenz-Vereine zu einem adeligen Betätigungsfeld. Zum einen waren die „Konferenzen“ bei den Pfarreien ein-

143 Georgiev, Strana, S. 68f. Siehe auch Zdenĕk Bezecný: Šlechta a církev v druhé polovinĕ 19. století [Adel und Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts]; in: Bůh a bohové. Církve, naboženství a spiritualita v českem 19. století [Gott und Götter. Kirchen, Religion und Spiritualität im tschechischen 19. Jahrhundert], hrsg. v. Zdenĕk Hojda und Roman Prahl, Praha 2003, S. 186–191, S. 188f. Siehe grundsätzlich zur Geschichte des politischen Katholizismus in Böhmen und Mähren, die jedoch über weite Teile noch als Desiderat gelten muss, Pavel Marek: Der tschechische politische Katholizismus in den Jahren 1890–1914; in: MIÖG 111/2003, S. 445–469.

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gerichtet144, was die Zustimmung der adeligen Patronatsherren voraussetzte145. Zum anderen gehörte das Armenwesen zu jenen Bereichen, in denen sich der Adel im Rahmen seiner Wohltätigkeit engagierte.146 Wie eng häufig die Armenförderung und die der männlichen Jugend zusammenhingen, zeigt etwa die im Jahre 1880 ins Leben gerufene Armen-, Waisen- und Lehrlingsstiftung des Grafen Eugen von und zu Chudenitz. Immerhin 21.000 Gulden ö. W., versichert auf drei Allodialgütern, warfen jährliche Verzinsungen von 750 Gulden ab, die zur einen Hälfte für die Ortsarmen bestimmt waren, zur anderen „für Lehrlinge, welche eine Gewerbeschule besuchten, insbesondere für verwahrloste Kinder und Waisen …, damit sie einen entsprechenden Unterricht genießen und ihr Fortkommen finden.“147 Zur Auswahl der Empfänger waren die Seelsorger hinzuzuziehen; auch hatten sie darauf zu achten, dass „die Kinder zu frommen Christen herangebildet werden.“148 Neben den genannten Vereinen förderte der böhmische Adel noch weitere katholische Institutionen149 und auch die entsprechende Presse.150 Fürst Schwarzenberg etwa finanzierte Abonnements des katholischen Čech für die Gasthäuser, die zu seinem Gutsbesitz gehörten.151 Die letzte Gruppe von Vereinen, die mit Blick auf Böhmen noch anzusprechen ist, bevor sich vergleichende Betrachtungen zu England anschließen, sind jene Vereine, die einen primär lokalen Bezug hatten, wie die Freiwillige Feuerwehr, Veteranenvereine, Gesangs- oder städtische Verschönerungsvereine. Waren letztere vor allem Orte der bürgerlichen Geselligkeit in den böhmischen Landstädten152, so organisierte sich 144 Leisching, Kirche, S. 189 und Bezecný, Bývalí, S. 16. 145 Siehe zu den Patronatsrechten in Böhmen Kapitel 4.2.1. 146 Dazu die Ausführungen in den Kapiteln 4.1.2 und 4.1.3.1. 147 Ladenbauer, Wirken, S. 194. 148 Ebd. 149 So etwa die Bruderschaft Erzengel Michael, die sich für die Souveränitätsrechte des Papstes einsetzte. Die Bruderschaft hatte etwa vierzig Mitglieder aus dem böhmischen Hochadel. Bezecný, Šlechta, S. 190f. sowie grundsätzlich Leisching, Kirche, S. 127f. und S. 192–204. 150 Zur Zeitung „Vaterland“ als dem Sprachrohr des feudalkonservativen böhmischen Adels siehe Petronilla Ehrenpreis: Die „reichsweite“ Presse in der Habsburgermonarchie; in: Die Habsburgermonarchie, hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch, Bd. 8/II, Wien 2006, S.1715–1818, S. 1767–1779. 151 Bezecný, Šlechta, S.187. 152 Gerade den Landstädten hat die Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Siehe jedoch die Studie von Marie Macková, die am Beispiel der Scharfschützenvereine zeigt, dass in den deutschen Vereinen der Sport im Vordergrund stand, der in den tschechischen eine wesentlich geringere Rolle spielte, wo das soziale Prestige wichtiger Anlass war, einem entsprechenden Verein beizutreten. Marie Macková: Spolky ostrostřelců a jejich postavení ve venkovských mĕstech druhé poloviny 19. století [Die Scharfschützenvereine und ihre Stellung in den ländlichen Städten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts]; in: Od středovĕkých bratrstev k moderním spolkům [Von den mittelalterlichen

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in der Freiwilligen Feuerwehr häufig die dörflich geprägte Gesellschaft. Während fast alle diese Vereine den örtlichen adeligen Gutsbesitzer um zumeist finanzielle Unterstützung baten – und diese üblicherweise auch erhielten – 153, übernahmen Adelige darüber hinaus oft bei der Gründung auch die Funktion des „Protektors“154. Zu Ehren seines gräflichen Schutzherren nannte sich etwa der Gesangsverein von Jindřichův Hradec „Černín“. Auch ging das Amt des Protektors 1868 nach dem Ableben des Grafen Eugen auf dessen Sohn Jaromir über.155 Organisiert waren in den Vereinen im Übrigen auch die leitenden Angestellten der Güter, wie wir dies auch schon bei den Agrarvereinen gesehen haben. Der Czerninsche Wirtschaftsdirektor Bartůnek etwa war Mitglied im Gesangsverein Černín und Vorsitzender des Anpflanzungs- und Verschönerungsvereins zu Neuhaus.156 Fasst man die Ausführungen zusammen, so kann man festhalten, dass sich das Vereinswesen in Böhmen nach dem Ende des Neoabsolutismus lebhaft entwickelte. Daran beteiligt waren auch die ländlichen Regionen, und hier war es nicht selten der gutsbesitzende Adel, der diese liberale Errungenschaft zur Verfolgung seiner Interessen zu nutzen wusste. Folgerichtig engagierten sich böhmische Adelige im Vereins-

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Bruderschaften zu den modernen Vereinen], hrsg. v. Václav Ledvinka und Jiří Pešek, Praha 2000, S. 221–234. So unterstützte Jaromir Graf Czernin 1881 die Freiwillige Feuerwehr von Ohmeleschen, die sich beim Kauf ihrer Ausrüstung verschuldet hatte und nun den Kredit nicht tilgen konnte. Karl Fürst Schwarzenberg wiederum stellte 1887 die Orlíker Feuerspritze der Freiwilligen Feuerwehr des Gutsdorfes Staré Sedlo für Übungen zur Verfügung. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs Petrohrad, kart. 80 (Czernin) und SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 916 (Schwarzenberg). Dem Sokol von Mirovice stellte der Fürst 1910 eine Wiese für die Abhaltung eines Turnfestes zur Verfügung (Ebd.), während Jaromir Graf Czernin dem Verschönerungsverein von Neuhaus 1871 nicht nur 200 fl. als Einmalzahlung zukommen ließ, sondern auch zahlendes Mitglied wurde (SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 157). Darauf war schon im Zusammenhang mit den örtlichen land- und forstwirtschaftlichen Vereinen weiter oben in diesem Kapitel verwiesen worden. „Protektor“ war jedoch Karl Schwarzenberg z. B. auch beim Militärveteranenverein Mühlhausen (Schreiben des Vereins vom 22.10.1882 an den Fürsten, SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 916) oder die Grafen Czernin beim „gleich“-namigen, jedoch tschechisch geschriebenen Gesangsverein Černín ( Jubiläumsschrift des Vereins aus Anlass seines 30-jährigen Bestehens im Jahre 1892, SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 157). Jubiläumsschrift des Vereins aus Anlass seines 30-jährigen Bestehens im Jahre 1892, SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 157 Ebd. und Statuten des Anpflanzungs- und Verschönerungsvereins Neuhaus, 18.9.1870. Ebd. Ein Bazar zugunsten des städtischen Waisenhauses in Jindřichův Hradec stand unter der Schirmherrschaft der Gräfin Czernin, Vorsitzende des Ausschusses, der den Bazar organisierte, war die Frau des Bezirkshauptmanns, Schatzmeisterin die Ehefrau des Wirtschaftsdirektors der Herrschaft Neuhaus. Dokument o. D. Ebd.

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und Verbandswesen des Agrarsektors und des politischen Katholizismus. Außerdem waren sie in karitativen Vereinen aktiv und unterstützten solche mit primär lokalem Bezug. Sie deckten also all jene Bereiche ab, die für sie für das Aushandeln von Herrschaft über Land und Leute von Bedeutung waren. In den Vereinen übernahmen Adelige die Funktion des „Protektors“ bei der Gründung, sie unterstützten sie durch finanzielle Zuwendungen wie auch durch das ZurVerfügung-Stellen von Örtlichkeiten. Außerdem boten sie die Vergesellschaftung von Interessen an, verbunden mit der Chance auf erfolgreichen Lobbyismus in Prag und Wien. Hinzu traten Aufmerksamkeit und Prestige für jene Veranstaltungen, bei denen die „hohen Herren“ selbst anwesend waren. Ihre Beamten, und häufig auch deren Frauen, fungierten als Mittelsleute zwischen adeligen und nichtadeligen Mitgliedern. Nicht nur Arbeitsverhältnisse, Wohltätigkeit, Patronate und Feste boten den „Beherrschten“ Nutzen. Dies war auch bei der adeligen Beteiligung an den von der Forschung immer noch vielfach vor allem als bürgerlich apostrophierten Vereinen der Fall. Für die Aristokratie bedeutete ihre Beteiligung, dass auch sie sich an die Befolgung gewisser Spielregeln binden musste, und zwar an die eher traditionalen des „noblesse ob­lige“ (zum Beispiel im Hinblick auf die vielfältigen Bitten um Unterstützung) wie auch an eher moderne. Hierzu gehörte das jeweilige Vereinsreglement mit Statuten, Tagesordnungen und Rednerlisten, das die Partizipation aller Mitglieder gewährleisten sollte. Einher mit der Bindung an Spielregeln und dem NutzenGewähren ging jedoch auch die Anerkennung der Bedeutung und vielfach herausragenden Rolle der Aristokratie in der ländlichen Gesellschaft Böhmens durch die in den Vereinen organisierten Gruppen und Einzelpersonen – im Ergebnis die Stabilisierung einer immer noch durch den grundbesitzenden Adel in wesentlichen Zügen geprägten Sozialordnung. Schaut man vergleichend nach England, so sind es auch hier die Agrargesellschaften, die im Rahmen adeliger Aktivitäten im Vereinswesen die wichtigste Rolle spielen. Die früheste Gründung einer solchen agricultural society fand in Bath im Jahre 1777 statt. Sie war damit nicht nur eine Zeitgenossin der Gesellschaft zur Beförderung des Bauerntums und der freien Künste, der Vorläuferin der PÖG, sondern entstand auch mit einer ähnlichen Zielsetzung, nämlich „for the encouragement and improvement of agriculture, manufactures, commerce and the fine arts“157, wie es in ihrem Gründungsdokument hieß. Auch wenn die Agrargesellschaften ursprünglich vor allem wissenschaftliche Vereinigungen waren, so rückte doch die Vermittlung des praktischen Nutzens solchen Wissens schnell in den Vordergrund: Ihre Publikationsorgane berichteten über improvements und ermutigten zu neuen Wegen in der Landbestellung wie auch der Tierzucht; die Landwirtschaftsschauen popularisierten dieses Wissen.158 157 Zitiert nach Howkins, Reshaping, S. 78. 158 Siehe grundsätzlich zu den Agrargesellschaften Nicolas Goddard: Agricultural Societies; in: The Victorian Countryside, hrsg. v. Gordon E. Mingay, 2 Bde, Bd. 1, London/

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Die englische Forschung hat vor allem die Ausstellungen und die aus diesem Anlass abgehaltenen Dinner-Veranstaltungen als „great sites of paternalism“159 beschrieben: An der Spitze der Vereine standen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vielfach Adelige160, die einen Teil der Preise stifteten und überreichten.161 Gerade in den 1840er Jahren, als die Spannungen innerhalb der ländlichen Gesellschaft, die durch die Einführung des neuen Armenrechts ausgelöst worden waren, langsam wieder abklangen, engagierten sich viele adelige landlords in den Agrarvereinen, nahmen an den Ausstellungen teil und demonstrierten dort Präsenz.162 In diese Zeit fällt auch die Ausdehnung paternalistischer Bestrebungen auf die Landarbeiter. Sollten bisher vor allem Pächter für technische Neuerungen in der Landwirtschaft gewonnen werden, wurden nun Preise für sozial korrektes Verhalten der Landarbeiter ausgesetzt, etwa für jene, die möglichst große Familien ohne Gemeindeunterstützung aufzogen oder lange Dienstzeiten bei ein und demselben Arbeitgeber aufweisen konnten.163 Diese Preise, so erklärte der Duke of Richmond, der lange Präsident der agricultural society

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New York 1981, S.  245–259 sowie Kenneth Hudson: Patriotism with Profit. British Agricultural Societies in the 18th and 19th Centuries, London 1972 und Nigel E. Agar: Behind the Plough. Agrarian Society in Nineteenth-Century Hertfordshire, Hatfield 2005. Grundsätzlich zum Vereinswesen im deutsch-britischen Vergleich Klaus Nathaus: Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2009. Howkins, Reshaping, S. 78. Siehe in diesem Sinne auch Goddard, Societies, S. 252f. und Mingay, Rural Life, S. 45, der das Ende dieser Form des Paternalismus in die Zeit der Agrardepression datiert. So wurde etwa die Staffordshire Agricultural Society in den 1860er Jahren vom 18. Earl of Shrews­bury geleitet. Staffordshire Advertiser vom 22.12.1860. Gleichzeitig war Lord Vane Präsident der Gesellschaft von Durham. CROD: M 57/11. Ihm voraus ging mit Lord Adolphus ein anderes Mitglied der Familie Vane-Tempest-Stewart an der Spitze der Gesellschaft. Durham Chronicle vom 11.8.1854. In den 1870er Jahren standen verschiedene Mitglieder der Russell-Familie an der Spitze der Agrargesellschaft von Bedfordshire, Bedfordshire Times vom 10.7.1875. Um die Jahrhundertmitte dominierte der Duke of Richmond beide agricultural societies in der Grafschaft Sussex. Howkins, Reshaping, S. 79f. Siehe etwa zur Preisstiftung und -vergabe auf den Gütern der Marquesses of Londonderry das Schreiben vom 3.11.1845 sowie ein undatiertes aus dem gleichen Überlieferungskontext. Beide Dokumente: CROD: D/Lo/E 832. Siehe auch das Schreiben des Bürgermeisters von Sunderland an Lady Mary Cornelia, Countess Vane, vom 8.7.1870, in dem er sie bat, Preise zu überreichen, wozu sie ihre Zustimmung gab. Ebd.: D/Lo/C 626. Auch Earl Vane, ihr Mann, stiftete Preise. Siehe dazu das Schreiben seines Verwalters an ihn vom Juli 1870. Ebd.: D/Lo/C 621. Zuvor hatte die Preise Frances Anne, Marchioness of Londonderry, vergeben. Ebd.: D/Lo/C 562 und D/Lo/E 832. Roberts, Paternalism, S. 131. Howkins, Reshaping, S. 79.

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von Sussex war, seien ein „stimulus to honest industry“ und ermutigten „sobriety and obedience“.164 Die Preise blieben in vielen Grafschaften bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein üblich, in Bedfordshire wurden sie zum Beispiel auch in den 1870er Jahren noch vergeben.165 Offenkundig ist, dass sie nicht auf eine Linderung der weitverbreiteten Armut166 zielten; dafür kamen sie einer viel zu kleinen Zahl von Menschen zugute. Auch honorierten sie (lebens-)langes Wohlverhalten mit Geldzahlungen, die oft genug nicht einmal einem Monatslohn entsprachen. Vielmehr sollten „Moralpreise“ und die Auftritte des gutsbesitzenden Adels auf den Landwirtschaftsschauen das bestehende soziale Ordnungsmodell stabilisieren.167 Nutzen wurden dabei jedoch eher selten angeboten, jedenfalls seltener als in Böhmen. Während der böhmische Adel sich im Rahmen der Agrarvereine auf besitzende Gruppen konzentrierte und gegenüber Landarbeitern, Häuslern und Kleinbauern den „Nutzen“, den sie aus seiner Herrschaft ziehen konnten, durch Wohltätigkeit und Sozialleistungen eines großen Arbeitgebers demonstrierte168, führten englische Agrarvereine den Landarbeitern sehr deutlich vor Augen, an welcher Stelle sie innerhalb der sozialen Pyramide der ländlichen Welt standen: Die Ausschreibungstexte für die diversen Preise, auch sie Repräsentationen der bestehenden Sozialordnung, führten Pferde und andere Zuchttiere vor den Landarbeitern.169 Aus dieser Perspektive wird deutlich, warum die Landarbeitergewerkschaften über die Chance auf höhere Löhne 164 Zitiert nach Roberts, Conscience, S. 143. 165 Siehe dazu etwa die entsprechenden Preislisten in der Bedfordshire Times vom 12.10.1872 oder vom 14.10.1876. Auch in Böhmen gab es Feste, auf denen mustergültige Knechte ausgezeichnet wurden. Siehe Purš, Kapitalismus, S.  54. Die Fürsten Schwarzenberg zeichneten außerdem jene Mägde und Knechte aus, die besonders lange Dienstzugehörigkeiten aufweisen konnten. Listen mit Dienstzugehörigen von mehr als 40 Jahren aus dem Jahre 1885 und mehr als 25 Jahren aus dem Jahre 1947 [sic!] finden sich in dem Bestand SOA Třeboň: Vs Orlík, kart. 850. Zu Dienstbotenbelohnungsvereinen siehe außerdem auch Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 165. 166 Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel 2.4. 167 Um die Jahrhundertmitte präsidierte der Duke of Richmond bei den Dinnerveranstaltungen der Agrargesellschaft Sussex gemeinsam mit dem Bischof von Chichester und arch­deacon Manning. Letzterer ließ die anwesenden Landarbeiter wissen, dass die soziale Ordnung, in der „the multitude were poor and the few rich“, gottgewollt sei. Zitiert nach Roberts, Conscience, S. 45. Siehe dazu auch Howkins, Reshaping, S. 79. 168 Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel 4.1 mit den entsprechenden Unterkapiteln. 169 Typischerweise finden sich die Ausschreibungen für die Landarbeiter am Ende der Listen, was für Preise zu gewinnen waren. Siehe z. B. die Ausschreibung für das Jahr 1853 im Durham Chronicle vom 10.6.1853: „For the man who shall mow, gather and set up a quantity of Wheat, not exceeding one-eighth of an acre, in the most workmanlike manner – 2 £, Second – 1 £. For the Agricultural Labourer who has remained longest in the same service – 2 £, Second – 1 £. For the Agricultural Labourer who has brought up the

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hinaus ein attraktives Gegenmodell zur bestehenden sozialen Ordnung darstellten – so attraktiv, dass landlords und tenants lebenslange Aussperrungen nutzten, um den unions das Rückgrat zu brechen. Doch auch das „Nutzen-Angebot“ an Pächter und örtliche Eilten sah in England anders aus als in Böhmen. Während wir mit Blick auf Böhmen gesehen haben, dass sich Adelige hier als Mitglieder der Vereine zumindest in Teilen deren Regularien unterordneten und auch ihr leitendes Guts- und Forstpersonal (nicht selten einschließlich der Ehefrauen) als Mittelsleute in den Aushandlungsprozessen von Herrschaft präsent waren, übernahmen agents offenbar seltener Funktionen in den agricultural societies170 und auch der hohe Adel hatte eine andere Vorstellung von seiner Rolle in diesen Vereinigungen. An Sitzungen und der Ausschussarbeit nahm er, anders als seine böhmischen Standesgenossen, nicht teil. Vielmehr begnügte er sich mit der Übernahme von Schirmherrschaften und Ehrenämtern. Einen guten Einblick in die Funktionsmechanismen des Interagierens von hohem Adel und Teilnehmern der Agrarausstellungen bietet die englische Presse. Im Jahre 1873 fand in der Grafschaft Bedfordshire die 73. Agrarausstellung der dortigen agricultural society statt. Diese war im Jahr 1800 vom damaligen Duke of Bedford gegründet worden; seither stand sie unter dem Patronat der Russell-Familie. Vorsitzender im Jahre 1873 war der Marquess of Tavistock, der auch das festliche Bankett, an dem 450 Personen teilnahmen, eröffnete. Die Bedfordshire Times druckte gewissenhaft alle hohen Gäste ab (darunter der deutsche Botschafter Graf Munster), die mit dem Marquess an einem Tisch saßen – auch dies eine Form der Repräsentation von ländlicher Ordnung, wie wir sie bereits aus dem Kontext adeliger Hochzeiten171 kennen – bevor sie ebenso detailliert eine lange Liste der ausgebrachten Toasts lieferte. So ließ man nicht nur die königliche Familie hochleben, sondern auch die Geistlichkeit und die Streitkräfte, bevor die Reihe an den Duke of Bedford als den Schirmherren kam. Mr. Howard, ein Pächter des Dukes, verkündete: „I feel proud as a tenant farmer to be selected to propose the health of a nobleman who is esteemed both as a landed pro­ prietor and also as a landlord.“ Den Dank für diesen Toast übernahm der älteste Sohn des Dukes, der Marquess of Tavistock, der den Anwesenden (wie auch der lesenden Grafschaftsöffentlichkeit) versicherte, der Toast sei ihm Ermutigung, in Zukunft die Dinge ebenso zu handhaben wie sein Vater. Als nächstes ließ man den Marquess of Tavistock selbst hochleben, über den es dabei hieß, er „as the newly elected member [of Parliament] for such an agricultural county as Bed[ford]s[hire], might well be expected to take an interest in such an exhibition.“ Daran schlossen sich noch weitere largest Family without parochial relief – 2 £.” Auch die besten ausgestellten Schweine erhielten Prämien in Höhe von 2 £, preiswürdige Zuchthengste das 10fache. 170 1901 etwa war der Verwalter des Marquess of Londonderry Vorsitzender der Agrargesellschaft von Stockton. CROD: D/Lo/C 352. 171 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 4.3.2.

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Toasts an, unter anderem von Lord Russell, einem Onkel des Marquess, auf die Preisrichter.172 Was hier zu sehen ist, war nicht nur das wohlorchestrierte173 Formulieren von gegenseitigen Erwartungen174, sondern das Ausbrechen in Toasts bedeutete darüber hinaus das Eingehen einer sozialen Verpflichtung im Rahmen eines Gemeinschaftserlebnisses, für das gemeinsame Ideal (politisch) tätig zu werden.175 Die scheinbar banale Frage jedoch, ob das Festbankett als abendliches Dinner in einem Gasthof abgehalten werden sollte – so wurde es von den örtlichen Teilnehmern und ihren Frauen angesichts der nassen Sommer gewünscht – oder weiterhin als „lunching on the ground during the day“176, zeigt, wie weitgehend die Vorstellungen des Adels hinsichtlich dessen, was „tradierte Ordnung“ bedeutete, waren. Über das erste Festdinner, das im Juli 1879 abends stattfand, schrieb die örtliche Presse, es sei „something of a fiasco“ gewesen, denn: „,There was nobody there‘, as the phrase is.“177 Dies bestätigte auch die Berichterstattung über die Ausstellung und das Bankett: Kein einziger adeliger Name taucht in der veröffentlichten Liste auf, wohl aber die bittere Bemerkung des Vizepräsidenten, er „should like to see his lordship [gemeint war der Marquess of Tavistock] present, for his absence did not seem to show to the farmers that respect, which was due to them (hear, hear). The day was coming when the tenant farmer would be wanted, and the members expected the farmers to be of some use to them (hear, hear).“178 Anders als in den Jahren zuvor kam es zu einer Aussprache, was die Pächter neben dem schlechten Wetter noch bedrückte. So sei das Steuerwesen „absolutely unequal and unjust“, problematisiert wurde auch der Agricultural Holdings Act und die „game

172 Berichterstattung der Bedfordshire Times vom 10.7.1875. 173 Ebd. 174 Auf der Seite der Russells stand die weitere Akzeptanz der Sozialordnung, wofür im Gegenzug der Marquess die Interessen der Grafschaft im Parlament vertreten und als Nachfolger vor Ort die Dinge ebenso „musterpaternalistisch“ handhaben sollte wie sein Vater. Auch im Herbst des gleichen Jahres versuchte man anlässlich der Preisverteilung nach den ploughing matches den anwesenden Marquess auf seine Rolle festzulegen, als es im Toast hieß, die Pächter „could better trent [sic!] with a gentleman who had farmed land for himself for a time, than with a person who knew nothing about it.“ Bedfordshire Times vom 9.10.1875. 175 Zum Ausbrechen in Toasts siehe Maurer, Fest, S. 131. 176 Bedfordshire Times vom 19.7.1879. 177 Ebd., vom 23.7.1879. Auch die Gesamtzahl war niedriger; 63 Personen hatten sich zu dem Abendessen versammelt. Ebd., 19.7.1879. 178 Ebd., 19.7.1879, womit der Vizepräsident den Marquess nur wenig verschleiert daran erinnerte, dass nicht zuletzt die hier Versammelten ihn ins Unterhaus („member“) gewählt hatten.

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ques­tion“.179 Erst vier Jahre später war der Streit beigelegt, aus dem dinner wieder ein lunch geworden, und der Marquess of Tavistock wieder anwesend.180 Kritische Aussprachen, wie es sie in den Jahren gegeben hatte, als Pächter und örtliche Eliten unter sich blieben181, verschwanden nun wieder von den Seiten der Grafschaftspresse. Dort waren jetzt stattdessen die Versicherungen des Marquess of Tavistock zu lesen, dass man sich im Parlament um eine Verbesserung der Lage der Landwirtschaft bemühe, doch sei dies keine Frage von Parteipolitik, sondern eine des nationalen Interesses.182 Verschiedene Aspekte lassen sich an diesem Punkt zusammenführen: Es zeigt sich hier, gerade im Vergleich zu Böhmen, sehr deutlich, wie wenig gewillt der englische Hochadel war, selbst bei scheinbaren Bagatellen wie der Frage „dinner“ oder „lunch“, aushandelnd auf die verschiedenen Gruppen der ländlichen Welt einzugehen – nicht auf Pächter, und schon gar nicht auf Landarbeiter –, sondern sich in einer Position der Stärke gefiel. Es nimmt deswegen nicht wunder, dass verschiedene Vereinigungen versuchten, vor allem die Interessen der farmer zu vertreten und zum Teil landlords wie auch ihre Verwalter von einer Mitgliedschaft ausschlossen.183 Dazu kommt ein Zweites: Sehr deutlich wird aus der Berichterstattung, dass die Grenzen des Sagbaren unterschiedlich gezogen waren, ob bei den Banketten adelige Schirmherren zugegen waren oder nicht. Anders ausgedrückt: Während in ihrer Anwesenheit allgemeine Erwartungen an sie formuliert wurden, sprachen Pächter und örtliche Eliten, wenn sie unter sich waren, Klartext darüber, wo sie der Schuh drückte. Ein Drittes: Alle Agrargesellschaften hatten in ihren Regularien einen Passus, der Parteipolitik ausschloss. Angesichts der bekannten politischen Präferenzen der adligen Schirmherren und ihrer ältesten Söhne (der Marquess of Tavistock war ja als Delegierter der Grafschaft Bedfordshire ins Unterhaus gewählt worden) bedeutete dieses Verbot, dass die Agrargesellschaften nicht als Foren genutzt werden konnten, abweichende politische Haltungen zu artikulieren. „No party politics“ stellte somit auch eine Strategie dar, Herrschaft durchzusetzen. In diesem Sinne muss man daher auch den Hinweis des Marquess über die Parlamentsarbeit zur Verbesserung der Lage der Landwirtschaft sehen. Wenn dabei nicht Parteipolitik, sondern nationale Interessen ausschlaggebend sein sollten, so spiegelte sich darin das Bemühen wieder, den Konflikt einzuhegen und das offene Äußern abweichender (politischer) Positionen zu beenden. 179 Ebd. Andere Redner erklärten trotzig, dass nichts dagegen spreche, wenn sie sich Jagdpferde hielten oder ihre Töchter Klavierspielen lernten. Ebd. Zum Agricultural Holdings Act siehe auch die Ausführungen im Kapitel 2.3, zu den game laws jene im Kapitel 3.3. 180 Bedfordshire Times vom 21.7.1883. 181 Ebd., vom 23.7.1881. 182 Ebd., vom 21.7.1883. 183 Explizit tat dies die National Famers’ Union, stärker um die Vertretung der Rechte der Pächter kümmerte sich die Farmers’ Alliance. Siehe dazu Mingay, Rural Life, S.  66ff. und Alistair Mutch: Farmers’ Organizations and Agricultural Depression in Lancashire 1890–1900; in: AHR 31/1983, S. 26–36.

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Die agricultural societies waren schon eingangs der Ausführungen zu England als die bei weitem wichtigste Gruppe von Vereinen angesprochen worden, für die sich peers engagierten. Anders als in Böhmen wurden diese Aktivitäten nicht durch ein Umfeld von Organisationen ergänzt, das ebenfalls der Vergesellschaftung ländlicher Interessen diente. Zwar gab es auf den Dörfern nicht selten penny clubs oder friendly societies, doch hatten diese ihre Wurzeln außerhalb der „deferential structure“184, um mit Alun Howkins zu sprechen. Zum Teil wurden sie von den adeligen Gutsbesitzern unterstützt, häufiger jedoch von den Geistlichen.185 Dort, wo dies der Fall war, sollten sie den Dorfarmen „habits of providence and forethought“186 nahebringen. Einher mit der Etablierung verstärkter Selbstkontrolle ging aus Sicht des Adels die Chance, die poor rates niedrig zu halten.187 Die penny clubs und ähnliche Vereine waren daher vor allem Institutionen der selfhelp, an deren Stelle in Böhmen die stärker vom Adel finanzierten Sozialleistungen auf den Gütern standen. Als Instrument der Vergesellschaftung von Interessen waren sie nicht gedacht. Erst als sich jene Bindungen, die so lange typisch für die englische countryside gewesen waren, in der Agrarkrise zunehmend lockerten, erkannten Adelige, dass mit den Vereinen auch eine Chance auf Herrschaftsstabilisierung einherging. Dies brachte Lady Londonderry in ihrer Grußadresse an die Mothers’ Union 1894 zum Ausdruck, als sie davon sprach, die „ties of locality and interest“ durch ein „extra bond of sympathy“ stärken zu wollen, indem sie sich mit ihren Zuhörerinnen gemeinsam für etwas engagiere, das ihnen allen am Herzen liege, nämlich das Wohl ihrer Kinder.188 Im Vergleich zu Böhmen war dies ein ziemlich später und auch eher schwacher Versuch, Herrschaft durch das Angebot zur Gemeinschaftsbildung im Rahmen des Vereinswesens zu stabilisieren. Böhmische Adelige nutzten das moderne Instrument „Verein“ häufiger als ihre englischen Standeskollegen und, so könnte man formulieren, sie nutzten es auf modernere Art und Weise, ließen sie sich doch dadurch, dass sie Herrschaft stärker aushandelten, auf die Idee der Partizipation ein, während dies den Vertretern der englischen Aristokratie weitgehend fremd blieb.

184 Howkins, Reshaping, S. 78. 185 Digby, Institutions, S. 1469f. 186 Clare Sewell Read: Report on the Farming of Buckingshamshire; in: Journal of the Royal Agricultural Society 16/1856, S. 269–322, S. 314f. Siehe dazu auch Michael J. D. Roberts: Making English Morals. Voluntary Associations and Moral Reform in England, 1787–1886, Cambridge 2004. 187 John Earl of Shrewsbury: Suggestions for the Improvement of the Condition of the Labouring Poor, addressed to every Member of the Legislature, London 1831. 188 Address by Lady Londonderry to the Mothers’ Union, Wynyard, 21.11.1894. CROD: D/Lo/F 1126.

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5.3 Lokalverwaltungen, Vereine und Verbände als moderne Foren adeliger Herrschaftsstabilisierung Englische wie böhmische Adelige nutzten viele unterschiedliche Interaktionszusammenhänge, um Herrschaft zu stabilisieren. Dazu gehörten neben den zuvor diskutierten eher traditionalen Feldern mit den Lokalverwaltungen, Vereinen und Verbänden auch eher moderne. Auch für Böhmen lässt sich festhalten, dass sich die Magnaten keinesfalls nach 1848 aus den Lokalverwaltungen zurückzogen. Bedenkt man, dass hier die Zuständigkeit für Bemessung und Erhebung von Lokalsteuern ebenso lag wie für vielfältige Infrastrukturmaßnahmen, kann das adelige Interesse nicht verwundern. Im Umgang mit diesen Körperschaften ähnelten sich böhmische und englische Aristokraten; zu ihren Praktiken gehörte das Ausüben der Rechte als Virilstimmeninhaber, Kooptationen in die county councils, Kandidaturen mit wahlkampfähnlichen Werbetouren im Vorfeld sowie das Nominieren oder Delegieren von Familienangehörigen, Verwaltern oder Pächtern. Auch suchten Adelige nicht selten, auf den Wahlausgang Einfluss zu nehmen, sei es durch die Kommunikation von Wahlpräferenzen, sei es durch Entlassungen (wie bei Karl III. Schwarzenberg). Mittelfristig aussichtsreicher waren jedoch Sinnstiftungsangebote, die sowohl den materiellen Interessen der betreffenden Akteure entgegenkamen als auch auf Gemeinschaftsbildung zielten. Letzteres schlug sich auch in der politischen Rhetorik nieder: Während böhmische Adelige vor nationalistischen Leidenschaften, Parteienhass und Parteienstreit warnten, betonten ihre englischen Standeskollegen, wie wichtig es selbst im Falle von Meinungsunterschieden sei, gut miteinander auszukommen und dass man dies von ihnen erwarten dürfe. Allein das Eingehen auf dieses Thema zeigt, dass es selbstverständlich auch Konflikte gab. In der englischen Forschung verstellen jedoch die beiden Interpretamente „Paternalismus“ und „culture of deference“ den Blick darauf eher. Tatsächlich aber lassen sich diese Sprechweisen als Strategien verstehen, vorhandene Konflikte einzuhegen, wobei den böhmischen Magnaten (man denke an das Beispiel der aufgeteilten Virilstimme) wohl stärker bewusst war, dass sie mit Eigenlogiken der örtlichen Bevölkerung zu rechnen hatten. In der Summe kann jedoch festgehalten werden, dass der großgrundbesitzende Hochadel in Böhmen wie in England recht erfolgreich darin war, die Organe der Lokalverwaltung für sich zu nutzen, wie seine Vertretung in den Gemeinde- und Bezirksverwaltungen, den Magistraten und Grafschaftsräten, nicht zu reden von den lord-lieutenancies zeigt. Dennoch sollte man angesichts dieser Bilanz nicht aus den Augen verlieren, dass beide Adelsformationen nicht nur mit den verschiedenen Gruppen einer agrarisch geprägten Gesellschaft interagierten, sondern auch die jeweiligen Zentralstaaten zunehmend in die Fläche vorrückten und somit für den lokal verwurzelten Adel zu einem Herrschaftskonkurrenten wurden. Dies war in England, wie sich an den Beispielen zur verbindlichen Regelung des Schulbesuchs und der Professionalisierung der

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Grafschaftsverwaltung zeigte, später als in der Habsburgermonarchie der Fall, und geschah noch dazu auf dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Konsenses, dass den localities weiterhin möglichst viele Kompetenzen zu belassen seien, da Bürokratisierung und Zentralisierung als nicht erstrebenswert galten. Was man nicht wollte, waren „Prussian Schulpflicht“189 und „Austrian institutions“190. Im Gegensatz dazu hatte es der böhmische Adel mit einem Staat zu tun, der wesentlich früher und unnachgiebiger in die Fläche vorrückte, und sich Territorium durch möglichst effizient arbeitende Behörden zu erschließen trachtete. Zwar waren die Virilstimmen eine Art staatliches „Besänftigungsangebot“ an den Adel, doch blieb die Zentralmacht in den Auseinandersetzungen um die Lokalverwaltung gegenüber dem böhmischen Adel bei ihrer grundsätzlich unnachgiebigen Linie. Kein Wunder, dass dessen Vertreter den Staat als eine Institution empfanden, die „die alten Bande der Anhänglichkeit [zwischen Grundherren und ‚Leuten‘] … lockern“ wollte. Da an diesem Punkt mit dem Staat nicht zu verhandeln war, postulierten böhmische Adelige zumindest den Vorrang von Dienstpflichten (weil auf einem Vertragsverhältnis beruhend) vor Pflichten gegenüber dem Staat.191 Der Gegensatz zum Zentralstaat ließ sie auch in der Auseinandersetzung um die Gemeindegesetzgebung auf das englische Beispiel rekurrieren, ging es in ihren Augen doch um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Adel und monarchischem Staat. County councils wie Gemeinde- und Bezirksvertretungen verpflichteten den Adel, in Böhmen früher, in England etwas später, auf das Einhalten bestimmter Normen, die letztlich der Staat setzte, und banden ihn in daraus resultierende Routinen ein. Wollten Vertreter beider Adelsformationen die Lokalverwaltungen auch weiterhin zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft nutzen, so war diese ohne eine Anpassung an die gesetzten Verhaltensregeln nicht möglich: Die Lokalverwaltungen blieben ein Interaktionszusammenhang, in dem Adelige Herrschaft aushandelten – aber nur unter Anpassung an staatlich gesetzte Regeln, durch Einbindung in bürokratische Routinen und durch Kompromisse mit den Herrschaftsaspirationen der lokalen Eliten. Abschließend steht als weiteres Interaktionsfeld noch das Vereins- und Verbandswesen zur Bilanz an: Erst ein Perspektivenwechsel in der historiographischen Betrachtung der Habsburgermonarchie hat in den letzten Jahren zu der Erkenntnis geführt, dass das Vereinswesen mit seinen partizipativ-zivilgesellschaftlichen Elementen auch in Cisleithanien nach dem Ende des Neoabsolutismus einen ungeahnten Aufschwung 189 Siehe z. B. den Tremenheere-Report im Rahmen der Erhebung zur Lage von Kindern und Frauen in der Landwirtschaft. BPP 1868–1869, Bd. XIII, S. 20–23. 190 Bürokratie sei, so das vollständige Zitat, „something connected with passports, a spy system, a bullying gendarmerie, Austrian institutions, and military despotism … the people’s servants should become their masters.“ The Press, 24.2.1854. Zitiert nach Rödder, Herausforderung, S. 275. 191 Siehe für beide Beispiele die Belege im Kapitel 5.1.1.

Lokalverwaltungen, Vereine und Verbände

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nahm. Bemerkenswert ist außerdem, dass damit jenes Feld angesprochen ist, für das sich die augenfälligsten Unterschiede zwischen Böhmen und England beschreiben lassen. Sie erstrecken sich zunächst darauf, dass der böhmische Adel in vielfältigen Zusammenhängen im Vereinswesen engagiert war. Das Spektrum reicht dabei von Vereinen und Verbänden des Agrar- und Forstbereichs über katholische und karitative Organisationen bis zu örtlichen, nicht selten städtischen Gründungen, die der Geselligkeit oder Stadtverschönerung dienten. Er deckte also über das Vereinswesen all jene Felder ab, in denen er Chancen auf erfolgreiches Stabilisieren von Herrschaft sah; Engagement in Vereinen und Verbänden (z. B. katholisch-karitativen) kann daher als eine Art begleitender Strategie zu Praktiken verstanden werden, die ebenfalls dem Aushandeln von Herrschaft dienten (wie etwa die Wohltätigkeit). Demgegenüber beschränkte der englische Hochadel sein Engagement im Vereinsleben der ländlichen Welt stark auf die agricultural societies. Damit ging ein weiterer Unterschied einher: Englische Magnaten sahen in den jeweiligen Gesellschaften „ihre“ society, mit dem Ergebnis, dass sie vor allem Positionen als Vorsitzende innehatten. Bei aller hochadeligen Distinktion verfolgte die böhmische Aristokratie gegenüber den Vereinen und Verbänden des ländlichen Raums eine andere Strategie, die sie daher auch auf andere Praktiken zurückgreifen ließ: Neben der Rolle als Schirmherren und Vorsitzende nahmen ihre Vertreter viel stärker an Ausschusssitzungen und Versammlungen teil, wo Sachfragen diskutiert wurden. Ihr Sinnstiftungsangebot beschrieb also eine Gemeinschaftsbildung, bei der auch Hochadelige bereit waren, sich einem (Vereins-)Reglement zu unterwerfen (obwohl auch in Böhmen ausreichend Ehrerbietung im Spiel war, um den „hohen Herren“ eine herausragende Position zuzuweisen). Der zentrale Punkt ist jedoch: Es waren in der Tat Aushandlungsprozesse, die in diesem Zusammenhang zu beschreiben sind. Der englische Hochadel gefiel sich demgegenüber sehr viel mehr in einer Position der Stärke. Von Aushandeln konnte gerade im Kontext der agricultural societies nur wenig die Rede sein. Als Repräsentationen der sozialen Ordnung wiesen ihre Ausstellungen, Preisübergaben und Festbankette den jeweiligen Akteuren ihre Plätze zu: Den Landarbeitern am unteren Ende der sozialen Skala, noch nach den Zuchttieren, dann den Pächtern und örtlichen Honoratioren, deren Hauptaufgabe in der Akklamation der bestehenden Ordnung lag, und mit einem Duke oder Earl an der Spitze, der „seiner“ Gesellschaft (im konkreten wie im übertragenen Sinne des Wortes) vorstand.

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Adelige Moderne – Herrschaft, Staat, Nation und Klasse. Vom Nutzen des Vergleichs für die europäische Geschichte

Wer sich in den 1850er Jahren auf eine Reise in die ländlichen Regionen Englands und Böhmens begab, sah landwirtschaftlich intensiv genutzte Flächen, die sich in Böhmen mit Waldungen und in den südlichen Bezirken mit Teichen zur Fischzucht abwechselten. Eingestreut in diese Landschaften lagen hochherrschaftliche Sitze. Im Gespräch mit den Menschen in den Dörfern und Landstädten hätte der fiktive Reisende erfahren können, wem die häufig imponierenden Schlösser und ausgedehnten Ländereien gehörten: Den Dukes of Bedford oder Earls of Shrewsbury, den Fürsten Schwarzenberg oder Grafen Waldstein sowie anderen namhaften Geschlechtern. Dieser Eindruck hätte sich auch bei einer neuerlichen Reise am Vorabend des Ersten Weltkriegs bestätigt, Schlösser wie Landgüter waren nach wie vor ganz überwiegend in adeliger Hand. So besaßen 160 Mitglieder der böhmischen Hochadels 22 Prozent des Grund und Bodens dieses habsburgischen Kronlandes, in England (und Wales) teilten sich 710 fast ausschließlich adelige Besitzer ein Viertel des Territoriums.1 Diese Ländereien hatten aufgrund ihrer schieren Größe, vor allem aber auch, weil sie gewinnorientiert bewirtschaftet wurden, eine hohe Bedeutung für die Landwirtschaft wie für den agrarisch geprägten Arbeitsmarkt. Hinzu kam, dass sowohl die böhmischen wie auch die englischen Magnaten einschneidende Ereignisse um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreich zu handhaben wussten: Mit der Ablösung aller noch verbliebenen Feudallasten in der Folge der Revolution von 1848 gingen in Böhmen auf den Latifundien Reorganisationsmaßnahmen der Gutsverwaltungen einher, die Ablösezahlungen wurden in die Mechanisierung der Landwirtschaft investiert. Vielen böhmischen Adeligen war im Übrigen deutlich bewusst, dass die Abschaffung der Feudalverwaltung ihre Ausgaben beträchtlich senkte und ihnen somit die Chance auf höhere Renditen bot. Der Einschnitt, mit dem sich der englische Adel auseinanderzusetzen hatte, mag auf den ersten Blick weniger gravierend erscheinen, doch bedeutete die 1846 verabschiedete Aufhebung der Schutzzölle auf Getreide erstmals die Bevorzugung städtischer Konsumenten vor agrarischen einheimischen Produzenten und stellte diese dadurch ebenfalls vor die Notwendigkeit, sich neuen Bedingungen anzupassen. Englischen wie böhmischen Magnaten wurden diese Anpassungsleistungen durch eine gute Agrarkonjunktur in den 1850er und 1860er Jahren erleichtert. Auch die „Agrarkrise“ war in ihren Auswirkungen weniger dramatisch, als es Klagen der Zeitgenossen nach langen Jahren guter Gewinne Glauben machen wollten. In 1 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 1.

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Böhmen wurde sie in ihren Folgen für die aristokratischen Gutsbesitzer außerdem dadurch abgemildert, dass diese weniger stark auf Weizen setzten, sondern mit Gerste (für das Brauwesen) und vor allem durch Viehzucht, Milchwirtschaft und Forste deutlich weniger krisenanfällige Bereiche bewirtschafteten. Von Landverkäufen ist daher vor dem Ersten Weltkrieg mit Blick nach England kaum, nach Böhmen nicht zu berichten.2 Die Bewahrung des Großgrundbesitzes, in der Heinz Reif die Voraussetzung für die Selbstbehauptung des Adels in der modernen Zeit sieht3, war also in Böhmen wie in England gegeben. Dies zeigt sich auch, wenn man sich anschaut, wie die Mag­naten ihre Güter bewirtschafteten. Zwar verfügten sie natürlich in England wie in Böhmen über Verwaltungsstäbe4, doch lag die Letztentscheidung auch für Fragen des Alltagsmanagements bei ihnen, wie eine wahre Flut von Briefen, estate diaries und Obrigkeitlichen Verordnungsbüchern zeigt. Daraus geht auch hervor, dass adelige Gutsbesitzer vielfach auf ihren Gütern anwesend waren (ohne dass darunter ihre politischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen in den Hauptstädten gelitten hätten) und eine Vielzahl der dort arbeitenden Menschen der verschiedenen Gruppen und Schichten persönlich kannten.5 Ähnlich waren sich böhmische und englische Aristokraten darüber hinaus in jenen Praktiken, mit denen sie die effiziente und gewinnorientierte Bewirtschaftung der Güter sicherzustellen suchten: Berichtswesen, Buchführung, Festlegung von Verantwortlichkeiten, Lohnsysteme, die Anreize zu Ertragssteigerungen geben sollten, sowie strikte Ahndungen von Vergehen bis hin zu Entlassungen prägten die Arbeitswelt der Latifundien.6 All dies ließ sich praktizieren, ob der Großgrundbesitz nun, wie in England, verpachtet oder, wie in Böhmen, in Eigenregie bewirtschaftet wurde, denn in beiden Fällen waren jene Einheiten, die den Gewinn zu erbringen hatten, die einzelnen Höfe; diejenigen, die sie bewirtschafteten, waren durch Vertragsbeziehungen an die adeligen Besitzer gebunden, entweder als Pächter oder als angestellte Schaffer.7 Zwar hat in der englischen Literatur die Vorstellung, dass die Pacht (zumal auf der Basis von Verträgen mit Laufzeiten von einem Jahr, die von beiden Seiten gekündigt werden konnten) eine Ökonomisierung der sozialen Verhältnisse auf dem Lande bewirkt habe, oft genug den Charakter eines Gemeinplatzes. Dazu sind jedoch drei Punkte anzumerken. Zum einen findet sich in der Forschung zu England als weiteres gängiges Interpretament für die ländlichen Sozialbeziehungen jenes von der culture 2 Ebd. 3 Reif, Adel, S. 89. 4 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.2. 5 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.1. 6 Ebd. 7 Siehe dazu Kapitel 2.3.

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of deference.8 Die beiden Konzepte stehen offensichtlich in einem Spannungsverhältnis, das jedoch bisher von der Forschung nicht thematisiert worden ist. Wie in anderen Fällen, von denen noch die Rede sein wird, steht hinter dem Interpretament von der Ökonomisierung der ländlichen Sozialbeziehungen ein impliziter Vergleich, der der Identitätsvergewisserung dienen soll.9 England als Land der Industrialisierung, der economic men und der frühen Klassenbildung war als Ganzes von den damit verbundenen sozialkulturellen Prozessen betroffen, in der countryside eben durch die Landpacht. Zum zweiten: Tritt an die Stelle eines impliziten Vergleichs ein expliziter, wie im vorliegenden Fall mit Böhmen, so kann man sehen, dass böhmische Adelige sich gerade aus ökonomischen Gründen gegen eine Verpachtung aussprachen, ergaben doch entsprechende Studien10, dass sich in Eigenregie höhere Gewinne erwirtschaften ließen. Schließlich, drittens, und das zeigt ebenfalls der nach Äquivalenten und Variationen suchende systematische Vergleich: Auf der Ebene der Praktiken, mit denen englische und böhmische Adelige Gewinne zu erzielen suchten, unterschieden sich die hochadeligen Besitzer wenig, oder, anders ausgedrückt: Mit den genannten Praktiken ließ sich sowohl im Rahmen der Landpacht als auch von Eigenbetrieben gewinnorientiert wirtschaften. Ein letzter Punkt muss aus dem Kontext adeligen Wirtschaftsverhaltens noch angesprochen werden: Zu einer „Verbürgerlichung“ führten Gewinnorientierung und Effizienzstreben nicht. Gewinne, ob aus der Landwirtschaft oder aus industriellem Engagement11 dienten der Aufrechterhaltung adeliger Distinktion und Repräsentation; sie waren die Voraussetzung für viele weitere Praktiken, die es den magnatischen Gutsbesitzern (weiterhin) ermöglichten, Herrschaft über „Leute“ erfolgreich auszuhandeln und zu stabilisieren. Das „Land“ blieb dabei durch Fideikommisse und Regelungen des strict family settlement geschützt und wurde vor „Beschädigungen“ durch störende Trassenführungen der Eisenbahnen oder den Blick aus den Schlossfenstern beeinträchtigende Industrieansiedlungen bewahrt. Nicht Wirtschaftspraktiken, sondern ländlicher Bezug war erstes Kriterium aristokratischer Distinktion und Abgrenzung gegenüber dem Bürgertum. Herrschaft über Land und Leute war zentral für das Selbstverständnis des Hochadels, eingeprägt in sein kulturelles Gedächtnis als bis ins Mittelalter zurückreichendes Traditionsgut und somit entscheidendes Distinktionsmerkmal gegenüber anderen sozialen Gruppen. In diesem Sinn und Zusammengehörigkeit stiftenden Selbstbild wurzelten Maßnahmen zum Erhalt der großen Güter und zu ihrer gewinn­ orientierten Bewirtschaftung. Das Land war auch die Basis adeligen Kontakts zu den 8 So zum Beispiel Schröder, Adel, S. 56f., Mingay, Gentry, S. 189–193, Howkins, Reshaping, S. 97–100 und grundsätzlich Moore, Politics of Deference, S. 19–133. 9 Crossick, And What, S. 61–75 und Paulmann, Vergleich, S. 653–657. 10 Krafft, Großgrundbesitz, S. 3. 11 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.1.

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„Leuten“, lange schon nicht mehr durch Schollenbindung begründet, sondern weil seine Vertreter häufig lokal die wichtigsten Arbeitgeber waren: Neben der Land-, Forst- und Teichwirtschaft betrieben böhmische und englische Aristokraten Betriebe, die der Weiterverarbeitung der landwirtschaftlichen Produktion dienten, Ziegeleien, Bergwerke und Unternehmen verschiedener Industriezweige. Hier verdienten viele Menschen aus den Gutsdörfern und Landstädten ihren Unterhalt; neben dem Verwaltungspersonal auch Schaffer und Pächter sowie Landarbeiter, Knechte, Mägde und die Mitglieder von Häuslerfamilien. Gerade die unterbäuerlichen Schichten12 waren in Böhmen wie in England vor allem auf die großen Güter als Arbeitgeber angewiesen, da bäuerliche Betriebe häufig auf die Anstellung von Lohnkräften zu verzichten suchten. Auch wenn sich, vor allem in England, Magnaten bemühten, ihre Stellung in der ländlichen Gesellschaft dadurch zu legitimieren, dass sie ein Gegenbild des sich paternalistisch kümmernden landlord zum ausbeutenden Kapitalisten entwarfen13, blieb der Arbeitsalltag der Landarbeiter(-familien) in beiden Großregionen doch von langen Stunden schwerer körperlicher Arbeit auf den Feldern (und in den Waldungen) bestimmt. Dafür erhielten sie eine Entlohnung, die Geldzahlungen mit Sachleistungen und der Stellung von Unterkünften verband. Herrschaft, als Chance auf Gehorsam, bedeutet das Beschneiden von Handlungsoptionen anderer Akteure. Insofern waren die kombinierte Entlohnung, das Stellen von Unterkünften14 als Praxis, die die Entstehung von Privatsphäre verhinderte und das zum Teil drakonische Durchgreifen in Konfliktfällen (bis hin zu Zwangsumzügen oder Zwangsemigrationen) als disziplinierende Herrschaftspraktiken intendiert, die von böh­mischen wie englischen hochadeligen Arbeitgebern in grundsätzlich ähnlicher Weise gehandhabt wurden. Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass für bäuerliche wie unterbäuerliche Schichten sowohl in England als auch in Böhmen die nunmehr ökonomisch bedingte Abhängigkeit ein ähnliches Maß annehmen konnte, wie jene rechtlich bestimmte vor 1848 in Mitteleuropa. Der These, dass Adelsformationen in Folge der Ablöseregelungen einen „Verlust symbolisch-soziokulturellen Statuskapitals“ erlitten hätten, der „schwer ersetz- oder kompensierbar“15 gewesen sei, lässt sich daher unter Hinweis auf die ökonomische Macht gerade magnatischer Großgrundbesitzer widersprechen: Falls es einen solchen Verlust gab, so konnte er ökonomisch kompensiert werden, was in Böhmen und England der Fall war. Eine andere Frage ist jedoch, in welchem Ausmaß es diesen „Verlust“ überhaupt gegeben hat; darauf wird weiter unten noch einzugehen sein. 12 13 14 15

Siehe ausführlich dazu Kapitel 2.4. Siehe dazu die Beispiele in den Kapiteln 3.1.1 und 3.1.3. Zu den cottages siehe ausführlich Kapitel 3.1.1, zu Unterkünften in Böhmen Kapitel 3.3. Braun, Bemerkungen, S. 92.

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Diese beschriebene adelige Macht und das daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnis prägten die Sozialbeziehungen auf dem Lande in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts – und zwar wesentlich stärker als ein landlord-paternalism es tat. Ähnlich, wie dies mit Blick auf die Landpacht und die Kultur der Ehrerbietung bereits dargelegt worden ist, sind auch die Verweise auf den besonderen Charakter des Paternalismus in England implizite Vergleiche, die der identitären Selbstvergewisserung dienen, so etwa, wenn es heißt: „English paternalism, involving an authoritarianism that was tempered by common law and ancient liberties, was different from Austrian or Russian paternalism. … Society consisted of many different spheres, each with its own hierarchies, though each was part of a larger one. This pluralism distinguished English from Continental paternalism.“16 Betrachtet man jedoch im expliziten symmetrischen Vergleich die Reaktionen und Handlungsoptionen, mit denen die verschiedenen Gruppen der Agrargesellschaften auf die Herrschaftsansprüche des englischen wie böhmischen Hochadels reagierten, so kommen auch an dieser Einschätzung Zweifel auf. Ein erster Blick in die Quellen könnte die Lesenden in der Tat zunächst zu der Einschätzung (ver-)führen, dass die englische countryside sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt aufgrund des pazifizierenden Paternalismus relativ konfliktarm zeigte, während in Böhmen Alltagskonflikte allgegenwärtig waren. Die genauere Lektüre offenbart jedoch auch für England eine Vielzahl eigensinniger Praktiken, mit denen sich vor allem Landarbeiter adeligen Herrschaftsansprüchen zu entziehen und ihre (ökonomischen) Bedürfnisse sicherzustellen suchten. Zu diesen Praktiken gehörte das Untervermieten und „Vererben“ von cottages (was Verwalter und Besitzer regelmäßig als Verstoß gegen adelige Eigentumsrechte empörte), ein Festhalten am Alkoholkonsum und das Wohnen in den sogenannten open villages, die weniger der sozialen Kon­ trolle unterstanden als die Gutsdörfer.17 Während dieses, mit Alf Lüdtke gesprochen, vor allem „unspektakuläre“ Verhaltensoptionen waren, die gegenüber den adeligen Besitzerfamilien ein Hinnehmen zeigten, wobei die Betreffenden gleichzeitig in der Distanz ihren eigenen Orientierungen folgten18, gab es durchaus auch spektakuläre Formen, Dissens zu kommunizieren. Dazu gehörten Brandstiftungen und die immer wieder gewaltsam ausgetragenen Konflikte, die sich an der drastischen Ahndung der Wilderei entzündeten.19 Angesichts der vielen Ähnlichkeiten, gerade auch in den adeligen Herrschaftspraktiken, ist es auffällig, dass sich die beiden Agrargesellschaften im Hinblick auf ihre Konflikthaftigkeit deutlich unterschieden. Böhmen zeichnete sich im Gegensatz 16 17 18 19

Roberts, Paternalism, S. 2f. Siehe dazu die Kapitel 3.1.1 und 3.1.2. Lüdtke, Einleitung, S. 49f. Siehe zur Brandstiftung und den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Wildhütern in England vor allem Kapitel 3.3.

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zu England durch eine schier unendliche Vielzahl von alltäglichen Streitfällen aus, die jedoch – anders als in England im Falle von Brandstiftung und Auseinandersetzungen zwischen (tatsächlichen oder vermeintlichen) Wilderern und keepern – selten (blutig) eskalierten. Auch waren die typischen Konfliktfelder in Böhmen andere: Hier entzündeten sich Streitigkeiten an den auf allen Gütern üblichen Deputaten, an Fisch- und Sanddiebstählen, an unerlaubten Wasserableitungen aus fideikommissarisch geschützten Flüssen und an einem geradezu endemischen Holzdiebstahl, der schon deswegen kaum zu unterbinden war, jedenfalls nicht ohne die Konflikthaftigkeit am Ort grundsätzlich zu verändern, weil zumeist betagte Angehörige der Dorfarmut kleine Mengen für den „Eigenbedarf “ entwendeten.20 Die „ancient liberties“, die den englischen Paternalismus gemäßigt haben sollen, finden sich tatsächlich eher in Böhmen. Hier beriefen sich nicht selten ganze Ortschaften auf Rechtsgewohnheiten, die zum Teil von den Gerichten bestätigt wurden. In der Konsequenz führte dies zu dem Paradoxon, dass die Gerichte (von denen weiter unten noch ausführlicher die Rede sein wird) traditionale Rechtsinstitute wie Fideikommisse oder eben Rechtsgewohnheiten bestätigten, unabhängig davon, dass sich die Habsburgermonarchie auf dem Weg zur Ausprägung eines modernen Rechtsstaates befand. Hieraus wiederum ergab sich als Folge, dass Alltagskonflikte in der ländlichen Welt Böhmens eben das waren: Alltäglich, und damit „normal“. Auch verfügten die beteiligten Akteure und Akteursgruppen über verschiedene Praktiken und Institutionen, um sie handhabbar zu machen, so dass sie im Endeffekt selten eskalierten. Anders sah die Situation in England aus: Eigenlogische Verhaltensformen waren hier wesentlich weniger ausgeprägt, weil Rechtsgewohnheiten als Ankerpraktiken, anders als das Selbstbild von den ancient liberties es nahelegt, praktisch fehlten und somit auch nicht an sie appelliert werden konnte. Was blieb, waren die relativ spektakulären, weil vielfach gewalthaften Formen, Dissens zu äußern und sich einem adeligen Herrschaftsanspruch entgegenzustellen: Brandstiftung und Wilderei. Hier wurde, anders als in Böhmen beim unerlaubten Holzklauben oder beim Aneignen von Deputaten, adeliger Besitz und adeliger Herrschaftsanspruch grundsätzlich in Frage gestellt. Neben einer grundsätzlich unterschiedlichen Konflikthaftigkeit und jeweils anderen Konfliktfeldern in England und in Böhmen muss noch von einem weiteren Aspekt gesprochen werden, in dem die beiden Regionen sich unterschieden: In der Frage 20 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 3.2.1, 3.2.2 und 3.2.3. In Parenthese sei angemerkt, dass entsprechende Verstöße in England zunächst zum Verlust des Arbeitsplatzes geführt hätten (was auch in Böhmen bei Dieben, die auf den Gütern arbeiteten, der Fall war), dann jedoch, im Wiederholungsfall und wenn zum Beispiel noch der als Wilderei bestrafte Diebstahl von Vogeleiern sowie „disorderly behaviour“ in einem workhouse hinzukamen, die Verurteilung zu harter Arbeit, Kerker und auch Verbannung in die domin­ ions folgen konnte.

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nämlich, inwieweit es sich bei den Konflikten um originäre Konflikte der ländlichen Welt handelte. In Böhmen war dies bei den Streitigkeiten um Deputate sowie um die Wald- und Gewässernutzung der Fall. Deswegen mussten die Magnaten aushandelnd tätig werden, wobei sie ihrerseits auf verschiedene Praktiken zurückgriffen, von Entlassungen bis hin zu Klageeinreichungen vor den Gerichten.21 Anders dagegen war es um die Auseinandersetzungen in England um cottages bzw. Alkoholkonsum bestellt. Ohne einen in die countryside hineingetragenen Diskurs, in dem es unter dem Leitbegriff der respectability um die Anmeldung eines konkurrierenden bürgerlichen Herrschaftsanspruches ging22, wären diese Themen im Rahmen der englischen Agrargesellschaft ebenso wenig wie in Böhmen zu großen Konfliktfeldern geworden. Die bürgerlichen Ansprüche übergingen die englischen Magnaten jedoch mit Schweigen: Verteidigungsschriften zum Thema cottage-Bau erschienen erst, als sich die Situation, nicht zuletzt durch einen deutlichen Rückgang beim Bedarf, bereits entspannt hatte; Anteil an der temperance-Bewegung hatten Adelige erst, als sich diese nicht mehr primär auf den dissent stützte.23 Einzig bei den Auseinandersetzungen um die Landarbeitergewerkschaften handelte es sich in England um einen originären Konflikt der Agrargesellschaft, und zwar – ähnlich wie im Falle der Wilderei auch – um einen grundsätzlichen, denn in der Bekämpfung der un­ions suchten adelige Großgrundbesitzer (zusammen mit ihren Pächtern) das konkurrierende Ordnungsmodell der Klassengesellschaft zu unterdrücken. So grundsätzlich der Konflikt war, so „spektakulär“ waren erneut die Praktiken, die hier zum Einsatz kamen: Landarbeiter, die sich den Gewerkschaften anschlossen, mussten mit Aussperrungen „for life“ rechnen; und da sie für sich und ihre Familien auch nicht mehr auf Wohltätigkeit seitens der anglikanischen Geistlichen in den Gutsdörfern hoffen durften, blieb ihnen nicht selten nur die Emigration.24 Ein normensetzender Staat war an diesen Auseinandersetzungen kaum beteiligt; seine Institutionen funktionierten deswegen auch nicht als Appellationsinstanz, ebenso wenig wie die bürgerliche Öffentlichkeit. An dieser Stelle sei ein erster Befund der Gesamtuntersuchung festgehalten, ein paradoxer zumal. Aufgrund des bisher ausgebreiteten Materials könnte man zu der Einschätzung kommen, dass sich der englische Adel im Vergleich zum böhmischen in einer stärkeren Position befand: Die Konflikte um cottages und Alkoholkonsum basierten auf in die ländliche Welt hineingetragenen bürgerlichen Diskursen, die das soziale Gefüge der Agrargesellschaft nicht wirklich tangierten, weil sie für die betroffenen Landarbeiter zwar unter Umständen ein alternatives Sinnstiftungsangebot beinhalteten, aber losgelöst von der alltäglichen Realität der labourer diesen so gut wie keine (neuen) Handlungsoptionen boten. Lapidarer ausgedrückt: Nicht-Trinken 21 Ebd. 22 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 3.1.1 und 3.1.2. 23 Ebd. und Kapitel 3.3. 24 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 3.1.3.

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konnten sie um der respectability willen oder auf Geheiß des landlord zwecks Vermeidung von Unfällen. Jene Konflikte, auf die der gutsbesitzende Adel in England reagieren musste, weil es sich wie bei der Bildung der Landarbeitergewerkschaften um originäre und grundsätzliche Konflikte in der Agrargesellschaft handelte, konnte er aus seiner Position der ökonomischer Macht weitgehend unterdrücken. Was hier jedoch als Stärke erscheint, war eher eine vermeintliche Stärke, denn sie ließ die peers in dieser Position verharren und sich weniger darum bemühen, Herrschaft aushandelnd aufrechtzuerhalten. Dadurch wiederum eröffneten sie konkurrierenden Ordnungsmodellen neue Räume – Klassenbildungsprozesse schritten in der englischen Agrargesellschaft schneller als in Böhmen voran. In Böhmen dagegen sahen sich die Magnaten einer Vielzahl von Alltagskonflikten gegenüber, die jedoch keinen grundsätzlichen Charakter hatten. Auch mussten sie sich stärker mit einem normensetzenden Staat arrangieren als ihre englischen Standeskollegen, da der habsburgische in die Sozialbeziehungen der ländlichen Welt eingriff. Der böhmische Adel reagierte auf diese Situation, indem er – an seinem Selbstbild vom Herrschaftsstand über Land und Leute festhaltend – Herrschaft stärker aushandelte, also auch seine Verhaltensoptionen in diesem Prozess einschränkte bzw. einschränken ließ, dabei aber auf seine vielfältigen, nicht nur ökonomischen Ressourcen zurückgriff, wodurch er erfolgreich den Raum für konkurrierende Ordnungsmodelle wie die Klassengesellschaft oder, davon wird noch die Rede sein, die Nationalgesellschaft beschränkte. Der Befund lautet also, dass eine Position der Stärke zu einer Schwächung führen konnte, wenn ihre Vertreter wie in England meinten, sich deswegen kaum auf den Prozess des Stabilisierens von Herrschaft einlassen zu müssen. Dagegen konnte ein durch einen normensetzenden Staat begrenzter Handlungsspielraum, der aber durch vielfältige und auf vielen Feldern eingesetzte Praktiken genutzt wurde, im Endeffekt eine überaus erfolgreiche Stabilisierung von Herrschaft bedeuten. Betrachtet man die weiteren Interaktionszusammenhänge neben der Gutswirtschaft, die die englischen und böhmischen Magnaten nutzten, um Herrschaft auszuhandeln und zu stabilisieren, so lässt sich das Zwischenfazit in vielen Punkten fortschreiben: Gemeinsam waren englischen peers und böhmischen Aristokraten zunächst die Felder, die sie dazu nutzten: Neben eher traditionalen wie der Wohltätigkeit, den Pfarr- und Kirchenpatronaten sowie den Festen25 standen mit den Lokalverwaltungen sowie dem Vereins- und Verbandswesen eher moderne26. Hinzu kam: Das Aufrechterhalten von Herrschaft war family business. Adelige Frauen waren nicht auf eine „häusliche“ Sphäre und die Reproduktion beschränkt, sondern als Gutsbesitzerinnen bewirtschafteten sie Ländereien, hatten hier die Funktionen von Arbeitgeberinnen und übten auch Patronatsrechte aus. Eine eigene Rolle spielten sie 25 Siehe dazu Kapitel 4 mit den jeweiligen Unterkapiteln. 26 Siehe dazu Kapitel 5 mit den jeweiligen Unterkapiteln.

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auch auf den Festen und bei der Wohltätigkeit. Sie bestand in Böhmen und England nicht in einem „In-die-Hütten-der-Armen-gehen“, sondern in der Auswahl derer, die Weihnachtsgeschenke erhielten oder in der Einrichtung karitativer Stiftungen. Auch die Politik war adeligen Frauen nicht fremd. Gerade in England waren sie als aktive Wahlkämpferinnen für ihre männlichen Verwandten bekannt. „Family business“ meint darüber hinaus, dass nicht nur die Majoratsherren mit ihren Frauen und ggf. die ältesten Söhne in Vorbereitung auf diese Funktion öffentlich präsent waren, sondern dass auch weitere, vorzugsweise männliche, Verwandte Aufgaben in den Ausschüssen der Gemeindeverwaltungen sowie in den Vereinen und agricultural societies übernahmen. Genauso wurden Kinder, vor allem über das Verteilen wohltätiger Gaben, von früh auf in einer Weise sozialisiert, die Herrschaft über Land und Leute als Kernbestand adeligen Selbstverständnisses von einer Generation an die nächste weitergab. Da Kinder vielerorts auch die Empfänger dieser Gaben waren, zeigt sich auch in diesen Praktiken die Einübung der hierarchisch gegliederten Gemeinschaft; sie umfasst auf Seiten des Adels wie der „Leute“ Männer und Frauen, Mädchen und Jungen.27 Englischer und böhmischer Hochadel ähnelten sich darüber hinaus stark in ihren Praktiken, mit denen sie in eher traditionalen wie eher modernen Kontexten agierten: Wohltätige Gaben etwa erhielt, wer sein ganzes Leben auf den Gütern gearbeitet hatte, dabei stets loyal gewesen war, durch einen moralischen Lebenswandel seine Würdigkeit nachgewiesen hatte oder von den Folgen eines Unglücks betroffen war, das sich nicht auf eigenes Verschulden zurückführen ließ.28 Wohltätigkeit war somit eine Herrschaftspraktik, die mit dem Ziel ausgeübt wurde, die Menschen auf den Gütern zu individualisieren und sie dauerhaft an den Gutsbesitz zu binden, in diesem Sinne also Herrschaft zu territorialisieren.29 Auch sollte auf diese Weise nach Möglichkeit verhindert (bzw. hinausgezögert) werden, dass die Bewohner der Gutsdörfer oder Landstädte für konkurrierende soziale Ordnungsmodelle wie die Klassengesellschaft oder die Nation optierten: Englische Landarbeiter, die einer Gewerkschaft beitraten, konnten ebenso wenig auf Unterstützung hoffen wie in Böhmen die Träger nationalistischer Schulvereine. Große Ähnlichkeiten bestanden auch hinsichtlich des Umgangs mit Pfarr- und Kirchenpatronaten. Sowohl im anglikanischen England als auch im katholischen Böhmen hatten adelige Patrone ein Vorschlagsrecht für die Besetzung der örtlichen Pfarrstellen, das in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf die Auswahl des 27 Zu Adelsherrschaft als Familien-„Unternehmen“, in dem auch Frauen und Kinder ihre Aufgaben wahrnahmen, siehe die Ausführungen in den Kapiteln 2.1, 4.1.2, 4.1.3.1, 4.1.3.2, 4.2.3 und 4.3.2 sowie zur Rolle von Aristokratinnen in den Wahlkämpfen ihrer männlichen Familienangehörigen Reynolds, Women, S. 130–152. 28 Siehe dazu die Ausführungen vor allem in Kapitel 4.1.2. 29 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 4.1.1.

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jeweiligen Ortsgeistlichen hinauslief. Dieser wiederum las nicht nur das Evangelium, sondern er predigte zumeist auch im Sinne der ländlichen patriarchalen Sozialordnung und hatte eine überaus wichtige Rolle bei der Verteilung milder Gaben, die ohne sein positives Urteil kaum zu erlangen waren.30 Wohltätigkeit, die Ausübung von Patronaten wie auch das Feiern von Festen des Kirchen- und Agrarjahres sowie wichtiger Ereignisse im Hause der örtlichen Adelsfamilie umfassten in beiden untersuchten Großregionen eine Vielzahl von Praktiken, die gleichermaßen eingewurzelt in Traditionen waren und im Rahmen des Herrschaftsinteresses jeweils aktualisiert wurden.31 Im Rahmen der Feierlichkeiten auf den Gütern gehörte dazu etwa das Willkommenheißen neu vermählter Brautleute an den Grenzen der „Herrschaft“, die Inszenierung von Taufen als ersten öffentlichen Auftritten (vor allem der späteren Majoratsherren) wie überhaupt die Repräsentation der ländlichen Gesellschaft in den Festordnungen als zwar hierarchisch gegliederter, aber gleichwohl Klassen- wie Sprachgrenzen übergreifender Gemeinschaft. Adelsherrschaft, dies gehört zu den Grundzügen von Herrschaft überhaupt, musste denen, die sie in Aushandlungsprozessen anerkennen sollten, einen Nutzen bieten. Dieser konnte materiell sein, wie etwa in Form der wohltätigen Unterstützungen, oder in niedrigen Lokalsteuern bestehen, aber auch ideell: Adelige wollten durch die beschriebenen Praktiken Nähe demonstrieren, Bindungen schaffen, das Gefühl der Zugehörigkeit in Zeiten rasanten sozialen Wandels durch fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung vermitteln und so mittels Sinnstiftung zu einer ländlich-agrarischen Gemeinschaftsbildung beitragen. Diese wiederum wurde in Gebetsangeboten ausgehandelt, im Kirchenbesuch oder durch das Einnehmen des zugewiesenen Platzes in den Festordnungen (zeitweise) anerkannt, durch den Gang in eine methodistische chapel, durch Alkoholkonsum und Aneignungen aus der Gutswirtschaft oder durch die „Absentierung“ aus den Festformationen aber auch unterlaufen. Das Aushandeln und Repräsentieren von Herrschaft war daher ein unablässiger Prozess; ein Nicht-mehr-daran-Teilnehmen schwächte potentiell die betreffenden Magnaten, die an der Aufrechterhaltung „ihrer“ Herrschaft ja vor allem interessiert waren. Neben den eher traditionalen Interaktionszusammenhängen, die Adelige in England wie in Böhmen nutzten, um eine soziale Ordnung zu bewahren, die ihnen eine herausragende Position zuwies, sind nun noch zwei eher moderne in die bilanzierende Bewertung einzubeziehen, die Lokalverwaltungen sowie die Vereine und Verbände. 30 Zur Rolle der Ortsgeistlichen siehe die Kapitel 4.2.2 und 4.2.3. 31 Auch bestand zwischen den drei Interaktionsfeldern häufig ein enger Zusammenhang: So gehörten zu Taufen von Stammhaltern feierliche Gottesdienste und das Verteilen milder Gaben, wie dies auch für viele andere kirchliche Feiertage oder herausragende Anlässe im Hause der adeligen Familie (wie Hochzeiten, Majoratsübernahmen, runde Geburtstage oder Beerdigungen) galt.

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Anders als es die vielfältigen Klagen böhmischer Aristokraten vermuten lassen, zogen sie sich nach der Abschaffung der Patrimonialverwaltung keineswegs von der Gemeinde- und Kreisadministration zurück, wurde hier doch über die Verwaltung der Lokalsteuern und über Infrastrukturmaßnahmen entschieden; zwei Themenfelder, an denen adelige Gutsbesitzer ein vitales Interesse hatten. Um darauf Einfluss nehmen zu können, nutzten sie ihre Virilstimme, kandidierten selbst und nahmen, je nach örtlichen Gegebenheiten, das Mandat wahr oder ließen sich durch ihr leitendes Personal in den verschiedenen Gremien vertreten. Auf diese Weise kommunizierten sie ein Sinnstiftungsangebot, das sowohl den materiellen Interessen der verschiedenen Akteure entgegenkam, etwa den Anschluss an das überregionale Eisenbahnnetz zu realisieren, als auch, unter anderem durch die Realisierung solcher Vorhaben, auf Gemeinschaftsbildung zielte. Ganz im Sinne ihrer Vorstellung von der ländlichen Gesellschaft als einer hierarchisch gegliederten Gemeinschaft warnten böhmische Adelige vor nationalistischen Leidenschaften, Parteienhass und Parteienstreit.32 Auf eine zunehmend moderne Grafschaftsverwaltung mussten sich die peers zwar erst nach der Reform von 1888 einstellen, dann agierten sie jedoch häufig ähnlich wie ihre böhmischen Standeskollegen: So lange die Lokalverwaltungen ihnen als Interaktionszusammenhang für die Stabilisierung von Herrschaft geeignet erschienen, blieben sie hier aktiv, stellten sich Wahlen, delegierten Familienmitglieder, Verwalter und Großpächter in die jeweiligen Gremien und pflegten eine Rhetorik, die ebenfalls auf Gemeinschaftsbildung zielte.33 Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten, die die Untersuchung bisher herausarbeiten konnte, ist abschließend zum Komplex der Aushandlungsfelder des Hochadels noch von einem deutlichen Unterschied zu sprechen: Dem Umgang mit Vereinen und Verbänden. Englische Magnaten konzentrierten sich im ländlich-agrarischen Umfeld ganz auf die agricultural societies und nahmen darin vor allem „repräsentative“ Funktionen wahr: Ausstellungen, Preisübergaben und Festbankette sollten vor allem die hierarchische Struktur der versammelten (und über die Grafschaftspresse medial vermittelten) Agrargesellschaft mit einem Aristokraten an der Spitze bestätigen. Auf Aushandlungsprozesse ließen sich die peers dabei selten ein; eher gefielen sie sich auch hier in einer Position der Stärke.34 Der vergleichende Blick nach Böhmen zeigt dagegen zum einen ein wesentlich breiteres Spektrum an Vereinen und Verbänden, in denen der böhmische Adel sich engagierte; es reichte von land- und forstwirtschaftlichen Interessenvertretungen über katholisch-karitative Gründungen bis hin zur Unterstützung von örtlichen Vereinigungen der Geselligkeit. Zum anderen nahmen seine Vertreter bei aller adeligen Distinktion viel stärker an Ausschusssitzungen und Versammlungen teil, beschränkten sich also weniger darauf, primär Schirmher32 Siehe zu diesem Themenkomplex die Ausführungen in Kapitel 5.1.1. 33 Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.1.2. 34 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 5.2.

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ren und Vorsitzende zu sein. Der böhmische Hochadel war also mit seinen Vereinsaktivitäten auf all jenen Feldern aktiv, auf denen er auch mit anderen Praktiken, etwa der Wohltätigkeit oder dem Ausüben der Patronatsrechte, Herrschaft auszuhandeln suchte, und er war dies in einer Weise, mit der er zeigte, dass seine Mitglieder bereit waren, sich an ein (Vereins-)Reglement zu halten, so dass bei aller Distinktion auch der Aspekt der Gemeinschaftsbildung seinen Platz im hochadeligen Sinnstiftungsangebot fand.35 Angesichts der Vielzahl der Felder und Praktiken, die englische wie böhmische Hochadelige nutzten, um ihre Herrschaft auch nach dem Ende der Erbuntertänigkeit aufrechtzuerhalten, und des Erfolgs, den sie dabei in der Moderne hatten, ist von einem grundsätzlichen „Verlust symbolisch-soziokulturellen Statuskapitals“36 schlecht zu sprechen. Überhaupt liegt dieser Einschätzung eine stark dichotomische Betrachtungsweise zugrunde, während die Analyse der Praktiken zeigt, wie Adelige ihre vielfältigen Ressourcen anwandten, um ihre Position im Sozialgefüge der (ländlichen) Gesellschaften zu sichern. In dieser Fähigkeit, nämlich der flexiblen Anpassung unter Wahrung der Kernbestände der eigenen Identität, wozu auch im langen 19. Jahrhundert der Herrschaftsanspruch über Land und Leute gehörte, dürfte überhaupt die zentrale Herrschaftsressource des Adels gelegen haben, als Erfahrung über Generationen tradiert. Bei aller Fähigkeit vieler hochadeliger Standesvertreter, ihre Herrschaftsansprüche erfolgreich auszuhandeln und zu stabilisieren, soll damit keineswegs gesagt sein, sie hätten es im Verlauf dieser Prozesse nicht mit Konkurrenten zu tun gehabt. An erster Stelle sind die in die Fläche vorrückenden Staaten zu nennen, die mit ihrem Gestaltungsanspruch keinesfalls an den Grenzen des adeligen Gutsbesitzes Halt machten. Hier ist daher der Ort, auch die Ergebnisse mit Blick auf die Zentralstaaten als Herrschaftskonkurrenten der Magnaten zusammenzufassen. Die Zentralstaaten traten den Adelsformationen über die Gesetzgebung, in den Institutionen und, mit beidem eng verbunden, durch den Anspruch, Normen zu setzen, entgegen. Grundlegend für das Verhältnis zwischen Staat und Adel in beiden Großregionen war es, dass in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts weder Wien noch London eine Adelsschutzgesetzgebung praktizierten, dass jedoch in beiden Staaten liberale wie konservative Regierungen Eigentum schützten, was wiederum adeligen Großgrundbesitzern nicht zuletzt über die traditionalen Rechtsinstitute der Fideikommisse und des strict family settlements zugutekam. Auch scheuten sich die Zentralstaaten lange, in die Gestaltung der ökonomischen Beziehungen der Agrargesellschaft einzugreifen, wie in England der Agricultural Holdings Act zeigte, mit dem erst 1883 eine gewisse Verbindlichkeit für die Pächter erreicht wurde, nachdem alle gesetzgeberischen Maßnahmen zuvor letzt-

35 Ebd. 36 Braun, Bemerkungen, S. 92f.

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lich den Charakter von Empfehlungen hatten.37 Einer verwandten Logik folgte die Gesetzgebung in Cisleithanien mit Blick auf den Ausschluss der in der Landwirtschaft Arbeitenden aus der Unfall- und Krankenversicherung oder die Novellierung der Gewerbeordnungen, die weder Arbeitspausen für die Landwirtschaft festschrieb noch ein Beschäftigungsverbot von Kindern und Frauen in der Landwirtschaft erließ.38 In all diesen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen prägten die lokalen Lebenswelten das politische Agieren des Adels; die Zentralstaaten hielten sich dagegen eher zurück. Anders sah die Situation mit Blick auf die Institutionen wie Gerichte, Gemeindeverwaltungen, Schulen oder das Armenwesen sowie die hierzu getroffenen Gesetzesentscheidungen aus. Vor allem der habsburgische Staat zeigte sich als bürokratischer Anstaltsstaat mit dem Anspruch, eine Leistungsverwaltung aufzubauen und eigene Normen durchzusetzen. Aus diesen Gründen kam es immer wieder zu Konflikten mit dem Adel, etwa wenn der Staat adelige Stiftungen einer zum Teil rigiden Aufsichtsverwaltung unterstellen wollte (und der Adel auf den Schutz seines Eigentums pochte)39 oder ihn in den 1850er Jahren zu Zahlungen für das Schulwesen verpflichtete (was viele Adelige mit einer Verweigerungshaltung beantworteten), bevor ihm die liberale Gesetzgebung ein Jahrzehnt später dieses Feld ganz entzog.40 Auch bei den nach wie vor bestehenden Pfarr- und Kirchenpatronaten erlegte der habsburgische Zentralstaat dem grundbesitzenden Adel Pflichten im Zusammenhang mit der Ausübung seiner Rechte auf: Adelige Patronatsherren hatten für die Instandhaltung von Kirchen und Kapellen aufzukommen, Post in Patronatsangelegenheiten galt gleichwohl als Privatpost und wurde nicht wie Behördenpost portofrei befördert.41 Am offensichtlichsten waren die Auseinandersetzungen zwischen Staat und böhmischem Adel auf dem Feld der lokalen Administration. Hier sind die Klagen nach der Abschaffung der Patrimonialverwaltung so laut gewesen, dass sie auch viele Historiker dazu verführt haben, anzunehmen, böhmische Adelige hätten sich aus einer Art von Trotz oder Resignation von der unteren Ebene der Verwaltung abgewandt. Dabei wurde lange übersehen, dass es zum einen den effizienzorientierten Magnaten sehr wohl bewusst war, dass ihnen die feudal geprägten Verwaltungsstrukturen große Ausgaben bereitet hatten, sie ohne diese Kosten also höhere Gewinne erwirtschaften konnten.42 Zum anderen zeigt der alltagsgeschichtlich geschulte Blick auf die Güter, dass deren Besitzer sich allen Klagen, Broschüren und Pamphleten zum Trotz sehr wohl an den verschiedenen Gremien der Lokalverwaltung beteiligten, und dies keinesfalls nur dort, wo sie über eine Virilstimme verfügten, sondern sich vielmehr auch 37 38 39 40 41 42

Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.3. Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 4.1.4 und 5.1.1. Siehe dazu Kapitel 4.1.3.1. Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 4.1.4. Siehe dazu Kapitel 4.2.1. Siehe dazu Kapitel 2.1.

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erfolgreich Wahlen stellten. In der Debatte um die Gemeindereform – seitens des böhmischen Adels unter dem zunächst paradox anmutenden Verweis auf die Situation in England geführt (die sich nicht von der in Böhmen kritisierten unterschied) – verbarg sich daher eigentlich eine grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen monarchischem Staat und (großgrundbesitzendem Hoch-)Adel.43 Während nun einerseits der böhmische Hochadel schlecht antimonarchisch auftreten konnte44, sah er andererseits im Staat einen Akteur, durch dessen Einwirkungen „die alten Bande der Anhänglichkeit [zwischen ihm und seinen ehemaligen Untertanen] … gelockert wurden.“45 Dagegen hielt er daran fest, dass es zwar eine „Schuldigkeit dem Staat gegenüber“ gebe, „Dienstpflichten“ jedoch „näher gelegen“ seien und wegen ersterer nicht vernachlässigt werden dürften.46 Der Umgang mit dem zumeist städtischen Armenwesen illustriert zudem, wie böhmische Adelige praktisch mit dem Herrschaftskonkurrenten umgingen: Während die von ihnen getragenen Armenspitäler so geführt werden mussten, dass sie den Behörden keinen Anlass boten, eine Aufsichtsverwaltung einzuführen, hatten ländliche Arme oder Alte, die sich „im Genusse einer Stadtpension“ befanden, keine Chance auf wohltätige Unterstützung seitens der örtlichen Adelsfamilie.47 Herrschaft wurde ausgehandelt; wer, lapidar gesagt, zur Konkurrenz ging, war raus aus diesem „Spiel“. Es wäre allerdings falsch anzunehmen, dass böhmische Aristokraten nicht auch in der Lage waren, sich staatlicher Institutionen zu bedienen. Dies zeigt sich am Beispiel der Gerichte. Hier waren es vor allem Adelige, die die Vielzahl der Eigentumskonflikte sowie jene um die adäquate Auslegung der mit dem Besitz der Virilstimme verbundenen Rechte, durch Klageeinreichung vor die Gerichte brachten. Beobachten kann man dabei eine Deeskalation durch Verrechtlichung, also eine Reduzierung der Konflikthaftigkeit, die sich im Übrigen auch in der deutlichen Scheidung zwischen Wildhütern und Polizisten sowie der Praxis der Waffenscheine für erstere zeigt. Dafür jedoch mussten sich Adelige dem staatlichen Anspruch auf Normensetzung beugen. Dazu passt, dass in Böhmen die Chancen anderer Gruppen jenseits des Adels größer waren als in England, aus einem Gerichtsverfahren siegreich hervorzugehen bzw. im Sinne eines Vergleichs wenigstens einen Teil eigener Interessen durchsetzen zu können. Es mag auf den ersten Blick anachronistisch anmuten, dass Kläger wie Beklagte sich dabei auch auf traditionale Rechtsinstitute wie Rechtsgewohnheiten 43 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 5.1.1. 44 Gleichwohl hatte schon Maria Theresia die Absenz des böhmischen Adels vom Wiener Hof gerügt, mit der dieser seinen Unwillen angesichts verschiedener Reformmaßnahmen der Monarchin kundgetan hatte. 45 Graf Czernin an den Gemeindevorsteher der Gemeinde Schamers, 28.3.1861. SOA Třeboň, Zweigstelle JH: Vs JH, kart. 150. 46 Erlass des Grafen Waldstein vom 4.4.1862. SOA Praha: RAV 3751, kart. 88. 47 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 4.1.3.1 und 4.1.2.

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und Fideikommisse beriefen, und dies vor Gerichten, die sich in einem Prozess der Professionalisierung befanden. Der Anachronismus löst sich jedoch auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man hier dem Prozess des sozialen Wandels quasi beim Ablaufen zusehen kann. Dies gilt gleichermaßen für jene Situationen, in denen der böhmische Adel bestrebt war, traditionale rechtsgewohnheitliche Unterstützungen in solche zu verwandeln, um die die Betreffenden nach Ablaufen einer bestimmten Frist erneut nachsuchen mussten und die dann verweigert werden konnten48 – auch dies ein Beispiel für jene Prozesse sozialen Wandels, in denen tradierte Praktiken über relativ lange Zeiträume umgeformt und an neue, ggf. moderne Bedingungen angepasst wurden. Mit Blick auf das Durchsetzen lokaler Staatlichkeit kann man daher für Böhmen bilanzieren, dass dies keineswegs gegen einen in feudalen Traditionsbeständen verhafteten, sich quasi in Fundamentalopposition befindlichen Hochadel geschah, dass auch die Vorstellung vom „rückständigen“ Adel, der sich gegen einen „von oben“ modernisierenden Staat (vergeblich) wehrte, die Situation keinesfalls angemessen beschreibt. Die Durchsetzung lokaler Staatlichkeit erfolgte, wie bei den Gerichten, mal mit dem Adel, mal, wie bei den Schulen, gegen ihn, mal unter Bedingungen, wie bei der Gemeindereform, dass die Proteste gar nicht auf den primären Gegenstandsbereich zielten, sondern auf das grundsätzlichere Verhältnis zwischen Adel und Staat. Bei der Betrachtung aller dieser Zusammenhänge gilt, dass man einen Blick auf den Verlaufsprozess sozialen und kulturellen Wandels wirft. Dagegen hat eine lange gepflegte dichotomische Betrachtung notgedrungen eher auf traditionale „Ausgangs-“ und moderne „Endzustände“ abgehoben. Anders formuliert: Die vermeintliche „Rückständigkeit“ gutsherrschaftlich verankerter Traditionsbestände und die vermeintliche „Modernität“ staatlicher (Konflikt-)Re­gelungen und ihrer Institutionen erweisen sich als zwei Seiten derselben Medaille. Auch der englische Staat rückte im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Fläche vor. Doch: Er tat dies verhältnismäßig spät und angesichts der hohen Wertschätzung dezentraler Entscheidungsstrukturen, die das gesamte politische Spektrum teilte, wesentlich widerstrebender als der habsburgische Staat. Auch fehlte ihm ein Ereignis wie die Revolution von 1848 in Mitteleuropa, die nach ihrem Ende staatliche Neuregelungen geradezu folgerichtig auf den Plan gerufen hätte. Hinzu kam ein weiterer Punkt: Die Einführung des neuen Armenrechts und die sich daran anschließenden Ausschreitungen in den 1830er Jahren hatten allen Entscheidungsträgern deutlich vor Augen geführt, welche Konflikte aus solchen Reformprojekten erwachsen konnten und wie schwer sich diese wieder einhegen ließen.49 48 Zu den böhmischen Wildhütern und den Waffenscheinen, die sie zu tragen hatten, siehe Kapitel 3.2.3; zur Gerichtspraxis in diesem Kronland und der Umwandlung von Rechtsgewohnheiten in Wohltätigkeit Kapitel 3.2.2, 3.3 und 3.4. 49 Siehe zu diesem Komplex die Ausführungen in Kapitel 3.3.

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Die Gerichte spielten dabei jedenfalls keine herausragende Rolle. Vielmehr wurden Konflikte häufiger durch Migration der nichtadeligen Streitparteien beendet, denn ihre Chancen vor den Gerichten waren insgesamt eher gering. In den ländlichen Grafschaften sprachen zumeist justices of the peace Recht, die aus der gentry oder Aristokratie stammten. Sie ahndeten besonders die Wilderei streng und kriminalisierten damit Praktiken, mit denen vor allem ländliche Unterschichten adelige Herrschaftsansprüche zu unterlaufen suchten.50 Anders als in Böhmen erschien daher der Staat in den Gerichten Englands nicht als eine eigene Normen setzende, zunehmend professionalisierte Kraft in den Auseinandersetzungen der verschiedenen Gruppen der ländlichen Gesellschaft. Ein weiterer Befund untermauert die These von der geringeren Präsenz des Staates: Adelige Wildhüter nahmen bis zum Police Constable Act von 1872 häufig auch polizeiliche Aufgaben wahr, und noch vor dem Ersten Weltkrieg gab auf dem Lande doppelt so viele Wildhüter wie Polizisten. Von ihren böhmischen Kollegen unterschied sie eine insgesamt größere Machtfülle, die sich nicht zuletzt im Fehlen von Regelungen wie den zu den „Waffenpässen“ in Böhmen ausdrückte.51 Deeskalation von ländlichen Konflikten durch Verrechtlichung – diesen für Böhmen formulierten Befund kann man auf England nur in deutlich geringerem Ausmaß übertragen. Anders gewendet: In diesen Ausführungen spiegelt sich das spätere und widerstrebendere Vorrücken des Staates in die Fläche in England wider, was zumal dem großgrundbesitzenden Adel viele Handlungsoptionen beließ. Zwar nahm die gesetzgeberische Tätigkeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch im Vereinigten Königreich zu; deren Ausführung blieb jedoch weiterhin nach Möglichkeit Sache der localities. Ein gutes Beispiel dafür sind die Bemühungen zur Erhöhung der Alphabetisierung. Nachdem nicht länger über den Missstand hinweggeschaut werden konnte, dass zumal in den Industrierevieren ein Viertel der Kinder ohne jede Schulbildung aufwuchs, sollte die Einführung von school boards zunächst dafür sorgen, dass mehr Schulen eingerichtet wurden. Weitere gesetzliche Maßnahmen der Jahre 1875 und 1876 hatten dann zum Ziel, den Schulbesuch, gerade auch in den ländlichen counties, zu erhöhen, bis dieser 1880 verpflichtend wurde. Genau in diesen Zeitraum fällt ein Ansteigen der adeligen Unterstützungsmaßnahmen, die vor allem jenen Elementarschulen zugute kamen, die von der anglikanischen Hochkirche getragen wurden und die der Untermauerung des adeligen Anspruchs dienen sollten, dass zu weiteren staatlichen Maßnahmen keine Notwendigkeit bestehe.52 Grundsätzlich ähnliche Gesichtszüge treten uns auch bei der 1888/89 durchgeführten Reform der Grafschaftsverwaltung entgegen, erwiesen sich doch die bis dahin vorhandenen Strukturen als zunehmend professionalisierungsbedürftig. Mit der Einführung der county councils wurden nun 50 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 2.3 und 3.3. 51 Siehe dazu die Kapitel 3.3 und 3.2.3. 52 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln 4.1.3.2 und 4.1.4.

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auch englische Magnaten stärker in staatlich gesetzte Regelungen und bürokratische Normen eingebunden. Ihrer Wählerschaft stellten sie sich gleichwohl als diejenigen dar, die sich weiterhin für cheap government und Dezentralisierung einsetzten (wofür sie auch gewählt wurden).53 Im Vergleich sahen sich die böhmischen Magnaten daher mit dem Anspruch eines bürokratischen Anstaltsstaats auf Ausbau einer Leistungsverwaltung konfrontiert, während es ihre englischen Standesgenossen mit einem Staat zu tun hatten, der für sich eine weniger aktive Rolle in Anspruch nahm und Entscheidungen weiterhin in die localities delegierte. Erst wenn hier die Missstände zu groß wurden, zum Teil weil die vielerorts geschaffenen ad-hoc-Institutionen ihrer nicht Herr werden konnten, griff er verregelnd ein. Dadurch unterschieden sich die Handlungsspielräume, die böhmische und englische Adelige sowohl gegenüber den Zentralstaaten als auch zum lokalen Aushandeln von Herrschaft hatten. Hinzu kam, wie dies etwa im Zusammenhang der Kirchenpatronate zu beobachten war, auch ein unterschiedliches Ausmaß, in dem die Staaten dem Adel Pflichten auferlegten, hier etwa beim Unterhalt von Gotteshäusern. An dieser Stelle lässt sich ein bereits zuvor formulierter Befund fortschreiben: Der Staat in England beließ dem (Hoch-)Adel größere Handlungsspielräume, die dieser aber in einem geringeren Maße als seine böhmischen Standeskollegen zum Aushandeln von Herrschaft nutzte. Der habsburgische Staat dagegen beschränkte adelige Handlungsoptionen stärker; die verbleibenden Möglichkeiten nutzten die böhmischen hohen Herren dagegen (oder gerade deswegen) jedoch stärker. Dies wiederum hatte grundsätzliche Konsequenzen für das Verhältnis der beiden Adelsformationen zu zwei weiteren Konkurrenten, nämlich den Trägern von Ordnungsmodellen, die adelige Herrschaft grundsätzlich in Frage stellten. In England war dies die Klassengesellschaft, in Böhmen die heraufziehenden Nationalisierungsprozesse. Klassenbildungsprozesse ruhten gerade im ländlichen England häufig auf den Strukturen des dissent auf. Dies zeigt sich besonders deutlich bei den meist kurzlebigen Gründungen von Landarbeitergewerkschaften vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Aus der Perspektive adeliger Herrschaftsinteressen war es daher naheliegend, in den Gutsdörfern Nonkonformisten die Niederlassung zu untersagen, zumindest aber zu erschweren. Jene Aristokraten jedoch, deren Güter in der Nähe von Industrieansiedlungen lagen oder die, wie dies vor allem im Norden Englands vielfach der Fall war, selbst Bergwerke oder verarbeitende Betriebe besaßen, konnten ein entsprechendes Vorgehen häufig nicht aufrecht erhalten, wie etwa das Beispiel der Marquesses of Londonderry zeigt. Während sie in den Gutsdörfern den dissent zu unterbinden suchten, mussten sie ihn in den Ortschaften der Bergleute dulden, da diese sich vielfach zu den Methodisten bekannten. Dort, wo sowohl Nonkonformisten als auch Angehörige der anglikanischen Hochkirche zu Hause waren, bestanden zumeist endemische 53 Siehe dazu das Kapitel 5.1.2.

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Konflikte zwischen church und chapel, meldeten doch anglikanische Geistliche Landarbeiter, die der chapel den Vorrang gaben, nicht selten ihren adeligen Patronatsherren. Deren begrenzte Aushandlungsbereitschaft sank im Fall von hinzukommenden gewerkschaftlichen Bestrebungen endgültig auf null: Lebenslängliche Aussperrungen von der Arbeit auf den Gütern und der Ausschluss ganzer Familien von der Wohltätigkeit zwangen die betroffenen Menschen nicht selten in die Emigration. Ihre Attraktivität als konkurrierendes Ordnungsmodell bezogen Nonkonformismus und Klassengesellschaft für Landarbeiterfamilien daher nicht nur aus den materiellen Zielen wie höheren Löhnen oder besseren Arbeitsbedingungen. Der dissent stellte auch die ländliche Kultur der Ehrerbietung in Frage, die etwa in den Repräsentationen der Agrarausstellungen mit ihren Preisvergaben den Landarbeitern einen Platz ganz am Ende der sozialen Hierarchie zuwies. Bedenkt man diesen Zusammenhang, so klingt das in den nonkonformistischen Gotteshäusern oft gesungene Lied „Dare to be a Daniel, Dare to stand alone, Dare to have a purpose true, Dare to make it known“ auch nach einer Aufforderung, sich, wie das alttestamentarische Vorbild, den nicht selten adeligen „Löwen“ entgegenzustellen.54 Im Kern sind die hier ausgebreiteten Befunde zu den Klassenbildungsprozessen in der englischen countryside nicht neu, wohl aber der Ansatz, sie zu den Herrschafts­ praktiken der peers in Beziehung zu setzen. Vor allem der vergleichende Blick nach Böhmen zeigt, dass es in England auch die geringere Bereitschaft der Magnaten war, sich auf Aushandlungsprozesse von Herrschaft einzulassen und den verschiedenen Gruppen der Agrargesellschaft einen materiellen und/oder immateriellen Nutzen zu bieten, wodurch sie selbst sozialkulturelle Räume öffneten, in denen sich das konkurrierende Ordnungsmodell der Klassengesellschaft entfalten konnte. Klassenbildungsprozesse, zumal unter Einschluss der Häusler und Tagelöhner, sind im ländlichen Böhmen erst spät, in der Endphase der Monarchie, zu beobachten. Das konkurrierende Ordnungsmodell, das den böhmischen Hochadel herausforderte, hieß daher auch nicht „Klassengesellschaft“, sondern bestand in den Nationsbildungsprozessen im Rahmen einer zweisprachigen ländlichen Gesellschaft. Die Betrachtung der vielfältigen Alltagskonflikte zeigt jedoch, dass solche, bei denen Sprachverwendung oder nationalistische Bestrebungen im Mittelpunkt standen, weitgehend fehlten. Auf den Gütern wie auch im Umgang mit den örtlichen Behörden war Zweisprachigkeit ganz alltäglich. Schriftstücke waren oft in der einen Sprache abgefasst und wurden in der anderen beantwortet – Verständigungsschwierigkeiten resultierten hieraus nicht. Auch sind in den Gutsverwaltungsakten keine Ermahnungen überliefert, die sich auf die Sprachverwendung beziehen. Einen ähnlichen Eindruck von 54 Ausführungen zum Nonkonformismus finden sich in den Kapiteln 2.5 und 3.1.2, vor allem aber 3.1.3 (hier auch zum zitierten Kirchenlied) und 4.2.3. Zu den adeligen Unternehmern siehe Kapitel 2.1, zu den Agrarschauen als Repräsentationen der ländlichen Ordnung, die den Landarbeitern „ihren“ Platz in diesem Gefüge zuwiesen, Kapitel 5.2.

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der Selbstverständlichkeit der Benutzung beider Sprachen gewinnt man im Übrigen bei der Sichtung von Bewerbungsschreiben, sei es für die Gutsverwaltung, sei es für eine Stelle als Pächter oder Wirtschafter auf einem Meierhof. Diese Schreiben waren entweder auf Tschechisch oder auf Deutsch abgefasst. Kein Bewerber hätte jedoch auf den Hinweis verzichtet, dass er beider Landessprachen mächtig sei. Im ländlichen Böhmen war die parallele Benutzung des Deutschen wie des Tschechischen vielerorts alltäglich gelebte Realität. Nationalistische Ausschreitungen wiederum kamen in der zeitgenössischen Presse häufiger vor als in den Polizeiberichten. Letztere hielten zwar auch eingeworfene Fensterscheiben oder Schlägereien fest, Hintergrund waren jedoch zumeist Nachbarschaftsstreitigkeiten oder aus dem Ruder gelaufene Wirtshauszänkereien. Da, wo diese eine nationalistische Aufladung erfuhren, wie etwa auf den Seiten der örtlichen Presse, war dies vor allem eine Sache zugereister Rädelsführer und von Neubürgern im dörflichen Umfeld wie Journalisten oder Lehrern, die diese Konflikte nach einer ihnen aus ihrer Herkunftsumgebung bekannten Manier interpretierten. Noch im frühen 20. Jahrhundert waren nationalistische Aktivisten, zumal in den ländlichen Regionen der Habsburgermonarchie, vielfach angesichts des ihnen entgegenschlagenden Desinteresses frustriert. So klagte der Demograph Josef Zemmrich in seiner 1902 erschienenen Untersuchung über den Böhmerwald: „Die bäuerliche Bevölkerung verkehrt mit der tschechischen Nachbarschaft vollkommen friedlich … Nationales Bewußtsein ist noch wenig zu finden, die Schule hat es früher versäumt, dasselbe zu wecken. Der deutsche Bauer dieser Gegend liest nicht oder doch nur selten, es fehlt auch an leichtfaßlicher Lektüre, die sein Nationalbewußtsein wecken könnte.“55 Die böhmischen Magnaten waren jedoch an den Entwicklungen keinesfalls desinteressiert. Ganz im Gegenteil war ihnen daran gelegen, Nationalisierungsprozesse, wenn sie sich nicht unterbinden ließen, so doch wenigstens zu verlangsamen. Denn: Wollte der böhmische Hochadel weiterhin mit der örtlichen Bevölkerung Herrschaft aushandeln, war dies für ihn wesentlich leichter in einer Umgebung möglich, in der das Maß von Konflikthaftigkeit nicht durch nationalistische Bestrebungen erhöht wurde. Hinzu kam: „Leute“ gab es mehr als Tschechen oder Deutsche. Hätte sich die örtliche Bevölkerung primär national selbst verortet, wäre den adeligen Gutsbesitzern kaum etwas anderes übrig geblieben, als dies auch zu tun, was jedoch einer nationalen Einschränkung ihrer Herrschaftsbasis gleichgekommen wäre. Entsprechend musste es im Interesse des böhmischen Adels liegen, solche Prozesse zu verlangsamen. Dies tat er, indem er Herrschaft stärker als seine englischen Standeskollegen aushandelte, dabei auf einer größeren Zahl von Aushandlungsfeldern aktiv war und sich auch selbst stärker durch Regularien binden ließ. Nicht nur nutzten die böhmischen Aristokraten ihre vielfältigen Ressourcen, auch ließen sie sich stärker darauf ein, anderen Gruppen der ländlichen Gesellschaft ihren Nutzen vor Augen zu führen, Vergemein55 Josef Zemmrich: Sprachgrenze und Deutschtum in Böhmen, Braunschweig 1902, S. 67.

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schaftung von Interessen und Zugehörigkeit als sinnstiftendes Moment anzubieten. Insgesamt, so kann man daher bilanzieren, gelang es dem böhmischen Adel im Rahmen der ländlichen Gesellschaft besser, Nationalisierungsprozesse von den Latifundien fernzuhalten, als es dem englischen Adel möglich war, Klassenbildungsprozesse auf seinen zu verhindern. Die hier ausgebreiteten Befunde verdanken sich wesentlich zum einen einer den Alltag einbeziehenden Erfahrungsgeschichte hochadeliger Herrschaft, zum anderen einem vergleichenden, Variationen-suchenden Ansatz. Über England und Böhmen hinaus seien daher drei weitere Überlegungen als Ergebnis festgehalten: Zum einen zeigt sich, dass sich Magnaten in ihren Herrschaftspraktiken und der dahinter zum Vorschein kommenden, die Abschaffung der Privilegien überdauernden Vorstellung von der Herrschaft über Land und Leute als Gruppe erfassen lassen. Eine an den Landbesitz gebundene spezifische Lebensform gehörte somit zur Kernausrüstung zumindest von Teilgruppen des Adels, nämlich der Magnaten. Der besitzende Hochadel zeigt sich somit gerade nicht als „eine Ansammlung von adeligen Gruppen, die der beschleunigte Wandel vor sich hertrieb“56. Vielmehr treten uns hier Aristokraten entgegen, die gestaltend auf die Zeitverhältnisse einwirkten und die sich gerade in ihrem spezifischen Selbstverständnis, für das die Aktualisierung von Tradition und daraus resultierende Praktiken zentral waren, als Gruppe beschreiben lassen. Anders ausgedrückt: Was sich beobachten lässt, ist hier die „Konkretisierung“57 einer spezifischen adeligen Gruppe im Europa der Moderne. Zum zweiten: Wird Herrschaft als Ergebnis von Aushandlungsprozessen verstanden, kommen unweigerlich auch die Herrschaftskonkurrenten in den Blick. Die Adelsgeschichte leistet somit einen eminenten Beitrag zur Bestimmung jener charakteristischen Züge58, die das 19. Jahrhunderts in seinem Übergangscharakter auf dem Weg in die Moderne ausmachen und es von vorhergehenden und nachfolgenden Zeitspannen unterscheiden. Denn: Man mag dem Moderne-Begriff eher nachdenklich-skeptisch59 oder emphatisch-bejahend60 gegenüberstehen, für die Geschichte Europas ist wohl unzweifelhaft, dass sich Prozesse wie Industrialisierung, beginnende 56 Heinz Reif.: Der Adel im langen 19. Jahrhundert. Alte und neue Wege der Adelsforschung; in: Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, hrsg. v. Gabriele B. Clemens, Malte König und Marco Meriggi, Göttingen 2011, S. 19–37, S. 25. 57 Es bedarf also für die Adelsforschung insgesamt noch einer stärkeren Differenzierung, für welche Gruppen eher von Konkretisierung, für welche Gruppen, wie dem sächsischen Adel mit Josef Matzerath und Silke Marburg, eher von Entkonkretisierung gesprochen werden kann. 58 Einen ähnlichen Befund hat Ewald Frie jüngst mit Blick auf die deutsche Adelsgeschichte formuliert. Frie, Adelsgeschichte, S. 415. 59 Zum Beispiel Osterhammel, Verwandlung, S. 1281–1284. 60 Zum Beispiel Kocka, Jahrhundert, S. 149ff.

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Demokratisierung, Bürokratisierung oder Säkularisierung beschreiben lassen, die zwar auf vielfältigen älteren Entwicklungen aufruhten, die aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Intensität zunahmen, auch wenn sie nicht überall gleichermaßen oder gar gleichzeitig zum Durchbruch kamen. Mit dem Reflexiv-Werden des Nachdenkens über Moderne sind jedoch auch die damit zusammenfassend beschriebenen Zentralprozesse selbst zu historisieren. Sie erscheinen nun nicht mehr als Produkte eines teleologisch ausgerichteten Fortschrittdenkens, sondern als Antworten auf bestimmte Problemkonstellationen zu bestimmten Zeiten. Entwicklungen wiederum lassen sich nicht länger linear darstellen, sondern bestenfalls als langfristige Lernprozesse historischer Akteurinnen und Akteure, vielfach gebrochen, phasenweise scheinbar auf der Stelle tretend, mit „Rückschlägen“ und gekennzeichnet dadurch, dass „Altes“ und „Neues“ häufig gleichermaßen praktiziert wurde, zumindest so lange, wie die mit den Praktiken verbundenen Sinnstiftungen den Betreffenden hinreichend Orientierung boten. Anders ausgedrückt: Jene Wandlungsprozesse, die wir gewohnt sind, vom Ergebnis her mit den „großen“ Strukturbegriffen zu beschreiben, stellen sich aus der Perspektive des vergangenen Alltags als in hohem Maße kontingent dar, und manchmal mag es fast scheinen, als liefen sie so langsam ab, dass kaum eine Entwicklung auszumachen ist. Historisiert man diese Prozesse also, dann geht damit auch die vielfach schon angemahnte normative Entkleidung einher. Die betreffenden Prozesse sind dann auch nicht mehr an eingeschränkte Trägergruppen gebunden, sondern es zeigt sich vielmehr, dass sie gesellschaftlich viel breiter verankert waren. In diesem Sinne hat die vorliegende Studie zeigen können, dass Adel und ländliche Gesellschaft sehr wohl gestaltend teilhatten an Industrialisierung und Demokratisierung, Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und Rationalisierung – mithin an Moderne. Noch einen dritten Punkt gilt es festzuhalten: Gerade die strukturellen Äquivalente im Rahmen eines Variationen-suchenden Vergleichs lassen Europa als umfassenden Geschichtsraum erkennbar werden. Die Betrachtung Englands und Böhmens zeigt dann zwei Wege unter Einschluss von großgrundbesitzendem Hochadel in die Moderne mit je spezifischen Mischungsverhältnissen aus Traditionalität und Modernität – man mag auch hier multiple Modernitäten61 erkennen. Diese spezifischen Mischungsverhältnisse sind jedoch mit einer dichotomischen Betrachtung „modern versus rückständig“ nicht zu beschreiben. Tatsächlich prägten solche Mischungsverhältnisse jedoch ganz offenbar auch andere Regionen Europas vom Südosten Spaniens über manche französische Departements bis zu Regionen Polens wie auch des

61 In Anlehnung an Shmuel N. Eisenstadt, der multiple Modernitäten im vergleichenden Blick auf Europa, Nordamerika und Japan ausgemacht hat. Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.

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historischen Ungarn.62 In diesem Sinne stellen die hochadeligen Latifundien und die jeweiligen (Teil-)Gesellschaften, für die sie stehen, nicht eine begrenzte adelige Residue in einer zunehmend industriell geprägten Welt dar, sondern sind Bestandteil von Gesellschaften auf dem Weg in die Moderne.

62 Zu Spanien Gloria Sanz Lafuente: Aus dem Südwesten. Perspektiven der Geschichte ländlicher Gesellschaft in Spanien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert; in: Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raumes 1/2004, S. 190–207, S. 191f. Zu Frankreich HeinzGerhard Haupt: Der Adel in einer entadelten Gesellschaft. Frankreich seit 1830; in: Europäischer Adel 1750–1950, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1990, S.  286– 305, S. 292 und S. 296. Zu Polen und Ungarn v. Puttkamer, Ostmitteleuropa sowie Marta Petrusewicz: The Modernization of the European Periphery. Ireland, Poland, the Two Sicilies, 1820–1870. Parallel and Connected, Distinct and Comparable; in: Comparison and History. Europe in Cross-National Perspective, hrsg. v. Deborah Cohen und Maura O’Connor, New York/London 2004, S. 145–164.

Abkürzungen

AHR Agricultural History Review BaLARS Bedfordshire and Luton Archives and Record Services BPP British Parliamentary Papers CROD County Record Office Durham CROSt County Record Office Stafford fl. Gulden GG Geschichte und Gesellschaft HZ Historische Zeitschrift i. O. im Original JH Jindřichův Hradec (Neuhaus) kart. Karton kr. Kreuzer MIÖG Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung NPL Neue Politische Literatur – Berichte über das internationale Schrifttum PÖG Patriotisch-Ökonomische Gesellschaft RA Thun Rodinný archiv Thun (Familienarchiv Thun) RAV Rodinný archiv Valdštejn (Familienarchiv Waldstein) SOA Státní oblastní archiv (Staatliches Regionalarchiv) Vs JH Velkostatek Jindřichův Hradec (Großgrundbesitz Neuhaus) Vs Orlík Velkostatek Orlík (Großgrundbesitz Worlik) ZF Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History ZfO Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung ZHF Zeitschrift für Historische Forschung

Quellen und Literatur Ungedruckte Quellen Bedfordshire and Luton Archives and Record Services (BaLARS) · Family and Estate Papers: Russell Family of Woburn Abbey (Dukes of Bedford) · Bennett Papers County Record Office Durham (CROD) · Londonderry Estates: Estate and Family Records · Londonderry Estates: Legal Papers County Record Office Stafford (CROSt) · Records of the Chetwynd Talbot Family, of Ingestre and Alton, Earls of Shrewsbury · Earls of Lichfield Collection · Dukes of Sutherland Collection · Stafford Borough Council · Stafford Rural District Council · Stafford Lunatic Asylum Committee · Cheadle Rural Sanitary Authority · Staffordshire County Council Sanitary Committee · Register of Convictions for Staffordshire Státní oblastní archiv Litoměřice, Zweigstelle Dĕčín (SOA Litoměřice) · Rodinný archiv Thun [Familienarchiv der Grafen Thun] Státní oblastní archiv Plzeň, Zweigstelle Žlutice (SOA Plzeň) · Velkostatek Jindřichovice [Großgrundbesitz Jindřichovice (der Grafen Nostitz)] Státní oblastní archiv Praha (SOA Praha) · Rodinný archiv Valdštejn [Familienarchiv der Grafen Waldstein] · Rodinný archiv Chotek [Familienarchiv der Grafen Chotek] · Velkostatek Březnice [Großgrundbesitz Březnice (der Grafen Kolowrat)] Státní oblastní archiv Třeboň (SOA Třeboň) · Schwarzenberská ústřední kancelář Orlík [Schwarzenbergische Zentralkanzlei Orlík] · Velkostatek Orlík [Großgrundbesitz Orlík (der Fürsten Schwarzenberg)] Státní oblastní archiv Třeboň, Zweigstelle Jindřichův Hradec (SOA Třeboň, Zweigstelle JH) · Černínský penzijní fond vdov a sirotků [Witwen- und Waiseninstitut der Grafen Czernin]

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Quellen und Literatur

· Velkostatek Jindřichův Hradec [Großgrundbesitz Jindřichův Hradec (der Grafen Czernin)] · Velkostatek Petrohrad [Großgrundbesitz Petersburg (der Grafen Czernin)] · Ústav chudých [Armeninstitut] · Tagebuch Eugen Graf Czernin

Periodika · · · · · · · · · · · · · · ·

Bedfordshire Mercury Bedfordshire Times Čech Českoslovanský list hospodářský Durham Advertiser (später: Durham County Advertiser) Durham Chronicle Journal of the Royal Agricultural Society Mirovicko Národní Listy Ohlas od Nežárky – Týdenník pro poučení a zábavu, pro zájimy obecné a společenské Pokrok Prager Abendblatt Prager Zeitung Staffordshire Advertiser Das Vaterland – Zeitung für die österreichische Monarchie

Gedruckte Quellen und Quellensammlungen A Bill to regulate the Employment of Children in Agriculture – The Agricultural Children Act, 1873; in: BPP 1873, Bd. I. Aged Poor Report; in: BPP 1895, Bd. XIV R. C. Algernon Clarke, John: Farming of Lincolnshire. Prize Report; in: Journal of the Royal Agricultural Society 12/1851, S. 259–424. Allen, C. Bruce: Cottage Building; and Hints for Improved Dwellings for the Labouring Classes, London 1866. Arch, Joseph: The Story of His Life Told by Himself, London 1898. Badeau, Adam: Aristocracy in England, London 1886. Bearn, Liam: On the Farming of Northamptonshire, Prize Report; in: Journal of the Royal Agricultural Society 13/1852, S. 44–113. Belcredi, Egbert: Die Frage lautet: Ausscheiden oder Nichtausscheiden aus der Gemeinde, o. O. 1860.

Gedruckte Quellen und Quellensammlungen

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Sekundärliteratur

369

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Ortsnamen Tschechisch-Deutsches Ortsnamensverzeichnis Brno Brünn Čáslav Časlau České Budějovice Böhmisch Budweis Český Krumlov Böhmisch Krumau Chlumec Kulm Chudenice Chudenitz Čimelice Čimelitz Doksy Hirschberg Hluboká Frauenberg Jesenice Jechnitz Jilemnice Starkenbach Jindřichův Hradec Neuhaus Josefov Josefstadt Kolín Kolin Kraslice Graslitz Krásný dvůr Schönhof Kuřivody Hühnerwasser Litoměřice Leitmeritz Louny Laun Mělník Melnik Milevsko Mühlhausen Mladá Boleslav Jungbunzlau Mnichovo Hradiště Münchengrätz Nejdek Neudek Orlík Worlik Pardubice Pardubitz Petrohrad Petersburg Písek Pisek Plzeň Pilsen Praha Prag Přibram Freiberg Slaný Schlan Sokolov Falkenau Třeboň Wittingau Zalužany Zalužan Žatec Saaz Zvíkov Klingenberg

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Deutsch-Tschechisches Ortsnamensverzeichnis Böhmisch Budweis České Budějovice Böhmisch Krumau Český Krumlov Brünn Brno Časlau Čáslav Chudenitz Chudenice Čimelitz Čimelice Falkenau Sokolov Frauenberg Hluboká Freiberg Přibram Graslitz Kraslice Hirschberg Doksy Hühnerwasser Kuřivody Jechnitz Jesenice Josefstadt Josefov Jungbunzlau Mladá Boleslav Klingenberg Zvíkov Kolin Kolín Kulm Chlumec Laun Louny Leitmeritz Litoměřice Melnik Mělník Mühlhausen Milevsko Münchengrätz Mnichovo Hradiště Neudek Nejdek Neuhaus Jindřichův Hradec Pardubitz Pardubice Petersburg Petrohrad Pilsen Plzeň Pisek Písek Prag Praha Saaz Žatec Schlan Slaný Schönhof Krásný dvůr Starkenbach Jilemnice Wittingau Třeboň Worlik Orlík Zalužan Zalužany

Ortsnamen

VL ADIMÍR VOT ÝPK A

RÜCKKEHR DES BÖHMISCHEN ADELS AUS DEM TSCHECHISCHEN VON WALTER UND SIMIN REICHEL

Vor mehr als 30 Jahren begann der tschechische Journalist Vladimír Votýpka, die Schicksalswege böhmischer Adelsfamilien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzuzeichnen. Der böhmische Adel war immer eng mit der Geschichte Europas verbunden. Zur Zeit der Habsburgermonarchie übte er in der Funktion von Ministerpräsidenten, Außenministern, hohen Beamten und Militärs einen erheblichen Einfluss auf das politische Geschehen aus. Was aber wurde nach dem Ende der Monarchie aus diesen Familien? Wie haben sie – Jahre später – auf die kommunistische Machtergreifung in der Tschechoslowakei reagiert? Viele von ihnen gingen ins Exil und fanden so eine neue Heimat. Nach der politischen Wende des Jahres 1989 kehrten sie überwiegend in ihre alte Heimat zurück, wo sie sich des Jahrhunderte alten Familienbesitzes annahmen. Das Buch ermöglicht einen tiefen Einblick in oftmals abenteuerliche Lebensschicksale der Familien Mladota, Schwarzenberg, Battaglia, MensdorffPouilly, Dobrzensky, Troskov, Kinsky, Belcredi, Dlauhowesky, CoudenhoveKalergi, Lobkowicz, Czernin, Kolowrat und Razumovsky und den Neuanfang der zweiten und dritten Generation adeliger Nachkommen. 2010. 411 S. GB. MIT SU 101 S/W-ABB. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-78290-2

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adLiGe LebensWeLten im rHeinL and Kommentierte QueLLen der FrüHen neuzeit Unter Mitarbeit von Monika GUssone

Der Adel prägte die Geschichte der weltlichen und geistlichen Territorien des Alten Reiches auf vielfältige Weise. Der vorliegende Band stellt die privaten und öffentlichen Lebenswelten des niederen Adels am Beispiel des rheinischen Adels vor, der innerhalb der Landesterritorien im Westen des Reichs eigene Adelsherrschaften besaß, aber durchaus auch in landesherrlichen Diensten einflussreiche Positionen am Hof und in der Verwaltung bekleidete. Der Band gibt Einblicke in das Leben und Handeln der adligen Familien, thematisiert die wirtschaftlichen Grundlagen der Adelsherrschaft sowie die rechtlichen Beziehungen zwischen Adel und Untertanen. Das Buch richtet sich an alle interessierten Leser, die anhand der Quellen und den ausführlichen, größtenteils mehrseitigen Kommentaren und Erläuterungen einen direkten Zugang zur Adelsforschung erhalten und sich über die vom Adel geprägte Epoche des »Ancien Régime« fundiert informieren möchten. 2009. X Xiv, 448 s. 16 farb. abb. aUf 16 taf. Gb. 170 X 240 MM. isbn 978-3-412-20251-4

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