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German Pages [169] Year 2018
François Fénelon
Abhandlung über die reine Liebe Die Kontroverse mit dem Bischof von Meaux über den Begriff der Caritas
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813539
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B
François Fénelon Abhandlung über die reine Liebe
VERLAG KARL ALBER
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François Fénelon
Abhandlung über die reine Liebe Die Kontroverse mit dem Bischof von Meaux über den Begriff der Caritas Herausgegeben von Albrecht Kreuzer Übersetzt von Irmgard Kreuzer und Albrecht Kreuzer Vorwort von Robert Spaemann
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
François Fénelon Treatise on Pure Love The controversy with the Bishop of Meaux about the concept of Caritas The ›Treatise on Pure Love‹ is François Fénelon‹s final contribution to the most significant theological-philosophical controversies of the 17th century, the dispute over pure love with Bishop Bossuet. The text is written in the tradition of scholasticism and uses authorities such as Augustine and Thomas Aquinas to substantiate its argumentation. The main point of the controversy is the question, whether there is an absolutely pure devotion to God or to a fellow human that is not motivated by the prospect of reward. Fénelon affirms this question and defends his position astutely and subtly against the arguments of his opponents.
The author: François de Salignac de La Mothe-Fénelon (1651–1715) was the Archbishop of Cambrai, educator of princes and author. He is best known for his book ›The Adventures of Telemachus‹ in which he voiced criticism of the king and was subsequently banned from court. The editor: Albrecht Kreuzer studied architecture in Vienna and Venice, as well as philosophy in Vienna and Hagen. Currently he is carrying out research in the area of cultural studies at the University of Art and Design in Linz.
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François Fénelon Abhandlung über die reine Liebe Die Kontroverse mit dem Bischof von Meaux über den Begriff der Caritas Die »Abhandlung über die reine Liebe« ist François Fénelons abschließender Beitrag zur bedeutendsten theologisch-philosophischen Kontroverse des 17. Jahrhunderts, dem Amour-pur-Streit mit dem Bischof Bossuet. Der Text steht in der Tradition der Scholastik und zieht Autoritäten wie Augustinus und Thomas von Aquin heran, um die eigene Argumentation zu untermauern. Der wesentliche Punkt der Kontroverse ist die Frage, ob es eine absolut reine Hinwendung zu Gott oder zu einem Mitmenschen gibt, die nicht von der Aussicht auf Belohnung motiviert ist. Fénelon bejaht diese Frage und verteidigt seine Position scharfsinnig und subtil gegen die Argumente seines Gegners.
Der Autor: François de Salignac de La Mothe-Fénelon (1651–1715) war Erzbischof von Cambrai, Fürstenerzieher und Schriftsteller. Am bekanntesten wurde sein Buch »Die seltsamen Begebenheiten des Telemach«. Aufgrund der darin enthaltenen Kritik am König wurde er vom Hof verbannt. Der Herausgeber: Albrecht Kreuzer studierte Architektur in Wien und Venedig sowie Philosophie in Wien und Hagen. Zurzeit forscht er im Bereich Kulturwissenschaften an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48870-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81353-9
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Inhalt
Vorwort von Robert Spaemann . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Auseinandersetzung mit dem Bischof von Meaux über den Begriff der Caritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Über das Formalobjekt der Caritas . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird durch die Autorität des hl. Thomas widerlegt . . . . . . . . . . . . . . II. Der gewaltige Irrtum des Bischofs, die objektive mit der formalen Seligkeit zu vermischen . . . . . . . . . . . . III. Der aus dem Werk des heiligen Thomas ausgewählte Einwand wird gelöst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Bischof v. Meaux erniedrigt die Caritas und vermischt sie mit der Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will. Was ist denn diese Seligkeit, welche alle Menschen im Wesentlichen anstreben? . . . . . . . . . VI. Der Grundgedanke der vorausgehenden Lehre, vom hl. Thomas hergeleitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux über das doppelte Motiv der Caritas, das primäre und das sekundäre
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit . . . . . . . . . . I. Die übernatürliche, dem Menschen nicht geschuldete Seligkeit ist nicht das wesentliche Motiv der Caritas, auch keines zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diese Lehre wird sowohl untermauert durch den Artikel 33 von Issy als auch durch die Unterweisung des Bischofs v. Meaux über den Zustand des Gebets . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. Wie der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden durch die Autorität des hl. Augustinus bekräftigt . Nachwort von Albrecht Kreuzer: Die wahre Definition der Caritas. Kampf um einen Begriff . . . . Literatur
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Vorwort von Robert Spaemann
»… we never advance one step beyond ourselves.« Mit diesem beiläufigen Satz formulierte David Hume die stillschweigende Voraussetzung der Moderne. Es kann im Letzten immer nur um uns selbst gehen. Und auch die Gemeinwesen sind nur solide fundiert, wenn sie »selfish systems« sind, gegründet auf den Eigennutz ihrer Bürger. Private vices – Public benefits, so überschrieb Mandeville seine »Bienenfabel«, mit der er das gebildete Europa schockierte und faszinierte. Entlarven wurde zum dominierenden Erkenntnisziel, angefangen bei La Rochefoucauld und den französischen Moralisten bis zu Nietzsche. Entlarven hatte lange Zeit die Form der Kritik. Wir sind nicht, für was wir uns halten, oder was wir zu sein wünschen. Aber auch diese Wünsche haben ihre Funktion im kausal geschlossenen Universum, und eine vollständige Desillusionierung aller wäre gar nicht wünschenswert. Diese Denkungsart konnte die Weise, zu verstehen, worum es in der Religion, das heißt in der Gottesbeziehung des Menschen geht, nicht unberührt lassen. Auch hier geht es dem Menschen letzten Endes um sich selbst und um sein Glück, und um Gott, um Gott aber nicht, weil Gott Gott ist und die Haltung ihm gegenüber Anbetung und Liebe. Aber gibt es überhaupt so etwas wie Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit, »Interesselosigkeit«, wie man zur Zeit Kants sagte? Kann es sie überhaupt geben? Ist es nicht ein Merkmal alles Lebendigen, dass es ihm um sein Sein geht? Und dass die Befriedigung, die wir aus »selbstlosen Handlungen« ziehen, wieder als Nahrung für unser Selbstbewusstsein dient, wie es in der Szene vom Pharisäer und vom Zöllner gezeigt wird? Gleichzeitig mit der Schultheologie der Epoche gab es eine mystische Bewegung, die rasch an Einfluss gewann und sich empfahl mit Publikationen wie »Moyen court«, »Pratique facile« – also abgekürzter Weg zur mystischen Vereinigung mit Gott, aber auch eine ernsthafte Publikation wie die Schrift über das innere Gebet von Madame 9 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Vorwort von Robert Spaemann
Guyon. Fénelon, damals vielbewunderter Erzieher des Enkels Ludwigs XIV., Herzog von Burgund und Hoffnung der Nation, der starb, bevor er König wurde, geriet in den Umkreis der Mystikerin, was für ihn eine große innere Befreiung bedeutete. Fénelons Bildungsroman »Télémaque« war damals in ganz Europa berühmt. Friedrich der Große besaß zwei Exemplare. Ludwig XIV. gehörte allerdings nicht zu den Bewunderern. Er bezeichnete Fénelon als »die größte Schimäre unseres Königreichs«. Er, Ludwig, ebenso wie dessen Hofbischof Bossuet, witterte Gefahr, wenn, wie Bossuet schrieb, das Glücksstreben als das Band, das den Menschen mit Gott verbindet, zerschnitten wird, und die Untertanen von der Bindung an den Monarchen. Fénelon kam den »Gottseligen« zu Hilfe mit der kleinen Schrift »Les maximes des Saints«, in der er zeigt, dass die Lehre von der Uneigennützigkeit der reinen Gottesliebe gemeinsame Lehre der Kirchenväter ist. Sein Kronzeuge ist dabei Clemens von Alexandrien. »Die Maximen der Heiligen« stießen auf großen Widerstand bei Bossuet, der letzten Endes auf einen Appell an den Papst hinauslief. Das Kardinalskollegium beschloss mehrheitlich die Verurteilung, nachdem Bossuet hinter den Kulissen agitiert hatte. Unter denen, die für Fénelon votierten, befand sich auch der künftige Papst, der das Ganze im Rückblick mit den Worten kommentierte: »Geirrt hat der Bischof von Cambrai wegen Übertreibung der Gottesliebe. Gesündigt hat der Bischof von Meaux wegen Mangel an Nächstenliebe.« Fénelon exekutierte das Verbot der Maximen unverzüglich in seinem Bistum. Aber er schrieb einige Verteidigungsschriften, in denen er den rechtgläubigen Sensus publicus vom mangelhaften Sensus auctoris unterschied. Die Kirche kann nur über den ersteren urteilen. Fénelon selbst hatte diese Unterscheidung in seiner Kritik der Jansenisten eingeführt. Mit dem hier erstmals ins Deutsche übersetzten Traktat wollte Fénelon einen Schlussstrich ziehen und jenseits von Politik und Polemik seine Position in schulmäßiger, systematischer Form zur Darstellung bringen. In der Philosophie gibt es ein Präjudiz für Erstfassungen, bei denen man besondere »Authentizität« vermutet – erst recht, wenn ein Theologe eine Zweitfassung vorlegt, in der er Einwänden der Orthodoxie Rechnung trägt. Für Fénelon gilt das nicht, weil blinder Gehorsam Teil der Entäußerungsbemühung ist, die den Weg der obscurité de la pure foi kennzeichnet. Was auffällt in der Kontroverse, ist, dass die Kontrahenten sich auf Thomas von Aquin berufen. Dass das möglich ist, beruht darauf, dass beide Kontrahenten Cartesianer 10 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Vorwort von Robert Spaemann
sind, damit aber die Grundauffassung der Moderne teilen, wozu das nicht teleologische Verständnis der Natur gehört. Natur sucht und will immer nur sich selbst. Sie muss deshalb sterben, wenn die Gnade die Gottesliebe entzündet, sonst ist die Gottesliebe eigentlich nur eine Funktion der Selbstliebe. Selbsttranszendenz eines natürlichen Wesens kann es nicht geben. »We never advance one step beyond ourselves.« Thomas hatte gelehrt, dass alle natürlichen Wesen Gott mehr lieben als sich selbst, so wie der Teil von Natur aus das Ganze mehr liebt als sich selbst. Geistige Wesen können wissen, wem ihre Sehnsucht gilt. Nach Gott rufen, wie es im Psalm heißt, auch die jungen Raben. »Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.« (Eichendorff)
Das ist gegen die Moderne gedacht. Ebenso wie dieser Vers über den Dichter: »Den stummen Willen aller Wesen, im Irdischen des Herren Spur soll er durch Liebeskraft erlösen, der schöne Liebling der Natur.« (Eichendorff)
Natur ist nicht primär res extensa, sondern das innere Bewegungsprinzip aller natürlichen Wesen. Wenn die Aufklärung Fénelon als Lichtgestalt pries, dann musste sie dem naturalistischen Reduktionismus prinzipiell absagen. Sie war dazu nicht bereit. Die Nationalversammlung lehnte den diskutierten Vorschlag ab, Fénelon im Pariser Pantheon beizusetzen. Dort wäre er neben Rousseau zu liegen gekommen, dessen Wunsch es war, Fénelons Lakai zu sein, um sich zu seinem Kammerdiener emporzudienen. Das Sterben des alten Menschen ist ein Prozess, der subjektiv bei manchen geistlichen Lehrern als Erlöschen der Hoffnung und als Gefühl der eigenen Verdammnis erlebt wird, so z. B. bei Franz von Sales oder bei Martin Luther. Die Befreiung von dieser Obsession geschieht nicht durch psychische Selbstmanipulation, sondern durch eine »resignatio in infernum«, eine Zustimmung zur eigenen Verdammnis, wenn das im Heilsplan Gottes liegt. »Fiat voluntas tua«. Auf diese 11 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Vorwort von Robert Spaemann
Weise verschwindet die Obsession und weicht einem bedingungslosen Vertrauen in die Liebe und Gerechtigkeit des Vaters. Resignatio in infernum, der Verzicht auf alle »Tröstungen« der Religion, erweist sich im Rückblick als eine Form der Läuterung und als Stadium im Prozess hin auf den Zustand der reinen Liebe. Übrigens war Fénelon weit entfernt davon, das Ideal der amour pur in seiner Erziehertätigkeit zum Maßstab zu machen. Sein Bildungsroman »Télémaque« ist ganz dem Fassungsvermögen seines Zöglings angepasst. Und für seine Schrift über Mädchenerziehung gilt das Gleiche. Man kann den »Telemaque« auch als Fürstenspiegel lesen. Tiefgreifende gegensätzliche Überzeugungen nötigen dazu, nach Gründen der Gegensätze zu fragen. Die können auch im Unbewussten liegen und mit der Persönlichkeitsstruktur zu tun haben, ebenso wie mit der sozialen Verortung. Das verführt leicht dazu, die Inhalte, um die es im Konflikt geht, auf die Interessen zu reduzieren, die bei der Bildung von Überzeugungen leitend waren. Man kann dann allerdings von den Denkern der Vergangenheit nichts lernen. Wenn Fénelon seinen engagierten Texten schließlich eine scholastisch-systematische Form gibt, dann geschieht das, um das, was er zu sagen hat, so weit wie möglich zu entpersonalisieren und so der Kontingenz zu entziehen. Und der Leser, wenn er etwas lernen will, tut gut daran, sich die intentio recta anzueignen. Die Klassenzugehörigkeit der beiden Kontrahenten ist ganz offensichtlich. Fénelon, Angehöriger der Hocharistokratie, in der ein Ethos der Hingabe und Uneigennützigkeit seinen Ort hat; Bossuet, der Bürger, der auch die Gottesbeziehung noch im Rahmen einer Leistungs- und Lohnmoral versteht – was ihn allerdings nicht hindert, selbst ein schönes Buch über das innere Gebet zu schreiben. Der katholische Glaube verhindert immer wieder, dass einseitige Positionen ins Extrem getrieben werden. Aber wie sehr die Lehre vom désinteressement schon zum Gemeingut der Sancho Pansas geworden war, zeigt folgendes Gespräch zwischen dem Ritter Don Quixote und seinem bäuerlichen Begleiter: »Was für ein dummer Wicht du bist, Sancho!«, versetzte Don Quixote, »weißt du nicht, dass es nach Ritterbrauch einer Dame große Ehre bringt, wenn ihr viele fahrende Ritter dienen, die sonst keinen Wunsch haben, als ihr um ihrer selbst willen zu dienen und keinen anderen Lohn für ihr ausdauerndes Streben fordern, als die Erlaubnis, ihr Ritter zu sein?« »Das ist ja genauso, wie ich es habe predigen hören«, sprach Sancho Pansa; »unsern Herrgott soll man auch um seiner selbst willen lieb haben,
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Vorwort von Robert Spaemann
ohne an Himmel und Hölle zu denken; und dabei möchte ich ihn doch viel lieber um dessen willen lieben und ihm dienen, was er zu tun vermag.« (Cervantes, Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha, 1. Teil, 31. Kapitel)
Heute stehen die Denkmäler von Fénelon und Bossuet beide als Doppelstatue auf dem Platz von Saint Sulpice in Paris.
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Abhandlung über die reine Liebe oder Analyse der Auseinandersetzung zwischen dem Bischof von Cambrai 1 und dem Bischof von Meaux 2 Über das Wesen der Caritas sowie über den habituellen Zustand der reinen Liebe [Zueignung] An unseren allerheiligsten Herrn, Papst Clemens XI.
Heiligster Vater, Es wäre eine Sünde, das mit der Sorge für die gesamte Kirche erfüllte Gemüt noch weiter zu belasten. Was aber in Wahrheit gesagt werden muss, scheint mir am meisten die Anliegen der Kirche zu betreffen. Die Nachrichten, die schon lange überall in Frankreich verbreitet und die in Rotterdam gedruckt wurden, berichten, dass Eure Heiligkeit den Antrag des französischen Klerus, die gegen mich gerichtete Relation 3, zu bestätigen, stets abgelehnt habe, weil Euch meine Fügsamkeit und mein Gehorsam gegenüber dem Apostolischen Stuhl genügt hat. Für Eure Güte und Euer Wohlwollen spreche ich den aufrichtigsten Dank aus. Aber fern sei, was mich allein betrifft. Nicht nur mir, sondern auch der schon geschwundenen Caritas hat Eure Heiligkeit mit dem höchsten Lob aller geholfen. Wenn daher jemand daran zweifeln sollte, möge er die Worte des Konvents 4 lesen: »Gründlich untersucht wurde das Wesen dieser angeblichen reinen Liebe, die sich über alle alten und wahren Vorstellungen der göttlichen Liebe, die François Fénelon (1651–1715) war von 1695 bis zu seinem Tod Bischof von Cambrai. 2 Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) wurde im Jahr 1681 von Ludwig XIV. zum Bischof von Meaux ernannt. 3 Gemeint ist die »Relation sur le quietisme«, die Bossuet nach Abschluß der Affäre im Auftrag des gallikanischen Episkopats verfaßte. Bossuet war somit Partei und Richter in Einem (siehe Robert Spaemann, Reflexion und Spontaneität, Klett-Cotta: Stuttgart 1990, S. 37). 4 Versammlung des gallikanischen Episkopats, die die Relation bestätigte. 1
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Abhandlung über die reine Liebe
sowohl in der Überlieferung als auch allenthalben in der Heiligen Schrift auftauchen, hinwegsetzte. Diese (angebliche reine Liebe) aber, die sie an deren Stelle setzen wollen, steht sowohl dem Wesen der Liebe entgegen, die sich immer Ihres Objektes bemächtigen will, als auch der Natur des Menschen, der die Glückseligkeit notwendigerweise herbeisehnt.« 5
Nachdem dies so von dem Konvent festgeschrieben wurde, fühle ich mich nun bewegt, hier eine Zusammenfassung unserer ganzen Auseinandersetzung über die Caritas zu geben; nicht um den Streit fortzusetzten – das läge mir fern! –, sondern damit Eure Heiligkeit einen Einblick gewinne, was die Gegner in unermüdlichem Eifer aufs Gefährlichste betreiben. Ich werde in aller Kürze – sofern es die päpstliche Geduld erlaubt – darlegen: 1. was Bossuet über die Definition der Caritas lehrt; 2. die Lehre des Kardinal de Noailles 6 darüber; 3. was meine Verteidigungsschriften betrifft; 4. was ich schon immer darüber gedacht habe und noch darüber denke.
Bossuet, Relation des actes du Clergé, in: Bossuet, J. B.: Œuvres complètes de Bossuet, évéque de Meaux. Versailles 1815–1820, Bd. 30, S. 462. In: Œuvres complètes de Bossuet. Paris, Lille, Besançon 1845–1846, Bd. 9, S. 727. 6 Louis-Antoine de Noailles (1651–1729), seit 1695 Erzbischof von Paris. 5
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Die Auseinandersetzung mit dem Bischof von Meaux über den Begriff der Caritas
Um zwei Dinge ging es in dieser Debatte: 1. um das Formalobjekt oder wesentliche Motiv der Caritas; 2. um den bedingten Verzicht auf die Seligkeit.
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Über das Formalobjekt der Caritas
I.
Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird durch die Autorität des hl. Thomas widerlegt
»Die Caritas«, sagt Bossuet 1, »sucht nicht das Eigeninteresse. Sie sucht nicht ihren Vorteil. 2 Hieraus wird klar, dass ihr Wesen die Interesselosigkeit und dass die eigennützige Liebe nicht die Caritas ist. Jedoch liebt sie selbst die Glückseligkeit. Dieses zweite Prinzip ist leicht abzuleiten. Tatsächlich wird in der Heiligen Schrift und in den Schriften der Kirchenväter gezeigt, dass es die allgemeine Meinung und die Stimme der ganzen Natur ist, – sowohl unter den Christen wie auch unter den Philosophen –, dass jeder glücklich sein will und dies gar nicht nichtwollen könne, und dass niemand sich der Wirksamkeit dieses Motivs in jeder Handlung, die mit Vernunft erfolgt, entziehen könne, sodass es das letzte Ziel ist, wie alle Schulen bestätigen. Daher ist es unmöglich, dass die Caritas an der Seligkeit nicht interessiert sei, was durch die Definition selbst, die der heilige Thomas von der Caritas gibt, bestätigt wird; das heißt, die Caritas ist die Liebe Gottes, insofern er selbst uns die Seligkeit zuteilwerden lässt, insofern er selbst der Grund der Seligkeit ist, ihr Ursprung und ihr Gegenstand; insofern er unser letztes Ziel ist. Es ist das Wesen der Caritas, sagt der hl. Thomas, dass sie uns unser letztes Ziel erreichen lässt, insofern es unser letztes Ziel ist, was keiner der anderen Tugenden möglich ist. Die Caritas strebt nach dem letzten Ziel unter dem (einzigen) Gesichtspunkt des letzten Ziels, was keiner der anderen Tugenden möglich ist. Diese [Tugenden] werden jedoch, wie vom hl. Thomas in dieser Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 450 f. Edition von 1845, Bd. 9, S. 205 f. 2 1. Kor. 13, 5. 1
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Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird widerlegt
Sache häufig betont wird, von den Schulen herangezogen, um die formalen und expliziten Gründe zu erklären; dass uns die Liebe zu Gott seine Seligkeit zuteilwerden lässt, enthält daher notwendigerweise, dass die mitgeteilte Seligkeit im Akt der Caritas der formale Grund zu lieben ist, und daher das Motiv, dessen Leugnung nichts anderes sein könne als eine handfeste Täuschung. Also sagt der heilige Lehrer: Wenn aufgrund einer unmöglichen Annahme Gott nicht das ganze Gut des Menschen wäre, dann gäbe es für diesen gar keinen Grund zu lieben 3; das heißt, dann wäre er nicht das Formalobjekt oder der explizite Grund, dessentwegen er liebt. Daraus folgt, dass dem Menschen dies das Motiv der Gottesliebe ist, dass Gott ihm das ganze Gut, oder, in anderen Worten, die Seligkeit selbst sei.« Es ist allerdings wahr, dass der heilige Lehrer neben dem Begriff des Wohlwollens, der dem Begriff der Caritas am nächsten kommt, diese Tugend auch unter dem Begriff der Freundschaft betrachtet hat. Die Freundschaft setzt nach der Ansicht des Aristoteles, dem der heilige Lehrer folgt 4, unter den Freunden eine gewisse Gemeinsamkeit und Gemeinschaft der Güter voraus, daher wird die Freundschaft als sittlicher Umgang und der Freund üblicherweise als Familienmitglied betrachtet. In der Tat gibt es niemanden, der mit einer anderen Person in Freundschaft verbunden sein kann, wenn nicht schon eine gewisse Teilhabe und Gemeinschaft zwischen ihnen bestünde. Ebenso könnte der Mensch nicht mit Gott verbunden sein, wenn nicht Gott seinerseits sich ihm in gewisser Weise mitteilen würde. Nichts wird nämlich geliebt, was nicht bereits vertraut ist. Diese Verbindung oder Gemeinschaft aber wird vom hl. Thomas nicht als Motiv der Freundschaft bezeichnet, sondern nur als vorausgesetzte Grundlage oder Anlass, aus dem die Freundschaft hervorgeht. Man höre ihn selbst: »Es besteht eine gewisse Freundschaft des Menschen zu Gott. Man muss aber verschiedene Arten von Freundschaften berücksichtigen. In einer Hinsicht nach der Verschiedenheit der Ziele. In anderer Hinsicht nach der Verschiedenheit der Verbindungen, auf denen die Freundschaft beruht … Das Ziel der Caritas ist ein einziges, nämlich die göttliche Güte. Außerdem gibt es eine Teilhabe an der ewigen Seligkeit, auf der diese Freundschaft beruht. Daraus folgt, dass die »Gesetzt die unmögliche Annahme, dass Gott nicht des Menschen Gut sei, gäbe es für den Menschen überhaupt keinen Grund zur Liebe.« Sum. theol. II, II, qu. 26, art. 13, ad 3. R. Spaemann 1990, S. 323. 4 Sum. theol. II, II, q. 23, art. 1. 3
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Über das Formalobjekt der Caritas
Caritas lediglich eine Tugend, und nicht in verschiedene Arten unterteilt ist.« 5 Er lehrt also, dass die verschiedenen Arten der Freundschaften anzustreben seien, entweder aufgrund des Ziels oder aufgrund dieser Gemeinsamkeit und Gemeinschaft, welche die Grundlage der Freundschaft ist. Er erklärt, die Teilhabe an der ewigen Seligkeit sei zwar das Fundament jener Freundschaft, nicht aber ihr Ziel oder Motiv. Denn es gäbe nur ein Ziel, nämlich die Güte Gottes. So wird die göttliche Güte oder die Vollkommenheit in sich, absolut genommen, das einzige Ziel genannt, um die Teilhabe an der göttlichen Seligkeit von dem Beweggrund des Ziels oder spezifischen Motivs zu trennen. Sie [die Seligkeit] ist nur das, worauf die Freundschaft basiert. Allerdings kann die Grundlage mit dem Motiv der Freundschaft nur ganz ungereimt durcheinandergebracht werden. Weshalb ist mir der Freund so lieb? Weil er mir mit Tugend ausgezeichnet scheint. Wahrlich ein Motiv für reine Freundschaft! Die Gemeinschaft wird freilich als Grundlage angenommen. Ich könnte nicht von der Tugend oder den Geistesgaben jenes Freundes angezogen werden, wenn nicht eine gewisse Gemeinschaft bestünde. Ich suche ihn nicht aus dem Motiv der Gemeinschaft heraus auf, sondern im Gegenteil: der Freundschaft wegen suche ich die Gemeinschaft mit ihm. Ebenso verhält es sich zwischen Mensch und Gott. Ohne jegliche Gemeinschaft könnte Gott, unnahbar und unzugänglich, vom Menschen nicht geliebt werden. Aber die Gemeinschaft, die die Freundschaft hervorbringt, ist nicht das Ziel oder Motiv der Freundschaft. Denn es gibt nur ein einziges Ziel, nämlich die göttliche Güte oder Vollkommenheit. Darüber hinaus muss man untersuchen, weshalb der hl. Thomas die himmlische Glückseligkeit das Fundament jener Freundschaft genannt hat. Das lässt sich aber folgendermaßen leicht erklären: Überall lehrte er, es gäbe eine zweifache Liebe zu Gott, die natürliche und die übernatürliche. Mit der natürlichen verhält es sich so: Gott über alles zu lieben ist etwas dem Menschen Naturgemäßes 6. Jeder der beiden Arten wird ihre bestimmte Grundlage oder Gemeinschaft zugordnet. Die natürliche Freundschaft wird in der Gemeinschaft der natürlichen Ordnung begründet; die übernatürliche Freundschaft in der Gemeinschaft der übernatürlichen Ordnung, welche die intuitive Schau ist. Denn diese Schau ist die vollendete 5 6
Ebd., art. 5. Sum. theol. I, q. 109, art. 3.
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Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird widerlegt
Verbindung oder Gemeinschaft mit Gott, zu welcher alle übrigen Gnadengeschenke oder Gaben der übernatürlichen Ordnung den Menschen gegeben werden; sodass jene übernatürliche Seligkeit alle Gaben der übernatürlichen Ordnung in sich einschließt. Wie aber die natürliche Gemeinschaft, d. h. eine gewisse entfernte Kenntnis Gottes, nicht das Motiv für die natürliche Freundschaft ist, auch wenn sie ihre Grundlage ist, so ist in gleicher Weise die übernatürliche Gemeinschaft oder intuitive Schau nicht das Motiv für die übernatürliche Freundschaft, auch wenn sie ihre Grundlage ist. Also ist es nicht verwunderlich, dass der heilige Gelehrte sagte, die Caritas beziehe sich auf die Mitteilung der ewigen Glückseligkeit oder auf Gott, soweit er die ewige Seligkeit erteilt. Das ist dasselbe, wie wenn er sagte, die Caritas beziehe sich wie eine übernatürliche Freundschaft auf Gott, insofern er sich in der übernatürlichen Ordnung mitteilt, welche in der intuitiven Schau die Gemeinschaft der Freunde vollendet; dass sie sich aber nicht auf Gott, mit ihm in natürlicher Gemeinschaft vereinigt und an bloß natürlichen Gaben teilhabend, beziehe. Die Beispiele selbst, die der hl. Thomas bringt, legen die Sache deutlich dar. Er führt Blutsverwandte und Mitbürger an, deren Freundschaft in der Gemeinschaft begründet ist. Ganz sicher ist, dass die Freundschaft der Verwandten und Mitbürger nicht zu dem Zweck oder aus dem Motiv heraus gepflegt wird, eine nützliche Gemeinschaft einzurichten. Vielmehr wird die Gemeinschaft von ihnen gepflegt zu dem Zweck, sich der Freundschaft zu widmen. Daher ist offenbar: 1. Dass dies vom hl. Thomas nicht über eine beliebige Gottesliebe, sondern allein über die Caritas, insofern sie unter dem Gesichtspunkt der Freundschaft betrachtet werden kann, gesagt wurde. 2. Dass die Gemeinschaft als Grundlage, nicht als Ziel oder Motiv dieser Freundschaft bezeichnet wird. 3. Dass jenes »Insofern« 7, das der Bischof von Meaux so hervorhebt, nicht unter das Motiv der Caritas fällt, sondern nur unter die übernatürliche Ordnung, soweit die Gemeinschaft jener Ordnung durch die intuitive Schau von der Gemeinschaft der natürlichen Ordnung unterschieden wird, welche keineswegs intuitiv ist. Nirgendwo wurde von Thomas gesagt, die Teilhabe an der ewigen Seligkeit sei das eigentliche oder spezifische Motiv der Caritas. Was aber nicht spezifisch ist, ist nicht wesentlich. Das einzige Ziel der Caritas sei die göttliche Güte. Siehe oben: »Die Caritas ist die Liebe Gottes, insofern er selbst uns die Seligkeit zuteilwerden lässt.«
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Über das Formalobjekt der Caritas
Nichtsdestoweniger wünscht die Caritas sehr oft die Seligkeit selbst, auch in ureigenen Akten, aber nicht als wesentliches Motiv. Denn die Caritas wird besonders durch die göttliche Wohltätigkeit als einem außerordentlichen Beweis der höchsten Vollkommenheit erfreut und zum Lieben bewegt. So hilft sie, das relative Gute ins absolut Gute zu verwandeln. Sie will – und sie will in höchstem Grade – jene innige und vollkommenste Gemeinschaft, wodurch Gott von Angesicht zu Angesicht geschaut wird, freilich nicht aus dem Motiv des daraus hervorgehenden Nutzens, sondern im liebevollen Blick auf die göttliche Freigiebigkeit. Sie will die Seligkeit, nicht aufgrund des Nutzens der Seligkeit, sondern weil aus dieser Gemeinschaft Gott die größte Ehre zukommt. Nachdem dies festgelegt ist, frage ich 1. den Bischof von Meaux, mit welchem Recht er die Seligkeit das letzte Ziel des Menschen nennt. Es steht fest, dass er selbst von der mitgeteilten Seligkeit spricht, deren Grundlage, Ursache und Objekt Gott ist. Von Gott kann aber nicht gesagt werden, er sei Grundlage, Ursache und Objekt der objektiven Seligkeit, d. h., seiner selbst. Die formale Seligkeit wird allerdings vom heiligen Lehrer und von allen Schulen als etwas Geschaffenes bezeichnet. Ferner kann etwas Geschaffenes niemals ein letztes Ziel genannt werden, weder ein gesamtes, noch ein partielles. 2. Diese formale Seligkeit, die Bossuet als das letzte Ziel betrachtet, ist eigentlich die intuitive Schau: von dieser allein sprechen die Mystiker, die jener ausdrücklich bekämpft. Ferner bestimmt er die intuitive Schau als das letzte Ziel. Daraus folgt, dass dem Menschen sein letztes Ziel genommen würde, wäre ihm die intuitive Schau nicht zugestanden. Jedoch kann dies überhaupt nicht über die natürliche und die reflektierte geistige Seligkeit gesagt werden, welche in den Akten der Caritas als letztes Ziel sich zu setzen keinem Christen erlaubt ist. Also will Bossuet, dass die intuitive Schau das letzte Ziel, das in den Akten der Caritas angestrebt wird, auf diese Weise sei, dass, wenn dem Menschen nicht jene intuitive Schau gewährt wäre, keine Ausübung dieser Tugend vorgenommen werden könnte. 3. Er bekräftigt, dies (d. h. das Verlangen nach der intuitiven Schau) sei der Caritas wesentlich, um nämlich dieses letzte Ziel zu erreichen. Ich gebe zu, dass die Caritas die übrigen Tugenden darin übertrifft, dass sie unmittelbar das letzte Ziel erreicht, nämlich die absolute Vollkommenheit und Herrlichkeit Gottes. Aber ich leugne, dass die intuitive Schau – weil sie ja etwas Geschaffenes ist – ein mit dem Schöpfer untrennbar verbundenes, letztes Ziel ist. Daraus schließe ich, dass 22 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird widerlegt
die Caritas, welche das äußerste Ziel unmittelbar berührt, höher sei als das Verlangen, jene Wohltat zu erhalten. 4. Er sagt, der Grund zu lieben könne anders nicht erklärt werden. Diese negierende Meinung schließt offen jeden anderen Grund zu lieben aus; daraus folgert er: wenn aber, aufgrund einer unmöglichen Annahme, Gott nicht seligmachend, d. h. intuitiv zu schauen wäre, dann gäbe es für den Menschen keinen Grund … weswegen er liebte, oder, mit anderen Worten: dann müsste er (Gott) von ihm nicht geliebt werden. 5. Gott lieben zu wollen durch vollkommenere Liebe ist, wie er sagt, offenbare Täuschung. Er fügt noch diese Worte hinzu: »Besonders in Acht nehmen muss man sich vor diesen in die Frömmigkeit eingeführten Spitzfindigkeiten. Denn in der Tat erkennt der Mensch sich selbst keineswegs, sobald du ihn überzeugen willst, sich dieses Motivs, die Seligkeit zu erwerben, enthalten zu können. Er fühlt sich verspottet, sobald du ihm vorschreibst, Gott so lieben zu müssen, als ob die Liebe vorgeschrieben wäre ohne dass seine Seligkeit in Aussicht gestellt wäre. So entschließt er sich zur Verachtung jener sophistischen Frömmigkeit oder meint, dass diese auf eitle Phrasen und Spitzfindigkeiten gegründet sei.« 8 Was aber Thomas über die Caritas dachte, lässt sich sicher nicht anhand von Stellen erklären, wo er nur fragt, ob die Caritas – insofern sie Freundschaft genannt wird – eine einfache Tugend ist oder in mehrere Arten geteilt wird, sondern anhand von jener Stelle, wo er offenkundig die Caritas definiert und bezeugt, dass ihre hervorragende Stellung vom Apostel gepriesen wurde. So spricht er folgendes: »Die Caritas bewirkt daher, dass der Mensch Gott anhängt um seiner selbst willen, indem sie den Geist des Menschen mit Gott vereint durch den Affekt der Liebe. Die Hoffnung aber und der Glaube bewirken, dass der Mensch Gott anhängt wie einem Prinzip, aus dem irgendetwas für uns hervorgeht. Von Gott aber kommt uns sowohl die Kenntnis der Wahrheit als auch die Erlangung der vollkommenen Güte zu.« 9 Er meint also, dass die Caritas Gott um seinetwillen so anhängt, dass sie nicht einmal wünscht, dass ihr daraus die Erlangung der vollkommenen Güte hervorgeht, und dass sie ihn nicht liebt wie eine Quelle, aus der ihr die Erlangung der vollkommenen Güte zufließt. Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 450. Edition von 1845, Bd. 9, S. 206. 9 Sum. theol. II, II, q. 17, art. 5. 8
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Über das Formalobjekt der Caritas
»Eine Art von Liebe ist vollkommen, eine andere unvollkommen. Die vollkommene Liebe ist die, durch welche jemand um seiner selbst willen geliebt wird, wie jemand einem anderem Gutes will – so wie der Mensch einen Freund liebt. Die unvollkommene Liebe ist die, mit der jemand irgendetwas liebt, nicht um dieses selbst willen, sondern nur damit es ihm selbst zugutekommt – so wie der Mensch eine Sache liebt, die er begehrt.« Mit diesen Worten lehrt er ganz offensichtlich, dass es keine vollkommene Liebe gibt außer jener, die das Gute für das Objekt der Liebe will, dass aber jegliche Liebe, die irgendetwas Gutes aus dem geliebten Objekt für sich will, unvollkommen ist. Daher steht fest, dass die Liebe durch reines Wohlwollen vollendet wird; durch Begehren aber sich als unvollkommen erweist. Aber wir wollen fortfahren, um die Schlussfolgerung zu hören. »Es muss auch unter den theologischen Tugenden jene stärker sein, welche Gott mehr berührt. Immer aber ist das, was aus eigener Kraft ist, größer als das, was aus fremder Kraft ist. Glaube und Hoffnung berühren Gott nur, insofern uns aus ihm Erkenntnis des Wahren oder Erlangung des Guten zukommt. Die Caritas aber erreicht Gott selbst, um in ihm selbst zu bleiben, nicht damit uns von ihm etwas zuteilwird; und daher ist die Caritas hervorragender als die Hoffnung etc.« 10 Darin also sind Gaube und Hoffnung weniger vollkommen und kommen weniger an Gott selbst heran, dass sie nicht einfach und absolut in diesem stehen, wie die Caritas selbst, sondern etwas suchen, das von diesem kommt. Darin, dass sie in Gott das Gute zu erlangen wünscht, wird die hoffende Liebe unvollkommen oder weniger vollkommen genannt. Und deshalb, sagt Thomas v. Aquin, ist die Caritas vortrefflicher. Diese Meinung ist daher ausschlaggebend; dies ist der grundlegende Unterschied; das ist das Formalobjekt oder spezifische Motiv. Wenn man ihr die vollkommene Einfachheit nimmt, ragt die Caritas nicht aus den übrigen theologischen Tugenden hervor. Wunderbar stimmt darin mit Thomas jener große, den Schülern der Apostel gleiche Philosoph und Theologe Clemens von Alexandrien überein. Den Einwand derer, die wie der Bischof von Meaux argumentieren, legt er sich so aus 11: »Jede Verbindung, sagen sie, die man mit schönen Dingen eingeht, geschieht mit Begehren«; d. h. die Liebe begehrt ihrem Wesen nach, was für sie gut ist. Bei diesen Wor10 11
Sum. theol. II, II, q. 23, art. 6. Stromata, Buch. VI., Kap. 9.
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Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird widerlegt
ten scheine ich den Bischof von Meaux selbst zu hören. Was aber meint dazu Clemens? »Aber diese«, sagt er, »wissen anscheinend nicht, was an der Caritas göttlich ist. Denn die Caritas ist nicht ein Begehren des Liebenden, sondern eine wohlwollende und feste Verbindung etc.« Das ist daher das Göttliche an der Caritas, dass sie reines Wohlwollen ist, dass sie den Menschen mit Gott verbindet und dennoch keine Begierde oder Sehnsucht ist. In Gott steht sie, nichts begehrend, nicht einmal, dass aus ihm für sie das Erlangen des Guten hervorgehe. Wenn der Bischof von Meaux das nicht erkennt, erkennt er nicht, was an der Caritas göttlich ist. Diese ausdrückliche Erklärung des Thomas v. Aquin versuchte der Bischof v. Meaux so zu verspotten: »Wenn es sich so verhält, sagt er, ›nicht dass für uns daraus irgendetwas hervorgeht‹, legt er nur das nahe: nicht dass für uns daraus etwas hervorgeht außer Gott«. Welch unerhörte und beinahe unglaubliche Verspottung! Wenn er [Thomas] bloß lehren wollte, dass die Caritas kein Gut außer Gott sucht, dann wird die Hoffnung darin gleich vollkommen sein wie die Caritas. Denn auch die Hoffnung sucht kein Gut außer Gott und außer der an ihm selbst teilhabenden Glückseligkeit. Und ebenso hätte der hl. Thomas ganz unpassend diesen Negativschluss ausgeführt: »nicht dass daraus … etc.«, als spezifischen Unterschied der Caritas, wodurch sie die Hoffnung überragt und deshalb vortrefflicher ist. Schlecht hätte er diese beiden: das »Nicht dass daraus« und jenes »Und deshalb« verbunden, wie Ursache und Wirkung. Denn die Caritas könne die Hoffnung nicht aufgrund dessen übertreffen, was ihr mit der Hoffnung selbst gemeinsam ist. Wenn Bossuet aber sagte, dieser negative Schluss: »nicht dass daraus …« zeige, dass die Caritas von sich aus kein Gut anstrebe außer Gott, der in sich vollkommen ist, dass sie in diesem einfach stehe und nicht die formale Seligkeit anstrebe, welche aus diesem fließt, dann werde ich sicherlich meinen Wunsch erreicht haben. Er selbst aber wird das alte Lied anstimmen. Aber damit diese schon durch die Definition des hl. Thomas entstandene Gewissheit mehr und mehr erhellt werde, muss man den Ursprung dieser Liebe selbst mit dem hl. Thomas höher ansetzen: Er fragt, ob in Gott Liebe sei. 12 Das aber ist seine Schlussfolgerung: »Wenn in Gott ein Wille ist, muss in ihn notwendigerweise Liebe gesetzt werden, die Ursache freilich und Quelle jeglichen Strebens 12
Sum. theol. I, q. 20, art. 1.
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Über das Formalobjekt der Caritas
der begehrenden Tugend.« Er unterstellt also, dass dies das Wesen jeglichen Willens sei, dass er etwas liebt. Wenn er nichts liebte, würde er nichts wollen. Wenn er nichts wollte, wäre er kein Wille. Jene Liebe aber ist dem Willen wesentlich, sie ist im Willen dasjenige Erste, von dem gleich wie von einer Quelle alle Bestrebungen der begehrenden Tugend entspringen, d. h. jedes Verlangen des Willens. Die Liebe aber ist nicht Verlangen, sondern sie ist im Willen früher als das Verlangen, so wie die Ursache früher als ihre Wirkung ist. »Es gibt aber«, sagt Thomas, »gewisse Akte des Willens und Strebens, die sich auf das Gute unter einer speziellen Bedingung beziehen, so wie es Freude und Ergötzen gibt über ein gegenwärtiges und besessenes Gut, Sehnsucht aber und Hoffnung über ein noch nicht erreichtes Gut. Die Liebe aber bezieht sich auf das Gute im Allgemeinen, mag es bereits besessen werden oder nicht. Daher ist die Liebe natürlich der erste Akt des Verlangens und Begehrens. Und deshalb stellen alle anderen begehrenden Leidenschaften die Liebe gleichsam als erste Quelle voran.« 13 Das lehrt er über die Liebe Gottes, welche die Quelle unserer Liebe ist, ihr Ursprung und Vorbild. Aber es bleibt zu erforschen, was es bedeutet, zu lieben, damit völlig klar ist, was das sei, das im Willen das Erste ist, und das jedem Begehren oder Verlangen vorangestellt wird. Was wir aber suchen, das hat der hl. Thomas in dem unmittelbar folgenden Artikel sehr sorgfältig und treffend hinzugefügt. Er sagt: Wenn »lieben« nichts anderes bedeutet als jemandem Gutes zu wollen … etc. Er sagt nicht, dass »lieben« bedeute, jemandem wohlzuwollen. Diese bejahende Ausdrucksweise scheint ihm nicht genügend stark und absolut. Das würde nur bedeuten, dass irgendein Wohlwollen in der Liebe ist. Er benutzt die negative Ausdrucksweise, damit feststeht, dass die Liebe aufgrund ihrer Natur nichts ist außer reines Wohlwollen. Zu lieben ist daher nichts anderes als jemandem wohlzuwollen. Wen man aufgrund jenes spezifischen Aktes der Liebe liebt, begehrt man keineswegs. Man kann zwar jenen sowohl lieben als auch begehren. Aber diese beiden Dinge stehen außer Zweifel: 1. dass die Liebe von sich aus und ohne Zugabe rein wohlwollend ist; 2. dass die Liebe oder das Wohlwollen im Willen etwas Erstes sei, das jedem beliebigen Verlangen oder Begehren vorangestellt wird. Gott will und liebt daher das, was er geschaffen hat, er liebt es und er will ihm wohl; er liebt sein Geschöpf, nicht aus dem Motiv seiner eigenen Seligkeit, die davon gar 13
Ebd.
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Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird widerlegt
nicht abhängt; sondern er liebt umsonst und nicht damit ihm aus dem, was er liebt, irgendetwas zukomme, was ihm oder seiner noch unvollkommenen Seligkeit zuträglich wäre. In dieser rein selbstlosen Absicht hat er die Welt außerhalb von sich selbst gegründet; aus demselben selbstlosen Grund hat er die gefallenen Menschen in Christus erlöst. Das ist dieser große Wille; das ist jene vollkommene Liebe, Form und Muster für das Maß unserer Liebe. Nach seinem Bild und Gleichnis gemacht, müssen wir so wollen und lieben, wie er selbst will und liebt, d. h. umsonst und ohne das Motiv einer zu erreichenden Seligkeit. Nicht soll der Bischof v. Meaux sagen, das sei das Wesen des Willens und der Liebe, dass wir immer, in jeder beliebigen Handlung, beglückt werden wollen. In Gott bedeutet »wollen« nicht immer, für sich Gutes zu wollen. In Gott bedeutet »lieben«, jemandem Gutes zu wollen. Gott freilich will alles seiner Verherrlichung wegen, deshalb soll er das höchste Ziel sein; aber er will nichts, um sich zu beglücken. In Gott bedeutet »wollen«, jemandem wohlzuwollen, insofern er die menschliche Natur erschaffen hat. Das aber wollte er keineswegs aus dem Motiv seiner Seligkeit heraus, wie sich von selbst versteht. Dieser Wille ist das vollkommenste Urbild unserer Willen. Der Gegner soll nicht sagen, es gäbe nur einen Grund zu lieben, nämlich die Seligkeit. Denn Gott hat nicht ohne einen wahren Grund der Liebe geliebt, welcher anders als durch Seligkeit erklärt wird. Und er soll auch nicht sagen, es sei allein Gott vorbehalten, ohne Bedürftigkeit zu lieben. 14 Wenn wir auch der meisten Dinge bedürftig sind, vermögen wir doch alles durch ihn, der uns stärkt, sodass wir im Lieben selbst unsere Bedürftigkeit überwinden. Wenn jemand durch das Geschenk der Gnade so liebt, »dann gibt er auch«, sagt Bernhard von Clairvaux 15, »eine solche Liebe zurück, wie er sie empfängt. Wer nämlich so liebt, der liebt gewiss nicht weniger als er geliebt wird, wobei er selbst nicht sucht, was das Seine ist, sondern was des Herrn Jesus Christus ist; so wie jener sich um das Unsere, oder eher um uns, und nicht um das Seine kümmerte.« Dasselbe lehrt Cassian 16, aus der alten Tradition
»Es ist allein Gott vorbehalten, ohne Bedürftigkeit zu lieben. Die Bedürftigkeit unseres Wesens bindet uns an ihn und macht uns ihm untertan.« Bossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 523; Edition von 1845, Bd. 9, S. 368. 15 De diligendo Deo, Kap. 9, Abschnitt 26. 16 Collationes, IX. 14
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Über das Formalobjekt der Caritas
des Antonius und der übrigen Asketen. Dass dies auch vom hl. Thomas gelehrt wird, wird sich weiter unten zeigen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der hl. Thomas die Liebe der Freundschaft oder des Wohlwollens die vollkommene, die des Begehrens aber die unvollkommene nannte. Was nämlich von sich aus ist, wie er oft lehrt, ist vorzüglicher und vollkommener als das, was durch etwas anderes ist. So aber fährt er fort: »Unsere Liebe, mit welcher wir jemandem Gutes wollen, ist nicht der Grund für die Güte selbst, sondern im Gegenteil: dessen Güte, sei sie wahrhaft oder dafür gehalten, ruft Liebe hervor, wodurch wir wollen, dass diesem sowohl das Gute, das er hat, bewahrt werde, als auch das Gute, das er nicht hat, hinzugefügt werde.« 17 Gemäß diesem so gefassten Begriff von der Liebe ist die Liebe, mit der Gott geliebt werden muss, gänzlich rein wohlwollend. Demzufolge wollen wir, dass ihm sowohl das Gute, das er hat, bewahrt werde, als auch das Gute, das er nicht hat, hinzugefügt werde. In dieser vorzüglichen und wesentlichen Untersuchung der Liebe hört man nicht einmal eine schwache Stimme darüber, dass Gott für sich etwas wünscht oder begehrt. Er wird freilich begehrt; aber dieses Begehren des insofern seligmachenden Gottes ist im Willen nur etwas Späteres als die rein wohlwollende Liebe. Das Prinzip aber dieser Lehre ist, dass jene vorzügliche Liebe Gott in sich absolut genommen betrachtet, nicht aber, wie andere Akte, unter einer besonderen Bedingung. »Freude nämlich und Lust gibt es über ein gegenwärtiges und besessenes Gut, Verlangen aber und Hoffnung nach einem noch nicht erlangtem Gut. Die Liebe aber berücksichtigt das Gute im Allgemeinen, mag es bereits besessen werden oder nicht.« Sicher ist also, dass diese Liebe, woraus, wie aus einer Quelle, jegliches Begehren nach dem höchsten Gut fließt, reines Wohlwollen gegenüber Gott ist, ohne Rücksicht darauf, was gegenwärtig oder abwesend ist, ebensowenig darauf, was besessen wird oder nicht. Mit diesem Prinzip stimmt die negative Bestimmung des hl. Thomas zusammen: »nicht dass daraus …«, und zu Recht folgert er, dass deswegen die Caritas vortrefflicher sei als die Hoffnung … etc. Das aber ist das berühmte Prinzip des hl. Thomas: »Immer ist das, was von sich aus ist, vorzüglicher als das, was durch etwas anderes ist. Was wiederum allgemeiner ist, ist naturgemäß vorzüglicher. 17
Sum. theol. I, q. 20, art. 1.
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Die Meinung des Bischofs v. Meaux wird widerlegt
Daher hat auch der Verstand eher eine Ausrichtung zum allgemein Wahren als zu besonderen einzelnen Wahrheiten. Es gibt aber gewisse Handlungen des Begehrens und Erstrebens, die das Gute unter einer besonderen Bedingung berücksichtigen …, etc. Die Liebe aber betrachtet das Gute im Allgemeinen, mag es besessen werden oder nicht« 18, d. h., wie der Geist zuerst das allgemein Wahre erreicht. Von hier gleitet er zu besonderen einzelnen Wahrheiten, aufgrund dieser Kenntnis des allgemein Wahren. So betrachtet auch der Wille zuerst das allgemein Gute mit reinem Wohlwollen. Hierauf treten unter irgendeiner besonderen Bedingung genossene Güter hervor, zum Beispiel Wünsche nach Glückseligkeit. Schließlich muss diese entscheidende Argumentation des hl. Thomas erwogen werden: »dass Gott etwas mehr liebt, bedeutet nichts anderes, als diesem mehr Gutes zu wollen« 19; daraus schließt er, dass derjenige von Gott mehr geliebt wird, dem er mehr Gutes will und bereitet. Wenn aber dies der wahre Grund des Liebens ist, folgt, dass wir Gott mehr oder weniger lieben, freilich nicht genau so, wie wir ihn mehr oder weniger begehren, sondern so, wie wir ihm mehr oder weniger das Gute, das er hat, bewahrt wissen wollen. Von hier muss noch ein anderer Schluss abgeleitet werden, nämlich dass wir nicht dem Gebot, Gott vor uns selbst zu lieben, gehorchen können, wenn wir nicht die Ehre Gottes, die das allgemein Gute ist, mehr als unsere private Seligkeit ernsthaft wollen. Wenn die Ehre Gottes mehr als unsere Seligkeit zu wünschen ist, kann jenes »Mehr« nicht aus dem Motiv der Seligkeit selbst gewünscht werden. Was ist widersprüchlicher als zu sagen, die Seligkeit sei ein formaler und präziser Grund, sie selbst weniger als die Ehre Gottes zu wollen? Was ist mit sich selbst weniger übereinstimmend und widersprüchlicher als jener Akt? Die Seligkeit bestimmt mich, etwas über die Seligkeit hinaus zu wollen. So sehr begehre ich die Seligkeit, dass das Verlangen nach jener für mich ein formaler und präziser Grund ist, weshalb ich diese weniger als etwas anderes, von ihr Verschiedenes will und wünsche. So zu wollen wäre nicht wollen, sondern rasend sein. Wäre daher die Seligkeit der exakte Grund jedes Willensaktes, so könnten wir Gott niemals mehr lieben als uns selbst.
18 19
Sum. theol. I, q. 20, art. 1. Ebd., art. 4.
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Über das Formalobjekt der Caritas
II.
Der gewaltige Irrtum des Bischofs, die objektive mit der formalen Seligkeit zu vermischen
Um diese Argumentation zu verspotten, nimmt der Bischof v. Meaux an, es gäbe eine unteilbare Seligkeit, welche aus der objektiven und der formalen verschmolzen ist, sodass die Untersuchung der einen ohne die andere eine spitzfindige Überlegung wäre. Tatsächlich sehen wir ihn schon lehren und sich die Zustimmung der ganzen Schule darüber anmaßen, dass die vereinigte Seligkeit das höchste Ziel sei. Darin widerspricht er sich. Denn die »mitgeteilte Seligkeit« ist keine objektive, sondern nur eine formale. Die Seligkeit, welche er die »mitgeteilte« nennt 20, ist dieselbe, über welche er gerade zuvor gesagt hatte: »Gott, insofern er uns seine Seligkeit zuteilwerden lässt«. Sicherlich ist jene Seligkeit, welche Gott gewährt und durch deren Teilhabe der Mensch glücklich wird, nicht Gott selbst. Aber eine Argumentation wäre überflüssig, da er selber die Sache gänzlich abbricht. Er sagt: In dem Ausmaß wie Gott uns Seligkeit gewährt, so sehr ist er der Grund, der Anfang und das Objekt jener. Allerdings wird der Grund und Anfang von seiner Wirkung unterschieden. Das Objekt, welches der Seele Seligkeit zuteilt, kann mit der Seligkeit, welche es in der Seele erzeugt, nicht vermischt werden. Also wird diese mitgeteilte Seligkeit, deren Ursache, Ursprung und Objekt Gott ist, besonders unterschieden werden von der objektiven, und kann niemals das letzte Ziel genannt werden. Darin stellt er sich der ganzen Schule entgegen. Das höchste Ziel ist das, wohin der Mensch strebt, damit er darin einfach und endgültig steht; es ist das höchste und höher als jegliches andere anzustrebende Ziel. Das aber, was von Gott unterschieden wird, wie Wirkung von Ursache, Ursprung und Objekt, welches Gott selbst ist, ist nicht das, worin der Mensch einfach und letztendlich steht. Ganz im Gegenteil: Es gibt etwas Höheres als diese Wirkung, nämlich die Ursache, den Ursprung, das Objekt, das Gott selbst ist. Er könnte, soweit es ihm beliebte, sagen, die Seligkeit sei Gott selbst, insofern er von uns in Besitz genommen wird und uns besitzt. Ich antworte, die Wirkung ist nicht die Ursache und daher ist die Seligkeit, deren Ursache Gott ist, nicht Gott selbst, weder in Besitz genommen noch besitzend. Er könnte auch das hinzufügen »Selig werden wollen bedeutet, damit verbunden Gott zu wollen: Gott zu 20
Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 451.
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Der gewaltige Irrtum des Bischofs
wollen bedeutet, damit verbunden die Seligkeit zu wollen.« 21 Will er etwa darauf hinaus, dass die Caritas eine mit ihr vermengte Hoffnung, und die Hoffnung wiederum eine mit ihr vermengte Caritas wäre? So wird die Tugend von derselben Art sein, bald mehr, bald weniger zusammengemischt. Es gäbe ein einfaches und unteilbares Objekt oder Motiv für sie, nämlich jene unteilbare, aus der objektiven und der formalen zusammengeschmolzene Seligkeit. Aber was hat das Ganze mit der Sache zu tun? Nichtsdestoweniger bleibt zu beweisen, dass sich die formale Seligkeit von der objektiven, nämlich von Gott, real unterscheidet, wie die Wirkung von ihrer Ursache, und demgemäß nicht das höchste Ziel ist. »Wird etwa bei dir die Seligkeit eine zweifache sein?«, fragte der Bischof v. Meaux. Ich antwortete: »Freilich gibt es keine zweifache Seligkeit: vielmehr schließt sie selbst diese beiden ein, welche man keinesfalls vermischen darf, nämlich Gott, als das Objekt, von dem die Seligkeit dem Menschen zuteilwird; und die Seligkeit selbst, die der Zustand oder die Verfassung des Geschöpfes ist. Das alles ist sonnenklar und allgemein übernommen, du allein lehnst ab, es zu verkünden. Du bemühst dich, aus diesen beiden derart Unterschiedenen das höchste, ganze, unteilbare Ziel zusammenzuschmelzen.« Er selbst aber antwortete so: »Du bist ungehalten, dass in meiner Lehre aus der objektiven und der formalen Seligkeit ein und dieselbe Seligkeit sich verbindet. Aber ich frage dich, was habe ich noch über die Meinung des hl. Thomas hinaus gesagt, der immer sagt, Akte, wodurch Gott besessen wird, seien die Vollendung, das höchste Ziel und die wesentliche Seligkeit des Menschen? Ist das zweifache Seligkeit? Meint er, dass Gott nicht objektive Seligkeit sei? Keinesfalls. Aber Gott wäre umsonst unser Objekt, wenn es nicht Akte gäbe, wodurch wir mit ihm selbst vereinigt werden. So werden wir durch dieses Objekt und diese Akte, zusammen genommen, beglückt.« Indem er so Vieles und Bedeutendes geschäftig betreibt, sagt er nichts. Ich pflichte dem Ganzen bei, doch das Ganze ist nichts, was bei dieser Untersuchung helfen könnte. Zugestandenermaßen sind die Akte des Menschen, durch die er sich mit Gott vereint, nicht Gott selbst. Wie weit der Himmel von der Erde entfernt ist, ja, wie weit die Akte und Handlungen der Geschöpfe niedriger als der Schöpfer sind, so viel ist die formale Seligkeit niedriger als die objektive. Es gelte also Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 54 f.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 451.
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Über das Formalobjekt der Caritas
die Vereinigung dieser beiden Dinge. Ich zögere nicht. Von der gleichen Art ist die Rede aller, dass, was Seligkeit bewirkt, selbst Seligkeit genannt wird. So wurde Kaiser Titus »Freude« des Volkes genannt, weil das Volk durch seine Menschlichkeit und Wohltätigkeit an Lustbarkeiten Überfluss hatte. So wird die Ursache für ihre Wirkung genommen in verschiedenen Angelegenheiten, über die die Menschen sprechen. So möchte auch ich gern Gott sagen: O Herr, unsere Seligkeit! Gemäß dieser Art zu sprechen ist die Seligkeit das höchste Ziel. Dann wird die Seligkeit selbst konkret genommen. Sie umfasst dann sowohl das Objekt, welches die Seligkeit bewirkt, als auch die Akte und Handlungen, in welchen die dem Menschen wesentlich und eigentümlich genannte Seligkeit besteht. Wenn aber die Seligkeit genauer und abstrakt untersucht wird, damit sich nicht diese Zweideutigkeit einschleicht, ist von selbst offenkundig, dass man sagen muss, die Seligkeit, streng genommen – nämlich die formale –, ist durchaus nicht das höchste Ziel. Denn menschliche Akte oder menschliche Handlungen können nicht das sein, worin der Wille des Menschen letztendlich steht. Das wäre ein Widerspruch in sich. Wer nämlich einen menschlichen Akt auch vernunftbegabt nennt, meint notwendigerweise einen durch irgendeinen Zweck hervorgerufenen Akt. Was aber zu irgendeinem Zweck geschieht, kann das höchste Ziel nicht sein; sonst würde es auch ein Ziel des höchsten Zieles geben. Daher steht fest, dass die formale oder mitgeteilte Seligkeit durchaus nicht das höchste Ziel ist, weil sie ja in durch ein bestimmtes Ziel hervorgerufenen Akten und Handlungen besteht: dieses Ziel aber, wodurch diese Akte hervorgerufen werden, ist allein das höchste Ziel, nämlich Gott selbst. Wenn auch der Bischof v. Meaux das von mir schon Gesagte verwirft, möge er doch wenigstens den hl. Thomas hören, der dasselbe glänzend lehrt. Er fragt, »ob die Seligkeit etwas Ungeschaffenes sei.« 22 Das aber ist seine Schlussfolgerung: »Die Seligkeit des Menschen, soweit sie als Ursache oder Objekt betrachtet wird, ist etwas Ungeschaffenes. Soweit sie aber in ihrem Wesen als Seligkeit im Menschen betrachtet wird, ist sie etwas Geschaffenes.« Würde ich selbst diese Worte beurteilen, würde mir nichts Entscheidenderes in dieser Angelegenheit unterkommen. Wo strikt gesprochen werden muss, wird Gott nicht die Seligkeit selbst genannt werden, sondern nur ihre Ursache und ihr Objekt; die Ursache aber ist nicht die Wir22
Sum. theol. I, II, q. 3, art. 1.
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Der gewaltige Irrtum des Bischofs
kung. Was aber ist das Wesen der Seligkeit? Thomas antwortet: »Etwas Geschaffenes.« Wie weit ist aber das, dessen Wesen etwas Geschaffenes ist, davon entfernt, das höchste Ziel zu sein! Sobald man aber wesentlich und strikt sprechen muss, wird es notwendig sein, die Seligkeit freilich nicht als Gott zu bezeichnen, der nur Ursache und Objekt der Seligkeit ist, sondern als das wahre Wesen der Seligkeit, nämlich irgendetwas Geschaffenes. Aber man muss die glänzende Erklärung des hl. Thomas hören: »Von dem Ziel«, sagt er 23, »spricht man auf zweifache Weise: Einerseits ist es die Sache selbst, die wir erreichen wollen, so wie für den Geizigen das Ziel Geld ist. Andererseits die Erlangung oder der Besitz, der Gebrauch oder Genuss des Ersehnten, wie wenn man sagte, der Besitz des Geldes ist das Ziel des Geizigen; etwas Wollüstiges zu genießen ist Ziel des Unmäßigen. An erster Stelle ist daher das höchste Ziel des Menschen das ungeschaffene Gute, nämlich Gott, der allein in seiner unendlichen Güte den Willen des Menschen vollkommen erfüllen kann. An zweiter Stelle aber ist das höchste Ziel des Menschen irgendetwas in sich selbst bestehendes Geschaffenes, welches nichts anderes ist als das Erlangen oder Genießen des höchsten Zieles. Das höchste Ziel aber wird Seligkeit genannt.« Schon verblasst der Nebel dieser Zweideutigkeit gänzlich. Das Ziel wird als geteilt, nämlich in ein abstraktes und ein konkretes, bezeichnet; im Abstrakten spezifisch und strikt, im Konkreten weit gefasst und weniger spezifisch. Im Abstrakten oder Spezifischen liegt das höchste Ziel des Menschen, das ungeschaffene Gute, nämlich Gott. Im Konkreten, weniger Spezifischen und weiter Gefassten wird die Erlangung des höchsten Zieles für das höchste Ziel selbst angenommen. In dieser weniger treffenden Ausdrucksweise wird das höchste Ziel Seligkeit genannt, auch wenn sie in der strikten Ausdrucksweise nicht das höchste Ziel ist; sie ist freilich etwas im Menschen selbst entstehendes Geschaffenes. Alles aber, was geschaffen ist, was Akt und Handlung des Geschaffenen ist, was von der Schöpfung hervorgebracht in ihr selbst besteht, muss sich notwendigerweise auf Gott, wie auf das höchste Ziel, beziehen, und hat deswegen keineswegs die Beschaffenheit des höchsten Zieles. Erfolglos wirft der Gegner ein, Gott werde vergeblich unser Objekt sein, wenn es nicht Akte gäbe, wodurch wir mit ihm selbst vereint werden. Daher
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Ebd.
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Über das Formalobjekt der Caritas
wird er leicht darlegen, dass die Seligkeit ein notwendiges Mittel sei, um das höchste Ziel zu erreichen. Das gebe ich gerne zu. Aber ein Mittel ist nicht das höchste Ziel selbst. Indem er beweist, sie sei ein notweniges Mittel, verneint er darin offen, dass sie das höchste Ziel sei. Er stößt daher von Grund auf jene so verbreitete und beständige Argumentation um. Ohne jene Akte, sagte er, wäre Gott nutzlos unser Objekt; daher erwächst aus dem Objekt und diesen Akten zusammengenommen ein höchstes Ziel. Mit gleichem Recht könnte jemand sagen: Ohne Caritas, durch welche Gott selbst berührt wird, wäre Gott vergeblich das höchste Gut. Daher wird aus Gott und Caritas zusammengenommen das höchste Ziel gebildet. Das ist keine Argumentation. Denn kein Akt oder keine Handlung, womit wir das höchste Ziel erreichen, darf höchstes Ziel genannt werden, außer wenn man das Erreichen einer Sache unpassend mit dem Namen derselben Sache bezeichnet. Nachdem er dies aufgestellt hat, fragt der hl. Thomas, »ob die Seligkeit eine Handlung sei.« 24 So folgert er: »Wenn die Seligkeit im höchsten Akt des Menschen besteht, muss sie notwendig irgendeine Handlung des Menschen sein … Nachdem die Seligkeit des Menschen etwas in sich selbst bestehendes Geschaffenes ist, muss man sagen, die menschliche Seligkeit sei eine Handlung.« Ein wenig unterhalb fügt er hinzu 25: »Es gibt eine Handlung, die in dem Handelnden selbst bleibt, wie fühlen, verstehen und wollen; eine derartige Handlung ist Akt und Vollendung des Handelnden, und eine solche Handlung kann Seligkeit sein.« Einen Akt aber, der ein Ziel hat, höchstes Ziel zu nennen, wäre, wie schon gesagt, absurd. Selbst der Bischof v. Meaux schien, angeregt durch den Aufschrei der Scholaren, einen Rückzieher zu machen. »Es wäre nötig gewesen«, sagt er 26, »deutlicher zu erklären, dass die Schule die Liebe als zweifach bezeichnet: einerseits nämlich als die Liebe der Freundschaft, welche die Caritas selbst ist, wodurch Gott um seiner selbst willen geliebt wird; andererseits als die Liebe des Verlangens, wodurch jemand Gott für sich will. Das steht fest; aber es hätte hinzugefügt werden müssen, dass die meisten Theologen diese höchste Liebe unterteilen in die unschuldige und heilige begehrende Liebe, Sum. theol. I, II, q. 3, art. 2. Sum. theol. I, II, q. 3, art. 2, ad 3. 26 Bossuet, Avertissement des divers Ecrits, Abschnitt 18, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 368. Edition von 1845, Bd. 9, S. 325. 24 25
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Der gewaltige Irrtum des Bischofs
wodurch nur der Besitz Gottes gewünscht wird, und in die bloß begehrende Liebe, mit der Gott nicht geliebt wird, außer aus dem Motiv des Nutzens und einzig in Hinblick auf den Lohn. So, um in Gattungen zu sprechen, könnte eine dreifache Art der Liebe erkannt werden: die erste ist rechtfertigend, weil sie ja selbst die Caritas ist, die nach Augustinus die wahre Gerechtigkeit ist. Die zweite, welche die Schola einfach die begehrende Liebe nennt, wodurch Gott wie eine Belohnung verlangt wird, ist in sich gut. Denn sie ist die Liebe der christlichen Hoffnung, jedoch nicht rechtfertigend, und durch sie wird niemand in die Ordnung der Freunde Gottes eingereiht. Die dritte, welche man die des bloßen Begehrens nennt, stimmt darin mit der zweiten überein, dass sie nicht rechtfertigend ist; darin aber unterscheidet sie sich, dass sie nur auf den Lohn gerichtet ist und darin das höchste Ziel setzt, während sie, zum Schaden der Ehre Gottes, lasterhaft und ungeordnet ist.« So aber spricht er ein wenig weiter unterhalb über die Seligkeit: »Gott wird die objektive Seligkeit genannt, der Genuss Gottes aber die formale. Diese wird auf jene, wie auf ihr höchstes Ziel, in einem gewissen Sinn zurückgeführt. In einem anderen Sinn aber, nach dem hl. Thomas, steht es bei allen Schulen fest, dass aus diesen beiden ein und dieselbe Seligkeit erwächst. Wie das Licht, wodurch die Augen sozusagen erfreut werden, diese nicht erfreuen kann, wenn es nicht empfangen wird: daher entsteht sowohl durch das Empfangen des Lichtes als auch durch das empfangene Licht dieselbe Glückseligkeit für das sehende Auge.« Was er aber in dieser verworrenen Ausdrucksweise für sich will, könnte er selbst nicht in offener und einfacher Rede ausdrücken. Objekt und Potenz, Ursache und Wirkung können konkret genommen werden. Aber was folgt daraus? Nichtsdestoweniger stehen diese beiden Dinge unumstößlich fest: Erstens, dass der Akt des Sehens nicht das gesehene Objekt ist. Zweitens, dass der Akt oder die Handlung des Geschöpfes nicht im eigentlichen Sinne das höchstes Ziel genannt wurde, weder das ganze noch das partielle. Freilich nicht das ganze, weil ja Gott selbst das höchste Ziel ist, der Akt aber, der bei dem erschaffenen Handelnden bleibt, nicht der Schöpfer selbst ist; aber auch nicht das partielle; denn was wäre abwegiger und ruchloser, als zugleich den Schöpfer und die in diesem selbst bestehende Handlung des Geschöpfes als wesentliche Teile des höchsten Zieles anzunehmen? Jenes höchste Ziel wäre ja nicht mehr einfach. Durch diese Zusammenlegung würden Schöpfer und Geschöpf wesentlich zusammenfallen. So müsste man auch sagen, Caritas, heilig machende Gnade und das 35 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
Licht der Herrlichkeit seien das höchste Ziel: denn, wenn diese einzelnen fehlten, würde der Mensch das höchste Ziel nicht erreichen. Aber ich kann mich nicht genug darüber wundern, was der Gegner über die dreifache Liebe sagte. Ob das im Ernst oder scherzhaft gemeint war, soll der verständige Leser beurteilen. Das eine behaupte ich: Das, was er selbst vorher, in demselben Werk und später geschrieben hat, ist unglaublich unpassend. So aber argumentiere ich: Etwas zu begehren, ist nichts anderes als es für sich zu wollen. Daher bekennt er selbst: Die Liebe der christlichen Hoffnung sei eine geheiligte Begierde. Nach dieser Festlegung folgert der Bischof v. Meaux, die Caritas sei die bloße Begierde nach der wahren Seligkeit in Gott. Das aber kann leicht so widerlegt werden: 1. Die Caritas ist, nach dem Bischof v. Meaux, ihrem Wesen nach das Verlangen nach Seligkeit, Einheit, Genuss, Gemeinschaft, Besitz, Anschauung. Daher ist sie ihrem Wesen nach eine gewisse Begierde nach Gott. 2. Diese Begierde ist etwas Ursprüngliches im Wesen der Caritas. »Was«, fragt er 27, »ist für die Caritas wesentlicher und charakteristischer, als einigend zu sein?« 3. Diese Begierde oder der Wunsch, Seligkeit in Gott zu erwerben, entspricht ganz dem Wesen der Caritas, wenn der Bischof v. Meaux bei seiner eigenen Meinung bleibt. Das wird so bewiesen: Caritas ist nichts anderes als Gottesliebe. Der ganze Grund der Liebe aber kann niemals über die Grenzen des Liebens hinausgehen: freilich ist Gott, als unser Gut, oder, mit anderen Worten, insofern er unsere Seligkeit ist, nach dem Bischof v. Meaux der ganze Grund der Wertschätzung, er ist der Grund des Liebens, der anders nicht erklärt werden kann. Aus diesem Verlangen bilden sich alle übrigen Wünsche des Menschen: deswegen wollen alle alles, darüber hinaus wollen sie nichts. Daher ist offenkundig klar, dass im Menschen kein Wollen bestimmt werden kann, welches nicht gänzlich das Wollen von Seligkeit oder das Verlangen danach ist. Denn, wie schon gesagt, etwas für sich zu wollen und es zu begehren sind wahrlich synonyme Begriffe. Also ist das das ganze Wesen des Willens und der Liebe, dass jeder sein höchstes Gut oder die Seligkeit für sich will oder begehrt. Möge uns der Bischof v. Meaux nichts dazudichten. Alles deswegen, darüber hinaus nichts. Was auch immer das Wollen sein mag, es begehrt immer nur das Gute, es ist nichts anderes als die Begierde nach dem Guten. Das ist der ganze Grund des Liebens und daher das ganze Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 17, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 58; Edition von 1845, Bd. 9, S. 452.
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Wesen des Liebens; anders kann es nicht erklärt werden. Alles was »über dieses hinaus« und nicht »wegen diesem« ist, ist offenbare Illusion. Und man soll uns nicht mit dem Namen des Wohlwollens täuschen. Man kann niemandem wohlwollend sein, wenn man dazu nicht aus irgendeinem Grund des Liebens bewegt wird. Jedoch ist die zu erwerbende Seligkeit der ganze Grund des Liebens. Daher kann man niemandem wohlwollend sein, außer aus diesem einzigen Grund, sich selbst zu beglücken. Kein Grund des Wohlwollens kann anders erklärt werden. Jedes Gute, das wir für andere Menschen und für Gott selbst wollen, das wollen wir gänzlich »deswegen«, und nichts »darüber hinaus«, nämlich um uns zu beglücken. Durch dieses Wollen oder Verlangen nach unserer privaten Seligkeit bilden sich alle übrigen Wünsche, durch welche wir sowohl anderen Menschen als auch Gott selbst wohltun wollen. Daher sagt er, dass selbst das Wohlwollen Gott gegenüber hiervon ausgehe und hierhin zurückfalle, von hier gebildet werde und hier sich auflöse. Natürlich sind die Menschen, die Vergnügungen lieben, den Objekten gegenüber wohlwollend, von denen sie beglückt zu werden hoffen. Sie wollen den herrlichen Geschmack von Wein und Speisen, ein weiches Bett, elegante Kleidung, die Lieblichkeit des Landes, die Früchte der Erde, gesunde Luft, heitere Freunde und ein freundliches Gemüt. Das alles aber wollen sie »deswegen«, nichts »darüber hinaus«, um darin zu schwelgen und glücklich leben zu können. So ist auch der Mensch, nach Meinung des Bischofs v. Meaux, Gott gegenüber wohlwollend, ja er will sogar das höchste Gut, das er gerade hat, für jenen, aber gänzlich »deswegen« und nichts »darüber hinaus«, damit er in diesem höchsten Gut selbst glücklich ist. Gott aus einem anderen Grund zu lieben, sei offenbare Illusion. Aus diesem Verlangen entspringt selbst das Wohlwollen Gott gegenüber; wie ein Gefräßiger den zu essenden Speisen gegenüber wohlwollend ist, so waren die Apostel, so die Gottesmutter, so selbst der Herr Jesus Christus in seinem menschlichen Begehren Gott wohlwollend, aus diesem einzigen und ganzen Grund der Wertschätzung heraus, nämlich dass sie in ihm als dem größeren Gut die eigene Seligkeit für sich begehrten. Diese ist für alle, ohne Ausnahme, der ganze Grund des Liebens. Das ist das höchste Ziel, weswegen alle alles wollen. Das aber zeigt auf wenigen Seiten deutlich, unter welchem Hohn der ganzen Kirche er die dreifache Liebe, gleichsam sich selbst verbessernd, bestimmte, wie sowohl vor der Herausgabe der »Verschie37 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
denen Schriften« 28, als auch in den »Verschiedenen Schriften« selbst, als auch lange nach der Herausgabe jenes Werkes, als auch in der »Antwortschrift auf vier Briefe des Erzbischofs v. Cambrai«, als auch in den »Anmerkungen« 29 etc. offen vor Augen liegt. Dass die erste, rein wohlwollende Liebe in seiner Lehrmeinung offenbar eingebildet ist und deswegen durchaus nicht höher als die zweite und auch nicht rechtfertigend ist, steht schon vollkommen fest. Die zweite will Gott allein für sich; aber sie ist nichts anderes als der Wunsch, Gott für sich zu gewinnen und deswegen besteht sie gänzlich in der Begierde nach Gott: Sie ist nichts anderes als die bloße Begierde nach dem einen Gott. Sie schließt nichts »darüber hinaus« ein, es sei denn »wegen dieser« [der Seligkeit]. Auf welche Weise aber die dritte Liebe lasterhaft und ungeordnet ist, wird er selbst niemals ausführen. Sie ist nur auf den Lohn gerichtet, sagt er. Hat er schon vergessen, dass dies der ganze Grund des Liebens ist, dass alle alles deswegen wollen, nämlich wegen der Seligkeit, die der alleinige Lohn ist, und ausschließlich deswegen? Aber in diesem Lohn, sagt er, besteht das höchste Ziel. Ist nicht dieser Lohn die vereinigte Seligkeit, welche der Bischof v. Meaux als unteilbar annimmt? Dieser Lohn oder die Seligkeit sei vollendend, wie er selbst sagt, und deswegen liege jegliche Vollendung in der Begierde nach jener. Sie ist das höchste Ziel, weswegen alle alles wollen. 30 Hat er schon vergessen, was er so sehr betont hatte? Sündigt etwa jemand, wenn er das höchste Ziel im Lohn oder in der Seligkeit festsetzt, welche nach einmütigem Konsens aller Scholaren das höchste Ziel sei? Sündigt etwa jemand, wenn er Gott für sich wünscht oder begehrt, deswegen, weswegen alle alles wollen und darüber hinaus sie nichts wollen? Aber, so der Bischof v. Meaux, sie sei nur auf den Lohn gerichtet. Die Liebe der Hoffnung ist auch nur auf den Lohn gerichtet, welcher Gott selbst ist. Der Lohn ist der, über welchen dem Abraham gesagt wurde: »Und ich werde dein allzu großer Lohn sein.« 31 Das aber begehrt jene Liebe getrennt von der Ehre Gottes. Wer aber könnte in Gott allein glückselig sein wollen, wobei seine Ehre abgetrennt ist? Diese beiden sind untrennbar, wie »Divers écrits ou memoires sur le livre intitulé Explication des maximes des saints.« 29 D. h. in franz. Sprache: »Remarques sur la Réponse de M. de Cambrai à la Relation sur le Quiétisme«. 30 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 9, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 31. 31 1. Mose 15,1. 28
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der Bischof selbst sagt: So eng berühren sie sich 32, dass sie nicht getrennt werden können. Wer in Gott allein glücklich sein will, schließt die Ehre Gottes am wenigsten aus, wenn er nicht völlig rasend ist. Wenn aber jemand so verrückt wäre, dass er in Gott glücklich sein wollte ohne jede Ehre Gottes, dann wäre diese Liebe ungeordnet, nicht aufgrund ihrer Natur, nur Gott zu begehren, sondern aufgrund der beabsichtigten Verachtung der Ehre Gottes. Jene Verachtung aber wäre etwas Äußerliches und dieser reinen Begierde Hinzugefügtes. Die bloße Begierde nach Gott an sich aber abstrahiert von der hervortretenden oder nicht hervortretenden Ehre Gottes. So schließt auch in gleicher Weise die vor dem Einfluss der Caritas ungeformte Hoffnung die Ehre Gottes weder ein noch aus, sondern verhält sich abstrakt. Genau dasselbe muss man über jene Liebe der reinen Begierde sagen. Nichtig aber und gehaltlos ist deshalb jener Schein der zweiten und dritten Liebe. Wenn sie aufhörte, zu täuschen, wäre die dreifache Liebe eine einzige und ganz einfache. Denn, wie er selbst öffentlich predigt, ist die reine Liebe fromm, keusch und uneigennützig, wenn sie nur bis dorthin gelangt, nämlich dass sie Gott allein als Lohn begehrt. 33 Wenn er aber sagte, diese lasterhafte Liebe werde dadurch, dass sie etwas anderes als die in Gott allein zu erlangende wahre Seligkeit begehre, lasterhaft; nicht genau aus dem Grund, dass sie die Liebe des bloßen Begehrens ist, sondern aufgrund von etwas Hinzugefügtem; dann wollte er mit der Annahme einer solchen lasterhaften Liebe den Leser verspotten. Das aber lehrt er als unumstößlich, dass die reine Caritas nur soweit in ihrer Reinheit gelangen kann, dass sie die Begierde nach Gott allein, gleichsam als Lohn sei. So überragt die erste und zweite »meauxsche« Liebe keineswegs die dritte oder niedrigste. Mit welcher ehrlichen Gesinnung also rühmt er sich, diesen Widerruf auszusprechen, um sich mir als Beispiel der Niedrigkeit hinzustellen? »Wenn ich darin nicht gefehlt zu haben schiene«, sagt er 34, »würde ich mich nicht verbessern. Aber die Schuld wäre größer, wenn ich nicht anderswo gesagt hätte, was hier fehlt. Wie dem auch sei, ich wünsche nichts als Verbesserung. Ich wäre glücklich, wenn ich durch
Ebd., Abschnitt 18, S. 60. Bossuet, Additions à l’Instructions sur les états d’oraison, Abschnitt 7, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 486. Edition von 1845, Bd. 9, S. 444. 34 Bossuet, Avertissement des divers Ecrits, Abschnitt 18, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 372. 32 33
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diese kleinen Beispiele diejenigen, welche größere geben, anregen könnte.« Wie geheuchelt und spöttisch er das gemeint hat, zeigt sich deutlich darin, dass er immer wieder betonte: »Man darf nicht annehmen, die formale Seligkeit (mag sie auch eine geschaffene Gabe sein), d. h. der Genuss Gottes, könne auf natürliche Weise gewünscht werden; denn diese Gabe ist übernatürlich, deren Liebe, wie auch die Liebe Gottes, nur von der Gnade inspiriert werden kann.« 35 Was ist abwegiger als diese neue Theologie? Was weicht mehr von der wahren ab? Diese Gabe, sagt er, ist übernatürlich. Daher kann sie von Natur aus und ohne die Inspiration der Gnade nicht gewünscht werden. Diese Folgerung war den Schulen bis dato unbekannt. Ist etwa nicht die Gabe des Heiligen Geistes, Wunder zu vollbringen, übernatürlich? Und doch hat Simon der Magier diese übernatürliche Gabe mit natürlicher, ja sogar verdorbener und verabscheuenswürdiger Begierde gewünscht: daher ist es völlig falsch, dass die übernatürliche Gabe nicht auf natürliche Weise gewünscht werden kann. Dazu, dass jemand übernatürliche Gaben wünscht, wird verlangt, dass er diese kennt; er kann sie aber nur aus dem Glauben heraus kennen. Aber, ist das Licht des Glaubens auch Voraussetzung, um das Übernatürliche zu erkennen, so kann doch jeder beliebige dieses auch auf natürliche und lasterhafte Weise anstreben. O Bischof v. Meaux, du bist Kirchenlehrer in Israel und weißt das nicht? So untergräbst du die ganze Theologie von Grund auf! Selbst so im Irrtum tadelst du mich aufs Heftigste als Irrenden. Man darf nicht annehmen … 36, sagst du. Im Gegenteil, man darf das sehr wohl annehmen, und es ist sogar Frevel, es nicht anzunehmen. War es nötig, den Quietismus so anzugreifen? So anzugreifen, heißt verstärken. Als ob ein absurder und gottloser Irrtum nur durch andere absurdere Irrtümer überwunden werden könnte. Du zerreißt die Doktrin der gesamten Kirche unter dem falschen Namen des »Quietismus«. Aber nicht einmal darin stimmst du mit dir selbst überein. Hast du etwa nicht die dreifache Gottesliebe bestimmt? Hast du etwa nicht bekannt, dass sie ausdrücklich bestimmt werden müsse? Du hast gesagt: Wenn ich darin nicht gefehlt zu haben schiene, würde ich mich nicht verbessern … Ich wünsche nichts Bossuet, Relation sur le Quiétisme, VII, Abschnitt 9, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 627. Edition von 1845, Bd. 9, S. 326. 36 »Man darf nicht annehmen, die formale Seligkeit, d. h. der Genuss Gottes, könne auf natürliche Weise gewünscht werden.« 35
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als Verbesserung etc. Du hast also geirrt und wolltest dich verbessern, weil du diese dreifache Liebe nicht ausdrücklich genug bestimmt hast. Es ist gut, möge es nur wahre und beständige Reue sein. Du lehrst also ausdrücklich: »die Liebe des reinen Begehrens, wodurch Gott nicht geliebt wird, außer aus dem Motiv des Nutzens und einzig im Hinblick auf den Lohn … Jene dritte Liebe, welche man die des reinen Begehrens nennt, … die nur auf den Lohn gerichtet ist, sodass sie darin das höchste Ziel setzt, während sie zum Schaden der Ehre Gottes lasterhaft und ungeordnet ist. Jene Liebe ist insofern die Liebe zu Gott, als sie Gott nur aus dem Motiv des Nutzens liebt. Sie ist lasterhaft und ungeordnet.« Also wird zugestandenermaßen eine Liebe zu Gott als lasterhaft und ungeordnet aufgestellt. Ich frage dich, ist jene lasterhafte und ungeordnete Liebe übernatürlich und kann nur von der Gnade inspiriert werden? Inspiriert die Gnade etwas Lasterhaftes und Ungeordnetes? Warum also lehrst du mit solcher Zuversicht, mit solch harten Worten gegen mich, dass man eine geschaffene Gabe, wenn sie übernatürlich sei, nicht durch natürlichen Affekt wünschen könne? Es ist doch der Schöpfer selbst, von dem du behauptet hast, er könne durch lasterhaften und ungeordneten Affekt geliebt werden. »Die Liebe dieser Gabe«, sagst du, »wie auch die Gottesliebe kann nur von der Gnade inspiriert werden.« Ist nicht etwa jene dritte Liebe des bloßen Begehrens eben diese, womit Gott nur aus dem Motiv des Nutzens geliebt wird? Also ist es falsch, dass die Gottesliebe nur von der Gnade inspiriert werden kann. Gott wird lasterhaft und ungeordnet geliebt; daher wird er durch natürlichen Affekt auch ohne Inspiration durch die Gnade geliebt. Daher liegt offen vor Augen, dass du immer in Vorurteile zurückfällst. Du hast jene Art der Sünde verlacht, derer sich niemand jemals schuldig bekannt hätte: nur widerwillig hast du diese Art der Sünde zugegeben: dies nur, um die Lehrmeinung der Schule zu beschwichtigen. Den als Beispiel gegebenen Widerruf hast du selbst in Spott gewandelt. Was du mit der einen Hand errichtet hast, richtest du mit der anderen zugrunde. Die späteren Schriften widerrufen absolut die früheren. Man glaubte bei dir schon völlig, dass sowohl die Gottesliebe als auch das Verlangen nach einer geschaffenen Gabe nur von der Gnade Gottes inspiriert werden könne. Was aber von der Gnade inspiriert wird, ist weder lasterhaft noch ungeordnet. Daher könne es keine Liebe Gottes geben, und auch nicht die der formalen Seligkeit, die lasterhaft ist; keine, die nicht übernatürlich sei, da sie ja von der Gnade inspiriert sei. Offenkundig hältst du den Leser zum Narren. 41 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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O, wie weitaus glänzender und klarer hat Sylvius 37 die Sache erklärt. »Man darf«, sagt er 38, »Gott nicht so wegen des Lohns lieben, dass das ewige Leben entweder als gänzlich letztes Ziel unserer Liebe bestimmt werde oder dass wir Gott nur so wegen des ewigen Lebens lieben, dass wir ihn anders nicht lieben würden. Erstens freilich, weil ja Gott einfach unser letztes Ziel sein muss. Mag aber auch unser ewiges Leben in Gott bestehen, als dem Objekt der Seligkeit, so ist dennoch die Schau, der Genuss und das Erfassen Gottes nicht Gott, sondern etwas Geschaffenes. Zweitens aber, weil wir ja, da Gott in höchstem Maße gut ist und um seiner selbst willen in höchstem Maße liebenswert, ihn um seiner selbst willen lieben müssen, auch wenn uns aus der Liebe zu ihm kein Vorteil erwächst. So muss daher Gott geliebt werden, dass wir sowohl die Liebe wie auch andere gute Werke üben, freilich wegen der Seligkeit, gleichsam dem Ziel dieser Werke, aber jene unsere Seligkeit sollen wir darüber hinaus auf Gott hin ausrichten, so wie einfach auf das letzte Ziel; so gestimmt wollten wir dann, auch wenn keine Seligkeit zu erwarten wäre, ihn trotzdem in gleicher Weise lieben.« Erneut dasselbe wieder zu behaupten, verbietet dem Bischof v. Meaux die gesamte Argumentation dieser Werke. Sagt er [Sylvius] nicht: 1. das ewige Leben, oder die Seligkeit, sei nicht einfach das letzte Ziel? 2. Gott sei nicht die Seligkeit, sondern das Objekt der Seligkeit? 3. die Schau, der Genuss, das Erfassen Gottes sei nicht Gott? 4. diese Gabe Gottes, nämlich irgendetwas Geschaffenes, sei ein Mittel, sich darüber hinaus auf Gott auszurichten, so wie auf das letzte Ziel an sich? 5. Gott wäre gleichermaßen zu lieben, auch wenn aus dem Erwerb der Seligkeit kein Grund des Liebens entstünde? Wäre auch nach Aufhebung des ganzen Grundes für die Liebe dasselbe Objekt gleichermaßen zu lieben? Bleibt dann, nachdem das Ganze aufgehoben wurde, noch irgendetwas diesem Ganzen Gleiches übrig? Aber dagegen ruft der Bischof v. Meaux laut, niemand könne Franciscus Sylvius (1581–1649), katholischer Theologe, Kommentator der Werke Thomas v. Aquins. 38 II, II, q. 27, art. III. 37
42 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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sich soweit heraushalten, dass er sich sogar in einem beliebigen Akt fernhält von der Begierde nach Seligkeit, derentwegen alle alles wollen. 39 Er ruft laut: Wäre aber Gott nicht das ganze Gut des Menschen, oder – mit anderen Worten – Seligkeit, dann hätte der Mensch keinen Grund, weshalb er lieben sollte. 40 Er ruft laut: Wenn das Motiv der Seligkeit beseitigt wäre, wären wir Gott nicht unterworfen, bei dem dann auch weder unsere Seligkeit noch unser Unglück läge. 41 Er ruft laut, dass alle deswegen alles wollen und darüber hinaus nichts. 42 Da hielt ich ihm dieses Dilemma vor: die Ehre Gottes ist etwas Anderes. Wollen etwa alle alles, auch die Ehre Gottes, »deswegen«, nämlich wegen der Seligkeit? Oder die Seligkeit selbst wegen der Ehre Gottes? Was sagt der Bischof v. Meaux? »Hoffst du«, sagt er 43, »dass uns diese Frage bange macht? Mit einem Wort ist geantwortet: Diese beiden sind untrennbar.« O unziemliche Antwort, weil er spottet, nicht antwortet, weil er die Frage verwickelt und fromme Ohren beleidigt! In der Tat, hätte er seine Meinung wirklich geändert, hätte er ernsthaft die dreifache Liebe zugegeben und namentlich jene bloße und lasterhafte Begierde, sich in Gott allein Seligkeit zu verschaffen, hätte er ohne Trug den Widerruf ausgesprochen, weshalb bleibt dann ein Zweifel haften? Weshalb bekräftigt er nicht ununterbrochen, dass es nicht erlaubt ist, alles »deswegen«, nämlich wegen der Seligkeit, zu wollen und nichts »über diese hinaus«; ja sogar, dass wir die Seligkeit begehren müssten wegen der Ehre Gottes, und dass wir »darüber hinaus« wollen müssten, nämlich über die Seligkeit hinaus, diese letztendlich hinordnend auf die Ehre Gottes? So würde er, der auf seinem Standpunkt beharrte, sich leicht entledigen. So würde er durch meine Frage nicht in die Enge getrieben, wenn er diese bestimmte und deutliche Antwort parat hätte. Und der Gegner? Es verdrießt ihn, dass ihm diese Frage gestellt wird, und nicht grundlos. Mich aber beschämt aus einem anderen, entgegengesetzten Grund diese Frage. Denn was ist unseres Gottes weniger würdig als zu fragen, ob irgendetwas Geschaffenes, das in dem Handelnden selbst existiert, auf den Schöpfer zurückgeführt werden muss. Daran zu zweifeln wäre sündhaft und allzu leichtsinnig. Was ist der wahren Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 9, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 31 u. 32. 40 Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 431. 41 Bossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 523. 42 Ebd., Réponse à quatre lettres de M. de Cambray. 43 Ebd., Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 54. 39
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Über das Formalobjekt der Caritas
Frömmigkeit fremder als diese beiden, den Schöpfer und etwas Geschaffenes, das in der Kreatur verbleibt, so zu verbinden, dass zugleich beide als gleich wesentliche Teile das letzte Ziel bestimmten? Mit einem Wort, sagt er, ist beantwortet, dass diese beiden untrennbar sind, etc. Also wäre Gott nicht liebenswert, wenn er davon getrennt wäre, Seligkeit zu spenden. Gott kann sich aber seiner Kreatur nicht als nicht liebenswert erweisen: daher konnte Gott niemals eine verständige Natur schaffen, außer unter der Bedingung, sie für den Vorteil der Seligkeit ihn lieben zu lassen, und aus seiner Gabe wird ihr verliehen, was ihr aufgrund seiner alleinigen absoluten Vollkommenheit fehlt. Von der zu verleihenden Seligkeit kann er nicht getrennt werden, weil er getrennt keineswegs geliebt werden müsste. In diesem äußersten Dilemma so zu spotten bedeutet, den Leser zu verspotten und schweigend zu behaupten, dass Gott dem Menschen niemals uneigennützig die Gabe seiner Anschauung zugestehen konnte. Aber es geht um die Hauptsache: Die Frage ist, ob die Caritas, welche gottlose Menschen in Kinder Gottes verwandelt, die versprochene Seligkeit darüber hinaus zu Gott zurückführt oder nicht. Das ist das wahre Leben des Menschen, dies gehört allen Menschen zu; dies ist Quelle und Ursprung der gesamten Kultur, dass nämlich der Mensch, wie der hl. Bernhard 44 sagt, »nicht Glückseligkeit, nicht Ehre, nicht irgendetwas Anderes gleichsam aus privater Selbstliebe begehrte.« Der Akt, wodurch die höchste und vollendetste Gottesgabe zu Gott selbst zurückgeführt wird, ist etwas besonders Hohes in der Kultur. Wenn dieser fehlt, fehlt alles. Dieser Akt, wodurch das wahrhaft letzte Ziel erreicht wird, ist einzigartig. Durch diesen Akt allein werden alle übrigen belebt und nehmen Gestalt an: dies ist der Richtweg der gesamten Religion. Sag, sooft du willst, »diese zwei sind untrennbar«; ob du willst oder nicht, das weniger Vollkommene muss zu dem Vollkommenen zurückgeführt werden. Was zögerst du vergeblich und sträubst dich, zu sagen, was schon längst hätte gesagt werden müssen? Es ist hart für dich, einzugestehen, etwas Geschaffenes sei zum Schöpfer letztlich hinzuordnen, und daher werde die Seligkeit ausschließlich ein Mittel, nicht einfach das höchste Ziel genannt. Erkenne bitte, dass dieser einfache Akt in dieser Schärfe und ohne eine Zugabe genommen wurde, in dem der Wille die Seligkeit wie ein Mittel auf die Ehre Gottes, die darüber hinausgeht, zurück44
Bernhard von Clairvaux, Sermones de diversis, VIII, Abschnitt 9.
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Der gewaltige Irrtum des Bischofs
führt. Er selbst sagte: »Zwar ist es wahr, dass die Ehre Gottes in sich genommen die Seligkeit des Menschen übertrifft, und dennoch ist es unerträglich, dass diese beiden getrennt werden könnten.« 45 So aber ließ ich nicht ab: Wenn die Ehre Gottes die Seligkeit übertrifft; wenn sie das letzte Ziel ist, müssen sie ein wenig getrennt werden, da sich die eine auf die andere bezieht wie auf ein höheres Ziel. Ohne Zweifel ist jener einfache Akt, von dem ich fordere, dass du ihn mit aufrichtigen Worten anerkennst, für den Menschen möglich, wobei Seine Gnade die menschliche Schwachheit unterstützt: ja, er ist dem Menschen sogar wesentlich. Dies ist, wie der hl. Thomas sagt, etwas dem Menschen Naturgemäßes 46, nämlich dass er all das Seine und auch sich selbst auf Gott bezieht. Du aber willst, dass nichts darüber hinaus Liegendes in diesen ganz einfachen Akt dringt: Sonnenklar ist, dass jener Akt, wodurch die Seligkeit wie ein Mittel zu ihrem höheren Ziel ganz einfach zurückgeführt wird, nicht das Motiv der Seligkeit einschließt; denn er ist ja schon höher als die Seligkeit selbst, und gelangt, diese überschreitend, zum Ziel der Seligkeit selbst. Daher ist in diesem Akt Seligkeit, die ihren einzigen Sinn in der Beschaffenheit des Mittels hat. Keinesfalls kann sie die Beschaffenheit des Ziels oder Motivs haben. Sagt nicht der Bischof v. Meaux, dass ein höheres Ziel als die Seligkeit aus dem Motiv der Seligkeit angestrebt wird? Meint er damit nicht, dass das Mittel das höhere Ziel des höchsten Zieles sei? So viele Beispiele, so viele Argumente gibt es dafür, dass das Mittel sich nicht aufgrund des Motivs des Mittels auf ein höheres Ziel beziehen kann: Der beste Bürger, der seine Reichtümer auf die Zierde des Staates bezieht, bringt diesen Akt der Beziehung nicht aus dem Motiv des Reichtums selbst hervor. Wer eine Mahlzeit besonnen auf die Ernährung des Körpers bezieht, der bringt diesen Akt der Beziehung nicht aus dem Motiv der herrlichen Mahlzeit hervor. Wer alle Annehmlichkeiten des Lebens auf sich bezieht, wie auf das höchstes Ziel seiner selbst, bringt diesen Akt der Beziehung nicht hervor aus dem Motiv oder Ziel der Annehmlichkeiten. Das Mittel, das im Akt in Beziehung gesetzt wird, ist schon vorübergegangenes Verlangen und deswegen ordnen wir jedesmal die Seligkeit wie ein Mittel auf Gott wie auf das letzten Ziel hin; dann begehren wir bestimmt etwas jenseits der Seligkeit ohne das Verlangen nach Seligkeit. Deshalb geRéponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 54 f.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 451. 46 Sum. theol. I, q. 109, art. 3. 45
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Über das Formalobjekt der Caritas
schieht bei der Verfolgung dieser Ziele nichts wegen der Seligkeit, alles über diese hinaus. Das letzte Ziel aber wird niemals berührt, außer durch diesen Willensakt außerhalb der Seligkeit und darüber hinaus. Dieser Akt ist höher als das Verlangen nach Seligkeit, und wenn er unmittelbar das letzte Ziel berührt, ist das wie das Allerheiligste. Das ist das verborgene Leben des Herzens mit Christus in Gott. Alles, was an Tugend ohne jenen hervorleuchtet, ist formlos. Wenn er ausbleibt, bleibt der Mensch, der nicht liebt, mit seinem Bewusstsein im Tode verschlossen. 47 Ob aber diese Beziehung der zu erlangenden Seligkeit auf das letzte Ziel in einem vielfältigen oder einfachen Akt geschieht, ist hier gleichgültig: dass es nur geschieht, wie auch immer es geschieht, darauf allein ist mein ganzes Interesse gerichtet. Jenes Wollen, wodurch sich das Mittel auf das Ziel bezieht – soweit diese Beziehung oder Hinordnung präzise ist –, kann das Mittel als Motiv oder Ziel keineswegs einschließen. Nun aber fragt der Bischof v. Meaux, ob jenes Wollen häufig sei? Die Antwort lautet: Sooft wir wollen, so oft berühren wir das letzte Ziel unmittelbar; oder sooft bezieht sich alles Geschaffene auf den Schöpfer. Er könnte sagen, dieses Wollen, frei von dem Motiv der Seligkeit, sei offenbare Illusion; die Wahrheit ruft, das sei das Wesen unseres inneren Lebens.
III. Der aus dem Werk des heiligen Thomas ausgewählte Einwand wird gelöst Der Bischof von Meaux hat versucht, sich so auf den hl. Thomas zu beziehen. »Diese Worte«, sagte er 48, »wurden vom heiligen Gelehrten gesprochen: ›Gott wird für jeden der einzige Grund des Liebens sein, weil Gott das einzige Gut des Menschen ist.‹ So ist dies das wesentliche Motiv unserer Liebe, dass Gott unser Gut ist, und zwar gänzlich. Nun geht es hier sicherlich um die caritative Liebe. Diese Wahrheit ist so klar, dass der hl. Thomas sie durch diese Umkehrung der Voraussetzung bekräftigt: Gesetzt den Fall, Gott wäre nicht das ganze Gut des Menschen, dann hätte dieser keinen Grund zu lieben. So ist, nach dem hl. Thomas, der präzise und formale Grund zu lieben der,
1. Brief des Johannes, Kapitel 3, Vers 14. Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 16, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 55; Edition von 1845, Bd. 9, S. 451.
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Der aus dem Werk des heiligen Thomas ausgewählte Einwand wird gelöst
dass er das ganze Gut des Menschen ist, weil er wahrhaftig das ganze Verlangen des Menschen sättigt und aufsaugt.« Bevor dieser Einwand direkt gelöst wird, muss, wie mir scheint, angemerkt werden: 1. Nichts von dem ist anzuerkennen, was er allzusehr gutheißt. Wäre das aber in diesem Sinn, wie es der Gegner darlegt, zu verstehen, würde ganz offensichtlich folgen, dass wirklich überhaupt kein Grund zu lieben anerkannt werden kann, außer dass wir Einzelnen unsere private Seligkeit in Gott begehren müssen. Gott wäre dann, von sich aus, und ohne den für ihn selbst zufälligen Entschluss, Seligkeit zu spenden, gänzlich unliebenswert, und müsste deswegen keineswegs geliebt werden. Unterstellt man dies, dann wären alle Heiligen, die anders gedacht hatten, von Moses und Paulus bis zum hl. Franz von Sales wahnsinnig gewesen und hätten gegen das offenbare Wesen des Willens und der Liebe gelogen. 2. Es würde folgen, dass keine Liebe angenommen werden könnte außerhalb der bloßen Begierde nach Seligkeit. Denn niemand kann lieben außerhalb des gänzlichen Grundes für das Lieben. Wenn daher der alleinige Grund des Liebens wäre, Seligkeit für sich zu wünschen oder zu begehren, dann wäre alles, was in der Liebe nicht Begehren oder Verlangen wäre, nicht Liebe. So widerruft der Bischof v. Meaux den selbst ausgesprochenen Widerruf offen: Es reut ihn die Reue. Aber wir wollen uns beeilen, den Einwand direkt zu lösen. In den apologetischen Schriften habe ich beobachtet, dass der hl. Thomas dort nicht über das Motiv der Caritas gegenüber Gott, sondern nur über die Ordnung der Caritas, in der sich die Seligen im Himmel gegenseitig lieben, gesprochen hat. Das aber ist der Titel das Artikels: »Bleibt die Ordnung der Caritas in der ewigen Heimat bestehen?« 49 Der hl. Thomas fragt, ob die Seligen sich gegenseitig im ewigen Leben so lieben, wie sie einander im sterblichen Leben geliebt haben. Er antwortet, es werde dieselbe Ordnung der Caritas bewahrt, »da ja das Wesen durch die Gnade nicht aufgehoben, sondern vollendet wird. Die Ordnung der Caritas aber, sagt er, geht, wie vorher dargelegt, aus dem Wesen selbst hervor. Alles liebt naturgemäß mehr sich selbst als andere. Daher wird diese Ordnung der Caritas in der ewigen Heimat bestehen bleiben.« Daraus folgert er: »Jeder glückselige Mensch wird mit Rücksicht auf das Gute, welches einem anderen gewünscht wird, einen besseren Nächsten mehr als sich selbst lieben. Mit Rücksicht auf die Intension in der Tätigkeit der Liebe seitens des 49
Sum. theol. II, II, q. 26, art. 13.
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Über das Formalobjekt der Caritas
liebenden Subjekts aber wird er sich selbst stärker als den Nächsten lieben.« Deswegen bekräftigt er, dass die einzelnen Seligen aufgrund der Ordnung ihrer eigenen Natur sich selbst stärker lieben als alle übrigen Seligen, dass sie aber hinsichtlich der Art des Guten, das sie erhoffen, »die Besseren mehr lieben als sich selbst, die weniger Guten aber weniger. Es wird nämlich, sagt er, jeder Selige irgendjemanden haben wollen, soweit es ihm nach der göttlichen Gerechtigkeit zustehe, wegen der vollkommenen Übereinstimmung des menschlichen Willens auf den göttlichen … Dann wird der Wille jedes einzelnen innerhalb dessen bestehen, was durch göttliche Fügung bestimmt ist … Die gesamte Ordnung der Liebe der Seligen wird durch den Vergleich mit Gott betrachtet werden, sodass jener mehr geliebt und von jedem für sich näher gehalten wird, der Gott näher ist. Dann wird nämlich die im gegenwärtigen Leben notwendige Vorsorge aufhören, da ja jeder, nach Notwendigkeit, mehr für die ihm Verbundenen sorgen muss als für Fremde. Deshalb liebt der Mensch in diesem Leben, aufgrund der Ausrichtung der Caritas selbst, mehr etwas ihm Verbundenes, dem er die Caritas eher gewähren muss. Dennoch wird es in der ewigen Heimat so sein, dass jemand die ihm Verbundenen auf mehrere Arten liebt. Denn nicht werden aus dem Geist des Seligen die ehrenhaften Gründe für die Liebe weichen. Aus allen diesen Gründen wird unvergleichlich jener Grund der Liebe hervorragen, welcher auf der Nähe zu Gott beruht.« Nachdem er dies aufgestellt hat, löst er so den dritten Einwand auf: »Man muss sagen, dass für jeden Gott der ganze Grund des Liebens sein wird, weil Gott das ganze Gut des Menschen ist. Gesetzt den unmöglichen Fall, Gott wäre nicht das Gut des Menschen, dann hätte dieser keinen Grund zu lieben, und deshalb muss der Mensch in der Ordnung der Liebe nach Gott am meisten sich selbst lieben.« Dadurch steht fest, dass die Ordnung der Nächstenliebe von Gott so eingerichtet wurde, dass die einzelnen Seligen von Natur aus sich stärker lieben als alle übrigen Seligen; dass sie den Seligen aber, die vollkommener sind als sie, aufgrund der Gerechtigkeit mehr des Guten oder größere Seligkeit wünschen. Diese Ordnung der Liebe der Seligen wird deswegen unerschütterlich sein, weil jene glücklichen Seelen sich niemals verschiedenartig hier- oder dorthin bewegen, je nachdem verschiedene Arten des Guten, des wahren oder falschen, erscheinen. Sondern sie werden in diesem Zustand der ewigen Seligkeit unabänderlich zu einer Art des höchsten Gutes, nämlich zu Gott allein, hingezogen. Die Seligkeit ist freilich für jene nicht der einzige 48 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Der aus dem Werk des heiligen Thomas ausgewählte Einwand wird gelöst
Grund des Liebens, wie der Bischof von Meaux glaubt, sondern sie ist die Wirkursache für jene Beständigkeit in der einen Motivation zur Liebe. In diesem vergänglichen Leben kommen verschiedene Gründe des Liebens vor. Aber in der ewigen Heimat zieht der höchst gute und daher seligmachende Gott jegliches Verlangen des Menschen so sehr auf sich, dass auf ewig die übrigen Gründe des Liebens verblassen, und nichts mehr außer Gott mehr oder weniger geliebt werden kann, außer aufgrund dieser Ordnung, nämlich durch Vergleich zu Gott oder aufgrund der Nähe zu Gott. Die Seligkeit ist nicht die Finalursache, sondern die Wirkursache für die vollkommenste Einhaltung jener von Gott eingesetzten Ordnung. Das geschieht aus der vollkommenen Übereinstimmung des menschlichen Willens auf den göttlichen … Dann wird der Wille jedes einzelnen innerhalb dessen bestehen, was durch göttliche Fügung bestimmt ist. Wäre aber, was unmöglich ist, Gott nicht das ganze Gut des seligen Menschen, d. h., würde er diese Seelen nicht glückselig machen, dann gäbe es für sie nicht mehr jenen unverrückbaren und einzigen Grund des Liebens, weil verschiedene Arten des Guten, die jetzt uns täuschen, dann auch diese selbst täuschen würden. Was aber steht der Ansicht des hl. Thomas mehr entgegen als jenes Streben oder Verlangen nach fortlaufender Seligkeit, wodurch allein die Seligen mit Gott eng verbunden wären? Durch den hl. Thomas steht fest, dass einzelne Selige die Besseren mehr lieben als sich selbst, in der Hinsicht, dass jeder beliebige Selige irgendjemanden haben will, weil es ihm zusteht. So wünschen die niedrigeren Seligen für die höheren größere, für sich selbst aber geringere Seligkeit. Möchte der Bischof v. Meaux etwa sagen, diese werden nur durch das Motiv der Seligkeit dazu veranlasst, für sich eine geringere, für die anderen eine größere Seligkeit zu wünschen? Wer will jemals, dass durch die Liebe zur Seligkeit die Seligkeit selbst im Vergleich zu anderen verringert werde? Sicherlich geht dieser Affekt nicht aus der Liebe zu privater Seligkeit, sondern, weitaus höher, allein aus der Gerechtigkeitsliebe hervor. Dieses eine Argument würde genügen, um gerade mit diesem Einwand zu zeigen, wie sehr der hl. Thomas mit dem Bischof von Meaux in Widerspruch steht. Ich glaube, auch dies hinzufügen zu müssen: Denn dann, sagt der hl. Thomas 50, nämlich in der ewigen Heimat, wird die Seele in der Liebe Gottes niemals irren. Ist es nicht das, 50
Thomas v. Aquin (bzw. Pseudothomas), Opusculum LXIII, Kap. II, 2.
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Über das Formalobjekt der Caritas
was wir schon von ihm gehört haben: nämlich dass der vollkommen gute Gott dem menschlichen Willen dann als alleiniger Grund des Liebens entgegentritt? Aber damit niemand die Wirkursache dieser Beständigkeit im Lieben mit der Finalursache vermische, sagt er folgendes 51: »Gott erkennt man um Gottes willen, denn das Ziel der Erkenntnis ist er selbst. Mag man auch aus jener Erkenntnis die ewige Seligkeit empfangen, … jene Seligkeit empfängt er [der Mensch] letztlich nicht zu seinem Nutzen, sondern zur Offenbarung der Ehre Gottes.« Wenn man fragt, welcher Art dieser Grund sei, der die Wünsche der Seligen hervorruft, sodass sie Gott erkennen und ihn von Angesicht zu Angesicht schauen wollen, antwortet der Bischof von Meaux: Die Seligkeit ist für jeden der gänzliche Grund des Liebens, und daher auch der Grund, jene Erkenntnis zu erlangen. Dagegen aber spricht der hl. Thomas, die Seligkeit werde letztlich nicht zum Nutzen der Seligen empfangen. Daher wird jene Seligkeit empfangen wegen des Zieles, welches höher ist als die Seligkeit selbst, und welches den Nutzen jener, oder das relative Gute, überragt. Was aber gänzlich höher ist als das Verlangen nach Seligkeit, wird durch den Wunsch nach Seligkeit selbst nicht bewirkt. Die Seligkeit, soweit sie privater Nutzen ist, ist nicht das höchste Ziel, sondern das Mittel, das sich notwendigerweise auf das höchste Ziel bezieht. »Auch dort wird Gott um Gottes willen geliebt. Die Seele nämlich liebt dort Gott nicht nur deswegen, weil er für sie gut, freigiebig und barmherzig ist, sondern deswegen noch viel stärker, weil er einfach an sich gut, freigiebig und barmherzig ist.« 52 Die glückliche Seele ist dankbar; sie wird mit Liebe erfüllt, wenn sie die Güte Gottes an sich schaut. Es freut sie, die Barmherzigkeit des Herrn in Ewigkeit zu besingen; dadurch zeigt sich die Caritas selbst durch ihre Handlungen. Sie liebt nämlich Gott in Wohltaten, mit denen sie selbst überhäuft wird, weil die Seele, mit Gottes Willen, sich selbst wertvoll ist; aber freilich stellt sie die Quelle dem Flüsschen voran. Ihr wird zugeschrieben, dass sie »viel stärker« die absolute Vollkommenheit Gottes in Gott selbst bewundert und liebt. Dieses »Viel stärker« aber, woher kommt das? Aus dem einen Grund des Liebens, um Seligkeit für sich zu begehren? So muss der Bischof v. Meaux antworten. O, ein Grund des Liebens, der bisher nicht gehört wurde! Die von den Seligen begehrte Seligkeit, ist sie der ganze Grund, weshalb die Seligen die beglückende Wohltätigkeit, 51 52
Ebd., Kap. I, 3. Ebd.
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Der aus dem Werk des heiligen Thomas ausgewählte Einwand wird gelöst
insofern sie die absolute Vollendung Gottes ist, »viel stärker« lieben als ihre eigene Beseligung? Ebenso könnte jemand sagen, die Seligkeit sei der alleinige Grund, oder das einzige Motiv, weshalb er selbst irgendetwas anderes der Seligkeit selbst weit voranstellt. So fährt der hl. Thomas fort: »Und je aufrichtiger die Seele Gott liebt, wegen der ihr eingeborenen Güte, und nicht wegen der Teilhabe an der Seligkeit selbst, umso seliger ist sie; wenn auch die Mitteilung der göttlichen Seligkeit keineswegs zu jener Aufrichtigkeit der Liebe bewegt. O welche Freude erwächst der Seele, wenn sie in der Aufrichtigkeit ihrer Liebe dem Schöpfer eine Gegenleistung gibt, nachdem keine Heiligkeit oder Güte in der Seele, oder irgendein Nutzen ihn zur Liebe der Seele bewegte hatte!« 53 An dieser Stelle bestätigt der hl. Thomas, was die Tradition der Kirchenväter bei Cassian 54 lehrt, dass nämlich die Seele, umsonst von Gott geliebt, und Gott umsonst liebend, dem Schöpfer eine Gegenleistung gebe. Außerdem lehrt er diese beiden besonders wichtigen Dinge: dass die Seele Gott liebt wegen der ihm eingeborenen Güte, d. h. wegen seiner Wohltätigkeit, soweit diese ein Beweis der höchsten Vollendung ist, jedoch nicht wegen der Teilhabe an der Seligkeit. Gewiss sind »Teilhabe« (participatio) und »Mitteilung« (communicatio) gänzlich synonyme Begriffe. Dadurch wird klar, wie weit der Bischof von Meaux von der Meinung des hl. Thomas abirrte, wenn er sagt, die mitgeteilte Seligkeit oder die Mitteilung (communicatio) der Seligkeit sei im Akt der Caritas der formale Grund des Liebens und deshalb Motiv, dessen Ausschließung nur offensichtliche Täuschung sein kann. Warum aber diese Stimmen ertönen: »je aufrichtiger« etc., »nicht wegen« etc., »umso seliger etc., »obwohl sie keineswegs bewegt werden« etc., entgeht niemandem, vielleicht höchstens einem Anfänger in der Dialektik. Was man den ganzen Grund des Liebens nennt, muss so beschaffen sein, dass, je mehr es den Willen bewegt, desto mehr der Wille sein Objekt begehrt, und umgekehrt, je weniger es den Willen bewegt, desto weniger der Wille sein Objekt begehrt. Aber der hl. Thomas beharrt darauf, dass die Seele »umso seliger« sei, »je aufrichtiger« sie Gott liebe, und zwar »nicht wegen« der Teilhabe an der Seligkeit. Siehe da, ein kleines negatives Teilchen, das seine ausschließende Kraft zeigt! Er fügt hinzu: »Wenn auch die Mitteilung der göttlichen Seligkeit … keineswegs sie selbst bewegt«, etc.; 53 54
Ebd. Collationes IX.
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Über das Formalobjekt der Caritas
»keineswegs bewegen« und »keineswegs Motiv sein« sind gänzlich synonyme Begriffe. Immer wieder frage ich, welches jener »ganze Grund des Liebens« ist, durch dessen Zulassen die Seele im Lieben weniger aufrichtig und weniger glücklich wäre, durch dessen gänzliches Weglassen aber die Seele glücklicher, aufrichtiger und vollkommener in ihrer Liebe wird. »Dort aber genießt die Seele Gott um Gottes willen. Das ist das Wesentliche des Genießens, in Liebe einer Sache anzuhängen um ihrer selbst willen, nicht um eines anderen Vorteils willen. Die Befriedigung, mit welcher die Seele Gott erfasst, regt sie an, viel heftiger die Offenbarung der göttlichen Ehre zu begehren als die eigentliche Seligkeit.« 55 Weiter ist diese Befriedigung nicht das Ziel oder Motiv der Liebe: Sie ist nur die Wirkursache, wodurch die Seele über sich hinaus zu dem einen Gott hingezogen wird. Denn wenn die Befriedigung, welche die Seligkeit selbst ist, der ganze Grund des Liebens wäre, wie der Bischof v. Meaux meint, könnte sie die Seele nicht entfachen, die Offenbarung der göttlichen Ehre heftiger zu lieben als die eigentliche Seligkeit, und auch nicht dazu, den Nächsten mehr zu lieben als die eigene Seligkeit. Das impliziert nämlich, dass etwas heftiger geliebt wird als der ganze Grund des Liebens, wodurch allein geliebt wird, was geliebt werden kann. Das fügt er hinzu: »Sehr deutlich nämlich zeigt sich die göttliche Ehre, wenn Gott sich der treuen Seele zum Genuss darbietet, und die Seele mit solcher Reinheit hinsichtlich Gottes erfüllt ist, dass sie, müsste sie eines von beiden auswählen, entweder die ewige Seligkeit zu entbehren oder dem göttlichen Willen, in Bezug auf sie selbst oder andere, entgegenzustehen, viel lieber der ewigen Glückseligkeit beraubt werden wollte als den Willen Gottes in Bezug auf irgendetwas zu hemmen. Und sie würde es für große Seligkeit erachten, sogar zum eigenen Schaden den göttlichen Willen in allem zu erfüllen.« 56 Müsste nicht der Bischof v. Meaux sagen, der hl. Thomas schreibe den Seligen zu, Albernheiten zu lieben, Liebesphantasien, Spitzfindigkeiten der sophistischen Frömmigkeit und offenbare Illusionen? Freilich wollen sie nicht »der ewigen Seligkeit beraubt werden«, sondern dies »wollten sie viel lieber«, etc. Die Ausdrucksweise »viel lieber wollten sie« wäre aber ganz falsch, wenn nicht das wahre Fundament im Affekt des seligen Wil-
55 56
Opusculum LXIII, Kap. III, 3. Ebd.
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Der aus dem Werk des heiligen Thomas ausgewählte Einwand wird gelöst
lens selbst läge. Deswegen fügt der hl. Thomas hinzu, dass die glückliche Seele wahrhaft und gänzlich so gestimmt sei, »dass sie viel lieber wollte« etc. Wer kann daher etwas »viel lieber wollen« außerhalb und gegen den ganzen Grund des Liebens? Dieser Ausdruck: »viel lieber wollte« zeigt – außer er wäre unbrauchbar und illusorisch – den wirksamsten Grund des Liebens, der immer gegenwärtig ist, deutlich an. Müsste nicht der Bischof v. Meaux sagen, die Seligkeit sei der ganze Grund des Liebens, aufgrund dessen die Seligen viel lieber dieser beraubt werden möchten als den Willen Gottes zu hemmen? Wollten sie denn wegen der Seligkeit der ewigen Seligkeit selbst zum eigenen Schaden beraubt werden? Er könnte also sagen, dass die Seligen sogar an der Quelle des ewigen Lichtes blind seien und, von Fanatismus getrieben, toll werden gegen die menschliche Natur, gegen das Wesen der Liebe, gegen den ganzen Grund des Liebens. Der hl. Thomas wird entgegnen, dieser Affekt gehe nicht aus Raserei gegen das Wesen der Liebe hervor, vielmehr aus dem reinen und wirksamen Grund des Liebens. »Mit solcher Reinheit«, sagt er, »ist die Seele in Hinsicht auf Gott erfüllt, dass sie, müsste sie eines von beiden auswählen, etc.« Nicht möge der Gegner sagen, das sei der Vollkommenheit der Seligen vorbehalten. Denn kein Theologe könnte daran zweifeln, dass die Caritas der ewigen Heimat, so sehr sie auch höher als unsere ist, trotzdem von derselben Art ist. Das steht durch die Ausführungen des hl. Thomas ganz einleuchtend fest. Wenn es aber das Wesen der Liebe ist, ihr Objekt besitzen und sich immer daran erfreuen zu wollen, dann wird notwendigerweise diese menschliche Natur, dieses Wesen der Liebe in der ewigen Heimat nicht weniger, ja sogar mehr als in der irdischen Verbannung zu finden sein. Über die Seligen selbst wurde gesagt: Jedem einzelnen wird Gott der ganze Grund des Liebens sein. Entweder ist das Argument des Bischofs nichtig oder es betrifft nur die Seligen. Würde aber der Caritas der Seligen ein höherer und vollkommenerer Grund des Liebens zugeschrieben, wodurch sie viel lieber der Seligkeit selbst beraubt werden wollten etc., muss man folgern, dass es diesen Grund des Liebens selbst auch in Akten der Caritas derselben Art gibt, welche wir hier als Verbannte hervorbringen können. Folgendes behauptet der Bischof v. Meaux mit diesen Worten ganz ausdrücklich 57: »Die Caritas eint uns mit dem versprochenen Bossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 12, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 515; Edition von 1845, Bd. 9, S. 365.
57
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Über das Formalobjekt der Caritas
Gut durch den vorgezogenen Genuss, so dass dieses in gewisser Weise selbst gegenwärtig ist, und unsere Liebe in der Stunde des Todes ohne Zutun genießend und selig machend wird.« Wiederum überschreitet derselbe Autor hier, wie auch sonst, offensichtlich die Grenzen. Die Liebe in der ewigen Heimat ist von derselben Art wie unsere Caritas in der irdischen Verbannung: daran besteht kein Zweifel. Aber ich leugne, dass diese Liebe im Moment des Todes, ohne Zutun, den Menschen beglücken kann. Wenn nicht die intuitive Schau Gottes hinzugefügt wird, wird die versprochene Seligkeit sich niemals einstellen. Freilich ist zugestandenermaßen klar, dass die Caritas der Heimat in ihrer Art dieselbe ist wie die Caritas der Verbannung. Es ist dieselbe Liebe, derselbe Grund des Liebens. Ohne Zutun in der Art der Liebe oder des Motivs, wird dieselbe Liebe von der Verbannung in die Heimat hinüberfliegen. Aber in der ewigen Heimat bewegt die Mitteilung der göttlichen Seligkeit keineswegs den Willen der Seligen zu jener Aufrichtigkeit der Liebe. Sie selbst lieben »Gott wegen der ihnen eingeborenen Güte und nicht wegen der Teilhabe an der Seligkeit selbst. Die Seele wollte viel lieber der ewigen Glückseligkeit beraubt werden als dem Willen Gottes in irgendetwas entgegenzustehen … Mag auch die treue Seele im Lob Gottes ohne große Befriedigung keineswegs sein können, begehrt sie dennoch dort nicht im geringsten, Gott des eigenen Vorteils wegen zu loben, sondern rein und einfach um Gottes Willen.« Daher liebt die auf Erden fremde Seele Gott in derselben Art der Liebe rein und uneigennützig durch die Akte der Caritas, auch wenn sie in den Akten der Hoffnung – selbst hervorgebrachten oder von der Caritas gebotenen – die Seligkeit erwartet. Aber nicht allein ist die Art der Caritas in jedem der beiden Reiche dieselbe, sondern auch dieselbe Ordnung der Liebe, wenigstens darin, was auf beiden Seiten erkannt wurde. Alles muss aus der vollkommenen Übereinstimmung des menschlichen Willens zum göttlichen hin geschehen. So zum Beispiel, wenn der gläubige Erdenbürger zu der Erkenntnis gelangt ist, dass der Jungfrau und Gottesmutter mehr Seligkeit und Ehre als ihm bestimmt wurde, muss jener Erdenbürger, genauso wie die Seligen, für die Gottesmutter mehr Seligkeit wollen. Aber dieses »Mehr für den anderen, weniger für sich« kann aus dem Motiv der Seligkeit nicht gewünscht werden. Ebendies erklärt der hl. Thomas, wenn er in der folgenden Rede fortfährt: »So wollte Eleazar, wie es im Buch der Makkabäer geschrieben steht, lieber in der Hölle bestraft werden als aus Furcht vor dem Tod das Gebot 54 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Der aus dem Werk des heiligen Thomas ausgewählte Einwand wird gelöst
des Gesetzes zu übertreten.« 58 Was die Seligen im Himmel »viel lieber wollten«, dasselbe sollte Eleazar hier als Erdenbürger wollen, behauptet er. Das ist gänzlich dieselbe Art und derselbe Grund der Gottesliebe. »O, wie gerecht ist es«, sagt er, »dass das Geschöpf viel überschäumender Gott in allen Geschöpfen sucht als sich selbst …« 59 Daher ist, was diese Worte »viel lieber« und »viel überschäumender« bedeuten, nicht gegen die menschliche Natur, das Wesen der Liebe und den ganzen Grund des Liebens. Im Gegenteil, das erkennt die Gerechtigkeit selbst Gott zu. O, wie gerecht ist es, etc. Dort preist auch die Seele Gott um Gottes willen. Mag auch die gläubige Seele im Lob Gottes keineswegs ohne große Lust sein können, will sie dennoch nicht im Geringsten Gott wegen des eigenen Vorteils preisen, sondern rein und einfach um Gottes willen, der es auf ewig eingerichtet hat, von der Seele immer gelobt zu werden, nicht um seine, sondern um die Seligkeit der Seele zu erweitern. Jene ewige Reinheit wird von der Reinheit dieses Lebens bestimmt. Wie sehr nämlich die gläubige Seele im Lob Gottes den eigenen Teil weniger berücksichtigt, und je mehr sie den Teil Gottes in dieser Welt sucht, umso reiner erscheint ihr Lob hier, umso hervorragender wird sie sein, umso nützlicher und angenehmer wird sie der Gemeinschaft sein, umso folgerichtiger wird Gott, der solche Reinheit gegeben hat, ruhmvoller erscheinen.« 60 Daraus muss man folgern, wie sehr diese beiden voneinander verschieden sind, nämlich sich in der Liebe zu erfreuen und das Motiv der Ergötzung. Die glückliche Seele liebt freilich mit der höchsten Befriedigung, welche Seligkeit genannt wird. Aber nicht im Geringsten begehrt sie, ihn wegen des eigenen Vorteils oder des Nutzens der Seligkeit zu preisen. Sie liebt rein und einfach. Siehe, hier ist jene reine Liebe, von welcher der Konvent erklärt hat, sie widersetze sich der Tradition, den Schriften, der Natur des Menschen und dem Wesen der Liebe! Aber jene Liebe ist, nach dem hl. Thomas, die Quelle, aus der das Gotteslob reiner fließt. Je weniger die Seele ihren eigenen Teil sucht, d. h. je weniger sie die Teilhabe an der Seligkeit für sich sucht, umso aufrichtiger, umso reiner, umso vortrefflicher, umso ruhmvoller liebt sie Gott. Wenn sie aber dorthin gelangt ist, dass die Mitteilung der Seligkeit sie auf keine Weise bewegt, sondern dass sie den Teil Gottes, nämlich die Offenbarung sei58 59 60
Opusculum LXIII, Kap. III, 3 Ebd. Opusculum LXIII., Kap. V., 3. princip. laudis.
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Über das Formalobjekt der Caritas
ner Ehre … rein und einfach sucht, dann ist das die reinste Liebe. O, hat man bis jetzt von dieser vollständigen Grundausrichtung des Liebens, durch deren Verfolgung die Liebe weniger vortrefflich, weniger nützlich für die Gemeinschaft, weniger ruhmvoll für Gott wäre, durch deren Weglassen sie aber reiner, vortrefflicher, nützlicher und ruhmvoller wird, noch nicht gehört? Ist das die vollständige Grundausrichtung des Liebens, wodurch man, wenn man ihr folgt, bald der Ehre Gottes, bald dem Gemeinnutzen, bald der eigentlichen Reinheit etwas wegnimmt? Aber diese häufige und ausdrückliche Schlussfolgerung des hl. Thomas entscheidet die Sache umso besser, weil vollkommen damit übereinstimmt, was er über die Definition der Caritas und ihre Unterscheidung von der Hoffnung gesagt hat. Wer aber wird mit Gleichmut diese Worte des Bischofs von Meaux hören? »Es ist allein Gott vorbehalten, ohne Bedürftigkeit zu lieben … Nichts kann das Motiv der Seligkeit aus der Brust verbannen. Könnte der Mensch das in sich besiegen, dass ihm die Seligkeit nicht am Herzen läge, wären wir nicht Gott untergeben, bei dem dann weder unsere Seligkeit noch unser Unglück läge.« 61 Darüber, das Motiv der Seligkeit in jedem möglichen Zustand der Vollkommenheit auszunehmen, habe ich nicht einmal ein Wort verloren. Das liege mir gänzlich fern! Den vorsätzlich eingebildeten Streit führt er umsonst. Was aber bereitet dem Bischof von Meaux mehr Schande als diese knechtische und lohndienerische Erklärung, nämlich dass die Menschen aufgrund der einzigen Fessel der privaten Seligkeit daran gebunden wären, Gott zu lieben? Wenn man diesem Glauben schenkt, hängt der Mensch nur infolge der eigenen Bedürftigkeit Gott an. Gott seinerseits bemüht sich um die Bedürftigkeit; würde er nämlich nicht durch das Lockmittel der Seligkeit den Menschen sich unterwerfen, dann würde er der Würdigkeit entbehren, aufgrund welcher er geliebt werden müsste. Dann, nachdem diese eine Fessel der Liebe gesprengt wurde, würde der Lohnknecht das Joch abschütteln. Aber dies allgemein und absolut Gesagte bezieht sich, weil es ja allein Gottes ist, ohne Bedürftigkeit zu lieben, besonders auf die Seligen selbst. Denn über jene sagte derselbe Autor: Für jeden wird der ganze Grund des Liebens natürlich Gott sein, insofern er selig macht. Sie selbst lieben nicht ohne Bedürftigkeit; das ist allein Gottes. Die Folge ist also, dass die Seligen, würde die Seligkeit wegBossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 523; Edition von 1845, Bd. 9, S. 368.
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Der Bischof v. Meaux erniedrigt die Caritas und vermischt sie mit der Hoffnung
fallen, gleichsam wie Lohnknechte Gott, aus eigener Kraft unliebenswert, sofort verlassen würden. Jenes Verlassen aber der höchsten, in sich reinen und einfach vortrefflichen Vollendung, was bedeutet das, wenn nicht den sündhaften Abfall des Geschöpfes vom Schöpfer? Doch was weicht mehr von dieser widersinnigen Lehre ab als jene Vorschrift des Römischen Katechismus?: »Freilich darf bei der Belehrung der Unwissenden nicht stillschweigend übergangen werden, dass Gott darin besonders seine Milde gegen uns und die Fülle der höchsten Güte gezeigt hat, dass er, obwohl er uns hätte zwingen können, ohne Lohn seiner Herrlichkeit zu dienen, dennoch seine Ehre mit unserem Nutzen verbinden wollte.« 62 Während die Römische Kirche den Pastoren vorschreibt, das gemeine Volk so zu lehren: Gott hätte uns zwingen können, ohne jeglichen Lohn seiner Ehre zu dienen, übertönt dies der Bischof von Meaux, indem er sagt, nicht einmal die Seligen seien Gott ohne das Bedürfnis, Seligkeit zu gewinnen, ergeben, sodass, wenn der Lohn wegfiele, die Menge der Lohnknechte entfliehen würde.
IV. Der Bischof v. Meaux erniedrigt die Caritas und vermischt sie mit der Hoffnung Der Bischof von Meaux argumentierte so 63: »Ist etwa dieser Unterschied zwischen der caritativen Liebe und der Hoffnung nicht wesentlich genug, dass die eine Gott als vereint, die andere als abwesend betrachtet? Was ist aber der Liebe wesentlicher als vereint zu sein? Was aber ist der Hoffnung wesentlicher und eigentümlicher, als das von ihr gesuchte Gute hinauszusetzen, nicht als vereint, sondern als abwesend und distanziert? Deshalb ist die göttliche Liebe rechtfertigend, die Hoffnung aber keineswegs, deswegen weil jene Liebe vereint ist, die Hoffnung aber nicht … Vergeblich verdrehst du den Sinn, denn es ist nicht möglich, zwischen diesen Tugenden irgendeinen grundlegenden und vollständigen Unterschied aufzuzeigen … Darauf setzt du einen anderen Unterschied zwischen Hoffnung und Caritas dagegen, den der hl. Thomas aufgezeigt hat, nämlich: Die HoffPart. III, in Decal. prooem, Abschnitt 18. Der Römische Katechismus nach dem Beschlusse des Konzils von Trient, Dritter Teil, Kirchen/Sieg 1970, S. 268. 63 Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 58; Edition von 1845, Bd. 9, S. 452. 62
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Über das Formalobjekt der Caritas
nung wolle, dass ihr irgendetwas von Gott zugutekomme, die Caritas aber wolle das nicht. Aufrichtig wollen wir sprechen.« Sicherlich, hätte er selbst aufrichtig gesprochen, dann hätte er die Definition der Caritas und ihre vom hl. Thomas zwingend aufgezeigte Vortrefflichkeit entweder offen zurückgewiesen oder als gültig anerkannt. Keines von beiden hat er getan; nicht einmal den Vorwurf zu lösen hat er versucht, sondern hat begonnen, durch subtile Fragestellungen die Definition des hl. Thomas indirekt zu erschüttern und die dringende Frage zu verspotten. »Willst du denn«, sagt er, »dass der Caritas aus Gott nicht einmal erwächst, mit ihm vereint zu werden und mit ihm in heiliger Freundschaft und ewiger Gemeinschaft verbunden zu werden? Du würdest weder das zu sagen wagen noch dem hl. Thomas, der diesen Irrtum widerlegt, das zuschreiben. Es wäre aber genug, um den hl. Thomas mit sich selbst zu versöhnen, dass er seine Behauptungen selbst bekräftigt, nämlich dass die Caritas Gott als ein mit ihr vereintes Gut annehme, und ihr so kein anderes Gut erwachse außer Gott selbst.« Bevor dies im Einzelnen widerlegt wird, muss die Zweideutigkeit beseitigt werden, mit der er in diesen Worten spielt, nämlich dass die Caritas vereinigend sei, und dass die Liebe vereint werden will. Freilich ist wahr, dass der heilige Thomas dies sagt: »Die Caritas berührt Gott, weil sie uns mit Gott verbindet.« 64 An anderer Stelle drückt er sich so aus: »Die Caritas bringt die Einigung mit jenem Guten, die Hoffnung aber hat eine gewisse Distanz zu ihm. Und daher geschieht es, dass die Caritas jenes Gute nicht als etwas Entferntes betrachtet, so wie die Hoffnung. Was aber schon vereint ist, hat keine Beschaffenheit des Entfernten und daraus geht hervor, dass die Caritas vollendeter ist als die Hoffnung.« 65 Anderorts aber spricht er so: »Daher lässt die Caritas den Menschen Gott anhängen um seiner selbst willen, indem sie den Geist des Menschen mit Gott vereint durch den Affekt der Liebe.« 66 Diese Worte widersprechen gänzlich der Meinung des Bischofs von Meaux. Dieser meint, die Vereinigung, welche die Caritas bringt, sei die Seligkeit, sodass sie, gleichsam als ihr höchstes Ziel, jene vollkommene Vereinigung anstrebt. Freilich ist die himmlische Seligkeit nicht gegenwärtig, sondern abwesend, solange wir fern von dem Herrn weilen. Demgegenüber ist die Vereini64 65 66
Sum. theol. II, II, q. 23, art. 3. Ebd., art 6. Ebd., q. 17, art. 6.
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Der Bischof v. Meaux erniedrigt die Caritas und vermischt sie mit der Hoffnung
gung, von welcher der hl. Thomas spricht, gegenwärtig. Denn was schon vereint ist, sagt er, hat keine Beschaffenheit des Entfernten. Nicht sagte der heilige Lehrer: Die Caritas wird verbinden, sondern sie verbindet uns mit Gott. Nicht sagte er, sie werde vereinigen, sondern sie ist vereinigend mit Gott. Nicht sagte er, durch die Seligkeit, sondern nur durch den Affekt der Liebe. Die Caritas ist allerdings einigend, auch im gegenwärtigen Leben: Durch einen Akt verbindet und vereint sie den Menschen mit Gott, weil sie ja den Willen des Liebenden gänzlich dem beliebigen Wohlgefallen des Geliebten anpasst. Daher ist die Caritas, eigentlich und streng genommen, nicht die Sehnsucht nach einer zukünftigen Vereinigung im Himmel, sondern sie ist selbst eine mehr oder weniger vollkommene Einheit, je mehr oder weniger intensiv und brennend sie ist. Denn die Liebe der Caritas betrachtet das Gute im Allgemeinen, mag es bereits besessen werden oder nicht. 67 Sonnenklar ist, dass Gott, insofern er intuitiv zu schauen ist, vom in der irdischen Verbannung weilenden Menschen fern ist, ob er nun Akte der Caritas oder der Hoffnung erweckt. Was zukünftig ist, ist immer fern, solange es zukünftig bleibt. Wäre also Gott, insofern er durch die intuitive Schau beglückt, der ganze Grund des Liebens, dann wäre sowohl in den Akten der Caritas als auch jenen der Hoffnung das Objekt in gleicher Weise fern der Aneignung. Die Hoffnung lässt sich nicht täuschen: Was sie wie etwas Fehlendes begehrt, das fehlt auch tatsächlich. Die Caritas lässt sich weder täuschen noch täuscht sie: Nicht nimmt sie für sich als etwas Gegenwärtiges jene himmlische Seligkeit und intuitive Schau an, welche ja fern ist. Daraus folgt: Wenn sie auch trachtet, sich mit Gott durch die intuitive Schau zu vereinen, betrachtet sie ihn doch wie einen Abwesenden, wie ein Gut, das in Wahrheit entfernt ist. Das aber wird durch das Beispiel der Akte bestätigt, welche die Caritas aus der Hoffnung hervorzubringen gebietet, oder durch das Beispiel der Akte, in welchen die Caritas selbst geneigt ist, die Wohltätigkeit Gottes, die sich durch die versprochene Seligkeit zeigt, zu lieben. Dann ist die Caritas, nach allgemeinem Konsens, auf unser höchstes Gut gerichtet, als abwesendes und entferntes. Denn der Mensch, der diese Akte ausübt, stellt sich dann nicht vor, die himmlische, zukünftige Seligkeit sei für ihn auf Erden vorhanden. Deshalb wäre jene Unterscheidung dieser beiden Tugenden nichtig, unvollständig und falsch, wäre die Vereini67
Sum. theol. I, q. 20, art. 1.
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Über das Formalobjekt der Caritas
gung, welche die Caritas bringt, die himmlische Seligkeit. Diese Unterscheidung aber, welche der hl. Thomas lehrt, ist ganz richtig; wenn sie nur auf jene andere zurückkommt, welche er in der Definition der Caritas ausdrücklich bezeichnet hat. Denn die Hoffnung allein richtet sich auf Gott, insofern er intuitiv zu schauen ist und daher wie auf ein abwesendes Gut. Die Caritas aber, indem sie eigene Akte hervorbringt, richtet sich auf Gott nicht wie auf ihr eigenes spezifisches Objekt, insofern er intuitiv zu schauen und Seligkeit spendend ist; sondern sie steht rein und einfach in ihm, insofern er aufs höchste vollkommen ist, nicht damit ihr aus ihm das Erlangen des Guten erwachse. Die Hoffnung bezieht sich auf die zukünftige Vereinigung im Himmel. Die Caritas bewirkt, oder eher: ist selbst diese eine gegenwärtige Vereinigung durch den Affekt der Liebe, wodurch der Wille des Liebenden ganz in den Willen des Geliebten zurückfließt. Das ist jene Einheit des Willens, von welcher der hl. Thomas sagt: Was nämlich schon vereint ist, hat keine Beschaffenheit des Entfernten. Aber diese gegenwärtige Einheit, bei weitem niedriger als die zukünftige himmlische, ist dennoch die wahre, und wird umso mehr vollendet, je stärker die Caritas ist. Also ist jene Unterscheidung des hier abwesenden und zukünftigen, dort gegenwärtigen und vereinten Gutes, tief und grundlegend, wenn sie mit anderen Worten genau dasselbe ausdrückt wie die vom hl. Thomas angeführte Unterscheidung in den Definitionen von Hoffnung und Caritas, nämlich des Guten in sich absolut genommen, und des relativen Guten, um uns selig zu machen. Wenn aber nicht, wäre sie hinfällig. Denn die Caritas kann nicht ehrlich und ernsthaft auf die zukünftige himmlische Einheit gerichtet sein wie auf die gegenwärtige, und nicht auf den seligmachenden Gott wie auf den mit ihr schon vereinten. Nachdem dies aufgestellt ist, lässt sich das Argument des Bischofs von Meaux leicht widerlegen. 1. Absichtlich nimmt er das Wort »vereinigen« (uniri), damit man sich ein anderes vorstellen kann, nämlich »glücklich sein« (beari). Die Caritas ist nicht von sich aus und aufgrund ihres Wesens das Verlangen nach Vereinigung. Sie ist nicht das Streben oder das Verlangen des Liebenden, wie Clemens von Alexandria sagte; sondern sie ist eine feste und wohlwollende Verbindung oder Einheit. Die anders denken wissen nicht, was an der Caritas göttlich ist. Die Einheit aber, welche durch den Affekt der Liebe entsteht, und welche viele Kirchenväter, während sie vollendet wird, Umwandlung nennen, ist sie selbst, aus welchem Grund die Caritas einigend genannt wird. Der 60 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Der Bischof v. Meaux erniedrigt die Caritas und vermischt sie mit der Hoffnung
Bischof v. Meaux könnte offen sagen, ob dem allmächtigen Gott irgendeine andere Einheit des verständigen Geschöpfes mit dem Schöpfer außer der übernatürlichen Seligkeit und der intuitiven Schau unmöglich wäre? Wenn Gott etwas, das er umsonst versprochen hat, nicht schenkte, wäre dann etwa nicht eine gewisse Caritas oder Liebe des Menschen zu Gott gegeben? Wäre nicht eine gewisse Einheit des liebenden Menschen mit dem geliebten Gott gegeben? Der Gegner soll also aufhören, diese beiden Begriffe, nämlich »vereinigen« (uniri) und »glücklich sein« (beari), als reine Synonyme zu behandeln: Diese unterscheiden sich gänzlich. Die Seligkeit ist eine zukünftige Vereinigung und daher ein abwesendes und entferntes Gut, das die Caritas als ihr spezifisches oder wesentliches Objekt betrachtet. Die Vereinigung aber, welche die Caritas in sich trägt, ist gegenwärtig. Sie ist selbst der Affekt der Caritas. Sie ist die Übereinstimmung des geschaffenen Willens mit dem ungeschaffenen. Sie ist eine intime und familiäre Gemeinschaft; so wie im Hohelied Braut und Bräutigam (abgesondert von der intuitiven Schau) sich in süßen Zwiegesprächen und leidenschaftlicher Zuneigung vereinigen. Wollte etwa der Bischof von Meaux behaupten, der Mensch könne keine andere Gemeinschaft mit Gott eingehen außer jener übernatürlichen und himmlischen, in der die Seligen Gott von Angesicht zu Angesicht schauen? Ohne Zweifel gibt es auch in diesem Leben eine Vereinigung und familiäre Gemeinschaft zwischen dem geliebten Gott und der vor Caritas entbrannten Seele, auch wenn Gott nicht intuitiv geschaut wird. So wird die Caritas nicht als die zukünftige Einheit anstrebend, sondern als einigend bezeichnet, weil sie etwas Gegenwärtiges anzeigt. 2. Gewaltig irrt der Bischof von Meaux, wenn er sagt: »Daher ist die göttliche Liebe rechtfertigend, die Hoffnung aber keineswegs, weil jene Liebe einigend ist, die Hoffnung aber nicht.« Wenn er unter Vereinigung nicht die himmlische Seligkeit versteht, beweist er nichts. Falsch bringt er vor, die Caritas sei die Seligkeit begehrend, weil sie einigend sei. Dann verwirft er das Argument gänzlich. Wenn er aber unter Vereinigung die himmlische Seligkeit versteht, wie weit ist dann die Unterscheidung, die er zwischen Caritas und Hoffnung macht, davon entfernt, grundlegend und gesichert hergeleitet zu sein; im Gegenteil, wie schon bewiesen wurde entbehrt sie der Grundlage und fundierten Herleitung. Die Hoffnung ist in gleicher Weise einigend wie die Caritas selbst, welche sich der Bischof von Meaux ausgedacht hat. Sie strebt nämlich Vereinigung, und zwar die zukünftige 61 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
Seligkeit, an. Diese erdichtete Caritas aber ist, nicht weniger als die Hoffnung, auf diese in Wahrheit zukünftige und nicht gegenwärtige Vereinigung gerichtet. Würde aber jene keineswegs hervorragende Caritas die Sünder für gerecht erklären, warum nicht auch die Hoffnung, welche sich auf dasselbe Objekt aus demselben gänzlichen Grund des Liebens richtet? Sicherlich ist sie einigend, d. h. begierig nach künftiger Einheit, wie auch die Caritas. Beide Tugenden berühren dann unmittelbar das höchste Ziel, nämlich Gott, insofern er selig macht. Selig sein wollen bedeutet Gott wollen und die Vereinigung mit ihm. So kann man die Caritas der Hoffnung nicht voranstellen. So wird die Liebe der Hoffnung oder der Begierde die höchste sein, womit Gott auch von den seligen Menschen geliebt werden kann, und daher wird auch niemals eine andere Liebe zur Rechtfertigung des Sünders erforderlich sein, auch nicht über das Sakrament der Buße hinaus. Die Taten vollkommener Zuwendung aber, allein durch den Anblick der göttlichen Schönheit erweckt, werden manifeste Illusion sein, leere Gesten, törichte Phrasen, Spitzfindigkeiten der Quietisten. Denn für jeden, sowohl in der ewigen Heimat als auch in der Fremde, ist dann Gott, insofern er die Seligkeit erteilt, der gänzliche Grund des Liebens. Daher können weder der Sünder in der Buße noch die Seligen in ihrer hohen Vollkommenheit irgendeinen Wunsch äußern, außer entweder aus Furcht, die Seligkeit zu verlieren, oder aus dem Begehren, jene zu bewahren. 3. Was ist weniger ehrlich und aufrichtig als jene Versöhnung des hl. Thomas mit sich selbst, nämlich dass die Caritas Gott so liebt, dass ihr von Gott her kein Gut erwächst außer Gott selbst? Mit dieser Versöhnung täuscht er sowohl den hl. Thomas als auch die ganze Kirche. Will er denn etwa nicht darauf hinaus, dass die Hoffnung danach strebt, dass ihr ein anderes Gut zukomme als der seligmachende Gott selbst? Das aber sei ferne! Behauptet er etwa nicht, dass die Caritas, gleich wie die Hoffnung, in Gott suche, dass ihr etwas Geschaffenes erwachse, nämlich die formale Seligkeit zusammen mit der objektiven? Worin sich diese beiden Tugenden unterscheiden und worin die eine die andere überragt, sollte er also sagen, wenn er nur könnte.
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In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
V.
In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will. Was ist denn diese Seligkeit, welche alle Menschen im Wesentlichen anstreben?
Der Gegner hatte gesagt: »Das ist ein Fixpunkt, dass es gleich unmöglich für die Caritas ist, Gott nicht genießen zu wollen, wie für die Natur, nicht unaufhörlich in einem Akt immer beglückt werden zu wollen.« 68 Allerdings schleicht sich eine Zweideutigkeit bei dem Worten »genießen« (frui), wie auch schon bei dem Wort »sich vereinigen« (uniri) ein. Ich bekenne, dass der hl. Augustinus allenthalben gesagt hat, die Caritas wolle genießen. Doch die Definition dieses Kirchenvaters beseitigt diese nichtige Zweideutigkeit. »Genießen«, sagt er 69, »bedeutet, einer Sache in Liebe anhängen um ihrer selbst willen.« Der Bischof von Meaux könnte, wenn es beliebte, sagen, die Caritas wolle Gott in Liebe anhängen um seiner selbst willen. Was tut das zur Sache? »Genießen« und »beglückt werden« sind nicht ein und dasselbe. Wenn »genießen«, wie der hl. Augustinus sagt, nichts anderes sei als »lieben«, genießen dann einzelne fromme Seelen, auch in diesem Leben, nicht Gott in diesem Sinn, insofern sie Gott um seiner selbst willen in Liebe anhängen? Sie genießen daher, werden aber nicht beglückt; daher steht ganz klar fest, dass sich der Genuss von der Seligkeit unterscheidet, und dass daher Augustinus das Wesen der Caritas definiert, ohne Rücksicht auf die Seligkeit zu nehmen. Wenn er sagt, die Caritas will genießen, ist es dasselbe als wenn er sagte, die Liebe will das lieben, was sie liebt; die Liebe ist spontan. In Liebe Gott anzuhängen um seiner selbst willen, heißt nicht, Gott wie etwas für sich besonders Nützliches zu begehren, sondern heißt schlicht und einfach in Gott zu stehen, nicht damit uns daraus etwas erwächst, und bedeutet dagegen nicht das Erlangen des Guten oder der Seligkeit. Dagegen argumentierte der Gegner so 70: »Dies ist der unerschütterliche Grundsatz des hl. Augustinus, den niemand jemals in Zweifel gezogen hat. So bewährt, so geprüft, so abgeklärt, so sicher ist jene Meinung 71; nämlich dass wir nicht nur beglückt werden wolBossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 3, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 33 f.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 444. 69 Augustinus, De doctrina christiana, 1. Buch, Kap. 4. 70 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 3, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 54 f.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 444. 71 De Trinitate, 13. Buch, Kap. 3, Abschnitt 8; Kap. 8, Abschnitt 11. 68
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Über das Formalobjekt der Caritas
len, sondern dass wir auch außer diesem nichts wollen und wegen diesem alles wollen. Dass alle Menschen glückselig sein wollen, dieses Eine streben sie mit glühender Liebe an, und deswegen auch alles mögliche Übrige.« Dazu fügt er folgende Worte des Augustinus: »Dazu ruft die Wahrheit, dazu treibt die Natur … Der Schöpfer hat das eingerichtet.« Dann greift er mich so an 72: »Immer hältst du dagegen, Augustinus sage das nur über den blinden Instinkt. Keineswegs. Ich habe jenen aufmerksam gelesen: ›Und niemand‹, sagt er, 73 ›kann anstreben, wovon er überhaupt nicht weiß, was oder wie beschaffen es ist, und da er notwendigerweise wissen muss, was das sei, von dem er weiß, dass er es will, so folgt, dass alle das glückliche Leben kennen‹«. So aber fährt der Gegner fort: »Unaufhörlich antwortest du, das gelte für die natürliche Seligkeit, nicht aber für die übernatürliche. Aber was tut das zur Sache, wenn freilich aufgrund des Prinzips des hl. Augustinus für immer feststeht, dass der Mensch niemals so wenig interessiert sein kann, dass er in irgendeiner Handlung das Verlangen nach Seligkeit aufgibt, derentwegen er alles will? Noch weiter geht Augustinus: Und wie es von Natur aus unmöglich ist, irgendetwas zu wollen, außer aus dem Motiv, die Seligkeit zu erlangen, so ist es in gleicher Weise für die Caritas unmöglich, etwas anderes zu wollen als Gott zu genießen, da nun einmal die Definition der Caritas diese ist: ›eine Bewegung der Seele, um Gott wegen seiner selbst zu genießen‹ 74.« Wir sehen schon, dass diese letzten Worte eine reine Zweideutigkeit des Wortes »genießen« (frui) sind. Der Gegner versichert aber, ich hatte behauptet, alle würden in allen Dingen alles notwendigerweise aus dem Motiv der natürlichen Seligkeit wollen. Dass ich solches aber nie gesagt habe, ja vielmehr Gegenteiliges beständig verbreitet habe, steht durch meine Schriften fest. Doch bevor diese Argumentation des Bischofs v. Meaux direkt widerlegt wird, muss man beachten, was er selbst dem Augustinus zur Last legt: 1. Ihm genügt es nicht, dass der Schöpfer dem Menschen die Neigung zum glücklichen Leben eingegeben hat, sondern darüber hinaus setzt er fest, dass Augustinus meine, die Seligkeit selbst sei der formale Grund und das Motiv des Liebens, wodurch alle alles begehren, sodass sie nichts »darüber hinaus« und alles »deswegen« begehren. 2. Er 72 73 74
Ebd., Réponse à quatre lettres de M. de Cambray. De Trinitate, 13. Buch, Kap. 5, Abschnitt 8. De doctrina christiana, 3. Buch, Kap. 10, Abschnitt 16.
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In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
behauptet, alle Menschen wüssten, was und wie beschaffen die Seligkeit sei, von der sie wissen, dass sie sie begehren. 3. Er verlangt, es dürfe weder in den Akten der Caritas die übernatürliche Seligkeit, noch in den ohne Gnade hervorgebrachten Akten die natürliche Seligkeit jemals unbeachtet bleiben. Es bleibt zu fragen, wie denn diese Seligkeit beschaffen sei, welche alle anstreben und kennen, wie Augustinus behauptet. Der heilige Gelehrte selbst erklärt das an derselben Stelle, die auch der Bischof v. Meaux zitiert, so: »Da also alle Menschen glückselig sein wollten, wenn sie wirklich wollen, so wollen sie gewiss auch unsterblich sein: anders könnten sie nämlich nicht selig sein. Infolgedessen geben auch alle, über die Unsterblichkeit befragt, ebenso wie auf die Frage über die Glückseligkeit, zur Antwort, diese zu wollen …« 75 Das fügt er hinzu: »Damit der Mensch nämlich glücklich lebt, ist es notwendig, dass er lebt.« Und schließt daraus: »Nur die Lebenden können glückselig sein, also wollen sie nicht, dass ihr Leben vergeht. Daher wollen alle, die wirklich glückselig sind oder zu sein begehren, unsterblich sein. Denn nicht lebt der glückselig, wer nicht hat, was er will: auf keine Weise wird also das Leben wahrhaft glückselig sein können, wenn es nicht ewig ist.« So aber argumentiere ich: Aus den Worten des Bischofs v. Meaux wissen alle, was und welcher Art die Seligkeit sei; Seligkeit aber und Unsterblichkeit sind da ein und dasselbe. Niemand nämlich will, dass sein Leben vergeht. Denn nicht lebt glücklich, wer nicht hat, was er will, nämlich nicht zu vergehen. Deshalb antworten alle, über die Unsterblichkeit sowie auch über die Seligkeit befragt, diese zu wollen. Daraus würde folgen, dass alle, ohne Ausnahme, in jedem beliebigen menschlichen Akt, alles wegen eines seligen und unsterblichen oder als unsterblich bekannten Lebens wollten, und dass sie nichts außer dieser seligen Unsterblichkeit in jedem beliebigen Akt wollen könnten. Das, meint er, hat der Schöpfer eingegeben, dazu treibt die Natur. Würde das gelten, müsste man schließen: 1. Alle wissen, wie und welcher Art jene selige Unsterblichkeit sei, von der sie wissen, dass sie diese begehren. 2. Kein Mensch kann z. B. auch nur einen Grashalm von selbst bewegen, außer aus diesem spezifischen Motiv oder formalen Grund, die selige Unsterblichkeit zu er-
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De Trinitate, 13. Buch, Kap. 8, Abschnitt 11.
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Über das Formalobjekt der Caritas
langen. Nichts Absurderes könnte erdacht werden! 3. Alle Christen, welche die Ehre Gottes wünschen, wünschen diese, um die selige Unsterblichkeit zu erlangen, und an der Ehre Gottes können sie nichts anderes jemals wollen als diese. Wäre das so, dann wird die selige Unsterblichkeit ein höheres Ziel als die Verherrlichung Gottes sein, und daher einfach das höchste Ziel. Wer daher absolut sagt: alles »deswegen«, nämlich der Seligkeit wegen, und nichts »darüber hinaus«, nämlich über die Seligkeit hinaus, der nimmt nichts aus, auch nicht die Ehre Gottes. Daraus folgte: Hätte uns Gott nicht mit übernatürlicher Seligkeit beschenken wollen, dann hätte der Mensch niemals einen einzigen Akt der Caritas Gott gegenüber hervorbringen können, um den Schöpfer zu verherrlichen; ja auch wir selbst könnten an der Herrlichkeit Gottes nichts begehren wollen über dies, nämlich unsere private Seligkeit, hinaus. Dass dies jedoch der Ansicht des hl. Augustinus gänzlich, sogar gottlos, entgegensteht, sieht jeder. Daraus ist klar ersichtlich, wie vorsichtig und besonnen man derartige Reden aufnehmen muss. Wenn aber jemand diese aus dem gesamten Kontext des heiligen Lehrers besonnen aufnimmt, wird er sofort diesen ganz reinen und natürlichen Sinn erkennen: 1. Vom allweisen Schöpfer ist dem Menschen die Neigung zum glücklichen Leben eingegeben, so dass der Mensch im Vertrauen auf sich in einzelnen Notlagen entschlossener, leichter und lieber für sich selbst sorgt. Dazu treibt die Natur. So treibt sie auch dazu, die Wohlfahrt durch Nahrungs- und Heilmittel zu sichern. Diese Neigung aber kann in dem Sinn nicht überwunden werden, dass sie aus der Brust nicht herausgeschlagen werden kann. In anderem Sinn aber wird sie überwunden: Was nämlich immer da ist und gefühlt wird, kann jemand mit überlegtem Wollen nicht verfolgen. Zum Beispiel, wer sich selbst den Tod gibt, konnte in sich nicht dieses unüberlegte Streben, sowohl nach dem Leben als auch nach dem glückseligen Leben auslöschen, aber dennoch gehorchte er diesem Streben nicht auf irgendeine Weise, sondern bekämpfte es wirksam. 2. Aufgrund dieser Neigung sind alle naturgemäß so gestimmt, auch in Bezug auf den Willen, dass sie, sagt Augustinus, wäre dem Volk im Theater verkündet worden: »Wollt ihr glückselig leben?«, alle das in ihrem Willen gefunden hätten. Ebenso würden sie antworten, sie wollten niemals sterben. Das sagte Augustinus mit Cicero, wobei der Philosoph sich philosophisch ausdrückt. Nicht jedoch würde jemand hier vorbringen, außer auf absurde Weise, dass durchaus alle Menschen in einzelnen freien Handlungen nichts jemals außer 66 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
das glückselige und unsterbliche Leben wollten, und alles wollten, um sich dieses zu verschaffen; sodass die selige Unsterblichkeit das Motiv oder der formale Grund wäre, wodurch die Individuen in ihren einzelnen täglichen Wünschen bestimmt würden. Sondern, um die Worte des Augustinus zu erklären, genügte die Annahme, dass dies die unwandelbare gewöhnliche Verfassung der Menschen sei, dass sie niemals sterben, niemals leiden, niemals Lust entbehren wollten. 3. Welche aber diese Menschen sind, die auf diese Frage im Theater so antworten würden, wollen wir aus dem Augustinus erforschen. Er mischt sich unter die Menge der Heiden und spricht so: »Es müßte schon sein, dass gerade die Tugenden, die wir nur um der Glückseligkeit willen lieben, etc. …« 76 Sagt nicht der Bischof v. Meaux, Augustinus hätte seine eigene Meinung hier erklärt, indem er sagt, allein wegen der privaten Seligkeit müssten von den einzelnen Menschen die Tugenden geliebt werden? Ist nicht vielmehr diese Stimme aus dem Theater gekommen? Der hl. Augustinus behauptet, die meisten Menschen nehmen die Seligkeit in der körperlichen Lust an, wenige aber in der geistlichen Tugend. »Also wollen nicht alle glückselig leben«, sagt er 77, »im Gegenteil, nur wenige wollen dies, wenn glückselig leben nichts anderes bedeutet als nach der geistigen Tugend zu leben, was viele nicht wollen.« Diese sind die unzähligen Menschen, die im Theater antworten. 4. Die Seligkeit wird von allen gewünscht, so wie sie von allen gekannt wird. Denn niemand, sagt Augustinus, kann etwas lieben, von dem er überhaupt nicht weiß, was und wie beschaffen es ist. Daher lieben sie nichts außer dem, was sie kennen. Doch die Seligkeit, welche Seligkeit genannt werden könnte, kennen sie keineswegs. Daraus muss man schließen, dass sie die im eigentlichen Sinn so genannte Seligkeit keineswegs wollen. Der Bischof v. Meaux hört dem Augustinus nur wenig zu. Dieser sagt: »Welche Seligkeit auch immer, die eher so genannt wird als es auch wirklich zu sein, in diesem Leben gesucht wird, ist freilich in Wahrheit eingebildet, etc.« 78
De Trinitate, 13. Buch, Kap. 8, Abschnitt 11: »Es müsste schon sein, dass gerade die Tugenden, die wir nur um der Glückseligkeit willen lieben, uns zu überreden wagten, die Glückseligkeit selbst nicht zu lieben. Wenn sie dies tun, dann hören wir sicherlich auch auf, sie selbst [die Tugenden] zu lieben, wenn wir nicht länger die Glückseligkeit lieben, derentwegen allein wir die Tugenden liebten.« 77 Ebd., Kap. 6, Abschnitt 4. 78 Ebd., Kap. 8, Abschnitt 11. 76
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Über das Formalobjekt der Caritas
5. Was also sucht das ganze Menschengeschlecht unter dem falschen Namen der Seligkeit? »Dass sie«, sagt Augustinus 79, »je nachdem, welche Dinge sie besonders erfreut, in diese das glückliche Leben hinein verlegen.« Daher meint der heilige Gelehrte selbst, die Frage müsse so erklärt werden, »dass alle selig leben wollten, weil sie ja alle so, wie es jeden erfreut, leben wollen.« 80 Außerdem wollen wir den Augustinus fragen, ob diese Vergnügung, die fast alle Menschen als einzige kennen und wollen, die Seligkeit sei; er selbst antwortet so: »Glücklich ist nur, wer sowohl alles hat, was er will, als auch nichts mit schlechter Absicht will.« 81 So haben alle jene, die unter dem falschen Namen der Seligkeit körperliche Lust oder Befriedigung gesucht haben, das, was die Seligkeit ausmacht, keineswegs gekannt und keineswegs begehrt. Jene aber, die geistige Befriedigung aus der philosophischen Tugend zu gewinnen suchten, waren nach dem Zeugnis des Augustinus wenige. In der Tat wollen dies nur wenige, sagt er, aber selbst die begehrten nicht, oder nur dem Namen nach, die Seligkeit, welche ja außerhalb von Gott nicht gegeben wird. »Sie meinten«, sagt Augustinus 82, »anders könne niemand selig sein, als zu haben, was er wollte, und nichts zu erdulden, was er nicht wollte.« Sicher wird man in diesem Affekt des Menschengeschlechts nur zweierlei finden: Das eine ist die natürliche Neigung, selig zu leben, welche der Schöpfer höchst weise eingegeben hat. Das andere ist die ungeordnete Selbstliebe, die im Theater, d. h. in der Versammlung des Menschengeschlechts, ruft, sie wolle nicht die Seligkeit, sondern Lust oder Befriedigung des Geistes und des Körpers. Es sind diejenigen, welche die Tugenden wegen dieser phantastischen Seligkeit allein lieben. Es sind diejenigen, welche die wie auch immer beschaffene Seligkeit, die eher so genannt wird als sie zu sein, in diesem Leben suchen, in Wahrheit sie allerdings sich bloß einbilden. Es sind diejenigen, die im Theater antworten, sie wollten alles deswegen und nichts darüber hinaus. Wie weit aber jene kurze und flüchtige Befriedigung von der Seligkeit entfernt ist, möge uns Augustinus selbst lehren. Er sagt: »Über die Unsterblichkeit befragt, so wie auch über die Seligkeit, antworten alle, sie wollten diese … Damit aber der Mensch glückselig lebt, ist es notwendig, dass er lebt. Wie kann nun 79 80 81 82
De Trinitate, 13. Buch, Kap. 4. Ebd., Kap. 5, Abschnitt 8. De Trinitate, 13. Buch, Kap. 5. De Trinitate, 13. Buch, Kap. 7.
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In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
aber jenem ein glückseliges Leben bleiben, den das Leben selbst verlässt, wenn er stirbt? … Wenn daher auch kein Sinnesvermögen zurückbleibt, wodurch es (nämlich das Leben des sterbenden Menschen) unglücklich sein sollte, vergeht doch deswegen das glückselige Leben, weil ja das ganze Leben vergeht; so ist er dennoch unglücklich, solange er fühlt, weil er weiß, dass gegen seinen Willen weggerafft wird, weswegen er alles Übrige und was er vor allem Übrigen liebt … Also wollen sie nicht, dass ihr Leben vergehe. Daher wollen alle unsterblich sein, die selig sind oder es zu sein begehren.« 83 Aufgrund der Autorität des heiligen Lehrers ist sicher, dass die Menschen nichts wollen, was sie nicht kennen: »denn niemand kann etwas lieben, von dem er überhaupt nicht weiß, was oder wie beschaffen es sei.« Das eine also bleibt übrig, von ihm selbst zu erfragen, ob alle Menschen jene Seligkeit, die nur dem Namen nach Seligkeit wäre, wenn sie nicht ewig wäre, kennen würden oder nicht. So fasst er das Problem zusammen 84: »Es ist keine geringe Frage, ob die menschliche Natur diese [Unsterblichkeit] fassen kann, die sie als wünschenswert betrachtet. Wenn aber der Glaube vorhanden ist, der denen innewohnt, denen Jesus die Macht gegeben hat, Söhne Gottes zu werden, dann ist das keine Frage. Von denen aber, die mit menschlichen Argumentationen das herauszufinden versuchten, von denen konnten kaum wenige, mit großem Geist Begabte, in Muße Überströmende, in den scharfsinnigsten Lehren Gebildete dazu gelangen, die Unsterblichkeit der Seele allein zu erforschen.« Daher konnten nicht nur wenige, sondern sogar kaum wenige die ewige Seligkeit, welche die alleinige Seligkeit ist, kennen, und daher konnten kaum wenige jene begehren. Alle übrigen, die im Theater rufen, sie wollten nichts außer der Seligkeit und alles wegen dieser, wollen nur nach ihrer Lust leben, wie Augustinus sagt. Darin wollen sie, wie er selbst sagt, das übrige um ihretwillen und sich vor dem übrigen lieben. Also möge jegliches Wortgefecht fern sein vom Haus des Herrn! Nur wenige ausgenommen, kennt das ganze Menschengeschlecht weder die Seligkeit noch will es sie, sondern begehrt jegliche Vergnügung in diesem Leben, die eher Seligkeit genannt werden könnte als wirklich Seligkeit zu sein. Nach Beseitigung dieser Zweideutigkeit der Bezeichnung durch den Kontext des Augustinus, den der Bischof v. Meaux zitiert, steht offenbar fest, dass die künftige Seligkeit fast nie Motiv oder Formalgrund 83 84
De Trinitate, 13. Buch, Kap. 8, Abschnitt 11. Ebd., Abschnitt 12.
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Über das Formalobjekt der Caritas
ist, wodurch die Menschen in ihren freien Handlungen bestimmt werden, sondern dass diese fast immer vom Motiv der gegenwärtigen, vergänglichen Vergnügung bestimmt werden, welche so weit von der Seligkeit entfernt ist wie die Erde vom Himmel, wie der Augenblick von der Ewigkeit. 6. Diese Menschen, von denen Augustinus spricht, kaum wenige, sind heidnische Philosophen, die, wenn auch der Glaube fehlt, mit menschlichen Argumenten … dazu gelangen konnten, die Unsterblichkeit der Seele allein zu erforschen. In Wahrheit kennen diese Philosophen, die die Erleuchtung des Glaubens nicht haben, die in der intuitiven Schau Gottes liegende übernatürliche Seligkeit nicht, und wünschen sie, nach Augustinus, keineswegs. Sie konnten nur ein angenehmes, ruhiges Leben an lieblichen Orten wie in den Gefilden des Elysiums wünschen, nachdem sie das Schicksal erfüllt hatten. Aber diese, wie auch immer beschaffene Seligkeit außerhalb Gottes, des Schöpfers, den sie keineswegs als Schöpfer, und daher als wahrhaft vollkommen und als wahren Gott erkannt hatten, kann keinesfalls als das höchste Ziel des Menschen gelten, dessentwegen alles und außer dem nichts zu begehren der Schöpfer uns selbst eingegeben hat. Wie weit liegt es daher fern, dass diese Menschen, kaum wenige, die übernatürliche Seligkeit, welche wir allein untersuchen, wünschten, ja sie wünschten nicht einmal eine natürliche Seligkeit in Gott, als ihrem Schöpfer. Bei dieser Gelegenheit muss der Bischof v. Meaux befragt werden, worauf er hinaus wollte, als er dies in einer Randbemerkung hinzufügte: Die Grundsätze des Augustinus sowohl über die natürliche, als auch über die übernatürliche Seligkeit. Ich fragte ihn hundertmal, ob er eine natürliche, von der übernatürlichen getrennte Seligkeit anerkenne, ob die Menschen, die das Licht des Glaubens nicht haben, diese wünschen könnten als das letzte Ziel der Natur, vom Schöpfer den einzelnen Seelen eingegeben. Darauf gab er nur diese höhnische Antwort: »Ach, wir Armen, wenn es an uns läge, dich zu belehren, dass das Motiv der Seligkeit die Anhäufung alles Guten vermischt enthalte, und daher dem Herzen des Menschen eingegeben wurde, sodass er Gott wie eingemeißelt in sich trägt; dass man so insgeheim Gott wünsche, indem man die Seligkeit wünscht, und dass die Seligkeit, ich meine auch die übernatürliche, nichts in uns leisten könne, was über diese Idee hinausginge!« 85 Mit diesen Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 53 f.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 450.
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In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
Worten scheint er zu lehren, die Natur selbst wünsche auch eine verworren bekannte übernatürliche Seligkeit. Wenn er könnte, möge er selbst uns erklären, aus welchem Grund alle Menschen, kaum wenige ausgenommen, die selige Unsterblichkeit, von der sie überhaupt nicht wussten, was oder wie beschaffen sie wäre, begehren konnten. Wenn er könnte, möge er erklären, aus welchem Grund die Natur selbst eine übernatürliche Ordnung sucht, wie etwas ihr vom Schöpfer selbst Eingegebenes, sodass die Natur von sich aus, und gesondert von jeglicher Gnade, die Einzelnen zu übernatürlichen Gaben und zum übernatürlichen letzten Ziel, nämlich der seligmachenden intuitiven Schau, drängt. Wenn er könnte, möge er erklären, aus welchem Grund die Barbaren, die Waldbewohner und die sogenannten wilden Menschen in ihren einzelnen, auch noch so schändlichen Handlungen von dem Motiv der intuitiven Schau bestimmt werden, welche, wenn auch verworren betrachtet, der formale Grund wäre, weswegen sie alles Übrige wünschten. Aus dem Grundsatz des Augustinus wollen die Barbaren nichts bestimmt, außer was sie kennen; doch die selige Unsterblichkeit, oder intuitive Schau, kannten sie keinesfalls, daher wollen sie diese keinesfalls. Wie weit liegt daher fern, dass für jene darin der ganze Grund des Liebens liege! Was also wollen sie, außer nach ihrer Lust zu leben, wie Augustinus sagt? Was also wollen sie, außer zu haben, was sie wollen und nichts zu dulden, was sie nicht wollen? Das ist es, was sie in diesem Leben suchen: jede Art von Seligkeit, die eher so genannt wird als es zu sein. Das kann aber nicht die wahre Seligkeit bedeuten, schon gar nicht die übernatürliche. Hundertmal habe ich den Bischof v. Meaux gefragt, ob die Natur die bloß natürliche Seligkeit allein aus ihren Kräften, getrennt von der umsonst verliehenen Gabe der übernatürlichen Ordnung, erreichen könne; er höhnte zwar, hat jedoch niemals geantwortet. 7. Falsch ist, dass die heidnischen Philosophen soweit geirrt hätten, dass sie den einzelnen Menschen ihre eigene private, wie auch immer beschaffene Seligkeit zugeschrieben wissen wollten als formaler und gänzlicher Grund des Liebens in einzelnen Akten. Die Stoiker behaupteten nämlich, das Ziel des Menschen wäre nicht die Lust, sondern die Tugend selbst. Die Seligkeit aber, wie sie von Heiden dieser Art erdacht werden konnte, konnte nichts anderes sein als jene ehrliche und reine Befriedigung oder Vergnügung des Geistes, welches aus der Tugend entsteht. Doch das letzte Ziel des Weisen sahen sie nicht in dieser Befriedigung oder Vergnügung des Geistes, sondern in der Weisheit und Tugend selbst, oder in der Gerechtigkeit, 71 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
von der sie annahmen, man müsste sie um ihrer selbst willen zu erreichen suchen. Nicht möge der Gegner sagen, die Stoiker hätten die Tugend nicht von der Befriedigung der Tugend unterschieden, und auch nicht die Seligkeit von der unwandelbaren Tugend. Wenn mir das zugegeben wird, habe ich den ganzen Punkt gewonnen. Jene reflektierte Befriedigung, die nur uneigentlich Seligkeit genannt wird, ist nichts anderes als die Spontaneität der Tugend oder Gerechtigkeit selbst; so war die Tugend selbst das letzte Ziel der Stoiker. Diese Spontaneität des Aktes aber wurde uneigentlich Seligkeit genannt, weil aus dieser Spontaneität der Tugend jene höchste und gleichmäßige Ruhe des Weisen floss. Wenn aber der Gegner sagte, die Stoiker wollten die Tugend aus dem Motiv jener Befriedigung oder ehrenhaften Lust, die unreflektiert aus der Übung der Tugend selbst entspringt, dann wird er die Ordnung der Vernunft offensichtlich umkehren. Denn was wäre absurder und unpassender, als den Philosophen diese Meinung zuzuschreiben, die Tugend sei zu pflegen aus dem Motiv der aus ihr hervorgehenden Lust? Also hätten sie festgesetzt, dass ein höheres Gut, nämlich ein verdienstliches, auf ein geringeres Gut, nämlich ein unwillkürliches und jeglichem Verdienst entbehrendes, bezogen sein kann wie auf das letzte Ziel? So zu denken wäre offenbar Torheit und Unsinn. Also steht fest, dass sich die Stoiker vorgenommen haben, die Tugend wegen der Tugend selbst, in sich vortrefflich und von sich aus besonders liebenswert, nicht der Befriedigung oder der gleichzeitig entstehenden Lust des Geistes wegen zu pflegen. Was soll ich aber über die Epikureer sagen? Ich schäme mich des Beispiels, womit ich den gelehrten Gegner zu widerlegen gezwungen bin. Diese suchten, wie er meint, alles wegen und nichts außer der Seligkeit, oder der Lust des Geistes, welche sie Seligkeit nannten, zu erreichen, ausgenommen jedoch, dass sie die, wenngleich müßigen, nutzlosen und keinesfalls seligmachenden Götter verehrt wissen wollten. Diese Verehrung war offenbar umsonst. Sie lehrten, jeder stehe durch reine und einfache Verehrung in den Göttern selbst, nicht dass ihm aus diesen das Erlangen des Guten hervorginge; jene Liebe könnte ihr Objekt nicht erlangen und darin die Seligkeit begehren wollen. Das lehrte jene verächtliche Herde der Epikureer über die Verehrung verächtlicher Götter. Was geziemte sich für die Bischöfe, über die Verehrung des in höchstem Maße vollkommenen Gottes zu sagen? 8. Es begegnen uns zahllose Menschen jedes Zeitalters, bald Griechen, bald Römer, bald Barbaren, die keinen christlichen Glauben 72 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
hatten, die, nicht in scharfsinnigen Lehren gebildet, mit menschlichen Argumenten die Unsterblichkeit der Seele nicht finden konnten, und die, entweder um den Staat zu schützen, oder um die Tugend zu pflegen, offenbar freudig ihre Seele ausströmen ließen und sich vom Leben loszusagen schienen. Gewiss veranlasste sie keine Seligkeit, weder eine gegenwärtige noch eine zukünftige. Was ist gegenwärtig, außer heftigster Schmerz, sei es im Ertragen der Marter, sei es im Tod, den sie auf sich nahmen? Was ist zukünftig, wenn sie freilich mit menschlichen Argumenten die Unsterblichkeit der Seele nicht erforschen konnten? Sie selbst sagten: »Wir sind Staub und Schatten.« 86 Was aber ist dieser Schatten? Das leere Bild des Verstorbenen, der das ihm entrissene Licht beweint? 87 Ist das etwa jene Seligkeit, derentwegen sie alles, und außer der sie nichts zu erreichen suchen? Selbst diesen leeren Schatten aber verlachen zahllose Heiden als Altweibergeschwätz. »Sagenumwobene Manen« 88 sagen sie. Waren diese Menschen etwa selig? Konnten sie etwa irgendeine Seligkeit erwarten? Möge der Bischof v. Meaux den Augustinus hören: »Wer durch Hoffnung glückselig ist«, sagt der heilige Lehrer 89, »ist noch nicht selig. Denn er erwartet ja in Geduld die Seligkeit, die er noch nicht hat.« Wenn jener, der die Seligkeit erwartet, durch die Hoffnung noch nicht selig ist, aus welchem Grund kann der selig genannt werden, dem keine Hoffnung entgegenstrahlte? »Wer aber ohne solche Hoffnung, ohne solchen Lohn gemartert wird, der ist wahrhaftig nicht glückselig, mag er auch noch so viel Geduld aufbringen, sondern mit Tapferkeit unglücklich. Und nicht deswegen ist jemand nicht unglücklich, weil er noch unglücklicher wäre, wenn er auch noch das Unglück ohne Abhärtung auf sich nähme.« 90 Und so waren, nach dem Urteil des Augustinus, diese Menschen nicht nur nicht glückselig, sondern sogar in der Handlung wahrhaft unglücklich, während sie, um die Tugend zu pflegen oder das Vaterland zu schützen, dem Tod entgegengingen. Denn welche Seligkeit trieb sie dazu? Nicht die Seligkeit, sondern ich weiß nicht welches Trugbild eines trauernden Schattens, nämlich um »sagenumwobene Manen« zu werden.
86 87 88 89 90
Horaz, 4. Buch, Ode VII. Homer, Odyssee, Buch XI; Vergil, Aeneis, Buch VI. Horaz, 1. Buch I, Ode IV. Augustinus, De Trinitate, 13. Buch, Kap. 7, Abschnitt 10. Ebd.
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Über das Formalobjekt der Caritas
Es gefiel dem Bischof v. Meaux, diesen Knoten so zu lösen: »Ein solcher Mensch, sagte Augustinus, hat in seiner Vorstellung den Irrtum der völligen Vernichtung, in seiner Empfindung aber hat er die natürliche Sehnsucht nach Ruhe. 91 So stellten sich die Menschen immer insgeheim, als ihr Objekt, die ewige Existenz vor, entweder in der Erinnerung anderer Menschen – was man Ruhmesleben nennt – oder eine andere Art des Lebens im Körper des Staates, dessen Glied sie sind, das für sein privates Heil in diesem Ganzen selbst sorgt; ja sogar, ob sie wollen oder nicht, niemals könnten sie aufhören, mit diesem Dahinschwinden die wahren Umstände zu verbinden, aus denen eine gewisse Seligkeit erbaut wird.« 92 Mit solch verächtlichen Worten bewirkt er nichts und ersticht sich mit seinem eigenen Schwert. Augustinus selbst, den er mir so sehr vorhält, zeigt genau dies auf: Wer durch Ruhmesliebe, gleichsam wie durch die Aussicht auf ein anderes Leben im Ruhm, oder zum Heil des ganzen Staates, dessen Glied er selbst ist, dazu getrieben wird, den Tod auf sich zu nehmen, erträgt, wenn er auch unglücklich ist, sein Unglück geduldig. Wie weit ist er davon entfernt, sich dann aus den wahren Umständen eine Seligkeit zu konstruieren! Freilich sind diese Dinge wie das rühmliche Fortleben in der Erinnerung der Menschen und die Unversehrtheit eines schon ausgelöschten Gliedes im Ganzen des Staates nur metaphorisch oder poetisch gesagt und bedeuten nichts Genaues oder Philosophisches. Wer den Tod erleidet, kann weder im grausamsten Tod selbst selig genannt werden, da er ja dann mit Tapferkeit unglücklich ist, so sehr er sich auch durch eine falsche Vorstellung von der Seligkeit täuschen will; noch wird er nach dem Tod selig. »Damit aber der Mensch glückselig lebt«, sagt Augustinus 93, »ist es notwendig, dass er lebt. Wie kann nun aber jenem ein glückseliges Leben bleiben, den das Leben selbst verlässt, wenn er stirbt? … Wenn daher auch kein Sinnesvermögen zurückbleibt, wodurch es unglücklich sein sollte, (vergeht doch deswegen das glückselige Leben, weil ja das ganze Leben vergeht), ist er trotzdem unglücklich, solange er fühlt, weil er weiß, dass gegen seinen Willen weggerafft wird, weswegen er alles Übrige und was er vor allem Übrigen liebt … Es müsste schon sein, dass gerade die Tugenden, die wir nur um der Augustinus, De libero arbitrio, Buch III, 8, 23. Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 53; Edition von 1845, Bd. 9, S. 450. 93 Augustinus, De Trinitate, Kap. 8, Abschnitt 11. 91 92
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In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
Glückseligkeit willen lieben, uns zu überreden wagten, die Glückseligkeit selbst nicht zu lieben.« Also ist dieser Mensch unglücklich, solange er fühlt, weil er weiß, dass ihm gegen seinen Willen das vor allem Übrigen Teure genommen wird. Sobald er aber (wie er fälschlich annimmt) völlig ausgelöscht sein wird, wird er nicht selig sein. Mit welchem Schein wird selig genannt, wer nicht mehr ist? Welche ist denn jene lustvolle Seligkeit in der ausgelöschten Asche, der kein Sinnesvermögen bleibt, in dessen Empfindung sie unglücklich oder glücklich sein könnte? Wo ist denn das glückselige Leben, wo nicht einmal irgendein Leben oder ein Teilchen eines Lebens ist? Selbst wer in den Fabeln der Dichter noch unversehrt genannt wird zur Zierde des Staates, selbst der ist nichts mehr, was diesen Ruhm wahrnehmen könnte. So ist jene Seligkeit, derentwegen er alles und außer der er nichts begehrt, selbst nichts. Wer zu jener Zeit unglücklich ist, kann durch keine zukünftige Seligkeit, außer der poetischen, die der ausgelöschten Asche versprochen wird, angetrieben werden. Dieser hat auch den Irrtum des völligen Verschwindens in seiner Vorstellung; das Motiv, oder der formale Grund, wodurch die Menschen bestimmt werden, existiert nun allerdings nicht in der Empfindung, sondern in der Vorstellung. Wenn daher das völlige Vergehen in der Vorstellung allein existiert, kann kein Motiv der Seligkeit vorhanden sein, welche mit der völligen Auslöschung nicht vereinbar ist. Aber in der Empfindung gibt es kein Motiv: denn die Empfindung, insofern sie der Vorstellung entgegengesetzt ist, kann sich nicht einen formalen und präzisen Grund vorsetzen, um einen bewussten Willensakt hervorzurufen. Jene unbewusste Empfindung ist vielmehr die Neigung der Natur, welche uns, wie gesagt, vom Schöpfer eingegeben worden ist, um glückselig zu leben. 9. Wäre es auch (was wir schon als falsch erkannt haben) unmöglich, von Natur aus irgendetwas zu begehren, außer aus dem Motiv, die Seligkeit zu erlangen, wäre es in gleicher Weise, so würde der Gegner zu Unrecht vorbringen, der Caritas unmöglich, irgendetwas zu begehren, außer aus dem Motiv der intuitiven Schau, oder der übernatürlichen Seligkeit. Es könnte freilich sein, dass alle in der bloß natürlichen Ordnung aus einer angeborenen Neigung irgendeine Seligkeit oder vergänglichen Frieden suchen, und es wäre dennoch nicht unmöglich, dass die Christgläubigen Gott um Gottes willen rein und einfach durch die wesentlichen Akte der Caritas lieben, wobei die Gnade den schwachen Willen unterstützt. Verschwinden möge also die häufige Zweideutigkeit des Gegners im Verbum »ge75 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
nießen« (frui). Wer auch immer Gott genießt, der hängt ihm an um seiner selbst willen, in reiner, einfacher und bloßer Liebe, auch wenn er die intuitive, seligmachende Schau nicht erlangen sollte. Ohne Zweifel müsste Gott durch die Caritas verehrt werden, auch wenn er uns diese intuitive Schau nicht verliehen hätte. Daher ist es der Caritas nicht wesentlich, genießen zu wollen, in dem Sinn wie der Bischof v. Meaux dieses Wort gebraucht hat, nämlich diese übernatürliche Seligkeit erlangen zu wollen. Wie sehr widerspricht der Kardinal Bellarmin dem Bischof. »Die vierte Wirkung (der Caritas)«, sagt er, »ist, zur Ehre hinzuordnen«. Also unterstellt dieser höchst gelehrte Theologe, der Mensch würde sich nicht anders »zur Ehre hinordnen«, als durch das Einwirken der Gnade, die aber nicht, wie der Bischof v. Meaux sagt 94, dem menschlichen Herzen eingegeben wurde, um die Seligkeit, auch nicht die übernatürliche, zu begehren. »Freilich könnte Gott einen mit dieser Geisteshaltung begabten Menschen zur Ehre hinordnen.« (Das sagt er über die Geisteshaltung der Caritas, nicht über Akte der Caritas). »Nicht nämlich scheint die Kraft dieser absolut überlegten Geisteshaltung so groß zu sein, dass sie mit Notwendigkeit die gleichsam ihr gebührende Seligkeit ergreift. Weil aber dennoch Gott, so sagt der hl. Jacobus, cap. 1, die Krone des Lebens allen verheißen hat, die ihn lieben, deshalb macht die gespendete Caritas diese nicht nur zu Gerechten und Freunden, sondern auch zu Erben des Reiches.« 95 So ist die übernatürliche Seligkeit der Geisteshaltung der Caritas am wenigsten geschuldet. Falsch ist, dass die Caritas diese Seligkeit mit Notwendigkeit ergreift; falsch ist, dass sie ihr Objekt in diesem Sinn genießen oder innehaben will. Wer mit der Gabe der Caritas beschenkt wird, der ist nur deshalb Erbe des Reiches, weil Gott es umsonst verheißen hat. Würde man diese rein uneigennützige Verheißung aufheben, wäre der Gerechte und Freund nicht Erbe des Reiches. Er würde dann Gott um Gottes willen lieben und deshalb Gott so durch die permanente Präsenz der Liebe genießen, auch wenn er die Krone des Lebens nicht hätte. Weiter ist dies nicht das wesentliche Motiv der Caritas, welches sie nicht mit Notwendigkeit anstrebt, und nach dessen Aufhebung die Geisteshaltung der Caritas selbst unversehrt bleibt. Der Bischof v. Meaux sagte, die Seligkeit, welche Gott selbst ist, Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 54; Edition von 1845, Bd. 9, S. 450. 95 De Justificatione, Buch II, Kap. XVI, 1. IV. 94
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In welchem Sinn die Caritas im Wesentlichen Gott genießen will
sei eine vollendende, und daher werde die Seele umso vollkommener, je mehr sie diese begehre. Auch das erkenne ich nicht an. Was tut das zur Sache? Wahr ist freilich, dass die ganz vollkommenen Seelen vor den übrigen das bevorstehende Reich Gottes mit ganzer Leidenschaft wünschen, um mit ihm selbst zu herrschen gemäß der Verheißung. Denn, wie der hl. Thomas sagt, hinsichtlich der Freunde hoffen wir am meisten. 96 Dann vermehrt die Leidenschaft der Caritas die Hoffnung. Dann ordnet die Caritas auch ausdrücklich die Akte der Hoffnung an, und schließt selbst die Seligkeit als eine Offenbarung der Ehre Gottes mit innerer Zustimmung ein. Aber das spezifische Motiv der Caritas, das in sich Gute, ist vollkommener als das Motiv der Hoffnung, das für uns Gute. »Denn immer«, sagt der hl. Thomas 97, »ist, was von sich aus gut ist, höher als das, was durch anderes ist. Der Glaube aber und die Hoffnung berühren Gott zwar, wonach uns selbst daraus etwas erwächst etc., … aber die Caritas erreicht Gott selbst, um in ihm zu stehen, nicht damit uns aus ihm etwas erwächst; und deshalb ist die Caritas vortrefflicher als Glaube und Hoffnung«. Deswegen ist der christliche Lohn, soweit seine Kraft vollendend ist, doch weniger vollendend unter dem Begriff des Guten in Beziehung auf uns, oder des uns nützlichen Guten, als unter dem Begriff des absoluten, oder in sich vollkommenen Guten. Die Seligkeit ist ohne Zweifel vollendend. Wen sie also im Himmel beglückt, den vollendet sie. Diese intuitive Anschauung reißt so alle Leidenschaften der Menschen fort, dass sie niemals ablassen können, Gott aufs höchste zu lieben. Aber jene süße Ekstase der Seele, die Wirkursache (causa efficiens) der Vollendung, ist nicht deren Finalursache (causa finalis). Diese ist allein Gott, in dem die Caritas der Seligen ganz einfach steht, nicht dass ihnen etwas aus ihm erwachse, auch nicht das Erreichen jenes höchsten Gutes, welches sie schon innehaben. Unser Lohn wurde nicht umsonst vollendend genannt in jedem beliebigen Grad der Vollendung. Die übernatürliche Liebe der Hoffnung ist heilige Begierde. Durch ihre Ausübung überragt sie die lasterhafte Begierde, macht der Seele Gott mehr und mehr gegenwärtig, zeigt seine Wohltätigkeit. Darin findet die Caritas Freude und Vergnügen. Daher freut es sie auch, die Akte der Hoffnung ausdrücklich anzuordnen und zu ihrem Ziel zu führen. Dadurch wird jene gehegt und genährt und wächst. Das ist der Ansporn der Liebe. Immer wie96 97
Opusculum, LXIII, Kap. V, 3. princ. laudis. Sum. theol. II, II, q. 23, art. 6.
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Über das Formalobjekt der Caritas
der sage ich, unser Lohn sei vollendend, nicht nur in der himmlischen Heimat, sondern auch im irdischen Leben, sofern er als abwesender erhofft wird. Denn er vollendet die Liebenden und Hoffenden auf diese bereits erläuterte Weise. Aber lieben kann man entweder aus heiliger Begierde oder aus reinem Wohlwollen; jede dieser beiden Arten von Liebe ist auf ihre Weise vollendend, jede der beiden muss man ausüben; aber die wohlwollende Liebe, vollkommener als die andere, ist mehr vollendend. Übrigens steht aus dem Gesagten fest, dass diese wohlwollende Liebe, welche der Bischof v. Meaux zur wahren Gottesverehrung zurückweist, von den Stoikern ausgeübt worden war, um die Tugend umsonst zu pflegen, und auch von den Epikureern, um die nutzlosen Götter zu verehren. Unser Lohn aber, wenn auch wahrhaft vollendend, schließt dennoch irgendetwas Geschaffenes ein. Daher würden wir Gott weniger als die Epikureer zuschreiben, wäre die Erlangung des aus der intuitiven Anschauung Gottes uns erwachsenden Gutes unser ganzer Grund der Gottesliebe, nach dessen Beseitigung Gott selbst nicht liebenswert wäre. Die Epikureer haben niemals gesagt, ihre schwachen Götter dürften nur aus dem Motiv der Lust verehrt werden, welche sie für ihre Seligkeit annahmen. Und auch die Stoiker haben nicht gelehrt, die Tugend dürfe nur aus dem Motiv der ehrenhaften Lust gepflegt werden, welche die Tugend wie ihre Frucht selbst pflückt. Keine von diesen beiden Schulen hat jemals diesen ganzen Grund des Liebens, nämlich die private Glückseligkeit, anerkannt. Doch wundert es nicht, dass die Seligkeit gemeinhin das letzte Ziel genannt wird. Durch diese weniger angemessene Redeweise wird die Seligkeit konkret genommen. Das letzte Ziel und der höchste Akt, wodurch der Höchste selbst erreicht wird, werden zusammengefasst. Es mag auch der Schöpfer und irgendetwas Geschaffenes verbunden werden, wodurch wir dem Schöpfer ganz fest anhängen. Mag diese Verquickung auch noch so viel Geltung in der Sprache des Volkes haben; wenn aber die Sache abstrakt gesetzt wurde zur exakten Erforschung der Wahrheit, muss man mit den Theologen sagen, was wir schon vom hl. Thomas gehört haben und Durandus, der Bischof v. Meaux 98, auch lehrte: »Lohn oder Preis«, sagte er, »kann nicht einfach das letzte Ziel sein. Es wird nämlich das Gut mit begehrender Durandus von St. Pourçain (* um ca. 1270–1275; † 10. September 1334) wurde 1326 Bischof von Meaux.
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Der Grundgedanke der vorausgehenden Lehre, vom hl. Thomas hergeleitet
Liebe geliebt, wenn es wie ein Vorteil geliebt wird.« 99 Einzig der in sich vollkommene Gott kann schlicht das letzte Ziel genannt werden. Daher fasse ich zusammen: Es ist ganz falsch, dass alle alles wegen etwas wollen, das nicht das letzte Ziel ist, und nichts darüber hinaus. Aber ganz sicher ist, dass aufgrund der wesentlichen Ordnung alle alles wollen müssen, auch die Seligkeit selbst, wegen eines höheren Zieles, nämlich einfach des höchsten Zieles, natürlich wegen Gott, der in sich selbst vollkommen ist. Wie sehr auch Augustinus dieser Lehre zustimmt steht fest, sowohl durch das Gesagte als auch dadurch, dass er die Seligkeit als »Freude an der Wahrheit« definiert hat. Freude an der Wahrheit aber ist nicht die Wahrheit selbst; die Freude des Menschen ist nicht Gott selbst, und daher muss sich die Seligkeit, welche nicht einfach das höchste Ziel ist, auf jenen beziehen. Das aber wird unten noch ausführlicher bewiesen werden.
VI. Der Grundgedanke der vorausgehenden Lehre, vom hl. Thomas hergeleitet Nun ist es der Mühe wert, den Ursprung und die Hauptsache dieser ganzen Frage zu wiederholen. »Ein jedes natürliches Ding«, sagt der hl. Thomas 100, »welches von Natur in dem, was es ist, einem anderen zugehört, neigt sich vorzüglicher und stärker dem zu, dem es gehört, als sich selbst … Wir sehen nämlich, dass naturgemäß ein Teil sich erhebt zur Erhaltung des Ganzen, so wie sich die Hand ohne Überlegung gegen den Schlag erhebt, zum Schutze des ganzen Körpers. Und weil die Vernunft die Natur nachahmt, finden wir eine derartige Nachahmung in den politischen Tugenden: Es ist nämlich Pflicht eines tugendhaften Bürgers, sich auch unter Todesgefahr für die Erhaltung des ganzen Staates einzusetzen. Und wenn der Mensch ein natürlicher Teil dieses Staates wäre, wäre diese Neigung für ihn natürlich. Weil also das allgemeine Gute Gott selbst ist, und unter diesem Guten auch der Engel, der Mensch und alle Kreatur enthalten ist, weil ja alle Kreatur naturgemäß, nach dem, was sie ist, Gottes ist; daraus folgt, dass durch die natürliche Liebe auch der Engel und der Mensch Gott mehr und vorzüglicher liebt als sich selbst. Andernfalls, Durandus, Petri Lombardi sententias theologicas commentariorum libri quatuor, Buch III, distinctio XXIX, quaestio III. 100 Sum. theol. I, q. 60, art. 5. 99
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Über das Formalobjekt der Caritas
würde er von Natur aus sich selbst mehr als Gott lieben, folgte daraus, dass die natürliche Liebe verkehrt ist und durch die Caritas nicht vollendet, sondern zerstört würde.« »Im Zustand der reinen Natur konnte der Mensch durch die Kraft seiner Natur das Gut, das seinem Wesen entspricht, ohne Hinzufügung einer ungeschuldeten Gabe bewirken, wenn auch nicht ohne die Hilfe des bewegenden Gottes. Gott über alles zu lieben ist nun aber etwas dem Menschen Naturgemäßes … Der Grund dafür ist, dass es ja für jeden natürlich ist, etwas zu begehren und zu lieben, je nach der bestimmten Eignung, in der es geschaffen wurde … Offenbar ist aber, dass das Gut des Teiles wegen des Gutes des Ganzen besteht. Daher liebt durch natürliches Streben oder Liebe jeder Teil einer Sache sein eigenes Gut wegen des gemeinsamen Gutes des ganzen Universums, welches Gott ist … Daher bezog der Mensch im Zustand der reinen Natur die Liebe zu sich selbst auf die Gottesliebe als deren Ziel, und in gleicher Weise die Liebe zu allen anderen Dingen, und so liebte er Gott mehr als sich selbst und alles andere. Aber im Zustand der verdorbenen Natur fällt der Mensch davon ab infolge des Verlangens des rationalen Willens, der wegen der Verderbtheit der Natur das private Gut verfolgt, wenn er nicht durch die Gnade Gottes geheilt wird, etc.« 101 Dadurch steht ganz offenbar fest, dass die Liebe zum allgemeinen Guten, nämlich zu Gott, für den Menschen etwas Naturgemäßes ist, und dass sie die ursprünglichere Liebe des Menschen ist. Sonst wäre die natürliche Liebe verkehrt; … sie würden durch die Caritas nicht vollendet, sondern zerstört werden. Also ist das die wesentliche Ordnung der natürlichen Liebe, dass wir zuerst Gott, dann uns selbst wegen Gott, und zwar aus Liebe zu Gott lieben, nämlich wie etwas, das Gott nachfolgt und sich auf ihn selbst bezieht. So ist die Gottesliebe die ursprüngliche Quelle und liegt der Liebe zu uns selbst zugrunde. Aus dieser Liebe zum allgemeinen Guten, gleichsam wie aus dem ersten Quellwasser, fließt jenes Bächlein, welches die Liebe zum privaten Guten genannt wird. Aber nicht aus der Liebe zu unserem privaten Guten fließt die Liebe zum allgemeinen Guten. Die Liebe zu Gott geht vor; dann folgt die Liebe zu uns. Aufgrund der Ordnung der reinen Natur ist es vorzüglicher, das Ganze zu lieben als den Teil; es ist vorzüglicher, Gott zu lieben, dessen wir sind, was immer wir sind, als uns selbst zu lieben, die wir aus uns selbst nichts sind. Wenn die 101
Sum. theol. I, II, q. 109, art. 3.
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Der Grundgedanke der vorausgehenden Lehre, vom hl. Thomas hergeleitet
Natur geradewegs das anordnet, was dann die Gnade Christi? Wenn sich die bloß natürliche Gottesliebe so verhält, was ist dann mit der Caritas, übernatürlich ausgedehnt in unseren Herzen durch den heiligen Geist, und gar nicht suchend, was das Ihre ist? Daher liebte Adam Gott hauptsächlicher und bevor er sich liebte. Im Gegenteil, er liebte sich selbst keineswegs, außer wie einen Teil, dessen Ganzes Gott selbst ist, wie etwas, das Gott nachfolgt und sich auf ihn bezieht. War etwa jene ursprüngliche Liebe Gottes nicht rein wohlwollend? Konnte der Mensch, noch nicht sich selbst liebend, Gott für sich begehren? Sicher konnte jene ursprüngliche Gottesliebe, aus welcher dann die Eigenliebe floss, kein Wunsch sein, die Seligkeit zu erreichen. Was nämlich jeder Eigenliebe vorausgeht, wie die Ursache der Wirkung, wie die Quelle dem Fluss, kann nicht das Begehren der eigenen Seligkeit sein. Wer sich selbst beglücken will, wird sich selbst wohlwollend sein und sich selbst so sehr wie möglich lieben. Wer dagegen Gott eher liebt als sich selbst, und sich auch nicht danach liebt, außer aufgrund jener ursprünglichen Gottesliebe, kann nicht in jenem ursprünglichen Gefühl der Liebe zu Gott sich seines Objektes bemächtigen wollen, d. h. aus diesem selbst glücklich sein wollen. So war jene ursprüngliche Gottesliebe, die allem Begehren zugrunde gelegt war, frei von jeglichem Begehren oder Verlangen; sie war rein wohlwollend. Wer das leugnet, der leugnet notwendigerweise somit auch, dass jegliche Liebe zu uns abgeleitet ist, wie aus ihrer Quelle, aus der vorausgehenden Liebe zu Gott. Dann wäre sicherlich die natürliche Liebe verkehrt; denn sie würde bei sich selbst beginnen, und von dem Geliebten weitergehen zur Gottesliebe. Darauf, dass diese anfängliche Gottesliebe, die rein wohlwollend war, Adam eingegeben worden sei, richte ich nun meine Aufmerksamkeit. Das kann so bewiesen werden. Die Liebe, womit jeder sich selbst liebt, ist ohne Zweifel rein wohlwollend. Denn niemand würde etwas für sich Gutes, oder ein seligmachendes Gut begehren, wenn er sich nicht wohltun wollte. Ja, sogar mit höchstem Wohlwollen behandelt sich, wer für sich das höchste Gut begehrt. Daher ist klar, dass überhaupt jede begehrende Liebe an einem beliebigen Objekt wesentlich und offenbar, wie ihre Quelle, eine wohlwollende Liebe zu sich zugrundelegt. Diese wohlwollende Liebe nimmt sich kein ihr nützliches Ziel in der Eigenliebe vor. Wer sich so liebt, tut das nicht deswegen, damit ihm irgendein Vorteil aus sich erwächst, er liebt sich nicht, um sich zu beglücken; ja er will sich nicht beglücken, außer schon da81 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
durch, dass er sich liebt; er ist sich unmittelbar ergeben. Von sich aus, sagt Cicero 102, ist jeder sich lieb. Wird etwa der Bischof v. Meaux sagen, diese rein wohlwollende Liebe gebe es zwar gegenüber uns ganz Unvollkommenen aus der Neigung der Natur selbst; aber diese sei unmöglich aus göttlicher Gnade gegen den höchst vollkommenen Gott? Wenn jene Liebe zu uns selbst geordnet ist, muss sie aus der Liebe Gottes wie aus ihrer Quelle fließen. Denn nicht dürfen wir uns selbst lieben, es sei denn wie etwas Gott Nachfolgendes und auf ihn Gerichtetes. Was man daher über das Bächlein sagen muss, wird man a fortiori über die Quelle sagen müssen: Wenn die Liebe zu uns rein wohlwollend ist, dann muss jene anfängliche und ursprüngliche Liebe Gottes, aus welcher jene Liebe zu uns fließt, a fortiori rein wohlwollend genannt werden. Aber kehren wir zu Adam im Paradies der Lust zurück! Er war gerecht; kein anderer Affekt als ein geordneter war in ihm. Wenn wir dem Bischof v. Meaux zuhören, war für Adam die mitgeteilte Seligkeit der ganze Beweggrund, Gott zu lieben. Der Grund der Liebe könne anders nicht geklärt werden. Durch das Bedürfnis nach Seligkeit wurde er getrieben, davon, sich selbst zuerst und absolut zu lieben, dazu überzugehen, Gott außer sich zu begehren. Hätte Adam dieser Grund zu lieben gefehlt, wäre weder Gott für Adam liebenswert gewesen, noch wäre Adam Gott gehorsam gewesen. Dasselbe müsse man über Christus unsern Herrn sagen. Ohne den Nutzen der Seligkeit wäre er dem Herrn nicht gehorsam gewesen. 103 So aber setzte ich nach. In dieser Annahme ist sicher, dass Adam sich mit rein wohlwollender Liebe geliebt hat, bevor er Gott mit der begehrenden Liebe geliebt hat. Ja, es ist sogar sicher, dass jenes Begehren Gott gegenüber aus der rein wohlwollenden Liebe zu sich wie aus einer Quelle floss. Denn niemand begehrt, wie schon gesagt, etwas für sich, außer weil er sich schon wohlwollend gesinnt ist. Ich frage, auf welche Weise jene rein wohlwollende Liebe gegen sich, die jedem Begehren Gott gegenüber zugrunde liegt wie die Ursache der Wirkung, hingeordnet werden konnte. Sicher kann, was früher und ursprünglicher ist, nicht auf das Spätere und Niedrigere hingeordnet werden. Wäre nun aber jene Eigenliebe des Adam etwas Früheres und Ursprünglicheres, dann wäre die Gottesliebe etwas SpäCicero, De Amicitia, Kap. XXI. Bossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 523; Edition von 1845, Bd. 9, S. 368.
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Der Grundgedanke der vorausgehenden Lehre, vom hl. Thomas hergeleitet
teres und Niedrigeres; daher konnte die Eigenliebe nicht auf die Gottesliebe hingeordnet werden. Als Geringere wird sie so erwiesen: Was nur mit begehrender Liebe geliebt wird, wird weniger geliebt als etwas, das mit wohlwollender Liebe geliebt wird. Sogar die begehrende Liebe fließt immer aus einem Wohlwollen sich selbst gegenüber, welches notwendig zugrundliegt. Daher wäre in dieser Unterstellung offenbar die Eigenliebe in Adam früher und ursprünglicher gewesen als die Gottesliebe. Ist etwa diese Ordnung der Liebe in der unverdorbenen Natur dem Herz des Menschen eingepflanzt? Der Gegner soll nicht sagen, die Gottesliebe wäre in Adam teils wohlwollend gegenüber Gott, teils die Seligkeit begehrend gewesen. In der Unterstellung des Gegners müsste die Gottesliebe unbedingt und völlig die Seligkeit begehrend gewesen sein. Sobald die zu erwerbende Seligkeit der ganze Grund des Liebens ist, ist die ganze Liebe eine Seligkeit anstrebende, oder mit anderen Worten, begehrliche. Das Gute, soweit auf uns selbst bezogen, mit anderen Worten unser Vorteil, kann niemals der Grund des Liebens im Sinne des Wohlwollens jemand anderem, von uns selbst Verschiedenen gegenüber sein. Meine Seligkeit kann nicht der Grund sein, weshalb ich Gott wohlwollend bin. Sonst wäre diese Liebe nur dem Namen nach wohlwollend, in Wirklichkeit aber rein begehrend; sie wollte nämlich ihrem Objekt nichts Gutes, außer um in diesem vollständiger beglückt werden zu können, so wie der der Lust ergebene Mensch seinem köstlichen Mahl frönt, um sich darin mehr der Gefräßigkeit hinzugeben. Wäre aber dem Menschen irgendein anderer Grund, Gott zu lieben, gegeben, als die Seligkeit zu wünschen, möge es den Bischof v. Meaux schon reuen, gesagt zu haben, dass sie [die Gottesliebe] anders nicht erklärt werden könne, und dass jene der ganze Grund des Liebens sei. Diesen anderen Grund möge er selbst endlich einmal aufrichtig vorbringen. Hätte sich aber Adam, könnte er sagen, weniger um seiner selbst willen geliebt, wäre in sich, als dem letzten Ziel, gestanden, und wäre diese Liebe rein wohlwollend sich selbst gegenüber gewesen, höherstehender und vorzüglicher als das begehrliche Verlangen Gottes, dann wäre das der wahre Genuss seiner selbst gewesen. Als aber Adam später, sich nicht genügend, Gott über sich hinaus begehrte, sei dies nämlich aus dem bloßen Bedürfnis nach Seligkeit geschehen, ohne die, wie der Bischof sagt, der Mensch Gott nicht gehorsam wäre. Der Bischof sagt vom Menschen im Stande der Unschuld, was Augustinus vom gefallenen und ungeordneten gesagt hat: Es beginnt der Mensch, sich selbst zu lieben, und dann wird er von sich zu den Din83 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
gen getrieben, die außerhalb seiner sind. Ein Mensch, der bei sich beginnt und aus dem Bedürfnis nach Seligkeit von sich weg nach außen, zu Gott getrieben wird, der sucht Gott wie eine reiche Beute zu fangen. Je vollkommener und vollendender dieser Lohn ist, mit umso reinerer und vollkommenerer Leidenschaft ziemt es sich für uns, ihn zu verdienen. Was wäre aber dieses Begehren des höchsten Gutes, wozu der Mensch in Liebe zu sich über sich hinaus gleichsam gegen seinen Willen getrieben wird, wenn nicht unwürdigste und unvollkommenste Begierde nach dem vollkommensten Objekt? Dann hätte der Mensch sich selbst mehr als Gott, und Gott nur seinetwegen geliebt. Was du aber nur wegen des begehrten Vorteils liebst, das liebst du zweifellos weniger als dich selbst, für den du das aus Bedürfnis nach Glückseligkeit begehrst. So hätte Adam zuerst sich mit rein wohlwollender, absoluter Liebe geliebt, dann Gott mit einer zweiten, auf die erste bezogene und bloß begehrliche Liebe; wie ein gefräßiger Mensch köstliche Speisen anstrebt, über sich hinaus getrieben von Verlangen und Bedürftigkeit nach Lust. An dieser Klippe zerschellt nicht, wer mit dem hl. Thomas diese Ordnung der Liebe genau bestimmt: 1. Adam hat Gott mit der rein wohlwollenden Liebe geliebt wegen dessen absoluter Vollkommenheit. 2. Sich selbst hat er wegen Gott und aufgrund der Gottesliebe selbst geliebt wie etwas, das Gott nachstrebt und sich zu ihm ausstreckt, und daher war jene Eigenliebe rein wohlwollend, wie auch die Liebe Gottes, aus der sie floss. 3. Gott, in sich höchst vollkommen, den er schon mit der rein wohlwollende Liebe der Caritas liebte, begehrte er, soweit für ihn gut oder seligmachend, in den Akten der Hoffnung. So liebte er sich weder jemals vorzüglicher und mehr als Gott, sondern Gott immer vorzüglicher und mehr als sich. So hat der Mensch mit Gott angefangen und in sich selbst fortgefahren, wie in etwas Folgendem. So muss man den hl. Thomas verstehen, wenn er sagt: »Jeder Mensch will von Natur aus Seligkeit, und aus diesem natürlichen Wollen ergeben sich alle anderen Willensakte, weil der Mensch alles, was er will, wegen eines Zieles will.« 104 Er spricht von der objektiven Seligkeit, nämlich von Gott, der das letzte Ziel ist. Durch die Liebe zu jenem allgemeinen und höchsten Gut lieben wir das Übrige: das ist für den Menschen naturgemäß. Denn was einem anderen zugehört, neigt sich hauptsächlicher dem zu, dem es zugehört als sich selbst. Nicht aber sollst du die menschliche Natur 104
Sum. theol. I, q. 60, art. 2.
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Der Grundgedanke der vorausgehenden Lehre, vom hl. Thomas hergeleitet
und das Wesen der Liebe dagegenhalten. Denn die Natur selbst spricht allein Gott die Anfänge der Liebe zu, dessen wir sind, was immer wir sind: Die Vernunft ahmt die Natur nach. Wenn aber die Vernunft das leistet, wieviel mehr die Erleuchtung der übernatürlichen Gnade? Das universale Gut, das Gott selbst ist, ist das Erste, was die Natur selbst, ohne Gnade, liebt, wenn sie wohlbeschaffen ist. Vorzüglicher ist es, das Ganze zu lieben, als einen Teil zu lieben. Vorzüglicher ist es, die Herrlichkeit und Vollkommenheit Gottes zu lieben, das Allgemeingut des ganzen Universums, als unsere Seligkeit, das private Gut. Der Bischof v. Meaux ruft laut, dies sei unmöglich. Dagegen lehrt der hl. Thomas, das sei für den Menschen naturgemäß, wenn er selbst, was immer er sein mag, nicht seiner selbst, sondern eines anderen ist. Daher kann ich mich nicht genug wundern, dass dem gelehrten Gegner etwas dem Menschen Naturgemäßes so sehr widerstrebt. Aus diesem unumstößlichen Prinzip des hl. Thomas fließen ganz klar gerade die besten Grundsätze der moralischen Philosophie. »Die Hand«, sagt er 105, »erhebt sich gegen den Schlag zum Schutze des Ganzen, und weil ja die Vernunft die Natur nachahmt, finden wir eine derartige Nachahmung in den politischen Tugenden. Es ist nämlich Pflicht eines tugendhaften Bürgers, sich auch unter Todesgefahr für die Erhaltung des ganzen Staates einzusetzen.« Wenn es vorzüglicher ist, das Ganze zu lieben als den Teil, und das allgemeine Gut mehr als das private, muss man den Staat sich voranstellen. Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben. 106 Dazu treibt die Natur. Darin ahmt die Vernunft die Natur nach; das ist dem Herz des Menschen eingepflanzt, und auch die Erbsünde hat es nicht völlig zerstört. Mutlose Menschen, die nicht die Kraft hatten, das zu leisten, bewundern es in anderen; gleichermaßen gebieten Natur und Vernunft, dass in dieser Ordnung der Liebe die Tugend gepflegt wird. So haben sich Kodros, Curtius, die Decier, so haben sich unzählige andere Griechen, Römer, Barbaren für das Heil des Vaterlandes dem ganz gewissen und bitteren Tod preisgegeben. Wenn der Bischof v. Meaux dagegen einwendete, dies sei nur aus Liebe zu eitlem Ruhm und nicht aus Liebe zum Staat getan worden, dann möge er doch bedenken, dass nur eine große Tat, die von Natur und Vernunft als hervorragend ausgewiesen ist, alle diese Menschen dazu geführt hat, dass sie gerühmt und dass 105 106
Sum. theol. I, q. 60, art. 5. Horaz, Buch. III, Ode II.
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Über das Formalobjekt der Caritas
ihnen Statuen errichtet wurden. Ohne diese Tat hätten sie nicht einmal eitlen Ruhm erworben. Wenn aber die Bürger von dem, was der Bischof v. Meaux lehrt, völlig überzeugt gewesen wären, hätte sich niemand dem Staat geweiht, außer wegen des Verlangens nach privater Seligkeit; dann wird niemand für das Wohl des Vaterlands sorgen, außer, insofern er dadurch sich seines Objektes zu bemächtigen hofft, nämlich möglichst großer Annehmlichkeit des Lebens. Durch Abwägung des Lohns wird jeder bei sich erwägen, ob er an die Seligkeit näher herankommt oder sich weiter von ihr entfernt, wenn er für das Vaterland kämpft oder es im Stich lässt; und er wird dies nicht umsonst tun, wenn das private Glück der ganze Grund des Liebens wäre, welcher anders nicht erklärt werden könne. Wenn alle alles wegen des privaten Glücks und nichts darüber hinaus wollen, dann sind die einzelnen, die sich gegen jenen gänzlichen Urgrund des Liebens dem Staat hintansetzen, ganz und gar wahnsinnig. Eine solche Liebe zum Staat (weit davon entfernt, etwas dem Menschen Naturgemäßes 107 zu sein), widerspricht 108 sowohl der Natur des Menschen als auch dem Wesen der Liebe.
VII. Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux über das doppelte Motiv der Caritas, das primäre und das sekundäre Der Gegner meinte, diese Lehre abschwächen zu müssen. Deswegen wies er der Caritas ein doppeltes Motiv zu, ein ursprüngliches und hauptsächliches, nämlich die Ehre Gottes, ein anderes zweites und weniger ursprüngliches 109, nämlich die Seligkeit des Menschen. »Du hoffst«, sagte er, »uns durch diese Frage zu beunruhigen: Wird die Ehre Gottes wegen der Seligkeit oder die Seligkeit wegen der Ehre Gottes gewünscht? Mit einem Wort ist geantwortet, diese zwei seien untrennbar. Ohne Zweifel übertrifft die Ehre Gottes in sich genommen die Seligkeit des Menschen und dennoch darf man daraus nicht folgern, dass diese getrennt werden könnten … Wir haben dir schon gesagt, dass diese Motive freilich in den Schulen so angeordnet werSum. theol. I, q. 109, art. 3. Nach Meinung Bossuets und des Gallikanischen Konvents. 109 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 54.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 450. 107 108
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Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux
den, so dass sie anzeigen, welches das erste und welches das zweite sei, aber niemals getrennt werden. Widerlege, wenn du kannst, diese Unterscheidung, in der die ganze Kraft unserer Lehre liegt, und die sich deiner Lehre widersetzt.« Fern sei die Trennung der Motive, welche die zu wünschende Seligkeit aus jedem Zustand der Seelen ausschließt. Aber wenn er, indem er die Trennung der Motive verneint, auch, wie er es schon so oft getan hat, sagt, es könne keine Handlung der Caritas geben, in der die Seligkeit nicht schlechthin der formale Grund des Liebens sei, dann widerspricht er offen allen Schulen. Am meisten bestand ich darauf, dass er selbst erklären solle, ob das Motiv, welches er das zweite und weniger ursprüngliche nennt, nämlich die Seligkeit, ein wesentliches oder zufälliges sei. Wäre es spezifisch, dann ist es wesentlich und kann daher in keinem Akt der Caritas fehlen; wäre es aber nicht spezifisch, ist es nur zufällig und kann daher in einigen Akten der Caritas fehlen. Was aber nicht spezifisch ist, ist aus der Definition der Caritas selbst klar. Was sagt dazu der Bischof v. Meaux?: »Du selbst zeigst dich in den Fesseln deiner sophistischen Dialektik gefangen. Wo hast du denn diese Regeln gefunden, dass verschiedene Motive in demselben Akt sich nicht einander unterordnen können, mögen sie auch untrennbar sein?« 110 – Wer hat das jemals geleugnet? Ich sicher nicht. »Du glaubst«, sagt er 111, »dass diese Frage durch kleinliche logische Spitzfindigkeiten entschieden wird; als ob diese Regel aber gleichsam feststünde, dass alles, was nicht das Wesen selbst ist, als etwas Zufälliges abgetrennt werden könnte; als ob es keine Eigenschaften dazwischen gäbe, welche die Logik, dein Hilfsmittel, wesentliche und untrennbare nennt. In diesem Punkt halte ich mich ganz an diesen Brief, weil es ein entscheidender Punkt ist.« In einer Randnote fügt er hinzu: »Dieser Punkt enthält die Entscheidung des Ganzen.« Anderorts äußert er sich so 112: »Du sollst nicht weiter das Motiv der Seligkeit von den menschlichen Handlungen trennen und das Verlangen nach Genuss und Vereinigung von den Akten der Caritas; das heißt: Trenne nicht von der Liebe, was ein Teil ihres Wesens ist. Unmögliche Unterstellungen können zwar beweisen, dass der Caritas, um Gott zu lieben, ein höheres Motiv innewohnt als die Wohltätigkeit Gottes uns geBossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 18, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 60. 111 Ebd., Abschnitt 18 u. 19, S. 61 u. 62. 112 Ebd., Abschnitt 14, S. 49 u. 50. Edition von 1845, Bd. 9, S. 452 f. 110
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Über das Formalobjekt der Caritas
genüber und unserer Seligkeit; aber sie beweisen keineswegs, dass diese Motive trennbar seien, und darin liegt dein Irrtum. Die Schule, welche Du niemals verstehst und auf die Du dich immer berufst, zeigt diese beiden Arten der Objekte der Caritas auf, nämlich erste und zweite Objekte, teilt sie ein und ordnet sie, trennt sie aber nicht, wie Du unterstellst.« Also muss man überhaupt nicht in einem fort fragen, worin genau ich geirrt habe. Das ist der Grund dieser so großen Meinungsverschiedenheit und des so gewaltigen Skandals: Dies ist mein quietistischer Irrtum und die Hauptsache des ganzen Quietismus, dass ich die Seligkeit als wesentliches Motiv der Caritas nicht anerkannt habe. Ich bekenne mit dem hl. Thomas, dass die Caritas, als Mutter und Form aller übrigen Tugenden, in sich die Motive jener zulässt und so gebe es »viele Arten Gott zu lieben, weil wir ja aufgrund jeder einzelnen von ihm empfangenen Wohltat Schuldner der Liebe zu ihm selbst sind.« 113 Dem heiligen Lehrer folgend schließe ich indessen mit diesen seinen Worten: »Ein alleiniger Grund des Liebens wird von der Caritas hauptsächlich beobachtet, nämlich die göttliche Güte, welche Seine Substanz ist … Alle anderen Gründe, die zum Lieben führen oder zur Liebe verpflichten, sind zweitrangig und folgen aus der ersten.« 114 Diese Gründe zweiter Ordnung habe ich nie verworfen; im Gegenteil, häufig habe ich gesagt, die Caritas, die die niedrigeren Tugenden beherrscht, erfreue sich an diesen, und gebrauche sie, um sich selbst zu nähren. Denn es freut sie, Gott, der ihr gegenüber höchst wohltätig ist und seine höchste Vollkommenheit durch diese Wohltätigkeit wunderbar zeigt, zu verehren; dadurch wird sie bewegt, entfacht, und wächst. Aber ob diese Gründe zweiter Ordnung wesentlich und untrennbar sind oder nicht, das ist der Knoten der ganzen Kontroverse. Dazu spricht der Bischof v. Meaux: Der Punkt ist entscheidend, weil er die Entscheidung der ganzen Auseinandersetzung enthält. Ich nehme mir vor, dies genau zu beachten. 1. Es ist ganz klar, dass Thomas v. Aquin niemals diese zweitrangigen und zum Lieben bewegenden Gründe als wesentliche Motive der Caritas bezeichnet hat. Was wesentlich ist, ist ein konstituierendes Element des Wesens; das liegt in der Definition der Sache selbst; es kann niemals fehlen, außer wenn das Ganze fehlt; es ist ein Teil des 113 114
Sum. theol. II, II, q. 23, art. 5. Ebd.
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Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux
Wesens, oder das partielle Wesen einer Sache. Dagegen aber lehrt der hl. Thomas allenthalben, die Caritas hänge in ihren eigentlichen Akten Gott an und stehe in ihm, nicht damit uns aus ihm etwas erwachse, nicht einmal das Erlangen des Guten oder der vollkommenen Güte. Deshalb ist die Caritas hervorragender … als die Hoffnung etc. Jene Äußerung trifft daher genau auf den vorhergehenden Schluss zu: »nicht damit aus ihm etc.« Heb diesen Schluss (»nicht damit aus ihm«) auf, dann hebst du das Hervorragende der Caritas auf. Was aber die genaue Bestimmung und hervorragende Stellung der Caritas konstituiert hat, enthält alles, was ihr wesentlich ist. Wäre es der Caritas wesentlich, ihr Objekt besitzen und dadurch glückselig sein zu wollen, dann wäre ihr mit der Hoffnung selbst dies gemeinsam, was vom hl. Thomas als die genaue Bestimmung dessen aufgestellt ist, wodurch sie die Hoffnung überragt. Dann würde die Caritas Gott anhängen gleich wie die Hoffnung, damit ihr daraus das Erlangen des Guten hervorgehe. Was das Wesentliche der Caritas wäre, würde vom hl. Thomas abgeschnitten werden, wie etwas weniger Vollkommenes, wodurch die Caritas, wäre ihr das innerlich und wesentlich, ihre überragende Stellung verlieren würde. Außerdem haben wir den hl. Thomas schon sagen hören: »Und je aufrichtiger die Seele Gott liebt wegen der ihr innewohnenden Güte und nicht wegen der Teilhabe an der Seligkeit selbst, desto glücklicher ist sie, mag sie auch die Mitteilung der göttlichen Seligkeit keineswegs bewegen.« Weiterhin verbleibt alles der Caritas Wesentliche ungeschwächt in den Seligen, die vor höchster Caritas brennen. Doch bewegt das Motiv der Seligkeit diese keineswegs zu jener aufrichtigen Liebe; ja, sie sind sogar umso seliger, je aufrichtiger sie lieben, solange sie nicht wegen der Teilhabe an der Seligkeit lieben. Welches ist denn jener angeblich so wesentliche Teil der Caritas, der umso mehr fehlt, je aufrichtiger, vollkommener und glücklicher die Caritas die Seligen zu Gott hinzieht? Der hl. Thomas lobt an anderer Stelle die allein durch das Motiv der göttlichen Herrlichkeit erweckten Akte der Caritas, unter der unmöglichen Annahme einer von Gott verweigerten Seligkeit. Diese Art der Überlegung zeigt, wie weiter unten 115 offen vor Augen liegen wird, dass das Motiv der Seligkeit für die Caritas nicht wesentlich ist. Was wäre schließlich absurder, als dem hl. Thomas diese Meinung zuzuschreiben, nämlich, dass Gott an sich gänzlich unliebenswert wäre und dass die Caritas keineswegs geübt werden könne, wenn Gott 115
Siehe Abschnitt II dieses Buches: »Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit«.
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Über das Formalobjekt der Caritas
uns die intuitive und seligmachende Schau nicht hätte gewähren wollen? Das wäre aber ganz gewiss so, wäre jene Seligkeit das wesentliche und untrennbare Motiv der Caritas. Denn durch Beseitigung des Wesentlichen würde das Wesen der Caritas zusammenfallen. Fort mit dieser Lehre, welche sich auf kein Argument stützt, außer auf dieses nichtige Synonym der Verben »genießen« (frui) und »einswerden« (uniri)! 2. Weiter muss untersucht werden, was der Bischof v. Meaux meint, wenn er sagt, die Ehre Gottes sei das ursprüngliche Motiv der Caritas. »Wenn man«, sagt er 116, »bei den Schulen nachfragt, welches denn, unter all diesen Motiven der Caritas, das erste und ursprüngliche oder das spezifische Objekt dieser Tugend sei, dann fragt man, welches denn das Objekt sei, ohne das sie selbst weder bestehen noch verstanden werden kann.« Gewiss stürzt er sich in sein eigenes Schwert. Wenn die göttliche Vollkommenheit das die Caritas spezifizierende Objekt, oder das Objekt, wodurch sie sich von der Hoffnung unterscheidet, ist, dann folgt daraus, dass die göttliche Vollkommenheit das ganze Objekt oder das wesentliche Motiv ist. Was nämlich nicht spezifisch ist, ist nicht wesentlich. Denn das Wesen besteht nur durch die Gattung und den Unterschied, wodurch die Art selbst bestimmt ist. Daher ist aus dem Prinzip des Gegners selbst klar, dass die Seligkeit etwas für die Caritas Zufälliges sei. Folglich kann die Caritas, soweit sie sich auf spezifische Weise von der Hoffnung unterscheidet, das Motiv der Seligkeit nicht einschließen, außer als zweitrangiges, äußerliches und für sie zufälliges. Aber wir wollen den Gegner selbst hören: »Die Antwort ist«, sagt er 117, »dieses Objekt (nämlich das spezifische) ist die Erhabenheit und Vollkommenheit der göttlichen Natur«. Wer würde, wenn er das hörte, nicht glauben, der Bischof v. Meaux bekenne ohne weiteres, die vereinigte Seligkeit sei nur der weniger ursprüngliche und zweitrangige Grund des Liebens, welcher durch Zufall hinzugefügt wird, und einzig die Vollkommenheit Gottes sei das spezifische Motiv der Caritas oder der wesentliche Grund des Liebens in den Handlungen der Caritas. Aber durch das Folgende verblasst jene Hoffnung gänzlich: »Die Antwort ist«, sagt er, »dieses Objekt (das spezifische) ist die Herrlichkeit und Vollkommenheit der göttlichen Natur … Das einzige Objekt, das von den Bossuet, Quatrième Ecrit, Abschnitt 21 in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 483; Edition von 1845, Bd. 9, S. 357. 117 Ebd. 116
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Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux
übrigen nicht einmal in Gedanken und Sinn getrennt werden kann, ist die Herrlichkeit der göttlichen Natur. Denn wer kann daran denken, Gott zu lieben, ohne daran zu denken, sich mit dem vollkommenen Wesen vereinigen zu wollen? Dies ist der erste Gedanke des Liebenden; ohne diesen kann man auch die Wohltaten Gottes nicht verstehen. Denn sie würden nicht so hoch geschätzt, würde nicht jene göttliche und vollkommene Quelle für jede Leistung den Preis festsetzen.« Würde das gelten, wird das Motiv der Seligkeit nicht weniger vorzüglich und spezifisch sein als das Motiv der göttlichen Vollkommenheit. So aber argumentiere ich: Was nicht einmal gedanklich getrennt werden kann, und was die erste Überlegung des Liebenden ist, das ist das erste und spezifische; aber, nach der Meinung des Bischofs, kann die Seligkeit, welche er unter dem Namen »Vereinigung« sanft einschmuggelt, nicht einmal gedanklich getrennt werden, und tritt als erste Überlegung des Liebenden auf; daher ist die Seligkeit zumindest das partielle spezifische Motiv der Caritas. Denn wer kann darauf bedacht sein, Gott zu lieben, ohne darauf bedacht zu sein, sich mit dem vollkommenen Wesen vereinigen zu wollen, d. h., sowohl in diesem als auch aus diesem selig sein zu wollen? So denkt man an den Erwerb der Seligkeit nicht später als an das vollkommene Wesen. Ja, sogar früher denkt man von Natur aus an die Seligkeit, oder Vereinigung, da nun einmal die in dem vollkommenen Wesen zu erwerbende Seligkeit der ganze Grund ist, weshalb man jenes vollkommene Wesen zu erreichen sucht. Aber der Grund, eine Sache zu lieben, ist auch das Erste in der Willensabsicht, die jene begehrt. Wenn aber der Mensch, mit der wohlwollenden Selbstliebe beginnend, dann, aus dem Bedürfnis nach Seligkeit, zu dem vollkommenen Wesen außerhalb seiner selbst übergeht, ist das Wohlwollen sich selbst gegenüber und der Wunsch nach Seligkeit vorrangiger als in dem Streben, die Seligkeit zu erwerben, das vollkommene Sein zu begehren. Wahr aber ist, dass die Vollkommenheit dieses Wesens nach der Meinung des Gegners der Grund ist, warum die Seligkeit in diesem Objekt eher gesucht wird als in allen übrigen. Aber eher will man die Seligkeit für sich, als dieses oder jenes Objekt, soweit seligmachend, zu begehren. Außerdem wird im Sinne des Bischofs v. Meaux notwendig gesagt werden müssen, dass die göttliche Vollkommenheit nur ein entfernter Grund sei, weshalb der Wille dieses Objekt begehrt. Er würde es nämlich nicht vor allen übrigen begehren, wäre es nicht vor allen übrigen seligmachend. Deshalb aber ist es vor allen 91 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über das Formalobjekt der Caritas
übrigen seligmachend, weil es in sich aufs Höchste vollkommen ist. Die Frage aber ist, welches denn der unmittelbare Grund sei, dieses Objekt zu lieben. Der Bischof v. Meaux meint, die Seligkeit sei das höchste Ziel des Menschen, der alleinige Grund des Liebens 118; es gäbe keinen tieferen und vollständigeren Unterschied zwischen Caritas und Hoffnung, als den, dass die Caritas einigend sei oder vereinigen wolle, das bedeutet, in Gott selig zu werden. »Was«, sagt er 119, »kann als der Liebe wesentlicher und eigentümlicher bezeichnet werden, als einigend zu sein? Was aber als der Hoffnung wesentlicher, als zu unterstellen, das gesuchte Gute werde nicht vereinigt, sondern sei fern? Darin ist die göttliche Liebe rechtfertigend; die Hoffnung aber keineswegs, deswegen, weil die eine einigend, die andere nicht einigend ist.« Was aber in der Definition des Bischofs v. Meaux »eins werden« (uniri) und »selig werden« (beari) bedeutet, wird daraus ersichtlich, dass er unaufhörlich den Schluss zieht, die Caritas wolle »selig werden«, weil sie ja »eins werden« und die ewige Gemeinschaft mit Gott eingehen will. Dadurch liegt offen vor Augen, dass die Glückseligkeit nach der Meinung des Gegners das unmittelbare vollständige Motiv der Caritas ist; die göttliche Vollkommenheit aber das entferntere Motiv, oder eher die Ursache, aus der das wahre und unmittelbare Motiv dieser Tugend hervorgeht. Die Täuschung ist in seinen Schriften offenkundig. Auf der einen Seite nennt er die Glückseligkeit den ganzen Grund des Liebens, welcher anders nicht erklärt werden kann. Auf der anderen Seite nennt er sie auch zweitrangiges und weniger ursprüngliches Motiv. Konnte das ernsthaft behauptet werden? Kann denn etwa das Ganze ein weniger ursprünglicher Teil werden? Bald sagt er, durch das Motiv der Vereinigung, also der Seligkeit, werde die tiefe und grundlegende Unterschiedenheit der Caritas bezeichnet; bald sagt er, dieses Motiv sei niedriger als das Motiv der göttlichen Vollkommenheit. Aber ein Motiv, das die Art der Caritas genau bestimmt, das sie von der Hoffnung unterscheidet und das die tiefe und grundlegende Unterschiedenheit bildet, muss notwendig etwas Hauptsächlicheres und besonders Spezifizierendes an der Caritas sein. Daher erhebt sich dieser ungeheure Widerspruch, dasselbe sei Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 16, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 55.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 451. 119 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 17, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 58.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 451. 118
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Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux
in demselben Akt zweitrangig oder weniger hauptsächlich und zugleich bestimmend für die ganze Art oder ein tiefer und grundlegender Unterschied. Bald nennt er die Glückseligkeit ein zweitrangiges und weniger hauptsächliches Ziel, bald nennt er sie letztes Ziel, weswegen alle alles wollen, und außer diesem nichts. Durch den Wunsch, Glückseligkeit zu erwerben, bilden sich, wie er selbst sagt, alle übrigen Wünsche des Menschen. Muss nicht erklärt werden, was »zweitrangig oder weniger hauptsächlich« bedeutet, was das »letzte Ziel ist, weswegen die Menschen alles und außer welchem sie nichts wollen« und durch dessen Herbeiwünschung sich »alle übrigen Wünsche bilden«? Bald sagt er über dieses Motiv: »Was ist der Caritas wesentlicher und eigentümlicher?«; bald sagt er, es sei nicht das Hauptmotiv jener Tugend. Er soll, wenn er kann, selbst erklären, auf welche Art dasselbe wesentlicher, grundlegender, tiefer und zugleich weniger hauptsächlich sein kann! Sind nicht »mehr« (magis) und »weniger« (minus) entgegengesetzt? Daher steht offenbar fest, dass die mitgeteilte Seligkeit, wie er sagt, der unmittelbare gänzliche Grund für die Gottesliebe sei, welcher anders nicht erklärt werden könne. Diesen möge er doch endlich anders erklären, wenn er nur könnte. Mit aufrichtigen Worten soll er einen anderen Grund des Liebens angeben, der von sich aus und unmittelbar den Willen des Menschen dazu bewegt, Gott zu lieben. Wenn er aber keinen anderen unmittelbaren Grund angeben kann, soll er endlich ehrlich zugeben, dass allein die Seligkeit das einzige unmittelbare Willensmotiv für die Gottesliebe sei, und dass deshalb diese vordergründig bestechende Unterscheidung eines ersten und zweiten Motivs reines Blendwerk sei. Schon ist offenkundig, weshalb er gesagt hat, die göttliche Vollkommenheit sei das ursprüngliche Motiv der Caritas. »Wer kann nämlich«, sagt er 120, »daran denken, Gott zu lieben, ohne daran zu denken, sich mit dem vollkommenen Wesen vereinigen zu wollen?« In dieser Rede bedeutet »ursprünglich« (primitivum) nichts anderes als »uranfänglich« (originale), d. h. die göttliche Vollkommenheit ist Quelle und Ursprung, oder mittelbare und entfernte Ursache der göttlichen Liebenswürdigkeit. Deshalb aber ist Gott liebenswürdig, weil er ja glückselig macht: wirklich ein ganz unmittelbarer Grund! Deshalb aber ist er beseligend, weil er ja in sich höchst vollkommen Bossuet, Quatrième Ecrit, Abschnitt 21 in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 483; Edition von 1845, Bd. 9, S. 357.
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Über das Formalobjekt der Caritas
ist: wahrlich ein entfernter Grund! Würde diese Meinung Geltung haben, könnte Gott, ohne Zugeständnis der übernatürlichen Glückseligkeit, uns zwar aufgrund seiner absoluten Vollkommenheit Bewunderung und Staunen einflößen, Liebe aber könnte er keinesfalls erregen. Daher ist klar, dass diese absolute Vollkommenheit keinesfalls der unmittelbare Grund oder das Motiv des Liebens ist, sondern nur eine entfernte Ursache, aus welcher der wahre unmittelbare, gänzliche Grund des Liebens, nämlich die mitgeteilte Seligkeit, hervorgeht. Was aber der Bischof v. Meaux, um die Frage zu verhöhnen, über das ursprüngliche Motiv der Caritas gesagt hat, muss er selbst, ob er will oder nicht, Wort für Wort, über die einzelnen Tugenden wiederholen. Ebenso wird man sagen müssen, die göttliche Herrlichkeit sei sogar für einen in Furcht ergebenen Dienenden das ursprüngliche Motiv oder Objekt, welches nicht einmal gedanklich getrennt werden kann. Wer kann nämlich darauf bedacht sein, Gott zu fürchten und ewige Qualen zu vermeiden, wenn er nicht darauf bedacht ist, den vollkommenen und daher allmächtigen Gott nicht zu kränken? Diese erste Überlegung kommt dem Fürchtenden in den Sinn. Mit gleichem Recht wird man das besonders über die Hoffnung sagen müssen. Die göttliche Herrlichkeit wäre ihr ursprüngliches Motiv genauso wie jenes der Caritas. Denn wer kann daran denken, Gott als seligmachend zu begehren, wenn er nicht daran denkt, mit dem vollkommenen Wesen eins sein zu wollen? Wäre es nicht vollkommen, dann wäre es gar nicht seligmachend. Daher aber ist es seligmachend, weil es ja vollkommen ist. Wahrlich ein ursprünglicher Grund, der nicht einmal gedanklich von der Vorstellung des seligmachenden Gottes getrennt werden kann! Wäre aber die göttliche Herrlichkeit gedanklich abgetrennt, könnte man nicht einmal die Wohltat der Glückseligkeit verstehen. Denn keine vollkommene Seligkeit kann von einem unvollkommenen Wesen gegeben werden. So würde die göttliche Herrlichkeit das ursprüngliche Motiv sowohl der Hoffnung, als auch der übrigen Tugenden, als auch der sklavischen Furcht genannt werden. Wie konnte der Bischof v. Meaux es wagen, das allen Tugenden Gemeinsame als erstes und ursprüngliches Motiv der Caritas zu bezeichnen, wodurch sie selbst spezifiziert wird und die übrigen Tugenden übertrifft, indem sie, kraft jenes tiefen und grundlegenden Unterschiedes, selbst die Sünder rechtfertigt, was die Hoffnung keineswegs vermag? O weh! So sehr hintergeht der Bischof die gesamte Kirche durch die Definition der Tugend, welche gleichsam das 94 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux
Herz der Frömmigkeit ist, die wahrhaftig sowohl die Quelle das Lebens als auch der Gipfel der Vollkommenheit ist! Nun aber ist klar, welches von diesen beiden ernst und aufrichtig das ursprünglichere Motiv der Caritas in der Meinung des Gegners genannt werden muss: Etwa jenes, welches von sich aus unmittelbar keineswegs den Willen bewegt, das keineswegs von sich aus der Grund des Liebens ist, und das nur die entfernte Ursache ist, aus der das wahre Motiv hervorgeht; oder vielmehr jenes, welches von sich aus unmittelbar den Willen bewegt und bestimmt und nach dessen Aufhebung kein Grund zu lieben übrig bliebe, sondern nur zu bewundern? Würde aber diese Lehre über den an sich unliebenswerten Gott, die wie ein Krebs kriecht, länger geduldet werden, dann werden alle überzeugt sein, dass dies die Natur des Menschen und das Wesen der Liebe sei, dass der Mensch mit sich beginnt und bei sich selbst endet; zuerst wird er sich lieben mit jener wohlwollenden Liebe, von der er glaubt, sie müsse Gott verweigert werden. In Wahrheit wird er Gott mit eingeborener Begierde folgen, weil er das im Vergleich als für sich nützlicher erachtet als alle äußeren Dinge der Welt. Später aber strebt er sogar die Ehre Gottes aus dem Motiv oder mit dem Ziel der Seligkeit an. So wird der Mensch sich selbst, auch in der Verehrung Gottes, Alpha und Omega sein. Wenn aber das Ziel, warum nicht auch der Anfang? Wozu begehrt man die Gnade Christi, wenn es nur darum geht, sowohl zuerst, als auch endgültig und letztlich sich selbst zu lieben, um selbst selig zu werden? Aber dem Gegner ist nicht entgangen, dass es die Schulen empörend gefunden haben, dass die einzigartige Ehrenstelle der Caritas vermindert wird. »Jene«, sagt er 121, »werden wie bisher über die Unterscheidung von Hoffnung und Caritas beunruhigt sein, angenommen, dass die Caritas sowie auch die Hoffnung ein Verlangen, Gott zu besitzen, aussenden könnte.« Wahrlich, ein geschickt gemachter Einwand; dennoch nicht frei von Spott! Denn nicht wird zwischen uns erörtert, ob die Caritas ein Verlangen nach Glückseligkeit aussenden könnte, sondern nur, ob dieses Verlangen für die Caritas wesentlich sei, so dass sie niemals in irgendeinem Akt Gott lieben könnte, außer mit dem Verlangen nach Seligkeit. Aber wir wollen die Lösung hören: »Sie müssten erkennen, dass die Caritas, als Allgemeintugend, in sich die Objekte aller übrigen Tugenden enthält, Bossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 12, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 514; Edition von 1845, Bd. 9, S. 365.
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Über das Formalobjekt der Caritas
welche ihr untergeordnet sind, um diese selbst dazu zu gebrauchen, sich anzuregen und zu vollenden.« Keineswegs stelle ich in Abrede, dass die Caritas, als Mutter und Form der übrigen Tugenden, die für sie äußerlichen Motive jener Tugenden in sich einschließen kann, und nach Belieben für Akte, die sie anordnet, nutzt, wobei jedoch die spezifische Unterscheidung der einzelnen niedrigeren Tugenden gewahrt bleibt. Was aber der Bischof v. Meaux an dieser Stelle im Sinn hat, ist schwierig zu sagen. Es geht um das spezifische Motiv der Caritas; jenes Motiv, wodurch diese Haupttugend bestimmt und von der Hoffnung unterschieden wird, muss genau bezeichnet werden. Um jenes spezifische oder unterscheidende Motiv zu bezeichnen, bringt er durcheinander die Motive aller Tugenden ans Licht. Wie absurd! Will er etwa die Theologen davon überzeugen, dass die Caritas so sehr die Universaltugend sei, dass sie allein die Aufgabe aller erfüllt, und diese in Müßiggang untätig daliegen? Die Caritas kann die Hoffnung keineswegs überragen, außer, insofern sie sich von dieser Art unterscheidet, und ebenso muss sie ihr inneres oder wesentliches Motiv, wodurch sie bestimmt wird und als Haupttugend hervorragt, jenseits der ihr äußerlichen Motiven aller übrigen Tugenden haben, die sie, als allgemeine Tugend, gerne in sich zulässt. Wird nicht der Bischof v. Meaux sagen, die Caritas schließe einzelne Motive niedrigerer Tugenden als innere wesentliche Motive ein, weil sie ihr untergeordnet sind, und weil sie diese nutzt, um sich anzuregen und zu vollenden? Sicher ist dieses Argument entweder nur unnütz und lächerlich, oder es gelingt ihm zu beweisen, dass die Motive aller Tugenden für die Caritas wesentlich sind. So werden die Motive der Treue, ja sogar der Geduld, der Demut und der Keuschheit und mit gleichem Recht auch das Motiv der Hoffnung als der Caritas wesentliche Motive genannt werden müssen. Denn einzelne Motive dieser Tugenden sind der Caritas untergeordnet, und sie nutzt diese, um sich anzuregen und zu vollenden. Hat man denn jemals von Theologen gehört, dass zum Beispiel das Motiv der Geduld für die Caritas wesentlich sei, so dass niemals ein Akt der Caritas hervorgebracht werden könnte, es sei denn, dass der Wille von diesem formalen oder präzisen Grund [der Geduld] dazu bewegt würde, ihn hervorzubringen? Möge der Gegner, wenn er könnte, wenigstens einen von so vielen ausgezeichneten Gelehrten der Schulen anführen, dessen Meinung er darin folgt. O, was für eine bis dato in den Schulen unbekannte Theologie, die, so Gott will, nie gehört werden muss! Die Tugend wäre nicht mehr vielfach, die Caritas allein würde alle übrigen 96 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Die nichtige Ausflucht des Bischofs v. Meaux
in sich aufsaugen; sie allein würde alles aus eigener Kraft und unmittelbar leisten. Wie es aber nur eine Tugend gäbe, die sich jeder Aufgabe anpasste, so gäbe es auch nur ein Laster, das von sich aus alles Ungeordnete begehrte. Was auch immer Caritas und Begierde, Tugend und Laster, bewirkten, würden sie von sich aus bewirken. Die eine würde auf gute Weise, die andere auf schlechte Weise die Glückseligkeit begehren; beide »alles deswegen«, keine »darüber hinaus«. Löst so der Bischof v. Meaux den Vorwurf der Theologen, die über die Unterscheidung der Hoffnung von der Caritas in seinen Schriften aufgebracht sind? Unterscheidet er so die Tugenden, durch Vermischung der Motive? Das aber war die hauptsächliche Schlussfolgerung des Bischofs v. Meaux: »Um diesen so absurden und gefährlichen Irrtum zu tilgen, muss man festlegen, dass die Caritas außer dem ersten und hauptsächlichen Motiv der Ehre Gottes auch dieses zweite Motiv einschließt, nämlich Gott, soweit seinem Geschöpf mitteilbar und mitgeteilt.« 122 Er wagte nicht zu sagen: »soweit uns seligmachend durch die intuitive Schau.« Aber was er nicht offen zu sagen wagte, versteht jeder schon. Wer aber nicht offen zu sagen wagt, was er denkt, zeigt nicht, dass er das weniger denkt, sondern gesteht unstreitig ein, darin das Falsche zu denken. Offen also soll er verkünden, was er denkt! Wenn er unter »Mitteilung« die Erschaffung der verständigen Natur verstünde, und alle übrigen Gaben göttlicher Wohltätigkeit, deren der Mensch bedarf, um Gott zu erkennen und zu lieben, dann ist völlig sicher, dass Gott, wäre diese gänzliche Mitteilung Gottes vermindert, nicht geliebt werden würde. Denn er kann nicht geliebt werden, wenn kein zur Liebe fähiges Geschöpf existiert. Wollte aber der Bischof v. Meaux sich selbst so auslegen, wäre seine hauptsächliche Folgerung, ebenso wie der Hauptinhalt seiner Lehre, ganz und gar nichtig, weil er ja niemanden angreifen und sich außerhalb der Grenze unserer ganzen Kontroverse bewegen würde. Wenn er aber unter »Mitteilung« die übernatürliche Seligkeit verstünde, oder die intuitive Schau, über die allein verhandelt wurde, brachte er so viele Irrtümer wie Worte vor. Der Sinn dieser ganzen Rede ist schon klar. Es wäre dasselbe, wenn er sagte: Um den Quietismus auszurotten, muss man festlegen, dass es keine Caritas Gott gegenüber geben könne und er Bossuet, Remarques. Sur la Réponse de M. de Cambrai à la Relation sur le Quiétisme, Conclus, sect. III, Abschnitt 10, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 30, S. 211 u. 212; Edition von 1845, Bd. 9, S. 673.
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Über das Formalobjekt der Caritas
selbst unliebenswert wäre, wenn die Mitteilung der intuitiven Schau dem Menschen nicht zugestanden wäre. Man muss festlegen, dass Gott den Menschen niemals hätte erschaffen können, außer um ihm diese himmlische Seligkeit zu schenken; denn weder war es Gott möglich, den Willen als der Liebe zu sich unfähig zu erschaffen, noch sich als unliebenswert jenem zur Liebe anzubieten. Man muss festlegen, dass die Natur selbst wesentlich die übernatürliche Seligkeit als ihr letztes Ziel sucht. Man muss festlegen, dass beide Ordnungen, die der Natur und die der Gnade, so wesentlich verbunden sind, dass sie niemals getrennt werden können, im Gegenteil, dass sie zu einer einfachen, unteilbaren Ordnung vereinigt werden. Man muss festlegen, die Caritas sei, gleich wie die Hoffnung, die Begierde nach Seligkeit, welche »übernatürlich« genannt wird, und die göttliche Herrlichkeit sei nur die ursprüngliche Quelle, oder die entfernte Ursache, aus der die in Besitz zu nehmende Seligkeit fließt. Man muss festlegen, dass der hl. Thomas durch den quietistischen Irrtum getäuscht worden war, wenn er sagt, die Caritas stehe in Gott, nicht damit uns aus ihm etwas erwachse, nicht einmal das Erlangen des Guten, und sei deshalb hervorragender als die Hoffnung etc. Man muss festlegen, dass Gott niemals frei gewesen ist, die übernatürliche Seligkeit zu geben oder nicht zu geben, dass Gnade nicht Gnade ist, sondern Schuldigkeit nach ganz striktem Recht, nämlich aus der Natur des Menschen und dem Wesen der Liebe abgeleitet. Geziemte es so dem Bischof v. Meaux, dem Nachfolger des hl. Petrus, auch die Kirche, die Mutter und Lehrmeisterin zu lehren? Sind so die Kirchenväter, die scholastischen Gelehrten, alle Asketen, sogar die in den Katalog der Heiligen aufgenommenen, als Quietisten zu verurteilen? Ist so auch die Römische Kirche zu verurteilen, welche in ihrem Katechismus verboten hat, dass Pastoren in der Belehrung des Volkes stillschweigend übergingen, dass Gott uns hätte zwingen können, ohne jeglichen Lohn seiner Ehre zu dienen? Wahrlich wird all dies noch klarer werden, sobald ich den Gang der Erörterung über die unmögliche Annahme dargelegt haben werde.
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
I.
Die übernatürliche, dem Menschen nicht geschuldete Seligkeit ist nicht das wesentliche Motiv der Caritas, auch keines zweiter Ordnung
So ging meine Argumentation voran: Dies ist nicht das wesentliche Motiv der Caritas, weder das ganze noch das partielle, nach dessen Aufhebung die Caritas vollständig bleibt. Doch nach Aufhebung der übernatürlichen Seligkeit oder intuitiven Schau, worüber allein die Auseinandersetzung geführt wird, bleibt die Caritas unangetastet bestehen. Daher kann man die Seligkeit nicht das wesentliche Motiv der Caritas nennen, weder das ganze noch das partielle. So also versuchte ich zu beweisen, dass die Caritas vollständig bestehen bliebe, auch wenn das Motiv der Seligkeit, oder die Seligkeit zu erwerben, wegfiele. Jene Seligkeit, sagte ich, wird umsonst gegeben: Sie ist Gnade, nicht Schuld; sie wird nur aufgrund des freiwilligen Versprechens Gottes zugestanden. Nehmen wir also an, Gott hätte diese freiwillige Gabe nicht schenken wollen, weil er ja sicherlich frei war, sie nicht zu schenken. Diese Annahme ist nicht von sich aus unmöglich; viel mehr wäre für Gott nichts möglicher, als keineswegs zu schenken, was keineswegs geschuldet wäre. Diese unmögliche Annahme wurde aufgrund des freien Entschlusses getroffen, und es war daher für Gott sozusagen nur zufällig, dass er uns diese gar nicht geschuldete Gabe aus rein uneigennütziger Freigiebigkeit zugestanden hat. Diese vor dem Entschluss an sich durchaus mögliche und daher keineswegs absurde Annahme ist absolut ausschlaggebend. Das ist jener Punkt, den der Bischof v. Meaux entscheidend genannt hat, und worin die Entscheidung des Ganzen liegt. Er entscheidet die ganze Sache tiefgreifend und vollständig; kraft jener Annahme erfolgt die absolute Erforschung der Caritas. Einem gerechten und weisen Gott war es niemals erlaubt, ein verständiges, liebesfähiges Wesen zu erschaffen, welches ihn in keiner Weise lieben könnte. Wo auch immer es ein verständi99 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
ges Wesen und einen geschaffenen Willen gibt, dort muss diesem auch irgendein Grund, Gott zu lieben oder die Caritas zu üben, zugeschrieben werden. Wäre die übernatürliche Seligkeit für jeden der gänzliche Grund des Liebens, ja sogar nur der partielle wesentliche Grund oder ein wesentlicher Teil des Motivs, würde die Caritas nach Aufhebung jener übernatürlichen Seligkeit gründlich ausgetilgt. Wäre sie aber nach Aufhebung dieses Motivs selbst unversehrt, muss man offenbar schließen, dass dieses nicht das wesentliche Motiv der Caritas ist. Nichts ist einfacher, kürzer, wirksamer und in den Schulen öfter gebraucht als dieses Argument. Dies ist die sehr verbreitete Methode des Augustinus, aufgrund der, wenn auch unmöglichen, Annahme zu erforschen, welches das verborgene Ziel der menschlichen Leidenschaft sei; zum Beispiel, ob jemand dem Gesetz aus Furcht vor Strafe oder aus Gerechtigkeitsliebe gehorcht. So aber dränge ich darauf, dass wir uns in den übrigen Fragen nur mit Bezeichnungen, hier aber besonders mit der Sache selbst von Grund auf auseinandersetzen. Dasselbe, was du mit voller Schärfe und erhobener Stimme behauptest, habe ich beständig geleugnet und leugne es auch jetzt noch, nämlich dass es keine Caritas geben könne ohne die übernatürliche Seligkeit als wesentliches Motiv. Was ich aber leugne, das leugnet auch die Römische Kirche mit den Worten ihres Katechismus 1: »Und auch das freilich darf nicht stillschweigend übergangen werden, dass Gott auch darin besonders seine Milde und die Fülle seiner Güte uns gegenüber gezeigt hat, dass er, als er uns hätte zwingen können, seiner Herrlichkeit ohne jeglichen Nutzen zu dienen, diese dennoch mit unserem Nutzen verbinden wollte.« Widersprichst du nicht mit deiner Lehre der Mutter Kirche? Sagst du nicht, Gott konnte niemals diesen unseren Nutzen, nämlich die übernatürliche Seligkeit, nicht mit seiner Herrlichkeit verbinden; niemals hätte er uns zwingen können, seiner Herrlichkeit ohne jeglichen Lohn zu dienen; niemals wäre er frei gewesen, seine intuitive Anschauung zu gewähren oder nicht; diese Gabe sei nicht Gnade, vielmehr etwas der Natur selbst durch festgesetztes Recht wesentlich Geschuldetes; denn dies gehöre zu der Natur des Menschen und dem Wesen der Liebe selbst? Denkst du nicht so? Sag öffentlich und ungekünstelt, was du denkst. Mit wenigen klaren Worten deine Meinung darzulegen, beschwöre ich dich bei dem gemeinsam anvertrauten Glaubensgut. Part. II, in Decal. prooem., Abschnitt 18. Der Römische Katechismus, Einleitung zu den Zehn Geboten.
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Die übernatürliche, dem Menschen nicht geschuldete Seligkeit
Nichts dergleichen tut jener; doch beklagt er sich heftig, dass ich dies zu erfahren suche. »Ich bin erstaunt«, sagt er 2, »deine Fragen zu hören. Die Annahme, sagst du, die unmöglich genannt wird, sei, streng genommen, nicht unmöglich.« Ich aber bin über dieses affektierte Staunen verwundert. Dieser doppelsinnige und spöttische Ausdruck: »streng genommen« entblößt den Geist des Gegners. Niemals habe ich absolut und ohne Zusatz behauptet, diese Annahme sei »streng genommen« nicht unmöglich, sondern nur, »Gott hätte uns, auch wenn er uns streng genommen niemals etwas schuldete, dennoch auf rein freiwilligen Versprechen gegründete Rechte zugestehen wollen« 3. Das soll der Richter offen zu leugnen wagen, und nicht meine Worte verstümmeln und verdrehen. Aber wir wollen ihn selbst hören, wie er meine Meinung vorträgt 4: »Gott schuldet niemandem etwas. Streng genommen wird weder das Verweilen im Tode noch das ewige Leben geschuldet. Auch unserer Seele schuldet er nicht, nach diesem Leben selbst zu existieren. Er könnte zulassen, dass sie selbst gleichsam durch ihr Gewicht in ihr Nichts zurückgleitet.« Was ich hinzugefügt habe, hätte der Bischof v. Meaux hinzufügen müssen, nämlich dies 5: »Andernfalls wäre er nicht frei hinsichtlich der Dauerhaftigkeit des Geschöpfes, und es wäre selbst ein notwendiges Sein. Aber wenn uns auch, streng genommen, Gott niemals etwas schuldete, wollte er uns dennoch auf rein freiwillige Versprechen gegründete Rechte zugestehen. Durch seine Versprechung hat er sich selbst, als höchste Seligkeit, der gläubig ausharrenden Seele gegeben. In Wahrheit ist daher in diesem Sinn jede Annahme, wodurch sich jemand, auch wenn er Gott liebte, vom ewigen Leben ausgeschlossen zu sein glaubt, unmöglich, weil Gott in den Versprechen treu ist.« Warum also verstümmelt er meine Rede schändlich? Damit nicht offenbar würde, dass ich erkannt habe, dass die Annahme aufgrund des Versprechens unmöglich sei. Er aber fährt mit Vorwürfen fort 6: »Er könnte die Menschen dazu bringen, im Zustand der reinen Natur zu leben, und ohne die Bestimmung zum ewigen Leben. Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 11, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 39; Edition von 1845, Bd. 9, S. 446 3 Fénelon, Maximes des Saints, Article X. Vrai. 4 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 11, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 39.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 446. 5 Fénelon, Maximes des Saints, Article X. Vrai. 6 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 11, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 39 u. 40; Edition von 1845, Bd. 9, S. 446. 2
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
Er könnte sie sogar noch mehr erniedrigen, so dass die Seelen sterblich würden. Er hätte uns erschaffen können wie auch die Heiden, nämlich Sokrates oder Epiktet oder Epikur oder hunderte andere, die den Tod um der Tugend oder des Vaterlandes willen auf sich genommen haben ohne Aussicht auf ewige Seligkeit. Füge auch das hinzu, wenn du möchtest: Gott könnte die gerechte und reine Seele mit ewigen Martern quälen und unglücklich machen. Freilich könnte er ihr, während sie im Zustand der Gnade wäre, die Verdammnis offenbaren. Müsste sie etwa deshalb von der Liebe ablassen? Damit stopfst du schon die Bücher voll. Damit scheinst du eine Ausflucht für deine Sache zu suchen.« So pflegte er zu schmähen, und gleichzeitig konnte er nicht präzise antworten. Das, womit ich die Bücher vollstopfe, ist dasselbe, womit die Römische Kirche ihren Katechismus vollzustopfen entschied. Es ist dasselbe, womit die Kirchenväter, womit der hl. Thomas, Scotus und alle übrigen Theologen der besten Art ihre Schriften, eingestandenermaßen 7, vollgestopft wissen wollten. Doch dieser Tadel ist keine Lösung. Wer den entscheidenden Einwand verwirft, nicht löst, wird in Verlegenheit gebracht. Wenn die übernatürliche Seligkeit Gnade ist, nicht der Natur des Menschen und dem Wesen der Liebe geschuldet, hätte Gott vor dem Entschluss, die Seligkeit zu versprechen, Menschen schaffen können, die dieses übernatürliche Geschenk niemals erlangt hätten? Was leugnest du, oh Richter, was gibst du zu? 1. Konnte Gott das, wovon die Römische Kirche lehrt, dass er es konnte? 2. Hätte der Mensch nach dieser Annahme der Römischen Kirche, welche du in meinen Schriften als absurd verschreist, Gott lieben müssen? Kein Platz ist mehr für Ausflüchte oder Vorwürfe; behaupte oder leugne, das ziemt sich für unsere Rede. Sag einfach »Ja« oder »Nein«; alles Weitere ist von Übel. 8 Warum also vernichtest du unsere Seele? Wäre Gott unter dieser Annahme zu lieben, mit welcher Art der Liebe, frage ich weiter, könnte er geliebt werden? Hast du nicht gesagt, die Seligkeit sei für jeden der ganze Grund zu lieben, das übrige seien Phrasen, nichtige Spitzfindigkeiten sophistischer Frömmigkeit? Glaubst du, irgendein Mensch könne Gott ohne den ganzen Grund für die Liebe lieben? Wird er lieben können, was schon seiner ganzen 7 8
Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 346 f. Matthäus 5, 37.
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Die übernatürliche, dem Menschen nicht geschuldete Seligkeit
Liebenswürdigkeit beraubt ist? Wird er Gott lieben können ohne die Gabe, deren allein er bedarf, um zum Lieben angeregt zu werden, und ohne die wir Gott nicht untertan wären, in dessen Macht weder unsere Seligkeit noch unser Unglück läge? 9 Wenn du sagst, der geschaffene Wille verpflichte sich dann keineswegs Gott zu lieben, wenn der ganze Grund des Liebens wegfiele, bleibt mir das Eine zu sagen übrig: O schreckliche Ungeheuerlichkeit, nämlich ein geschaffener, den Schöpfer keineswegs liebender und vom letzten Ziel ausgeschlossener Wille! Doch eine andere, größere Ungeheuerlichkeit tritt ein, nämlich Gott selbst, höchst vollkommen und gänzlich unliebenswert. Was sagst du dazu? Ich möchte, dass du antwortest. Weh dem, der dazu schweigt! Durch dieses Schweigen wäre er ein Mann von sündhaften Lippen. Wenn du nicht antwortest, werde ich für dich, aus deinen Schriften antwortend, sagen: Unser Gut, oder die Teilhabe an der Seligkeit, ist der ganze Grund des Liebens und kann anders nicht erklärt werden. 10 Ohne diese wären wir Gott nicht untertan, und er selbst nicht liebenswert. Wäre Gott – was unmöglich ist – nicht das ganze Gut oder die Seligkeit des Menschen, hätte dieser keinen Grund zu lieben. Der Mensch würde sich in dieser unmöglichen Annahme für betrogen halten, würde ihm jemand Gott als liebenswert vorsetzen ohne die Teilhabe an der Seligkeit; gleichsam als müsste man sich die Liebe vornehmen, ohne die Aussicht, selbst beglückt zu werden! Hebt man also den freien und zufälligen Entschluss, die himmlische Seligkeit zu geben, auf, beseitigt man jegliche Spur göttlicher Liebenswürdigkeit. Ebenso könnte man sagen: Tue Unmögliches – liebe, wenn du kannst, ohne das Motiv des Willens, ohne den einzigen vollständigen Grund des Liebens, ohne die Natur des Menschen, ohne Willen, ohne das Wesen der Liebe; liebe ohne Liebe; liebe, was gar nicht liebenswert ist. Weil es aber einem gerechten und weisen Gott niemals erlaubt wäre, einen der göttlichen Liebe unfähigen Willen zu erschaffen, bleibt nur übrig, dass Gott niemals das gekonnt hätte, was die Römische Kirche in ihrem Katechismus lehrt, nämlich uns zu zwingen, seiner Herrlichkeit ohne Lohn zu dienen. Während sie den Pastoren befiehlt, das unwissende Volk so zu lehren, lehrt sie selbst nichtige Spitzfindigkeiten und Lügen sophistischer Frömmigkeit. Sie täuscht den Mensch und macht ihm ganz unpassend etwas vor. Zweifach gewiss, aber nur dem Namen nach, wird die Ordnung bezeichnet, nämlich
Bossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 523; Edition von 1845, Bd. 9, S. 368. 10 Bossuet, Instr. sur les Etats d’orais, 10. Buch, Abschnitt 29; in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 451 f. Edition von 1845, Bd. 9, S. 205. 9
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
als »natürliche« und »übernatürliche«; in Wahrheit aber ist es eine einfache und unteilbare Ordnung. Denn es kann kein anderes letztes Ziel der verständigen Natur und des geschaffenen Willens geben als die intuitive Schau Gottes. Diese übernatürlich genannte Gabe kann von der Natur selbst nicht getrennt werden. Und auch vom Menschen kann dies, was der ganze Grund zu lieben und das letzte Ziel anzustreben und was schließlich die Natur des Menschen selbst und das Wesen der Liebe ist, nicht getrennt werden. Wenn du [Fénelon] aber mit der Römischen Kirche sagst, Gott hätte uns zwingen können, ohne jeglichen Lohn, und daher ohne übernatürliche Seligkeit, seiner Ehre zu dienen, hast du in dem entscheidenden Punkt, der die Entscheidung der ganzen Frage enthält, einen schweren Irrtum begangen: in dieser Annahme, die Caritas hätte sich einen anderen, von der Seligkeit verschiedenen Grund des Liebens vorgenommen.
Irgendwann einmal soll es dich endlich reuen, gesagt zu haben, jene sei der ganze Grund des Liebens, nichts sei der Caritas wesentlicher, dies sei die Natur des Menschen und das Wesen der Liebe. Diese gottlose Neuheit mögest du ernsthaft zurückweisen! Darauf gab es niemals eine Antwort. Ferner erheben sich naturgemäß aus dieser unmöglichen Annahme bedingte Gelübde, auf die Seligkeit zu verzichten. Fromme und vor Caritas brennende Seelen sagen zu sich: Hätte Gott dies, wozu er imstande war, gewollt, nämlich uns zu zwingen, ohne jeglichen Lohn seiner Herrlichkeit zu dienen, hätte man seiner Herrlichkeit dienen müssen, ohne einen Lohn zu erwarten, ohne zukünftige Seligkeit zu ersehnen. Es wäre nicht erlaubt, zu wünschen, was Gott nicht hätte schenken wollen. Freilich muss man jene Seligkeit anstreben, wenn Gott, dessen Wille unsere Richtschnur ist, uns diese schenken will, und will, dass wir diese wollen. Hätte er uns dagegen nicht uneigennützig mit dieser beschenken wollen, dann hätten wir diese in bereitwilligem Gehorsam nicht wollen dürfen. Allerdings ist die Caritas, oder die wohlwollende Liebe Gottes um seinetwillen, dieselbe Leidenschaft der Liebe in dem Zustand, in dem wir jetzt sind, wie in dem Zustand, in dem Gott ohne Lohn gedient werden müsste. Es ist dieselbe Verbindlichkeit der Liebe, dasselbe Wohlwollen, dieselbe Natur des Menschen, dasselbe Wesen der Liebe. Ich will freilich, und ersehne mit ganzer Leidenschaft den Lohn, von dem Gott will, dass ich ihn will. Aber, angetrieben durch die Caritas, bin ich so geartet, dass ich – was nun unmöglich ist und ursprünglich möglich war –, wenn Gott ohne Lohn von uns verehrt werden wollte, ihn sehr gern weiter verehren und über alles lieben würde. Er müsste, getrennt vom 104 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Diese Lehre wird sowohl untermauert durch den Artikel 33 von Issy
Lohn, verehrt werden. Aber nur durch Liebe wird er verehrt 11; daher würde ich ihn lieben wollen. Der Grund zu lieben würde nicht wegfallen, auch wenn die Hoffnung auf Lohn vermindert worden wäre, und wird daher anders erklärt. Was ist daran verwunderlich, dass ich Gott lieben wollte, auch wenn das Motiv, das für die Caritas nicht wesentlich ist, aufgehoben wäre? Dann würde ich Gott lieben, nicht begehren; ich wäre ihm selbst wohlwollend; in diesem höchst Vollkommenen und Seligen würde ich mir selbst gnädig sein, auch ohne jemals von ihm selbst im Himmel beglückt zu werden. Beseitige das Motiv, das der Caritas nicht wesentlich ist, die Caritas selbst wird keineswegs beseitigt. Durch diese Annahmen und bedingten Gelübde haben sich zahllose Heilige dem Feuer der Liebe hingegeben; von diesen wird offen verkündet, das Wesen der Liebe hänge nicht vom Lohn ab. Nichtsdestoweniger zeigt sich immer die versprochene Seligkeit als besonders wünschenswert und ist der Caritas selbst ein Ansporn, weil sie ja eine Gabe ist, von der Gott will, dass wir sie wollen, und die seine Wohltätigkeit zeigt. Doch was die Caritas als Beweis der göttlichen Wohltätigkeit fordert, begehrt die Hoffnung als unser Gut. Dadurch liegt der sichere und klare Weg offen vor Augen. Was aber tut der Bischof v. Meaux? Nichts anderes als weitere und beinahe unglaubliche Widersprüche zu säen. Man muss ihn selbst hören.
II.
Diese Lehre wird sowohl untermauert durch den Artikel 33 von Issy als auch durch die Unterweisung des Bischofs v. Meaux über den Zustand des Gebets
Schon sind die Artikel allgemein bekannt, zu deren Abfassung der Kardinal de Noailles, der Bischof v. Meaux und Louis Tronson 12, ein sehr frommer Mann, mich hinzuziehen wollten. Der Artikel 33 lautet so: 13 »Es kann sogar frommen und wirklich demütigen Seelen die Unterwerfung des Geistes und die Zustimmung, dem Willen Gottes zu folgen, eingegeben werden, wenn er sie auch aufgrund der gänzlich falschen Annahme, den gerechten Seelen würden die versproche-
Augustinus, Brief 140, an Honoratus, Kap. 17, Abschnitt 45. Generalsuperior der Sulpizianer. 13 Art. Iss. XXXIII. In: François de Salignac de La Mothe-Fénelon, Œuvres complètes de Fénelon, archévêque de Cambrai, 10 Bände, Paris, Lille, Besançon, 1848–1852, Bd. 2, S. 228. 11 12
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
nen ewigen Güter nicht gegeben, nach seinem Belieben in den Qualen ewiger Marter festhielte, jedoch so, dass sie weder der Gnade noch der Liebe Gottes beraubt würden. Dies aber ist ein Akt der vollkommenen Hingabe und reinen Liebe, den die Heiligen hervorbrachten und den echt vollkommene Seelen mit der ganz besonderen Gnade Gottes nützlich hervorbringen können; unbeschadet der Verpflichtungen, aus denen andere bereits genannte Akte, die für das Christentum wesentlich sind, hervorgehen müssen.« Später aber, in der »Unterweisung über den Zustand des Gebets«, verteidigt der Bischof v. Meaux diesen Artikel so: »Ich gestehe, dass gewisse gelehrte Theologen diesen Artikel stillschweigend übergehen oder wenigstens den Ausdruck »ertragen werden« (»tolerari«) für »eingegeben werden« (»inspirari«) einsetzen zu müssen glaubten, … aber dieser Ausdruck »ertragen werden« (»tolerari«) konnte am wenigsten für den Akt gebraucht werden, den so viele Heilige, und vor allem Chrysostomos mit der gesamten gelehrten Schule dem Apostel zuschrieben … Gott treibt die Seele mit speziellen Anreizen dazu, gleich wie Paulus diese Art des Opfers für ihn zu vollbringen. In Wahrheit ist das nichts Anderes als dass den Seelen geholfen wird, hervorzubringen und gleichsam zu gebären, was Gott selbst durch seinen Antrieb von ihnen fordert.« 14 Schon vorher hatte der Bischof v. Meaux über den Heiligen Franz v. Sales so gesprochen 15: »Also kann ich die frommen Reden des heiligen Bischofs nicht verurteilen, dessen Schriften voll von diesen unmöglichen Annahmen sind … Mehrere Gelehrte neigen, da bei neueren Heiligen derartige unmögliche Annahmen gelesen wurden, dazu, diese zu verwerfen und zu verurteilen, wie fromme Phantasien, oder zumindest wie Affekte niedriger Ergebenheit, worin sie die alte Würde der Kirchenväter verleugneten. Doch die Wahrheit selbst verbietet mir, dieser Meinung zuzustimmen. Am Anfang der entstehenden Kirche tritt Clemens v. Alexandria auf und lehrt: Ich wage zu sagen (das sind seine Worte), der vollkommene Geistliche suche nicht diesen Zustand der Vollkommenheit, um Heil zu erlangen, sodass er, nach Art der unmöglichen Annahme gefragt, was er wählen würde, die Vollkommenheit, die man Erkenntnis (γνῶσις) Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch X, Abschnitt 19, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 428 u. 429. 15 Ebd., Buch IX, Abschnitt 2 f., in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 348 f.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 174 ff. 14
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Diese Lehre wird sowohl untermauert durch den Artikel 33 von Issy
nennt, oder ewiges Heil, wenn diese beiden untrennbaren Begriffe getrennt werden könnten, ohne zu zögern die Erkenntnis wählte, als etwas, das, den Glauben durch die Caritas übertreffend, von sich aus wünschenswert ist.« Hierauf zitiert er die Worte des Apostels: »Denn ich selbst wünschte, von Christus verflucht zu sein für meine Brüder« 16 und fährt fort: »Daher lehrt Chrysostomos, dass Gott geliebt werden müsste, nicht nur, wenn uns auch kein Gut daraus erwüchse außer der Liebe selbst, sondern sogar angenommen, dass er uns statt guter Versprechungen, wenn das möglich wäre, ει δυνατόν, ewiges Höllenfeuer gäbe, wobei die Liebe bewahrt bliebe.« »Es steht also fest«, sagt er, »dass die gesamte Schule des Chrysostomos so denkt.« 17 Er führt Isidor, Theodoret, Theophylactus, Photius, Oecumenius, den heiligen Thomas, Estius und Fromandus an, »hervorragende Interpreten des Paulus, die diese Meinung teilten, angeregt nicht nur durch die Autorität des Chrysostomos, sondern auch durch jene Argumente und gelehrte Antworten, wodurch er die einzelnen Einwände löst … Fragt man aber die Scholastiker, so bestimmt Scotus mit seiner gesamten Schule, die Caritas richte sich derart auf ihr an sich selbst betrachtetes Objekt, auch wenn von diesem Objekt – was unmöglich ist – der Nutzen oder der für uns daraus erwachsende Vorteil, d. h. wie er selbst sagt, die ewige Seligkeit, getrennt würde. Diese unmöglichen Annahmen sind in allen Schulen häufig. Es ist nicht nötig, die Mystiker heranzuziehen, bei denen sie häufig auftauchen. Dies vorausgesetzt, ist es dann verwunderlich, dass man sie beim heiligen Bischof von Genf so häufig liest? Er ging zur Praxis über: Aus verschiedenen Stellen seiner Briefe steht fest, dass er in der Jugend den Eindruck der Verwerfung lange ertragen hatte, und so dazu gebracht wurde, dass er Gott wegen der ihm eigenen Güte zu lieben wünschte, auch wenn, was unmöglich ist, dem Liebenden keine Hoffnung bliebe, ihn zu besitzen … In äußersten Ängsten vor grausamster Qual musste dieser schreckliche Vorsatz geäußert werden; dass er nämlich, sollte er auf ewig der Offenbarung und Liebe des so sehr liebenswerten Gottes im anderen Leben beraubt werden, sich zumindest im gegenwärtigen Leben so sehr wie möglich anstrengen wollte, ihn besonders zu lieben. Man liest, dass er in seinem Herzen gleichsam ein sicheres Todesurteil getragen hat; 16 17
Römer IX, 3. Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 351.
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und dass er (was unmöglich wäre) angenommen hätte, den das ganze Leben hindurch geliebten Gott in Ewigkeit nicht mehr zu lieben. Trotzdem war diese, wenn auch unmögliche Annahme ursächlich dafür, Akte hervorzurufen, wodurch der Heilige befreit wurde. Denn, so sagt der Verfasser seiner Lebensgeschichte, ›der durch diesen Akt der so desinteressierten Liebe besiegte Dämon gab ihm den Sieg und wich zurück.‹« Anderswo behauptet er, ein solcher Akt, wenn ernsthaft gewollt, komme nur vollkommenen Seelen zu, wie Paulus oder Moses. Er fügt hinzu, »um einen solchen Akt zu vollbringen, wäre es notwendig, sich vorher durch 1000 verschiedene Aufgaben bewährt zu haben, durch die Leidenschaftlichkeit seiner Liebe zum Äußeren getrieben zu werden, durch göttlichen Instinkt ohne Unterbrechung des Aktes im Inneren angeregt zu werden.« 18 An anderer Stelle lehrt er, »die Anwendung solcher Reden könne nicht ernsthaft sein, außer bei den höchsten Heiligen, wie Paulus und Moses, das bedeutet, bei so heiligen Seelen, wie sie in mehreren Jahrhunderten kaum fünf – oder sechsmal auftauchen.« 19 Ich schlage vor, das so Wundersame mit den gegenteiligen Reden desselben Autors zu vergleichen. Diese Akte nennt er bei Paulus und Moses »fromme Exzesse im Moment der Ekstase«, und fügt hinzu: »Wenn Paulus so spricht, will er keinen vollkommeneren oder reineren Akt anregen als den, von dem er sagte: Ich sehne mich nach der Gegenwart Christi; ich strecke mich zu dem, was da vorne ist, als der Belohnung, die keine andere ist als Christus.« 20 Wenn jemand eine vollkommene Handlung vollbringt, sagt er nicht zu sich: Ich will eine reinere und vollkommenere Handlung als die übrigen Akte vollbringen, sondern aufgrund der Heftigkeit der Liebe führt er seine Handlung einfach aus, ohne seine Leidenschaft zu beurteilen oder seine Handlungen untereinander zu vergleichen. Wer aber könnte bezweifeln, dass der Apostel eine höhere Handlung vollbrachte, wenn er sagte: »Ich wünschte … etc.«, doch welchen Lohn wünschte er? Muss man, um den Lohn zu wünschen, so wünschen wie Paulus oder Moses oder eine dieser hervorragenden Seelen, wie es sie in mehreren Jahrhunderten kaum fünf- oder sechsBossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch X, Abschnitt 19, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 426 u. 427. 19 Ebd., Abschnitt 22, S. 437. Edition von 1845, Bd. 9, S. 197 u. 208. 20 Ebd. – Philipp. III. 8, 13, 14. 18
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mal gibt? Sind nicht auch die Gläubigen unterer Ordnung ohne Unterschied verpflichtet, Christus als Lohn zu erhoffen und gewinnen zu wollen? So wäre jener Akt, welchen nur einer, der sich durch 1000 Übungen bewährt hat und durch göttlichen Instinkt zum Äußersten getrieben wurde, hervorbringen durfte, in der Tat Paulus oder Moses an Vollkommenheit ähnlich, wird aber selbst so herabgesetzt, dass er um nichts vollkommener ist als der Akt der Hoffnung, deren Liebe, wie der hl. Thomas sagt, unvollkommen ist und die Christus zu gewinnen sucht. Der Bischof v. Meaux hatte behauptet, der heilige Franz v. Sales hätte in Wahrheit das Paradies ersehnt, auch wenn er sagte, er schätze das Paradies gering, »wenn nicht dort die Liebe Gottes unverändert herrschte« 21, und hatte noch hinzugefügt: 22 »Man wird sagen, unsere Mystiker würden nicht anders denken und wüssten genau wie wir, dass es unmöglich wäre, Gott vom Paradies zu trennen; man müsse ihnen sogar ihre Wahnvorstellungen von der Liebe lassen. Wenn sie diese nur nicht missbrauchen, stimme ich zu.« So, berichtet er, würden dieselben Akte, welche er bei Paulus und Moses selbst vorsichtig »fromme Exzesse« nennt, von anderen »Wahnvorstellungen mystischer Liebe« genannt. Was sagt er dazu? Tadelt er etwa die Kühnheit dieser gottlosen Menschen, welche denen des Paulus und Moses ähnliche Handlungen als Wahnvorstellungen verwerfen? Das freilich hätte sich für den Bischof geziemt; er hingegen stimmt zu. Er erlaubt, die Wahnvorstellungen wie harmlose Torheiten den Mystikern zu überlassen. »Wenn sie jene nur nicht missbrauchen«, sagt er, »stimme ich zu«. »Jene«, das heißt die Wahnvorstellungen. Von welchen er aber auf Seite 333 billigt, wenn sie sagen, man müsse den Mystikern ihre Liebeswahnvorstellungen lassen, die nennt er auf Seite 335 23 »gelehrte Männer«. An dieser Stelle erklärt er nur, er könne deren Lehre nicht annehmen. Dieselben Akte aber, die er als »Wahnvorstellungen der Liebe« von anderen verspottet wissen will, spielt er bei Paulus und Moses als fromme Exzesse schamhaft herunter. Jedoch ist diese Bezeichnung nur scheinbar schamhaft. Denn nicht ernsthaft können Exzesse gegen die menschliche Natur, gegen das Wesen der Franz v. Sales, Abhandlung über die Gottesliebe, Zweiter Teil, Buch X, Kapitel 5. In: Deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales, Band 4, Eichstätt 2003, S. 181. 22 Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 1, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 347 u. 348. 23 Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 1, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 348 u. 349. 21
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Liebe, gegen jegliche Vernunft der Gottesliebe fromm genannt werden. So lieben zu wollen bedeutet nicht »lieben«, sondern vielmehr gegen die Liebe zu rasen und die Liebe selbst gänzlich auszulöschen. Was ist frevelhafter als das Wesen der Liebe ausrotten zu wollen, Gott unliebenswert zu machen und Gott nicht mehr als Gott anzunehmen? So zu sprechen, so zu denken bedeutet nicht fromm abzuweichen, sondern gottlos gegen Gott und die Gottesliebe zu lästern. Wie weit aber jemand abweicht, der dem Paulus und dem Moses diese Gotteslästerung vorwirft, sieht jeder. So aber frage ich eindringlich nach: Trifft es nur auf Paulus und Moses zu, dass sie gegen das Wesen der Liebe rasen konnten? Wird es unabänderlich gültig sein, dass einige Jahrhunderte lang kaum fünf– oder sechsmal sehr erhabene Geister ganz unschicklich von diesem fanatischen Geist ergriffen wurden, sodass sie gegen jegliche Vernunft der Liebe rasen? Und nicht möge der Gegner erwidern, David hätte ausgerufen: »Ich habe in meiner Verzückung gesagt, etc.« Jene Verzückung war darüber hinaus gehend, nicht gegen die wahre Vernunft, das reinste Gottesgeschenk, den Strahl und die Mitteilung des höchsten Lichts. Die Verzückung jedoch, die er dem Paulus und dem Moses zuschrieb, kann nur sündhafter Wahn sein, da sie ja, nach dem Urteil des Bischofs v. Meaux, gegen die wahre Vernunft und das Wesen der Liebe offensichtlich ankämpft. Er soll nicht sagen, Petrus wäre, nachdem ihm die Herrlichkeit des Herrn Jesu Christi auf dem Berg erschienen war, von Sinnen gewesen und hätte nicht gewusst, was er sagte. Dafür hat Petrus kein Lob verdient. Jedoch war er nicht gegen das Wesen der Liebe rasend. Dagegen ist beim Bischof v. Meaux anerkannt, dass Paulus und Moses von den Kirchenvätern mit Lob in den Himmel gehoben wurden hinsichtlich eines Aktes, welcher nach seiner Formulierung das Wesen der Liebe vernichtet. Auch soll er nicht sagen, Paulus hätte gesagt: »Wenn wir nämlich von Sinnen waren, so geschah es für Gott«. 24 Mit diesen Worten widerlegt der Apostel den Bischof v. Meaux und rechtfertigt sich sehr wirksam. Ebenso könnte er sagen: Sollte ich einmal ausschweifen, gehe ich über die Vernunft hinaus, nicht gegen diese. So auszuschweifen ist weise. Ich schweife gemäß der Vernunft des Liebens ab, nicht gegen diese. Man darf in Gott, nicht gegen Gott und das Wesen der Liebe ausschweifen. Wir haben schon gesehen, dass der Bischof v. Meaux gemeint hat, der Akt des Paulus sei nicht vollkommener als einer, wodurch 24
2. Kor. 5, 14.
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jemand Christus wie einen Lohn verdienen will. Aber wie weit ist jener Akt davon entfernt, einem von der Hoffnung hervorgerufenen Akt zu gleichen, dass er nicht einmal ein freier und menschlicher Akt ist. Sicherlich würde ich mir selbst allein nicht glauben, aber dem Bischof v. Meaux muss man, was diesen Akt allein betrifft, Glauben schenken. Er sagt: »Diese Akte haben nichts Geregeltes, Vollkommenes oder Vollendetes in der Art des Aktes, da sie ja nur entstehen und hervorgebracht werden können, wenn sie einerseits die Seligkeit dem Anschein nach ausschließen, andererseits diese in Wahrheit einschließen.« 25 So lehrt er offensichtlich, diese Akte stünden mit sich selbst in Widerspruch und seien daher lächerlich und kindisch, und weder seien sie geregelt noch könnten sie ohne augenscheinlichen Widerspruch hervorgebracht werden, sodass der Mensch, wenn er diese hervorbringt, vorgibt, zu wollen, was er niemals wollen kann. Anderswo sagt er, »Paulus hätte in diesem Akt kein absolutes oder bestimmtes Wollen hervorgebracht; … denn niemand will durch dieses Wollen etwas wissentlich Unmögliches. Dieses Wollen ist auch nicht bedingt: Da nämlich die Bedingung für unmöglich gehalten wird, liegt es nicht in ihrer Natur, dass sie einen Akt beeinflussen könne; sondern es ist nur ein unvollkommenes Wollen 26, mit dem das absolute und vollkommene Wollen des Gegenteils zusammenhängt, etc.« 27 Nun soll er ausführen, wenn er kann, aus welchem Grund der formlose, nicht geregelte und auch nicht in der Art eines Aktes bestehende, sich selbst läppisch widersprechende Akt, der nur hervorgebracht werden kann, wenn er zugleich ausschließt, was er in Wirklichkeit einschließt, vollkommener sei als die Akte der Hoffnung. Hören wir den Autor selbst, so in die Enge getrieben: »Diese Akte«, sagt er 28, »sind ausgezeichnet und verdienstvoll. Ausgezeichnet, weil sie nur hervorragenden Seelen zukommen; darüber hinaus aber auch verdienstvoll, weil sie aus so großer, sozusagen unermesslicher Caritas entstehen, dass sie nur durch diese Exzesse erklärt werden können«. Was für ein einzigartiges, bedauernswertes Beispiel eines irrenden Geistes! Was findet er ausgezeichnet und verdienstvoll Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 9, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 35. 26 Lat. velleitas. 27 Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 4, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 359. Edition von 1845, Bd. 9, S. 444. 28 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 9, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 35. 25
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an einem Akt, der nicht einmal ein menschlicher Akt ist, keine Regel hat, der die ganze Liebenswürdigkeit Gottes, oder den ganzen Grund des Liebens offen angreift, der sich nur in fiktivem und erlogenem Affekt äußern kann, wodurch jemand zu wollen behauptet, was er keinesfalls in irgendeiner Annahme weder will noch zu wollen wünscht, noch unvollständig wollen oder wünschen kann? Wer wird außerdem gleichmütig hören, dass diese so unermessliche Caritas nur durch diese Exzesse erklärt werden kann? O, was für eine wunderliche Art der Erklärung, was für ein absurder Widerspruch! Die Liebe so zu erklären bedeutet ja zu implizieren, sie widerspreche und verspotte sich selbst. Wird die Liebe etwa durch eine falsche und wahnsinnige Rede erklärt, die den ganzen Grund des Liebens aufhebt, die sowohl die Liebenswürdigkeit des Objektes als auch die Natur des Willens des Liebenden als auch das Wesen der Liebe untergräbt? Ist es etwa für Paulus und Moses charakteristisch, dermaßen über die Hoffnung hinauszugehen, oder vielmehr so zu rasen, vor Gott zu heucheln, gegen das Wesen der Liebe zu lästern? Sicher ist dieser Akt, wenn der Bischof v. Meaux nicht vollkommen verwirrt ist, keinesfalls ein menschlicher, sondern irgendein stammelndes, vergeblich einen Willen hervorbringendes, als Fehlgeburt zur Welt gekommenes Monster. Sollte aber jemand glauben, ich dichte dem Gegner diese Absurditäten in feindlicher Gesinnung an, dann möge er ihn selbst hören, wenn er sagt: 29 »Wie glaubst du, dass jemand zu können wünscht, wovon er in demselben Akt fühlt, es nicht zu können, da es nämlich aufgrund der Natur dem Wesen des Willens, und aufgrund der Gnade dem Wesen der Caritas widerspricht?« Glaubte man daher dem Bischof v. Meaux, muss man eine zweifache Unmöglichkeit unterscheiden: 1) Es ist unmöglich, dass Gott die versprochene Seligkeit nicht gewährt. Diese erste Unmöglichkeit gestehe ich gerne zu, zwar nicht als in sich absolute, wohl aber als wahre aufgrund des Versprechens. 2) Es ist nach dem Bischof v. Meaux unmöglich, dass der Mensch bedingt eine Sache will, die er selbst so zu wollen bekräftigt. Dieses bedingte Wollen nämlich widerspricht, wie der Bischof v. Meaux meint, dem Wesen des Willens. Er fügt hinzu, der Mensch fühle in diesem Akt, dass er nicht etwas dem Wesen des Willens Widersprechendes wollen könne und auch nicht wünsche, das zu können. Daher fühle der Mensch offenbar in diesem Akt die Falschheit 29
Ebd., S. 34.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 444 u. 445.
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seiner Beteuerung und wünsche nicht, wollen zu können, was er nicht wollen kann. Wer aber fühlt, in seinem Akt weder zu wollen noch wollen zu können, was er in diesem Akt zu wollen beteuert, und wer auch nicht wünscht, es zu können, ist ein schamloser Lügner. Folglich hätten Paulus und Moses so zu täuschen gewollt. Es gibt keine Beschränkung des Geistes oder Ausrichtung der Absicht, wodurch die Schändlichkeit dieser schamlosen Täuschung vermieden werden könnte. Hat also jener Gesetzgeber geheuchelt, der Gott, wie ein Freund einen Freund, von Angesicht zu Angesicht gesprochen hat, und der Völkerapostel, der in den dritten Himmel entrückt ist? Ist das eine gottlose und wahnsinnige Heuchelei, die von so vielen Kirchenvätern, und vor allem von der gesamten Schule des Chrysostomos außerordentlich gelobt wurde? »Es steht fest«, sagt der Bischof v. Meaux 30, »dass diese auf der unmöglichen Annahme begründeten Entsagungen und Unterwerfungen nicht verworfen werden können, ohne zugleich alles, was in der Kirche höher und heiliger ist, zu verurteilen.« So ist es. Für diesen Verzicht gibt es Vertreter und Beispiele: Paulus und Moses. Alles, was in der Kirche höher und heilig ist, verehrte diesen Verzicht als Wunder der Liebe. Bewundert etwa die gesamte Kirche Paulus und Moses als Heuchler? Muss man etwa sagen, nur dem Paulus und Moses und anderen erhabenen Seelen, wie sie in einigen Jahrhunderten kaum fünf- oder sechsmal vorkommen, sei es erlaubt, so unverschämt zu heucheln? Ist dies jener so gewaltige Akt, den der Bischof v. Meaux zu vollbringen verbietet, es sei denn, dass jemand, durch 1000 verschiedene Exerzitien erprobt, durch den Ansturm der Liebe zum Äußersten getrieben und durch göttliche Eingebung ununterbrochen im Inneren bewegt wird, diesen zu vollbringen? 31 Ist dies jener wunderbare Akt der vollkommenen Hingabe und der reinen Liebe, den der Lenker eingeben kann? 32 Kann der Lenker diese unheilige Lüge, diese frevelhafte Heuchelei eingeben? Ist das der Akt, zu dessen Anregung Gott die Seele mit speziellen Anreizen antreibt, damit sie gleich wie Paulus und Moses diese Art eines Opfers vollbringt, und in dessen Hervorbringung man die Seelen in Wahrheit dabei unterstützen muss, zu vollbringen und gleichsam zu gebären, was Gott selbst durch seinen Einfluss von ihnen Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 4, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 337. 31 Ebd., Buch X, Abschnitt 19, S. 427.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 178 u. 197. 32 Art. XXXIII v. Issy. In: Œuvres complètes de Fénelon, Bd. 2, S. 228 30
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
fordert? Fordert Gott Lüge und Heuchelei? Ziemt es sich für den Lenker, die ein Ungeheuer gebärende Seele zu unterstützen? Ist dieser Akt bei Franz v. Sales der Bezwinger eines Dämons, der den Heiligen von der Versuchung befreite? Ist das dieser schreckliche Vorsatz, den man doch schließlich fassen muss? Wird durch diesen heuchlerischen Akt der heuchlerische Geist selbst vertrieben? Der Heilige hatte den Eindruck der Verdammnis lange ertragen; er trug ihn mit sich wie das sichere Todesurteil; jener Akt der so uneigennützigen Liebe 33 heitert das Unwetter auf. War sie um eines Vorteils willen uneigennützig? Ohne Zweifel um der himmlischen Seligkeit willen; freilich ertrug der Heilige den Eindruck der Verdammnis und stellte sich vor, Gott würde in einem anderen Leben von ihm nicht geliebt werden. Die Caritas aber, sei sie auch noch so sehr drängend, kann sich, wenn man dem Bischof v. Meaux glauben soll, gegenüber der Seligkeit niemals uninteressiert zeigen 34. Folglich hatte der Heilige geheuchelt. Er fühlte nämlich, nicht wollen zu können, was er in diesem uneigennützigen Akt zu wollen behauptete, er wünschte nicht einmal, das wollen zu können. Der Gegner könnte also sagen, wenn ein derartiger Akt ernsthaft hervorgebracht wird, kann er nur Paulus und Moses zukommen. Er könnte hinzufügen, die ernsthafte und wahre Praxis dieser Rede kann nur bei Paulus und Moses vorkommen 35; bei den übrigen Unvollkommenen sei diese Rede eitel und Nahrung für die Eigenliebe. Der darüber ungehaltene Leser antwortet, es könne keine ernsthafte und wahre Praxis der Lüge geben, ein Akt gegen das Wesen der Liebe und den Willen selbst könne niemals ernsthaft hervorgebracht werden, und man müsse jene lügenhafte Heuchelei im Munde aller als frevelhaft, im Munde von Paulus und Moses als besonders frevelhaft beurteilen. Das Herz sträubt sich, das auszusprechen, doch mich zwingt die Notwendigkeit, die Wahrheit zu schützen. Was bei anderen nur nichtige Rede und Nahrung der Selbstliebe ist, wird bei diesen Gottesmännern höchste Heuchelei und Gotteslästerung. Alles, was der Bischof v. Meaux bei den Mystikern anklagt, muss, nur unter veränderten Namen, auf Paulus und Moses ange-
Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 3, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 353. 34 Ebd., Buch X, Abschnitt 29, S. 450. 35 Ebd., Abschnitt 19, S. 426. 33
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Diese Lehre wird sowohl untermauert durch den Artikel 33 von Issy
wendet werden. »Nichts ist leichter«, sagt er 36, »als diese Selbstaufgabe, deren Ausführung, wie man weiß, unmöglich ist.« Moses und Paulus wussten vorzüglich, dass dieses bedingte Wollen, auch unter dieser Form der Bedingung, für sie unmöglich wäre. Sie fühlten nämlich, nichts wollen zu können, was von Natur aus dem Wesen des Willens widerspricht und wünschten auch nicht, wollen zu können, was sie zu wollen bekräftigten. Was ist also leichter, lügenhafter, gottloser, in der Heuchelei schamloser als diese erlogene Selbstaufgabe? Dies sagt der Bischof v. Meaux ebenso über Paulus und Moses wie über die heiligen Mystiker: »Wie fern liegt es also, dass die Seele in ihrer Selbstaufgabe diesen geistigen Nutzen, dieses deutliche Interesse verleugnet, ja sie fühlt sogar, dass sie dies durch diese Selbstaufgabe sicher gewinnen kann.« 37 Dasselbe könnte man über diese Äußerungen desselben Autors sagen, nämlich dass die Selbstaufgabe nur eine Art der Sehnsucht sei, umso brennender, je verborgener. Je mehr also Paulus und Moses der Seligkeit bedingt entsagten, umso mehr begehrten sie diese in demselben Akt heimlich. Nicht nur hinge die Sehnsucht nach Seligkeit gewöhnlich in derselben Seele mit jener bedingten Verleugnung der Seligkeit zusammen, sondern auch die bedingte Verleugnung selbst wäre verborgene und brennende Sehnsucht danach, was sie verleugnete. Daher verleugneten die Heiligen die Seligkeit nur zum Schein, weil sie fühlten, diese bei vorgetäuschter Verleugnung mit Sicherheit zu gewinnen. Damit aber niemand kurzerhand die Meinung des Bischofs anzweifle, erklärt er selbst seine Ansicht so 38: »Paulus und Moses … wussten vorzüglich, sich etwas Unmögliches vorzunehmen; … und als sie, wenn das hätte geschehen können, verleugnet hatten, was sie wünschten, wünschten sie in demselben Augenblick und in demselben Akt, was von ihnen verleugnet wurde.« Ich gebe zu, dass jemand bedingt, und tatsächlich ernsthaft, in einem Akt auf einen Vorteil verzichten kann, den er trotzdem in übrigen Akten absolut für sich begehrt. Zum Beispiel kann ein mit einzigartiger Tugend begabter, dem Staat ganz ergebener Bürger aus tiefstem Herzen diese Worte ausstoßen: Ich erwerbe großen Reichtum beim Schutz des Vaterlandes; diesen nehme ich gern an, als NutEbd., Edition von 1845, Bd. 9, S. 177, 250. Bossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch IX, Abschnitt 6, S. 306. 38 Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 9, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 36; Edition von 1845, Bd. 9, S. 180, 446 u. 488. 36 37
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zen für mich, vor allem aber als Zeichen der Wohltat für den Staat. Müsste ich mich aber von diesem Reichtum lossagen, um dem Staat unentgeltlich zu dienen, würde ich diesen um nichts weniger hüten und schützen. Es ist ganz klar, dass dieser ausgezeichnete Bürger in anderen Akten bewegt wird, sich seinen privaten Vorteil erlaubt und ehrenhaft zu verschaffen, und dass ihm diese Neigung natürlicherweise anhaftet; in diesem Akt aber, in dem er den Reichtum selbst bedingt zurückweist, ist der Reichtum selbst keinesfalls Motiv, wodurch der Wille dieses Bürgers sich von ihm loszusagen getrieben wird. Sonst (das wäre trügerisch und schändlich) würde er selbst aus dem Motiv des Gewinns fälschlich Eifer zeigen, den Staat uneigennützig zu schützen. Fest steht, dass Paulus und Moses auf genau dieselbe Weise die versprochene Seligkeit in anderen Akten absolut gewünscht hatten, in diesem speziellen Akt, in dem sie jener bedingt entsagten (wenn sie nicht Gott selbst wissentlich betrogen), bewegte die Seligkeit ihren Willen keineswegs. Hier wird jener Grund des Liebens gänzlich zerstört, den der Bischof v. Meaux ewig propagiert. Daher muss man dieses Gelübde, das frei vom Motiv der Seligkeit ist, wahnsinnig, lügnerisch und schamlos nennen.
III. Wie der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte Mit welcher Gewandtheit der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte, kann er nur selbst erklären. »In diesem Brief«, sagt er 39, »bekräftige ich diesen Punkt, denn dieser Punkt ist entscheidend«. (So ist es, ich stimme gerne zu). »Der Wunsch, diese Motive zu trennen, hat dich dazu veranlasst, Wunder in diesen unmöglichen Annahmen zu suchen, die du allein bei ihnen wahrnimmst. Im Vertrauen auf dieses Argument hast du diese von dem wesentlichen Motiv der Seligkeit getrennte Caritas erdacht.« Welche Wunder habe ich gesucht? Sicher sind es keine anderen gewesen, außer dass ich hartnäckig geleugnet habe, das Motiv der Seligkeit sei einem beliebigen Akt der Caritas wesentlich. Das ist diese unnatürliche Trennung der beiden Motive, welche mir der Gegner in einzelnen Schriften vorwirft. Keine reale Trennung oder Entbehrung der Seligkeit habe ich jemals erwogen; das läge fern. Keine Trennung der Motive in irgendeinem Bossuet, Rép. à quatre Lettr., Abschnitt 19, S. 61 u. 62; Edition von 1845, Bd. 9, S. 453.
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Wie der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte
Zustand der Seelen habe ich erwogen; das läge mir gänzlich fern. Keinen Zustand habe ich jemals angenommen, in welchem die Seele weder in den Akten der Caritas vom Motiv der göttlichen Schönheit, noch bei Akten der Hoffnung vom Motiv der Seligkeit beherrscht wird, sodass sie durch das Motiv ihres persönlichen Guten sehr wirksam angetrieben wird, Gott zu lieben. Also ist diese Trennung, die mir der Bischof v. Meaux so heftig vorwirft, nur eine Abstraktion, wodurch die Caritas selbst in ihren Akten Gott wohlwollen oder an dem höchst vollkommenen Gott uneigennützig Wohlgefallen haben kann; wenn auch in diesem konkreten Akt die zu erwerbende Seligkeit nicht der formale und spezielle Grund des Liebens ist. Wäre diese Trennung oder eher einfache Abstraktion, mit welcher die von Tag zu Tag mehr wachsende Hoffnung im Zustand der Seele bestens zusammenhängt, Zeichen eines Irrtums, so bekenne ich, von furchtbarem Irrtum getäuscht worden zu sein und noch immer getäuscht zu werden. Sollte ich darin blind sein, möge der gütige Vater meine Augen gnädigst heilen! Sollte ich aber darin keineswegs irren, dann, wehe! Mit wie großer Gefahr für die Religion irrt dann der Gegner gegen das Wesen der Caritas! Welches ist denn aber dieses Wunder, welches das erste Eindringen des Bösen und der Grund eines solchen Skandals war? Dieses eine, nämlich dass, wie Chrysostomos lehrte, »Gott geliebt werden müsste, nicht nur, wenn uns auch daraus kein Vorteil erwüchse außer der Liebe selbst, sondern sogar angenommen, er gäbe uns, wenn das geschehen könnte, Hölle und ewiges Fegefeuer, wobei die Liebe bewahrt bliebe.« 40 Mit eben diesen Worten (kaum traue ich meinen Augen) legt der Bischof v. Meaux die Lehre des Chrysostomos aus. Diese bedeuten bei Chrysostomos nur Unsinniges, oder wenn etwas davon verständlich klingt, muss eben dieses Wunder genau das bedeuten, was mir zu einem Verbrechen gemacht wurde. Welches Wunder habe ich denn jemals untersucht außer diesem? »Scotus bestimmt mit seiner gesamten Schule, die Caritas richte sich auf ihr Objekt, auch, gesetzt den unmöglichen Fall, dass der Nutzen oder der daraus entspringende Vorteil von diesem Objekt getrennt wird.« 41 Ebendiese Trennung der Motive in dem für die Caritas charakteristischen Akt, immer unbeschadet der Wirksamkeit der bewegenden Seligkeit in Bossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch IX, Abschnitt 3, Bd. 27, S. 350 u. 351; Edition von 1845, Bd. 9, S. 177. 41 Ebd. 40
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
den Akten der Hoffnung, habe ich zu verteidigen unternommen. Wo ist denn hier ein Wunder? Aber bekanntlich hat sich der Gegner über die Trennung gleich geäußert, aus dem Bestreben, vom Argument der Annahme nicht allzu heftig bedrängt zu werden. Diesen Ausweg hat er sich gesucht. Er meinte, Paulus hätte sich nach der Interpretation des Chrysostomos nur von gewissen äußerlichen Dingen bedingt lossagen wollen 42: als ob Paulus eine unvollständige, gleichsam halbe Seligkeit angenommen haben konnte, ohne jegliches echte und wirkliche Gute. Die versprochene Seligkeit ist im Versprechen Christi unteilbar. Nimmt man nur etwas ganz Winziges davon weg, zerstört diese so geringe Verminderung die wahre Seligkeit. Entsagte Paulus der intuitiven Schau Gottes? Wenn er dieser bedingt entsagt hat, habe ich den Punkt getroffen; dann bleibt nichts zu wünschen übrig. Entsagt er der Gemeinschaft Christi und deren Mitgliedern, sodass er vollständig selig und Miterbe des Reiches sein wollte, abgesondert von Christus selbst? Doch was ist absurder als mit dem Vater fern von Christus selig sein zu wollen? Was Erhabenes aber wird bewundert in jenem Akt, in welchem Paulus, vom Motiv der Seligkeit getrieben, die Seligkeit, die er als rein und unteilbar annimmt, für sich in der intuitiven Schau Gottes gewünscht hat, nur der Menschlichkeit Christi und der gesegneten Gesellschaft beraubt? Leicht hätte er eine Gabe entbehrt, durch deren Entbehrung ihm reine und vollkommene Seligkeit bevorgestanden wäre. Ebenso hätte der Apostel sagen können: Ich wünschte, vollkommen selig zu werden in der intuitiven Schau, fern von Christus, sodass meine Brüder nach dem Fleisch 43 Christus erkennen. Ist das jener schreckliche Fluch, nämlich vollkommen selig zu sein? Wozu dann diese Spitzfindigkeiten, die sich selbst wechselseitig zerschlagen? Der Bischof v. Meaux selbst erklärt offen, das sei die schönste, von Chrysostomos überlieferte Interpretation des Paulus gewesen, dass nämlich Paulus auf ewig bedingt von der Gegenwart Christi getrennt sein wollte, und aufgrund dieser Stelle »müsse man folgern: Gott werde geliebt werden müssen, nicht nur, wenn uns auch daraus kein Vorteil erwüchse außer der Liebe selbst, sondern sogar angenommen, er gäbe uns, sollte das geschehen können, statt guter Versprechen Hölle und ewiges Fegefeuer, unter Bewahrung der Bossuet, Rép. à quatre Lettr., Abschnitt 10, Bd. 29, S. 37; Edition von 1845, Bd. 9, S. 445. 43 Gemeint sind die Israeliten. 42
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Wie der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte
Liebe.« 44 Diese Worte des Bischofs v. Meaux sind entscheidend. Hätte Paulus nur der Gemeinschaft mit Christus und den Heiligen entsagt, unter der Bedingung jedoch, sich durch die intuitive Schau Gottes der vollkommenen ewigen Seligkeit zu bemächtigen, wäre diese Annahme des Chrysostomos und seiner Schule unsinnig, denn daraus, dass der Apostel ohne die Gemeinschaft mit Christus selig sein wollte, folgt keineswegs, dass die Gläubigen bereit sein müssten, der Seligkeit überhaupt zu entsagen und auf ewig das Feuer der Hölle zu ertragen. Chrysostomos lehrt uns nach dem Beispiel des Apostels, dass man bei der Liebe verharren müsse, auch wenn uns daraus nichts Gutes erwächst außer der Liebe selbst. Nun ist aber die Liebe selbst nicht die intuitive Schau, in welcher die Seligkeit besteht. So folgert Chrysostomos aufgrund des Beispiels des Paulus, dass Gott geliebt werden müsse, selbst wenn die intuitive Schau, die Seligkeit, nicht zu erhoffen sei. Er unterstellt Paulus, er hätte bedingt, und freilich ernsthaft, sowohl der intuitiven Schau Gottes, als auch der Gegenwärtigkeit Christi beraubt und in das ewige Feuer der Hölle, unter Bewahrung der Liebe, hinabgestoßen werden wollen, damit die Juden Christus anerkannten. Aus diesem so aufgestellten Beispiel schließt er richtig, Gott müsse derart geliebt werden. Außerdem tritt Chrysostomos darin in die Fußstapfen von Clemens v. Alexandria und Gregor v. Nazianz. So sprach Clemens 45: »Die aber meinen, für das Geben von vergänglichen Gütern dagegen unvergängliche zu erhalten, werden in der Parabel von den zwei Brüdern Taglöhner genannt.« Er will also nicht, dass ein Gnostiker, oder Vollkommener, Gott aus dem Motiv eines derartigen Austausches vergänglicher und unvergänglicher Güter verehrt. Wer aber könnte bezweifeln, dass das Gut der Unvergänglichkeit die Seligkeit selbst ist? Wer wird denn nach der schon vorgebrachten Vorstellung des Augustinus 46 selig sein, wenn er nicht mit Unvergänglichkeit beschenkt wird? Daher wundert es nicht, dass Paulus, ein Vorbild der Gnostiker, Gott nicht verehrt hat, um, als wesentliches Motiv seiner Verehrung, Gaben der Unvergänglichkeit zu erwerben, d. h. die himmlische Seligkeit zu erlangen. Eben erst in die Apostolische Tradition eingeweiht, fügte er an, Gott dürfe auch nicht wegen der HoffBossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch IX, Abschnitt 3, Bd. 27, S. 350 u. 351. – Siehe Œuvres complètes de Fénelon, Bd. 3, S. 462, 1. Spalte. 45 Clemens v. Alexandria, Stromata, 4. Buch, Kapitel 6. Lk 15, 17. 46 Augustinus, De Trinitate, Buch XIII, siehe oben. 44
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
nung auf versprochene Ehre 47 verehrt werden. Vielleicht könnte der Bischof v. Meaux sagen, »versprochene Ehre« bedeute hier nur äußere Ehre und die Gemeinschaft der Heiligen. Aber unser höchster Theologe widerspricht. Und gleich darauf legt er, was er sagte, so aus: »Denn es ist gesagt: Siehe, hier ist der Herr und sein Lohn ist vor ihm, damit er jedem gebe nach seinem Werke 48, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und was noch in keines Menschen Denken gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.« 49 Ein Gnostiker aber muss nur das eine anstreben, nämlich wegen der Herrlichkeit selbst durch die Caritas wohltätig zu sein. Es ist klar, dass dieser Lohn die alleinige Substanz der himmlischen Seligkeit ist. Daher geht es nicht nur um eine zufällige Ehre oder um die Gemeinschaft der Seligen, sondern um den Lohn, der vom Anblick des Herrn kommt, von der intuitiven Schau; es geht um das Gute, welches das Auge nicht gesehen hat etc. Das bekräftigt er so 50: »Ich möchte es wagen, zu behaupten, nicht weil er das Heil will, wird er die Erkenntnis (γνῶσις) wählen.« (Ist denn nicht das Heil die Substanz der Seligkeit?) »Angenommen also, es würde den Gnostiker jemand vor die Frage stellen, was von beiden er wählen wolle, die Erkenntnis Gottes oder die ewige Seligkeit, und diese beiden wären etwas Verschiedenes, während sie doch vielmehr gleichbedeutend sind, so würde er sich keinen Augenblick besinnen, sondern die Erkenntnis Gottes wählen.« So ist diese bedingte Ablehnung des ewigen Heils, sei es der intuitiven Schau oder der himmlischen Seligkeit, über jeden Zweifel erhaben. Es ist wohl das, was Chrysostomos dem Apostel zugutehält. Gregor v. Nazianz aber verwendet genau die gleiche Redeweise: »Ja sogar der Lehrer der Völker hat etwas Größeres für seine Brüder im Fleische gewagt; ich wage es, so zu sprechen.« 51 So hatte Clemens gesprochen und den Zuhörer gleichsam vorbereitet, damit diese Worte nicht zu einem Skandal gemacht würden: »Ich möchte es wagen, etc.« So fährt Gregor fort: »In seiner Liebe wünscht er, sie mögen an seiner Stelle zu Christus geführt werden. Welch gewaltige Vortrefflichkeit der Seele! Welch gewaltige geistige Leidenschaft! Er ahmt
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Strom., 4. Buch, Kapitel 22. 1. Clem 34, 3; vgl. Jes 40,10; 62,11; Offb. 22,12; Röm 2, 6. 1. Kor 2, 9; vielleicht aus 1. Clem 34, 8. Strom., 4. Buch, Kapitel 22, Abschnitt 136. Gregor v. Nazianz, II. apologetische Rede, Abschnitt 55.
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Wie der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte
Christus nach, der für uns zum Fluch 52 geworden war, der unsere Schwächen auf sich nahm und unsere Krankheiten trug; oder, um es gemäßigter auszudrücken, als erster nach Christus lehnt er, auch gleichsam als Gottloser verspottet, nicht ab, für sie etwas zu erdulden, wenn sie selbst nur das Heil erlangen.« Wenn er also sagt, der Apostel hätte gewünscht, dass die Juden an seiner Stelle zu Christus geführt werden, zeigt er offen an, jener hätte gewünscht, dass sie an seiner Stelle das Heil erlangen, er selbst aber wie ein Gottloser etwas erdulde und zum Fluch werde. Es ist ganz klar, dass dies das ewige Feuer der Hölle ist, das, wie selbst vom Bischof v. Meaux als Lehre des Chrysostomos anerkannt, in diesem Beispiel des Apostels unbeschadet der Liebe erduldet werden muss, auch wenn diese Strafe anstelle des Heilsversprechens gegeben wäre. Nun wollen wir Chrysostomos selbst hören: Wie Clemens und Gregor fürchtet er, die Schwachen zu verwirren. Der Apostel hatte, wie er selbst anmerkt, »auf dem Weg zu Größerem erkannt, dass Viele ihm nicht glauben würden. … So wollen wir nun diese unaussprechliche und unglaubliche Liebe kennenlernen.« 53 Was aber »Trennung von Christus« bedeutet, erklärt er so: »Das bedeutet, von allen getrennt und entfremdet zu sein.« Wird nun der Bischof v. Meaux sagen, jemand könne gleichzeitig sowohl mit Gott auf ewig in der intuitiven Schau vereint als auch von Christus entfremdet sein? Nun wollte aber nach dem Zeugnis des Chrysostomos der Apostel sich in Wahrheit bedingt – unter Beibehaltung der Liebe – entfremden, oder von Christus trennen: daher wollte er auch der intuitiven Schau Gottes beraubt werden. Er setzt die Liebe fort, ohne die intuitive Schau fortzusetzen. Den Apostel lässt er so sprechen 54: »Ich wollte getrennt und entfremdet sein von diesem Kreis, der Christus umgibt« – nicht aber von seiner Liebe, das sei fern, da er das nun einmal der Liebe wegen getan hat. »Jedoch jenes Genusses und der Ehre beraubt zu werden, könnte ich aushalten.« Nicht nur von der Menge wollte er getrennt, sondern sogar des Genusses und der Ehre beraubt werden. Welche versprochene Seligkeit aber wird denn ohne den Genuss und die himmlische Ehre übrigbleiben? So
Gal 3, 13.: »Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht in der Schrift: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt.« 53 Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer, Homil. XVI, Abschnitt 1. 54 Ebd., Abschnitt 2. 52
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
fährt er fort: »Gern verlöre ich das Himmelreich und jene unaussprechliche Herrlichkeit, dann würde ich alle Übel ertragen.« Der Bischof v. Meaux mag selbst sehen, ob er eine andere versprochene Seligkeit als das Himmelreich kennt. Bedeutet dieses Reich im Mund des Herrn Jesus Christus nicht Gott selbst, von dem wir, ihn von Angesicht zu Angesicht schauend, regiert werden wollen. Chrysostomos spricht nicht über eine äußere und zufällige Ehre, sondern offenbar über jene innere und verborgene, die das Auge nicht gesehen hat etc. Wenn also der Bischof v. Meaux noch widersprechen will, möge er sich an diesen Ausspruch des Chrysostomos erinnern: »Aber da wir ja von dieser Gottesliebe weit entfernt sind, können wir nicht einmal durch Überlegen diese Worte begreifen.« 55 Aber niemand soll sagen, wie das der Kardinal de Noailles und der Bischof v. Meaux behaupten, der Apostel wolle, nach dem Zeugnis des Gregor v. Nazianz, nur wie Christus am Kreuz und die Märtyrer unter der Folter etwas erdulden und den Tod auf sich nehmen, um die Brüder zu retten. Der Text des Gregor widerspricht offenkundig dieser ganz unpassenden Interpretation. Er sagt nämlich, der Apostel hätte gewünscht, die Juden würden an seiner Stelle zu Christus hingeführt, d. h., dass er ausgeschlossen, sie aber eingeschlossen wären. Nicht aber wollte er, dass sie Christus anerkennen und lieben, er selbst aber beides nicht erfüllt. Daher ist es eine Tatsache, dass er diese eingeschlossen, sich selbst aber vom Paradies oder von der himmlischen Seligkeit ausgeschlossen wissen wollte. Das ist nämlich der einzige Ort, von dem er wollen konnte, dass sie dort seine Stelle einnehmen. Sollte aber noch jemand auf einem gegensätzlichen Standpunkt beharren, möge er den Chrysostomos hören 56: »So sind manche durchaus nicht würdig, die Rede des Paulus zu hören, und sind auch von seinem Liebeseifer so weit entfernt, dass sie meinen, er spräche über den zeitlichen Tod. Von denen könnte ich freilich sagen, sie kennen Paulus ebenso wenig wie die Blinden die Sonnenstrahlen, oder, besser gesagt, noch weniger. Ein Mensch wie er, der jeden Tag dem Tod ins Auge sah, der beständig in Gefahren schwebte, der ausrief: ›Was wird uns von der Liebe Gottes trennen? Etwa ein Schicksalsschlag? Etwa eine Not? Etwa Hunger? Etwa Verfolgung?‹, und der, nicht zufrieden mit den Dingen dieser Welt, den Himmel über-
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Ebd., Abschnitt 2. Ebd.
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Wie der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte
schreitend, und den Himmel der Himmel, und die Engel und Erzengel, und alles Höhere geistig durchquerend, hierauf zugleich erfassend Gegenwärtiges und Zukünftiges, was man sehen und was man denken kann, und ebenso Mühevolles, Angenehmes, und was es sonst noch gibt, dabei nichts auslassend, und noch nicht zufrieden damit, sich sogar eine neue Welt, die noch nicht ist, in seinem Geist erschafft; – wie würde dieser, bitte, wenn er etwas ganz Großes nach all diesem ausdrücken will, den zeitlichen Tod erwähnen? Nein, nein; so ist es ganz gewiss nicht. Eher könnten im Staub sich verbergende Würmer eine derartige Meinung haben! Wenn er das nämlich sagte, auf welche Weise hätte er gewünscht, aus der Nähe Christi verbannt zu sein? Denn gerade ein derartiger Tod hat ihn ja diesem Chor, der Christus umgibt, hinzugefügt und verbunden, ferner bewirkte er, dass er jene Ehre genoss.« So legte Chrysostomos dies für die bedingte Entsagung, die er an dem Apostel so sehr lobt, deutlich dar: 1) dass nicht über den Tod, und schon gar nicht über eine vorübergehende Strafe verhandelt werde; 2) dass dem himmlischen Chor Christi entsagt werde; 3) dass dem Genuss der Ehre oder dem Himmelreich, welches die gänzliche versprochene Seligkeit einschließt, allein unter Beibehaltung der Liebe entsagt werde; 4) dass das geduldige Ertragen jeglicher Schrecken und ebenso des ewigen Höllenfeuers gelobt werde. Wer das leugnet, verurteilt, wie der Bischof v. Meaux sagt 57, alles, was in der Kirche höher und heiliger ist. Darin legt die beständige Tradition den klaren Sinn der Schriften fest. Die so ausgelegten Schriften aber weisen unbestritten eine in den Akten der Caritas rein wohlwollende und vom Motiv der Seligkeit gänzlich unabhängige Liebe nach. Denn nicht kann das als wesentliches Motiv der Caritas genannt werden, nach dessen Aufhebung aufgrund der Annahme die Caritas noch stark ist. Das ist also jene Liebe, welche Moses die Israeliten lehrte, der Apostel die Völker, Clemens die Alexandrinische Schule, welche der Theologe Gregor und auch Chrysostomos mit der gesamten orientalischen Schule mithilfe der unmöglichen Annahme den Orient lehrte. Dieselbe Liebe lehrten, wie bei den Apologeten deutlich wird, die übrigen Kirchenväter des Westens, unzählige heilige Asketen und hervorragende Scholasten, deren Anführer der hl. Thomas von Aquin war.
Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 4, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 357. Edition von 1845, Bd. 9, S. 178.
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Und der Gegner soll nicht sagen, einige Kirchenväter hätten diese Stelle 58: »Ich wünschte etc.« anders interpretiert. Diejenigen, welche andere Interpretationen vorgeschlagen haben, lehnten diese keineswegs ab. Unter den Kirchenvätern gibt es verschiedene Interpretationen, ja sogar verschiedene Sinnauslegungen, welche man einzeln zulassen mag, wenn sie sich nicht widersprechen. Es sei daher jede andere fromme und mit dem christlichen Glauben übereinstimmende Interpretation gültig und von Bedeutung, wenn sie nur mit der Lehre aller Kirchenväter übereinstimmt und, nachdem sie in die große Tradition aller Jahrhunderte eingeschrieben wurde, unerschütterlich bleibt. Wer das leugnet und zurückweist, könnte alles verurteilen, was in der Kirche erhabener und heiliger ist. Diese höchste Autorität bestimmt überhaupt den entscheidenden Punkt unserer Kontroverse. Mit wie großer Kraft aber bedingte Gelübde dieser Art zeigen, was der Caritas wesentlich oder was zufällig ist, geht daraus hervor, dass die Gegner sich so sehr mit ganz unpassenden Interpretationen abmühen, um die Worte des Apostels und die Zeugnisse der Tradition zu entkräften. »Paulus«, sagte der Bischof v. Meaux 59, »wünschte, auch nach der Interpretation des Chrysostomos, in seiner Verfluchung, dass er selbst getrennt würde, freilich nicht von der Gemeinschaft des himmlischen Vaters, sondern nur von den an diese Gemeinschaft geknüpften Vorteilen. Er wollte und erwartete diese Gemeinschaft, συνουσία, er begehrte Christus oder seinen Besitz.« Ich drängte ihn, die von der Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater getrennten Vorteile, denen der Apostel bedingt entsagte, selbst zu bezeichnen. Dies aber war die Antwort des Gegners: »Diese Entsagung, über die Chrysostomos spricht, bezieht sich nur auf Äußerliches, das weder jener Kirchenvater noch der Apostel selbst erklärt.« 1) Glaubt man dem Bischof v. Meaux, bezeichnete Chrysostomos das Gelübde als ein Opfer unglaublicher Liebe und als schreckliche Entsagung, wodurch der Apostel selbst in Gemeinschaft mit Christus und dem himmlischen Vater vollkommen selig werden und auf ewig herrschen wollte, unter Entbehrung einiger namenloser Äußerlichkeiten, welche weder verstanden noch irgendwie benannt werden können. Was ist abwegiger! 2) Wer würde glauben, dass gewisse namenlose und von Röm 9, 3. Bossuet, Réponse à quatre lettres de M. de Cambray, Abschnitt 10, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 36 u. 37.
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der vollkommenen Seligkeit in Gemeinschaft mit dem Vater und Christus getrennte Äußerlichkeiten von Chrysostomos Himmelreich, unsagbare Ehre und Genuss der Ehre genannt wurden? 3) Wollte der Apostel, vollkommen selig und in Gemeinschaft mit dem Vater und Christus in Ewigkeit regierend, selbst zum Fluch werden und diese Schrecken ertragen? Welche Verfluchung und Erduldung aller Schrecken konnte denn bei der himmlischen Seligkeit und der seligmachenden Schau hinzugedichtet werden? 4) Was vorgebracht wird, als letzte Zuflucht verderblicher Ausreden, muss zumindest deutlich bestimmt werden. Also soll uns der Gegner, und zwar deutlich, diese gewissen Äußerlichkeiten der Seligkeit nennen, denen Paulus bedingt entsagte, wodurch er übrigens in Gemeinschaft mit dem Vater und Christus die ewige Seligkeit erlangte. Wenn diese von der Seligkeit abzutrennende wahre Güter sind, wäre die Seligkeit ohne diese nicht mehr die volle und vollkommene Verbindung aller Güter, sondern eine unvollständige und halbe Seligkeit und nicht würdig, so genannt zu werden. Wollte der Apostel aus dem Motiv der Seligkeit heraus seine Seligkeit unvollständig machen und demnach ihrer beraubt werden? Bliebe aber nach Entfernung dieser Äußerlichkeiten die Seligkeit unversehrt, dürfte man freilich diese Äußerlichkeiten nicht wahre Güter nennen. Wer diesen entsagt, erträgt weder Schreckliches, noch gibt er einen Beweis unglaublicher Liebe. Ja wer, auch sogar ein Heide oder Gottloser, wollte denn nicht in Ewigkeit vollkommen selig sein, nach Beseitigung ich weiß nicht welcher Äußerlichkeiten, welche weder gefasst noch bezeichnet noch werden können? Soll doch der Bischof v. Meaux sagen, was diese Äußerlichkeiten sind, oder zugeben, dass er den entscheidenden Punkt nicht aufrechterhalten kann. 5) Einstweilen soll er nicht das dem Himmelreich Äußerliche in einem fort als Himmelreich bezeichnen. Gibt es ein zweifaches Himmelreich? Wenn er ein zweifaches kennt, soll er die unwissende Kirche schleunigst darüber belehren. Dieser dem christlichen Glauben gänzlich äußerlichen Chimäre wird von einzelnen Gläubigen entsagt; freilich ist sie es nicht wert, dass irgendein Gläubiger ihr im Ernst entsagt. Die Entsagung von dieser Chimäre wäre nichtig. 6) Darin widerspricht sich der Bischof v. Meaux offen und grundlos. Dies hatte er gesagt 60: »Chrysostomos behauptet, die Absicht des Paulus sei gewesen, sich der Verfluchung Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 3, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 351.
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auszusetzen und auf ewig von der Gegenwart Christi getrennt zu sein, wenn es geschehen könnte, etc.« Tatsächlich aber sagte er bereits folgendes 61: »Paulus wünschte auch nach der Interpretation des Chrysostomos, in seiner Verfluchung selbst getrennt zu sein, aber freilich nicht von der Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater, sondern nur von den an diese Gemeinschaft gebundenen Gütern. Er wollte und erwartete diese Gemeinschaft, συνουσία; er begehrte Christus bzw. seinen Besitz.« Konnte Paulus in demselben Akt gleichzeitig den Besitz Christi und die ewige Trennung von Christi bedingt wollen? Widersprechen einander nicht »besitzen« und »getrennt sein« gegenüber demselben Objekt? Doch wollte er lieber alles mögliche Absurde behaupten, als einen vom Motiv, die Seligkeit zu erlangen, freien Akt zuzugeben. 7) Wahr ist freilich, dass Chrysostomos so gesprochen hatte 62: »Wir lieben Gott nicht, wie es ihm gebührt. Wie viel bietet er uns an, um uns an sich zu ziehen, und dennoch harren wir nicht bei ihm aus, sondern eilen zu kindlichen Kurzweiligkeiten. Nicht so Paulus: sondern als edler, großherziger, den Vater liebenden Sohn strebt er allein nach der väterlichen Gemeinschaft und kümmert sich um die anderen Dinge nicht in gleichem Maß.« Das aber sagt Chrysostomos nicht in der 16. Homilie, wo es um den Fluch des Paulus geht, sondern in der vorhergehenden 15., wo er etwas ganz Verschiedenes behandelt, nämlich diese Worte des Apostels: »Wer wird uns von der Caritas Christi trennen?« In der 16. Homilie lässt er den Apostel so sprechen 63: »Und auch nicht wenn mir jemand jenen ewigen und nie zu beendenden Tod androhte, um mich von Christus zu trennen, oder ein Leben ohne Ende verspräche, wollte ich diese Bedingung annehmen.« Das bedeutet, ich wollte lieber ewige Höllenqualen mit der Liebe und Gemeinschaft Christi, als ein Leben ohne Ende, in dem ich von ihm getrennt würde. Dieser Vorsatz freilich ist frei von jeglichem Motiv, Seligkeit zu erwerben. Denn wer von einem nie zu beendenden Tod gequält wird und ein Leben ohne Ende zurückweist, würde dies keineswegs wählen, um sich zu beglücken. Diese für unsere Frage entscheidenden Dinge sagte Chrysostomos über Paulus in der 15. Homilie. Sobald er aber in der folgenden 16. Homilie die Rede auf verschiedenste andere ÄußerunBossuet, Rép. à quatre Lettr., Abschnitt 10, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 36.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 177 u. 445. 62 Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer, Homilie XV, Abschnitt 5. 63 Ebd. 61
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Wie der Bischof v. Meaux diesen Knoten zu lösen versuchte
gen des Apostels bringt, nämlich auf den Fluch, beginnt er so: »Habe ich euch nicht gestern Großes, über das natürliche Fassungsvermögen Hinausreichendes über die Liebe des Paulus zu Christus gesagt? Das ist nämlich seiner Natur nach Gewaltiges und geht über jede Beschreibung mit Worten hinaus. Es war folgendes: ›Wer wird uns von der Caritas Christi trennen, etc.?‹ Was aber heute gesagt wurde, nämlich ›Ich wünschte, etc.‹ übertrifft das Vorhergehende so sehr, wie das Vorhergehende unsere Affekte überschreitet, obwohl ich nicht für möglich gehalten habe, dass etwas noch Erhabeneres kommen könnte. Aber dennoch scheint das Dazukommende, das euch heute vorgelesen wurde, viel großartiger als das alles. Weil der Apostel das verstand, brachte er es gleich anfangs zum Ausdruck, wie jemand, der zu Bedeutenderem gelangen wollte und bei vielen seiner Zuhörer auf Unglauben zu stoßen fürchtete.« Wie also konnte der Bischof v. Meaux ernsthaft das Unwichtige auf eine andere Rede übertragen, in welcher es um Größeres und Großartigeres, für viele Unglaubliches ging? Nun stellt er in dieser 16. Homilie die unsagbare, unglaubliche Liebe dar. Wer aber von dieser entfernt ist, kann nicht einmal durch Überlegung diese Worte begreifen. Es geht nicht mehr darum, die Gegenwart und Gemeinschaft mit Christus durch Ertragen ewiger Strafe zu bewahren. Es geht vielmehr darum, der Gegenwart oder Gemeinschaft mit dem Vater und Christus zu entsagen, damit dem Vater und Christus größere Ehre zukomme. O Meister von Meaux, der du andere belehrst, hör doch bitte auf Chrysostomos, der dich so belehrt: »Wenn du aber diese Worte noch nicht verstehst, bedenke, dass viele Eltern das für ihre Kinder auf sich genommen haben, wobei sie nicht ablehnten, von ihnen getrennt zu werden, um jene ruhmvoller zu wissen und deren Ruhm der Gemeinschaft mit ihnen vorzuziehen.« Diese Gegenwart des Vaters und Christi selbst, vor der ein Leben ohne Ende wertlos wird, wird auch unter der Strafe eines ewigen Todes in der 15. Homilie gewünscht; aber gerade dieser Gegenwart des Vaters und Christi, der Gemeinschaft zur höheren Ehre des Vaters und Christi, wird in der 16. Homilie bedingt entsagt, wo zu viel Größerem und Erhabenerem fortgeschritten wird. Ich hatte gesagt, Gregor von Nazianz hätte dargelegt, dass der Apostel für seine Brüder »sogar wie ein Sündhafter ertragen wollte … etc.« Sofort hatte der Gegner aufgeschrien, ich hätte die Rede Gregors verstümmelt. Er hätte nicht einfach »ertragen« gesagt, wandte er ein, sondern »etwas ertragen«, παθεῖν τί. Aber wer sieht nicht, 127 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
dass dieses Wörtchen »τί«, oder »etwas«, an sich ungewiss und unbestimmt ist, sodass es erst durch Hinzugefügtes bestimmt wird? Etwas aber wie ein Gottloser aufgrund göttlicher Anordnung zu erdulden, bedeutet ohne Zweifel, mit Gottlosen in der Hölle gemartert zu werden. Der Bischof v. Meaux, der das leugnet, hat selbst dargelegt, die von Chrysostomos erläuterte Absicht des Paulus sei gewesen, »sich der Verfluchung preiszugeben und auf ewig von der Gemeinschaft Christi getrennt zu sein, wenn das geschehen könnte«. 64 Dies vorausgesetzt behauptet er, Chrysostomos hätte aus dem Beispiel der Verfluchung geschlossen, »dass Gott zu lieben wäre, nicht nur, wenn uns auch nichts Gutes außer der Liebe daraus erwüchse, sondern auch vorausgesetzt, er gäbe uns, wenn das geschehen könnte, statt der guten Verheißungen Hölle und ewiges Feuer unter Beibehaltung der Liebe«. Doch schon widerspricht er sich. Was nützt es, auf solche Weise Ausflüchte zu suchen? Chrysostomos selbst, dessen Worte ich vorbrachte, erörtert gleichsam mit Vorbedacht alle Argumentationen, wenn er den Apostel so sprechend vorstellt: »›Ich wünschte, von Christus verflucht zu sein für meine Brüder im Fleisch, welche die Israeliten sind.‹ Was er aber sagt, ist folgendes: Mir wäre es lieber, in die Hölle verdammt zu werden, als die Israeliten heidnisch und ungläubig zu sehen; das bedeutet es nämlich, von Christus verflucht zu sein. Dass dieser aber die Qualen der Hölle wählte, um alle Juden zum Glauben führen zu können, ist vollkommen klar, etc.« 65 Dies ist die Verdammnis der Hölle, oder die Strafe des ewigen Feuers, von der Chrysostomos behauptet, der Apostel hätte sie bedingt gewünscht. Weshalb also sagt der Bischof v. Meaux, wobei er sich selbst widerspricht 66, »die Entsagung, von der Chrysostomos spricht, betreffe Äußerliches, welches weder jener Kirchenvater noch der Apostel selbst erklärt?« Weshalb hält er daran fest, dass »etwas erdulden« nicht die Qual der Verdammnis oder Hölle zu ertragen bedeute? So tadelt mich der Bischof v. Meaux: »Spiele nicht weiter allzu subtil mit diesem Wort, nämlich dem Wollen (velleitas). Ich gebrauchte es nämlich nur nach dem Zeugnis des Photius, damit feststünde, dass diese Akte nichts Geregeltes oder Vollendetes hätten in
Bossuet, Instructions sur les états d’oraison, Buch IX, Abschnitt 3, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 27, S. 350 u. 351. Edition von 1845, Bd. 9, S. 177. 65 Johannes Chrysostomos, De Providentia ad Stagirium monachum libri tres, Buch III, Kap. XII, Abschnitt 11. 66 Bossuet, Rép. à quatre Lettr., Abschnitt 10, Bd. 29, S. 37. 64
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der Art des Aktes, weil sie ja niemals entstehen oder hervorgebracht werden können, wenn sie nicht einerseits dem Anschein nach die Seligkeit ausschließen und sie andrerseits in Wahrheit einschließen.« 67 Was aber Photius im Sinn der ganzen Schule des Chrysostomos richtig und angemessen Wollen nennt, dasselbe nennt der Bischof v. Meaux auf schlechte und absurde Weise so in seiner entgegengesetzten Meinung. Freilich kann zweierlei Wollen bestimmt werden. Das eine ist das Wollen, wodurch der Wille eines Menschen so affiziert wird, dass er unter einer gestellten Bedingung etwas wahrhaftig und ernsthaft will; das Abweichen der Umstände von der gestellten Bedingung aber hindert ihn, tatsächlich und wirksam zu wollen, was er unter der gestellten Bedingung ununterbrochen wirksam wollte. Dieses Wollen ist nicht einfach absolutes Wollen. Es ist jedoch ein wahres, tatsächliches und wirkliches Wollen in Bezug auf die Bedingung, von der es abhängt, so dass hier und jetzt wahr ist, dass der Wille tatsächlich so affiziert ist. So konnte Photius richtig sagen, der Fluch des Paulus sei das Wollen gewesen, d. h. ein bedingtes, nicht das absolute Wollen; denn was Paulus, unter der gestellten Bedingung, gewollt hätte, das wollte er bei Wegfallen der Bedingung nicht. Sicher ist aber, nach der Lehre der Schule des Chrysostomos, dass Paulus von seiner grenzenlosen Caritas so ergriffen war, dass der Apostel, hätte Gott eine unmögliche Bedingung an den Beschluss, die Seligkeit zu gewähren, geknüpft, augenblicklich durch ernsthaftes und wahres Wollen diesem bedingten Opfer zugestimmt hätte. So wollte ein Christ, den Barbaren in Afrika gefesselt hielten, wenn er könnte, ein Schiff besteigen, die Straße von Gibraltar überqueren und in die Heimat zurückkehren. Nicht jedoch will er das hier und jetzt mit absolutem Willem, da er ja durch die Fessel im Kerker zurückgehalten wird und das Geld nicht hat, womit er losgekauft werden könnte. Also hemmt ihn die Abwesenheit der Bedingung, hier und jetzt wirklich zu wollen, was er wollte, wenn eine für ihn unmögliche Bedingung angenommen würde. Er wäre verrückt, wenn er unter diesen Umständen in seinem Inneren diesen Akt hervorbrächte: Ich will heute in die Heimat reisen. Aber diesen Akt bringt ein Vernünftiger hervor: Ich wollte heute in die Heimat reisen. Dieses »Wollte« ist das wahre, ernsthafte Wollen. Denn in Wahrheit ist sein Wille genauso affiziert, wie er es selbst sagt. Es ist kein absolutes Wollen, sondern ein auf die 67
Ebd., Abschnitt 9, S. 35. Edition von 1845, Bd. 9, S. 443 u. 444.
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
Bedingung bezogenes. Denn im Willen des Gefangenen liegt ein wirksamer und realer Affekt, kraft dessen er wahrhaftig sagen kann: Ich wollte. Wenn nicht, lügt er, indem er behauptet, es sei in seinem Willen, was keineswegs darin ist. Auf gleiche Weise ist nach der Interpretation des Chrysostomos und des Photius der Fluch des Paulus kein absoluter Fluch oder der absolute Wunsch, die Seligkeit zu verleugnen: Das sei fern! Denn dem Apostel blieb nicht verborgen, dass Gott sein Heil will und gebietet, dass der Apostel dieses selbst wolle. Der Akt des Paulus aber wäre lügnerisch, wäre der Wille des Paulus zu dieser Zeit nicht so affiziert gewesen, dass er, unter der gestellten Bedingung, die versprochene Seligkeit gern verleugnet hätte. Im Willen des Paulus hätte dieser wirkliche und reale Affekt vorhanden sein müssen, während er ihn zeigte. Die andere Art des Wollens ist diese, dass z. B. jemand mit schwachem Wollen etwas aufrichtig wollte, wenn er nicht mit heftigerem Wollen etwas Gegenteiliges wollte. So wollte ein Kranker auf dem Weg der Besserung und von heftigem Hunger geplagt, eine feine, prächtige Mahlzeit, wenn er nicht mit viel heftigerem Wollen die Gesundheit wiederherstellen wollte. Dann wird der schwächere Affekt von dem stärkeren besiegt. Dennoch hat der Genesende einen wahren und wirklichen Affekt, eine wahre und wirkliche Neigung zur Nahrung, derer er sich enthält; und diese ist nicht eingebildet, während er bedauert, sich dieses Genusses enthalten zu müssen. Aus dem Angeführten muss man schließen, dass jegliches wahre Wollen eines Objektes ein wahrer Wunsch danach ist, entweder abhängig von einer angenommenen Bedingung, oder zumindest schwach, und durch den wirksameren Wunsch des Gegenteils in seiner Wirkung aufgehoben. Wer aber sagt »ich wollte«, ohne zu wollen, was er zu wollen behauptet, weder durch bedingten, noch durch schwachen Wunsch, der durch Hinzukommen eines stärkeren in seiner Wirkung aufgehoben wird, der kennt sich entweder selbst nicht oder lügt. Daher ist auch klar, dass jedes Wollen ein bedingter Wunsch ist: So ist z. B. ein Kranker, der eine üppige Mahlzeit wollte, wenn er nicht Gesundheit, der die Mahlzeit schadet, mehr wollte, so affiziert, dass er im Innern zu sich sagt: Ich wollte die Mahlzeit unter der Bedingung, dass ich keinen verdorbenen Magen hätte. Nähme man eine andere Art des Wollens an, würde man sofort bemerken, dass dies kein wahres und ernsthaftes Wollen, sondern läppische Lüge ist. Der Mensch kann zwar von wahrem und wirklichem Wollen einem Objekt gegenüber erfüllt sein, das er wollen 130 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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aber tatsächlich nicht erreichen kann. So wünschen die meisten Menschen Reichtum, den sie nicht erwerben können, besonders. Wer aber etwas keineswegs wollen kann, kann diesem gegenüber von keinem wahren und wirklichen Wollen erfüllt sein. Wenn das feststeht, ergibt sich von selbst, wie richtig Photius, wie absurd der Bischof v. Meaux den Fluch des Paulus »Wollen« nennt. Gemäß Photius ist es, was einfach und klar ausgesagt werden kann. Weil Gott durch sich und in sich höchst liebenswert ist und auch nicht der Gabe der übernatürlichen Seligkeit bedarf, um dem Geschöpf Liebe zu sich einzugeben, ist das Motiv der Seligkeit für die Caritas nicht wesentlich; und daher war der bedingte Wunsch des Paulus oder das Wollen, Gott zu lieben unter der Annahme, er wäre seiner intuitiven Anschauung beraubt, wahr und aufrichtig. Dies alles, streng wörtlich genommen, ist wahr. Will man aber dagegen dem Bischof v. Meaux zustimmen, muss man gänzlich verleugnen, was Photius lehrt. Kein bedingter Wunsch, und daher kein wahres, ernsthaftes Wollen, konnte den Willen des Paulus gegenüber einem Objekt affizieren, welches er in gar keinem Sinn jemals wollen konnte. Niemals kann der Mensch gegen das Wesen seines Willens und seiner Liebe etwas wollen, weder absolut, noch bedingt, weder vollendet, noch unvollendet. Denn kein wenn auch unvollendeter Wunsch, keine Tendenz oder Neigung des Willens kann gegen das Wesen des Willens sein. Bestünde aber der Wunsch nach Seligkeit aufgrund des Wesens des Willens und der Liebe, während der Apostel sagte »ich wollte, ich wünschte«, dann wäre überhaupt nichts in seinem Willen, wodurch diese Aussage wahr wäre. Ja es wäre sogar ganz falsch, von dem er behauptete, es wäre wahr. Denn in seinem Willen, der Seligkeit zu entsagen, wäre weder ein Wunsch, noch das, wenn auch schwache, Streben eines Wunsches, noch ein Schimmer unvollendeten Verlangens. Es ist sicherlich widersprüchlich, dass sich der Wille auch nur ein wenig gegen sein Wesen neigt. Was also ist platter und unverschämter als so zu sprechen: »Ich wollte bedingt, usw.«, angenommen es widerspräche dem Wesen des Willens und der Liebe, dies durch bedingten Willen oder selbst das geringste Wollen anzustreben. Was sagt dazu der Bischof v. Meaux? »Ich möchte, dass du, wenn du mich tadelst, diese nichtigen Spitzfindigkeiten ablegst; natürlich kann man die Möglichkeit einer unmöglichen Sache in anderen Angelegenheiten wünschen; aber etwas wünschen zu wollen, von dem absolut unmöglich ist, es auch nur zu wollen oder in irgendeinem Sinn zu wünschen, es zu wollen, das heißt geradezu nichts zu wollen 131 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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und bloß wahnsinnig zu sein.« 68 Wahrlich ein einfacher und, wenn ich mich nicht täusche, entscheidender Einwand. Denn wo es keinen unvollendeten und ungeformten Willensakt geben kann, dort gibt es kein Wollen. Die entscheidenden Argumente aber schätzt der Gegner gering: »Man darf Ekstase und Verzückung nicht so verstehen«, sagt er. Wie also muss man sie verstehen? Lässt etwa in Ekstase und Verzückung das Wesen des Willens und der Liebe nach? Kommt etwa in Ekstase und Verzückung ein neuer, unvorhergesehener Grund für die Liebe, außer der Seligkeit, dazu, der anders erklärt werden kann? Oder hat etwa Ekstase und Verzückung den Apostel so verblendet, dass er mit unvollkommenem Wollen zu erreichen behauptet, was mit keinem Wollen gegen das Wesen des Willens und der Liebe erreicht werden kann? Aber man muss hören, wie er fortfährt: »Wenn jemand etwas als unmöglich Erkanntes will, dann will er in Wahrheit Widersprüche wollen, die nicht erklärt werden können. Darin urteilst du richtig.« Sollte ich aber darin richtig urteilen, habe ich es auf den Punkt gebracht; dann ist der entscheidende Punkt schon gelöst. Denn, nach der Meinung des Bischofs v. Meaux, wollte der Apostel etwas als unmöglich Erkanntes. 69 Also wollte er in Wahrheit Widersprüche, die nicht erklärt werden können. Etwas als unmöglich Erkanntes zu wollen bedeutet aber, nichts zu wollen, nicht einmal bedingt oder unvollendet, oder mit ganz leichtem Wollen; ja es bedeutet stammeln, rasen, phantasieren und sogar schamlos zu lügen. Es bleibt zu untersuchen, ob Paulus, nach Meinung des Bischofs v. Meaux, etwas als unmöglich Erkanntes wollte. Das ist jener wesentliche Punkt, auf den ich dränge, auf den sich auch der Bischof v. Meaux ganz konzentrieren müsste. Was meint jener? »Wenn du aber«, sagt er 70, »in diesen Akten eine Trennung der Caritas von dem Verlangen nach Vereinigung und von der Seligkeit suchst, widersprichst Du Augustinus, du widersprichst zugleich der Natur und der Gnade, Du widersprichst Paulus und Moses, die Du schon gelobt hast, die sehr wohl wussten, sich etwas Unmögliches vorzunehmen.« Dieser Aufschrei tritt an die Stelle einer exakten Lösung. Fort mit jener so oft erörterten Zweideutigkeit von Trennung! Weg mit jener höhnischen Anführung des Augustinus, die schon untersucht wurde. Die Natur verlangt aufgrund ihres WeBossuet, Rép. à quatre Lettr., Abschnitt 9, Bd. 29, S. 35; Edition von 1845, Bd. 9, S. 444. 69 Ebd. 70 Ebd. 68
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sens nicht nach der übernatürlichen Seligkeit. Die Gnade gibt zwar in der Hoffnung das Verlangen nach Seligkeit ein; aber indem sie die Caritas eingibt, gibt sie ein, genießen zu wollen, das bedeutet, Gott um seiner selbst willen in Liebe anzuhängen, d. h. in ihm zu stehen, nicht damit daraus die Erlangung des Guten hervorginge. Also möge er das 100-mal Widerlegte nicht wiederholen, sondern im entscheidenden Punkt ganz bei mir sein! Wollte Paulus etwas als unmöglich Erkanntes? Moses und Paulus, sagt er, wussten genau, dass sie sich etwas Unmögliches vornehmen. Daher ist eingestanden, dass Ekstase und Verzückung sie keinesfalls abgehalten hätten, etwas als unmöglich Erkanntes zu wollen. Vielleicht könnte jemand, um den Bischof v. Meaux zu entschuldigen, sagen, Paulus und Moses hätten zwar genau gewusst, dass ihre ewige Bestrafung unmöglich sei, nicht aber, dass ihr Wunsch oder Wollen bezüglich dieser Strafe in gleicher Weise unmöglich sei, jedoch versperrt sich der Bischof v. Meaux selbst dieser Ausflucht: »Paulus und Moses«, sagt er 71, »die genau wussten, dass sie sich etwas Unmögliches vornehmen, wünschten sogar, nachdem sie dem Gewünschten, wenn das hätte geschehen können, entsagt hatten, ebendas, worauf sie verzichteten, zur selben Zeit und im Akt der Entsagung selbst.« Ist das die lange versprochene und erwartete Lösung: Männer Gottes wussten genau, dass sie wollten, was sie nicht zu wollen behaupteten? Aber was ist denn wiederum dieses »Unmögliche«, das sie selbst vortrefflich wussten? Er sagt 72: »Auf welche Weise kannst du dir vorstellen, dass jemand etwas wollen kann, von dem er in demselben Augenblick es nicht zu können fühlt, und das sowohl aufgrund der Natur dem Wesen des Willens als auch aufgrund der Gnade dem Wesen der Caritas widerspricht.« Endlich einmal wird der Autor der Hülle der Worte entblößt. Paulus und Moses »fühlten in demselben Augenblick«, als sie ein Wollen zeigten, nicht einmal mit einem kleinen Funken des Willens etwas sowohl dem Wesen des Willens als auch dem Wesen der Liebe Widersprechendes wollen zu können. Nun waren aber Paulus und Moses nicht unkundig 1. der Natur, 2. der Gnade, 3. des Wesens des Willens, 4. des Wesens der Liebe. Sie waren nicht so verblendet, dass sie als einzige den ganzen formalen und präzisen Grund des Liebens aller Menschen nicht kannten. Was in den Wünschen aller liegt, weswegen alle alles, und außer dem niemand etwas will, blieb ihnen allein nicht 71 72
Ebd. Ebd., S. 34; Edition von 1845, Bd. 9, S. 444.
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verborgen. Was also? Waren sie in der Ekstase so sehr geistig ergriffen und phantasierend, dass sie in der Liebe den ganzen Grund des Liebens offen verleugneten, d. h., dass sie ohne Liebe zu lieben, ohne Willen zu wollen, gegen die Liebe zu lieben, gegen den Willen zu wollen wünschten? Doch waren sie, wie der Bischof v. Meaux selbst bezeugt, nicht so sehr verblendet, da sie ja genau wussten, dass sie sich etwas Unmögliches vornehmen, es sei nämlich erstens unmöglich, dass Gott aus freiwilligem Entschluss den Gerechten die himmlische Krone verweigere, und zweitens sei vor allem aufgrund des Wesens der Liebe und des Willens unmöglich, dass sich jemand mit auch noch so kleinem Wollen vornehme, Gott ohne jegliches Motiv der Seligkeit zu lieben. Das fühlte Paulus, das fühlte Moses in dem Augenblick, als er Gegenteiliges behauptete. Was ist wahnsinniger, verlogener und schamloser? Keine Spur von unvollendetem Wollen konnte also nach Meinung des Bischofs v. Meaux bei Paulus und Moses vorhanden sein. Sie selbst wussten ganz offenbar, dass sie dieses Wollen keineswegs beginnen oder dass sie zu diesem ein kleinwenig geneigt werden könnten. Was Photius richtig als Wollen bezeichnet, das bezeichnet der Bischof ganz unpassend so. Von Herzen aufrichtig möge der Gegner aussprechen, dass er notwendigerweise selbst dies sagt, was, wie er selbst behauptet, von anderen »gelehrten Männer« verkündet wird. Nach deren Prinzipien sind das Phantasien der Liebe, oder eher Phantasien gegen die Liebe, nichtige Rede, ein Köder der Selbstliebe, Spitzfindigkeiten, offenkundige Täuschung, ja sogar ruchlose Heuchelei, wenn ein Mensch behauptet, bedingt etwas als unmöglich Erkanntes zu wollen, selbst hinsichtlich eines einzelnen Willensaktes oder eines ganz leichten Wollens. Aus welchem Grund aber drängt der Bischof v. Meaux so darauf, dieses Wollen zu erklären? Hätten Chrysostomos, Photius und alle Übrigen den Fluch des Apostels so interpretiert, dass sie sagten, der Apostel hätte nur gewisse Äußerlichkeiten verleugnet, unter Bewahrung der Gemeinschaft mit dem Vater und Christus, unter Bewahrung der vollkommenen Seligkeit, wie er selbst schon offen bestätigt hat, warum sind dann Spitzfindigkeiten nötig? Alles wäre klar. Paulus konnte gewissen namenlosen Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten entsagen. Alles außerhalb der vollständigen Seligkeit wird auch außerhalb des Grundes für die Liebe sein. Diesem Namenlosen aber, wenn es vielleicht doch irgendetwas ist, kann sehr leicht entsagt werden, nicht nur durch bedingten Wunsch, sondern auch durch absoluten. Alle Menschen gesunden Geistes, sich ihrer vollkommenen 134 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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Seligkeit schon sicher, würden auf jenes irgendwie Überflüssige nicht nur bedingt und mit schwachem Wollen, sondern mit vollem und absolutem Willen verzichten. Was ist deshalb daran verwunderlich, hätte die Interpretation des Bischofs v. Meaux Gültigkeit, dass Paulus und Moses mit bedingtem und wahrhaftigem Willen Äußerlichkeiten verleugnen wollten, die Gott von der vollendeten Seligkeit trennen wollte? Was ist schändlicher und trügerischer als jener Akt, den er Paulus und Moses vorbehalten hat? Moses, so der Bischof v. Meaux 73, sagte gefahrlos »Ich wünschte, usw.« Muss man etwa dasselbe über Paulus denken? Woher schließt er triumphierend, »jeder der beiden hätte in demselben Akt vollkommen die unmögliche bedingte Entsagung von der ewigen Seligkeit, zugleich mit der wirklichen Hoffnung und der untrennbaren Sehnsucht, die Seligkeit zu erlangen, erwirkt?« »Im innersten Bewusstsein wusste er (nämlich Paulus) genau, wie sehr es fernliege, dass Gott ihn seiner Gegenwart beraubte, und dass er ihn dagegen umso sicherer mache, die ewige Einigkeit zu erreichen, je mehr er aus Liebe zu ihm irgendwie auf sie zu verzichten schien.« O, welch verworrene Worte, die einen verworrenen, oder besser, gar keinen Sinn ergeben! So hält Gott, den Paulus täuscht, ihm umso sicherer die Seligkeit bereit, je mehr er dieser irgendwie zu entsagen scheint, wenn er ihr auch unter keiner Bedingung wirklich entsagt. So belohnt jene größere Gewissheit des Lohnes den Paulus nicht für eine wahre und ernsthafte Entsagung, sondern für jene Vorspiegelung, wodurch er in gewisser Hinsicht zu wollen scheint, was er keineswegs will. Ist Gott also der reichliche Vergelter einer erlogenen Entsagung? Sicher ist freilich, dass der Apostel sehr wohl wusste, dass dieser bedingte Verzicht auf die Seligkeit Gott sehr willkommen und dieser Akt daher nicht ohne Lohn wäre. Dann wäre darin sicher die Hoffnung auf Versprochenes keineswegs erloschen. Das Ganze habe ich schon 100-mal gesagt, auch bevor der Bischof v. Meaux das predigte. Doch das geht über unsere Frage hinaus. Die Frage ist, ob er diesen Fluch, oder dieses Wollen aus dem Motiv, die Seligkeit ganz zu gewinnen, ausgestoßen hat. Ein vortrefflicher Bürger kann sagen: »Ich wünschte, den Reichtum zu verlieren, wenn das dem Heil des Staates nützen würde.« Dennoch will dieser Bürger der Kinder wegen den Reichtum bewahren und erlaubt vergrößern. Wenn er aber so spräBossuet, Rép. à quatre Lettr., Abschnitt 8, Bd. 29, S. 29; Edition von 1845, Bd. 9, S. 443.
73
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che: »Ich wünschte, usw.«, um eines weiteren Gewinns versichert zu sein, wäre das eine nichtige, falsche, täuschende und unverschämte Bezeichnung als uneigennützige Liebe gegenüber dem Staat. Die übrigen Bürger würden mit gebührendem Recht so argumentieren: Mag er den rechtmäßig erworbenen Reichtum beliebig bewahren und vermehren, solange es der Zustand des florierenden Staates zulässt, er möge uns aber nicht durch diese falsche Demonstration äußerster Tugend täuschen. Wenn derselbe Mensch hier im gegenwärtigen Zustand des Staates Reichtum, dort Armut, wenn es das Heil das Staates verlangte, will, ist das gut und außerhalb jeglicher Schuld; ja, es gereicht ihm insgesamt zum Lob. Sollte er aber »Ich wünschte, usw.« mit der Absicht oder mit dem Ziel sagen, den Reichtum zu vermehren, macht er sich darin der eitlen Prahlerei schuldig; das ist maskiertes und schöngefärbtes Streben nach Ruhm. Mit gleichem Recht müsste man sagen, wovor ich zurückschrecke, Paulus könnte in verschiedenen Akten die Seligkeit sowohl erhoffen als auch verleugnen. Er möge sie aber nicht zum Schein ableugnen, um sie mehr zu erhoffen, er möge ihr nicht lügenhaft entsagen, um sie in Wahrheit zu erlangen. Wenn er ihr aber bedingt entsagt, sollte er das wenigstens in diesem ernsthaften Akt und in wahrhaft uneigennützigem Sinn tun. Ein vor Gefahr Geschützter freilich sagt: »Ich wünschte, usw.« So weit, so gut. Ein Bürger, der seine Sache dem Wohl des Staates hintansetzt, sagt als Geschützter auch: »Ich wünschte, usw.« Denn ihm entgeht nicht, dass der Staat nicht will, dass er seinem Reichtum absolut entsagt. Aber mag er auch darin abgesichert sein, den Reichtum zu bewahren und zu vermehren, wenn der Staat floriert, gelobt er dennoch in Zeiten der Gefahr den Verzicht auf den Reichtum für die Verteidigung des Vaterlandes nicht aus dem Antrieb der Gier nach Reichtum. Täte er das aber, würde er sich in hinterlistigem Gewinnstreben damit brüsten, keineswegs nach Gewinn zu streben, und so wäre sein Gewinnstreben umso schändlicher, je mehr es durch das falsche Bild reinster Tugend verborgen wird. Dasselbe muss man über Paulus sagen. Wäre die Teilhabe an der Seligkeit der ganze Grund für die Liebe, ja das wesentliche Motiv jedes menschlichen Willensaktes, müsste sie auch das Motiv oder der Formalgrund der Selbstverfluchung des Paulus oder seines Wollens sein. Hätte aber Paulus in seinem Innern bedingt gesagt: Ich entsage der Seligkeit, um zuverlässiger eine größere Seligkeit zu erlangen (ich scheue mich, das auszusprechen), ist er ein Lügner und Betrüger, und verspottet Gott selbst; er weiß wohl, dass er nichts wollen kann, was er gegen das 136 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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Wesen des Willens und der Liebe zu wollen behauptet. Was tut also diese Stelle bei Augustinus zur Sache?: »In Gewissheit sagt er das«. In Gewissheit freilich sagt er, er dürfe die Seligkeit nicht verleugnen – das gestehe ich zu. In Gewissheit sagt er das, wie um aus dem realen Motiv, Sicherheit und Seligkeit zu erwerben, diese selbst zum Schein zu verleugnen – diesen gottlosen Vorsatz bestreite ich. Denn was ist betrügerischer, als die Seligkeit in ein und demselben Akt zum Schein auszuschließen, in Wahrheit 74 aber als Motiv des Aktes einzuschließen? Bei dieser Äußerung des Augustinus muss man sehr sorgfältig beachten, dass Paulus und Moses ihren Wunsch geäußert haben, als deren Geist im Willensakt vom helleren Licht der Gnade erleuchtet wurde. Daher schreibt Augustinus sehr gut: »In Gewissheit sagt er das«. Allerdings verhielten sich nicht sehr viele Heilige so, unter den Hervorragendsten aber der heilige Franz v. Sales, der, wie der Bischof v. Meaux selbst sagt, »nachdem er den Eindruck der Verdammnis lange ertragen hatte, schließlich in den äußersten Qualen der bittersten Marter dazu getrieben wurde, diesen schrecklichen Vorsatz zu äußern: ›Da ich nun einmal im anderen Leben auf ewig sowohl des Anblicks als auch der Liebe des so sehr liebenswerten Gottes beraubt werden muss, will ich wenigstens, solange ich hier lebe, mit aller Kraft danach streben, ihn besonders zu lieben.‹« Dann nahm der Heilige, wie der Bischof v. Meaux selbst fortfährt, »das Unmögliche an, nämlich dass er den das ganze Leben hindurch geliebten Gott in der Ewigkeit nicht lieben würde.« So sagten jener Heilige und unzählige andere, von denen der Bischof v. Meaux in seinem 9. Buch viele Beispiele angeführt hat 75, indem sie diesen Wunsch äußerten; dies nicht in Gewissheit, sondern vielmehr voll quälender Ungewissheit, sodass es ihnen aufgrund wilder und gänzlich wahnsinniger Einbildung gleichsam sicher schien, am Heil schon zweifeln zu müssen. Doch auf der höchsten Spitze des Verstandes und des Willens leuchtete und herrschte immer, beständig, zwar nicht wahrnehmbar, doch ganz wahrhaftig, die Hoffnung auf versprochenen Lohn. Das aber anzumerken schlage ich vor, nicht um die Kontroverse über die inneren Erfahrungen zu erneuern – das läge gänzlich fern –, sondern nur, Bossuet, Rép à quatre Lettr., Abschnitt 9, Bd. 29, S. 39; Edition von 1845, Bd. 9, S. 444. 75 Bossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch IX, Abschnitt 3, Bd. 27, S. 353 ff.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 177 ff. 74
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damit nicht durch die Ausführungen des Bischofs v. Meaux allmählich die Gelübde der Heiligen, denen in äußersten Prüfungen keine wahrnehmbare Hoffnung erstrahlte, mit den Gelübden des Paulus und Moses vermischt würden, die, mit der Hoheit eines erleuchteten Geistes, in Gewissheit bedingt der Seligkeit zu entsagen versicherten.
IV. Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden durch die Autorität des hl. Augustinus bekräftigt So hatte der Gegner argumentiert 76: »An verschiedenen Stellen habe ich den hl. Augustinus angeführt als einen der Kirchenväter, die über jene hier erörterten unmöglichen Annahmen nirgends gesprochen haben. Aber es wäre nicht recht, die Autorität eines so großen Gelehrten anzuführen, ohne einen seiner Texte anzugeben.« Nachdem er dies gesagt hat, führt er einige Stellen des Augustinus an. Dies aber ist seine Schlussfolgerung 77: »Wenn er so die Liebe reinigen und zur selbstlosen machen will, setzt er, weit davon entfernt, sie von der Schau Gottes getrennt zu denken, die Selbstlosigkeit in den Wunsch, Gott zu besitzen und zu schauen.« Davon muss abgeleitet werden, dass die Caritas in ihrem ganzen Wesen nichts anderes als der Antrieb der Begierde ist, und dass das Gute, soweit relativ oder begehrenswert, für sie der ganze Grund des Liebens ist. Allerdings ist die Caritas gänzlich uneigennützig, und sie hat nichts außer Uneigennütziges an sich. Ist daher die Caritas nur aufgrund des Verlangens nach Seligkeit uneigennützig, folgt daraus, dass die Caritas keinesfalls die Caritas ist, außer insofern sie das Verlangen oder die Begierde nach Seligkeit ist. »Daraus«, sagt er 78, »lässt sich zusammenfassen, welches die Grenzen sind, in welchen er die unmöglichen Annahmen hält; er ging nur bis dahin, zu sagen: ›Würdest du auch straflos den begangenen Verbrechen entkommen und müsstest du auch in ewigem Überfluss an irdischen Gütern nichts fürchten, außer den Verlust der Anschauung Gottes, dann müsstest du ihm dennoch immer anhängen‹. Aber darüber hinaus geht er nicht, und er geht nicht bis dahin, zu sagen: ›Wärest du auch dessen beraubt, sein Antlitz zu 76 77 78
Additions à l’Instr. sur les Etats d’orais., Abschnitt 7, Bd. 27, S. 483. Ebd., S. 486. Ebd.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 215.
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Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
schauen, müsstest du ihn dennoch auch dann lieben‹. Denn auch ohne diese Eingrenzung wusste er, dass er die Liebe so abgeklärt hat, dass sie rein, ernsthaft, uneigennützig, desinteressiert ist, weil er ja wollte, dass die Liebe keinen anderen Lohn anstrebte außer Gott.« Anderswo hatte er gelehrt, die Menschen würden niemals darin sündigen, die Seligkeit zu wünschen, auch wenn sie nicht auf die Ehre Gottes gerichtet sei. Er sagte, es sei unbekannt, dass jemand diese Art der Sünde gestanden hätte. Später aber, unter dem Murren der Theologen einer vernünftigeren Lehre, bekannte er schließlich selbst, dass die Menschen sündigen können, wenn sie die Seligkeit, welche der Glaube voranstellt, in ungeordneter Begierde anstreben, und zwar in einer, die nicht auf Gott gerichtet ist. Sehe er, wie er sich da herauswinde. In dieser Änderung seiner Meinung stimmt er mit sich selbst keineswegs überein. Wäre die mitgeteilte Seligkeit das letzte Ziel, wie er selbst gesagt hat; wäre die Seligkeit nichts außer Gott selbst, von uns besessen und uns besitzend; wäre die Seligkeit der ganze Grund des Liebens, dann kann sicher niemals darin gesündigt werden, diese wahre Seligkeit besonders und letztendlich zu begehren. Weshalb sucht man denn einen höheren Akt als den, der das letzte Ziel, nämlich die zu erwerbende Seligkeit, erreicht? Überflüssig ist es, Gott selbst, von uns besessen und uns besitzend, auf Gott zu beziehen. Die Menschen können nicht über den ganzen Grund des Liebens hinaus lieben. Alles, was darüber hinausginge, wäre eine Fieberphantasie der Liebe, oder eher ein Fieberwahn gegen die Liebe. Daher könnte niemals jemand darin sündigen, jene wahre Seligkeit, auch die nicht auf Gott bezogene, aufs höchste zu begehren, welche Gott selbst ist, von uns besessen und uns besitzend. Wenn aber der Bischof v. Meaux diese Meinung wirklich abgelegt hat, dann soll er nicht sagen, die Liebe sei rein und uneigennützig, solange sie nur keinen anderen Lohn anstrebt außer Gott. Würde jemand die intuitive Schau Gottes erstreben, um sich zu beglücken, ohne jegliche Beziehung dieses Gutes oder Zustandes auf die Ehre Gottes, wäre dies ein Akt der lasterhaften Begierde, und dennoch würde er keinen anderen Lohn außer Gott anstreben. Darin aber würde er sündigen, dass er Gott selbst als reichlichen Lohn auf die Beglückung seiner selbst wie auf das letzte Ziel bezöge. Nichts also ist der vernünftigen Lehre und der unverfälschten Ansicht des Augustinus fremder als diese Meinung des Bischofs v. Meaux, welche sich aus seinen Prinzipien notwendig ableitet. Die Liebe sei rein und uneigennützig, wenn sie nur keinen anderen Lohn außer Gott anstrebt. Im Gegenteil, würde jemand die139 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
sen alleinigen Lohn erstreben und letztlich auf sich beziehen, ist die Liebe besonders unrein. Aber schon wollen wir zu den unmöglichen Annahmen des Augustinus eilen. Wer ist nicht erschüttert über jene entscheidende Behauptung des Bischofs v. Meaux? Der gebildete Gegner hegt keinen Zweifel. »Wenn«, sagt er, »Augustinus so die Liebe reinigen und zur selbstlosen machen will, setzt er, weit davon entfernt, sie von der Schau Gottes getrennt zu denken, die Selbstlosigkeit in den Wunsch, Gott zu besitzen und zu schauen.« Suche also bei Augustinus nichts Uneigennütziges, außer gerade die Begierde nach Seligkeit. »Dies sind die Grenzen, in denen er die unmöglichen Unterstellungen hält, … darüber hinaus geht er nicht, und er geht nicht bis dahin, zu sagen: ›Wärest du auch dessen beraubt, sein Antlitz zu schauen, müsstest du ihn dennoch auch dann lieben‹.« Wer andere so belehrt, soll endlich einmal hören, was Augustinus selbst lehrt. Im Hinzuziehen der Annahmen kam er den übrigen Kirchenvätern, und selbst den alten Asketen, ja sogar den jüngeren Mystikern beinahe gleich: »Besser ist, sage ich (er spricht selbst), ein Krieg, mit Hoffnung auf ewigen Frieden, als Gefangenschaft ohne jeglichen Gedanken an Befreiung. Wir wollen freilich auch diesen Krieg nicht haben, und um einen wohlgeordneten Friedenszustand zu erlangen, in dem das Niedrigere sich mit größter Beständigkeit dem Höheren unterwirft, werden wir durch das Feuer göttlicher Liebe entflammt. Aber gäbe es (was fern liege) keine Hoffnung auf jenes große Gut, müssten wir lieber wollen, in der Mühsal dieses Kampfes zu bleiben, als die Herrschaft der Laster in uns zulassen, ohne ihnen zu widerstehen.« 79
Das hat Augustinus als bereits alter Mann verkündet, nachdem schon viele häretische Lehren niedergeschlagen worden waren. Und das sagte er nicht in Überschwang und Verstiegenheit des Geistes, ohne zu wissen, was er gegen die ganze Vernunft des Liebens sagte. Vielmehr sprach er sanft und sicher; dies ist ein theologischer Lehrsatz. Er unterstellt mit den Mystikern, als etwas Unmögliches: Die Hoffnung auf ewigen Frieden sei gänzlich ausgelöscht, sodass in der Gefangenschaft nicht einmal irgendein Gedanke an Befreiung übrigbliebe. Keine Seligkeit, auch nicht der Anschein der Seligkeit ist vorhanden; vielmehr ist gegenwärtig, und wird immer gegenwärtig sein, die Gefangenschaft, der Kampf mit den Lastern und die Not. Wer aber, derart gefangen, ohne jegliche Hoffnung heimgesucht wird, wie weit ist 79
Augustinus, De Civitate Dei, 21. Buch, Kap. 15.
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Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
dieser davon entfernt, glücklich zu sein! Vielmehr ist er, nach der schon angeführten Definition 80 des Augustinus, mit Tapferkeit unglücklich, solange er heimgesucht wird. Wie sehr sich aber dieses ewige Unglück von der Seligkeit unterscheidet, frage ich den Bischof v. Meaux selbst, als Richter. In diesem ewigen Unglück begegnet dem zerrütteten Geist niemals Hoffnung auf künftigen Frieden, kein Gedanke an Befreiung. Was denn? Sagt denn nicht Augustinus nach dem Bischof v. Meaux: »Wenn aber der Mensch in sich durchsetzen könnte, nicht auf die Seligkeit bedacht zu sein, dann wäre er Gott nicht untertan.« 81 Sicherlich denkt jener Mensch auch nicht an die Befreiung und also auch nicht daran, die Seligkeit zu empfangen: das hat er aus Notwendigkeit in sich durchgesetzt. Wird er etwa Gott nicht untertan sein? Sagt nicht Augustinus [nach dem Bischof v. Meaux], die Liebe wolle aufgrund ihres Wesens einen, einigend sein, ihr Objekt genießen, und die Teilhabe, oder Gemeinschaft, oder Anschauung anstreben? Durch jene unmögliche Annahme geschieht die wahre Erläuterung der Liebe, in welcher alle diese Ausflüchte plötzlich verblassen. Sagt nicht Augustinus [nach dem Bischof v. Meaux], die Liebe könne von der Schau Gottes nicht unabhängig sein, und ihre Uneigennützigkeit müsse in die Sehnsucht, Gott zu besitzen und zu schauen, gesetzt werden, und daher werde dieser Mensch niemals lieben, weil er ja Gott niemals schauen werde? Sagt er [nach dem Bischof v. Meaux] nicht, diesem Menschen fehle der gänzliche Grund des Liebens, nämlich die Seligkeit, weil der Grund zu lieben anders nicht erklärt werden könne und er keine Hoffnung auf Frieden oder Aussicht auf Befreiung hätte? Der Bischof v. Meaux soll nur hören: »Wir müssten lieber wollen«, sagt der heilige Lehrer. Lieber wollen bedeutet, etwas bevorzugt vor etwas anderem zu wollen. Wer lieber will, will etwas ganz besonders. Das »Wir müssten« zeigt deutlich einen Grund zu lieben oder lieber zu wollen an. Was wir wollen müssen, das müssen wir nach einer bestimmten Regel oder aus einem bestimmten Grund wollen. Daher ist ein anderer Grund des Liebens vorhanden, wenn die Hoffnung und jedwede Aussicht auf Seligkeit gänzlich erloschen sind. Dieser Grund des Liebens aber ist nicht nur als der wahrhafteste in diesem Menschen vorhanden, sondern auch viel mächtiger vorhanden, als das Motiv, einen mühseligen Kampf zu Augustinus, De Trinitate, 13. Buch, Abschnitt 10. Bossuet, Cinquième Ecrit, Abschnitt 15, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 28, S. 523; Edition von 1845, Bd. 9, S. 368.
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
beenden, indem man sich der Herrschaft der Laster überlässt. Im Zulassen der Herrschaft der Laster läge eine gewisse Lust. Mächtiger als dieser Grund des Liebens ist der andere, nämlich Gott zu verehren, getrennt von jeder Motivation oder Erwägung der Seligkeit. »Wir müssten lieber wollen«: Dieser Ausdruck ist entscheidend. Alles, was an Verehrung Gottes und Einhaltung von Geboten in diesem ewigen Unglück geschieht, fern von jeglicher Hoffnung und Aussicht auf Seligkeit, geschieht zweifellos nicht aus dem Verlangen nach Seligkeit, sondern aus unverhüllter, reiner und uneigennütziger Gerechtigkeitsliebe. Diese reine Gerechtigkeitsliebe nämlich betont Augustinus und versucht, sie durch die unmöglichen Annahmen klar hervortreten zu lassen. Will denn Augustinus, dass jener Mensch der Herrschaft der Laster widerstehe aus Furcht vor größerem Unglück, nicht aber aus Liebe zur ewigen Gerechtigkeit, welche Gott selbst ist? Das soll der Gegner zu sagen wagen; niemals wird er es wagen. Also steht fest, dass in dieser Annahme des Augustinus Gott von jenem mit Tapferkeit unglücklichen, jeglicher Hoffnung beraubten Menschen als letztes Ziel verehrt und aufs Höchste geliebt werden muss, und dass durch dessen Liebe die Laster unaufhörlich niedergerungen werden müssen, unabhängig von jedem Motiv der Seligkeit; das ist nicht Ekstase, nicht Verzückung, nicht Liebeswahn, sondern einfach die Bewahrung der Ordnung und die vom Menschen zu treffende Wahl: »wir müssten lieber wollen«. Dann bestünde sicher eine Einheit der Liebe des Menschen mit Gott, eine Gemeinschaft und Vereinigung der verlobten Seele mit dem geliebten Bräutigam, auf weitaus niedrigerer Stufe gelegen als die seligmachende Schau. Dann würde die Seele Gott genießen, nämlich Gott um Gottes willen anhängen und in ihm bestehen, nicht damit ihr daraus das Erlangen des Guten oder die seligmachende Schau erwachse. Sie würde genießen, aber nicht selig werden; sie würde sich mit dem Geliebten vereinen, aber ihn dennoch nicht intuitiv schauen. Es gäbe eine Teilhabe; denn die Erkenntnis des Wahren und das Wollen des Guten sind Gottesgaben, welche diesem Menschen zuteilwürden. Er würde das Gute wollen, nämlich das besonders Gute, das höchste und allgemeine Gute: Gott selbst. Sein privates Gut aber würde er keinesfalls wollen, außer soweit es von Gott zugestanden wäre. Er würde nicht mit Seligkeit beschenkt werden wollen, weil er ja gut wüsste, dass ihm von Gott keine zugestanden werden müsste, und würde sich der Entscheidung Gottes nicht widersetzen. Er wäre mit Tapferkeit unglücklich und er würde in Ewigkeit so unglücklich und 142 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
fern von jeglicher Hoffnung auf Frieden und Aussicht auf Befreiung sein wollen. So löst und zerstreut diese eine Entscheidung des Augustinus die einzelnen Einwände des Bischofs v. Meaux wie die Sonne den Nebel. Nun möge der Gegner über die Teilhabe, die Gemeinschaft, die Einheit, den Genuss schweigen! Ob er einen anderen, von der Seligkeit verschiedenen und anders zu erklärenden Grund des Liebens annehmen will oder nicht, muss er jetzt zugeben, wenn er nicht glaubt, Augustinus sei vom quietistischen Gift infiziert. Nun soll er selbst den wahren Sinn des Augustinus besonnener auffassen: Jener Mensch wollte in der ewigen Gefangenschaft, in die Mühsal des Konflikts gesetzt ohne jegliche Hoffnung […] auf ewigen Frieden, ohne jeden Gedanken an Befreiung, nicht alles deswegen, nämlich wegen der Seligkeit, von der er wüsste, dass sie ihm verwehrt sei und auf welche es keine Hoffnung oder Aussicht gäbe; vielmehr wollte er in der Verehrung Gottes und in der Überwindung der Laster alles »darüber hinaus« und nichts »deswegen«. Also möge der Bischof v. Meaux aus dem Augustinus selbst dazulernen, wie behutsam, wie besonnen das aufgenommen werden muss, was der heilige Gelehrte über die Seligkeit, bald über die objektive, bald im konkreten, bald weniger im eigentlichen Sinn genommen, gesagt hat. Wäre in der Tat die formale Seligkeit das letzte Ziel, würde der Mensch in jedem beliebigen Akt davon besessen sein, diese mit ganzer Leidenschaft zu begehren. Durch jenes Verlangen von irgendetwas Geschaffenem entstünden alle übrigen Wünsche des Menschen, dem Augustinus unterstellt, er sei ein Gefangener und ohne jegliche Hoffnung. Aufgrund dieser Seligkeitsliebe würde er die Laster besiegen und Gott selbst vor allem lieben. Dies wäre sein ununterbrochenes Denken, seine Hoffnung, sein Leben. Wollte er aber, wie Augustinus sagt, die Gerechtigkeit aus Gerechtigkeitsliebe pflegen, wenn es auch auf den ewigen Frieden, und besonders auf die Seligkeit keine Hoffnung gäbe, und nicht einmal einen Gedanken daran; dann würde diese fiktive Liebe, wie der Gallikanische Konvent sagt, sowohl der Natur des Menschen als auch dem Wesen der Liebe widersprechen. Darin widerlegt Augustinus offensichtlich, was der Bischof v. Meaux als augustinische Lehre aufzeigt. Mit erhobener Stimme erklärt er, dass dieser Mensch, geleitet von einem wahren und gänzlich vollkommenen Grund des Liebens, in ewigem Kampf mit den Lastern und gehorsam mit Tapferkeit unglücklich, fern von jeglicher Hoffnung und Aussicht auf Seligkeit Gott lieben werde. Schiene aber diese entscheidende Annahme und die Folgerung des Augustinus in einem 143 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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Büchlein irgendeines neueren Mystikers auf (der Gegner möge aufrichtig sprechen), würde er selbst diese als Posse einer schimärischen Liebe, von »gelehrten Männern« verhöhnt, ein wenig wohlwollender diesem Mystiker bestehen lassen, wenn er ihn nicht verspottete. Diese Annahme und Folgerung aber ist genau dieselbe, welche in neuerer Zeit die Römische Kirche den Pastoren auch die ungebildete Menge zu lehren anordnet. »Wenn er uns auch hätte zwingen können«, sagt sie, »ohne jeglichen Lohn seiner Herrlichkeit zu dienen, wollte er dennoch seine Herrlichkeit mit unserem Nutzen verbinden.« Jener Mensch, den Augustinus annimmt, würde gezwungen, ohne die Belohnung weder der gegenwärtigen noch der zukünftigen Seligkeit der Ehre Gottes auf ewig zu dienen. Dies ist allzeit die einmütige Tradition aller Kirchen. Was im Osten Clemens, der hl. Gregor v. Nazianz, Chrysostomos mit seiner Schule lehrten, dasselbe lehrten im Westen Augustinus und fast alle anderen. Was das alte Zeitalter lehrte, das lehrt auch unseres. Was Moses, Paulus, Clemens lehrten, das lehrte auch der engelsgleiche Gelehrte Thomas mit den Schulen, alle heiligen Asketen, besonders der hl. Franz v. Sales, dessen Schriften, wie der Bischof v. Meaux selbst sagt, voll von diesen unmöglichen Annahmen sind. 82 Der Bischof v. Meaux soll nicht sagen, diese Annahmen und bedingten Gelübde könnten zwar spekulativ erklärt werden, müssten aber in der Praxis verworfen werden. 1. Wenn dessen Meinung gilt, sind diese Annahmen schimärisch und der Frömmigkeit feindlich, da sie dem Wesen der wahren Liebe widersprechen. Nichtig wären diese Gelübde, Wahnvorstellungen und schamlosen Täuschungen. 2. Was spekulativ wahr ist, kann in der Praxis nicht falsch sein. Man muss sich freilich hüten, dass etwas in sich Wahres, Reines, Nützliches durch falsche oder unzeitige Anwendung der Illusion zuneigt. In Wahrheit haben Clemens, Gregor, Chrysostomos, alle Asketen und namentlich der hl. Franz v. Sales diese Annahmen und bedingten Gelübde ausdrücklich betont, als sie die Gläubigen die Praxis der Frömmigkeit lehrten. Zum Beispiel geht der hl. Franz v. Sales ganz darin auf, die erfolgreichste Praxis der Frömmigkeit aufzuzeigen. Er selbst geht an eben diesen Stellen ganz darin auf, diese Annahmen und Gelübde hervorzuheben. Offen lehrt er, dass durch diese die reinste Liebe sowohl bezeichnet als auch angeregt werde. Wie absurd, wie geBossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch IX, Abschnitt 2, Bd. 27, S. 348.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 174.
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fährlich, wie verderblich wären dessen Schriften damit vollgestopft, wenn sie nicht etwas dazu beitrügen, Vollkommenheit in der Praxis zu erwerben. Ich gebe sehr wohl zu, dass die meisten Menschen sich und andere täuschen, indem sie diese Annahmen und Gelübde mit prahlerischer Rede verkünden, in ihrem Verhalten dann aber nicht erfüllen. Wer so spricht, so gestimmt ist, so fühlt, muss auch so handeln. Aber das ist das Schicksal aller Gottesgaben, dass schlechte Menschen sie missbrauchen. Trotzdem steht fest, dass die goldenen Schriften aller Heiligen, welche die Praxis der Frömmigkeit lehren, mit diesen Annahmen und Gelübden vollgestopft sind, und dass sie diese nicht in Spitzfindigkeiten oder nichtigen Ratschlägen geäußert haben. 83 Nachdem ich die große Autorität der Kirchenväter, und besonders des Augustinus, schon angeführt habe, verdrießt es mich nicht, auch die Gelübde der heiligen Asketen zusammenzutragen. Wenn diese in der Praxis keine sind und als Spitzfindigkeiten sophistischer Frömmigkeit zu verbannen sind, muss man notwendig schließen, dass die Lehrer des inneren Lebens, welche die Römische Kirche den Heiligen zuzählt, Bücher voll mit Spitzfindigkeiten der sophistischen Frömmigkeit verfasst und so in der Praxis der quietistischen Illusion den Weg geebnet haben. Ginge aber jemand noch weiter und fügte hinzu, diese sinnlose Torheiten widerstrebten sowohl der Natur des Menschen als auch dem Wesen der Liebe, und verleiteten die Gemüter zu schrecklicher Gleichgültigkeit in Bezug auf ihr Heil, was bleibt dann übrig, als die Bücher des Franz v. Sales, die mit diesen Phantastereien »vollgestopft« sind, aus den Händen der Gläubigen zu reißen? Dieser selbst nämlich bewundert diese Praxis auf einzelnen Seiten, er rät dazu und besteht darauf. Jedes Jahr also wird an seinem Fest ganz unpassend und verderblich von der ganzen Kirche singend vorgetragen: »Daher hat er mit seinen Schriften, voll der himmlischen Lehre, die Kirche erleuchtet, wodurch er den sicheren und geraden Weg zur christlichen Vollkommenheit zeigt.« Auch muss aus dem Offizium der hl. Teresa dies gestrichen werden: »Wir werden vom Genuss ihrer himmlischen Lehre genährt«. Der Bischof v. Meaux aber, über alles Übrige so ausführlich und genau, schwieg über die Annahme, von der er behauptete, Augustinus hätte sie nirgends, und von der ich gezeigt habe, dass er sie deutlich ausgeführt hat. So aber löste ich aus dieser Annahme und Schlussfolgerung des AugusBossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch IX, Abschnitt 29, Bd. 27, S. 452.; Edition von 1845, Bd. 9, S. 205.
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tinus den entscheidenden Punkt, welcher die Entscheidung des Ganzen enthält: Nach Augustinus ist jenes Motiv für die Caritas nicht wesentlich, nach dessen Beseitigung wir lieber bei der Gerechtigkeitsliebe, welche die Caritas selbst ist, bleiben wollen müssten. Vielmehr müsste nach Beseitigung des Motivs des ewigen Friedens, oder der Seligkeit, und selbst des Gedankens daran, die ewige Gerechtigkeit geliebt und mit wahrer Caritas gepflegt werden. Daher ist das Motiv der Seligkeit nicht wesentlich für die Caritas. Dies kommt sicher nicht von mir, sondern aus der Schlussfolgerung des Augustinus: »wir müssten lieber wollen«. Dies überging der Gegner mit tiefem Schweigen. »Kommen wir«, sagt er 84, »zu jenen Fragen, in welchen der Autor Hilfe bringt.« Kein Wunder, dass ich den entscheidenden Punkt urgiere! Kein Wunder, dass ich nicht darin einwilligen wollte, alles, was in der Kirche höher und heiliger ist, gegen das Wesen der Kirche zu verspotten und zu belügen! »Über den Zustand der reinen Natur«, schreibt er 85, »und über den ohne jegliche Rücksicht auf die beseligende Schau geschaffenen Menschen.« Zwei ganz verschiedene Dinge vermischt er. Der Zustand, den sie den der »reinen Natur« nennen, wird am wenigsten behandelt. Würde ich das ausführen, dürfte der Frage nicht so ausgewichen werden. Wenn er meint, die Ordnung der reinen Natur sei Gott unmöglich, soll er sie als absolut unmöglich leugnen. Aber er möge sie aufrichtig entweder leugnen oder zugestehen. Je absurder meine Thesen scheinen, desto freimütiger muss man sie leugnen. Wie sehr aber derjenige irrt, der weder zu leugnen noch zuzugeben wagt, weiß er selbst. »Das ist es«, sagt er 86, »worauf sich die Christen, die den Akt der höchsten Liebe üben wollen, stützen müssen.« Nicht auf diese Annahmen stützt sich genau genommen die Vollkommenheit der Heiligen; aber jene Annahmen gebrauchen die Heiligen sehr häufig, und sie sind daher sehr nützlich 87 und nicht überflüssig, um die Liebe zu üben und zu vollenden. »Das ist für unser Vorhaben unnütz«, sagt er 88. Ich gestehe, das ist nicht nur unnütz, sondern auch sehr feindselig, wenn man sich vorgenommen hat, die wohlwollende Liebe auszulöschen. Was aber ist wirksamer, Bossuet, Schola in tuto, quaest. XII, Abschnitt 203, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 29, S. 315; Edition von 1845, Bd. 9, S. 522. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd., Abschnitt 204, Bd. 29, S. 315; Edition von 1845, Bd. 9, S. 522. 88 Ebd. 84
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Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
um das wahre Wesen der Caritas aufzuzeigen, als von dieser aufgrund der Annahme alles zu trennen, was getrennt werden kann? Das ist, zugegebenermaßen, der entscheidende Punkt, der die Entscheidung des Ganzen enthält. Mag man auch den freien Entschluss, die Seligkeit zu schenken, welcher Gott zufällig ist, aufheben, bleibt er selbst doch aufgrund seines Wesens liebenswert. Lieben aber kann man nur durch den Affekt der Caritas. Daher gibt es, außer der Seligkeit, einen anderen Grund zu lieben, welcher anders erklärt wird, und durch den das ganze Wesen der Caritas rein wäre. Und daher, sage ich, kann man jenen Grund des Liebens nicht wesentlich für die Caritas nenne, nach dessen Beseitigung das ganze Wesen der Caritas unverletzt wäre. Dies hundertmal Wiederholte lehnte der Bischof hundertmal ab. Worüber man schweigen muss, spricht er ausführlich, worüber aber gesprochen werden muss, darüber schweigt er hartnäckig. Konnte Gott etwa nicht, frage ich, dem Menschen die intuitive Anschauung seiner selbst vorenthalten? Ist sie etwa Schuld, oder Gnade? »Das ist unnütz«, sagt er. Unnütz ist also der entscheidende Punkt, ob die beiden Motive der Liebe wesentlich untrennbar sind? So fährt er fort 89: »Wahrlich haben sich weder Moses noch Paulus über den Zustand der reinen Natur oder über den Untergang der Seele den Kopf zerbrochen.« Welch unerhörte Verspottung dieser bedeutenden Frage! Weder über den Zustand der reinen Natur noch über den Untergang der Seele wäre bei Moses und Paulus die Rede gewesen? Es handelte sich darum, dass Gott niemals intuitiv zu schauen und die Seligkeit niemals zu erlangen gewesen wäre; darüber machten sie sich Gedanken. Paulus machte sich zu jener ewigen Trennung von der Schar Christi Gedanken, wie durch Chrysostomos bezeugt ist; ebenso zur Entbehrung des Genusses der Herrlichkeit und des Himmelreiches. Dies ist die sehr schöne Auslegung des Paulus bei Chrysostomos, welche selbst der Bischof v. Meaux lobt. Er lehrt, was in der Kirche erhabener und heiliger ist. Aber hören wir den Gegner: »Sie bezogen sich«, sagt er 90, »auf den von Gott offenbarten Zustand, in dem wir sind.« Freilich betrachteten sie den »Zustand, in dem wir sind«; jedoch berücksichtigt beispielsweise die von Paulus getroffene Annahme der Verfluchung den »Zustand, in dem wir sind« am wenigsten. Der Bischof v. Meaux bekennt selbst, Chrysostomos habe unter bedingter Verfluchung die Entbehrung gewisser Äußerlichkei89 90
Ebd. Bossuet, Schola in tuto, quaest. XII, Abschnitt 203, Bd. 29, S. 315.
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ten und die ewige Trennung von der Gegenwart Christi verstanden. Jedoch geht es dabei nicht um den »Zustand, in dem wir sind«. So viele Worte, so viele Widersprüche und so viele Trugschlüsse. »[Sie betrachteten] jene wohlgeordnete Weisheit Gottes«, sagt er 91, »wonach er es, nach dem Zeugnis Salomons, als seiner Majestät nicht würdig erachtet, Unschuldige zu bestrafen.« Salomon lehrt, nur ein Unschuldiger, der nicht bestraft werden muss, werde von Gott nicht wie ein Schuldiger verdammt. So gilt: Gott bestraft einen Unschuldigen nicht wie einen Schuldigen. Aber Salomon sagt niemals, die intuitive Schau sei etwas dem Menschen nach genau festgesetztem Recht Geschuldetes, dessen Verlust nur eine Strafe für den Schuldigen sein konnte. Das wagt der Bischof v. Meaux selbst nicht zu sagen, doch er impliziert es durch die Autorität Salomons. Wenn Gott uns zwingen konnte, ohne jeglichen Lohn seiner Herrlichkeit zu dienen, konnte er zwar nicht Unschuldige wie Schuldige verdammen und bestrafen, sie aber des Lohnes, nämlich der himmlischen Seligkeit, berauben. Der Bischof v. Meaux soll nun ohne Ausflüchte sagen, ob jene übernatürliche Seligkeit Gnade sei, oder etwas der Natur Geschuldetes. Wäre sie reine Gnade, warum konnte Gott dann nicht die Unschuldigen ihrer berauben? Was nicht im Geringsten geschuldet war, konnte unabhängig von jeglicher Strafe für die Sünden auch nicht zugestanden werden. »Augustinus und Chrysostomos«, sagt der Bischof v. Meaux 92, »kannten jene eisernen Gesetze der höchsten Herrschaft nicht.« Wäre etwa dieses »eiserne Gesetz« in Gott gewesen, nämlich ein übernatürliches, ungeschuldetes Geschenk der Natur nicht zu schenken? Die Freiheit, welche bei Gott lag, zu geben oder nicht zu geben, was rein umsonst ist, ist sie »eisern«? Was aber »eisern« bedeutet, versteht man leicht aus der bereits zitierten Stelle bei Salomon, wo er nur unter dessen Namen sagt, was er von sich aus nicht offen zu sagen wagte. »Nicht ungerecht«, sagt er zu Gott 93, »richtest du. Es kann dir auch weder ein König noch ein Tyrann die Stirn bieten um derer willen, die du bestrafst. Weil du aber gerecht bist, so regierst du alle Dinge gerecht: den zu verurteilen, der keine Strafe verdient, hältst du für unvereinbar mit deiner Macht.« So bedeutet jenes »eisern« ungerecht. Wenn man daher dem Bischof v. Meaux Glauben schenkt, wäre Gott »eisern«, d. h. ungerecht, wenn 91 92 93
Ebd., S. 316 Ebd., S. 316. Edition von 1845, Bd. 9, S. 522 u. 523. Weish. XII, 13, 14 u.15.
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Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
er nicht gewollt hätte, dass die Seele des Menschen durch die intuitive Schau selig werde. »Eisern«, d. h. ungerecht, wäre er gewesen, hätte er die übernatürliche Gabe der Natur nicht zugestanden. Was aber jemandem nicht verweigert werden kann, ohne dass die Verweigerung eisern und ungerecht sei, das wird sicher nach striktem Recht geschuldet. Also ist die intuitive Schau Gottes oder übernatürliche Seligkeit nur dem Namen nach übernatürlich, in Wahrheit ist sie geschuldet, nicht umsonst. Soweit der Bischof v. Meaux. Würde er das auf den Untergang der Seele beziehen, wäre es nicht weniger falsch. Fern sei die unsinnige Meinung der Gottlosen, welche die Unsterblichkeit der Seele leugneten. Dies Ganze, von der Fragestellung völlig Abweichende, dringt ein, sodass man die wahre Frage aus den Augen verliert. Die körperlose, geistige Seele hat in sich keinen Grund der Sündhaftigkeit oder des Untergangs. Außerdem glauben wir, diese sei durch die Offenbarung Gottes mit Unsterblichkeit beschenkt worden. Dass aber Gott seinem Geschöpf nach festgesetztem Recht ewige Existenz schulde, das widerspricht sicherlich der Freiheit Gottes und der verliehenen Existenz der Geschöpfe. Allein jener, welcher sagt »ich bin, der ich bin« 94, hat die Unsterblichkeit 95. Diese gibt er, wenn es ihm gefällt, umsonst; er schuldet sie niemandem. Wäre die Unsterblichkeit etwas dem Menschen vor jedem Versprechen nach striktem Recht Geschuldetes, müsste diese Unsterblichkeit eine glückselige sein. Denn was ist erbärmlicher als auf ewig der Seligkeit beraubt zu sein, vorausgesetzt, wie der Bischof v. Meaux sagt, die Seligkeit selbst wäre das letzte Ziel des Menschen. Wahrlich wäre Gott eisern, stählern und ganz ungerecht, wenn er den Menschen unsterblich geschaffen hätte, um diesen in der unaufhörlichen Hoffnung auf sein letztes Ziel auf ewig täuschen zu wollen. Es bleibt also übrig, dass er ihn notwendig mit der seligen Unsterblichkeit, oder übernatürlichen Seligkeit beschenkt hätte. Hätte er ihm diese nicht geschenkt, würde er als eisern und ungerecht beurteilt. So wäre also jene selige Unsterblichkeit oder übernatürliche Seligkeit nicht Gnade, sondern etwas der Natur selbst Geschuldetes. »Nicht darf man daher fragen«, sagt der Bischof v. Meaux 96, »was wir in metaphysischem Zustand zu tun angehalten wären, wenn wir vielleicht so beschaffen wären.« Soll er die Metaphysik verlachen so viel 94 95 96
2. Mose 3, 14. 1. Timot 6, 16. Bossuet, Schola in tuto, Abschnitt 203.
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
er will. Er selbst trieb uns gegen unseren Willen zur Metaphysik. Wer das Verlangen nach Seligkeit der Caritas als wesentlich zuschreibt, der strebt sicher zur Metaphysik. Nur durch die Metaphysik lässt sich das Wesen jeder Sache erklären. Aus der Annahme eines metaphysischen Zustandes kristallisiert sich heraus, was vom Wesen getrennt werden kann, und was unabtrennbar und wesentlich genannt werden muss. Er führt uns also selbst dorthin, wo er dann die Hingeführten verlacht und verspottet. »Das übrige Unnütze«, sagt er 97, »wollen wir zu den Metaphysikern wegsenden.« Ziemt es sich nicht für einen Bischof, nämlich einen Theologen, so weit die Metaphysik gelernt zu haben, um zu wissen, dass die übernatürlichen Gaben nicht der Natur geschuldet werden, sondern vielmehr reine Gnade Gottes sind? Hat sich nicht Augustinus der metaphysischen Abstraktionen sehr häufig bedient, um die Arianer, Manichäer, Donatisten und Pelagianer zu widerlegen? Was kann besiegt werden, wenn man nicht das Wesen der Sache selbst angreift? Wie aber wird das Wesen der Sache selbst erklärt werden können, wenn nicht aus der metaphysischen Betrachtung der Ideen? Hebt man das auf, bleibt nichts klar Abgegrenztes, nur Ungeordnetes übrig. Was aber ist einfacher und wirksamer, als von irgendetwas dasjenige wegzunehmen, was man wegnehmen kann, wobei jenes unbeschadet bleibt, sodass infolgedessen feststeht, was genau das Wesen von jenem ist. Dieses Unnütze will der Gegner zu den Mystikern wegsenden. Aber die Römische Kirche antwortet, Unwissende seien so zu unterrichten: »Und nicht darf dies stillschweigend übergangen werden etc., dass er, obwohl er uns ohne Lohn hätte zwingen können, seiner Herrlichkeit zu dienen, dennoch seine Herrlichkeit mit unserem Nutzen verbinden wollte.« 98 Weshalb wollte die Kirche als Mutter und Lehrmeisterin, dass selbst die Unwissenden dies Lernen sollten? Weil ja »gerade darin Gott uns besonders seine Milde uns gegenüber und den Reichtum seiner Güte gezeigt hat.« Was die Mutter Kirche als rein uneigennützige Gabe der Milde und Freigiebigkeit dem einfachen Volk bekanntzumachen befiehlt, das betrachtet der Bischof v. Meaux als etwas dem Wesen der Natur selbst Geschuldetes, und sendet diese Unnützlichkeiten zu den Metaphysikern hinweg. Aber aus Furcht, er könnte abzuweichen scheinen, sänftigte er die Rede. »Und nicht«, sagt er 99, »gedenken 97 98 99
Bossuet, Schola in tuto, Abschnitt 205. Römischer Katechismus nach dem Beschluss des Konzils von Trient, siehe oben. Bossuet, Schola in tuto, Abschnitt 205.
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Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
wir deshalb, die absolute Macht Gottes einzuschränken.« Was denkst du also? Gibst du nun ernsthaft diese absolute Macht Gottes zu, durch welche er die ewige, übernatürliche Seligkeit der Natur verweigern hätte können? Entweder du gibst jenen entscheidenden Punkt zu oder du leugnest ihn. Schick das nicht, wie etwas Unnützes, zu den Metaphysikern hinweg! Wenn das die absolute Macht Gottes war, spricht nichts dagegen, dass er das hätte tun können. Was, wenn er es getan hätte? Wäre Gott nicht liebenswert, nach Aufhebung des ganzen Grundes für die Liebe, welcher anders nicht erklärt werden kann? Hätte Gott gegen die Natur des Menschen und gegen das Wesen der Liebe geliebt werden können? Was ist mehr entscheidend als das, was du unnütz nennst? Gerade daraus muss man lernen, was diese absolute Macht Gottes sei, deren Einschränkung anzudenken fern sei. »Aber sie sind durch die von Gott offenbarten Wirkungen seiner geordneten Macht, welche die ganze Schule anerkennt, auf ihn ausgerichtet«, sagt er, »das übrige Unnütze wollen wir zur Metaphysik entfernen.« 100 So stellt er der absolute Macht Gottes eine geordnete gegenüber; daraus ist klar, dass für ihn die Macht, der Natur die übernatürliche Seligkeit zu versagen, zwar eine absolute, aber nicht eine geordnete zu sein scheint. Ich bedränge ihn und frage, ob die ungeordnete Macht in Gott die wahre Macht sei. Die ungeordnete Macht und die eisernen, d. h. ungerechten Gesetze will er ja selbst zugeben. Ich aber meine, nur Geordnetes dürfe in Gott zugelassen werden; freilich würde Gott ja seiner selbst ermangeln, wenn er jegliche Ordnung entbehrte. Also soll er nicht täuschen, sondern offen sagen, ob in Gott die wahre und geordnete Macht oder Freiheit läge, der Natur die übernatürliche Seligkeit nicht zu gewähren. Würde er das bekennen, wäre der entscheidende Punkt mit einem Wort erledigt, der die Entscheidung des Ganzen enthält. Wenn er aber bis jetzt den entscheidenden Punkt mit gekünsteltem Schweigen vermeidet, so ist dieses Vermeiden ein deutlicher Beweis. Wer behauptet, Gott könne irgendetwas nicht geordnet ausführen, beschränkt darin offenbar die Macht Gottes. »Man muss fragen«, sagt er 101, »… was uns nun von Gott, durch Christus offenbart, zu tun befohlen wird, so wie die Dinge jetzt liegen; dadurch ist die Lösung offenbar etc. … durch die von Gott offenbarten Wirkungen werden wir auf ihn ausgerichtet etc.« Welch un100 101
Ebd. Bossuet, Schola in tuto, Abschnitt 204, Bd. 29, S. 316.
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
erhörte Lösung! Aufgrund der angenommenen Offenbarung Christi muss man wünschen, was offenbart wird. Hätte aber Gott, darin frei, seine Herrlichkeit nicht mit unserem Nutzen verbinden wollen; hätte er uns zwingen wollen, ohne jeglichen Lohn seiner Herrlichkeit zu dienen, was dann? Augustinus antwortet: »Wir müssten lieber wollen etc.« Clemens, Gregor, Chrysostomos und unzählige heilige Lehrer aller Zeiten und Weltgegenden antworten: Gott wäre auch dann höchst liebenswert gewesen aus einem anderen, von der Erlangung der übernatürlichen Seligkeit ganz verschiedenen Grund des Liebens. Allein der Bischof v. Meaux, für den zu antworten und vollständig besiegt zu werden ein und dasselbe wäre, will dies Unnütze zur Metaphysik entfernen. Nur über die Dinge, die stehen, wie sie sind, will er sprechen. Doch Paulus hat über die Dinge, wie sie sind, am wenigsten gesprochen, indem er sagt: »Ich wünschte, ich wäre mit dem Bannfluch belegt etc.« Ohne Zweifel hat er auf etwas bedingt verzichtet, worauf zu verzichten Frevel wäre, wenn die Dinge so stehen, wie sie sind. Dadurch selbst ist offenbar klar, dass, was als unmögliche Annahme gilt, nicht für die Dinge, die stehen, wie sie sind, gilt: denn nicht kann die Annahme der Dinge, die stehen, wie sie sind, »unmöglich« genannt werden. Doch was nützt diese beständige Ausflucht? Dies ist die herrliche Auslegung des Chrysostomos: »Das war«, sagt der Bischof v. Meaux 102, »der Sinn des Apostels, den Bannfluch auf sich zu nehmen und auf ewig, wenn das sein könnte, von der Gegenwart Christi getrennt zu sein.« Hängt jene ewige Trennung von Christus etwa mit den Dingen, die stehen, wie sie sind, zusammen, entgegen dem gerechten Geist des Paulus? Also ist aufgrund des bereits Zugestandenen sonnenklar, dass der Apostel sich nicht über die Dinge, wie sie jetzt sind, sondern über einen anderen Zustand, den der Bischof v. Meaux metaphysisch nennt, Gedanken gemacht hat. Darüber soll er sich endlich einmal selbst Gedanken machen, gleich wie der Apostel, und es soll ihn reuen, die ganze Kirche getäuscht zu haben! Was also? »Wir leugnen«, sagt er 103, »dass dies Unnütze dem Nutzen der reinen Liebe diene«. Wenn aber das dem Nutzen der reinen Liebe gar nicht diente, warum begegnet uns dann dieses Unnütze Bossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch IX, Abschnitt 3, Bd. 27, S. 351; Edition von 1845, Bd. 9, S. 177. 103 Bossuet, Schola in tuto, Abschnitt 205, Bd. 29, S. 316; Edition von 1845, Bd. 9, S. 523. 102
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Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
allenthalben, das uns seit dem Beginn des Christentums selbst eingeschärft wird? Weshalb tragen selbst der Apostel, Moses, weshalb alle Werke, die in der Kirche höher und heiliger sind, dieses Unnütze vor? Weshalb sind die Schriften des Franz v. Sales voll von diesem für die reine Liebe nutzlosen Unsinn? Sind die Werke der göttlichen Lehre, von denen gesagt wird, dass sie von der Kirche vollgestopft werden, solch ein Unsinn? Bleibt etwa dem Paulus und dem Moses dieses Unnütze vorbehalten, welches der Ausübung der reinen Liebe am wenigsten dient? Die Ausübung der reinen Liebe ist von zweifacher Art. Die eine ist, auszudrücken, was sie fühlt. Die andere ist, dass sie in ihrem Ausdruck stärker und stärker zu fühlen vermag. Jenes »Unnütze« aber dient der zweifachen Ausübung der reinen Liebe zugestandenermaßen besonders. Daher ist vom Bischof v. Meaux bereits zugestanden, was er selbst noch leugnet. »Es kann auch«, sagt er 104, »den ängstlichen und wahrhaft niedrigen Seelen die Unterordnung und Zustimmung, dem Willen Gottes zu folgen, eingegeben werden, wenn auch durch eine falsche Annahme etc.« Kommt es dem Lenker zu, dieses »Unnütze« anzuregen und einzugeben? Ist etwa diese Unterordnung nutzlos? Ist jener Akt etwa lächerlich, der die Seele zu dem metaphysischen Zustand und den »eisernen Gesetzen« hinwendet? Im Gegenteil, dies ist »ein Akt der vollkommenen Hingabe und der reinen Liebe.« Was ist nützlicher, was dient der Ausübung der reinen Liebe mehr als jene frommen Stimmen, wodurch sie selbst sowohl ausgedrückt wird, als auch durch leidenschaftlichen Ausdruck mehr und mehr entfacht wird. Er soll sich selbst hören: Das war die Praxis der Heiligen; dieser Akt »kann in der Praxis von den wahrhaft vollkommenen Seelen nützlich hervorgebracht werden mit der außerordentlichen Gnade Gottes.« Wer bringt denn nützlich Unnützes hervor? War denn die Praxis der Heiligen in der Ausübung der reinen Liebe unnütz? Treibt denn die außerordentliche Gnade zu Unnützem? Er selbst sagt andernorts, es liege beim Lenker, der Seele zu helfen, diesen wunderbaren Akt gleichsam zu »gebären«, indem er ihn durch seinen Anstoß anregt. Bringt denn die von Gott so angetriebene, vom Lenker unterstützte Seele etwas Unnützes hervor? Anderorts sagt er auch: »Es handelt sich um die Erklärung eines so bedeutenden Aktes, der von so viel Ermutigung überströmt«, nämlich für diese vollkommene Hingabe. Daraus folgert er: »Wenn in 104
Art. XXXIII von Issy. Siehe oben, Œuvres complètes de Fénelon, Bd. 2, S. 228
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Über den bedingten Verzicht auf die Seligkeit
diesem Werk etwas ist, wofür ich Aufmerksamkeit verlange, ist es fürwahr dieses Eine.« 105 Der Ausdruck der Liebe, wodurch die Liebe selbst so viel Ermutigung empfängt, ist das etwas Unnützes für die Liebe? Ist jener so bedeutende Akt etwas Zweckloses? Wer die gewaltigen Widersprüche so eifrig aufhäuft, verspottet das Menschengeschlecht als rückschrittlich. Schon ist völlig klar, weshalb er, auf mein Drängen, niemals dazu gebracht werden konnte, offen zu sagen, ob die übernatürliche Seligkeit etwas der Natur Geschuldetes oder Gnade sei. Diese eisernen Gesetze hielt er, wie eine Strafe für Unschuldige, für außerhalb der Tugend Gottes liegend; das bedeutet, Gott wäre eisern und ungerecht, wenn er der Natur nicht diese übernatürliche Gabe gewährte. Was aber von Gott, außer von einem grausamen, nicht verwehrt werden kann, ist Schuldigkeit, nicht Gnade. Dasselbe zeigt er auch andernorts deutlich auf: »Wenn Gott gewollt hätte«, sagt er 106, »oder, wie ich besser sage: wenn er hätte wollen können, dass ihm ohne Lohn gedient wird etc.« So scheint er den Römischen Katechismus eingestandenermaßen zu widerlegen, der da sagt, »er hätte uns ohne jeglichen Lohn zwingen können, seiner Ehre zu dienen.« Dies sind ungefähr dieselben Worte. Was der eine leugnet, behauptet der andere. Der Lohn, worum einzig es bei uns geht, sei die übernatürliche Seligkeit, deren Motiv für die Caritas wesentlich sei, wie der Gegner lehrt. Ebenso könnte er sagen: »Gott konnte nicht wollen, dass ihm gedient werde ohne diesen Lohn, welcher der wesentliche und ganze Grund des Liebens ist.« Sobald er sagt »Wenn Gott gewollt hätte etc.«, verbessert er sich beständig, indem er leugnet, dass dieser Wille in Gott möglich gewesen wäre; »oder, wie ich besser sage: wenn er hätte wollen können etc.« Ihn ergreift Zweifel: Gott konnte das niemals wollen, weil es dem Wesen des Willens und der Liebe widerspricht. Es steht also fest, dass der Bischof v. Meaux so denkt; doch befürchtet er, dass, würde er dies offen zugeben, die ganze Kirche durch eine so große Ursache für einen Skandal erschüttert würde. Am meisten zu beweinen ist, dass es ihm selbst nicht genügte, dies offen, hartnäckig und mit siegreicher Stimme als das Neue, Absurde, der Frömmigkeit Feindliche, der Gnade, göttlichen Freiheit und dem höchsten Kult Zerstörerische zu bezeichnen. Gegen die Lehre des Paulus, des Moses, der Kirchenväter, der Asketen, des hl. Thomas 105 106
Bossuet, Instr. sur les Etats d’orais., Buch X, Abschnitt 18, Bd. 27, S. 417. Ebd., Additions, Abschnitt 5, S. 479.
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Die vorhergehende Lehre und deren Schlussfolgerungen werden bekräftigt
und der Schulen ließ er es wie die Wurzel eines quietistischen Fanatismus verurteilen. Jeder, der diese äußerst fromme, reine und sichere Tradition der beiden Gottesvölker bewahren will, bekommt, als Quietist gebrandmarkt, zu hören: »Um diesen so absurden und gefährlichen Irrtum auszurotten, muss man festlegen, dass die Caritas außer dem ursprünglichen und hauptsächlichen Motiv der Herrlichkeit Gottes auch dieses zweite Motiv hat etc.« 107 Gerade diese »Festlegung« aber wollte der Apostolische Stuhl nicht, der so viele Male die gegensätzliche Meinung mit außerordentlichem Lob bedacht hat. Doch der Gallikanische Konvent, weniger vorsichtig in diesem entscheidenden Punkt und vielleicht der Missbilligung des Spottes durch den Nachfolger des Petrus unkundig, hat dies nach dem Diktat des Bischofs v. Meaux »festgelegt«. Jene Liebe, die rein wohlwollende nämlich, die in den Akten der Caritas geübt werden kann, nicht damit uns daraus die Erlangung des Guten hervorgeht, wird als den Schriften, der Tradition, der Natur des Menschen und dem Wesen der Liebe widersprechend verworfen. So wird der absurde und quietistische Irrtum des hl. Thomas in der Definition der Caritas vom Konvent ausgerottet. So ergänzt der Konvent, was der apostolischen Bestimmung fehlte.
Bossuet, Rem. sur la Rép. à la Relat., conclus. § III, Abschnitt 10, in: Œuvres de Bossuet, Bd. 30, S. 211. Edition von 1845, Bd. 9, S. 195, 213 u. 673.
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Die wahre Definition der Caritas. Kampf um einen Begriff Nachwort von Albrecht Kreuzer
Wenn philosophische Begriffe nach einer langen Zeit unhinterfragter Gültigkeit plötzlich einem Diskurs unterworfen werden, dann weist das darauf hin, dass sich etwas in der Lebenswelt verändert hat. Denn die Philosophie ist keine vollkommen von der Welt abgekoppelte Sphäre, vielmehr ist sie, wie Hegel sagt »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« und das heißt, die kulturellen Realitäten und gesellschaftlichen Verhältnisse einer bestimmten Zeit, genauso wie das gesellschaftliche Bewusstsein, geistige Strömungen und was man ganz allgemein »Zeitgeist« nennen kann, finden in der Philosophie ihren Niederschlag. Verändert sich etwas an diesen Realitäten, entsteht der Bedarf an einer neuen Philosophie. Zwei mögliche Stellungen der Philosophie zu ihrer Zeit gibt es: Sie bejaht die gegenwärtige Entwicklung und liefert ihr, was sie braucht. Oder sie stellt sich der Entwicklung entgegen, will Veränderung, Reform, Revolution. Das kann sie aber nicht, indem sie einfach eine Rückführung der neudefinierten Begriffe auf eine ursprünglichere Bedeutung, die verlorengegangen ist, verlangt, denn diese bezieht sich auf Realitäten früherer Zeiten, sondern nur, indem sie an den gegenwärtigen Begriffen neue Differenzierungen und Verknüpfungen vornimmt, um über diese Veränderung in der Begriffsstruktur Veränderungen im Alltagsbewusstsein ihrer Zeit zu erreichen und über diesen Weg auf die gesellschaftlichen Realitäten Einfluss zu nehmen. 1 Der beschriebene Mechanismus ist am Werk, als der Begriff der Caritas, der Liebe zu Gott und der Liebe im Allgemeinen in seiner Bedeutung hinterfragt und einer Neudefinition unterzogen wurde. John Rawls hat diesen Prozess der Gewinnung moralischer Prinzipien aus Alltagsurteilen und der (Neu-)Strukturierung der Gesellschaft anhand dieser Prinzipien in seinem Hauptwerk »Eine Theorie der Gerechtigkeit« und detaillierter in seinem Aufsatz »Ein Entscheidungsverfahren für die normative Ethik« dargestellt. Die moralische Komponente kommt dort dadurch hinein, dass die Urteile von »kompetenten Moralbeurteilern« gebildet werden.
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Die Arbeit in der ständischen Gesellschaft hatte den Charakter des Dienstes, der den Erwerb zur Deckung der fundamentalen Lebensbedürfnisse zur Folge hatte. In den entstehenden frühkapitalistischen Strukturen wird der Erwerb und seine Steigerung zum abgekoppelten Motiv, auf das der Arbeitsprozess ausgerichtet ist, wodurch die Arbeit selbst zum Erwerbsstreben wird. Im entwickelten Kapitalismus ist dann die Arbeit, und zwar die des Anderen, nur noch Mittel zur Geldvermehrung. Das unmittelbare gesellschaftliche Bewusstsein von dieser veränderten Lebenswelt wird in der bürgerlichen Ethik expliziert, in deren Zentrum der Begriff des »wohlverstandenen Interesses« steht. Nicht zufällig leitet sich das Wort »Interesse« von dem französischen Wort für Zinsen (intérêt) ab. Die große Kontroverse zwischen Fénelon, dem Bischof von Cambrai, und Bossuet, dem Bischof von Meaux, dreht sich um die zentralen Begriffe der bürgerlichen Ethik, transponiert auf die Ebene der Theologie. Für den Begriff des privaten Vorteils, des persönlichen Nutzens steht der Begriff Glückseligkeit (beatitudo). Fénelon will sich gegen den Strom stemmen und über die Begriffe der Theorie auf Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein und dadurch wiederum auf reale Veränderungen Im Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft hinwirken. Bossuets Theologie versucht dem neuen Bewusstsein seiner Zeit Rechnung zu tragen, indem er den Begriff der Glückseligkeit mit dem Begriff der Caritas untrennbar verbindet: Die Caritas strebt, indem sie sich auf Gott als das letzte Ziel richtet, zugleich die Glückseligkeit an. Fénelons theoretische Intervention gilt dem Kampf gegen diese theologische Rechtfertigung des neuzeitlichen Gewinnstrebens. Die Kontroverse zwischen Fénelon und Bossuet ist ein Kampf um die Definition der Gottesliebe. Fénelons Ziel in diesem Kampf ist die Elimination des Motivs der Glückseligkeit aus dem Begriff der Caritas. Dabei ist Fénelon durchaus nicht lustfeindlich eingestellt. Der Zustand, in dem das Subjekt von äußerlichen Dingen und Vergnügungen hingerissen ist, weist eine Strukturgleichheit mit dem Zustand der absoluten Spontaneität und Einfachheit der amour pur auf. Beide unterscheiden sich grundlegend von dem Zustand der Reflexion, in dem das Subjekt alle Dinge, jedes Geschehen, auf die eigene Zuständlichkeit bezieht. Es will sich selbst in den Objekten wiederfinden und umgibt sich mit sogenannten Prestigeobjekten, die die Selbstachtung fördern. (Sie reflektieren das Ich, sind seine Reflexion.) Psychoanalytisch betrachtet entspricht dieser Zustand, in dem Ichlibido akkumuliert wird, dem Stadium des Narzissmus. Demgegenüber entspre157 https://doi.org/10.5771/9783495813539 .
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chen die beiden anderen Zustände dem Stadium einer objektgerichteten Libido. Sich äußerlichen Dingen zuzuwenden, sich der Gemeinschaft mit Freunden hinzugeben und gesellschaftlichen Vergnügungen nachzugehen ist deshalb ein Weg, von der Selbstbezogenheit des Ichs wegzukommen. Die Gefahr dabei ist, dass sich die Reflexion auf diese Gegenstände, Situationen oder Handlungen stürzt und sich an ihnen nährt. Auf die Befriedigung, die aus ihnen hervorgegangen ist, wird reflektiert und sie allein wird als Motiv angestrebt. Der philosophische Begriff für dieses Streben ist Sucht. Etymologisch leitet sich der Begriff zwar von »Siechen« ab, philosophisch jedoch von »Suchen«. Das Subjekt sucht bestimmte Gegenstände oder Personen immer wieder gezielt auf, um sich im Umgang mit ihnen Befriedigung zu verschaffen. Mit der Zeit lässt dieser Effekt nach, sodass das Subjekt mehr oder stärkere Stimulantia benötigt. Das Festmachen seiner perversen Befriedigung an bestimmten Gegenständen, Zuständen oder Praktiken hat für das süchtige Subjekt den Vorteil, dass es wiederholt darauf zurückgreifen kann, um die gesuchten Glücksgefühle in sich hervorzurufen. Ist diese Wiederholung mangels materieller Bedingungen nicht möglich, muss von der Erinnerung an vergangene Interaktionen gezehrt werden. Aus der Kriminalistik weiß man, dass Lustmörder beispielsweise einige Zeit lang von der Erinnerung an einen begangenen Mord zehren können, bis diese imaginäre Ressource aufgebraucht ist und ein neuer Mord benötigt wird. Die extremste Form dieses objektbezogenen Eudämonismus entspricht der Definition des Bösen: ein Verhältnis zum Anderen, das nur der persönlichen Lustvermehrung dient, auch auf Kosten oder sogar zum gezielt herbeigeführten Schaden des Anderen (Sadismus). Schlägt man die deutsche Übersetzung fénelonscher Texte von Matthias Claudius beliebig auf, dann kann es passieren, dass man, ohne es zu merken, Texte von Pascal liest 2. Denn die »Werke religiösen Inhalts« Fénelons sind mit einem »Anhang aus dem Pascal« versehen. Einige Textstellen Pascals sind tatsächlich schwer von Fénelon zu unterscheiden. Sie haben ähnliche Thematiken wie z. B. die Problematik der Beschäftigung mit dem eigenen Ich. An einer Stelle heißt es: »Der Mensch ist nur unmutig, und sucht nur Zerstreuung, weil er in sich die Idee von einer Glückseligkeit hat, die für ihn verSogar Kierkegaard ist das passiert bei seiner Lektüre der Claudiusübersetzung. Siehe dazu Peter Sajdas Aufsatz »François de Salignac de la Mothe-Fénelon: Clearing the Way for The Sickness unto Death« in: Stewart (Hg.) 2016.
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loren ist, und die er, weil er sie in sich nicht findet, in den äußeren Dingen sucht. Aber er sucht sie da vergebens, denn diese Glückseligkeit ist weder in ihm noch in den äußerlichen Dingen, sondern allein in Gott.« 3 Wenn hier unter Glückseligkeit die objektive verstanden wird, dann sind wir bei Fénelon. Wenn sie aber gesucht wird, dann wird sie als Motiv angestrebt und bringt die Gefahren des Eudämonismus mit sich 4. Für Fénelon reicht es nicht aus, dass Gott das Objekt der liebenden Hinwendung ist, er steht auf einem höheren Standpunkt. Am Beispiel des Simon Magus verdeutlicht er, dass die »übernatürliche Gabe mit natürlicher, ja sogar verdorbener und verabscheuenswürdiger Begierde gewünscht« 5 werden kann. Das Beispiel Simons steht für alle, die Gott auf »magische« Weise huldigen, d. h. durch äußerliche Dinge, Gaben und Praktiken. Dem gegenüber steht das Beispiel der Heiligen, die nach vom Motiv der privaten Seligkeit freien Maximen ihres Wollens Akte der Caritas setzten. Die zukünftige himmlische Glückseligkeit in der visio intuitiva ist Gegenstand der Hoffnung, die auch »heilige Begierde« (sancta concupiscentia) genannt wird. Im Rückgriff auf die Ursachenlehre des Aristoteles löst Fénelon die Antinomie von Hoffnung und Caritas. Die zukünftige Seligkeit ist causa efficiens, die zum Lieben bewegende Wirkursache. Erst durch ihre Erhebung zur causa finalis, zum letzten Umwillen der Liebe, wird diese unrein. Bossuets Position, die die Seligkeit als Motiv der Caritas zulässt, ist politisch in Einklang mit der Position des gallikanischen Episkopats, das die größtmögliche Emanzipation von der römischen Kirche betreibt. Nicht unbegründet setzt deshalb Fénelon seine Hoffnung auf Rom. Als der Papst schließlich auf Betreiben Bossuets und des Königs 23 Sätze aus Fénelons »Maximes de saints« (1697) verbieten lässt, ist die Kontroverse offiziell zugunsten des Bischofs von Meaux entschieden. Nachdem sich Bossuets Lehrmeinung durchgesetzt hat, geschieht das scheinbar Paradoxe, dass sie zum Ziel der Säkularisierungsbestrebungen der Aufklärung wird. Nur scheinbar paradox deshalb, weil die nun geltende Lehre zur Konkurrenz der eudämonistischen Aufklärungsethik im Ringen um den Einfluss auf das öf-
Fenelon’s Werke religiösen Inhalts nebst einem Anhang aus dem Pascal. Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius, Band 3, S. 296. 4 Vielleicht könnte man Fénelons Standpunkt zugespitzt mit dem Satz: »Wer nicht suchet, der findet« ausdrücken. 5 S. 40 in diesem Buch. 3
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fentliche Bewusstsein geworden ist. 6 Das Konkurrierende wurde zum Gegenstand der Säkularisierung. Demgegenüber hätte Fénelons Lehre der Religion die Möglichkeit geboten, einen eigenständigen Raum der Spiritualität zu besetzen. Als Clemens XI., der noch als Kardinal gegen die Verurteilung Fénelons gestimmt hatte, zum neuen Papst gewählt wurde, war deshalb die Hoffnung nicht ganz unberechtigt, dass das Pendel nochmal auf seine Seite ausschlagen könnte. Doch obwohl Fénelon die »Abhandlung über die reine Liebe« (1700) Papst Clemens XI. widmet, hat er keine wirkliche Hoffnung mehr auf die unmittelbare siegreiche Durchsetzung seiner Position. Die dissertatio ist bereits aus dem Bereich der Tagespolitik entrückt in die Sphäre der Universalität. Das zeigt sich auch darin, dass sie eine der wenigen Texte Fénelons ist, die er in Latein, der. universellen Sprache der Wissenschaft, geschrieben hat. Sie ist für spätere Zeiten, für die Ewigkeit bestimmt. Die dissertatio ist in scholastischem Stil verfasst. Wichtig ist beiden Kontrahenten die Bezugnahme auf die Klassiker der Theologie. Zur Untermauerung seiner These führt Bossuet das folgende Zitat aus der Summe der Theologie des Thomas von Aquin an: »Gesetzt die unmögliche Annahme, dass Gott nicht des Menschen Gut sei, gäbe es für den Menschen überhaupt keinen Grund zur Liebe.« 7
Er folgert daraus, »dass dem Menschen dies das Motiv der Gottesliebe ist, dass Gott ihm das ganze Gut, oder, in anderen Worten, die Seligkeit selbst sei.« Fénelon führt gegen diese Argumentation die für ihn wesentliche Unterscheidung zwischen objektiver und formaler Seligkeit (beatitudo obiectiva – beatitudo formalis) ins Feld. Nach seiner Interpretation des Thomaszitats ist die objektive Seligkeit Gott selbst, und somit das höchste Ziel, worauf der Mensch ausgerichtet ist. Die formale Seligkeit ist dagegen der psychische Zustand des Menschen im Akt der Gottesliebe. Mit Thomas bezeichnet er sie auch als Wirkung im Gegensatz zur Ursache, die Gott ist, als etwas Geschaffenes im Gegensatz zu dem Ungeschaffenen. Sein Vorwurf an Bossuet ist, diese formale Seligkeit zum Motiv der Gottesliebe zu machen. Sie sei bei ihm der »ganze Grund für die Liebe«, um dessen willen »alle alles wollen« und nichts »darüber hinaus« (praeter hoc) 8. 6 7 8
S. dazu: Mystik und Aufklärung, S. 44 f.; in: Spaemann, Einsprüche 1977. Sum. theol. II, II, qu. 26, art. 13, ad 3. R. Spaemann 1990, S. 323. Der Satz David Humes, »we never advance one step beyond ourselves«, den Robert
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Augustinus’ Definition der Liebe als Genuss Gottes scheint Bossuets Auffassung zu unterstützen. Doch Fénelon weist mit Recht darauf hin, dass Augustinus unter genießen (frui) versteht, »einer Sache in Liebe um ihrer selbst willen anzuhängen.« Er fordert, die Zweideutigkeit, die Bossuet bewusst in dieses Wort legt, aufzuheben und von »genießen« die Bedeutung »glückselig werden« (beari) zu trennen. Im Augustinischen Sinne will er das frui Deo als spontanen Akt der Liebe verstanden wissen, in dem keine Reflexion auf die Zuständlichkeit des Liebenden stattfindet: »Wenn er sagt, die Caritas will genießen, ist es dasselbe als wenn er sagte, die Liebe will das lieben, was sie liebt; die Liebe ist spontan.« 9
Dieselbe Absicht, durch eine Zweideutigkeit die Glückseligkeit dem Begriff der Caritas als wesentlichen Bestandteil hinzuzufügen, erkennt Fénelon bei Bossuet in der Verwendung des Wortes »vereinigen« (uniri). Bossuet beruft sich auf Thomas, wenn er behauptet, für die Caritas sei es charakteristisch, dass sie »einigend sei oder vereinigen wolle« 10. Der wesentliche Unterschied zu der christlichen Tugend der Hoffnung sei, dass in der Hoffnung das »gesuchte Gut« fern sei, während die Caritas die Vereinigung mit diesem bringe. Fénelon gesteht zu, dass Thomas von der Caritas als einigend spricht. Aber diese Vereinigung sei nicht die Seligkeit. Denn »die himmlische Seligkeit [ist] nicht gegenwärtig, sondern abwesend, solange wir fern von dem Herrn weilen.« Dagegen versteht Thomas unter der Vereinigung die unmittelbare Übereinstimmung des menschlichen mit dem göttlichen Willen, identisch mit der Spontaneität des frui. Um den spezifischen Unterschied der Caritas von der Hoffnung zu erfassen, ist es für Fénelon unerlässlich, eine andere Definition, die Thomas der Caritas gibt, heranzuziehen: »Glaube und Hoffnung berühren Gott nur, insofern uns aus ihm Erkenntnis des Wahren oder Erlangung des Guten zukommt. Die Caritas aber erreicht Gott selbst, um in ihm selbst zu bleiben, nicht damit uns von ihm Spaemann im Vorwort zitiert, steht für diese Grundeinstellung der neuzeitlichen Ethik, der Bossuet eine theologische Form gibt. Ihr ist es nicht mehr möglich, ein die private Seligkeit des Subjekts transzendierendes »Darüber hinaus« zu denken. 9 S. 50 in diesem Buch. Hier manifestiert sich am deutlichsten der Gegensatz von Reflexion und Spontaneität, der für Fénelon der wesentliche Punkt in der Begriffsbestimmung der Caritas ist, was auch der Grund ist, weshalb Spaemann ihn zum Titel seines Fénelonbuchs gemacht hat. 10 S. 92 in diesem Buch.
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etwas zuteil wird; und daher ist die Caritas hervorragender als die Hoffnung etc.« 11
Das wesentliche Spezifikum, das die Tugend der Caritas von der Tugend der Hoffnung (und des Glaubens) unterscheidet, ist hier die Negation eines aus der Ausübung der Caritas hervorgehenden Guts. Aufgrund dieser Negation übertrifft die Caritas die Hoffnung. Das Urbild dieser rein wohlwollenden Liebe ist die Liebe Gottes, der »sein Geschöpf nicht aus dem Motiv seiner eigenen Seligkeit, die davon gar nicht abhängt« liebt, sondern »umsonst und nicht damit ihm aus dem, was er liebt, irgendetwas zukomme«. 12 Bossuet hat es Gott allein vorbehalten, ohne Bedürftigkeit zu lieben und damit die Liebe zu Gott fundamental von der Liebe Gottes abgehoben. 13 Doch für Fénelon ist die Liebe Gottes »Form und Muster« für die menschliche Liebe, und deshalb »müssen wir so wollen und lieben, wie er selbst will und liebt, d. h. umsonst und ohne das Motiv einer zu erreichenden Seligkeit« 14. Die Methode, das Motiv der Seligkeit aus dem Begriff der Caritas zu trennen, ist die der unmöglichen Annahmen. Hierbei handelt es sich um gedankliche Operationen, Bedingungen, die zwar aufgrund der göttlichen Verheißung unmöglich sind, dennoch anzunehmen, da die Verheißung ein rein freiwilliges Versprechen war und es in Gottes Macht stand, dieses nicht zu geben. An diese Annahmen schließen sich Gelübde, also Bekundungen eines Wollens, an. Dieses Wollen ist daher ein »bedingtes Wollen«, kein absolutes. Das bedeutet, etwas zu wollen unter der Bedingung, dass gewisse Umstände eintreten. Fénelon bringt das Beispiel eines in Afrika gefangenen Christen. Dieser sagt nicht: »Ich will heute in die Heimat reisen«. Sondern er sagt: »Ich wollte …«. 15 Es ist ein Wollen unter der für ihn unmöglichen Bedingung, frei zu sein. Wenn Fénelon sich auf die Beispiele des Paulus und des Moses beruft, dann meint er im Falle des ersteren die Selbstverfluchung (ἀνάθεμα) des Paulus (Röm 9, 3) und im Falle des letzteren die Stelle aus dem Buch Exodus, in der Moses Gott bittet, die Sünden von seinem Volk zu nehmen: »Wenn nicht, dann streiche mich aus dem 11 12 13 14 15
S. 24 in diesem Buch. – Sum. theol. II, II, q. 23, art. 6. S. 26 in diesem Buch. Vgl. Spaemann 1990, S. 43. Ebd., S. 14. S. 129 in diesem Buch.
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Buch, das du angelegt hast«. (Ex 32, 32). Das Anathema des Paulus ist das bedingte Gelübde, er wollte von Jesus auf ewig getrennt sein, würden seine »Brüder nach dem Fleische«, die Israeliten, nicht zu Gott geführt. Von dieser Art des Wollens sind die Gelübde, bedingt auf die Seligkeit zu verzichten. Wäre die – wenn auch unmögliche – Bedingung gegeben, dass ihn nicht die himmlische Glückseligkeit erwartete, wollte der Gelobende dennoch Gott in alle Ewigkeit lieben. Für Bossuet ist dieses Wollen, das überhaupt nur ganz wenigen vollkommenen Seelen zukomme, der Ausdruck einer frommen Ekstase und Verzückung und im Grunde eine Art widersprüchlichen Wollens, das dem Wesen des Willens und der Liebe widerspricht. Fénelon hält ihm vor, dass die Erklärung eines Wollens, das dem Wesen des Willens widerspräche, reine Heuchelei und nicht besser, sondern im Gegenteil noch viel frevelhafter wäre, wenn sie aus dem Munde auserwählter Vollkommener wie Paulus oder Moses käme. Die Abtrennung des Motivs der Seligkeit von dem Motiv der Caritas ist freilich eine Abstraktion, um das Wesen der Caritas klar abzugrenzen und deren Akte von den Akten der Hoffnung zu unterscheiden. Im konkreten Akt der Hinwendung zu Gott kann die Caritas durchaus von »der Wirksamkeit der bewegenden Seligkeit in den Akten der Hoffnung« begleitet werden. Die bedingten Gelübde des Seligkeitsverzichts kommen in Situationen äußerster Prüfung und Ungewissheit vor. In solchen Situationen sind sie eine Entscheidung, mit der Liebe fortzufahren, selbst wenn kein Heil zu erwarten ist, ja, selbst wenn die ewigen Qualen der Hölle bevorstehen. »Die große Bedeutung, die Fénelon diesem Durchgang durch die Verzweiflung beimißt, liegt darin, daß durch sie die Liebe »gereinigt« wird von jeder Beimischung des Eigeninteresses und auf ein einziges Motiv reduziert wird.« 16 Wenn Paulus oder Moses diese Aussprüche dennoch »in Gewissheit« (securus hoc dicit) machten, dann deshalb, weil »auf der höchsten Spitze des Verstandes und des Willens … zwar nicht wahrnehmbar, doch ganz wahrhaftig, die Hoffnung auf versprochenen Lohn« leuchtete. Diese Formulierung spielt auf die mystische »Seelenspitze« des Franz v. Sales an. Dieser oberste Seelenteil, den Fénelon mit seinen »direkten Akten« identifiziert, ist der Reflexion nicht zugänglich (»… zwar nicht wahrnehmbar«); es ist der Be-
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Spaemann 1990, S. 77.
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reich der unmittelbaren Zustimmung zum Willen Gottes, die »das eigene Heil nur will, weil Gott will, daß wir es wollen« 17. Zuletzt konzentriert sich die Kontroverse auf die unmöglichen Annahmen bei Augustinus. Bossuet behauptet zunächst, dass es diese bei Augustinus gar nicht gäbe, führt aber dann doch pro forma einige Stellen an, die, wie Fénelon feststellt, nicht den Kern der Sache treffen. Die entscheidende Stelle findet Fénelon im 21. Buch von De Civitate Dei, wo Augustinus vom Kampf des Menschen mit seinen Lastern spricht. Er führt diesen Kampf mit Hoffnung auf ewigen Frieden und Befreiung. Wenn aber – so die unmögliche Annahme – es »keine Hoffnung auf jenes große Gut« 18 gäbe, dann müssten wir dennoch lieber wollen, diesen Kampf fortzuführen, als uns unseren Leidenschaften zu ergeben. Der ewige Frieden wird mit der Glückseligkeit gleichgesetzt, die Caritas mit der Gerechtigkeitsliebe. Den mühseligen Kampf aufzugeben, wäre eudämonistisch, denn »im Zulassen der Herrschaft der Laster läge eine gewisse Lust.« 19 Das Fortführen des Kampfes ohne Hoffnung auf die Seligkeit des Friedenszustandes bedeutet die Ausübung der Gerechtigkeit aus reiner und uneigennütziger Liebe zur »ewigen Gerechtigkeit, welche Gott selbst ist«. 20 Sind diese Annahmen für die Praxis relevant? Oder gilt für sie der Gemeinspruch: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«? Es ist wichtig, zu beachten, dass diese Annahmen geäußert werden. (Der Ausspruch des Moses ist unmittelbar vor Gott geäußert). Insofern wäre es zu wenig, von Praxisrelevanz zu sprechen. Vielmehr sind sie selbst die Praxis der reinen Liebe. Durch ihre performative Äußerung geschieht mehr als der Ausdruck des innerlich Gefühlten. Sie werden dadurch gewissermaßen objektiviert, materialisiert, sie erhalten ein »Leben« im Symbolischen. Der Gelobende hat nun eine Realität vor sich, der er mehr und mehr gerecht zu werden sich bemüht. Die gottgleiche Liebe mag vielleicht nur als winziger Funke vorhanden sein. Doch der Ausspruch, als deren Ausdruck, verweist auf dieses reale Vorhandensein, und deshalb wird sie durch den »leidenschaftlichen Ausdruck mehr und mehr entfacht« 21.
17 18 19 20 21
Ebd., S. 79. S. 140 in diesem Buch. S. 142 in diesem Buch. Ebd. S. 153 in diesem Buch.
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So dehnt sie sich aus und wird – wenn man bei dieser Metapher bleiben will – zu einem Feuer, das den gesamten Willen ergreift. Bei Fénelon ist die Änderung in der Ausrichtung der Motivation keine schlagartige Umwandlung (wie bei Kant), sondern findet in der Form eines Prozesses statt. Öfter verwendet er dafür die Metapher des Weges. Die Möglichkeit von der Erreichung des Zieles ist dabei nicht gewiss, sie ist im Grunde Gegenstand des Glaubens. Fénelon spricht in diesem Zusammenhang von der »Dunkelheit des reinen Glaubens«. Der Weg verläuft im Dunkeln. Die innere Prüfung, ob das Ziel schon erreicht sei, steht im Dienste jenes Interesses, das gerade vom Weg abführt. Die Ungewissheit von der Möglichkeit der reinen Liebe stellt selbst ein Kriterium für die Reinheit dar. Reine Liebe ist Liebe trotz der Ungewissheit. Nur die Liebe selbst schafft die Möglichkeit der reinen Liebe. Der Anfang des Weges wird eudämonistisch sein. Die Hoffnung bewegt zum Lieben. Erst im weiteren Verlauf kommt es durch die Verzweiflung an der Ungewissheit zur Läuterung, die in den Zustand der Gelassenheit, der vollkommenen Ergebung in den Willen Gottes, einmündet. Dem aus Ungewissheit über die Möglichkeit der reinen Liebe Verzweifelnden gibt Fénelon die folgende Botschaft mit auf den Weg: »Wenn jemand sich einbildet, diese vollkommene Liebe sei unmöglich und eine reine Schimäre, oder sie sei eitle Verstiegenheit, die eine Quelle der Täuschung werden könnte, so habe ich ihm nur zwei Worte zu entgegnen: Nichts ist unmöglich für Gott, der … uns nur deswegen in der Pilgerschaft dieses Lebens belässt, um uns zur Vollkommenheit zu führen.« 22
Fénelon, Über die reine Liebe. Ihre Möglichkeiten und ihre Motive. In: Geistliche Werke, S. 228.
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Literatur
Augustinus, Aurelius: Der Gottesstaat. In deutscher Sprache von Carl Johann Perl. Salzburg: Otto Müller 1953. Bossuet, Jacques Bénigne: Œuvres complètes de Bossuet, évéque de Meaux. Versailles 1815–1820. – Œuvres complètes de Bossuet. Paris, Lille, Besançon 1845–1846. Fénelon, François de Salignac de la Mothe: Œuvres complètes de Fénelon, archévêque de Cambrai (Edition de Saint-Sulpice), 10 Bände, Paris, Lille, Besancon 1848–1852. – Fenelon’s Werke religiösen Inhalts. Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius. 3 Bände. Hamburg: Perthes 1800, 1809, 1811. – Geistliche Werke. Einleitung und Textauswahl von François Varillon. Mit einem Nachwort von Peter Manns. Düsseldorf: Patmos Verlag 1961. – Explication des Maximes des Saints sur la vie Interieure, ed. Cherel Paris 1911. Rawls, John: »Ein Entscheidungsverfahren für die normative Ethik«, in: Birnbacher/ Hoerstner (Hg.): Texte zur Ethik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1976, S. 125–39. – Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Spaemann, Robert: Einsprüche. Christliche Reden. Einsiedeln: Johannes 1977. – Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon. Stuttgart: Klett-Cotta 1990. Stewart, Jon (Hg.): Kierkegaard and the Renaissance and Modern Traditions, Vol 5, Tome 2: Theology. New York: Routledge 2016.
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