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German Pages [443] Year 2014
Peter Becker [Hrsg.]
1914 und 1999 – Zwei Kriege gegen Serbien
Auf dem Weg zum Demokratischen Frieden? Mit Neueditionen von Karl Kautsky und Heinz Loquai
Nomos
Peter Becker [Hrsg]
1914 und 1999 – Zwei Kriege gegen Serbien Auf dem Weg zum Demokratischen Frieden? Mit Neueditionen von Karl Kautsky und Heinz Loquai 2.Auflage
Nomos
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© Titelbild: Das Bundesarchiv, Bild 146-1976-007-32, Frankreich, Champagne. – Russische Soldaten mit Gasmasken in einem Schützengraben (Gaskrieg), ca. 1916-17 UN Photo/Milton Grant, 25 May 1993, United Nations, New York
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-1473-5 (Print) ISBN 978-3-8452-5516-3 (ePDF)
1. Auflage 2014 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Dieses Buch ist gewidmet dem Bundesverfassungsgericht, dem Deutschen Bundestag, dem deutschen Außenminister und den deutschen Bürgern
Danksagung
Ich danke Peter Handke, der mir Mut zu dem Projekt gegeben hat. Ich danke meinem Bruder Michael Becker für seine zahlreichen wertvollen Hinweise und Hilfestellungen, ich danke Rechtsanwalt Kurt Groenewold für die mündlichen und schriftlichen Anregungen zum Prinzip des demokratischen Friedens. Außerdem danke ich Frau Cornelia Richter, die das Buch von Karl Kautsky mit viel Mühe in die elektronische Form gebracht hat, die für dieses Buch gebraucht wurde. Schließlich danke ich der Lektorin beim NomosVerlag, Frau Beate Bernstein und ihren KollegInnen, die sich sehr für das Projekt engagiert haben. Lohfelden, im Juli 2014
Peter Becker
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Inhalt
Peter Becker Einleitung
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Karl Kautsky Wie der Weltkrieg entstand. Dargestellt nach dem Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts
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Peter Becker Zeittafel 1877 – 1914
177
Peter Becker Die handelnden Personen in der „Juli-Krise“ 1914
191
Heinz Loquai Weichenstellungen für einen Krieg
197
Heinz Loquai Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999 (Auszüge)
329
Peter Becker Zeittafel ‚Die Jugoslawien-Kriege‘
353
Peter Becker Auf dem Weg zum demokratischen Frieden
377
Epilog
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Einleitung Peter Becker
Im Berlin des Jahres 1919 erschien, verlegt bei Paul Cassirer, das Buch von Karl Kautsky Wie der Weltkrieg entstand, dargestellt nach dem Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts. Im November 1918 hatten die Volksbeauftragten Kautsky, den „führenden theoretischen Kopf der deutschen Sozialdemokratie“ (Herfried Münkler) beauftragt, eine Sichtung und Herausgabe der Akten des Auswärtigen Amtes zum Kriegsausbruch zu verfassen. Diese Bitte wurde nach einer internen Kontroverse von Friedrich Ebert bekräftigt. Nach etwa vier Monaten waren Kautsky und seine Helfer – die Volksbeauftragten hatten ihm, der der USPD angehörte, auch den „Mehrheitssozialdemokraten“ Quarck beigeordnet, auch Kautskys Frau half mit – fertig und wollte das Ergebnis noch vor Beginn der Friedensverhandlungen veröffentlichen. Doch die Regierung Scheidemann konnte sich aufgrund des „niederschmetternden Eindrucks“ zu einer sofortigen Veröffentlichung nicht entschließen. Insbesondere Max Weber, der schon 1914 für den Krieg war, stand in der Kriegsschuldfrage auf der anderen Seite. Er gehörte denn auch zur „Friedensdelegation“, die die Versailler Verhandlungen begleiten sollte. Sie war hervorgegangen aus einer „Arbeitsgemeinschaft für eine Politik des Rechts“, kurz „Heidelberger Vereinigung“ genannt, die Max Weber gemeinsam mit dem Prinzen Max von Baden zur Abwehr der alliierten Schuldvorwürfe bereits am 3. Februar ins Leben gerufen hatte. Der erste öffentliche Aufruf der Arbeitsgemeinschaft sprach von einer „gemeinsamen Schuld aller kriegführenden Großmächte Europas“, und forderte die Einsetzung eines unparteiischen neutralen Gremiums zur objektiven Untersuchung der Schuldfrage. In dieses Klima passten Kautskys Untersuchungsergebnisse überhaupt nicht. Auch Eduard Bernstein, wie Kautsky zur USPD gehörig und von der Regierung in die Friedensdelegation berufen, konnte sich gegen die Allianz von Max Weber, dem Prinzen Max von Baden und dem Bankier Warburg nicht durchsetzen und schied resigniert aus der Friedensdelegation aus. Die deutsche Position wurde bestimmt vom Weißbuch der Regierung vom Juni 1919, das die Kriegsschuld bestritt. Kautskys Aktensammlung, „im Auftrag des Auswärtigen Amtes nach gemeinsamer Durchsicht herausgegeben von 11
Peter Becker
Graf Max Montgelas und Prof. Dr. Walther Schücking“ (letzterer Völkerrechtler und einer der „Väter“ des Völkerbundes), erschien in vier Bänden erst im Herbst 1919. In diesem Klima entschloss sich Kautsky zu der vorliegenden Arbeit. Ein Historiker könne „nicht Quellen sammeln, ohne sie auch innerlich zu verarbeiten“. Und Kautsky war klar, dass sein Buch viel Widerspruch erfahren würde. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass man es einfach totschwieg. Denn der Versailler Vertrag mit seinem Kriegsschuldparagrafen 231 löste einen nationalen Aufstand von Rechts bis Links gegen das „Schanddiktat von Versailles“ aus. Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) unterzeichneten daher den Vertrag am 28. Juni 1919 nur unter Protest. In diese Stimmung passten Kautskys Forschungsergebnisse überhaupt nicht. So hatte sein Buch kaum eine Chance, zu einem realistischen Geschichtsbild beizutragen. Hier liegt das Motiv für die Neuauflage. Das Faszinierende an Kautskys Untersuchung ist die Präzision der Durchsicht des Materials, der Protokolle, Briefe und Depeschen, so die des Kaisers Wilhelm an seinen Neffen Nicky, den russischen Zaren Nikolaus. Österreich und Deutschland verschworen sich, Serbien „für immer“ unschädlich zu machen. Ein Ultimatum an die serbische Regierung nach dem Mord am Thronfolger in Sarajevo wurde so konstruiert, dass es eigentlich unannehmbar war. Aber Serbien unterwarf sich, was den Kaiser zu der folgenden Bemerkung hinriss: „Eine brilliante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden! […] Damit fällt jeder Kriegsgrund fort. […]“ Trotzdem kam es zum Krieg. Die präzise Darstellung der Inszenierungen, aber auch die Massenmobilisierung mit Hilfe der Medien, stellt Kautsky plastisch dar – und wegen der zahlreichen Fundstellen kaum zu widerlegen. Fritz Fischer hat in seinem mutigen Buch Griff nach der Weltmacht (1961) weder Karl Kautskys Buch noch ihn als maßgeblichen Autor seiner Quellensammlung zitiert, obwohl er in großem Umfang auf sie zurückgegriffen hat, wie an den zitierten Depeschen erkennbar. Das war wohl eine Vorsichtsmaßnahme. Denn der Widerstand der Fachkollegen gegen seine Thesen war absehbar. Hätte er sich auch noch auf den Linkssozialisten Karl Kautsky gestützt, wäre seinen Forschungsergebnissen, von vielen Kollegen erbittert bekämpft, von vornherein die Wirkung genommen gewesen. Aber auch bei Clark und Münkler fehlt der Verweis auf Kautskys Buch. Auch Loquais Buch, vom Ansatz her dem Kautskys vergleichbar, hatte ein ähnliches Schicksal. Dr. Heinz Loquai ist Brigadegeneral a.D., vorher Generalstabsoffizier der Luftwaffe in zahlreichen Verwendungen, u. a. als 12
Einleitung
Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr, auf dem Gebiet der Militärpolitik im Bundesministerium der Verteidigung, bei der deutschen NATO-Vertretung in Brüssel und als Leiter des Verifikationszentrums der Bundeswehr. Vor der Pensionierung am 31. März 1999 Leiter der Militärberatergruppe bei der deutschen OSZE-Vertretung in Wien. In dieser Funktion war er u. a. mit dem Kosovo-Konflikt befasst. Als Ergebnis dieser Funktion hat Loquai – im Grunde – zwei Bücher verfasst. Das erste hieß Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg (Nomos 2000), das zweite Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt (Nomos 2003). Diese zweite war nach Loquais Auffassung keine bloße Neuauflage seiner früheren Veröffentlichung. Sie gehe tiefer in der Analyse und verarbeite Quellen, die erst später verfügbar wurden. Außerdem wurden im Dokumentenanhang einige interessante Dokumente konzentriert. Man müsste beide Bücher lesen, was heute schwierig ist, weil sie vergriffen sind. Deswegen erfolgt hier eine Neuauflage in Teilen (ohne jede Veränderung). Die Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die Rolle der OSZE während der Phase der Eskalation zu einem internationalen Krieg in der Zeit von Mitte Oktober 1998 bis Ende März 1999. Die Bombardierung Serbiens begann am 24. März und endete am 10. Juni 1999. Die NATO setzte zeitweise über 1.000 Kampfflugzeuge ein. Es handelte sich um eine der massivsten Luftkriegsoperationen der Militärgeschichte. Allein die USA setzten einen größeren Prozentsatz ihrer Luftstreitkräfte gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ein, als während des gesamten Vietnam-Krieges und der Operation Desert Storm (2. Golfkrieg). Erst durch diese Bombardierungen kam es zu Massenfluchten. Die gezielten Bombardierungen galten Regierungsgebäuden, Industrieanlagen, Objekten der Transport-, Telekommunikations- und Energie-Infrastruktur sowie allen militärischen Installationen. Viele historisch wertvolle Gebäude wurden zerstört. „Aus Versehen“ bombardierte die NATO auch die chinesische Botschaft in Belgrad. Die Gesamtzahl der Todesopfer wird auf 3.500 Menschen geschätzt; etwa 10.000 Menschen sollen verletzt worden sein. Loquais Bücher befassen sich nicht mit dem Krieg. Sie konzentrieren sich auf die Phase davor und analysieren die angebliche Notwendigkeit einer „humanitären Intervention“, also eines – nach vorherrschender Ansicht – völkerrechtswidrigen Krieges, weil ohne UN-Mandat. Es war Loquais Aufgabe im Rahmen der OSZE, diese Entwicklung zu untersuchen, für die die „Kosovo-Verifikationsmission“ (KVM) durch ihre Mitarbeiter und eine
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Peter Becker
präzise Nachrichtenzuarbeit – etwa durch die Botschaften der NATO-Staaten in Belgrad – bestens ausgestattet war. Auslöser des Krieges war der Aufstand der Kosovo-Befreiungs-Armee (UCK) gegen die serbische Präsenz im Kosovo, der damals jugoslawische Provinz war. Die Serben wurden als Besatzer empfunden. Aufgabe der OSZE war es, den Konflikt zu untersuchen, zu deeskalieren und eine friedliche Lösung herbeizuführen. Dieser Ansatz wurde aber insbesondere von den USA von Anfang an unterlaufen. Loquai belegt, dass die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright schon früh auf eine Bombardierung hingearbeitet hat, und zwar ohne UN-Mandat. Ein Schwerpunkt des Buches ist die Untersuchung des sogenannten „Massakers von Racak“. Der amerikanische Diplomat William Walker, bekannt schon durch Einsätze in südamerikanischen Staaten, hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, das internationale Interesse auf die Ergebnisse einer – wohl – kriegerischen Auseinandersetzung zu lenken, die über Nacht zur standrechtlichen Erschießung von 45 Personen, darunter Frauen und Kinder, umgewidmet worden war. Loquai geht sehr sorgfältig an dieses „Massaker“ heran und zeigt, wie es als Kriegsgrund aufgewertet und – insbesondere – in den deutschen Medien verarbeitet wurde. Eine kritische Darstellung des Krieges in einem offenen Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Jahr 2001, geschrieben von den Hamburger Friedensforschern Prof. Dieter S. Lutz und seinem Stellvertreter Dr. Reinhard Mutz, wurde von Peter Struck so kommentiert, dass der Brief „schwerste Beschuldigungen gegen die Bundesregierung und gegen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages [enthalte], bis hin zu kaum erträglichen Verleumdungen“. Zur Richtigstellung hätte Loquais Buch beitragen können. Aber der 11. September 2001 hat die politische Diskussion über den Kosovo-Konflikt nahezu vollständig verdrängt, wie der Autor in der Einleitung seines zweiten Buchs beklagt. Auch dieser Krieg harrt also noch der Aufarbeitung. Die gereizte Reaktion des Bundestags erklärt sich aus der Bundestagsdebatte vom 16. Oktober 1998, in der beschlossen worden war, erforderlichenfalls im Rahmen der NATO kriegerisch gegen Jugoslawien vorzugehen, und zwar auch ohne UN-Mandat. Den Abgeordneten war die Völkerrechtswidrigkeit ihres Vorgehens durchaus bewusst, wie an der präzisen Kritik des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch von der FDP zu erkennen war. Selbst der grüne Staatssekretär Dr. Ludger Volmer enthielt sich der Stimme. Viele Abgeordnete stimmten – zu diesem frühen Zeitpunkt – der Ermächtigung zu einem militärischen Eingreifen zu, weil sie unterstellten, dass der konkrete 14
Einleitung
Angriff einer nochmaligen Debatte des Bundestags bedürfe, so etwa der Abgeordnete Verheugen. Diese Erwartung wurde enttäuscht. Der Herausgeber analysiert diese Bundestagssitzung vor dem Hintergrund der Informationen Loquais. Man kann zeigen, dass dem Parlament wichtige Informationen vorenthalten wurden, etwa die Reichweite des Abkommens zwischen dem jugoslawischen Staatspräsidenten Milosevic und dem amerikanischen Diplomaten Richard Holbrooke. Anlass des Eingreifens sollte eine „drohende humanitäre Katastrophe“ sein, eine Formulierung der UN, die der jugoslawischen Staatsführung zwar angesonnen, aber nie belegt wurde. Nach dem Massaker von Racak kam es ab dem 6. Februar 1999 im Schloss Rambouillet zu von NATO-Mitgliedstaaten dominierten Vertragsverhandlungen, in denen es um ein Abkommen zwischen der jugoslawischen Regierung und den Kosovo-Albanern ging. Nach den Eckpunkten sollte der Kosovo innerhalb von Serbien eine umfassende Autonomie erhalten, aber unter serbischer Hoheit bleiben, die UCK sollte entwaffnet und NATO-Truppen im Kosovo stationiert werden. Die UCK unterschrieb das Abkommen, die jugoslawische Delegation aber nicht. Denn in einem Annex B, im letzten Moment eingebracht, war vorgesehen, dass NATOTruppen in einer Stärke von 30.000 Mann sowohl im Kosovo als auch in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien operieren können sollten, unter Zuerkennung vollständiger zivilrechtlicher und strafrechtlicher Immunität von NATO und NATO-Personal, sowie unter kostenloser und uneingeschränkter Nutzung der gesamten jugoslawischen Infrastruktur durch die NATO. „Kein Serbe mit Volksschulbildung“ hätte einen solchen Vertrag unterschreiben können, schrieb Rudolf Augstein im SPIEGEL. Christopher Clark (585) wertet dieses Ultimatum als wesentlich weitergehend als die österreich-ungarische Note in der Juli-Krise und zitiert Henry Kissinger, der den Rambouillet-Vertrag als „eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können“ bezeichnete. Obwohl „Tendenzen zu ethnischen Säuberungen […] weiterhin nicht zu erkennen“ waren, wie am 22. März 1999 in der Tagesmeldung des Amtes für Nachrichten der Bundeswehr zu lesen war, wurde ab dem 24. März bombardiert. Zu den Kriegsgründen trug bei ein „Hufeisenplan“ aus dem Bundesverteidigungsministerium unter Leitung von Rudolf Scharping. Man muss, schreibt Loquai, angesichts „der Widersprüche in der Beweisführung des Ministeriums … begründete Zweifel an der Existenz eines solchen Do-
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Peter Becker
kuments, das auch tatsächlich echt ist, haben“1. Dieser Plan habe schon im März 1999 zu einer halben Million Vertriebener geführt. Der ganze Kosovo hat allerdings nur eine Bevölkerung von 1,84 Millionen. Die Flucht setzte erst mit der Bombardierung ein. Immanuel Kant hat im Jahre 1795, mitten in der Französischen Revolution, seine berühmte Schrift „Zum Ewigen Frieden“ verfasst. Dafür sei der Staat mit republikanischer Verfassung verantwortlich, der ein friedlicher Staat sei. Die Entscheidung für Krieg und Frieden müsse von den Staatsbürgern getroffen werden, da sie auch die Folgen des Krieges tragen müssten. Darin liegt das Prinzip eines Demokratischen Friedens. Dieses Anliegen verfolgt das letzte Kapitel des Herausgebers, für das es seit dem Jahre 2005 in Deutschland – weltweit einmalig – eine gesetzliche Grundlage gibt, das Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG): Wie kann eine der Kernfragen der Menschheit „Krieg oder Frieden?“ in einem demokratischen Prozess beantwortet werden? Aber das Gesetz lässt Fragen offen: Wie kann man den parlamentarischen Prozess so gestalten, dass er die „facts and fakes“ aufklären kann? Wie kann der gezielten Desinformation, gezielt oder unfreiwillig unterstützt von den Medien, entgegengewirkt werden? Wie kann man die Debatte über eine Friedensmission so gestalten, dass auch die Konfliktlösung als solche in den Blick genommen wird? Die Parlamentsbeteiligungen haben bisher immer zur Begründung militärischer Einsätze der Bundeswehr im Ausland geführt. Wenn sich die Bundesregierung, wie etwa beim Irak-Krieg oder der Libyen-Intervention, eines Einsatzes enthielt, wurde damit nicht der Bundestag befasst. So fehlt bisher das Beispiel einer parlamentarischen Entscheidung gegen einen Kriegseinsatz, den die Bundesregierung – in den bisherigen Beispielsfällen aufgrund internationaler Vorentscheidungen – getroffen hat. Es wird der Vorschlag gemacht, das Parlamentsbeteiligungsgesetz an entscheidender Stelle mit wenigen Worten zu ergänzen. Man muss versuchen, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen; einschließend die Aufgabe, die gezielten Fehlinformationen als solche zu enttarnen. Und das Wichtigste: Die parlamentarische Beteiligung sollte auf eine Ausstattung der Mission abzielen, die den Konflikt selbst anpackt und dafür die Rolle des Militärs auf die Schaffung sicherer Verhältnisse für das Angehen des Konflikts zuschneiden. Dafür ist nicht weniger Parlamentsbeteiligung nötig, sondern mehr.
1 Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg, BadenBaden 2000, S. 143.
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Einleitung
Dafür plädiert auch die Untersuchung der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD unter Vorsitz des früheren Verfassungsgerichtspräsidenten Papier zum deutschen Militäreinsatz in Afghanistan. Die Analyse geht ans „Eingemachte“ und legt die unterschiedlichen Positionen offen. Und entscheidend: Sie schlägt die Erweiterung der Parlamentsbeteiligung auf die zivilen Elemente einer Konfliktschlichtung vor. Sollte das gelingen, wäre Hoffnung auf eine verbesserte Entscheidung über Krieg oder Frieden. Rechts- und politische Grundlage ist das „Friedensgebot des Grundgesetzes“, das vom Bundesverfassungsgericht zwar immer wieder zitiert wird, aber noch nie gestaltend angewandt wurde. Kaum bekannt ist in diesem Zusammanhang der „Vertrag über die Ächtung des Krieges“ vom 27.08.1928 (Briand-Kellogg-Pakt), in dem die Vertragspartner – auch Deutschland – erklärt haben, dass sie „den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik […]“ verzichten. Der Vertrag ist immer noch wirksam. Beim Jugoslawien-Krieg hat man das wohl vergessen.
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Wie der Weltkrieg entstand. Dargestellt nach dem Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts von Karl Kautsky*
Übersicht Vorwort 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
12.
13. 14. 15. 16. 17.
18.
Die Schuldigen. Deutschlands Isolierung Deutsche Provokationen. Österreich. Die Balkankrisen Die Lage vor dem Kriege. Materialien über den Ursprung des Krieges. Serajewo. Wilhelms monarchisches Bewusstsein. Die Verschwörung von Potsdam. Die Verschwörer an der Arbeit. Wilhelms Drängen. Österreichs Zögern. Eine falsche Rechnung. Die Einschläferung Europas. Das Ultimatum an Serbien. Die Überreichung der Note. Die Lokalisierung des Krieges. Die Sabotierung der Friedensbemühungen. Beginnende Unsicherheit in Deutschland. Italien. England. Bis zum 29. Juli. Der 29. Juli Letzte Versuche zur Rettung des Friedens. Die Mobilisierungen. Die Kriegserklärung an Russland. Die Vorbereitung der Kriegserklärung. Die Begründung der Kriegserklärung. Die Eröffnung des Krieges durch Russland. Die Kriegserklärung an Frankreich. Frankreichs Neutralisierung.
20 26 27 33 36 39 42 45 47 52 55 60 60 65 72 75 80 80 84 87 96 102 109 109 114 121 127 134 134 136 140 144 144
* Erstmals verlegt bei Paul Cassirer, Berlin 1919.
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Karl Kautsky
19. 20. 21.
Die mysteriösen Flieger. Die Kriegserklärung an Belgien. Die politische Verfehltheit des Wortbruchs. b) Die Rechtfertigung des Wortbruchs. Die Revolutionierung der Welt. Der Weltkrieg und das deutsche Volk. Nachbemerkung.
148 153 153 156 162 167 175
Vorwort Nach der Revolution vom 9. November 1918 ersuchten mich die Volksbeauftragten, als beigeordneter Staatssekretär in das Auswärtige Amt einzutreten. Eine der ersten Aufgaben, die ich mir stellte, ging dahin, mich zu vergewissern, ob in seinem Archiv belastendes Material beiseite geschafft worden sei, wie damals vielfach befürchtet wurde. Ich konnte nichts bemerken, was diesen Verdacht bestätigt hätte. Schon die ersten Stichproben zeigten mir vielmehr, dass wichtiges Material da war. Ich schlug den Volksbeauftragten vor, die Akten zunächst über den Kriegsausbruch herauszugeben. Das seien wir dem deutschen Volke schuldig, das Anspruch darauf habe, die Wahrheit über seine bisherigen Staatslenker zu erfahren. Das sei auch notwendig, weil es dem misstrauischen Auslande gegenüber am deutlichsten den völligen Bruch des neuen Regimes mit dem alten zum Ausdruck bringe. Die Volksbeauftragten stimmten mir zu und betrauten mich mit der Sammlung und Herausgabe der Akten. Meine bisherige Haltung werde dafür bürgen, dass ich kein unbequemes Material unterschlage. Gewünscht wurde nur, dass ich nicht die einzelnen Akten sofort, nachdem ich sie gefunden, vor die Öffentlichkeit bringe, wie es Eisner getan, sondern dass sie erst herauskommen sollten, wenn sie vollzählig gesammelt vorlägen. Das war politisch nicht ganz erwünscht, weil es die Veröffentlichung und ihre günstigen Wirkungen für das neue Regime im In- und Auslande hinausschob. Aber es schnitt die Einrede der Verfechter des alten Regimes ab, als habe man es bloß mit tendenziös ausgelesenen und aus dem Zusammenhang gerissenen Dokumenten zu tun, die keine Beweiskraft hätten. Dem Gewicht dieser Auffassung verschloss ich mich nicht und danach verfuhr ich. Als im Dezember meine Parteigenossen Barth, Dittmann und Haase aus der Regierung austraten, verzichtete auch ich auf meine Stellung als beigeordneter Staatssekretär, erklärte mich jedoch bereit, die Sammlung und He-
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Wie der Weltkrieg entstand
rausgabe der Kriegsakten auch weiterhin zu besorgen. Darauf erhielt ich die Zuschrift vom 4. Januar: Werter Genosse! Auf Ihr Schreiben vom 2. Januar erwidere ich Ihnen, dass die Reichsregierung Sie bittet, Ihre Tätigkeit als Mitherausgeber der Akten über den Kriegsausbruch auch weiterhin ausüben zu wollen. Die Reichsregierung Ebert.
Das Wort „Mitherausgeber“ bezieht sich darauf, dass kurz vorher nach dem Usus jener Wochen, jede höhere Stellung doppelt mit einem Rechtssozialisten und einem Unabhängigen zu besetzen, man Quarck mir zur Seite gestellt hatte. Der Usus hörte nach dem Ausscheiden der Unabhängigen aus der Regierung auf und damit nahm bald auch die „Mitherausgeberschaft“ Quarcks ein Ende und ich stand als alleiniger Herausgeber da. Natürlich besorgte ich nicht die ganze große Arbeit allein. Ehe ich noch andere Hilfskräfte heranzog, stand mir meine Frau getreulich zur Seite, die ja schon seit Jahrzehnten mit Rat und Tat fast an jedem meiner Werke beteiligt ist. Doch bald wurde ein eigenes Büro zur Besorgung der Herausgabe notwendig. Sie war zu beschleunigen und ich hatte neben ihr in der Sozialisierungskommission und mit schriftstellerischen Arbeiten zu tun. Quarck und ich wendeten uns daher schon im Dezember an Dr. Gustav Mayer mit der Bitte, seine Arbeitskraft für die Zwecke der Sammlung und Ordnung der Akten in höherem Maße zur Verfügung zu stellen, als ich selbst es vermöchte. Er willigte gern ein, trotzdem auch er manche ihm liebe Arbeit deshalb liegen lassen musste. Auf seine Anregung zogen wir namentlich für die archivalische Arbeit noch Dr. Hermann Meyer, Archivar beim geheimen Staatsarchiv, heran, dann Anfang Februar zur Beschleunigung des Abschlusses der Arbeit, angesichts des sich häufenden Materials nach Dr. Richard Wolff und Frl. N. Stiebel, cand. hist. Ich empfinde es als meine Pflicht, ihnen allen, namentlich den beiden erstgenannten Herren für ihre hingebende wertvolle Arbeit an dem großen Unternehmen herzlichst zu danken. Sie setzte mich in die Lage, dem Grafen Brockdorff-Rantzau am 26. März mitzuteilen, dass die Sammlung im Wesentlichen fertig vorliege und sofort in Satz gegeben werden könne. Wohl waren noch eine Reihe von Feststellungen zu machen, da sich z. B. nicht bei jedem Dokument die Zeit seines Einlaufens oder seiner Absendung ohne weiteres genau konstatieren ließ. 21
Karl Kautsky
Doch konnten diese und andere Ergänzungen, wie Register u. dergl. auch während des Satzes noch eingefügt werden. Mit der Drucklegung durfte nicht mehr gezögert werden, wenn man noch vor Beginn der Friedensverhandlungen der Welt die offenbarste Bekundung dafür vorlegen wollte, dass die deutsche Regierung, von der diese Verhandlungen geführt wurden, nicht das mindeste gemein habe mit jener, die den Krieg erklärt. Die Regierung fasste die Sache offenbar anders auf. Sie schob die Herausgabe hinaus und veröffentlichte statt der Dokumente einen Bericht über den Kriegsausbruch im Weißbuch von Juni 1919, auf das in dem vorliegenden Buch noch Bezug genommen wird und das alles andere eher als einen Bruch mit der Politik des gestürzten Regimes erkennen ließ. Während meine Mitarbeiter und ich die Aufforderung erwarteten, an die Drucklegung der Sammlung heranzutreten, waren wir weiter mit der Feilung und Ergänzung des Materials beschäftigt. Aber als immer mehr die Aussichten schwanden, dass die Regierung bald die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Akten gebe, vermochte ich meine Mitarbeiter, auf die andere, dringende Pflichten warteten, nicht länger zusammenzuhalten. Sie schlossen im Beginn des Mai ihre Arbeit an den Akten ab, doch durfte ich darauf rechnen, dass sie sich sofort wieder einfinden würden, sobald endlich der Auftrag zur Drucklegung erteilt wäre. Doch ließ dieser auch nach der Unterzeichnung des Friedens noch auf sich warten. Endlich in der Mitte des September wurde ich eines schönen Tages in der Angelegenheit der Akten telefonisch angerufen, nicht vom Auswärtigen Amt, sondern von einer Zeitung, die mich fragte, ob es wahr sei, dass die Herren Mendelssohn, Montgelas und Schücking meine Sammlung herausgeben sollten, und nicht ich. Ich konnte darauf bloß antworten, dass ich davon weniger wisse, als die Zeitung selbst. Ich habe die Tatsache nur aus den Zeitungen erfahren. Die Regierung war wirklich so illoyal gewesen, die Herausgabe der von mir unternommenen und unter meiner Leitung durchgeführten Sammlung von Akten anderen zu übergeben, ohne mich auch nur davon zu verständigen. Welche Gründe man hatte, mich auszuschiffen, ist mir bis heute noch nicht klar geworden. Die Regierung hat nie welche angegeben. Umso mehr erregte ihr Vorgehen so böses Blut, dass sie sich gezwungen sah, einzulenken. Die Herren Prof. Schücking und Graf Montgelas wendeten sich Ende September an mich, mit der Versicherung, dass das, was sie her22
Wie der Weltkrieg entstand
auszugeben gedächten, ausschließlich meine Sammlung sei, an der ohne meine Zustimmung keine Zeile geändert werden solle. Auch wollte man mir jede Möglichkeit der Überwachung des Drucks geben. Sie baten mich, die Ausgabe gutzuheißen. Die beiden Herren hatten danach im Wesentlichen nur die Aufgabe, meine Arbeit einer Kontrolle zu unterziehen, die ich nicht zu scheuen brauchte, und jene Kleinarbeit zu verrichten, die mit der Drucklegung eines Werkes dieser Art notwendigerweise verbunden ist und die ich ihnen gerne überließ. Da mir nichts an meiner Persönlichkeit, umso mehr an der Sache liegt, sah ich also keine Veranlassung, mich in den Schmollwinkel zu stellen, und ich erklärte mich bereit, mitzuwirken unter der Bedingung, dass die Drucklegung sofort in Angriff genommen werde. Auch das wurde mir zugesagt und so erscheint jetzt endlich die schon fast sagenhaft gewordene Sammlung der Dokumente des Auswärtigen Amtes über den Kriegsausbruch. Während der Arbeit hatte ich mich natürlich nicht damit begnügt, ein Dokument an das andere zu reihen. Es drängte mich, alle die Aufschlüsse, die mir die große Masse von fast 900 Aktenstücken bot, in einen inneren Zusammenhang zu bringen und ihren Zusammenhang mit dem übrigen, bisher schon bekannten Material über den Kriegsausbruch herzustellen. Ich tat es nicht als Ankläger, sondern als Geschichtsschreiber, der erforschen will, wie die Dinge gekommen sind. Diese Arbeit unternahm ich zunächst bloß zu meiner Selbstverständigung. Ein Historiker kann nicht Quellen sammeln, ohne sie auch innerlich zu verarbeiten. Doch je mehr die Arbeit voranschritt, um so reger wurde in mir der Wunsch, sie nicht bloß für mich zu machen, sondern auch für das große Publikum, das weniger Zeit und meist auch Gelegenheit haben dürfte, als ich, die ungeheure Menge des Materials sorgsam durchzuarbeiten. So entwickelte sich allmählich das vorliegende Buch. In wesentlichen Teilen ist es schon seit Monaten fertig, doch habe ich seine Herausgabe immer wieder hinausgeschoben, was auch stete Zufügungen und Umarbeitungen durch das Auftauchen neuen Materials erforderlich machte, so namentlich durch das deutsche Weißbuch vom Juni und die Publikationen des Herrn Dr. Gooß. Es kostete mich viel Selbstverleugnung, mit meiner Schrift nicht herauszukommen angesichts der Flut von Enthüllungen über den Krieg, die in den letzten Monaten hereinbrach. Da zu schweigen, wo ich so viel zu sagen gehabt hätte, war nicht leicht.
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Ich hätte mich wohl berechtigt gefühlt, angesichts des steten Zauderns der Regierung, mein Buch erscheinen zu lassen, noch ehe sie sich zur Publikation der längst gesammelten Akten entschloss. Ich hatte in dem Archiv des Auswärtigen Amtes nicht gearbeitet als sein Beamter, sondern als freier Historiker, seitdem ich aufgehört hatte, als beigeordneter Staatssekretär zu fungieren. Beweis dafür die Tatsache, dass ich seitdem kein Gehalt und auch keine sonstige Entschädigung von der Regierung bezogen habe. Ein Historiker, der ein Archiv benutzt, ist keinem Vorgesetzten Rechenschaft darüber schuldig, welchen Gebrauch er von den Früchten seiner Arbeit macht. Wenn ich trotzdem schwieg, geschah es nicht aus einer juristischen, sondern einer politischen Erwägung. Der ganze politische Vorteil, den die Herausgabe der Akten für die Beurteilung des deutschen Volkes durch seine bisherigen Gegner haben konnte, war nur zu erwarten, wenn die Veröffentlichung durch die Regierung, nicht gegen sie erfolgte. Wohl wäre sie auch in letzterem Falle geboten gewesen, schon aus Gründen der inneren Politik. Aber solange die Möglichkeit bestand, dass die Regierung selbst die Akten erscheinen ließ, wollte ich ihr nicht mit der Publizierung meiner Verarbeitung des Materials zuvorkommen. Nun erscheinen sie tatsächlich und damit ist für mich jeder Grund entfallen, weiter zu warten. Kein Zweifel, meine Auffassungen werden viel umstritten werden – es gibt keine Auffassung dieses Krieges, die allseitige Zustimmung gefunden hätte. Und keine Sprache ist zweideutiger und mehr auf das Lesen zwischen den Zeilen berechnet, keine mannigfacherer Deutungen fähig als die der Diplomaten, mit denen wir es hier fast ausschließlich zu tun haben. Nur der Kaiser befleißigt sich keiner diplomatischen Ausdrucksweise. Sie lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und seine Randglossen gewähren das seltene Vergnügen, dass das Volk einmal einen Kaiser in Unterhosen zu sehen bekommt. Doch trotz aller diplomatischen Verschlagenheit haben die österreichischen Dokumente eine nahezu einmütige Auffassung von der Schuld der österreichischen Staatskunst gezeitigt. Wer dazu gelangt ist, diese richtig einzuschätzen, für den kann nach der Sprache der deutschen Dokumente auch die Entscheidung über die deutsche Staatskunst nicht schwer fallen. Die Verführung lag nahe, angesichts der heutigen Klarheit zu zeigen, wie sehr das deutsche Volk von jenen irregeführt worden ist, die namentlich aus den Reihen der Rechtssozialisten, meine und meiner Freunde Haltung wäh24
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rend des Krieges auf das heftigste angegriffen und die stärkste Apologetik der Kriegspolitik der wilhelminischen Regierung geliefert hatten. Ihre Auffassung ist heute wahrhaftig nur ein Scherbenhaufen. Aber eben deshalb hat es kaum noch einen Zweck, sich heute mit den David und Heilmann usw. darob herumzuschlagen, auch würde die Straffreiheit der Darstellung darunter leiden, und es war zu befürchten, dass die Schrift, die sich an alle wendet, denen die Wahrheit über die Entstehung des Krieges am Herzen liegt, durch eine derartige Polemik einen parteipolitischen, ja persönlichen Charakter bekam, den ich vermieden wissen wollte. Ich bin daher nur dort polemisch geworden, wo es im Interesse der Klarlegung der Verhältnisse lag, im Übrigen aber jeder Rekrimination aus dem Wege gegangen. Dass die vorliegende Schrift mir indes neue Polemiken einbringen wird, darauf bin ich gefasst. Wie immer man sich zu ihr stellen mag, auf jeden Fall möge man eines bei der Lesung der hier veröffentlichten Dokument stets im Auge behalten: Sie bezeugen Gedanken und Handlungen deutscher Staatsmänner, nicht des deutschen Volkes. Soweit dieses eine Schuld trifft, kann sie nur darin liegen, dass es der äußeren Politik seiner Lenker zu wenig Beachtung schenkte. Das ist aber ein Vergehen, das das deutsche Volk mit allen anderen teilt. Vergebens hat Marx schon vor mehr als einem halben Jahrhundert bei der Begründung der ersten Internationale die „Pflicht der arbeitenden Klassen“ proklamiert, „selber die Mysterien der internationalen Staatskunst zu bemeistern, die diplomatischen Streiche ihrer Regierungen zu überwachen.“ Das ist bisher nur höchst unzureichend geschehen. Der jetzige Krieg mit seinen grauenvollen Konsequenzen weist gebieterischer als je auf diese „Pflicht der arbeitenden Klassen“ hin. Als ein Teilchen unserer Pflichterfüllung betrachte ich vorliegende Arbeit. Berlin, 1. November 1919.
K. Kautsky.
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1. Die Schuldigen. Seit dem Ausbruch des Weltkrieges beschäftigt eine Frage alle Gemüter: Wer hat dieses entsetzliche Unheil über uns gebracht? Welche Personen, welche Einrichtungen sind die Urheber? Das ist nicht nur eine wissenschaftliche Frage für den Historiker, es ist eine eminent praktische Frage für den Politiker. In ihrer Beantwortung liegt ein Todesurteil für die als die Urheber erkannten, nicht gerade ein körperliches, auf jeden Fall aber ein politisches. Personen und Institutionen, deren Macht so Furchtbares hervorgerufen hat, sind politisch zu den Toten zu werfen, müssen aller Macht entkleidet werden. Doch eben deswegen, weil die Frage der Urheberschaft am Weltkriege nicht eine akademische, sondern eine höchst praktische mit den weitestgehenden Konsequenzen für die Gestaltung des Staatslebens ist, haben die wirklich Schuldigen von Anfang an versucht, ihre Spuren zu verwischen. Und sie haben dabei rührige Helfer gefunden in allen jenen, die an der Macht der schuldigen Personen und Institutionen ein Interesse haben, wenn sie auch mit der Urheberschaft am Kriege nichts zu tun hatten. Das hat lange die Aufdeckung der Urheberschaft sehr erschwert. Anderseits wurde aber durch das praktische Interesse an der Sache auch wieder der kritische Scharfblick der Gegenseite geschärft, so dass nicht wenige von Anfang an auf die richtige Spur kamen. Daher begann sich allmählich der Nebel zu lichten, bis ihn die jüngsten österreichischen und deutschen Publikationen von Akten der auswärtigen Ämter vollends zerrissen. Wir sind in der Lage, jetzt klar zu sehen. Doch noch eine Wolke liegt da vor uns, angebliche tiefe marxistische Philosophie. Marx hat gelehrt, nicht durch einzelne Personen und Institutionen werde der Gang der Geschichte bestimmt, sondern in der letzten Linie durch die ökonomischen Verhältnisse. Der Kapitalismus erzeuge in seiner höchsten Form, der des Finanzkapitals, überall den Imperialismus, das Streben nach gewaltsamer Ausdehnung des Staatsgebietes. Dies beherrsche alle Staaten, sie seien alle kriegerischer Natur, und daraus sei der Weltkrieg hervorgegangen. Nicht einzelne Personen und Institutionen seien schuldig, sondern der Kapitalismus als Ganzes; diesen müsse man bekämpfen. Dies klingt sehr radikal und wirkt doch sehr konservativ überall dort, wo es praktische Arbeiten beherrscht. Denn der Kapitalismus ist nichts als eine Abstraktion, die gewonnen wird aus der Beobachtung zahlreicher Einzelerscheinungen und die ein unentbehrliches Hilfsmittel ist bei dem Streben, diese in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen zu erforschen.
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Bekämpfen kann man aber eine Abstraktion nicht, außer theoretisch; nicht aber praktisch. Praktisch können wir nur Einzelerscheinungen bekämpfen. Die theoretische Erkenntnis des Kapitalismus enthebt uns nicht der Notwendigkeit dieses praktischen Kampfes, sie ist vielmehr dazu da, ihn zu fördern, dadurch, dass sie uns ermöglicht, einen planmäßigen Zusammenhang in seine Einzelheiten zu bringen und ihn dadurch wirksamer zu gestalten. Dabei bleibt er immer ein Kampf gegen bestimmte Institutionen und Personen als Träger bestimmter gesellschaftlicher Funktionen. Man kann dabei vom marxistischen Standpunkt aus höchstens sagen, dass das Ziel des Kampfes nicht die Bestrafung der einzelnen Personen sein soll, gegen die er sich richtet. Jeder Mensch ist nur das Produkt der Verhältnisse, in denen er aufwächst und lebt. Selbst dem schlimmsten Verbrecher gegenüber ist es unbillig ihn zu bestrafen. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht nur darin, zu bewirken, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, weiterhin zu schaden, dass er wenn möglich, aus einem schädlichen in ein nützliches Mitglied der Menschheit verwandelt wird, und diejenigen Verhältnisse beseitigt werden, die ihn schufen und ihm die Möglichkeit und Macht boten, zu schaden. Diesen Standpunkt hat man als Marxist auch den Urhebern am Weltkriege gegenüber einzunehmen. Es ist aber keineswegs Marxismus, wenn man von der Nachforschung nach den schuldigen Personen durch den Hinweis auf die unpersönliche Schuld des Kapitalismus ablenken will. Marx und Engels haben sich nie damit begnügt, von den verderblichen Wirkungen des Kapitalismus im Allgemeinen zu sprechen. Sie waren ebenso sehr bemüht, dem Wirken der einzelnen Institutionen, Parteien und der sie führenden Politiker, wie etwa Palmerston und Napoleon nachzuspüren. Das Gleiche mit Bezug auf diejenigen zu tun, die den Weltkrieg herbeiführten, ist nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht, und nicht bloß aus Gründen der äußeren, sondern auch der inneren Politik, um den Personen und Institutionen, die das furchtbare Verderben verschuldet haben, die Wiederkehr für immer unmöglich zu machen. 2. Deutschlands Isolierung Nun wird eingeworfen, die letzten Tage vor Kriegsausbruch seien für die Schuldfrage allein nicht entscheidend. Man müsse weiter zurückgehen, um zu sehen, wie die Gegensätze sich bildeten, dann werde man bei allen Groß-
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staaten Imperialismus, Ausdehnungsstreben, finden, nicht bloß bei Deutschland allein. Sehr richtig, aber dieses Ausdehnungsstreben erklärt noch nicht den Weltkrieg, dessen Eigenart darin besteht, dass sich alle Großmächte und mehrere kleine an ihm beteiligten und alle Welt sich gegen Deutschland verbündete. Zu zeigen, wieso es dazu kam, das ist das Problem, das zu lösen ist. Das Wörtchen Imperialismus bringt uns dabei nicht weiter. Das Aufkommen des Imperialismus am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnet sich dadurch aus, dass die verschiedensten Großstaaten miteinander in Konflikt gerieten, Frankreich zuerst mit Italien und dann mit England, Amerika mit Spanien und auch mit England, England überdies mit den Buren, mit denen alle Welt sympathisierte, schließlich Russland mit Japan, hinter dem England stand. Am freiesten von internationalen Konflikten, die zeitweise zu Kriegen wurden, hielt sich in jenem Zeitalter Deutschland. Es hatte allerdings 1871 den großen Fehler begangen, Elsässer und Lothringer wider ihren Willen von Frankreich gewaltsam loszureißen und dieses dadurch in die Arme Russlands zu treiben. Das französische Bedürfnis nach Revanche, nach Wiedervereinigung mit den losgerissenen geknechteten Brüdern begann mit der Zeit gelindere Formen anzunehmen, umso mehr, als die Aussichten der Franzosen in einem Krieg mit Deutschland sich zusehends verschlechterten, da Frankreichs Bevölkerungszahl kaum wuchs, indes das deutsche Volk sich rapid vermehrte und schon dadurch immer mehr das Übergewicht über Frankreich erhielt. Im Jahre 1866 zählte das Gebiet des späteren Deutschen Reiches 40 Millionen, das Frankreichs 38 Millionen Einwohner. Wäre diesem 1870, wie es erhofft, Preußen allein gegenübergestanden, dann hätte sein Gegner bloß über 24 Millionen verfügt. Im Jahre 1910 dagegen zählt Frankreich bloß 39, Deutschland über 65 Millionen Einwohner. Daher die Furcht Frankreichs vor einem Kriege mit dem übermächtigen Deutschland, eine Furcht, die heute noch in den Bedingungen des Versailler Friedens nachwirkt. Daher auch sein Bedürfnis nach der Allianz mit Russland. Durch die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich fühlt sich Russland nach 1871 als Schiedsrichter zwischen beiden und somit als Herr des ganzen kontinentalen Europas. Im Vertrauen darauf wagt Russland 1877 den Krieg gegen die Türkei, bei dem es schließlich eine Hemmung in der Ausnutzung seines Sieges nur findet in England und Österreich. Auf dem Berliner Kongress 1878 muss sich Bismarck zwischen beiden Mächten und 28
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Russland entscheiden. Er macht sich vom Zaren selbstständig und unterstützt Österreich und England. Von da ab rückt Russland von Deutschland ab und knüpft immer enger werdende Beziehungen zu Frankreich an, so dass Bismarck trotz seiner starken russischen Sympathien immer mehr auf Österreich angewiesen wird, dem er Italien als Bundesgenossen hinzugesellt hat (1882), als die Franzosen Tunis besetzten und damit die nach diesem Lande schielenden Imperialisten Italien aufs tiefste verletzten. England bleibt außerhalb beider Kombinationen in „glänzender Isolierung“, aber eher auf Seite des Dreibundes, als des französisch-russischen Einvernehmens. Denn mit Frankreich gerät es in Differenzen wegen afrikanischer Aspirationen (Marokko und namentlich Ägypten mit dem Sudan). Russland gegenüber fand sein alter Gegensatz in Bezug auf die Türkei und namentlich auf Indien immer wieder neue Nahrung. Dagegen stand England in freundschaftlichem Verhältnis zu Österreich und Italien und in keinem ausgesprochenem Gegensatz zu Deutschland, dessen Lenker Bismarck bei den Konflikten Englands mit Frankreich einerseits, mit Russland anderseits die Gegensätze zwischen ihnen schürte, um dabei die Rolle des Schiedsrichters und lachenden Dritten zu spielen. Diese Politik war moralisch nicht sehr hochstehend, aber für das ökonomische Gedeihen Deutschlands ganz ersprießlich. Gerade in der Zeit des aufkommenden Imperialismus blieb Deutschland also von jedem Kriege verschont und konnte es seine Industrie, seinen Handel und auch seinen Kolonialbesitz erweitern dadurch, dass es die imperialistischen Konflikte der andern ausbeutete, ohne sich an ihnen zu beteiligen. Man sieht, auch im Zeitalter des Imperialismus vermochte ein Großstaat noch eine andere Politik zu machen, als eine Kriegspolitik. Allerdings gehörten dazu Staatsmänner mit etwas Grütze im Kopf und mit genügender Selbstständigkeit gegenüber den Interessen an einer imperialistischen Gewaltpolitik, die in Deutschland ebenso wenig fehlten, als anderswo, ja die gerade durch das Gedeihen der Friedenspolitik besonders erstarkten. Der fabelhafte ökonomische Aufschwung Deutschlands am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts gab die Mittel zu starken militärischen Rüstungen, er schuf eine Klasse gewalttätiger Industriemagnaten, namentlich der Schwerindustrie, zu denen sich als alte Gewaltpolitiker die Junker gesellten und der größte Teil der Intellektuellen, die von Berufswegen den Auftrag hatten, den Kriegsruhm der Hohenzollern zu verkünden, deutschen Größenwahn der gesamten Jugend einzuimpfen.
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Bismarcks Nachfolger Caprivi verfolgte noch die alte Politik, die den Frieden inmitten aller imperialistischen Konflikte der Umwelt erhalten hatte. Aber als Fürst Bülow 1997 zuerst Minister des Äußern (später 1900 Reichskanzler) und mit ihm Tirpitz Leiter des Reichsmarineamts wurde, bedeutete das eine völlige Neuorientierung der äußeren Politik, den Übergang zu einer Weltpolitik, die, wenn sie einen Sinn hatte, nur den haben konnte: Aufrichtung der Beherrschung der Welt durch Deutschland! In dem Maße, wie diese neuen Tendenzen klarer zutage traten, bewirkten sie nun auch eine völlige Änderung der Stellung der Welt gegenüber Deutschland. War sie bis dahin imperialistisch gespalten und gerade dadurch Deutschland in ihr der mächtigste Faktor gewesen, nach dem Spruche: divide et impera, so traten jetzt alle Gegensätze zwischen den einzelnen Staaten zurück hinter den einen großen Gegensatz gegen das Deutsche Reich, von dem sich alle bedroht fühlten. Den Anfang dieser verhängnisvollen Wandlung der deutschen Weltpolitik machte die Flottenvorlage von 1897, die das Wettrüsten mit England einleitete und nur dann erklärlich wurde, wenn sie dem Endziel der Niederwerfung der britischen Seeherrschaft diente. Das ist auch oft genug, namentlich von alldeutschen Blättern und Politikern als die Aufgabe der deutschen Seerüstungen bezeichnet worden. Damit erregte man die öffentliche Meinung Englands auf das äußerste gegen Deutschland. Im Zeitalter der napoleonischen Kriege hatte das britische Reich die Seeherrschaft errungen und keine Macht unternahm es seitdem, sie antasten zu wollen. Diese Herrschaft selbst hatte bald nach dem Wiener Frieden ihren Charakter erheblich geändert. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Großbritannien noch ein stark agrarisches Land gewesen, das zur Not sich selbst erhalten konnte. Ganz anders später. Als das industriellste aller Länder, sah es sich bald nicht bloß in Bezug auf Rohstoffe, sondern auch auf Ernährung mehr als irgendein anderes Gebiet auf starke Zufuhren von außen angewiesen. Noch 1850 war in England, Wales und Schottland allein (ohne Irland) die Landbevölkerung ebenso zahlreich, wie die städtische. Im Jahre 1911 dagegen machte die Bevölkerung der Städte in England mit Wales 78 Prozent, in Schottland 75 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Im 18. Jahrhundert war England ein Getreide ausführendes Land gewesen. Noch in den Anfängen des 19. Jahrhunderts genügte seine Weizenproduktion fast zur Deckung des heimischen Bedarfs. Im jährlichen Durchschnitt wurden im Jahrzehnt 1811 bis 1820 nur 400 000 Quarters Weizen 30
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eingeführt. Im Jahre 1850 brauchte man schon eine Zufuhr von fast 4 Millionen, 1909 das Zehnfache, bei einer Eigenproduktion von nur 7 Millionen. Ganze 84 Prozent des in England verbrauchten Weizens stammten kurz vor dem Kriege aus dem Auslande. Diese ganze Zufuhr erfolgte aber ausschließlich zur See. Das heißt, dass England im Falle eines Krieges dem Hungertode ausgeliefert wurde, sobald es nicht mehr die See beherrschte. Seine Seeherrschaft, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast bloß ein Mittel zur Ausdehnung und Sicherung seines Kolonialreiches bildete, also um modern zu reden, imperialistischen Zwecken diente, wurde immer unerlässlicher zur Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit des Landes. Die Seeherrschaft wurde für das britische Volk neben einer imperialistischen eine demokratische Forderung, wenigstens solange, als nicht allgemeine Abrüstung und Abschaffung der Kriege möglich waren – pazifistische Ziele, die gerade wegen der durch einen Krieg gefährdeten Lage des Landes, bei der Masse der englischen Bevölkerung, nicht bloß Sozialisten, sondern auch Liberalen sehr populär wurden. Da der Gedanke der Seeherrschaft in England nicht allein von imperialistischen, sondern auch von demokratischen Schichten getragen wurde, fand diese Herrschaft auch eine sehr liberale, durchaus nicht protektionistische oder gar monopolistische, sondern eine freihändlerische Anwendung, nach dem Grundsatz der offenen Tür. Dadurch erreichte es England, dass während des ganzen 19. Jahrhunderts kein Staat Miene machte, seine Seeherrschaft zu bedrohen. Nur Deutschland begann die Politik der Bedrohung am Ende des 19. Jahrhunderts, als Englands Lebensinteresse jene Herrschaft weit entschiedener forderte, als zur Zeit Napoleons I. Wer England und die Engländer kennt, musste wissen, dass die deutsche Politik der Flottenrüstungen allein schon genügte, immer zahlreichere Schichten der Bevölkerung Englands dem Gedanken zugänglich zu machen, Deutschland um jeden Preis zum Einstellen dieser Rüstungen zu bringen, wenn es nicht anders ging, durch einen Krieg, der Dank der früheren deutschen Politik auch Frankreich und Russland als Gegner Deutschlands auf den Plan zu bringen drohte. Herr v. Bülow, der diese verhängnisvolle Politik inaugurierte, gesteht selbst ein, dass sie Deutschland mit dem Kriege bedrohte. In seinem 1916 erschienenen Buche über „Deutsche Politik“ schreibt er: „Während der ersten zehn Jahre nach der Einbringung der Marinevorlage von 1897 und dem Beginn unserer Schiffsbauten wäre eine zum Äußersten entschlossene englische Politik wohl in der Lage gewesen, die Entwicklung
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Deutschlands zur Seemacht kurzerhand gewaltsam zu unterbinden, uns unschädlich zu machen, bevor uns die Krallen zur See gewachsen waren... Und im achtzehnten Monat des Krieges konstatiert die „Frankfurter Zeitung“, England habe, als es zur kriegerischen Auseinandersetzung gekommen war, die trübe Wahrnehmung machen müssen, dass es trotz aller Einkreisungspläne den rechten Augenblick versäumt hatte, wo es den gefürchteten Mitbewerber hätte klein machen können. (S. 40)“
Also die Flottenpolitik wurde unternommen auf die Gefahr hin, dass sie England zum Kriege gegen Deutschland reize. Wenn es da zu einem solchen nicht kam, war nicht die deutsche Politik daran schuld, sondern die Zurückhaltung Englands, das der gewaltsamen Niederschlagung des drohenden Gegners durch einen Krieg seine sogenannte Einkreisung vorzog, d. h. die Förderung seiner Isolierung, die aus Deutschlands Weltpolitik hervorging. Das unheilvolle Wirken der ebenso sinnlosen wie provozierenden Flottenpolitik Deutschlands wurde noch verstärkt durch seine hartnäckige Sabotierung aller Versuche, zu einer internationalen Verständigung über eine allgemeine Einschränkung der Kriegsrüstungen zu kommen, und internationale Konflikte auf friedlichem Wege durch Schiedsgerichte zu beseitigen. Das zeigte sich schon bei der ersten Haager Konferenz von 1899, die diesen Zielen galt. „Gerade in den Tagen der Haager Konferenz hielt der Deutsche Kaiser seine Wiesbadener Rede, in der er ein „scharf geschliffenes Schwert“ als die beste Friedensgarantie erklärt.“ (Fried, Handbuch der Friedensbewegung, S. 171.)
Auf dieser Konferenz war der deutsche Delegierte nicht einmal dazu zu bewegen, der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit wenigstens für Entschädigungsforderungen und juristische Streitigkeiten zuzustimmen. Selbst diese geringfügige Einschränkung der Austragung internationaler Konflikte durch Gewalt scheiterte an dem Widerstande Deutschlands, das später auch alle Versuche zurückwies, zu einer Begrenzung der Rüstungen zu kommen. Kein Wunder, dass Deutschland in der Welt immer verhasster wurde, nicht bloß bei den mit der deutschen Macht rivalisierenden Imperialisten, sondern auch bei den Verfechtern des Völkerfriedens und der Völkerfreiheit. Die Rolle, die bis dahin das Zarentum gegenüber der europäischen Demokratie, als ihr schlimmster gemeinsamer Feind, gespielt, die fiel nun immer mehr der deutschen Militärmonarchie zu. Eine sinnlosere Politik war kaum möglich. Sie musste verurteilt werden, nicht bloß vom Standpunkte des internationalen Sozialismus, sondern selbst vom Standpunkte eines Imperialismus, der mit den gegebenen Machtverhältnissen rechnete. Eine vernünftige deutsche imperialistische Politik durfte auf keinen Fall derart sein,
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dass sie die Feindschaft der beiden neben Deutschland in Europa entscheidenden Mächte England und Russland, gleichzeitig hervorrief. Sie musste entweder, um ihre Ziele im Gegensatz zu Russland und dem mit diesem verbündeten Frankreich zu erreichen, Englands Unterstützung gewinnen, was vor allem Verzicht auf das Flottenwettrüsten bedeutete. Dies hätte, dem Charakter der englischen Politik entsprechend, geheißen, dass der Grundsatz der offenen Tür in der ganzen Welt zum Durchbruch kam – was für Deutschlands Industrie die glänzendsten Aussichten bot. Freilich, eine eigentlich imperialistische Politik nach dem Herzen der Schwerindustriellen, Monopolisten und der Militaristen wäre es nicht gewesen. Denen lag vor allem an einer Ausdehnung auf Kosten Englands. Dann aber musste man darüber mit Russland zu einer Verständigung kommen. Ein mit Russland verbündetes und damit auch gegen die französische Gefahr mehr gesichertes Deutschland hätte ruhig das Flottenwettrennen mit England aufnehmen können. Im Kriegsfalle konnten ihm die Engländer nichts Erhebliches antun. Sie mochten seine Kolonien besetzen, seinen Seehandel unterbinden, nicht aber Deutschland aushungern. Dieses dagegen war imstande, auf dem Lande mit Hilfe Russlands die Grundlagen von Englands Weltstellung zum Zusammenbruch zu bringen und das zu erreichen, was auf anderem Wege Napoleon I. vergeblich versucht, Ägypten zu besetzen und nach Indien vorzudringen. Geradezu toll dagegen war es, dies Ziel der Niederwerfung Englands nicht im Verein mit Russland, sondern im Krieg mit Russland, mit Frankreich, mit der ganzen Welt, anzustreben. 3. Deutsche Provokationen. Zunächst freilich bedeutete die deutsche Politik noch nicht den Krieg Deutschlands gegen die ganze Welt, wohl aber die Gefahr eines solchen Krieges. Je stärker die Einkreisung, je größer die Isolierung Deutschlands, desto dringender heischte daher sein Interesse, dass es jede Provokation unterließ, die es in einen Krieg verwickeln konnte. Ein Marxist, der da behauptet, der Imperialismus hätte auf jeden Fall den Krieg gebracht, wie immer die deutsche Politik war, erinnert an einen Verteidiger dummer Jungen, die sich damit vergnügten, brennende Zündhölzer in ein Pulverfass zu werfen. Nicht die Jungens, meint der Verteidiger entschuldigend, hätten die zerstörende Explosion verschuldet, die ihrem Treiben folgte: Schuld sei das Vorhandensein des Pulvers im Fass. Wäre Wasser 33
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drin gewesen, hätte nichts passieren können. Stimmt. Nur wussten in unserem Falle die Jünglinge, dass Pulver im Fass war, ja, sie hatten selbst einen recht erheblichen Teil davon hineingetragen. Man kann sagen, dass die Provokationen aus Deutschland um so zahlreicher wurden, je größer seine Isolierung und je bedrohlicher die Gefahr des Weltkrieges. Gerade die wachsende Gefahr vermehrte die Erbitterung auf beiden Seiten, im Auslande, wie in Deutschland, sie bildete einen neuen Antrieb zur Vermehrung der Rüstungen und damit zum Erstarken der kriegerischen Elemente. Sie vermehrte in verhängnisvoller Weise die Zahl derjenigen, die den Krieg für unvermeidlich hielten, und daher beinahe drängten, dass er bei günstiger Gelegenheit vom Zaune gebrochen werde als Präventivkrieg, wenn die Umstände das eigene Land begünstigten und die Gegner hemmten. In Deutschland wuchs aber auch mit der Kriegsrüstung das Vertrauen zu ihrer Kraft, machte sich in vielen Kreisen ein wahrhafter Größenwahn geltend, der sich stützte auf die preußische Kriegsgeschichte, die seit anderthalb Jahrhunderten mit Ausnahme Jenas fast nur Siege zu verzeichnen hatte. Namentlich die alldeutschen Kreise konnten sich in provokatorischen Äußerungen nicht genug tun. Sie erhielten ernsthafte Bedeutung dadurch, dass die Kreise des Alldeutschtums den entschiedensten Teil gerade jener gesellschaftlichen Schichten darstellten, die Deutschland beherrschten und denen seine Regierung entsprang. Das Übel wurde noch verstärkt durch die Persönlichkeit des Kaisers, der durch und durch militärisch denkend, dabei oberflächlich und maßlos eitel, auf Theatereffekte erpicht, vor den herausforderndsten Gesten und Reden nicht zurückschreckte, wenn er glaubte, damit seiner Umgebung zu imponieren. Wir haben schon gesehen, dass er in den Tagen der ersten Haager Friedenskonferenz im Gegensatz zu Schiedsgerichten und Abrüstung ein scharf geschliffenes Schwert für die beste Friedensgarantie erklärt. Ein Jahr darauf proklamiert er vor den nach China ziehenden Truppen in Bremerhaven, 27. Juli 1900, folgende schönen Grundsätze der Kriegführung: „Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht.. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht... so möge der Name Deutscher jetzt in China auf tausend Jahre in einer Weise betätigt werden, dass es niemals ein Chinese wieder wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“
Wenn später im Weltkriege die Art der deutschen Kriegführung auf ein bei kaltem Blut ersonnenes System von Grausamkeit zurückgeführt wurde, das 34
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den Deutschen den Namen von Hunnen eintrug, darf sich das deutsche Volk dafür bei seinem Kaiser bedanken. Wurde durch solche Äußerungen der Abscheu vor dem deutschen Volke bei allen human denkenden Menschen großgezogen, so trug Wilhelm gleichzeitig keine Bedenken, auch den Imperialisten des Auslandes die Fehde anzusagen. Den Anfang machte 1896 das Telegramm an den Burenpräsidenten Krüger, in dem Wilhelm in dem beginnenden Konflikt zwischen England und den Buren offen diese seiner Freundschaft versicherte. Bald darauf, 1998, proklamierte der sich als den Schutzpatron der 300 Millionen Mohammedaner der Erde. Das galt denen des von Frankreich beherrschten Algier ebenso wie den unter englischer Herrschaft in Ägypten und Indien lebenden, den Mohammedanern in Russland und den von diesem Staate bedrohten Mohammedanern der Türkei. Es war nur eine Fortsetzung dieser herausfordernden Politik, wenn Wilhelm, als Frankreich begann, Interesse für Marokko zu betätigen, 1905 in Tanger dem Sultan von Marokko seinen Schutz gegen jedermann zusagte, der seine Unabhängigkeit bedrohe, und später, 1911, ebenfalls um des gleichen Streitgegenstandes willen, plötzlich ein Kriegsschiff vor den marokkanischen Hafen Agadir schickte. Beide Male ward so der Weltfriede in Frage gestellt. Die Sache wurde nicht besser dadurch, dass Wilhelm jedesmal, wenn es galt, die Drohung wahr zu machen, die Courage verlor und diejenigen im Stiche ließ, die er seines Schutzes versichert hatte. So den Sultan von Marokko und besonders würdelos die Buren. Das trug nur dazu bei, dass sich zum Hass noch die Missachtung gesellte. Bei diesen Konflikten waren es auf beiden Seiten Imperialisten, die gegeneinander standen. Bei dem Kampf des großen England gegen die kleinen Burenrepubliken hatte sich die öffentliche Meinung der ganzen zivilisierten Welt einmütig auf die Seite der Kleinen und Schwachen gestellt. In den Marokkokonflikten waren die Arbeiter Deutschlands wie Frankreichs in vollster Übereinstimmung ihren Regierungen entgegengetreten und hatten damit nicht wenig zur Erhaltung des bedrohten Weltfriedens beigetragen. Durch diese Haltung des sozialistischen Proletariats wurde das Unberechenbare, Sprunghafte, Provokatorische der deutschen Weltpolitik etwas gemildert.
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4. Österreich. Die Regierung Deutschlands begnügte sich jedoch nicht damit, Dummheiten auf eigene Faust zu machen. Sie fühlte sich auch gedrängt, die Dummheiten der österreichischen Politik zu decken, die ebenfalls drohten, einen Weltkrieg zu entzünden, aber nicht um überseeischer Objekte, sondern um der Unabhängigkeit europäischer Staaten selbst willen, die durch Österreich direkt bedroht wurden. Durch seine Weltpolitik hatte Deutschland es erreicht, dass es fast keinen Freund unter den selbstständigen lebensfähigen Staaten Europas mehr besaß. Selbst das Verhältnis zu dem verbündeten Italien war ein recht kühles geworden. Nur zwei Staaten blieben ihm eng befreundet, zweit Staaten, die ihre Lebensfähigkeit verloren hatten, so dass sie nur durch einen starken Helfer von außen sich noch zu behaupten vermochten, Österreich und die Türkei. Der Staat der Habsburger wie der des Sultans von Konstantinopel waren jeder ein Nationalitätenstaat, der nicht durch gemeinsame Interessen seiner Nationalitäten, nicht durch eine Überlegenheit an Wohlstand und Freiheit zusammengehalten wurde, sondern nur durch militärischen Zwang. Dieser Typus des Nationalitätenstaates wurde immer unverträglicher mit der modernen Demokratie, die unwiderstehlich unter dem Einfluss der modernen Verkehrsentwicklung wächst. Österreich und die Türkei, wenigstens die europäische, waren also rettungslos dem Untergange verfallen. So wenig merkten das die leitenden deutschen Staatsmänner, dass sie gerade diese Staaten zu ihrer einzigen Stütze machten – aber freilich, welche andere wäre ihnen bei ihrer Weltpolitik geblieben? Diese beiden Staaten standen in überliefertem Gegensatz zu Russland, das nach dem Zugang zum Mittelmeer, nach Konstantinopel strebte, das aber wiederholt erfahren hatte, dass es direkt dahin nicht zu gelangen vermöge. Es entschied sich daher zu dem Umweg, die Türkei in eine Reihe selbstständiger kleiner Nationalstaaten aufzulösen, von denen es hoffte, dass sie, die durch die Religion und zum Teil – bei Serben und Bulgaren – auch durch die Sprache dem russischen Volke sehr nahe gebracht waren, Vasallenstaaten des Zarentums würden. Im Gegensatz zur österreichischen und türkischen Regierung begünstigte es die nationalen Selbstständigkeitsbewegungen auf dem Balkan, und es arbeitete dabei auf der Linie des notwendigen historischen Fortschritts, indes jene Regierungen sich ihm widersetzten. Derselbe Monarch, den die eigenen Untertanen als Henker und Blut-Zar 36
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verfluchten, wurde auf dem Balkan als „Zar-Befreier“ begrüßt. Seine Ziele hätte der russische Imperialismus bei den Balkanvölkern freilich nicht erreicht. Je mehr deren Kraft und Unabhängigkeit vom Sultan wuchs, um so selbstständiger mussten sie auch dem Zaren gegenüber werden. Sie fühlten sich von ihm nur so lange angezogen, als sie seines Schutzes bedurften; so lange ihre Unabhängigkeit von anderer Seite bedroht wurde. Diese andere Seite wurde in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege immer mehr Österreich. Angesichts der wachsenden nationalen Bewegungen der Rumänen und Südslaven im eigenen Lande, die namentlich von der magyarischen Herrenschicht schwer bedrückt wurden, erschien den Leitern der österreichisch-ungarischen Monarchie ein starkes Serbien und Rumänien an ihren Grenzen als höchst gefährlich. Nicht minder waren den Agrariern der Monarchie, auch da wieder in erster Linie den ungarischen, die agrarischen Exportgebiete Serbiens und Rumäniens ein Dorn im Auge. Und endlich waren es die Imperialisten, Militärs, Bürokraten, Kapitalisten Österreichs, die den Weg nach Saloniki beherrschen wollten, denen die Existenz eines selbstständigen Serbiens als ein Hindernis erschien, dessen Beseitigung sie wünschen mussten. Die Politik aller dieser österreichischen Elemente drängte Serbien und Rumänien in die Arme Russlands. Wenn die österreichischen Staatsmänner glaubten, Serbien zerschmettern zu müssen, um den russischen Intrigen auf dem Balkan einen Riegel vorzuschieben, so lag die Sache in Wirklichkeit gerade umgekehrt. Eben durch ihre Feindschaft gegen Serbien stärkten die Österreicher dort erst den russischen Einfluss. Um ihn auszuschalten, mussten die Leiter Österreichs eine Politik des Entgegenkommens gegen die Serben und Rumänen im eigenen Lande und gegen die benachbarten Staatswesen Serbien und Rumänien betreiben. Ein solches Vorgehen war für die Herrschenden Österreich-Ungarns unmöglich. Sie hätten, um in dieser Weise den Staat zu retten, ihren eigenen Augenblicksinteressen zuwiderhandeln müssen. Vermochte nicht die demokratisch-nationale und proletarische Opposition im österreichischen Staatswesen jene Herrschenden zu stürzen, dann war es verloren, ebenso wie die Türkei, und verloren derjenige, der sich mit diesem Staate auf Gedeih und Verderb verband. Dabei aber fühlte sich Österreich noch als Großmacht, wollte sich noch selbstständig gebärden, machte immer wieder Anläufe zu einer selbstständigen Politik, die bei seinen wachsenden inneren und äußeren Schwierigkeiten immer verkehrter wurde. 37
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Die Sache gestaltete sich nicht besser durch die persönlichen Regierungsverhältnisse des Staates. An seiner Spitze stand ein Herrscher, der nie über hervorragende Geisteskräfte verfügt hatte, den das Alter und eine Reihe der härtesten Schicksalsschläge aufs äußerste ruhebedürftig machten und dessen Regime den Charakter der Senilität bekommen hatte. Aber sein Unglück wollte, dass die Völker Österreichs diesem Ruhebedürfnis in keinerlei Weise Rechnung trugen, dass ihre Empörung gegen den unmöglichen Staat, in den sie eingepresst waren, immer mehr wuchs. Unter dem Eindruck dieser wachsenden Unruhe im Reich zeitigte das senile Ruhebedürfnis die widersprechendsten Erscheinungen: es führte mitunter zu überraschender Nachgiebigkeit. Diese konnte aber nicht die gewünschten Resultate haben, die Völker zu beruhigen, da sie sich stets nur auf Einzelpunkte bezog, nur Flickwerk schuf. Zu einer durchgreifenden Reform war dieses Regime unfähig. Erzielte aber die Nachgiebigkeit nicht die gewünschte Beruhigung, dann entfesselte das Ruhebedürfnis die äußerste Strenge, um durch Gewalttat die Ruhestörer niederzuwerfen. Galt das zunächst von der inneren Politik, so wurde auch die äußere dadurch betroffen. Diese stand mit der äußeren in Österreich in engstem Zusammenhang schon dadurch, dass von den acht Nationalitäten des Reiches nur zwei ausschließlich innerhalb seiner Grenzen wohnten, indes die andern zu erheblichem Teil außerhalb dieser Grenzen lebten, manche in selbstständigen Nationalstaaten organisiert. Beeinflussten schon die nationalen Bestrebungen der Rumänen, Ruthenen, Polen die äußere Politik Österreichs, so geschah dies noch mehr durch die italienische und südslawische Irredenta. Zu alledem kam nun noch, dass Österreich neben seinem Kaiser einen zweiten Herrscher bekam, den Erzherzog Franz Ferdinand, dem 1896 das Recht auf die Thronfolge zufiel, fast um dieselbe Zeit, als Deutschland seine verhängnisvolle Flottenpolitik begann. Die imperialistischen Bestrebungen, die damals alle größeren Staaten erfassten, begannen sich seitdem auch in Österreich zu regen. Sie konnten sich aber keine überseeischen Objekte wählen. Gleich dem russischen strebte auch der österreichische Imperialismus nach Ausdehnung durch Erweiterung seiner Landesgrenzen. Das konnte er am besten erreichen im Süden, durch Gewinnung des Weges nach Saloniki, was die Verwandlung Albaniens und Serbiens in eine österreichische Kolonie erheischte. Was kein Staat in Europa seit 1871, seit der Annexion Elsass-Lothringens mehr wagte, sich eine politisch selbstständige Bevölkerung wider ihren Willen gewaltsam anzugliedern, das wollte das altersschwache, aber freilich große Österreich dem jugendkräftigen, doch kleinen Serbien gegenüber durch dessen systematische Misshandlung erreichen. 38
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Der junge, energische, ja rücksichtslose Franz Ferdinand, der kein Ruhebedürfnis kannte, kein Schwanken zwischen Nachgiebigkeit und Gewalt, sondern der allein auf die Gewalt baute, wurde der Träger dieser imperialistischen Bestrebungen, denen er umso mehr Nachdruck zu geben vermochte, je mehr bei zunehmendem Alter des Kaisers der Einfluss des Thronfolgers auf das Militär und die äußere Politik wuchs, die Franz Ferdinand seit 1906, seit der Ersetzung Goluchowskis durch Aehrenthal, bestimmte. Unwissende Draufgänger, scheuten Franz Ferdinand und seine Werkzeuge vor den schlimmsten Provokationen nicht zurück, unbekümmert darum, dass sie dadurch Russland, den Schützer Serbiens, herausforderten und so den Weltfrieden gefährdeten. Was kümmerte sie der, so lange der große deutsche Bruder mit seiner gewaltigen, gepanzerten Faust hinter ihnen stand! Und der stand hinter ihnen, weil seine eigene Weltstellung bedroht war, wenn die einzige Militärmacht von Bedeutung, auf die er bauen konnte, an Kraft oder Ansehen verlor. 5. Die Balkankrisen Die erste der frivolen Gefährdungen des Weltfriedens durch Österreich geschah im Herbst 1908, als es ohne Not die von ihm bis dahin seit 1878 für die Türkei verwalteten Gebiete, Bosnien und die Herzegowina annektierte, unter schamlosem Vertragsbruch gegenüber der Türkei und unter grober Verletzung des nationalen Empfindens der Südslawen, die jene Behandlung der Bosnier als einfache Besitzgegenstände, die nach Belieben getauscht oder geraubt werden durften, aufs äußerste erbittern musste. Die Gefahr eines Weltkrieges wurde damals dadurch heraufbeschworen, dass Russland sich auf dem Balkan zurückgedrängt sah, wenn es keine Kompensation erhielt. Doch auch bei den übrigen Staaten Europas, namentlich bei England, rief die freche Zerreißung des Vertrages von 1878 die lebhaftesten Proteste hervor. Österreich hätte klein beigeben müssen, wäre ihm das Deutsche Reich nicht zur Seite gestanden. Diese Haltung legte bereits den Grund zum späteren Weltkrieg, trotzdem haben deutsche Politiker sie noch während dieses verteidigt, freilich noch vor dem Zusammenbruch. Fürst Bülow rühmt sich in seinem bereits zitierten Buche über „Deutsche Politik“ seiner damaligen Haltung: „Ich ließ in meinen Reichstagsreden wie in meinen Weisungen an unsere Vertreter im Auslande keinen Zweifel, dass Deutschland entschlossen sei, in Nibelungentreue und unter allen Umständen am Bündnis mit Österreich-Ungarn
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festzuhalten. Das deutsche Schwert war in die Waagschale der europäischen Entscheidung geworfen, unmittelbar für unseren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, mittelbar für die Erhaltung des europäischen Friedens und vor allem und in erster Linie für das deutsche Ansehen und die deutsche Weltstellung.“ (S. 60)
Das war also die Methode, mit der das alte Regime den Frieden zu erhalten suchte: es sah seine Aufgabe nicht darin, frivole Provokationen des Bundesgenossen zu verhindern, sondern darin, für ihn das deutsche Schwert in die Waagschale zu werfen. Und dadurch, wie durch Gutheißung des Vertragsbruches glaubte es für „das deutsche Ansehen“ in der Welt zu wirken! Noch entzückter äußert sich Hashagen in seinem Büchlein über „Umrisse der Weltpolitik“, das im gleichen Jahre wie Bülows Buch erschien: „Für die Festigung des beiderseitigen Bündnisses ist es ein unschätzbarer Vorteil, dass die Annexion Bosniens und der Herzegowina bald eine so gewaltige internationale Hetze nicht nur gegen Österreich-Ungarn, sondern auch gegen Deutschland entfesselt. Erst diese Hetze hat die beiden Bundesgenossen in ein völlig unauflösliches Verhältnis zueinander gebracht.“ (II. S. 6)
In der Tat, welch sinnreiche Politik, die in dem Entfesseln einer gewaltigen internationalen Hetze gegen sich selbst einen unschätzbaren Vorteil deshalb erblickt, weil dadurch Deutschland vollkommen der Gefangene des innerlich völlig bankerotten Österreich wurde! Das „deutsche Schwert“ hat 1908 und 1909 den Weltfrieden deshalb erhalten, weil Russland die Demütigung, die damals Serbien und damit ihm selbst zugefügt wurde, ruhig hinnehmen musste. Denn noch blutete es aus allen Wunden, nach der Niederlage im Kriege mit Japan und nach der Revolution. Serbien musste am 31. März 1909 in einer demütigen Note geloben, dass es sich bessern und auf seine Politik des Protestes gegen die Annexion verzichten werde. Aber natürlich gab sich Russland auf dem Balkan nicht endgültig geschlagen. Das isolierte Serbien hatte vor Österreich zurückweichen müssen. Der russischen Staatskunst gelang es jetzt, ein Bündnis zwischen den Regierungen des Balkan zustande zu bringen. Eine Föderation der Balkanvölker in einer gemeinsamen Republik war seit Jahren die Forderung der südslawischen Sozialisten. Sie bot die beste Möglichkeit, den Völkern des Balkan die größte Selbstständigkeit gegenüber der Türkei und Österreich, wie auch Russland zu sichern. Der russischen Politik war an der Herstellung eines solchen Gebildes natürlich nicht das mindeste gelegen. Im Gegenteil. Wie so oft, verstand sie es aber auch diesmal, die Kraft für sich auszunutzen,
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die einer in der Richtung der notwendigen Entwicklung wirkenden Idee entspringt. Sie schuf einen Bund nicht der Balkanvölker, wohl aber der Balkanfürsten, mit dem Ziele, der Herrschaft der Türken in Europa ein Ende zu machen. Im Oktober 1912 kommt es zum Kriege der Verbündeten, Serbiens, Bulgariens, Griechenlands, Montenegros gegen die Türkei. Diese wird leicht geschlagen, und die Mächte Europas finden sich damit ab, dass die Sieger die Beute unter sich teilen unter der Parole: der Balkan den Balkanvölkern. So scheint trotz des südöstlichen Wetterwinkels der Weltfriede erhalten zu bleiben. Da tritt wieder Österreich auf den Plan und gefährdet ihn, indem es abermals dem verhassten Serbien einen Fußtritt versetzt, es zwingt auf den Zugang zum Adriatischen Meer zu verzichten, den es sich erstritten hat. Diesmal wird es ernsthafter als 1908. Österreich wie Russland mobilisieren im Februar 1913. Doch die Mobilisierung bedeutet nur die Vorbereitung zum Kriege, nicht den Krieg selbst. England vermittelt, und Russland gibt abermals nach. So wird die Mobilisierung wieder zurückgenommen im März. Der Friede bleibt erhalten. Serbien muss auf den Zugang zur Adria verzichten. Auf diese Weise ist eine neue gefährliche Spannung geschaffen. Serbien sucht sich schadlos zu halten auf Kosten Bulgariens in Mazedonien. Es findet Bundesgenossen in Griechenland und Rumänien. Ihrem vereinten Vorgehen gelingt es, Bulgarien niederzuwerfen und zu verkleinern. Doch auch diesmal noch bleibt der Weltfriede gewahrt. Europa hütet sich zu intervenieren. So kommt es am 10. August 1913 zum Frieden von Bukarest. Man hofft, dass nun der Balkan zur Ruhe kommt und damit der Friede der Welt für langehin gesichert sei – just ein Jahr vor Beginn des Weltkrieges! Österreich freilich gefiel der Bukarester Friede nicht. Es verlangte von Italien die Genehmigung zu einer „vorbeugenden Defensivaktion“ gegen Serbien. Italien erstickte die Idee im Keime. Man darf mit Fürst Lichnowsky annehmen, dass Marquis San Giuliano, der den Plan eine „pericolosissima aventure“ – ein höchst gefährliches Abenteuer – nannte, uns davor bewahrt hat, schon im Sommer 1913 in einen Weltkrieg verwickelt zu werden. Doch auch bei der deutschen Regierung fand Österreich in diesem Falle keine Gegenliebe. Man vergesse nicht, dass in Rumänien ein Hohenzoller herrschte. Deutschland schützte daher zunächst den Bukarester Vertrag. Darauf bezieht sich wohl die Bemerkung über „die Eingenommenheit dieses hohen Herrn (Wilhelm) für Serbien“ in der dem österreichischen Kaiser überreich-
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ten Denkschrift Tiszas vom 1. Juli 1914. (Österreichisches Rotbuch zur Vorgeschichte des Krieges, 1919. I. S. 18) Doch die Regierer Österreichs beruhigten sich nicht. Sie bohrten unablässig an dem durch den Bukarester Frieden geschaffenen Zustand, und es gelang ihnen schließlich, Deutschland herumzukriegen. Während so die beiden Verbündeten eine Politik verbreiteten, die im Weltkriege enden sollte, verstanden sie es aufs trefflichste, ihm dadurch zu präludieren, dass sie sich nicht nur um alle Allianzen mit den Regierungen, sondern auch um alle Sympathien bei den Völkern brachten. ÖsterreichUngarn bekämpfte die auf größere Freiheit gerichteten Bestrebungen in Kroatien und Bosnien nicht nur mit einem Schreckensregiment, sondern auch mit Prozessen und mit einer Propaganda, die so skrupellos und dabei so unsagbar dumm geführt wurde, dass sie sich nachweisen lassen musste, namentlich im Prozess Friedjung 1909, sie arbeitete mit Dokumenten, die gefälscht waren, und obendrein in der österreichischen Gesandtschaft in Belgrad gefälscht, unter der Ägide des Grafen Forgach, der 1914 am Ultimatum an Serbien und damit an der Entfesselung des Weltkrieges verhängnisvoll beteiligt sein sollte. Aber noch schlimmer waren die „moralischen Eroberungen“, die Deutschland unmittelbar vor dem Kriege in der Welt durch die Zaberner Affäre vom November 1913 machte, die deutlich bewies, dass im Deutschen Reich die Zivilbevölkerung dem Militär gegenüber vogelfrei sei und dieses die Zivilregierung völlig beherrschte. Um die Jahrhundertwende hatte wohl die Dreyfus-Affäre gezeigt, dass der französische Militarismus an Bedenkenlosigkeit und Anmaßung auch Hervorragendes leistet. Aber diese Affäre hatte nach hartem Kampfe mit dem Sieg der Zivilregierung geendet, indes in Deutschland die Zaberner Affäre mit der Unterwerfung der Zivilbehörden abschloss. Überdies aber hatte diese Affäre den Erfolg, von neuem wieder die Wunde Elsass-Lothringens in Frankreich aufzureißen, die begonnen hatte zu vernarben. So gingen Deutschland und Österreich dem Weltkriege entgegen, beladen mit dem Weltruf der Lüge, der Fälschung, der Gewalttätigkeit, der Diktatur des Säbels, der Rechtlosigkeit der annektierten Provinzen. 6. Die Lage vor dem Kriege. Die Verteidiger des alten Regimes meinen, man müsse bei der Untersuchung der Schuldfrage nicht bloß die letzten Wochen vor dem Kriege heranziehen,
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sondern auch die Jahre vorher in Betracht nehmen. Wie man sieht, wird seine Position dadurch keineswegs verbessert. Schon jahrelang vor dem Weltkrieg war die Politik der Zentralmächte eine solche, dass der Weltfriede nicht durch sie, sondern nur noch trotz ihnen erhalten blieb. Diese Politik nahm zuerst bestimmte Formen unter Leitung Bülows an, sie wurde fortgesetzt von Bethmann Hollweg, unter dem sie zur Katastrophe führte. Es bleibe ununtersucht, inwieweit diese Männer dabei als Triebkraft tätig waren, wieweit als bloße Handlanger ihres Herrn, der selbst wieder von seiner Umgebung geschoben war, so sehr er sich einbilden mochte, die ganze ungeheure Reichsmasse zu schieben. Dieser bestimmte Zusammenhang wird nicht aufgehoben durch einen Hinweis auf die allgemeinen imperialistischen Tendenzen des Zeitalters, die sich in allen Staaten zeigten. Andererseits aber darf man diesen bestimmten Zusammenhang nicht zu einer Generalisation in der Art erweitern, als gehöre es etwa zu den Natureigenschaften des deutschen Volkes, nach der Weltherrschaft zu streben und durch brutale Gewalt um seine Ziele zu ringen. Imperialistische Tendenzen finden sich bei allen kapitalistischen Regierungen der Großmächte. Ob sie die eine oder andere dieser Regierungen veranlassen, einen Krieg zu entzünden, hängt ab von der Gelegenheit, der internationalen Lage, den Machtmitteln, sowohl den eigenen wie denen der Bundesgenossen und nicht zum wenigsten auch von der inneren Lage, vor allem der politischen Kraft und Selbstständigkeit der Arbeiterklasse. Nicht immer waren es Deutschland und Österreich, die den Weltfrieden gefährdeten. Im Jahre 1902 veröffentlichte ich eine Schrift über „die soziale Revolution“. Dort bemerkte ich: „Die einzige Friedensbürgschaft liegt heute in der Angst vor dem revolutionären Proletariat. Es bleibt abzuwarten, wie lange diese den sich häufenden Konfliktursachen gegenüber standhalten wird. Und es gibt eine Reihe von Mächten, die noch kein selbstständiges revolutionäres Proletariat zu fürchten haben, und manche von ihnen werden völlig von einer skrupellosen, brutalen Clique von Männern der hohen Finanz beherrscht. Diese Mächte, bisher in der internationalen Politik unbedeutend oder friedliebend, treten jetzt als internationale Störenfriede immer mehr hervor. So vor allem die Vereinigten Staaten, daneben England und Japan. Russland figurierte ehedem in der Liste der internationalen Störenfriede an erster Stelle, sein heldenmütiges Proletariat hat es augenblicklich von ihr abgesetzt. Aber ebenso wie der Übermut eines im Innern schrankenlosen Regimes, das keine revolutionäre Klasse in seinem Rücken scheut, kann auch die Verzweiflung eines wankenden Regimes einen Krieg entzünden, wie es 1870 bei Napoleon III. der Fall war und vielleicht noch bei Nikolaus II. der Fall sein wird. Von diesen Mächten und ihren Gegensätzen und nicht etwa
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von dem zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Österreich und Italien, droht heute dem Weltfrieden die größte Gefahr.“ (I. S. 53.)
Das wurde geschrieben unter dem Eindruck des Krieges der Japaner gegen China (1894), der Amerikaner gegen Spanien (1898), der Engländer gegen die Buren (1899-1902). Und der Krieg zwischen Russland und Japan bereitete sich bereits vor. Wohl war auch die neue deutsche Weltpolitik schon eingeleitet, aber noch zeigte sie nicht ihre Gefährlichkeit. Doch in den späteren Auflagen meiner Schrift habe ich den hier zitierten Passus gestrichen, denn inzwischen zeitigte die deutsche Politik ihre Konsequenzen, und in dem Maße, als diese mehr zutage traten, hörten die früheren internationalen Störenfriede auf, als solche zu wirken und traten die Zentralmächte an ihr Stelle. Betrachtet man die imperialistischen Tendenzen als unmoralische und glaubt man, dass es sich bei der Entscheidung der Schuldfrage um ein moralisches Urteil handle, dann mag man mit Recht darauf hinweisen, dass Mönch und Rabbi, Zentralmächte und Entente, beide stinken. Anders steht es, wenn man die Frage der Schuld am Kriege nicht als eine der Moralität, sondern der Kausalität auffasst und fragt, welche bestimmte Politik diesen bestimmten Krieg hervorgerufen hat. Dann wird man vielleicht nicht zu einer moralischen, sicher aber zu einer politischen Verurteilung bestimmter Personen und Institutionen kommen. Indes auch nur dieser, nicht etwa des gesamten Volkes, das von ihnen beherrscht wurde und das nach ihrer Beseitigung naturgemäß ganz andere Tendenzen entwickeln muss. Der deutsche Professor hat das deutsche Volk in den Zeiten seiner größten militärischen Kraft verhasst, in den Zeiten seiner Niederlage lächerlich gemacht, wenn er es als ein Volk idealer Helden hoch über die Engländer stellte, von denen er verächtlich als einem Volke schmutziger Händler sprach. Aber ebenso wenig, wie die Deutschen mehr Helden sind, als ein anderes Volk, sind sie mehr händelsüchtige Raufbolde als ihre Gegner im Weltkriege. Eines ist allerdings zuzugeben: Zeigten die Gegner Deutschlands zeitweise dieselben imperialistischen Tendenzen, dieselbe Neigung zu Krieg und Eroberung, waren sie Deutschland also moralisch nicht überlegen, so doch intellektuell, trotz des deutschen Professors. Sie verstanden, namentlich die Engländer und Amerikaner, sehr gut zu rechnen. Sie trieben im Zeitalter des Imperialismus eine aggressive Kriegspolitik nur dort, wo sie das eigene Land nicht gefährdete. Sie waren zu kluge Geschäftsleute, um einen Krieg unter Bedingungen heraufzubeschwören, 44
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unter denen er sie ruinieren konnte. Sie waren solide Kapitalisten und nicht Va-banque-Spieler. Und darum ist es falsch, dass das Finanzkapital notwendigerweise kriegerische Gelüste und Kriegsgefahren mit sich bringt. Das tut es nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Einzig das deutsche Finanzkapital wuchs in einer Weise auf, die es aufs engste mit dem machtvollsten und siegessichersten Militarismus der Welt verband. Die angelsächsischen Staaten kannten bis zum Weltkriege überhaupt keinen Militarismus. Frankreich und Russland hatten davon mehr als genug, aber besonders siegessicher fühlt er sich gerade nicht nach den zerschmetternden Niederlagen einmal von 1870-71 und dann von 1904-05. Die Verbindung mit dem stärksten und übermütigsten Militarismus der Welt ließ das deutsche Finanzkapital alles nüchterne Rechnen vergessen. Nur so wurde es möglich, dass es eine Politik nicht nur mitmachte, sondern sogar mit aller Kraft vorantrieb, die Deutschland völlig isolierte und dabei seine Nachbarn immer stärker provozierte. Es verlor jeden Sinn für das ökonomisch Mögliche und trieb seinen Don Quixote, den Militarismus, in den Kampf gegen die Windmühlen der Entente, in dem nicht nur der kampffrohe Ritter, sondern auch sein vertrauender Sancho Pansa auf dem Platze bleiben mussten, zerschunden und zerschlagen. 7. Materialien über den Ursprung des Krieges. Die Verteidiger der deutschen Kriegspolitik hoben stets hervor, dass die „Schuldfrage“ nicht bloß nach den Vorgängen beurteilt werden dürfe, die dem Kriege unmittelbar vorausgingen. Eine „wissenschaftliche“ Auffassung müsse weiter zurückgreifen. Wir haben gesehen, dass damit für die deutsche Sache nichts gewonnen wird. Wohl aber deutet dieses Bemühen, die Forschung von den letzten Wochen vor dem Kriege ab- und früheren Zeitpunkten zuzulenken, schon darauf hin, dass die Ereignisse dieser letzten Wochen noch belastender sind als ihre Vorgänger. Doch kommt da den Anwälten der alten deutschen Regierung als rettender Gedanke ein neues wissenschaftliches Bedenken. Hieß es zuerst, dass der wahre Wissenschaftler die Dinge nur in ihren großen Zusammenhängen, nicht in kleinen Ausschnitten zu betrachten habe, so heißt es jetzt: jedes einseitige Zeugnis ist von Übel. Solange nicht alle Geheimarchive aller Nationen geöffnet sind und alle beteiligten Staatsmänner als Zeugen vernom-
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men wurden, ist es überhaupt nicht möglich, über die Entstehung des Krieges eine Meinung zu haben. Doch diejenigen, die derartige Bedenken vorbringen, bezeugen deren Nichtigkeit durch ihre eigene Praxis, denn sie haben gleich nach Ausbruch des Krieges schon sich um den Beweis bemüht, dass die Zentralmächte von der Entente angegriffen, ja überfallen wurden. In einem hatten sie dabei unleugbar recht: die Welt kann einem Kriege gegenüber nicht warten, bis alles erdenkliche Beweismaterial über seine Entstehung vorliegt. Jeder Politiker muss einem Kriege gegenüber Stellung nehmen nach dem Material, das ihm zugänglich ist. Er muss trachten, dass es so umfassend sei als möglich – lückenlos wird es nie sein. Nicht für den Politiker der Gegenwart und ebenso wenig für den Historiker einer späteren Zeit. Diesem mögen manche geheimen Archive zugänglich sein, die augenblicklich noch verschlossen sind, dafür sind ihm viele Zeugnisse verloren gegangen, die von den Zeitgenossen abgegeben werden konnten, und die von ihnen nicht schriftlich fixiert wurden. Kann man nicht alles wissen, ist jedes Wissen nur Stückwerk, so wäre es doch ein Unsinn, deswegen der Menschheit das vorzuenthalten, was man weiß. Ja, der Unsinn kann einer jener politischen Fehler werden, die schlimmer sind als ein Verbrechen, wenn die Vorenthaltung des Materials dazu dienen soll, ein der Nation und der Menschheit gefährliches System zu decken, die Klarlegung seines Wirkens zu verhindern. An Material über den Ursprung des Weltkrieges fehlt es ja nicht. Gleich bei seinem Beginn wurden wir von offiziellen Weiß-, Rot-, Gelb-, Blau- und anderen Farb-Büchern überschwemmt, und bald setzte auch deren kritische Behandlung ein. Bereits im Frühjahr 1915 erschien Grellings „J’accuse“, das er später durch sein dreibändiges Werk „Das Verbrechen“ fortsetzte. Mit großem Scharfsinn gelang es ihm bereits, in sehr wesentlichen Punkten auf die richtige Spur zu kommen. Besonders wichtig wurde dann die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky vom August 1916, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, aber in pazifistische Hände geriet, die ihr bald eine weite unterirdische Verbreitung gaben. Daneben kamen in Betracht die Publikationen des Herrn Mühlon. Wer danach noch nicht klar sah, dem musste der Star gestochen werden nach der Novemberrevolution durch Eisners Veröffentlichung des Berichts aus der bayerischen Gesandtschaft in Berlin vom 18. Juli 1914. Leider beging Eisner bei dieser Publikation die Unvorsichtigkeit, sie mehr als Journalist zu behandeln, dem es auf die Wirkung ankommt, denn als Historiker, dem es um die Vollständigkeit und Unversehrtheit seiner Quelle zu tun ist. 46
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Er brachte den Bericht nur im Auszuge und ließ Stellen weg, aus denen man die Friedensliebe der deutschen Regierung herauslesen wollte. Wir werden noch sehen, wie die Friedensliebe zu bewerten ist, die in den weggelassenen Stellen zum Ausdruck gebracht sein soll. Neues Material wurde dann beigebracht durch österreichische und deutsche Publikationen der Auswärtigen Ämter, Rot- und Weiß-Bücher. Das oben schon zitierte österreichische Rotbuch „Diplomatische Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914“, (Wien 1919) im Folgenden kurz als Rotbuch 1919 zitiert, bietet äußerst wichtige Aufschlüsse über die Frage der Urheberschaft am Kriege. Sehr kritisch muss dagegen die Verarbeitung dieses Materials durch Dr. Roderich Gooß gelesen werden, die gleichzeitig mit dem ersten Bande des erwähnten Rotbuches unter dem Titel: „Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Weltkrieges“ in Wien erschien. Da ihm die deutschen Akten nicht bekannt waren, ist der Verfasser des österreichischen Kommentars stellenweise zu sehr anfechtbaren, ja direkt unrichtigen Auffassungen gekommen. Vor dem österreichischen Rotbuch erschien im Juni ein deutsches Weißbuch, bestimmt, auf die siegreichen Nationen während der Friedensverhandlungen zugunsten Deutschlands Eindruck zu machen. In Wirklichkeit hat es nur dazu beigetragen, die deutsche Auslandspolitik von neuem zu kompromittieren. Aus welchen Gründen, werden wir noch sehen. Seitdem ist noch ein anderes Werk erschienen, das für die folgende Darstellung die Hauptquelle bildet, die unter meiner Leitung zustande gekommene Sammlung der Akten über die Urheberschaft am Kriege. Was sonst noch an Material erschienen ist, wirkt in Einzelheiten ergänzend, ändert jedoch nichts am Gesamteindruck. Wie gestalten sich danach die Dinge? 8. Serajewo. Wir haben unsere Darstellung im 5. Kapitel bis zum Bukarester Vertrag geführt und gesehen, dass Wien nach diesem Frieden entschlossen war, seine Revision bei der ersten günstigen Gelegenheit mithilfe Deutschlands durchzuführen. Die Zentralmächte zeigten damals stete Unruhe und großen Tatendrang. Deutschland setzte es bei der Türkei durch, dass ein deutscher General, Liman v. Sanders, im Dezember 1913 an der Spitze einer deutschen Militärmission nach Konstantinopel kam und dort das Oberkommando des ersten 47
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Armeekorps übernahm. Russland protestierte heftig, erreichte aber nur, dass Limans Titel in den eines Generalinspektors der türkischen Armee (mit dem Grade eines Marschalls) geändert wurde. Kurz darauf, März 1914, hatten die Zentralmächte die Genugtuung, einen der ihrigen, den Fürsten von Wied, auf den Thron des neugeschaffenen Königreiches Albanien zu bringen, allerdings ein Erfolg sehr zweifelhafter Art, da der deutsche Landesvater schon im Mai vor seinen heftig drängenden Landeskindern ausriss und sich und seine Schutzherren vor ganz Europa lächerlich machte. Gleichzeitig häuften sich die Zusammenkünfte Kaiser Wilhelms mit dem Thronfolger Franz Ferdinand. Im April trafen sie sich in Miramare, am 12. Juni wieder in Konopischt in Böhmen. „Die Neugier des Publikums und das Interesse der Diplomaten wurden erregt durch diese Bekundungen einer Freundschaft, die zu lebhaft war, um nicht zu beunruhigen. Während des Ausfluges nach Konopischt hatte der deutsche Gesandte in London den Auftrag, das dortige Auswärtige Amt über die Anwesenheit des Admirals von Tirpitz im Gefolge des Kaisers zu beruhigen. Wer sich entschuldigt, klagt sich an. Der Admiral hatte offenbar die Luftveränderung nur vorgenommen, um den Duft der Rosen in Böhmen einzuatmen.“
So höhnt über die Harmlosigkeit jener Zusammenkunft ein belgischer Diplomat, Baron Beyens, in seinem Buche: „L’Allemagne avant la guerre, les causeset les responsabilités“. (Paris 1915, S. 265.) Beyens war bei Kriegsbeginn belgischer Gesandter in Berlin und schrieb von dort Berichte, die Deutschland so sympathisch waren, dass die deutsche Regierung, die sie nach dem Einmarsch in Brüssel vorfand, eine Reihe von ihnen veröffentlichte in dem Band „Belgische Aktenstücke 1905-1914.“ Indes änderte Beyens seine günstige Meinung von der deutschen Politik vollständig nach dem österreichischen Ultimatum. Die Berichte, die er von da an schrieb, hat das Berliner Auswärtige Amt nicht veröffentlicht. Man findet sie in der „Correspondance diplomatique relative à la guerre de 1914-15. Paris 1915.“ Trotz Beyens erzählt noch Herr v. Jagow in seinem Buche über „Ursachen und Ausbruch des Weltkrieges“ (Berlin, 1919, S. 101): „Der Thronfolger wünschte seinem kaiserlichen Freunde die Rosenblüte auf der von ihm besonders geliebten böhmischen Besitzung zu zeigen.“
Was in Konopischt ausgeheckt wurde, darüber könnte nur Wilhelm selbst authentische Auskunft geben. Dass die Zusammenkunft nicht bloß dem Rosenduft galt, bezeugt ein Bericht, den Tschirschky, der deutsche Botschafter in Wien, am 17. Juni 1914 an den Reichskanzler sandte. Dieser Bericht beginnt mit folgender Mitteilung: 48
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„Graf Berchtold war nach der Abreise S. M. des Kaisers von S. Hoheit dem Erzherzog Franz Ferdinand nach Konopischt geladen worden. Der Minister erzählte mir heute, S. K. u. K. Hoheit habe sich ihm gegenüber in höchstem Maße befriedigt über den Besuch S. M. ausgesprochen und durchweg völlige Übereinstimmungen der Ansichten konstatieren können.“
Leider teilt der Bericht nicht mit, welche Ansichten das waren. Aus dem Folgenden erfahren wir nur, dass viel von der Politik die Rede war, die gegenüber den Rumänen zu befolgen sei. Franz Ferdinand sei mit Tiszas Rumänenpolitik nicht einverstanden, da Tisza größere Konzessionen an die Rumänen im ungarischen Staate ablehne, wozu Wilhelm in einer Randnote bemerkt: „Er darf durch seine innere Politik, die bei der Rumänenfrage auf die äußere des Dreibundes Einfluss hat, die letztere nicht in Frage stellen.“
Sicher machte die ungarische Rumänenpolitik es der rumänischen Regierung unmöglich, sich von Serbien und Russland loszusagen, damit sie im Fahrwasser Österreichs gegen die Staaten Front mache. Unmittelbar nach der Zusammenkunft von Konopischt machte sich das Ministerium des Auswärtigen in Wien daran, eine Denkschrift auszuarbeiten, die zeigen sollte, dass der gegenwärtige Zustand auf dem Balkan unerträglich und Österreich gezwungen sei, Russland entgegenzutreten, das einen Balkanbund gegen die habsburgische Monarchie plane. Zu diesem Zwecke suche es Rumänien zu gewinnen. Dessen Verhältnis zu Österreich habe sich sehr verschlechtert. „Die Monarchie hat sich bisher darauf beschränkt, die Schwenkung der rumänischen Politik in Bukarest in freundschaftlicher Weise zur Sprache zu bringen, sich im Übrigen aber nicht veranlasst gesehen, aus dieser immer deutlicheren Kursänderung Rumäniens ernste Konsequenzen zu ziehen. Das Wiener Kabinett hat sich hierzu in erster Linie dadurch bestimmen lassen, dass die deutsche Regierung die Auffassung vertrat, es handle sich um vorübergehende Schwankungen, Folgeerscheinungen gewisser Missverständnisse aus der Zeit der Krise, die sich automatisch zurückbilden würden, wenn man ihnen gegenüber Ruhe und Geduld bewahrt. Es hat sich aber gezeigt, dass diese Taktik ruhigen Abwartens und freundschaftlicher Vorstellungen nicht die gewünschte Wirkung hatte, dass sich der Prozess der Entfremdung zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien nicht zurückgebildet, sondern im Gegenteil beschleunigt hat.“
Auch „für die Zukunft“ erwartet die Denkschrift keine „Wendung im günstigen Sinne.“ Wie in dem Bericht über Konopischt steht auch in dem Promemoria die rumänische Frage im Vordergrunde. Die serbische wird kaum berührt. Nicht etwa deswegen, weil die Feindseligkeit Österreichs gegen Serbien geringer 49
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wäre, sondern sicher deshalb, weil sie auf kein Hindernis in Berlin stößt, während die deutsche Regierung auf ein gütliches Einvernehmen mit Rumänien hindrängt. Österreich dagegen will Serbien und Rumänien gegenüber die Taktik des „ruhigen Abwartens und freundschaftlicher Verstellungen“ aufgeben, ebenso aber auch Russland gegenüber. Dieser Staat, führt die Denkschrift aus, bedeute eine Gefahr nicht bloß für die österreichische Monarchie, sondern auch für Deutschland. Russland und sein Verbündeter Frankreich strebten danach, „die militärische Superiorität der beiden Kaisermächte durch Hilfstruppen vom Balkan her zu brechen“ und seine Ausdehnungspolitik im Gegensatz zu den deutschen Interessen durchzusetzen. „Aus diesen Gründen ist die Leitung der auswärtigen Politik Österreich-Ungarns auch davon überzeugt, dass es ein gemeinsames Interesse der Monarchie und nicht minder Deutschlands ist, im jetzigen Stadium der Balkankrise rechtzeitig und energisch einer von Russland planmäßig angestrebten und geförderten Entwicklung entgegenzutreten, die später vielleicht nicht mehr rückgängig zu machen wäre.“ (Abgedruckt in dem Weißbuch betr. die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges, vom Juni 1919, S. 68.)
Dieses Memorandum ist kaum anders aufzufassen, als dass es in der Sprache der Diplomatie den Präventivkrieg gegen das Zarenreich fordert. Das gefährliche Dokument war eben fertig, als die Katastrophe von Serajewo eintrat. Von Konopischt hatte sich der Thronfolger zu den Manövern nach Bosnien begeben. Ausgerechnet auf diesem kürzlich erst für annektiert erklärten heißen Boden mussten damals Manöver im Beisein Franz Ferdinands abgehalten werden und an sie anschließend musste er einen triumphierenden Einzug, gleich einem Eroberer, in die Hauptstadt des Landes halten. Als wollte man das nationale Empfinden besonders stark herausfordern, hatte man den 28. Juni zum Tage des Einzugs in Serajewo gewählt, den „Widow dan“, den St. Veitstag, einen nationalen Trauertag für die Serben. An diesem Tage hatten sie im Jahre 1389 auf dem Amselfelde im Kampfe gegen die sie unterjochenden Türken eine furchtbare und entscheidende Niederlage erlitten, deren Andenken bis heute in den Volksliedern fortlebt. Gerade an diesem Tage musste der fremde Herrscher von Norden einziehen. Und echt altösterreichisch gesellte man zur Provokation noch gedankenlosen Leichtsinn. Wenn man in einem Lande, in dem die Herrenklasse furchtbarsten Terrorismus übte und dadurch eine Atmosphäre von Attentaten schuf, schon
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den Thronfolger paradieren ließ, musste man wenigstens Sorge tragen, ihn zu schützen. Aber nicht das mindeste war vorgesorgt. So groß war die Kopflosigkeit und Leichtfertigkeit, dass man nach dem ersten Attentat, das misslang, den Thronfolger mit seiner Frau nochmals durch die Straßen fahren ließ, um sie zu bequemen Zielscheiben für einen zweiten Anschlag zu machen. In einer Depesche vom 3. Juli erhob der gemeinsame Finanzminister und oberste Verwalter Bosniens, Dr. v. Bilinski, schwere Anklagen gegen die Leichtfertigkeit der leitenden Kreise in Bosnien und namentlich der Militärs: „Auch die sonstigen Gebiete der Verwaltung (außer der Justiz) hätten Blößen aufgedeckt, deren Kenntnis wohl von vornherein gegen eine Reise Erzherzog Franz Ferdinands hätte sprechen müssen. Es sei ja dem Landeschef (Feldzeugmeister Potiorek) am besten bekannt, dass das Zustandekommen und die Durchführung der Reise ausschließlich vom militärischen Gesichtspunkte zwischen dem Erzherzog und ausschließlich dem Landeschef ins Werk gesetzt wurde... „Am allerwenigsten hätte Dr. v. Bilinski annehmen können, dass dem militärischen Programm ein nicht militärischer Besuch Serajewos eingefügt werden sollte. Hätte Dr. v. Bilinski aus den Berichten des Landeschefs Kenntnis davon gehabt, dass die Polizeiverwaltung ihrer Aufgabe durchaus nicht gewachsen sei, so wäre es offenbar ihrer bieder Pflicht gewesen, die Reise unter allen Umständen zu hintertreiben.“ (Gooß, Wiener Kabinett S. 46, 47.)
Bald darauf, am 13. Juli, telegraphierte der Sektionsrat von Wiesner, der nach Serajewo abgesandt war, um Einsicht in die Untersuchungsakten des Prozesses gegen die Attentäter zu nehmen: „Mitwisserschaft serbischer Regierung an der Leitung des Attentates oder dessen Vorbereitung und Beistellung der Waffen durch nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten. Es bestehen vielmehr Anhaltspunkte, dies als ausgeschlossen anzusehen.“
Also nicht bei der serbischen Regierung hatte man die Schuldigen an der blutigen Tat zu suchen, wohl aber waren für sie verantwortlich die Unwissenheit, der Leichtsinn, die frechen Provokationsmethoden des österreichischen Gewaltregiments. Die Faktoren, die das Attentat auf den Thronfolger heraufbeschworen, waren dieselben, die ihm folgend das weit furchtbarere Attentat auf den Weltfrieden direkt begingen.
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Zwölf Troer schlachtete Achilles bei der Leichenfeier seines Freundes Patroklus. Zur Leichenfeier Franz Ferdinands wurden vier Jahre lang viele Millionen Menschen aus allen fünf Weltteilen geschlachtet. Für die Regenten Österreichs hätte die Tötung des aktivsten Trägers des bestehenden Regimes ein warnendes Menetekel sein müssen, das zur Umkehr drängte. Es zeigte deutlich, welche Früchte die Gewaltpolitik trug und mahnte auf das eindringlichste, diese Politik durch eine der Freiheit und der Versöhnung zu ersetzen als die einzige, die dem in allen Fugen krachenden Staatswesen noch einige Lebensfähigkeit geben konnte. Aber wann hätte je ein Gewaltregiment ein derartiges Menetekel beachtet! Es fühlte sich vielmehr getrieben, den Terrorismus zu verstärken und der Gewalt gegenüber seinen kroatischen und bosnischen Untertanen auch noch Gewalt gegen das benachbarte serbische Staatswesen hinzuzugesellen, dem man nun vollends den Garaus zu machen beschloss. Ehe noch Wiesners Bericht über die Urheberschaft am Attentat angelangt war, hatten die Wiener Machthaber bereits die Überzeugung formuliert, die serbische Regierung sei für die Tat verantwortlich zu machen nach dem Prinzip: Tut nichts, der Jude wird verbrannt. 9. Wilhelms monarchisches Bewusstsein. Hatte in der Denkschrift, die noch vor dem Attentat fertiggestellt worden war, Rumänien die Hauptsorge für Österreich gebildet, so trat jetzt wieder Serbien in die erste Linie. Der Text, der von Serbien nur nebenher gesprochen, bekam jetzt ein Postskriptum, in dem es hieß: „Die vorliegende Denkschrift war eben fertiggestellt, als die furchtbaren Ereignisse von Serajewo eintraten. Die ganze Tragweite der ruchlosen Mordtat lässt sich heute kaum überblicken. Jedenfalls ist aber, wenn es dessen noch bedurft hätte, hierdurch der unzweifelhafte Beweis für die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der Monarchie und Serbien sowie für die Gefährlichkeit und Intensität der vor nichts zurückschreckenden großserbischen Bewegung erbracht worden... Um so gebieterischer Tritt an die Monarchie die Notwendigkeit heran, mit entschlossener Hand die Fäden zu zerreißen, die ihre Gegner zu einem Netze über ihrem Haupte verdichten wollen."
Mit anderen Worten: Österreich oder vielmehr Graf Berchtold und seine Leute waren entschlossen zum Kriege gegen Serbien und, wenn es sein musste, gegen Russland.
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Wie stellte sich dazu die deutsche Regierung? Das ist bisher nicht ganz klar gewesen. Ließ sie sich von Österreich mitschleppen, ohne recht zu wissen, was sie beging, oder tat sie freudig, energisch, vollbewusst mit? Ihre Stellung zur österreichischen Balkanpolitik wurde durch das Attentat von Serajewo wesentlich verändert. Als Rumänien im Bund mit Serbien in den zweiten Balkankrieg 1913 eintrat, fand der Hohenzoller Carol die Rückendeckung des Hohenzollern Wilhelm gegen den Habsburger. In jenem Stadium mahnte Berlin Wien zur Zurückhaltung. Noch am 2. Juli 1914 äußerte Berchtold zu Tschirschky: „Deutschland habe damals, als Rumänien, ohne uns zu fragen, und gegen unser ihm wohl bekanntes Interesse gemeinsam mit Serbien über das wehrlose Bulgarien hergefallen sei, Rumänien gedeckt und uns zu verstehen gegeben, dass wir uns ruhig verhalten sollen.“ (Rotbuch 1919, I. 19.)
Nach Serajewo galt der Zorn Österreichs nicht mehr Rumänien und Serbien vereint, er konzentrierte sich ganz auf letzteres. Und die serbische Regierung, obwohl eine monarchische, galt in Wilhelms Augen nun als die Förderin und Urheberin von Monarchenmorden. Sein dynastisches Bewusstsein, das Österreich Rumänien gegenüber zurückgehalten hatte, wurde den Serben gegenüber jetzt zu einer geradezu vorwärts drängenden Triebkraft. Nicht nur monarchische Prinzipien, sondern auch persönliche Furcht waren dabei beteiligt. Ließ er doch am 2. Juli den geplanten Kondolenzbesuch in Wien absagen, weil Winke aus Serajewo ihn befürchten ließen, in der österreichischen Kaiserstadt harre seiner eine Rotte serbischer Mordbuben. Ohne jede Überlegung war er sofort, nachdem er vom Attentat erfahren, derselben Meinung, die Franz Joseph damals in seinem Handschreiben an Wilhelm ausdrückt, das dieser am 5. Juli erhielt. Es verkündete bereits: „Das Bestreben meiner Regierung muss in Zukunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein.“
Und es schloss mit den Worten: „Auch Du wirst nach dem jüngsten, fruchtbarsten Geschehnisse in Bosnien die Überzeugung haben, dass an eine Versöhnung des Gegensatzes, welcher Serbien von uns trennt, nicht mehr zu denken ist, und dass die erhaltende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen bedroht sein wird, solange dieser Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad ungestraft fortlebt.“
Ehe noch dieses Handschreiben nach Potsdam gelangt war, hatte sich Wilhelm ohne Rücksicht auf die Konsequenzen bereits entschieden, dass Serbien niederzuwerfen sei. Sein monarchisches Bewusstsein war durch die 53
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Schüsse von Serajewo zu tobendem Drang nach Blutrache an dem Mördervolk entzündet. Fürst Lichnowsky war in den Tagen nach dem Attentat in Berlin. Er berichtet über eine Unterredung mit Zimmermann, der damals den abwesenden Jagow vertrat: „Aus einen Worten ging eine unverkennbare Missstimmung gegen Russland hervor, das uns überall im Wege sei... Dass General v. Moltke zum Kriege drängte, wurde mit natürlich nicht gesagt. Ich erfuhr aber, dass Herr v. Tschirschky einen Verweis erhalten, weil er berichtete, er habe in Wien Serbien gegenüber zur Mäßigung geraten.“ (Meine Londoner Mission, S. 27.) Lichnowskys Mitteilungen finden ihre Bestätigung in den Akten des Berliner Auswärtigen Amtes. Wir geben einen Bericht wieder, den Tschirschky am 30. Juni an den Reichskanzler richtete. Er bekommt Wichtigkeit durch die Randglossen des Kaisers, die wir in Klammern, mit einem W. gezeichnet, anführen: „Graf Berchtold sagte mir heute, alles deute darauf hin, dass die Fäden der Verschwörung, der der Erzherzog zum Opfer gefallen sei, in Belgrad zusammenliefen. Die Sache sei so wohl durchdacht worden, dass man absichtlich ganz jugendliche Leute zur Ausführung des Verbrechens ausgesucht habe, gegen die nur mildere Strafen verhängt werden können (hoffentlich nicht! W.) Der Minister sprach sich sehr bitter über die serbischen Anzettelungen aus. „Hier höre ich, auch bei ernsten Leuten, vielfach den Wunsche, es müsse einmal gründlich mit den Serben abgerechnet werden. (Jetzt oder nie. W.) Man müsse den Serben zunächst eine Reihe von Forderungen stellen und, falls sie diese nicht akzeptieren, energisch vorgehen. Ich benutze jeden solchen Anlass, um ruhig, aber sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu warnen. (Wer hat ihn dazu ermächtigt? Das ist sehr dumm! geht ihn gar nichts an, da es lediglich Österreichs Sache ist, was es hierauf zu tun gedenkt. Nachher heißt es dann, wenn es schief geht: Deutschland hat nicht gewollt!! Tschirschky soll den Unsinn gefälligst lassen! Mit den Serben muss aufgeräumt werden und zwar bald. W.) Vor allem müsse man sich erst klar darüber werden, was man wolle, denn ich hörte bisher nur ganz unklare Gefühlsäußerungen. Dann solle man die Chancen irgendeiner Aktion sorgfältig erwägen und sich vor Augen halten, dass Österreich-Ungarn nicht allein in der Welt stehe, dass es Pflicht sei, neben der Rücksicht auf seine Bundesgenossen die europäische Gesamtlage in Rechnung zu ziehen und speziell sich die Haltung Italiens und Rumäniens in allen Serbien betreffenden Fragen vor Augen zu halten. (Versteht sich alles von selbst und sind Binsenwahrheiten. W.)
Das Schriftstück gelangte vom Kaiser am 4. Juli ans Auswärtige Amt zurück. Also schon damals, ehe noch von Österreich aus die geringste Forderung gestellt worden war, stand es bei Wilhelm fest: „Mit den Serben muss
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aufgeräumt werden und zwar bald“. Die durch das Gooß’sche Buch sehr gestützte Auffassung, als sei Deutschland in der serbischen Krise rein nur im Schlepptau Österreichs gewesen, dem es zu viel vertraute, ist gänzlich hinfällig. 10. Die Verschwörung von Potsdam. Am 4. Juli kam der österreichische Legationsrat Graf Hoyos nach Berlin, um das schon erwähnte Handschreiben des Kaisers Franz Joseph an Wilhelm zu überbringen. Man fixiert nicht immer gefährliche Gedanken schriftlich mit völliger Deutlichkeit. Das Handschreiben sprach bereits von der notwendigen „Verkleinerung“ Serbiens. Graf Hoyos erläuterte diesen Ausdruck mündlich dahin, dass darunter die Aufteilung Serbiens unter seine Nachbarn zu verstehen sei. Hoyos, der Vertrauensmann Berchtolds, setzte diese Pläne dem Reichskanzler und dem Unterstaatssekretär Zimmermann auseinander. Das gab ihnen keine Veranlassung, auf die Österreicher zurückhaltend zu wirken. Das schon erwähnte Weißbuch vom Juni 1919, das in Wirklichkeit ein Weißwaschungsbuch ist, bemerkt freilich: Das Ministerium des Äußern in Wien hat später darauf Wert gelegt, festzustellen, dass es die rein persönlichen Ansichten des Grafen Hoyos, die den Erwerb serbischen Gebiets und sogar eine Aufteilung Serbiens umfassten, nicht teile.“ (S. 56)
Diese Mitteilung ist nicht ganz richtig. Das Ministerium hat wohl erklärt, dass die Ansichten des Grafen Hoyos seine persönlichen seien; es hat aber nie unzweideutig erkennen lassen, dass es andere Ansichten hege, und es konnte das auch nicht, schon aus dem Grunde, weil die Ansichten des Herrn Legationsrats ganz mit den Ansichten seines Vorgesetzten, des Ministers Berchtold, übereinstimmten. Das Ministerium des Äußern in Wien hat denn auch nie verraten, welches seine Absichten in Beziehung auf Serbien seien. Indes, selbst wenn das bloße Abrücken von Hoyos eine beruhigende Aufklärung über die österreichischen Pläne gegeben hätte, so fand es doch jedenfalls erst später statt, erst nach dem 5. Juli, an dem der österreichische Botschafter in Berlin dem Deutschen Kaiser das Handschreiben Franz Josephs überreichte und die entscheidenden Beschlüsse gefasst wurden. Über die Beratungen jenes Tages, die die Fantasie der Außenwelt um so lebhafter erregten, je weniger sie von ihnen wusste, ist viel gefaselt worden. Es habe ein Kronrat in Potsdam stattgefunden, an dem Erzherzog Friedrich, 55
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Graf Berchtold und Conrad von Hötzendorf teilnahmen, und in dem der Krieg gegen Serbien oder gar der Weltkrieg beschlossen wurde. Das schon zitierte Weißbuch vom Juni weist nach, dass dieser Kronrat eine Legende ist. Zum Beweis zitiert es den Sir Horace Rumboldt, bei Kriegsausbruch englischer Botschaftsrat in Berlin, der es für unwahrscheinlich hält, dass ein solcher Kronrat stattgefunden habe. Er ist dieser Meinung nicht wegen, sondern trotz der Beteuerungen der deutschen Regierung: „Die gewohnheitsmäßige Verlogenheit der deutschen Regierung ist in der Tat so groß, dass ich unwillkürlich versucht bin, jeder von ihr geleugneten Feststellung Glauben zu schenken.“
Auf dieses ehrenvolle Zeugnis beruft sich das Weißbuch vom Juni 1919 zum Beweis der Unschuld der alten deutschen Regierung. Das Weißbuch selbst teilt dann mit, was sich an jenem 5. Juli tatsächlich in Potsdam zugetragen haben soll. Es wiederholt dabei im Wesentlichen dasjenige, was schon die Wochenschrift „Deutsche Politik“ im Mai darüber vorgebracht hatte. Diese Erzählung klingt sehr harmlos. Danach frühstückte am 5. Juli der österreichische Botschafter Szögyeny beim Kaiser Wilhelm in Potsdam und überreichte ihm das Handschreiben seines Souveräns. Später kamen zum Kaiser Bethmann Hollweg und Zimmermann, der den auf der Hochzeitsreise befindlichen Jagow vertrat und sie „besprachen die politische Lage“. Tags darauf trat Kaiser Wilhelm seine Nordlandsreise an. Offenbar das deutlichste Zeichen, dass er nichts Böses erwartete oder gar plante. Das Weißbuch teilt den Tatbestand ebenso mit, nur lässt es den Hinweis auf die Nordlandsreise weg. Dafür fügt es hinzu: „Es sind keinerlei besondere Beschlüsse gefasst worden, da von vornherein feststand, dass es nicht möglich sei, Österreich-Ungarn die den Bundespflichten entsprechende Unterstützung bei dem Versuche, von Serbien wirkliche Garantien zu erlangen, zu versagen.“ (S. 50).
Das soll offenbar auch harmlos klingen, doch kann es nichts anderes besagen, als dass die deutsche Regierung es bei jener „Besprechung“ schon für selbstverständlich fand, dass Österreich „wirkliche Garantien“ fordern werde – man weiß, was das heißt – und dass Deutschland dabei „den Bundespflichten entsprechend“ mittue. Darüber „besondere Beschlüsse“ zu fassen, sollte am 5. Juli nicht mehr notwendig gewesen sein! Das Weißbuch vom Juni 1919 scheint auf ein sehr kindliches Publikum zu rechnen. Am Eingang seiner Darstellung wendet es sich gegen die Be-
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hauptung, am 5. Juli habe ein Kronrat stattgefunden, der „den Krieg gegen Serbien, nach anderer Lesart den Weltkrieg“ beschlossen habe. Die berichtigende Darstellung tut aber bloß kund, 1. dass kein Kronrat stattfand, sondern nur vereinzelte Besprechungen, 2. dass nicht der Weltkrieg beschlossen wurde. Vom Krieg gegen Serbien ist dabei nicht mehr die Rede. Es heißt schließlich: „Aus dem Telegramm (der deutschen Regierung) nach Wien vom 6. Juli und dem Handschreiben Kaiser Wilhelms vom 14. Juli geht klar hervor, dass man auch in Berlin die Möglichkeit einer Einmischung Russlands und ihre Folgen mit in Betracht zog, aber mit irgendeiner Wahrscheinlichkeit eines allgemeinen Krieges nicht rechnete. Von der Absicht vollends, einen europäischen Krieg zu entfesseln, kann, wie die beigefügten Dokumente einwandfrei zeigen, keine Rede sein.“ (S. 57.)
Lichnowsky berichtet darüber in seiner Denkschrift: „Nachträglich erfuhr ich, dass bei der entscheidenden Besprechung in Potsdam am 5. Juli die Wiener Anfrage die unbedingte Zustimmung aller maßgebenden Persönlichkeiten fand und mit dem Zusatz, es werde auch nichts schaden, wenn daraus ein Krieg mit Russland entstehen sollte. So heißt es wenigstens im österreichischen Protokoll, das Graf Mensdorff in London erhielt.“ (S. 28.)
Graf Szögueny, der österreichische Botschafter in Berlin, berichtet über sein Gespräch mit Wilhelm am 5. Juli: „Nach seiner (Kaiser Wilhelms) Meinung muss aber mit dieser Aktion (gegen Serbien) nicht zu lange gewartet werden. Russlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein, doch sei er hierauf schon seit Jahren vorbereitet, und sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Russland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, dass Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde. Russland sei übrigens, wie die Dinge heute ständen, noch keineswegs kriegsbereit und werde es sich gewiss noch sehr überlegen, an die Waffen zu appellieren. Doch werde es bei den anderen Mächten der Tripleantente gegen uns hetzen und am Balkan das Feuer schüren. Er begreife sehr gut, dass es Seiner K. u. K. Apostolischen Majestät bei seiner bekannten Friedensliebe schwer fallen würde, in Serbien einzumarschieren; wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er (Kaiser Wilhelm) es bedauern, wenn wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment unbenutzt ließen.“ (Rotbuch, 1919, I. S. 22.)
Dr. Gooß versucht, die Zurechnungsfähigkeit des Grafen Szögueny anzuzweifeln. In dieselbe Kerbe hauen vier Verfasser seiner Denkschrift über die Schuld am Ausbruch des Krieges in dem Weißbuch vom Juni 1919, die Professoren Hans Delbrück, Mendelssohn-Bartholdy und Max Weber sowie Graf Montgelas. 57
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Wir werden darauf noch in einem anderen Zusammenhang zu sprechen kommen, hier sei nur bemerkt, dass die Mitteilungen des österreichischen Botschafters in Berlin vollständig in Einklang stehen mit dem, was wir über Wilhelms damalige Denkweise wissen, und was schon seine Randglossen zu Tschirschkys Bericht vom 30. Juni bekunden. Der Zufall will, dass gerade aus jenen Tagen ein Zeugnis über Szöguenys Zuverlässigkeit in der Berichterstattung vorliegt. Am 6. verhandelte der Graf mit Bethmann Hollweg. Dieser berichtete darüber an Tschirschky und gleichzeitig sandte Szögyeny einen Bereich über die gleiche Unterredung an Berchtold. Am Tage darauf hatte Tschirschky Gelegenheit, beide Berichte miteinander zu vergleichen. Er telegraphierte darüber an das Auswärtige Amt am 7. Juli: „Die Berichte des Grafen Szögueny entsprachen durchaus dem Inhalt des mir sachgemäß zugestellten Telegramms Ew. Exz. vom 6. d. M.“
So einfach ist es also nicht, diesen unbequemen Zeugen moralisch um die Ecke zu bringen. Richtig ist, dass in jenen Gesprächen Bethmann sich viel vorsichtiger ausdrückte als sein kaiserlicher Herr. Aber das war öfter so. Ein Umstand ist vielleicht nicht ohne Belang. Szögyeny berichtet, Wilhelm sei vor dem Frühstück sehr zugeknöpft gewesen. Erst nach dem Frühstück habe er aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Über das, was der Kaiser am 5. Juli nach dieser Besprechung mit seinen Leuten verhandelte, sind wir nicht unterrichtet. Aber man darf dem Weißbuch vom Juni, so wenig Zutrauen es verdient, doch glauben, dass die Absicht, einen europäischen Krieg zu entfesseln, damals nicht bestand. Nur verschweigt es, dass man damals schon den Österreichern freie Hand zu einem Krieg gegen Serbien gab, auf die Gefahr hin, damit einen Krieg mit Russland hervorzurufen. Im Grunde hat das die deutsche Regierung schon in ihrem ersten Weißbuch zugegeben, das sie bei Kriegsbeginn veröffentlichte. Sie erklärte damals: „Österreich musste sich sagen, dass es weder mit der Würde, noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen. Die K. u. K. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung und erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserem Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, dass eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde.
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Wir waren uns hierbei wohl bewusst, dass ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Russland auf den Plan bringen und uns hiermit unseren Bundespflichten entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte.“ (S. 3, 4.) Es wäre der Gipfel der Gedankenlosigkeit gewesen, wenn Bethmann und der Kaiser am 5. Juli wirklich nicht weiter gedacht und nicht die Möglichkeit eines europäischen Krieges erwogen haben sollten, die sie mit ihrem Vorgehen heraufbeschworen. Es ist sicher auffallend, dass der Kaiser in einer so gefahrdrohenden Situation eine Nordlandreise antrat. Eines ist aber klar: Auch der leichtfertige Souverän hätte das nicht gewagt, ohne sich vorher versichert zu haben, dass Wehr und Waffen des Staates für alle möglichen Anforderungen bereit seien. Die Tatsache, dass er nach den „Besprechungen“ in Potsdam seine Sommerreise antrat, deutet schon darauf hin, was bei ihnen beschlossen wurde. haben dort Wilhelm und Bethmann Hollweg, wie dieser selbst erklärte, einem „kriegerischen Vorgehen Österreich-Ungarns“ ihre Zustimmung zugesagt auf die Gefahr hin, in einem Krieg mit Russland verwickelt zu werden, dann musste klar zum Gefecht gemacht werden, ehe Wilhelm der Mitternachtssonne entgegenfuhr. Es ist also durchaus nicht überraschend, dass sich eine „Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs Frhr. v. d. Bussche für Staatssekretär Zimmermann“ findet, datiert vom 30. August 1917. Dort heißt es: „Am Tage, nachdem der österreich-ungarische Botschafter im Juli 1914 S. M. dem Kaiser das vom Grafen Hoyos überbrachte Schreiben Kaiser Franz Josefs überreicht hatte, und der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg und Unterstaatssekretär Zimmermann in Potsdam empfangen worden waren, fand in Potsdam eine Beratung militärischer Stellen bei Seiner Majestät statt. Es nahmen teil: Exz. Capelle für Tirpitz, Kapitän Zenker für den Admiralstab, Vertreter des Kriegsministeriums und des Generalstabs. Es wurde beschlossen, auf alle Fälle vorbereitende Maßnahmen für einen Krieg zu treffen. Entsprechende Befehle sind darauf ergangen. – Quelle durchaus zuverlässig. Bussche.“
In gleicher Richtung weisen die Mitteilungen, die Herr v. Tirpitz in seinen „Erinnerungen“ macht (1919, S. 209). Er berichtet, dass Wilhelm bei allem Optimismus es für notwendig fand, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein: „Er hat aus diesem Grunde schon im Laufe des 5. den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg, den Kriegsminister v. Falkenhayn, den Unterstaatssekretär des Auswärtigen Zimmermann, und den Chef des Militärkabinetts v. Lyncker nach Potsdam befohlen. Es wurde dabei beschlossen, dass Maßnahmen, die geeignet
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wären, politisches Aufsehen zu erregen oder besondere Kosten zu verursachen, vermieden werden sollten.“
Am 6. Juli habe dann der Kaiser mit Capelle für den damals abwesenden Tirpitz in Potsdam gesprochen. Das ist, bis auf Kleinigkeiten, ganz dasselbe, was Bussche aufzeichnet. Damit ist das Dunkel noch nicht völlig erhellt, das über den Potsdamer „vereinzelten Besprechungen“ liegt. Sicher waren sie kein Kronrat zu nennen. Wilhelm entschied vielmehr allem Anschein nach selbständig in dieser Schicksalsstunde. Was sich daran anschloss, könnte man eher als Kriegsrat bezeichnen. Man kann ihn auch eine Verschwörung nennen, zum mindesten gegen Serbien und Russland, wenn nicht gegen den Frieden der Welt. 11. Die Verschwörer an der Arbeit. Wilhelms Drängen. Wie die harmlose Unterhaltung über „die politische Lage“ am 5. Juli in Potsdam auf die österreichische Regierung wirkte, bekundete diese schon im Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten vom 7. Juli, dessen Protokoll jetzt veröffentlicht wurde. (Rotbuch 1919, S. 25--38.) Berchtold begann damit, zu erklären, dass der Moment gekommen sei, Serbien „für immer“ unschädlich zu machen. Dazu habe er mit der deutschen Regierung Fühlung genommen, diese habe für den Krieg mit Serbien ihre unbedingte Unterstützung zugesichert. „Er sei sich klar darüber, dass ein Waffengang mit Serbien den Krieg mit Russland zur Folge haben könnte.“
Aber lieber jetzt als später, denn Russland werde auf dem Balkan immer stärker. Tisza stimmte zu, dass ein Krieg mit Serbien möglich geworden sei, aber er sei weder für den Krieg unter allen Umständen, noch für die Kriegserklärung ohne diplomatische Vorbereitungen: „Er würde niemals einem überraschenden Angriff auf Serbien ohne vorhergehende diplomatische Aktion zustimmen, wie dies beabsichtigt zu sein scheine, und bedauerlicherweise auch in Berlin durch den Grafen Hoyos besprochen wurde.“
Also man hatte in Berlin sogar den Fall besprochen, dass an Serbien ohne jedes Ultimatum der Krieg erklärt würde. Das wurde durch Tisza verhindert,
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der zu gut erkannte, dass man sich damit von vornherein ins Unrecht setzte. Er wollte ein Ultimatum, aber ein erfüllbares. Wenn Serbien es akzeptiere, habe man einen großen diplomatischen Erfolg errungen, mit dem man sich zufriedengeben könne. Nach langen Erörterungen konnte zum Schlusse konstatiert werden: „1. dass alle Versammelten eine tunlichst rasche Entscheidung des Streitfalles mit Serbien im kriegerischen oder friedlichen Sinne wünschen, 2. dass der Ministerrat bereit wäre, sich der Ansicht des kgl. ungarischen Ministerpräsidenten anzuschließen, wonach erst mobilisiert werden sollte, nachdem konkrete Forderungen an Serbien gerichtet und dieselben zurückgewiesen sowie ein Ultimatum gestellt worden ist. Dagegen sind alle Anwesenden mit Ausnahme des kgl. ung. Ministerpräsidenten der Ansicht, dass ein rein diplomatischer Erfolg, wenn er auch mit einer diplomatischen Demütigung Serbiens enden würde, wertlos wäre und dass eher solche weitgehenden Forderungen an Serbien gestellt werden müssten, die eine Ablehnung voraussehen ließen, damit eine radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens angebahnt würde.“
Dieses saubere Plänchen war die Folge der Besprechungen der „politischen Lage“ in Potsdam vom 5. Juli. Es wurde sofort nach Berlin gemeldet, in dem Bericht Tschirschkys vom 8. Juli, in dem es unter anderem hieß: „Graf Berchtold meinte, er würde seinem Kaiser, falls sich dieser der Ansicht anschließen sollte, dass zunächst Forderungen an Serbien zu stellen, seien „jedenfalls raten, die Forderungen so einzurichten, dass deren Annahme ausgeschlossen erscheine.“
Darüber war man also in Berlin von Anfang an unterrichtet. Wilhelm billigte nicht bloß diese Politik, er drängte, auf ihre baldige Durchführung. Das bezeugen schon seine Bemerkungen zu Tschirschkys Berichten aus Wien. Dieser teilt am 10. Juli mit: „Ganz geheim. „Über seinen gestrigen Vortrag bei S. M. dem Kaiser Franz Josef in Ischl teilt mir Graf Berchtold Nachstehendes mit: „S. M. der Kaiser habe mit großer Ruhe die Sachlage besprochen. Zunächst habe er seinem lebhaften Dank Ausdruck gegeben für die Stellungnahme unseres Allergnädigsten Herrn und der kaiserlichen Regierung und geäußert, er sei ganz unserer Ansicht, dass man jetzt (von Wilhelm unterstrichen, K.) zu einem Entschluss kommen müsse (da Sr. M. Promemoria etwa 14 Tage alt ist, so dauert das sehr lang! Das ist doch eigentlich zur Begründung des Entschlusses selbst entworfen. W.), um den unleidlichen Zuständen Serbien gegenüber ein Ende zu machen. Über die Tragweite eines solchen Entschlusses fügt Graf Berchtold hinzu, sei sich S. M. völlig klar.
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Der Minister hat hierauf dem Kaiser Kenntnis gegeben von den zwei Modalitäten, die in Bezug auf das nächste Vorgehen gegen Serbien hier in Frage ständen. S. M. hätten gemeint, es ließe sich vielleicht dieser Gegensatz überbrücken. Im Ganzen hätten aber S. M. eher der Ansicht zugeneigt, dass konkrete Forderungen an Serbien zu stellen sein würden (Aber sehr! und unzweideutig“ W.). Er, der Minister, wolle auch die Vorteile eines solchen Vorgehens nicht verkennen. Es würde damit das Odium einer Überrumpelung Serbiens, das auf die Monarchie fallen würde, vermieden und Serbien ins Unrecht gesetzt werden. Auch würde dieses Vorgehen sowohl Rumänien als auch England eine wenigstens neutrale Haltung sehr erleichtern. Die Formulierung geeigneter Forderungen gegenüber Serbien bildet gegenwärtig hier die Hauptsorge (Dazu haben sie Zeit genug gehabt! S.). Graf Berchtold sagte, er würde gerne wissen, wie man in Berlin darüber denke. Er meinte, man könnte unter anderem verlangen, dass in Belgrad ein Organ der österreichischungarischen Regierung eingesetzt werde, um von dort aus die großserbischen Umtriebe zu überwachen, eventuell auch die Auflösung von Vereinen und Entlassung einiger (der! W.) kompromittierter Offiziere. Die Frist zur Beantwortung müsse möglichst kurz bemessen werden, wohl 48 Stunden. Freilich würde auch diese kurze Frist genügen, um sich von Belgrad aus in Petersburg Weisungen zu holen (Hartwig ist tot! W.). Sollten die Serben alle gestellten Forderungen annehmen, so wäre das eine Lösung, die ihm „sehr unsympathisch“ wäre und er sinne noch darüber nach, welche Forderungen man stellen könne, die Serbien eine Annahme völlig unmöglich machen würden. (Den Sandschak räumen! Dann ist der Krakeel sofort da! Den muss Österreich unbedingt sofort wieder haben, um die Einigung Serbiens und Montenegros und das Erreichen des Meeres seitens der Serben zu hindern. W.) Der Minister klagte schließlich wieder über die Haltung des Grafen Tisza, sie ihm ein energisches Vorgehen gegen Serbien erschwere. Graß Tisza behaupte, man müsse gentlemanlike vorgehen (Mördern gegenüber, nach dem was vorgefallen ist? W.), das sei aber, wenn es sich um so wichtige Staatsinteressen handle und besonders einem Gegner wie Serbien gegenüber schwerlich angebracht. Der Anregung der kaiserlichen Regierung, schon jetzt die öffentliche Meinung im Inlande im Wege der Presse gegen Serbien zu stimmen. -- worüber Graf Szögyeny telegraphiert hat -- wird der Minister gern folgen. Nur müsse dies, seiner Meinung nach, vorsichtig gemacht werden, um Serbien nicht vorzeitig zu alarmieren. Der Kriegsminister wird morgen auf Urlaub gehen, auch Freiherr Conrad v. Hötzendorf Wien zeitweilig verlassen. Es geschieht das, wie Graf Berchtold mir sagte, absichtlich (kindisch! W.), um jeder Beunruhigung vorzubeugen. (Ungefähr wie zur Zeit der Schlesischen Kriege. „Ich bin gegen die Kriegsräthe und Beratungen, sintemalen die timidere Parthey allemal die Oberhand hat.“ Friedrich der Große. W.)“
Man sieht aus Wilhelms Randglossen seine Zustimmung dazu, dass Serbien ein Nachgehen unmöglich gemacht werde, aber auch seine Ungeduld, dass
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Österreich noch nicht losgehe. Endlich, am 13. Juli schien die träge österreichische Masse in Bewegung zu kommen. Tschirschky berichtet: „Minister (Berchtold. K.) ist jetzt selbst überzeugt, dass schnellstes Handeln geboten ist. (von Wilhelm doppelt unterstrichen. K.) Er hofft morgen mit Tisza über Wortlaut der an Serbien zu richtenden Note ins Reine zu kommen, würde diese dann Mittwoch, den 15. Juli dem Kaiser in Ischl unterbreiten, worauf dann unverzüglich -- mithin noch vor der Abreise Poincarés nach Petersburg -- Übergabe in Belgrad erfolgen könnte.“
Der Zufall wollte es nämlich, dass gerade in jenen Tagen der Präsident der französischen Republik dem Zaren in dessen Hauptstadt einen Besuch abstattete. Ehe noch Poincaré die Reise antrat (es geschah am 15. Juli abends), sollte die Note an Serbien abgehen. Aber so schnell vermochten die Österreicher doch nicht zu schießen. Indes verzeichneten Berchtold und Wilhelm zunächst den Triumph, dass Tisza sich zu ihnen bekehrte. Tschirschky telegraphiert am 14. Juli „ganz geheim“: „Graf Tisza suchte mich heute nach seiner Besprechung mit dem Grafen Berchtold auf. Der Graf sagte, er sei bisher stets derjenige gewesen, der zur Vorsicht gemahnt habe, aber jeder Tag habe ihn nach der Richtung hin mehr bestärkt, dass die Monarchie zu einem energischen Entschluss kommen müsse (unbedingt! W.), um ihre Lebenskraft zu beweisen und den unhaltbaren Zuständen im Südosten ein Ende zu machen. Die Sprache der serbischen Presse und der serbischen Diplomaten sei in ihrer Anmaßung geradezu unerträglich. „Ich habe mich schwer entschlossen“, meinte der Minister, „zum Kriege zu raten, bin aber jetzt fest von dessen Notwendigkeit überzeugt und ich werde mit aller Kraft für die Größe der Monarchie einstehen!“ Glücklicherweise herrschte jetzt unter den hier maßgebenden Persönlichkeiten volles Einvernehmen und Entschlossenheit. S. M. Kaiser Franz Josef beurteile, wie auch Baron Burian, der S. M. noch dieser Tage in Ischl gesprochen hat, berichte, die Lage sehr ruhig und werde sicher bis zum letzten Ende durchhalten. Graf Tisza fügte hinzu, die bedingungslose Stellungnahme Deutschlands zur Monarchie sei entschieden für die feste Haltung des Kaisers von großem Einfluss gewesen. Die an Serbien zu richtende Note soll heute noch nicht in ihrem letzten Wortlaut festgestellt werden. Dies werde erst Sonntag (19. Juli) geschehen. In Betreff des Zeitpunktes der Übergabe an Serbien sei heut beschlossen worden, lieber bis nach der Abreise Poincarés aus Petersburg zu warten, also bis zum 25. (wie schade! W.) Dann aber würde sofort nach Ablauf der Serbien gestellten Frist, falls dieses nicht unbedingt alle Forderungen annehmen sollte, die Mobilmachung erfolgen. Die Note werde so abgefasst sein, dass deren Annahme so gut wie ausgeschlossen sei. (von Wilhelm zweimal unterstrichen, K.) Es käme darauf an, nicht nur Versicherungen und Versprechungen zu fordern, sondern Taten. Bei der Abfassung der Note müsse seiner Ansicht nach auch darauf Rück-
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sicht genommen werden, dass sie für das große Publikum -- besonders in England -- verständlich sei und das Unrecht klar und deutlich Serbien zuschiebe. Baron Conrad hat bei der letzten Besprechung auf ihn einen sehr guten Eindruck gemacht. Er habe ruhig und sehr bestimmt gesprochen. In nächster Zeit müsse man sich freilich darauf gefasst machen, dass die Leute wieder darüber klagen werden, man sei hier unentschlossen und zögernd. Es komme darauf aber wenig an, wenn man in Berlin wisse, dass das nicht der Fall sei. Zum Schluss drückte mir Tisza warm die Hand und sagte: „Wir wollen nun vereint der Zukunft ruhig und fest ins Auge sehn.“ -- (Na, doch mal ein Mann. W.)
Man sieht, wie gänzlich unhaltbar die Meinung ist, als sei Wilhelm das arme Opferlamm Berchtoldscher Perfidie gewesen. Die beiden Verbündeten waren einander würdig. Und wie der Herr, so seine Knechte. Am 18. Juli berichtete der Botschaftsrat Prinz zu Stolberg-Wernigerode aus Wien in einem persönlichen Schreiben an Herrn von Jagow: „Gestern war ich beim Berchtold, der mir sagte, dass die bewusste Note am 23. d. M. in Belgrad überreicht werden soll. Wie ich gestern berichtet habe, hofft Berchtold, dass die österreichischen Forderungen, über die er sich im Einzelnen nicht ausließ, von Serbien nicht angenommen werden. Ganz sicher ist er aber nicht und ich habe aus seinen wie aus Äußerungen von Hoyos den Eindruck, dass Serbien die Forderungen annehmen kann. Auf meine Frage, was dann geschehen solle, wenn die Sache auf diese Weise wieder im Sande verlaufe, meinte Berchtold, man müsse dann bei der praktischen Durchführung der einzelnen Postulate eine weitgehende Ingerenz üben. Will man hier wirklich eine endgültige Klärung des Verhältnisses zu Serbien, wie sie auch Graf Tisza in seiner Rede kürzlich als unabweislich bezeichnet hat, so wäre es allerdings unerfindlich, warum man nicht solche Forderungen aufgestellt haben sollte, die einen Bruch unvermeidlich machen. Verläuft die Aktion wieder, wie das Hornberger Schießen und bleibt es bei einem so genannten diplomatischen Erfolg, so wird damit die hierzulande schon vorherrschende Anschauung, dass die Monarchie zu keiner Kraftäußerung mehr fähig ist, bedenklich befestigt. Die Folgen, die dies nach innen und außen haben würde, liegen ja auf der Hand.“
Die Herren der deutschen Diplomatie in Wien waren also mit Berchtold nicht ganz zufrieden und trauten ihm nicht vollständig. Nicht aber deswegen, weil er zum Kriege gedrängt und sie davon abgemahnt hätten, sondern weil sie fürchteten, „die Monarchie“ sei keiner „Kraftäußerung“ mehr fähig und die ganze Aktion werde, statt mit einem frisch-fröhlichen Krieg mit einem unblutigen diplomatischen Erfolg endigen. Leider waren die Befürchtungen, die der deutsche Herr Botschaftsrat zum deutschen Herrn Staatssekretär über den österreichischen Bundesgenossen äußerte, völlig unbegründet.
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Österreichs Zögern. Nachdem die deutsche Regierung am 5. Juli ihren Segen zu dem von Österreich beabsichtigten Krieg gegen Serbien gegeben, drängte sie zu raschestem Losschlagen, während Österreich schwer aus seinem gemütlichen Tempo zu bringen war. Das widersprach ganz den Regeln des preußischen Militarismus, der auf Raschheit der Bewegung den größten Wert legt. Es drohte aber auch das diplomatische Konzept zu verderben, das darauf angelegt war, Europa vor vollendete Tatsachen zu stellen, ehe es noch recht wusste, was geschah, und es zu erschweren, dass sich Serbien mit den Mächten und die Mächte untereinander verständigten. Bestürzung und Wirrwarr sollten die Möglichkeit geben, im Trüben zu fischen und die Gefahr verringern, dass sich die Mächte gegen die frivolen Ruhestörer vereinigten. Deshalb die kurze Frist von 48 Stunden, die den Serben zur Beantwortung der Note zu geben war. Da erschien es gefährlich, mit dem Absenden der Note zu warten, denn jeder Tag des Zögerns konnte neue Zwischenfälle bringen, konnte die Absichten der Verschworenen enthüllen und damit zunichte machen. Das deutsche Drängen, nachdem man einmal zum Kriege seine Zustimmung gegeben, ist also wohl begreiflich. Nicht so begreiflich das österreichische Zögern. Zum Teil mag es der eingewurzelten schwarzgelben Schlamperei zuzuschreiben sein, zum Teil vielleicht auch der damit zusammenhängenden Langsamkeit der Kriegsvorbereitungen, die sofort nach den Potsdamer Beschlüssen in Österreich begonnen hatten. Schon am 12. Juli telegraphiert Jagow an Tschirschky: „Zur streng vertraulichen Orientierung des Grafen Berchtold. Nach geheimen Nachrichten liegt Russland und Serbien die vertrauliche Information vor, dass Österreich-Ungarn seine Garnisonen an serbischer und russischer Grenze unauffällig verstärkt.“
Also nicht bloß an der serbischen, sondern auch an der russischen Grenze traf damals schon Österreich Kriegsvorbereitungen. Das ist sehr wichtig wegen der Erörterungen über die verschiedenen Mobilmachungen. Die Mobilisierung ist der wichtigste, auffälligste, letzte Akt der Kriegsvorbereitungen, aber nicht der einzige, Truppenverschiebungen, Ansammlung und Transport von Kriegsgerät, Rückberufung beurlaubter Offiziere, Bereitstellung von Transportmitteln und dergl. können vorgenommen werden, ehe die Mobilisierung verkündet wird. Diese wird umso rascher und wirksamer vor sich gehen können, je besser die übrigen Kriegs65
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vorbereitungen getroffen sind. Die Zentralmächte konnten darin beim Ausbruch der Krise am 24. Juli den anderen weit voraus sein, weil sie ja seit dem 5. mit der Möglichkeit eines Krieges mit Russland rechneten. Trotzdem blieb wohl Österreich weiter zurück, als den deutschen Kriegspolitikern lieb war. Erklärte es doch auch schließlich Russland erst am 6. August den Krieg, trotzdem es schon am 31. Juli die allgemeine Mobilmachung angeordnet hatte. Dazu kamen noch Unstimmigkeiten zwischen den Staatsmännern des Doppelstaates Österreich-Ungarn, der so wenig ein einheitliches Wesen war, dass seine Politiker keinen anderen Namen für ihn wussten, als „die Monarchie“. Am 5. Juli hatte sich Berchtold schon in Potsdam die Erlaubnis zum Kriege gegen Serbien geholt, aber erst am 14. Juli konnte Tschirschky berichten, dass auch Budapest seine uneingeschränkte Erlaubnis gebe. Und da erst begannen die Minister in Wien mit dem Versuch, sich über die Absichten Serbien gegenüber untereinander zu verständigen. Merkwürdigerweise hatte man früher auch in Berlin nicht das Bedürfnis gehabt, sich über die Ziele des Krieges klar zu werden, den man bereits gebilligt hatte und zu dessen Eröffnung man drängte. Erst am 17. Juli telegraphierte Jagow an Tschirschky: „Wie Ew. Exz. aus der Verlesung der Aufzeichnung des Grafen Hoyos über seine Unterredung mit dem Herrn Unterstaatssekretär bekannt ist, hat Graf Hoyos hier geäußert, Österreich müsse Serbien völlig aufteilen. Graf Berchtold und Graf Tisza haben hierzu bemerkt, dass diese Äußerung nur die persönliche Ansicht des Grafen Hoyos wiedergäbe, haben sich also mit ihr ausdrücklich nicht identifiziert, sich aber scheinbar über ihre territorialen Pläne auch nicht weiter ausgelassen. Für die diplomatische Behandlung des Konfliktes mit Serbien wäre es von dessen Beginn an nicht unwichtig zu wissen, welches die Ideen der österreichischungarischen Staatsmänner über die künftige Gestaltung Serbiens sind, da diese Frage von wesentlichem Einfluss auf die Haltung Italiens und auf die öffentliche Meinung und die Haltung Englands sein wird. Dass die Pläne der Staatsmänner der Donaumonarchie durch den Gang der Ereignisse beeinflusst und modifiziert werden können, ist wohl als selbstverständlich anzusehen, immerhin sollte man annehmen, dass das Wiener Kabinett sich doch schon ein allgemeines Bild der zu erstrebenden Ziele auch in territorialer Hinsicht gemacht hat. Ew. Exz. wollen versuchen, im Gespräch mit dem Grafen Berchtold sich hierüber eine Aufklärung zu verschaffen, dabei aber den Eindruck vermeiden, als wollten wir der österreichischen Aktion von vornherein hemmend in den Weg treten oder ihr gewisse Grenzen oder Ziele vorschreiben. Es wäre uns nur von Wert, einigermaßen darüber orientiert zu sein, wohin der Weg etwa führen soll.“
Dieses Schriftstück ist sicher höchst merkwürdig. 66
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Man denke! Am 5. Juli sanktioniert die deutsche Regierung den Krieg gegen Serbien mit dem Bewusstsein, dass es ein Weltkrieg werden kann. Seitdem drängt sie auf rasches Losschlagen, und am 17. fängt der Staatssekretär des Auswärtigen in Wien schüchtern an, ob er „einigermaßen darüber orientiert“ werden könnte, „wohin der Weg“ des Krieges „etwa führen soll“. Und er fragt das nicht einmal, um seine eigenen Entschlüsse danach einzurichten -- nach wie vor behält Österreich freie Bahn --, sondern nur, um imstande zu sein, Italien und England diplomatisch richtig zu „behandeln“. Eine ganz klare Antwort hat Berlin darüber von Wien nie bekommen, aus dem einfachen Grunde, weil man dort selbst nicht wusste, „wohin der Weg führen sollte“. Die beiden Zentralmächte haben den furchtbarsten aller Kriege entfesselt, ohne über Zweck und Ziel auch nur seines Ausgangspunktes klar zu sein. Die Antwort sollte in Wien am 19. Juli gegeben werden in einem Ministerrat „für gemeinsame Angelegenheiten“ über „die bevorstehende diplomatische Aktion gegen Serbien“, in dem die Ziele des Krieges festgelegt werden sollten, den zu erzwingen man entschlossen war. In jener Sitzung stellte Graf Tisza die Forderung auf, dass mit der Aktion gegen Serbien keine Eroberungspläne der Monarchie verknüpft werden dürften. Man müsste sich auf die aus militärischen Gründen bedingten Grenzberichtigungen beschränken. Er verlangte darüber einen einstimmigen Beschluss. Als Magyare wollte er keine Vermehrung der Zahl der Serben in der Monarchie. Graf Berchtold war anderer Meinung: Er meinte, dass er sich dieser Auffassung nur mit einer gewissen Reserve anschließen könne. Auch er sei der Meinung, dass Österreich-Ungarn von Serbien kein Gebiet annektiere, wohl aber, dass möglichst große Stücke an Bulgarien, Griechenland und Albanien, eventuell auch an Rumänien zuzuweisen seien. Serbien müsse so verkleinert werden, „dass es nicht mehr gefährlich sei“. Die Situation auf der Balkanhalbinsel könne sich jedoch ändern. Es sei möglich, „dass es uns am Ende des Krieges nicht mehr möglich sein wird, nichts zu annektieren.“ Man sieht, die Ansichten, die der Graf Hoyos am 5. Juli in Berlin entwickelt hatte, waren nicht nur seine persönlichen Ansichten, sondern ebenso sehr die des Grafen Berchtold. Graf Tisza ließ jedoch die Reserven des Grafen Berchtold nicht gelten. Graf Stürgkh meinte, auch wenn die Besetzung serbischer Gebietsteile ausgeschlossen wäre, könnte durch die Absetzung der Dynastie, durch eine Militärkonvention oder durch andere entsprechende Maßnahmen Sicherheit geschaffen werden. Da der Kriegsminister sich bereit zeigte, die Beschrän67
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kung einer Annexion auf strategische Grenzberichtigungen und auf die dauernde Besetzung eines Brückenkopfes jenseits der Save gutzuheißen, wurde von den versammelten Ministern einstimmig beschlossen: „dass sofort bei Beginn des Krieges den fremden Mächten erklärt werde, dass die Monarchie keinen Eroberungskrieg führe und nicht die Einverleibung des Königreichs beabsichtigt. Natürlich sollen strategisch notwendige Grenzberichtigungen sowie die Verkleinerung Serbiens zugunsten anderer Staaten sowie eventuelle notwendige vorübergehende Besetzungen serbischer Gebiete durch diesen Beschluss nicht ausgeschlossen werden.“ (Rotbuch von 1919, S. 65--67.) Von diesem ganzen Programm teilte man vorsichtigerweise den Mächten nur den ersten Satz mit, dass „die Monarchie keinen Eroberungskrieg“ führe. Man unterschlug der Öffentlichkeit die weiteren Sätze, die in Wirklichkeit das verleugnete Programm des Grafen Hoyos enthielten und auch den Vorbehalt des Grafen Berchtold nicht ausschlossen, den er so fein in die Worte gekleidet hatte, es werde uns „am Ende des Krieges nicht mehr möglich sein, nichts zu annektieren“.
Tisza war merkwürdigerweise mit diesem Abschluss ganz einverstanden. Er machte zwar nicht die Eroberung, wohl aber die Vernichtung Serbiens zum Kriegsziel. Dorthin sollte also der Weg „etwa“ führen nach den Absichten der österreichischen Staatslenker. Wohin er wirklich führte, hat unmittelbar vorher, am 16. Juli, Fürst Lichnowsky dem Reichskanzler in einem trefflichen Exposé auseinandergesetzt, das hier vollständig wiedergegeben sei. Lichnowsky schrieb: „Vom Standpunkt des Grafen Berchtold ist es vollkommen begreiflich, dass er seine durch den Bukarester Frieden stark erschütterte Stellung und den durch den Abfall Rumäniens verminderten Einfluss der Monarchie auf dem Balkan dadurch wieder zu heben gedenkt, dass er die jetzige verhältnismäßig günstige Gelegenheit zu einem Waffengange mit den Serben benutzt. Die leitenden militärischen Persönlichkeiten in Österreich haben bekanntlich schon seit längerer Zeit dahin gedrängt, das Ansehen der Monarchie durch einen Krieg zu befestigen. Einmal war es Italien, dem der Irredentismus ausgetrieben, ein andermal Serbien, das durch Kriegstaten à la Prinz Eugen zu Entsagung und zu besseren Sitten gezwungen werden sollte. Ich begreife, wie gesagt, diesen Standpunkt der österreichischen Staatsleiter und würde in ihrer Lage vielleicht schon früher die serbischen Wirren dazu benutzt haben, um die südslawische Frage im Habsburgischen Sinne zu lösen.
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Die erste Voraussetzung für eine derartige Politik müsste aber ein klares Programm sein, das auf der Erkenntnis beruht, dass der heutige staats- und völkerrechtliche Zustand innerhalb der serbokroatischen Völkerfamilie, der einen Teil dieser nur durch die Religion, nicht aber durch die Rasse gespaltenen Nation dem österreichischen, einen anderen dem ungarischen Staat, einen dritten der Gesamtmonarchie und einen vierten und fünften endlich unabhängigen Königreichen zuweist, auf die Dauer nicht haltbar ist. Denn das Bestreben, den geheiligten status quo aus Bequemlichkeitsgründen unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, hat schon oft und so erst bei der jüngsten Balkankrise zu einem völligen Zusammenbruch des auf diesen Grundlagen erbauten politischen Kartenhauses geführt. Zunächst bezweifle ich nun, dass in Wien ein großzügiger Plan, der allein die Grundlage einer dauernden Regelung der südslawischen Frage bieten würde, ich meine den Trialismus mit Einschluss Serbiens, gefasst worden ist. Nach meiner Kenntnis der dortigen Verhältnisse glaube ich auch gar nicht, dass man in der Lage ist, eine derartige staatsrechtliche Umgestaltung der Monarchie in die Wege zu leiten. Denn es wäre hierzu vor allem der Widerstand Ungarns zu überwinden, das sich gegen eine Abtretung von Kroatien mit Fiume auf das äußerste wehren würde. Zur Durchführung eines derartigen Programms fehlt es in Wien auch an der hierzu geeigneten kraftvollen Persönlichkeit. Man sucht dort vielmehr wohl nur den Bedürfnissen des Augenblicks zu genügen und ist froh, wenn die vielen politischen Schwierigkeiten, die niemals aussterben, da sie sich aus der Verschiedenartigkeit der Zusammensetzung des Reiches ergeben, so weit behoben sind, dass Aussicht besteht, wieder einige Monate fortwursteln zu können. Eine militärische Züchtigung Serbiens hätte daher niemals den Zweck oder das Ergebnis einer befriedigenden Lösung der so überaus schwierigen südslawischen Frage, sondern bestenfalls den Erfolg, die mühsam beigelegte orientalische Frage von neuem ins Rollen gebracht zu haben, um Österreich eine moralische Genugtuung zu verschaffen. Ob Russland und Rumänien hierbei müßig zusehen und Österreich freie Hand lassen würden, werden Eure Exzellenz besser zu beurteilen in der Lage sein als ich. Nach meinen hiesigen Eindrücken, namentlich aber nach den vertraulichen Unterhaltungen, die ich mit Sir Edward Grey gehabt habe, glaube ich, dass meine kürzlich in Berlin vertretenen Ansichten über die Absichten Russlands uns gegenüber zutrafen. Sir Edward Grey versichert mir, dass man in Russland nicht daran denke, mit uns Krieg führen zu wollen. Ähnliches sagt mir mein Vetter Graf Benckendorff. Eine gewisse antideutsche Stimmung kehre dort von Zeit zu Zeit regelmäßig wieder, das hänge 69
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mit dem slawischen Empfinden zusammen. Dieser Strömung gegenüber bestehe aber immer eine starke prodeutsche Partei. Weder der Kaiser noch irgendeine der maßgebenden Persönlichkeiten sei antideutsch und seit der Beilegung der Liman-Frage sei keine ernste Verstimmung wieder eingetreten. Hingegen gab Graf Benckendorff offen zu, dass ein starkes anti-österreichisches Empfinden in Russland bestehe. Es denke aber dort niemand daran, Teile von Österreich, wie etwa Galizien, erobern zu wollen. Ob angesichts dieser Stimmung es möglich sein würde, die russische Regierung beim österreichisch-serbischen Waffengange zur passiven Assistenz zu bewegen, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich aber glaube mit Bestimmtheit sagen zu können, ist, dass es nicht gelingen wird, im Kriegsfalle die hiesige öffentliche Meinung zuungunsten Serbiens zu beeinflussen, selbst durch Heraufbeschwörung der blutigen Schatten Dragas und ihres Buhlen, deren Beseitigung vom hiesigen Publikum schon längst vergessen ist und daher zu den historischen Ereignissen gehört, mit denen, soweit außerbritische Länder in Frage kommen, man hier im Allgemeinen weniger Vertrautheit besitzt, als bei uns etwa der durchschnittliche Quartaner. Ich bin nun weit entfernt, für eine Preisgabe unserer Bundesgenossenschaft oder unseres Bundesgenossen einzutreten. Ich halte des Bündnis, das sich in dem Empfindungsleben beider Reiche eingelebt hat, für notwendig und schon mit Rücksicht auf die vielen in Österreich lebenden Deutschen für die natürliche Form ihrer Zugehörigkeit zu uns. Es fragt sich für mich nur, ob es sich für uns empfiehlt, unseren Genossen in einer Politik zu unterstützen bzw. eine Politik zu gewährleisten, die ich als eine abenteuerliche ansehe, das sie weder zu einer radikalen Lösung des Problems noch zu einer Vernichtung der großserbischen Bewegung führen wird. Wenn die k. u. k. Polizei und die bosnischen Landesbehörden den Thronfolger durch eine „Allee von Bombenwerfern“ geführt haben, so kann ich darin keinen genügenden Grund erblicken, damit wir den berühmten pommerschen Grenadier für die österreichische Pandurenpolitik aufs Spiel setzen; nur damit das österreichische Selbstbewusstsein gekräftigt werde, das in diesem Falle, wie die Ära Ährenthal gezeigt hat, sich als vornehmste Aufgabe die Möglichste Befreiung von der Berliner Bevormundung hinstellt. Sollte aber wirklich für unsere politische Haltung die Ansicht ausschlaggebend sein, dass nach Verabreichung des „Todesstoßes“ an die großserbische Bewegung das glückliche Österreich von dieser Sorge befreit sich uns für die geleistete Hilfe dankbar erweisen wird, so möchte ich die Frage nicht unterdrücken, ob nach Niederwerfung des ungarischen Aufstandes durch die Hilfe des Kaisers Nikolaus und die vielseitige Inanspruchnahme des Galgens 70
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nach Bezwingung der Ungarn bei Vilagos und unter der Oberleitung des kaiserlichen Generals Haynau die nationale Bewegung in Ungarn erdrückt wurde und ob die rettende Tat des Zaren ein inniges und vertrauensvolles Verhältnis zwischen beiden Reichen begründet hat.“ So Lichnowsky am 16. Juli. Natürlich hatten alle seine Warnungen den üblichen Erfolg von Kassandrarufen. Sie wurden absolut nicht begriffen. Inzwischen war Poincarés Abreise nach Petersburg gekommen, ohne dass die Note an Serbien abgegangen war. So entschloss man sich wie wir schon gesehen, mit ihrer Überreichung zu warten, bis Poincaré Petersburg verlassen hatte. Darüber berichtete Tschirschky am 14. Juli: „Nachdem mich Graf Tisza verlassen hatte, bat Graf Berchtold mich zu sich, um mir seinerseits das Ergebnis der heutigen Besprechung mitzuteilen. Zu seiner großen Freude sei allseitige Übereinstimmung über den Tenor der an Serbien zu übergebenden Note erzielt worden. Graf Tisza sei seiner, des Ministers Auffassung in erfreulicher Weise entgegengekommen und habe sogar in manche Punkte seine Verschärfung hineingebracht. Allerdings habe sich in technischer Beziehung die Unmöglichkeit herausgestellt, die Note schon am 16. oder 18. in Belgrad zu übergeben. Es habe Einmütigkeit darüber in der heutigen Besprechung bestanden, dass es empfehlenswert sei, jedenfalls die Abfahrt des Herrn Poincaré aus Petersburg abzuwarten, ehe man Schritte in Belgrad tue (schade! W.), denn es sei, wenn möglich, zu vermeiden, dass in Petersburg bei Champagnerstimmung und unter dem Einfluss der Herren Poincaré, Iswolsky und der Großfürsten eine Verbrüderung gefeiert werde, die dann die Stellungnahme beider Mächte beeinflussen und womöglich festlegen würde. Es sei auch gut, wenn die Toaste nach der Übergabe der Note erledigt seien. Es würde also die Übergabe am 25. Juli erfolgen können. Graf Berchtold bat mich, wie dies auch Graf Tisza getan, ausdrücklich und wiederholt meiner Regierung gegenüber keinen Zweifel darüber zu lassen, das lediglich die Anwesenheit Poincarés in Petersburg der Grund für den Aufschub der Übergabe der Note in Belgrad sei, und dass man in Berlin vollkommen sicher sein könne, dass von einem Zögern oder einer Unschlüssigkeit hier keine Rede sei.“
Diese steten Versicherungen, Berlin könne sich auf Wiens Kriegswillen verlassen, sind sehr bemerkenswert. Im Wiener Ministerrat vom 19. Juli erklärte auch Berchtold, er sei gegen jede unnötige Verschiebung, „da man schon jetzt beginne, in Berlin nervös zu werden und Nachrichten über unsere Intentionen schon nach Rom durchgesickert seien, so dass er nicht für unerwünschte Zwischenfälle gutstehen könne, wenn man noch die Sache hinausschieben würde. Conrad v. Hötzendorf dränge auf Eile. Der Kriegsminister erklärt, für die Mobilmachung sei alles bereit!“
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Man wollte also die Note so bald als möglich überreichen, aber nicht früher, als der französische Präsident Russland verlassen. Es ist ergötzlich, zu sehen, mit welcher Sorgsamkeit nun dessen Reiseroute studiert wird und einer der beiden Verschworenen dem andern seine Beobachtungen über die Bewegungen des ahnungslosen Wanderers zukommen lässt. Am 17. Juli wird aus Wien mitgeteilt, man werde die Note schon am 23. Juli übergeben, da an diesem Tage Poincaré Petersburg verlasse. Nun aber wurde sogar die Stunde der Abfahrt wichtig. Am 21. Juli teilt der Admiralsstab der Marine Jagow mit, die Abfahrt von Kronstadt sei auf den 23. um 10 Uhr abends festgesetzt. Am selben Tage telegraphiert Jagow an den Gesandten in Petersburg die Frage: „Um wieviel Uhr ist am Donnerstag Abfahrt des Präsidenten von Kronstadt vorgesehen?“
Am 22. telegraphiert Jagow nach Wien: „Hatte Graf Pourtalès nach Programm des Besuches Poincarés befragt. Derselbe meldet, dass Präsident Donnerstagabend 11 Uhr von Kronstadt abfährt. Dies wäre nach mitteleuropäischer Zeit 9.30 Uhr. Wenn Demarche in Belgrad morgen Nachmittag 5 Uhr gemacht wird, würde sie also noch während Anwesenheit Poincarés in Petersburg bekannt werden.“
Darauf antwortet Tschirschky am 23.: „K. u. k. Regierung dankt für Information. Baron Giesl ist angewiesen, Übergabe um eine Stunde zu verschieben.“
So kam es, dass die Note am 23. um 6 Uhr abends überreicht wurde. Man sieht, welche Sorgen die österreichischen und deutschen Minister vor Ausbruch des Weltkrieges plagten. Eine falsche Rechnung. Man hatte beabsichtigt, überraschend loszuschlagen, um Europa ehe es recht zur Besinnung gekommen war, vor vollendete Tatsachen zu stellen, denen es sich am ehesten beugen mochte. In dieser Weise hoffte man durch die Überrumpelung mit der Kriegserklärung den Weltfrieden zu erhalten. Das war eine Friedenspolitik eigener Art, dennoch wagt noch das deutsche Weißbuch von Juni 1919 die friedlichen Absichten der Reichsregierung von 1914 zu beteuern. Diese sollen daraus hervorgehen, dass sie wohl die Möglichkeit eines Krieges mit Russland in Betracht zog, aber mit der Wahrscheinlichkeit eines allgemeinen Krieges nicht rechnete. 72
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Sie hoffte sogar, Russland werde sich wieder, wie schon bei den früheren Balkankrisen, einschüchtern lassen, wenn man es überrumpele, vor vollendete Tatsachen stellte und nicht nachgab. Im Übrigen verließ man sich auf sein Glück. Noch am 28. Juli berichtete Baron Beyens aus Berlin: „In Wien wie in Berlin war man überzeugt, trotz der jüngst erst zwischen dem Zaren und Poincaré ausgetauschten offiziellen Versicherungen über die vollständige Rüstung der Armeen des Zweibundes sei Russland nicht imstande, einen europäischen Krieg zu unternehmen und es würde nicht wagen, sich in ein so furchtbares Abenteuer zu stürzen. Die beunruhigende Lage im Innern, revolutionäre Umtriebe, unvollständige Rüstung, unvollkommene Verkehrswege -- alle diese Gründe zwängen die russische Regierung, ohnmächtig der Exekution Serbiens zuzusehen. Dieselbe geringschätzige Meinung hegte man, wenn nicht von der französischen Armee, so doch von dem Geist, der in den Regierungskreisen Frankreichs herrscht... Die Meinung, dass Russland einem europäischen Krieg nicht gewachsen ist, herrschte nicht nur im Schoß der kaiserlichen Regierung, sondern auch bei den deutschen Industriellen, deren Spezialität Kriegslieferungen sind. Der Kompetenteste unter ihnen, um ein Beispiel anzuführen, Herr Krupp von Bohlen, versicherte einem meiner Kollegen, die russische Artillerie sei weit davon entfernt, gut und vollständig zu sein, während die deutsche niemals besser gewesen sei. Er fügte hinzu: Es wäre für Russland ein Wahnsinn, unter diesen Bedingungen den Krieg an Deutschland zu erklären.“
Diese Mitteilung Beyens wird bestätigt durch den oben mitgeteilten Bericht Szögyenys über sein Gespräch mit Wilhelm am 5. Juli, der seinerseits wieder seine Bestätigung findet in dem, was Tirpitz in seinen Erinnerungen vom 6. Juli erzählt: „Nach den Ausführungen, die er (Kaiser Wilhelm) am Vormittag des 6. Juli meinem Amtsvertreter im Park des Potsdamer Neuen Palais machte, hielt der Kaiser ein Eingreifen Russlands zur Deckung Serbiens für nicht wahrscheinlich, weil der Zar die Königsmörder nicht unterstützen würde und Russland zurzeit militärisch und finanziell kriegsunfähig wäre. Der Kaiser setzte ferner etwas sanguinisch voraus, Frankreich würde Russland bremsen, wegen Frankreichs ungünstiger Finanzlage und seines Mangels an schwerer Artillerie. Von England sprach der Kaiser nicht. An Verwicklungen mit diesem Staat wurde überhaupt nicht gedacht.“ (S. 209.)
In gleichem Sinne äußerte sich Jagow am 18. Juli in einem Briefe an Lichnowsky: „Je entschlossener sich Österreich zeigt, je energischer wir es stützen, umso eher wird Russland still bleiben. Einiges Gepolter wird in Petersburg zwar nicht ausbleiben, aber im Grunde ist Russland jetzt nicht schlagfertig. Frankreich und England werden jetzt auch den Krieg nicht wünschen. In einigen Jahren wird
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Russland nach aller kompetenten Annahme schlagfertig sein. Dann erdrückt es uns durch die Zahl seiner Soldaten, dann hat es seine Ostseeflotte und seine strategischen Bahnen gebaut. Unsere Gruppe wird inzwischen immer schwächer. In Russland weiß man es wohl, und will deshalb für einige Jahre absolut noch Ruhe. Ich glaube gern Ihrem Vetter Benckendorff, dass Russland jetzt keinen Krieg mit uns will. Dasselbe versichert Sasonow. Aber die Regierung in Russland, die heute noch friedliebend und halbwegs deutschfreundlich ist, wird immer schwächer, die Stimmung des Slawentums immer deutschfeindlicher... Ich will keinen Präventivkrieg. Aber wenn der Kampf sich bietet, dürfen wir nicht kneifen.“
Also Jagow glaubt nicht, dass Russland im Moment Krieg führen kann und wird. Er will auch einen Präventivkrieg nicht geradezu erzwingen. Aber wenn er doch kommt, ist er eigentlich ein Glücksfall für das Deutsche Reich und seinen Verbündeten. Das war in jenen Tagen eine verbreitete Meinung nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland. Unmittelbar nach Kriegsausbruch erklärte Herr Paul Rohrbach, eine alldeutsche Größe und mit den Gedankengängen des deutschen Generalstabs wohl vertraut: „Für uns, d. h. für Deutschland und Österreich-Ungarn, bestand die Hauptsorge diesmal darin, dass wir durch eine vorübergehende und scheinbare Nachgiebigkeit Russlands moralisch gezwungen werden konnten, zu warten, bis Russland und Frankreich wirklich bereit waren.“ (Der Krieg und die deutsche Politik, Dresden, Verlag „Das größere Deutschland“, S. 82, 83.)
Für die Kriegsbegierde dieser Kreise ist es bezeichnend, dass sie den Krieg, als er wirklich hereinbrach, nicht angstvoll oder mit Trauer, als eine furchtbare Katastrophe, sondern mit Jubel, als eine Erlösung begrüßten. Am 7. Juni 1915 erzählte der König von Bayern: „Auf die Kriegserklärung Russlands folgte die Frankreichs, und als dann auch noch die Engländer über uns herfielen, da habe ich gesagt: „Ich freue mich darüber, und ich freue mich deswegen, weil wir jetzt mit unsern Feinden Abrechnung halten können; und weil wir jetzt endlich einen direkten Ausgang vom Rhein zum Meere bekommen.“
Das war die Friedensliebe deutscher Regenten beim Ausbruch des Krieges. Aber sicher waren nicht alle so dumm und leichtfertig, den Krieg zu ersehnen. Die entscheidenden Männer des Auswärtigen Amtes „riskierten“ ihn allerdings, hofften indes doch, es werde wieder so gehen, wie 1909 und 1913, wo Russland wegen mangelnder Rüstung zurückwich. Sie zogen nicht in Betracht, dass das russische Reich diesmal auf eine besonders harte Probe gestellt würde: es sollte ohne Schwertstreich alle seine politischen Positionen auf dem Balkan räumen, diesen völlig an Österreich ausliefern.
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Indes, wenn man überraschend handelte, Russland keine Zeit ließ, sich mit seinen Freunden zu verständigen, dann war es am ehesten möglich, es „friedlich“ auf die Knie zu zwingen. Sollte es sich aber unerwarteterweise wehren, dann hatte man militärisch auch die besten Aussichten, wenn man dem Gegner möglichst wenig Zeit ließ, sich vorzubereiten. Die Einschläferung Europas. Die öffentliche Meinung musste unter allen Umständen eingeschläfert werden bis zu dem Zeitpunkt, wo man losgehen konnte. Das war nicht so einfach. Man wollte das Ausland kalmieren und gleichzeitig die eigene Bevölkerung in Kriegsstimmung versetzen, was unbedingt notwendig war, wollte man nicht von Anfang an in seinen Aktionen gelähmt sein. Und andererseits scheint keiner der beiden Verbündeten dem andern recht getraut zu haben. Jeder witterte bei dem andern „Faulheit“, wenn die Presse nicht energisch hetzte. Das gab zu mancher erbaulichen Darlegung Anlass: „Norddeutsche bringt morgen Bemerkungen zum österreichisch-serbischen Streit, die mit Rücksicht auf europäische Diplomatie absichtlich mild gefasst sind. Das hochoffizielle Blatt sollte nicht vorzeitig alarmieren. Bitte dafür zu sorgen, dass dies nicht fälschlicherweise als deutsches Abrücken von dortiger Entschlossenheit gedeutet wird.“
Vorher schon, am 15. Juli, hatte Berchtold sich zu Szögyeny nach Berlin geäußert: „Aus dieser auch uns nicht erwünschten Verzögerung lässt sich auch die Haltung unserer offiziösen Presse unschwer erklären. Wir müssen momentan einerseits ein Abflauen der unserer Politik günstigen öffentlichen Meinung der Monarchie verhindern, andererseits nicht durch eine die Situation systematisch zuspitzende Sprache unserer Presse bei andern Mächten etwa eine Mediationsgedanken aufkommen lassen.“
Zu der Regelung der Sprache der Presse gesellten sich noch andere Einschläferungsmittel. Vor allem das Verreisen der militärischen Chefs. Wir haben schon gesehen, dass der Kriegsminister und der Chef des Generalstabs in Österreich ausdrücklich zu dem Zweck der Irreführung Europas auf Urlaub geschickt wurden. Wilhelm bemerkt dazu, das sei kindisch. Das ist nicht recht zu verstehen, denn er selbst ging damals auch auf Urlaub.
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Hier ist nochmals auf die so geheimnisvollen Besprechungen zurückzukommen, die Wilhelm vor Antritt seiner Nordlandsfahrt noch abgehalten hat. Und zwar so geheim als möglich abgehalten, um nicht vorzeitig zu alarmieren. Die strenge Geheimhaltung bezeugt der Schlusssatz der Bussche’schen Aufzeichnung vom August 1917: „Quelle durchaus zuverlässig.“ Es handelte sich demnach nicht um eine in Regierungskreisen allgemein bekannte Tatsache, sondern um eine, von der nur wenige Vertraute wussten. Wenn die Öffentlichkeit etwas von einem Kriegsrat erfahren hätte, dann war sofort der Katze die Schelle angehängt, dann wusste alle Welt, was in jenen Beratungen ausgeheckt worden war. So unumgänglich notwendig die Zusammenkunft mit Militärs unmittelbar nach der Besprechung des Kaisers mit Bethmann dadurch geworden war, dass der Kaiser sofort darauf seine Nordlandreise antrat, so war nicht minder notwendig die ängstliche Geheimhaltung jener Zusammenkunft. Diese Nordlandreise war vorher geplant gewesen. Ihre Verschiebung hätte Verdacht erregen können. Sie wurde nun ebenfalls ein Mittel, Europa in Sicherheit zu wiegen. Wie konnte eine Ahnung des Ernstes der Situation aufkommen, wenn der deutsche Kaiser mit seiner Flotte eine Spazierfahrt nach dem Norden unternahm! Am 7. Juli trat er seine Reise an, von der er erst am 27. zurückkehrte. Natürlich stand er auch auf hoher See in steter Verbindung mit Berlin. Das Bestreben, Europa einzuschläfern, zeitigte da manche eigenartigen Blüten. So telegraphierte am 11. Juli der Graf Wedel im Gefolge des Kaisers von Bergen aus: „Bei Vorlage des vom Auswärtigen Amt redigierten üblichen Glückwunschtelegrammentwurfs für morgigen Geburtstag des Königs von Serbien haben S. M. mir befohlen, bei Ew. Exz. anzufragen, ob ein solches Telegramm im gegenwärtigen Augenblick notwendig und unbedenklich erscheint.“
Worauf Jagow antwortet: „Da Wien noch keinerlei Schritte in Belgrad unternommen hat, würde Unterlassung des gewohnten Telegramms zu sehr auffallen und eventuell zu frühzeitige Beunruhigung herbeiführen. Befürworte daher Absendung.“
So wurde auf den lieben Vetter, den man für einen bluttriefenden Mörder erklärte, rasch noch auf zärtlichste Weise vom Himmel aller Segen herabgefleht, bevor man ihm den Dolch in den Rücken stieß. So vergnüglich die Lustfahrt vor dem Beginn des großen Mordens sein mochte, sie machte Wilhelm schließlich nervös, als die Entscheidung nahte. Der Reichskanzler wollte ihn solange als möglich fort haben, damit Europa
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ruhig bleibe, nicht Lunte rieche. Wilhelm dagegen begann zu fürchten, die brennende Lunte könne eine vorzeitige Explosion hervorrufen und er sei dann mit seiner Flotte an der norwegischen Küste den Engländern preisgegeben oder Russland bekomme bei Kriegsbeginn freie Hand in der Ostsee. Er drängte heim. Am 18. Juli bat Jagow den Grafen Wedel um genaue Angabe der Reiseroute der „Hohenzollern“ und fügte hinzu: „Da wir eventuellen Konflikt zwischen Österreich und Serbien zu lokalisieren wünschen, dürfen wir Welt durch verfrühte Rückkehr S. M. nicht alarmieren, andererseits müsste allerhöchst derselbe erreichbar sein, falls nicht vorherzusehende Ereignisse auch für uns wichtige Entscheidungen (Mobilmachungen) benötigen sollten. Eventuell wäre an Kreuzen in der Ostsee für letzte Reisetage zu denken.“
Am 19. Juli befiehlt Wilhelm, die Flotte bis zum 25. zusammenzuhalten, so dass sie „Befehl zum Abbruch der Reise schnell ausführen kann.“ Bethmann, der in jener Krisenzeit statt in Berlin auf Hohenfinow weilt (auch zur Beruhigung der Nerven Europas?) telegraphiert daraufhin am 21. ans Auswärtige Amt: „Befehl S. M. wegen Zusammenhaltens der Flotte bis 25. lässt mich besorgen, dass, wenn alsdann Ultimatum abgelehnt ist, auffällige Flottenbewegungen von Balmholm aus (wo der Kaiser weilte) befohlen werden könnten. Auf der andern Seite könnte im Falle einer Krise falscher Standort der Flotte verhängnisvoll werden!“
Daher bat Bethmann um die Ansicht des Admiralstabs. Dieser antwortete am 22. Juli, im Falle einer Kriegserklärung Englands sei „mit Sicherheit mit einem Überfall unserer Flotte durch die englische zu rechnen.“ Jagow telegraphiert dem Reichskanzler beruhigend, England sei ganz friedlich, lasse seine Flotte, die zu Manövern zusammengezogen war, am 27. auseinandergehen. Am 23. telegraphiert dann der Reichskanzler an den Grafen Wedel, die österreichische Note werde „heute Nachmittag“ überreicht, das Ultimatum laufe am 25. ab. Deutschland werde zunächst sagen, die ganze Geschichte gehe es nichts an. „Erst Eingreifen anderer Mächte würde uns in den Konflikt einbeziehen. Dass dies sofort geschieht, namentlich dass England sich gleich zum Eingreifen entschließt, ist nicht anzunehmen: Schon die Reise des Präsidenten Poincaré, der heute Abend Kronstadt verlässt, den 25. Stockholm, den 27. Kopenhagen, den 29. Christiana besucht und den 31. Dünkirchen eintrifft, dürfte alle Entschlüsse verzögern.
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Englische Flotte soll nach Mitteilungen des Admiralstabes den 27. auseinandergehen und Heimathäfen aufsuchen. Etwaige vorzeitige Rückberufung unserer Flotte könnte allgemeine Beunruhigung hervorrufen und namentlich in England als verdächtig angesehen werden.“
Doch Wilhelm traut dem Frieden nicht, er gibt am 25. der Flotte den Befehl, sich zu sofortiger Heimreise bereit zu halten. Bethmann beschwört den Kaiser, noch zu warten. Darüber kommt es zu einem Zornesausbruch des Kaisers. Das Telegramm des Reichskanzlers mit Wilhelms Hinzufügungen lautet: „Der Chef des Admiralstabes der Marine teilt mir mit, dass Ew. M. mit Rücksicht auf dein Wolfftelegramm (unerhört! W.) der Flotte Befehl zur schleunigen Vorbereitung der Heimreise erteilt haben (unglaubliche Zumutung! Ist mir gar nicht eingefallen! Auf die Meldung meines Gesandten von der Mobilmachung in Belgrad! Dieses kann Mobilmachung Russlands, wird Mobilmachung Österreichs nach sich ziehen! In diesem Fall muss ich meine Streitmacht zu Lande und zu Wasser beisammen haben. In der Ostsee ist kein einziges Schiff! Ich pflege im Übrigen militärische Maßnahmen nicht nach einem Wolfftelegramm zu treffen, sondern nach der allgemeinen Lage, und die hat der Zivilkanzler (Zivil vom Kaiser unterstrichen. K.) noch nicht begriffen. W.) Admiral von Pohl dürfte E. M. inzwischen die Meldungen E. M. Marineattachés in London und des Vertrauensmannes der Marine in Portsmouth unterbreitet haben, wonach die englische Marine keinerlei auffällige Maßnahmen trifft (braucht sie nicht! Sie ist bereits kriegsbereit, wie die Revue eben gezeigt hat und hat mobilisiert! W.), vielmehr die früher vorgesehenen Dislokationen planmäßig ausführt. Da auch die bisherigen Meldungen E. M. Botschafters in London erkennen lassen, dass Sir E. Grey vorläufig wenigstens an eine direkte Teilnahme Englands an einem eventuellen europäischen Kriege nicht denkt und auf tunlichste Lokalisierung des österreich-ungarisch-serbischen Konflikts hinwirken will, wage ich alleruntertänigst zu befürworten, dass E. M. vorläufig keine verfrühte Heimreise der Flotte befehlen.“ (Wenn Russland mobil macht, muss meine Flotte schon in der Ostsee sein, also fährt sie nach Haus. W.)
Am 26. Juli beschwört Bethmann nochmals seinen kaiserlichen Herrn, „vorläufig in Norwegen zu bleiben, da dies England seine geplante Vermittlungsaktion in Petersburg, das ersichtlich schwankend ist, wesentlich erleichtern wird.“ Wozu Wilhelm bemerkt: „Woher ist das (Petersburgs Schwanken) zu entnehmen? Aus dem mir vorgelegten Material nicht.“
Und vorher schon sagt er zu dem Wunsch, in Norwegen zu bleiben: „Es gibt eine russische Flotte! In der Ostsee sind jetzt auf Übungsfahrten begriffen 5 russische Torpedobootsflottillen, welche ganz oder teilweise in 16
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Stunden vor den Belten stehen und dieselben sperren können. Port Arthur sollte eine Lehre sein! Meine Flotte hat Marschorder nach Kiel und dahin fährt sie!“
Man sieht, Wilhelm rechnet nach der Übergabe des Ultimatums an Serbien mit dem sofortigen Ausbruch des Weltkriegs. Er dampfte daher eilends heim, Bethmann Hollweg zum Trotz. Er beginnt sein aktives Eingreifen in die Kriegspolitik damit, dass er seinen eigenen „alleruntertänigst zu befürworten wagenden“ Kanzler wie einen Stiefelputzer anschnauzt als ein Subjekt, das die allgemeine Lage noch nicht begriffen hat. Die militärische Überhebung glaubt, den Kanzler besonders verächtlich zu behandeln, wenn sie ihn als „Zivilkanzler“ anspricht, der auf die militärischen Maßnahmen nicht den geringsten Einfluss hat. Auf der andern Seite bezeugt das Telegramm nicht nur die Unterwürfigkeit Bethmanns, der sich weniger als Zivilkanzler, denn als Zivilknecht gebärdet, sondern auch die Kurzsichtigkeit und Dummpfiffigkeit seiner Politik, die sich einbildete, die Engländer über die Gefährlichkeit des österreichischen Ultimatums dadurch wenigstens für einige Tage wegzutäuschen, wenn er den Kaiser länger an der norwegischen Küste ließ. Übrigens erwies sich auch seine Spekulation auf Poincarés Reise als verfehlt. Er hatte gehofft, sie werde alle Entschlüsse der Entente verzögern und Österreich bis über den 31. Juli hinaus freie Hand gegenüber Serbien lassen. Aber Poincaré hatte es mit der Heimkehr ebenso eilig wie Wilhelm, und angesichts der gefahrdrohenden Situation mit Recht. Er sagte Besuche ab und traf schon am 29. Juli in Frankreich ein. Nicht minder eifrig hatte gleichzeitig Österreich die Politik der Einschläferung Europas betrieben. Doch fassten die österreichischen Diplomaten die Sache plumper an. Auch stießen sie von vornherein auf größeres Misstrauen. Seit der Aufdeckung ihrer Fälscherkunststücke gegen Serbien stand der Ruf ihrer Wahrheitsliebe fast ebenso niedrig im Kurs, wie heute die österreichische Valuta. Sie machten diesem Rufe all Ehre, indem sie die beruhigendsten Versicherungen über ihre versöhnlichen Absichten abgaben, unmittelbar vor der Übergabe ihres Ultimatums, das absichtlich so brutal gehalten war, dass es unannehmbar erschien. Der französische Botschafter Dumaine in Wien berichtet am 26. Juli: „Herr Schebeko (russischer Botschafter in Wien) ist plötzlich von einer Reise nach Russland zurückgekehrt. Er hatte sie erst nach der vom Grafen Berchtold gegebenen Versicherung angetreten, dass die an Serbien gerichteten Forderungen höchst annehmbar seien.“
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Am 23. Juli berichtet der stellvertretende Minister des Äußern in Paris, Herr Bienvenu Martin an die französischen Botschafter: „Herr Dumaine, den ich beauftragt hatte, die Aufmerksamkeit der österreichischen Regierung auf die in Europa entstandene Unruhe zu lenken, erhielt auf seine Frage von dem Freiherrn von Macchio die Versicherung, der Ton der österreichischen Note und die darin gestellten Bedingungen ließen auf eine friedliche Lösung rechnen. Ich weiß nicht, wie weit man diesen Versicherungen Glauben beimessen kann, wenn man die Gepflogenheiten der kaiserlichen Kanzlei in Betracht zieht.“ Die Gepflogenheiten der Diplomatie keines Landes zeichnen sich durch übermäßige Aufrichtigkeit aus. Aber zu einer so kurzsichtigen Perfidie, die heute etwas behauptet, dessen Verlogenheit sie selbst morgen an den Tag bringen muss, gehört nicht nur eine Schamlosigkeit, sondern auch eine Dummheit, die doch, trotz Oxenstierna, außergewöhnlich ist. Nach derartiger Vorbereitung der öffentlichen Meinung wurde das Ultimatum an Serbien am 23. Juli abends überreicht. 12. Das Ultimatum an Serbien. Die Überreichung der Note. Am 23. Juli wurde die österreichischen Note in Belgrad übergeben. Sie war in Wirklichkeit ein Ultimatum, das binnen 48 Stunden bedingungslose Annahme der von Österreich erhobenen Forderungen verlangte. Der österreichische Gesandte in Belgrad, Freiherr von Giesl, hatte die Note am 23. in einem Telegramm nach Wien denn auch als „Ultimatum“ bezeichnet, erhielt aber daraufhin die Belehrung, sie sei nur eine „befristete Demarche“, da ihre Ablehnung nicht gleich mit der Kriegserklärung, sondern zunächst nur mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen beantwortet werden sollte. Mit derartigen kleinlichen Haarspaltereien hofften die Staatsweisen vom Ballplatz, in Europa noch ein paar Tage länger den Schein ihrer Friedfertigkeit aufrechterhalten zu können. Am 24. Juli sollte die Note den Mächten überreicht werden, am 25. hatte Serbien sie zu beantworten. Diese unanständige Eile war nach so langem Zögern absichtlich gefordert worden, um jede Beratung Serbiens mit den Mächten und der Mächte untereinander unmöglich zu machen und jede Intervention auszuschließen.
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Deutschland beeilte sich sofort, alle Welt und auch die eigenen Vertreter im Ausland zu versichern, dass es von der Note keine Kenntnis gehabt und auf sie nicht den mindesten Einfluss genommen habe, dass es von ihr ebenso überrascht worden sei, wie die übrigen Mächte. So telegraphierte Jagow an den deutschen Gesandten in Stockholm am 23. Juli, 2 Uhr nachmittags: „Allem Anschein nach soll Österreich-Ungarn, welches sich durch die großserbische Agitation in seiner Existenz bedroht fühlt, sehr ernste Forderungen in Belgrad stellen. Dieselben sind uns nicht bekannt, wir betrachten sie als interne Angelegenheit Österreich-Ungarns, auf welche uns Einwirkung auch nicht zustehen würde.“
An die Botschafter in Paris, London und Petersburg telegraphierte Zimmermann am 24. Juli: „In hiesigen diplomatischen Kreisen ist Ansicht verbreitet, dass wir ÖsterreichUngarn zu scharfer Note an Serbien veranlasst und uns an deren Abfassung beteiligt haben. Gerücht scheint von Cambon auszugehen. Bitte ihm nötigenfalls dort entgegenzutreten. Wir haben keinerlei Einfluss auf Inhalt der Note geübt und ebenso wenig wie andere Mächte Gelegenheit gehabt, dazu vor Publikation in irgend einer Weise Stellung zu nehmen.“
An dieser erbaulichen Instruktion ist nur das eine richtig, dass Cambon in der Tat von Anfang an den Braten roch. Er berichtet am 24. Juli über eine Unterredung mit Jagow: „Ich fragte ihn, ob wirklich das Berliner Kabinett die österreichischen Forderungen in keiner Weise gekannt habe, bevor sie Belgrad mitgeteilt wurden. Als er dies bejahte, sagte ich ihm, ich sei sehr überrascht, ihn so eifrig sich für Ansprüche ins Zeug legen zu sehen, deren Umfang und Tragweite er nicht gekannt habe. „Wohl beachtet,“ unterbrach mich Herr v. Jagow, „nur weil wir persönlich miteinander plaudern, erlaube ich Ihnen, mir das zu sagen.“ (Französ. Gelbbuch von 1914, Nr. 30.)
Die gleiche Versicherung des tugendhaft entrüsteten Jagow erhielt der britische Geschäftsträger, Sir H. Rumboldt, der darüber am 25. Juli nach London berichtete: “Der Staatssekretär wiederholte sehr ernsthaft, dass, obwohl er bezichtigt worden sei, den ganzen Inhalt der Note gekannt zu haben, er tatsächlich diese Kenntnis nicht gehabt habe.“ (Blaubuch, 1914, Nr. 18)
Über diese Besprechung berichtete Cambon am gleichen Tage: „Der britische Geschäftsträger hat sich ebenfalls, wie ich es gestern getan habe, bei Herrn v. Jagow erkundigt, ob Deutschland keine Kenntnis von der österrei-
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chischen Note gehabt habe, bevor sie abgeschickt worden sei, und hat eine so unzweideutig verneinende Antwort erhalten, dass er nicht weiter bei dem Thema bleiben konnte. Aber er konnte nicht umhin, seine Verwunderung über die Blankovollmacht auszusprechen, die Deutschland Österreich gegeben habe.“ (Gelbbuch, Nr. 41.)
Sir Horace Rumboldt, der damals jene Versicherungen bekam, war derselbe, dessen Äußerungen über „Deutschlands gewohnheitsmäßige Verlogenheit“ das Weißbuch vom Juni 1919 zitiert, wie wir schon gesehen haben. Vielleicht kam er Ende Juli 1914 zuerst zu dieser Auffassung. Wenn das Berliner Auswärtige Amt behauptete, es habe „keinerlei Einfluss auf den Inhalt der österreichischen Note geübt und ebenso wenig wie andere Mächte Gelegenheit gehabt, dazu vor der Publikation, also vor dem 24. Juli, in irgend einer Weise Stellung zu nehmen“, so ist nach dem bisher schon Mitgeteilten klar, dass es damit eine bewusste Unwahrheit sagte. Die deutsche Regierung hat genau gewusst, die Note werde so gefasst sein, dass kein Staat, der seine Selbstbestimmung achtete, sie annehmen konnte. Die deutsche Regierung hat diese Absicht Österreichs nicht nur gewusst, sondern gebilligt und ermutigt. Später hat ja das Auswärtige Amt sich über seine Kenntnis der Note vorsichtiger ausgedrückt. Es leugnete bloß die Kenntnis ihres Wortlauts. Den habe man nicht früher kennengelernt als die übrigen Mächte, also erst, nachdem die Note bereits in Belgrad überreicht war. Nicht einmal die Ausflucht ist stichhaltig. Bereits am 21. Juli erhielt Tschirschky ein Exemplar der Note. Er telegraphierte sie nicht nach Berlin. Vielleicht um das Geheimnis des Chiffrenschlüssels nicht zu gefährden. Er übersandte die Note brieflich. Sie langte daher erst am 22. Juli nachmittags im Auswärtigen Amte an. Die anderen Mächte erhielten die Note aber erst am 24.; es ist also, selbst wenn man nicht den Inhalt der Note, sondern nur ihre Schlussfassung in Betracht zieht, falsch, dass Deutschland die Note nicht früher kannte, als die andern Großmächte. Herr Dr. Gooß muss diese unbequeme Tatsache zugeben, er sucht sich oder vielmehr die Bethmannsche Regierung damit zu retten, dass er behauptet, der Text der Note konnte dem Auswärtigen Amt in Berlin „doch erst in einem Zeitpunkt zukommen, in dem eine Beeinflussung des Wiener Kabinetts durch eingehende Beratung und Antragstellung nicht mehr möglich war.“
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Herr v. Jagow berichtet in seinem Buch über den Ausbruch des Weltkriegs, dass Graf Szögyeny in den Abendstunden des 22. Juli zwischen 7 und 8 Uhr zu ihm kam und ihm das Ultimatum brachte. „Nach dem Besuche des Grafen Szögyeny wurde mir dann auch eine inzwischen eingegangene Mitteilung des Ultimatums seitens unseres Botschafters in Wien vorgelegt.“ (S. 110.)
Diese Verspätung ist sicher auffallend. Über 24 Stunden brauchte das Ultimatum, um von Wien nach Berlin zu kommen! Aber auch da wäre es noch früh genug angekommen, dass man seine Übergabe in Belgrad zu verhindern vermochte, wenn man wollte. Jagow behauptet, er habe sofort gesagt, die Note sei „reichlich scharf und über den Zweck hinausgehend“. Der Reichskanzler sei derselben Ansicht gewesen. „Graf Szögyeny erwiderte, da sei nun nichts mehr zu machen, denn das Ultimatum sei schon nach Belgrad gesandt und solle dort am nächsten Morgen übergeben werden.“
Und dabei beruhigten sich Reichskanzler und Staatssekretär. In einer Fußnote bemerkte Jagow nach den Ausführungen im Text seines Buches nur beiläufig: „Der Botschafter muss sich, falls nicht in Wien Schwankungen betr. des Moments der Übergabe stattgefunden haben, hier geirrt haben, denn in Wirklichkeit ist das Ultimatum erst abends um 6 Uhr überreicht.“
Das soll wohl heißen, dass Jagow durch Szögyeny über den Zeitpunkt der Überreichung des Ultimatums getäuscht wurde! Er hätte gegen diese Überreichung sicher protestiert, wenn er gewusst hätte, dass diese erst um 6 Uhr abends und nicht morgens stattfinden werde. Wusste er das aber nicht? Wir haben doch eben gesehen (S. 64), wie eifrig Jagow sich bemühte, herauszufinden, zu welcher Abendstunde am 23. Poincaré Petersburg verlasse. Und der Staatssekretär hatte noch am Abend des 22. eine Mitteilung darüber nach Wien telegraphiert, die bewirkte, dass die Zeit der Überreichung von 5 auf 6 Uhr abends verschoben wurde. Und jetzt will er uns glauben machen, er habe gar nichts davon gewusst, und gemeint, die Note an Serbien werde schon am Morgen übergeben! Am 11. August 1917 schrieb der Staatssekretär Zimmermann an den Unterstaatssekretär v. d. Bussche: „Lieber Bussche. Sachlich stimmte die Angabe der Evening News insofern, als wir allerdings das serbische Ultimatum etwa zwölf Stunden vor Übergabe erhielten. Dagegen ist mir durchaus nicht erinnerlich, dass ich dies einem amerikanischen Diplomaten
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auf die Nase gebunden habe. Ein Dementi kann danach erfolgen. Ob es indes mit Rücksicht auf die schließlich doch nicht ewig zu verheimelnde Tatsache unserer Kenntnis zweckmäßig erscheint, lasse ich dahingestellt. Besten Gruß Ihr Zimmermann.“
Aber warum jener Eifer, alle Kenntnis von der Note zu leugnen, deren Inhalt und Text man später doch mit aller Macht verteidigte? Hier wurde absichtlich ein falsches Spiel mit verteilten Rollen gespielt. Am 20. Juli war den österreichischen Botschaftern die Note zugegangen mit dem Auftrage, sie am 24. Juli bei den Regierungen, bei denen sie akkreditiert waren, zu überreichen. Graf Szögyeny erlaubte sich daraufhin zu bemerken, mit Deutschland solle doch eine Ausnahme gemacht werden. Darauf erwiderte ihm Berchtold am 22. Juli: „Der bewusste Erlass hatte Deutschland gegenüber lediglich formale Bedeutung. Die offizielle Übergabe unserer Note sollte in Berlin unter denselben Modalitäten erfolgen, wie bei den anderen Signatarmächten. Streng vertraulich haben wir Herrn von Tschirschky die erwähnte Note schon gestern mitgeteilt. Sie ist durch den Herrn Botschafter jedenfalls bereits nach Berlin vorgelegt worden.“
Also auch in Bezug auf die Note sollte Europa absichtlich belogen werden. Die Lokalisierung des Krieges. Die deutsche Regierung hatte sehr gute Gründe, nicht merken zu lassen, dass sie vom österreichischen Ultimatum gewusst hatte oder gar, dass sie mit Österreich verschworen war. Sie hatte, wie wir gesehen, zum Krieg gegen Serbien am 5. Juli ihren Segen gegeben. Sie war auch bereit, den Krieg gegen Russland und Frankreich zu „riskieren“ -- aber mehr wollte sie nicht. Sie rechnete auf Italiens Mitwirkung und Englands Neutralität. Sie bedurfte auch, um in den Krieg eintreten zu können, der Begeisterung des eigenen Volkes. Nun wusste sie ganz genau, dass dieses in seiner großen Mehrheit höchst friedliebend sei und ihr die schärfste Opposition erwachsen würde, wenn es erführe, dass das österreichische Verfahren gegen Serbien vom Kaiser und seinen Ministern nicht nur gekannt, sondern auch gebilligt und gefördert wurde. Die ganze Aktion wäre damit von vornherein aufs Schwerste bedroht gewesen.
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Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des österreichischen Ultimatums an Serbien erließ der Vorstand der deutschen Sozialdemokratie einen Aufruf (25. Juli), in dem es hieß: „Die vom österreichischen Imperialismus entfesselte Kriegsfurie schickt sich an, Tod und Verderben über ganz Europa zu bringen. Verurteilen wir auch das Treiben der großserbischen Nationalisten, so fordert doch die frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung den schärfsten Protest heraus. Sind doch die Forderungen dieser Regierung so brutal, wie sie in der Weltgeschichte noch nie an einen selbstständigen Staat gestellt sind, und können sie doch nur darauf berechnet sein, den Krieg geradezu zu provozieren. Das klassenbewusste Proletariat Deutschlands erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen dies verbrecherische Treiben der Kriegshetzer. Es fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, dass sie ihren Einfluss auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübt.“
Hätte das deutsche Proletariat vom wirklichen Stande der Dinge eine Ahnung gehabt, hätte es gewusst, dass das „verbrecherische Treiben der Kriegshetzer“ ein abgekartetes Spiel zwischen Wien und Berlin war, dann wäre es nicht so naiv gewesen, die deutsche Regierung aufzufordern, auf die österreichische im Sinne des Friedens zu wirken, dann hätte es sich einmütig ebenso gegen die deutsche wie gegen die österreichische Regierung gewendet und große Massen auch der nichtproletarischen arbeitenden Schichten des deutschen Volkes hätten sich ihm angeschlossen. Bei einer solchen Stimmung hätte die deutsche Regierung unmöglich einen großen Krieg entfesseln können. Die deutsche Sozialdemokratie konnte den Weltfrieden retten. Ihr Ansehen und damit das des deutschen Volkes in der Welt wäre unendlich gewachsen durch die Niederlage, die sie der kriegerischen deutschen Regierung bereitete. Das zu vermeiden, gab es nur ein Mittel: Die Mitwisserschaft und Mitschuld der deutschen Regierung musste sorgfältig verschwiegen werden. Nicht minder war das notwendig, wollte man Italiens Hilfe und Englands Neutralität gewinnen. Beide wandten sich, wie übrigens alle Welt, sofort gegen Österreich. Da galt es für Deutschland, den überraschten friedlichen Nachbarn zu spielen, den wohl die Bundestreue an die Seite der befreundeten Macht rufe, deren grenzenlose Bedrängnis die schnöde Bluttat von Serajewo enthüllt habe, der aber bereit sei, zu vermitteln und den Frieden zu erhalten. Wenn er dabei mit dem nimmersatten Russland in Konflikt kam -- ei nun, es kann der Beste bekanntlich nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
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Ein Unglück nur, dass Deutschland sich darauf versteifte, den Frieden in eigenartiger Form zu retten. Es verlangte nämlich die Lokalisierung des Streitfalles. Konnte es etwas Vernünftigeres geben? Man musste trachten, dass der Konflikt örtlich begrenzt bleibe, nicht weitere Dimensionen annehme. In dem von Eisner veröffentlichten Bericht der Berliner bayerischen Gesandtschaft vom 18. Juli hieß es: („Im Interesse der Lokalisierung des Krieges wird die Reichsleitung sofort nach Übergabe der österreichischen Note in Belgrad eine diplomatische Aktion bei den Großmächten einleiten.) Sie wird mit dem Hinweis darauf, dass der Kaiser auf der Nordlandreise und der Chef des großen Generalstabs sowie der preußische Kriegsminister in Urlaub seien, vorgeben, durch die Aktion Österreichs genau so überrascht worden zu sein, wie die andern Mächte. (Sie wird darauf hinarbeiten, dass die Mächte sich auf den Standpunkt stellen, dass die Auseinandersetzung zwischen Österreich und Serbien eine Angelegenheit dieser beiden Staaten sei.)“
Die in Klammern gesetzten Stellen fehlen in der Eisnerschen Publikation. Sie gehören zu denjenigen, durch deren Weglassung Eisner den Sinn des Berichtes in einer für Deutschland ungünstigen Weise entstellt haben soll. Das kann nur jemand sagen, der sich einbildet, das Streben nach Lokalisierung des Krieges sei eine ernsthafte Friedensaktion gewesen. In Wirklichkeit bedeutete es eine Störung und Sabotierung jeder Friedensaktion. Die Behauptung, dass die Niederwerfung Serbiens durch Österreich bloß diese beiden Staaten angehe, hieß nichts anderes, als dass Österreich allein künftighin auf dem Balkan etwas zu sagen habe, hieß verlangen, dass Russland seine Ausschaltung dort freiwillig zugebe, dass es sich für geschlagen erkläre, ehe es einen Kanonenschuss abgefeuert. Dies Streben nach Lokalisierung des Konfliktes stellte Russland vor die Alternative: entweder sich unterwerfen oder Österreich den Krieg erklären. Die Forderung der Lokalisierung war also das richtige Mittel, Russland geradezu zum Krieg zu zwingen. Die Alternative der „Lokalisierung“ des Konfliktes war seine Lösung durch die Intervention Europas, das heißt, entweder durch ein Schiedsgericht oder durch die Vermittlung der nicht direkt beteiligten Großmächte. Nur diese Europäisierung des Problems bot die Aussicht, dass der lokale Krieg nicht ein europäischer wurde. Aber freilich, sie bot Österreich nicht die Aussicht, dass ihm freie Hand bei der militärischen Zerschmetterung Serbiens gelassen werde. Und deshalb musste auf der feuergefährlichen Methode der Lokalisierung mit aller Zähigkeit bestanden werden. Sie bedeutete 86
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wieder, wie in der Annexionskrise von 1909, eine Spekulation auf Russlands Schwäche und daneben auf Englands und Frankreichs Friedfertigkeit. In der Tat heißt es in dem bayerischen Bericht weiter: „Herr Zimmermann nimmt an, dass sowohl England wie Frankreich, denen ein Krieg zurzeit kaum erwünscht wäre, auf Russland in friedlichem Sinne einwirken werde; außerdem baut er darauf, dass das Bluffen eines der beliebtesten Requisite der russischen Politik sei und dass der Russe zwar gern mit dem Schwerte droht, es im entscheidenden Moment aber doch nicht gern für andere zieht.“
Wenn es aber anders kam, bot die Forderung der „Lokalisierung“ des Krieges immer noch ihre großen Vorteile. Sie konnte nur scheitern an den Ansprüchen Russlands: so stand man vor der Welt oder wenigstens vor dem eigenen Volke als die Macht da, die den Frieden gewollt hatte -- und dabei auf Russlands Widerstand gestoßen war. Nun versuchte man, diese Macht als den Friedensbrecher zu denunzieren. Die Forderung der Lokalisierung des Krieges wurde wieder ein neues Moment, das die strengste Geheimhaltung des Einvernehmens zwischen Deutschland und Österreich erheischte. Denn es ist klar, dass Deutschland nicht erklären konnte, der ganze Konflikt gehe nur Österreich und Serbien unter Ausschluss jeder anderen Macht an, wenn es selbst an der Vorbereitung dieses Konfliktes ganz energisch mitgewirkt hatte. Wir sehen, Deutschland wie Österreich hatten allen Grund, ihr Zusammenwirken von den Potsdamer Entschlüssen am 5. Juli an bis zur Überreichung des Ultimatums in Belgrad am 23. Juli vor aller Welt zu verheimlichen. Die Sabotierung der Friedensbemühungen. Es war nicht leicht, gleichzeitig um den Frieden ernstlich besorgt zu erscheinen und Österreich „seinen“ Krieg mit Serbien zu sichern, sowie diesen zu „lokalisieren“, das heißt, Russland vor die Alternative zu stellen, entweder Österreich den Krieg zu erklären oder sich ihm kampflos zu unterwerfen. Vor allem galt es, die Mächte nicht zur Besinnung und Verständigung kommen zu lassen, immer wieder neue vollzogene Tatsachen zu schaffen, ehe eine Intervention Platz zu greifen vermochte. Am 23. Juli abends überreichte der österreichische Gesandte die Note seiner Regierung in Belgrad. Erst am Tage darauf wurde sie den Regierungen Frankreichs, Englands, Italiens, Russlands übermittelt. Am 25. aber wurde
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schon die Antwort Serbiens verlangt! Paschitsch erteilte diese Antwort trotzdem zum gewünschten Zeitpunkte. Es war ein ausführliches Schriftstück, das wider Erwarten im Wesentlichen allen Forderungen der österreichischen Regierung zustimmte, trotz ihrer unerhörten Härte. Und Österreich? Amtlich wurde aus Wien gemeldet: „Ministerpräsident Paschitsch erschien wenige Minuten vor sechs Uhr in der k. u. k. Gesandtschaft in Belgrad und erteilte eine ungenügende Antwort auf die österreichisch-ungarische Note. Baron Giesl notifizierte ihm hierauf den Abbruch der diplomatischen Beziehungen und verließ mit dem Gesandtschaftspersonal um sechs Uhr dreißig Minuten Belgrad.“
Also ganze dreißig Minuten nach Übergabe der Note war die österreichische Gesandtschaft schon unterwegs nach Wien. Baron Giesl hatte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen verkündigt, ehe er die serbische Antwort nur recht gelesen, geschweige denn geprüft zu haben vermochte. Während Wien sich dieser Eile befleißigte, um zum ersehnten Kriege mit Serbien zu kommen, ehe Europa recht wusste, was vorging, zeigte Berlin nicht die mindeste Eile, Europa erkennen zu lassen, wie es über diese Vorkommnisse dachte. Am 27 Juli fand Herr von Jagow den Mut, dem französischen Botschafter in Berlin zu sagen, er habe noch nicht Zeit gefunden, die serbische Antwort zu lesen. Es war für die Großmächte nicht leicht, sich bei diesem Vorgehen zurechtzufinden. Aber so wenig Zeit sie hatten, sich untereinander zu verständigen, eines wurde ohne weiteres klar: Der Weltfriede war aufs Äußerste bedroht, wenn es zum Krieg zwischen Österreich und Serbien kam. Ebenso sehr wie Österreich zu diesem Krieg drängte (und mit ihm Deutschland, was damals freilich noch niemand wusste), ebenso sehr suchten Russland, Frankreich, England ihn zu verhindern. Nicht weil ihre Regenten die reinen Friedensengel waren, sondern weil Russland und Frankreich für den Waffengang unzureichend gerüstet waren. Und auch England wurde durch seine irischen Verlegenheiten gehemmt. Insofern hatten also die Zentralmächte richtig gerechnet. Die Mächte kamen daher alle von selbst übereinstimmend dahin, auf der einen Seite eine Verlängerung der für die Antwort gestellten Frist von Österreich anzustreben, um die Zeit zu Verhandlungen zu finden und andererseits Serbien zur Nachhaltigkeit zu raten. Sowohl Frankreich wie Italien und England, ja selbst Russland bemühten sich in diesem Sinne, so weit es bei der Kürze der Zeit möglich war. Österreich lehnte jede Fristverlängerung ab unter stiller Mithilfe Deutschlands. Die Antwort Serbiens aber fiel, wie schon bemerkt, äußerst entge88
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genkommend aus. Nichtsdestoweniger brach Österreich am 25. die diplomatischen Beziehungen ab, begann sofort zu mobilisieren und erklärte am 28. Juli den Krieg. Am 29. bombardierte es Belgrad. Jeder dieser Schritte war eine neue Provokation, brachte eine neue Steigerung der allgemeinen Erregung, eine neue Erschwerung jeder friedlichen Lösung. Trotzdem schritt Österreich unbeirrt auf der eingeschlagenen Bahn weiter vorwärts und wurde dabei von Deutschland gestützt, das gleichzeitig von Friedensbeteuerungen überfloss. Österreich lehnte alle Vermittlungsvorschläge ab, die gemacht wurden, und von denen keiner von Deutschland ausging. Dieses begnügte sich damit, die Vorschläge anderer entweder einfach weiterzugeben oder sie gleich von vornherein als unvereinbar mit Österreichs Selbstständigkeit zurückzuweisen. Auch das dringlichste Befragen konnte ihm keinen eigenen Vorschlag entlocken, während England wie Russland sich in Versuchen überboten, einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Sehr gut hat schon Fürst Lichnowsky diese Situation gekennzeichnet: „Es hätte natürlich nur eines Winkes von Berlin bedurft, um den Grafen Berchtold zu bestimmen, sich mit einem diplomatischen Erfolg zu begnügen und sich bei der serbischen Antwort zu beruhigen. Dieser Wink ist aber nicht ergangen. Im Gegenteil, es wurde zum Krieg gedrängt. Es wäre ein zu schöner Erfolg gewesen!... Der Eindruck befestigte sich immer mehr, dass wir den Krieg unter allen Umständen wollten. Anders war unsere Haltung in einer Frage, die uns doch direkt gar nichts anging, nicht zu verstehen. Die inständigen Bitten und bestimmten Erklärungen des Herrn Sasonow, später die geradezu demütigen Telegramme des Zaren, die wiederholten Vorschläge Sir Edwards, die Warnungen des Marquis San Giuliano und des Herrn Bollati, meine drängenden Ratschläge, alles nützte nichts, in Berlin blieb man dabei: Serbien muss massakriert werden.“ (S. 29, 30.)
Die Telegramme des Zaren durfte man in der Tat „demütige“ nennen. Er flehte darin förmlich darum, dass man ihm die furchtbare Alternative erspare zwischen dem Krieg oder der bedingungslosen Unterwerfung, die er beide gleich fürchtete, weil die eine wie die andere ihn mit einer Katastrophe, mit dem Untergang bedrohte. Aber ließen gerade diese demütigen Telegramme nicht erwarten, man würde wieder, wie 1909, Russland auf die Knie zwingen, diesmal aber noch gründlicher, wenn man nur fest blieb? So schien alles nach Wunsch für die Mittelmächte zu gehen. Wilhelm zeigte sich in jenen Tagen noch sehr übermütig und aggressiv.
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Wie er über die österreichische Note dachte, ehe er die serbische Antwort gelesen, zeigen seine Bemerkungen zu einem Telegramm aus Belgrad vom 24. Juli, von ihm gelesen am 25. -- Es teilt mit: „Der energische Ton und die präzisen Forderungen der österreichischen Note sind der serbischen Regierung vollständig unerwartet gekommen.“
Wilhelm: „Bravo! Man hatte es den Wienern nicht mehr zugetraut!“
Das Telegramm fährt fort: „Seit heute früh tagt der Ministerrat unter dem Vorsitz des Kronprinzen-Regenten.“
Wilhelm: „Es scheint, Seine Majestät haben sich gedrückt!“
Der hohe deutsche Herr ahnte nicht, wie noch manche Majestät sich „drücken“ sollte, und zwar noch in ganz anderer Weise! Telegramm: „Der Ministerrat kann aber zu keinem Entschluss kommen.“
Wilhelm: „Die stolzen Slawen!“
Zum Schluss des Telegramms bemerkt er: „Wie hohl zeigt sich der ganze so genannte serbische Großstaat. So ist es mit allen slawischen Staaten beschaffen. Nur feste auf die Füße des Gesindels getreten!“
Das war die Sprache des Friedenskaisers unmittelbar vor Ausbruch des Krieges! Weit entfernt, das österreichische brüske Vorgehen unangenehm zu empfinden, tadelte er jedes auch nur scheinbare Einlenken, ja jede Geste des Höflichkeit des Bundesgenossen. Am 24. Juli telegraphierte Tschirschky aus Wien: „Um Russland seine guten Dispositionen zu zeigen, hat Graf Berchtold heute Vormittag den russischen Geschäftsträger zu sich gebeten.“
Dazu bemerkte Wilhelm am 26. Juli: „Gänzlich überflüssig. Wird den Eindruck der Schwäche erwecken und den Eindruck der Entschuldigung hervorrufen, was Russland gegenüber unbedingt falsch ist und vermieden werden muss. Österreich hat seine guten Gründe, hat
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daraufhin den Schritt getan, nun kann er nicht hinterher quasi zur Diskussion gestellt werden.“
Tschirschky lässt Berchtold weiter sagen: „Österreich werde kein serbisches Territorium beanspruchen.“
Das veranlasst Wilhelm zu dem Ausruf: „Esel! Den Sandschak muss es wieder nehmen, sonst kommen die Serben an die Adria.“
Berchtold: „Österreich wolle keine Verschiebung der Machtverhältnisse auf dem Balkan herbeiführen.“
Wilhelm: „Die kommt ganz von selbst und muss kommen. Österreich muss auf dem Balkan präponderant werden den anderen kleineren gegenüber auf Kosten Russlands, sonst gibt’s keine Ruhe.“
Zum Schluss des Berichts bemerkt er: „Schwächlich!“
Mit Ungeduld empfand er die Notwendigkeit, sich selbst wenigstens äußerlich zurückzuhalten, wie das die Deutschland zugeteilte Rolle verlangte. Am 26. Juli, als Wilhelm sich anschickte, wieder deutschen Boden zu betreten, telegraphierte ihm Bethmann: „Sollte Russland sich zum Konflikt mit Österreich anschicken, beabsichtigt England Vermittlung zu versuchen und erhofft dabei französische Unterstützung. Solange Russland keinen feindlichen Akt vornimmt, glaube ich, dass unsere auf eine Lokalisierung gerichtete Haltung auch eine ruhige bleiben muss. General von Moltke ist heute aus Karlsbad zurückgekehrt und teilt diese Ansicht.“
Hinter dem Wort „Lokalisierung“ macht Wilhelm ein Ausrufungszeichen und zu den Worten „eine ruhige bleiben muss“ bemerkt er sarkastisch: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Nur Ruhe, immer nur Ruhe!! Eine ruhige Mobilmachung ist eben auch was Neues.“
Als es wirklich zur Mobilmachung kam, verging Wilhelm allerdings der Sarkasmus.
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Zu alledem stimmt sehr gut eine Depesche, die Graf Szögyeny am 25. Juli von Berlin nach Wien richtete. Sie lautet: „Hier wird allgemein vorausgesetzt, dass auf eventuelle abweisende Antwort Serbiens sofort unsere Kriegserklärung verbunden mit kriegerischen Operationen erfolgen werde. Man sieht hier in jeder Verzögerung des Beginns der kriegerischen Operationen große Gefahr betreffs Einmischung anderer Mächte. Man rät uns dringendst, sofort vorzugehen und die Welt vor ein fait accompli zu stellen.“
Das bedeutet doch das energischste Drängen zu raschestem Losschlagen. Die Herren Prof. Hans Delbrück, Max Weber und Mendelssohn-Bartholdy sowie der Herr Graf Montgelas fassen in ihren Darlegungen über den Ursprung des Krieges (Weißbuch vom Juni 1919) das Telegramm viel gemütlicher auf. Sie sagen: „Das Telegramm des österreichisch-ungarischen Botschafters des Grafen Szögyeny vom 25. Juli 1914, das für den Fall einer Kriegserklärung auf raschen Beginn der militärischen Operationen drängt, hält sich in dem Rahmen der schon erörterten Auffassung, dass eine örtliche Begrenzung des Streits, somit auch eine rasche Erledigung dieses Streites das beste Mittel zur Vermeidung einer Ausdehnung des Brandes sei.“ (S. 39.)
Das Telegramm verlangt klipp und klar sofortige Kriegserklärung, verbunden mit kriegerischen Operationen. Der Kommentar der vier Herren verwandelt das unvermerkt in die Forderung sofortiger kriegerischer Operationen für den Fall einer Kriegserklärung! Und aus der Forderung, die Welt vor ein fait accompli zu stellen, wird ein Wunsch nach einer „raschen Erledigung dieses Streits“. Das Telegramm so zu deuten, dazu gehört unglaublich viel guter Wille. Außerhalb Deutschlands wird der schwer zu finden sein. Dem Telegramm des Grafen Szögyeny vom 25. Juli sollte durch eine sehr freie Umdeutung sein unbequemer Inhalt genommen werden. Dieses Auskunftsmittel versagt bei einer anderen Depesche desselben Diplomaten vom 27. Juli. Beide Telegramme waren der im Januar 1919 gebildeten „Kommission der alliierten und assoziierten Regierungen für die Feststellung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und die aufzuerlegenden Strafen“ in die Hände gefallen und wurden in ihrem Berichte veröffentlicht, der eine ebenso kurze wie im Wesentlichen zutreffende Skizze der Entstehung des Krieges gibt. Die deutsche Regierung konnte darauf mit einer Veröffentlichung der Akten des Auswärtigen Amtes über die Urheberschaft am Kriege antworten oder schweigen. Sie tat weder das eine noch das andere, sondern beauftragte
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die bereits genannten vier Herren, als „unabhängige Deutsche“, dem Bericht der Kommission eine Kritik entgegenzusetzen. Nach welchen Methoden diese arbeiteten, haben wir eben an der Behandlung gesehen, die sie dem einen Telegramm Szögyenys zuteil werden ließen. Vielleicht wäre es zweckmäßiger gewesen, wenn man nicht „unabhängige Deutsche“, sondern „deutsche Unabhängige“ mit dem Bericht betraut hätte. Nicht besser machten sie es mit dem anderen Telegramm vom 27. Juli. Es ist an Berchtold gerichtet und lautet: „Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form sehr entschieden, dass in der nächsten Zeit eventuell Vermittlungsvorschläge Englands durch die deutsche Regierung zur Kenntnis Ew. Exz. gebracht würden. Die deutsche Regierung versichert aufs Bündigste, dass sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere, sogar entschieden gegen deren Berücksichtigung sei und dieselben nur, um der englischen Bitte Rechnung zu tragen, weitergibt.“
Diese Depesche ist sicher eine sehr ernsthafte Sache. Sie erheischte vonseiten der vier unabhängigen Deutschen vor allem, dass sie prüften, ob sie im Einklang stehe zu der Politik, die Deutschland bis zum 27. getrieben. Sie erinnert an Jagows Telegramm vom 18. Juli, in dem er mitteilt, die milde Sprache der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung sei nur zur Irreführung der „europäischen Diplomatie“ bestimmt und dürfe Berchtold nicht beeinflussen. Die vier Historiker haben es vorgezogen, anders zu verfahren: „Die Kommission hat sich sowohl an den ehemaligen Reichskanzler von Bethmann Hollweg sowie an den Staatssekretär von Jagow gewendet und von beiden übereinstimmend die Auskunft erhalten, dass der Bericht unmöglich zutreffend sein könne. Wir halten die Mitteilungen dieser beiden Männer für glaubwürdig.“
Es fragt sich bloß, ob diese Versicherung der Angeklagten allein schon genügt, der übrigen Menschheit das gleiche Zutrauen zu ihrer Unschuld beizubringen. Die Glaubwürdigkeit der beiden Männer ist ja gerade das, was in Frage gestellt ist durch das Zeugnis eines ihnen durchaus nicht feindseligen Mannes, der alles Interesse hatte, die Wahrheit über sie zu berichten, und der unmittelbar nach der Unterredung mit Jagow seine Angaben über sie niederschrieb, in der bestimmtesten Form. Und zwar wiederholt. Die oben angeführte Stelle steht am Anfang des Berichts. An dessen Ende heißt es: „Zum Schlusse wiederholte mir Staatssekretär seine Stellungnahme und bat mich, um jedwedem Missverständnis vorzubeugen, Ew. Exzellenz zu versichern, dass er auch in diesem eben angeführten Fall dadurch, dass er als Ver-
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mittler aufgetreten sei, absolut nicht für eine Berücksichtigung des englischen Wunsches sei.“
Ein so bestimmtes Zeugnis kann doch nicht auf die vage Auskunft der Angeschuldigten „es könne unmöglich zutreffend sein“ ohne Weiteres von der Hand gewiesen werden. Doch der Rettungskommission kommt Hilfe. Zur rechten Zeit reicht ihr Dr. Gooß die rettende Planke, und durch ihn fühlt sie sich berechtigt, das so bestimmte Zeugnis Szögyenys für unglaubwürdig zu erklären, weil er -„über seine Jahre gealtert war“. (S. 39.) Eine besondere Ehrenrettung des damaligen Regimes ist darin gerade nicht zu finden. Man bedenke die damalige Situation. Die deutsche und die österreichische Regierung bereiteten einen Krieg vor, bei dem es auf Leben und Tod der Staaten gehen konnte. Da hieß es, die besten Kräfte auf die entscheidenden Posten stellen. Das dringendste Erfordernis war, dass zwischen den beiden verbündeten Regierungen nicht das geringste Missverständnis aufkam, jeder genau über die Absichten des andern unterrichtet war. Der österreichische Botschafter in Berlin bildete das verbindende Mittelglied zwischen den beiden Staaten; von seiner Klugheit, Klarheit und Korrektheit hing das Leben von Völkern und Regierungen ab. Nur zweierlei ist möglich: Entweder Graf Szögyeny war wirklich der senile Trottel, als den ihn die Weißwäscher Wilhelms und seiner „Handlanger“ jetzt hinstellen, dann handelte die österreichische Regierung unglaublich leichtfertig und gewissenlos, dass sie an diesem wichtigsten Posten einen verblödeten Faselhans ließ, und nicht minder leichtfertig und gewissenlos die deutsche Regierung, dass sie ihre schwierigsten und wichtigsten Aufträge in solcher Situation einem Idioten anvertraute, der nicht recht wusste, worüber man mit ihm sprach. Eine schwerere Anklage gegen beide Regierungen ist nicht denkbar. Die Entschuldigung ist in diesem Falle schlimmer als das Verbrechen selbst. Denn es ist für eine Nation immer noch besser, von klugen und kenntnisreichen Halunken geführt zu werden, als von ehrlichen Trotteln. Jene werden das Volk nicht leichtfertig in Situationen hineinführen, die den ganzen Staat und damit auch seine Leiter gefährden. Das kann nur ein Dummkopf. Am schlimmsten natürlich ist es, wenn Unehrlichkeit, Leichtsinn und Dummheit sich vereinigen. Die eine Alternative, die wirkliche Senilität Szögyenys, exkulpiert also die deutsche Regierung nicht, sie verlegt nur ihre Schuld auf ein anderes Gebiet, als das angegebene. Szögyeny war sicherlich 1914 schon ein alter Herr, 73 Jahre alt, dem mitunter ein Lapsus in der Berichterstattung passierte. Doch erweist sich auch vieles von dem, was er vorbringt, als vollständig richtig und in dem 94
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vorliegenden Fall ist seine Aussage, wie schon bemerkt, sehr bestimmt. Sie ist daher sicher zu prüfen. Bei näherem Zusehen finden wir tatsächlich, dass sehr wichtige Punkte des Berichts ihre Bestätigung in den deutschen Akten finden. Auch die Wiedergabe der Motivierung, mit der Jagow seine bedenkliche Äußerung vom 27. begründete, entspricht vollständig den damaligen Gedankengängen der deutschen Regierung. Szögyeny gibt sie mit den Worten wieder: „Die deutsche Regierung gehe von dem Gesichtspunkte aus, dass es von der größten Bedeutung sei, dass England im jetzigen Moment nicht gemeinsame Sache mit Russland und Frankreich mache. Daher müsse alles vermieden werden, dass der bisher gut funktionierende Draht zwischen Deutschland und England abgebrochen werde. Würde nun Deutschland Sir Edward Grey glatt erklären, dass es seine Wünsche an Österreich-Ungarn, von denen England glaubt, dass sie durch Vermittlung Deutschlands eher Berücksichtigung bei uns finden, nicht weitergeben will, so würde eben dieser vorerwähnte, unbedingt zu vermeidende Zustand eintreten.“
Man sieht, der Herr Graf war sicher kein glänzender Stilkünstler; jedoch inhaltlich, wenn auch nicht formell in dem gleichen Sinne, wie es hier Szögyeny darstellt, äußert sich am selben Tage Bethmann in einem Telegramm an Tschirschky, in dem er Greys Vorschlag mitteilt und dann fortfährt: „Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine abzuweisen. Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als die eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen. Unsere Situation ist umso schwieriger, als Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat. Wir können daher die Rolle des Vermittlers nicht abweisen und müssen den englischen Vorschlag dem Wiener Kabinett zur Erwägung unterbreiten, zumal London und Paris fortgesetzt auf Petersburg einwirken. Erbitte Graf Berchtholds Ansicht über die englische Anregung ebenso wie über Wunsch Herrn Sasonows mit Wien direkt zu verhandeln.“
Dieser sonderbare Vermittler sah eine Schwierigkeit der Situation darin, dass die Serben nachgaben, was eine Schwierigkeit nur für den war, der den Krieg suchte, gleichzeitig aber als der zum Krieg gezwungene dastehen wollte. Er empfiehlt auch nicht den englischen Vorschlag, sondern gibt ihn bloß weiter und entschuldigt sich, dass die Verhältnisse ihn dazu nötigen. Nach London aber telegraphiert er: „In dem von Sir Edward Grey gewünschten Sinne haben wir Vermittlungsaktion in Wien sofort aufgenommen.“
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Der Erfolg dieser „Vermittlungsaktion“ war am 28. Juli die Kriegserklärung Österreichs an Serbien. Trotzdem machte England noch einen Versuch zur Rettung des Weltfriedens. Am 29. berichtete Lichnowsky in einem Telegramm, das uns in einem anderen Zusammenhang noch eingehend beschäftigten wird: „Sir E. Grey wiederholte seine bereits gemeldete Anregung, dass wir uns an einer solchen Vermittlung zu vieren, die wir grundsätzlich bereits angenommen hätten, beteiligen sollten... Sollten Ew. Exzellenz jedoch die Vermittlung übernehmen, die ich heute früh in Aussicht stellen konnte, so wäre ihm das natürlich ebenso recht.“
Die beiden gesperrt gedruckten Sätze fehlen in der für Wilhelm angefertigten Abschrift des Telegramms. Sollte das Zufall sein? Es lässt annehmen, man habe dem Kaiser verheimlichen wollen, dass man jene Art der Vermittlung „grundsätzlich angenommen hätte“. Das würde sehr gut zu der Politik Jagows passen, über die Szögyeny berichtete. Wie es sich mit dessen Bericht auch verhalten möge, auf jeden Fall war die deutsche Politik in den ersten Tagen nach der Überreichung des Ultimatums der Art, dass sie mit Recht steigendes Misstrauen auch der Neutralen zu ihrer Ehrlichkeit und Friedensliebe hervorrief. Ein Wechsel in ihrer hartnäckigen Sabotierung jeglicher Friedensarbeit bereitet sich vor am 28. Juli. Beginnende Unsicherheit in Deutschland. Wir wissen bereits, dass die deutsche Regierung wohl den Krieg Österreichs mit Serbien wollte, auch vor dem mit Russland und eventuell mit Frankreich nicht zurückscheute, aber dabei das dringende Bedürfnis hatte, ihr eigenes Volk hinter sich und Italien neben sich, sowie England nicht gegen sich zu haben. Dies wurde ihr ungemein erschwert durch Österreichs Tollpatschigkeit und Verbohrtheit auf der einen Seite und auf der anderen durch Serbiens Klugheit. Als Wilhelm die Antwort las, die Serbien auf das österreichische Ultimatum vom 25. erteilte, musste er sich gestehen, dass seine eigene Sache dadurch sehr ins Unrecht gesetzt war. Das wurde ihm sichtlich unangenehm.
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Er las am 28. Juli die Antwort der serbischen Regierung und machte dazu die Bemerkung: „Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden! Das ist mehr als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien, aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen! Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung empfohlen.“
Das hinderte ihn freilich nicht, am 4. August in seiner Thronrede emphatisch zu erklären: „Mein hoher Verbündeter, der Kaiser und König Franz Josef, war gezwungen, zu den Waffen zu greifen.“
Am 28. Juli las man’s anders, und nicht bloß in einer flüchtigen Bemerkung: Am gleichen Tage schrieb Wilhelm einen Brief an Bethmann Hollweg, den die „Deutsche Politik“ vom 18. Juli d. J. bereits abgedruckt hat. Wir teilen ihn nochmals mit, weil er wichtig ist. Die beiden in Klammern befindlichen, sehr bemerkenswerten Äußerungen sind in der Wiedergabe der „Deutschen Politik“ fortgefallen. Der Brief lautet: Ew. Exzellenz. Nach Durchlesung der serbischen Antwort, die ich heute Morgen erhielt, bin ich der Überzeugung, dass im Großen und Ganzen die Wünsche der Donaumonarchie erfüllt sind. Die paar Reserven, welche Serbien zu einzelnen Punkten macht, können m. E. durch Verhandlungen wohl geklärt werden. Aber die Kapitulation (demütiger Art) liegt darin orbi et urbi verkündet und durch sie entfällt jeder Grund zum Kriege. Dennoch ist dem Stück Papier wie seinem Inhalt nur beschränkter Wert beizumessen, so lange er nicht in die Tat umgesetzt wird. Die Serben sind Orientalen, daher verlogen, falsch und Meister im Verschleppen. Damit diese schönen Versprechungen Wahrheit und Tatsache werden, muss eine douce violence geübt werden. Das würde dergestalt zu machen sein, dass Österreich ein Faustpfand (Belgrad) für die Erzwingung und Durchführung der Versprechungen besetzte und so lange behielte, bis tatsächlich die petita durchgeführt sind. Das ist auch notwendig, um der zum dritten Male umsonst mobilisierten Armee eine äußere satisfaction d’honneur zu geben, den Schein eines Erfolges dem Ausland gegenüber, und das Bewusstsein, wenigstens auf fremdem Boden gestanden zu haben, ihr zu ermöglichen. Ohnedem dürfte bei Unterbleiben eines Feldzugs eine sehr üble Stimmung gegen die Dynastie aufkommen, die höchst bedenklich wäre. Falls Ew. Exz. diese meine Auffassung teilen, so würde ich vorschlagen, Österreich zu sagen: der Rückzug Serbiens (in sehr demütiger Form) sei erzwungen und man gratuliere dazu. Natürlich sei damit ein Kriegsgrund nicht mehr vorhanden. Wohl aber eine Garantie nötig, dass die Versprechungen ausgeführt würden. Das würde durch die vorübergehende militärische Besetzung eines Teiles von Serbien wohl erreichbar sein. Ähnlich wie wir 1871 in Frank-
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reich Truppen stehen ließen, bis die Milliarden gezahlt waren. Auf dieser Basis bin ich bereit, den Frieden in Österreich zu vermitteln. Dagegenlautende Vorschläge oder Proteste anderer Staaten würde ich unbedingt abweisen, umso mehr als alle mehr oder weniger offen an mich appellieren, den Frieden erhalten zu helfen. Das werde ich tun auf meine Manier und so schonend für das österreichische Nationalgefühl und für die Waffenehre seiner Armee als möglich. Denn an letztere ist bereits seitens des obersten Kriegsherrn appelliert worden, und sie ist dabei, dem Appell zu folgen. Also muss sie unbedingt eine sichtbare satisfaction d’honneur haben, das ist Vorbedingung für meine Vermittlung. Daher wollen Ew. Exz. in dem skizzierten Sinne einen Vorschlag mir unterbreiten, der nach Wien mitgeteilt werden soll. Ich habe in obigem Sinne an Chef des Generalstabs durch Plessen schreiben lassen, der ganz meine Ansicht teilt. Wilhelm I. R.
Die „Deutsche Politik“ bemerkt dazu: „All das zeigt einwandfrei, dass auch der Kaiser nicht einmal den österreichischserbischen Krieg gewollt hat.“
In Wirklichkeit könnte man höchstens sagen: in jenem Moment nicht gewollt hat. Dass er früher mit dem Kriege einverstanden war, ja zu ihm drängte, haben wir gesehen. Noch am 25. Juli hatte er gefunden, man müsse „dem Gesindel auf die Füße treten“. Auch am 28. Juli ist sich Wilhelm des Ernstes der Situation nicht völlig bewusst. Er spielt immer noch mit dem Feuer, wenn er eine „douce violece“, einen sanften Zwang, gegenüber den Serben verlangt, die in so auffallendem Gegensatz zu den Wahrheitsfanatikern unter den Österreichern und Deutschen „verlogen und falsch“ sind. Und es ist sehr charakteristisch für sein militärisches Denken, aber auch für sein Komödiantentum, dass er sagt, der „zum drittenmal umsonst mobilisierten Armee“, müsse jetzt endlich einmal eine „äußere satisfaction d’honneur“, „der Schein eines Erfolges“ gegeben werden -- das ist „Vorbedingung für meine Vermittlung“, von der der Frieden der Welt abhängt! Die Befriedigung der Offizierseitelkeit steht ihm noch über dem Weltfrieden! Die Erkenntnis vom 28. verdichtete sich auch noch nicht zu einem ernstlichen Druck auf Österreich, das just an diesem Tage den Krieg erklärte und am nächsten Belgrad bombardierte, um doch nicht zum drittenmal umsonst mobilisiert zu haben. Wilhelm lehnt nach wie vor die besten Vorschläge ab, aus der gespannten Situation herauszukommen. Das bezeugen seine Bemerkungen zu einem Bericht des deutschen Militärbevollmächtigten in Petersburg, Chelius vom 28. Juli, den Wilhelm am 29. Juli las. Er lautet:
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„Für S. M. Fürst Trubetzkoi aus der Umgebung des Kaisers äußerte sich heute zu mir wie folgt: Nachdem nunmehr die Antwort Serbiens veröffentlicht ist, muss man seinen guten Willen anerkennen (das war zu erwarten. W.), den Wünschen Österreichs voll und ganz nachzukommen, sonst hätte Serbien nicht in so freundnachbarlichem Ton die unerhört scharfe Note Österreichs beantwortet, sondern sie einfach -- (ein Wort unverständlich). Die beiden strittigen Punkte konnte Serbien nicht einfach annehmen, ohne Gefahr einer Revolution und will sie einem Schiedsspruch unterbreiten. (Kann sich Österreich nicht darauf einlassen. W.). Dies ist durchaus loyal und Österreich würde eine schwere Verantwortung auf sich nehmen, durch Nichtanerkennung dieser Haltung Serbiens einen europäischen Konflikt heraufzubeschwören. (Das ist die Sorge, die mich erfüllt nach Durchlesung der Serbenantwort. W.) Als ich erwiderte, die Verantwortung fiele auf Russland, welches doch „außerhalb des Konfliktes stände (richtig! W.), sagte Fürst Trubetzkoi:... Wir können unser Brüder nicht im Stiche lassen (Königs- und Fürstenmörder. W.). Österreich kann sie vernichten (will es nicht. W.) und das können wir nicht zugeben... Wir glauben, da der Deutsche Kaiser dem verbündeten Österreich einen wohlmeinenden Rat geben wird, den Bogen nicht zu überspannen (das sind vage Phrasen, um die Verantwortung auf mich abzuschieben. Das lehne ich ab. W.), den guten Willen Serbiens mit den gegebenen Versprechungen anzuerkennen und die Mächte oder den Haager Schiedsspruch die strittigen Punkte entscheiden zu lassen (Blödsinn. W.)... Rückkehr Ihres Kaisers hat uns alle sehr beruhigt, denn wir vertrauen S. M. und wollen keinen Krieg, auch Kaiser Nikolaus nicht. Es wäre gut, wenn sich die beiden Monarchen einmal telegraphisch verständigen. (Ist erfolgt. Ob eine Verständigung erfolgt, ist mir zweifelhaft. W.). Dies ist die Ansicht eines der einflussreichsten Männer des Hauptquartiers und wohl die Ansicht der ganzen Umgebung.“
Man sieht, auch am 29. besteht noch Wilhelm darauf, einen Appell an das Haager Schiedsgericht oder an eine Konferenz der Mächte als „Blödsinn“ zu erklären. Andererseits zweifelt er selbst daran, dass eine direkte Verständigung Deutschlands mit Russland Erfolg verspricht. Danach scheint er doch mit der Unvermeidlichkeit des allgemeinen Krieges zu rechnen, und die Sorge, die ihn erfüllt, und der er in einer seiner Glossen Ausdruck gibt, scheint nicht die Sorge vor dem europäischen Konflikt zu sein, sondern die Sorge, dass man durch Österreichs Dummheit mit dem Odium belastet wird, den Krieg selbst heraufbeschworen zu haben. Auch aus manchen Äußerungen Bethmanns geht nicht immer klar hervor, ob ihm die Erhaltung des Friedens am Herzen liegt, oder ob er nur nach dem Muster Bismarcks von 1871 dafür besorgt ist, dass die andern als das Karnickel erscheinen, das angefangen hat. Man erinnere sich der Depesche vom 27. Juli an Tschirschky, in der er sagt, dass wir als „die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen“.
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Auf den gleichen Ton ist die Depesche gestimmt, die der Reichskanzler an den Botschafter in Wien am 28. Juli sandte. Er beschwerte sich, dass Österreich Deutschland trotz wiederholter Anfragen im Unklaren über seine Absichten gelassen habe. „Die nunmehr vorliegende Antwort der serbischen Regierung auf das österreichische Ultimatum lässt erkennen, dass Serbien den österreichischen Forderungen doch in so weitgehendem Maße entgegengekommen ist, dass bei einer völlig intransparenten Haltung der österreichisch-ungarischen Regierung mit einer allmählichen Abkehr der öffentlichen Meinung von ihr in ganz Europa gerechnet werden muss. Nach Angaben des österreichischen Generalstabes wird ein aktives militärisches Vorgehen gegen Serbien erst am 12. August möglich sein. Die kaiserliche Regierung kommt infolgedessen in die außerordentlich schwierige Lage, dass sie in der Zwischenzeit den Vermittlungs- und Konferenzvorschlägen der anderen Kabinette ausgesetzt bleibt, und wenn sie weiter an ihrer bisherigen Zurückhaltung solchen Vorschlägen gegenüber festhält, das Odium, einen Weltkrieg verschuldet zu haben, schließlich auch in den Augen des deutschen Volkes auf sie zurückfällt. Auf einer solchen Basis aber lässt sich ein erfolgreicher Krieg nach drei Fronten nicht einleiten. Es ist eine gebieterische Pflicht, dass die Verantwortung für das eventuelle Übergreifen des Konfliktes auf die nicht unmittelbar Beteiligten unter allen Umständen Russland trifft.“
Bethmann Hollweg rät daher Wien, seine bestimmte Erklärung zu wiederholen, dass es territoriale Erwerbungen in Serbien nicht suche und nur vorübergehend Belgrad und mehrere Punkte in Serbien besetzen wolle, als Garantie für die Erfüllung der österreichischen Forderungen. „Erkennt die russische Regierung die Berechtigung dieses Standpunktes nicht an, so wird sie die öffentliche Meinung ganz Europas gegen sich haben, die im Begriffe steht, sich von Österreich abzuwenden. Als eine weitere Folge wird sich die allgemeine diplomatische und wahrscheinlich auch die militärische Lage sehr wesentlich zugunsten Österreich-Ungarns und seiner Verbündeten verschieben. Ew. Exz. wollen sich umgehend in diesem Sinne dem Grafen Berchtold gegenüber nachdrücklich aussprechen und eine entsprechende Demarche in Petersburg anregen. Sie werden es dabei sorgfältig zu vermeiden haben, dass der Eindruck entsteht, als wünschten wir Österreich zurückzuhalten. Es handelt sich lediglich darum, einen Modus zu finden, der die Verwirklichung des von Österreich-Ungarn angestrebten Ziels, der großserbischen Propaganda den Lebensnerv zu unterbinden, ermöglicht, ohne gleichzeitig einen Weltkrieg zu entfesseln, und wenn dieser schließlich nicht zu vermeiden ist, die Bedingungen, unter denen er zu führen ist, für uns nach Tunlichkeit zu verbessern.“
Man wird zugeben, dass es schwer ist, zu entscheiden, was dem Reichskanzler noch am 28. Juli mehr am Herzen lag: den Weltkrieg zu vermeiden
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oder „die Bedingungen, unter denen er zu führen ist, für uns nach Tunlichkeit zu verbessern.“ Wilhelm selbst äußerte sich durchaus nicht sehr entgegenkommend gegenüber dem Hilferuf, den der Zar an ihn richtete, in seinem ersten Telegramm vom 29. Juli. Es lautete in deutscher Übersetzung: „An S. M. den Kaiser. Neues Palais. Ich bin froh, dass Du zurück bist. In diesem so ernsten Augenblick bitte ich Dich inständig, mir zu helfen. Ein unwürdiger Krieg (!! W.) ist an ein schwaches Land erklärt worden. Die Entrüstung darüber, die ich völlig teile, ist in Russland ungeheuer. Ich sehe voraus, dass sehr bald der über mich gebrachte Druck mich überwältigen wird, und ich gezwungen sein werde, weitgehende Maßregeln zu treffen, die zum Kriege führen werden. Um zu versuchen, ein solches Unheil, wie ein europäischer Krieg, abzuwenden, bitte ich Dich im Namen unserer alten Freundschaft, zu tun, was Du kannst, um Deinen Bundesgenossen zu hindern, zu weit zu gehen? (Worin besteht das? W.) Niky.“
Angesicht dessen, dass Wilhelm selbst eben erklärt hatte, zum Kriege gegen Serbien liege gar keine Veranlassung vor, sollte man annehmen, dieser Hinweis auf die furchtbaren Folgen des kriegerischen Vorgehens Österreichs gegen Serbien müsste Wilhelm zu raschem Eingreifen veranlassen. Nichts von alledem. Nikolaus bittet ihn, alles aufzubieten, um Österreich zu hindern, dass es nicht zu weit geht, Wilhelm fragt: Worin besteht das? Wilhelm hält den Krieg gegen Serbien für völlig unbegründet, und protestiert doch durch zwei Ausrufungszeichen dagegen, dass dieser Krieg ein „unwürdiger“ (ignoble, im deutschen Weißbuch übersetzt mit „schmählich“, was zu stark ist) genannt wird. Doch Wilhelm begnügt sich damit nicht. Er hängt dem Telegramm noch folgende Reflexionen an: „Eingeständnis der Schwäche seiner selbst und Versuch, die Verantwortung mir zuzuschieben. Das Telegramm enthält eine versteckte Drohung und einem Befehl ähnliche Aufforderung, den Alliierten in den Arm zu fallen. Falls Ew. Ex. mein Telegramm gestern Abend abgesandt haben, muss es sich mit diesem gekreuzt haben. – Fn. 1: Das war in der Tat der Fall. Das Telegramm des Zaren traf am 29. Juli 1 Uhr morgens in Berlin ein, das Telegramm des Kaisers an den Zaren war am 28. 10.45 Uhr abends nach einem Konzept Stumms fertiggestellt und am 29. um 1.45 Uhr morgens zum Berliner Haupttelegraphenamt gegeben. Es ging also erst ab, nachdem das Telegramm des Zaren bereits in Berlin war, dieses bildet nicht eine Beantwortung des Kaisertelegramms, wie man nach dem deutschen Weißbuch annehmen muss, wo das Telegramm Wilhelms vom 28. um 10.45 Uhr nachmittags, und das des Zaren vom 29. um 1 Uhr nachmittags datiert ist K.)
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Wir werden nun sehen, wie das meine wirkt. Der Ausdruck, „ignoble war“ (unwürdiger Krieg. K.) lässt nicht auf monarchisches Solidaritätsgefühl des Zaren schließen, sondern auf eine panslavistische Auffassung, das heißt, die Sorge vor einer capitis diminutio auf dem Balkan im Fall österreichischer Erfolge. Diese konnten ruhig in ihrer Gesamtwirkung erst abgewartet werden. Es ist später immer noch Zeit zum Verhandeln und eventuell zum Mobilmachen, wozu jetzt gar kein Grund für Russland ist. Statt uns die Sommation zu stellen, den Alliierten zu stoppen, sollte S. M. sich an den Kaiser Franz Josef wenden und mit ihm verhandeln, um die Absichten S. M. kennen zu lernen. Sollten nicht Kopien der beiden Telegramme an S. M. den König nach London zur Information gesandt werden? Die Sozi machen antimilitaristische Umtriebe in den Straßen; das darf nicht geduldet werden, jetzt auf keinen Fall. Im Wiederholungsfall werde ich Belagerungszustand proklamieren und die Führer samt und sonders tutti quanti einsperren lassen. Loebell und Jagow dahin instruieren. Wir können jetzt keine Soz. Propaganda mehr dulden!“
Diese Propaganda richtete sich gegen den Krieg Österreichs mit Serbien, den Wilhelm selbst als völlig ungerechtfertigt bezeichnete. Statt dem den Weltfrieden gefährdenden Verbündeten in den Arm zu fallen, will der Kaiser jene „tutti quanti einsperren lassen“, die gegen den Krieg protestieren und er verlangt, dass man Österreichs Kriegführung gewähren lasse und die „Gesamtwirkung“ ihrer Erfolge erst abwarte. 13. Italien. Zur Zeit der Absendung des Ultimatums an Serbien hatte bei den regierenden Herren in Berlin und Wien noch unbekümmerte Selbstzuversicht geherrscht, die glaubte, den Sieg schon in der Tasche zu haben, sei es den diplomatischen, wenn Russland sich kampflos der ihm zugedachten capitis diminutio unterwarf, wie Wilhelm sich ausdrückte, das heißt, seiner schimpflichen Degradierung. Oder den militärischen, wenn Russland sich dazu verführen ließ, zum Schwerte zu greifen. Doch diese Zuversicht war auf die Erwartung aufgebaut, dass es gelingen werde, im deutschen Volke für den Konflikt den nötigen Resonanzboden zu finden, Italien als Bundesgenossen zur Seite zu erhalten und England zu veranlassen, neutral zu bleiben. Da kam die Antwort Serbiens. Je mehr sie wirkte, desto bedenklicher wurde die allgemeine Stimmung gegen Österreich und seine Förderer. So entstand jene Unsicherheit, deren Anzeichen wir eben kennen gelernt hatten.
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Wir haben Wilhelms Entrüstung über die „Sozi“ gesehen. Nicht weniger Kopfschmerzen bereitete ihm sein italienischer Bundesgenosse. Hätten die Verschworenen von Potsdam die Wirklichkeit so gesehen, wie sie war, und nicht, wie sie nach ihren Wünschen sein sollte, dann durften sie von vornherein nicht auf Italiens Unterstützung rechnen, mussten sie eher auf seine Gegnerschaft gefasst sein. Denn auf dem Balkan war Italien ebenso sehr Österreichs Rivale wie Russland. Ja, die österreichischen Wege kreuzten weit mehr als die russischen die Straße, die Italien zu gehen gedachte, da dieses ebenso wie Österreich Ausdehnungsgelüste auf der westlichen Seite des Balkans hatte. Zwischen Russland und Italien war daher nach der Annexion Bosniens durch Österreich 1909 eine starke Annäherung in der Balkanpolitik eingetreten. Wohl konnte auch Serbien ein Konkurrent des italienischen Imperialismus auf dem Balkan werden. Aber es war damals noch klein, ein Ländchen mit 3 Millionen Einwohnern, also ganz ungefährlich im Gegensatz zur großen Habsburger Monarchie mit ihren 50 Millionen. Und nicht nur der Imperialismus, auch die Demokratie Italiens stand im Gegensatz zu Österreich, das 1 Million Italiener in seinen Gebieten unterdrückte und verfolgte. Italien war in Wirklichkeit bloß der Bundesgenosse Deutschlands, nicht Österreichs. Zwischen Italienern und Österreichern bestand bittere Feindschaft, die so groß war, dass schon 1909 der Chef des österreichischen Generalstabs, Conrad v. Hötzendorf, zum Krieg gegen Italien gedrängt hatte. Die Stimmung der schwarzgelben Generalstäbler und Diplomaten war nicht verbessert worden dadurch, dass 1913 Italien Österreichs Pläne eines Krieges gegen Serbien vereitelte. So wenig trauten die Verschworenen dem „Bundesgenossen“, dass sie es für notwendig hielten, vor ihm ebenso wie vor der übrigen Welt das Unternehmen gegen Serbien auf das sorgfältigste geheim zu halten. Er wurde nicht bloß scheinbar, wie die deutsche Regierung, sondern tatsächlich durch das österreichische Ultimatum überrascht. Dass die italienische Regierung darob sehr erbittert wurde, musste man voraussehen. Und selbst wenn sie sich an Österreichs Seite hätte stellen wollen, wäre es ihr schwer gefallen. Denn die öffentliche Meinung nahm in Italien sofort gegen Österreich und für Serbien Partei. Eine italienische Regierung war aber weit weniger selbstherrlich als eine deutsche oder österreichische. Sie durfte nicht wagen, sich einer stark ausgesprochenen Volksstimmung entgegenzustemmen.
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Das einzige Mittel, Italien zu gewinnen, hätte unter diesen Umständen darin bestehen können, dass Österreich Italien ausgiebige Kompensationen gewährt, die auch vom Volke akzeptiert wurden, z. B. die Abtretung des Trentino. Eine vorausschauende Politik hätte sich darüber vergewissern müssen, ehe sie sich auf das Kriegsabenteuer einließ -- wenn sie dieses schon einmal für geboten hielt. Von ihrem eigenen, imperialistischen Standpunkt aus hätten Wilhelm und Bethmann, ehe sie in Potsdam Österreich unbedingte Unterstützung beim Kriege gegen Serbien versprachen, von Österreich die Zusicherung erlangen müssen, dass es zu bestimmten Konzessionen an Italien bereit sei. Aber dazu hatte man damals zu große Eile. Das Unternehmen, das den furchtbaren Weltkrieg heraufbeschwor, wurde, ganz abgesehen von allen moralischen Bedenken, mit solcher Kopflosigkeit und Leichtfertigkeit in Gang gebracht, dass man in Berlin zunächst gar nicht daran dachte, Wien auf Kompensationen für Italien festzulegen. Hatte man ja nicht einmal gefragt, welches die Ziele des Krieges gegen Serbien waren! Wie über diese Kriegsziele fing man auch über Italien erst hinterdrein an nachzudenken. Zehn Tage nach der Potsdamer Zusammenkunft, am 15. Juli, telegraphierte Jagow an Tschirschky in Wien: „So austrophob im Allgemeinen die italienische öffentliche Meinung ist, so serbophil hat sie sich bisher immer gezeigt. Es ist auch für mich kein Zweifel, dass sie bei einem österreichisch-serbischen Konflikt sich prononciert auf Seite Serbiens stellen wird. Eine territoriale Ausbreitung der österreichisch-ungarischen Monarchie, selbst eine Ausdehnung ihres Einflusses im Balkan wird in Italien perhorresziert und als eine Schädigung der Position Italiens daselbst angesehen. Infolge einer optischen Täuschung wird angesichts der unvermeidlichen Bedrohung durch das benachbarte Österreich die in Wirklichkeit viel größere slawische Gefahr verkannt. Ganz abgesehen davon, dass die Politik der Regierung in Italien nicht unwesentlich von den Stimmungen der öffentlichen Meinung abhängt, so beherrscht die obige Auffassung doch auch die Köpfe der Mehrzahl der italienischen Staatsmänner. Ich habe bei ihnen jedes Mal, wenn eine Bedrohung Serbiens durch Österreich in Frage kam, eine außerordentliche Nervosität konstatieren können. Durch eine Parteinahme Italiens für Serbien würde fraglos die russische Aktionslust wesentlich ermutigt. In Petersburg würde man damit rechnen, dass Italien nicht nur seinen Bundespflichten nicht nachkommt, sondern sich womöglich direkt gegen Österreich-Ungarn wendet. Ein Zusammenbruch der Monarchie würde für Italien ja auch die Aussicht auf Gewinnung einiger langbegehrter Landesteile eröffnen. Es ist daher meiner Ansicht nach von größter Bedeutung, dass Wien sich mit dem Kabinett von Rom über seine im Konfliktfalle zu verfolgenden Ziele in Serbien auseinandersetzt und es auf seiner Seite oder -- da ein Konflikt mit
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Serbien allein keinen casus foederis bedeutet -- strikte neutral hält. Italien hat nach seinen Abmachungen mit Österreich bei jeder Veränderung im Balkan zugunsten der Donaumonarchie ein Recht auf Kompensationen. Diese würden also das Objekt und den Köder für die Verhandlungen mit Italien bilden. Nach unseren Nachrichten würde z. B. die Überlassung von Valona in Rom nicht als annehmbare Kompensation angesehen werden. Italien scheint überhaupt von dem Wunsche, sich auf der altera sponda der Adria festzusetzen, zurzeit abgekommen zu sein. Wie ich streng vertraulich bemerke, dürfte als einzige vollwertige Kompensation in Italien die Gewinnung des Trento erachtet werden. Dieser Bissen wäre allerdings so fett, dass damit auch der austrophoben öffentlichen Meinung der Mund gestopft werden könnte. Dass die Hergabe eines alten Landesteils der Monarchie mit den Gefühlen des Herrschers wie des Volkes in Österreich sehr schwer vereinbar wäre, lässt sich nicht verkennen. Es fragt sich aber andererseits, welchen Wert die Haltung Italiens für die österreichische Politik hat, welchen Preis man dafür zahlen will und ob der Preis im Verhältnis zu dem anderwärts erstrebten Gewinne steht. Eure Exzellenz bitte ich, die Haltung Italiens zum Gegenstand einer eingehenden vertraulichen Rücksprache mit dem Grafen Berchtold zu machen und dabei eventuell auch die Frage der Kompensationen zu berühren. Ob bei diesem Gespräch die Frage des Trento erwähnt werden kann, muss ich Ihrer Beurteilung und Kenntnis der dortigen Dispositionen anheimstellen. Die Stellungnahme Italiens wird jedenfalls für Russlands Haltung bei dem serbischen Konflikt von Bedeutung sein; sollte sich aus Letzterem eine allgemeine Konflagration ergeben, so würde sie auch für uns von größter militärischer Wichtigkeit sein. Zur Vermeidung von Missverständnissen bemerke ich noch, dass wir dem römischen Kabinett keinerlei Mitteilung über die Verhandlungen zwischen Wien und Berlin gemacht haben und dass folglich auch die Kompensationsfrage von uns nicht erörtert worden ist.“
Jagow hatte gut reden. Er hätte die Beschränktheit und Verstocktheit seiner österreichischen Freunde besser kennen sollen. Von Kompensationen wollte man in Wien nichts wissen. So berichtet Tschirschky am 20. Juli über eine Besprechung mit Berchtold: „Graf Berchtold sagte, seiner Ansicht nach würde, wie die Dinge liegen, die Kompensationsfrage jetzt überhaupt nicht aktuell werden; in der gestrigen Besprechung sei, besonders auf Drängen des Grafen Tisza, der hervorgehoben habe, weder ihm noch irgend einer ungarischen Regierung könne eine Stärkung des slawischen Elements in der Monarchie durch Angliederung serbischer Gebietsteile zugemutet werden, beschlossen worden, von jeder dauernden Einverleibung fremden Gebiets abzusehen. Hiermit wird dann jeder irgendwie stichhaltige Grund für Italien, Kompensationen zu fordern, wegfallen. Auf meine Bemerkung, dass seitens Italien selbst schon die Niederwerfung Serbiens und die damit verbundene Ausdehnung des Einflusses der Monarchie am Balkan als
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eine Schädigung seiner Position angesehen werden und möglicherweise zu Reklamationen führen würde, meinte der Minister, dieser Standpunkt stehe, im Widerspruch mit den wiederholten Erklärungen des Marquis von San Giuliano, dass Italien ein starkes Österreich brauche.“
Nachdem der österreichische Graf diese tiefe Weisheit zum Besten gegeben, sprach er weiter über das Nationalitätenprinzip, das von Italien selbst durch die Besetzung Libyens durchbrochen worden sei, und fuhr fort: „Wenn man sich übrigens in Rom augenblicklich eine weitgehende österreichisch-italienische Kooperation praktisch nicht vorstellen kann, so läge durchaus kein Anlass zu einer solchen vor. Österreich verlangte weder eine Kooperation noch eine Unterstützung, sondern lediglich Enthaltung feindlichen Vorgehens gegen den Bundesgenossen.“
Im Übrigen machten dem tatenlustigen Minister die Italiener keine Sorgen: „Er gebe sich über die antiösterreichische und proserbische Stimmung San Giulianos und der Italiener keinen Illusionen hin, sei aber fest davon überzeugt, dass Italien militärisch und innerpolitisch kaum daran denken könne, aktiv einzugreifen. Herr v. Merey (der österreichische Botschafter in Rom) glaube und er, der Minister, hielte diese Ansicht für begründet, dass es San Giuliano hauptsächlich darauf ankomme, Österreich zu bluffen und für sich Schutz vor der öffentlichen Meinung Italiens zu suchen.“
Schon nach diesen Proben von Leichtfertigkeit und Beschränktheit hätte der deutschen Regierung vor dem Bundesgenossen bange werden müssen, mit dem sie sich in ein Abenteuer einließ, das zu einer „allgemeinen Konflagration“ zu führen drohte. Wilhelm selbst blieb jedoch zunächst noch hoffnungsfroh. Jagow telegraphierte ihm am 25. Juli einen Bericht Flotows aus Rom, der am 24. abends von dort abgegangen war. Es heißt dort: „In mehrstündiger, ziemlich erregter Konferenz mit Ministerpräsident Salandra und Marquis di San Giuliano führte Letzterer aus, dass der Geist des Dreibundvertrages bei einem so folgenreichen aggressiven Schritt Österreichs verlangt hätte, sich vorher mit den Bundesgenossen ins Einvernehmen zu setzen. Da dies bei Italien nicht geschehen sei, so kann sich Italien bei weiteren Folgen aus diesem Schritt nicht für engagiert halten. Außerdem verlangte Artikel 7 des Dreibundvertrages (den ich hier nicht habe), dass bei Veränderungen auf dem Balkan die Kontrahenten sich vorher verständigten und dass, wenn einer der Kontrahenten territoriale Veränderung herbeiführe, der andere entschädigt würde. Auf meine Bemerkung, dass, soviel ich wisse, Österreich erklärt habe, territoriale Erwerbungen nicht zu beabsichtigen, sagte der Minister, dass eine solche Erklärung nur sehr bedingt abgegeben worden sei. Österreich habe vielmehr erklärt, territoriale Erwerbungen jetzt nicht zu beabsichtigen, vorbehaltlich spä-
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terer etwa notwendig werdender anderer Entschlüsse. Der Minister meinte, man werde es ihm daher nicht verdenken, wenn er rechtzeitig Vorsichtsmaßregeln ergreife. Der Text der österreichischen Note sei so unerhört aggressiv und ungeschickt abgefasst, dass die gesamte öffentliche Meinung Europas und mit ihr Italiens (es hat in Albanien still mausen wollen und das hat Österreich verpurrt. W.) gegen Österreich sein würden. Dagegen könne keine italienische Regierung ankämpfen. (Blech. W.) Nach meinem Eindruck ist die einzige Möglichkeit, Italien festzuhalten, die, ihm zu rechter Zeit Kompensationen zu versprechen (der kleine Dieb muss eben immer was mitschicken. W.), wenn Österreich territoriale Besitznahme oder Besetzung des Lovcen vornimmt.“
Jagow bemerkt zu diesem Telegramm, der italienische Gesandte in Berlin, Bollate, habe Kompensationen verlangt, andernfalls müsse die Politik Italiens darauf gerichtet sein, eine österreichische Gebietserweiterung zu verhindern. Wilhelm unterstreicht das Wort „Kompensationen“ und fügt hinzu: „Albanien“. An den Schluss des Telegramms aber setzt er die klassische Bemerkung: „Das ist lauter Quatsch und wird sich schon von selbst geben im Laufe der Ereignisse.“
Im Auswärtigen Amt und selbst im Generalstab sah man indes Italiens Haltung weniger hoffnungsfreudig an, und Wilhelm selbst begann, nachdem er wieder festes Land betreten, die Dinge etwas nüchterner zu betrachten, namentlich als er sah, wie die serbische Antwort wirkte. Die deutsche Regierung fuhr fort, Österreich zu drängen, dass es Italien Kompensationen gewähre. Flotow berichtete am 25. Juli aus Rom: „Bei gestriger Diskussion mit Herrn Salandra und Marquis di San Giuliano, die wiederholt zu scharfen Zusammenstößen zwischen dem Marquis di San Giuliano und mir führte, schienen sich auf italienischer Seite drei Punkte abzuzeichnen: Erstens Furcht vor der öffentlichen Meinung Italiens, zweitens das Bewusstsein militärischer Schwäche und drittens, der Wunsch, bei dieser Gelegenheit etwas für Italien herauszuschlagen, wenn möglich das Trentino.“
Dazu bemerkt Bethmann Hollweg: „S. M. hält es für unbedingt erforderlich, dass sich Österreich mit Italien rechtzeitig wegen der Kompensationsfrage verständigt. Das soll Herrn von Tschirschky zur Weitergabe an Graf Berchtold im ausdrücklichen Auftrage S. M. mitgeteilt werden.“
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Flotow fährt in seinem Bericht fort: „Die Möglichkeit, dass Italien sich eventuell auch gegen Österreich wenden könnte, sprach Marquis di San Giuliano nicht direkt aus, sie klang nur in leisen Andeutungen durch... Wie schon gemeldet, vertrat Marquis di San Giuliano auf Grund der Fassung der österreichischen Note mit Nachdruck die These, dass das Vorgehen Österreichs gegen Serbien ein aggressives sei, dass daher auch alle sich etwa ergebenden Einmischungen Russlands und Frankreichs den Krieg nicht zu einem defensiven machen würden, und dass damit der casus foederis nicht gegeben sei. Ich habe diesen Standpunkt schon aus taktischen Gründen lebhaft bekämpft. Voraussichtlich wird aber Italien an dieser Möglichkeit zu entschlüpfen festhalten. Das Gesamtresultat ist also: Auf eine aktive Hilfe Italiens in einem etwa entstehenden europäischen Konflikt wird man schwerlich rechnen können. Eine direkte feindliche Haltung Italiens gegen Österreich dürfte sich, soweit sich heute übersehen lässt, durch ein kluges Verhalten Österreichs verhindern lassen.“
Am 26. berichtet Flotow weiter: „Marquis die San Giuliano fährt fort, mir zu sagen, dass das Vorgehen Österreichs für Italien höchst bedenklich sei, da Österreich morgen wegen der Irredenta dasselbe Vorgehen gegen Italien richten könne. Zu solchen Schritten könne daher Italien nicht seine Zustimmung geben. Nach vertraulichen Nachrichten aus Bukarest sei S. M. der König von Rumänien der gleichen Ansicht wegen der in Ungarn lebenden Rumänen... Den österreichischen Versicherungen, kein serbisches Territorium zu beanspruchen, glaubt der Minister immer noch nicht... Der Minister deutete wieder an, ohne Kompensation sei Italien gezwungen, Österreich in den Weg zu treten.“
Wer dem Weltfrieden wirklich dienen wollte, musste natürlich auf Österreich vor allem dahin drücken, dass es sich mit der serbischen Antwort begnügte. Stattdessen drückte man auf Österreich, damit es sich mit Italien verständige, um stärker zu sein, für den Fall, dass der serbische Krieg zu einem europäischen Konflikt werde. Je mehr dessen Wahrscheinlichkeit wächst, desto dringender die Mahnungen an Wien. Am 26. telegraphiert Bethmann Hollweg an Tschirschky in Wien: „Auch der Chef des Generalstabs hält es für dringend erforderlich, dass Italien fest beim Dreibund gehalten wird. Eine Verständigung Wiens mit Rom ist daher nötig. Wien darf derselben nicht mit fraglichen Vertragsdeutungen ausweichen, sondern muss dem Ernst der Lage entsprechend seine Entschlüsse fassen.“
Immer dringlicher werden die Aufforderungen. Am 27. telegraphiert Jagow an den Botschafter in Wien: „S. M. der Kaiser hält es für unbedingt erforderlich, dass Österreich sich mit Italien rechtzeitig über Artikel 7 und Kompensationsfragen verständigt. S. M.
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haben ausdrücklich befohlen, das Ew. Exz. zur Weitergabe an Graf Berchtold mitzuteilen.“
Aber weder dem Chef des Generalstabs noch dem Kaiser selbst gelang es, die passive Resistenz der Herren vom Ballplatz zu überwinden, die einmal entschlossen waren, in den Italienern nicht den Bundesgenossen, sondern den Feind zu sehen. Und wie Italien drohte bei dieser verbissenen Verbohrtheit auch der andere Bundesgenosse zu versagen, den Deutschland noch hatte, Rumänien. 14. England. Bis zum 29. Juli. Die deutsche Regierung hatte erwartet, es werde ihr gelingen, England neutral zu erhalten, wenn es zum Konflikt mit Russland und Frankreich kommen sollte. Man mochte darauf rechnen, dass Irland vor offener Rebellion zu stehen schien, und dass der pazifistische Gedanke nirgends stärker war als gerade in England, nicht nur bei seinen Arbeitern, sondern auch bei einem großen Teil seiner Bourgeoisie. Selbst vielen bürgerlichen Elementen, die an einem Kolonialkrieg nichts auszusetzen hatten, graute vor einem europäischen Kriege mit seinen vernichtenden ökonomischen Folgen. Die deutsche Regierung durfte also wohl erwarten, dass gegen einen Krieg mit Deutschland sich starke Widerstände im englischen Parlament regen würden. Aber sie vergaß, dass dies bloß von einem durch nichts provozierten Angriffskrieg galt. Die deutschen Flottenrüstungen hatten die gesamte Bevölkerung Englands mit wachsenden Besorgnissen vor einer geplanten deutschen Invasion erfüllt. Ein Krieg zur Niederwerfung Frankreichs oder gar eine Besetzung Belgiens durch Deutschland musste den stärksten Abwehrwillen des englischen Volkes hervorrufen. Damit scheint die deutsche Regierung nicht ernsthaft gerechnet zu haben. Ihr ganzes Vorgehen war auf die Voraussetzung der englischen Neutralität aufgebaut. In einem von Pourtalès erstatteten Bericht über ein Gespräch mit Sasonow (vom 21. Juli) hieß es: „Der Minister wies im Laufe des Gesprächs wiederholt darauf hin, dass nach den ihm vorliegenden Nachrichten die Lage auch in Paris und London ernst angesehen werde. Er war dabei sichtlich bestrebt, bei mir den Eindruck zu er-
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wecken, dass auch in England die Haltung Österreich-Ungarns sehr missbilligt werde.“
Mit großer Entschiedenheit bemerkte dazu Wilhelm: „Er irrt!“ Hätte er Lichnowskys Berichte mit größerer Aufmerksamkeit und geringerer Voreingenommenheit gelesen -- dann wäre er vorsichtiger gewesen. Aber richtig ist es, dass die englische Regierung beim Ausbruch des serbisch-österreichischen Konfliktes zunächst eine neutrale Haltung einzunehmen suchte, um zwischen Österreich und Russland zu vermitteln. In gleichem Sinne sprach sich damals auch der englische König zu Wilhelms Bruder, dem Prinzen Heinrich, aus: „Mein lieber Wilhelm. Vor meiner Abreise von London und zwar am Sonntag morgen (26. Juli) hatte ich auf mein Ansuchen eine kurze Unterredung mit George, welcher sich über den Ernst der augenblicklichen Lage vollkommen im Klaren war und versicherte, er und seine Regierung würden nichts unversucht lassen, um den Kampf zwischen Österreich und Serbien zu lokalisieren. Deshalb hat seine Regierung den Vorschlag gemacht, Deutschland, England, Frankreich und Italien, wie Du längst weißt, möchten intervenieren, um zu versuchen, Russland im Zaume zu halten. Er hoffe, dass Deutschland in der Lage sein werde, trotz seines Bündnisverhältnisses zu Österreich, diesem Vorschlag beizutreten, um den europäischen Krieg zu vermeiden, dem, wie er sagt, wir näher seien als je zuvor. Er sagte weiter wörtlich: „we shall try all we can to keep out of this and shall remain neutral“ (wir werden alles aufbieten, nicht hineingezogen zu werden und werden neutral bleiben). Dass diese Äußerung ernst gemeint war, davon bin ich überzeugt, ebenso wie davon, dass England auch neutral bleiben wird. Ob es dies jedoch auf die Dauer wird können, darüber kann ich nicht urteilen, hege aber meine Bedenken wegen des Verhältnisses zu Frankreich. Georgie war sehr ernst gestimmt, folgerte logisch und hatte das ernsteste und aufrichtige Bestreben, dem eventuellen Weltbrand vorzubeugen, wobei er stark auf Deine Mithilfe rechnete. -- Den Inhalt der Unterredung teilte ich Lichnowsky mit (schon am 26. Juli, K.), mit der Bitte, diesen dem Kanzler zu übermitteln... Dein treu gehorsamer Bruder Heinrich.“
Der Bericht über das Gespräch zeichnet sich nicht durch übermäßige Logik aus. Er sagt, die englische Regierung schlage vor, dass Deutschland, England, Frankreich und Italien zusammentreten, um Russland im Zaume zu halten, und hoffe, dass Deutschland sich durch sein Bündnisverhältnis zu Österreich nicht hindern lasse, diesem Vorschlag beizutreten. Es ist offenbar, dass das Bundesverhältnis in Frage nur kommen konnte, wenn es galt, Österreich im Zaume zu halten. Wahrscheinlich hat „Georgie“ von Russland und Österreich gesprochen. Deshalb wollen wir doch nicht gleich die Glaub-
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würdigkeit des ganzen Briefes wegen Senilität à la Szögyeny bestreiten. Was die Neutralität anbelangt, so war offenbar nur gesagt worden, wir werden versuchen, neutral zu bleiben, so lange wir können. Heinrich zweifelt selbst, dass dies auf die Dauer möglich sein werde. Wilhelm aber sah hierin ein unter allen Umständen bindendes Versprechen. Dabei hatte er schon vor dem Ultimatum an Serbien die englische Neutralität, die er nicht nur erwartete, sondern gewissermaßen als sein gutes Recht forderte, in dem Sinne aufgefasst, dass England sich jeder Einwirkung auf Österreich zu enthalten habe und diesem freien Lauf lassen müsse. Das geht hervor aus seinen Glossen zu einem Bericht Lichnowskys vom 22. Juli. Wir bringen diesen vollständig mit Wilhelms Zusätzen in Klammern: „Sir Edward Grey wird, wie ich vertraulich erfahre, dem Grafen Mensdorff morgen erklären, die britische Regierung werde ihren Einfluss dahin zur Geltung bringen, dass die österreichisch-ungarischen Forderungen, falls sie gemäßigt seien und sich mit der Selbstständigkeit des serbischen Staates vereinbaren ließen (darüber zu befinden, steht ihm nicht zu, das ist Sache S. M. des Kaisers Franz Josef. W.), von der serbischen Regierung angenommen würden. In ähnlichem Sinne glaube er auch, dass Sasonow seinen Einfluss in Belgrad geltend machen werde. Voraussetzung für diese Haltung sei aber, dass von Wien aus keine unbewiesenen Anklagen à la Friedjung vorgebracht würden und dass die österreichisch-ungarische Regierung in der Lage sei, den Zusammenhang zwischen dem Mord von Serajewo mit den politischen Kreisen Belgrads unzweideutig festzustellen. (Ist ihre Sache. W.) Alles hängt von der Art ab, wie man in Wien die Note gestalte und von den Ergebnissen der bisherigen Untersuchung. Auf Grund leichtfertiger Behauptungen (Was ist leichtfertig? Wie kann Grey so ein Wort über den alten, ehrwürdigen Herrn gebrauchen! W.) sei es jedoch unmöglich, in Belgrad Vorstellungen zum machen. Ich bemühe mich unterdessen, hier dahin zu wirken, dass man mit Rücksicht auf das berechtigte Verlangen Österreichs nach einer Genugtuung und endlichen Einstellung der dauernden Beunruhigungen für eine bedingungslose Annahme der österreichischen Forderungen eintritt, selbst wenn sie der nationalen Würde Serbiens (gibt es nicht! W.) nicht vollauf Rechnung tragen sollten. Ich begegne hierbei der Erwartung, dass es unserem Einfluss in Wien gelungen ist, unerfüllbare Forderungen zu unterdrücken (Wie käme ich dazu! Geht mich gar nichts an! Was heißt unerfüllbar? Die Kerle haben Agitation mit Mord getrieben und müssen geduckt werden! Das ist eine ungeheuerliche britische Unverschämtheit. Ich bin nicht berufen, à la Grey, S. M. dem Kaiser Vorschriften über die Wahrung seiner Ehre zu machen. W.) Man rechnet mit Bestimmtheit damit, dass wir mit Forderungen, die offenkundig den Zweck haben, den Krieg herbeizuführen, uns nicht identifizieren würden, und dass wir keine Politik unterstützen, die den Serajewer Mord nur als Vorwand benützt für österreichische Balkanwünsche und für die Vernichtung des Friedens von Bukarest. Im Übrigen hat mir Sir Edward Grey auch heute wieder sagen lassen, dass er in Petersburg
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bestrebt ist, im Sinne des österreichischen Standpunktes zu wirken. Es hat aber hier nicht angenehm berührt, dass Graf Berchtold es bisher ganz auffallend vermieden hat, mit Sir Maurice de Bunsen über die serbische Frage zu sprechen.“
Jagow fügt zu diesem Bericht Lichnowskys hinzu: „Ew. Majestät Botschafter in London erhält Instruktion zur Regelung seiner Sprache, dass wir österreichische Forderungen nicht kannten, sie aber als interne Fragen Österreich-Ungarns betrachten, auf die uns Einwirkung nicht zustände.“ Dazu bemerkt Wilhelm: „Richtig! Das soll Grey aber recht ernst und deutlich gesagt werden, damit er sieht, dass ich keinen Spaß verstehe. Grey begeht den Fehler, dass er Serbien mit Österreich und anderen Großmächten auf eine Stufe stellt! Das ist unerhört! Serbien ist eine Räuberbande, die für Verbrechen gefasst werden muss! Ich werde mich in nichts einmischen, was der Kaiser zu beurteilen allein befugt ist. Ich habe diese Depesche erwartet und sie überrascht mich nicht! Echt britische Denkweise und herablassend befehlende Art, die ich abgewiesen haben will!“ In dieser Weise gedachte Wilhelm um die englische Neutralität zu werben. Natürlich haben seine Diplomaten Wasser in seinen gärenden Wein gegossen, aber die sachliche Schwierigkeit blieb bestehen: der Gegensatz zwischen dem österreichischen und dem britischen Standpunkt war zu groß, als dass England hätte fortfahren können, wie es beabsichtigt, für jenen einzutreten und ausschließlich Russland den Zaum aufzulegen. Das zeigt sich sofort nach dem Bekanntwerden des österreichischen Ultimatums. Schon am 24. Juli berichtet Lichnowsky: „Sir E. Grey ließ mich soeben zu sich bitten. Der Minister war sichtlich stark unter dem Eindruck der österreichischen Note, die seiner Ansicht nach alles überträfe, was er bisher in dieser Art jemals gesehen habe. Er sagte, er habe bisher keine Nachricht aus Petersburg und wisse daher nicht, wie man dort die Sache auffasse. Er bezweifle aber sehr, dass es der russischen Regierung möglich sein werde, der serbischen die bedingungslose Annahme der österreichischen Forderungen zu empfehlen. Ein Staat, der so etwas annehme, höre doch eigentlich auf, als selbstständiger Staat zu zählen. (Das wäre sehr erwünscht. Es ist kein Staat im europäischen Sinne, sondern eine Räuberbande. W.) Es sei für ihn, Sir E. Grey, auch schwer, in diesem Augenblick in Petersburg irgendwelche Ratschläge zu geben. Er könne nur hoffen, dass dort eine milde (!! W.) und ruhige Auffassung der Lage Platz greife. So lange es sich um einen... lokalisierten Streit zwischen Österreich und Serbien handle, ginge ihn, Sir E. Grey, die Sache nichts an (richtig. W.), anders würde die Sache aber sofort, wenn die öffentliche Meinung in Russland die Regierung zwinge, gegen Österreich vorzugehen.
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Auf meine Bemerkung, dass man die Balkanvölker nicht mit demselben Maßstab messen dürfe, wie europäische Kulturvölker (richtig, sind eben keine! W.) und dass man daher ihnen gegenüber, das habe schon die barbarische Art ihrer Kriegsführung gezeigt, eine andere Sprache führen müsse, wie etwa gegen Briten und Deutsche (richtig! W.), entgegnete der Minister, dass, wenn auch er diese Auffassung vielleicht teilen könne, er doch nicht glaube, dass sie in Russland geteilt werde. (Dann sind die Russen eben auch nicht besser. W.) Die Gefahr eines europäischen Krieges sei, falls Österreich serbischen Boden betrete (das wird sicher kommen. W.), in nächste Nähe gerückt. Die Folgen eines solchen Krieges zu vier, er betonte ausdrücklich die Zahl vier, und meinte damit Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland und Frankreich, (er vergisst Italien. W.) seien vollkommen unabsehbar. Wie auch immer die Sache verlaufe, eines sei sicher, dass nämlich eine gänzliche Erschöpfung und Verarmung Platz greife, Industrie und Handel vernichtet und Kapitalkraft zerstört würde. Revolutionäre Bewegungen wie im Jahre 1848 infolge der darniederliegenden Erwerbstätigkeit würden die Folge sein. (! W.) Was Sir E. Grey am meisten beklagt, neben dem Ton der Note, ist die kurze Befristung, die den Krieg beinahe unvermeidlich mache. Er sagte mir, er würde bereit sein, mit uns zusammen im Sinne einer Fristverlängerung in Wien vorstellig zu werden, (nutzlos! W.) da sich dann vielleicht ein Ausweg (?!! W.) finden lasse. Er bat mich, diesen Vorschlag Ew. Exz. zu übermitteln. Ferner regte er an, dass für den Fall einer gefährlichen Spannung die vier nicht unmittelbar beteiligten Staaten England, Deutschland, Frankreich und Italien zwischen Russland und Österreich-Ungarn die Vermittlung übernehmen sollten. (Ist überflüssig, da Österreich schon Russland orientiert hat und Grey ja nichts anderes vorschlagen kann. Ich tue nicht mit, nur wenn Österreich mich ausdrücklich darum bittet, was nicht wahrscheinlich. In Ehren- und vitalen Fragen konsultiert man andere nicht. W.) Der Minister ist sichtlich bestrebt, alles zu tun, um einer europäischen Verwicklung vorzubeugen und konnte sein lebhaftes Bedauern über den herausfordernden Ton der österreichischen Note und die kurze Befristung nicht verhehlen. Von anderer Seite wird mir im Foreign Office gesagt, dass man Grund zur Annahme habe, dass Österreich die Widerstandskraft Serbiens sehr unterschätze. Es werde auf jeden Fall ein langwieriger erbitterter Kampf werden, der Österreich ungemein schwächen und an dem es sich verbluten werde. (Unsinn! Er kann England Persien bringen.. W.) Auch will man wissen, dass die Haltung Rumäniens mehr als ungewiss sei und dass man in Bukarest erklärt hätte, man würde gegen jeden sein, der angriffe.“
An diesem Dokument sind drei Punkte besonders bemerkenswert. Einmal die Gemütsruhe, mit der Wilhelm noch am 26. Juli dem Krieg entgegensteht. Dass Österreich sich an ihm verbluten könne, erklärt er für Unsinn. Die Befürchtung, er werde allen Beteiligten ökonomischen Ruin und die Revolution bringen, erscheint ihm so lächerlich, dass er sie mit einem Ausrufungszeichen abtut.
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Zum zweiten sieht man, dass Wilhelm am 26. Juli, an dem er den Lichnowskyschen Bericht las, noch auf Italiens Eintritt in den Krieg, natürlich an Deutschlands Seite, rechnete. Endlich aber ist zu bemerken, dass Grey den Krieg, den er fürchtet, nur als Krieg von vieren bezeichnet, von England nicht spricht. Er sucht also noch neutral zu sein. Und er musste es, wenn er als Vermittler auftreten wollte. Zum Gelingen dieser Vermittlung gehörte aber, dass Deutschland ebenfalls ehrlich neutral war. Das erschien von vornherein zweifelhaft, und im Verlauf der Verhandlungen verstärkte sich immer mehr der Verdacht, dass es seine neutrale Haltung nur vorschützte, um Österreich unauffällig helfen zu können, das sich in seiner Kriegspolitik durch nichts beirren ließ. England musste mit der Möglichkeit rechnen, dass Deutschland mit Österreich zum Krieg gegen Russland und Frankreich drängte, bei dem es im Bunde mit Italien ja des Sieges sicher sein konnte. Wenn diese Absicht bestand, dann war zu befürchten, dass Deutschland durch die Aussicht auf Englands Neutralität in seinen kriegerischen Tendenzen bestärkt wurde. Da galt es, Deutschland zu warnen, dass es auf diese Neutralität nicht zählen dürfe. Diese Warnung konnte noch den Frieden retten, der aufs Äußerste bedroht war. Sie erfolgte am 29. Juli. Der 29. Juli Die Warnung fand einen vorbereiteten Boden. Wir haben bereits den Umschwung der Stimmung in Berlin konstatiert, der am 28. Juli einsetzt, wohl hervorgerufen durch die sozialistischen Demonstrationen gegen den Krieg in Berlin, dann durch Lichnowskys Vorstellungen und Italiens Widerhaarigkeit, was die Möglichkeit aufdämmern ließ, dass aus dem fröhlichen Krieg von zwei zu zwei ein sehr ekliger von zwei zu vier werden konnte. Bethmann versuchte nun, England durch Versprechungen zu gewinnen. In einem Gespräch mit Sir Ed. Goschen bemerkt er am 29. Juli: „Wir können dem englischen Kabinett --voraussichtlich dessen neutraler Haltung -- versichern, dass wir selbst im Falle eines Krieges keine territoriale Bereicherung auf Kosten Frankreichs in Europa anstreben. Wir können ihm ferner zusichern, dass wir die Neutralität und Integrität Hollands solange respektieren werden, als diese von unseren Gegnern respektiert wird.“
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Gleichzeitig präludiert er damals schon den Einbruch in Belgien: „Was Belgien betrifft, so wissen wir nicht, zu welchen Gegenoperationen uns die Aktion Frankreichs in einem etwaigen Kriege nötigen könnte. Aber vorausgesetzt, dass Belgien nicht gegen uns Partei nimmt, würden wir auch für diesen Fall uns zu einer Versicherung bereit finden, wonach Belgiens Integrität nach Beendigung des Krieges nicht angetastet werden darf. Diese eventuellen Zusicherungen erschienen uns als geeignete Grundlagen für eine weitere Verständigung mit England, an der unsere Politik bisher dauernd gearbeitet hat. Die Zusicherung einer neutralen Haltung Englands im gegenwärtigen Konflikt would enable me to a general neutrality agreement in the future of which it would be premature to discuss the details in the present moment“ (würde mich in die Lage versetzen, ein allgemeines Neutralitätsabkommen in der Zukunft abzuschließen, dessen Details im gegenwärtigen Augenblick zu diskutieren verfrüht wäre).“
Die Stilisierung des englisch gefassten Satzes hat Bethmann große Schwierigkeiten bereitet. Zuerst hatte er geschrieben: „und die Inaussichtnahme eines allgemeinen Neutralitätsvertrages für die Zukunft würden wir mit einer Flottenverständigung beantworten können.“
Dann strich er den Satz und schrieb: „würde für uns die Möglichkeit schaffen, einen allgemeinen Neutralitätsvertrag für die Zukunft in Aussicht zu nehmen. Ich kann mich über die Details und die Basis eines solchen Vertrages heute nicht näher äußern, da ja England dabei sich über die ganz Frage äußern würde.“
Aber auch diese Fassung gefiel ihm nicht, und so wählte er die englisch niedergeschriebene. Dieses Suchen ist sehr charakteristisch. Bethmann Hollweg trachtete unmittelbar vor dem Kriege, England zu veranlassen, dass es Frankreich und Belgien der deutschen Übermacht preisgab. Eine Aussicht, das zu erreichen, hätte er nur dann gehabt, wenn er England die beruhigendsten Versicherungen bezüglich der deutschen Welt- und Flottenpolitik gab. Auch dann war die Aussicht nicht groß, denn den Versprechungen stand die Realität der deutschen Flotte gegenüber. Immerhin wäre dann ein Erfolg denkbar gewesen. Doch selbst damals, als Deutschland jener furchtbaren Krisis entgegenging, konnte Bethmann Hollweg sich nicht entschließen, eine Flottenverständigung als Lockmittel auch nur zu erwähnen, er wusste nichts als eine vage Phrase über einen „allgemeinen Neutralitätsvertrag für die Zukunft“ vorzubringen, was natürlich nicht die mindeste Garantie dafür bot, dass ein siegreiches Deutschland nicht seine dann unwiderstehliche Übermacht auch gegen England wende.
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Der Antrag wurde denn auch von Grey abgewiesen. Sehr energisch, als eine schandbare Zumutung, einen Handel mit Deutschland auf Kosten Frankreichs abzuschließen, dessen Kolonien Deutschland preisgegeben würden. Aber noch ehe die englische Regierung von dem Vorschlag Kunde erhielt, hatte sie bereits Deutschland in ernstlicher Weise gewarnt und es wissen lassen, dass sie wohl als Neutraler vermitteln wollte zwischen Österreich und Serbien sowie Russland, dass sie aber in einem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich nicht ihre Neutralität zusagen könne. Diese Mitteilung, die eigentlich selbstverständlich war, traf Wilhelm wie ein Donnerschlag. Wut und Furcht stritten in ihm und ließen ihn völlig den Kopf verlieren, wie wir gleich sehen werden. Am 29. Juli sandte Lichnowsky zwei Depeschen nach Berlin. In der einen teilte er unter anderem mit, dass Sir E. Grey die Lage überaus ernst beurteile. „Den unangenehmen Eindruck hat auf ihn ein gestriges Telegramm Sir Maurice de Bunsens (engl. Botschafter in Wien, K.) gemacht, wonach Graf Berchtold den Vorschlag Sasonows, den Grafen Szapary (österreichischen Botschafter in Petersburg, K.) zu ermächtigen, mit ihm in Besprechung des serbisch-österreichischen Streits einzugehen, unbedingt abgelehnt hat.
Der Minister erörterte dann weiter die Möglichkeiten einer Vermittlung und Verständigung, um den Weltkrieg zu vermeiden. Wichtiger ist die nächste Depesche: „Sir E. Grey ließ mich soeben nochmals zu sich bitten. Der Minister war vollkommen ruhig, aber sehr ernst und empfing mich mit den Worten, -- dass die Lage sich immer mehr zuspitze. (Das stärkste und unerhörteste Stück englischen Pharisäertums, das ich je gesehen! Mit solchen Halunken mache ich nie ein Flottenabkommen. W.) Sasonow habe erklärt, nach der Kriegserklärung (an Serbien. K) nicht mehr in der Lage zu sein, mit Österreich direkt zu verhandeln, und hier bitten lassen, die Vermittlung wieder aufzunehmen. (Trotz Appells des Zaren an mich! Damit bin ich außer Kurs gesetzt. W.) Als Voraussetzung für diese Vermittlung betrachtet die russische Regierung die vorläufige Einstellung der Feindseligkeiten. Sir E. Grey wiederholt seine bereits gemeldete Anregung, dass wir uns an einer solchen Vermittlung zu vieren, die wir bereits grundsätzlich angenommen hätten, beteiligen sollten. Ihm persönlich schien eine geeignete Grundlage für eine Vermittlung, dass Österreich etwa nach Besetzung von Belgrad oder anderer Plätze seine Bedingungen kundgäbe. (Gut. Haben wir seit Tagen bereits zu erreichen versucht. Umsonst! W.) Sollten Ew. Exzellenz jedoch die Vermittlung übernehmen, wie ich heute früh in Aussicht stellen konnte, so wäre ihm das natürlich ebenso recht. Aber eine Vermittlung schiene ihm nunmehr dringend geboten, falls es nicht zu einer europäischen Katastrophe kommen sollte. (Anstatt der Vermittlung ein ernstes Wort in Petersburg und Paris, dass England ihnen nicht hilft, würde die Situation sofort beruhigen. W.)
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Sodann sagte mir Sir E. Grey, er hätte mir eine freundschaftliche und private Mitteilung zu machen, er wünsche nämlich nicht, dass unsere so herzlichen persönlichen Beziehungen und unser intimer Gedankenaustausch über alle politischen Fragen mich irreführten und er möchte sich für später den Vorwurf (der bleibt. W.) der Unaufrichtigkeit ersparen. (Aha! Der gemeine Täuscher! W.) Die britische Regierung wünsche nach wie vor mit uns die bisherige Freundschaft zu pflegen und sie könne, so lange der Konflikt sich auf Österreich und Russland beschränke, abseits stehen. (Das heißt, wir sollen Österreich sitzen lassen. Urgemein und mephistophelisch! Aber echt englisch. W.) Würden wir aber und Frankreich hineingezogen, so sei die Lage sofort eine andere und die britische Regierung würde unter Umständen sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen. (sind schon gefasst. W.) In diesem Falle würde es nicht angehen, lange abseits zu stehen und zu warten. (d. h. sie werden uns anfallen. W.) Wenn der Krieg ausbricht, wird es die größte Katastrophe, die die Welt jemals gesehen. Es liege ihm fern, irgendeine Drohung aussprechen zu wollen, er habe mich nur vor Täuschungen und sich vor dem Vorwurf der Unaufrichtigkeit bewahren wollen (gänzlich missglückt. Unaufrichtig ist er alle diese Jahre trotzdem gewesen bis in seine letzte Rede. W.) und daher die Form einer privaten Verständigung gewählt. Sir E. Grey fügte noch hinzu, die Regierung (wir auch! W.) müsse auch mit der öffentlichen (neu kreierten! W.) Meinung rechnen. (Wenn sie will, kann sie die öffentliche Meinung wenden und dirigieren, da ihr die Presse unbedingt gehorcht. W.) Bisher sei dieselbe im Allgemeinen für Österreich günstig gewesen, da man die Berechtigung einer gewissen Genugtuung anerkenne, jetzt aber fange sie an, infolge der österreichischen Hartnäckigkeit vollkommen umzuschlagen. (Mit Hilfe der Jingopresse! W.) Meinem italienischen Kollegen, der mich soeben verlässt, hat Sir E. Grey, gesagt, er glaube, falls die Vermittlung angenommen werde, Österreich jede mögliche Genugtuung verschaffen zu können, ein demütigendes Zurückweichen Österreichs käme gar nicht in Frage, da die Serben auf alle Fälle gezüchtigt und unter der Zustimmung Russlands genötigt werden würden, sich den österreichischen Wünschen unterzuordnen. Österreich könne also auch ohne Krieg, der den europäischen Frieden in Frage stelle, Bürgschaften für die Zukunft erlangen. Lichnowsky.“
Dazu macht Wilhelm noch folgende Schlussbemerkung: „England decouvriert sich im Moment, wo es der Ansicht ist, dass wir im Lappjagen eingestellt sind und sozusagen erledigt! Das gemeine Krämergesindel hat uns mit Diners und Reden zu täuschen versucht. Die gröbste Täuschung, die Worte des Königs für mich an Heinrich: „We shall remain neutral and try to keep out of this as long as possible.“ Grey straft den König Lügen und diese Worte an Lichnowsky sind der Ausfluss des bösen Gewissens, dass er eben das Gefühl gehabt hat, uns getäuscht zu haben. Zudem ist es tatsächlich eine Drohung mit Bluff verbunden, um uns von Österreich loszulösen und an der Mobilmachung zu hindern und die Schuld am Kriege zuzuschieben. Er weiß ganz genau, dass wenn er nur ein einziges, ernstes scharfes abmahnendes Wort in
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Paris und Petersburg spricht und sie zur Neutralität ermahnt, beide sofort stille bleiben werden. Aber er hütet sich, das Wort auszusprechen, sondern droht uns statt dessen! Gemeiner Hundsfott! England allein trägt die Verantwortung für Krieg und Frieden, nicht wir mehr! Das muss auch öffentlich klargestellt werden.“
Die Maßlosigkeiten im Ausdruck bezeugen deutlich die Hochgradigkeit der Enttäuschung, die Wilhelm durch Greys Wink erfuhr, den jeder einigermaßen nüchterne und geschulte Politiker voraussehen musste, den auch Prinz Heinrich gleich erwartet hatte, als König Georg ihm ankündigte, er werde versuchen, neutral zu bleiben, so lange es gehe. Schon in dem von Eisner veröffentlichten Bericht des bayerischen Legationsrats Schön vom 18. Juli hatte es geheißen: „Ein Krieg zwischen Zweibund und Dreibund dürfte England im jetzigen Zeitpunkt schon mit Rücksicht auf die Lage in Irland wenig willkommen sein. Kommt es gleichwohl dazu, so würden wir aber nach hiesiger Auffassung die englischen Vettern auf der Seite unserer Gegner finden, da England befürchtet, dass Frankreich im Falle einer Niederlage auf die Stufe einer Macht zweiten Ranges herabsinken und damit die balance of power (das europäische Gleichgewicht) gestört würde, deren Erhaltung England im eigenen Interesse für geboten erachtet.“
Das hatte Wilhelm in seinem politischen Kalkül völlig vergessen, und er hatte das Trachten nach möglichster Neutralität im Stadium der Vermittlung, das Grey in Aussicht gestellt, für ein bindendes Versprechen der Neutralität unter allen Umständen, auch für den Fall eines Krieges gegen Frankreich gehalten, ja überdies die Neutralität als Verpflichtung Englands aufgefasst, die deutsche Politik blindlings in Petersburg und Paris zu unterstützen. Eine sinnlosere Politik ist kaum denkbar. Tags darauf äußert sich Wilhelm noch ausführlicher über die englische Warnung, im Anschluss an einen Bericht des Herrn von Pourtalès in Petersburg über eine Unterredung mit Sasonow. Der russische Minister suchte den deutschen Botschafter zu überreden, bei der deutschen Regierung die ersehnte „Teilnahme an der Konversation zu vieren zu befürworten, um Mittel ausfindig zu machen, Österreich auf freundschaftlichem Wege (ist die russische Mobilmachung ein freundschaftlicher Weg?! W.) zu bewegen, die die Souveränität Serbiens antastenden Forderungen fallen zu lassen.“
Dieser vernünftige Vorschlag, der die Wahrung des Friedens wahrscheinlich machte und dem „im Prinzip“ das deutsche Auswärtige Amt England ge-
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genüber zugestimmt hatte, begegnet dem Widerstand des deutschen Gesandten in Petersburg, der ihn mit der geistreichen Bemerkung abtut: „Russland verlangte von uns Österreich gegenüber dasjenige zu tun, was Österreich Serbien gegenüber vorgeworfen werde.“
Zu dieser lächerlichen Auffassung bemerkt Wilhelm prompt: „Sehr gut.“
Herr Pourtalès redet dann Sasonow zu, doch Österreich in Serbien gewähren zu lassen: „Beim Friedensschluss werde immer noch Zeit sein, auf Schonung serbischer Souveränität zurückzukommen.“ (Gut! W.)
Nachdem der deutsche Botschafter unter dem lebhaften Beifall seines kaiserlichen Herrn in dieser famosen Weise an der Verständigung zwischen Russland und Österreich gearbeitet hat, kommt er auf die russische Teilmobilisierung zu sprechen, die der österreichischen folgte, und spricht „keine Drohung aus, sondern eine freundschaftliche Warnung“: „Sasonow erklärte, dass Rückgängigmachung des Mobilisierungsbefehls nicht mehr möglich und dass österreichische Mobilmachung daran schuld sei.“
Daran fügt Wilhelm eine lange Abhandlung: „Wenn Mobilmachung nicht mehr rückgängig zu machen ist -- was nicht wahr ist -- warum hat dann der Zar meine Vermittlung drei Tage nachher angerufen ohne die Erlassung des Mobilmachungsbefehls zu erwähnen? Das zeigt doch klar, dass die Mobilmachung ihm selbst übereilt erschienen ist und er hinterher zur Beruhigung seines erwachten Gewissens pro forma diesen Schritt bei uns tat, obwohl er wusste, dass es zu nichts mehr nütze sei, da er sich nicht stark genug fühlt, die Mobilmachung zu stoppen. Leichtsinn und Schwäche sollen die Welt in den furchtbarsten Krieg stürzen, der auf den Untergang Deutschlands schließlich abzielt. Denn das lässt jetzt für mich keinen Zweifel mehr zu: England, Russland und Frankreich haben sich verabredet -- unter Zugrundelegung des casus foederis für uns Österreich gegenüber -- den österreichischserbischen Konflikt zum Vorwand nehmend, gegen uns den Vernichtungskrieg zu führen. Daher Greys zynische Bemerkung zu Lichnowsky: solange der Krieg auf Russland und Österreich beschränkt bleibe, würde England still sitzen, erst wenn wir uns und Frankreich hineinmischen, würde er gezwungen sein, aktiv gegen uns zu werden, d. h. entweder wir sollen unseren Bundesgenossen schnöde verraten und Russland preisgeben -- damit den Dreibund sprengen oder für unsere Bundestreue von der Tripelentente gemeinsam überfallen und bestraft werden, wobei ihrem Neid endlich Befriedigung wird, uns gemeinsam total zu ruinieren. Das ist in nuce die wahre, nackte Situation, die langsam und sicher durch Edward VII. eingefädelt, fortgeführt, durch abgeleugnete Besprechungen Englands mit Paris und Petersburg systematisch ausgebaut, schließlich durch
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Georg V. zum Abschluss gebracht und ins Werk gesetzt wird. Dabei wird uns die Dummheit und Ungeschicklichkeit unseres Verbündeten zum Fallstrick gemacht. Also die berühmte „Einkreisung“ Deutschlands ist nun doch endlich zur vollsten Tatsache geworden, trotz aller Versuche unserer Politiker und Diplomaten sie zu hindern. Das Netz ist uns plötzlich über den Kopf gezogen und hohnlächelnd hat England den glänzendsten Erfolg seiner beharrlich durchgeführten pur antideutschen Weltpolitik, gegen die wir uns machtlos erwiesen haben, indem es uns isoliert im Netz zappelnd aus unserer Bundestreue zu Österreich den Strick zu unserer politischen und ökonomischen Vernichtung dreht. Eine großartige Leistung, die Bewunderung verdient, selbst bei dem, der durch sie zugrunde geht! Edward VII. ist nach seinem Tode noch stärker als ich, der ich lebe! Und da hat es Leute gegeben, die geglaubt haben, man könnte England gewinnen oder beruhigen durch diese oder jene kleine Maßregeln!!! Unablässig, unnachgiebig hat es sein Ziel verfolgt mit Noten, Feiertagsvorschlägen, scares, Haldane usw. bis es soweit war. Und wir sind ins Garn gelaufen und haben sogar das Einertempo im Schiffbau eingeführt, in rührender Hoffnung, England damit zu beruhigen!!! Alle Warnungen, alle Bitten meinerseits sind nutzlos verhallt. Jetzt kommt der englische so genannte Dank dafür! Aus dem Dilemma der Bundestreue gegen den ehrwürdigen alten Kaiser wird uns die Situation geschaffen, die England den erwünschten Vorwand gibt, uns zu vernichten, mit dem heuchlerischen Schein des Rechts, nämlich Frankreich zu helfen wegen Aufrechterhaltung der berüchtigten balance of power in Europa, d. h. Ausspielung aller europäischen Staaten zu Englands Gunsten gegen uns! Jetzt muss dieses ganze Getriebe schonungslos aufgedeckt und ihm öffentlich die Maske christlicher Friedfertigkeit in der Öffentlichkeit schroff abgerissen werden und die pharisäische Friedensheuchelei an den Pranger gestellt werden!! Und unsere Konsuln in Türkei und Indien, Agenten usw. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen. Denn wenn wir uns verbluten sollen, soll England wenigstens Indien verlieren.“
Diese Philippika kennzeichnet Wilhelm. Nachdem er durch seine Verschwörung mit Österreich Deutschland in eine so furchtbare Lage gebracht, denkt er nicht daran, wie er es wieder aus ihr herausbringt, sondern nur an den Theatereffekt, wie er das ganze Getriebe seiner Gegner schonungslos aufdeckt, ihm die Maske christlicher Friedfertigkeit schroff abreißt und die pharisäische Friedensheuchelei an den Pranger stellt. Sein eigenes „Getriebe“, das die Aufdeckung so gar nicht verträgt, mit entsprechender „christlicher Friedfertigkeit“ und „pharisäischer Friedensheuchelei“ hat er vollständig vergessen. Dabei aber scheint ihm der Krieg bereits eine ausgemachte Sache. Die einzige Tat, die ihm nach seinen pomphaften Redensarten einfällt, ist nicht ein Versuch, den Frieden zu retten, sondern nur ein Aufruf zum Aufstand der ganzen mohammedanischen Welt. Er findet sich bereits ab mit dem Gedanken, dass Deutschland im kommenden Kriege verblutet, wenn nur Eng120
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land auch einen tüchtigen Knacks davonträgt. Im Grunde bezeugt aber dieses ganze wirre Gerede nur völlige Kopflosigkeit. Italiens Absage und Englands Warnung schlagen den Kaiser vor den Kopf und rauben ihm den Rest von Besinnung. 15. Letzte Versuche zur Rettung des Friedens. Anders ist die Wirkung auf den Zivilkanzler. Er versucht zu retten, was zu retten ist. Dazu wird es aber dringend notwendig, dem Bundesgenossen gegenüber auch einmal etwas anderes zu entwickeln als „Nibelungentreue“. Dessen Dummheit und Halsstarrigkeit haben bewirkt, nicht nur, dass der europäische Krieg über Nacht hereinzubrechen drohte, damit hätte man sich abgefunden, mit seiner Möglichkeit rechnete man von vornherein. Aber diese Dummheit und Halsstarrigkeit drohte zu bewirken, dass die Zentralmächte in den Krieg hineingingen unter den ungünstigsten Umständen, ohne Italien, vielleicht gegen Italien, und gegen England, und vor dem eigenen Volke beladen mit dem furchtbaren und lähmenden Vorwurf, leichtfertig diese entsetzliche Katastrophe herbeigeführt zu haben. Der stärkste Druck musste auf Wien ausgeübt werden, um es endlich zu einer vernünftigen Politik zu veranlassen. Aber mit dieser Tendenz kreuzte sich eine andere militaristische, die, nachdem die Mobilisierungen einmal eingesetzt hatten, den Krieg für unvermeidlich hielt und gerade, weil die Zahl der Feinde so groß wurde, zu raschestem Losschlagen drängte als der einzigen Möglichkeit, sich zu behaupten, indem man durch einige überraschende entscheidende Schläge das militärische Übergewicht gewann, das schwankende Italien vielleicht mit sich riss und England einschüchterte. Zwei entgegengesetzte Tendenzen kämpften so um die Entscheidung, die von dem haltlosen Kaiser abhing. Daher die widersprechenden Erscheinungen unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges: Auf der einen Seite das Drängen auf Österreich im Sinne des Friedens und gleichzeitig die Überstürzung der Mobilisierung und der Kriegserklärungen. Man hat in diesen Widersprüchen eine berechnete, abgefeimte Perfidie gesehen. Ich sehe darin nur ein Ergebnis der Verwirrung, die seit Englands Warnung in den leitenden Kreisen Deutschlands eintrat, und die durch Österreichs Haltung noch vermehrt wurde. Die Einwirkung dieses kostbaren Bundesgenossen darf nicht vergessen werden. Einige Illustrationen seien hier gegeben. 121
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Je näher der Krieg drohte, umso wichtiger wurde es, Italien zu gewinnen. Noch am 29. Juli schrieb der Reichskanzler an Jagow: „Ist nicht doch noch ein Telegramm nach Wien notwendig, in dem wir scharf erklären, dass wir die Art, wie Wien die Kompensationsfrage mit Rom behandelt, für absolut ungenügend ansehen und die Verantwortung, die sich daraus für die Haltung Italiens in einem etwaigen Kriege ergibt, voll Wien zuschieben? Wenn an dem Vorabend einer möglichen europäischen Konflagration Wien in dieser Weise den Dreibund zu sprengen droht, gerät das gesamte Bündnis ins Wanken. Die Erklärung Wiens, dass es sich im Falle dauernder Besetzung serbischer Gebietsteile mit Italien benehmen werde, steht überdies im Gegensatz zu deinen in Petersburg bezüglich seines territorialen Desinteressements abgegebenen Versicherungen. Die in Rom abgegebenen Erklärungen werden mit Sicherheit in Petersburg bekannt. Eine Politik mit doppeltem Boden können wir als Bundesgenossen nicht unterstützen. Ich halte das für notwendig. Sonst können wir in Petersburg nicht weiter vermitteln und geraten gänzlich ins Schlepptau Wiens. Das will ich nicht, auch auf die Gefahr, des Flaumachens beschuldigt zu werden. Falls keine Bedenken Ihrerseits, bitte ich um schleunige Vorlegung eines entsprechenden Telegramms.“
Genützt haben die dringenden Mahnungen dieser Art bei den obstinaten Wiener Diplomaten nichts. Berchtold beharrte darauf, ausweichende Antworten zu geben, und er wurde noch übertrumpft durch den fanatischen Italienerfeind Herrn von Merey, den die österreichische Staatsweisheit zum Botschafter in Rom gemacht hatte. Am 29. Juli schrieb er nach Wien, je entgegenkommender Österreich sei, desto anmaßender und begehrlicher würde Italien werden, und am 31. Juli beschwerte er sich darüber, dass entgegen seinen Ratschlägen Graf Berchtold unter dem Druck der deutschen Regierung Italien in der Kompensationsfrage bereits zu Dreivierteln entgegengekommen sei, was natürlich übertrieben war, denn mehr als unbestimmte Andeutungen konnten Berchtold nicht entlockt werden. Vielmehr musste Jagow sich über Merey beschweren, dass er die ihm zugegangenen Weisungen in der Kompensationsfrage nicht ausführe. Graf Berchtold selbst berichtete im Ministerrat vom 31. Juli, er habe „den k. u. k. Botschafter in Rom bisher beauftragt, mit vagen Phrasen auf die Kompensationsforderungen zu antworten und dabei immer wieder nachdrücklich zu betonen, dass dem Wiener Kabinett der Gedanke an territoriale Erwerbungen fern liege. Wenn die Monarchie aber dazu gezwungen würde, eine nicht nur vorübergehende Okkupation vorzunehmen, so wäre noch immer Zeit, der Kompensationsfrage näherzutreten.“ (Gooß, S. 305.)
Bei dieser hinhaltenden, geradezu äffenden Politik ging natürlich Italien den Mittelmächten verloren.
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Viel wichtiger, als Bundesgenossen zu werben, war es indes, aus der Kriegsgefahr selbst herauszukommen. Angesichts der Mobilisierungen war diese Gefahr so groß geworden, dass der rascheste Weg, ihr zu entrinnen, am ehesten gewählt werden musste. Dazu konnte sich der Reichskanzler nicht entschließen, wohl angesichts der Abneigung seines Herrn gegen jede Vermittlung zu vieren und gegen das Haager Schiedsgericht. Noch am 29. Juli, abends, kam jenes bekannte Telegramm des Zaren an, das später so viel Aufsehen erregte, da in dem deutschen Weißbuch bei Kriegsbeginn, das alle damaligen Zarentelegramme brachte, gerade dieses „vergessen“ wurde. Es lautet: „Dank für Dein versöhnliches und freundliches Telegramm. Dagegen war die offizielle Mitteilung, die heute von Deinem Botschafter meinem Minister gemacht wurde, in einem ganz anderen Ton gehalten. Ich bitte Dich, diesen Unterschied zu erklären. (Nanu! W.) Es wäre gut, das österreichisch-serbische Problem der Haager Konferenz zu übermitteln. (! W.) Ich vertraue auf Deine Weisheit und Freundschaft. Dein Dich liebender Nicky.“ (Danke gleichfalls. W.)
Darauf telegraphierte umgehend Bethmann Hollweg an den Botschafter in Petersburg: „Bitte Ew. Exz. durch sofortige Aussprache mit Herrn Sasonow angeblichen Widerspruch zwischen Ihrer Sprache und dem Telegramm S. M. aufzuklären. Der Gedanke der Haager Konferenz wird natürlich in diesem Falle ausgeschlossen sein.“
Angesichts dieser Abneigung gegen den direkten Weg zum Frieden blieb nur der indirekte übrig, der des Drucks auf das schwerfällige bornierte Österreich, in dem der Krieg bereits alle militärischen Instinkte entfesselt hatte. In der Nacht vom 29. zum 30. Juli war man nicht mehr so ängstlich bestrebt, wie noch am 28., jeden Eindruck zu vermeiden, „als wünschten wir Österreich zurückzuhalten“. (Vergl. S. 95.) Am 30. Juli, 3 Uhr morgens, wurde dem Botschafter in Wien vom Reichskanzler das Telegramm Lichnowskys mit Greys Warnung mitgeteilt und daran folgende Ausführungen geknüpft: „Wir stehen somit, falls Österreich jede Vermittlung ablehnt, vor einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden und wir zwei gegen vier Großmächte ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu. Österreichs politisches Prestige, die Waffenehre seiner Armeen, sowie seine
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berechtigten Ansprüche Serbien gegenüber könnten durch Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Es würde durch Demütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Russland gegenüber stark machen. Unter diesen Umständen müssen wir der Erwägung des Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheimstellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Österreich und uns eine ungemein schwere.“
Noch energischer klingt in seinem Schlusse das Telegramm, das der Reichskanzler dem Botschafter in Wien zur selben Stunde, 30. Juli 2.55 morgens, unter Mitteilung eines Berichts aus Petersburg sandte: „Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustauschs mit Petersburg aber würde schwerer Fehler sein, da er kriegerisches Eingreifen Auslands geradezu provoziert, das zu vermeiden Österreich-Ungarn in erster Linie interessiert ist.“
Das Telegramm fuhr fort: „Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. Auch in italienischer Frage scheint Wien unsere Ratschläge zu missachten. Bitte sich gegen Graf Berchtold sofort mit allem Nachdruck und großem Ernst auszusprechen.“
Österreich setzte dem deutschen Drängen passive Resistenz entgegen. Das brachte Bethmann Hollweg nachgerade zur Verzweiflung. Am 30. Juli um 9 Uhr abends sandte er an Tschirchky in Wien ein Telegramm, Nr. 200. „Wenn Wien, wie nach dem telefonischen Gespräch Ew. Exz. mit Herrn v. Stumm anzunehmen, jedes Einlenken in Sonderheit den letzten Greyschen Vorschlag ablehnt, ist es kaum mehr möglich, Russland die Schuld an der ausbrechenden europäischen Konflagration zuzuschieben. S. M. hat auf Bitten des Zaren die Intervention in Wien übernommen, weil er sie nicht ablehnen konnte, ohne den unwiderleglichen Verdacht zu erzeugen, dass wir den Krieg wollen. Das Gelingen dieser Intervention ist allerdings erschwert dadurch, dass Russland gegen Österreich mobilisiert hat. Dies haben wir heute England mit dem Hinzufügen mitgeteilt, dass wir eine Aufhaltung der russischen und französischen Kriegsmaßregeln in Petersburg und Paris bereits in freundlicher Form angeregt haben, einen neuen Schritt in dieser Richtung also nur durch ein Ultimatum tun könnten, das den Krieg bedeuten würde. Wir haben deshalb Sir Eduard Grey nahegelegt, seinerseits nachdrücklich in diesem Sinne in Paris und Petersburg zu wirken und erhalten soeben seine entsprechende Zusicherung durch Lichnowsky. Glücken England diese Bestrebungen, während Wien alles ablehnt, so dokumentiert Wien, dass es unbedingt einen Krieg will, in den wir hineingezogen sind, während Russland schuldfrei bleibt. Das ergibt für uns der
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eigenen Nation gegenüber eine ganz unhaltbare Situation. Wir können deshalb nur dringend empfehlen, dass Österreich den Greyschen Vorschlag annimmt, der seine Position in jeder Beziehung wahrt. Ew. Exz. wollen sich sofort nachdrücklichst in diesem Sinne Graf Berchtold, eventuell auch Graf Tisza gegenüber äußern.“
Man kann auch bei diesem Telegramm in Zweifel sein, ob es Bethmann Hollweg mehr darum zu tun war, den Frieden zu erhalten oder die Verantwortung für den Krieg Russland zuzuschieben. Aber der Druck auf Wien war da, und er sollte schließlich doch im Sinne des Friedens wirken. Nun stieß dieser Druck auf den ebenso hartnäckigen wie tückischen Widerstand Österreichs, das sich durchaus nicht scheute, den deutschen Bundesgenossen ebenso zu betrügen wie die übrige Welt, indem es dessen Drängen zum Schein nachgab, in Wirklichkeit aber nichts Ernsthaftes tat. In dem Wiener Ministerrat vom 31. Juli berichtete Graf Berchtold: „Seine Majestät haben den Antrag genehmigt, dass das Wiener Kabinett zwar sorgsam vermeide, den englischen Antrag in meritorischer Hinsicht anzunehmen, dass es aber in der Form seiner Antwort Entgegenkommen zeige und dem Wunsche des deutschen Reichskanzlers, die (englische) Regierung nicht vor den Kopf zu stoßen, auf diese Weise entgegenkomme.“
Der Herr Graf fügte hinzu: „Wenn die Aktion jetzt nur mit einem Prestigegewinn endigte, so wäre sie nach der Ansicht des Vorsitzenden (Berchtold) ganz umsonst unternommen worden. Die Monarchie hätte von einer einfachen Besetzung Belgrads gar nichts, selbst wenn Russland hierzu seine Einwilligung geben würde.“
Berchtold teilte seine Absicht mit, auf den englischen Vorschlag in sehr verbindlicher Form zu antworten, dabei aber Bedingungen zu stellen, auf den „meritorischen Teil“, das heißt, aus dem österreichisch-parlamentarischen Kauderwelsch ins Deutsche übersetzt, auf die Sache selbst einzugehen. Tisza schloss sich Berchtold vollständig an. Er war ebenfalls der Ansicht, „dass es verhängnisvoll wäre, auf das Meritum, (das heißt, den Inhalt) des englischen Vorschlags einzugehen. Die Kriegsoperationen gegen Serbien müssten jedenfalls ihren Fortgang nehmen. Es frage sich aber, ob es notwendig sei, schon jetzt die neuen Forderungen an Serbien den Mächten überhaupt bekanntzugeben, und er würde vorschlagen, die englische Anregung dahin zu beantworten, dass die Monarchie prinzipiell bereit wäre, derselben näher zu treten, jedoch nur unter der Bedingung, dass die Operationen gegen Serbien fortgesetzt würden und die russische Mobilisierung eingestellt werde.“
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Diese tatsächliche Verhöhnung des Friedensvorschlags fand die einstimmige Zustimmung des sauberen Ministerrats. Dass die deutsche Regierung auch für diese perfide Politik Österreichs, jede Friedensvermittlung scheitern zu lassen, verantwortlich gemacht wurde, darf nicht wundernehmen, angesichts ihres engen Zusammenarbeitens mit dem Bundesgenossen und ihrer anfänglichen Unterstützung seiner Friedenssabotierung. Aber an dieser Schlusssünde, die den Krieg unvermeidlich machte, ist sie unschuldig. Ihr Schuldkonto ist auch ohne dem schwer genug belastet. Nach dem 29. suchte sie den Frieden zu retten. Das eine Hindernis, das sie dabei fand, war, wie wir gesehen, die österreichische Regierung. Aber sie fand noch ein anderes, mächtigeres und ihr näher liegendes. Der letzte Auftrag des Reichskanzlers an Tschirschky, die Aufforderung, Österreich zur Nachgiebigkeit zu drängen, von dem wir hier gesprochen, kam nicht zur Ausführung. Am 30. Juli, 9 Uhr abends ging die Depesche ab, um 11 Uhr 20 Min. eilte ihr bereits eine zweite nach, die sagte: „Bitte Instruktion Nr. 200 vorläufig nicht ausführen.“
Was war inzwischen geschehen? Die Antwort gibt folgendes Telegramm des Reichskanzlers an den Botschafter in Wien: „Ich habe Ausführung der Instruktion Nr. 200 sistiert, weil mir Generalstab soeben mitteilt, dass militärische Vorbereitungen unserer Nachbarn namentlich im Osten zu schleuniger Entscheidung drängen, wenn wir uns nicht Überraschungen aussetzen wollen. Generalstab wünscht dringend über dortige Entschließungen namentlich über diejenigen militärischer Art in definitiver Weise möglichst unverzüglich unterrichtet zu werden. Bitte dringend vorstellig zu werden, dass wir Antwort morgen erhalten.“
Auch dieses Telegramm wurde nicht abgesandt, sondern durch ein anderes ersetzt, in dem das Sistieren der Instruktion mit dem Eintreffen eines Telegramms des Königs von England erklärt wurde. Aber es ist nicht daran zu zweifeln, dass die erste Erklärung die richtige war. Man scheute wohl davor zurück, eine derartige Einwirkung des Generalstabs auf die äußere Politik zuzugeben. In ihm tritt ein neuer Faktor hervor, der entscheidend wird für den Ausbruch des Krieges.
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16. Die Mobilisierungen. Vom Beginn der Krise an hatte bei den meisten Regierungen ein gewisses Misstrauen nicht bloß gegen Österreich, sondern auch gegen Deutschland bestanden, trotz der lebhaften Beteuerungen Berlins, man sei durch das Wiener Ultimatum ebenso überrascht worden wie die übrige Welt. Die Sabotierung aller Vermittlungsversuche durch Österreich und Deutschland bis zum 29. Juli, die dann durch Österreich fortgesetzt wurde, nun im Gegensatz zu Deutschland, der aber offen nicht zu Tage trat -- alles dies ließ die Friedensliebe der Mittelmächte immer zweifelhafter erscheinen und befestigte bei der Entente immer mehr die Befürchtungen, dass sie eine „allgemeine Konflagration“ wollten. Nur wenige auswärtige Diplomaten waren am 30. Juli noch des Glaubens, Deutschland sei ernstlich bemüht, zu vermitteln. Zu diesen gehörte der belgische Gesandte in Petersburg, Herr de l’Escaille, der am 30. Juli berichtet: „Unbestreitbar bleibt nur, dass Deutschland sich hier ebenso wie in Wien bemüht hat, irgend ein Mittel zu finden, um einen allgemeinen Konflikt zu vermeiden, dass es dabei aber einerseits auf die feste Entschlossenheit des Wiener Kabinetts gestoßen ist, keinen Schritt zurückzuweichen und andererseits auf das Misstrauen des Petersburger Kabinetts gegenüber den Versicherungen Österreich-Ungarns, dass es nur an eine Bestrafung, nicht an eine Besitzergreifung Serbiens denke.“
Die Depesche kam auf dem Weg durch Deutschland in die Hände der deutschen Regierung, die sich beeilte, sie zu veröffentlichen, weil sie beweise, dass Deutschland mit größter Hingebung für den Frieden gewirkt habe. Die deutsche Regierung hat später noch zahlreiche andere Berichte belgischer Diplomaten aus dem Jahrzehnt vor dem Kriege veröffentlicht, die alle sehr günstig von der Friedensliebe Deutschlands sprachen. Was sie bezeugen, ist das eine, dass gerade unter den belgischen Diplomaten das Zutrauen zur deutschen Politik sehr stark war. Um so sonderbarer berührt es, dass die deutsche Regierung gleichzeitig mit diesen belgischen Zeugnissen andere veröffentlichte, die beweisen sollten, dass sich Belgien schon lange vor dem Krieg mit England und Frankreich gegen Deutschland verschworen hatte. Was das von de l’Escaille berichtete Misstrauen des Petersburger Kabinetts gegenüber den Versicherungen Wiens anbelangt, es wolle Serbiens Integrität nicht antasten, so war dies Misstrauen nicht auf Petersburg beschränkt. Am 29. Juli schrieb Bethmann Hollweg nach Wien an Tschirschky:
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„Diese Äußerungen der österreichischen Diplomaten tragen nicht mehr den Charakter privater Äußerungen, sondern müssen als Reflexe von Wünschen und Aspirationen erscheinen. Ich betrachte die Haltung der dortigen Regierung und ihr ungleichartiges Vorgehen bei den verschiedenen Regierungen mit wachsendem Befremden. In Petersburg erklärt sie territoriales Desinteressement, uns lässt sie ganz im Unklaren über ihr Programm. Rom speist sie mit nichts sagenden Redensarten über die Kompensationsfrage ab, in London verschenkt Graf Mensdorff Teile Serbiens an Bulgarien und Albanien und setzt sich in Gegensatz zu den feierlichen Erklärungen Wiens in Petersburg. Aus diesen Widersprüchen muss ich den Schluss ziehen, dass die im Telegramm Nr. 83 mitgeteilte Desavouierung des Grafen Hoyos für die Galerie bestimmt war und dass die dortige Regierung sich mit Plänen trägt, deren Geheimhaltung vor uns sie für angezeigt hält, um sich auf alle Fälle der deutschen Unterstützung zu versichern und nicht durch offene Bekanntgabe einem eventuellen Refus auszusetzen. Vorstehende Bemerkungen sind zunächst zu Ew. Exz. persönlicher Orientierung bestimmt. Den Grafen Berchtold bitte ich nur darauf hinzuweisen, einem Misstrauen gegen seine über die Integrität Serbiens den Mächten abgegebenen Erklärungen vorzubeugen.“
Inzwischen hatte Bethmann Hollweg selbst schon begonnen, lebhaftes Misstrauen hervorzurufen. Immer allgemeiner wurde die Ansicht, Deutschland wolle den Krieg, und so geriet man in das verhängnisvolle Stadium, dass jeder sich zum Kriege vorbereitete -- Vorbereitungen, die zunächst verstohlen betrieben werden konnten, in einem gewissen Stadium aber in offener Mobilisierung münden mussten. Die Gefahren dieses Stadiums hatten die deutschen Staatsmänner selbst vorausgesehen. In dem so viel besprochenen Bericht der bayerischen Gesandtschaft vom 18. Juli hieß es: „Von einer Mobilmachung deutscher Truppen soll abgesehen werden und man will auch durch unsere militärischen Stellen dahin wirken, dass Österreich nicht die gesamte Armee und insbesondere die in Galizien stehenden Truppen mobilisiert, um nicht automatisch eine Gegenmobilisierung Russlands auszulösen, die dann auch uns und Frankreich zu gleichen Maßnahmen zwingen und damit den europäischen Krieg heraufbeschwören würde.“
Diese Stelle hat Eisner leider weggelassen. Sie soll die deutsche Friedensliebe bescheinigen. Und sie sagt allerdings, dass Deutschland nicht den europäischen Krieg um jeden Preis, sondern nur den serbischen wollte, sie sagt aber noch etwas anderes, nämlich, dass, wenn Österreich mobilisiere, dies „automatisch“ die russische Mobilisierung nach sich ziehen musste, die dann den europäischen Krieg heraufbeschwören würde.
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Dies „automatisch“ mögen diejenigen beherzigen, die da behaupten, Russland habe ganz grundlos mobilisiert und damit gezeigt, dass es den Krieg wollte. Wem es um den Frieden unter allen Umständen zu tun war, der durfte natürlich vor allem die Kriegserklärung an Serbien nicht zugeben. Hatte man einmal diesen verhängnisvollen Schritt getan, dann war eine Atmosphäre der Beunruhigung geschaffen, die allgemeines Mobilisieren nach sich zog. Wollte man das vermeiden, dann musste man sich zum mindesten in dem Rahmen des Programms halten, das der bayrische Bericht entwickelte; man musste verhindern, dass Österreich in einer Weise mobilisierte, die Russland beunruhigte. Das geschah nicht. Die österreichische Mobilisierung war ziemlich undurchsichtig, aber Bethmann Hollweg gestand selbst in seinen Kriegsreden am 4. August, als er von der russischen Mobilisierung sprach und diese für nicht gerechtfertigt erklärte: „Österreich-Ungarn hatte nur seine Armeekorps, die unmittelbar gegen Serbien gerichtet waren, mobilisiert und im Norden nur zwei Armeekorps und fern von der russischen Grenze.“
Schon am 25. Juli hatte Österreich die Mobilisierung von acht Armeekorps begonnen, die „automatisch“ die russische nach sich ziehen musste, wie der deutschen Regierung selbst bewusst war. Und sie musste auch wissen, dass die Teilmobilisierung, mit der man begann, ebenso automatisch die allgemeine nach sich zog. Sie erfolgte in Österreich und Russland fast gleichzeitig, um 31. Juli. Die Russen behaupteten, Österreich sei mit der Maßregel vorangegangen. Der französische Gesandte in Petersburg, Paléologue, berichtete am 31. Juli: „Auf Grund der allgemeinen Mobilmachung Österreichs und der von Deutschland seit sechs Tagen geheim, aber unausgesetzt betriebenen Mobilisierungsmaßnahmen ist der Befehl zur allgemeinen Mobilisierung des russischen Heeres erlassen worden.“
Am 1. August mobilisierten dann England und Frankreich, genau so, wie es der bayerische Bericht vorausgesagt. In deutschen Regierungskreisen selbst erklärte man die russische Mobilisierung nicht aus kriegerischen Absichten der russischen Regierung. Am 30. Juli telegrafierte der deutsche Militärbevollmächtigte in Petersburg:
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„Ich habe den Eindruck, dass man hier aus Angst vor kommenden Ereignissen mobilisiert hat, ohne aggressive Absichten.“
Selbst nach der allgemeinen russischen Mobilisierung vom 31. Juli bemerkte Bethmann zu Lichnowsky in London: „Ich halte es nicht für unmöglich, dass die russische Mobilmachung darauf zurückzuführen ist, dass gestern hier kursierende, absolut falsche und sofort amtlich dementierte Gerüchte über hier erfolgte Mobilmachung als Tatsache nach Petersburg gemeldet worden sind.“
Aber mochten die Mobilisierungen nur defensiven Zwecken entspringen, sie vermehrten enorm die allgemeine Spannung. Damit wuchs gewaltig die Gefährlichkeit der Lage. Neben den Diplomaten bekamen nun die Generalstäbler das Wort, in derselben Zeit, in der sich beim „Zivil“kanzler ein Umschwung in der Richtung zum Frieden vollzog. Für den Generalstäbler bestand die Aufgabe nicht darin, den Krieg zu verhüten, den er bereits als unvermeidlich betrachtete, als vielmehr darin, den Krieg zu gewinnen. Die Aussichten auf Sieg waren aber umso größer, je schneller man losschlug, je weniger Zeit man dem Gegner ließ, seine Kräfte zu sammeln. So stellten sich die Versuche des Kanzlers, den Frieden zu retten, erst zu einem Zeitpunkt ein, als seine frühere Kriegspolitik bereits die stärkste Triebkraft zum Krieg in den Vordergrund gebracht hatte. Schon vom 29. Juli liegen Belege für das Eingreifen des deutschen Generalstabs in die Politik vor. An diesem Tage sandte er dem Auswärtigen Amt ein Exposé, nicht über die militärische, sondern die politische Lage, die dem Reichskanzler zu erläutern doch nicht seines Amtes war. Der Titel hieß: „Zur Beurteilung der politischen Lage.“ Es begann mit folgenden Ausführungen: „Es ist ohne Frage, dass kein Staat Europas den Konflikt zwischen Österreich und Serbien mit einem andern als wie menschlichen Interesse gegenüberstehen würde, wenn in ihn nicht die Gefahr einer allgemeinen politischen Verwicklung hineingetragen wäre, die heute bereits droht, einen Weltkrieg zu entfesseln. Seit mehr als fünf Jahren ist Serbien die Ursache einer europäischen Spannung, die mit nachgerade unerträglich werdendem Druck auf dem politischen und wirtschaftlichen Leben der Völker lastet. Mit einer bis zur Schwäche gehenden Langmut hat Österreich bisher die dauernden Provokationen und die auf Zersetzung seines staatlichen Bestandes gerichtete politische Wühlarbeit eines Volkes ertragen, das vom Königsmord im eigenen zum Fürstenmord im Nachbarland geschritten ist. Erst nach dem letzten scheußlichen Verbrechen hat es zum äußersten Mittel gegriffen, um mit glühendem Eisen ein Geschwür auszubrennen, das fortwährend den Körper Europas zu vergiften drohte. Man sollte meinen, dass ganz Europa ihm hätte Dank wissen müssen. Ganz Europa würde aufgeatmet haben, wenn sein Störenfried in gebührender Weise gezüchtigt und
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damit Ruhe und Ordnung auf dem Balkan hergestellt worden wäre. Aber Russland stellte sich auf die Seite des verbrecherischen Landes. Erst damit wurde die österreichisch-serbische Angelegenheit zu der Wetterwolke, die sich jeden Augenblick über Europa zu entladen drohte.“
Und so weiter. Derart waren die politischen Lektionen, die der Generalstab dem Reichskanzler erteilte und die dieser submisset entgegennahm. Über die generalstäbliche Geschichtsauffassung braucht man kein Wort zu verlieren. Nur darauf sei verwiesen, dass die deutschen Generalstäbler den serbischen Königsmord zu einer Tat des serbischen Volkes machten. Sie hatten schon vergessen, dass es ihre Kollegen waren, die dieses Verfahren anwandten. Der Bericht weist dann darauf hin, dass Russland erklärt habe, mobilisieren zu wollen. Dadurch werde Österreich gezwungen, nicht bloß gegen Serbien, sondern auch gegen Russland zu mobilisieren. Damit werde der Zusammenstoß beider unvermeidlich. „Das ist aber für Deutschland der casus foederis. Nur ein Wunder könnte den Krieg noch verhindern.“ „Deutschland will diesen schrecklichen Krieg nicht herbeiführen. Die deutsche Regierung weiß aber, dass sie die tiefgewurzelten Gefühle der Bundestreue, eines der schönsten Züge des deutschen Gemütslebens, in verhängnisvoller Weise verletzen und sich in Widerspruch mit allen Empfindungen ihres Volkes setzen würde, wenn sie ihrem Bundesgenossen in einem Augenblick nicht zu Hilfe kommen wollte, der über dessen Existenz entscheiden kann.“
Deutschland will also „diesen schrecklichen Krieg nicht herbeiführen“, aber „einer der schönsten Züge des deutschen Gemütslebens“, das der deutsche Generalstab so hervorragend repräsentierte, zwingt es dazu, nämlich die Treue gegen den Verschwörungspakt vom 5. Juli, der auch den „schönsten Zügen des deutschen Gemütslebens“ gehört. Nach diesem Appell an das deutsche Gemüt wird aber der Generalstab recht ungemütlich: „Nach den vorliegenden Nachrichten scheint auch Frankreich vorbereitende Maßnahmen für eine eventuelle Mobilmachung zu treffen. Es ist augenscheinlich, dass Russland und Frankreich in ihren Maßnahmen Hand in Hand gehen. Deutschland wird also, wenn der Zusammenstoß zwischen Österreich und Russland unvermeidlich ist, mobil machen und bereit sein, den Krieg nach zwei Fronten aufzunehmen. Für die eintretendenfalls von uns beabsichtigten militärischen Maßnahmen ist es von größter Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit darüber zu erhalten, ob Russland und Frankreich gewillt sind, es auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu lassen. Je weiter die Vorbereitungen unserer Nachbarn fortschreiten, umso schneller werden sie ihre Mobilmachung beendigen können. Die mi-
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litärische Lage wird dadurch für uns von Tag zu Tag ungünstiger und kann, wenn unsere voraussichtlichen Gegner sich weiter in aller Ruhe vorbereiten, zu verhängnisvollen Folgen für uns führen.“
Man beachte diese Sprache! Der Generalstab teilt nicht etwa der Regierung mit, dass er alle Vorbereitungen getroffen habe, um zu mobilisieren, sobald sie es anordnet, sondern er kommandiert ohne Weiteres: Deutschland wird mobilmachen, sobald der Zusammenstoß zwischen Österreich und Russland unvermeidlich wird. Dabei erklärt er mit gleicher Bestimmtheit, dass dieser Zusammenstoß nur noch durch ein Wunder zu verhindern ist. Mobilisierung bedeutet aber nach den Grundsätzen des deutschen Generalstabs den Krieg. Er proklamiert also schon den Krieg „nach zwei Fronten“ und fordert raschestes Losschlagen, da die „militärische Lage für uns von Tag zu Tag ungünstiger wird“. Das ist der Sinn dieser Proklamation des Generalstabs an den Reichskanzler. Damit erhebt die Zentralorganisation des Militärs den Anspruch, die Entscheidung über die auswärtige Politik in ihre Hand zu nehmen und eine kriegerische Lösung zu beschleunigen, eben in dem Moment, wo diese Zivilgewalt sich anschickt, nachzugeben, einen wenn auch kleinen Schritt zum Frieden zu machen. Ganz ohne Kampf dankte der Reichskanzler freilich nicht ab. Unter anderem hat uns darüber noch während des Krieges ein Schriftchen unterrichtet, dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym „Junius alter“ verbarg und der den Standpunkt der Kriegspartei vertrat. Es heißt da: „Über die amtliche Tätigkeit des Kanzlers unmittelbar vor Kriegsausbruch... ergibt sich als Gesamteindruck die Tatsache, dass sein Streben bis zur letzten Stunde -- unbekümmert um die militärischen Folgen -- darauf gerichtet ist, den Ausbruch des längst unvermeidlich gewordenen Krieges um jeden Preis zu verhindern. Umsonst drängten Generalstabschef, Kriegsminister und die maßgebenden Marinestellen auf den Befehl zur Mobilmachung: es gelang ihnen zwar, den Kaiser am Donnerstag (30. Juli) von der unabweisbaren Notwendigkeit dieser Maßnahme halb und halb zu überzeugen, so dass am Nachmittage Berliner Polizeiorgane und der „Lokalanzeiger“ die Mobilmachung bereits bekannt gaben. Aber dem Eingreifen Herrn v. Bethmanns gelang es, den entscheidenden und erlösenden (! K.) Befehl zu vereiteln. Nach wie vor und unerschütterlich hielt er an seiner Hoffnung fest, dass es ihm mit englischer Hilfe gelingen müsse, eine Einigung zwischen Wien und Petersburg herbeizuführen, und wiederum gingen zwei kostbare Tage verloren, die uns nicht nur einen Teil des Elsass, sondern auch Ströme von Blut gekostet haben. In gleicher Weise wäre auch der 1. August ungenützt vorübergegangen, wenn an ihm nicht schließlich die leitenden militärischen Stellen am Schlusse erklärt hätten, dass sie bei längerer Hinauszögerung des Mobilmachungsbefehls nicht mehr imstande seien, die auf ihnen ruhende schwere Verantwortung zu tragen.... Auch nach erfolgter Mo-
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bilmachung hat Herr v. Bethmann Hollweg einen letzten Versuch unternommen, die Zurücknahme des Befehls zu erwirken, aber es war glücklicherweise zu spät: die im kleinen Finger politisch einsichtsvolleren militärischen Stellen waren in zwölfter Stunde durchgedrungen.“ (S. 19, 20.)
Die Anklagen (!) des Herrn Junius alter bestätigen den Bericht des französischen Botschafters in Berlin vom 30. Juli. Herr Cambon teilt mit: „Einer der Botschafter, mit dem ich die engsten Beziehungen habe, hat um zwei Uhr Herrn Zimmermann gesehen. Nach Aussage des Unterstaatssekretärs drängen die militärischen Behörden sehr darauf an, dass die Mobilmachung angeordnet werde, da jede Verspätung Deutschland um einige seiner Vorteile bringe. Doch bis jetzt sei es gelungen, dem Drängen des Generalstabs, der in der Mobilisierung den Krieg erblickt, zu widerstehen.... Ich habe übrigens die triftigsten Gründe zu der Annahme, dass alle Mobilmachungsmaßregeln, die vor der Veröffentlichung des allgemeinen Mobilmachungsbefehls durchgeführt werden können, hier getroffen worden sind, wo man möchte, dass wir unsere Mobilisierung zuerst bekanntgeben, um uns die Verantwortung dafür zuzuschieben.“
Bethmann Hollweg kämpfte nicht allein gegen die vorzeitige Proklamation der Mobilisierung, das heißt, nach deutschen Begriffen, des Krieges. Mit ihm kämpften auch andere Mitglieder des Auswärtigen Amtes, die sehr wohl wussten, unter welchen ungünstigen internationalen Bedingungen Deutschland in den Krieg ging und die den dünnen Friedensfaden, der in letzter Minute endlich gesponnen worden war, nicht vorzeitig zerreißen wollten. So berichtet der belgische Baron Beyens am 1. August aus Berlin nach Brüssel: „Um sechs Uhr abends (soll wohl heißen fünf Uhr. K.) da noch keine Antwort von Petersburg auf das Ultimatum der kaiserlichen Regierung eingelangt war, begaben sich die Herren v. Jagow und Zimmermann zum Kanzler und zum Kaiser, um zu erlangen, dass die Ordre zu allgemeiner Mobilisierung heute noch nicht ausgegeben würde. Aber sie stießen auf den unerschütterlichen Widerstand des Kriegsministers und der Häupter der Armee, die dem Kaiser die verderblichen Folgen einer Verzögerung von 24 Stunden darlegten. Die Ordre wurde sofort erteilt.“
In auffallendem Gegensatz zu diesen Berichten steht die Darstellung, die Tirpitz in seinen Erinnerungen gibt. Danach hätte Bethmann am letzten Tage selbst aufs Äußerste zur Mobilmachung gedrängt und hätte, im Gegensatz zu Moltke darauf bestanden, dass mit der Mobilmachung auch sofort die Kriegserklärung erfolgte. (S. 239--241.) Diese Widersprüche bedürfen noch der Aufklärung. Doch eines steht fest: Die Ratlosigkeit in den regierenden Stellen, die seit dem 29. Juli begonnen, hatte sich von Tag zu Tag rapid gesteigert. Und ebenso die Gegensätze unter
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ihnen. Bethmann wurde der Geister nicht mehr Herr, die er gerufen. Er wusste selbst nicht, wie Recht er hatte, als er am 30. Juli im preußischen Ministerrat erklärte: Die Direktion sei verloren und der Stein ins Rollen geraten. 17. Die Kriegserklärung an Russland. Die Vorbereitung der Kriegserklärung. Die allgemeine Kopflosigkeit trat deutlich zutage bei der Kriegserklärung an Russland. Dieses hatte gleichzeitig mit Österreich am Morgen des 31. Juli die allgemeine Mobilisierung angeordnet. Beide hatten erklärt, sie sei nur eine Vorsichtsmaßregel, bedeute noch nicht den Krieg. Die Verhandlungen sollten dadurch nicht unterbrochen werden. So berichtete der russische Botschafter in Wien am 31. Juli nach Petersburg: „Ungeachtet der allgemeinen Mobilmachung setze ich den Gedankenaustausch mit dem Grafen Berchtold und seinen Mitarbeitern fort.“
Dass Deutschland seinerseits auf die russische Mobilmachung hin ebenfalls mobilisierte, war wohl begreiflich. Alles mobilisierte damals, selbst Holland. Hätte Deutschland wie alle anderen Nationen, wie auch Frankreich, die Mobilisierung als bloße Vorsichtsmaßregel betrachtet, so ließe sich gegen diesen Schritt nichts einwenden. Der deutsche Botschafter in Paris, Schön, berichtet am 1. August nach Berlin: „Ministerpräsident erklärte mir gegenüber, die soeben hier angeordnete Mobilmachung bedeute keineswegs aggressive Absichten, was auch in Proklamation betont werde. Es sei noch immer Raum für Fortsetzung der Verhandlungen auf Basis des Vorschlags Sir E. Greys, dem Frankreich zugestimmt habe und den es warm befürworte. Gegen Zusammenstöße an der Grenze sei französischerseits durch Zehnkilometerzone Vorsorge getroffen. Er könne Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben.“
Wenn Deutschland seine Mobilisierung mit den gleichen Versicherungen begleitete, dann konnten die Verhandlungen tatsächlich noch weitergehen und schließlich friedlich enden. Hatten doch 1913 Russland und Österreich mobilisiert, ohne dass es zum Krieg gekommen war. Wir haben gesehen, dass einer der Gründe für Wilhelm, warum er den Krieg gegen Serbien für 134
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notwendig hielt, obwohl die serbische Antwort jeden Grund dazu beseitigt hatte, in der Tatsache lag, dass Österreich jetzt zum drittenmal mobilisierte. Geschähe das wieder, ohne dass die „Armee“, das heißt die Herren Offiziere, ihre „Waffenehre“ befriedigt sähen, so würde das üble Folgen zeitigen. Tirpitz hielt am 1. August die Kriegserklärung für einen Fehler. Moltke legt auf sie an jenem Tage „keinen Wert“, wie Tirpitz bemerkt. Also Mobilisierung brauchte nicht Krieg zu bedeuten. Ihr konnte im letzten Moment noch ohne diesen blutigen Ausgang die Demobilisierung folgen, wenn man sich inzwischen verständigte. In der Depesche nach Petersburg vom 31. Juli, in der Bethmann Deutschlands Mobilisierung in Aussicht stellte, beschwerte er sich darüber, dass Russland trotz der schwebenden Verhandlungen nicht bloß mobilisiert, sondern Serbien den Krieg erklärt und Belgrad bombardiert. Wenn das die Verhandlungen nicht unmöglich machte, brauchte die bloße Mobilisierung Russlands nicht so peinlich genommen werden. Doch nicht allein in diesem Punkte sah der Reichskanzler nur den Splitter im Auge Russlands und nicht den Balken im Auge Österreichs. Er forderte, dass Russland sofort jede Kriegsmaßnahme nicht bloß gegen Deutschland, sondern auch gegen Österreich einstelle, ohne das Gleiche für Österreich in Aussicht zu stellen. Wenn er wollte, dass Russland seine Forderung ablehne, musste er sie in dieser Weise formulieren. Nicht minder sonderbar aber erscheint die Depesche des Reichskanzlers, wenn man sie mit der zusammenhält, die er gleichzeitig für die französische Regierung an Schön schickte. Wir stellen beide nebeneinander. Note an Russland „Trotz noch schwebender Vermittlungsverhandlungen und obwohl wir selbst bis zur Stunde keinerlei Mobilmachungsmaßnahmen getroffen haben, hat Russland ganze Armee und Flotte, also auch gegen uns mobilisiert. Durch diese russischen Maßnahmen sind wir gezwungen worden, zur Sicherung des Reiches die drohende Kriegsgefahr auszusprechen, die noch nicht Mobilisierung bedeutet. Die Mobilisierung muss aber folgen, falls nicht Russland binnen zwölf Stunden jede Kriegsmaßnahme gegen uns und Österreich einstellt und uns hierüber bestimmte Erklärung abgibt. Bitte das sofort Herrn Sasonow mitteilen und Stunde der Mitteilung drahten.“
Note für Frankreich „Russland hat trotz unserer noch schwebenden Vermittlungsaktion und obwohl wir selbst keinerlei Mobilmachungsmaßnahmen getroffen haben, Mobilmachung seiner gesamten Armee und Flotte, also auch gegen uns verfügt. Wir haben darauf drohenden Kriegszustand ausgesprochen, dem Mobilmachung folgen muss, falls nicht Russland binnen zwölf Stunden alle Kriegsmaßnahmen
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gegen uns und Österreich einstellt. Die Mobilmachung bedeutet unvermeidlich Krieg. Bitte französische Regierung fragen, ob sie in einem russisch-deutschen Krieg neutral bleiben will. Antwort muss binnen achtzehn Stunden erfolgen. Sofort Stunde der gestellten Anfrage drahten. Größte Eile geboten!“
Man sieht die beiden Erklärungen stimmen, abgesehen von dem für Frankreich speziell bestimmten Schluss, fast wörtlich überein, bis auf einen Satz: Frankreich wird mitgeteilt, dass die Mobilmachung unvermeidlich den Krieg bedeutet. In dem für Russland bestimmten Text fehlte dieser entscheidende Satz, der erst die Mitteilung zu einem Ultimatum machte. Warum das? Man kann das Wegbleiben aus zwei sehr verschiedenen Motiven erklären: einmal aus dem Wunsch des Generalstabs, Russland nicht vorzeitig aufzupeitschen, ihm noch den Glauben zu lassen, dass trotz der Mobilisierung weiter verhandelt werden könne und es dadurch davon abzuhalten, diese besonders zu beschleunigen. Das Wegbleiben konnte aber auch dem Wunsch des Zivilkanzlers entspringen, trotz der Mobilisierung nicht alle Brücken abzubrechen. In der Tat fasste man die Mitteilung der deutschen Regierung in Russland noch nicht als ein Ultimatum auf. Um 12 Uhr nachts teilt Pourtalés Herrn Sasonow die Depesche des Reichskanzlers mit. Darauf antwortet am nächsten Tage, dem 1. August, um zwei Uhr nachmittags, der Zar in einem Telegramm an Wilhelm: „Ich habe Dein Telegramm erhalten. Ich verstehe, dass Du gezwungen bist, mobil zu machen, aber ich möchte von Dir dieselbe Garantie, die ich Dir gegeben habe, nämlich dass diese Maßnahmen nicht Krieg bedeuten und dass wir fortfahren werden zu verhandeln zum Heile unserer beiden Länder und des allgemeinen Friedens, der unserem Herzen so teuer ist. Unserer langbewährten Freundschaft muss es mit Gottes Hilfe gelingen, Blutvergießen zu verhindern. Dringend erwarte ich voll Vertrauen Deine Antwort.“
Der ahnungslose Nicky ließ sich‘s nicht träumen, dass sein langbewährter Freund „Willy“ um diese Zeit bereits die Kriegserklärung in ihn abgesandt und damit den Krieg eröffnet hatte. Die Begründung der Kriegserklärung. Wilhelm hatte es furchtbar eilig damit gehabt, ebenso eilig, wie am 25. Juli die Österreicher gegenüber den Serben.
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Um 12 Uhr endete die Frist, nach deren Ablauf, zufolge der Ankündigung des Reichskanzlers, Deutschland mobil machen wollte, wenn Russland nicht unverzüglich nach allen Seiten hin demobilisierte, indes Österreichs allgemeine Mobilisierung fortschritt und der Krieg gegen Serbien weiterging. Und um 1 Uhr schon wurde nicht die Mobilisierung angeordnet, sondern die Kriegserklärung nach Petersburg gesandt. Das deutsche Weißbuch, das sonst alle Dokumente deutsch wiedergibt, auch die in fremden Sprachen abgefassten, z. B. den Telegrammwechsel zwischen dem Kaiser und dem Zaren, veröffentlicht die für jeden Deutschen doch so wichtige Kriegserklärung an Russland schamhafterweise nur in französischer Sprache. Sie ist danach. Deutsch lautet sie: „Von Anfang der Krise an war die kaiserliche Regierung bemüht, sie einer friedlichen Lösung zuzuführen. Einem ihm von S. M. dem Kaiser von Russland ausgedrückten Wunsch zufolge, hatte S. M. der Deutsche Kaiser im Einvernehmen mit England es übernommen, bei den Kabinetten von Wien und St. Petersburg als Vermittler zu wirken, als Russland, ohne das Ergebnis abzuwarten, zur Mobilmachung aller seiner Land- und Seestreitkräfte schritt.“
Infolge dieser drohenden, durch keinerlei militärische Vorbereitungen von deutscher Seite begründeten Maßnahmen sah sich das Deutsche Reich einer schweren und unmittelbar drohenden Gefahr gegenüber. Hätte die kaiserliche Regierung es unterlassen, dieser Gefahr entgegenzutreten, so würde sie die Sicherheit und selbst den Bestand Deutschlands gefährdet haben. Infolgedessen hat sich die deutsche Regierung gezwungen gesehen, sich an die Regierung S. M. des Kaisers aller Russen mit der dringenden Forderung zu wenden, die bezeichneten militärischen Maßnahmen einzustellen. Da Russland sich geweigert hat, dieser Forderung zu entsprechen (es nicht für notwendig befunden hat, unsere Forderung zu beantworten), und durch diese Weigerung (diese Haltung) bekundet hat, dass seine Aktion gegen Deutschland gerichtet ist, habe ich die Ehre, im Auftrage meiner Regierung Eure Exzellenz wissen zu lassen, was folgt: „Seine Majestät, mein erhabener Gebieter, nimmt im Namen des Reiches die Herausforderung an und betrachtet sich als im Kriegszustand mit Russland befindlich.“
Begleitet wurde diese Kriegserklärung von folgendem Telegramm an Pourtalès: „Falls die russische Regierung keine befriedigende Antwort auf unsere Forderung erteilt, so wollen Ew. Exzellenz ihr heute Nachmittag 5 Uhr (mitteleuropäischer Zeit) folgende Erklärung überreichen...“
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In der Erklärung selbst wurde ein Satz in zwei verschiedenen Fassungen mitgeteilt (die eine ist in der obigen Wiedergabe in Klammern angeführt), von denen diejenige gewählt werden sollte, die der Antwort Sasonows entsprach. Was war inzwischen in Petersburg vorgegangen? Pourtalès hatte die Ankündigung des Reichskanzlers, Deutschland müsse mobilisieren, wenn Russland nicht gegen Deutschland und Österreich demobilisiere, in Petersburg mitgeteilt. Er telegraphierte darüber aus Petersburg, 1. August, 1 Uhr morgens: „Habe Auftrag soeben Mitternacht ausgeführt. Herr Sasonow verwies wieder auf technische Unmöglichkeit, Kriegsmaßnahmen einzustellen und versuchte mich von neuem davon zu überzeugen, dass wir Bedeutung der russischen Mobilmachung, die mit der unsrigen nicht zu vergleichen sei, überschätzen. Er bat mich dringend, Ew. Exzellenz darauf hinzuweisen, dass die in heutigem Telegramm S. M. des Kaisers Nikolaus an S. M. den Kaiser und König auf Ehrenwort übernommene Verpflichtung des Zaren, uns über die Absichten Russlands beruhigen müsse. Ich wies darauf hin, dass der Zar sich keineswegs unter allen Umständen verpflichte, von kriegerischer Aktion abzusehen, sondern nur so lange, als noch Aussicht bestehe, die russisch-österreichische Differenz wegen Serbien beizulegen. Ich lege dem Minister direkt die Frage vor, ob er mir garantieren kann, dass Russland auch, falls eine Einigung mit Österreich nicht erfolge, gewillt sei, Frieden zu halten. Der Minister vermochte mir auf diese Frage keine bejahende Antwort zu erteilen. In diesem Falle, entgegnete ich, könne man es uns nicht verdenken, dass wir nicht gesonnen seien, Russland weiteren Vorsprung in der Mobilmachung zu lassen.“
Das ist alles. Auch bei diesem Gespräch fehlt selbst der leiseste Hinweis auf den Frankreich gegenüber so schroff betonten Grundsatz, dass die Mobilisierung Deutschlands gleichbedeutend sei mit einer Kriegserklärung. Und nun das entscheidende Telegramm Pourtalès, das seinen Adressaten, das Auswärtige Amt in Berlin, nicht mehr erreichte, abgegangen in Petersburg am 1. August, 8 Uhr abends. „Ich habe nach Entzifferung um 7 Uhr russischer Zeit (6 Uhr mitteleuropäischer, K.) Herrn Sasonow dreimal hintereinander gefragt, ob er mir die im Telegramm Nr. 153 verlangte Erklärung betreffend Einstellung der Kriegsmaßnahmen gegen uns und Österreich geben könne. Nach dreimaliger Verneinung dieser Frage habe ich befohlene Note übergeben.“
So eilig hatte es Herr von Pourtalès mit deren Überreichung, dass er gar nicht merkte, sie enthalte eine doppelte Fassung, des Grundes, aus dem Deutschland den Krieg erklärte. Beide Fassungen wurden der russischen Regierung übergeben, wohl ein Unikum bei einer Kriegserklärung.
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Indessen dürfte dem Reichskanzler etwas schwül geworden sein bei dieser Art, den Krieg zu entfesseln. Schon die Fassung des letzten Satzes der Proklamierung des Krieges hatte Schwierigkeiten gemacht. Ein Vorschlag war dahin gegangen zu sagen: „S. M. l’Empereur, mon auguste Souverain au nom de l’Empire declare accepter la guerre, qui Lui est octroyée.“ (S. M. der Kaiser, mein erhabener Gebieter, erklärt im Namen des Reiches, den Krieg aufzunehmen, der ihm aufgezwungen ist.) Das war schlechtes Französisch, denn oktroyieren heißt nur im deutschen Sprachgebrauch „aufzwingen“, im französischen heißt es „gewähren“ oder „bewilligen“. Vielleicht aus diesem Grunde setzte man an Stelle des „octroyée“ „forcée sur lui“, was in besserem Französisch „aufgezwungen“ sagte. Aber die Schwierigkeit lag nicht in den Worten, sondern in der Sache. Man fühlte, dass man nach dem ganzen Vorgang den Krieg unmöglich als einen aufgezwungenen bezeichnen könne. Erst später, als die nötige Hurrastimmung erzeugt war, fand man den Mut dazu. So wählte man die oben mitgeteilte verzwickte Form (S. M. l’Empereur, mon auguste Souverain, au nom de l’Empire relève le défi et Se considère en état de guerre avec la Russie.“) Aus dem „Aufzwingen des Krieges“ wurde eine bloße „Herausforderung zum Krieg“, den der Kaiser als ausgebrochen „betrachtet“. In dieser schwächlichen und verschrobenen Form wurde die Erklärung des furchtbarsten aller Kriege begründet, der nur durch die zwingendsten Motive zu rechtfertigen gewesen wäre. Aber die waren nicht aufzutreiben, obwohl seit dem Beginn der Krise Bethmanns dringendste Sorge die gewesen war, Russland ins Unrecht zu setzen und ihm die ganze Verantwortung für den kommenden Krieg zuzuschieben. Als nun gar das Telegramm des Zaren kam, das die Berechtigung der deutschen Mobilisierung anerkannte, aber die Notwendigkeit bestritt, dass sie Krieg zu bedeuten hätte, muss den Herren vom Auswärtigen Amt ihre Kriegserklärung doppelt ungerechtfertigt erschienen sein, sonst wäre nicht zu begreifen, dass sie hinterdrein nach den Versuch machten, die Verkündung der Mobilisierung zu hindern, die noch nicht ausgesprochen war. Das gelang ihnen nicht, um 5 Uhr wurde sie befohlen. Noch immer beruhigte sich der „Zivilkanzler“ nicht. Wir haben schon die Mitteilung „Junius alters“ zitiert, dass „nach erfolgter Mobilmachung Herr von Bethmann Hollweg
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noch einen letzten Versuch machte, die Zurücknahme des Befehls zu erwirken; aber es war glücklicherweise zu spät. Das bezieht sich wohl auf Folgendes: Obwohl um 1 Uhr nachmittags schon die Kriegserklärung nach Petersburg gesandt worden war, legte der Kanzler noch um 9.45 Uhr abends dem Kaiser ein Telegramm an den Zaren vor, in dem nochmals Verhandlungen angebahnt wurden, und „Willy“, wie Wilhelm auch jetzt noch unterzeichnet, erklärt: „eine sofortige klare und unmissverständliche Antwort Deiner (Nickys) Regierung ist der einzige Weg, um endloses Elend zu vermeiden... Ich muss auf das Ernsteste von Dir verlangen, dass Du unverzüglich Deinen Truppen den Befehl gibst, unter keinen Umständen auch nur die leiseste Verletzung unserer Grenzen zu begehen.“
Dieses Telegramm, zum Haupttelegraphenamt gegeben um 10.30 abends, neun Stunden nach Absendung der Kriegserklärung, ist wohl eine der absonderlichsten Episoden in der entsetzlichen Komödie der Irrungen und Wirrungen des 1. August. Es erregte auch das lebhafteste Befremden in Petersburg. Pourtalès berichtet darüber noch von dort, drei Stunden vor seiner Abreise nach Stockholm: „Soeben fragt Herr Sasonow telefonisch bei mir an, wie Folgendes zu erklären sei: S. M. der Kaiser von Russland habe vor einigen Stunden ein Telegramm unseres allergnädigsten Herrn erhalten, welches von 10 Uhr 45 Minuten abends datiert und in dessen Schlusssatz die Bitte ausgesprochen sei, Kaiser Nikolaus möge seinen Truppen befehlen, in keinem Falle die Grenze zu überschreiten. Herr Sasonow fragt, wie ich mir eine solche Bitte erkläre, nachdem ich gestern Abend bekannte Note (Kriegserklärung. K.) übergeben hätte. Ich habe geantwortet, ich könnte keine andere Erklärung finden, als dass wahrscheinlich das Telegramm meines Kaisers schon vorgestern abend 10 Uhr 45 Minuten aufgegeben sei.“
In der Tat war das Telegramm vom 1. August abends 10.45 Uhr unerklärlich. Die einzige richtige Erklärung kam dem deutschen Botschafter natürlich nicht in den Sinn, und wenn sie ihm eingefallen wäre, hätte er sich gehütet sie kundzutun: die, dass sein „allergnädigster Herr“ mitsamt seinen Ratgebern sämtliche den Kopf verloren hatten. Die Eröffnung des Krieges durch Russland. Da Wilhelm und seine Leute keine Möglichkeit mehr hatten, das Unheil rückgängig zu machen, das sie angerichtet, denn, wie der deutsche Patriot Junius alter triumphierend bemerkt: „Es war glücklicherweise zu spät“ -140
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und ihnen die eigene Motivierung der Kriegserklärung selbst völlig unzulänglich erscheinen musste, sahen sie sich nach einem Vorwand um, Russland zum Urheber des Weltkrieges zu machen. Dieses Kunststück wurde vollbracht in der Denkschrift, die der Reichskanzler am 3. August dem Reichstag vorlegte. Hier wird nur so nebenbei berichtet, dass Deutschland erklärte, wenn seiner Forderung auf Demobilisierung nicht genügt werde, betrachte es sich „als im Kriegszustand befindlich“ und dann fortgefahren: „Ehe jedoch eine Meldung über die Ausführung dieses Auftrages einlief, überschritten russische Truppen, und zwar schon am Nachmittag des 1. August, also desselben Nachmittags, an dem das oben erwähnte Telegramm des Zaren abgesandt war, unsere Grenzen und rückten auf deutschem Gebiete vor. Hiermit hat Russland den Krieg gegen uns begonnen.“
Von allen staunenswerten Argumenten, die das deutsche Auswärtige Amt damals zur Rechtfertigung des Krieges verbrachte, ist dieses wohl das staunenswerteste. Man denke! Die deutsche Regierung erteilt ihrem Botschafter in Petersburg den Auftrag, um 5 Uhr Russland den Krieg zu erklären. Am „Nachmittag“ des gleichen Tages überschreiten russische Truppen die deutsche Grenze, also, schließt dieselbe Regierung, hat Russland den Krieg begonnen, denn -- das geschah zu einer Zeit, als in Berlin noch keine Meldung über die in Petersburg ausgesprochene Kriegserklärung vorlag! Danach wird eine Kriegserklärung nicht von dem Moment an wirksam, in dem sie ausgesprochen ist, sondern erst von dem Moment an, wo der den Krieg Erklärende davon unterrichtet ist, dass der andere Teil die Erklärung empfangen hat. Haben aber vielleicht die Russen die Grenze vor 6 Uhr überschritten, vor der Zeit, zu der die Kriegserklärung in Petersburg tatsächlich ausgesprochen wurde? Die deutsche Denkschrift will das glauben machen, wenn sie sagt, dass die Grenzverletzung „schon am Nachmittag“ stattfand. Für die Entscheidung, ob wirklich Russland den Krieg begonnen, wäre es von äußerster Wichtigkeit, die Details der Grenzverletzung genau zu wissen. Wenn etwa irgendwo zwei oder drei Kosaken eigenmächtig die Grenze überschritten, so war das noch kein Vorfall, der berechtigte, von einem Beginn des Krieges durch „Russland“ zu sprechen. Derartige Zwischenfälle kommen auch im Frieden vor. Wie man solche Vorkommnisse behandelt, zeigt z. B. eine nach Berlin gerichtete Note Vivianis vom 2. August, in der Protest erhoben wird gegen Grenzverletzungen, die von deutschen Truppen an verschiedenen Stellen der französischen Grenzen verübt worden sein sollen. Es wurden genau die Ortschaften und die Truppen angegeben, die in Frage kamen. Es fiel Viviani 141
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nicht ein, gleich mehr als einen Protest auszusprechen und zu erklären, „Deutschland habe den Krieg gegen Frankreich begonnen.“ Doch es scheint, dass am 1. August an der russischen Grenze nicht einmal so geringfügige Grenzverletzungen vorgekommen sind, wenigstens nicht vor der Abgabe der Kriegserklärung. Die deutsche Denkschrift spricht vom „Nachmittag“, legt auf diese Zeitbestimmung besonderen Wert, der in auffälligem Gegensatz zu ihrer Unbestimmtheit steht. Bei der Wichtigkeit der Sache wäre es doch geboten gewesen, genau die Stunde der Grenzverletzung zu nennen. Dass es aber, wenn wirklich die deutsche Grenze am 1. August von russischen Truppen überschritten wurde, dies nicht am frühen Nachmittag geschehen sein konnte, erhellt schon daraus, dass am Abend um 9,45 der Reichskanzler dem Kaiser noch ein Telegramm an den Zaren vorlegte, in dem dieser aufgefordert wird, seinen Truppen den Befehl zu geben, jede Grenzverletzung zu melden. Diese Depesche wurde vom Auswärtigen Amt wie oben gezeigt, nach zehn Uhr befördert. Um diese Zeit kann es also noch keine Nachricht über eine Grenzüberschreitung gehabt haben, sonst wäre das Telegramm noch gegenstandsloser gewesen, als es durch die erfolgte Kriegserklärung ohnehin war. In der Tat erhielt Wilhelm die ersten Nachrichten über russische Grenzüberschreitungen am Vormittag des 2. August. Da teilt ihm Bethmann mit: „Nach Meldung Generalstabs (heute 4 Uhr a. m.) Bahnzerstörungsversuch und Vormarsch zwei Schwadronen Kosaken auf Johannisburg. Dadurch tatsächlicher Kriegszustand.“
Hier endlich wird Ort und Zeit genannt. Und da stellt sich heraus, dass der „Nachmittag des 1. August“ in Wirklichkeit der „Morgen des 2. August“ war. Die russischen Feindseligkeiten begannen etwa zehn Stunden nach der Übergabe der deutschen Kriegserklärung in Petersburg. In dieser Weise hat „Russland den Krieg gegen uns begonnen“. Wenn die deutsche Regierung trotzdem diesen Feindseligkeiten die entscheidende Rolle für den Ausbruch des Krieges beilegt, bezeugt sie damit nur, wie wenig begründet ihre Kriegserklärung den deutschen Staatsmännern selbst erschien. In der mehrfach erwähnten Denkschrift der deutschen Regierung zum 3. August ist sie auch so viel als möglich in den Hintergrund gedrängt. Deren Darstellung ist ein Muster irreführender Berichterstattung.
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Sie sagt: „Der kaiserliche Botschafter in Petersburg hat die ihm aufgetragene Mitteilung an Herrn Sasonow am 31. Juli am 12 Uhr nachts gemacht. Eine Antwort der russischen Regierung hierauf hat uns nie erreicht. Zwei Stunden nach Ablauf der in dieser Mitteilung gestellten Frist hat der Zar an Seine Majestät den Kaiser telegraphiert. -Nun kommt das schon zitierte Telegramm. Eine vollständige Geschichtsdarstellung hätte natürlich bemerken müssen, dass vor dem Zarentelegramm und eine Stunde nach Ablauf der gestellten Frist die Kriegserklärung nach Petersburg geschickt wurde. Diese wird jedoch an dieser Stelle mit keinem Worte erwähnt. Eine so unbedeutende Kleinigkeit kann man offenbar leicht übersehen. Wirklich ein Wunder, dass sie in der Anlage als Nr. 25 abgedruckt ist. Ganz aus der Welt ließ sie sich eben leider nicht mehr schaffen. Nach dem Abdruck des Telegramms des Zaren, das nach 2 Uhr ankam, heißt es in der Denkschrift weiter: „Hierauf hat Seine Majestät geantwortet.“
Und nun wird Wilhelms Telegramm abgedruckt. Aber während bei allen Telegrammen des Kaisers an den Zaren in der Denkschrift genau die Stunde der Absendung verzeichnet wird, fehlt sie bei diesem einen. Kein Leser ahnt, dass das „hierauf“ nicht „sofort“ bedeutet, sondern 8 Stunden später, 10 Uhr. Jeder muss glauben, das Telegramm sei vor 5 Uhr expediert worden. Denn nach seinem Abdruck führt die Denkschrift fort: „Da die Russland gestellte Frist verstrichen war, ohne dass eine Antwort auf unsere Anfrage eingegangen wäre, hat Seine Majestät der Kaiser und König am 1. August um 5 Uhr p. m. die Mobilmachung des gesamten deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine befohlen. Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg hatte inzwischen (!! K.) den Auftrag erhalten, falls die russische Regierung innerhalb der ihr gestellten Frist keine befriedigende Antwort erteilen würde, ihr zu erklären, dass wir nach Ablehnung unserer Forderung uns als im Kriegszustand befindlich betrachten würden.“
Das nur im Text der Denkschrift Folgende haben wir bereits oben abgedruckt. Das „inzwischen“ in dieser Darstellung ist sicher köstlich. Ein Muster präziser Zeitangabe. Es ist würdig der Aufeinanderfolge, in der die Ereignisse dargestellt werden. Es war
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die wirkliche Zeitfolge
die Aufeinanderfolge in der Denkschrift:
1 Uhr Absendung der Kriegserklärung,
2 Uhr Zarentelegramm,
2 Uhr Zarentelegramm,
ohne jede Zeitangabe: Kaisertelegramm,
5 Uhr Mobilmachung,
5 Uhr Mobilmachung,
10 Uhr Kaisertelegramm an Zaren,
ohne Zeitangabe: Absendung der Kriegserklärung
Die chronologische Verwirrung in der Denkschrift war eben unerlässlich, wollte sie den Leser zu dem Schlusse bringen, zu dem sie kam und der seitdem das öffentliche Leben Deutschlands bis zum Weißbuch vom Juni 1919 beherrscht: Russland hat den Krieg gegen uns begonnen. In Wirklichkeit war es anders. Deutschland hat den Krieg gegen Russland begonnen. Die Darstellung des Kriegsbeginns durch die deutsche Regierung stellt die Dinge auf den Kopf. 18. Die Kriegserklärung an Frankreich. Frankreichs Neutralisierung. Nach dem Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Russland musste der Deutschlands mit Frankreich automatisch folgen. Die Franzosen zuerst zu erledigen, um dann mit den Russen abzurechnen, war der deutsche Kriegsplan. Den deutschen Armeen schleunigst den Beginn ihrer Aktionen gegen Frankreich zu ermöglichen, also raschest die Kriegserklärung im Westen herbeizuführen, war die Aufgabe, die der Generalstab dem Auswärtigen Amt stellte. Zu diesem Zwecke hatte dieses am 31. Juli gleichzeitig mit der Ankündigung der Mobilmachung, die in Petersburg übermittelt wurde, nach Paris eine fast gleichlautende Note gesandt, deren Ton aber viel drohender war, wie wir gesehen, da sie direkt sagte: „Die Mobilmachung bedeutet unvermeidlich Krieg“, und die von der französischen Regierung kategorisch forderte, sie solle erklären, ob sie in einem deutsch-russischen Kriege neutral bleiben wolle. Antwort binnen 18 Stunden. Die Absicht war klar: indem man Frankreich diese Frage stellt, wollte man es zwingen, sofort zu erklären, dass es auf Russlands Seite stehe: damit wäre der Krieg ohne Weiteres gegeben gewesen und schon am 2. August hätte die Aktion gegen Frankreich beginnen können.
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Vertrauensvolle deutsche Untertanen haben indes auch in dieser Aktion der deutschen Regierung einen Beweis ihrer Friedensliebe gesehen. Dr. David z. B. meinte: „Die deutsche Regierung unternahm den Versuch, den Brand wenigstens auf den Osten zu beschränken. Das ist kein kleiner Faktor auf ihrem Verdienstkonto. Er war ernstlich gemeint. Darüber konnte kein Zweifel bestehen.“ („Die Sozialdemokratie im Weltkriege“, S. 80.)
Ein Mann, der weniger vertrauensvoll der deutschen Regierung gegenüberstand, hätte wohl seine Zweifel hegen dürfen, ob die Form des Ultimatums, die Deutschland in dem oben abgedruckten Telegramm nach Paris mit der Forderung sandte, sofort über die Neutralität Auskunft zu geben, diejenige war, die jemand gewählt hätte, der wirklich diese Neutralität wünschte. Aber selbst dem Vertrauensseligsten muss jeder Zweifel schwinden, wenn ihm kund wird, dass jenes Telegramm an Schön noch eine Nachschrift hatte, die die deutsche Regierung wohlweislich nicht veröffentlichte, vielmehr mit der Bemerkung „Geheim“ versah. Es lag nicht an ihr, wenn diese Nachschrift nach geraumer Zeit mitten im Kriege der französischen Regierung doch bekannt wurde. Sie lautete: „Wenn, wie nicht anzunehmen, französische Regierung erklärt, neutral zu bleiben, wollen Ew. Exzellenz französischer Regierung erklären, dass wir als Pfand für Neutralität Überlassung der Festungen Toul und Verdun fordern müssen, die wir besetzen und nach Beendigung des Krieges mit Russland zurückgeben würden. Antwort auf letztere Frage müsste bis morgen (1. August. K.) Nachmittag 4 Uhr, hier sein v. Bethmann Hollweg.“
Dass keine französische Regierung, und wäre sie die friedfertigste eines Jaurès gewesen, diese Forderung bewilligen konnte, dass die Anfrage wegen der Neutralität also nicht den Zweck hatte, „den Brand auf den Osten zu beschränken“, sondern Frankreich sofort zum Kriege zu zwingen, liegt klar auf der Hand. Um 4 Uhr nachmittags am 1. August erwartete man, bereits im Besitze des Kriegsgrundes gegen Frankreich zu sein, um 5 Uhr sollte die Kriegserklärung an Russland überreicht werden. So hoffte man, gleichzeitig den Krieg an beiden Fronten eröffnen zu können, und der gegen Frankreich erschien dem Generalstab noch dringender als der gegen Russland. Am 4. August erklärte Jagow dem belgischen Gesandten Baron Beyens: „Um nicht vernichtet zu werden, muss Deutschland zuerst Frankreich vernichten und dann sich gegen Russland wenden.“
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Da wirkte es sehr störend, dass die Antwort, die Frankreich gab, eine ganz unerwartete war. Viviani lehnte nicht die Neutralität ab, wie Bethman Hollweg voraussetzte, er versprach sie aber auch nicht, gab also keine Gelegenheit, mit der Forderung auf Auslieferung von Toul und Verdun herauszurücken, sondern Schön musste am 1. August telegraphieren: „Auf meine wiederholte bestimmte Frage, ob Frankreich im Falle eines deutschrussischen Krieges neutral bleibe, erklärte der Ministerpräsident mir, dass Frankreich das tun werde, was seine Interessen ihm geböten.“
Für diese Antwort hatte Schön keine Instruktionen. Auch dem Auswärtigen Amt fiel es nicht leicht, sich durch sie zum „Kriege gezwungen“, von Frankreich „angefallen“ zu erklären, was doch notwendig war, wollte man sich eine günstige moralische Atmosphäre für den Krieg schaffen. Gleich nach dem Einlangen der Schönschen Antwort machte man sich im Auswärtigen Amt daran, eine Kriegserklärung auszuarbeiten, und brachte folgendes, noch vom 1. August datiertes Dokument zustande: „Die deutsche Regierung ist von Beginn der Krisis an um einen friedlichen Ausgleich bemüht gewesen. Aber während sie auf Wunsch S. M. des Kaisers von Russland und in Fühlung mit England noch zwischen Wien und St. Petersburg vermittelte, hat Russland sein gesamtes Heer und seine Flotte mobilisiert. Durch diese Maßregel, der keine außerordentlichen Kriegsvorbereitungen in Deutschland vorangegangen waren, ist das Deutsche Reich in seiner Sicherheit bedroht worden. Einer solchen Gefahr nicht entgegentreten, hieße um die Existenz des Reiches spielen. Die deutsche Regierung hat daher die russische Regierung zur sofortigen Einstellung der Mobilmachung gegen Deutschland und seinen Verbündeten aufgefordert. Gleichzeitig hat die deutsche Regierung die Regierung der französischen Republik hiervon in Kenntnis gesetzt und sie in Anbetracht der bekannten Beziehungen der Republik zu Russland um eine Erklärung darüber ersucht, ob Frankreich in einem russisch-deutschen Kriege neutral bleiben will. Hierauf hat die französische Regierung zweideutige und ausweichende Antwort gegeben, Frankreich werde das tun, was seine Interessen geböten. Mit dieser Antwort behält sich Frankreich vor, sich auf Seiten unserer Gegner zu stellen, und es ist in der Lage, uns jeden Augenblick mit seiner inzwischen mobilisierten Armee in den Rücken zu fallen. Deutschland muss in diesem Verhalten umso mehr eine Bedrohung erblicken, als auf die an Russland gerichtete Aufforderung, die Mobilisierung seiner Streitkräfte einzustellen, nach längst verstrichener Frist keine Antwort eingegangen und daher ein russisch-deutscher Krieg ausgebrochen ist. Deutschland kann die Wahl des Zeitpunktes, in dem die Bedrohung seiner westlichen Grenze zur Tat wird, nicht Frankreich überlassen, sondern muss, von zwei Seiten bedroht, sofort seine Verteidigung ins Werk setzen. Hiernach bin ich beauftragt, Ew. Exzellenz Folgendes zu eröffnen: S. M. der Deutsche Kaiser erklärt im Namen des Reichs, dass Deutschland sich als im Kriegszustand mit Frankreich befindlich erklärt.“
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Diese Kriegserklärung wurde nicht abgeschickt. Die Gründe dafür sind nicht verzeichnet. Man scheute wohl davor zurück, der unzureichend begründeten Kriegserklärung an Russland eine zweite gleichen Kalibers an Frankreich nachzusenden. Mit welcher Verlegenheit man der eben ausgesprochenen Kriegserklärung an Russland gegenüberstand, bezeugt schon der Umstand, dass man sie auch in dem in Rede stehenden Schriftstück gar nicht zu erwähnen wagt, sondern einfach einen „russisch-deutschen Krieg ausgebrochen“ sein lässt, als wäre das ein Elementarereignis wie ein Vulkanausbruch, unabhängig von allen menschlichen Entschließungen. Von der Triftigkeit der an Russland ergangenen Kriegserklärung hing aber die Frankreich gegenüber ausgesprochene ab. War Deutschland von Russland angegriffen, dann musste es sich dagegen schützen, dass es nicht auch von Frankreich nach Belieben angefallen wurde. War die deutsche Regierung dem russischen Reich gegenüber der Angreifer, dann wurde sie der Angreifer auch gegenüber Frankreich, sobald sie diesem bloß aus dem Grunde den Krieg erklärte, weil es das tun wollte, was seine Interessen geböten. Zu diesen Erwägungen mochte sich vielleicht auch noch die gesellen, dass man aus dem gleichen Grunde, wie Frankreich, auch England und Italien gegenüber hätte den Krieg erklären können. Auch deren Neutralität stand nicht fest, auch sie konnten mit ihren inzwischen mobilisierten Armeen und Flotten den verbündeten Zentralmächten „jeden Augenblick in den Rücken fallen.“ Es wäre doch gefährlich gewesen, dieses Motiv als ausreichenden Grund für eine Kriegserklärung gerade in dem Moment auszusprechen, in dem man, in anderer Weise als Frankreich gegenüber, die Neutralität oder die Bundesgenossenschaft der beiden genannten Mächte zu erlangen trachtete. Auf keinen Fall konnte man behaupten, dass durch die französische Erklärung allein schon Deutschland angegriffen, zum Krieg gezwungen worden sei. Und das wollte man doch der Welt einreden. Aber welche Gründe immer maßgebend gewesen sein mögen, das Dokument nicht abzusenden, der Verzicht darauf beweist jedenfalls, dass man zur Überzeugung kam, die Antwort Frankreichs, es werde sich nur von seinen Interessen leiten lassen, biete keinen ausreichenden Grund für eine Kriegserklärung. Die Kriegserklärung brauchte man aber dringend, nachdem der Krieg mit Russland schon im Gange war. In der Verlegenheit griff man schließlich zu demselben Mittel, zu dem man, nachdem man Russland den Krieg erklärt, seine Zuflucht nahm, um zu beweisen, dass es den Frieden gebrochen: man
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berief sich auf kriegerische Aktionen, mit denen der Gegner angefangen habe. Die mysteriösen Flieger. Die schon mehrfach erwähnte Denkschrift der deutschen Regierung vom 3. August wurde, wie sie vermerkt, abgeschlossen am 2. August mittags. Der Kriegserklärung überreichte der deutsche Botschafter dem französischen Ministerpräsidenten am 3. August um 6 Uhr 45 Minuten abends. Die Denkschrift wusste aber schon zu melden: „Am Morgen des nächsten Tages (2. August) eröffnete Frankreich die Feindseligkeiten.“ Welcher Art waren diese? Die Kriegserklärung vom 3. August zählt sie auf: „Französische Truppen haben schon gestern bei Altmünsterol und auf Gebirgsstraßen in den Vogesen deutsche Grenze überschritten und stehen noch auf deutschem Gebiet. Französischer Flieger, der belgisches Gebiet überflogen haben muss, wurde bei Versuch, Eisenbahn bei Wesel zu zerstören, schon gestern herabgeschossen. Mehrere andere französische Flugzeuge sind gestern über Eifelgebiet zweifelsfrei festgestellt. Auch diese müssen belgisches Gebiet überflogen haben. Gestern warfen französische Flieger Bomben auf Bahnen bei Karlsruhe und Nürnberg. Frankreich hat uns somit in Kriegszustand versetzt.“
Jetzt hatte man endlich den ersehnten Kriegszustand. Frankreich konnte freilich gleichzeitig auch mit einer Reihe von Klagen über Grenzverletzungen aufwarten und Bethmann Hollweg musste am 4. August in seiner Kriegsrede sogar zugeben, dass sie nicht ganz ungerechtfertigt seien. Die französische Regierung hatte aber daraus keinen Anlass zum Kriege gezogen, sie hatte sogar, um ihrerseits Grenzverletzungen zu verhüten, getan, was die deutsche Regierung nicht tat; sie hatte schon am 30. Juli angeordnet: „Obgleich Deutschland seine Deckungsmaßnahmen einige hundert Meter von der Grenze an der ganzen Front, von Luxemburg bis zu den Vogesen, getroffen und Deckungstruppen in ihre Kampfstellungen gebracht hat, haben wir unsere Truppen zehn Kilometer von der Grenze ferngehalten und ihnen verboten, näher heranzurücken.“ (Gelbbuch von 1914, Nr. 106.)
Man mag sich auf den Boden deutscher Politiker stellen, die annahmen, dass Frankreich diese Maßnahmen nicht im Interesse des Friedens, sondern nur deshalb traf, weil es noch nicht gerüstet war, also aus Heimtücke, um Zeit zu gewinnen und später dem Feind „in den Rücken zu fallen.“ Aber gerade
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wer auf diesem Standpunkt steht, wird zugeben müssen, dass die französische Regierung ihre eigenen Intentionen durchkreuzt hätte, wenn sie die Feindseligkeiten vorzeitig begann. Schon deshalb wird man den Behauptungen der Kriegserklärung mit äußerstem Misstrauen gegenüberstehen müssen. Auf welche Mitteilungen stützt sie sich? Am 2. August, um Mitternacht, telegrafierte der Reichskanzler nach London: „Nach absolut zuverlässigen Meldungen hat sich Frankreich heute gegen uns folgende Übergriffe erlaubt: 1. Französische Kavalleriepatrouillen haben heute am frühen Nachmittag die Grenze bei Altmünsterol im Elsass überschritten. 2. Ein französischer Fliegeroffizier ist bei Wesel aus der Luft geschossen worden. 3. Zwei Franzosen haben versucht, Aachener Tunnel der Moselbahn zu sprengen und sind dabei erschossen worden. 4. Französische Infanterie hat im Elsass Grenze überschritten und geschossen. Bitte das sofort dortiger Regierung mitteilen und Sir Edward Grey ernstlich vorhalten, in welche gefahrvolle Lage Deutschland durch diese wider Treu und Glauben erfolgenden Provokationen gebracht und zu den ernstesten Beschlüssen gedrängt werde. Ew. Exzellenz wird es, wie ich hoffe, gelingen, England davon zu überzeugen, dass Deutschland, nachdem es den Friedensgedanken bis an die äußerste Grenze des Möglichen vertreten hat, durch seine Gegner in die Rolle des Provozierten gedrängt wird, der, um seine Existenz zu wahren, zu den Waffen greifen muss.“
Am 3. August wurde dann im Auswärtigen Amt um 1 Uhr 45 nachmittags folgende Zusammenstellung französischer Grenzverletzungen verzeichnet, die der Generalstab berichtete: „1. Meldung des 15. Armeekorps (Generalkommando): Grenzverletzungen durch Franzosen am 1. August abends bei Metzeral und Schluchtpass zweifelsfrei festgestellt. Deutsche Postierungen wurden beschossen. Keine Verluste. Ab Straßburg, 2. August, um 9 Uhr 30 abends. 2. Meldung des 15. Armeekorps (Generalkommando): In der Nacht vom 1. zum 2. August Grenzverletzung durch französische Infanterie gegenüber Markisch stattgefunden. Franzosen eröffneten zuerst das Feuer. Keine Verluste. Ab Straßburg, 2. August, um 5 Uhr 55 nachmittags. 3. 50. Infanterie-Brigade meldet ab Mülhausen, 2. August, 12 Uhr 10 nachmittags: Feindliche Patrouillen haben Grenze bei Altmünsterol in Gegend bei Rath überschritten, sind aber wieder zurückgegangen. 4. Meldung der Linienkommandantur Köln ab 2. August, 11 Uhr 45 abends: Reger Flugzeugverkehr des Feindes über die Grenze aus Richtung Trier nach Junkerath und aus Richtung Dahlheim nach Rheydt und auf rechtem
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Rheinufer bei Köln. Bei Rheydt signalisierten sie mit weißem, rotem, grünem Licht. 5. Telefonische Meldung des Chefs des Stabes vom 21. Armeekorps, 3. August, 9 Uhr 40 vormittags: Drei Flugzeuge und ein Luftschiff (vorn breit, hinten ganz spitz) heute früh über Bahnhof Saarburg, Lothringen, von Maschinengewehren beschossen. Die Flugzeuge gaben nicht die vorgeschriebenen Erkennungszeichen. 6. Meldung der Linienkommandantur in Ludwigshafen am Rhein vom 2. August, abends: Zwei feindliche Flugzeuge heute (2. Aug.) gegen 10 Uhr abends bei Neustadt a. d. Haardt gemeldet. 7. Meldung der Linienkommandantur Wesel (eingegangen 2. Aug. abends): Bei Wesel feindliches Flugzeug abgeschossen.“
In dieser Aufstellung vom 3. August fällt uns vor allem auf, dass in ihr die Nachricht von der Sprengung des Aachener Tunnels fehlt. Aus guten Gründen. Trotzdem sie aus „absolut zuverlässigen Meldungen“ stammte, erwies sie sich eben schon tags darauf als falsch. Als eines der vielen Gerüchte, die in jenen aufgeregten Tagen die Luft durchschwirrten, aber von einem ernsten Staatsmann nicht ohne Prüfung als richtig hingenommen werden durften. Auch die Berichte der Militärbehörden erwiesen sich nicht immer als richtig. So telegraphierte am 3. August, morgens um 10 Uhr, der luxemburgische Staatsminister Eyschen an Jagow: „Soeben verteilt man in der Stadt Luxemburg eine Proklamation des kommandierenden Generals des 8. Armeekorps Tulff von Tscheepe, die folgenden Wortlaut enthält: „Nachdem Frankreich, die Neutralität Luxemburgs nicht achtend, wie zweifelsfrei festgestellt, die Feindseligkeiten von luxemburgischen Boden aus gegen Deutschland eröffnet, haben S. M. Befehl erteilt, dass auch deutsche Truppen in Luxemburg einrücken.“ Es beruht dies auf einem Irrtum. Es befindet sich auf luxemburgischen Boden absolut kein französisches Militär, noch gibt es irgendwelche Anzeichen einer Bedrohung der Neutralität von seiten Frankreichs. Im Gegenteil, am 1. August, Samstagabend, wurden auf französischem Boden bei Mont Saint Martin Longwy die Schienen der Eisenbahn aufgerissen. Das beweist, dass bereits damals die Absicht nicht vorlag, per Bahn nach Luxemburg vorzudringen.“
Tut nichts. Die deutschen Generäle fühlten sich offenbar befugt, überall, wo es ihnen passte, französische Feindseligkeiten „zweifelsfrei“ festzustellen. Die Proklamation des Herrn Kommandierenden Generals Tulff zeigt übrigens „zweifelsfrei“, dass deutscherseits nicht einzelne Patrouillen, sondern das achte Armeekorps bereits am 3. August, vormittags, „auf Befehl S. M.“ die Feindseligkeiten gegen Frankreich durch Eindringen auf luxemburgisches Gebiet begonnen hatte.
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Dass der Herr General auf eigene Faust handelte, ist nicht anzunehmen, obwohl das Militär in jenen Tagen schon sehr selbstherrlich wurde. So wurde Jagow am 3. August vormittags folgende Aufzeichnung des Grafen Montgelas vorgelegt: „Der Oberkommandierende in den Marken hat mitgeteilt, dass er angesichts der authentisch nachgewiesenen Grenzverletzungen genötigt sei, gegenüber der französischen Botschaft und den Franzosen die gleichen Maßregeln zu ergreifen, wie sie gegenüber der russischen Botschaft und den Russen bereits ergriffen seien.“
Also der Herr Oberkommandierende in den Marken hielt sich für befugt, auf Grund der „authentisch nachgewiesenen Grenzverletzungen“ wenigstens für Berlin gleich auf eigene Faust den Krieg an Frankreich zu erklären. Das wurde Jagow doch zu toll. Er schrieb zu der Aufzeichnung: „Was sind das für Maßregeln? Wir sind noch nicht im Kriegszustand. Diplomaten sind daher noch akkreditiert.“
Eine Kriegserklärung an den Oberkommandierenden in den Marken folgte daraus nicht, denn wenige Stunden danach verkündete Schön in Paris, dass Deutschland sich im Kriege mit Frankreich befinde. Am meisten wurde in seiner Kriegserklärung Gewicht gelegt auf die Flieger. Die behaupteten Grenzverletzungen durch französische Truppen wurden zumindest kompensiert durch gleichzeitig gemeldete Grenzübergriffe deutscher Truppen, über die Viviani schon am 2. August sich beschwerte. Aber die Flieger! Nun hatte in jenen Tagen eine seltsame Manie die Masse der Bevölkerung ergriffen. Bei Nacht sah sie überall Flieger und Luftschiffe über sich und hörte die Bomben platzen. Der Stuttgarter Polizeidirektor erließ damals eine Mahnung zur Nüchternheit und Besonnenheit, in der er sagte: „Wolken werden für Flieger, Sterne für Luftschiffe, Fahrradlenkstangen für Bomben gehalten.“
Trotz der Geneigtheit, jede unter solchen Verhältnissen einlaufende Meldung über Flieger zu glauben, die man selbstverständlich auch in der finstersten Nacht sofort als „französische Militärflieger“ erkannte, konnte doch der Reichskanzler sich nur auf drei Fälle berufen, von denen der eine, dass „Flieger über dem Eifelgebiet gesichtet“ wurden, überhaupt keine Berücksichtigung verdient, denn Flieger gab es in Deutschland damals wohl viele, und wer hätte sagen können, dass die im Eifelgebiet, wenn sie wirklich „gesichtet“ wurden, französische waren und nicht deutsche oder etwa belgische oder holländische, die sich verirrt hatten? 151
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Aber der Fall in Wesel! Am 2. August berichtete der Reichskanzler: „Ein französischer Fliegeroffizier ist bei Wesel aus der Luft geschossen worden.“
Die offizielle militärische Meldung vom 3. August, mittags, sagt unbestimmter nur: „Bei Wesel ein feindliches Flugzeug abgeschossen.“
Nichts über den Insassen, nichts darüber, ob er eine Zivilperson oder ein Offizier war. In der Kriegserklärung aber heißt es, der Militärflieger habe versucht, die Eisenbahn bei Wesel zu zerstören. Davon steht in dem Bericht der Lininenkommandantur Wesel kein Wort. Was von den im Eifelgebiet gesichteten Fliegern und dem Weseler Attentat zu halten ist, haben wir eben gesehen. Was von den süddeutschen Militärfliegern gilt, auf deren Untaten die Kriegserklärung nach Bezug nahm, so sind sie seitdem schon längst als leere Erfindung gekennzeichnet worden. Schon im April 1916 bestätigte der Magistrat von Nürnberg: „Dem stellvertretenden Generalkommando des 3. bayerischen Armeekorps hier, ist nicht davon bekannt, dass auf die Bahnstrecke Nürnberg-Kissingen und Nürnberg-Ansbach vor und nach Kriegsausbruch je Bomben von feindlichen Fliegern geworfen worden sind. Alle diesbezüglichen Behauptungen und Zeitungsnachrichten haben sich als falsch herausgestellt.“
Das konnte man im Berliner Auswärtigen Amt schon früher wissen. Bereits am 2. August 1914 sandte der preußische Gesandte in München an den Reichskanzler folgende Mitteilung, deren Eingang im Auswärtigen Amt am 3. August, um 3 Uhr nachmittags, vermerkt ist: „Die auch hier vom Süddeutschen Korrespondenzbuereau verbreitete militärische Meldung, daß heute französische Flieger in der Umgebung von Nürnberg Bomben geworfen hätten, hat bisher keine Bestätigung gefunden. Es sind lediglich unbekannte Flugzeuge gesichtet worden, die augenscheinlich keine Militärflugzeuge waren. Das Werfen von Bomben ist nicht festgestellt, noch weniger natürlich, dass die Flieger Franzosen.“
Vor allem auf diesen Fliegerbomben beruhte die Begründung der deutschen Kriegserklärung, die man in Paris übergab. Sie war in jeder Beziehung völlig aus der Luft gegriffen.
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19. Die Kriegserklärung an Belgien. Die politische Verfehltheit des Wortbruchs. Noch eine harte Nuss blieb dem Reichskanzler zu knacken, die die militärischen Stellen von ihm verlangten: Die Begründung des Einfalls in Belgien. Dieser Einfall war ebenso wie der Krieg gegen Frankreich beschlossene Sache, sobald die Feindseligkeiten gegen Russland ausgebrochen waren. Im Jahre 1871 hatte Deutschland Elsass-Lothringen annektiert, nicht, um die Bevölkerung dieser Gebiete zu befreien. Sie wehrte sich vielmehr verzweifelt gegen ihre Losreißung von Frankreich. Nicht aus nationalen, sondern aus strategischen Gründen hatte Bismarck sie gefordert, um eine bessere strategische Grenze gegen Frankreich zu bekommen, um bei einem künftigen Kriege Paris näher zu sein und es rascher bedrohen zu können als es 1870 beim Ausbruch des Krieges der Fall gewesen war. Um dieses militärischen Vorteils willen hatte Deutschland damals seine internationale politische Position unendlich verschlechtert, hatte es ewige Feindschaft zwischen sich und Frankreich gesetzt, dieses in Russlands Arme gedrängt, Wettrüsten und ständige Kriegsgefahr über Europa heraufbeschworen und den Keim zu jener ungünstigen Situation gelegt, in der das Deutsche Reich 1914 in den Weltkrieg ging. Das alles um eines strategischen Vorteils willen, der sich bald als völlig nichtig herausstellen sollte. Denn im Zeitalter der modernen Technik gibt es keine natürliche strategische Grenze, deren Nachteile nicht ein reicher, ökonomisch und technisch hochentwickelter Staat durch künstliche Maßnahmen wettmachen könnte. Die neue deutsch-französische Grenze wurde so formidabel ausgebaut, dass für eine deutsche Armee keine Rede davon sein konnte, hier rasch durchzukommen. Und doch erschien das notwendig bei einem Kriege Deutschlands gegen zwei Fronten, wenn es galt, schleunigst Frankreich zu erledigen, um sich dann mit voller Kraft auf Russland allein werfen zu können. An der elsässischen Front erschien der rasche Durchbruch nicht möglich. Umso mehr lockte die französische Nordgrenze. Merkwürdigerweise hatten die Franzosen bloß die elsässische Grenze aufs stärkste ausgebaut. Dagegen fühlten sie sich durch Belgien so gesichert, dass sie die Nordgrenze nur ungenügend befestigten. Und selbst im Juli 1914, als die Kriegsgefahr auftauchte, alle Welt rüstete und Truppen zusammenzog, richtete die französische Armee ihr Augenmerk vornehmlich nach Ost, nicht nach Nord. 153
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Die Nordgrenze war Frankreichs schwache Seite. Wenn Deutschland dort überraschend einbrach, durfte es hoffen, mit wenigen kraftvollen Schlägen allen Widerstand niederzuwerfen. Paris zu besetzen und nicht nur dieses, sondern auch Calais, das Ausfalltor nach England. Rein militärisch betrachtet war also der Durchbruch durch Belgien sicher geboten. Freilich hätte schon das Beispiel Elsass-Lothringens zeigen können, wie schädlich es wirken kann, wenn militaristische Augenblickspolitik die Oberhand bekommt über eine weitschauende Völkerpolitik, die nicht bloß die militärischen, sondern auch die politischen und ökonomischen und überdem die moralischen Kräfteverhältnisse und Triebkräfte der Völker in Betracht zieht. Die deutsche Politik war darauf ausgegangen, bei dem kriegerischen Austrag des Konfliktes der Zentralmächte mit Russland und Frankreich Englands Neutralität und Italiens Mitwirkung zu gewinnen. Beides war bereits fraglich geworden, aber noch nicht entschieden, als der Krieg ausbrach. Wohl hatte Sir Ed. Grey Deutschland gewarnt, aber andererseits hatte er Frankreich seine Unterstützung nicht mit voller Sicherheit in Aussicht stellen können, trotz aller Sympathien für die französische Sache. Man hat ihm diese Unsicherheit sehr verübelt, die einen haben darin Haltlosigkeit, die andern Zweideutigkeit gesehen. Seine Kritiker vergessen, dass er Minister eines parlamentarischen und demokratischen Landes und der Zustimmung der Bevölkerung keineswegs sicher war. Auch wenn er im Parlament eine Mehrheit für einen Krieg gegen Deutschland fand, so wäre dieser eine sehr zweifelhafte Sache geworden, wenn die Masse der Arbeiter und der gerade in England sehr zahlreichen und einflussreichen bürgerlichen Pazifisten ihm energisch Widerstand geleistet hätte. Dagegen konnte für niemanden, der die Engländer nur einigermaßen kannte, ein Zweifel darüber bestehen, dass die große Mehrheit der Nation sich begeistert in den Krieg stürzte, sobald das waffengewaltige flottenbauende Deutschland sich Belgiens bemächtigte und damit England direkt bedrohte. In engster Abhängigkeit von England aber stand Italien. Dass es sich an die Seite der Zentralmächte stellte, war allerdings Anfang August nicht mehr zu erwarten. Am 3. August sandte Herr von Kleist, der nach Rom in besonderer Mission entsandt worden war, von dort folgendes Telegramm nach Berlin „an des Kaisers Majestät“: „Heute, Montag, 9 Uhr vormittags, überbrachte ich Ew. Majestäts Auftrag an König von Italien, wonach sofortige Mobilmachung der Armee und Flotte sowie vertragsmäßig festgelegte Bundeshilfe gefordert wurde.“
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Der König erwiderte, dass er persönlich mit ganzem Herzen bei uns sei und noch vor Wochen keinen Augenblick zweifelte, dass bei Krieg Italien treu den Verbündeten helfen werde. Die für italienisches Volksempfinden unglaubliche Ungeschicklichkeit Österreichs habe in den letzten Wochen die öffentliche Meinung derart gegen Österreich aufgebracht, dass jetzt aktives Zusammengehen mit Österreich Sturm entfesseln würde. Einen Aufstand wolle Ministerium nicht riskieren. Er, der König, habe leider keine Macht, nur Einfluss. Entließe er das jetzige Ministerium, werde kein anderes Verantwortung übernehmen. Alles hauptsächlich, weil Österreich sich nicht bereit fand, irgendeine bestimmte Versprechung für die Zukunft zu geben, wodurch vielleicht bisher ein Umschwung der Volksstimmung erreicht werden konnte. Ob dies jetzt noch möglich, sei sehr zweifelhaft. „Da Volk Unterschied nicht begreife, versage infolge österreichischer Ungeschicklichkeit leider auch Italien Deutschland gegenüber, was ihn, König, tief schmerze. Er werde nochmals seinen Einfluss auf Ministerium einsetzen und über Erfolg bescheiden.“
Am nächsten Tage hat Herr v. Kleist nichts Tröstlicheres zu melden: „S. M. der König empfing mich heute Vormittag und sagte: „Trotz seiner gestrigen mehrfachen Bemühungen verbleibt Regierung auf ihrem Standpunkt der Neutralität. Aktive Hilfeleistung an Verbündeten würde Volk augenblicklich nur als Hilfe für Österreichs Vergrößerungspläne auf dem Balkan auffassen (Unser Kampf gegen Frankreich hat nichts damit zu tun. Es ficht doch auch an unserer und nicht Österreichs Seite. W.), da Österreich sich bisher nicht einmal definitiv verpflichtet habe, hierauf zu verzichten. Volk werde Deutschland stets mit Österreich Zusammenwerfen (wenn die Regierung nichts dagegen tut, natürlich, aber unsinnig. W.), daher riskiere Regierung bei aktiver Hilfestellung selbst für Deutschland im jetzigen Augenblick Aufstand (bestimmt gelogen, W.). Er, König, müsse wiederholen, dass er leider machtlos sei, da Regierungsansicht von Mehrzahl der Deputierten geteilt werde. Selbst soeben zurückgekehrter dreibundfreundlicher (?? W.) Giolitti habe Ansicht, dass casus foederis nicht vorläge, sondern Land Ruhe brauche, neutral bleiben müsse, da keine Verpflichtung zu aktiver Hilfeleistung vorliege. (Unerhörter Schuft! W.)... Regierung beabsichtige, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Auf meine Antwort, dass, da Eventualität der Hilfeleistung ausscheide, doch offenbar an aktive Bedrohung Österreichs gedacht werden müsse, eine andere Eventualität gebe es doch nicht, sagte König: man wisse nie, was die Männer der Regierung tun würden. (Also er scheidet ganz aus! W.). Für den Augenblick rechne der König damit, dass nichts geschähe.“
Die Titulierung Giolittis als „unerhörter Schuft“ wird fast noch übertroffen durch die Titulierung des Königs selbst, der am 3. August in einem Handschreiben dem deutschen Kaiser mitteilte, dass die italienische Regierung
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den casus foederis im eben ausgebrochenen Kriege nicht anerkenne. Unterschrieben war der Brief: Dein Bruder und Verbündeter Vittorio Emanuele. Zum „Verbündeten“ fügte Wilhelm hinzu: „Frechheit“ und zum Namen des Königs das kleine aber vielsagende Wörtchen: „Schurke!“. Auf Italiens tätige Mithilfe konnte am 3. August auch der leichtfertigste und unwissendste Optimist nicht mehr rechnen. Die Schlussbemerkungen Vittorio Emanueles ließen aber sogar befürchten, Italien könne aktiv gegen Österreich und Deutschland auftreten. Auf Italiens Haltung musste die Stellungnahme Englands von größtem Einfluss werden, von dem es in so vielen Dingen abhing. Dies war ein weiteres Moment, das veranlassen musste, England durch die Besetzung Belgiens nicht zu reizen. Dazu gesellte sich die Erwägung, dass durch diese Besetzung das Ansehen Deutschlands in der ganzen Welt enorm leiden musste. Denn die Neutralität Belgiens war nicht gewöhnlicher Art, wie etwa die Griechenlands. Sie war eine feierlich verbriefte und garantierte und Preußen eine der Garantiemächte. Mit seinem Einmarsch in Belgien beging es nicht bloß eine Verletzung der Neutralität, sondern einen Wortbruch. Je größer das Vertrauen, das man früher zu dem gehegt hat, der sein Wort verpfändet, umso größer die Wut und die Missachtung gegen ihn, wenn er es bricht. Die Belgier waren in ihrer Mehrzahl bis zum August 1914 Deutschland vertrauensvoll und freundschaftlich gegenüber gestanden. Nach dem Einbruch wurden sie seine wildesten Feinde. Aber nicht nur in Belgien hat der Wortbruch, dem die Hinschlachtung tausender von Belgiern, die grauenhafte Verwüstung des ganzen Landes folgte, die tiefste Empörung hervorgerufen, sie erfasste alle Länder der europäischen Kultur und raubte Deutschland die letzten Freunde, die es dort noch hatte. b) Die Rechtfertigung des Wortbruchs. So sehr der Einbruch in Belgien militärisch begreiflich war, so sehr war er nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch politisch völlig verfehlt. Aber das Militär kommandierte, die Zivilpolitiker hatten zu gehorchen. Ihnen fiel nur das undankbare Amt zu, den Wortbruch vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Sie haben sich dabei geistig nicht angestrengt. Auch dies156
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mal hielt man sich an die bequeme Schablone Berchtolds, die er Franz Josef gegenüber angewandt, die Vortäuschung feindlicher Handlungen der andern, durch die man zum Krieg gezwungen wurde. Und im belgischen Falle hatte der Reichskanzler nur das edle Amt eines Briefträgers. Am 29. Juli ging dem Auswärtigen Amt ein vom Generalstabschef Moltke selbst unter dem Datum 26. Juli geschriebener Entwurf eines Schreibens an die belgische Regierung zu, das nach einigen redaktionellen Änderungen, die der Reichskanzler, sowie Stumm und Zimmermann vornahmen, von Jagow nicht an diese Regierung, sondern an den deutschen Gesandten in Brüssel am gleichen Tage gesandt wurde. Es lautete: „Der Kaiserl. Regierung liegen zuverlässige Nachrichten vor über den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte an der Maas-Strecke Givet-Namur. Sie lassen keinen Zweifel über die Absicht Frankreichs (nach Vereinigung mit einem englischen Expeditionskorps) durch belgische Gebiete gegen Deutschland vorzugehen. Die Kaiserl. Regierung kann sich der Besorgnis nicht erwehren, dass Belgien trotz besten Wissens nicht imstande sein wird, ohne Hilfe einen französisch(englischen) Vormarsch mit so großer Aussicht auf Erfolg abzuwehren, dass darin eine ausreichende Sicherheit gegen die Bedrohung Deutschlands gefunden werden kann. Es ist ein Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, dem feindlichen Angriff zuvorzukommen. Mit dem größten Bedauern würde es daher die deutsche Regierung erfüllen, wenn Belgien einen Akt der Feindseligkeit gegen sich darin erblicken würde, dass die Maßnahmen seiner Gegner Deutschland zwingen, zur Gegenwehr auch seinerseits belgisches Gebiet zu betreten. Um jede Missdeutung auszuschließen, erklärt die Kaiserl. Regierung das Folgende: 1. Deutschland beabsichtigt keinerlei Feindseligkeiten gegen Belgien. Ist Belgien gewillt, in dem bevorstehenden Kriege Deutschland gegenüber eine wohlwollende Neutralität einzunehmen, so verpflichtet sich die deutsche Regierung beim Friedensschluss nicht nur Besitzstand und Unabhängigkeit des Königreichs in vollem Umfang zu garantieren, sie ist sogar bereit, etwaigen territorialen Kompensationsansprüchen des Königreichs auf Kosten Frankreichs in wohlwollender Weise entgegenzukommen. 2. Deutschland verpflichtet sich unter obiger Voraussetzung das Gebiet des Königreichs wieder zu räumen, sobald der Friede geschlossen ist. 3. Bei einer freundschaftlichen Haltung Belgiens ist Deutschland bereit, im Einvernehmen mit den königl. belgischen Behörden alle Bedürfnisse seiner Truppen gegen Barzahlung anzukaufen und jeden Schaden zu ersetzen, der etwa durch deutsche Truppen verursacht werden könnte. Sollte Belgien den deutschen Truppen feindlich entgegentreten, insbesondere ihrem Vorgehen durch Widerstand der Maasbefestigungen oder durch Zerstörung von Eisenbahnen, Straßen, Tunneln, oder sonstigen Kunstbauten Schwierigkeiten bereiten, so wird Deutschland zu seinem Bedauern gezwungen sein, das Königreich als Feind zu betrachten. In diesem Falle würde Deutschland dem
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Königreich gegenüber keine Verpflichtungen übernehmen können, sondern müsste die spätere Regierung des Verhältnisses beider Staaten zueinander der Entscheidung der Waffen überlassen. Die Kaiserl. Regierung gibt sich der bestimmten Hoffnung hin, dass die Eventualität nicht eintreten und dass die Königl. belgische Regierung die geeigneten Maßnahmen zu treffen wissen wird, um zu verhindern, dass Vorkommnisse wie die vorstehend erwähnten, sich ereignen. In diesem Falle würden die freundschaftlichen Bande, die beide Nachbarstaaten verbinden, eine weitere und dauernde Festigung erfahren.“
An diesen Text schloss sich im Entwurf Moltkes folgender Passus an: „Eine unzweideutige Antwort auf dieses Schreiben muss innerhalb 24 Stunden nach Überreichung erfolgen, widrigenfalls die Feindseligkeiten sofort eröffnet werden.“
Das erschien Jagow doch zu grob. Er strich diesen Satz in dem Schreiben an die belgische Regierung und setzte an seine Stelle folgende Weisung für den deutschen Gesandten in Brüssel: „Ew. Hochwohlgeb. wollen umgehend der Königl. belgischen Regierung hiervon streng vertraulich Mitteilung machen und sie um Erteilung einer unzweideutigen Antwort binnen 24 Stunden ersuchen. Von der Aufnahme, welche Ihre Eröffnungen finden werden und der definitiven Antwort der Kgl. belgischen Regierung wollen Ew. Hochwohlgeb. mir umgehend telegrafische Mitteilung zugehen lassen.“
Das Schriftstück des Herrn v. Moltke wurde, wie schon bemerkt, vom Auswärtigen Amt ohne Weiteres akzeptiert und mit wenigen redaktionellen Änderungen abgesandt. Sie sind unbedeutender Art, bloß eine ist bemerkenswert. Der Generalstabschef ging offenbar von der Ansicht aus, daß England gleichzeitig mit Frankreich in den Krieg eintreten werde, daher sprach er von Nachrichten, die wie alle ähnlichen dieser Art, natürlich „keinen Zweifel lassen“ über die Absicht eines „französisch-englischen“ Vormarschs durch belgisches Gebiet. Das erschien dem Auswärtigen Amt doch zu gewagt. Noch hoffte es auf die Neutralität Englands. Stumm strich daher die in dem obigen Abdruck in Klammern gesetzten Worte und begnügte sich mit der „unzweifelhaften“ Feststellung der Absicht eines französischen Vormarsches durch Belgien. Es sind nur ein paar Wörtchen, um die es sich da handelte, doch das Verfahren mit ihnen ist sehr lehrreich. Es zeigte, wie der Generalstab es verstand, Beschwerden über französische oder französischenglische Feindseligkeiten, die den Krieg oder den Neutralitätsbruch unvermeidlich machten, auf Vorrat zu fabrizieren, ehe solche Feindseligkeiten auch nur möglich waren, um die Beschwerde dann vorzuzeigen, sobald man sie brauchte. Dieser Weg wurde in der Tat eingeschlagen. Das am 26. Juli 158
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abgefasste, am 29. redigierte und abgesandte Dokument wurde nicht sofort der Brüsseler Regierung vorgelegt. Damals war die Welt noch nicht vorbereitet auf den französisch-deutschen Krieg. Jagow schickte das Dokument in verschlossenem Kuvert durch einen Feldjäger nach Brüssel an den deutschen Gesandten, Herrn v. Below-Saleske, mit folgendem Begleitschreiben: „Die diesem Erlass beigefügte Anlage ersuche ich Ew. Hochwohlgeb. ergebenst, sicher verschlossen aufzubewahren und erst zu eröffnen, wenn Sie telegrafisch von hier aus dazu angewiesen werden. Den Empfang dieses Erlasses und der Anlage wollen Sie mir telegrafisch bestätigten.“
Also die Not, die nach Bethmanns pathetischer Versicherung in seiner großen Kriegsrede vom 4. August kein Gebot kennt, sie wurde schon am 29. Juli wohl überlegt zurechtgemacht, und „sicher verschlossen“ auf Eis gelegt, damit man sie später hervorhole, wenn man ihrer bedurfte. Das trat am 2. August ein. Da erst wurde es für den Generalstab dringend nötig, dass Deutschlands Sicherheit durch das beabsichtigte Eindringen der Franzosen in Belgien aufs Äußerste bedroht wurde. Da telegrafierte Jagow an den Gesandten in Brüssel: „Ew. Hochwohlgeb. wollen Anlage Erlasses Nr. 88 sofort öffnen und darin enthaltene Weisung heute Abend acht Uhr deutscher Zeit ausführen. Jedoch sind in der Erklärung der Kaiserl. Regierung unter Nr. 1 die Worte „nicht nur“ und der mit „sie ist sogar bereit“ beginnende Satz fortzulassen. (Die betreffenden Worte sind in der obigen Wiedergabe gesperrt. K.) Auch ist die Antwort binnen 12 Stunden, nicht binnen 24 Stunden, also bis morgen früh 8 Uhr, zu verlangen. Bitte belgischer Regierung eindringlichst versichern, dass an Richtigkeit unserer Nachricht über französischen Plan trotz Versprechungen jeder Zweifel ausgeschlossen ist. Belgische Antwort muss bis morgen Nachmittag 2 Uhr deutscher Zeit hier vorliegen. Ew. Hochwohlgeb. wollen daher Antwort schleunig hierher drahten und sie außerdem unmittelbar nach Empfang durch Mitglied kaiserlicher Gesandtschaft, am besten wohl Militärattaché mit Automobil nach Aachen an General von Emmich, Union-Hotel, übermitteln. Dortige Regierung muss Eindruck erhalten, als seien Ihnen sämtliche Weisungen in dieser Angelegenheit erst heute zugegangen. Stelle ferner anheim, belgischen Regierung zu suggerieren, dass sie sich mit Truppen auf Antwerpen zurückziehen kann, und dass wir, falls dort erwünscht, Schutz Brüssels gegen innere Unruhen übernehmen könnten.“
Die Geschichte des Ultimatums an Belgien enthüllt deutlich den Mechanismus, mit dessen Hilfe die Begründungen der deutschen Kriegserklärungen in den ersten Augusttagen fertiggestellt wurden.
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Wer sein Wirken verfolgt, muss „den Eindruck erhalten“, als seien „sämtliche“ Feststellungen der deutschen Regierung aus jenen Tagen umso mehr erlogen, je mehr sie durch die wiederholten Beteuerungen ihrer absoluten „Zuverlässigkeit“ und „Zweifellosigkeit“ bekräftigt werden. Es ist eine furchtbare Tragödie sittlichen Zusammenbruchs, die den Krieg einleitete. Doch sollte dabei das Satyrspiel nicht fehlen. Mit den „Ansammlungen“ französischer Truppen an der belgischen Grenze mochte man auf den naiven Deutschen Eindruck machen, dem der Kriegsrausch ein den Augusttagen bereits die Sinne benebelte. Aber man wollte doch auch England davon überzeugen, dass man zum Einbruch in Belgien gezwungen sei. Dazu brauchte man stärkere Argumente. Wonach haschte man damals nicht! Die sagenhaften Flieger mussten auch da wieder aushelfen. Wir haben den Test der deutschen Kriegserklärung an Frankreich bereits mitgeteilt. In ihr fällt es auf, dass sie betont, mehrere der Flieger hätten offenkundig die belgische Neutralität verletzt, indem sie belgisches Gebiet überflogen. Dass diese unfassbaren Flieger in England besonderen Eindruck machen würden, war indes nicht zu erwarten. Man musste trachten, auf festen Boden zu kommen. Vielleicht brachte das Automobil, was der Flieger versagte. Am 2. August telegrafierte der Regierungspräsident in Düsseldorf an den Reichskanzler: „Landrat Geldern telegraphiert gestern, hiesiges Bataillon meldet, dass heute früh 80 französische Offiziere in preußischer Offiziersuniform mit 12 Autos Grenzüberschreitung nach hier bei Walbeck vergeblich versuchten. Auf Anfrage teilt Landrat ferner mit, Adjutant dortigen Bataillons meldet nachträglich, dass Meldung bezüglich der 80 französischen Offiziere in der Hauptsache bestätigt sei. Autos seien auf holländischem Gebiet zurückgeblieben. Ein Offizier, der vorgegangen war, sei vor bewaffnetem Widerstand zurückgegangen.“
Nehmen wir einen Moment an, die Meldung sei „in der Hauptsache“ richtig, nicht das Produkt der erhitzten Phantasie einiger aufgeregter Grenzwächter. Dann lag vor allem eine Verletzung nicht der belgischen, sondern der holländischen Neutralität vor. Weiter aber, was hatten nach der Meldung die Grenzwächter gesehen? 12 Autos mit 80 Insassen in preußischer Offiziersuniform. Einer von ihnen, der ausstieg und die Grenze überschritt, wurde merkwürdigerweise von den Grenzwächtern nicht gleich dem Hauptmann von Köpenick angesichts seiner Uniform mit Respekt, sondern mit bewaffnetem Widerstand empfangen. Dabei sahen die Wächter sofort, dass die achtzig Mann in den Automobilen
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ihre Uniform zu Unrecht trugen. Sie wussten aber auch ohne weitere Untersuchung, dass die verkleideten Leute nicht etwa Holländer waren, sondern Franzosen, ja französische Offiziere, die durch Belgien nach Holland und dann an die deutsche Grenze gefahren waren. Diese Herren hatten offenbar, um unauffällig durch Belgien und Holland durchzukommen, es vorgezogen, statt in Zivil zu reisen, preußische Uniform anzuziehen! Die ganze Geschichte war ebenso sinnlos wie die am gleichen Tage berichtete von dem französischen Arzt, der mit zwei anderen Franzosen in Metz dabei ertappt wurde, wie er Brunnen mit Cholerabazillen infizierte. Man wagte später nicht mehr, von diesen Geschichten Gebrauch zu machen. Am 2. August aber brachte Jagow es fertig, sie nicht nur ernst zu nehmen, sondern sogar eine diplomatische Aktion daran zu knüpfen. Er telegrafierte die Historie von den Cholerabazillen nach Rom mit dem Auftrag, sie in der dortigen Presse zu verbreiten. Und an den Botschafter in London und die Gesandten in Brüssel und dem Haag sandte er folgende Depesche: „Bitte dortiger Regierung mitzuteilen, dass heute früh 80 französische Offiziere in preußischer Offiziersuniform mit 12 Autos deutsche Grenze bei Walbeck westlich Geldern zu überschreiten versuchten. Dies bedeutet denkbar schwerste Neutralitätsverletzung durch Frankreich.“
Man musste völlig den Kopf verloren haben, um sich in dieser Weise vor dem Ausland lächerlich zu machen. Geldern liegt übrigens nahe bei Wesel, wo man den französischen Flieger heruntergeholt haben wollte. Das Militär in jener Grenzgegend scheint besonders schreckhaft und zur Gespensterseherei geneigt gewesen zu sein. Noch weiter als Jagow ging dann der General Emmich. Er begründete den Einfall in Belgien mit einer Proklamation, in der es hieß: „Unsere Truppen handelten unter dem Zwang einer unabweisbaren Notwendigkeit, da die belgische Neutralität durch französische Offiziere verletzt worden ist, die verkleidet das belgische Gebiet in Automobilen betreten haben, um nach Deutschland zu gelangen.“ (Zitiert von Dr. E. J. Gumbel in seiner Schrift: „Vier Jahre Lüge,“ S. 9.)
In seiner Kriegsrede vom 4. August schämte sich Bethmann Hollweg, von dieser albernen Begründung des Einfalls Gebrauch zu machen. Er gab zu, dass der Überfall über Belgien „den Geboten des Völkerrechts widerspricht“, sowie dass die französische Regierung in Brüssel erklärt hatte, die Neutralität Belgiens respektieren zu wollen, so lange sie der Gegner respek-
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tiere. Er vergaß, zu bemerken, dass Jagow es abgelehnt hatte, die gleiche Erklärung abzugeben. Er fuhr fort: „Wir wussten aber, dass Frankreich zum Einfall bereit stand.“
Jawohl, wir wussten schon am 29. Juli, dass Frankreich am 1. August zum Einfall bereit stand. „Frankreich konnte warten, wir aber nicht, und ein französischer Einfall in unsere Flanke am Unterrhein hätte verhängnisvoll werden können. So waren wir gezwungen, uns über die Proteste der luxemburgischen und belgischen Regierung hinwegzusetzen.“
Hier ist von bereits erfolgten Verletzungen der belgischen Neutralität keine Rede mehr. Der deutsche Einmarsch wird im Grunde nur noch damit begründet, dass „wir nicht warten können“, und das war auch der einzige Grund. Mit Lüge und Perfidie wurde der Krieg im Anfang Juli eingeleitet, mit Lüge und Perfidie wurde er in den ersten Augusttagen begonnen. Letzteres war die unvermeidliche Konsequenz der Einleitung. Auch diesmal erwies es sich als der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses gebären musste. Regierung und Heeresleitung wurden die Lüge nicht mehr los, der sie sich einmal ergeben hatten, und sie mussten das Lügengebäude immer höher auftürmen, bis es am 9. November 1918 krachend zusammenbrach. 20. Die Revolutionierung der Welt. Die ganze Kriegspolitik Wilhelms und seiner Leute war von Anfang an auf falschen Voraussetzungen aufgebaut gewesen. Sie hatten sich zur Teilnahme an dem serbischen Abenteuer entschlossen in der Erwartung, es werde den Mittelmächten einen leichten Triumph über Russland und wohl auch Frankreich bringen. Beide Mächte unzureichend gerüstet, würden entweder den Schlag, den Österreich der russischen Macht auf dem Balkan versetzte, ruhig hinnehmen; oder, wenn sie sich zu einem Kriege hinreißen ließen, würden sie leicht besiegt werden, da Italien und Rumänien hinter Deutschland ständen und England neutral bleiben werde. So würde Deutschland auf jeden Fall Ruhm und Macht gewinnen. Wenn der Konflikt zum Krieg würde, stand auch Landgewinn in Aussicht. Da, am 29. Juli, stellte sich heraus, dass die Rechnung falsch war. Es war zu befürchten, dass im Falle des Krieges gegen Russland und Frankreich Rumänien und Italien nicht mittaten, und vor allem Englands aktive Geg162
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nerschaft eintrat. Nun drohte das Spiel gefährlich zu werden. Von da an trachtete Bethmann aus ihm mit heiler Haut herauszukommen, aber nun war’s zu spät. Österreich hatte den Krieg gegen Serbien bereits begonnen, und mit seiner eigenen Mobilisierung den Wettlauf der Kriegsvorbereitungen eröffnet, und als er aus diesem gefährlichen Stadium herauswollte, stieß Bethmann auf den Widerstand der österreichischen Regierung und des eigenen Generalstabs, der aus jener gespannten Situation nur noch einen Ausweg sah: raschestes Losschlagen. Und schließlich verlor er völlig den Kopf und goss Öl ins Feuer, das er zu löschen wünschte. So wurde aus dem frivolen serbischen Abenteuer die entsetzliche Tragödie des Weltkriegs. Aber wie die diplomatische Berechnung Bethmann Hollwegs vom Anfang Juli, erwies sich die militärische Moltkes vom Endes des gleichen Monats als falsch. Das rasche Losschlagen konnte den Sieg nur sichern unter der Voraussetzung, dass Belgien sich widerstandslos unterwarf und den deutschen Durchzug ohne Gegenwehr gestattet. Dann lag der Erfolg Deutschlands nahe, gerade deswegen, weil die Begründung des deutschen Einfalls in Belgien eine erfundene war, das heißt, weil die Franzosen an ihrer Nordgrenze keine starken Truppenaufgebote stehen hatten. Wehrte sich Belgien nicht, dann durfte die deutsche Heeresleitung erwarten, mit einigen entscheidenden Schlägen schleunigst bis nach Paris und Calais zu dringen, Frankreich zum Frieden zu zwingen und nicht minder England, dessen Eingangstor, Dover, in den Bereich der weittragenden deutschen Geschütze geriet, die dort die Passage über den Kanal beherrschten. Mit Russland fertig zu werden, war keine schwere Aufgabe mehr. Aber Belgien leistete Widerstand. Er wurde natürlich gebrochen, gab aber den Franzosen Zeit, ihre Nordgrenze besser zu bewehren. In der Marneschlacht kam der deutsche Vormarsch zum Stehen und damit war die militärische Voraussicht des Sieges ebenso zunichte gemacht, wie früher schon die politische. Die Fortsetzung des Krieges gegen die Übermacht, die von da an von Tag zu Tag wuchs, musste nun zu jenem Verbluten Deutschlands führen, das Wilhelm schon am 30. Juli 1914 vorausgesehen, zwei Tage bevor er Russland den Krieg erklärte. Das furchtbare Ringen ging nur noch darum, ob mit Deutschland auch seine Gegner verbluten sollten oder nicht. Bei Russland ist dies edle Ziel vollauf erreicht worden. Nicht ganz so gelang es mit Frankreich und Italien, noch weniger mit England und schon ganz und gar nicht mit Amerika und Japan, die im Gegenteil enorm gewannen.
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Und es ist ein Glück, dass der Krieg nicht zum Verbluten der ganzen Welt führte, denn wer wäre dann übrig geblieben, den Verblutenden die Wunden zu verbinden und ihnen Nahrung einzuflößen? Von dem Tage an, dass Belgien sich zum Widerstand entschloss und England in den Krieg eintrat, wurde Deutschlands Lage eine verzweifelte. Das erkannte man sofort im deutschen Generalstab und er zog ohne Weiteres in seiner Art die Konsequenzen daraus. Das bezeugt unter anderem eine Denkschrift, die der Chef des Generalstabs dem Auswärtigen Amt am 5. August zusandte und in der die Kriegspolitik festgelegt wird -- ein neuer Beweis dafür, dass der Leiter der deutschen Politik nunmehr der Chef des Generalstabs war und nicht der Reichskanzler, der nur noch des ersteren Aufträge auszuführen hatte. Die Denkschrift lautete: „Die Kriegserklärung Englands, die nach sicheren Nachrichten von Beginn des Konflikts an beabsichtigt war, zwingt uns, alle Mittel zu erschöpfen, die zum Siege beitragen können. Die ernste Lage, in der das Vaterland sich befindet, macht die Anwendung jedes Mittels zur Pflicht, das geeignet ist, den Feind zu schädigen. Die skrupellose Politik, die unsere Gegner gegen uns führen, berechtigt zu rücksichtslosem Vorgehen. Die Insurrektion Polens ist eingeleitet. Sie wird auf fruchtbaren Boden fallen, denn schon jetzt werden unsere Truppen in Polen fast als Freunde begrüßt. In Wloclavek z. B. sind sie mit Salz und Brot empfangen. Die Stimmung Amerikas ist Deutschland freundlich. Die amerikanische öffentliche Meinung ist empört über die schmachvolle Art, in der man gegen uns vorgegangen ist. Diese Stimmung gilt es nach Kräften auszunutzen. Die einflussreichen Persönlichkeiten der deutschen Kolonie müssen aufgefordert werden, die Presse weiter in unserem Sinne zu beeinflussen. Vielleicht lassen sich die Vereinigten Staaten zu einer Flottenaktion gegen England veranlassen, für die ihnen als Siegespreis Kanada winkt. Von höchster Wichtigkeit ist, wie ich schon in meinem Schreiben vom 2. d. Mts. Nr. 1 P ausführte, die Insurrektion von Indien und Ägypten, auch im Kaukasus. -- Durch den Vertrag mit der Türkei wird das Auswärtige Amt in der Lage sein, diesen Gedanken zu verwirklichen und den Fanatismus des Islam zu erregen.“ (gez.) v. Moltke.
Wir sehen davon ab, dass Herr v. Moltke dem Reichskanzler sogar zumutete, ohne jeden Beweis, auf das bloße Vorgeben „sicherer Nachrichten“ hin, eine Behauptung gläubig hinzunehmen, wie die, dass „Englands Kriegserklärung von Beginn des Konflikts an beabsichtigt war“. Furchtbarer ist es, dass der Generalstab schon im Anfange des Krieges aus der verzweifelten Lage, in die er Deutschland durch seine eigene Politik gebracht hatte, nicht den Schluss zog, den jeder vernünftige Zivilist gezogen hätte, wenigstens solange, als er nicht selbst vom militärischen Kriegsfieber angesteckt war, dass man trachten müsse, das Reich so rasch als möglich 164
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durch eine Politik der Versöhnlichkeit und des ausgesprochenen Verzichts auf jegliche Eroberung aus dieser gefahrvollen Lage zu befreien, sondern dass er schloss, nun gelte es, jedes Mittel in Anwendung zu bringen, das den Feind schädigen konnte, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, und aufs schonungsloseste vorzugehen. Damit beschritt er jene Bahn wohlüberlegter Scheußlichkeiten, die militärisch nichts halfen, da sie vom Gegner nachgeahmt werden konnten und dann oft mit verstärkter Wucht auf die Armee und das Volk Deutschlands zurückfielen, die aber vor allem das Ansehen Deutschlands in der Welt vollends ruinierten. Hatte ihm der Einfall in Belgien die letzten Freunde geraubt, so verwandelten die sofort gerade in Belgien einsetzenden Scheußlichkeiten der deutschen Kriegsführung den Respekt, den ehemals Deutschlands Leistungen sogar bei seinen Gegnern erzeugt hatten, in wütenden Hass und wegwerfende Verachtung selbst bei den Neutralen, und erzeugten jene Stimmung, die es schließlich ermöglichte, dass nicht nur Amerika in den Krieg eintrat, sondern dass die Sieger am Ende uns Friedensbedingungen von ausschweifender Härte auferlegen durften, ohne ausreichenden Widerstand bei ihren Völkern zu finden. Aus einer selbst herbeigeführten Not geboren, die glaubte, kein Gebot anerkennen zu müssen, hat diese Kriegsführung die deutsche Not auf den Gipfel gesteigert. Noch eines ist an den Ausführungen Moltkes bemerkenswert. Sie spinnen einen Gedanken weiter, der Wilhelm bereits am 30. Juli in seiner ersten Bestürzung über Englands Warnung aufgedämmert war. Schon damals hatte er die Revolutionierung der Mohammedaner und Indiens, wenn nicht zur Rettung Deutschlands, so zur Ruinierung Englands ins Auge gefasst. Moltke fügt hinzu die Insurrektion Polens. Und er hofft die Vereinigten Staaten zu gewinnen, indem er ihnen Kanada in Aussicht stellt! Diese sinnreiche Politik wurde im Kriege immer weiter getrieben. Da die Vereinigten Staaten nicht zu gewinnen waren, stellte man nun Mexiko einige Staaten der Union in Aussicht. Gleichzeitig aber suchte man Rettung bei den Rebellen Irlands, bei Anarchisten Italiens, Dynamitern in Amerika und schließlich bei den Bolschewisten Russlands, die alle nach Kräften vom deutschen Generalstab gefördert wurden. Man sieht, Lenin und Trotzki sind nicht die ersten, die in der durch ihre Emissäre herbeigeführten Weltrevolution die Rettung aus einer unmöglichen Situation sahen. Wilhelm und Moltke waren ihnen damit vorausgegangen. Wie jede Aktion ihrer Weltpolitik vollzogen sie auch diese ohne jegliche tiefere Kenntnis der Welt, die sie beherrschen oder bewegen wollten. Sie 165
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wendeten die ungeeignetsten Mittel an, riefen die ungeeignetsten Faktoren zu Hilfe, ließen sich von unerfüllbarsten Erwartungen leiten. Ein Pröbchen der Art, wie man die mohammedanische Welt zu rebellieren suchte, erzählt Bernhard Shaw in seinen „Peace conference Hints“ (London, 1919, S. 90): „In der ersten Zeit des Krieges wünschte die deutsche Regierung eine Rebellion gegen die Franzosen in Marokko und Algier hervorzurufen und verbreitete zu diesem Zweck eine Flugschrift in bestem Arabisch, in der es hieß, ich (Shaw) sei ein großer Prophet und ich hätte einmal einem amerikanischen Senator gesagt, die Verletzung der belgischen Neutralität sei eine Episode des Krieges und nicht seine Ursache. Es ist mir ganz unmöglich, jenen Weg des deutschen Denkens zu verfolgen, der zu dem Schluss führte, irgend ein maurischer Scheik könnte veranlasst werden, die Waffen zu ergreifen, weil irgend ein Hund von einem Ungläubigen zu einem anderen Hund von einem Ungläubigen eine Bemerkung machte, die für einen Marokkaner weder von Interesse noch überhaupt verständlich sein konnte. Aber die Deutschen waren dieser Meinung und gaben Geld dafür aus.“
Sie verloren dabei leider nicht nur Geld, sondern auch ihren guten Namen, denn sie beschränkten sich nicht darauf, Flugblätter bei den Feinden zu verbreiten, sie benutzten auch den Schutz der Exterritorialität ihrer Vertretungen bei den Neutralen, um Attentate der verschiedensten Art auf Leben und Eigentum der feindlichen Zivilbevölkerung hervorzurufen. Erfolg hatten sie nicht, außer im Osten. Wie die deutsche Politik, mit Deutschland zusammen auch seine Gegner verbluten zu lassen, nur in Russland zu dem angestrebten Ziel gelangte, so erreichte sie auch nur dort ihr Ziel der Revolutionierung der Bevölkerung. Die beiden Ziele hingen eben aufs engste miteinander zusammen, und dem russischen militärischen Zusammenbruch wäre der Sturz des Zarismus gefolgt auch ohne die Förderung des Bolschewismus durch die deutsche Regierung. Die Borniertheit der deutschen Politik zeigte sich hier auch wieder darin, dass sie nicht merkte, wie sie in dem Bestreben, das Haus des Nachbarn anzuzünden, das eigene in Flammen steckte. Sie huldigte dem Aberglauben, den sie allerdings mit vielen Anhängern der Weltrevolution gemein hat, als ließen sich Revolutionen durch geschickte und rührige Emissäre, die über die nötigen Geldmittel verfügten, nach Belieben hervorrufen. Sie fügte dem aber noch den weiteren Aberglauben hinzu, als könne man die Geister, die man rief, nach Belieben kommandieren und, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan, wieder in die Ecke stellen. Es war unglaublich kurzsichtig von einer deutschen kapitalistisch-großagrarischen Militärmonarchie, die den Antimilitarismus und die proletarische
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Revolution hasste wie die Sünde, die schärfsten Verfechter der proletarischen Revolution und der Auflösung der militärischen Subordination zu fördern, wie es die Bolschewiki im Stadium ihres Kampfes um die politische Macht waren. Die russische Revolution und namentlich ihr zweiter Akt, der Sieg des Bolschewismus, hat auf das deutsche Proletariat und auch auf die deutsche Armee den tiefsten Eindruck gemacht und ihre revolutionäre Entschlossenheit gewaltig erhöht. Dass bei den deutschen Generalstäblern ihre frühere Liebe zu den Bolschewisten sich dann in den grimmigsten Hass verwandelte, hat die revolutionäre Rückwirkung des Bolschewismus auf Deutschland nicht vermindert, sondern vielmehr gesteigert. So sind die Machthaber, die den Weltkrieg entzündet haben, schließlich mit ihren eigenen Waffen geschlagen worden. Insofern war die Weltgeschichte wieder einmal das Weltgericht, was ihr nicht oft passiert, denn die Welt ist durchaus nicht teleologisch eingerichtet. Wilhelm hatte den Zusammenbruch bereit am 30. Juli geahnt, ehe von ihm noch der Krieg erklärt war. Wenn die Pompadour das Wort gesprochen haben soll: „Nach uns die Sintflut“, so dürfte man bei Wilhelm das Wort dahin variieren: „Durchhalten bis zur Sintflut“. 21. Der Weltkrieg und das deutsche Volk. Dass die Machthaber Deutschlands, die den Krieg entfesselten, dabei unsäglich leichtfertig, kurzsichtig, kopflos gehandelt haben, darin ist die Welt seit dem Erscheinen der österreichischen Dokumente einig. Bloß über die moralischen Qualitäten der Schuldigen wird noch gestritten. Die Frage darüber ist wichtig für die Beurteilung der Personen, die in Frage kommen, nicht der Institutionen. Wie immer das moralische Urteil ausfallen mag -- es dürfte nach der Kenntnisnahme der deutschen Akten nicht sehr strittig sein -- das politische war schon längst möglich. Es lautete auf Verurteilung der Unterwerfung der Zivilgewalt unter die Militärgewalt und auf Verurteilung der Monarchie. Wir haben schon vorher bei der Behandlung des Falls Szögyeny bemerkt, dass ein Idiot als leitender Staatsmann für das Gemeinwesen gefährlicher ist als ein Schurke. Dass Schurken an die Spitze des Staats kommen, kann keine Verfassung verhindern, mag sie noch so fein ausgetüftelt sein, keine Demokratie, kein Rätesystem, aber auch keine Aristokratie und wäre sie eine von Philosophen nach platonischem Muster. Aber bei jeder Verfassung eines Staates ebenso 167
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wie einer Partei, einer Gemeinde, einer Kirche, einer sonstigen Organisation, deren Leitung nur solchen anvertraut wird, die sich das allgemeine Vertrauen der Beteiligten erworben haben, wird ein Halunke an die Spitze nur gelangen können durch große Dienste, die er dem Gemeinwesen erweist, durch eine überlegene Intelligenz, durch die er imponiert. Dass gelegentlich nicht bloß Hallunken, sondern auch Trottel oder Verrückte den Staat beherrschen, das wird nur möglich in der Erbmonarchie, die die Persönlichkeit des Staatsoberhaupts abhängig macht nicht von den Diensten, die es dem Staat erweist, sondern den Zufälligkeiten des landesväterlichen Ehebetts. Indes vollständig kopflos handelte das Regime nicht, das den Krieg über uns hereinbrachte. So unfähig und unwissend sich die Reichsregierung in ihrer äußeren Politik erwies, so meisterhaft verstand sie in den entscheidenden Tagen im Innern sich das Vertrauen des deutschen Volkes in demselben Maße steigend zu gewinnen, in dem sie das der übrigen Völker verlor. Wir haben gesehen, wie entschieden die deutsche Sozialdemokratie gegen die frivole Herausforderung des Weltkrieges auftrat, die im österreichischen Ultimatum an Serbien lag, und wie Wilhelm Demonstrationen der „Sozi“ für den Frieden übel vermerkte und Gewaltmaßregeln gegen sie in Aussicht stellte. Hätte die deutsche Sozialdemokratie gewusst, dass ihre Regierung von dem österreichischen Ultimatum nicht überrascht wurde, dass sie seine praktische Tendenz, wenn auch vielleicht nicht seinen Wortlaut schon vor seiner Überreichung in Belgrad wohl kannte und dass sie nicht der friedliche Dritte war, der zwischen dem Bundesgenossen und dessen Gegner zu vermitteln suchte, sondern der Mitverschworene Österreichs, dann hätte unsere Partei -- das konnte man bei ihrer damaligen Haltung bestimmt erwarten -sich mit derselben Schärfe gegen die deutsche wie gegen die österreichische Regierung gewendet. Dann musste Wilhelm entweder auf den Krieg verzichten oder ihn damit beginnen, dass er sämtliche Führer der Sozialdemokratie hinter Schloss und Riegel steckte, das heißt, dass er gleichzeitig der Entente und dem deutschen Proletariat den Krieg erklärte. Das herrschende System wäre dann von vornherein verloren, freilich aber das deutsche Volk gerettet gewesen. Diese Gefahr für die Regenten des Reichs erkannte denn auch Bethmann Hollweg von vornherein und sein Bestreben ging viel weniger darauf aus, den Krieg zu verhindern, als eine günstige moralische Basis für ihn im deutschen Volke zu schaffen. Dem galt sein vornehmstes Interesse, sein ganzer Scharfsinn. Und diese Aufgabe ist ihm gelungen. Zu diesem Zwecke durfte das deutsche Volk nichts von alledem erfahren, was sich seit der Tat von Serajewo zwischen Österreich und Deutschland tatsächlich 168
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abgespielt hat. Wohl konnte man es nicht verhindern, dass sich starke Entrüstung gegen das österreichische Vorgehen entwickelte, aber man verstand es, den eigenen Nimbus des Friedensfreundes zu bewahren, dessen Aufgabe nur erschwert wurde durch eine zweite Eigentümlichkeit des „deutschen Gemüts“, die ebenso preiswert war, wie die Friedlichkeit, durch die Treue gegen den Freund, die sich auch dort bewährt, wo er stolpert. Das Ausland freilich war sofort misstrauisch gewesen. Wir haben Proben davon schon bei französischen und englischen Staatsmännern gesehen. Der belgische Baron Beyens schrieb am 26. Juli von Berlin nach Brüssel: „Das Bestehen eines zwischen Berlin und Wien abgekarteten Planes wird in den Augen meiner Kollegen und den eigenen bewiesen durch die Hartnäckigkeit, mit der man sich in der Wilhelmstraße bemüht, zu leugnen, man habe vor dem letzten Donnerstag (dem 23. Juli) von dem Inhalt der österreichischen Note Kenntnis gehabt.“
Indes auch die misstrauischsten Elemente ahnten nicht, wie weit dieser „abgekartete Plan“ ging. Im deutschen Volke selbst war man weniger kritisch. Wohl wurden auch in seinen Reihen Zweifel wach, doch im Allgemeinen glaubten selbst nicht diejenigen, die der Regierung Wilhelm jede Schlechtigkeit zutrauten, sie könnte so unendlich dumm sein, um Österreichs serbischer Schmerzen willen den Weltfrieden und Deutschlands Zukunft aufs Spiel zu setzen. Und während im Auslande das Misstrauen gegen Deutschland durch seine befremdliche Haltung wuchs, erstand im deutschen Volke eine rasch steigende Erregung gegen Russland. Denn die deutsche Regierung wusste ihren Nachrichtenapparat auf das Geschickteste zu handhaben, der in jenen Tagen der beginnenden Absperrung vom Auslande für die Masse des deutschen Volkes die einzige Quelle der Erkenntnis in der äußeren Politik wurde. Wer nur die Nachrichten kannte, der musste steif und fest glauben, Deutschland arbeite fieberhaft daran, den Frieden zu erhalten, es gelinge ihm, auch Österreich dafür zu gewinnen, aber Russland sei entschlossen, die Gelegenheit zu einem Kriege zu benutzen. So stand in den Augen des deutschen Volkes schließlich Russland als der Friedensstörer dar, als der Angreifer, und Frankreich sowie schließlich England als seine verbrecherischen Komplizen. Wie tief sich diese Auffassung eingewurzelt hat, bezeugt die Tatsache, dass am 7. Juli 1915 der König von Bayern den schon zitierten Ausspruch wagen durfte: „Auf die Kriegserklärung Russlands folgte die Frankreichs!“
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Und in unseren Tagen noch haben im Weißbuch vom Juni dieses Jahres die vier „unabhängigen Deutschen“ nach vollzogener Einsicht in die Akten bezeugt, dass der Krieg für Deutschland ein „unvermeidlicher Abwehrkrieg“ gegen Russland war. (S. 44.) Da schien nun jener Moment einzutreten, den die deutsche Sozialdemokratie schon öfters ins Auge gefasst hatte, und für den auch die internationalsten ihrer Mitglieder keinen Zweifel darüber gelassen hatten, dass sie es für unerlässlich hielten, sich gegen Russland zu wenden, und wenn dieses durch Frankreich unterstützt werde, auch gegen dieses. Um das Jahr 1900 erklärte Bebel, wenn es zum Kriege mit Russland käme, dem „Feind aller Kultur und aller Unterdrückten, nicht nur im eigenen Lande, sondern auch dem gefährlichsten Feind von Europa und speziell für uns Deutsche“, dann würde er „die Flinte auf den Buckel nehmen.“ Er zitierte und bekräftigte dieses Wort 1907 auf dem Parteitag in Essen (Protokoll S. 255.) Schon viel früher hatte Friedrich Engels sich zu der Frage geäußert, im Jahre 1891, als der „Champagnerrausch von Kronstadt die Köpfe der französischen Bourgeoisie erhitzt hielt“, die französisch-russische Allianz angebahnt wurde und Frankreich ihm „reif für ziemlich ungemessene Dummheiten im Dienste Russlands“ schien. Damals hielt er es für notwendig, damit im Falle eines Krieges „kein Missverständnis im letzten Moment zwischen die französischen und die deutschen Sozialisten trete, den ersteren klarzumachen, welches nach meiner Überzeugung die notwendige Haltung der letzteren sein würde gegenüber einem solchen Kriege.“ Diesem Zweck diente ein Artikel, den er im „Almanach du parti ouvrier pour 1892“ veröffentlichte. Er ging dort von der Ansicht aus, weder Deutschland noch Frankreich würden den Krieg provozieren, denn er würde beide verwüsten, ohne jeglichen Nutzen. „Russland dagegen, durch seine geografische und ökonomische Lage gedeckt gegen die vernichtenden Folgen einer Niederlage, Russland, das offizielle Russland allein kann bei einem so furchtbaren Kriege sein Interesse finden und direkt darauf hinarbeiten.... Aber in jedem Fall, wie die politischen Dinge heute liegen, ist zehn gegen eins zu wetten, dass beim ersten Kanonenschuss an der Weichsel die französischen Armeen an den Rhein marschieren. Und dann kämpft Deutschland einfach um seine Existenz... Was würde unter solchen Umständen (wenn Deutschland besiegt würde) aus der deutschen sozialdemokratischen Partei? Soviel ist sicher: weder der Zar, noch die französischen Bourgeoisirepublikaner, noch die deutsche Regierung
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selbst würden eine so schöne Gelegenheit vorübergehen lassen zur Erdrückung der einzigen Partei, die für sie alle drei „der Feind“ ist... Wenn aber der Sieg der Russen über Deutschland die Erdrückung des deutschen Sozialismus bedeutet, was wird dann gegenüber einer solchen Aussicht, die Pflicht der deutschen Sozialisten sein? Sollen sie die Ereignisse passiv über sich ergehen lassen, die ihnen Vernichtung drohen?... Keineswegs. Im Interesse der europäischen Revolution sind sie verbunden, alle eroberten Stellungen zu behaupten, nicht zu kapitulieren, ebenso wenig vor dem Äußeren, wie vor dem inneren Feind. Und das können sie nur, indem sie bis aufs äußerste Russland bekämpfen und alle seine Bundesgenossen, wer sie auch seien. Sollte die französische Republik sich in den Dienst Seiner Majestät des Zaren und Selbstherrschers aller Russen stellen, so würden die deutschen Sozialisten sie mit Leidwesen bekämpfen, aber bekämpfen würden wir sie.“ (Deutsch unter dem Titel: „Der Sozialismus in Deutschland“, Neue Zeit, X, 2, S. 585, 586.)
Diese Gedankengänge wirkten noch 1914 in der deutschen Sozialdemokratie nach. Sie gingen von der Anschauung aus, nur von Russland könne der Anstoß zum Kriege kommen, nicht von Deutschland. Noch zehn Jahre nach dem Engelsschen Artikel hatte ich Russland unter den europäischen Friedensstörern genannt, nicht Deutschland. Später hatte ich diese Bemerkung allerdings nicht wiederholt. Seitdem hatten sich auf der einen Seite in Russland die Niederlage im Krieg gegen Japan und die Revolution, und hatte sich auf der andern Seite Deutschlands Flottenrüsten und seine aktive Politik in der mohammedanischen Welt eingestellt. Russland, mit der Revolution im Leibe, war jetzt der Demokratie Europas weniger gefährlich geworden als die noch unerschütterte, übermächtige deutsche Militärmonarchie. Und schon gar nicht konnte man die deutsche sowie die österreichische Regierung, die 1914 ohne Parlament regierte, was damals der Zar nicht mehr zu tun wagte, als Vorkämpfer gegen den zarischen Absolutismus betrachten. Ein revolutionäres Russland wäre ihnen weit gefährlicher erschienen als ein zaristisches, ebenso wie ein freies Serbien ihnen als schlimmster Gegner galt. Bezeichnend in dieser Beziehung sind die Randnoten Wilhelms zu einem Bericht, den Pourtalès aus Petersburg am 25. Juli über eine Besprechung mit Sasonow machte. Pourtalès schreibt: „Mein Hinweis auf das monarchische Prinzip (das durch die Serben verletzt sei, K.) machte auf den Minister wenig Eindruck. Russland wisse, was es dem monarchischen Prinzip schulde.“
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Wozu Wilhelm hinzufügt: „Nach seiner Verbrüderung mit der französischen Sozialrepublik nicht mehr.“
Außer dieser strengen Zensur, die der Deutsche Kaiser dem russischen wegen übermäßiger republikanischer und sogar „sozialrepublikanischer“ Sympathien ausspricht, ist in den Randglossen zu dem Pourtalès’schen Bericht noch eine bemerkenswert, die bezeugt, mit welcher Sorglosigkeit Wilhelm noch am 25. dem Kriege mit Russland entgegensah. Pourtalès meldet: „Sasonow rief aus: Wenn Österreich-Ungarn Serbien verschlingt, werden wir mit ihm Krieg führen.“
Was Wilhelm mit dem Ausruf quittiert: „Na, dann zu!“
Durch die Revolution in Russland und durch Deutschlands Weltpolitik war eine gegen 1891 ganz veränderte Situation geschaffen. Aber die alte Auffassung, der Krieg gegen Russland sei der „heilige Krieg“ der deutschen Sozialdemokratie war in ihr noch stark lebendig, und sie hat im Verein mit der deutschen Nachrichtenfärbung gar manchen guten Sozialisten und Internationalisten bewogen, am 4. August für die Kriegskredite zu stimmen, nicht unter Verleugnung seiner Grundsätze, sondern in dem Glauben, sie dadurch am besten zu bestätigen. Es wäre freilich übertrieben, zu glauben, alle unter den deutschen Sozialdemokraten wären durch solche Erwägungen bestimmt worden. Gar mancher unter ihnen hatte schon vor dem Kriege stark nationalistisch gedacht -nationalistisch im Unterschied zu national. Unter letzterem kann man eine Verfechtung der Selbstbestimmung des eigenen Volkes verstehen, die Respekt hat vor der Selbstbestimmung jedes andern und die das nationale Interesse ebenso wie das private Interesse unterordnet dem Gesamtinteresse des internationalen Proletariats und der Menschheit. Ein Nationalist dagegen ist jener, dem die Interessen der Klassengegner der eigenen Nation mehr am Herzen liegen als die der eigenen Klasse in den anderen Nationen. Solche Elemente gab es in der deutschen Sozialdemokratie schon vor dem Kriege, wie wohl fast in jeder sozialistischen Partei. Der Krieg und schon die beginnende Kriegsstimmung haben mit einem Schlag den Nationalismus mächtig in den sozialistischen Reihen anschwellen lassen -- auch das wieder nicht in Deutschland allein. Der Nationalismus wurde umso stärker, je mehr eine sozialistische Partei Massenpartei, je rascher ihr Anwachsen vor dem Kriege gewesen, je weniger daher die Möglichkeit für sie, ihren Anhang zu schulen. 172
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Nirgends war sie so sprunghaft angewachsen, wie in Deutschland, wo die Zahl der sozialdemokratischen Wähler von 1907--1912 um eine Million zunahm. Wie stark das nationale Denken allenthalben ist, das haben der Krieg und seine Folgen aufs Deutlichste gezeigt. Für die große ungeschulte Masse schlägt es aber leicht ins Nationalistische um, namentlich bei starker Gefährdung des Landes, wenn dieses Denken nicht paralysiert wird durch andere naheliegende und kräftig wirkende Momente, zum Beispiel eine rücksichtslose Politik der Verfolgung der Sozialisten durch ihre Regierung. Wilhelm war zu einer solchen Politik gewillt. Dass dieser Wille nicht zur Tat wurde, ist wohl Bethmann zuzuschreiben. Es dürfte seine einzige Handlung in jener Zeit gewesen sein. Zu alledem kam, dass die Menge der Gedankenlosen und die Rekrutierten sich aus allen Kreisen und nicht zum wenigsten aus denen der Dichter und Denker, dem Kriege zujubelten, weil sie erwarteten, er werde kurz sein und sie den Sieg schon in der Tasche zu haben glaubten, während aus Petersburg bei Ausbruch des Krieges „Katerstimmung“ gemeldet wird und die Franzosen mit düsterem Schweigen und zusammengebissenen Zähnen ins Feld zogen. Über Nacht loderte die Stimmung des deutschen Volkes auf in kriegerischen Enthusiasmus zur Abwehr des Landesfeindes, von dem man sich schnöde überfallen und mit Vernichtung bedroht wähnte. Allen diesen Einflüssen erlag der größte Teil der deutschen Sozialdemokratie und erst recht des übrigen Volkes. Hatte Wilhelm am 28. Juli noch den „Sozis“ mit Verhaftung gedroht, so konnte er am 1. August schon verkünden, dass er keine Parteien mehr kenne, das heißt, dass sie sämtlich vor ihm kapituliert hätten. So ist der Bethmannschen Taktik die große Tat gelungen, das deutsche Volk zum Mitschuldigen an der Kriegspolitik der Regierung zu machen in dem Sinne, dass es ihr zustimmte und sie stützte bis zum militärischen Zusammenbruch. Aber es war nicht die wirkliche Politik Wilhelms und seiner Regierung, für die es enthusiastisch Gut und Blut einsetzte, sondern eine Politik, die tatsächlich gar nicht bestand, die dem deutschen Volke bloß vorgeschwindelt und mit allen Mitteln der Lüge bis zum schmählichen Ende plausibel gemacht wurde. Gerade das geht aus den Akten des Auswärtigen Amtes mit der größten Deutlichkeit hervor. Sie zeigen, dass unter den Völkern, die der wilhelminischen Kriegspolitik als Opfer dargebracht wurden, das deutsche in erster Linie steht. Je mehr sie das wilhelminische Regime belasten, desto mehr 173
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entlasten sie das deutsche Volk, denn sie bezeugen auf das Deutlichste, dass es vom tatsächlichen Verlauf der Dinge, die zum Kriege führten, keine Ahnung hatte, weit weniger, als die anderen Völker, weil jede Möglichkeit der Kritik der Vorgänge und der Aufklärung der Massen durch jene Politiker, die aus einzelnen Anzeichen auf die Wahrheit schlossen, im Deutschen Reiche während des Krieges abgeschnitten war. Haben aber die anderen Regierungen nicht auch über den Kriegsausbruch irreführende Behauptungen aufgestellt? Das ist nicht ausgeschlossen. Nach dem bekannten Worte Bismarcks wird nie so viel gelogen, wie vor einem Kriege, während einer Wahl und nach einer Jagd. Und gerade das zaristische Regime hat nie als Fanatiker der Wahrheit gegolten. Aber die Regierungen der Entente hatten 1914 keinen Grund, die Völker derartig hinters Licht zu führen, wie die der beiden Mittelmächte. Denn weder Frankreich, noch England oder Russland wollten damals den Krieg, den sie fürchteten, und mit Recht, angesichts ihrer inneren Schwierigkeiten und unzureichenden Rüstungen. Außerdem begann die Periode der Kriegsvorbereitungen, die Unwahrheiten und Verschleierungen notwendig machen konnten, für Deutschlands Gegner erst mit dem 24. Juli, als sie von dem österreichischen Ultimatum erfuhren, das zuerst die Kriegsgefahr auftauchen ließ. Für die Mittelmächte begann die Zeit des Verschleierns, Verschweigens, Irreführens schon mit dem 5. Juli. In der Zeit vom 5. bis zum 23. Juli schufen sie völlig ungestört vom Auslande und ohne jeden zwingenden Grund jenes Fundament von Verlogenheit, auf dem die ganze Kriegführung aufgebaut wurde. Man kann dem deutschen Volke keinen größeren Dienst erweisen, als indem man die Lügen aufdeckt, die es irreführten. Es wird dadurch moralisch vor aller Welt in jeder Weise entlastet. Doch die moralische Entlastung bleibt unvollkommen ohne die politische. Irregeführt durch die Staatsmänner der Hohenzollern und der Habsburger, wurde das deutsche Volk zum willigen Werkzeug ihrer Pläne gemacht und dadurch in eine falsche Position versetzt. Die große Mehrheit des deutschen Volkes fühlte sich fast bis zum Ende des Krieges und vielfach noch bis in unsere Tage solidarisch mit denjenigen, die es betrogen und es mit ganz Europa dem Ruin entgegenführten. Es wurde blind für ihre Verbrechen und Vergehen, es deckte sie und verfocht leidenschaftlich ihre Unschuld. So wurde es trotz seiner moralischen Schuldlosigkeit doch belastet mit der politischen Schuld seiner Dynasten und ihrer Handlanger, wurde es zum Objekt des wildesten Hasses und Abscheus der ganzen Welt, der ihm nach 174
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seiner Niederlage die furchtbarsten Friedensbedingungen aufzwang und es wie eine Rasse von Aussätzigen behandelte. Wer das deutsche Volk liebt, nicht nur der nationale Deutsche, sondern auch der internationale Sozialist und Demokrat, dem jede Nation gleich teuer ist, muss danach trachten, es von diesem furchtbaren Banne zu erlösen, es von der grauenvollen Last zu befreien, die ihm das alte Regime aufgebürdet hat. Dieser Prozess der Wiedererhebung des deutschen Volkes in der internationalen Achtung wird immer wieder gehindert, nicht bloß von jenen, die dem gestürzten Regime nach wie vor anhangen oder gar seine wirklichen Mitschuldigen sind, sondern auch von Politikern, die jetzt seine Verderblichkeit erkannt haben, die sich aber trotzdem immer noch nicht entschließen können, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich waren. Sie glauben damit dem deutschen Volke zu dienen, seine eigene Schuldlosigkeit durch die Entschuldigung seiner früheren Herren zu erweisen. Aber sie konservieren dadurch nur den Anschein seiner Schuld, da die seiner ehemaligen Regenten von Tag zu Tag immer offenkundiger wird. Hoffentlich machen die jetzt mitgeteilten deutschen und österreichischen Akten die Fortführung dieser verkehrten Politik ebenso unmöglich, wie sie im Innern eine Wiederkehr der Militärmonarchien der Hohenzollern und Habsburger unmöglich machen müssen. Was einzelne tapfere und klarsehende deutsche Sozialisten und Pazifisten schon während des Krieges erkannten und offen proklamierten, dass das deutsche Volk von seiner Regierung aufs Schmählichste betrogen und belogen worden ist und dass es nur dadurch in den Krieg hineingetrieben werden konnte, das sollte doch endlich einmal rückhaltlos, ohne jegliches Wenn und Aber und beschönigendes Suchen nach Schuldigen im Auslande, von allen ehrlichen Elementen in Deutschland zugestanden werden, die nicht auf die Gottähnlichkeit der Hohenzollern eingeschworen sind. Das wird das beste Mittel sein, das Vertrauen der Völker für Deutschland wieder zu gewinnen und dadurch den Einfluss der militärischen Gewaltpolitik bei den Siegern zurückzudrängen, die jetzt die größte Gefahr für den Frieden und die Freiheit der Welt geworden ist. Nachbemerkung. Die vorliegende Schrift war bereits im Druck, als mir die Ergebnisse der Nachforschungen zu Gesicht kamen, die das Auswärtige Amt im Laufe des 175
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Oktober, veranlasst durch die Herren Montgelas und Schücking, in der Sache der Aufzeichnung Bussches über die Vorgänge vom 5. und 6. Juli in Potsdam vorgenommen hat. Ich konnte sie im Texte nicht mehr berücksichtigen, halte es aber doch für notwendig, hier zu bemerken, dass sie an meiner Auffassung jener Vorgänge nichts ändern. Sie ergeben, dass der Kaiser am 6. Juli morgens den Admiral v. Capelle als Vertreter des von Berlin abwesenden Tirpitz nach Potsdam kommen ließ und ihm „von der gespannten Situation Mitteilung machte, damit er sich das weitere überlegen könne.“ Außerdem ließt Kaiser Wilhelm zur gleichen Zeit nach Potsdam einen Vertreter des Generalstabs kommen. Als solcher erschien der General v. Betrab, der in seiner Zuschrift ans Auswärtige Amt auch heute noch vom Kaiser als „S. M.“ spricht.
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Zeittafel 1877 – 1914 Peter Becker
Vor 1878 gehören Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Bulgarien und Rumänien zum Osmanischen Reich. Die Aufstände gegen die Türken in Bosnien-Herzegowina seit 1875 und in Bulgarien 1876 münden in eine Kriegserklärung der Fürstentümer Serbien und Montenegro gegen die osmanischen Herrscher. Die serbische Armee wird im August 1876 besiegt. Trotz der Konferenz von Konstantinopel 1876 mit Zugeständnissen der osmanischen Herrscher kommt es zunächst zu einem diplomatischen Abkommen zwischen Russland und Österreich-Ungarn im Januar 1877. ÖsterreichUngarn soll in künftigen militärischen Auseinandersetzungen neutral bleiben. Im Gegenzug soll es Bosnien und Herzegowina besetzen dürfen. 1877 wird der Türkei der Krieg erklärt und 1878 von den Russen gewonnen. Die Ergebnisse des russisch-türkischen Friedens von St. Stefano werden aber auf dem Berliner Kongress in erheblichem Maße eingeschränkt, weil sich die anderen europäischen Staaten einschalteten. Serbien wird ein unabhängiger Staat. Juni 1881 Fürst Milan (später König Milan) aus dem Hause Hobrenovic schließt ein Handelsabkommen zwischen Serbien und Österreich-Ungarn ab. 1893 Milans Sohn Alexander stürzt im Alter von 16 Jahren die Regierung. Im Hintergrund zieht König Milan die Fäden. 1903 28 Offiziere der serbischen Armee ermorden das serbische Königspaar. Hintergrund: Eine Verschwörung in der serbischen Armee, die den österreich-freundlichen Kurs von König Alexander missbilligte. Anführer: Der 177
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Offizier im Generalstab Dimitrijević, genannt „Apis“. Die Verschwörung hat über 100 Unterstützer. Das Netzwerk bleibt erhalten. 1906 Frankreich gewährt Serbien einen hohen Kredit für die Beschaffung von Rüstungsgütern. Frankreich wird Serbiens weitaus größter Finanzier. 1907 In Makedonien, formell noch immer unter türkischer Herrschaft und deswegen als „Irredenta“ angesehen, wächst der Separatismus. 18. Oktober 1907 Die Haager Friedenskonferenz 1907 wird mit zahlreichen Abkommen der wichtigsten damaligen Mächte abgeschlossen. Das I. Haager Abkommen betreffend die friedliche Erledigung von internationalen Streitfällen wird auch vom deutschen Kaiser und König von Preußen unterzeichnet. Es heißt u.a. wie folgt: „Von dem festen Willen beseelt, zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens mitzuwirken, entschlossen mit allen ihren Kräften die friedliche Erledigung internationaler Streitigkeiten zu begünstigen […] gewillt die Herrschaft des Rechtes auszubreiten und das Gefühl der internationalen Gerechtigkeit zu stärken, überzeugt dass die dauernde Einrichtung einer allen zugänglichen Schiedsgerichtsbarkeit im Schoße der unabhängigen Mächte wirksam zu diesem Ergebnis beitragen kann […]
Das IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, die sogenannte „Haager Landkriegsordnung“, gilt heute als Völkergewohnheitsrecht. 1908 Österreich-Ungarn annektiert (das seit 1878 besetzte) Bosnien mit seinem etwa 43-prozentigen serbischen Bevölkerungsteil. Das führt in Serbien zur Empörung. 178
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1909 Serbien wird gezwungen, auf Ansprüche auf Bosnien-Herzegowina zu verzichten. 1911 Die Gruppe „Vereinigung oder Tod“ wird gegründet; auch „Schwarze Hand“ genannt. Mitgründer ist wiederum „Apis“, starker Mann der Verschwörung von 1903. Die Vereinigung denkt nationalistisch. Die Identität bosnischer Muslime wird nicht anerkannt. Oktober 1912 Erster Balkan-Krieg: Russland gründet zusammen mit Serbien und Bulgarien den Balkan-Bund. Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro führen Krieg gegen die osmanischen Truppen. Die osmanischen Truppen unterliegen. Sie werden aus Albanien, Makedonien und Thrakien vertrieben. Allerdings zwingt Österreich im Februar 1913 Serbien, auf den Zugang zum Adriatischen Meer zu verzichten, den es sich erstritten hatte. 1913, Juni bis Juli Im zweiten Balkan-Krieg streiten sich die kriegführenden Parteien um die Siegesbeute: Serbien, Griechenland, Montenegro und Rumänien kämpfen gegen Bulgarien erfolgreich um Territorien in Makedonien, Thrakien und der Dobrudscha. Serbien ist der offensichtlichste Nutznießer: Das Königreich verdoppelt seine Fläche, die Bevölkerung wächst um über 1,5 Millionen und der Kosovo wird erworben; Schauplatz der serbischen Volksdichtung. Serbien wird eine starke Regionalmacht. 28. Juni 1914 Drei 19-jährige serbische Nationalisten, geboren in Bosnien-Herzegowina, ermorden den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Das Attentat war allerdings die Folge einer Provokation: Nach der Annektion BosnienHerzegowinas durch Österreich-Ungarn im Jahre 1908 herrschen in dem Land massive anti-österreichische Ressentiments. Gleichwohl beschließt 179
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die k.u.k.-Monarchie Manöver in Bosnien-Herzegowina, die am 28. Juni mit einem triumphalen Einzug des Thronfolgers in Sarajevo vorbereitet werden. Der 28. Juni ist allerdings ein serbischer Nationalfeiertag, der St.-Veits-Tag. An diesem Tag hatten die Serben im Jahr 1389 auf dem Amselfeld im Kosovo eine vernichtende Niederlage gegen die Türken erlitten. Die Wahl ausgerechnet dieses Tages für die Manöver unter Anführung des Thronfolgers musste die Ressentiments verstärken. Eine Verbindung der Verschwörung zur serbischen Regierung, gar deren Unterstützung, kann aber nicht belegt werden. Im Gegenteil: Serbiens Ministerpräsident (Paŝić) versucht, Grenzübertritte von Serbien nach BosnienHerzegowina zu verhindern, die befürchtet worden waren. In seiner Anordnung einer Untersuchung vom 24. Juli heißt es, dass auf keinen Fall ein Konflikt mit Österreich-Ungarn provoziert werden dürfe. Es gibt aber eindeutige Hinweise, dass Paŝić an die serbische Gesandtschaft in Wien ein Telegramm geschickt hat, mit dem vor einem Attentat gewarnt wurde. Der serbische Gesandte soll daraufhin mit dem österreich-ungarischen Finanzminister ein Gespräch geführt haben. Dieser hatte sinngemäß resümiert: „Hoffen wir, dass nichts passiert“ (Clark, 95). 5./6. Juli 1914 „Mission Hoyos“ und der deutsche „Blanko-Scheck“: Am 2. Juli können sich die Regierungen Österreichs und Ungarns noch nicht auf eine gemeinsame Aktion einigen. Aber es wird beschlossen, Legationsrat Hoyos, Kabinettschef und engster Berater von Außenminister Berchtold, als Gesandten nach Berlin zu schicken. Hoyos soll klären, ob es eine deutsche Rückendeckung für ein militärisches Vorgehen gibt. Er erreicht den sogenannten „Blanko-Scheck“, eine Erklärung des Reichskanzlers, abgesichert durch eine Äußerung des Kaisers, dass sich „Kaiser Franz-Josef […] darauf verlassen könne, daß S. M. im Einklang […] und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen werde“.
7. Juli 1914 Kaiser Wilhelm II. tritt eine Nordlandreise an. Sie soll Europa in Sicherheit wiegen. Nach außen hin werden deutsche Bemühungen erklärt, den Kriegsausbruch zu verhindern. Am 12. Juli hat der König von Serbien Geburtstag. 180
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Der Kaiser schickt ein Glückwunschtelegramm. Die Presse wird getäuscht. Auch die österreichische Regierung gibt beruhigende Versicherungen über ihre persönlichen Absichten ab, trotz der Übergabe des Ultimatums. Russland wird Kriegslüsternheit unterstellt. 20.-23. Juli 1914 Der österreichische Außenminister Berchtold schreibt in einem Telegramm vom 25. Juli an den Botschafter in St. Petersburg, dass man sich nach der Entscheidung zu einem ernsten Vorgehen gegen Serbien „natürlich auch der Möglichkeit eines sich aus der serbischen Differenz entwickelten Zusammenstoßes mit Rußland bewußt gewesen“ sei. Russland und Frankreich stimmen sich über das Vorgehen im Falle eines Angriffs Österreichs auf Serbien ab. 23. Juli 1914 Österreichisches Ultimatum an Serbien, das die deutsche Regierung vorab erhält, was nach außen hin aber bestritten wird. Serbien wird mit einer Frist von zwei Tagen aufgefordert zuzulassen, dass Organe der k.u.k.-Regierung bei der Unterdrückung der gegen die Monarchie gerichteten subversiven Bewegung in Serbien mitwirken dürfen, dass Österreich eine gerichtliche Untersuchung gegen die Teilnehmer des Komplottes vom 28. Juni einleiten könne und dass von der österreichischen Regierung bestimmte Untersucher an den Erhebungen teilnehmen könnten. Man ist sich einig, dass diese Note so zu redigieren sei, dass sie von Belgrad abgelehnt werden muss. Es wird sogar schon eine Antwort auf eine Ablehnung Serbiens vorbereitet. Ministerpräsident Paŝić, ein „feinsinniger, faszinierender Mann“ (Clark, 96), erklärte jedoch fristgemäß in einem ausführlichen Schriftstück, dass die serbische Regierung den Forderungen der österreichischen Regierung im Wesentlichen zustimme. Der Kaiser schreibt an Bethmann Hollweg: „[…] bin ich der Überzeugung, dass im großen und ganzen die Wünsche der Donaumonarchie erfüllt sind.“ (Kautsky, 91). Dennoch wurde die vorbereitete Sanktion, der Abbruch der diplomatischen Beziehungen, verkündet, und zwar bevor der österreichische Gesandte die serbische Antwort überhaupt richtig gelesen, geschweige denn geprüft hatte.
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25. Juli 1914 Österreichische Teilmobilmachung von acht Armeekorps 25. Juli 1914 Der Vorstand der deutschen SPD erlässt einen Aufruf, in dem es heißt, dass „die frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung den schärfsten Protest heraus[fordert]. […] Das klassenbewußte Proletariat Deutschlands erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen dies verbrecherische Treiben der Kriegshetzer.“
28. Juli 1914 Kriegserklärung Österreichs-Ungarns an Serbien 29. Juli 1914 Österreichische Kanonenboote beginnen ab 1 Uhr nachts, von der Donau aus Belgrad zu bombardieren. Russland ordnet die Teilmobilmachung an. Zugleich erreicht den Kaiser ein Telegramm des Zaren mit dem folgenden Vorschlag: „Es wäre gut, das österreichisch-serbische Problem der Haager Konferenz zu übermitteln.“ Der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg lehnt ab. 30. Juli 1914 Der Zar versucht, in einem persönlichen Schreiben an Kaiser Wilhelm II. den Krieg noch zu verhindern. Das scheitert. Morgen des 31. Juli 1914 Österreichische und russische Generalmobilmachung 31. Juli 1914 Deutsches Ultimatum an Russland, seine Mobilmachung einzustellen.
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31. Juli 1914 Deutsches Ultimatum an Frankreich, sich neutral zu erklären. 1. August 1914, 1 Uhr mittags Generalmobilmachung und Absendung der Kriegserklärung des Deutschen Reichs an Russland. Gleichwohl telegrafiert der Kaiser noch um 10.45 Uhr abends an den Zaren, ob noch Verhandlungen möglich seien. 1. August 1914, 2 Uhr mittags Der Zar schickt ein Telegramm an den Kaiser, wo es heißt, dass er davon ausgehe, dass die Mobilmachungsmaßnahmen „nicht Krieg bedeuten und dass wir fortfahren werden zu verhandeln zum Heile unserer beiden Länder […]“. Morgen des 2. August 1914 Russland beginnt ohne Kriegserklärung mit kriegerischen Maßnahmen. 2. August 1914 Deutsches Ultimatum an Belgien, dem Deutschen Reich Durchmarschrechte zu gewähren. 3. August 1914 Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Frankreich 3. August 1914 Einmarsch deutscher Truppen in das neutrale Belgien. Dagegen protestiert der deutsche Diplomat und Historiker Graf Montgelas; im Jahr 1919 Mitglied der „Friedensdelegation“.
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3. August 1914 Der Reichskanzler legt dem Reichstag eine Denkschrift vor, wo fälschlich behauptet wird, dass russische Truppen am Nachmittag des 1. August die Grenzen überschritten hätten: „Hiermit hat Russland den Krieg gegen uns begonnen.“ Kautsky schreibt: „In Wirklichkeit war es anders. Deutschland hat den Krieg gegen Russland begonnen. Die Darstellung des Kriegsbeginns durch die deutsche Regierung stellt die Dinge auf den Kopf.“: Die Kriegsschuldlüge. 4. August 1914 Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich; Reaktion auf den Einmarsch in Belgien. 4. August 1914 Kaiser Wilhelm II. erklärt vor dem Reichstag in einer Thronrede: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! Zum Zeichen dessen, daß Sie fest entschlossen sind, ohne Parteienunterschied, ohne Standesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch Dick und Dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.“
Das Parlament stimmt fast geschlossen für die zur Kriegsführung benötigten Kriegskredite. Auch viele Sozialdemokraten stimmen dafür, folgend der Auffassung, der Krieg gegen Russland sei der „Heilige Krieg“ der deutschen Sozialdemokratie. Auch die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands unterstützt diese Politik und verzichtet auf Lohnforderungen und Streiks. Der Reichstag beschließt, auf Neuwahlen nach Ablauf der Legislaturperiode und auf mögliche Nachwahlen zu verzichten. Es bildet sich eine kriegskritische Abgeordnetengruppe, die im April 1917 die USPD gründet. Zu ihr gehören Kautsky und Eduard Bernstein. 8. August 1914 Kriegserklärung Großbritanniens an Österreich-Ungarn
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1914 – 1918 Erster Weltkrieg, der durch den Eintritt der USA, die sich bei Kriegsbeginn für neutral erklärt hatten, entschieden wird. Die USA unterstützen jedoch die Entente durch umfangreiche Wirtschafts- und Rüstungshilfe. 1915 versenkt ein deutsches U-Boot den englischen Passagierdampfer „Lusitania“. Unter den fast 1.200 Opfern sind auch 139 amerikanische Staatsbürger. Ende Februar 1916 beginnt der „verschärfte deutsche U-Boot-Krieg“. Danach kommt es zum massiven Kriegseintritt der USA. Rund zwei Millionen USSoldaten kämpfen im Sommer 1918 an der Westfront gegen erschöpfte deutsche Truppen. Am 11. November 1918 wird im „Wagen von Compiègne“ die Kapitulation erklärt. Der Krieg fordert 17 Millionen Tote, darunter erstmals Opfer von Giftgas, konzipiert von dem deutschen Chemiker Fritz Haber, der 1919 den Nobelpreis für Chemie erhielt. 9. November 1918 Reichskanzler Max von Baden verkündet eigenmächtig die Abdankung Kaiser Wilhelms II. Er ernennt den Sozialdemokraten Friedrich Ebert als Führer der stärksten Reichstagsfraktion zu seinem Nachfolger. Die SPD verhandelt mit der USPD über die Bildung einer rein sozialistischen Reichsregierung. Am 10. November konstituiert sich der Rat der Volksbeauftragten, dem neben Ebert Philipp Scheidemann und Otto Landsberg von der SPD auch Hugo Haase, Emil Barth und Wilhelm Dittmann von der USPD angehören. Nach den Wahlen zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 löst die neue Exekutive unter Reichspräsident Ebert und Ministerpräsident Scheidemann den Rat der Volksbeauftragten ab. November 1918 Die Volksbeauftragten ersuchen Karl Kautsky, als Beigeordneter Staatssekretär im Auswärtigen Amt das Archiv des Auswärtigen Amts zu sichern und eine Untersuchung über den Kriegsausbruch herauszugeben. Nachdem jedoch im Dezember Haase, Barth und Dittmann von der USPD, der auch Kautsky angehörte, aus dem Rat ausgeschieden waren, verzichtete auch Kautsky auf seine Stellung als Beigeordneter Staatssekretär. Er wurde jedoch vom Reichspräsidenten Ebert unter dem 4. Januar 1919 aufgefordert, seine Tätigkeit fortzusetzen. Sie wurde am 26. März abgeschlossen und war nach Ansicht Kautskys druckreif. Die vierbändige Dokumentensammlung 185
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erscheint erst im Herbst des Jahres 1919. Kautsky entschließt sich zu einer zusammenfassendene Würdigung der Akten, seinem Buch Wie der Weltkrieg entstand. Obwohl die Arbeit wegen ihrer genauen Sichtung und Bewertung der Originaldokumente des Auswärtigen Amtes von größter Wichtigkeit ist, wird sie in keiner der großen Publikationen zitiert; nicht bei Fritz Fischer, nicht bei Christopher Clark, nicht bei Herfried Münkler oder James Joll. Clark zitiert allerdings die vierbändige Dokumentensammlung, die, nach der ersten Veröffentlichung 1919, im Jahr 1927 wieder erschienen ist. 3. Februar 1919 An diesem Tag gründen Max Weber und der Prinz Max von Baden in Webers Haus die Arbeitsgemeinschaft für eine Politik des Rechts, kurz Heidelberger Vereinigung genannt. Graf Montgelas wird der Sekretär. Der erste öffentliche Aufruf der Arbeitsgemeinschaft spricht von einer „gemeinsamen Schuld aller kriegführenden Großmächte Europas“. Dadurch wächst ihnen eine zentrale Rolle für die Auseinandersetzungen um die deutsche Kriegsschuldfrage zu. Hans Delbrück, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, Graf Montgelas und Max Weber werden in die sogenannte Vierer-Kommission innerhalb der deutschen Delegation bei den Friedensverhandlungen von Versailles berufen. Am 27. Mai 1919 legen sie eine gemeinsame Denkschrift, das „Professoren-Memorandum“ (Bemerkung zum Bericht der Kommission der alliierten und assoziierten Regierungen über die Verantwortlichkeit der Ursachen des Kriegs), vor, in dem sie sich nachträglich gegen die, von den Siegermächten des Weltkriegs aufgestellte, These von der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Kriegs 1914 wenden. 28. Juni 1919 Bei der Pariser Friedenskonferenz wird im Schloss von Versailles von den Mächten der Triple Entente und ihren Verbündeten der Friedensvertrag festgelegt. Er konstatiert die alleinige Verantwortung des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten für den Ausbruch des Weltkriegs und verpflichtet es zu Gebietsabtretungen, Abrüstung und Reparationszahlungen. Nach ultimativer Aufforderung unterzeichnen die Deutschen unter Protest am 28. Juni 1919 den Vertrag. Er tritt am 10. Januar 1920 in Kraft. Jedoch wird er wegen seiner harten Bedingungen und der Art seines Zustandekommens von der
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Mehrheit der Deutschen als illegitim und demütigend empfunden. Insbesondere enthält er in Artikel 231 eine Kriegsschulderklärung: „Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges […] erlitten haben.“
Damit wurde allein dem kaiserlichen Deutschen Reich und seinen Verbündeten die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg zugeschoben. Max Weber prangert in seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ das Kriegsschuldbekenntnis als Beispiel für in der Politik schädliche Gesinnungsethik an. Juni 1919 Die Regierung schiebt die Herausgabe von Kautskys Dokumentensammlung hinaus und veröffentlicht statt der Dokumente einen Bericht über den Kriegsausbruch, der keinen Bruch mit der Politik des gestürzten Regimes erkennen lässt, das Weißbuch vom Juni 1919. Graf Montgelas und der Völkerrechtler Prof. Schücking werden im September beauftragt, die Arbeit Kautskys und seiner Koautoren nachzukontrollieren. 31. Juli 1919 Mit 262 Ja- zu 75 Nein-Stimmen wird die „Weimarer Verfassung“ von der Nationalversammlung und gegen die Stimmen von USPD, DNVP und DVP verabschiedet. 21. August 1919 Die Nationalversammlung beschließt die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Fragen des Kriegsausbruchs, der Kriegsführung, verpasster Friedensmöglichkeiten und der Ursachen des Zusammenbruchs erforschen sollte. Zu den Sachverständigen gehörten Eduard Bernstein, der Jurist und Publizist Hans Wehberg, Mitherausgeber der „Friedens-Warte“, sowie der dezidiert demokratisch gesinnte, dem Pazifismus nahestehende Freiburger Jurist Hermann Kantorowicz.
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November 1919 Kautsky veröffentlicht sein Buch. Man muss aber vermuten, dass es sofort in den Schubladen verschwand, weil es die deutsche Kriegsschuld bestätigt. November 1919 Graf Montgelas und Prof. Schücking veröffentlichen „nach gemeinsamer Durchsicht mit Karl Kautsky“ seine vierbändige Dokumentensammlung. November 1919 Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg stellen sich hinter die „Dolchstoß-Legende“: Die Kriegsniederlage des deutschen Militärs hatte ihre Ursache in der Agitation bestimmter Kräfte gegen den Krieg. In der Folge hätten immer mehr Deutsche nicht mehr daran geglaubt, dass der Krieg zur Verteidigung deutscher Interessen geführt würde. 6. Juni 1920 Bei den Reichstagswahlen verlieren die Parteien der „Weimarer Koalition“ ihre Mehrheit, vor allem SPD und die DDP erleiden deutliche Einbußen, während die Flügelparteien USPD, DVP und DNVP starke Gewinne verbuchen. 4. August 1920 Der Reichstag verkündet das Amnestiegesetz. Den Teilnehmern des KappPutsches sowie den an den Märzaufständen Beteiligten wird Straffreiheit zugesichert. Die Kampagne gegen das „Schanddiktat“ von Versailles nimmt immer mehr zu. Fazit In dieser Stimmung ging Kautskys Buch mit dem Nachweis der deutschen und österreichischen Kriegsschuld einfach unter. Erst mit den Forschungen des Hamburger Historikers Fritz Fischer mit seinem 1961 erschienenen 188
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Buch „Griff nach der Weltmacht“ wurde die Kriegsschuldfrage in Deutschland erneut – im Sinne Kautskys – aufgegriffen und beantwortet. Der durch das Buch entbrannte „Historikerstreit“ gilt als wichtigste geschichtswissenschaftliche Debatte in der Bundesrepublik Deutschland. Die Debatte ist aber bis heute nicht beendet. Christopher Clark kommt in seinem Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (2013) zu dem abschließenden Ergebnis, dass die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, „die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur“ war: „So gesehen waren die Protagonisten von 1914 Schlafwandler – wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten.“
Ist das aber das richtige Fazit? Kautskys Buch und seine Dokumentensammlungen belegen, dass die angeblichen „Schlafwandler“ genau wussten, dass sie die Völker in einen Weltkrieg stürzten. Die Staatsmänner waren vielmehr Verdrängungskünstler, auch wenn einige von ihnen den Krieg bis zuletzt zu verhindern suchten. Selbst dem Kaiser und dem Zaren kamen Skrupel ob ihres Verhaltens. Nein: Das richtige Fazit ist,den Staatsmännern die Entscheidung über Krieg und Frieden aus der Hand zu nehmen und den Souverän entscheiden zu lassen, das Parlament.
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Die handelnden Personen in der „Juli-Krise“ 1914 Peter Becker
Übersicht Leopold Graf Berchtold Von 1906 bis 1911 österreichischer Botschafter in Sankt Petersburg, ab 1912 österreichischer Minister des Äußeren. Vertreter einer anti-serbischen Politik. Er initiierte – um Serbien vom Mittelmeer fernzuhalten – die Gründung von Albanien. Er formuliert und vertritt am 23. Juli 1914 das Ultimatum an Serbien, das den Ersten Weltkrieg einleitet. Theobald von Bethmann Hollweg Reichskanzler von 1909 – 1917. Tritt für einen Ausgleich zwischen Sozialdemokratie und Konservatismus ein. Verficht nach außen hin den deutschen Friedenswillen, setzt aber dem österreichischen Ultimatum gegen Serbien nichts entgegen, nachdem er zuvor Österreich einen „Blanko-Scheck“ ausgestellt hatte. Sir Edward Grey Britischer Außenminister 1905 – 1916. Verficht die Abkehr von der splendid isolation und initiiert die Entente Cordiale mit Frankreich von 1904. Der Ausgleich mit Russland von 1907 führte zur britisch-französisch-russischen Triple Entente zum Zweck der Eindämmung des Deutschen Reiches. Arrangiert während der Balkan-Krise als Vorsitzender der Londoner Außenminister-Konferenz 1913 einen vorläufigen Frieden. Greys Versuche, die in der Juli-Krise 1914 aufgetretenen Spannungen diplomatisch beizulegen, scheitern.
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Alexander Graf von Hoyos Österreichischer Diplomat. Reist am 5. und 6. Juli 1914 zu Beginn der JuliKrise nach Berlin und erreicht mit dem sogenannten „Blanko-Scheck“ die Unterstützung des Deutschen Reiches für eine militärische Intervention Österreich-Ungarns gegen Serbien. Gottlieb von Jagow Deutscher Diplomat. Seit Januar 1913 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Vorsichtiger Berater von Kaiser Wilhelm II. Warnt schon vor Ausbruch des Weltkriegs vor einem möglichen Kriegseintritt von Großbritannien auf Seiten Frankreichs. Nimmt aber in der Juli-Krise 1914 eine zwiespältige Rolle ein und unterstützt Reichskanzler Bethmann Hollweg, der ein deutsches Eintreten in den Krieg auf Seiten Österreich-Ungarns gegen Serbien befürwortet, obwohl das zu einem Kriegseintritt Russlands an der Seite Serbiens führen könnte. Karl Kraus Veröffentlicht die Depesche von Szögyény-Marich, österreichischer Botschafter in Berlin, an den österreichischen Außenminister Berchtold vom 25. Juli mit der Forderung zum sofortigen Losschlagen in seinem Buch „Weltgericht“ mit Kriegsaufsätzen, Band I und II, im Jahr 1919, ein „Whistleblower“. Karl Max Fürst von Lichnowsky Deutscher Diplomat, von 1912 – 1914 deutscher Botschafter in Großbritannien. Warnt davor, dass Großbritannien an der Seite Russlands in den Krieg eintreten könnte. Sein berühmtes Telegramm vom 28. Juli 1914 endet mit dem Satz, dass sich die deutsche „Haltung einzig und allein von der Notwendigkeit leiten [lassen solle], dem deutschen Volk einen Kampf zu ersparen, bei dem es nichts zu gewinnen und alles zu verlieren hat“. Seine Denkschrift Meine Londoner Mission 1912-1914 wird 1918 gegen seinen Willen veröffentlicht und sogar ins Englische übersetzt. Er verliert seinen Sitz im Preußischen Herrenhaus. Seine Denkschrift ist ein wichtiges Dokument zur Beurteilung der Kriegsschuldfrage.
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Maurice Paléologue Französischer Botschafter in St. Petersburg 1914 – 1918. Veröffentlicht 1922 seine Tagebücher über den Kriegsausbruch Nikola Paŝić Lange Zeit Regierungschef von Serbien und des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. War von 1904 – 1918 mit drei kürzeren Unterbrechungen serbischer Premierminister. Führt Serbien erfolgreich durch zwei Balkankriege und durch den Ersten Weltkrieg. Umstritten ist, ob Paŝić die Attentatspläne kannte und ob die Regierung gar die Verschwörer unterstützt hat. Jedenfalls ordnet Paŝić am 24. Juni eine Überprüfung der Grenzwachen zu Bosnien-Herzegowina an und schreibt in einem streng geheimen Brief an den Kriegsminister, „Offiziere“ gingen einer Tätigkeit nach, die nicht nur gefährlich, sondern gar verräterisch sei, „weil sie die Heraufbeschwörung eines Konflikts zwischen Serbien und Österreich-Ungarn zum Ziele habe […].Die Lebensinteressen Serbiens mache es ihm zur Verpflichtung, sich vor allem zu hüten, das einem bewaffneten Konflikt mit Österreich-Ungarn zu einer Zeit provozieren könnte, in der wir einen Frieden brauchen, um uns zu erholen und auf die uns bevorstehenden Ereignisse vorzubereiten.“ (Clark, 92).
Christopher Clark nennt (94) „eindeutige Hinweise“, dass sogar eine Warnung vor einem Attentat an die österreichische Regierung gegangen sei. Graf Albert Pourtales Deutscher Botschafter in St. Petersburg.Veröffentlicht „mit Genehmigung des Auswärtigen Amtes“ 1919 ein Buch über seine Verhandlungen in der Juli-Krise. Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen Als Wilhelm II. letzter deutscher Kaiser. Spielt in der Juli-Krise 1914 eine ambivalente Rolle. Versichert in seinem Briefwechsel mit dem russischen Zaren seinen Friedenswillen, drängt aber andererseits zum Losschlagen. Ermächtigt Bethmann Hollweg nach dem Attentat von Sarajevo zur Erteilung
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der „Blanko-Vollmacht“ für die Kriegserklärung. Überlässt danach die Außenpolitik dem deutschen Generalstab. Gavrilo Princip Einer von drei 19-jährigen Attentätern, die den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Ehefrau in Sarajevo am 28. Juni 1914 ermorden. Die Manöver im Beisein Franz Ferdinands sind freilich eine Provokation: Sie finden nämlich im wenige Jahre vorher annektierten Bosnien-Herzegowina statt. Der triumphale Einzug in Sarajevo sollte am 28. Juni stattfinden, dem St.-Veits-Tag, einem nationalen Trauertag für die Serben. An diesem Tage hatten sie im Jahre 1389 auf dem Amselfeld im Kosovo eine furchtbare Niederlage gegen die Türken erlitten. Dazu kam unverständlicher Leichtsinn: Es findet nämlich ein erstes Attentat statt, das aber misslingt. Gleichwohl lässt man den Thronfolger mit seiner Frau nochmals durch die Straßen fahren. Der zweite Anschlag hat Erfolg. Belege für ein Zusammenwirken der Attentäter und der serbischen Regierung gibt es nicht. Kurt Riezler Engster Vertrauter von Reichskanzler Bethmann Hollweg. Schreibt am 8. Juli: „Eine Aktion gegen Serbien könnte zum Weltkrieg führen. Der Kanzler erwartet von einem Krieg, wie er auch ausgeht, eine Umwälzung alles Bestehenden […]. Kommt der Krieg aus dem Osten, so daß wir also für Österreich-Ungarn und nicht Österreich-Ungarn für uns zu Felde zieht, so haben wir Aussicht, ihn zu gewinnen. Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das gestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente über diese Aktion auseinander zu manövrieren.“
Nikolaj Alexandrowitsch Romanow Als Nikolaus II. von 1894 – 1917 letzter Zar Russlands. Stand trotz des Beistandspakts mit Serbien einem Krieg gegen Österreich und das Deutsche Reich ablehnend gegenüber. Er wusste, dass ein Krieg das Ende der alten Ordnung in Europa bedeuten könnte. Dennoch gibt er am 29. Juli 1914 – Österreich bombardiert bereits einen Tag nach der Kriegserklärung von der Donau aus Belgrad – den Befehl zur Teilmobilmachung. Aber er richtet an
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diesem Tag ein Telegramm an den deutschen Kaiser und bittet „inständig“ um Hilfe: „Ein unwürdiger Krieg [handschriftliche Anmerkung des deutschen Kaisers:!! W.] ist an ein schwaches Land erklärt worden. Die Entrüstung darüber, die ich völlig teile, ist in Russland ungeheuer. Ich sehe voraus, dass nur bald der über mich gebrachte Druck mich überwältigen wird, und ich gezwungen sein werde, weitgehende Maßregeln zu treffen, die zum Krieg führen werden. Um zu versuchen, ein solches Unheil, wie ein Europäischer Krieg, abzuwenden, bitte ich Dich im Namen unserer alten Freundschaft, zu tun, was Du kannst, um Deinen Bundesgenossen zu hindern, zu weit zu gehen [Anmerkung des Kaisers: Worin besteht das? W.] [Unterschrift:] Niky“.
Ladislaus Freiherr von Szögyény-Marich Österreichischer Botschafter in Berlin. Ist 1914 bereits 73 Jahre alt, was ihm den Vorwurf der Senilität einträgt. Schreibt am 12. Juli 1914 an den österreichischen Außenminister Berchtold, dass das Deutsche Reich Österreich seiner vollkommenen Bundestreue und Mithilfe versichert. Bezweifelt, dass Russland Serbien bei einem österreichischen Angriff unterstützen würde, weil das Zarenreich „zur Zeit noch lange nicht militärisch fertig“ sei. István Graf Tisza Von 1903 – 1905 und 1913 – 1917 ungarischer Ministerpräsident und führender k.u.k.-Politiker. Steht der österreichischen Kriegspolitik kritisch gegenüber, weil er die möglichen Gefahren realistisch sieht. Heinrich von Tschirschky Deutscher Diplomat. Seit 1907 deutscher Botschafter in Wien. Diskutiert am 13.12.1913 mit Vertretern des Dreierbundes (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Italien) einen Krieg gegen Frankreich und Russland. In der Juli-Krise drängt Tschirschky den österreichischen Außenminister am 8. Juli zu einer Aktion gegen Serbien.
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Weichenstellungen für einen Krieg* Heinz Loquai
Übersicht Aufarbeitung!? I. Die Revitalisierung des Krieges als Mittel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik Eine „Wende“ Ein „Keine-Alternative-Konzept“ deutscher Außenpolitik Die neue NATO-Strategie und der Umbau der Bundeswehr Beschädigung der internationalen Rechtsordnung II. Zur Methodik – Quellen, Informationen, Terminologie Das Informationsaufkommen aus dem Bereich der OSZE Berichte der deutschen Botschaft in Belgrad Weitere Informationsquellen Das Lagebild für die Bundesregierung Das Problem der amtlichen Quellen Informationsbasis für die Studie Zur Terminologie III. Ausgewählte Gesamtdarstellungen zum Kosovo-Konflikt Die OSZE-Publikation „Kosovo/Kosova. As Seen, As Told“ Der Bericht der „Unabhängigen Internationalen Kosovo-Kommission“ Bericht von Human Rights Watch „Under Orders” IV. Erste Stationen eines Bürgerkrieges V. Kosovo als erstes operatives Tätigkeitsfeld der KSZE/OSZE VI. Die „Oktober-Abkommen“ – eine tragfähige politische Plattform für eine friedliche Lösung des Konflikts? Orchestrierte politische Interventionen durch internationale Sicherheitsorganisationen Die NATO auf dem Weg zu einem Krieg gegen Jugoslawien Krisendiplomatie Das „Deutsche Problem“ Das Holbrooke-Milosevic-Abkommen Folgeaktivitäten und –abkommen Bewertung der „Oktober-Abkommen“ VII. Die Aufbauphase der Kosovo-Verifikations-Mission (KVM) Die USA setzen Akzente für die Leitung der Mission Prinzipien der Aufbauorganisation der KVM
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* Wir danken Heinz Loquai für die Genehmigung des unveränderten Wiederabdrucks seiner Texte. Die Auswahl der Textstellen wurde von Peter Becker übernommen.
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Heinz Loquai Die Stationierung der OSZE-Mission in Kosovo Exempel „Sicherheit und medizinische Versorgung“ Materielle und personelle Schutzvorkehrungen Medizinische Versorgung Eine Schutztruppe Fazit: Mangelhafte Unterstützung durch die meisten Teilnehmerstaaten der OSZE Anfangserfolge der OSZE-Mission: Konkrete Vertrauensbildung und Verbesserung der humanitären Lage Verifikation: Erste Waffeninspektionen Eine Zeit des Waffenstillstands? Eskalation und De-Eskalation: Die KVM in der Bewährung Die OSZE-Mission aus der Sicht der beiden Konfliktparteien Der Stand des Aufbaus der KVM zum Jahreswechsel 1998/1999 Chancen und Risiken unter einem neuen OSZE-Vorsitzenden VII Das „Massaker von Racak“ – eine entscheidende Weichenstellung zum Krieg gegen Jugoslawien Zur Vorgeschichte von „Racak“ 8. Januar 1999 10. Januar 1999 12. Januar 1999 15. Januar 1999 Darstellung des“ Massakers von Racak“ durch die OSZE Äußerungen von serbisch-jugoslawischer Seite Ergebnisse gerichtsmedizinischer Untersuchungen Zur Berichterstattung in Medien Massaker und Manipulation? Der Kurs des internationalen Krisenmanagements nach „Racak“ Die Diskussion um den Einsatz von NATO-Bodentruppen
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Aufarbeitung!? „Zum zweiten Jahrestag des Kosovo-Krieges – Mehr Probleme als Lösungen, mehr Fragen als Antworten“, dies war die Überschrift eines „Offenen Briefes“ an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages im März 2001. Absender waren der Leiter des auch international renommierten Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Professor Dr. Dr. Dieter S. Lutz, und sein Stellvertreter Dr. Reinhard Mutz.2 Die Adressaten, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, reagierten recht unterschiedlich. Die Marschrichtung des Parlaments versuchte der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Peter Struck, vorzugeben. In einem Schreiben an die anderen Fraktionsvorsitzenden ver2 Der Offene Brief ist in der Frankfurter Rundschau vom 24.3.2001 abgedruckt.
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trat er die Auffassung, der „Offene Brief' enthalte „schwerste Beschuldigungen gegen die Bundesregierung und gegen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, bis hin zu kaum erträglichen Verleumdungen“.3 Seinem Schreiben legte er das von seinem „Kollegen Gernot Erler verfasste Erwiderungsschreiben zur Information“ bei.4 Die Diskussion um die „Aufarbeitung“ des Kosovo-Konflikts verebbte allerdings ziemlich schnell. Schon zum ersten Jahrestag des Krieges gegen Jugoslawien war das „eigentümliche Phlegma“ aufgefallen, „mit dem die Bilanz der Fehlschläge, Irreführungen und diplomatischen Versäumnisse zur Kenntnis genommen wird“.5 Der 3. Jahrestag des Kriegsbeginns war in den Medien schon nicht mehr präsent. Politik und Medien schienen kein Interesse daran zu haben, die fragwürdige Rolle, die sie in diesem Konflikt gespielt hatten, zu thematisieren und zu diskutieren.6 Der 11. September 2001 hat schließlich die politische Diskussion über den Kosovo-Konflikt nahezu vollständig verdrängt. Daran änderte auch das kurzzeitig aufflackernde Medieninteresse zu Beginn des Prozesses gegen den jugoslawischen Ex-Präsidenten Milosevic nichts. Die Argumente für ein gründliches und umfassendes Aufarbeiten dieses Konflikts haben jedoch gerade mit Blick auf die Folgen des 11. September an Gewicht gewonnen. Zumindest in und für Deutschland vollzog sich eine entscheidende Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht erst mit der Teilnahme am Kampf gegen den weltweiten Terrorismus. Die politische Zäsur war der erste Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach 1945, die Teilnahme der Bundeswehr am NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien im Jahre 1999.7 Der Weg in diesen Krieg, die Eskalation des Kosovo-Konflikts von
3 Archiv Loquai. 4 Auszugsweise Wiedergabe des Briefes des Abgeordneten Gemot Erler in der Frankfurter Rundschau vom 12./13.4.2001. 5 Jens Jessen, Geistige Kollateralschäden, in: Die Zeit vom 6.4.2000, S. 41. 6 Die Medien hatten „eine praktische Akzeptanz oder doch passive Hinnahme des Krieges organisiert... Der Krieg wurde als unvermeidbar skizziert.“ Die deutsche Bevölkerung hat dies hingenommen. (Margarete Jäger/Siegfried Jäger, Der Beitrag der Medien zur Akzeptanz des Krieges, in: Dieselben (Hrsg.), Medien im Krieg, Duisburg 2002, S. 290). 7 Hierzu Winfried Nachtwei, MdB, Bündnis 90/Die Grünen: „Bis heute ist der Tabubruch der ersten bundesdeutschen Kriegsbeteiligung umstritten. Eine öffentliche selbstkritische Aufarbeitung des Kosovo-Konflikts, seiner Wirkungen, Kosten und Opfer wurde wohl von einzelnen Koalitionspolitikern gefordert und betrieben, von
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einem Bürgerkrieg in einen internationalen Krieg mit weitergehendem Eskalationspotential, sollten eigentlich Stoff und Gründe genug für eine umfassende und kritische „Aufarbeitung“ liefern. Die politischen und militärischen Entwicklungen vom Herbst 1998 bis März 1999 bieten ein weites Feld für eine Analyse der Möglichkeiten und Grenzen friedlicher Konfliktlösungen im internationalen Kontext. Es erheben sich damit Fragen, wie z.B.: Gab es Chancen für eine nichtmilitärische Lösung des Konflikts? Woran sind eventuell mögliche nichtmilitärische Lösungen gescheitert? Welche Rolle haben nationale politische Interessen und internationale Organisationen gespielt? Aussagekräftige und seriöse Antworten auf derartige Fragen kann es nur geben, wenn es gelingt, objektiv und präzise zu beschreiben, was wirklich geschah. Die Unterschiede in den politischen Beurteilungen des KosovoKonflikts liegen ja schon in den Differenzen der jeweiligen „Fakten“ begründet. Diese Diskrepanz ist auf den ersten Blick erstaunlich. Denn der Kosovo-Konflikt stand während seiner dramatischen Zuspitzung unter so umfangreicher Kontrolle und internationaler Beobachtung, wie dies bei keinem anderen innerstaatlichen Konflikt jemals der Fall war. Informationen sind demnach genügend vorhanden. Allerdings haben diese Informationen unterschiedliche Qualität und nur ein Teil ist allgemein verfügbar. Damit sind auch einer umfassenden „Aufarbeitung“ Grenzen gesetzt. Diese Studie ist keine bloße Neuauflage meiner früheren Veröffentlichung.8 Sie geht vor allem tiefer in der Analyse und verarbeitet Quellen, die erst später verfügbar wurden. Außerdem wird im Dokumentenanhang der Inhalt einiger Dokumente präsentiert. Der Leser kann sich so ein eigenes Urteil über empirische Grundlagen dieser Studie bilden. Der Umfang der Studie ist schon von der Thematik her bewusst begrenzt. Sie könnte ein erster Schritt in einer möglichen Folge weiterer „Aufarbeitungen“ sein. Dieser Schritt konzentriert sich auf die Rolle der OSZE im Kosovo-Konflikt, insbesondere während der Phase der Eskalation zu einem internationalen Krieg in der Zeit von Mitte Oktober 1998 bis Ende März
der eigenen Regierung aber weitgehend gemieden. Nichtsdestoweniger wurden entscheidende Konsequenzen aus dem gezogen, was für uns kein Präzedenzfall, sondern abschreckendes Beispiel war.“ (Winfried Nachtwei, Kurs halten unter schweren Bedingungen: Bilanz und Perspektiven grüner Sicherheits- und Friedenspolitik, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 2/2002, S. 78). 8 Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg, BadenBaden 2000.
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1999. Während dieser Zeit war die OSZE einerseits Forum für politische Konsultationen und Entscheidungen im Konzert des internationalen Konflikt- und Krisenmanagements. Zum anderen hatte sie die Verantwortung für die operative Führung einer Mission, die schon allein aufgrund ihrer Größe eine qualitativ neue Aufgabe für die OSZE war. Keiner anderen internationalen Organisation oblag eine solche Doppelfunktion. Keine andere Organisation war mit so viel Personal so nahe am Konfliktgeschehen wie die OSZE. Für die OSZE, die jüngste der Sicherheitsorganisationen, im Schatten der Vereinten Nationen und der NATO stehend, war diese Aufgabe eine einmalige Chance, allerdings mit dem Risiko des Scheiterns verbunden. Diese Bewährungsprobe entschied nicht nur über die Position der OSZE in der Hierarchie internationaler Organisationen, vielmehr konnte das gesamte – bis dahin einigermaßen ausbalancierte – Gefüge internationaler Sicherheitsorganisationen in Bewegung geraten. Das letztendliche „Scheitern“ der OSZE an dieser Aufgabe hatte weitreichende Konsequenzen. Russland, das nach dem Zerfall des Sowjetimperiums in einer gestärkten OSZE zumindest ein politisches Gegengewicht zur NATO gesehen hatte, musste die Erfahrung machen, dass seine Möglichkeiten, in der OSZE aktiv nationale Interessen zu verfolgen, sehr eingeschränkt sind. Es ist durchaus möglich, dass die Hinwendung Russlands zur NATO und zu den USA ein Ergebnis seiner Erfahrungen mit der OSZE im Kosovo-Konflikt ist. Der Platz der NATO als der dominierenden Sicherheitsorganisation wurde gefestigt. Ihre Mittel, die militärische Intervention, erführen eine Aufwertung gegenüber nichtmilitärischen Instrumenten der Konfliktlösung. Die OSZE wurde zurückgeworfen auf die ihr bis dahin zugewiesenen Aufgaben der friedlichen Konfliktprävention und der Konfliktnachsorge. Ihr droht sogar eine noch deutlichere Marginalisierung, wenn die NATO sich weiter ausdehnt und noch mehr als bisher politische Aufgaben übernimmt, die eigentlich die Domäne der OSZE waren, und die Europäische Union weiter an sicherheitspolitischer Statur gewinnt. Angesichts dieser Entwicklung ist schon die Frage berechtigt, in welcher Position die OSZE sich heute befände, wenn es ihr gelungen wäre, den Kosovo-Konflikt zunächst auf niedrigem Gewaltniveau zu stabilisieren und in Jugoslawien einen demokratischen Wandel herbeizuführen. Doch warum schaffte es die OSZE nicht? Lag es an den immanenten Schwächen der Organisation selbst? Lag es an der Dominanz nationaler Interessen? Auf welche Weise versuchte die OSZE, die Entwicklung des Konflikts zu steuern? Welche Ergebnisse hatten ihre Einwirkungen? Wie agierte 201
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die OSZE im Verhältnis zu anderen Organisationen, insbesondere zur NATO? Dies sind einige Fragen, die zu untersuchen sind. Dabei darf der Verlauf des Bürgerkriegs nicht ausgeblendet werden. Gerade den Wechselwirkungen zwischen dem Agieren der OSZE und den Aktionen der Konfliktparteien muss besondere Aufmerksamkeit gelten. Die Internationalisierung dieses zunächst innerstaatlichen Konflikts spielte schließlich die für den Ausgang entscheidende Rolle. 9 Nicht thematisiert wurden in dieser Studie die Verhandlungen von Rambouillet und Paris. Ich halte meine frühere Darstellung9 weiterhin für gültig, zumal ich auch keine neuen Quellen zur Verfügung hatte. Wie im Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina gab es auch im KosovoKonflikt „Schlüsselereignisse“, die als „Welchenstellungen“ den weiteren Konfliktverlauf, insbesondere das internationale Konfliktmanagement, prägten. Im Kosovo-Konflikt gilt allgemein das „Massaker von Racak“ als ein Wendepunkt. In der Darstellung des Geschehens und damit auch für die Wirkung dieses Ereignisses spielte die OSZE eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Rolle. Auch für das Verhältnis der OSZE zu den Konfliktparteien war „Racak“ maßgebend. Ein Aspekt von „Racak“ wurde erst im Laufe dieser Studie aufgenommen: Die Rolle von Medien für die Vermittlung dieses so wichtigen Schlüsselereignisses. Diese Analyse ist allerdings exemplarisch und ereignisbezogen. Sie gibt jedoch gewisse Hinweise auf die Funktion von Medien in der Entwicklung von Konflikten und Krisen. Zum Aufbau und zur Anlage dieser Studie ist noch anzumerken: •
Die beiden ersten Kapitel sind dem eigentlichen Thema vorgeschaltet. Zunächst wird die Bedeutung des Kosovo-Konflikts für die „Wende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik skizziert. Daran sollte deutlich werden, wie wichtig eine umfassende Aufarbeitung dieses Konflikts, der zu einem Paradigmenwechsel deutscher Politik führte, eigentlich wäre. In einem zweiten Kapitel wird ausführlicher, als dies allgemein üblich ist, die Datenlage beschrieben. Dies geschieht deshalb, weil sowohl von Politikern und Printmedien als auch von Balkanexperten zum Teil lückenhaft und objektiv falsch über den Kosovo-Konflikt informiert wird, obwohl doch eigentlich genügend Informationen für eine ausgewogene, faktennahe Beschreibung vorhanden waren.
9 Ebenda, S. 76 ff.
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Der Begriff „Welchenstellung“ ist kein wissenschaftliches Konzept. Er soll vielmehr veranschaulichen, dass bewusste Einzel- und Kollektiventscheidungen in der OSZE und anderen internationalen Sicherheitsorganisationen das internationale Krisenmanagement für den KosovoKonflikt zielgerichtet beeinflusst haben.
Krieg und Frieden haben eine besondere Bedeutung in der deutschen Geschichte. Deutschland war mitverantwortlich am Ersten Weltkrieg und alleinverantwortlich für den Zweiten Weltkrieg. Die militärische Zurückhaltung der Bundesrepublik war keine irrationale Tabuisierung in einer infantilen Phase der Staatswerdung,10 sondern eine moralische Politik aus geschichtlicher Verantwortung heraus. Im vereinigten Deutschland hat „die Machtwährung des Militärischen einen gewaltigen Wertzuwachs erfahren“.11 Der Ursprung der Hausse dieser „Machtwährung“ liegt nur wenige Jahre zurück, als die serbische Provinz Kosovo zum Exerzierfeld der Weltpolitik und auch deutscher Politik wurde. „Der Jugoslawien-Krieg kann noch nicht archiviert werden... Die Militäreinsätze auf dem Balkan müssen aufgearbeitet werden“, meint Botschafter a. D. Hans Arnold auch mit Blick auf den 11. September 2001.12 Zu einer Zeit, da „jegliche Kritik am Krieg und der Kriegführung... behandelt wird, als handle es sich um Widerstand gegen die Staatsgewalt“,13 herrscht jedoch kein gedeihliches Klima für eine kritische Aufarbeitung. Denn es könnte sich ja doch zeigen, dass Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Konflikts nicht genutzt wurden, dass der Jugoslawien-Krieg weniger erfolgreich war, als ihn die Sieger darstellen, dass Krieg kein geeignetes Mittel ist, komplexe Konflikte zu lösen. Aus historischer Erfahrung meint Barbara Tuchmann, es sei „einer Regierung nichts mehr zuwider, als Irrtümer ein-
10 „Die überraschende Leistung (Hervorhebung H.L.) der rot-grünen Koalition war es, der deutschen Außenpolitik das Militär als Instrument der Machtprojektion zurückzugeben. Das Tabu eines Einsatzes der Bundeswehr jenseits von Landes- und Bündnisgrenzen fiel schnell...“ (Constanze Stelzenmüller, in: Die Zeit vom 7.3.2000, S. 1). Bundeskanzler Schröder in einem Spiegel-Gespräch am 12.4.1999: „Es ist schon eine fundamentale Veränderung der deutschen Außenpolitik, aber die hat auch etwas mit einer erwachsener gewordenen Nation zu tun.“ („Ich bin kein Kriegskanzler“, in: Der Spiegel 15/1999, S. 34). 11 Josef Joffe, Neue Weltordnung, in: Die Zeit vom 7.2.2002, S. 1. 12 Hans Arnold, Ein deutscher Krieg. Die Militäreinsätze auf dem Balkan müssen aufgearbeitet werden, in: SZ vom 19.11.2001, S. 20. 13 Heribert Prantl, Angst vor der Angst, in: SZ vom 17.10.2001, S. 4.
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zusehen, Verlusten ein Ende zu machen, den Kurs zu ändern“.14 Die Revitalisierung des Krieges als Mittel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist ein gutes Beispiel für die Gültigkeit dieser These. I. Die Revitalisierung des Krieges als Mittel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik Eine „Wende“ Das Jahr 2001 wird oft als eine Art Zeitenwende gesehen, als verspäteter Übergang ins neue Jahrtausend. Seit dem 11. September 2001 sei nichts mehr so, wie es war, alles habe sich verändert, lautet die gängige Formel. Dies mag für manche Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens zutreffen, nicht jedoch für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Hier vollzog sich eine entscheidende Zäsur drei Jahre früher, im September/ Oktober 1998. Die Nachwirkungen des 11. September 2001 haben eine schon rasche Entwicklung nur noch zusätzlich beschleunigt und legitimiert. Wohl nie zuvor in der jüngeren politischen Geschichte Deutschlands haben im Parlament vertretene Parteien ohne äußeren Zwang ihre Positionen zur Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb kurzer Zeit so radikal verändert wie die SPD, die F.D.P. und Bündnis 90/Die Grünen im Jahre 1998. Diese gravierende Veränderung lässt sich an den Positionen dieser Parteien in zwei, nur vier Monate auseinander liegenden Sitzungen des Bundestages aufzeigen. Am 19.6.1998 hatte der Bundestag über die Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der SFOR (Stabilization Force) in BosnienHerzegowina zu entscheiden. Mehr als 90 Prozent der Abgeordneten stimmten diesem nicht mehr problematischen Einsatz, der durch ein Mandat des VN-Sicherheitsrats legitimiert war, zu. Angesichts der Eskalation der Gewalt in Kosovo stand jedoch schon diese Krise und eine mögliche militärische Intervention durch die NATO im Mittelpunkt der Debatte. Es ging vor allem darum, ob für einen militärischen Einsatz ein Mandat des VN-Sicherheitsrats erforderlich sei oder nicht. Die CDU/CSU/F.D.P-Regierung war in dieser Frage gespalten. Der damalige Außenminister Kinkel erklärte: „Die
14 Barbara Tuchmann, Die Torheit der Regierenden, Frankfurt am Main 1984, S. 481.
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NATO prüft militärische Optionen mit unmittelbarer Auswirkung auf den Kosovo und die gesamte Bundesrepublik Jugoslawien. Solche Maßnahmen bedürfen einer sicheren Rechtsgrundlage. Das kann aufgrund der Umstände nur ein Mandat des Sicherheitsrates sein.“15 Der Abgeordnete Irmer von der F.D.P. stellte fest: „Als Rechtsgrundlage für einen militärischen Einsatz im Kosovo steht heute nur ein Mandat des UN-Sicherheitsrats zur Verfügung.“ Das Protokoll notiert „Beifall bei Abgeordneten der SPD“.16 Die Position der CDU/CSU artikulierte der damalige Verteidigungsminister Rühe, für den ein militärischer Einsatz in Kosovo „auf einer gesicherten Rechtsgrundlage“ erfolgen musste, wobei für ihn „der Königsweg der Weg über den UNSicherheitsrat“ war.17 Aus den Redebeiträgen von Bündnis 90/Die Grünen wurde deutlich, dass diese Fraktion von der Notwendigkeit eines VN-Mandats überzeugt war.18 Für die PDS war die Mandatierung keine Frage, weil sie prinzipiell gegen einen militärischen Einsatz in solchen Situationen war. Am 16.10.1998 hatte der Bundestag – noch in derselben Zusammensetzung wie im Juni – über eine Teilnahme der Bundeswehr an einem Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zu entscheiden. Ein Mandat des VNSicherheitsrats lag nicht vor. Der Einsatz bezweckte, eine „humanitäre Katastrophe“ im Kosovo-Konflikt abzuwenden.19 Dieser völkerrechtlich und verfassungsrechtlich höchst fragwürdigen militärischen Intervention stimmten –entsprechend ihrer bisherigen politischen Linie – 99 Prozent der Abgeordneten der CDU/CSU zu, aber auch 95 Prozent der Abgeordneten der F.D.P., 88 Prozent der Abgeordneten der SPD und 63 Prozent der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen.20 In der hierauf folgenden Zeit hielten sich nicht nur diese Mehrheiten, wenn es um den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr ging, sondern sie
15 Deutscher Bundestag, 242. Sitzung vom 19. Juni 1998, Plenarprotokoll, 13. Wahlperiode, S. 22422. 16 Ebenda, S. 22450. 17 Ebenda, S. 22437. 18 Dabei hat sich der Abgeordnete Joseph Fischer besonders hervorgetan, indem er durch Zwischenrufe vier Mal die Rede des Verteidigungsministers mit der Frage nach dem Mandat unterbrach (Ebenda, S. 22436 f.). 19 Antrag der Bundesregierung, Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/11469 vom 12. Oktober 1998. 20 Deutscher Bundestag, 248. Sitzung vom 16. Oktober 1998, Plenarprotokoll, 13. Wahlperiode, S. 23161 ff.
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vergrößerten sich noch im neuen Bundestag. Konsequent in der Opposition blieben nur die PDS und einige wenige Abgeordnete aus allen anderen Fraktionen. Die Regierung konnte sich bei allen ihren diesbezüglichen Anträgen einer mehr als 90-prozentigen Mehrheit sicher sein – eine Zustimmung zur Politik der rotgrünen Regierung, die auf keinem anderen wichtigen Politikfeld zustande kam.21 Derart komfortable politische Mehrheiten für Auslandseinsätze der Bundeswehr, ob mit oder ohne VN-Mandat, wurden nur möglich durch den Übergang der politischen Verantwortung auf eine rot-grüne Regierungskoalition.22 Dabei war offenbar die Veränderung einer wichtigen außenpolitischen Position dieser Parteien keine politische Grundsatzentscheidung aus politisch-moralischer Überzeugung, sondern eine Entscheidung nach politischer Opportunität in einer besonderen Situation. Es ging um die Übernahme der Regierungsverantwortung. Das Rational wird aus einer Stellungnahme der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen deutlich, in der es heißt: „Tatsache ist, dass die Auffassung, nur ein Mandat der Vereinten Nationen berechtige zur Androhung und Durchführung von internationalen Zwangsmaßnahmen gegen einen Staat, von vielen JuristInnen und NichtJuristInnen geteilt wird. Auch große Teile der Bündnisgrünen und der SPD haben diese Auffassung lange vertreten. Angesichts der bevorstehenden Regierungsübernahme zeichnete es sich jedoch bald ab, dass sich Rotgrün im Spannungsfeld von Kosovo-Krise, Blockade des UN-Sicherheitsrates, Bündnisloyalität und Völkerrecht gegen die bis dato vorherrschende Völkerrechtsinterpretation entscheiden und damit für eine potentielle deutsche Beteiligung entscheiden könnte.“23 In der Endphase des Bundestagswahlkampfes 2002 hat nun Bundeskanzler Schröder angekündigt, Deutschland werde sich nicht an einem drohenden Irak-Krieg beteiligen. Ist das eine erneute Wende in der deutschen Politik?
21 Eine Ausnahme war lediglich das Abstimmungsergebnis über den Einsatz der Bundeswehr im „Krieg gegen den Terror“, weil der Bundeskanzler mit der Sachentscheidung die Vertrauensfrage verband. 22 „Schließlich war es die rot-grüne Koalitionsregierung, die die Bundesrepublik Deutschland nach entsprechender Vorarbeit ihrer schwarz-gelben Vorgänger wieder zur kriegführenden Nation gemacht hat.“ (Karl-Heinz Harenberg in der NDR Hörfunkfunk-Sendung „Streitkräfte und Strategien“ vom 24.8./25.8.2002, Manuskript, S. 11). 23 Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsfraktion, Materialsammlung zum zweiten Jahrestag der militärischen Intervention der NATO im ehemaligen Jugoslawien, Berlin 2001, S. 10.
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Zweifel sind angebracht. Es wäre zu wünschen gewesen, dass der Bundeskanzler diese Position substanzieller mit völker- und verfassungsrechtlichen und grundsätzlichen politischen Argumenten begründet hätte, als er dies zunächst getan hat. Dass ein deutscher Bundeskanzler eine Beteiligung der Bundeswehr an einem „Abenteuer“ ablehnt, dürfte eigentlich selbstverständlich sein. Der Bundeskanzler hielt allerdings seinen Kurs auch nach der Bundestagswahl konsequent durch. Er zog sich damit den Zorn der BushRegierung zu und wurde in den deutschen Medien heftig attackiert und als Komplize Saddam Husseins diffamiert. Ob es sich bei dieser „Wende“ um den Beginn einer längerfristigen und nachhaltigen deutschen Friedenspolitik handelt, muss die Zeit zeigen. Ein „Keine-Alternative-Konzept“ deutscher Außenpolitik Die Rehabilitierung des Krieges als Mittel deutscher Politik erhielt im September/ Oktober 1998 einen entscheidenden Schub. Dieser sich rasch vollziehende Paradigmenwechsel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, wird in seinem Ausmaß erst verzögert, im Zusammenhang mit dem September 2001, erkannt und gewürdigt. „Der Eifer, den die rot-grüne Regierungsspitze, der Kanzler und sein Vizekanzler, bei jedem Anlass zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr an den Tag legen“,24 hat seinen Ausgangspunkt im Kosovo-Konflikt. „Uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA wurde in der Phase der Eskalation des Kosovo-Konflikts zum Krieg gegen Jugoslawien noch nicht ausdrücklich verkündet. Doch eine fast bedingungslose deutsche Gefolgschaft schien zu dieser Zeit die Handlungsmaxime deutscher Politik im Verhältnis zu den USA zu sein. Die Selbstverpflichtung des deutschen Bundeskanzlers im Schatten des 11. Septembers 2001 war nur die konsequente Fortsetzung der im Kosovo-Konflikt begonnenen Politik. Die logische Konsequenz einer Politik der „uneingeschränkten Solidarität“ ist eine „Politik ohne Alternativen“. Bundeskanzler Schröder behauptete etwa drei Wochen nach Beginn des Krieges gegen Jugoslawien: „Wir haben eine Entscheidung getroffen, die nach unserer Auffassung ohne Alternative war.“25 Und Außenminister Fischer kurz nach Ende des Jugoslawien-Krie24 FAZ vom 31.l2.2001, S. 1. 25 Bundeskanzler Schröder im Spiegel-Gespräch am 12.4.1999, in: Der Spiegel 15/1999, S. 32.
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ges: „Es gab nie wirklich eine Alternative, selbst für die nicht, die diesen Krieg heftig kritisiert haben... „26 Auch beim globalisierten Krieg gegen den Terrorismus sahen Schröder/Fischer zunächst keine Alternative zum weltweiten Engagement deutscher Streitkräfte. Die Behauptung, es habe keine Alternative gegeben, hat als politische Aussage zunächst eine Entlastungsfunktion. Wenn es keine Alternative gab, dann konnte ein Politiker auch keinen Fehler begangen haben. Konsequent stellt Fischer auch fest: „... ich sehe keine Situation, in der ich falsch entschieden hätte.“27 Außerdem erfüllt das „Keine-Alternative-Konzept“ eine Abwehrfunktion gegen Kritiker einer Politik. Wenn nur ein politischer Weg möglich war, braucht sich der Politiker nicht der Kritik zu stellen. Eine Diskussion erübrigt sich. Diejenigen, die es dennoch wagen, kritisch zu hinterfragen, werden als „naiv“, „dumm“, „böswillig“ oder „bösartig“ abqualifiziert.28 Der „neue militärische Humanismus“29 duldet eben keine begründeten Alternativen zu seiner Politik, er setzt auf bedingungslose, unreflektierte Gefolgschaft.30 Doch angesichts des drohenden Verlusts der politischen Macht sahen nun Schröder/Fischer Alternativen zur Politik der Bush-Regierung, die auf einen Krieg zusteuerte. Saddam Hussein ist wohl ein schlimmerer und gefährlicherer Despot, als dies Milosevic war. Doch die Bundesregierung wollte sich selbst dann nicht an einem Krieg gegen den Irak beteiligen, wenn ihn der VN-Sicherheitsrat legitimieren würde. Das zeigt, wie unglaubwürdig es war, als Schröder/Fischer behaupteten, es habe keine Alternative zu einer deutschen Beteiligung an einem völkerrechts- und verfassungswidrigen Krieg gegen Jugoslawien gegeben.
26 Außenminister Joschka Fischer über die Lehren aus dem Kosovo-Krieg, in: Der Spiegel 25/1999, S. 34. 27 Ebenda. 28 So die Bundesminister Fischer und Scharping in der Debatte des Deutschen Bundestags am 5.4.2000. (Deutscher Bundestag, 97. Sitzung vom 5. April 2000, Plenarprotokoll, 14. Wahlperiode, S. 9008, IT). 29 Noam Chomsky, The New Military Humanism, Lessons from Kosovo, London 1999. 30 Der Regisseur Frank Castorf: „Als der Krieg gegen Jugoslawien ausbrach und ich die allgemeine Medienharmonie sah, diese Homogenität des Denkens, und dann auch noch den weinenden, schlecht schauspielernden Verteidigungsminister – da fragte ich mich, darfst du jetzt eigentlich noch sagen, dass du wenigstens für einen Moment anders nachdenken möchtest?“ (Ich hasse Verstellungskünstler, in: Die Zeit vom 12.7.2001, S. 35).
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Die neue NATO-Strategie und der Umbau der Bundeswehr Für die Entwicklung der neuen NATO-Strategie wirkte der Kosovo-Konflikt wie ein politischer Katalysator. Das neue Strategiekonzept der Nordatlantischen Allianz31 wurde zeitlich parallel zur Eskalation dieses Konflikts entwickelt. Die Konsultationen in den Bündnisgremien traten in ihre entscheidende Phase während der Vorbereitungen zum Krieg und in den ersten Kriegswochen. Verabschiedet wurde „Das Strategische Konzept des Bündnisses“ anlässlich des NATO-Gipfels am 23. und 24. April 1999 in Washington. In dem Dokument werden „Auftrag und Selbstverständnis der Allianz bis weit ins nächste Jahrhundert festgelegt.“32 Diese Strategie hält NATO-Generalsekretär Robertson für „perfekt“.33 Zur wichtigen Frage, ob das Bündnis legitimiert sei, eine „Krisenintervention“ auch ohne ein Mandat des VN-Sicherheitsrats durchzuführen, äußert sich das Strategische Konzept nicht ausdrücklich. Aus dem Werdegang und dem Zusammenhang des Dokuments ist jedoch zu schließen, dass die NATO derartige Einsätze nicht von einem VN-Mandat abhängig machen wird,34 sondern bewusst in einer völkerrechtlichen Grauzone ansiedelt, die im Bedarfsfalle eine beliebig weite, „kreative“ Interpretation zulässt.35 Im Krieg gegen Jugoslawien hat die NATO dieses Konzept vorab implementiert. Ein neues Strategisches Konzept der NATO und die Veränderung der sicherheitspolitischen Prioritäten der Bundesregierung hatten zwangsläufig Konsequenzen für das deutsche Militär. Die Bundeswehr wurde faktisch zum wichtigsten Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Ihre Aufgaben wurden umdefiniert, ihre Struktur wird radikal umgestaltet. Der verteidigungspolitische Experte der FAZ, Karl Feldmeyer, kommentiert den Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer weltweit operierenden Interventionsarmee wie folgt: „Aus einer Verteidigungsarmee... soll in den nächsten Jahren ein neues Werkzeug für neue Zwecke entstehen...
31 NATO-Brief 2/1999, S. D 7 ff. 32 Bundesminister Scharping im Bundestag am 22.4.1999, Deutscher Bundestag, 33. Sitzung vom 22. April 1999, Plenarprotokoll, 14. Wahlperiode, S. 2771. 33 „Das strategische Konzept der Nato ist perfekt“, in: Die Welt vom 19.11.2002, S. 6. 34 Karl-Heinz Kamp, Das neue Strategische Konzept der NATO, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1111999, S. 19-25. 35 Im Strategischen Konzept lautet die dehnbare „völkerrechtliche Grundlage“ für Krisenreaktionseinsätze“ in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht“ (Ziffer 31).
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Verteidigung ist für diese Armee.., kaum mehr als eine Erinnerung an die eigene Entstehungsgeschichte... Der eigentliche Ernstfall, für den sie geschaffen wird, ist die militärische Intervention...“.36 Die von Bundeskanzler Schröder erklärte „Entgrenzung“ des Einsatzraumes der Bundeswehr37 erfolgte nicht erst mit der Teilnahme der Bundeswehr am Kampf gegen den weltweiten Terrorismus sondern drei Jahre früher. Heute gilt für das sicherheitspolitische Establishment in Deutschland: „Nicht Verteidigung der eigenen Grenzen, sondern umfassende militärische Ordnungssicherung wird zur Aufgabe der Bundeswehr.“38 Eine derartige Aufgabendefinition der Bundeswehr kennt wirklich keine Grenzen mehr.39 Die Militarisierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik wird von Medien mit großem Wohlwollen begleitet. Jahrzehnte deutscher Friedenspolitik und militärischer Zurückhaltung, geprägt durch die Maxime, dass nach den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege deutsche Soldaten nur noch zur Verteidigung eingesetzt werden sollen, gelten gleichsam als eine Art pubertäre Phase in der Geschichte der Bundesrepublik. Die „Tabuisierung des Militärischen“40 ist nun endlich überwunden. Die Behauptung des deutschen Bundeskanzlers, es gehöre zu den bitteren Wahrheiten „dass der Frieden nur [Hervorhebung – H. L.] durch den Krieg näher gerückt ist“,41 gilt offenbar im Rückblick auf den Kosovo-Konflikt und als Lehre für die Zukunft. So entpuppte sich Milosevic auch „als Glücksfall für die deut36 Karl Feldmeyer, Armee im Zielkonflikt, in: FAZ vom 19.10.2000. 37 Ders., Ein Wendepunkt für die Bundeswehr, in: FAZ vom 7.11.2001, S. 3. Wenige Tage später hat sich Feldmeyer die Erklärung des Bundeskanzlers schon zu eigen gemacht, wenn er schreibt: „Die bislang charakteristische Sonderrolle Deutschlands durch Selbstbeschränkung hat sich erschöpft. Die Bedeutung dieser Veränderung ergibt sich in erster Linie aus der Entgrenzung des Raumes, in dem deutsche Militäreinsätze in Betracht kommen, und aus der Perspektive, die das eröffnet.“ (Karl Feldmeyer, Die neue Wirklichkeit, in: FAZ vom 12.11.2001, S. 1). 38 Christoph Bertram, Verteidigung braucht Zukunft, in: Die Zeit vom 6.6.2002, S. 11. 39 Die „Formel“ von Verteidigungsminister Struck, „die Sicherheit Deutschlands müsse am Hindukusch“ verteidigt werden (Berthold Kohler, Die Struck-Doktrin, in: FAZ vom 6.12.2002, S. 1), bestätigt eigentlich nur die funktionale und regionale Entgrenzung des Auftrags der Bundeswehr und ihre Funktion als weltweite Interventionsarmee. 40 Bundeskanzler Schröder in einem Zeit-Gespräch („Am Ende der ersten Halbzeit, in: Die Zeit vom 15.8.2002, S. 3). Es ist schon reichlich absurd, früheren deutschen Regierungen, z.B. auch Helmut Schmidt, eine „Tabuisierung des Militärischen“ zu unterstellen. 41 Kurt Kister, Deutsche Soldaten am Hindukusch, in: SZ am Jahresende vom 31.12.2001, S. V/15.
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sche Außenpolitik nach dem Fall der Berliner Mauer. Die Rehabilitierung der militärischen Komponente in der deutschen Außenpolitik konnte nur gegen einen ausgewiesenen,Bösewicht' stattfinden“.42 In einem Interview, zwei Tage nach Beginn des Krieges gegen Jugoslawien findet es der Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky „furchtbar“, wenn er an den Mentalitätswandel in Deutschland denkt:,,'Keine Waffe anfassen!' hieß es in den ersten Jahren nach dem Krieg, weil wir so bitter enttäuscht waren von uns selbst und von anderen. Und dann: Ja, wir müssen uns aber verteidigen! Und dann: Wenn irgendwo ein Angriff gestartet wird, das waren die 90er Jahre, dann wollen wir bestenfalls Beobachter sein und humanitäre Hilfe leisten. Und jetzt scheint das in der ganzen Breite des Volkes Zustimmung zu finden, dass Deutsche sich da auch am Waffengebrauch beteiligen.“ Der Bischof sieht es mit Bangen, „wie die Zeit die innere Einstellung verändern kann“.43 Beschädigung der internationalen Rechtsordnung Wegen des Fehlens eines Mandats des VN-Sicherheitsrats halten Völkerrechtler den Krieg von NATO-Staaten gegen Jugoslawien für völkerrechtswidrig.44 Im Oktober 1998 hatte sich der damalige Bundesjustizminister und Staatsrechtler Professor Sclunidt-Jortzig im Kabinett gegen eine „Einsatzentscheidung“ ausgesprochen und an der Abstimmung im Bundestag nicht teilgenommen.45 Zwar erklärte der deutsche Außenminister Kinkel am 16.10.1998 im Bundestag „Der Beschluß der NATO darf nicht zum Präzedenzfall werden. Wir dürfen nicht auf eine schiefe Bahn kommen, was das
42 Dusan Reljic, Das erste Opfer, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1998, S. 1469. 43 Ortwin Buchbender/Gerhard Arnold (Hrsg.), Kämpfen für die Menschenrechte, Der Kosovo-Konflikt im Spiegel der Friedensethik, Baden-Baden 2002, S. 106. 44 Not kennt kein Gebot? Stellungnahme zum Spannungsverhältnis zwischen politischem Handlungsdruck und Völkerrecht im Fall Kosovo, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1998, S. 1451 ff.; Reinhard Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt am Main 2000. 45 Schreiben Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig vom 27.10.2000 (Archiv Loquai; Auszug bei Hermann Theisen, Dokumentation einer schriftlichen Befragung aller Bundestagsabgeordneten zu ihrem Abstimmungsverhalten hinsichtlich der Bundeswehrbeteiligung am Kosovo- Krieg, Heidelberg, 10. Februar 2001, Dokumentation).
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Gewaltmonopol des Sicherheitsrats anbelangt.“46 Doch faktisch handelte es sich um einen Präzedenzfall. Dies sieht auch die SPD-Abgeordnete Uta Zapf so: „Nachdem im Kosovo eine militärische Handlung ohne völkerrechtliches Mandat ausgeführt worden ist, gleicht die Absicht, alle künftigen Aktionen wieder an das Völkerrecht zu binden, der Quadratur des Kreises. Die Mandatierung ist zwar eine schöne moralische Forderung, aber sie ist erst dann umzusetzen, wenn wir eine Reform des Sicherheitsrats erreichen...“47 Als völkerrechtliche Grundlage blieb für den Jugoslawien-Krieg nur die umstrittene Hilfskonstruktion der „humanitären Intervention“, eine Art internationale Nothilfe.48 Der in der Charta der Vereinten Nationen (Artikel 2,4) niedergelegte Grundsatz des Gewaltverbots in den internationalen Beziehungen wurde ausgehebelt. In der „Charta von Paris für ein neues Europa“ vom 21.11. 1990 hatten die Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten daran „erinnert“, dass „die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt“.49 Im März 1999 war dies dem Gedächtnis der Regierungen der NATO- Staaten entschwunden. Das völkerrechtliche Gerüst einer Weltordnung wurde durch die Versuche, den Jugoslawien-Krieg doch noch völkerrechtlich zu legitimieren, ausgehöhlt und beschädigt.50 Im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus spielen bei der Identifizierung von „Schurkenstaaten“, denen mit Krieg gedroht wird, völkerrechtliche Überlegungen keine Rolle mehr. Die USA führen unter dem Banner „dauerhafte Freiheit“ einen globalen Krieg von unbegrenzter Dauer nach Regeln, die sie bestimmen. „Wir setzen jede not-
46 Deutscher Bundestag, 248. Sitzung vom 16. Oktober 1998, Plenarprotokoll, 13. Wahlperiode, S. 23129. 47 SEF News 21/2001, S. 9. 48 Stuby bezeichnet das Konstrukt der „humanitären Intervention“ als eine „schillernde Argumentationsfigur“, die seit einiger Zeit „durch die diplomatischen und parlamentarischen Korridore“ geistere. (Gerhard Stuby, Die Verantwortung der deutschen Außenpolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1998, S. 1457). Dieter Deiseroth, „Humanitäre Intervention“ und Völkerrecht, in: NJW 42/1999, S. 3084- 3088. 49 Auswärtiges Amt (Hrsg.), 20 Jahre KSZE, 1973- 993, Eine Dokumentation, Bonn 1993, S. 146. 50 In seiner gewohnt drastischen Argumentation stellt Chomsky fest: „Trotz der verzweifelten Anstrengungen von Ideologen, die beweisen wollen, dass Kreise quadratisch sind, gibt es keinen ernsthaften Zweifel, dass die NATO-Bombardierungen die verbliebenen zerbrechlichen Strukturen des internationalen Rechts weiter unterminiert haben.“ (Noam Chomsky, The New Military Humanism, a.a.O., S. 150).
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wendige Waffe ein“, erklärte der amerikanische Präsident in seiner Ansprache an die Nation am 21. September 2001.51 Die so genannt Bush-Doktrin der präventiven Verteidigung ist nichts anderes als eine verbal verfremdete Konzeption des Präventivkrieges. Sie verstößt gegen die bisherigen Normen des Völkerrechts.,,'Präventivkriege' im gemeinen Sinn des Begriffs sind illegal. Das ist ein trivialer Befund des positiven Völkerrechts, den niemand bestreitet.“52 Die Geringschätzung und Missachtung des internationalen Rechts ist heute ein hervorstechendes Merkmal amerikanischer Außenpolitik. Deutschland hat sich 1999 mit der Teilnahme am Krieg gegen Jugoslawien in dieses Fahrwasser begeben und damit zu einer „Entrechtung“ der internationalen Politik beigetragen. II. Zur Methodik – Quellen, Informationen, Terminologie Wie bereits angedeutet, stand kein anderer innerstaatlicher Konflikt jemals unter so umfassender internationaler Beobachtung wie der Kosovo-Konflikt. Dies gilt insbesondere für die Zeit von Dezember 1998 bis unmittelbar vor Beginn des Luftkrieges im März 1999. Deshalb gab und gibt es eine Fülle von Informationen aus ganz unterschiedlichen Quellen. Man könnte meinen, daraus ließe sich ein sehr wirklichkeitsnahes und einheitliches Bild vom Geschehen in der serbischen Provinz zu dieser Zeit zeichnen. Doch das ist nicht der Fall. Es gibt mehrere sich widersprechende Bilder, je nachdem wer dieses Bild zeichnete und wann dies geschah. Dies gilt sowohl für die Ereignisse im Bürgerkrieg als auch für das Agieren internationaler Organisationen. Gerade auch die Rolle der OSZE in diesem Konflikt wird kontrovers beurteilt. Eine Antwort auf die Frage, was denn nun wirklich geschah oder zumindest der „Wahrheit“ nahe kommt, ist eng verbunden mit einer Beurteilung der Präzision, der Reichweite und Objektivität der benutzten Quellen.
51 General-Anzeiger vom 22./23.9.2001, S. 1. 52 Reinhard Merkel, Amerikas Recht auf die Welt, in: Die Zeit vom 2.10.2002, S. 37. Hierzu auch: Gerhard Stuby, Kollaps des kollektiven Sicherheitssystems?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2002, S. 1479-1489.
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Das Informationsaufkommen aus dem Bereich der OSZE Die am 12./13.10.1998 zwischen dem amerikanischen Diplomaten Holbrooke und dem jugoslawischen Präsidenten Milosevic getroffene Vereinbarung, bis zu 2000 internationale Beobachter, genannt Verifikateure,53 in Kosovo zu stationieren, schuf die Voraussetzung für eine über die gesamte Provinz verteilte, internationale Aufsicht und Kontrolle. Zwar erreichte die OSZE-Mission zu keiner Zeit auch nur annähernd die zugestandene Höchststärke, doch spätestens ab Anfang Januar 1999 war die OSZE im gesamten Kosovo flächendeckend präsent. Die OSZE-Beobachter waren in der Mehrzahl erfahrene aktive oder pensionierte Offiziere, die durchweg gute Vorkenntnisse und praktische Erfahrungen für ihre Aufgabe mitbrachten. 54 Vom OSZE-Sekretariat in Wien erhielten die dortigen Vertretungen der OSZE-Länder folgende Berichte: •
•
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• •
Einheitlich gegliederte Tagesberichte der OSZE-Mission über politische Ereignisse, die Lage auf dem Gebiet der Menschenrechte, Informationen über militärische Operationen und Gewalttaten sowie Informationen über den Personal- und Fahrzeugbestand der Mission. Wochenberichte als zusammenfassende Darstellungen, die charakteristische Geschehnisse und Entwicklungen – deutlicher bewertend als die Tagesberichte – aufzeigten. Monatsberichte des OSZE-Vorsitzenden, die dieser dem Generalsekretär der Vereinten Nationen aufgrund der Resolution des VN-Sicherheitsrats 1160 vorzulegen hatte. Eilberichte als erste Kurzinformationen zu besonderen Ereignissen. Ausführliche Sonderberichte zu wichtigen Ereignissen.
Luftaufklärung ergänzte die Überwachung am Boden. Schon ab Mitte Oktober 1998 flogen mehrmals in der Woche unbewaffnete Aufklärungsflugzeuge von NATO-Staaten über Kosovo. Ab Januar 1999 waren so genannte
53 Holbrooke betonte bei einer Pressekonferenz am 28. Oktober 1998, er habe Milosevic den Begriff „Verifikateure“ abgerungen, weil die internationalen Experten nicht nur beobachten, sondern auch bewerten sollten, ob Vereinbarungen und UNResolutionen eingehalten werden. (Marc Weller, The Crisis in Kosovo 1989-1999, International Documents & Analysis, Volume 1, Cambridge 1999, S. 296). 54 Ein großer Teil der deutschen militärischen Experten hatte mehrjährige Erfahrungen im Militärischen Nachrichtenwesen oder in der Verifikation von Rüstungskontrollverträgen.
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Drohnen, d.h. unbemannte Aufklärungs-Flugkörper der Bundeswehr im permanenten Einsatz.55 Die von den OSZE-Beobachtern und durch die Aufklärungsflüge von NATO- Staaten gesammelten Informationen gingen über ein „Kosovo Verification Coordination Center“ (KVCC), das in Kumono, Mazedonien, eingerichtet war, zum NATO-Hauptquartier nach Mons in Belgien. Durch die Zusammenfassung aller gewonnenen Informationen entstand ein sehr dichtes und präzises Bild über die Lage in Kosovo. Ein Sprecher des KVCC wird mit folgender Beurteilung zitiert: „Auch wenn wir nicht den einzelnen Soldaten im Feld robben sehen, so entgeht uns keine wichtigere militärische Aktion. Kein Panzer kann in Kosovo eine neue Position beziehen, ohne dass wir dies wissen.“56 Die OSZE in Wien partizipierte am Informationsaufkommen durch die NATO-Aufklärungsflüge allerdings nicht. 57 Berichte der deutschen Botschaft in Belgrad Häufig präsent vor Ort waren auch die Diplomaten und Militärattaches der in Belgrad vertretenen Botschaften. Insbesondere die nachrichten- und truppendienstlich erfahrenen Militärattaches konnten über die militärische Lage in der Provinz kompetent berichten. Die bei den Erkundungsfahrten gesammelten Erkenntnisse tauschten die Stabsoffiziere der NATO-Länder bei regelmäßigen Treffen aus. Die deutsche Botschaft in Belgrad berichtete während der Zuspitzung der Lage oft mehrmals am Tag sehr ausführlich. Ihre Berichte sind durchweg präzise in der Analyse und klar in den Empfehlungen. Dass diese Berichterstattung nicht immer auf das Wohlwollen der Zen-
55 Es handelte sich um das Artillerieaufklärungssystem Drohne CL 289. Seine Einsatzflughöhe beträgt 300 bis 1200 m über Grund, die maximale Fluggeschwindigkeit liegt bei 740 km/h. Gegenüber den in einer Flughöhe von 5000 m fliegenden Aufklärungsflugzeugen hatte die Drohne den Vorteil, dass sie auch bei tiefliegenden Wolken operieren konnte. Von ihrem grenznahen mazedonischen Einsatzort Tetovo konnte die Drohne mit ihrer Reichweite von 400 km das gesamte Kosovo abdecken. Durch Infrarotsensoren war der Einsatz auch bei Nacht und Nebel möglich. 56 Die NATO als Rettungsanker der OSZE in Kosovo, in: NZZ vom 19.1.1999. 57 Bei einem Gespräch mit dem deutschen Verteidigungsminister am 29.1.1999 bemängelte der norwegische Botschafter Eide das Informationsverhalten der NATO, das zu einer Einbahnstraße der Information von der OSZE zur NATO geführt habe (persönliche Recherche).
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trale in Bonn stieß, lässt ein Zusatz zu einem Bericht vom 16.6.1998 erahnen. Hier heißt es: „Abschließend möchte die Botschaft klarstellen, dass es ihr keineswegs darum geht, die serbische Seite von Schuld freizusprechen. Es scheint aber aufgrund der hier bisweilen als eher stark einseitig pro-albanisch empfundenen Berichterstattung westlicher Medien (bedingt natürlich auch durch das völlige Fehlen einer serbischen Öffentlichkeitsarbeit, die diesen Namen auch verdient) geboten, immer wieder darauf hinzuweisen, dass das KosovoProblem eine Vielzahl von Zwischentönen enthält, die bei plakativer Darstellung verloren gehen, und auf mögliche Folgen hinzuweisen, sofern diese Aspekte unberücksichtigt bleiben.“58 Auch in der folgenden Zeit blieben die Berichte der deutschen Botschaft ein differenziertes und unbestechliches Korrektiv zu den einseitig ausgerichteten Stellungnahmen vieler Politikern und Balkan-Korrespondenten. Weitere Informationsquellen Schon seit 1991 befanden sich Beobachter der Europäischen Union im Rahmen einer Mission (ECMM – European Community Monitor Mission) in Jugoslawien. Seit Anfang 1998 waren diese Beobachter auch in Kosovo, zunächst mit Teams in den Städten Mitrovica, Prizren, Orahovac und Pec. Die Präsenz der ECMM wurde dann weiter ausgebaut. Die Berichte der Mission gingen zunächst zur Kommission nach Brüssel und wurden von dort an alle EU-Länder verteilt. Die ECMM stellte ihre Berichte auch der OSZEMission in Pristina zur Verfügung. „Dort waren sie teilweise die Hauptquelle der OSZE-Berichte“, schreibt ein ehemaliges Mitglied der ECMM.59 Von außerhalb Jugoslawiens erfasste die elektronische Aufklärung von NATO- Staaten und neutralen Ländern den zivilen und militärischen Fernmeldeverkehr in Jugoslawien. Amerikanische Satelliten zogen ihre Bahnen über dem Krisengebiet. Es liegt nicht allzu fern anzunehmen, dass auch Ge-
58 Persönliche Recherche. 59 Persönliche Recherche.
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heimdienste mit ihren Agenten vor Ort waren, natürlich auch die deutschen.60 Die Vereinten Nationen mit ihrem Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und die zahlreichen im Kosovo tätigen nichtstaatlichen Organisationen trugen in unterschiedlichem Ausmaße mit Informationen zum Lagebild bei. Eine sehr reichhaltig sprudelnde Quelle waren die Vertreter der zahlreichen Medien vor Ort. Der überwiegende Teil der Medien schien antiserbisch und proalbanisch eingestellt und ausgerichtet zu sein.61 Der Medienwissenschaftler Karl Prümm konstatiert zur Rolle des deutschen Fernsehens: „Es fällt nicht schwer, in der Kosovo-Berichterstattung des deutschen Fernsehens Exempel massiver Propaganda auszumachen... In der Zeitspanne vom Scheitern der Rambouillet-Verhandlungen bis zum Beginn der Bombenangriffe erreichte die Anpassungsbereitschaft an eine Kriegspolitik ihren Höhepunkt.“62 Es spricht manches dafür, dass ein derartiges Urteil auch für die deutschen Printmedien gelten kann. Generell können die Medien nicht als zuverlässige Quelle für objektive Informationen über den Kosovo-Konflikt angesehen werden. Die Nachrichtenexperten des Verteidigungsministeriums machen in einem Lagebericht am 10. März 1999 auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam: „... weist erneut auf den bekannten Umstand hin, dass die Medienberichterstattung über Flüchtlinge und angebliche ‚Offensiven’ mit Vorbehalten zu betrachten ist. Beide Seiten sind sich in diesem Konflikt der Bedeutung der Medien... bewusst. Seit Konfliktbeginn versuchen sie, sowohl die eigene Bevölkerung als auch die IG [Internationale Gemeinschaft – H.L.] über die Medien zu beeinflussen.“63 Die Qualität der Information hing vom einzelnen Journalisten ab. Allerdings ist es schon bemerkenswert, mit welcher Gleichförmigkeit die Balkankorrespondenten namhafter deutscher Tageszeitungen zweifelhafte Fakten berichteten. Auch wissenschaft-
60 Hierzu Klaus Eichner/Erich Schmidt-Eenbohm, Die Rolle der Geheimdienste bei der Vorbereitung und Durchführung des Krieges, in: Wolfgang Richter/Elmar Schmähling/Eckart Spoo (Hrsg.), Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Schkeuditz 2000, S. 157-174. 61 „On the issue of Western media bias, the reporting of events as they unfolded was,... predominantly pro-Western and anti-Serb.“ (Anthony Weymouth, The Media: Information and Deformation, in: Tony Weymouth/Stanley Henig (Hrsg.), The Kosovo Crisis, a.a.O., S. 152. 62 Karl Prümm, Korpsgeist und Denkverbot, Das Deutsche Fernsehen im KosovoKrieg, in: Peter Christian Hall (Hrsg.), Krieg mit Bildern, Wie Fernsehen Wirklichkeit konstruiert, Mainz 2001, S. 79 f. 63 Persönliche Recherche. Hervorhebungen im Originaltext.
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liche Analysen, nicht zuletzt jene von so genannten Balkanexperten, besitzen mitunter eine eingeschränkte Gültigkeit, wenn sie sich überwiegend auf eine unkritische Übernahme von Berichten in den Medien abstützen. Eine unverzichtbare, umfangreiche Quellensammlung zum Kosovo-Konflikt bietet Marc Weller, einer der juristischen Berater der kosovo-albanischen Delegation bei den Konferenzen in Rambouillet und Paris Anfang 1999. Die präsentierten Dokumente, die zum Teil dienstlich-vertraulichen Charakter haben, berücksichtigen die Konfliktparteien und die internationalen Akteure in ausgewogener Weise.64 Das Lagebild für die Bundesregierung Zentrale Bereiche für die Auswertung von Informationen aus Krisenregionen sind in Deutschland der Bundesnachrichtendienst, das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium und dessen nachgeordnete Dienststelle, das Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (ANBw). Die drei Bereiche bilden einen Auswerteverbund, d.h. Erkenntnisse und Bewertungen werden ausgetauscht. Mit der Einrichtung der Kosovo-Mission und der Abstellung deutscher Beobachter erwies es sich als notwendig, ein möglichst genaues Lagebild über die Krisenregion zu bekommen, um rechtzeitig Maßnahmen zum Schutz der Beobachter einleiten zu können. Mit Datum 30.10.1998 gab die Stabsabteilung FüS II des Verteidigungsministeriums ein „Konzept zur Nachrichtengewinnung und Aufklärung im Rahmen der NATO Air Verification Mission Kosovo“ heraus. Hierin sind alle die Aufklärungsmittel dargestellt, die zum Gesamtinformationsaufkommen beitragen. „Die in diesem Konzept aufgezeigte deutsche Beteiligung stellt ein effektives deutsches Engagement bei der Verifizierungsmission sicher“, so die Nachrichtenexperten.65 Für den Kosovo-Konflikt werteten die Stabsabteilung II im Führungsstab der Streitkräfte und das Amt für Nachrichtenwesen vor allem die militärische Lage, das Auswärtige Amt die politische und humanitäre Lage aus. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die militärischen Experten und die Diplomaten die ihnen verfügbaren Informationen kompetent verarbeiteten und die
64 Marc Weller, The Crisis in Kosovo, a.a.O. 65 Persönliche Recherche.
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Lage objektiv darstellten und bewerteten.66 Durch den Verbund mit der NATO waren die Informationen anderer NATO-Staaten verfügbar. Außerdem verbesserte die nationale Informationslage die spezielle bilaterale Zusammenarbeit der Geheimdienste nach dem Prinzip des do ut des. Deutschland befand sich in einer sehr vorteilhaften Lage bei der Beschaffung von Informationen auf informellen Kanälen. In der OSZE-Mission waren erfahrene und gut ausgebildete Offiziere und Unteroffiziere als Beobachter und in den Stäben eingesetzt. Im Hauptquartier in Pristina leitete ein deutscher Oberst die Operationsabteilung, wo alle Informationen der Mission zusammenliefen. In der Leitung des Koordinationszentrums (KVCC) in Mazedonien war ein deutscher Oberst. In Wien leitete ein deutscher Stabsoffizier das OSZE-Lagezentrum. Das heißt, deutsche Offiziere waren an zentralen Stellen des Informationssystems der OSZE eingesetzt. Sie berichteten – wie das in internationalen Organisationen selbstverständlich ist – auch auf direktem Wege an ihre nationalen Dienststellen. Die Voraussetzungen dafür, dass der Bundesregierung und dem Bundestag ein aktuelles und zutreffendes Bild über die aktuelle Lage in der Krisenregion vermittelt wurde, konnten nicht besser sein. Man kann sogar sagen, dass die deutschen Nachrichtenexperten im Vergleich zu denen anderer Länder exzeptionell gute Möglichkeiten hatten. Denn nicht so sehr die strategische Aufklärung durch Satelliten lieferte hier die relevanten Informationen, sondern die flexiblere taktische Aufklärung.67 Und auf diesem Gebiet hatte Deutschland zweifellos eine besondere traditionelle Stärke hinsichtlich des Geräts und der Fachkompetenz des Personals. Einen Eindruck, auf welch einer Fülle von Informationen das deutsche Lagebild über den Kosovo-Konflikt beruhte, verdeutlichen diese Zahlen: Allein im Amt für Nachrichtenwesen gingen in der Zeit der krisenhaften Entwicklung des Konflikts pro Tag etwa 1500 bis 2000 Einzelmeldungen
66 Dieses positive Urteil gilt jedoch uneingeschränkt nur für die Zeit bis zum 24. März 1999. Anfang April 1999 haben Offiziere aus dem militärischen Nachrichtenwesen mitgewirkt, die Auswertung eines angeblichen jugoslawischen Plans („HufeisenPlan“) zu konstruieren, der die Vertreibung der gesamten kosovo-albanischen Bevölkerung zum Ziel gehabt haben soll. Allerdings haben sich einige Offiziere auch geweigert, bei dieser Propaganda-Operation, die unter der Regie des damaligen Verteidigungsministers Scharping inszeniert wurde, mitzumachen. 67 Auf die Frage in einem Interview, was die deutschen Drohnen in Mazedonien tun, antwortete Minister Scharping: „Wir klären vieles auf. Wir sind ja die einzigen, die das können.“, in: Der Spiegel 4/1999, S. 140.
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ein. Darin sind keine Medienberichte enthalten, da sie von den Nachrichtenexperten generell als wenig zuverlässig eingestuft wurden.68 Das Problem der amtlichen Quellen Für wissenschaftliche Untersuchungen ergibt sich ein besonderes Problem mit schriftlichen amtlichen Quellen, die im Allgemeinen aktuell nicht verfügbar sind. Generell stehen „nach Ablauf von 30 Jahren jedermann auf Antrag die Unterlagen im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes gemäss den Bestimmungen des § 5 (1) des Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes (Bundesarchivgesetz – BArchG) zur Verfügung. Die vorzeitige Freigabe von Akten vor Ablauf der 30-Jahresfrist bedarf der Entscheidung durch die Amtsleitung.“69 Bisher berufen sich zwei Autoren auf eine offiziell gewährte Akteneinsicht. Gunter Hofmann erklärt, für sein Dossier in „Die Zeit“ noch während des Luftkrieges Einsicht in die vertraulichen Unterlagen des Auswärtigen Amtes erhalten zu haben. Seine Analyse ist moderat kritisch, bestätigt jedoch in allen wichtigen Punkten die Positionen der Bundesregierung, insbesondere die von Außenminister Fischer.70 Das Dossier erschien einen Tag vor dem für die weitere Position der Grünen so wichtigen Sonderparteitag am 13. April 1999 in Bielefeld. Botschafter a.D. Günter Joetze, 32 Jahre im diplomatischen Dienst, hat nach der Ankündigung seines Verlags „sämtliche Akten des Außenministeriums eingesehen,,71, Joetze selbst stellt fest: „Das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt haben mir Akteneinsicht gewährt. Dafür danke ich der Leitung beider Häuser.“72 Das Auswärtige Amt teilte mir jedoch mit: „Botschafter a.D. Günter Joetze hat im übrigen keinen Antrag auf Benutzung der Akten im Politischen Archiv gestellt und dort auch keine Akten eingesehen. Als Angehöriger des Auswärtigen Amts zur Zeit des Kosovo-Konflikts wird er die Gelegenheit genutzt haben, Hintergrund-
68 Persönliche Recherche. 69 Antwort des Auswärtigen Amtes vom 18.12.2001 auf meine Bitte, mir Akteneinsicht zu gewähren. 70 Gunter Hofmann, Wie Deutschland in den Krieg geriet, in: Die Zeit vom 12.5.1999, S. 17-21. 71 Günter Joetze, Der letzte Krieg in Europa? Stuttgart/München 2001, Einband. 72 Ebenda, S. 203.
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gespräche zu führen und eigene Recherchen anzustellen.“73 Diese Erklärung mag hier so stehen bleiben. Allerdings ist nachzuweisen, dass Joetze entweder nicht alle relevanten Dokumente einsehen konnte oder wichtige Teile aus den Dokumenten seinen Lesern vorenthalten hat. So konnte er auch trotz moderater Kritik, insbesondere an den schlechten Planungen der Militärs, ein Loblied auf die deutsche Diplomatie singen und die wichtigsten Positionen der Bundesregierung zum Kosovo-Konflikt bestätigen. Im Übrigen macht es sich Joetze mit den Kritikern der Kosovo-Politik der Bundesregierung sehr einfach. Er kanzelt sie als Vertreter einer „Verschwörungsliteratur“ ab.74 Damit nimmt er offenbar ein Stichwort auf, das der SPD-Abgeordnete Erler am 15. April 2000 im Bundestag vorgegeben hatte.75 Ich habe zwei Mal das Auswärtige Amt um „Aktennutzung“ gebeten. Auf den ersten Antrag antwortete Staatsminister Dr. Ludger Volmer: „Die Berichterstattung der Botschaft Belgrad zum Thema Kosovo stellt immer noch eine politisch sensitive Materie dar, deren Veröffentlichung unerwünschte politische Auswirkungen haben könnte.“76 Auf den zweiten Antrag lautete die Antwort: „Mit Rücksicht auf die Beziehungen zu dritten Staaten kann Ihnen die Einsichtnahme in die Dokumente zum Kosovo-Konflikt leider nicht gewährt werden.“77 Man kann sicher sein, dass das Auswärtige Amt keine Akteneinsicht gewähren wird, wenn das Risiko besteht, dass eine kritische Analyse die Grundpositionen der Bundesregierung zum Kosovo-Konflikt widerlegen oder auch nur relativieren könnte. Es wird aber, je nach politischer Opportunität, für einzelne Autoren möglich sein, amtliche Dokumente einzusehen, wenn Wohlverhalten gesichert ist und die Positionen der Regierung insgesamt oder einzelner Minister durch eine Veröffentlichung gestützt werden können. Wissenschaftliche Forschung befindet sich somit in einem Dilemma. Sie kann sich auf geistige Disziplinierung einlassen und dadurch möglicherweise selektiven und kontrollierten Zugang zu vertraulichen amtlichen
73 Schreiben des Leiters der Zentralabteilung des Auswärtigen Amtes, Ministerialdirektor Steffen Rudolph vom 18.12.2001. 74 Günter Joetze, a.a.O., S. 212. 75 MdB Gemot Erler: „Einige Leute basteln in einem Teil der Öffentlichkeit – in den Medien, aber auch anderswo – auf der Grundlage einer miserablen und selektiven Recherche an einer Verschwörungstheorie.“ (Deutscher Bundestag, 97. Sitzung vom 5. April 2000, Plenarprotokoll, 14. Wahlperiode, S. 9015). 76 Schreiben des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Dr. Ludger Volmer, vom 22.11.1999. 77 Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 18.12.2001.
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Informationen erhalten oder sie kann versuchen, kritisch zu analysieren, verbaut sich dadurch aber den Zugang zu einem wichtigen Teil von Informationen. Die selektive Freigabe regierungsamtlicher Informationen wird damit selbst zu einem Problem für die öffentliche Auseinandersetzung. Diejenigen, die zugangsprivilegiert sind, können sich auf amtliche, vertrauliche Dokumente berufen.78 Sie erscheinen dadurch besonders glaubwürdig. Die Kritiker sind jedoch im Allgemeinen nicht in der Lage, den Gegenbeweis anzutreten, weil sie ausgesperrt bleiben. So bietet eine selektive, offizielle Freigabe amtlicher Dokumente der Regierung eine wirksame Möglichkeit zur Desinformation und Manipulation der Medien, der öffentlichen Meinung und der wissenschaftlichen Forschung. Ich selbst kenne einen großen Teil der amtlichen Berichterstattung zum Kosovo- Konflikt aus meiner Tätigkeit bei der deutschen OSZE-Vertretung in Wien, die am 31. März 1999 endete. Danach erhielt ich aufgrund persönlicher Recherchen erneuten und weiteren Einblick in Dokumente. Ich kann daher feststellen, dass eine objektive, systematische und wissenschaftlichen Kriterien genügende Aufarbeitung des Kosovo-Konflikts, die lediglich die als „offen“ oder mit dem niedrigsten Geheimhaltungsgrad „Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften amtlichen Dokumente verwerten könnte, ein Bild des Konflikts zeichnen würde, das teilweise sehr verschieden von dem wäre, das die Bundesregierung im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit präsentiert hat. Dies ist wohl der eigentliche Grund, weshalb amtliche Quellen nur sehr selektiv freigegeben werden. Diese Praxis im Umgang mit amtlichen Quellen verfälscht die Geschichte. Ich wollte bewusst mit diesem Teil der „Aufarbeitung“, dort, wo es möglich war, ein teilweise manipuliertes Bild vom Kosovo-Konflikt79 durch persönliche Recherchen korrigieren. Natürlich schaffe ich damit kein vollständiges Bild, doch vielleicht eines, das der historischen Wahrheit etwas näher kommt als manche einseitigen Darstellungen in Medien und Wissenschaft.
78 So zitiert z.B. „Der Spiegel“ am 15.4.1999 aus „Lageberichten der Bundeswehr“ („Ihr kommt nie wieder“, in: Der Spiegel 15/1999, S. 176 ff.). 79 Becker und Brücher sprechen von „einer weitgehenden Lügen- und Verdummungspolitik durch die Medien und teilweise auch durch die Wissenschaft“ (Johannes M. Becker/ Gertrud Brücher (Hrsg.), Der Jugoslawienkrieg – Eine Zwischenbilanz, Münster/ Hamburg/London 2002, S. 1).
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Die niederländische Regierung hat im November 1996 mit Zustimmung des Parlaments einen Auftrag zur Untersuchung der Rolle des niederländischen UNPROFOR-Kontingents während des Bosnien-Kriegs in Srebrenica erteilt und hierfür ihre Archive geöffnet. Der Abschlussbericht des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation veranlasste die Regierung Wim Kok wenige Wochen vor den Parlamentswahlen 2002 zurückzutreten. Bei diesen Wahlen erlitten die bisherigen Regierungsparteien eine verheerende Niederlage, der Srebrenica-Bericht hatte allerdings im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt.80 Doch die niederländische Regierung hat unter dem Risiko des Verlustes der politischen Macht ein Zeichen für demokratisches Verantwortungsbewusstsein gesetzt. Es ist nicht zu erwarten, dass eine deutsche Bundesregierung sich ähnlich mutig und demokratisch verhalten wird wie die niederländischen Regierung, die von sich aus eine „Aufarbeitung“ eines dunklen Kapitels des Bosnien-Krieges initiierte. Informationsbasis für die Studie Eine wichtige Grundlage für diese Studie ist die aktuelle Berichterstattung der OSZE von den Geschehnissen im Kosovo. Dies waren die verlässlichsten, umfassendsten und detailliertesten verfügbaren Informationen. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass im Verlauf der Bearbeitung der Tagesberichte gewisse Veränderungen erfolgten.81 Doch insgesamt scheinen diese Berichte das tatsächliche Geschehen, insbesondere auch die Tätigkeit der OSZE in Kosovo relativ wirklichkeitsnah wiederzugeben. Die Wochenberichte vermittelten Einsichten in Bewertungen und wurden ergänzend herangezogen, ebenso die Monatsberichte der OSZE und Sonderberichte. Wichtige Informationen für den Verlauf des Bürgerkrieges und die Aktivitäten internationaler Organisationen enthalten die wöchentlichen Berichte des Führungszentrums der Bundeswehr für den Bundestag. Sie wurden vom Verteidigungsministerium an den Auswärtigen Ausschuss und den Verteidigungsausschuss gegeben, standen aber tatsächlich allen Abgeordneten des Bundestags zur Verfugung, wenn sie sich dafür interessierten. Unter dem Titel „Unterrichtung des Parlaments“ informierten diese Berichte über die „ak-
80 Die Zusammenfassung des Berichts ist abgedruckt in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2002, S. 747-755. . 81 Persönliche Recherche.
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tuelle Lage im früheren Jugoslawien“, internationale Aktivitäten und die Beteiligung der Bundeswehr an SFOR in Bosnien-Herzegowina. Der Inhalt des politischen Teils wurde mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt.82 Eine weitere, ergänzende Informationsquelle für diese Studie waren einige „Tagesmeldungen zur G2/A2-Lage“ der Nachrichtenzentrale des Amts für Nachrichtenwesen der Bundeswehr.83 Durch eigene, persönliche Recherchen während meiner Dienstzeit und danach konnte ich weitere Informationen über schriftliche Dokumente erlangen. Gespräche mit Offizieren und Diplomaten ergaben für mich wertvolle Hinweise, ebenso wie persönliche Schreiben, die ich vor allem auf meine erste Veröffentlichung erhielt. Voraussetzung für die Nutzung dieser persönlichen Beiträge war die Wahrung der Anonymität. Bewusst habe ich darauf verzichtet, die Zeugenaussagen vor dem „Haager Kriegsverbrechertribunal“84 im Prozess gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Milosevic als Informationen für diese Studie zu verwenden. Dies geschah vor allem aus zwei Gründen. Zunächst ist nicht abzusehen, wann die Befragungen abgeschlossen sein werden. Es wäre also, um alle Zeugenaussagen auszuwerten, erforderlich, eine weitere, ungewisse Zeit zu warten. Außerdem wollte ich mich bewusst auf offizielle Schriftstücke abstützen, die vor dem 24. März 1999 verfasst wurden. Aussagen aus der Erinnerung über Ereignisse, die mehr als drei Jahre zurückliegen, halte ich für weniger zuverlässig. Insgesamt bin ich überzeugt, dass ich mit den mir verfügbaren Informationen, die nur zum Teil öffentlich zugänglich sind, eine gute Grundlage für die Bearbeitung des Themas hatte. Wenn ich auch einen Teil der Quellen nicht präsentieren kann, da ich sie nur einsehen und mir Notizen machen konnte, sind die Textstellen jedoch genau identifizierbar, wenn ihre Authentizität angezweifelt werden sollte. Dies ist kein unproblematisches Verfahren, den Ansprüchen nach wissenschaftlicher Öffentlichkeit und inter-
82 Diese „Unterrichtungen“ waren offenbar auch an die Presse gelangt. Bettina Gaus zitierte daraus am 11.5.1999. (Bettina Gaus, Scharping spitzt Armeeberichte zu, in: taz vom 11.5.1999.). 83 Ich hatte die Möglichkeit, einige dieser Tagesberichte einzusehen. Sie enthalten sehr präzise Informationen und klare operative und militärstrategische Bewertungen. 84 Internationales Kriegsverbreehertribunal für das frühere Jugoslawien – International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY). Hierzu eine kurze Erläuterung in: Günter Joetze, a.a.O., S. 242. Ausführlich in: Mare Weller, a.a.O., S. 239 ff.
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subjektiver Überprüfbarkeit zu genügen. Die für mich nicht akzeptable Alternative wäre gewesen, auf für die Aufarbeitung wichtige Informationen zu verzichten und ein in Teilen falsches Bild weiterhin bestehen zu lassen. Eine abschließende persönliche Anmerkung: Ich war nie in Kosovo, habe also keine unmittelbare Erfahrung vor Ort. Doch wenn ich mir vor Augen halte, was die Balkan-Korrespondenten führender deutscher Tageszeitungen berichteten, dann empfinde ich dieses Manko nicht als besonders gravierenden Nachteil. Im Übrigen wäre es das Ende politikwissenschaftlicher und historischer Forschung, wenn die teilnehmende Beobachtung zum Kriterium ihrer Wissenschaftlichkeit gemacht würde. Zur Terminologie Für diese Studie wurden aus praktischen Gründen folgende begriffliche Festlegungen getroffen: • Die Ortsnamen werden nur in serbischer Bezeichnung verwendet. Das erwies sich als zweckmäßig, weil in den verwendeten Dokumenten ebenso verfahren wurde. Eine andere Verfahrensweise hätte wohl zur Verwirrung beigetragen.85 • Mit dem Begriff „Sicherheitskräfte“ werden, dem Sprachgebrauch der VN und der OSZE folgend, die Kräfte der serbischen Polizei und der jugoslawischen Armee zusammengefasst. • „Flüchtlinge“ und „Vertriebene“: In dieser Studie wird generell die Bezeichnung „Flüchtlinge“ verwendet. Die VN machen einen Unterschied zwischen „Refugee“ und „Internally Displaced Person (IDP)“. Für den englischen Begriff „displaced person“ gibt es keine adäquate deutsche Übersetzung. Die häufige Praxis, „displaced person“ mit „Vertriebener“ zu übersetzen, ist jedenfalls nicht angemessen. Eine Unterscheidung zwischen „Flüchtlingen“ und „Vertriebenen“ ist in Bürgerkriegssituationen ohnehin praktisch kaum möglich.86
85 Human Rights Watch verwendet in einer Publikation bei der erstmaligen Nennung sowohl die serbische als auch die albanische Schreibweise und dann im weiteren Verlauf des Textes „um der Klarheit und Konsistenz willen“ nur noch die serbische Schreibweise. (Human Rights Watch, Under Orders. War Crimes in Kosovo. New York u.a. 2001, S. XXII). 86 Zur Problematik der Verwendung der Begriffe „Flüchtlinge“ und „Vertriebene“: Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt, a.a.O., S. 16.
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•
Die Bezeichnungen „Jugoslawien“ und „Bundesrepublik Jugoslawien“ werden synonym verwendet. • Der in der politischen Diskussion und Literatur häufig verwendete Begriff „internationale Gemeinschaft“ (IG) ist sehr unspezifisch und meint ganz unterschiedliche Gruppierungen. Er wird in dieser Studie nach Möglichkeit vermieden. • Als „OSZE-Vorsitzender“ wird der „Amtierende Vorsitzende der OSZE“ bezeichnet. Im Jahre 1998 war dies der polnische Außenminister Bronislaw Geremek, im Jahre 1999 der norwegische Außenminister Knut Vollebaek. „OSZE-Vorsitz“ bezeichnet den polnischen bzw. norwegischen OSZE-Botschafter in Wien („Ständiger Vertreter des Amtierenden Vorsitzenden“). Sie waren sozusagen die Geschäftsführer ihrer Außenminister vor Ort. III. Ausgewählte Gesamtdarstellungen zum Kosovo-Konflikt Die OSZE-Publikation „Kosovo/Kosova. As Seen, As Told“ Im Dezember 1999 veröffentliche das OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) unter dem Titel „Kosovo/Kosova. As Seen, As Told“ eine Dokumentation. Die Publikation sollte eine Analyse der Menschenrechtsverletzungen im Kosovo von Oktober 1998 bis Juni 1999 sein.87 Zur Methodologie ist zunächst festzustellen, dass hinter der Fülle von Informationen ein doch sehr fragwürdiger methodischer Ansatz steht. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich zwar von Oktober 1998 bis Juni 1999, doch einsatzfähig vor Ort war die Abteilung „Menschenrechte“ in der OSZE-Mission, die die Informationen sammelte, nur von Anfang Januar bis 18. März 1999. „As Seen“ bezog sich also nur auf diesen relativ kurzen Zeitraum. Über mehr als die Hälfte des hier relevanten Berichtszeitraums gilt die Erfassungsmethode „As Told“. Als zuverlässige Methode wäre dies zu akzeptieren, wenn alle vom Konflikt betroffenen Ethnien angehört worden wären. Doch nahezu alle interviewten Personen sind Kosovo-Albaner, vor allem Flüchtlinge in Albanien und Mazedonien. Mehr als 90 Prozent der Belege stammen aus diesen Quellen.
87 OSCE, Office tor Democratic Institutions and Human Rights, Kosovo/Kosova – As Seen, As Told. An anlalysis of the human rights findings oft he OSCE Kosovo Verification Mission, October 1998 to June 1999, Warsaw 1999.
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Angesichts dieser Einseitigkeit des Informationsaufkommens kann es dann auch nicht verwundern, dass der Eindruck entsteht, dass die Vielzahl der Menschenrechtsverletzungen angeblich eine strategische Planung beweist.88 Wenn der Direktor des BDIMR in seiner einführenden Danksagung erklärt, dass die Informationen, auf die sich dieser Bericht gründet, von den Menschen des Kosovo kommen,89 dann ist das ein Indiz für die Nachlässigkeit, mit der Serben, Roma und andere Minderheiten des Kosovo behandelt wurden. Der Schweizer Diplomat Gerard Stoudmann erweckt mit seiner Formulierung „from the people of Kosovo themselves“ den falschen Eindruck, als seien die Informationen repräsentativ für die gesamte Bevölkerung Kosovos. Abgesehen von den generellen Defiziten der Methode, lassen auch Einzelaspekte Zweifel an der Objektivität dieser OSZE-Dokumentation aufkommen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Es wird behauptet, Berichte zeigten, dass nach dem 18. März 1999 zusätzliche 30.000 jugoslawische/serbische Truppen im Kosovo stationiert wurden und deshalb sei die OSZE-Mission abgezogen worden.90 Die behauptete jugoslawische Truppeninvasion ist jedoch eine Falschmeldung. Das ergibt sich aus Zahlen der Dokumentation selbst: Um den 20. März 1999 belief sich die jugoslawische Truppenstärke in Kosovo auf etwa 30.000. Wären am 18. März weitere 30.000 hinzugekommen, dann hätte die Personalstärke von da an bei 60.000 liegen müssen. An anderer Stelle der Dokumentation heißt es jedoch, Ende April seien insgesamt 40.000 Soldaten und Polizisten in Kosovo gewesen.91 Dies war auch die Zahl, von der westliche Geheimdienste ausgingen.92 Ein zweites Beispiel für Inkonsistenzen ist die Behandlung des „Massakers von Racak“. In den zusammenfassenden Teilen wird festgestellt, die „killings“ von Racak enthüllten Muster der schwerwiegenden Vergehen der jugoslawischen und serbischen Kräfte gegen die Zivilbevölkerung.93 Im speziellen Teil heißt es: „Zur Zeit, da dieser Bericht geschrieben wird, ist es noch zu früh, eine abschließende und definitive Beurteilung der tatsächlichen Ereignisse in Racak am 15. Januar 1999 abzugeben.“94
88 89 90 91 92 93 94
Ebenda, S. VIII. Ebenda, S. V. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 29. Persönliche Recherche. OSCE, As Seen, As Told, a.a.O., S. IX. Ebenda, S. 355.
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Insgesamt zeigt ein Blick auf die Methode der Datensammlung und eine Betrachtung von Einzelbefunden, dass diese OSZE-Dokumentation keine durchgängig objektive Darstellung der Ereignisse im Kosovo ist. Der offensichtliche Mangel an Abstimmung zwischen den verschiedenen Teilen lässt aber wenigstens die Widersprüche erkennen und macht deutlich, dass sich die zusammenfassenden Teile deutlich den NATO-Sprachregelungen über die Ereignisse annähern. Womit könnte man derartige Tendenzen in einer offiziellen OSZE-Publikation erklären? Einen Schlüssel hierfür liefert eine ganz unverdächtige Zeugin. Die österreichische OSZE-Botschafterin im Jahre 2000, Frau Stefan-Bastl, führte bei einem Vortrag an der Landesverteidigungsakademie in Wien aus, „Amerika habe die OSZE weitgehend in der Hand... Die OSZE diene Amerika dazu, den Europarat, die EU und die ungeliebte UNO auszubremsen.... Russland habe kaum Verbündete in der Organisation, deren Mitglieder überwiegend auf den Westen hin orientiert seien. Auch deswegen habe Amerika einen entscheidenden Einfluß.“95 Dieser Eindruck der österreichischen Diplomatin stimmt mit meiner mehrjährigen Erfahrung mit der OSZE in Wien überein. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Analysen der OSZE eine pro-amerikanische und proNATO-Tendenz bei der Darstellung und Bewertung des Kosovo-Konflikts widerspiegeln – insbesondere, wenn sie nach dem 24. März 1999 verfasst wurden. Hätten sich die Autoren der Publikation „As Seen, As Told“ auf das verlassen, was die internationalen Beobachter aktuell berichtet und die Analysten vor dem 24. März 1999 bewertet hatten, wäre das Bild über den Konfliktverlauf objektiver ausgefallen. Dies gilt – wie bereits angedeutet – vor allem für die zusammenfassenden Bewertungen der Dokumentation, die unverhohlen den Luftkrieg der NATO legitimieren. Der Bericht der „Unabhängigen Internationalen Kosovo-Kommission“96 Die hochrangig besetzte Kommission – ihr gehörten 12 renommierte Sozialwissenschaftler, Völkerrechtler, Journalisten und Politiker an – war vom schwedischen Ministerpräsidenten Goran Persson gegründet worden. Sie
95 Neue Züricher Zeitung vom 26/27.2.2000. 96 Independent International Commission on Kosovo, Kosovo Report. (http:// www.kosovocommission. org/reports/...) Im Folgenden zitiert: Persson-Bericht.
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befragte mehr als 200 Experten, hielt mehrere Seminare ab und legte ihren Bericht dem Generalsekretär der Vereinten Nationen vor. Der Bericht analysiert den Kosovo-Konflikt in seinen militärischen, juristischen, historischen und diplomatischen Aspekten, und er enthält Folgerungen und Empfehlungen zu einzelnen Themen. Für diese Studie ist der Teil „Internal Armed Conflict“ aus dem Gliederungspunkt „What Happened“ zu betrachten. Die Zeit von Oktober 1998 bis März 1999 umfasst vier Seiten. Zu dieser Analyse ist im Einzelnen festzustellen: •
Im Bericht wird behauptet, die „serbische Armee“ habe eine große Zahl von Truppen ins Kosovo verlegt.97 Diese Behauptung, die wohl für Anfang Januar gelten soll, ist völlig aus der Luft gegriffen und durch nichts belegt. Im Übrigen gab es keine serbische, sondern nur eine jugoslawische Armee. Auch die Feststellung, die jugoslawische Armee habe 24 Bataillone mit mehr als 12.000 Soldaten rund um die Grenzen des Kosovo stationiert und Ende des Monats [welchen Monats? – H. L.] seien diese Kräfte in das Kosovo verlegt worden, entbehrt jeder Evidenz. • Die Kommission beklagt, dass sie keine verlässliche Zahl über Tötungsdelikte zwischen September 1998 und März 1999 ermitteln konnte, obwohl die OSZE mit einer substanziellen Beobachtungskapazität während der meisten Monate dieses Zeitraums präsent gewesen sei.98 Hierzu ist zu sagen: Mit einer substanziellen Zahl von Beobachtern war die OSZE nur vom Januar bis März 1999 vor Ort. Doch es gab eine OSZE-Statistik über die Tötungen für die Zeit vom Dezember 1998 bis März 1999.99 Außerdem wäre es ohne große Mühe möglich gewesen, wie dies Elsässer auch getan hat,100 aus der OSZE-Dokumentation „As Seen, As Told“ die Zahl der Tötungsdelikte zumindest annähernd zu ermitteln. • Es wird behauptet, jugoslawische Kräfte hätten in Racak 45 ethnische Albaner „exekutiert“.101 Hierzu ist nur auf die obige Feststellung zum „Massaker von Racak“ zu verweisen.
97 Ebenda, Teil 1. 2., S. 9. 98 Ebenda S. 11. 99 In einer Statistik vom 19. März 1999 kommt das OSZE-Lagezentrum zu folgenden Zahlen von „killed persons“: Dezember 1998: 71, Januar 1999: 113; Februar 1999: 39; März 1999: 40. 100 Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen, Hamburg 2000, S. 184 ff. 101 Persson-Bericht, Teil 1. 2., S. 9.
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•
Bereits für den Dezember 1998 wird konstatiert, die OSZE sei nicht mehr in der Lage gewesen, notwendige „Peace-Keeping“-Aufgaben durchzuführen.102 Abgesehen davon, dass die OSZE-Mission keine Peace- Keeping Aufgabe hatte, waren im Dezember 1998 nur einige Vertreter der US-Regierung der Auffassung, dass die OSZE-Mission ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen könne.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass dieser Teil des Kosovo-Berichts nicht geeignet ist, zuverlässig und objektiv darzustellen, was im Kosovo in den Monaten vor Beginn der NATO-Luftangriffe geschah und welche Rolle die OSZE in dieser Zeit spielte. Schwer zu verstehen ist es, dass in einer Studie, für die eine so hochrangig besetzte Kommission verantwortlich zeichnet, ein sehr wichtiger Teil, nämlich die Zeit der Eskalation zum Krieg, so lückenhaft, unkritisch und einseitig in einer US- bzw. NATO-Version dargestellt werden konnte. Dass aus einer derartig unzureichenden und fragwürdigen Analyse des „What Happened?“ auch nur begrenzt tragfähige Schlussfolgerungen und Empfehlungen abgeleitet werden können, liegt wohl auf der Hand. Es soll allerdings auch nicht unerwähnt bleiben, dass andere Teile des Berichts differenziert in der Darstellung und ausgewogen in ihrem Urteil sind und der Bericht insgesamt – trotz der dargestellten Schwächen – eine bemerkenswerte Aufarbeitung ist, die den Kosovo-Konflikt aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Bericht von Human Rights Watch „Under Orders”103 Das Hauptziel dieses Berichts ist es – so die Herausgeber –, die Kriegsverbrechen zu dokumentieren, die von den serbischen und jugoslawischen Regierungstruppen im Kosovo zwischen dem 24. März und dem 12. Juni 1999 begangen wurden.104 Man will einen glaubwürdigen Nachweis für die schrecklichen Ereignisse schaffen und hofft, dass dadurch auch die Täter vor Gericht gebracht werden. Außerdem dokumentiert der Bericht auch die Verletzungen des internationalen Kriegsvölkerrechts durch die UCK und die NATO. Die ungefähren Anteile an dem knapp 600 Seiten umfassenden Bericht weisen auf den Schwerpunkt hin: 90 Prozent jugoslawische Menschen-
102 Ebenda, S. 9. 103 Human Rights Watch, Under Orders, a.a.O. 104 Ebenda, S. XX.
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rechtsverletzungen, jeweils fünf Prozent Menschenrechtsverletzungen der UCK und der NATO. Die Endphase des Bürgerkriegs vom 1. Januar bis 23. März 1999 wird nur am Rande behandelt, sie beansprucht etwa ein Prozent des Umfangs des Gesamtberichts. Eine differenzierte Analyse ist deshalb auch gar nicht zu erwarten. Hinzu kommen inhaltliche Fehler. Es mag weniger wichtig sein, dass behauptet wird, die OSZE-Mission sei schon im Januar mit 2000 Beobachtern in Kosovo präsent gewesen.105 Tatsächlich war die Höchststärke im März etwa 1400 und im Januar waren knapp 1300 internationale Beobachter in Kosovo. Gravierender ist es schon, wenn Behauptungen der OSZE-Dokumentation „As Seen, As Told“ unkritisch übernommen werden. So sollen schon im Januar/Februar 1999 jugoslawische Verstärkungen und gepanzerte Kräfte ins Kosovo zurückgekommen sein, und während der Verhandlungen von Rambouillet hätten die Sicherheitskräfte eine militärische Offensive vorbereitet.106 Dies wurde zwar immer wieder nach Beginn des Krieges von der NATO und auch von deutschen Politikern behauptet, doch weder die OSZEBeobachter noch die deutschen Nachrichtenexperten konnten einen derartigen Kräfteaufwuchs feststellen. Auch davon, dass am 20. März 1999 nach dem Abzug der OSZE-Mission jugoslawisches Militär, Sonderpolizei, Paramilitärs und andere Bewaffnete in das Kosovo „hineinströmten“,107 hatten die deutschen Nachrichtenexperten trotz ihrer exzellenten Informationsmöglichkeiten offenbar nichts bemerkt. Insgesamt ist der Bericht von Human Rights Watch nicht geeignet, zu einer Aufarbeitung des Geschehens im Bürgerkrieg in der Zeit von Oktober 1998 bis zum 24. März 1999 und der Rolle der OSZE beizutragen. Bemerkenswert ist es allerdings, dass sowohl für den o.a. „Persson-Bericht“ als auch bei dem Human Rights Watch-Bericht die American Association for the Advancement of Science (AAAS) eine wichtige Rolle bei der statistischen Aufbereitung der Daten spielte. Die AAAS hatte selbst in einer Studie festgestellt, dass Jugoslawien ein kohärentes Programm der ethnischen Säuberung im Kosovo durchführte.108 Angesichts dieser Konstellation ist es wohl wenig überraschend, dass auch der Human Rights Watch-Bericht zu diesem Ergebnis kommt.
105 106 107 108
Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 56 f. Ebenda, S. 59. Persson-Bericht, Annex I, S. 14.
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IV. Erste Stationen eines Bürgerkrieges Der Balkan-Experte Wolf Oschlies meint, das Kosovo-Problem sei von „kompliziertester Simplizität... Eine nationale Minderheit, die Kosovo-Albaner, bildet in einer klar abgesteckten Region, dem serbischen Kosovo, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und leitet aus ihrer numerischen Stärke und regionalen Kompaktheit weitreichende Forderungen ab“.109 Wie aus dem „Problem“ ein schwerer Konflikt wurde, der schließlich in einen Bürgerkrieg eskalierte, soll hier nicht dargestellt werden. Hierzu gibt es genügend sachlich-objektive Literatur.110 Es bedarf auch keiner ausführlichen Begründungen, weshalb es gerechtfertigt ist, von der hier untersuchten Phase des Kosovo-Konflikts von einem Bürgerkrieg zu sprechen.111 Als Bezug seien nur zwei Definitionen angeführt: • „In innerstaatlichen gewaltsamen Auseinandersetzungen aller Art spricht man von Bürgerkrieg. Er ist ein mit Waffengewalt ausgetragener Machtkampf zwischen Aufständischen, Rebellen oder Insurgenten und der Regierung. Er kann aber auch ein Kampf zwischen organisierten politischen, ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen und der Regierung um die Herrschaft in einem Staat sein. Bürgerkriege werden meistens als ungeregelte Kriege unter Missachtung völkerrechtlicher Regeln und damit besonders grausam geführt. Häufig werden sie durch die Intervention dritter Staaten zugunsten einer Bürgerkriegspartei ausgeweitet.“112 • „Bürgerkrieg: Ein bewaffneter, nicht internationaler Konflikt innerhalb eines Staates, der zwischen den regulären Streitkräften des Staates und Widerstand leistenden Gruppen... in der Regel ausgetragen wird.“ 113
109 Wolf Oschlies, Kosovo' 98 (I): Ursachen und Kulmination eines alt-neuen BalkanKonflikts, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOSt) 20/1998, S. 4. 110 Ein facettenreicher Überblick findet sich in: Das Parlament, Thema Die BalkanKrise, 32- 33/1999. Detailgenau und mit kritischem Abstand zu beiden Konfliktparteien: Tim Judah, Kosovo – War and Revenge, New Haven und London 2000. Wolf Oschlies, Der Vierfrontenkrieg des Slobodan Milosevic, Berichte des BIOSt 18/1999: Ders.. Kosovo' 98 (I) und (II), Berichte des BIOSt 20/1998 und 21/l999. 111 Zur Problematisierung des Begriffs „Bürgerkrieg“ vgl. Herfried Münkler. Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002. 112 Bernd Weber, Kriege – Konflikte – Krisen in dieser Welt, IAP-Dienst, Bonn o. J., S. 4. 113 Buchbender – Bühl- Quaden, Wörterbuch zur Sicherheitspolitik, Herford 1985, S. 47.
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Der Beginn des Bürgerkrieges in Kosovo114 kann für Ende November 1997 angesetzt werden, als bei einem Begräbnis drei maskierte, uniformierte und bewaffnete Mitglieder der „Kosovo Befreiungsarmee“ (Ushtria Clirimtare e Kosoves – UCK) öffentlich in Erscheinung traten und einer der Kämpfer eine Ansprache hielt, „eine Art Kriegserklärung an die serbische Besatzungsmacht.“115 Im Persson-Bericht wird der Kriegsbeginn auf Ende Februar 1998 gelegt, als die serbische Polizei 58 Mitglieder der Jasheri-Familie tötete.116 „Wolfgang Ischinger, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und Christian Pauls, der Kosovo-Fachmann, blicken zurück: Das Drama, sagen sie, lässt sich ohne den 28. Februar 1998 nicht begreifen. Damals entbrannten bürgerkriegsähnliche Konflikte zwischen der kosovarischen UCK und der serbischen Sonderpolizei.“117 Die Eskalation der Gewalt Ende Februar 1998 hat eine doppelte Vorgeschichte – eine politische und eine militärische. Politisch wichtig war der Besuch des amerikanischen Sonderbotschafters für den Balkan und engen Vertrauten der amerikanischen Außenministerin, Robert S. Gelbard, in Jugoslawien. Bei zwei Pressekonferenzen, am 22. Februar in Pristina und am 23. Februar in Belgrad, bezeichnete er die UCK als „terroristische Organisation“, während er das Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte als „Polizeigewalt“ wertete:118 Für Judah war dies ein „Wendepunkt“. Wenn ein Repräsentant des mächtigsten Landes der Welt die UCK als terroristische Gruppe bezeichnete, dann konnte doch niemand etwas dagegen haben, wenn die serbische Polizei die Sache erledigen würde. Also, ein grünes Licht der USA für Milosevic zum Handeln?119 Kann man tatsächlich glauben, dass sich ein so erfahrener Diplomat wie Gelbard nicht darüber im Klaren war, was seine öffentliche Erklärung bewirken würde? Ist nicht auch die Vermutung plausibel, dass hier der Belgrader Führung ganz bewusst eine carte blanche angeboten wurde, um das
114 Die Frage, wann man von einem Bürgerkrieg in Kosovo sprechen kann, ist nicht rein theoretischer Art. Denn auch in einem internen Krieg gelten spezielle Rechte und Pflichten für die Kombattanten, steht die Zivilbevölkerung unter einem besonderen Schutz und ist die Zuständigkeit des „Haager Tribunals“ gegeben. 115 Bündnis 90/Die Grünen, Der Kosovo-Krieg, Bonn 1999, S. 10. 116 Persson-Bericht, a.a.O., Part I.1., S. 14. 117 Gunter Hoffmann, Wie Deutschland in den Krieg geriet, a.a.O., S. 17. 118 Wolfgang Petritsch/Karl Kaser/Robert Pichler, Kosovo – Kosova, Klagenfürt u.a. 1999, S. 211. 119 Tim Judah, Kosovo, a.a.O., S. 138.
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Kosovoproblem auf ihre Art und Weise zu lösen? Könnte es nicht auch sein, dass Milosevic in eine Falle gelockt wurde, um ihn nach dem zu erwartenden harten Vorgehen gegen die „albanischen Terroristen“ international anprangern zu können? Dies sind wichtige Fragen nach der amerikanischen politischen Strategie, die allerdings hier nicht beantwortet werden können. Zur militärischen Vorgeschichte der ersten großen Kämpfe Ende Februar/ Anfang März 1998 in der Drenica-Region gehörten Angriffe der UCK auf zwei serbische Polizeipatrouillen. Vier Polizisten wurden getötet. Darauf startete die Sonderpolizei eine Such- und Vergeltungsoperation gegen die Gehöfte zweier albanischer Clans, wo sie UCK-Kämpfer vermutete. Die Polizei ging dabei mit aller Brutalität und Rücksichtslosigkeit auch gegen Frauen und Kinder vor, die allerdings auch von den albanischen Kämpfern als „lebende Schutzschilder“ missbraucht wurden. Das Aktions-Reaktionsschema • Angriffe der UCK auf die Sicherheitskräfte, • exzessive und brutale Reaktion der Sicherheitskräfte gegen tatsächliche oder vermutete UCK-Kämpfer und mutmaßliche Unterstützer und Sympathisanten ist typisch für den weiteren Verlauf dieses Bürgerkriegs.120 Auf die Zivilbevölkerung nahmen beide Kriegsparteien wenig Rücksicht. Sie wurde auch – wie dies in Bürgerkriegen üblich ist – im Bedarfsfalle von den Guerillakämpfern als Deckung und Schutz genutzt und dadurch extrem gefährdet. Auch im größeren operativen Rahmen vollzog sich ein Eskalationsmuster, das sich später wiederholte. Durch ihre Guerillataktik hatte die UCK bis zum Juni 1998 etwa 30 bis 40 Prozent des Kosovo unter ihre Kontrolle gebracht.121 Sie übte in den „befreiten Gebieten“ hoheitliche Funktionen aus und attackierte immer wieder die serbische Polizei, indem sie eine „Hit-andRun- Taktik“ anwendete. Das heißt: überraschende Feuerüberfälle aus guter Deckung heraus und sofortiger Rückzug nach dem Angriff. Es kam auch zu Übergriffen gegen die serbische Zivilbevölkerung. Die überregionalen Stra-
120 Im Tschetschenien-Krieg ist ein ähnliches Handlungsschema erkennbar. Doch ist hier die von den tschetschenischen Rebellen und den russischen Sicherheitskräften ausgeübte Gewalt ungleich größer. 121 Anfang Juni erklärte der politische Sprecher der UCK Demaci, die UCK kontrolliere ein Gebiet von 3000 qkm mit 250 Dörfern und einer Bevölkerung von 700.000 bis 800.000 Menschen (OSZE-Monatsbericht vom 4. Juli 1998, S. 2, Archiv Loquai).
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ßenverbindungen gerieten immer wieder abschnittsweise unter die Kontrolle der UCK. Die serbische Polizei ging zwar mit örtlichen Angriffen gegen die UCK vor, doch die albanischen Guerilla-Kämpfer vermieden das offene Gefecht und wichen vor dem überlegenen Gegner zurück. Die jugoslawische Armee griff in diese Kämpfe kaum ein. Am 15. Juli 1998 konstatierte der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses vor dem NATO-Rat in Brüssel, die Zeit arbeite für die UCK, für die jugoslawischen Sicherheitskräfte werde es immer schwieriger, die Initiative zurückzugewinnen.122 Dies war eine bemerkenswerte militärische Lageeinschätzung. Sie bedeutete, dass die militärisch weit überlegenen Sicherheitskräfte in diesem Bürgerkrieg bereits in der Defensive waren und es mit fortlaufender Zeit immer schwieriger werden würde, aus dieser Lage herauszukommen. Die Belgrader Führung hatte also Mitte Juli 1998 zwei grundsätzliche militärische Handlungsmöglichkeiten. Sie hätte eine weitere Ausbreitung der UCK zulassen können. Recht bald wäre es dann wohl zu einer Segmentierung der Provinz gekommen, in der über weite Teile, insbesondere in den ländlichen Gebieten, die UCK geherrscht hätte. Die Alternative hierzu war der Versuch, die UCK entscheidend zu besiegen. Dass sich Belgrad für die zweite Möglichkeit entschied, konnte nach dem bisherigen Verlauf des Kosovo-Konflikts nicht überraschen. Für die Belgrader Führung reduzierte sich dieser Konflikt auch noch zu dieser Zeit auf das Problem der Bekämpfung von Terroristen. Eine massive Militäraktion gegen die UCK, ihre Unterstützer und Infrastruktur sowie die Fortsetzung der Repressionen gegen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung scheint die „Lösung“ der jugoslawischen Hardliner gewesen zu sein. Die UCK kam dieser Strategie entgegen. Sie trug den Kampf in die Städte und ließ sich auf größere Gefechte ein, die sie verlieren musste. Jugoslawische Armee und serbische Polizei starteten Ende Juli eine Großoffensive. Die UCK erlitt schwere Verluste und wurde weitgehend zurückgedrängt. Doch auch die kosovo-albanische Zivilbevölkerung wurde durch das gewalttätige und rücksichtslose Vorgehen der Sicherheitskräfte schwer in Mitleidenschaft gezogen. Ganze Dörfer wurden zerstört. Aus Angst vor der Gewalt floh die Zivilbevölkerung bzw. sie wurde vertrieben, die internationalen Hilfsorganisationen konnten ihre Arbeit nur noch sehr eingeschränkt durchführen. In dieser für die Zivilbevölkerung verzweifelten Lage intervenierten
122 Persönliche Recherche.
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nun – in einem konzentrierten Zusammenwirken – die Vereinten Nationen, die OSZE und die NATO. V. Kosovo als erstes operatives Tätigkeitsfeld der KSZE/OSZE Die KSZE hat ohne jeden Zweifel ganz entscheidend zur Überwindung des Ost-West-Konflikts beigetragen. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes war es das Bestreben der KSZE-Staaten, dem bisherigen KSZEProzess eine feste und dauerhafte organisatorische Grundlage zu geben. Aus der „Konferenz“ wurde eine „Organisation“. Der Gipfel Ende 1994 in Budapest entschied über die Umbenennung in OSZE, die ab 1. Januar 1995 in Kraft trat. Schnell war deutlich geworden, dass die optimistische Einschätzung der sicherheitspolitischen Lage in Europa der beginnenden 1990er Jahre nicht der Realität entsprach. In der „Charta von Paris für ein Neues Europa“ vom 21.11.1990 hieß es noch: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen... Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit.“123 Doch schon das „Helsinki-Dokument 1992“ stand unter der Überschrift „Herausforderungen des Wandels“, und die Staats- und Regierungschefs erklärten: „Wir stehen vor Herausforderungen und Chancen, aber auch vor ernsten Schwierigkeiten und Enttäuschungen... Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sind wir mit Krieg in der KSZE-Region konfrontiert.“124 Der jugoslawische Vielvölkerstaat brach auseinander. Krieg und Gewalt überzogen diese Region. Das Erbe der Vergangenheit konnte Europa nicht so schnell abschütteln. Früher als man erwartet hatte, mussten die in Helsinki verabschiedeten neuen Institutionen und Mechanismen der KSZE zur „Früherkennung, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ ihre Feuertaufe bestehen. Die KSZE setzte diese Instrumente auch sofort ein, wie Weller meint, „auf eine schöpferische und sehr aktive Weise.“125 Während sich die internationalen Bemühungen auf die Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina konzentrierten, befasste sich die KSZE schon frühzeitig mit der Krise im Kosovo. Sie behandelte diesen Konflikt nicht – wie andere dies taten – als eine eher zufällige Angelegenheit innerhalb des allgemeinen Aufruhrs in Jugoslawien, 123 Auswärtiges Amt, 20 Jahre KSZE 1973 – 1993, a.a.O., S. 144. 124 Ebenda, S. 171. 125 Marc Weller, a.a.O., S. 78.
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sondern als ein eigenständiges Problem mit einer gefährlichen Eigendynamik. Das Interesse der KSZE am Kosovo-Konflikt war vor allem durch Besorgnisse begründet, dass sich aus dem Kosovo heraus destabilisierende Wirkungen für die gesamte Region ergeben könnten. Ein Übergreifen des Konflikts auf Mazedonien, dessen Bevölkerung zu etwa einem Viertel aus ethnischen Albanern besteht, wurde schon damals befürchtet. Deshalb stationierte die KSZE im Sommer 1992 eine „Spill-Over“-Mission in Mazedonien. Sie sollte in Zusammenarbeit mit der im Dezember des gleichen Jahres eingerichteten UN-Mission eine Ausbreitung des Konflikts auf Mazedonien verhindern und zur inneren Stabilisierung des Landes beitragen.126 Den Konfliktherd „Jugoslawien“ einzudämmen, ein Übergreifen auf andere Länder zu verhindern, das war das erste Minimalziel, das sich auch die KSZE im internationalen Krisenmanagement gestellt hatte. Gleichzeitig versuchte die KSZE, aus ihrer originären Zuständigkeit heraus Menschenrechte durchzusetzen und mit Hilfe der neuen Institution eines „Hohen Kommissars für nationale Minderheiten“ ethnisch bedingte Spannungen zu verringern und auszugleichen. Als „Instrument der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ wollte die KSZE „Erkundungs- und Berichterstattermissionen“ nutzen. Die Regeln hierfür waren beim Helsinki-Gipfel 1992 verabschiedet worden.127 Schon kurze Zeit später sollten sie zur Anwendung kommen. Am 14. August 1992 beschloss der Ausschuss Hoher Beamter eine so genannte Langzeitmission für die größten Minderheitengebiete Jugoslawiens – Kosovo, Sandschak und Vojvodina – als ständige OSZE-Präsenz einzurichten. Im September 1992 nahm die OSZE-Mission ihre Arbeit vor Ort auf.128 Diese Mission hatte schon die auch für spätere OSZE-Einsätze charakteristischen Aufgaben: Beobachten, Berichten und Beraten.129 Bereits ihr erster Bericht kennzeichnet die Lage im Verhältnis der Konfliktparteien, wie sie auch für spätere Zeiten galt: „Beide Seiten bekundeten ihren Willen zum
126 Hierzu Wolfgang Moeller, Makedonien: Konfliktverhinderung durch präventive Stationierung von UN-Blauhelmen, in: Volker Matthies (Hrsg.), Der gelungene Frieden, Bonn 1997, S. 278-304. 127 Auswärtiges Amt, 20 Jahre KSZE 1973 -1993, a.a.O., S. 192. 128 Hansjörg Eiff, Die OSZE-Mission im Kosovo, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 1999, Baden-Baden 1999, S. 325. 129 Zu den Aufgaben im Einzelnen: Ebenda, S. 326 sowie Marc Weller, a.a.O., S. 96.
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Dialog. Es war jedoch klar, dass sie zur Zeit gefangen sind in diametral entgegengesetzten Positionen zur grundsätzlichen politischen Frage des Status des Kosovo in Serbien.''130 Die Schlussfolgerung des Berichts vom 17. November 1992 beschreibt die Lage in der Provinz wie folgt: „Der Eindruck herrscht vor, dass es auf keiner Seite große Bereitschaft gibt, aus der momentanen Sackgasse herauszukommen. Auf Seiten der Serben, weil sie eine ziemlich befriedigende Kontrolle über die Situation haben und ihre Sicherheitsgarantie auf alle ihre Bürger in Kosovo ausdehnen und weil sie auch keine klare und kohärente Vorstellung darüber haben, wie die Koexistenz mit den Albanern zu organisieren ist. Auf Seiten der Albaner, weil sie sich immer mehr in einem Parallelstaat und einer parallelen Wirtschaft organisiert haben, so dass sie die Last der Diskriminierung und Repression ertragen können, wenn diese nicht über das bisherige Maß hinausgeht.“131 Die Berichte geben durchweg einen guten Einblick in die grundsätzliche Problematik des Konflikts, sie zeigen die Schwierigkeiten in einzelnen Lebensbereichen (insbesondere im Ausbildungs- und Erziehungssystem) und finden klare Worte für die Unterdrückung der kosovo-albanischen Bevölkerung durch den serbischen Machtapparat. Die internationalen Experten verrichteten offenbar gute Arbeit. Dies wurde auch von jugoslawischer Seite anerkannt. Präsident Milosevic erklärte, die OSZE-Mission habe objektiv berichtet, ihre Mitglieder seien länger im Lande geblieben und daher auch nützlicher gewesen als viele internationale Kurzbesucher.132 Auch den Kosovo-Albanern war die Mission willkommen. Für sie war dies ein erster Schritt auf dem Weg zur angestrebten Internationalisierung des Kosovo-Problems. Ohne jemals die volle Personalstärke erreicht zu haben, musste die Mission jedoch im Juni 1993 ihre Arbeit beenden. Die jugoslawische Seite stimmte einer Verlängerung des Mandats nicht mehr zu, weil die OSZE nicht bereit war, die wegen der Rolle Belgrads im Bosnien-Konflikt seit dem 7. Juli 1992 wirksame Suspendierung der Mitgliedschaft der BRJ in der OSZE aufzuheben. Fünf Jahre lang gab es dann keine dauerhafte Präsenz der OSZE in Kosovo. Eiff meint hierzu, trotz der schwachen Befugnisse der ersten OSZEMission müsse „ihr Abzug im Lichte der späteren Entwicklung doch als
130 Marc Weller, a.a.O., S. 106 f. 131 Ebenda, S. 109. 132 Hansjörg Eiff, a.a.O. S. 326.
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gravierender Verlust eines potentiell bedeutsamen Instruments zur Beeinflussung der Lage im Kosovo angesehen werden.“133 Die Rückkehr dieser Mission nach Jugoslawien blieb eine ständige Forderung der OSZE an die jugoslawische Führung. Diese machte immer ihre Zustimmung von der Wiederzulassung Jugoslawiens zur OSZE abhängig. Bei der OSZE in Wien traf sich weiterhin eine Beobachtungsgruppe („Watch Group“), die allerdings erst mit der Eskalation des Kosovo-Konflikts im Jahre 1998 politische und operative Bedeutung erlangte. Es mag müßig erscheinen, darüber zu diskutieren, ob die Suspendierung der Mitgliedschaft Jugoslawiens in der OSZE nicht ein politischer Fehler war, der sich nachteilig auf das gesamte Geschehen in Ex-Jugoslawien auswirkte. Im Konferenzsaal in Wien stand weiterhin ein Schild „Federal Republic of Yugoslavia“. Doch die leeren Stühle dahinter waren ein Symbol. Die OSZE hatte sich der vielfältigen Möglichkeiten begeben, über ihre politischen Gremien Einfluss auszuüben. Die Aktivierung der jugoslawischen Mitgliedschaft blieb zwar auf der politischen Tagesordnung der OSZE. Doch die Widerstände einiger Staaten134 und die mangelnde politische Flexibilität der Belgrader Führung verhinderten dies zunächst. Erst nach der politischen Revolution in Belgrad wurde Jugoslawien am 10. November 2000 wieder in die OSZE aufgenommen. VI. Die „Oktober-Abkommen“ – eine tragfähige politische Plattform für eine friedliche Lösung des Konflikts? Orchestrierte politische Interventionen durch internationale Sicherheitsorganisationen Die Eskalation des Konflikts in Kosovo seit Beginn des Jahres 1998 erhöhte auch die politischen Aktivitäten der OSZE unter dem neuen Vorsitzenden, dem polnischen Außenminister Bronislaw Geremek.135 Am 21. Januar be133 Ebenda. 134 Insbesondere Albanien, Kroatien und die USA machten die Wiederzulassung Jugoslawiens von harten Bedingungen abhängig. Deutschland versuchte vergeblich, durch diplomatische Initiativen den Weg für einen Zugang Jugoslawiens zur OSZE zu ebnen. 135 In einem 10 Seiten langen Papier listete das polnische Außenministerium am 2.12.1998 die Aktivitäten der OSZE unter polnischem Vorsitz auf (Polish OSCE Chairmanship, The OSCE and the Kosovo Crisis – Archiv Loquai).
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fasste sich die OSZE-Troika136 mit der Lage in Kosovo. In der dem Treffen folgenden Presseerklärung drückten die Minister ernste Besorgnisse über zunehmende Spannungen in Kosovo aus. Sie forderten die Konfliktparteien auf, sich zu mäßigen und einen Dialog zu suchen. Ein Ergebnis dieses Treffens war auch die Beauftragung der Belgrader Botschafter der Troika, einen Erkundungsbesuch nach Kosovo durchzuführen und darüber zu berichten. Die Botschafter stellten fest, die Konfliktparteien verharrten in ihren gegensätzlichen Positionen. Es herrsche ein Mangel an Vertrauen. Deshalb sei eine Unterstützung durch einen „dritten internationalen Faktor“ eine „sine qua non Bedingung“, um die Parteien an den Verhandlungstisch zu bekommen.137 Die Erklärung Geremeks am 2. März 1998 war die erste offizielle Reaktion einer internationalen Organisation zur serbischen Repression der ethnisch albanischen Bevölkerung in Kosovo. Am 11. März befasste sich auch der Ständige Rat der OSZE mit dem inzwischen eskalierenden Konflikt.138 Bei seinem Besuch in Belgrad am 27. März versuchte Geremek vergeblich, Milosevic zu bewegen, eine ständige OSZE-Präsenz in Kosovo zu akzeptieren. Der jugoslawische Präsident machte dies von einer Lösung der Frage der jugoslawischen Mitgliedschaft in der OSZE abhängig. In der folgenden Zeit blieb die OSZE zwar nicht passiv. Doch diplomatischer Druck ging vor allem von der Kontaktgruppe,139 den Vereinten Nationen und der NATO aus. Der VN-Sicherheitsrat verabschiedete am 31. März die Resolution 1166. Dies war erst die zweite Resolution zum Kosovo-Konflikt, was darauf hindeutet, dass dieser Konflikt bis dahin eher im Schatten des Krieges in Bosnien- Herzegowina stand.140 Die Resolution verurteilte:141
136 Der OSZE-Troika gehören jeweils an: Das Land, das den OSZE-Vorsitz führt, der Vorsitz aus dem vergangenen Jahr und der Vorsitz des kommenden Jahres. Im Jahre 1998 waren Mitglieder der Troika: Polen, Dänemark lind Norwegen. 137 Persönliche Recherche. 138 Marc Weller, a.a.O., S. 292. 139 Die sog. (Balkan)Kontaktgruppe war ein informelles politisches Steuerungsorgan, das politische Initiativen ergriff und abstimmte, bevor sie in die formellen Strukturen, wie z.B. die UN, eingeführt wurden. Mitlieder waren Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Russland und die USA. Ausführlicher hierzu: Günter Joetze, a.a.O., S. 243. 140 Hierzu David Travers, The UN: Squaring the CircIe, in: Tony Weymouth/Stanley Henig, The Kosovo Crisis, a.a,O., S, 248. 141 Mare Weller, a,a.O., S. 188.
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•
die exzessive Gewalt der serbischen Polizei gegen Zivilisten und friedliche Demonstranten in Kosovo, • alle terroristischen Handlungen durch die UCK oder irgendeine andere Gruppierung oder Einzelperson, • jede Unterstützung terroristischer Aktivitäten in Kosovo von außerhalb, einschließlich Geld, Waffen und Ausbildung. Der Sicherheitsrat stellte fest, er werde nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen tätig. Dies ist eine Voraussetzung für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Artikel 39 ff. der Charta der Vereinten Nationen, einschließlich militärischer Maßnahmen.142 Die Resolution enthielt auch den Beschluss eines Waffenembargos gegen Jugoslawien (einschließlich Kosovo). Da die jugoslawischen Sicherheitskräfte genügend Waffen in ihrem Arsenal hatten, richtete sich das Embargo faktisch gegen die UCK. Dagegen verstieß die internationale Gemeinschaft fortwährend. Auch die NATO schaltete sich ab Anfang März 1998 deutlicher in den Konflikt ein. Das geschah zunächst mit Erklärungen des NATO-Rats an alle Konfliktparteien. Die NATO-Botschafter machten klar, dass die Stabilität der Region ein legitimes Interesse des Bündnisses ist. Die Entwicklungen in Kosovo schienen besorgniserregend zu sein.143 Die NATO-Ratssitzung auf Ministerebene am 28. Mai war ein Wendepunkt im Engagement der Allianz. Bisher hatte die NATO vor allem durch Erklärungen andere Organisationen unterstützt. Nun beschloss das Bündnis eigene konkrete Aktionen (z.B. militärische Übungen), insbesondere zur Stabilisierung der Länder Mazedonien und Albanien, die durch ein Übergreifen des Kosovo-Konflikts besonders gefährdet erschienen. Bei den vorbereitenden Erörterungen in Brüssel für dieses Außenministertreffen erweckte Deutschland besondere Aufmerksamkeit. Mit dem Argument, bei der Untersuchung von Handlungsmöglichkeiten der NATO dürften nicht nur flankierende Maßnahmen untersucht werden, sondern es müssten auch Maßnahmen einbezogen werden, die sich des Kosovo-Problems in seinem Kern annehmen, schienen die Deutschen für ein militärisches Eingreifen in den Konflikt schon zu dieser Zeit zu votieren. So wurde der deutsche Einwand jedenfalls von den anderen Bündnispartnern verstanden, die besorgt bei der
142 Hierzu im Einzelnen: Sven Bemhard Gareis/Johannes Varwick, Die Vereinten Nationen, Aufgaben, Instrumente und Reformen, Opladen 2002. 143 Erklärungen des NATO-Rats vom 15. und 30. April 1998, in: Marc Weller, a,a,O., S, 275.
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deutschen NATO-Vertretung nachfragten.144 Es will schon etwas heißen, dass selbst die Briten und Amerikaner durch das Vorpreschen der Deutschen offenbar alarmiert waren. Für das NATO-Außenministertreffen hatte der deutsche Vorstoß für die Ausplanung einer militärischen Intervention noch keinen Erfolg. Die kurze Zeit später tagenden Verteidigungsminister der Allianz beauftragten dann aber die NATO-Militärbehörden, die gesamte Bandbreite von Optionen zu entwickeln und zu bewerten, die geeignet sind, einer systematischen, gewaltsamen Repression oder Vertreibung in Kosovo Einhalt zu gebieten.145 Das heißt, die NATO-Militärs arbeiteten nun auch an Plänen für einen Krieg gegen Jugoslawien. Damit war die Allianz der deutschen Initiative gefolgt.146 Die entsprechenden Planungen waren im Sommer 1998 abgeschlossen.147 Die NATO führte dann im Juni 1998 je eine Luftwaffenübung in Mazedonien und Albanien durch, im August eine Ausbildungsübung in Albanien und im September eine gleichartige Übung in Mazedonien. Diese Übungen waren politische Signale, die sich vor allem an Jugoslawien richteten. Das Bündnis wollte seine Entschlossenheit demonstrieren, ein Übergreifen des Kosovo-Konflikts auf Nachbarländer zu verhindern und auf militärische Tuchfühlung mit Jugoslawien zu gehen. Neben den multilateralen Aktivitäten waren zu dieser Zeit vor allem zwei bilaterale diplomatische Vorstöße von Bedeutung: • Während der Sommerpause besuchte die amerikanische Außenministerin Albright mehrere europäische Länder, um sie auf den Kurs der USPosition zu bringen, damit bei einer militärischen Intervention der NATO
144 Persönliche Recherche. 145 Marc Weller, a.a.O., S. 276. 146 Treibende Kraft hinter dem deutschen Bestreben, al1 e Optionen zu untersuchen, war u.a. der damalige Verteidigungsminister Ruhe, der schon bis dahin die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Militäreinsätzen forciert hatte. 147 Über den genauen Zeitpunkt des Abschlusses der Planungen äußerten sich die verantwortlichen Generale Naumann und Clark in einer ZDF-Sendung am 21. September 1999 widersprüchlich. Naumann meinte, im September 1998 seien die Planungen begonnen worden, nach Clark waren sie bereits Ende Juni 1998 beendet (ZDF-Sendung „Chronik eines angekündigten Krieges. Eine Bilanz des KosovoKonfliktes“, 21. September 1999).
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in Kosovo notfalls auf ein Mandat des VN-Sicherheitsrats verzichtet werden könnte.148 • Bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten am 16. Juni 1998 ging der jugoslawische Präsident Milosevic verschiedene Verpflichtungen ein, von denen nur eine praktische Bedeutung hatte: die Einrichtung einer Diplomatischen Beobachter-Mission für Kosovo (Kosovo Diplomatie Observer Mission – KDOM).149 Die in Belgrad vertretenen Botschaften konnten ihr Botschaftspersonal kurzfristig aufstocken, und den diplomatischen Beobachtern wurde freie und ungehinderte Bewegung in der gesamten Provinz zugesichert. Dass der amerikanische Teil dieser Mission versuchte, die verschiedenen Teile der UCK zu vereinigen,150 dürfte wohl außerhalb des Mandats gewesen sein. Im August/September 1998 trieb der Kosovo-Konflikt einer schweren Krise zu. Die Operationen der serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte gegen die UCK und ihre logistischen Basen richteten sich auch gegen die kosovoalbanische Zivilbevölkerung und deren Lebensgrundlagen. Sie verbreiteten Angst und Schrecken und trieben die Bevölkerung in die Flucht. Die Zahl der Flüchtlinge in Kosovo und den Nachbarländern und –regionen stieg im Juli und August sprunghaft an:151 • • • •
29.7.1998 – 50.000 Flüchtlinge 24.8.1998 – 235.000 Flüchtlinge 8.9.1998 – 281.000 Flüchtlinge 30.9.1998 – 292.000 Flüchtlinge
In einem Bericht des UNHCR vom 15. September 1998 heißt es: „Aus einer humanitären Perspektive ist es offensichtlich, dass getötete Zivilisten nicht einfach,kollaterale Schäden' sind. In Kosovo sind Zivilpersonen die hauptsächlichen Opfer geworden – wenn nicht sogar die eigentlichen Ziele der Kämpfe.“152 In seinem Bericht an den Sicherheitsrat vom 11. September sprach der VN-Generalsekretär davon, dass angesichts des nahenden Winters die ge-
148 So Holbrooke auf einer Pressekonferenz am 28.10.1998 (Mare Wel1er, a.a.O., S. 296). 149 Mare Weller, a.a.O., S. 292. 150 Persson-Bericht, Part I. 2., S. 5. 151 Zahlen nach UN Inter-Agency Updates on Kosovo, in : Marc Weller, Crisis, a.a.O., S. 264 ff. 152 Ebenda, S. 258.
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genwärtige humanitäre Krise zur „humanitären Katastrophe“ werden könne. Damit war ein Aktionen auslösendes und rechtfertigendes Schlüsselwort für die Zukunft gegeben. In seiner Resolution 1199 vom 23. September153 nahm der Sicherheitsrat gleich dreimal den Begriff der „humanitären Katastrophe“ auf, um die Bedrohlichkeit der Lage in Kosovo darzustellen. Der Sicherheitsrat verschärfte seine Sprache gegenüber Jugoslawien deutlich im Vergleich zur Resolution vom 31. März 1998. Er beschuldigte die serbischen Sicherheitskräfte und die jugoslawische Armee der „exzessiven und wahllosen Gewaltanwendung.“ Zwar wurden auch terroristische Handlungen zur Verfolgung politischer Ziele verurteilt, doch die UCK wurde in diesem Zusammenhang nicht mehr ausdrücklich genannt. Die Verurteilung der Unterstützung terroristischer Aktivitäten von außerhalb war wohl mehr ein politischer Merkposten. Für die Zukunft waren aus dieser Resolution vor allem drei Forderungen bedeutsam: •
die sofortige Einstellung aller Feindseligkeiten und die Einhaltung einer Waffenruhe, • der Rückzug der Einheiten der Sicherheitskräfte, „die zur Unterdrückung der Zivilbevölkerung eingesetzt werden“, • die Ermöglichung einer wirksamen und fortgesetzten Überwachungstätigkeit in Kosovo.
Eher am Rande dieser Resolution findet sich ein Passus, der für die rechtliche Situation im Kosovo-Konflikt von besonderer Bedeutung ist. Am 7. Juli hatte die Chefanklägerin des Haager Kriegsverbrechertribunals der Kontaktgruppe mitgeteilt, die Situation in Kosovo stelle einen bewaffneten Konflikt dar, auf den sich das Mandat des Tribunals erstrecke. Der Sicherheitsrat bestätigte nun faktisch durch seine Kenntnisnahme diese Rechtsauffassung und die neue rechtliche Qualität des Konflikts, für den jetzt auch die Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts galten, insbesondere diejenigen zum Schutz der Zivilbevölkerung. Die NATO auf dem Weg zu einem Krieg gegen Jugoslawien Die NATO hatte spätestens Mitte September 1998 ihre Planungen für eine militärische Intervention in den Kosovo-Konflikt, d.h. für einen Krieg gegen
153 Ebenda, S. 190 f.
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Jugoslawien, abgeschlossen. Die Vorbereitungen für einen Luftkrieg liefen an. Politisch war das Terrain von der amerikanischen Außenministerin in Konsultationen mit den Europäern vorbereitet, sie hatte die amerikanische Auffassung durchgesetzt, dass für einen Luftkrieg gegen Jugoslawien kein Mandat des VN-Sicherheitsrats erforderlich sei.154 Für den durch die Lewinski- Affäre in politische Bedrängnis geratenen amerikanischen Präsidenten ergab sich die Möglichkeit, außenpolitische Handlungsfreiheit und Entschlusskraft zu demonstrieren, die zum Eingreifen drängenden amerikanischen Medien zufrieden zu stellen und durch eine krisenhafte Zuspitzung in der Außenpolitik innenpolitisch entlastet zu werden. Diese innenpolitischen Gegebenheiten waren – wie diplomatische Kreise in Washington urteilten – ein wichtiges Motiv für die Kosovo-Politik der USA zu dieser Zeit.155 Washington erhöhte nun den Druck bei den Konsultationen in den NATOGremien, um rasch das militärische Potential des Bündnisses zu aktivieren. Die VN-Resolution 1199 wurde als Legitimationsbasis in Anspruch genommen, obwohl sie kein Mandat des Sicherheitsrats für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen enthielt. Die Briten unterstützten, wie nicht anders zu erwarten war, die USA. Auch der NATO-Generalsekretär stellte sich deutlich erkennbar in die Dienste der Führungsmacht des Bündnisses.156 Am 24. September löste die Allianz die Stufe ACTWARN (Activation Warning) im NATO-internen Mobilisierungssystem aus. Nun konnte der NATOOberbefehlshaber Europa die Mitgliedstaaten offiziell auffordern, diejenigen Kontingente zu melden, mit denen sie sich an Luftangriffen gegen Jugoslawien beteiligen würden. Damit steuerte die NATO auf einen Krieg gegen Jugoslawien zu. Im weiteren Verlauf des Geschehens gab es drei Entwicklungen, die relativ unabhängig zu verlaufen schienen, aber doch einen inneren Zusammenhang hatten. Im Bürgerkrieg vor Ort stabilisierte sich die Lage. Die Zahl der Flüchtlinge wuchs nicht weiter, an einigen Orten kehrten sie bereits zurück. Die Belgrader Führung erklärte die Operationen der Sicherheitskräfte für beendet, einzelne Einheiten wurden abgezogen. Die internationalen Hilfsorganisationen konnten ihren Einsatz verstärken. Am 6. Oktober zeichnete die
154 Holbrooke meinte in einer Pressekonferenz, „damit habe Madeleine Albright die meiste Zeit des Sommers verbracht.“ (Marc Weller, a.a.O., S. 298). 155 Persönliche Recherche. 156 Persönliche Recherche.
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deutsche Botschaft in Belgrad aufgrund eigener Erkenntnisse und der Informationen ihrer Sondierungen vor Ort folgendes Lagebild: Die Beobachter vor Ort hätten in den letzten Tagen freien Zugang zu allen Gebieten. Die Anzahl der Kontrollposten der Polizei sei verringert worden. Die jugoslawische Armee habe sich fast vollständig in die Kasernen zurückgezogen, andere Armeeverbände seien in Kasernen außerhalb des Kosovo verlegt worden. Die Flüchtlingssituation scheine sich etwas zu entspannen. Die Anzahl der Flüchtlinge im Freien nehme ab. Die Flüchtlingsrückkehr werde sich beschleunigen, wenn die Waffenruhe anhalte. Mit dem Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte und der Rückkehr der Flüchtlinge komme auch die UCK wieder zurück. Sie werde versuchen, in das entstandene Vakuum zu stoßen und sich wieder zu etablieren.157 Anscheinend unabhängig von der Situation vor Ort verstärkten die USA und die NATO ihren politischen Druck auf die Belgrader Führung durch ihre militärischen Vorbereitungen auf einen Krieg. Der amerikanische Verteidigungsminister Cohen erklärte am 2. Oktober, NATO-Luftangriffe könnten in zwei Wochen erfolgen. Am 8. Oktober verkündete Präsident Clinton, er habe die amerikanische NATO-Botschaft angewiesen, NATO-Luftangriffen gegen Serbien im NATO-Rat zuzustimmen, falls Präsident Milosevic fortfahre, sich der internationalen Gemeinschaft zu widersetzen.158 Am 10. Oktober wurden sechs amerikanische B-52 Bomber nach Großbritannien verlegt und dort in Alarmzustand versetzt. Am 13. Oktober eskalierte die NATO weiter. Mit der Stufe ACTORD (Activation Order) stimmte der NATO-Rat dem Einsatzbefehl für einen Luftkrieg gegen Jugoslawien zu, d.h. der NATO-Generalsekretär konnte jederzeit den NATO-Oberbefehlshaber in Europa anweisen, mit den Luftangriffen gegen Jugoslawien zu beginnen. Krisendiplomatie Der dritte Entwicklungsstrang waren diplomatische Anstrengungen, die das Ziel hatten, einen drohenden Krieg doch noch zu vermeiden. Damit kam nun auch die OSZE wieder ins Spiel, die bei der bisherigen Zuspitzung der Lage keine Rolle gespielt hatte. Am 5. Oktober konnte der russische Außenmi-
157 Persönliche Recherche. 158 Marc Weller, a.a.O., S. 278.
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nister dem OSZE-Vorsitzenden einen ersten Erfolg seiner Gespräche mit der jugoslawischen Führung aus Belgrad mitteilen. Diese war offenbar bereit, eine OSZE-Mission in Kosovo zuzulassen. Am 6. Oktober sprach der jugoslawische Außenminister eine Einladung an die OSZE aus. Der OSZEVorsitzende reagierte mit einem eher hinhaltenden Schreiben, er schien noch nicht bereit zu sein, den Ball aufzunehmen.159 Am 9. Oktober begann der amerikanische Diplomat Richard Holbrooke Gespräche mit dem jugoslawischen Präsidenten Milosevic. Am Morgen des 13. Oktober – so die offizielle Version – stimmte der jugoslawische Präsident einem Abkommen zu. Damit schien ein Krieg in letzter Minute abgewendet und eine Perspektive für eine friedliche Lösung des Konflikts eröffnet zu sein. Der OSZE war plötzlich eine entscheidende Rolle und wichtige Aufgabe in diesem Konflikt zugefallen. Der hier kurz dargestellte Ablauf des politischen und militärischen Krisenmanagements wirft eine Fülle von Fragen auf. Sie werden erst mit letzter Klarheit zu beantworten sein, wenn die Archive zugänglich sind. So könnte man fragen, warum die NATO die „Activation Order“ überhaupt in Gang setzte. Hatte nicht der bereits vorher aufgebaute Druck die jugoslawische Seite zum Nachgeben gebracht? Ließ sich ein Automatismus militärischer Entscheidungsketten nicht mehr aufhalten? Wollten die USA für die Zukunft die Welchen stellen, um jederzeit die Belgrader Führung militärisch unter Druck setzen zu können? Antworten auf diese Fragen sind mit den verfügbaren Quellen zumeist spekulativ. Vielleicht eröffnet eine Passage aus einem Buch Holbrookes ein Verständnis für die amerikanische Kosovo-Politik zu jener Zeit. Holbrooke, der diese Politik ja wesentlich mitbestimmt hat, schreibt: „Allmählich entwickelte ich ein Gefühl für die Serben.... sie waren eigensinnig und nahmen den Mund gerne voll. Aber wenn man es darauf ankommen ließ, und ihnen die Pistole auf die Brust setzte, waren es letzten Endes nur kleine Rabauken... Der Westen hatte während der letzten Jahre den Fehler gemacht, die Serben so zu behandeln, als seien sie rational denkende Menschen, mit denen man ernsthaft diskutieren und vernünftig verhandeln konnte. Tatsächlich reagierten sie nur auf Gewalt...“160 Der jugoslawische Präsident schien der typische Serbe zu sein, der nur die Sprache der Gewalt verstand. So meinte auch der Abgeordnete Dr. 159 Marc Weller, a.a.O., S. 292 f. 160 Richard Holbrooke, Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, München 1998, S. 242.
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Hornhues (CDU/CSU) in seinem Bericht über die Beratungen in den Ausschüssen am 16. Oktober 1998 im Deutschen Bundestag, es sei notwendig einen Beschluss zu fassen, „damit das Schwert – symbolisch gesprochen – über Milosevic hängen bleibt.“161 Die offizielle Sprachregelung lautet, erst die Auslösung von ACTORD durch die NATO habe Milosevic bei seinen Verhandlungen mit Holbrooke zum Einlenken bewegt. Außenminister Kinkel am 16. Oktober 1998 im Bundestag: „... nachdem Milosevic keinerlei Bereitschaft zur Umsetzung dessen gezeigt hat, was wir ihm in der Sicherheitsratsresolution auferlegt hatten, gab der NATO-Rat dem NATO-Oberbefehlshaber die Ermächtigung zum Einsatzbefehl für begrenzte Luftoperationen … Erst dieser höchste Grad der militärischen Drohung hat in Belgrad die Einsicht bewirkt, den Forderungen des UN-Sicherheitsrates in letzter Minute doch noch nachzukommen...“162 Diese offizielle Version von der Kriegsdrohung als eine Art ultima ratio ist Allgemeingut in Medien und einschlägiger Literatur. Doch Zweifel sind angebracht. Eine Erklärung der serbischen Regierung vom 13. Oktober 1998 spricht von der „definitiven Übereinkunft, die am Montag erreicht wurde“.163 Der „Montag“ war jedoch der 12. Oktober!164 Doch überzeugender mag wohl folgendes sein: In einem Sprechzettel für Außenminister Kinkel anlässlich der Kabinettsitzung am 14. Oktober ist von einer „Einigung zwischen Holbrooke und Milosevic am 12.10.“ die Rede.165 Dies spricht dafür, dass Milosevic schon vor der Auslösung von ACTORD zugestimmt hatte und dieser schwerwiegende Eskalationsschritt aus anderen Gründen erfolgt war als den im Bundestag genannten. Das „Deutsche Problem“ Während sich der Konflikt um das Kosovo zuspitzte, befand sich die deutsche Politik in einer schwierigen Situation. Im Bundestagswahlkampf während des Sommers 1998 hatte das Thema „Kosovo“ keine Rolle gespielt. 161 Deutscher Bundestag, 248. Sitzung vom 16. Oktober 1998, Plenarprotokoll, 13. Wahlperiode, S. 23132. 162 Ebenda, S. 23128. 163 Marc Weller, a.a.O., S. 279. 164 Hierzu auch: „After 50 hours of face-to-face negotiations, the deal was made on October 12, but announced on October 13“ (Vojin Joksimovich, Kosovo Crisis. A Study in Foreign Policy Mismanagement, Los Angeles 1999. S. 201). 165 Persönliche Recherche.
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Die Wahl am 27. September führte zu einem Machtwechsel, der jedoch, als der Bundesregierung wichtige politische Entscheidungen abverlangt wurden, noch nicht vollzogen war. Das heißt, formal mussten noch die alte Bundesregierung und der alte Bundestag dem ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach 1945 zustimmen. Die amerikanische Regierung beobachtete die designierte rot-grüne Regierung eher mit verhaltenem Misstrauen. Lakonisch meinten deutsche Diplomaten in Washington: „Sollte das Vorpreschen der USA in der KosovoFrage die rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Bonn aus der Bahn werfen, so wird dies in Washington wohl auch nur Krokodilstränen hervorrufen.“166 Am 9. Oktober machten Schröder und Fischer ihren „Antrittsbesuch“ in Washington. Joetze, der sich auf einen Teilnehmer an der Reise beruft, beschreibt die deutsche Position wie folgt: „Sollte in naher Zukunft in der Nato eine Entscheidung zum militärischen Eingreifen nötig werden, so wird die neue Bundesregierung die Nato-Entscheidung nicht blockieren, aber die Bundeswehr wird an ihrer Ausführung nicht teilnehmen, wegen der historischen Belastungen und,wegen der inneren politischen Situation'. Besser wäre es auf jeden Fall, mit der Entscheidung zu warten, bis der neue Bundestag zusammengetreten und die neue Bundesregierung konstituiert ist.“167 Schröder, der sich diese Angelegenheit für sein Vieraugengespräch mit Clinton vorbehalten hatte, gewann wohl den Eindruck, der amerikanische Präsident sei mit dieser deutschen Position einverstanden. Doch Holbrooke behauptete schon am nächsten Morgen gegenüber Milosevic, die Deutschen seien an Bord, er könne jeden Hintergedanken auf das deutsche Wahlergebnis vergessen.168 Ziemlich unerwartet verlangte dann Washington am 12. Oktober innerhalb von 15 Minuten von den Deutschen eine Entscheidung.169 Im Bundestag erklärte später Schröder, Holbrooke habe ihn „wissen lassen“, Milosevic sei erst dann zum Nachgeben bereit gewesen, „als ihm klar wurde, dass die internationale Handlungsfähigkeit Deutschlands nicht eingeschränkt ist und die NATO in der Lage war, ihre militärische Drohung uneingeschränkt wahr zu machen – uneingeschränkt, das heißt: unter Mit-
166 167 168 169
Persönliche Recherche. Günter Joetze, a.a.O., S. 37. Marc Weller, a.a.O., S. 298. Gunter Hofmann, a.a.O., S. 18.
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wirkung der Streitkräfte“.170 Der deutsche Bundeskanzler konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass Holbrooke gegenüber dem jugoslawischen Präsidenten schon zwei Tage vor der offiziellen deutschen Zustimmung damit operiert hatte. Der plötzliche Zeitdruck, den die USA aufbauten, gibt manche Rätsel auf. Es wird darüber spekuliert, dass man „vollendete Tatsachen bei den Neulingen in Bonn“ schaffen wollte.171 Am 21. Oktober berichtet die deutsche Botschaft aus Washington nach Sondierungsgesprächen im amerikanischen Außenministerium: „Botschaft hat ihr Verwundern nicht verhehlt, dass die Amerikaner sich jetzt soviel Zeit lassen, nachdem sie zuvor ohne Rücksicht auf die innerstaatlichen Verfahren der Partner auf schnelles Handeln drängten.“172 Ein eigenartiges Szenario eröffnet sich: Die USA benutzten das angebliche Verhalten des jugoslawischen Präsidenten, um auf Deutschland Zeitdruck auszuüben, sie instrumentalisierten das angebliche deutsche Verhalten, um Milosevic unter Druck zu setzen. Spiegelbildlich wurden der deutsche Bündnispartner und der jugoslawische Präsident geblufft. Doch dieses geglückte Manöver war Mittel zum Zweck. Was war der Zweck? Vieles spricht dafür, dass die USA auf jeden Fall eine Entscheidung für die Activation Order durch den NATO-Rat bekommen wollten. War diese Entscheidung einmal getroffen, war es auch nur im Konsens möglich, sie wieder aufzuheben. Die USA hielten wohl ein permanentes, jederzeit zu aktivierendes Drohpotential für erforderlich, um Milosevic zu zwingen, seine Verpflichtungen einzuhalten. Außerdem erübrigten sich bei einer späteren Auslösung von Luftangriffen erneute lange Entscheidungsprozesse im Bündnis. Nach dieser politischen Logik war es auch konsequent, ACTORD am 27. Oktober nur auszusetzen und nicht aufzuheben. So bestand jederzeit die Möglichkeit, nach Konsultationen im NATO-Rat den Einsatzbefehl wieder zu aktivieren. Die USA hatten – bildlich gesprochen – Milosevic den Colt auf die Brust gesetzt, sie konnten jederzeit abdrücken. Eine wichtige Weiche für den Krieg war vorsorglich gestellt worden.
170 Deutscher Bundestag, 248. Sitzung vom 16. Oktober 1998, Plenarprotokoll, 13. Wahlperiode, S. 23136. 171 Gunter Hofmann, a.a.O., S 18. 172 Persönliche Recherche.
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Das Holbrooke-Milosevic-Abkommen Das so genannte Holbrooke-Milosevic-Abkommen war die politische Grundlage für die nächsten Schritte zur Regelung des Kosovo-Konflikts. Über die Form dieser Vereinbarung ist nur wenig bekannt. Weder der OSZE noch der Bundesregierung liegt ein formelles Abkommen vor. Die USA haben allerdings die Regierungen der Kontaktgruppen-Länder, NATO-Staaten und den OSZE-Vorsitz mit einem Schreiben über den Inhalt der getroffenen Vereinbarungen informiert. Danach hatte der jugoslawische Präsident Milosevic folgende Verpflichtungen übernommen:173 • Vollständige Erfüllung der Forderungen der VN-Resolution 1199, einschließlich eines sofortigen Waffenstillstandes, Rückzug der nicht im Kosovo ständig stationierten Truppen, sofortiger Zugang der humanitären Hilfsorganisationen zu den Hilfsbedürftigen, Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag. • Akzeptierung eines strengen Verifikations-Regimes, einschließlich einer OSZE-Mission mit bis zu 2000 „Verifikateuren“ in Kosovo und einer NATO-Luftüberwachung mit unbeschränkten Überflugrechten in der Provinz. • Erstellung eines Zeitplans für den Abschluss einer politischen Vereinbarung, die Kosovo eine Selbstverwaltung und eigene lokale Polizei gibt. Die Rechte und Befugnisse der OSZE-Mission wurden definiert. Sie sollte weitgehende Inspektionsrechte haben, Forderungen an die Staatsorgane stellen können und – nach einer politischen Lösung des Konflikts – Wahlen beaufsichtigen und Hilfe leisten beim Aufbau von Institutionen und der lokalen Polizei.174 Zweck der OSZE-Mission war es nicht nur zu überwachen, ob die jugoslawische Seite ihre Verpflichtungen einhält. Durch ihre Präsenz sollte sie Vertrauen schaffen und die Flüchtlinge zur Rückkehr in ihre Dörfer veranlassen.175 Wie wichtig diese im Abkommen nicht ausdrücklich erwähnte
173 Vgl. Dokumentenanhang, Dokument 1. 174 Um die Unterstützung beim Aufbau der Polizei gab es später immer wieder Differenzen mit der jugoslawischen Seite, die zu Recht erklärte, dass diese Unterstützungsleistung erst nach Abschluss einer politischen Vereinbarung vorgesehen sei. 175 Das Flüchtlingsproblem betraf zu dieser Zeit vor allem die Landbevölkerung in Kosovo. Die Stadtbevölkerung war dadurch belastet, dass sie Flüchtlinge aufnahm.
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Aufgabe war, zeigen die Berichte der internationalen Hilfsorganisationen zur Lage in Kosovo. Die NATO-Luftüberwachung sollte die Kontrolle zu Lande ergänzen und sofort beginnen. Sie war auch als Drohkulisse für die Belgrader Führung gedacht („erinnerte Milosevic an die Nähe der Luftmacht der NATO“). Hieran zeigt sich exemplarisch die Einseitigkeit der ganzen Drohkulisse, die nur gegenüber der jugoslawischen Seite, nicht jedoch in Richtung auf die UCK aufgebaut wurde. Das Holbrooke-Milosevic-Abkommen war von herausragender politischer Bedeutung, obwohl es eigentlich gar keinen formellen Status hatte. Es ist eine Art Geheimabkommen, auf das sich später alle Welt berief, ohne es jemals gesehen zu haben. Völkerrechtlich war es ohne Bedeutung. In keinem der Folgeabkommen wurde es als Bezugsgrundlage auch nur erwähnt. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Abkommen um die ausgearbeiteten Entwürfe für die Verifikations-Mission und die Luftaufklärung sowie um weitere mündliche Absprachen.176 Die OSZE war bei den politischen Sondierungen und Verhandlungen nicht beteiligt, obwohl sie rasch eine entscheidende Rolle übernehmen sollte. Die Kontaktgruppe und die USA spielten in der Phase des politischen Durchbruchs die entscheidende Rolle. Holbrooke hatte man wohl als einzigem zugetraut, mit Milosevic eine politische Einigung zu erreichen. Die eindrucksvolle Geschlossenheit der NATO und auch Druck von russischer Seite haben sicher nicht ihre Wirkung auf die Belgrader Führung verfehlt. Milosevic wird auch erkannt haben, dass von Russland, das am finanziellen Tropf des Westens hing, keine Unterstützung zu erwarten war. Am 15. Oktober vormittags billigte die Kontaktgruppe das in Belgrad erreichte Ergebnis. Damit konnte die Umsetzung beginnen. Folgeaktivitäten und –abkommen Die Holbrooke-Milosevic-Vereinbarung bedurfte noch der Formalisierung und Konkretisierung durch vertragliche Abkommen. Außerdem mussten formelle Beschlüsse der Vereinten Nationen und der OSZE herbeigeführt werden, um eine völkerrechtliche Grundlage zu schaffen.
176 Joetze spricht von einem „Paket aus fünf Elementen“ (Günter Joetze, a.a.O., S. 42). Auch in den Vorlagen des Auswärtigen Amtes spricht man von einem „Paket“.
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Die Sitzung des Ständigen Rats der OSZE am 15. Oktober sollte eine Grundsatzentscheidung über die Errichtung einer OSZE-Mission im Kosovo treffen.177 Doch die meisten Regierungen und Delegationen in Wien waren nur sehr unvollständig über die in Belgrad erzielten Ergebnisse informiert. Zwar unterrichtete der amerikanische Botschafter Hill, der selbst an den Verhandlungen in Belgrad beteiligt war, den Ständigen Rat der OSZE. Doch die Unzufriedenheit vieler Länder mit der mangelhaften Information kam klar zum Ausdruck.178 Dennoch äußerten sich die meisten Mitgliedstaaten grundsätzlich positiv zu einer OSZE-Mission in Kosovo. Man war erleichtert, dass ein Krieg abgewendet worden war. Allerdings gab es auch kritische Anmerkungen. So bezweifelte Albanien, dass Jugoslawien sich an die Vereinbarungen halten werde. Die albanische Regierung sehe nach wie vor die Notwendigkeit, NATO-Truppen zu stationieren, erklärte der albanische Botschafter im Ständigen Rat. Er artikulierte, wie das oft geschah, die Positionen und Interessen der Kosovo-Albaner in der OSZE. Russland ergriff überraschend nicht das Wort. Doch in informellen Gesprächen hatten russische Diplomaten ihre Erleichterung bekundet, dass die OSZE bereit war, die Mission im Kosovo einzurichten. Es wurde aber auch deutlich, dass Russland dem Vorgehen der NATO bei der militärischen Eskalation mit großer Skepsis begegnete.179 Die deutsche OSZE-Vertretung meinte, der Beschluss der OSZE dokumentiere „eindrucksvoll, dass die OSZE... in der Lage ist, spontan auf neue Anforderungen zu reagieren und sie damit... zu einem,crucial element’ einer Sicherheitsarchitektur in Europa werden kann.“180 Vor allem drei Probleme, die im späteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen sollten, wurden in dieser ersten, umfassenden Diskussion im Ständigen Rat der OSZE deutlich: •
Die Sicherheit des Personals war eine Hauptsorge. In einer Bürgerkriegssituation schienen die unbewaffneten Beobachter durch Angriffe beider Seiten gefährdet zu sein. Hill musste eingestehen, dass in der Frage der Sicherheit noch vieles offen war. Doch er versicherte den Botschaftern, die USA seien entschlossen, einen wesentlichen Anteil an der Mis-
177 Marc Weller, a.a.O., S. 293. 178 Das Unbehagen vieler Länder richtete sich gegen die Kontaktgruppe, die als ein informelles, elitäres Steuerungsorgan empfunden wurde, das dem Prinzip der Gleichheit aller OSZE- Staaten zu widersprechen schien. 179 Persönliche Recherche. 180 Deutsche OSZE-Vertretung, 15.10.1998.
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sion zu übernehmen. Sie würden dies sicher nicht tun, wenn es keine befriedigenden Sicherheitsgarantien sowohl von der serbischen als auch von der kosovo-albanischen Seite gebe. • Die voraussichtlichen finanziellen Mittel für die OSZE-Mission, die mit mehr als 115 Millionen US-Dollar geschätzt wurden, sprengten den Etat der OSZE und machten außerordentliche Beiträge der Mitgliedsländer notwendig. • Die anvisierte Personalstärke der OSZE-Mission, bis zu 2000 internationale Mitarbeiter, schien ein etwas geringeres Problem zu sein. Zwar hatte die OSZE bisher nur erheblich kleinere Missionen einzurichten. Selbst bei der bis dahin größten Mission in Bosnien waren es nur zeitweise 250 internationale Mitarbeiter. Doch die Mitgliedsländer schienen nach ihren ersten Äußerungen bereit zu sein, das notwendige Personal beizusteuern. Am 16.10. unterzeichneten der polnische Außenminister Geremek für die OSZE und der jugoslawische Außenminister Jovanovic eine Vereinbarung über die OSZE-Mission in Kosovo.181 Entgegen der Regel für andere Missionen wurde die Zeitdauer für diese Mission schon von Beginn an auf ein Jahr festgelegt. Eine Verlängerung auf Anforderung der OSZE oder der jugoslawischen Regierung war vorgesehen. Holbrooke war der Ansicht, die OSZE-Mission müsse mindestens zwei Jahre im Kosovo bleiben.182 Auch der Personalumfang war nicht starr fixiert. Zusätzliche internationale Experten der OSZE konnten über die Zahl 2000 hinaus aufgenommen werden, wenn sich das als notwendig erweisen sollte.183 Für lokale Angestellte, wie Dolmetscher und Fahrer, gab es ohnehin keine Begrenzung. Obwohl natürlich schon aufgrund der knappen Zeit bei den Verhandlungen Fragen offen blieben, waren doch Status der Mission, ihre Grundstruktur, die Befugnisse ihres Personals und die Zusammenarbeit mit der serbischjugoslawischen Staatsautorität befriedigend geregelt. Noch vorhandene
181 Mark Weller, a.a.O., S. 293 f. 182 Persönliche Recherche. Auch in Bonn war man der Auffassung, es sei wahrscheinlich, dass die derzeit geplante Missionsdauer von einem Jahr nicht ausreichen wird, um stabile und selbsttragende Verhältnisse im Kosovo zu schaffen. 183 Holbrooke betonte in einer Pressekonferenz am 28. Oktober 1998, dass die Zahl von 2000 ohne weiteres überschritten werden konnte und hierzu keine jugoslawische Zustimmung erforderlich war. „2000 is a floor, not a ceiling“ (Marc Weller, a.a.O., S. 296).
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Fragen waren sicher nicht so schwerwiegend, dass sie bei gutem Willen der Beteiligten nicht hätten gelöst werden können. Zwei weitere, vorwiegend militärische Abkommen waren noch von Bedeutung. Am 15.10. unterzeichneten in Belgrad der Oberbefehlshaber der NATO in Europa, General Clark, und der Chef des Generalstabs der jugoslawischen Armee, Generaloberst Perisic, das Luftüberwachungs-Abkommen.184 Schließlich kam es am 25.10. zu einer Verständigung über die Beschränkungen für die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte. Es ging dabei um den teilweisen Abzug von Sonderpolizei und Armee sowie um die Festlegung, wo die Armee noch außerhalb der Kasernen feste Positionen besetzen durfte.185 Den letzten Schritt in einer Folge von Entscheidungen und Abkommen bildete der Beschluss des Ständigen Rats der OSZE am 25.10., die „Kosovo Verification Mission (KVM)“ für zunächst ein Jahr einzurichten.186 Gleichzeitig erging an die OSZE-Staaten das Ersuchen, Personal und Finanzmittel für diese Mission bereitzustellen. Einen Tag vorher hatte der VN-Sicherheitsrats mit seiner Resolution 1203187 den Weg für diese Entscheidung der OSZE freigemacht. Bewertung der „Oktober-Abkommen“ Insgesamt lässt sich feststellen, dass bei der Erarbeitung der Abkommen und Vereinbarungen innerhalb sehr kurzer Zeit schwierige Fragen gelöst werden mussten. Dass dies in weniger als zwei Wochen gelang, kann man schon als eine große diplomatische Leistung werten. Ohne ein sehr konstruktives Herangehen aller Beteiligten wäre das sicher nicht möglich gewesen. Die erzielten Ergebnisse und das auch auf jugoslawischer Seite erkennbare kooperative Verhalten berechtigten eigentlich zur Hoffnung für die Zukunft. Allerdings wies das diplomatische Arrangement u.a. den Mangel auf, dass die kosovo-albanische Seite nicht beteiligt und dadurch formell auch nicht
184 Ebenda, S. 281 f. 185 Ebenda, S. 283. Diese Verständigung wird oft als Clark/Naumann-Agreement bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine einseitige jugoslawische Erklärung, die von den Vertretern der NATO, den Generalen Clark und Naumann „zur Kenntnis genommen“ wurde. 186 Ebenda, S. 295. 187 Ebenda, S. 191 f.
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eingebunden war. Zwar bestand die VN-Resolution 1203 darauf, dass die kosovo-albanische Führung alle terroristischen Aktionen verurteilen sollte, und es wurde betont, dass die Kosovo-Albaner ihre Ziele nur mit friedlichen Mitteln verfolgen sollten. Auch die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand richtete sich an beide Konfliktparteien. Doch schien der Hauptverursacher der Krise die serbisch-jugoslawische Staatsautorität zu sein, an die sich vor allem die Forderungen von VN und OSZE richteten. Eine formelle Beteiligung der Kosovo-Albaner am Verhandlungsprozess wäre wohl auch eine von jugoslawischer Seite nicht zu akzeptierende politische Aufwertung gewesen. Unter amerikanischem Druck erklärte die UCK am 25. Oktober, sie werde sich an den Waffenstillstand halten.188 In der Bundesregierung wurde auf der fachlichen Ebene das diplomatische Gesamtpaket durchaus unterschiedlich bewertet. Das für die OSZE zuständige Fachreferat im Auswärtigen Amt (Referat 203) bilanzierte schon am 13. Oktober in einer Vorlage an den Minister die Chancen und die Probleme der für die OSZE herausfordernden Aufgabe. Eine Kosovo-Mission im Gesamtumfang von 2000 Mitgliedern bedeute ein um den Faktor 10 vergrößertes OSZE-Engagement im Vergleich zu bisherigen Missionen, „eine neue operative Dimension“. Doch eine alsbaldige Stationierung dieser Mission erschien als „machbar“. Auch von der Qualität der Aufgabe her wurden offenbar keine unüberwindlichen Probleme gesehen. Die Aufgabe „verification and compliance“ der VN-Resolution 1199 bringe nur hinsichtlich der Verifizierung des Waffenstillstandes Neuland. Überwachung der Flüchtlingsrückkehr und Wahlüberwachung seien z.B. schon in Kroatien und Bosnien von der OSZE durchgeführte Aufgaben. Die rechtzeitige Rekrutierung einer angemessenen Zahl deutscher Missionsmitglieder erschien möglich.189 Am 14. Oktober identifizierte das für Jugoslawien zuständige Referat (SOBOS- JUG) viele Fragen und Probleme zum „Holbrooke-Paket“:190 • Problematisch erschien, dass für den Fall, dass Jugoslawien seine Verpflichtungen nicht erfülle, keine Zwangsmechanismen zur Verfügung stünden. Nach den langjährigen Erfahrungen mit Milosevic sei es un-
188 Holbrooke erläuterte in der Pressekonferenz am 28. Oktober, was die USA unternommen hatten, um auch die UCK zu überzeugen, die Forderungen der UN-Resolutionen 1199 und 1203 zu akzeptieren (Marc Weller, a.a.O., S. 297). 189 Persönliche Recherche. 190 Persönliche Recherche.
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denkbar, dass man sich auf eine freiwillige Erfüllung verlassen könne. Es sei daher notwendig, eine neue VN-Sicherheitsrats-Resolution anzustreben, die Zwangsmaßnahmen („all necessary means“) androhe. • Auch der Schutz der unbewaffneten OSZE-Mission im Kosovo sei nicht zufriedenstellend geregelt. Die Verpflichtung Milosevics zum Schutz der Mission reiche nicht aus. Wenn schon kein militärischer Schutz im Kosovo existiere, müsse eine militärische Schutzkomponente in Mazedonien oder Albanien bereitgestellt werden. • Das Paket enthalte keine Aussagen zur Stärke der jugoslawischen Armee und serbischen Polizei in Kosovo. Es erhebe sich die Frage, wie die von jugoslawischer Seite einzuhaltenden Obergrenzen für Polizei, Armee und schwere Waffen bestimmt werden sollten. Außerdem sei nicht klar, ob die OSZE auch Inspektionsrechte in Kasernen habe. Die personelle Zusammensetzung der OSZE-Mission sei unklar. Gebraucht werde ein starker amerikanischer Anteil. Bei einem amerikanischen Missionsleiter stelle sich die Frage, wie die Europäer zum Zuge kommen könnten. Auch sei keine Struktur der Mission vorgegeben. Dieser Vermerk spricht wichtige, noch zu klärende Probleme und Fragen an. In ihm wird allerdings auch das große Misstrauen deutlich, das man gegen Milosevic hegte. Naheliegende Fragen zum Verhalten der UCK und ihrer Einbindung werden nicht aufgeworfen. Auch auf der politischen Ebene wurde das „Holbrooke-Paket“ in Bonn unterschiedlich bewertet. Bundeskanzler Schröder sagte in seiner Regierungserklärung am 10. November 1998, der OSZE komme „als der einzigen gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragende Bedeutung zu“. Sie habe sich bei der Befriedung des Kosovo „eine neue Qualität gesetzt“.191 Außenminister Fischer meinte, die OSZE komme „erstmals in einer historischen Dimension zum Einsatz“.192 Doch in der politischen Leitung des Auswärtigen Amtes gab es offenbar durchaus divergierende Auffassungen. Hofmann meint, „eine unbewaffnete OSZE-Mission im Kosovo hielten die Europäer für eine Schnapsidee. Aber keiner sagte es laut. Sie kam ja von Holbrooke.“193 Tatsächlich fielen persönliche Aversionen gegen den amerikanischen „Star“-Diplomaten Holbrooke und die Überzeugungen
191 Deutscher Bundestag, 3. Sitzung vom 10. November 1998, Plenarprotokoll, 14. Wahlperiode, S. 64. 192 Ebenda, S. 110. 193 Gunter Hofmann, a.a.O., S. 18.
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deutscher Spitzendiplomaten zusammen, die schon für eine militärische „Lösung“ zu dieser Zeit waren. So meinte auch später der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ischinger: „Eigentlich war vielen von uns schon im Herbst 1998 klar, dass dies nur eine Maßnahme war, mit der man vielleicht ein bisschen Zeit gewinnen konnte. Wir wussten, ohne militärische, ohne effektive militärische Drohung, wahrscheinlich sogar ohne Anwendung militärischer Gewalt, würde Milosevic nicht nachgeben.“194 Die Skepsis gegen die Vereinbarungen mit der jugoslawischen Regierung kam im Auswärtigen Amt nicht so sehr von der neuen politischen Leitung, sondern von jenen, die bereits unter Außenminister Kinkel ein frühzeitiges militärisches Eingreifen in den Kosovo-Konflikt für notwendig gehalten hatten.195 Die amerikanische Regierung stand unter Erklärungszwang. Ende September/ Anfang Oktober hatte sich in den amerikanischen Medien und im Kongress großer politischer Druck für eine militärische Intervention aufgebaut. Die USA waren der Motor der Eskalation in der NATO. Nun musste die Regierung begründen, weshalb nicht militärisch eingegriffen wurde. Die Hauptargumente waren, die Ziele der USA und der internationalen Gemeinschaft seien erreicht, die USA habe den Kurs bestimmt und werde dies auch in Zukunft tun. Die deutsche Botschaft berichtete am 29. Oktober aus Washington, Clinton habe in einer Erklärung am 27. Oktober festgestellt, die Ausdauer und Entschlossenheit der NATO habe Milosevic zu einem Truppenabzug aus dem Kosovo veranlasst. Er sei im Wesentlichen auf die Forderungen der internationalen Gemeinschaft eingegangen. Die USA hätten ihre Ziele im Kosovo erreicht, die Gewaltanwendung zu beenden, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden und eine eigenverantwortliche Regierung für das Kosovo zu sichern.196 Am gleichen Tag erklärte die amerikanische Außenministerin, Präsident Milosevic habe in der Substanz die Verpflichtungen nach der VN-Resolution 1199 erfüllt. Während der beiden letzten Wochen habe sich das serbische Verhalten deutlich erkennbar verändert. Das Ergebnis werde sein – wenn alles gut weiterlaufe –, dass eine weitere humanitäre Katastrophe verhindert werde.197 Am 28. Oktober verteidigte Holbrooke in einer Pressekonferenz entschieden die erreichten Ergebnisse. Belgrad habe enorme Zugeständnisse gemacht, das Kosovo-Pro-
194 ARD-Sendung am 25. Oktober 1999, Balkan: Gewalt ohne Ende, Teil I: Der Weg zum Krieg. 195 Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt, a.a.O., S. 96 f. 196 Persönliche Recherche. 197 Marc Weller, a.a.O., S. 284 f.
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blem sei nun wirklich internationalisiert worden. Der Schlüssel für den Erfolg sei nun die Implementierung.198 Bei der OSZE in Wien war man sich der Herausforderung durchaus bewusst. Es war evident, dass eine große Anstrengung der OSZE-Organe und massive Unterstützung durch die OSZE-Staaten notwendig sein würden, um die Mission rasch arbeitsfähig zu machen. Man war sich darüber im Klaren, dass die OSZE weder die erforderlichen organisatorischen Strukturen noch ausreichend qualifiziertes Personal zur Verfügung hatte. Eine rasche Aufnahme der Überwachungsaufgaben war aber eine Voraussetzung für den Erfolg der Mission. Ein amerikanisches „Non-Paper“ verlangte, „wir brauchen Verifikateure im Feld innerhalb von Tagen und nicht innerhalb von Wochen“.199 Ein hochrangiger Diplomat aus dem amerikanischen Außenministerium erklärte am 16. Oktober im Ständigen Rat der OSZE, rasches Handeln sei auf dem Balkan besonders wichtig, alles andere würde dort als Schwäche angesehen.200 Von ihrer Organisationsstruktur her und den ständig verfügbaren Ressourcen an Personal, Material und Finanzmitteln war die OSZE wenig geeignet für diese Mission. Alles hing von der Unterstützung durch die Teilnehmerstaaten ab, die ihren Worten nun auch Taten folgen lassen mussten. VII. Die Aufbauphase der Kosovo-Verifikations-Mission (KVM) Die USA setzen Akzente für die Leitung der Mission Die erste wichtige Entscheidung für das weitere Schicksal der KVM traf der polnische OSZE-Vorsitzende bereits am 17. Oktober 1998. Er ernannte den amerikanischen Diplomaten William Walker zum Leiter der Mission. Die Art und Weise, wie diese Ernennung zustande kam, wirft ein bezeichnendes Licht auf Entscheidungsprozesse innerhalb der OSZE. Die Entscheidung für Walker traf tatsächlich die amerikanische Außenministerin Albright. Der polnische Außenminister nahm sie für die OSZE
198 Ebenda, S. 295 f. 199 Archiv Loquai. 200 Persönliche Recherche.
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entgegen und setzte sie um.201 Noch am 16. Oktober hatte der OSZE-Vorsitz in Wien die Kontaktgruppenstaaten über das geplante weitere Vorgehen informiert. Danach sollte erst nach der Verabschiedung einer VN-Resolution der Leiter der OSZE-Mission ernannt werden. Doch die amerikanische Außenministerin konterkarierte diese Planung. Dieses Entscheidungsverfahren stand im krassen Gegensatz zum üblichen Vorgehen der OSZE bei der Bestellung von Missionsleitern. Es war eine ungeschriebene Regel, dass der OSZE-Vorsitz intensive Konsultationen mit den so genannten Schlüsseldelegationen202 führte, bevor eine so wichtige Stelle wie die eines Missionsleiters besetzt wurde. Derartige Beratungen fanden gerade bei der bisher bedeutendsten OSZE-Mission nicht statt. Geremek folgte dem von Albright entschieden geäußerten Wunsch recht folgsam, ohne vorher mit den EU-Ländern, die auch Aspirationen hatten, diese wichtige Angelegenheit zu erörtern. Dies war ein Verstoß gegen ungeschriebene OSZE-Regeln. Darüber hinaus hielt sich der OSZE-Vorsitz auch nicht an formell Vereinbartes. In dem Abkommen mit dem jugoslawischen Außenminister vom 16. Oktober heißt es, die OSZE werde die Mitgliedstaaten auffordern, mit Personal zur Mission beizutragen „in Übereinstimmung mit den etablierten Verfahren“.203 Dies tat Geremek eben nicht. Zeit hätte der OSZE-Vorsitzende durchaus gehabt, diese ganz wichtige Entscheidung ausreichend zu konsultieren. Der Beschluss des Ständigen Rats der OSZE, die KVM einzurichten, erfolgte nämlich erst am 25. Oktober. Auch ging Walker nach seiner Ernennung erst einmal drei Wochen in Urlaub, bevor er seinen Dienst aufnahm. Die USA waren den Europäern mit einem politischen Handstreich zuvorgekommen. Die so Ausmanövrierten fanden sich damit ab. Die EU strebte nun an, die Position eines Ersten Stellvertreters des Leiters (Principle Deputy Head of Mission) einzurichten und dafür einen Diplomaten aus einem EU-Land auszuwählen. Diese Vorstellung stieß in Washington zunächst auf wenig Zuneigung. Die amerikanische Präferenz war es, sechs Stellvertreter zu etablieren, die jedoch nur für ihr Fachgebiet vertretungsbefugt sein sollten. Die diplomatischen Sondierungen mehrerer europäischer Staaten, darunter auch Deutschland, stießen in
201 Holbrooke in einer Pressekonferenz am 28.10.1998: „That led immediately to Ambassador Walker's designation by Madeleine as the head of this mission“ (Mark Weller, a.a.O., S. 297). 202 Als „Schlüsseldelegationen“ galten in Wien zumeist die Vertreter der Kontaktgruppen-Staaten und der OSZE-Troika. 203 Mark Weller, a.a.O., S. 293.
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Washington zunächst auf eine abwehrende Haltung. Nachdem sie Walker als Missionsleiter durchgesetzt hatten, ließen sich die USA recht viel Zeit mit ihrer Zustimmung zur Besetzung weiterer Spitzenpositionen. Dem deutschen Diplomaten, der im amerikanischen Außenministerium vorsprach, wurde kurz bedeutet, man werde die deutschen Argumente Walker zur Kenntnis bringen.204 Über ihre Position zur Etablierung eines Stellvertretenden Missionsleiters informierten die USA schließlich die EU-Staaten in einem „Non-Paper“.205 Danach sollte der EU zwar eine herausragende Führungsrolle („prominent leadership role“) zukommen, grundsätzlich wurde nun das Begehren der EU auch nicht mehr abgelehnt, doch machten die USA so viele Einschränkungen der Vertretungsbefugnisse geltend, dass letztendlich nur die Fassade einer Position des „Ersten Stellvertreters“ übrig blieb. Der für diesen Posten schließlich ernannte französische Botschafter Gabriel Keller lebte dann auch in einem Dauerkonflikt mit Walker, der sich nachteilig auf die gesamte Mission auswirkte. Die USA demonstrierten durch ihr Vorgehen bei der Besetzung der Missionsleitung, dass sie über diese Spitzenposition die weitere Steuerung der Mission fest in ihrer Hand halten wollten. Für das zukünftige Schicksal der Mission war diese Entscheidung sehr wichtig, sie hat schließlich auch den Verlauf des Konflikts entscheidend beeinflusst. Kritik an Walker wurde wegen seiner früheren Tätigkeit in Lateinamerika geübt.206 Joetze meint, nach „dem Eindruck fast aller Beobachter war Walker persönlich liebenswürdig, aber seiner Aufgabe nicht gewachsen und sicher kein Verschwörertyp“.207 Joetze verkennt hier völlig den politischen Kontext, in dem Walker zu agieren hatte. Im Sinne der amerikanischen Interessen war Walker genau der richtige Mann. Er hatte Zugang zur amerikanischen Außenministerin, war vom Typ her der gewissenhafte Vollzieher von Weisungen seiner amerikanischen Vorgesetzten und brachte eine ausgeprägte antiserbische Einstellung mit.208 Er war ein sehr geeigneter Mann für den Vollzug amerikanischer Politik in Kosovo.
204 Persönliche Recherche. 205 Persönliche Recherche. 206 So z.B. Chomsky, der die zweifelhafte Rolle Walkers bei der Verifizierung von Staatsverbrechen in EI Salvador beleuchtet. (Noam Chomsky, The New Military Humanism, a.a.O., S. 41 f.). 207 Günter Joetze, a.a.O., S. 44. 208 So oder ähnlich äußerten sich mehrere Mitglieder der KVM gegenüber dem Verfasser.
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Eine weitere wichtige Entscheidung für die Leitungsebene der KVM war die Platzierung des britischen Generals Drezienkiewicz209 als Leiter der Operationsabteilung. Der umtriebige General mit Bosnien-Erfahrung und einem klaren serbischen Feindbild war von der britischen Regierung zusammen mit fünf weiteren britischen Stabsoffizieren bereits am 16. Oktober der OSZE in Wien zur Verfügung gestellt worden. „DZ“ wurde Leiter des Stabes, der in Wien die Aufstellung der KVM plante und technisch vorbereitete. Seine britischen Stabsoffiziere setzte er an wichtige Stellen und konnte so die gesamte Vorbereitung dominieren. Er war verantwortlich für die Erarbeitung des Einsatzkonzepts der KVM. So war es nur konsequent, dass er dann auch am 7. November als Leiter der Operationsabteilung der KVM ernannt wurde. Der amerikanische Botschafter Walker und der britische General „DZ“ bildeten ein angelsächsisches Führungstandem, das die KVM klar nach nationalen Vorgaben zu steuern versprach. Prinzipien der Aufbauorganisation der KVM Sehr wichtig war auch die Entscheidung über die gesamte Organisationsstruktur der OSZE-Mission. Hinsichtlich der regionalen Struktur waren Vereinbarungen im Abkommen zwischen der OSZE und dem jugoslawischen Außenminister getroffen worden. Sie konnten ohne Probleme konkretisiert werden. Die KVM wurde wie folgt in Kosovo stationiert: • • • • • •
ein Hauptquartier in Pristina, fünf Regionalzentren in den Städten Mitrovica, Pec, Prizren, Gnjilane und Pristina, Koordinationszentren in den Kreisstädten der Provinz, Trupps von Verifikateuren, die von Feldbüros aus arbeiteten, ein Ausbildungszentrum in Brezovica, ein Verbindungsbüro zur jugoslawischen Regierung in Belgrad.
In Pristina und an Orten mit Regionalzentren gab es auch jugoslawische Verbindungsstäbe, deren Leiter der jugoslawische General Loncar war.
209 Generalmajor Drezienkiewicz wurde entsprechend seinem ausdrücklichen Wunsch im Allgemeinen als General „DZ“ bezeichnet. Ich schließe mich hier dieser Praxis an.
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Abbildung 1: Stationierung der OSZE-Mission in Kosovo
Die Organisationsstruktur des Hauptquartiers in Pristina war eine Angelegenheit der OSZE. Doch die USA machten auch in dieser Sache deutlich, dass sie entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung ausüben wollten. Bereits am 15. Oktober trug ein hochrangiger Diplomat aus dem amerikanischen 263
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Außenministerium erste Planungen in Washington vor.210 Am 16. Oktober erläuterte der Stellvertretende Unterstaatssekretär für Internationale und Sicherheitspolitik im US-Außenministerium, Bob Beecroft, in Wien die amerikanischen Vorstellungen zur Struktur, Arbeitsweise und zum Einsatzkonzept der KVM.211 Die Präsentation erfolgte restriktiv vor den Vertretern der Kontaktgruppe und des OSZE-Sekretariats sowie im Kreis der Vertreter der NATO-Länder. Der US-Diplomat hob hervor, dass es sich hier um erste Überlegungen handle und die OSZE-Delegationen dieses „food for thought“ bewerten sollten. Doch Umfang und Detaillierungsgrad212 der amerikanischen Vorstellungen zeigten, dass in der amerikanischen Regierung schon konkrete und klare Positionen vorhanden waren. Auch zeitlich machten die USA Druck. Bereits am 29. Oktober sollte die erste Einsatzfähigkeit („Initial Operational Capability“) für die KVM erreicht sein. Bemerkenswert war auch die amerikanische Betonung, die KVM sei nur eines von mehreren Elementen für eine Friedenslösung in Kosovo. Es komme nun auch darauf an, dass die OSZE und die NATO ihre Beiträge nach dem Konzept der sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärkenden Institutionen (interlocking institutions) zur Gesamtaufgabe leisteten. Bei seinen Ausführungen zur Sicherheit der OSZE-Mission blieb Beecroft recht allgemein. Er meinte, es sei auf jeden Fall wichtig, robust aufzutreten und einen besseren Eindruck als die UN in Bosnien zu machen. Im Übrigen sei ein „NATO-Schatten“ erforderlich. Die nun beginnenden Auseinandersetzungen um die funktionale Aufbauorganisation der KVM waren weniger durch organisationstheoretische Überlegungen geprägt. Sie zeigten vielmehr Versuche, durch die Besetzung wichtiger Positionen nationale Einflussmöglichkeiten sicherzustellen. Nachdem die USA den Leiterposten besetzt hatten, kam man schließlich überein, auf der Ebene der Stellvertreter des Leiters die anderen Kontaktgruppenländer „zu bedienen“.213 Außerdem war ein Vertreter des zukünfti-
210 Persönliche Recherche. 211 Die amerikanischen Experten identifizierten vier Hauptaufgaben für die OSZEVerifikateure: Grenzüberwachung, Truppen- und Waffenüberprüfung, Überwachung und Unterstützung der Aktivitäten der internationalen Hilfsorganisationen, Überwachung der Polizei. Für diese Aufgaben waren nach der Schätzung der USExperten etwa 700 bis 1200 internationale Mitarbeiter erforderlich. 212 Die amerikanischen Ausführungen umfassten 16 Seiten mit detaillierten Schaubildern für die Aufbau- und Ablauforganisation der OSZE-Mission. 213 Deutschland besetzte den Stellvertreter-Posten „Menschenrechte, Demokratisierung“ mit dem Diplomaten Bernd Borchardt.
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gen OSZE-Vorsitzenden, ein Norweger, auf dieser Ebene zu berücksichtigen. Dies ergab sechs Stellvertreter, die zugleich Abteilungsleiter waren. Am 3. November berichtete die deutsche OSZE-Delegation nach Bonn, die Entscheidung über die Führungsstruktur der KVM sei gefallen. Doch es dauerte dann noch bis zum 15. Dezember, bis ein Organigramm offiziell bekannt gegeben werden konnte. Entscheidend für diese Verzögerung war unter anderem, dass nach dem Dienstantritt Walkers und einem ersten Treffen mit seinem französischen und deutschen Stellvertreter am 11. November neue Vorgaben für die Missionsplanung erfolgten. Die Mission sollte nun nicht mehr militärisch, sondern – wie die deutsche Delegation berichtete – „mit zivilem Charakter weiter geplant werden“. Das bedeutete, dass „neben den bekannten planerischen Schwerpunkten zur Sicherheit und ärztlichen Versorgung des KVM-Personals... nun die bisher fehlende Planung zum zivilen Verifikationsanteil als neue Priorität offen zu Tage“ trat.214 Die Grundstruktur der ab 15. Dezember gültigen Aufbauorganisation der KVM zeigt folgendes Bild: Abbildung 2: Grobstruktur der KVM
Die sechs Abteilungen auf der Führungsebene unterhalb des Leiters der Mission waren unterschiedlich in ihrer Bedeutung. Die gewichtigste Abteilung war die für die Operationsführung, an die faktisch auch die Regionalzentren angebunden waren. In Abwesenheit des Leiters führte der französi214 Persönliche Recherche.
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sche Botschafter Keller als Erster Stellvertreter die Mission. Der Leiter hatte einen relativ großen, ihm zugeordneten Arbeitsstab in Gestalt des Sekretariats. Aus einer Analyse der Vorbereitungsphase für die KVM wird deutlich: •
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Die USA wollten das weitere Geschehen in Kosovo über die personelle Besetzung der Spitzenposition der KVM und der Definition seiner Befugnisse sowie die Organisation der KVM nach ihren eigenen Vorstellungen bestimmen. Die etwa dreiwöchige Abwesenheit des bereits ernannten Leiters der KVM verzögerte den Aufbau der Mission erheblich. Da sich Walker alle grundsätzlichen Entscheidungen vorbehalten hatte, insbesondere auf dem Gebiete der Personalauswahl, bildete sich ein Entscheidungsstau in wichtigen Bereichen.215 Die Europäer waren auf die überaus schnell präsentierten amerikanischen Vorstellungen nicht vorbereitet. Sie reagierten lediglich, anstatt zukunftsweisende, eigene Vorstellungen zu entwickeln und einzubringen. In den permanenten, schwach ausgeprägten OSZE-Strukturen (Sekretariat und Konfliktverhütungszentrum) war viel guter Wille und wenig planerische und organisatorische Sach- und Fachkompetenz vorhanden. Dies führte zu einer großen personellen Abhängigkeit der OSZE von den Teilnehmerstaaten und zu massiven Versuchen, für nationale Interessen Einfluss auszuüben. Die Organisation der KVM war in der Spitzengliederung nicht organisatorisch rational, sondern macht- und einflusspolitisch national im Interesse der Teilnehmerstaaten gestaltet. Da der amerikanische Leiter weniger als internationaler OSZE-Botschafter, sondern als verlängerter Arm des amerikanischen Außenministeriums agierte, konnte auch keine Kompensation der strukturellen Schwächen durch persönliche Führung im Sinne einer „OSZE-Politik“ erfolgen.
215 Die deutsche OSZE-Delegation stellt am 9. November fest, es seien Ideen produziert worden, die mangels entscheidungsbefugter Vertreter „mehr Arbeitshypothesen als Einsatzkonzepte“ waren.
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Die Stationierung der OSZE-Mission in Kosovo Schon einen Tag nach der Unterzeichnung des Abkommens zwischen der OSZE und dem jugoslawischen Außenminister reiste eine Expertengruppe der OSZE nach Belgrad und ins Kosovo. Zweck dieser Reise war es, mit dem jugoslawischen Außenministerium und den serbischen Behörden die Einrichtung der OSZE-Mission abzusprechen und insbesondere zu erkunden, in welchen Gebäuden und Einrichtungen die OSZE-Mission untergebracht werden könnte. Das entsandte Team berichtete,216 die Regierungsstellen in Kosovo seien sehr kooperativ gewesen und hätten während des gesamten Aufenthalts Unterstützung gewährt. Hochrangige Regierungsvertreter erklärten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit und waren sehr hilfreich, Treffen zu arrangieren. Besonders wichtig seien die Anweisungen an die Polizei gewesen, dem OSZE-Team freie und ungehinderte Bewegungsfreiheit im gesamten Kosovo zu gewähren. Diese Anweisungen seien auch voll eingehalten worden. Das Team stellte schließlich fest, es gebe genug Gebäude und Einrichtungen, um das Hauptquartier und die Regionalzentren einzurichten, und auch hinsichtlich der Koordinationszentren zeigten sich keine unüberwindlichen Probleme. Bereits am 17. Oktober waren die ersten NATO-Flugzeuge zur Luftüberwachung über Kosovo. Es war klar, dass es Wochen dauern würde, bis die ersten OSZE-Beobachter in Kosovo mit ihrer Verifikationsaufgabe beginnen könnten. Das von den Ländern gemeldete Personal musste auf seine Eignung überprüft und ausgebildet werden, Visa waren einzuholen. Dies kostete Zeit, die man in der damaligen Situation eigentlich nicht hatte. Um keine Lücke zwischen dem Abschluss der Abkommen und dem Beginn der Verifikation entstehen zu lassen, griff man auf internationales Personal zurück, das bereits vor Ort war. Seit Juli 1998 befanden sich ja diplomatische Beobachter der Diplomatie Observer Mission (KDOM) aus Russland, den USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien und anderen EU-Ländern in Kosovo im Einsatz. Die BRJ stimmte nun zu, dass vorübergehend, bis die OSZE mit eigenem Personal einsatzfähig war, KDOM personell aufgestockt, unter Verantwortung der OSZE eingesetzt und dann in die OSZEMission überführt werden sollte. Dies war die einzige Möglichkeit, dass die Verifikation zu Lande als OSZE-Operation rasch beginnen konnte.
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Man kann den Aufbau der KVM nicht mit der Stationierung von Friedenstruppen, z.B. der späteren NATO-Truppe von ca. 40.000 Soldaten in Kosovo vergleichen. Es handelte sich bei der OSZE-Mission nicht um eine Verlegung bestehender, aktiver Truppenformationen, gesteuert von einem Führungsstab in erkundetes Gelände, mit allen Teilen für die Versorgung und Unterstützung der Truppe. Vielmehr musste die OSZE zunächst in Wien einen Stab (Unterstützungsgruppe genannt) einrichten, das von den Teilnehmerstaaten angebotene Personal in jedem Einzelfall auf seine Qualifikation hin überprüfen und auswählen sowie für die spezielle Aufgabe ausbilden. Das notwendige Material, insbesondere Fahrzeuge, war zu beschaffen, Gebäude waren anzumieten und Hilfskräfte vor Ort einzustellen. Es ging also nicht um eine vorbereitete Verlegung militärischer Kräfte, sondern um eine Neuaufstellung einer nichtmilitärischen Organisation ohne Vorbereitungszeit. Daher kann es auch nicht überraschen, dass es mehr als einen Monat dauerte, bis die ersten internationalen Beobachter vor Ort eintrafen und erst nach drei Monaten, mit der Indienststellung des Regionalzentrums in Pristina am 12. Januar 1999, die regionale Gliederung der OSZE-Mission abgeschlossen war. Allerdings wäre eine etwas schnellere Stationierung durchaus möglich gewesen. Doch die meisten OSZE-Teilnehmerstaaten behandelten den personellen Aufwuchs der Mission nicht mit erster politischer und zeitlicher Priorität. Dies trifft auch für Deutschland zu. Die Bundesregierung hatte entschieden, der OSZE maximal 200 Experten zur Verfügung zu stellen, dies entsprach dem deutschen Anteil am Budget der OSZE. Drei Ressorts, das Außen-, Verteidigungs- und Innenministerium sollten nach dem Schlüssel 2:2: 1 Personal stellen und finanzieren. Kein Problem bereitete es, die 80 Soldaten zu rekrutieren.217 Die Bundeswehr verfügte über weit mehr gut ausgebildete Rüstungskontrolloffiziere und –unteroffiziere, die auch kurzfristig einsatzfähig waren. Am schwierigsten erwies es sich, die 40 Polizeibeamte aus dem Bereich des Innenministeriums zu stellen.218 217 Ursprünglich galten 100 Soldaten der Bundeswehr als angemessen. Doch die politische Leitung des Verteidigungsministeriums wollte aus Kostengründen nur ebenso viele Beobachter finanzieren wie das Auswärtige Amt. Auch vorhandene Ausbildungskapazität für das vom Auswärtigen Amt verpflichtete zivile Personal stellte das Verteidigungsministerium aus Ressortegoismus nicht zur Verfügung. Dies hatte zur Folge, dass das Zivilpersonal schlechter auf seinen Einsatz vorbereitet war als die Soldaten. 218 Als das Bundeskabinett am 6. November über die Gestellung von 40 Polizisten entschied, hatten sich nur 15 Freiwillige gemeldet.
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Die Bundesregierung versäumte es, ein politisches Signal an andere OSZE-Staaten zu senden. Deutschland hätte zumindest für die so wichtige Anfangszeit ein größeres Kontingent bereitstellen können, zumal bekannt war, dass kleinere Länder Schwierigkeiten hatten, geeignetes Personal rasch zu mobilisieren. Doch in Bonn mühten sich mit großem Engagement die Experten auf der Arbeitsebene. Für die Führung im Verteidigungsministerium war die OSZE-Mission vor allem eine Sache des Auswärtigen Amtes, das auch die Finanzierung übernehmen sollte. Rasch verfügbares, geeignetes Personal war im Bereich des Verteidigungsministeriums vorhanden, doch eine „überproportionale“ Beteiligung dieses Ministeriums scheiterte an den dafür erforderlichen relativ geringen finanziellen Aufwendungen. Der personelle Aufwuchs der Mission wurde auch aus der OSZE heraus erschwert und verzögert. Undurchsichtige Auswahlkriterien und politische Rücksichtnahmen bei der Besetzung von Führungspositionen ließen nicht selten nur begrenzt geeignete Kandidaten zum Zuge kommen, besser geeignete blieben auf einer Warteliste.219 Der Leiter der Mission verzögerte die Zuführung von Personal dadurch, dass er sich trotz häufiger Abwesenheiten alle Personalentscheidungen selbst vorbehielt. Außerdem entfernte er ihm missliebige Mitarbeiter ohne sachliche Gründe aus der Mission.220 Andererseits ließ er es zu, dass amerikanisches Personal in die Mission aufgenommen wurde, ohne dass es die üblichen Prozeduren der Personalauswahl durchlaufen musste. Wiederholt appellierte der Generalsekretär der OSZE an die Teilnehmerstaaten, Lufttransportkapazität zur Verfügung zu stellen. Eine rasche Reaktionsfähigkeit der KVM und ein insgesamt flächendeckender Einsatz erschien ohne Hubschrauber nur schlecht möglich. Die deutsche OSZE-Delegation übermittelte diese Ersuchen mit einer deutlichen, positiven Empfehlung nach Bonn. Doch weder aus Deutschland noch von anderen Ländern kam eine positive Reaktion.
219 Außenminister Fischer fand dafür beim OSZE-Außenministertreffen in Oslo am 2./3. Dezember 1998 deutliche Worte, als er sagte: „Wir verkennen die Schwierigkeiten bei der Aufstellung der KVM nicht. Dennoch machen uns das schleppende Tempo, der Mangel an Transparenz und die Anlegung ungleicher Maßstäbe bei der Personalauswahl besorgt.“ (Erklärung des Bundesministers des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland, Joschka Fischer, anlässlich des OSZE-Ministertreffens am 02./03. Dezember 1998 in Oslo – Archiv Loquai). 220 Persönliche Recherche.
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Exempel „Sicherheit und medizinische Versorgung“ Als besonderes Anliegen der OSZE und der Teilnehmerstaaten wurden immer wieder das Problem der Sicherheit des Personals und die medizinische Notfallversorgung bezeichnet. Für diesen ganzen Bereich war zwar nach den Abkommen die jugoslawische Seite verantwortlich. Doch das Vertrauen in die diesbezüglichen jugoslawischen Fähigkeiten war bei der OSZE nach ersten Erkundungen nur sehr gering. Materielle und personelle Schutzvorkehrungen Notwendig waren für den mobilen Einsatz vor allem gepanzerte Geländefahrzeuge, die Schutz gegen Minen und den Beschuss mit Handfeuerwaffen boten. Die OSZE hatte selbst keine derartigen Fahrzeuge aus ihrem Inventar verfügbar. Die meisten Länder hatten ihre KDOM-Trupps damit ausgerüstet, die auf diese Weise auch für den OSZE-Einsatz geschützt waren.221 Für die übrigen Verifikateure mussten derartige Fahrzeuge erst beschafft werden. Dabei traten Verzögerungen auf, da nicht genügend dieser Spezialfahrzeuge auf dem Markt verfügbar waren und erst produziert werden mussten. Ein weiterer Aspekt der Sicherheit war der persönliche Schutz des Leiters der Mission und seiner engsten Mitarbeiter. Die mit diesem Personenschutz betrauten Personen waren unbewaffnet. Die jugoslawische Seite lehnte das Ersuchen, wenigstens zehn Männer mit leichten Handfeuerwaffen ausrüsten zu lassen, strikt ab. Medizinische Versorgung Die medizinische Versorgung des internationalen OSZE-Personals war ein auf allen Ebenen immer wieder angesprochenes Problem, doch es blieb relativ lange ungelöst. Im Vorbereitungsstab in Wien gab es keinen Sanitätsoffizier, deshalb ließen auch die diesbezüglichen planerischen Arbeiten auf sich warten. Die Appelle des OSZE-Sekretariats, wenigstens ärztliche Notfallteams zur Verfügung zu stellen, verhallten mehrere Wochen ohne Reaktion. Schließlich erklärte sich Deutschland als erstes Land bereit, einen 221 Russland stellte seinen Beobachtern keinen derartigen Schutz zur Verfügung. Sie fuhren mit einfachen Geländewagen durch das gefährliche, verminte Gelände.
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Sanitätstrupp zur Verfügung zu stellen. Das Fahrzeug wurde von Bosnien aus überführt und traf am 7. Dezember in Pristina ein. Im KVM-Tagesbericht vom gleichen Tag wird dies als eine bedeutende Verbesserung der medizinischen Evakuierungsmöglichkeit hervorgehoben. Die Einsatzfähigkeit des Trupps verzögerte sich jedoch. In einem Schreiben vom 9. Dezember teilte das Verteidigungsministerium dem Auswärtigen Amt mit, Minister Scharping habe am 8.12.1998 entschieden, „dass einer weiteren Entsendung von Angehörigen der Bundeswehr erst nach Vorliegen klarer Finanzierungsgrundlagen für alle mit dem Einsatz verbundenen Kosten insbesondere aber erst nach Vorliegen einer Kostenerstattungszusage des Auswärtigen Amtes für Reise- und Transportkosten zugestimmt wird... Der für den 11.12.1998 vorgesehene Transport von weiteren 9 Soldaten – dabei auch der Notarzt und zwei Rettungssanitäter – wird daher ausgesetzt.“222 Erst nach einer Intervention aus der deutschen OSZE-Delegation bei Minister Scharping persönlich wurde das Sanitätspersonal für den Krankenwagen am 14. Dezember in Marsch gesetzt.223 Durch interministerielle Auseinandersetzungen um wenige tausend DM war die Gesundheit und das Leben deutscher und internationaler Beobachter aufs Spiel gesetzt worden. Das Gerangel innerhalb der Bundesregierung um die Bezahlung der Transportkosten für das vom Verteidigungsministerium zu stellende Personal zeigt exemplarisch, wie wenig sich die höheren Ebenen in den Ministerien für die rasche Einsatzfähigkeit der OSZE-Missioll engagierten. Selbst eine Gefährdung des Personals wurde in Kauf genommen, um Ressortpositionen durchzusetzen. Es mutet schon grotesk an, dass die politischen Leitungen zweier Ministerien letztendlich eine Entscheidung des Bundeskanzlers herbeiführen mussten224 für einen „Streitwert“ von einigen tausend Mark. Weniger strittig schien dann die Stationierung von Soldaten, die ein jährliches Finanzvolumen von mehreren hundert Millionen Euro in Anspruch nimmt.
222 Persönliche Recherche. 223 Am 10. Dezember machte Minister Scharping auf dem Weg nach Sarajewo einen Zwischenstop in Wien. Ich nahm diese Gelegenheit wahr, um den Minister auf die Gefährdung auch des deutschen Personals ohne eine angemessene ärztliche Notfallversorgung aufmerksam zu machen. Die dringende Empfehlung, das bereitstehende Sanitätspersonal so rasch wie möglich nach Kosovo zu schicken, nahm der Minister positiv auf. Er befahl am 11. Dezember die schnellstmögliche Entsendung des Trupps. 224 Die Entscheidung fiel am 16. Dezember im Kabinett durch einen – wie zu hören war – ärgerlichen Bundeskanzler, der kein Verständnis dafür hatte, dass der Verteidigungsminister den Konf likt aufgebracht und so hochgespielt hatte.
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Dieses verantwortungslose, bürokratische Scharmützel drang jedoch nicht bis zur OSZE vor. Dort war das „deutsche Beispiel“ offenbar ein Signal für andere Länder. Kurz hintereinander kündigten Frankreich, Belgien und die Schweiz ebenfalls die Bereitstellung von Sanitätstrupps an. So konnte am 6. Januar 1999 General „DZ“ in Wien erklären, die medizinische Versorgung auf örtlicher Ebene sei mit der Bereitstellung von Ärzten, Sanitätern und Ambulanzfahrzeugen befriedigend. Nicht gelöst werden konnte die Frage der permanenten Stationierung eines Rettungshubschraubers für das internationale OSZE-Personal. Die OSZE hatte das jugoslawische Angebot getestet und befunden, dass eine Reaktionszeit von bis zu sechs Stunden, die bei Alarmierung des jugoslawischen Hubschraubers zu erwarten war, nicht akzeptabel sei. Darauf mietete die OSZE einen Schweizer Rettungshubschrauber an und stationierte ihn in Skopje in Mazedonien. Die jugoslawischen Behörden verweigerten jedoch den Einflug nach Kosovo mit dem Hinweis auf das eigene Angebot und die Krankenhäuser im Lande. Selbst Interventionen des OSZE-Vorsitzenden bei Präsident Milosevic waren erfolglos. Diese Probleme um den Rettungshubschrauber demonstrieren die Sturheit und Rücksichtslosigkeit, aber auch die mangelnde Sensibilität der Belgrader Führung für internationale Organisationen und deren spezifische Belange. Die mangelnde Kooperationsbereitschaft und Flexibilität in dieser Frage hat negative Vorurteile in der OSZE bestätigt, den Jugoslawen gegenüber Wohlgesonnene verärgert und insgesamt der jugoslawischen Seite keinerlei Nutzen gebracht, sondern nur Schaden zugefügt. Eine Schutztruppe Die Sorge um die Sicherheit der internationalen Mitarbeiter der KVM ergab sich vor allem daraus, dass sie – wie es auch bei Blauhelm-Soldaten der Vereinten Nationen zumeist der Fall ist – unbewaffnet waren. Die Geiselnahme von UN-Soldaten während des Bosnien-Kriegs durch die bosnischen Serben war noch in lebhafter Erinnerung. Doch die Gefahr schien nicht nur von jugoslawischer Seite auszugehen, auch die UCK galt als Sicherheitsrisiko. Angesichts dieser Lage begannen schon frühzeitig Überlegungen, was die NATO tun könne, um eine zur schnellen Reaktion fähige Schutzkomponente bereitzustellen, deren Existenz die Konfliktparteien auch von gewalttätigen Aktionen gegen die internationalen Mitarbeiter abhalten könnte.
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In Washington wurden drei Möglichkeiten der Stationierung einer solchen Truppe diskutiert225 •
in Nordalbanien – diese Möglichkeit galt wegen einer dadurch auch möglichen Einschränkung der UCK-Aktivitäten in der Region für „reizvoll, aber unrealistisch“, • in Mazedonien – die notwendige Zustimmung Mazedoniens schien erreichbar, • auf Schiffen in der Adria mit logistischer Unterstützung aus Italien – hierfür schien es bei den amerikanischen Militärs eine Präferenz zu geben. Schließlich erfolgte die Stationierung – gegen starke jugoslawische Proteste – in Mazedonien als eine „europäische Lösung“. Diese „Extraction Force“ stand unter französischer Führung. An der Gesamtstärke von ca. 2400 Mann beteiligten sich neben Frankreich noch die Niederlande, Italien, Großbritannien und Deutschland mit einer verstärkten Kompanie (bis zu 200 Soldaten). Die USA waren nur mit einem Verbindungsstab, jedoch ohne eigene Kampftruppen eingebunden. Neben der in Mazedonien stationierten Truppe wurden zusätzliche Kräfte außerhalb der Region als Einsatzreserve bereitgehalten. Objektiv gesehen hatte diese Truppe wohl eher eine politische als eine militärische Funktion. Sie sollte demonstrieren, dass die Europäer in der Lage waren, militärische Fähigkeiten für die Krisenreaktion bereitzustellen. Da die Truppe im NATO-Rahmen eingesetzt wurde, kam auch die NATO wieder ins Spiel.226 Die Rolle der OSZE wurde relativiert, indem deutlich wurde, dass ihre Mission auf den Schutz der NATO angewiesen war. Als „Abschreckungselement durch Präsenz“ konnte die Truppe gegenüber der Belgrader Führung wirken. Für die UCK eröffnete sich die Möglichkeit, durch Inszenierung einer Notsituation für das OSZE-Personal eine militärische Intervention der NATO auszulösen. Dass die UCK diese Chance nicht nutzte, zeigt die Ernsthaftigkeit ihrer Beteuerung, die OSZE-Mission nicht zu behindern oder zu gefährden. Belgrad hatte wiederholt deutlich gemacht, dass es ein Eingreifen dieser Notfalltruppe als einen militärischen Angriff betrachten würde. Deshalb wäre es sehr riskant gewesen, die „Extraction Force“ tatsächlich zum Schutz 225 Persönliche Recherche. 226 Der hierfür gültige Operationsplan „Joint Guarantor“ wurde am 13.11.1998 vom NATO-Rat gebilligt.
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der OSZE-Mitarbeiter intervenieren zu lassen. Letzten Endes erwies sich die „Extraction Force“ als ein kampfstarkes „Vorauskommando“ für die Besatzungstruppe, die im Juni 1999 in Kosovo einmarschierte. Auf eine besondere Schutzwirkung wies General „DZ“ bei einer Unterrichtung am 6. Januar in Wien hin. Der unbewaffnete Status sei nach den Erfahrungen der KVM eine deutliche Stärke. Keine Seite fühle sich durch die KVM bedroht. Dadurch habe man Zugang, den man bewaffnet vielleicht nicht haben würde.227 Fazit: Mangelhafte Unterstützung durch die meisten Teilnehmerstaaten der OSZE Alles in allem zeigten sich bei der Einrichtung der KVM zu erwartende Schwierigkeiten. Sie waren auch das Ergebnis einer strukturellen Schwäche der OSZE, die keinen geeigneten Stab hatte, der eine derartige Mission planen, organisieren und führen konnte. Versuche, dieses organisatorische Defizit auszugleichen, waren in der Vergangenheit immer wieder am Widerstand der Briten und Amerikaner gescheitert, die das Entstehen einer Konkurrenz zur NATO befürchteten.228 Die Teilnehmerstaaten der OSZE hielten zwar Millionen von Soldaten für den militärischen Einsatz bereit, doch für Friedenseinsätze war keine ausreichende Vorsorge getroffen. So verzögerten strukturelle Schwächen der OSZE, Missmanagement in Wien und Pristina und vor allem die zu geringe Unterstützung aus den Teilnehmerstaaten die volle Arbeitsfähigkeit der OSZE in Kosovo. Auch Deutschland hat seinen Beitrag zur Verzögerung des Aufbaus der OSZE- Mission im Kosovo „geleistet“. Nicht auf der „Arbeitsebene“, die sich redlich abmühte, sondern auf der Ebene der politischen und insbesondere auch der militärischen Leitung. Die rot-grüne Regierung versäumte es, ihren Ankündigungen Taten folgen zu lassen. In der Regierungserklärung versprach der Bundeskanzler, bei der Friedenssicherung vor Ort könnten sich die Partner auf Deutschland verlassen.229 Im Zentrum der politischen 227 Deutsche OSZE-Vertretung, 6.1.1999. 228 Zellner spricht von einer „fast dogmatischen no growth policy“ Großbritanniens „zumindest in bezug auf das Sekretariat“ (Wolfgang Zellner, Die OSZE zwischen organisatorischer Überforderung und politischem Substanzverlust, in: Ulrich Ratsch/ Reinhard Mutz/ Bruno Schoch (Hrsg.), Friedensgutachten 2000, Münster 2000, S. 103.). 229 Deutscher Bundestag, 3. Sitzung vom 10. November 1998, Plenarprotokoll, 14. Wahlperiode, S. 64.
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Anstrengungen der rot-grünen Regierung stand jedoch nicht die OSZE, sondern die NATO. Anfangserfolge der OSZE-Mission: Konkrete Vertrauensbildung und Verbesserung der humanitären Lage „Die Lage ist ruhig, aber angespannt“, dies ist der zusammenfassende Tenor der Berichterstattung der OSZE im November 1998. Kennzeichnete diese angespannte Ruhe einen Übergang zum dauerhaften Ende der Gewalttätigkeiten oder nur eine Atempause vor der Fortsetzung gewaltsamer Auseinandersetzungen? Am 3. November berichtete der norwegische Chef des Stabes der KVM, General Nygaard, vor den Delegationen der NATO-Länder in Wien über seine ersten Erkenntnisse. Die Lage in Pristina habe sich wesentlich verbessert, größere Zusammenstöße gebe es nicht mehr. Viele Straßensperren seien entfernt worden. Die Zahl der in die Wälder Geflüchteten werde nun auf weniger als J.000 geschätzt. Aber es gebe weiterhin Berichte über unkorrektes Verhalten der Polizei gegenüber Albanern. Aus den Treffen mit örtlichen Behörden und mit Führern der Kosovo-Albaner habe sich die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ergeben. Jedoch sei von serbischer Seite erklärt worden, wenn die UCK weiterhin in von serbischen Kräften geräumtes Gebiet nachrücke, müsse reagiert werden. Es sei jetzt wichtig, dass die KVM bald sichtbare Präsenz zeige.230 Die etwa 300 Diplomaten von KDOM, die ihre Arbeit für die OSZE bereits Mitte Oktober begonnen hatten, agierten zunächst weniger als Kontrolleure, sondern mehr als Vermittler, Moderatoren und Koordinatoren. Die Zusammenarbeit mit der Polizei und der Armee verlief weitgehend reibungslos. Nach zumeist von der UCK ausgehenden Gewalttaten hielt sich die jugoslawische Seite in ihren Reaktionen noch zurück. Doch serbische Polizisten zeigten auch schon ihre Frustration wegen der Angriffe der UCK, die sie weitgehend passiv hinnehmen müssten (20./22.11.1998).231 Auch die örtlichen UCK-Kommandeure verhielten sich überwiegend kooperativ gegenüber der KVM. Die wenigen Angriffe der UCK wurden von ihnen als Disziplinlosigkeit einzelner Kämpfer bewertet. Gelegentliche Ein230 Deutsche OSZE-Vertretung, 3.11.1998. 231 Im Folgenden wird mit dem Datum auf den jeweiligen Tagesbericht der KVM hingewiesen, in dem die Ereignisse berichtet werden.
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schränkungen der Bewegungsfreiheit der Diplomaten, weil Autorisierungsschreiben der UCK-Führung verlangt wurden, fielen nicht ins Gewicht. Mehrere Sektor- Kommandeure verwiesen auf Weisungen der UCK-Führung. Die Direktive laute: „Die UCK muss den internationalen Organisationen helfen und sie unterstützen, sie darf keine Straßenblockaden errichten und nicht die serbische Polizei provozieren.“(24.11.1998) Bei einem Treffen Walkers mit dem politischen Führer der Kosovo-Albaner, Ibrahim Rugova, meinte dieser, eine rasche Stationierung des Verifikationspersonals würde dazu beitragen, die Lage im Kosovo zu beruhigen (30.11.1998). Doch vier Tage später sagte Rugova in einer Pressekonferenz, eine Stationierung von NATO-Truppen würde für fortdauernde Sicherheit im Kosovo sorgen. Dies war nicht gerade ein Vertrauensbeweis für die OSZE-Mission. Insgesamt waren die Erklärungen der kosovarischen Führung widersprüchlich. So erklärte Adern Demaci, politischer Repräsentant der UCK, die UCK werde ihre Waffen nicht niederlegen, bevor das Kosovo unabhängig sei (1.12.1998). In einer offiziellen Erklärung des Generalstabs der UCK heißt es, die UCK stehe fest zu ihrer Verpflichtung des gerechten Kampfes für einen unabhängigen und demokratischen Staat. Man sei zwar zu Unrecht von Verhandlungen für die Stationierung internationaler Beobachter ausgeschlossen gewesen und habe deshalb auch keine Verpflichtungen. Dennoch begrüße man die Ankunft der Beobachter und werde alles tun, um mit ihnen zusammenzuarbeiten und ihre Sicherheit zu gewährleisten. (4./5.12.1998) Ein Klima des Vertrauens und der Sicherheit zu schaffen, war die Maxime für die Arbeit der internationalen Diplomaten im Dienst der OSZE. Die Sicherheitslage sollte stabilisiert werden, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu beschleunigen. Wichtig war es daher, durch häufige Patrouillen „internationale Präsenz zu demonstrieren, um örtlich Vertrauen aufzubauen“. (23.11.1998) Erfolgreich interveniert haben OSZE/KDOM u.a. in folgenden Fällen: •
Ein von der UCK wegen „Spionage“ gefangen gehaltener serbischer Polizist wird nach tagelangen Verhandlungen freigelassen; • zwei seit dem 18. Oktober von der UCK gefangen gehaltene jugoslawische Journalisten werden freigelassen. Die jugoslawische Seite dankt ausdrücklich der internationalen Gemeinschaft für ihr Engagement in dieser Sache, die in der jugoslawischen Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt hatte;
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•
drei Kosovo-Albaner, die am 18. November unter dem Vorwurf, sie unterstützten Terroristen, inhaftiert worden waren, werden vom Bezirksgericht in Prizren freigelassen; • ein örtliches Arrangement zwischen Polizei und UCK wird vermittelt: die Polizei patrouilliert auf den Hauptstraßen, die UCK wird auf den Nebenstraßen unbehelligt gelassen; die serbische Polizei lässt sich überzeugen, ihre Patrouillen deutlich zu verringern. KDOM begleitet serbische Polizeipatrouillen, um ihnen den für die Bevölkerung bedrohlichen Charakter zu nehmen. Diese Begleitung wird als vertrauensbildende Maßnahme bezeichnet. Ein UCK-Kommandeur warnt jedoch, er könne die Sicherheit der internationalen Diplomaten nicht garantieren, wenn sie Polizeipatrouillen begleiteten. Die Lage für die Zivilbevölkerung verbesserte sich deutlich. Tausende von Flüchtlingen kehrten in ihre Dörfer zurück. UNHCR berichtet, es gebe keine Flüchtlinge mehr, die im Freien lebten (20./21.11.1998). Die Zurückgekehrten begannen, ihre Häuser zu reparieren und Felder zu bestellen. Schulen wurden wieder eröffnet. Trotz noch vorhandener Polizei an Checkpoints war reger Verkehr auf den Straßen. Die internationalen Hilfsorganisationen konnten ungehindert Hilfsgüter verteilen. UNHCR war seit dem 13. Oktober an sechs Tagen in der Woche im Einsatz. Impfprogramme wurden in Angriff genommen. Die Lage schien sich zu normalisieren. Doch die Beruhigung konnte noch nicht als stabil gelten. Für die geplagten Menschen zeichnete sich jedoch ein Hoffnungsschimmer ab. Am 18. November meinte der amerikanische Botschafter Hill, für die Bevölkerung sei es wichtig, dass sie in ihre Dörfer habe zurückkehren können. An dem künftigen Status Kosovos liege ihr weniger.232 Verifikation: Erste Waffeninspektionen Die in den Oktober-Abkommen vorgesehenen internationalen Kontrollen bei Polizei und Armee begannen ohne Probleme. Eine Gruppe von Verteidigungsattaches aus NATO-Ländern führte in drei Waffenlagerstätten Inspektionen durch. Zahl und Art der Waffen wurden als korrekt befunden. Die jugoslawische Seite habe sich höflich und professionell verhalten (26.11.1998). Nach einem Brief von Walker an Milosevic und einer Ver-
232 Deutsche OSZE-Vertretung, 18.11.1998.
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einbarung mit dem Chef des Generalstabs der jugoslawischen Armee erhielt die OSZE-Mission Informationen über die jugoslawischen Streitkräfte in Kosovo. „Die Information wurde schnell und vor dem vereinbarten Termin übersandt“, so das Fazit der KVM. Nach einer Vorübung am 9. Dezember führte die KVM am 11. Dezember die erste offizielle Waffeninspektion bei der jugoslawischen Armee durch. Die internationalen Experten konnten ohne Einschränkungen eine Kompaniestellung außerhalb der Kaserne, in der Nähe von Prizren, fünf km von der albanischen Grenze entfernt, inspizieren. Jedoch wurde ihnen eine Waffeninspektion bei der Brigade in Prizren, innerhalb der Kaserne, verwehrt. Die KVM wertete dies als „schwerwiegenden Verstoß“. Doch ansonsten seien die Verifikationsverfahren eingehalten worden, die Kontrolleure seien höflich und professionell behandelt worden. (11.12.1998) Diese Inspektion deutete auf ein generelles Problem der Verifikation hin, das auch später immer wieder auftrat und für Kontroversen mit der jugoslawischen Seite sorgte. In der amerikanischen Lesart des Holbrooke-MilosevicAbkommens ist von einem strengen („intrusive“) Verifikationsregime die Rede und dem Recht „Militär- und Polizeieinrichtungen zu inspizieren“.233 Doch weder im Abkommen zwischen der OSZE und der BRJ vom 16. Oktober noch in der militärischen Vereinbarung vom 25. Oktober ist dieses Inspektionsrecht in Kasernen und militärischen Einrichtungen genannt. In einem Gespräch zwischen Walker und dem stellvertretenden jugoslawischen Ministerpräsidenten Sainovic am 9. Dezember wurde auch das Thema „Verifikation“ behandelt. Dabei vertrat Sainovic die Position, die im Militärabkommen vom 25. Oktober niedergelegt ist.234 Damit wollte sich jedoch Walker nicht zufrieden geben und die Angelegenheit mit Milosevic klären. Als Walker am 4. Dezember im NATO-Rat in Brüssel vortrug, erklärte er den Botschaftern und hochrangigen Militärs, die OSZE-Mission werde aggressiver auftreten als die diplomatischen Beobachter. Dies gelte insbesondere hinsichtlich der eigenen Bewegungsfreiheit und des Umfangs der Patrouillentätigkeit.235 Walkers Vertreter General „DZ“ war, wie aus der KVM zu erfahren war, auch in dieser Hinsicht ganz auf der Linie seines Chefs. Gegenüber den Jugoslawen sei ein „aggressives Verifikationsverhalten“ zu praktizieren, um so die schriftlich fixierten Bestimmungen durch 233 Vgl. Dokumentenanhang, Dokument 1. 234 Mark Weller, a.a.O., S. 283. 235 Persönliche Recherche.
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die Praxis auszuweiten, so der General gegenüber seinen Mitarbeitern.236 Auch bei einem Vortrag am 6. Januar 1999 bei der OSZE in Wien vertrat er die Auffassung, es sei wesentlich, das Mandat der KVM aggressiv zu interpretieren. Bei Walker und „DZ“ hieß „aggressiv“ natürlich aggressiv gegenüber der jugoslawischen Seite. Die Truppen- und Waffeninspektionen waren noch in anderer Hinsicht ein heikles Thema. Die NATO-Stäbe waren daran interessiert, präzise Informationen über die jugoslawischen Streitkräfte aus der Inspektionstätigkeit der KVM zu erhalten. Dies kam bei einem Treffen von Vertretern der NATO-Kommando-Behörden und der OSZE am 6. November in Wien klar zum Ausdruck. „Deutlich wurde, dass NATO besonders an der Kontrolle von Boden/Luft-Raketen interessiert ist, da von diesen die größten Gefahren für evtl. Operationen ausgehen, einschließlich der Luftüberwachung“.237 Ein Schwerpunkt des Interesses der NATO war es offenbar, Führungsgefechtsstände der jugoslawischen Streitkräfte zu lokalisieren. Am 10. November hatte bereits der russische OSZE-Botschafter gegenüber seinem deutschen Kollegen den Standpunkt vertreten, die Kompetenz der KVM erstrecke sich nicht auf die Verifizierung der Entfernung oder Kantonierung von Flugabwehr-Raketen oder anderen Luftverteidigungssystemen. Nur mit Zustimmung der jugoslawischen Regierung könne das Abkommen vom 16. Oktober weiter interpretiert werden.238 Es war klar, dass aggressives Verhalten bei der Verifikation, Versuche der Ausweitung der Oktober-Abkommen zu Lasten der jugoslawischen Seite und die nicht zu verbergende nachrichtendienstliche Aufklärungstätigkeit von OSZE-Mitarbeitern für die NATO zu keiner wirklichen Vertrauensbasis führen konnten und die Kooperation mit der jugoslawischen Seite belasten mussten. Gerade angesichts des ja immer noch bestehenden Einsatzbefehls der NATO kann es nicht verwundern, dass die jugoslawischen Militärs sich strikt an das schriftlich Vereinbarte halten und keinen Raum für die im Übrigen illegale Aufklärung gewähren wollten.
236 Persönliche Recherche. 237 Deutsche OSZE-Delegation, 7.11.1998. 238 Persönliche Recherche.
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Eine Zeit des Waffenstillstands? Die Zeit von Mitte Oktober 1998 bis Anfang Dezember 1998 war wohl eine ganz entscheidende Zeitspanne im Bürgerkrieg. Die jugoslawische Seite erfüllte ihre Verpflichtungen hinsichtlich des Abzugs der Polizei und der Streitkräfte weitgehend. Dies bestätigten der NATO-Generalsekretär,239 die amerikanische Außenministerin240 und auch der deutsche Außenminister im Bundestag.241 Die Abgeordneten des deutschen Bundestags erhielten hierüber eine Detailinformation aus dem Verteidigungsministerium.242 Im Übrigen erwarteten die USA nicht, wie die deutsche Botschaft aus Washington berichtete, einen vollständigen Rückzug der Polizei und Armee auf den Stand vor der Kosovo-Krise, sondern nur eine „erhebliche Reduzierung“.243 Dieser Verpflichtung war die jugoslawische Seite ohne Zweifel Ende Oktober nachgekommen. Doch wie war das Verhalten der UCK zu beurteilen? Drei Zeugen, denen gewiss niemand eine pro-jugoslawische und anti-albanische Voreingenommenheit unterstellen wird, sollen hier zu Wort kommen. Der Politische Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung der NATO urteilt wie folgt: „So nutzte die UCK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause, um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen Repressionen ließen unter dem Einfluss der KVM in der Zeit von Oktober – Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte es an effektiven Maßnahmen zur Eindämmung der UCK, die weiterhin in den USA und Westeuropa – insbesondere Deutschland und der Schweiz – Spenden sammeln, Rekruten werben und Waffen über die albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UCK auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu. Der Konflikt es-
239 Erklärung des NATO-Generalsekretärs am 27.10.1998 nach einer Sitzung des NATO-Rats (Marc Weller, a.a.O., S. 284). 240 Erklärung der US-Außenministerin am 27.10.1998 (Marc Weller, a.a.O., S. 284). 241 Außenminister Fischer: „Mit dem nach Meinung westlicher Beobachter und der entsprechenden NATO-Stellen weitestgehend umgesetzten Rückzug der jugoslawischen Truppen und Sondereinheiten ist die Rückkehr der Flüchtlinge ermöglicht worden. Damit ist eine humanitäre Katastrophe abgewendet worden.“ (Deutscher Bundestag, 6. Sitzung vom 13. November 1998, Plenarprotokoll, 14. Wahlperiode, S. 358). 242 Unterrichtung des Parlaments 45/98, 5.11.98, S. 4 f. 243 Persönliche Recherche.
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kalierte neuerlich, um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche die NATO zur Intervention bewegen würde...“244 Das Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr kommt zu einer ähnlichen Beurteilung: „Die UCK sickerte in die von Streit- und Sicherheitskräften geräumten Räume ein. Sie maßte sich dort quasi-hoheitliche Befugnisse an und setzte ihre Aktivitäten des hit-and-run vor allem gegen die Sicherheitskräfte fort. Die UCK setzte auf die Macht des Faktischen. Sie reorganisierte sich militärisch und übte in den frei gewordenen Räumen administrativ- politische Kontrolle aus... Belgrad hielt sich zunächst weitgehend an die getroffenen Vereinbarungen. Es war jedoch abzusehen, dass die serbischen Sicherheitskräfte das vom Geist der VN-Resolution abweichende Verhalten der UCK auf Dauer nicht tolerieren würden...“,245 General Klaus Naumann, in dieser Konfliktphase Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, beurteilte die Lage so: „Die UCK spielte im Grunde eine Rolle, die uns den Erfolg des Herbstes 1998 kaputt gemacht hat. Sie stieß in das Vakuum, das der Abzug der Serben hinterlassen hatte und breitete sich in einer Weise aus, die vermutlich niemand in irgendeinem unserer Staaten akzeptiert hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Deutschland akzeptiert würde, wenn da irgendjemand, der meint, sich gegen den Staat auflehnen zu können, Straßensperren errichtet, Grenzposten, anfängt Uniform zu tragen, Waffen herumzuschwenken. Wir würden das auch nicht tolerieren. Und den Fehler hat die UCK gemacht, dass sie das Vakuum füllte, dabei auch nicht zimperlich mit den Serben umging...“246 Auch die Berichterstattung der deutschen Botschaft in Belgrad ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig.247 Es wird berichtet, die UCK kehre mit
244 Parlamentarische Versammlung der NATO, Die Folgen des Kosovo-Konflikts und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention lind Krisenmanagement, S. 19 (http:// www.nato-pa.int). 245 Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr, Abteilung II, Leitfaden für Bundeswehrkontingente im Kosovo, Stand 03/2000, S. 43. 246 General a.D. Klaus Naumann in der ZDF-Sendung „Chronik eines angekündigten Krieges. Eine Bilanz des Kosovo-Konflikts“, 21. September 1999. Die Bundesregierung versuchte, diese Aussage des Generals herunterzuspielen, als sie in der Beantwortung auf eine Große Anfrage der PDS antwortete: „Bei der zitierten Aussage handelt es sich um eine private Meinungsäußerung des Generals a.D. Naumann, die außerhalb des Kontextes der gesamten Diskussion in o.a. Sendung/Interview nicht bewertet werden kann.“ (Antwort der Bundesregierung auf Frage 76, Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/3047 vom 22.3.2000). 247 Persönliche Recherchen.
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den Flüchtlingen in ihre ehemaligen Stellungen zurück und besetze von den Sicherheitskräften verlassene Positionen. Die Mahnungen des deutschen Botschafters sind eindeutig. So heißt es am 20.10.1998, angesichts des erkennbaren Risikos einer erneuten Zuspitzung trage auch die deutsche Politik eine erhebliche Verantwortung. Es liege in deutscher Hand, die Hebel zu nutzen, die man gegenüber der UCK habe. Inzwischen sei die Zeit gekommen, nicht nur durch Reden, sondern auch durch Handeln auf die UCK einzuwirken. Am 25. Oktober hieß es, verbale Warnungen nehme die UCK nicht ernst. Wenn es nicht umgehend gelinge, auch Druck auf die UCK auszuüben, könne es passieren, dass man die Möglichkeit der Beruhigung der Situation wieder aus der Hand gebe. Natürlich müsse der Druck auf die Serben weiter aufrechterhalten bleiben, aber Druck und Aktionen nur gegen eine Seite würden keinen Erfolg zeigen, da es hier zwei agierende Seiten gebe, die man zu Kompromissen zwingen müsse. Am 5.11.1998 meinten die deutschen Diplomaten, serbische Äußerungen, man werde einer weiteren Ausbreitung der UCK nicht länger tatenlos zusehen, müssten zu großer Sorge Anlass geben. Von deutscher Seite aus sollte man bemüht sein, auf radikale und gewaltbereite albanische Kräfte in- und außerhalb des Kosovo massiv einzuwirken und sie zur Zurückhaltung und zur Akzeptierung einer Verhandlungslösung zu drängen. Was von den Gesprächen kosovo-albanischer Politiker im Auswärtigen Amt zu erfahren war, deutet nicht gerade darauf hin, dass man dort die Warnungen und Empfehlungen der Belgrader Botschaft beherzigte. Es gab zwar Appelle, doch die Albaner konnten ziemlich beruhigt sein. Von der politischen Leitung des Auswärtigen Amtes hatten sie nichts zu befürchten. Auch die amerikanische Diplomatie stellte sich bei der Bewertung der Vorgänge in Kosovo klar auf die albanische Seite. So vertraten amerikanische Diplomaten die Auffassung, man könne die UCK erst für die Einhaltung der Waffenruhe in die Verantwortung nehmen, wenn Belgrad alle Vereinbarungen voll erfüllt habe. Der deutsche Botschafter in Belgrad bezeichnete diese Einschätzung als einseitig und gefährlich. Diese Argumentation widerspreche Buchstaben und Sinn aller bisherigen Resolutionen des Sicherheitsrates und der Dokumente der Kontaktgruppe.248 Der am 13. Oktober 1998 vom NATO-Rat erteilte politische Einsatzbefehl für einen Luftkrieg gegen Jugoslawien war bisher nicht aufgehoben, sondern nur ausgesetzt. Das heißt, der NATO-Rat konnte kurzfristig diesen
248 Persönliche Recherche.
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Befehl wieder aktivieren. Diese Drohkulisse hatte eine zweifache Wirkung. Sie stellte die jugoslawische Seite unter eine permanente Kriegsdrohung, auch nachdem sie weitgehend ihre eingegangenen Verpflichtungen erfüllt hatte. Für die UCK war diese Drohung ein Anreiz, durch eine Eskalation der Gewalt eine „humanitäre Katastrophe“ herbeizuführen, die den Luftkrieg gegen Jugoslawien auslösen würde. Zu Recht spricht Reinhard Mutz in diesem Zusammenhang von einem „asymmetrischen Interventionsverhalten“, das faktisch praktiziert wurde, „obwohl nach außen stets am Eindruck der Unparteilichkeit festgehalten wurde.“,249 Zwar war die Zeit, die sich unmittelbar an die Oktober-Abkommen anschloss, relativ ruhig. Die jugoslawische Seite kam grosso modo ihren Verpflichtungen nach. Doch die UCK nahm wieder ihre im Sommer „befreiten Gebiete“ unter ihre Herrschaft. Der Zustrom an Waffen war, wie die Grenzzwischenfälle zeigten, noch stärker als früher. Zwar schwiegen die Waffen, bis auf vereinzelte Scharmützel. Doch unter dem Schirm der einseitig gegen Jugoslawien gerichteten Drohkulisse baute sich ein Konfliktpotential auf, das sich jederzeit entladen konnte. Eskalation und De-Eskalation: Die KVM in der Bewährung Es ist sehr schwierig, anhand der schriftlichen Detailberichte festzustellen, ab wann genau im Dezember 1998 der Konflikt wieder auf eine gewaltorientierte Bahn geriet. Es gab wohl zunächst mehrere kleinere Weichenstellungen, die zur Richtungsänderung führten. Das Konfliktgeschehen kann auch nicht unabhängig von den Entwicklungen an der „Verhandlungsfront“ beurteilt werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die kosovo-albanische Reaktion auf einen vom amerikanischen Sonderbotschafter Hill Anfang Dezember vorgelegten Entwurf für ein Friedensabkommen. Der Leiter des albanischen Verhandlungsteams, Dr. Agani, führte hierzu bei einer Pressekonferenz am 7. Dezember u.a. aus, der Entwurf sei völlig unannehmbar, weil er die serbische Position akzeptiere, „dass Kosovo in Jugoslawien innerhalb Serbiens bleiben solle“. (7. 12.98) Indem das kosovo-albanische Team den Entwurf zurückweise, stelle es sich auch gegen Bemühungen, die
249 Reinhard Mutz, Den Krieg gewonnen, den Frieden verfehlt – Das Debakel der KosovoIntervention, in: Friedensgutachten 2000, a.a.O., S. 61.
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serbische Besetzung des Kosovo international zu legitimieren. Dr. Agani fügte hinzu, die politische Führung der UCK teile diese Auffassung. Die Führung der Kosovo-Albaner hatte offenbar erkannt, dass ihr Ziel, die Unabhängigkeit des Kosovo, auf dem bisher eingeschlagenen Verhandlungswege nicht zu erreichen war und die Anwesenheit der OSZE-Mission die serbische Herrschaft legitimieren und festigen konnte. Anfang Dezember bröckelte der Waffenstillstand. Das Ausmaß an Gewalt nahm zu. Die UCK provozierte und attackierte die Armee und die Polizei und liquidierte in serbischen Diensten stehende Kosovo-Albaner. Serbische Polizei und jugoslawische Armee gaben ihre Zurückhaltung auf und gingen wieder in die Offensive. Sie errichteten neue Beobachtungsposten und führen vermehrt Patrouillen. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten stieg an. Die Zusammenarbeit zwischen der KVM und der serbischen Polizei funktionierte noch. Die Polizei informierte die Mission über Gewalttaten. Die internationalen Experten versuchten, sich am Tatort ein eigenes Bild zu machen, im Wesentlichen aufgrund von Indizien, da die Zeugen auf beiden Seiten nur begrenzt glaubwürdig erschienen. Die Tagesberichte sind in ihrem abschließenden Urteil über Vorfälle sehr ausgewogen, faktisch und ausgesprochen vorsichtig bei der Schuldzuweisung. Dies war mit wenigen Ausnahmen die Tendenz in der Berichterstattung der KVM. Sie handelte sich dafür von jugoslawischer Seite den Vorwurf ein, sie benenne Gewalttaten der UCK nicht als terroristische Aktionen. Noch waren Anfang Dezember die gewalttätigen Auseinandersetzungen örtlich begrenzt auf jene Gebiete, die im Sommer des Jahres von der UCK kontrolliert wurden, als „befreit“ galten und jetzt wieder sukzessive in Besitz genommen wurden. Es handelte sich dabei um die Grenzregionen bei Prizren, die Gegend um Malisevo, die traditionellen UCK-Gebiete im zentralen Kosovo und um die Verbindungsstraßen zwischen diesen Gebieten. Bezeichnend für den zugrunde liegenden Konflikt und die generelle Lage sind zwei Begegnungen, über die KDOM am 4. Dezember berichtet: Auf einer Straße südlich von Malisevo trafen die Diplomaten auf zwei UCK-Kämpfer, von denen einer erklärte: „Dies ist unser Land und wir werden gehen, wohin wir wollen.“ Auf die Vorhaltung von KDOM, Polizeipatrouillen in Dörfern, wo nur wenige Serben wohnten, würden als unnötig aggressiv gelten und eine Konfrontation provozieren, antwortete ein höherer Polizeioffizier, die Polizei habe „das Recht und die Pflicht“ auch in solchen Gebieten zu patrouillieren.(4./5.12.1998) Es stehen sich also die nicht miteinander zu vereinbarenden Ansprüche der serbischen Staatsautorität und militanter Separatisten gegenüber. 284
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Der Monat Dezember 1998 stand im Zeichen zweier Vorkommnisse, die für die OSZE-Mission und den weiteren Konfliktverlauf Bedeutung hatten. Am 14. Dezember wurde KDOM von der jugoslawischen Armee über ein Grenzgefecht informiert, bei dem 36 Kosovo-Albaner getötet und neun gefangen genommen worden waren. Eine Gruppe von etwa hundert UCKKämpfern war bei dem Versuch, Waffen nach Kosovo zu bringen, in einen jugoslawischen Hinterhalt geraten. Am späten Abend des gleichen Tages erschossen zwei maskierte Männer in Pec, in einer von serbischen Studenten frequentierten Bar, sechs Studenten, drei wurden schwer verletzt. Die KVM stellte zu diesem Vorfall fest: „Die Motive und die Identität der Attentäter sind nicht bekannt. Vermutungen, dass der Vorfall ein Racheakt auf den vorhergegangenen Grenzzwischenfall war, konnten nicht bestätigt werden und bleiben deshalb ein Gerücht.“ (14.12.1998) Für die Serben war es jedoch klar, dass diese Bluttat auf das Konto der UCK ging. Die UCK behauptete, der serbische Geheimdienst habe die Tat verbrochen. Die schon vor Tagen begonnenen Proteste serbischer Zivilisten, die sich zunächst an die serbischen Behörden wegen deren angeblicher Untätigkeit bei der Aufklärung des Schicksals vermisster Serben richteten, adressierten ab Mitte Dezember auch die KVM. In Podujevo warfen circa 1500 Serben und Montenegriner in einer Petition der OSZE und insbesondere den USA vor, sie unterstützten die UCK. Auch in anderen Orten wurde gegen die OSZE protestiert. Die OSZE erschien in serbischen Augen immer mehr parteiisch zu sein. Einige feindselige Aktionen aus der Bevölkerung gegen OSZE-Fahrzeuge waren wohl auch Ergebnis dieser Perzeption. In einer Region, in der es bisher ruhig war, kam es ab Mitte Dezember zu einer Eskalation. Es begann damit, dass die UCK in der Nähe von Podujevo Stellungen ausbaute, von denen aus die wichtigen zivilen und militärischen Nachschubwege zwischen Kosovo und dem übrigen Serbien kontrolliert werden konnten. Die jugoslawischen Sicherheitskräfte hatten sich aufgrund der Oktober-Abkommen aus diesen Stellungen zurückgezogen. Der Polizeichef von Podujevo ersuchte die KVM, hier einzugreifen und drohte, falls es nicht gelinge, die UCK zur Räumung der Stellungen zu bewegen, werde die Polizei dies mit Gewalt tun (18.12.1998). Die KVM hatte bei ihrem Gespräch mit dem örtlichen UCK-Kommandeur keinen Erfolg. Er lehnte es ab, die Stellung zu räumen. In der Folgezeit verlegte die Armee eine Kampfgruppe in Bataillonsstärke in die Region. Es kam zu einzelnen Gefechten. Die KVM stellte fest: „Die UCK provoziert weiterhin Feuergefechte mit der Polizei“ (22.12.98). Schließlich vermittelte die KVM eine Feuerpause, die auch zunächst weitgehend eingehalten wurde. Doch es war 285
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eine neue Konfliktregion entstanden, die auch in der folgenden Zeit nicht mehr beruhigt werden konnte, weil sie offenbar für beide Konfliktparteien von strategischem Interesse war. Eine Analyse und Bewertung der deutschen Botschaft in Belgrad vom 28. Dezember weist auf die besorgniserweckende Lage hin. Die Region um Podujevo entwickle sich zu einem neuen Zentrum der Auseinandersetzungen. Die UCK versuche, Gebiete bis dicht an der Hauptverbindungsstraße Pristina – Nis unter ihre Kontrolle zu bringen und auch Ortschaften zu besetzen, in denen sie bisher nicht präsent war. Durch die Kämpfe in den letzten Tagen sei auch deutlich geworden, dass die jugoslawische Seite nicht länger bereit sei, die schleichende Ausweitung des Einflusses der UCK tatenlos hinzunehmen. Insgesamt seien die Geschehnisse der vergangenen Tage trotz ihres lokalen Charakters ein sehr ernst zu nehmendes Warnsignal, das die Brüchigkeit der Lage im Kosovo und die Herausforderungen, denen sich die KVM gegenübersieht, überdeutlich werden lasse. Die KVM solle ihre Aktivitäten verstärken, um durch Präsenz vor Ort der verhängnisvollen Dynamik von Gewalt und Gegengewalt entgegenzuwirken.250 Über die unmittelbaren Folgen der Kämpfe auf die Flüchtlingssituation gibt es weit auseinandergehende Berichte und Zahlen. Rüb spricht von massiven Angriffen der serbischen Polizei, Tausende von Kosovo-Albanern seien vor den Kämpfen geflohen. 251 Joetze behauptet, es habe wieder „Zehntausende von Flüchtlingen“ gegeben.252 Nach Troebst gab es mehr als 5000 Flüchtlinge, die serbische Seite habe bis zu einhundert Panzer eingesetzt.253 Die SZ berichtet, nach „albanischen Angaben sind mindestens 10.000 Menschen geflüchtet. Der Weg aus der Schusslinie führt sie in die Wälder, wo sie dem Winter schutzlos ausgeliefert sind“.254 Die FAZ bezieht sich schließlich auf eine montenegrinische Tageszeitung, nach deren Bericht wegen der „andauernden Kämpfe“ etwa 30.000 Menschen ihre Häuser verlassen hätten.255
250 Persönliche Recherche. 251 Matthias Rüb, Kosovo, Ursachen und Folgen eines Krieges in Europa, München 1999, S. 119. 252 Günter Joetze, a.a.O., S. 46. 253 Stefan Troebst, The Kosovo War, Round One: 1998, in: Südosteuropa 3-4/1999, S. 189. 254 SZ vom 29.12.1998. 255 F AZ vom 29.12.1998.
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Dagegen konstatiert die Lagefeststellung des Verteidigungsministeriums: „Presseberichte über größere Flüchtlingsbewegungen, die angeblich durch die Kampfhandlungen im Nordosten des Kosovo zu Weihnachten ausgelöst wurden, sind unzutreffend. Wegen der schlechten Witterung verblieben die meisten Bewohner in ihren Häusern oder kehrten nach Abflauen der Auseinandersetzungen dorthin zurück. Die wenigen Serben in der Region Podujevo verließen jedoch ihre Dörfer. Beobachter schätzten die Anzahl der aus der Region geflüchteten Personen auf etwa 100.“256 Die deutsche Botschaft in Belgrad stellt am 28. Dezember lapidar fest: „Berichte über größere Flüchtlingsbewegungen können nicht bestätigt werden.“257 Derartige Diskrepanzen in Berichten über Flüchtlingszahlen sind keine Ausnahme. Es ist davon auszugehen, dass die über eine Vielzahl von Einzelinformationen verfügenden Nachrichtenexperten des Verteidigungsministeriums mit ihren Bewertungen viel näher an der Wirklichkeit liegen, als jene Journalisten, Balkanexperten und Chronisten, die mit aufgebauschten Flüchtlingszahlen ein militärisches Eingreifen gegen Jugoslawien herbeiführen bzw. nachträglich rechtfertigen wollten. Ein anderer Aspekt sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt. In den Medien und in der einschlägigen Literatur werden diese ersten heftigen Kämpfe in der Podujevo-Region oft als serbisch-jugoslawische „Weihnachtsoffensive“ bezeichnet. Die SZ spricht von an „Weihnachten ausgebrochenen Kämpfen“.258 „Die Welt“ datiert den Beginn der Kämpfe auf den „Heiligabend“259 Auch Rüb bringt den „Heiligabend“ ins Spiel.260 Doch welche Bedeutung hatte „Weihnachten“ eigentlich in dieser Region und für die Konfliktparteien? Das orthodoxe Weihnachtsfest der Serben liegt Mitte Januar, und die moslem ischen Kosovo-Albaner feierten wohl auch nicht das christliche Fest. Es ist davon auszugehen, dass dies den Balkankorrespondenten namhafter deutscher Tageszeitungen bekannt war. So ist wohl zu vermuten, dass die Thematisierung von Weihnachten im Zusammenhang mit den Kämpfen der Versuch einer bewussten Manipulation und Emotionalisierung der deutschen Leser war.
256 257 258 259 260
Unterrichtung des Parlaments 01/99, S. 7. Persönliche Recherche. SZ vom 29.12.1998. Die Welt vom 28.12.1998. Matthias Rüb, a.a.O., S. 119.
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Die OSZE-Mission aus der Sicht der beiden Konfliktparteien Die OSZE und ihre Kosovo-Mission hatten eine schwere Aufgabe in einem schwierigen Umfeld zu bewältigen. Mitentscheidend für den Erfolg war es, dass sie von beiden Konfliktparteien als neutral angesehen wurden und Vertrauen sowohl bei der Bevölkerung des Kosovo als auch bei den politischen Führungen der Kosovo-Albaner und der Serben gewinnen und erhalten konnte. Dies zu erreichen war schwierig, doch die anfänglichen Reaktionen von beiden Parteien gaben Anlass zur Hoffnung. Insbesondere für die Zivilbevölkerung war die Anwesenheit internationaler Beobachter offenbar eine gewisse Garantie gegen gewalttätige Übergriffe. Die albanische Seite bewertete die OSZE-Mission insgesamt positiv. Die kosovo-albanische Zivilbevölkerung nahm zu keiner Zeit eine feindselige Haltung gegenüber den Mitarbeitern der KVM ein. Für sie hatte sich die Lage in Kosovo mit dem Tätigwerden der OSZE deutlich spürbar verbessert. Die internationalen Beobachter galten als ein Schutz gegen Übergriffe der Polizei. Man suchte Kontakt mit ihnen, verhielt sich freundlich und zeigte ihnen, dass sie willkommen waren. Die politischen Führer der Kosovo-Albaner offenbarten im Allgemeinen auch eine positive Einstellung gegenüber der OSZE-Mission, deren Stationierung demonstrierte, in welchem Maße der Konflikt internationalisiert war. Doch wiederholt machten Rugova und andere aus der kosovo-albanischen Führung deutlich, dass nach ihrer Auffassung nur eine Stationierung von NATO-Truppen für eine Befriedung des Konflikts sorgen könnte. Die KVM war für sie ein Zwischenschritt zu einem Engagement der NATO. Mitglieder der UCK verhehlten zunächst nicht ihre Enttäuschung, weil es nicht zu einem militärischen Eingreifen der NATO gekommen war. Doch äußerten einzelne UCK-Kämpfer auch die Überzeugung, dass man dieses Ziel schon noch erreichen werde. Insgesamt verhielt sich die UCK gegenüber der KVM kooperativ, deren Angehörige ja überwiegend aus NATOLändern stammten. Die Belgrader Führung hatte von der Stationierung eine Eindämmung der UCK erwartet. Für sie musste es eine Enttäuschung sein, als sie feststellte, dass die UCK ungehindert in ihre ehemaligen Hochburgen zurückkehrte und schon nach wenigen Wochen – wie bereits im Sommer des Jahres 1998 – in „befreiten Gebieten“ quasi-staatliche Kontrolle beanspruchte und auch ausübte. Die anfangs sehr kooperative Haltung der Polizei gegenüber der OSZEMission veränderte sich allmählich. Aus der serbischen Zivilbevölkerung
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kamen, auch angeheizt durch Propaganda in den jugoslawischen Staatsmedien, Zeichen der Feindseligkeit. Ein „Non-Paper“ aus Belgrad vom 9. November 1998 deutete schon bald nach den Oktober-Abkommen eine gewisse Unzufriedenheit der jugoslawischen Seite an.261 In dem Papier wurde herausgestellt: • in der OSZE-Mission müssten alle OSZE-Teilnehmerstaaten gleichmäßig vertreten sein, • die Berichterstattung der KVM müsse auch der jugoslawischen Seite vorgelegt werden, • offizielle Kommunikationskanäle zwischen Belgrad und Wien seien schnell einzurichten, • das Mandat der Mission dürfe nicht ausgeweitet werden. Belgrad betonte seine Bereitschaft, alles zu tun, um das Abkommen vom 16. Oktober durch Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis zu implementieren. Dieses „Non-Paper“ löste bei der OSZE in Wien leichte Unruhe aus. Doch Walker konnte am 10. November in Wien berichten, Milosevic habe ihm gesagt, dieses Papier sei vom Tisch. Er habe auch bestritten, es überhaupt zu kennen.262 Wenige Wochen nach diesem ersten informellen Signal wurde Belgrad offiziell und deutlicher. Der jugoslawische Außenminister übermittelte dem polnischen OSZE-Vorsitz ein Memorandum und bat dieses an die Außenminister der OSZE weiterzuleiten, die am 2. und 3. Dezember 1998 zu ihrem jährlichen Treffen in Oslo zusammenkamen. In dem Memorandum263 werden Leistungen der jugoslawischen Seite dargestellt und Aktivitäten der UCK aufgelistet. Deutlich wird auch die Unzufriedenheit mit dem Verhalten verschiedener Länder und einiger internationaler Organisationen, die zwar nicht namentlich genannt wurden, doch auch die OSZE sicher mit einschlossen. Sie würden Kontakte mit Terroristen, Killern, Kidnappern und anderen Kriminellen unterhalten, die sich „KLA“ [Kosovo Liberation Army] nennen.264 Ab Mitte Dezember begannen, wie auch die deutsche Botschaft am 18. Dezember berichtete, heftige Protestaktionen serbischer Bürger, die der OSZE vorwarfen, sie unternehme zu wenig gegen die albanischen Terroris-
261 262 263 264
Non-Paper, Belgrad, 9.11.1998 (Archiv Loquai). Persönliche Recherche. Dokumentenanhang, Dokument 2. Ebenda.
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ten, unterstütze einseitig die Albaner und sei insgesamt parteiisch. Diese Bürgerproteste wurden auch zu einem Problem für die Belgrader Führung, die in die Schusslinie geriet, weil sie nichts unternehme, um die serbische Bevölkerung zu schützen. Am 29. Dezember kam es in Belgrad zu einem Gespräch des stellvertretenden jugoslawischen Ministerpräsidenten und Kosovo-Beauftragten Sainovic mit den Botschaftern der EU-Länder. Dabei zog Sainovic eine kritische Bilanz der Entwicklung in Kosovo seit Oktober 1998. Die UCK habe die von den serbischen Sicherheitskräften geräumten Stellungen besetzt. Die serbische Zivilbevölkerung sei durch die Anschläge der UCK und die Ermordung von serbischen Offiziellen sehr beunruhigt. Sie fordere von der Regierung, dass sie energischer gegen die UCK durchgreife. Die internationale Staatengemeinschaft habe ihre Zusage nicht eingehalten, die UCK einzudämmen. Zwischen Milosevic und Holbrooke bzw. den NATO-Generalen Clark und Naumann sei abgesprochen worden, dass die USA bzw. die NATO und die OSZE verhindern würden, dass die UCK die Waffenruhe nutzt, um die Kontrolle über jene Gebiete, die sie im Frühsommer kontrolliert hatte, wieder zu erlangen. Dieses Versprechen sei jedoch nicht gehalten worden. Die KVM habe die von jugoslawischer Seite in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Die internationale Staatengemeinschaft habe nicht nur dem Wiedererstarken der UCK tatenlos zugesehen, sondern auch durch Kontakte mit ihren Vertretern zu einer politischen Aufwertung der UCK beigetragen. Belgrad sei bereit, mit der KVM uneingeschränkt zu kooperieren. Man erwarte jedoch eine Einflussnahme auf die UCK, um zu verhindern, dass diese weiter vordringe. Im Übrigen kritisierte Sainovic vor allem Deutschland, das Geldsammlungen der Albaner erlaube.265 In seinem ersten Gespräch mit dem neuen OSZE-Vorsitzenden, dem norwegischen Außenminister Knut Vollebaek, am 11. Januar 1999 äußerte sich auch Milosevic sehr kritisch und negativ zur OSZE-Mission. Er warf ihr Einseitigkeit zugunsten der Kosovo-Albaner und Nachsicht gegenüber den „terroristischen Aktivitäten“ der UCK vor. Milosevic behauptete, die KVM werde von den USA und der NATO dominiert. Die Stationierung der OSZEMission habe zu einem Anstieg der „terroristischen Aktivitäten“ geführt. Der Leiter der KVM sei weniger daran interessiert, Verbrechen der UCK zu untersuchen als angebliche Exzesse der serbischen Seite.266 Milosevic arti-
265 Persönliche Recherche. 266 Persönliche Recherche. 2.
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kulierte das negative Image der Mission, das sich – wie verschiedene Protestaktionen zeigten – inzwischen in der serbischen Bevölkerung eingeprägt hatte. Rückblickend nahm der Stellvertretende Leiter der OSZE-Mission, der französische Botschafter Gabriel Keller, am 25. Mai 1999 in Wien Stellung zum Erscheinungsbild der KVM.267 In der serbischen öffentlichen Meinung sei es eine weitverbreitete Überzeugung gewesen, dass die OSZE insgeheim für die NATO arbeite und deshalb nicht zur Entspannung beitrage, sondern im Gegenteil mit einer „hidden agenda“ arbeite. Keller bestätigte die Parteilichkeit der Mission. Einige Missionsmitglieder hätten von Anfang an ein aggressives Verhalten gegen die offiziellen serbischen Vertreter und Behörden eingenommen. „Auf der oberen Führungsebene der Mission versuchten wir niemals, die jugoslawische Seite in unsere Arbeit einzubeziehen.“ Nach einigen Wochen Anwesenheit im Kosovo sei das allgemeine Image der OSZE/KVM gewesen, sie sei antiserbisch, pro-albanisch und proNATO. „Nichts wurde getan, um dieses Erscheinungsbild zu korrigieren. Im Übrigen, war da etwas zu korrigieren?“ Diese für einen Vortrag bei der OSZE ungewöhnlich offene und kritische Analyse stimmt mit den Ergebnissen meiner Recherchen überein. Ehemalige Missionsmitglieder bestätigten insbesondere die antiserbischen und pro-albanischen Einstellungen und Verhaltensweisen des Leiters der Mission und einiger Führungskräfte. Das Verhältnis und die Beziehungen der OSZE zur NATO wurden nicht nur von der BRJ sondern auch von Russland aufmerksam und kritisch beobachtet.268 Für die meisten OSZE-Länder war die NATO der Garant für die Sicherheit der OSZE-Mission. Es war offenkundig, dass in der KVM eingesetzte NATO-Offiziere für ihre Länder und die NATO-Hauptquartiere nachrichtendienstliche Aufklärung betrieben.269 Dabei ging es wohl vor allem um die genaue Lokalisierung von Zielen für
267 The OSCE/KVM: autopsy of a mission, Statement delivered by Amb. G. Keller, principal deputy head of mission, to the watch group on May 25 (Dokumentenanhang, Dokument 7). 268 Bereits am 6. November 1998 hatten sich OSZE- und NATO-Vertreter in Wien zu einer Besprechung getroffen. Es ging dabei um eine engere Zusammenarbeit zwischen beiden Organisationen, insbesondere um gegenseitige Information. 269 Der französische OSZE-Beobachter Kaczorowski schreibt, er habe sich betrogen gefühlt durch die Zusammenarbeit der OSZE mit der NATO, denn sie sei nicht vereinbar gewesen mit den Prinzipien der Unparteilichkeit und Neutralität, die ausdrücklich ins Mandat geschrieben worden seien. Vgl. North Atlantic Assembly (Hrsg.) The OSCE Verification Mission to Kosovo December 1998 – March 1999, Personal Views by two „Verifiers“, Mai 1999, S. 18.
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Luftangriffe und die Beurteilung der Verkehrswege für Truppenbewegungen. Der jugoslawischen Seite blieb diese geheimdienstliche Tätigkeit für die NATO unter dem Mantel der OSZE natürlich nicht verborgen. Sie erhielt auf ihren Wegen Informationen aus der OSZE-Mission und konnte aus den Aktivitäten auf das spezielle Aufklärungsinteresse schließen. Das daraus resultierende, zunehmende Misstrauen gegenüber der OSZE-Mission war eine denkbar schlechte Voraussetzung für die weitere Arbeit der internationalen Beobachter. Der Stand des Aufbaus der KVM zum Jahreswechsel 1998/1999 Am 1. Januar 1999 hatte die KVM 572 internationale Mitarbeiter, das waren knapp über ein Viertel der anvisierten 2000. Außerdem standen noch 84 Diplomaten von KDOM in den Diensten der OSZE. Hinzu kamen 489 lokale Angestellte. Das meiste Personal befand sich im Hauptquartier in Pristina. Doch schon wurde in Wien „zunehmend deutlich“, dass dem OSZE-Sekretariat zu wenig Bewerbungen vorlagen, „um in absehbarer Zeit die Zielziffer von 2.000 vor Ort befindlichen Mitarbeitern der KVM zu erreichen“.270 Insgesamt 64 gepanzerte Fahrzeuge standen den KVM-Mitarbeitern für Patrouillen zur Verfügung. Der Mangel an derartigen Fahrzeugen beschränkte immer noch die Einsatzfähigkeit der Mission. Ebenso beeinträchtigte die zu geringe Zahl der Funkgeräte und Schutzwesten die Sicherheit der Beobachter. Drei Regionalzentren in Prizren, Mitrovica und Pec waren in Dienst gestellt, die beiden übrigen in Pristina und Gnjilane folgten bis zum 11. Januar 1999. Das am 23. November offiziell eröffnete und von den Italienern betriebene Ausbildungszentrum in Brezovica, wo alle neuen internationalen Mitarbeiter eine knapp einwöchige Ausbildung und Einweisung in die regionalen Besonderheiten erhielten, hatte eine Kapazität von etwa 250 Ausbildungsplätzen. Es war nur teilweise ausgelastet, weil die einzelnen Länder oft weniger Personal schickten, als sie angekündigt hatten. Ein deutliches Defizit lag noch bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der KVM. Der Posten eines Pressesprechers war seit dem 6. Dezember vakant, obwohl mehrere Kandidaten angeboten worden waren. Doch der Missionsleiter zö-
270 Deutsche OSZE-Vertretung, 15.1.1999.
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gerte mit einer Entscheidung. Für OSZE-Diplomaten in Wien war diese Situation unverständlich, da die Defizite der KVM in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit nicht zu übersehen waren. In Wien war eine kleine KVM-Unterstützungseinheit verblieben, weil die Personalauswahl und die Beschaffung von Großgerät zentral von dort aus erfolgten. Diese Gruppe betrieb auch ein Lagezentrum, das rund um die Uhr in Betrieb war. Ein Novum für die OSZE! Nach einer Informationsreise des deutschen Botschafters und des Verteidigungsattaches zu Dienststellen der KVM stellt ein Bericht aus Belgrad am 11. Januar fest, der Aufbau der KVM schreite fort. Es habe jedoch den Anschein, dass die KVM sehr „kopflastig“ sei. Die Stabskomponenten seien überbewertet. Der Personaleinsatz im Hauptquartier sei „überproportional“, auch in den Regionalzentren sei ein Großteil des Personals in den Stäben eingesetzt. Dies habe zur Folge, dass Personal für die Verifikation, Vermittlung und Vertrauensbildung fehle. Zudem würden Patrouillen nur bei Tage durchgeführt. Lediglich das britisch dominierte Regionalzentrum in Prizren versuche, durch „field offices“ eine kontinuierliche Präsenz in kleineren Ortschaften oder an Brennpunkten des Geschehens zu erreichen. Das eigentliche Ziel, das Einwirken durch massive, ununterbrochene Präsenz im gesamten Kosovo werde bisher nicht erreicht.271 Diese von der deutschen Botschaft festgestellte Schieflage der Gesamtorganisation zugunsten der Stäbe ist typisch für derartige Missionen internationaler Organisationen. Die Notwendigkeit, möglichst viele Länder mit hochrangigen Posten zu versorgen, führt zwangsläufig zu einem Aufblähen der Stäbe, wo sich derartige Positionen leichter einrichten und begründen lassen. Im Falle der KVM war das nicht anders. Zudem war der Aufbau der Mission von oben nach unten geplant, zunächst Aufstellung des Hauptquartiers, dann weitere Ebenen nachfolgend. Da sich die Mission noch in der Aufbauphase befand, war die Einrichtung der Stäbe weiter fortgeschritten als die Etablierung der „Truppe“. Hinzu kamen die Defizite bei der Materialausstattung, so dass aus Sicherheitsgründen Verifikationspersonal zunächst in Stabsfunktionen belassen wurde. Berücksichtigt man die mit der Einrichtung der KVM verbundenen Probleme und Schwierigkeiten, so kann man feststellen, dass das bis dahin Erreichte eine befriedigende Aufbauleistung war. Zu verdanken war sie vor allem dem großen persönlichen Einsatz vieler internationaler und lokaler
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Mitarbeiter. Ein besonderes Verdienst hatte die norwegische Regierung, die schon bevor sie den OSZE-Vorsitz am 1. Januar 1999 übernahm, durch finanzielle Sonderbeiträge in Höhe von 21 Millionen Dollar, Materiallieferungen und den technischen Ausbau des Hauptquartiers ihrer Verantwortung gerecht wurde. Chancen und Risiken unter einem neuen OSZE-Vorsitzenden Zur Jahreswende 1998/1999 konnte die OSZE wieder optimistischer in die Zukunft blicken. Die KVM hatte entscheidend dazu beigetragen, dass die Kämpfe in der Podujevo-Region nicht weiter eskalierten, sondern nach wenigen Tagen eingestellt wurden. Am 1. Januar 1999 übernahm Norwegen den OSZE-Vorsitz für ein Jahr. In Wien verbanden sich damit große Erwartungen, denn es war der Eindruck entstanden, dass Polen mit großer Erleichterung diese Aufgabe an den Nachfolger übergab. Vom norwegischen Außenminister erwartete man neuen Schwung und politische Initiativen. Am 29. Dezember berichtete Walker in Wien, er habe die Absicht, den Aufbau der KVM planmäßig voranzutreiben. In den Medien war, wohl auch verursacht durch eine missverständliche Presseerklärung des polnischen OSZE-Vorsitzenden, der Eindruck entstanden, die OSZE-Mission sei bereits am Ende. Eine Erklärung der OSZE in Wien wertete die „irreführende Berichterstattung in den Medien“ als einen „Bedarf an Dramatisierung in einer nachrichtenarmen Zeit“.272 Zwar kamen aus Washington und von der NATO aus Brüssel schon Signale, die OSZE-Mission in Kosovo sei gescheitert. Doch dies waren wohl eher Störgeräusche jener, die von vorneherein für eine militärische „Lösung“ waren. Auch der deutsche Balkan-Experte Troebst meinte: „Um die militärische Erzwingung des Protektorates zu ermöglichen und die sich abzeichnende Geiselnahme zu verhindern, müssen umgehend sämtliche OSZE-Beobachter, Vertreter anderer internationaler Organisationen und Nichtregie-
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rungsorganisationen vorübergehend aus dem Kosovo abziehen.“273 Allerdings zeichnete sich eine Geiselnahme weder zu dieser Zeit noch später ab. Troebst ist wohl hier – wie es nicht selten bei „Balkanexperten“ der Fall war – dubiosen Gerüchten oder Pressemeldungen aufgesessen. Von kompetenterer Seite wurde die Lage anders dargestellt. So erklärte der Leiter der KVM am 29. Dezember bei einem Gespräch mit dem OSZEVorsitz, „dass die Kämpfe der letzten Tage zwar Anzeichen erhöhter Spannung im Kosovo seien, jedoch die KVM nicht gefährden würden. Positiv sei hervorzuheben, dass die KVM in jeder Phase uneingeschränkten Zugang zu bei den Seiten gehabt habe und damit auch eine nützliche Rolle habe spielen können. Dabei sei offensichtlich geworden, dass auf Seiten der BRJ-Behörden weniger Bereitschaft zur Zusammenarbeit bestehe als auf Seiten der Kosovo-Albaner.“274 General „DZ“ rückte bei seinem Vortrag am 6. Januar auch die Dimensionen der Kämpfe zurecht: Es sei bezeichnend, dass die Zwischenfälle sich gerade dort ereignet hätten, wo noch keine ständige Präsenz der KVM gewesen sei. Im Übrigen habe es sich „in Podujevo um ein Gebiet in der Größe von 10 mal 10 Kilometer“ gehandelt.275 Zum Jahresbeginn wurde auch eine weitere Komponente der Luftbeobachtung einsatzfähig. Die deutschen Aufklärungsdrohnen begannen ihre ersten Flüge. Die schon ab Mitte Oktober 1998 operierenden Aufklärungsflugzeuge hatten deutlich Begrenzungen in ihrem Einsatz. Der Flugplan musste eine Woche im Voraus der jugoslawischen Seite mitgeteilt werden, die Einsatzflughöhe betrug 5000 m, es gab dadurch erhebliche Einschränkungen durch schlechtes Wetter. Die deutschen Drohnen waren von ihren Einsatzmöglichkeiten her sehr viel flexibler und effizienter. Sie konnten ohne Voranmeldung, in niedrigen Flughöhen und bei Nacht und schlechter Sicht eingesetzt werden. Mit diesem Aufklärungssystem war es möglich, Truppenkonzentrationen festzustellen und militärische Anlagen, Feldstellungen und Kontrollposten sowie Fahrzeugkolonnen zu überwachen. Deutschland hatte damit ein eigenes, sehr wirksames taktisches Aufklärungssystem. Es war zwar eingebunden in das Gesamtsystem der NATO-
273 Stefan Troebst, Der Kosovo als OSZE-Protektorat, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1998, S. 1477. Wie Troebst von sich abzeichnenden Geiselnahmen sprechen kann, bleibt sein Geheimnis. Allerdings erweckte er mit seiner Behauptung Assoziationen zur Geiselnahme im Bosnienkrieg und der Ankettung französischer VN-Soldaten an Brücken. 274 Deutsche OSZE-Vertretung, 29.12.1988. 275 Deutsche OSZE-Vertretung, 6.1.1999.
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Luftaufklärung, konnte aber auch für eigenständigen, nationalen Aufklärungsbedarf eingesetzt werden. Schon bald zeigte die OSZE-Mission, wie wichtig sie für die De-Eskalierung von Konflikten war. Am 8. Januar verfuhr sich eine Gruppe von acht jugoslawischen Soldaten im dichten Nebel. Sie gerieten in einen Kontrollposten der UCK und wurden gefangen genommen. In Verhandlungen rund um die Uhr versuchte die KVM, die UCK zur Freilassung der Gefangenen zu bewegen und einen Einsatz der zur Befreiung der Soldaten aufmarschierten jugoslawischen Truppen zu verhindern. Der neue OSZE-Vorsitzende befand sich zu dieser Zeit in Belgrad zu Gesprächen mit der jugoslawischen Führung. Bei Milosevic erreichte er eine Verlängerung der Frist für eine Intervention der Armee.276 Nach äußerst schwierigen Verhandlungen, die mehrmals zu scheitern drohten, konnte am 13. Januar die OSZE die acht Soldaten ihrer Truppe übergeben. Die KVM berichtet: „Die Spannungen in Kosovo nahmen mit der Freilassung der acht Soldaten ab. Dies war ein bedeutendes Ereignis für die Provinz und die KVM“ (13.1.1999). Diese erfolgreiche Vermittlung hätte ein Wendepunkt in dem Konflikt sein können. Am 14. Januar trafen sich Botschafter Walker und der jugoslawische Kosovo-Beauftragte Sainovic. Dieser erklärte, die Glaubwürdigkeit der OSZE- Mission sei durch ihre erfolgreiche Intervention zur Befreiung der Soldaten gewachsen. Er äußerte den Wunsch, hierauf aufzubauen und kündigte eine neue politische Initiative der jugoslawischen Regierung für Ende Januar an. Sainovic bat die KVM zu helfen, dass serbische Zivilisten in die Dörfer rund im Podujevo zurückkehren könnten. Dabei verwies er auf die Erfolge in Malisevo, wo die Anwesenheit der internationalen Beobachter die Albaner zur Rückkehr ermutigt habe (14.1.1999). Auch Ibrahim Rugova dankte am 15. Januar der OSZE für ihren Beitrag zur Beruhigung der Lage. Doch er wiederholte dabei sein ceterum censeo, „dass die Stationierung von NATO-Truppen die Lage in Kosovo noch mehr beruhigen würde.“ Auf hoher politischer Ebene schien sich ebenfalls eine positive Entwicklung im Verhältnis der OSZE zu Jugoslawien anzubahnen. Bei seinen Gesprächen in Belgrad am 11. Januar erörterte Vollebaek mit Milosevic auch
276 Am 14. Januar im Ständigen Rat der OSZE in Wien dankte Vollebaek dem jugos1awischen Präsidenten dafür, dass er positiv auf seinen Appell zur Zurückhaltung reagiert habe. Auch die albanische Seite habe mit ihm ernsthaft verhandelt in dem Bemühen, eine Lösung zu finden, die nicht zu mehr Gewaltanwendung führen würde.
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die Beziehungen zur OSZE. Er erklärte, sein Ziel als OSZE-Vorsitzender sei es, Jugoslawien zurück in die OSZE zu bringen. Als Voraussetzung nannte er u.a. Zusammenarbeit Belgrads mit der OSZE und der KosovoMission und die Einhaltung der OSZE-Standards hinsichtlich der Menschenrechte. Milosevic entgegnete, die BRJ wolle an den OSZE-Aktivitäten teilnehmen, werde aber nicht auf Knien darum bitten.277 Auch bei seiner ersten Rede im Ständigen Rat in Wien und in der anschließenden Pressekonferenz drückte Vollebaek seine Hoffnung aus, dass während seiner Amtszeit die BRJ in die OSZE zurückkehren werde. Am 14. Januar sprach Vollebaek mit dem deutschen Außenminister in Bonn und teilte Fischer mit, er überlege, Jugoslawien eine Wiederaufnahme in die OSZE anzubieten. Allerdings müssten gewisse Vorbedingungen von Belgrad erfüllt werden. Fischer schien es vor allem um das Einverständnis der USA zu gehen – eine eigenartige Reaktion des Außenministers eines Landes, das zu dieser Zeit den EU-Vorsitz innehatte. Der OSZE-Vorsitzende wollte aber offenbar seine Absicht weiterverfolgen.278 Für die Belgrader Führung wäre die Wiederaufnahme in die OSZE zweifellos eine enorme politische Aufwertung gewesen. Hätte dies doch bedeutet, dass die OSZE-Staaten feststellten, Jugoslawien halte die Prinzipien der OSZE ein, nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der Menschenrechte. Selbstverständlich hätte die OSZE-Mission, was die Zusammenarbeit mit der jugoslawischen Seite betrifft, davon profitiert. Politisch sehr nachteilig wäre eine solche Aufwertung für das Bestreben jener Kosovo-Albaner gewesen, die rasch die Sezession vom jugoslawischen Staats verband anstrebten. Doch schließlich war diese Perspektive ohnehin schon wenige Tage später durch die Ereignisse von und um Racak hinfällig. VII Das „Massaker von Racak“ – eine entscheidende Weichenstellung zum Krieg gegen Jugoslawien Wie kein anderes Ereignis beeinflusste das „Massaker von Racak“ den Kurs der weiteren Entwicklung des Kosovo-Konflikts. Zwar behauptete der deutsche Außenminister im Bundestag, Racak habe für den Krieg keine „auslösende oder verstärkende Funktion“ gehabt, „was die Daten des Ablaufs un277 Vgl. Main elements from Chairman-in-Office Foreign Minister Vollebaeks talks with President Milosevic 11.01.99. (Archiv Loquai). 278 Persönliche Recherche.
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mittelbar beweisen“.279 Doch die Daten zeigen gerade das Gegenteil auf. Und bei anderer Gelegenheit hat offenbar auch Fischer gesagt, Racak sei für ihn „der Wendepunkt“ gewesen.280 Hier soll es nicht darum gehen zu ermitteln, was in Racak am 15./16. Januar 1999 tatsächlich geschah. Bis heute ist noch nicht im Detail nachvollziehbar und umfassend aufgeklärt, was sich wirklich ereignete.281 Das Haager Kriegsverbrecher- Tribunal hat „Racak“ als einziges Ereignis vor dem 24. März 1999 in seiner Anklageschrift gegen Slobodan Milosevic u.a. aufgeführt.282 „Racak“ ist also auch von Bedeutung für den Prozess gegen die Mitglieder aus der jugoslawischen Staatsführung. Ob dieser Prozess die Wahrheit über „Racak“ herausfinden wird, muss sich zeigen. Diese Studie befasst sich nur mit einigen Aspekten von „Racak“. Sie versucht auf folgende Fragen Antworten zu geben: •
Wie wurde „Racak“ durch die OSZE, insbesondere durch die Leitung der OSZE-Mission dargestellt? • Welche kurzfristigen politischen und militärischen Folgeaktivitäten hat „Racak“ ausgelöst? • Wie wurde „Racak“ durch Printmedien dargestellt und beurteilt? Bevor jedoch auf diese Fragen eingegangen wird, ist kurz auf Ereignisse hinzuweisen, die vor „Racak“ geschahen und in deren Kontext „Racak“ auch zu sehen ist. Zur Vorgeschichte von „Racak“
Das Dorf Racak liegt einen halben Kilometer südlich von Stimlje, etwa 35 km südlich von Pristina. Im Juli 1998 hatte es schwere Kämpfe in dieser Region, die zu den „befreiten Gebieten“ der UCK gehörte, gegeben. Es kam zu schlimmen Zerstörungen und Todesopfern. Von den ursprünglich 2000 Bewohnern lebten Anfang 1999 noch 350 in Racak. In dem Dorf gab es einen Stützpunkt der
279 Deutscher Bundestag, 97. Sitzung vom 5. April 2000, Plenarprotokoll. 14. Wahlperiode. S. 9010. 280 Gunter Hofmann, a.a.O., S. 17. 281 Es sei hier auf die gut recherchierte Darstellung von Elsässer hingewiesen (Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen, a.a.O., S. 50 ff.). 282 Vgl. www.fas.org.
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UCK.283 Die KVM dokumentierte in ihren Tagesberichten zunächst folgende Ereignisse: 8. Januar 1999 „Angriffe der UCK auf die Sicherheitskräfte führten zu offensichtlichen Spannungen in der Provinz… Der Tötung von drei serbischen Polizisten und der Entführung von acht jugoslawischen Soldaten folgten die bisher größten Proteste serbischer Zivilisten in der Provinz. Den Belgrader Behörden wird von den hiesigen Serben vorgeworfen, sie seien unfähig, für Sicherheit in der Provinz zu sorgen. Die neuerlichen UCK-Angriffe werden wahrscheinlich den Druck auf die jugoslawische und serbische Führung erhöhen, etwas gegen die, Terroristen' zu unternehmen.“ 10. Januar 1999 „Die KVM geht Berichten über einen Angriff auf eine Polizeipatrouille in Slivovo [südlich von Stimlje] nach. Dabei soll ein Polizist verwundet worden sein.... Die örtliche Polizei behauptet, ein,Terrorist' habe auf die Patrouille von einem Friedhof aus geschossen.“ 12. Januar 1999 „KVM-Patrouillen aus Pristina und Prizren bestätigen eine Zunahme von Aktivitäten der jugoslawischen Armee im Gebiet um Stimlje... KDOM meidet, die Polizei sei in diesem Gebiet in einem hohen Bereitschaftsstand... Das Regionalzentrum Pristina meldet, der am 10. Januar in Slivovo überfallene Polizist sei im Krankenhaus gestorben.“ 15. Januar 1999 „Die serbische Regierung tagte in Pristina. Regierungsmitglieder werden voraussichtlich drei Tage in Kosovo bleiben. Es ist geplant, dass sie übers 283 OSCE, As Seen, As Told, a.a.O., S. 353.
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Wochenende mehrere Städte in der Provinz besuchen... „ „Die Regionalzentren Prizren und Pec meldeten eine deutliche Verschlechterung der Lage in der Stimlje-Region.“ Darstellung des“ Massakers von Racak“ durch die OSZE Am 15. Januar war es um und in Racak zu schweren Kämpfen zwischen der UCK und den Sicherheitskräften gekommen. Die KVM erhielt am späteren Nachmittag Zugang zu Racak, nachdem Militär und Polizei abgezogen waren. Im Tagesbericht heißt es: „In Racak sahen die Verifikateure einen toten albanischen Zivilisten und fünf verwundete Zivilisten. Die Verwundeten, zu denen eine Frau und ein Junge gehörten, die Schussverletzungen erlitten hatten, wurden von der KVM in ein Krankenhaus eingeliefert. Bewohner von Racak behaupteten, dass Männer von Frauen und Kindern getrennt und 20 Männer gefangen genommen worden seien. Dies bleibt unbestätigt.“ Am 16. Januar 1999 fanden zwei Trupps der OSZE-Mission im Verlauf des Morgens 40 tote Kosovo-Albaner an mehreren Stellen in Racak und in der Nähe des Dorfes. Die OSZE-Mission verfasste noch am gleichen Tag zunächst einen ersten schriftlichen Ereignisbericht (KVM Spot Report) und eine vorläufige Bewertung durch die Abteilung für Menschenrechte (Preliminary Human Rights Assessment, Incident in Racak). Noch am gleichen Tag veröffentlichte das OSZE-Sekretariat in Wien eine Presseerklärung des Amtierenden Vorsitzenden Vollebaek (Press Release, OSCE Chairman-in-Office Condemns Atrocities in Kosovo). Der Leiter der OSZE-Mission äußerte sich ebenfalls am 16. Januar in einer Pressekonferenz in Pristina. Am 17. Januar stellte die OSZE-Mission in einem ausführlichen Sonderbericht den Hintergrund dar und listete die vorgefundenen Toten auf (Special Report, Massacre of Civilians in Racak).284 Die schriftlichen Berichte der OSZE-Mission waren nicht für die Veröffentlichung vorgesehen, sondern sie dienten der Information der Teilnehmerstaaten. Die Medien konnten sich zunächst über das Ereignis aus den Presseerklärungen informieren. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie sehr bald auch Einblick in die schriftlichen Berichte der OSZE hatten und auch auf anderen Wegen direkt recherchierten.
284 Vgl. Dokumentenanhang, Dokumente 3 bis 5.
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Das Informationsmanagement der ersten Stunden wurde durch den Leiter der OSZE-Mission dominiert. Nachdem er von einer Patrouille einen ersten telefonischen Bericht erhalten hatte, führte er mit dem amerikanischen Außenministerium ein Telefongespräch.285 Daraufhin veranlasste er, die Presse in Pristina zu informieren und begab sich zum Tatort. Dort ließ er fünfzig bis sechzig Journalisten freien Zugang und freie Hand.286 Er unternahm nichts, um den Tatort abzusperren und Beweise sichern zu lassen, sondern tat alles, um dem Ereignis größte Publizität zu verschaffen. Am Nachmittag gab Walker in einer Pressekonferenz im KVM-Hauptquartier in Pristina eine Erklärung ab, in der er u.a. feststellte: • • •
45 Leichen wurden gefunden, darunter drei Frauen und ein Kind, die Opfer sind offenbar dort, wo sie lagen, exekutiert worden, alle Toten waren in Zivilkleidern, es handelt sich augenscheinlich um einfache Dorfbewohner, • er zögere nicht, nach dem, was er gesehen habe, dies als Massaker und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen, • er zögere auch nicht, die Sicherheitskräfte der Regierung als dafür verantwortlich anzuklagen.287
In der Presseerklärung des OSZE-Vorsitzenden vom 16. Januar ist von „Grausamkeiten gegen unschuldige Zivilisten“ die Rede, die Opfer seien im Stil einer Exekution getötet worden. Der Begriff „Massaker“ wird jedoch nicht verwendet, es erfolgt auch keine eindeutige Schuldzuweisung an die jugoslawischen Sicherheitskräfte.288 Der Ständige Rat der OSZE befasste sich in einer Sondersitzung am 18. Januar mit „Racak“. Zunächst schilderte ein Stellvertreter Walkers,289 der deutsche Diplomat Bernd Borchardt, „minutiös die Ereignisse, wie die OSZE-Mission sie rekonstruiert hat. Der Augenschein habe schnell klargemacht, welches Ausmaß das Verbrechen gehabt habe und wer verantwortlich dafür sei: Kräfte von BRJ-Polizei und –militär... Borchardt ließ erken-
285 Nach den Aussagen eines Mitglieds der KVM telefonierte Walker auch mit der amerikanischen Außenministerin selbst. 286 Wie ein Augenzeuge berichtet, konnten die Toten photogerecht positioniert werden, Patronenhülsen wurden gesammelt. 287 KVM Spot Report, Dokument 3. 288 OSCE, The Secretariat, Press Release, OSCE Chairman-in-Office Condemns Atrocities in Kosovo. 289 Walker selbst war in Pristina geblieben, weil ein Einreiseverbot befürchtet wurde.
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nen, dass die Aufklärungsergebnisse begrenzt geblieben seien, da die Menschenrechtsabteilung der Mission noch nicht mit genügend Personal ausgestattet gewesen sei.“290 Eine Erklärung des Ständigen Rats konnte nicht verabschiedet werden. Der bereits am 17. Januar erarbeitete und von den „Schlüsseldelegationen“ gebilligte Entwurf, fand nicht die Zustimmung Russlands.291 In seiner Stellungnahme führte der russische Botschafter aus, es seien „weitere Untersuchungen und objektive Bewertungen erforderlich. Eine Verurteilung einer Seite lediglich auf der Grundlage des bisher Bekannten sei nicht vertretbar“.292 Da die EU-Länder und die USA eine „klare Erklärung des Vorsitzes einer verspäteten und verwässerten Entscheidung des Ständigen Rates“ vorzogen, gab es nur eine „Erklärung des Vorsitzenden“. Darin werden die Grausamkeiten verurteilt, die – wie die OSZE-Mission festgestellt habe – von dem jugoslawischen Militär und der Polizei an unbewaffneten Zivilisten begangen wurden.293 In der Ratssitzung hob der deutsche OSZE-Botschafter für die EU u.a. hervor, dass für die Ermordung unbewaffneter Zivilisten das „Militär und die Polizei der BRJ die Schuld tragen“.294 Der amerikanische Botschafter zeigte sich empört über „das Massaker in Racak und den skandalösen Versuch der jugoslawischen Behörden, ein kaltblütiges Blutbad und die Verstümmelung von Zivilisten als eine militärische Operation gegen Terroristen darzustellen“. Er stellte den jugoslawischen Präsidenten Milosevic und den serbischen Präsidenten Milutinovic an die Seite von Goebbels, „den Propagandisten der Großen Lüge“.295 Der US-Diplomat diktierte in seiner sehr emphatischen, von Washington vorgegebenen Erklärung, Forderungen an ein in der Sitzung nicht anwesendes „Belgrad“. Der albanische Botschafter hatte im Sitzungssaal schon seine Adressaten, wenn er kundtat, „Beschränkung auf verbale Verurteilungen würden jetzt nicht mehr weiterhelfen. Die
290 Deutsche OSZE-Vertretung, 18.1.1999. 291 Die russische OSZE·Vertretung hatte dem Entwurf schon zugestimmt. Kurz vor der Sitzung des Ständigen Rats erhielt sie jedoch Weisung aus Moskau, Änderungen einzubringen. 292 Deutschen OSZE-Vertretung, 18.1.1999. 293 Eine eindeutige Schuldzuweisung ist der Hauptunterschied der Erklärungen des OSZE-Vorsitzes vom 16. und 18. Januar. 294 Deutsche OSZE-Vertretung, 18.1.1999. 295 U.S. Mission to the OSCE, Statement on Kosovo, delivered by Ambassador David T. Johnson to the Permanent Council, Wien, 18. Januar 1999 (Archiv Loquai).
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Verbrecher und ihre Mentoren in Belgrad müssten bestraft werden.“296 Andere Staaten, darunter auch die Schweiz und Schweden, äußerten sich im Sinne der EU und der USA, lediglich Weißrussland teilte die russische Haltung. In einer der Sitzung des Ständigen Rats folgenden Pressekonferenz ergriff zunächst der deutsche Diplomat Bernd Borchardt das Wort. Er erklärte, in Racak habe es eine „klassische Exekution“ gegeben. Die meisten Opfer seien „aus nächster Nähe erschossen worden“.297 Die OSZE habe in Racak 36 Leichen gefunden, neun weitere hätten in zwei benachbarten Dörfern gelegen. Er selbst habe in Racak eine Frau und einen etwa 12 Jahre alten Knaben gesehen. Die übrigen Toten seien alle männlichen Geschlechts.298 Bei dieser Pressekonferenz stellte der norwegische Botschafter Eide fest, allen verfügbaren Informationen zufolge seien viele Opfer „brutal hingerichtet worden“.299 Der französische Stellvertreter Walkers und Leiter der Politischen Abteilung der KVM, Botschafter Gabriel Keller, bezog am 20. Januar in einem Interview Stellung. Er meinte, es gebe einen starken Verdacht, dass serbische Kräfte das Racak-Massaker ausgeführt hätten. Doch er mahnte auch: „Selbst wenn es nur eine einprozentige Chance gibt, dass dies nicht so ist, wie wir glauben, müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen und der internationalen Gemeinschaft nur Schlussfolgerungen präsentieren, die vollständig verifiziert sind.“300 Keller musste sich wegen dieser vorsichtigen, der Verantwortung eines internationalen Diplomaten gerecht werdenden Äußerungen heftige Vorwürfe von amerikanischer Seite gefallen lassen, weil er angeblich Walker in den Rücken gefallen sei.301 Die von Walker in die Welt gesetzte Version von „Racak“ konnte offenbar keine auch noch so geringe Relativierung vertragen.
296 297 298 299 300 301
Deutsche OSZE-Vertretung, 18.1.1999. Die Presse vom 19.1.1999. NZZ vom 19.1.1999. Der Standard vom 19.1.1999. Reuters vom 20.1.1999. Persönliche Recherche.
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Äußerungen von serbisch-jugoslawischer Seite Der norwegische Außenminister und OSZE-Vorsitzende Vollebaek telefonierte sofort, nachdem er über die Vorkommnisse in Racak informiert worden war, mit dem jugoslawischen Außenminister Jovanovic. Dieser bestritt zunächst, dass es Aktionen der Sicherheitskräfte gegeben habe. In einem späteren Gespräch verwies er darauf, dass es sich um „Aktionen gegen Terroristen“ gehandelt habe. Unter den Toten sei keine Person unter 18 Jahren, auch keine Frau. In einer Erklärung des jugoslawischen Innenministeriums wird behauptet, die Polizei habe am 15. Januar in Racak eine Gruppe von Terroristen gestellt. Ein Polizist sei verwundet worden. Mehrere Dutzend Terroristen, von denen die Mehrheit Uniformen mit UCK-Abzeichen getragen hätten, seien getötet worden. Die KVM habe einen Untersuchungsrichter, der sich zum Tatort begeben wollte, daran gehindert. Am 17. Januar wurde in Belgrad eine Presseerklärung des serbischen Präsidenten Milutinovic veröffentlicht. Darin wird behauptet, am 15. Januar habe eine Polizeiaktion zur Verhaftung eines Terroristen stattgefunden, der vorher einen serbischen Polizisten erschossen habe. Die Polizei sei unter Beschuss geraten und habe hierauf geantwortet. Am 16. Januar habe Walker die Justizbehörden daran gehindert, am Tatort ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen. Walker selbst sei mit von ihm persönlich eingeladenen Journalisten gekommen und habe falsche Erklärungen und persönliche Bewertungen abgegeben. Walker habe wahrscheinlich vergessen, dass er weder ein Gouverneur, noch ein Staatsanwalt oder ein Richter in Serbien oder der BRJ ist, sondern der Vertreter einer internationalen Organisation. Er habe das Abkommen mit der OSZE verletzt. Walker habe sich nicht wie der Repräsentant einer internationalen Organisation verhalten, sondern wie ein Repräsentant und Beschützer von Separatismus und Terrorismus.302 Die deutsche Botschaft in Belgrad berichtete am 18. Januar über die Äußerungen jugoslawischer Regierungsstellen und Medien: •
Der serbische Präsident Milutinovic habe am 17.1. mit „völlig unverhältnismäßiger Stellungnahme“ auf Äußerungen des Leiters der KVM über die Verantwortlichkeit serbischer Sicherheitskräfte für das RacakMassaker reagiert.
302 Yugoslav Daily Survey, Nr. 20005, Belgrade 17 January 1999 (Archiv Loquai).
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Auch die Sprecher der im serbischen Parlament vertretenen Parteien richteten scharfe Angriffe gegen Walker. Der stellvertretende serbische Ministerpräsident Seselj habe festgestellt, zahlreiche Verifikateure seien im Kosovo, um den Terroristen logistische Unterstützung zu geben. Walker arbeite für die CIA, sei wichtigster Beschützer albanischer Banden und müsse durch die OSZE unverzüglich abgelöst werden. Die Sicherheitskräfte hätten lediglich auf einen Terrorangriff reagiert, die Leichen seien später· verstümmelt worden, um NATO-Angriffe zu provozieren. In umfangreichen Erklärungen wiesen die serbischen Regierungsparteien die Vorwürfe Walkers zurück. Die serbischen Medien hätten mit außerordentlicher Heftigkeit auf die Vorwürfe des Leiters der OSZE-Mission Walker reagiert, serbische Sicherheitskräfte hätten am 15.1.1999 in Racak ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. Sie unterstellten Walker Versuche, im Auftrag der CIA einen Vorwand für eine NATO-Intervention zu schaffen. Nachdem die serbischen Regierungsmedien im Laufe des 17. Januar unter Hinweis auf die Milutinovic-Erklärung vom 16.1. Walker pauschal der Lüge bezichtigt hätten, habe die „hiesige Propagandamaschinerie“ mit der Abendnachrichtensendung vom 17. Januar ihre Taktik geändert. Walker werde nun vorgeworfen, durch Betreten von Racak ohne Begleitung von serbischen Untersuchungsbehörden das Abkommen zwischen Jugoslawien und der OSZE verletzt zu haben. Außerdem werde der OSZE Unterstützung der UCK bei angeblicher Manipulation der Leichen vorgeworfen. Breiter Raum werde einer Erklärung eines Polizeisprechers in Pristina eingeräumt, der auf einer Pressekonferenz versichert habe, dass in Racak ausschließlich auf Personen in UCK-Uniformen geschossen worden sei und auf dort angeblich beschlagnahmte Waffen und Ausrüstungsgegenstände verwiesen habe, unter denen sich auch eine Kappe mit UCK-Emblem befinde. In unabhängigen Medien werde das Thema bislang mit großer Vorsicht behandelt. Sie veröffentlichten die Erklärungen beider Seiten, verzichteten aber auf eigene Kommentare.
Die deutsche Botschaft fasst bewertend zusammen, die völlig unverhältnismäßigen Äußerungen von serbischer Regierungsseite zeigten den aufgestauten Belgrader Unmut über die internationale Präsenz in Kosovo, insbesondere darüber, dass nach Beginn der KVM-Päsenz die militärische Lage
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sich zum Nachteil Belgrads verändert habe, ohne dass die Sicherheitskräfte massiv gegen die UCK vorgehen dürften. Die Äußerungen serbischer Regierungsvertreter zeigten, dass Belgrad weniger denn je gewillt sei, konstruktiv mit der internationalen Gemeinschaft und der KVM zusammenzuarbeiten. In seiner ablehnenden Haltung werde das Regime einmütig durch die im Parlament vertretenen Parteien gestützt. Die Entwicklung in den nächsten Tagen werde zeigen, ob die verbalen Ausfälle der serbischen Politiker nur ein Ventil für das aufgestaute Missbehagen mit der momentanen Situation waren oder vielmehr einen grundlegenderen Bruch „mit der bisherigen Belgrader Politik missmutiger Einsicht in die Notwendigkeit wenigstens partieller Kooperation mit der KVM“ darstelle.303 Ergebnisse gerichtsmedizinischer Untersuchungen Am 19. Januar begannen jugoslawische und weißrussische Gerichtsmediziner in der Universität von Pristina mit Autopsien der 40 Leichen, die von der OSZE-Mission in Racak vorgefunden worden waren.304 Am 22. Januar schloss sich dieser Untersuchung eine finnische Expertengruppe an, die im Auftrag der EU eigentlich andere angebliche Massaker (drei an Serben und drei an Kosovo-Albanern begangen) untersuchen sollte.305 Am 17. März 1999 trug die Leiterin der finnischen Gruppe einen – wie sie sagte – persönlichen Bericht in einer Pressekonferenz vor.306 Die schriftliche Zusammenfassung enthält u.a. folgende Feststellungen und Ergebnisse:307 •
Das Mandat des forensischen Teams der EU umfasste nur die gerichtsmedizinische Autopsie der 40 ins Leichenschauhaus gebrachten Opfer, nicht jedoch das gesamte Spektrum der strafrechtlichen Ermittlungen.
303 Persönliche Recherche. 304 Über die Untersuchungsergebnisse der serbischen und weißrussischen Gerichtsmediziner ist kein Gesamtbericht veröffentlicht worden. Es gibt jedoch verschiedene Hinweise auf Ergebnisse (Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen, a.a.O., S. 55 f.; Vojin Joksimovich, a.a.O., S. 228). 305 Für die Beauftragung des finnischen Teams hatte sich der deutsche Botschafter in Belgrad mit Demarchen an die Ministerien für Justiz und Inneres erfolgreich eingesetzt. 306 Elsässer befasst sich auch sehr kritisch mit der Rolle von Dr. Ranta. (Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen, a.a.O., S. 50 ff.). 307 Bericht der EU zu Racak/Kosovo im Januar 1999, www.auswaertiges-amt.de.
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Was den Schauplatz der Ereignisse und die Todesumstände angeht, musste sich das Team vollständig auf Informationen der OSZE/KVMund EU/KDOM-Beobachter verlassen, die den Schauplatz am 16. Januar 1999 besichtigten, sowie auf Informationen der Medien [! – H. L.]. Die Opfer scheinen „ungefähr zur gleichen Zeit“ gestorben zu sein. Kleidungsstücke wurden „höchstwahrscheinlich“ weder gewechselt noch entfernt. Die in einer Rinne in der Nähe des Dorfes Racak gefundenen 22 Männer wurden „höchstwahrscheinlich am Fundort erschossen“. Post-mortem-Verstümmelungen der Leichen sind „höchstwahrscheinlich“ auf Tiere zurückzuführen. „Unter den autopsierten Personen waren mehrere ältere Männer und nur eine Frau. Es gab keine Hinweise, dass es sich bei den Betroffenen nicht um unbewaffnete Zivilpersonen handelte.“ Ein Urteil, ob es sich um ein Massaker gehandelt habe, „fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich des forensischen Teams der EU“.
Bemerkenswert ist, welch deutliche Kritik Frau Dr. Ranta am Vorgehen der KVM am Tatort übt, ohne allerdings die dafür Verantwortlichen ausdrücklich zu nennen. „Normalerweise würde man bei einem mutmaßlichen Verbrechen als ersten entscheidenden Schritt die Absperrung des Gebiets und das Verbot des Zutritts von Unbefugten erwarten.“ Andere, ebenso zu erwartende Verhaltensmaßregeln folgen. „Im Fall Racak geschah nichts von alledem – oder nur teilweise bzw. unsachgemäß.“ Die Verantwortung für diese Versäumnisse trug – das sagte Frau Dr. Ranta natürlich nicht – der Leiter der KVM. Insgesamt macht der zusammenfassende, persönliche Bericht von Frau Dr. Ranta einen nicht sehr systematischen, teilweise ungeordneten Eindruck.308 Sie trifft auch Aussagen, für die nach den Autopsieprotokollen keine Grundlage bestand. Die Erklärung dafür mag sein, dass der Bericht aus Antworten auf einen Katalog von hypothetischen Fragen zusammengesetzt wurde.309 Ende 2000 veröffentlichten drei Mitglieder der finnischen Gruppe in einer forensischen Fachzeitschrift einen Artikel über die Untersuchung und deren
308 Die Berliner Zeitung äußert sich kritisch über Frau Dr. Ranta, die am 17. März eine „verwirrende Pressekonferenz“ gegeben habe und in „missverständlichen, gewundenen Sätzen“ versucht habe, „sich aus der Affäre zu ziehen“ (Berliner Zeitung vom 24.3.2000). 309 Persönliche Recherche.
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Ergebnisse.310 Zwischen dem „persönlichen“ Bericht von Frau Dr. Ranta und der Veröffentlichung der drei Gruppenmitglieder bestehen sowohl einige bemerkenswerte Unterschiede als auch viele Gemeinsamkeiten. Dr. Rainio u.a. •
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äußern sich nicht darüber, ob es sich bei den Getöteten um Zivilisten oder UCK-Mitglieder handelte. Diese Bewertung lag wohl auch nicht im Mandat der Gruppe;311 stellen fest, dass lediglich in einem Fall das Opfer wahrscheinlich durch einen Nahschuss ums Leben kam.312 Frau Dr. Ranta hatte hierzu keine Aussage gemacht; machen keine Angaben, ob die Toten auch dort gestorben sind, wo sie aufgefunden wurden. Die diesbezügliche Aussage von Frau Dr. Ranta konnte auch nicht durch die Autopsie begründet sein; folgern wie Frau Dr. Ranta, dass die Opfer etwa zur gleichen Zeit gestorben waren. Dies ergibt sich daraus, dass die vom Eintritt des Todes bis zur Autopsie „verstrichene Zeit als gleich bzw. ähnlich“ bezeichnet wird;313 bestätigen, dass keine Verstümmelungen nach dem Tod verübt worden waren; äußern sich nicht dazu, ob es sich um ein Massaker gehandelt hat, sondern stellen fest, dass die Art und Weise des Todes der Opfer nicht bestimmt werden kann, weil die Tatortuntersuchung und der Verbleib der Toten vom Tatort zur Autopsie nicht verifiziert werden konnten.314
Ich habe Dr. Rainio zwei Mal angeschrieben (im Artikel ist eine e-mailAdresse angegeben), um einige der hier angesprochenen Punkte zu klären. Eine Antwort erhielt ich nicht. Elsässer vermutet, Frau Dr. Ranta habe unter Druck des deutschen Außenministeriums gestanden.315 Es trifft zu, dass sowohl auf den Ablauf als auch auf den Inhalt der Präsentation Frau Dr. Rantas in Pristina das finnische
310 J. Rainio/K. Lalu/ A. Penttilä, Independent forensic autopsies in an armed conflict: investigation of the victims from Racak, Kosovo, in: Forensic Science International 2947/2000, S. 1-15. 311 Vgl. ebenda, S. 2. 312 Vgl. ebenda S. 11. 313 Vgl. ebenda. 314 Vgl. ebenda, S. 1. 315 Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen, a.a.O., S. 57.
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Außenministerium und das deutsche Auswärtige Amt Einfluss genommen haben.316 Die Untersuchungsergebnisse sollten ursprünglich dem Bezirksgericht in Pristina am 5. März 1999 übergeben werden. Am 24. Februar kam Frau Dr. Ranta mit dem im finnischen Außenministerium zuständigen Sonderbotschafter Lahelma ins Auswärtige Amt nach Bonn, um das weitere Prozedere zu vereinbaren. Man kam überein, den Bericht der Gerichtsmediziner am 4. März über die deutsche Botschaft in Helsinki an die EU-Präsidentschaft, d.h. an das Auswärtige Amt, zu übergeben. Frau Dr. Ranta sollte in einer kurzen Pressenotiz lediglich feststellen, der Bericht sei abgeschlossen und an die zuständigen Stellen in Pristina und die EU-Präsidentschaft verteilt worden. Außerdem erwartete das Auswärtige Amt bis zum 12. März von der finnischen Seite einen Katalog von möglichen Fragen zu dem Bericht. Die Antworten auf diese Fragen waren als ein Leitfaden für die Informationspolitik gedacht. Sie waren soweit wie möglich abzusichern, sollten aber auch genügend substantiell sein, um erwarteten Falschmeldungen der serbischen Seite über die Ergebnisse des „Vorfalls von Racak“317 entgegenzuwirken. Dem Auswärtigen Amt ging es offenbar darum, einerseits die Serben nicht zu provozieren und es dem finnischen Team zu ermöglichen, seinen ursprünglichen Auftrag fortzuführen. Andererseits war man darauf bedacht, den Serben keine Chance zu bieten, die Untersuchungsergebnisse für propagandistische Zwecke auszuschlachten. „Erkennbar handelt es sich um eine Gratwanderung, die u.U. nach kürzester Zeit schon abgebrochen werden muß, weil der Druck auf Veröffentlichung der Obduktionsergebnisse zu groß werden wird,“ so eine Erläuterung vom 11. März 1999.318 Diese „Gratwanderung“ schien jedenfalls nicht zum politischen Absturz geführt zu haben. Wie die deutsche Botschaft in Belgrad am 18. März berichtete, waren beide Konfliktparteien offenbar nicht zufrieden mit dem von Frau Dr. Ranta vorgetragenen Bericht.319 Die serbischen Staatsmedien stellten ihre Kommentare unter die Schlagzeile „Es gab kein Massaker“. Häufig zitiert wurde die Erklärung des serbischen Justizministers Jankovic, der Bericht der finnischen Pathologen sei widersprüchlich. Gerichtsmediziner der Universität Pristina werden mit der Äußerung zitiert, dass der finnische Be-
316 Persönliche Recherchen. 317 Die Sprachregelung „Vorfall von Racak“ hatte sich inzwischen im Auswärtigen Amt durchgesetzt. 318 Persönliche Recherche. 319 Persönliche Recherche.
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richt eine qualitativ hochwertige Expertenarbeit und eine Fundgrube für weitere Untersuchungen der Vorgänge in Racak sei. Das Echo in der kosovoalbanischen Presse fiel eher zurückhaltend aus. Breiter Raum wird vor allem den Kommentaren des KVM-Leiters Walker nach der offiziellen Pressekonferenz eingeräumt. Die kosovo-albanischen Medien konnten ihre Enttäuschung über den nach ihrer Ansicht unbefriedigenden Vortrag nicht verbergen. Sie hatten wohl erwartet, dass die EU pünktlich zu den Pariser Verhandlungen eine eindeutige Schuldzuweisung an die serbischen Sicherheitskräfte als Druckmittel auf die serbische Delegation und möglicherweise als Begründung für sofortige Luftschläge präsentieren würde – so die Wertung von deutschen Diplomaten in Belgrad.320 Der OSZE-Vorsitzende nahm noch am 17. März zur Vorlage des Berichts von Frau Dr. Ranta öffentlich Stellung.321 Anders als in seiner Erklärung vom 18. Januar machte der norwegische Außenminister nun nicht mehr die jugoslawische Seite für eine „brutale Exekution“ verantwortlich. Er forderte vielmehr zu einer gründlichen kriminalistischen Untersuchung der Grausamkeit auf. Auch die Erklärung der EU hebt sich deutlich von ihrer früheren Bewertung ab. Ohne von einem Massaker zu sprechen und eine Schuldzuweisung vorzunehmen, wird hervorgehoben, dass der Bericht betont, ein umfassendes Bild der Geschehnisse von Racak sei nur auf der Grundlage einer vollen kriminalistischen Untersuchung zu gewinnen.322 In der Sitzung des Ständigen Rats der OSZE am 18. März hob der deutsche Botschafter „die zentrale Aussage des Berichts“ hervor, „derzufolge nur eine umfassende kriminalistische Untersuchung ein Gesamtbild dessen liefern könne, was in Racak wirklich geschehen ist“.323 Hält man diese Aussagen und Bewertungen jenen gegenüber, die am 18. Januar erfolgten, so ist schon bemerkenswert, in welchem Maße der OSZE-Vorsitz und die EU sich von ihren damaligen Behauptungen und Schuldzuweisungen abgesetzt haben. Nur die USA blieben bei ihrer Version und verfälschten damit auch die Aussagen des Ergebnisberichts: „Der Bericht des finnischen forensischen Teams bestätige, was Missionschef Walker
320 Persönliche Recherche. 321 OSCE Chairman-in-Office, OSCE Chairman-in-Office comments on the report by Dr. Helena Ranta, Head of the EU Forensic Team, on the Racak atrocity, Oslo, 17 March 1999 (Archiv Loquai). 322 German Presidency of the European Union, Statement on Kosovo, Permanent Council No. 215 on 18 March 1999 (Archiv Loquai). 323 Deutsche OSZE-Delegation, 18.3.1999.
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und sein Stellvertreter Borchardt schon vor einigen Wochen gesagt hätten: Zweifel seien nicht mehr erlaubt, dass es sich um Grausamkeiten gehandelt habe, für die die jugoslawische Seite die Verantwortung trage.,,324 Bleibt nur zu ergänzen, dass in einem im Dezember 1999 erschienenen umfassenden OSZE-Bericht in einer Darstellung der Vorkommnisse von Racak zusammenfassend festgestellt wird: „Zu der Zeit, da dieser Bericht geschrieben wird, ist es noch zu früh, eine abschließende und definitive Beurteilung über die tatsächlichen Ereignisse in Racak am 15. Januar 1999 abzugeben.“325 Zur Berichterstattung in Medien Freie Medien gelten als konstitutives Element einer Demokratie.326 Ihnen wird nicht selten als „vierte Gewalt“ ein informeller Verfassungsrang zugewiesen. Es gibt jedoch Indizien, dass gerade dann, wenn diese „vierte Gewalt“ eine wichtige Rolle spielen könnte, nämlich im Krieg und im Zusammenhang mit Kriegen, Medien versagen. Im Golfkrieg 1991 „wurden die internationalen Massenmedien teilweise zum unreflektierten Sprachrohr der Militärs... Perfektioniert wurde diese Taktik im Kosovo-Konflikt des Jahres 1999“.327 Küntzel stellt fest, die „deutschen Medien schienen geradezu instinktiv zu wissen, wo ihr Platz ist, wenn es gegen die Serben geht“.328 Meyn, Bundesvorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes, vertritt kurz nach Beginn der NATO-Luftangriffe die Auffassung: „Wenn man gerade dieser Tage fernsieht, Zeitungen liest, kann man meinen, die Medien hierzulande brauchen nicht mehr gleichgeschaltet werden: Sie sind es schon.“329 Das „Massaker von Racak“ bietet die Möglichkeit, eine begrenzte Medienanalyse, sozusagen an einem Modell mit eingegrenzten Fragestellungen, durchzuführen. Es gibt ein Ereignis und dessen Folgen, die Berichte einer
324 Ebenda. 325 OSCE, Kosovo/Kosova, a.a.O., S. 355. 326 Vgl. Andreas Beierwaltes, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2002. 327 Peter Frey/Michael Renz, Die Rolle der Medien in internationalen Konflikten, in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, Hamburg/ Berlin/Bonn 2001, S. 909. 328 Matthias Küntzel, Der Weg in den Krieg, Berlin 2000, S. 74. 329 Junge Welt vom 30.3.1999.
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internationalen Organisation darüber, Berichte und Kommentare in den Medien und ziemlich verlässliche Ergebnisse einer Expertengruppe über Einzelaspekte dieses Ereignisses. Das heißt, man kann untersuchen, wie realitätsnah, wie wahrheitsgetreu über dieses spezielle Ereignis Medien berichteten und in welchem Maße sie Ereignisse medial ausgestalteten und ausformten. Einzelheiten der Untersuchung sind aus der ausführlicheren Darstellung in einer Anlage zu ersehen.330 Zunächst wird deutlich, dass die Darstellung der OSZE über Details der Ereignisse wohl eine entscheidende Prägewirkung hatte. Der Leiter der OSZE-Mission verhielt sich getreu der Parole, die General Clark, der NATO-Oberbefehlshaber, während des Krieges gegen Jugoslawien an seine Pressemitarbeiter ausgegeben hatte: „Tell NATO-story first and fast“.331 Walker setzte mit seiner raschen Presseerklärung die Akzente der Berichterstattung für die Presse. Diese Erklärung enthielt alle wichtigen Vorgaben für das Bild, das entstehen musste, um die Medien aufschalten zu lassen und die Öffentlichkeit zu emotionalisieren: • es handelt sich um ein Massaker, ein Begriff, der nicht nur im KosovoKonflikt, sondern auch schon im Bosnienkrieg einen hohen politischen Marktwert hatte, • Opfer waren unschuldige Zivilisten, Frauen und ein Kind – Personen, die im Krieg als besonders schutzwürdig gelten, • Täter waren eindeutig die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte – bei dieser Tätergruppe konnten Anschuldigung und Beweis zusammenfallen, • die Opfer waren durch Genickschüsse hingerichtet und danach auch noch verstümmelt worden – dies zeigte die Entmenschlichung der Täter. Die fünf untersuchten deutschsprachigen Tageszeitungen nahmen nahezu geschlossen und vollständig diese Inhalte auf, transportierten sie aber nicht nur, sondern garnierten sie mit eigenen Zutaten aus zum Teil ungewissen Quellen. Aus den sehr detaillierten Schilderungen konnte man oft den Eindruck gewinnen, als ob die Korrespondenten selbst vor Ort waren, ja das Ereignis miterlebt hatten. Berichtet wurde allerdings zumeist aus Budapest, Wien, Zürich, Brüssel, Belgrad und Sarajewo.
330 Vgl. Anlage: Analyse der Berichterstattung zum „Massaker von Racak“ fünf deutschsprachiger Tageszeitungen in der Zeit vom 18. bis 21. Januar 1999. 331 General Walter Jertz bei einer Diskussion bei den 33. Mainzer Tagen der FernsehKritik. in: Christian Hall (Hrsg.l. a.a.O., S. 319.
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Auch durch das Arrangement hatte die OSZE für größtmögliche Wirkung gesorgt. Die erste offizielle Äußerung kam vom Leiter der OSZE-Mission. Im Ständigen Rat der OSZE in Wien und in der anschließenden Pressekonferenz am 18. Januar trat dann der deutsche Stellvertreter Walkers für den Bereich Menschenrechte auf. Für ihn kamen nur die Serben als Täter in Frage. Er erklärte, die Opfer seien durch Nahschüsse hingerichtet und verstümmelt worden. Dass gerade diese Behauptungen durch die Autopsieergebnisse widerlegt wurden, spielte dann später keine Rolle mehr. Zweifel, eine gewisse kritische Distanz zu den Vorgaben der OSZE, kamen zunächst nicht auf. Dies blieb einem Artikel in „Le Monde“ am 21. Januar 1999 vorbehalten. Im Titel wird gefragt: Wurden die Toten von Racak wirklich kaltblütig ermordet? Ausgehend von der Frage „Ist das Massaker von Racak nicht zu perfekt?“, macht Chatelot kritische Anmerkungen und weist auf Widersprüche in Zeugenaussagen und offiziellen Darstellungen hin. In Deutschland griff am 22. Januar „Die Welt“ kritische Fragen zu Racak in den französischen Tageszeitungen „Le Monde“ und „Le Figaro“ sowie im britischen „Guardian“ auf und ging der Frage „Massaker oder,nur' Opfer eines Tages?“ nach, ohne sie beantworten zu können.332 Wirklich recherchiert hat die erste deutsche Zeitung Anfang März 1999 zum Massaker von Racak.333 Obwohl seit dem 17. März 1999 wesentliche Punkte des Untersuchungsergebnisses der finnischen Forensiker öffentlich bekannt waren, wurden dennoch Falschmeldungen über Racak in Umlauf gesetzt. Zwei Beispiele hierzu: • „Die Ergebnisse [der finnischen Forensiker – H.L.] sind klar: Eine geplante Mordtat an 45 Menschen allesamt von der Seite oder von vorne erschossen, manche enthauptet.“334 • „In Recak... wurden am 15. Januar 45 Kosovo-Albaner erschossen, unter ihnen vier Frauen und ein Kind... Die meisten Toten wiesen Schusswunden im Kopf und Genick auf, sie mussten aus nächster Nähe erschossen, geradezu hingerichtet worden sein. Viele Opfer waren außerdem verstümmelt: Schädel eingeschlagen, Gesichter zerschossen, Augen ausgestochen. Ein Mann war enthauptet.“335
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Die Welt vom 22.1.99. Hierzu ausführlicher Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen, a.a.O. Gunter Hofmann, a.a.O. S. 17. Matthias Rüb, a.a.O., S. 120 f.
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Diese eindeutig wahrheitswidrigen Aussagen wurden nicht unter dem Zeitdruck der aktuellen Berichterstattung verbreitet. Es erhebt sich die hier nicht zu beantwortende Frage, ob sie Ergebnis einer schlampigen Recherche oder bewusste Desinformation sind. Folgten die untersuchten deutschsprachigen Zeitungen in ihrer Berichterstattung dem Kern der Vorgaben aus der OSZE, so waren die Kommentare Ausdruck eigenständiger Bewertungen. Hier greife ich nur einen Aspekt heraus: die Beurteilung der OSZE und der Erfolgsaussichten der KosovoMission. Die SZ titelt am 18. Januar mit „Die Leute, die die Toten zählen“ und Peter Münch meint, die OSZE habe sich dem gefährlichen Einsatz im Kosovo nicht gewachsen gezeigt. Er spricht generell von der OSZE als einer „konturlosen Organisation“, der durch den Einsatz im Kosovo „endlich ein klares Profil“ gegeben werden sollte. Die OSZE ist für Münch ein „aufgeblasener Popanz“. Es spreche immer mehr dafür, „dass sie sich dieser Mission nicht gewachsen zeigt – organisatorisch, strukturell und machtpolitisch“.336 Natürlich ist auch die FAZ der Auffassung, die OSZE-Mission müsse als gescheitert angesehen werden.337 Am weitesten geht – eigentlich nicht überraschend – der FAZ-Korrespondent Matthias Rüb. Er meint, die OSZE müsse „als Handlanger der Serben erscheinen“ und konstatiert „nach dem Massaker von Recak (serbisch Racak) steht die OSZE hilflos und mit blutbefleckten Händen da“.338 Nach solchen Entgleisungen nehmen sich andere Wertungen noch als recht maßvoll aus: •
Der Standard: „Die OSZE-Vermittler stehen jetzt vor einem Trümmerhaufen.“(l8.1.1999) „Die bisherige Politik des Westens im KosovoKonflikt ist definitiv gescheitert.“ (20.1.1999) • NZZ: „Selbst die unzweifelhaften Erfolge der OSZE mit vielen ihrer Missionen reichen nicht als Qualifikation. Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Organisation nicht zu militärischen Aufgaben taugt.“ (20.1.1999) Aus dem Fazit, die OSZE sei gescheitert, wird der Ruf nach der NATO laut (Die Presse vom 18.1.1999). Das Bündnis werde von den Serben als „Pa-
336 Peter Münch, Die Leute, die die Toten zahlen, Dem gefährlichen Einsatz im Kosovo zeigt sich die OSZE bisher nicht gewachsen, in: SZ vom 18.1.1999. 337 Kommentar, in: FAZ vom 18.1.1999. 338 Matthias Rüb, Nach dem Massaker von Recak steht die OSZE-Mission im Kosovo hilflos da, in: FAZ vom 18 1.1999.
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piertiger“ verhöhnt (FAZ vom 20.1.1999), sein internationales Ansehen nehme allmählich Schaden (FAZ vom 21.1.1999). Die NZZ spricht klar aus, was andere auch meinen: „Eine Lösung könnte nur ein Krieg gegen Milosevic bringen... Gerecht wäre ein Krieg gegen Milosevics menschenverachtendes Regime, weil die Verbrechen gegen Menschenrechte nur zu zähmen sind, wenn ihr Urheber von der Macht verjagt ist.“ (20.1.1999) Naturgemäß – möchte man sagen – widerlegten die gerichtsmedizinischen Untersuchungen auch Behauptungen jugoslawischer Regierungsstellen und der Staatsmedien. Der größte Teil der albanischen Opfer waren Zivilisten und nicht – wie von jugoslawischer Seite behauptet – bewaffnete UCK-Mitglieder, die im Kampf getötet wurden. Doch sind nicht an Medien in demokratischen Staaten hinsichtlich Objektivität der Berichterstattung und Ausgewogenheit von Kommentaren andere Ansprüche zu stellen als an Staatsmedien eines autoritären Regimes? Massaker und Manipulation? Am 25. Januar 1999 informierten die Nachrichtenexperten des ANBw unter der Überschrift „OSZE-Ermittler bestätigen Massaker und Manipulationen“: „In Racak sollen Experten der OSZE sowohl Beweise für ein Massaker als auch Manipulationen am Tatort gefunden haben. Es soll festgestellt worden sein, dass am Schauplatz Veränderungen vorgenommen wurden... Danach soll nur ein Teil der 45 Opfer an ihrem Fundort umgebracht worden sein. Den Angaben zufolge sollen einige der Menschen aus nächster Nähe erschossen worden sein, andere auf der Flucht. Einige der getöteten KosovoAlbaner sollen nicht bei einem Massaker, sondern bei Kämpfen mit den serbischen Sicherheitskräften ums Leben gekommen sein.“339 Auf dem direkten Draht vom KVM-Hauptquartier zum ANBw war diese Einschätzung übermittelt worden, die im Übrigen auch der Bundesnachrichtendienst teilte.340 Zwei Jahre später, zur Zeit des zweiten Jahrestages des Kriegsbeginns gegen Jugoslawien greift „Der Spiegel“ das Thema „Racak“ erneut auf: „Zwei Jahre nach dem Luftkrieg der Nato scheint die Kernfrage von Racak noch ungelöst. Gab es dort ein Massaker der Serben? Oder hat die kosova-
339 Persönliche Recherche. 340 Persönliche Recherche.
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rische Guerillaarmee UCK das Blutbad inszeniert oder zumindest instrumentalisiert, um den Westen zum Handeln zu zwingen, wie Gegner des Nato-Einsatzes immer wieder behaupten?... Was geschah wirklich in Racak?“341 Wenn auch diese Fragen in der Spiegel-Recherche, die sich auf geheime Akten in Den Haag beruft, nicht definitiv beantwortet werden, so stützt sie doch die These „Massaker und Manipulation“ aus dem Bereich des militärischen Nachrichtenwesens. Danach waren der größte Teil der Toten albanische Zivilisten, erschossen von den jugoslawischen Sicherheitskräften. Allerdings fielen in und um Racak auch acht UCK-Kämpfer, wie übrigens auch von der UCK gemeldet worden war. Die in einem Graben vorgefundenen ca. 20 toten Männer waren nach dem Spiegel-Bericht nicht dort exekutiert worden, sondern „Erst später wurden die Leichen wohl in den nahen Graben gelegt.“342 Insbesondere das Bild mit den teilweise übereinander liegenden Leichen „in dem Graben“ wurde immer wieder in den Medien präsentiert und war Beweis für eine Massenexekution. Das „wichtige Detail“, dass auch „acht Kameraden“ der UCK in Racak gefallen waren, wurde oft „übersehen oder ignoriert“.343 „Hinter vorgehaltener Hand geben die Uno-Ermittler zu, etwa die Hälfte der Opfer seien UCK-Helfer oder Sympathisanten der sogenannten Befreiungsarmee gewesen.“344 Was immer auch die Untersuchungen beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ergeben werden, selbst vier Jahre nach „Racak“ ist die „Kernfrage“, was wirklich dort geschah, immer noch nicht definitiv beantwortet. Doch nicht zu bezweifeln ist, dass die vom Leiter der OSZE-Mission verbreitete, in Teilen wahrheitswidrige Version eines Massakers die Eskalation des Konflikts hin zum Krieg beschleunigte. Walker hatte weder die notwendigen Informationen noch die Fachkompetenz, ein so schnelles Urteil zu treffen, wie er es tat.345 Es bestand außerdem – vom Interesse der Aufklärung her gesehen – objektiv überhaupt kein Zeitdruck, ein so rasches Urteil zu fallen. Dieser amerikanische Botschafter hielt sich weder an rechtsstaatliche Grundsätze noch an die selbstverständlichen Regeln der interna-
341 342 343 344 345
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Renate Flottau u.a., Täuschen und Vertuschen, in: Der Spiegel 12/2001, S. 241. Ebenda, S. 243. Ebenda, S. 241. Ebenda, S. 244. „Der ehemalige UCK-Führer Hashim Thaci gibt heute freimütig zu:,Uns fiel ein Stein vom Herzen, als Walker kam und ohne zu zögern sagte: Das ist ein Massaker an Zivilisten '“ (Ebenda).
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tionalen Diplomatie. Doch durch seine Ad-hoc-Erklärung sicherte sich Walker das Interpretationsmonopol und die Gefolgschaft innerhalb der OSZE. Ihm schien es darum zu gehen, rasch eine Sichtweise über „Racak“ zu etablieren, die angesichts der gespannten Lage in Kosovo geradezu zwangsläufig eine Eskalation des Konflikts in Gang setzen musste. Die hier untersuchten Tageszeitungen transportierten nicht nur Walkers „standrechtliches“ Urteil über Racak, sondern ergänzten es durch eigene Ausformungen, die sich als eindeutig wahrheitswidrig herausstellten, die aber ein hohes emotionales Potential hatten und dadurch bei Politikern und in der Öffentlichkeit die erwünschte Wirkung erreichten.346 Nur ein militärisches Eingreifen schien die kosovo-albanische Zivilbevölkerung vor weiteren serbischen Massakern bewahren und eine „humanitäre Katastrophe“ verhindern zu können. Es gibt keine andere Alternative, dies war die zentrale Botschaft. Der Kurs des internationalen Krisenmanagements nach „Racak“ Allein die enge Folge internationaler Aktivitäten zeigt, welche Bedeutung das „Massaker von Racak“ für den weiteren Konfliktverlauf hatte. Alle Institutionen, ob VN-Sicherheitsrat, Europäische Union oder auch einzelne Regierungen übernahmen zunächst ohne weitere Prüfung die Interpretation von „Racak“, wie sie vom Leiter der OSZE-Mission vorgegeben worden war. Der VN-Generalsekretär gab am 16. Januar eine sehr kurze Stellungnahme ab. Er sprach von einem Massaker an etwa vierzig Zivilisten, ohne die Schuld dafür zuzuweisen.347 Am 19. Januar wurde eine längere Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrats veröffentlicht.348 Darin wird das Massaker an Kosovo- Albanern in Racak scharf verurteilt. Mit großer Besorgnis wird festgestellt, dass es sich nach Angaben der KVM bei den Opfern um Zivilisten handelte. Der Sicherheitsrat nahm schließlich eine Feststellung des Leiters der KVM zur Kenntnis, dass die Verantwortung für das Massaker die jugoslawischen Sicherheitskräfte trügen. Diese Erklärung war nach
346 Präsident Clinton sprach davon, dass „unschuldige Männer, Frauen und Kinder“ aus ihren Häusern vertrieben und gezwungen wurden, „im Dreck zu knien, und niedergemäht wurden“ (Berliner Zeitung vom 24.3.2000). 347 Marc Weller, a.a.O., S. 320. 348 Ebenda, S. 322.
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ganztägigen vorbereitenden Diskussionen und sechsstündigen Beratungen im Sicherheitsrat verabschiedet worden. „Russland befand sich in den Beratungen in der Defensive und machte Zugeständnisse, die bei früheren Diskussionen so wohl nicht möglich gewesen wären.“349 Bei den russischen Zugeständnissen ging es vor allem um die Zuständigkeiten des Haager Tribunals. Russland erhielt dafür als Ausgleich eine Kritik an den Aktivitäten der UCK. Der Text zeigte die große Bedeutung der „Vorgaben“ des Leiters der KVM für diese Erklärung des VN-Sicherheitsrats. Am 28. Januar unternahm der VN-Generalsekretär den „ungewöhnlichen Schritt, vor dem NATO-Rat im NATO-Hauptquartier eine Erklärung abzugeben und die Bemühungen der Allianz, der Kontaktgruppe und der VN miteinander zu verbinden“.350 Doch „ungewöhnlich“ war nicht der Auftritt an sich, sondern was Kofi Annan sagte.351 Er verband die Lage in Kosovo mit der „Erfahrung im Bosnien-Krieg“ hinsichtlich Intervention und NichtIntervention. Racak bezeichnete er als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Mit seinem Hinweis auf die „Notwendigkeit, Gewalt anzuwenden, wenn alle anderen Mittel erfolglos waren“, und seiner Mahnung, dass alle, „insbesondere die mit der Fähigkeit zu handeln“, sich „die Lehren von Bosnien vergegenwärtigen“ sollten, forderte der VN-Generalsekretär ziemlich unverblümt die NATO auf, militärische Gewalt gegen Jugoslawien einzusetzen. Dies war in der Tat ein außergewöhnlicher Schritt des höchsten Repräsentanten einer Organisation, die von der NATO zunehmend an den Rand gedrängt worden war. Die NATO konnte sich damit bei einer erneuten Kriegsdrohung zwar nicht auf einen formellen Beschluss des Sicherheitsrats berufen, doch auf eine Rechtfertigung durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen. Dieser legte allerdings der NATO eine Politik nahe, die mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen nicht vereinbar war. Der NATO-Generalsekretär nahm diesen Ball auch umgehend auf und verkündete in einer Pressekonferenz, man habe „anlässlich des heutigen Besuchs des VN-Generalsekretärs gesehen, dass die VN die Entschlossenheit und Ziele der NATO“ teile. Mit einer die Ergebnisse des Treffens der Kontaktgruppe vom 29. Januar unterstützenden Erklärung352 waren die Aktivitäten der Vereinten Nationen im eskalierenden Kosovo-Konflikt vorläufig beendet. Die VN hatten aus Sicht der NATO-Staaten mit der faktischen
349 350 351 352
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Übernahme der Behauptungen des amerikanischen KVM-Leiters zu Racak, der offenen Legitimierung der erneuten Kriegsdrohung der NATO durch den VN-Generalsekretär und der Indossierung der Politik der Kontaktgruppe ihre Aufgabe im Dienste der USA und der Politik der NATO-Staaten erfüllt. Sie konnten zunächst von der politischen Bühne abtreten. Dort spielte ohnehin schon unmittelbar nach Racak die NATO die Hauptrolle. Die enge Sitzungsfolge des NATO-Rats in Brüssel, mit mehreren Sondersitzungen, machte deutlich, wo jetzt der Schwerpunkt des weiteren Krisenmanagements lag. Einige wichtige Schritte werden im folgenden skizziert.353 Bereits am 17. Januar, an einem Sonntag,354 kam der NATO-Rat zu einer siebenstündigen Sondersitzung zusammen. Vor dem Hintergrund des „Massakers von Racak“ war den Botschaftern klar, dass nun die NATO sich wieder intensiv in den Kosovo-Konflikt einschalten würde. Der NATO-Oberbefehlshaber Europa, der amerikanische General Clark, machte allein Jugoslawien für die Auslösung der Spirale der Gewalt verantwortlich. Milosevic teste die Entschlossenheit der Allianz. Ein militärisches Eingreifen der NATO sei „mittelfristig fast unausweichlich“. Der NATO-Generalsekretär forderte – offensichtlich auf eine Initiative der USA hin – die Mitgliedstaaten auf, den Einsatz von Bodentruppen zu prüfen, da eine notwendige politische Lösung des Kosovo-Problems nur durch glaubhaften militärischen Druck zu erreichen sei. Zwar wurde von mehreren Ländern eine umfassende Strategiediskussion gefordert, doch schließlich setzte sich die Überzeugung durch, man müsse vor allem schnell reagieren. Der NATO-Rat erörterte mehrere Maßnahmen zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft der NATO-Streitkräfte. Nach längerer Diskussion wurde einem Vorschlag des Generalsekretärs zugestimmt, die Generale Naumann (Vorsitzender des NATO-Militärausschusses) und Clark (NATO-Oberbefehlshaber Europa) nach Belgrad zu entsenden. Sie sollten von Milosevic die Einhaltung der „Vereinbarung“ vom 25. Oktober 1998 und der einschlägigen Resolutionen des VN-Sicherheitsrats fordern. Ursprünglich war auch überlegt worden, den NATO-Generalsekretär nach Belgrad zu schicken. Doch durch die beiden Generale sollte Milosevic klar gemacht werden, dass es nun nicht mehr um politische Verhandlungen gehe, sondern um konkrete militärische Drohungen, deren
353 Kurzinformationen sind entnommen aus den „Unterrichtungen des Parlamentes“. Sie wurden ergänzt durch persönliche Recherchen. 354 Eine Sondersitzung des NATO-Rats an einem Sonntag ist ein ganz außergewöhnliches Ereignis.
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Glaubwürdigkeit die höchsten militärischen Repräsentanten demonstrieren sollten. Einvernehmen bestand in dieser Ratssitzung auch, dass nun rasch politische und militärische Maßnahmen notwendig werden könnten. Am 19. Januar konferierten die beiden NATO-Generale in Belgrad sieben Stunden lang mit Milosevic, zeitweise nahmen andere Mitglieder der Belgrader Führung an den Gesprächen teil. Die Gespräche waren hart, teilweise konfrontativ. Das Ergebnis entsprach nicht den Erwartungen der Generale. In zwei Punkten machte der jugoslawische Präsident geringe Zugeständnisse. Er war bereit, Frau Arbour, die Chefanklägerin des Haager Tribunals, für zwei Tage in Begleitung des Justizministers nach Kosovo zu Gesprächen reisen zu lassen. Frau Arbour lehnte diese Bedingungen jedoch ab.355 Außerdem gestand Milosevic zu, die Ausreisefrist für den am Tage vorher zur unerwünschten Person erklärten Leiter der KVM zu verlängern, bis die Gespräche mit dem OSZE-Vorsitzenden abgeschlossen seien. Milosevic räumte ein, dass die Stärke und Stationierung der Sicherheitskräfte nicht den Vereinbarungen vom 25. Oktober entsprachen. Ausschließlicher Grund hierfür sei jedoch, dass sich die UCK nicht an den Waffenstillstand halte und jeden Rückzug der Sicherheitskräfte ausnutze, um ihre Positionen auszubauen. Am 20. Januar berichteten die beiden NATO-Generale im NATO-Rat. Ihr Fazit war, sie hätten keinen Fortschritt in der Sache erzielt. Milosevics Verhalten sei von einer „Bunkermentalität“ geprägt. Er habe sich völlig unflexibel und kompromisslos gezeigt und sei offensichtlich sicher, dass die NATO nur drohen, jedoch nicht militärisch eingreifen werde. Er folge einer „Logik der Konfrontation“, er scheine Krisen zum Machterhalt zu brauchen. Dieser Vortrag der Generale verfehlte nicht seine Wirkung bei den Botschaftern. Die USA brachten in die folgende Diskussion neue Überlegungen für Forderungen der NATO an Belgrad hinsichtlich erlaubter Truppenstärke und -stationierung ein. Sie gingen über die Vereinbarung vom 25. Oktober hinaus und sollten Inhalt eines Ultimatums an Belgrad werden, das die USA für die nächsten Tage vorsahen. Die USA zeigten sich überzeugt, dass Milosevic vor einer glaubwürdigen Androhung von Luftschlägen zurückschrecken werde. Die Allianz müsse deshalb unverzüglich eine politische und militärische Strategie zur Unterstützung einer politischen Lösung erarbeiten.
355 Die Belgrader Führung war nach wie vor nicht bereit, die Zuständigkeit des Haager Tribunals anzuerkennen, mit der Begründung, in Kosovo gebe es keinen Krieg.
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Bei den Handlungsmöglichkeiten müsse auch der Einsatz von Bodentruppen einbezogen werden. Außerdem machten die USA deutlich, dass sie die KVM, deren Glaubwürdigkeit ohnehin schon stark angeschlagen sei, „nicht um jeden Preis“ halten wollten. Die Diskussion der amerikanischen Vorschläge zeigte, dass alle anderen NATO-Länder noch erhebliche Zweifel hatten, ob schon alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft seien und ein Ultimatum gestellt werden sollte. „Aktionismus“ und „Automatismus“ sowie „voreilige Entscheidungen“ müssten vermieden werden, so die Einwände. Man müsse sich bemühen, das Potential aller internationalen Organisationen auszuschöpfen. Einige Länder, insbesondere Kanada, Italien, Großbritannien, Griechenland und Deutschland machten zudem geltend, es müsse auch etwas gegen den Waffenschmuggel aus Albanien nach Kosovo getan werden. Insgesamt entstand der Eindruck, das Drängen der USA diene dazu, „über eine Intensivierung der Konsultationen in der NATO... Entscheidungsdruck für weitere militärische Maßnahmen aufzubauen.“ Zusätzliche „weitreichende Vorstöße der USA“ waren daher zu erwarten. Die USA konnten sich dabei auf den Generalsekretär verlassen, der tägliche Sitzungen des NATORats ankündigte und offenbar – wie schon im Herbst 1998 – dem Drängen der USA zusätzlichen Druck verleihen wollte. In der Sondersitzung des NATO-Rats am 22. Januar präsentierten die USA einen Vorschlag für ein phasenweises Vorgehen bis hin zu Luftangriffen gegen Jugoslawien. Sie hatten ihre ursprünglichen Vorschläge aufgrund der negativen Reaktionen bei informellen Konsultationen etwas verändert. Die meisten Mitgliedstaaten schienen nach diesen geringfügigen amerikanischen Konzessionen jetzt keine grundsätzlichen Einwände mehr gegen das von den USA vorgeschlagene Vorgehen zu haben. Lediglich Frankreich, das zwar die Anwendung von Gewalt letztendlich nicht ausschloss, opponierte vehement gegen die amerikanischen Vorstellungen und „wandte sich strikt gegen die Erklärung eines Ultimatums“. Die diplomatischen Möglichkeiten seien noch nicht ausgeschöpft. Außerdem stellte Frankreich die Legitimation der NATO für die Definition und Übermittlung weiterer Forderungen an Jugoslawien in Frage. Die Taktik des „erst Bomben, dann Denken“ sei schon im Irak gescheitert. Aus den US-Forderungen im Hinblick auf die KVM und die OSZE ließe sich der Eindruck der Beliebigkeit gewinnen. Frankreich bezweifelte auch, ob das von den USA vorgeschlagene Vorgehen durch die derzeitige Mandatslage gedeckt sei. Sechs Staaten forderten in dieser Sitzung erneut weitergehende Maßnahmen zur Eindämmung des Waffenschmuggels aus Albanien. 321
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Die USA brachten in die Ratssitzung am 27. Januar nach vorhergegangenen informellen Gesprächen neue Vorschläge für das NATO-Vorgehen ein. Sie fanden nun bei allen Mitgliedstaaten grundsätzliche Unterstützung. Kern der Vorgehensplanung war eine Aktivierung des Einsatzbefehls für einen Luftkrieg gegen Jugoslawien zum 30. Januar. Die Kriegsdrohung sollte die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch bringen und sie zu einem politischen Abkommen zwingen. Am 28. Januar gab NATO-Generalsekretär Solana eine Presseerklärung ab. Darin stellte er Forderungen an beide Konfliktparteien, unterstützte die Bemühungen der Kontaktgruppe für eine politische Lösung des Konflikts und schloss keine Möglichkeit aus, „um sicherzustellen, dass die Forderungen der internationalen Gemeinschaft von beiden Seiten beachtet werden“.356 Bringt man diese gestanzte Diplomatensprache auf ihren tatsächlichen Kern, dann hieß das, dass die NATO bereit war, Krieg zu führen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Dies wird auch in den Antworten Solanas auf Fragen von Journalisten deutlich. Auf die Frage nach dem Einsatz von Bodentruppen antwortet er nichtssagend-vielsagend, keine Möglichkeit sei ausgeschlossen. Am 29. Januar erörterte der NATO-Rat im Detail weitere Schritte des Vorgehens. Die „Entscheidung zur Auslösung von Luftoperationen“ sollte vom NATO-Rat auf den Generalsekretär übertragen werden. Hierauf hatten die Amerikaner gedrängt. Der ihnen gefügige Solana schien für sie die Gewähr zu sein, dass der Einsatzbefehl nach ihrem Bedarf ohne lange Beratungen erteilt würde. Frankreich konnte jedoch durchsetzen, dass vor der Erteilung dieses Befehls alle Mitgliedstaaten konsultiert werden mussten. Dadurch sollte eine „Automatik“ verhindert werden. Praktische Bedeutung hatte diese Maßgabe nicht. Am 23. März 1999, als der Befehl an den Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte Europa erteilt wurde, dauerten die „Konsultationen“ im NATO-Rat nicht ganz eine Stunde. Der Vorsitzende des Militärausschusses, General Naumann, trug in dieser Sitzung zum Ablauf und den Zielen der Luftangriffe gegen Jugoslawien vor und informierte auch über die Planungen des Einsatzes von Bodentruppen. Naumann nahm auch Stellung zu Möglichkeiten, im Rahmen von Luftoperationen gegen die DCK vorzugehen. Der General behauptete, die UCK könne nicht effizient bekämpft werden, weil die „Gefahr von Kollateralschäden“ zu groß sei. Einige Mitgliedstaaten zeigten sich unzufrieden da-
356 Marc Weller, a.a.O., S. 414.
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rüber, dass kein gleichgewichtiger militärischer Druck auf Belgrad und die UCK ausgeübt werden könne. Doch bei nüchterner, objektiver Betrachtung war dies keine Frage des Könnens sondern des Wollens. Der deutsche General Naumann sagte den Botschaftern offenbar nicht, dass bei den NATOPlanungen zu keiner Zeit daran gedacht war, UCK-Ziele in die Ziellisten aufzunehmen. So glaubten die Diplomaten an das Argument „Kollateralschäden“, das bei der Auswahl serbischer Ziele dann auch eine weniger ausschließende Rolle spielen sollte. Schließlich beauftragte der NATO-Rat die Militärstäbe, die im Sommer 1998 entwickelten Planungen für den Einsatz von NATO-Bodentruppen in Kosovo zu überprüfen. Dieser Prüfauftrag ging auf eine amerikanische Initiative zurück. Die USA waren überall dort der Motor für Eskalationsschritte, wo es um militärische Interventionen ging. Als Transmissionsriemen amerikanischer Politik in den NATO-Rat hinein fungierte der NATO-Generalsekretär. Die Ratssitzung am 30. Januar, die mehr als zehn Stunden dauerte, brachte noch einmal eine „dramatische Zuspitzung“ in der Auseinandersetzung zwischen den USA und Frankreich. Dem französischen Bestreben, der Kontaktgruppe im Konsultations- und Entscheidungsprozess des Generalsekretärs ein größeres Gewicht einzuräumen, verschlossen sich unter amerikanischer Führung die anderen Mitgliedstaaten. Sie befürchteten, dass damit Russland, der einzige Nicht-NATO-Staat in der Kontaktgruppe, einen unzulässigen Einfluss auf die Entscheidungen der Allianz erhalten würde. Schließlich wurde der NATO-Generalsekretär, nachdem die Außenminister persönlich eingeschaltet worden waren, in einer Kompromissformel ermächtigt, Luftangriffe unter folgenden Maßgaben auszulösen: enge Konsultationen mit den NATO-Mitgliedstaaten, Bewertung der Kontaktgruppe im Hinblick auf die Erfüllung der Forderungen der internationalen Gemeinschaft.357 In Briefen an den jugoslawischen Präsidenten Milosevic und den politischen Führer der Kosovo-Albaner Dr. Rugova übermittelte der NATO-Generalsekretär eine Erklärung des NATO-Rats358 als letzte Warnung („final warning“). Dabei handelte es sich um nichts anderes als ein etwas verklausuliertes Ultimatum. Mit einer Kriegsdrohung, die nur gegen Jugoslawien gerichtet war, sollten die beiden Konfliktparteien an den Verhandlungstisch gezwungen werden.
357 Marc Weller, a.a.O., S. 415. 358 Ebenda, S. 416.
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Etwa vierzehn Tage nach Racak war die NATO nun wieder in der gleichen Situation wie Mitte Oktober 1998. Der Konflikt war erneut so weit eskaliert, dass ein Luftkrieg gegen Jugoslawien innerhalb weniger Stunden beginnen konnte. Ganz entscheidend zu dieser Eskalation hatte der Leiter der OSZEMission mit seinem vorschnellen Urteil über das „Massaker von Racak“ beigetragen. Die OSZE, die UNO, die EU, nationale Regierungen und die NATO hatten diese Beurteilung bereitwillig übernommen, Medien hatten sie nicht nur transportiert, sondern desinformativ ergänzt. Ein Teil der Informationen, die Walker gab, erwiesen sich schon vor Beginn des Krieges als objektiv falsch, ein Teil der Informationen ist bis heute nicht verifiziert. Doch dies spielte eigentlich kaum noch eine Rolle. Walker hatte die Schnur gezündet, die nun abbrannte. In den Entscheidungs- und Konsultationsprozessen der NATO haben sich schließlich die USA durchgesetzt. Zwar mussten sie Abstriche von ihren ursprünglichen Forderungen hinnehmen, doch das war zu erwarten und wohl bei der Formulierung der Ziele schon einkalkuliert.359 Als einziges Land versuchte Frankreich, ein Gegengewicht zur amerikanischen Dominanz zu bilden. Doch von den anderen EU-Partnern und der deutschen EU-Präsidentschaft im Stich gelassen, mussten sich die Franzosen mit einem Formelkompromiss zufrieden geben.360 Die Chance, dass durch die in Frankreich stattfindenden politischen Verhandlungen der Konfliktparteien für die Grande Nation politisches Prestige herausspringen könnte, hat wohl auch die französische Kompromissbereitschaft auf höchster Ebene gefördert. In einer zusammenfassenden Bewertung des bisherigen Verlaufs der Konsultations- und Entscheidungsprozesse und der Perspektiven im Kosovo-Konflikt stellte die deutsche NATO-Vertretung u.a. folgende Punkte heraus:361
359 Während meiner Tätigkeit bei der NATO und der OSZE konnte ich häufig die amerikanische Verhandlungstaktik erkennen, zunächst Maximalforderungen zu stellen und dann im Wege der Konsultationen sich Zugeständnisse abringen zu lassen. Dies ließ den amerikanischen Verhandlungspartnern das Gefühl, doch etwas erreicht zu haben. In Wirklichkeit gaben die USA nur das auf, was sie ohnehin als Verhandlungsmasse in ihre Zieldefinition aufgenommen hatten. 360 Es entspricht auch französischer Verhandlungstaktik, die von einem sehr stark statusorientiertem Vorgehen geprägt ist, auf der Arbeitsebene eigene Positionen hartnäckig zu verteidigen und schließlich die wichtigen Schritte zum Kompromiss der höchsten Ebene vorzubehalten. 361 Persönliche Recherche.
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Uneingeschränkt positiv zu bewerten sei, dass es in der relativ kurzen Zeit seit dem Massaker von Racak gelungen sei, ein gemeinsames Vorgehen zur Bewältigung des Kosovo-Problems zu entwickeln, bei dem NATO, Kontaktgruppe, OSZE und VN zusammenwirkten. Dieses Zusammenspiel der maßgeblichen internationalen Organisationen habe das Prinzip der „mutually reinforcing institutions“ (gegenseitig sich verstärkenden Institutionen) eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die Glaubwürdigkeit des Bündnisses als entscheidender Akteur für die Einhegung der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien stehe trotz der Einigung vom 30. Januar in den nächsten Wochen besonders auf dem Prüfstand. Es spreche manches dafür, dass die USA der Kontaktgruppe im Vergleich zur Rolle der NATO nur nachgeordneten Rang zumessen. Auch das Verhältnis zu Russland scheine für die USA eher sekundär zu sein. Der Sicherheitsrat der VN werde wohl nur insoweit eingeschaltet, als zu erwarten ist, dass er nicht stört. Insgesamt hätten die USA das Tempo bestimmt, wohl auch, um – abgesehen von innenpolitischen Erwägungen – den NATO-Gipfel nicht von der Kosovo-Krise überschatten zu lassen und die Schwächen der im letzten Herbst zunächst unilateral zustande gebrachten und erst anschließend vom NATO-Rat gebilligten Vereinbarung zu beheben. Frankreich gehe es einerseits offenbar darum, dem Generalsekretär zu zeigen, dass seine Möglichkeiten, US-Vorgaben zu folgen, begrenzt seien und den USA zu demonstrieren, dass Frankreich beanspruche, ebenfalls ein „letztes Wort“ zu haben, bevor die Entscheidung zum Einsatz militärischer Mittel fällt. Unbefriedigend bleibe das weitgehende Fehlen wirksamer Druckmittel gegen die UCK. Die militärischen Möglichkeiten des Bündnisses aus der Luft seien hier äußerst begrenzt. Es sei deshalb für den weiteren Erfolg wesentlich, anderen Druck (Stop von Waffenlieferungen und Finanzierung) energisch durch die zuständigen Stellen zu entwickeln. Aus dem gleichen Grund sei es erforderlich, gegenüber Albanien angesichts seiner Verstrickung in den Konflikt nicht nur eine andere Sprache, sondern auch wirksame Maßnahmen anzuwenden, um es zum Einschreiten gegen die UCK bzw. Einstellung deren Unterstützung zu veranlassen. Das weitere, noch verbesserungsfähige Zusammenwirken von NATO und Kontaktgruppe, aber auch mit OSZE, EU und VN werde für den Gesamterfolg der Bemühungen um eine Lösung der Kosovo-Krise entscheidend sein. Dabei gelte es insbesondere, die Spannungen zwischen 325
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den USA, die vor allem auf die NATO setzten und Frankreich, das das Hauptgewicht auf die Kontaktgruppe lege, soweit wie möglich zu beseitigen. Die deutsche NATO-Vertretung hielt es im Übrigen „unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten“ für „besonders bemerkenswert, dass die im vergangenen Herbst erarbeitete Rechtsgrundlage für die Actords im Rat überhaupt nicht mehr diskutiert wurde“. Die Bezugnahme auf die Zielsetzung der Vermeidung einer humanitären Katastrophe, die Feststellung einer Gefährdung für Frieden und Sicherheit in der Region und die Bezugnahme auf die einschlägigen Resolutionen des VN-Sicherheitsrats seien ohne weiteres für ausreichend gehalten worden. Hier habe es „bezüglich akzeptierter Völkerrechtspraxis einen Schritt nach vorn gegeben, der normbildend gewirkt hat“. Was immer diese letzte Bemerkung sagen soll, klar war, dass völkerrechtliche Erwägungen im Eskalationsszenario der NATO keine Rolle mehr spielten. Die Diskussion um den Einsatz von NATO-Bodentruppen Die NATO hatte bereits im Sommer 1998 ihre Planungen für eine militärische Intervention in den Kosovo-Konflikt abgeschlossen. Die Pläne enthielten auch verschiedene Optionen für den Einsatz von Bodentruppen. In der NATO-Ratssitzung am 19. Januar 1999 forderte NATO-Generalsekretär Solana – auf offensichtliches Drängen der USA – die Mitgliedstaaten auf, die Frage des Einsatzes von Bodentruppen zu prüfen. Während andere Länder, insbesondere Frankreich und Italien, sehr zurückhaltend waren, fand die Bundesregierung eine schnelle Antwort auf die Prüfungsaufforderung. In den Medien wurde die deutsche Bevölkerung auf Kriegskurs eingestimmt. „Die NATO muß dem Töten ein Ende machen. Zum Kosovo ist alles gesagt...“.362 Der Regierungssprecher gab die Parole aus „es gelte weiteren Völkermord im Kosovo zu verhindern“ und der Verteidigungsminister verspricht: „... wir werden nicht zusehen, wie Menschen abgeschlachtet werden.“363 Der Bundeskanzler meinte: „Gerade weil wir historisch belastet
362 Die Welt vom 23.1.1999. 363 FAZ vom23. 1.1999.
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sind, haben wir jetzt gemeinsam mit unseren Partnern eine Verantwortung, einen weiteren Völkermord zu verhindern...,,364 Schröder setzte nun eine Markierung für die Beteiligung Deutschlands an einem Krieg mit Bodentruppen. Er wolle nicht ausschließen, dass Deutschland „in und mit der internationalen Staatengemeinschaft“ auch mit deutschen Bodentruppen in „nicht befriedete“ Gebiete gehen werde.365 Diese Botschaft wurde von den Medien verstanden und weiter transportiert: • • • •
„Regierung zur Entsendung von Bodentruppen im Kosovo bereit...,,366 „Kanzler hält Bodeneinsatz in Kosovo für möglich.“367 „Schröder erwägt deutsche Beteiligung an Bodentruppen.“368 „Hinein ins Kosovo... Nun will Schröder deutsche Truppen, wenn nötig, auch in Kampfgebiete schicken.“369
Bemerkenswert ist die euphorische Aufbruchstimmung in den Medien angesichts der Perspektive eines Einsatzes deutscher Bodentruppen in Jugoslawien! Auffallend ist auch – im Hinblick auf das spätere Vorgehen der NATO – die Auffassung des Bundeskanzlers, „isolierte Luftangriffe würden zu keiner Verbesserung für die Menschen im Kosovo führen,,.370 Auf dieser Linie argumentiert auch Verteidigungsminister Scharping: „Isolierte Luftangriffe verbessern die Lage der Menschen dort nicht. Wir sind uns in der NATO einig, dass wir nicht die Luftwaffe der UCK werden.“371 Die Bundesregierung äußerte, bevor andere NATO-Partner ihre Position gefunden hatten, in der Öffentlichkeit ihre Bereitschaft, sich mit Bodentruppen an einem Krieg gegen Jugoslawien zu beteiligen. Sie folgte damit rascher als andere NATO-Staaten dem amerikanischen Wunsch. Aus innenpolitischen Gründen musste die Bundesregierung von dieser Position dann allerdings wieder abrücken. Die CDU/CSU-Fraktion sprach sich nämlich ganz eindeutig gegen einen Einsatz von deutschen Bodentruppen aus. Dem innenpolitischen Streit mit einem nicht unbeträchtlichen öffentlichen
364 365 366 367 368 369 370 371
Focus 4/1999, S. 22. Ebenda. FAZ vom 23.1.1999. FR vom 25.1.1999. Die Welt vom 25.1.1999. Ebenda. Focus 4/1999, S. 21. Der Spiegel 4/1999, S. 140.
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Mobilisierungspotential wollte die rot-grüne Regierung entgehen. Deshalb stimmte sie dann im März 1999 „isolierten Luftangriffen“ zu, obwohl sie ja kurze Zeit vorher der begründeten Meinung war, dass dies den Menschen in Kosovo nicht helfen würde.372
372 Die Auffassung, Luftangriffe würden den Menschen in Kosovo nicht helfen, bestätigte die Entwicklung der Flüchtlingszahlen. Am 23. März 1999, einen Tag vor Beginn der Luftangriffe, gab es in den Nachbarländern des Kosovo 69.5000 Flüchtlinge, nach knapp drei Wochen Luftkrieg mehr als eine halbe Million (OSCE, Kosovo/Kosova, a.a.O., S. 99).
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Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999 (Auszüge) Heinz Loquai
Übersicht 3.
4. 5.
Die Verhandlungen von Rambouillet und Paris 3.1 Die unmittelbare Vorgeschichte von Rambouillet 3.2 Der organisatorische Rahmen der Verhandlungen 3.3 Die Frage der Implementierung eines Abkommens 3.4 Handlungsoptionen der Parteien und die Folgen Letzte Versuche, eine friedliche Lösung zu erreichen Gewinner und Verlierer
329 330 334 335 338 341 345
3. Die Verhandlungen von Rambouillet und Paris Gunter Hofmann, der die geheimen Kosovo-Akten des Auswärtigen Amtes eingesehen hat, stellt fest: „... so ist es auch ein Ergebnis dieser Lektüre der Akten, daß der Öffentlichkeit nicht ein X für ein U vorgemacht worden ist. Man wusste im großen und ganzen Bescheid, ohne genasführt worden zu sein.“373 Zumach dagegen meint,,,die offenen Fragen sind weiterhin von erheblicher Bedeutung und bedürfen einer restlosen, öffentlichen Aufklärung“.374 Der Verhandlungsablauf und die Dokumente sind von Marc Weller, Rechtsberater der albanischen Delegation bei den Verhandlungen, ausführlich beschrieben und dargestellt worden.375 Bündnis 90/Die Grünen haben eine Materialsammlung herausgebracht, vor allem um die,,Rambouillet-Lü-
373 Gunter Hofmann, Wie Deutschland in den Krieg geriet, a.a.O., S 17. 374 Andreas Zumach, „80 Prozent unserer Vorstellungen werden durchgepeitscht“, in: Thomas Schmid (Hrsg.). Krieg im Kosovo, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 63-81, S. 64. 375 Marc Weller, Crisis, a.a..O.; ders., The Rambouillet Conference on Kosovo, in: International Affairs 2/1999, S. 211-251.
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ge“ zu entkräften.376 Auch Wolfgang Petritsch, österreichischer Diplomat und EU- Beauftragter für das Kosovo, hat seine Sicht des Verhandlungsprozesses dargestellt.377 Also genügend Informationen für die Beurteilung des Verhandlungsprozesses und die Ursachen für das Scheitern? Auch über dieses Kapitel des Vorkriegstagebuchs liegt bisher nur ein Teil der Wahrheit der Öffentlichkeit vor. Wichtige Sachverhalte stehen nicht in den Veröffentlichungen. Das konnte der Verfasser aus wenigen offenen Quellen und persönlichen Gesprächen erkennen. Fragen ergeben sich auch aus der Verknüpfung und Gegenüberstellung öffentlich verfügbarer Informationen, manche Behauptungen entlarven sich selbst. Im Folgenden sollen nicht der technische Verhandlungsablauf und die Dokumente im Einzelnen dargestellt werden. Die oben genannten Veröffentlichungen geben hierüber ein wohl insgesamt zutreffendes Bild. Vielmehr soll versucht werden, einige wenige durchgängige Probleme zu analysieren und dadurch auch etwas deutlicher Verhandlungsstrategien und -taktiken sowie die Rahmenbedingungen hierfür aufzuzeigen. Wenn nebenbei noch etwas Licht in bisher dunkle Ecken fällt, dann ist dies gewollt. 3.1 Die unmittelbare Vorgeschichte von Rambouillet Nach dem,,Massaker von Racak“ wollten die Amerikaner sofort „auf der Basis des noch gültigen,ACTORD' (Activation Order, d. Verf.) mit den Bombardierungen der Volksrepublik [sic!] Jugoslawien beginnen. Dabei erwarteten sie die Beteiligung der anderen NATO-Staaten, auch Deutschlands. Ein politisches Ziel außer dem der Bestrafung war nicht erkennbar.“378 Man muss hier hinzufügen, dass eine objektive, unparteiische Untersuchung des Sachverhalts noch gar nicht stattgefunden hatte, sondern die Bestrafung der BRJ durch einen Krieg aufgrund eines Anfangsverdachts erfolgen sollte. Dies könnte man auch als internationale Lynchjustiz bezeichnen. Weiterhin ist in Erinnerung zu rufen, dass eine derart begründete deutsche Teilnahme an Luftangriffen völlig außerhalb des vom Bundestag gegebenen Mandats gelegen hätte. Ein so begründeter Krieg wäre ganz ein-
376 Bündnis 90/Die Grünen, Material zur Auseinandersetzung über das RambouilletAbkommen, Bonn 1999. 377 Wolfgang Petritsch u.a., Kosovo, Kosova, a.a.O. 378 Ludger Volmer, Krieg in Jugoslawien – Hintergründe einer grünen Entscheidung, in: Bündnis90/Dje Grünen, Der Kosovo-Krieg, Bonn 1999, S. 59.
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deutig ein Verstoß gegen alle Normen des Völkerrechts und des Grundgesetzes gewesen. Nach Volmer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, gelang es jedoch der deutschen Diplomatie, die anderen Außenminister dazu zu bewegen, statt einer schnellen Bombardierung den Verhandlungsprozess von Rambouillet zu organisieren. Deutschland habe auch den Verhandlungsprozess aus der NATO in die Kontaktgruppe verlagern wollen, um Russland einzubeziehen. Die Amerikaner, so Volmer, seien aber nur unter der Bedingung bereit gewesen,,,ihren Ansatz direkter Luftschläge zugunsten des Verhandlungsansatzes aufzugeben, wenn erstens das Verhandlungspaket einen festen unverhandelbaren Kern aufweisen würde und die anderen westlichen Partner zudem bekräftigten, dass,ACTORD' weiterhin Gültigkeit behielte und sofort angewendet werden könne, wenn der Verhandlungsprozess scheitern sollte. Dieses Zugeständnis mussten wir machen, um überhaupt den RambouiIletProzess in Gang zu bringen.“379 Entkleidet man diese Schilderung ihrer Rechtfertigungsformeln, so handelt es sich um nichts anderes, als eine Unterwerfung unter eine politische Nötigung. Die deutsche Politik lieferte sich den USA aus. Die USA verzichteten zunächst auf einen Bestrafungskrieg für eine Tat, für die es noch kein objektives Urteil gab. Sie erhielten dafür Blankovollmacht für einen zukünftigen Bestrafungskrieg, dessen Straftat sie selbst herbeiführen konnten. Doch völkerrechtliche Kriterien spielten für die USA beim Einsatz ihrer Streitkräfte ohnehin keine besonders große Rolle. Sie entschieden und entscheiden nach politischen Gesichtspunkten ihrer Interessenlage. Das Völkerrecht wird allenfalls bemüht, um den politisch motivierten Einsatz vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Und auf diesem Kurs fanden die USA viele Gefolgsleute. Die Ereignisse im Vorfeld von Rambouillet sind durch ein Zusammenspiel von NATO und Kontaktgruppe geprägt. Die UN spielten nur durch den Generalsekretär eine die NATO unterstützende Rolle, hatten allenfalls einen indirekten Einfluss, jedoch kein wirkliches Gewicht. Den Diplomaten schwebte die Vorstellung eines Dayton II-Arrangements vor, für das Frankreich Schloss Rambouillet zur Verfügung stellen wollte. Die USA blickten mit einiger Skepsis auf das europäische Theater. Sondierungen hatten ergeben, dass die Kosovo-Albaner bereit waren, an einer Konferenz in Klausur teilzunehmen, wenn die territoriale Frage nicht angesprochen und nur ein wirkliches Interimsabkommen als Verhandlungs-
379 Ebenda. S. 60.
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ziel angestrebt würde. Die BRJ war gewillt, auf der Grundlage der oben erwähnten elf Punkte in direkte Verhandlungen mit den Kosovo-Albanern einzutreten, hatte jedoch Bedenken gegen eine Konferenz unter Beteiligung der „UCK-Terroristen“. Beide Parteien schienen jedoch im Prinzip bereit zu sein, der Vorladung nach Rambouillet zu folgen. Aus den schriftlichen Quellen ist nicht ersichtlich, dass es eines besonderen militärischen Drohpotentials oder gar einer Kriegsdrohung der NATO bedurfte, um sie an den Verhandlungstisch zu bekommen. Die politischen Direktoren der Außenministerien der KontaktgruppenLänder kamen am 22. Januar 1999 in London zusammen, um die Konferenz vorzubereiten. Am 26. Januar traf die amerikanische Außenministerin ihren russischen Kollegen in Moskau. In einem ausgewogenen Statement wurde die BRJ aufgefordert, den Maßgaben des UN-Sicherheitsrates nachzukommen und das Abkommen mit der OSZE zu erfüllen. Doch auch von der UCK, deren Provokationen signifikant zu den aufgekommenen Spannungen beigetragen hätten, wurde die Einhaltung von Verpflichtungen gefordert. Die Minister drängten die Parteien, intensiver an einer politischen Lösung zu arbeiten. Die Eckpunkte hierfür, substantielle Autonomie für das Kosovo und Erhaltung der territorialen Integrität der BRJ, wurden wiederholt.380 Albright schien jedoch mit diesem Ergebnis unzufrieden zu sein. Sie hatte wohl gehofft, Iwanow dazu bringen zu können, eine NATO-Führung bei der Implementierung eines Abkommens wenigstens stillschweigend zu tolerieren. Doch der russische Außenminister konnte dem nicht zustimmen. Aus Verärgerung wollte sie dann auch nicht persönlich am KontaktgruppenTreffen in London teilnehmen. Nach intensiven Gesprächen mit den Europäern gelang es der US-Diplomatie, unterstützt von den Briten, eine,,Doppelstrategie“ durchzusetzen, die Diplomatie und eine glaubhafte Drohung mit Gewalt kombinierte. Auch eine zweite Forderung der amerikanischen Außenministerin, die Befugnis zur Auslösung von Luftangriffen auf den NATO-Generalsekretär zu delegieren, erfüllten die NATO-Partner in der Kontaktgruppe, um Albright nach London zu bekommen. Durch ihre anfängliche Weigerung, an diesem Treffen teilzunehmen, konnte die amerikanische Außenministerin taktisch geschickt einige noch ein wenig zögernde europäische Bündnispartner auf ihren Kurs bringen. Am 28. Januar 1999 hatte der Generalsekretär der UN einen ungewöhnlichen Auftritt im NATO-Rat. Er verband die Bemühungen der NATO, der
380 Vgl. Marc Weller, Crisis, a.a.O., S. 414.
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Kontaktgruppe und der UN und schien sogar die NATO zur Anwendung von Gewalt zu ermuntern.381 Für den Vorsitzenden eines Gremiums, das von der NATO an den Rand gedrängt worden war, fürwahr ein bemerkenswerter Auftritt. Am 29. Januar beschlossen die Außenminister der Kontaktgruppe über die „Vorladung“ an die Parteien. Die Verhandlungen sollten auf der Grundlage von Prinzipien der Kontaktgruppe geführt werden, die als nicht verhandelbar galten. Diese Prinzipien wurden am Tag darauf spezifiziert, sie ähnelten auf frappierende Weise den bekannten elf Prinzipien vom 13. Oktober 1998! Innerhalb einer Woche sollten die Parteien mit den Verhandlungen beginnen, ihre Dauer war auf maximal 14 Tage begrenzt. Der Präsident des UN-Sicherheitsrats stellte sich mit einer Erklärung hinter die Forderungen der Kontaktgruppe. Obwohl keine rechte Notwendigkeit zu erkennen war, erhöhte der NATORat den militärischen Druck auf die Parteien weiter, indem er zwar verklausuliert, aber deutlich eine Kriegsdrohung aussprach. Der NATO-Generalsekretär übermittelte eine letzte Warnung an die Belgrader Führung und an Rugova und forderte sie auf, den Forderungen der internationalen Gemeinschaft nachzukommen.382 Der jugoslawische Außenminister protestierte beim Präsidenten des UN-Sicherheitsrats und verlangte vergeblich eine Dringlichkeitssitzung. Doch am 6. Februar erschienen schließlich beide Parteien in Paris. Was hatten die beiden Konfliktparteien nun erreicht? Die Kosovo-Albaner waren endlich dort, wohin sie politisch schon immer strebten. Der Kosovo-Konflikt war nun auch wirklich internationalisiert. Ein wichtiges Zwischenziel auf dem Wege zur Unabhängigkeit war erreicht. Die UCK saß mit am Verhandlungstisch, sie stellte nicht nur ein Drittel der Delegationsmitglieder, sondern auch – für viele westliche Diplomaten überraschend – den Delegationsleiter. Innerhalb eines Jahres hatte die UCK einen anerkannten offiziellen Status erreicht. Man sprach nicht mehr von albanischen Terroristen oder von der so genannten UCK, sondern von der Befreiungsarmee. Die Kosovo-Albaner konnten schon damit hochzufrieden sein. Die Belgrader Führung musste erneut eine für sie wichtige Position aufgeben. Der Kosovo-Konflikt war nun definitiv keine innere Angelegenheit Serbiens mehr, sondern er war auf der internationalen Bühne. Belgrad hat,
381 Vgl. ebenda, S. 398. 382 Vgl. ebenda, S. 418.
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wie schon so oft zuvor, eine überwiegend defensive Politik betrieben, sich auf eine formale Rechtsposition gestützt und Zugeständnisse viel zu spät und unter Zwang gemacht. Unter diesen Bedingungen waren dann auch keine Zugeständnisse mehr zu erwarten. Bei den anstehenden Verhandlungen war Belgrad ziemlich auf sich allein gestellt. Russland war allenfalls ein schwacher Verbündeter. 3.2 Der organisatorische Rahmen der Verhandlungen Die Konferenz wurde am 6. Februar 1999 in Rambouillet mit einer Ansprache des französischen Präsidenten Chirac eröffnet. Die Arbeitssitzungen begannen einen Tag später. Die Dauer der Konferenz in Rambouillet, die zunächst auf eine Woche angesetzt war, wurde zweimal verlängert und endete am 23. Februar 1999. Am 15. März wurden die Verhandlungen in Paris, im Centre Kléber, wieder aufgenommen. Am 19. März wurden sie suspendiert. Als Ko-Vorsitzende der Verhandlungen fungierten der französische Außenminister Védrine als Gastgeber und der britische Außenminister Cook für die Kontaktgruppe. Verhandler waren der Amerikaner Hill, der Österreicher Petritsch und der Russe Majorskij. Die Delegation der Kosovo-Albaner umfasste 16 Teilnehmer, ein Drittel waren Mitglieder der UCK, ein weiteres Drittel ihr nahestehende Personen, Verhandlungsführer wurde das UCK-Mitglied Thaci (formal war er der Leiter der aus den Vertretern von drei Gruppierungen gebildeten Führungsgruppe). Die serbische Verhandlungsgruppe bestand aus 13 Mitgliedern, deren Zusammensetzung im Laufe der Konferenz wechselte. Verhandlungsführer war der stellvertretende serbische Ministerpräsident Markovic. Zwar gehörten auch Experten des jugoslawischen Außenministeriums dieser Delegation an, doch sollte sie unter serbischer Führung stehen, um zu betonen, dass es sich nach jugoslawischer Auffassung um ein innerserbisches Problem handelte.383 Die Verhandlungen in Rambouillet waren als Klausur konzipiert. Die französischen Organisatoren taten alles, um Kontakte mit der Außenwelt, insbesondere mit den Medien, zu verhindern. Doch die Parteien unterliefen dies mit ihren Mobiltelefonen. Deshalb sab man von diesen vergeblichen Versuchen einer Kontaktsperre in Paris dann ab.
383 Ausführlich zu den Verhandlungsdelegationen: Wolfgang Petritsch u.a., Kosovo, Ko• sova. a.a.O., S. 279 f.
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3.3 Die Frage der Implementierung eines Abkommens Die Kontaktgruppe halte Prinzipien aufgestellt, die den Parteien vor dem Beginn der Verhandlungen übermittelt wurden und als nicht verhandelbar galten. Das heißt, mit der Teilnahme an den Verhandlungen galten diese Prinzipien als von den Parteien anerkannt. Unter dem Punkt,,Implementierung“ heißt es u.a.: „Teilnahme der OSZE und anderer internationaler Gremien, soweit notwendig“.384 Diese Formulierung war eine bewusste Täuschung Russlands und der BRJ. Beide mussten durch die ausdrückliche Benennung der OSZE und die eher beiläufige Erwähnung anderer Gremien·den Eindruck haben, dass die Implementierung weiterhin zumindest unter der Verantwortung der OSZE überwacht würde. Tatsächlich waren wesentliche Teile des Implementierungsteils, der eine NATO-Truppe vorsah, bereits vor dem Beginn der Verhandlungen formuliert. Auch die albanische Seite war über die Grundzüge informiert. Deshalb hatte sie auch darauf verzichtet, diese für sie essentielle Forderung in ihrer Stellungnahme zur Einladung noch einmal hervorzuheben.385 Selbst der zu den drei Verhandlern gehörende russische Diplomat Majorskij hatte keinen Entwurf des Implementierungspapiers in den Händen. Er beklagte sich nach der offiziellen Eröffnung der Verhandlungen noch am 6. Februar 1999 beim französischen Außenminister Védrine, er habe zwar von einem solchen Papier gehört, sei jedoch über den Inhalt nicht informiert. Es ist fraglich, ob ein russischer Diplomat in Rambouillet erschienen wäre, wenn Russland über die Absichten des Westens voll informiert gewesen wäre. Doch für die NATO-Mitglieder der Kontaktgruppe war es wichtig, dass Russland überhaupt in Rambouillet erschien. Die Täuschung wird zumindest noch einige Zeit fortgesetzt. Im Abkommensentwurf vom 6. Februar steht noch nichts von einer NATO-Verantwortung für die Implementierung.386 Allerdings wird die Zuständigkeit der OSZE auf die zivile Implementierung begrenzt. Im Entwurf vom 18. Februar wird überhaupt keine Organisation unter „Implementierung“ genannt.387 Im Entwurf vom 23. Februar erscheint dann erstmals ein Kapitel 7. Darin werden im Detail die militärischen Regelungen und Begrenzungen aufgeführt, die gelten sollten. Im Annex A werden Waffenlagerstätten definiert, im Annex B wird der
384 385 386 387
Marc Weller. Crisis, a.a.0., S. 417. Vgl. ebenda. Vgl. ebendl., S. 422. Vgl. ebenda, S. 434.
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Status der NATO-Truppen festgelegt.388114 Noch am 16. Februar hatte der Sprecher der Kontaktgruppe bei einer Presseunterrichtung auf die Frage eines Journalisten nach einer NATO-Präsenz im Kosovo geantwortet:,,I don't have any particular information on anything about NATO.“389 Am 19. Februar wurde dann das Kapitel 7 über die militärische Implementierung vorgelegt, also zwei Tage vor dem geplanten Ende der Konferenz. Von deutschen Politikern wurde wiederholt behauptet, die Verhandlungen könnten gar nicht an der militärischen Implementierung gescheitert sein, weil darüber überhaupt nicht verhandelt worden sei. Dies ist nur die halbe Wahrheit. Richtig ist, dass die Serben eine ausländische militärische Implementierungstruppe rundweg ablehnten. Deshalb haben sie es auch abgelehnt, über Durchführungsdetails einer militärischen Implementierung zu verhandeln. Richtig ist auch, dass die USA es zunächst überhaupt abgelehnt haben, über die militärische Implementierung zu sprechen. Das Implementierungspapier sollte so, wie es war, von den Parteien akzeptiert werden. In Paris waren dann die Stellungnahmen zu den entsprechenden Vertragsbestimmungen auf technische Details begrenzt. Richtig ist auch, dass Russland mit dem Kapitel 7 – militärische Implementierung – nicht einverstanden war und auch Kapitel 2 über die Polizei nicht akzeptierte, weil es Hinweise auf Kapitel 7 enthielt. Der russische Verhandler Majorskij durfte sich daher auch auf ausdrückliche Weisung seines Außenministers nicht an den diesbezüglichen Verhandlungen beteiligen. Dies war den übrigen Verhandlern auch recht; die Hauptsache war, Majorskij blieb in Rambouillet, und ein Eklat wurde vermieden. In sich widersprüchlich war auch die von den USA als conditio sine qua non eingeführte Bedingung, dass das Abkommen und die Implementierungsdokumente als ein unauflösbares Paket gelten und zur gleichen Zeit verabschiedet werden müssten. Im Widerspruch dazu wurde dieses Paket von Anfang an aufgeschnürt, da ja zuerst nur über einen Teilentwurf verhandelt wurde, der die Implementierungsteile nicht enthielt. Diese wurden erst kurz vor Schluss der Verhandlungen auf den Tisch gelegt – ein sehr durchsichtiger Versuch einer Überrumpelungstaktik. Von jugoslawischer Seite wurde durchgängig argumentiert, man müsse zunächst über das verhandeln, was implementiert werden solle und dann über die Implementierung. Diese auf Zeitgewinn angelegte Taktik, die lo-
388 Vgl. ebenda, S. 453. 389 Ebenda, S. 432.
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gisch begründet war und auch der Eröffnungstaktik der Verhandler entsprach, war zunächst nicht ganz erfolglos. Die Serben verschleppten die Verhandlungen über den politischen Teil und verschoben damit auch die Gespräche über die Implementierung ans Ende der Konferenz. Als auch einige Vertreter der Kontaktgruppe im Aufschnüren des Pakets einige Meriten sahen, drohte die amerikanische Außenministerin damit, dass sich die USA dann aus der Implementierung zurückziehen würden. Unter keinen Umständen seien die USA bereit, die politischen und die Implementierungskapitel zu verschiedenen Zeiten zu verabschieden. Mit dieser Drohung setzten sich die USA auch durch. Erst zwei Tage vor dem geplanten Abschluss der Konferenz wurde der Plan einer Implementierungstruppe auf den Verhandlungstisch gelegt. Doch beide Konfliktparteien wussten schon vorher, dass die militärische Implementierung von der NATO übernommen werden sollte. Die albanische Seite war darüber schon vor Konferenzbeginn informiert worden, die jugoslawische Seite erfuhr davon spätestens beim Gespräch des deutschen Außenministers mit der serbischen Verhandlungsdelegation am 14. Februar. Fischer machte dabei klar, dass eine NATO-Truppe unerlässlich sei. Auch bei den Gesprächen des Verhandlers Hill am 17. Februar in Belgrad wurde Milosevic diese Forderung präsentiert und betont, dass es ohne eine NATO-Implementierungstruppe kein Abkommen geben werde. Doch nicht minder klar und entschieden war die jugoslawische Antwort: Eine militärische Implementierungstruppe komme nicht in Frage, schon gar nicht eine NATOTruppe. Sicherlich sind die Verhandlungen nicht allein an der Bedingung einer NATO-lmplementierungstruppe gescheitert. Aber es ist völlig unstrittig, dass Belgrad zu keiner Zeit bereit war, eine solche NATO-Truppe zu akzeptieren, geschweige denn einzuladen. Die Argumentation Fischers und seines Hauses, in Rambouillet sei über eine solche Truppe nicht verhandelt worden,,,folglich ist es unsinnig, zu behaupten, an diesem Vorschlag seien die Verhandlungen gescheitert“,390116 widerspricht den Tatsachen und der Logik. Es war ja von vornherein allen klar, dass die Belgrader Führung eine NATO-Implementierungstruppe nicht hinnehmen würde. Sonst hätte man sich doch das ganze diplomatische Manöver mit den Implementierungsteilen sparen können. Bei den Verhandlungen wollten die Serben, da sie ja eine Implementierungstruppe ablehnten, konsequenterweise auch nicht über die
390 Die Zeit 16/1999, S. 3.
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technische Durchführung einer Stationierung sprechen. Im Übrigen waren die Passagen zur militärischen Implementierung keine „Vorschläge“, die sozusagen zur Verhandlung freigegeben waren, sondern eine Vorgabe, die allenfalls im technischen Detail noch verhandelbar war. Eine eigenartige Variante der Rechtfertigung präsentierten die GrünenAbgeordneten Beer, Lippelt und Sterzing, als sie feststellten:,,Es ging nie um eine Stationierung von Truppen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien, sondern nur um den Transit durch Teile dieses Gebiets in den Kosovo.“ 391117 Natürlich ging es um die Stationierung von NATO-Truppen auf dem Gebiet der BRJ, denn das Kosovo war ja ein Teil dieses Gebietes. Es ging auch nicht um einen Transit durch die BRJ in ein anderes Land: das Kosovo. Deshalb ist hier auch der Verweis auf das Dayton-Abkommen fehl am Platze. Dieses Beispiel zeigt entweder die Ignoranz oder die Manipulationsbereitschaft mancher Politiker. Eine objektive Betrachtung kann gar nicht leugnen, dass die unabdingbare Forderung nach einer NATO-Implementierungstruppe ganz entscheidend zum Scheitern der Verhandlungen beigetragen hat. Alle gegenteiligen Behauptungen gehen an der Realität vorbei und machen der Öffentlichkeit ein X für ein U vor. 3.4 Handlungsoptionen der Parteien und die Folgen Nach dem Verhandlungskonzept der Kontaktgruppe gab es eigentlich nur wenig zu verhandeln. Die wesentlichen Inhalte der angestrebten Friedensvereinbarung waren von den Konfliktparteien zu akzeptieren. Verhandelbar war,,nur“ die Ausgestaltung der Prinzipien. Doch auch hier waren, wie die bisherige Verhandlungsgeschichte ja zeigte, heftige Auseinandersetzungen zu erwarten. Letztendlich waren aber die Konfliktparteien mit wenigen Entscheidungsmöglichkeiten konfrontiert. Es ging darum, ob ein am 23. Februar 1999 von den „Verhandlern“ auf den Tisch gelegter Entwurf für ein Interimsabkommen unterschrieben werden sollte oder nicht. Im Folgenden ist systematisch zusammengestellt, welche Konsequenzen bei den vier möglichen Konstellationen vorauszusehen waren, die sich ergaben, wenn eine Partei unterschrieb oder nicht unterschrieb.
391 Bündnis 90/Die Grünen, Der Kosovo- Krieg, a.a.O. S. 87.
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Unterschrift durch: BRJ
Kosovo-Albaner
1
ja
ja
NATO-Protektorat im Kosovo
2
ja
nein
NATO-Protektorat im Kosovo
3
nein
ja
NATO-Luftkrieg gegen BRJ
4
nein
nein
NATO-Luftkrieg gegen BRJ???
(1) NATO-Protektorat Kosovo Faktisch wird das Kosovo mit Zustimmung beider Parteien für einige Jahre zu einem NATO-Protektorat. Es gibt noch einen Rest staatlicher serbischer Autorität im Kosovo sowie eine Restgröße der jugoslawischen Armee von weniger als 3.000 Soldaten zur Grenzsicherung. Das Kosovo hat unter dem Schutz der NATO weitgehende Autonomie und Unabhängigkeit. (2) NATO-Protektorat Kosovo Bei alleiniger Zustimmung der BRJ kann die NATO ohne weiteres Truppen im Kosovo stationieren und hätte dies wohl auch getan. Doch die Kosovo- Albaner würden als Verweigerer vor der Weltöffentlichkeit in ein schlechtes Licht geraten. Eine militärische Bestrafungsaktion durch die NATO ist zwar auszuschließen, allerdings würde die UCK an die NATO-Truppen geraten, wenn sie ihre Angriffe fortsetzte. (3) NATO-Luftkrieg gegen die BRJ Hier sind eindeutig für die NATO die Voraussetzungen für die Auslösung eines Luftkriegs gegen die BRJ erfüllt. Die NATO greift in den Bürgerkrieg gleichsam als die Luftwaffe der UCK ein. (4) NATO-Luftangriffe gegen die BRJ??? Nach Ankündigungen der amerikanischen Außenministerin würde es auch in diesem Fall zu NATO-Luftangriffen gegen die BRJ kommen. Doch würden sich hieran evtl. nicht alle NATO-Partner beteiligen. Es könnte eine schwierige politische Situation für das Bündnis entstehen. Welche Handlungskonsequenzen ergeben sich aus dieser Situation für die Hauptakteure? Für die BRJ ist keine der Möglichkeiten mit den bisher vertretenen Positionen vereinbar. Einem NATO-Protektorat zuzustimmen, würde eine kampflose Kapitulation bedeuten. Nach den bisherigen jugoslawischen Äußerungen wäre ein Krieg für die BRJ noch eher hinzunehmen als eine kampflose Unterwerfung. Ihr bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, die Ent-
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scheidung zu verzögern und im Verlaufe der Verhandlungen bessere Ausgangsbedingungen zu schaffen. Die Verhandlungstaktik der Serben zeigte auch tatsächlich, dass sie auf Zeitgewinn aus waren. Zweimal versuchte die Belgrader Führung eine Veränderung der Bedingungen zu erreichen. Zunächst schlug die serbische Seite während der Verhandlungen vor, die Implementierung einer auf 5.000 bis 6.000 Mitglieder verstärkten OSZE-Mission zu übertragen. Den Verifikateuren könnte auch gestattet werden, leichte Waffen zu tragen. Einen zweiten Vorschlag machte Milosevic in einem Gespräch mit HilI am 17. Februar. Er sprach sich dafür aus, für die Implementierung einen gemeinsamen Stab aus NATO und der jugoslawischen Armee zu bilden. Beide Vorschläge wurden rundweg abgelehnt. Letztendlich mussten die Serben zwischen Krieg und freiwilliger Kapitulation entscheiden. Nach ihren bisherigen Einlassungen konnte es nicht überraschen, dass sie sich für Krieg entschieden. Doch nicht nur verhandlungsstrategisch waren die Serben in einer ungünstigen Lage, sondern auch verhandlungstaktisch. Auf albanischer Seite arbeiteten englische und amerikanische Berater, die die Verhandlungsdokumente gut kannten. So schrieben diese Berater im Namen der Albaner Briefe an ihre Kollegen in der Kontaktgruppe und bei den Verhandlern. Die Albaner erhielten Dokumente auch früher als die Serben. NATO·Vertreter erläuterten ihnen die Teile des Abkommens, die sich mit der militärischen Implementierung befassten. Die Kosovo- Albaner waren in einer komfortablen Situation. Im Grunde waren alle Möglichkeiten für sie akzeptabel. Die günstigste war die Option 3. In diesem Fall würde der Bürgerkrieg durch den Einsatz der NATO– Luftwaffe rasch zugunsten der Albaner entschieden. Das Kosovo wäre dann faktisch unabhängig und von allen Formen jugoslawischer und serbischer staatlicher Autorität befreit. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass die Kosovo-Albaner konsequent auf diese Option hinarbeiteten. Für die NATO war die Option 1 die günstigste. Die Allianz hätte beweisen können, dass sie schon durch die Androhung des Einsatzes militärischer Mittel ihre politischen Ziele erreichen kann. Zum 50–jährigen Jubiläum in Washington wäre das Bündnis in ungetrübtem Glanz erstrahlt. Option 2 hätte man ebenfalls hinnehmen können, im Vertrauen darauf, mit den Kosovo– Albanern schon fertig zu werden. Doch auch Option 3 war noch akzeptabel. Die BRJ hätte als allein Schuldiger für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich gemacht werden können. Angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse konnte gar kein Zweifel daran bestehen, dass die Allianz den 340
Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg
Krieg gewinnen würde. Bei Option 4 wäre es wohl auch zu einem Luftkrieg gegen Serbien gekommen. Eine von den Serben zu verantwortende humanitäre Katastrophe hätte dann als Kriegsgrund dienen können. Doch die Entscheidungsprozesse im Bündnis wären schwieriger geworden. Konflikte zwischen den Bündnispartnern hätten offen ausbrechen können. Aus diesem Grunde kam es für die NATO darauf an, diese für sie ungünstigste Option auf jeden Fall zu vermeiden. 4. Letzte Versuche, eine friedliche Lösung zu erreichen Westliche Politiker, insbesondere auch die Bundesregierung, werden nicht müde zu erklären, sie hätten alles getan, um einen Krieg zu verhindern. Man habe,,nichts, aber auch gar nichts unversucht gelassen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zu erzielen“.392 In Rambouillet wurde zweifellos intensiv verhandelt. Auch die Außenminister haben sich in die Verhandlungen eingeschaltet und in Gesprächen mit den Konfliktparteien versucht, eine Annäherung der Positionen zu erreichen. So hatte auch der deutsche Außenminister am 14. Februar, unmittelbar nach der Kontaktgruppen-Sitzung in Paris, Gespräche mit der albanischen und der serbischen Verhandlungsdelegation geführt. Die Albaner betonten dabei ihre bisherigen Positionen: NATO-Implementierungstruppe, Unabhängigkeit des Kosovo nach einer Übergangszeit. Fischer machte deutlich, dass es für die Forderung nach Unabhängigkeit keine Unterstützung gebe. Im Gespräch mit den Serben warnte Fischer vor einer Fortsetzung der bisherigen jugoslawischen Politik, die zwar taktisch schlau, doch strategisch kontraproduktiv sei und dazu führen werde, dass man das Kosovo ganz verlieren werde und die Serben die Provinz verlassen müssten. Das vorgesehene Interimsabkommen würde die territoriale Integrität erhalten. Die Implementierung des Abkommens müsse durch eine NATO-geführte Truppe durchgesetzt werden, die auch die Sicherheit des serbischen Bevölkerungsanteils garantiere. Die serbische Seite machte klar, dass sie dem vorliegenden Abkommensentwurf nicht zustimmen könne. Insbesondere werde eine militärische Implementierungstruppe abgelehnt. Man könne sich jedoch eine beträchtliche Verstärkung der OSZE-Mission vorstellen, gegebenenfalls auch
392 Bundeskanzler Schröder am 26. März 1999 im Deutschen Bundestag, Protokoll S. 2571.
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mit einer leichten Bewaffnung der Verifikateure. Insgesamt zeigten diese Gespräche, dass beide Parteien auf ihren Standpunkten beharrten und sich in der ersten Woche der Verhandlungen keine Annäherung ergeben hatte. Einen Tag vor Ende der Verhandlungen appellierte der deutsche Außenminister als EU-Ratspräsident in einem Schreiben an den jugoslawischen Präsidenten, sich der Tagweite der anstehenden Entscheidung bewusst zu sein. Er habe die Wahl zwischen Frieden oder innerem Chaos und internationaler Isolation. Fischer beschwor Milosevic, die letzte Gelegenheit zu nutzen und die vorgeschlagene Friedensvereinbarung innerhalb der vorgegebenen Zeit zu akzeptieren. Für ein Scheitern des Friedensprozesses werde Jugoslawien einen hohen Preis zu zahlen haben. Milosevic wurde eine Revision der Sanktionen in Aussicht gestellt und als erster Schritt die Zulassung der staatlichen jugoslawischen Fluggesellschaft zum internationalen Flugverkehr zugesagt. Innerhalb einer längerfristigen Perspektive einer Wiedereingliederung in die internationale Kooperation und in internationale Organisationen wurde die Möglichkeit aufgezeigt, den jugoslawischen Status allmählich zu verbessern. Dies könne mit einer vorläufigen Zulassung als Beobachter bei der OSZE beginnen.393 Von jugoslawischer Seite aus gesehen, konnten diese diplomatisch verklausulierten Anreize eher als Affront erscheinen. Dies wird insbesondere deutlich an dem Vorschlag, einen vorläufigen Beobachterstatus in der OSZE einzunehmen. Das am 23. Februar in Rambouillet erreichte Ergebnis fand eine unterschiedliche Interpretation und Bewertung. In den USA wurde es überwiegend negativ beurteilt. Die Regierung geriet unter Druck. Viele betrachteten Rambouillet als Misserfolg der amerikanischen Diplomatie, und man machte Albright dafür verantwortlich. In Russland schien man zufrieden, dass das,,Konzept Albright“, die Politik der Stärke und der militärischen Drohungen, offenbar gescheitert war. Weller, selbst Teilnehmer an der Konferenz, stellt fest, in mancher Hinsicht sei die Konferenz mehr ein Trümmerfeld als ein großer Plan gewesen, der darauf abzielte, die Parteien zur Vernunft zu bringen. Sie sei ein heroischer Fehlschlag gewesen, in einer bestimmten Phase schien sie jedoch einem Erfolg nahe zu kommen.394 Anders dagegen stellten sich die Verhandlungen für die unmittelbar Verantwortlichen dar, den französischen und den britischen Außenminister. Sie zeichneten ein sehr positives Bild des Verhandlungsergebnisses und der
393 VgL. Wolfgang Petritsch u.a., Kosovo, Kosova, a.a.O., S. 306. 394 Vgl. Marc Weller, Crisis, a.a,0.,S. 392.
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Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg
weiteren Verhandlungsaussichten.395 Petritsch meint sogar, 95 Prozent des politischen Teils des Abkommens seien de facto ausgehandelt gewesen und die restlichen fünf Prozent erschöpfend behandelt worden.396 Wie Petritsch zu dieser Bilanz kommt, ist überhaupt nicht nachzuvollziehen. Nach den Quellen stand außer Zweifel, dass die serbische Delegation noch schwerwiegende Einwände gegen den politischen Teil hatte, die sie ja auch in ihrer ersten Stellungnahme zum Abschluss der Konferenz deutlich gemacht hatte. Was die serbischen Stellungnahmen am 23. Februar zum Abschluss der Konferenz betrifft, so wurde damit ein schon beinahe absurdes Spiel getrieben. In einem ersten Brief von 13 Uhr stellte die serbische Delegation zwar große Fortschritte bei den Verhandlungen fest, führte aber dann mehrere wesentliche Bereiche auf, in denen noch keine Einigung erzielt werden konnte. Dieser erste Brief, so gab man den Serben zu verstehen, würde als Ablehnung des Vertrages gewertet werden. Darauf kamen um 14.30 Uhr ein zweiter, allgemeiner gehaltener Brief und um 16.00 Uhr ein dritter Brief der Serben, der noch etwas konzilianter war.397 Es konnte jedoch kein Zweifel bestehen, dass es auch für den politischen Teil des Abkommens noch erhebliche Divergenzen gab. Der noch kritischere Teil der militärischen Implementierung war überhaupt noch nicht verhandelt worden. Die serbische Seite hatte sich lediglich bereit erklärt, in Paris Ausmaß und Art (,,scope and character“) einer internationalen Präsenz zu diskutieren. Die überzogen positive Darstellung des Konferenzergebnisses muss man auch ganz klar in ihrer Funktion als ein Mittel der Schuldzuweisung für das absehbare Scheitern sehen. So konnte der serbischen Seite dann leicht ein Zurückweichen hinter den angeblich bereits gefundenen Konsens vorgeworfen werden. Am 5. März veröffentlichte Belgrad eine Erklärung des serbischen Präsidenten Milutinovic, die hart und aggressiv Position bezieht. Ein großes, durch die USA veranstaltetes Täuschungstheater stehe bevor. Es werde eine Unterschrift unter ein Abkommen verlangt, dessen Hauptteile noch nicht einmal diskutiert worden seien. Den USA, einigen Kontaktgruppen-Ländern und Hill werden Täuschungen, Fälschungen und Manipulationen vorgeworfen. Der Druck, mit dem auf die Stationierung von Truppen hingearbeitet würde, enthülle die wahren Ziele, nämlich einen strategisch wichtigen Teil
395 Vgl. ebenda, S. 471. 396 Vgl. Wolfgang Petritsch u.a., Kosovo, Kosova, a.a.O., S. 318. 397 Vgl. ebenda, S. 310ff.
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Europas unter dem Vorwand zu besetzen, Frieden zu bringen.398 Inhalt und Sprache dieser Erklärung machten deutlich, dass mit der jugoslawischen Führung eine Vereinbarung aufgrund des vorliegenden Abkommensentwurfs nicht zu erreichen war. Die Anstrengungen der USA richteten sich zwischen Rambouillet und Paris vor allem auf die Albaner. Im Auftrag von Albright reiste Senator a.D. Dole nach Pristina/Prishtina (von der Belgrader Führung war er nicht empfangen worden), um die UCK-Vertreter persönlich nach Washington einzuladen. Während man die albanische Seite mit dem,,Zuckerbrot“ lockte, hatte man für die jugoslawischen Gesprächspartner allenfalls hartes, trockenes Brot. Die Europäer waren bereit, bei der Aufhebung der Sanktionen noch relativ weit zu gehen. Doch die USA wollten dies lediglich für den Teil der Sanktionen zusagen, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Krise im Kosovo verhängt worden waren. Die deutsche Diplomatie war ebenfalls aktiv, auch in ihrer Eigenschaft als EU- Präsidentschaft. Am 8. März traf der deutsche Außenminister in Belgrad mit der dortigen Führung zusammen. Er wiederholte dabei seine bisherigen Positionen. Von jugoslawischer Seite wurden weitgehende Änderungswünsche für den politischen Teil des Abkommens angemeldet, eine internationale Friedenstruppe wurde entschieden abgelehnt. Beide Seiten wichen von ihren Positionen nicht ab, es kam zu keinerlei Annäherung der Standpunkte. Am gleichen Tag noch führte Fischer Gespräche mit der Führung der Kosovo-Albaner in Pristina/Prishtina. Diese erklärten ihre Bereitschaft, das Abkommen zu unterzeichnen und stellten dies auch für die UCK in Aussicht. Sie betonten jedoch auch, sie könnten dem Abkommen nur zustimmen, weil die Herrschaft der Serben über das Kosovo nur von begrenzter Dauer sei und eine NATO-Truppe im Kosovo stationiert werde. Am 9. März warb der deutsche Außenminister in Tirana bei der albanischen Staatsführung für die Unterzeichnung des Abkommens noch vor der Wiederaufnahme der Gespräche in Paris. Wie schon in Pristina/Prishtina am Vortage bezeichnete er es als historischen Fehler, dass die Kosovo-Albaner nicht schon in Rambouillet unterzeichnet hätten, weil damit das bereits aufgebaute Drohpotential nicht genutzt werden konnte und der Druck gegenüber Belgrad verringert worden sei. Fischer zerstreute die Bedenken seiner albanischen Gesprächs-
398 Vgl. ebenda, S. 323 f.
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partner in Bezug auf die Implementierung. Man werde sich von einer NATOgeführten Truppe auf keinen Fall abbringen lassen. Die weitere vergebliche Reisediplomatie ist bei Petritsch ausführlich dargestellt.399 Auch die Verhandlungen in Paris konnten zu keinem Ergebnis kommen, da keine der Parteien zu einem wirklich großen Schritt auf einen Kompromiss hin bereit war. Die Albaner hatten einen solchen Schritt nicht nötig, da sie ohnehin in einer günstigen Position waren. Für die Serben bedeutete ein solcher Schritt offenbar die Unterwerfung unter ein Diktat, zu der sie nicht bereit waren. So wird auch Holbrooke, als er am 23. März 1999 zu seinem vorerst letzten Treffen mit Milosevic nach Belgrad flog, wohl nicht mit einem Einlenken des jugoslawischen Präsidenten gerechnet haben. Dieser Besuch hatte auch vielmehr andere Zwecke zu erfüllen. Für Clinton und die amerikanische Regierung kam es darauf an, den noch eher negativ eingestellten Kongress umzustimmen. Denn noch waren viele amerikanische Abgeordnete und Senatoren gegen ein militärisches Eingreifen der NATO. Mit dem HolbrookeBesuch konnte gezeigt werden, dass man auch wirklich alles getan hatte, um einen Krieg zu vermeiden. Tatsächlich schwenkte darauf auch die Stimmung in den USA um. Auch für die Verbündeten der USA und deren Rechtfertigung der Politik in der Öffentlichkeit war die erfolglose Holbrooke-Mission ein Beweis für die Unnachgiebigkeit und die Böswilligkeit des jugoslawischen Präsidenten Milosevic. 5. Gewinner und Verlierer Die Frage nach Gewinnern und Verlierern kann hier nur so beantwortet werden, dass man aufzeigt, wer in welchem Maße seine Ziele durchsetzen konnte. Der große Gewinner waren die Kosovo-Albaner, insbesondere die UCK, die zur bestimmenden Kraft im Kosovo, auch am Verhandlungstisch, herangewachsen war. Sie hat das Maximum dessen, was möglich war, erreicht: eine Entscheidung im Bürgerkrieg durch den Gewinn eines mächtigen Bündnispartners, der durch seine Kriegsteilnahme die militärischen Kräfteverhältnisse radikal verändert hat. Es ist frappierend, mit welcher Geradlinigkeit und Konsequenz dieses Ziel verfolgt wurde. Die späte Vertragsun-
399 Vgl. ebenda. S. 318ff.
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terschrift in Paris war eine taktische Meisterleistung. Durch eine frühzeitige Unterschrift in Rambouillet hätte man der Kontaktgruppe ja ein diplomatisches Druckmittel gegenüber der BRJ gegeben, den Vertrag ebenfalls zu unterschreiben. Doch gerade dies konnten die albanischen,,Strategen“ nicht wollen. Die zahlreichen Versuche der Amerikaner und der Kontaktgruppe, den albanischen Verhandlungsführer Thaci zu einer frühzeitigen Unterschrift zu bewegen, entbehren nicht einer gewissen Komik. Der Hinweis des deutschen Außenministers, die albanische Seite solle endlich unterschreiben, damit Belgrad unter Druck gesetzt werden könne, das Gleiche zu tun, konnte die Albaner nur in ihrem Widerstand bestärken. Westliche Politiker waren offenbar unfähig, das strategische Ziel der UCK zu begreifen. In den Augen eines Fischer-Beraters waren die Albaner „ein wilder Haufen und der Sache nicht gewachsen“. 400 Doch dieser „wilde Haufen“ hatte ein klares Ziel vor Augen, verfolgte es mit einer konsequenten Taktik und instrumentalisierte jene, die mit Vorurteilen und Ignoranz auf „einen wilden Haufen“ und „den Balkan“ blickten. Die BRJ war objektiv gesehen der eigentliche Verlierer. Natürlich waren schon die Startvoraussetzungen für einen Erfolg sehr schlecht. Nicht ohne Grund äußerte der französische Staatspräsident Chirac bei einem informellen Treffen vor seiner Eröffnungsrede in Rambouillet am 6. Februar 1999 seine Besorgnis, dass die Kontaktgruppe die Serben zu sehr benachteilige. Auch der französische Außenminister meinte bei anderer Gelegenheit noch vor Beginn der Verhandlungen, in den erarbeiteten Papieren bestehe Nachbesserungsbedarf, da hier die serbischen Souveränitätsansprüche nicht genügend berücksichtigt seien. Zwar wurden im Laufe der Verhandlungen einzelne Textelemente verändert und hin- und hergeschoben, um Besorgnisse der Parteien zu besänftigen. Doch entscheidend mag wohl gewesen sein, dass die Serben den Eindruck gewannen, sie sollten durch taktische Tricks überrumpelt werden, ein NATO-Protektorat über das Kosovo nicht nur hinzunehmen, sondern sogar zu wollen.401 Die Serben wurden aber auch zu Gefangenen ihrer eigenen Propaganda gegen die NATO, mit der sie ihr Land überzogen hatten. Einer in ihren Augen schmählichen Kapitulation konnte sich die Belgrader Führung nicht unterwerfen. Augstein hat schon im Prinzip Recht, wenn er feststellt: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unter400 Der Spiegel 11/1999,S. 209. 401 Im Abkommensentwurf heißt es “invite NATO to constitute and lead a military force...” Marc Weller, Crisis, a.a.O., S. 453ff., S. 464.
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schreiben können.402 Dabei ist nicht zu übersehen, dass ein NATO-Protektorat durchaus objektive Vorteile für die BRJ gehabt hätte. Sicher hätten einzelne bewaffnete Elemente der UCK den bewaffneten Kampf fortgeführt und hätten es dann mit NATO-Truppen zu tun bekommen. Ein Argument, mit dem der Westen der Belgrader Führung eine Zustimmung schmackhaft machen wollte, war ja auch, die NATO werde den jugoslawischen Sicherheitskräften die Arbeit mit der UCK abnehmen. Auch politische Vorteile hätten sich für die BRJ ergeben können wenn es zu einer erfolgreichen Kooperation mit der NATO gekommen wäre. Aufhebung von Sanktionen, stufenweise Aufnahme in die OSZE, Heranführung an die EU wären möglich gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen der jugoslawischen Armee und den Soldaten aus NATO-Ländern hätte Vorurteile abgebaut. Doch ein übergroßes Misstrauen der jugoslawischen Führung gegen eine in ihren Augen von den USA und deren Interessen beherrschte NATO ließ diese möglichen Vorteile nicht zur Geltung kommen.403 Allerdings gewinnt man auch den Eindruck, dass führende NATO-Länder nicht auf einen Kompromiss aus waren, sondern eine bedingungslose Kapitulation der Belgrader Führung wollten. So traf Belgrad schließlich die Entscheidung für die objektiv schlechtere von zwei schlechten Möglichkeiten. Dabei mag eine fatalistische Grundhaltung, einem Krieg ohnehin nicht aus dem Weg gehen zu können, eine Rolle gespielt haben.404 Die NATO war als Organisation an den Verhandlungen offiziell nicht beteiligt. 405 Doch faktisch handelte die Kontaktgruppe für die NATO, da Russland in den Verhandlungen praktisch keine gestaltende Rolle spielte. In der,,Mini-NATO“ der Kontaktgruppe gaben die USA den Ton an. Zu Beginn hatten die Europäer sich noch auf ein UN-Mandat für die NATO-Implementierungstruppe eingeschworen. Doch mit dem klaren amerikanischen Wort, dies komme für die USA überhaupt nicht in Frage, war diese Diskussion beendet. Die NATO-Kriegsdrohung schwebte über der Konferenz; welche reale Bedeutung sie im täglichen Konferenzgeschehen hatte, ist je402 Rudolf Augstein. Arroganz der Macht, in: Der Spiegel 18/1999. S. 24. 403 Auf amerikanischer Seite sah man in einem demokratischen Kosovo einen Katalysator für Demokratisierungsprozesse in ganz Jugoslawien, an deren Ende schließlich die Ablösung der postkommunistischen Belgrader Führungselite stehen sollte. Insofern hatte die Belgrader Führung schon Recht, wenn sie eine,,hidden agenda“ vermutete. 404 Siehe hierzu Anhang 6, Gespräch Holbrooke – Milosevic am 23. März 1999. 405 In Paris waren NATO-Offiziere aus Brüssel zugegen, um Erläuterungen zur militärischen Implementierung geben zu können.
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doch nicht klar ersichtlich. Letztlich erreichte das Bündnis nicht das, was es eigentlich wollte: die jugoslawische Kapitulation durch eine bloße Kriegsdrohung. Doch das Ergebnis schien für die NATO immer noch akzeptabel zu sein. Wichtig war für die USA und für die NATO, dass es nun zu einer Entscheidung kam; denn die schlechteste Lösung wäre ja ein offener Ausgang mit einem Fortgang der Gewalttaten im Kosovo gewesen. Insgesamt kann man die NATO zu den Gewinnern zählen, vor allem auch deshalb, weil sie, ohne direkt anwesend zu sein, eine dominante Rolle im Verhandlungsgeschehen spielen konnte. Einen persönlichen Sieg konnte schließlich auch die amerikanische Außenministerin für sich verbuchen. Sie war es, die entschlossen und zielgerichtet alle NATO-Europäer auf ihren kompromisslosen Kurs zwang und zwischenzeitliche Abweichversuche rigoros unterband. Die EU dagegen zählte zu den Verlierern, nicht so sehr im Hinblick auf das materielle Ergebnis, sondern hinsichtlich der Rolle im Verhandlungsgeschehen. Im Grunde hatte die EU bei den Verhandlungen kein eigenständiges Profil. Am Rande der Verhandlungen entfachte sie sogar noch einen Streit um die zukünftige Führung einer Implementierungsorganisation. Die deutsche EU-Präsidentschaft begnügte sich offenbar mit ihrem Anfangserfolg, einen Beitrag zum Zustandekommen der Konferenz geleistet zu haben und mit dem österreichischen Diplomaten Petritsch einen der drei Verhandler zu stellen. Natürlich sieht dies Petritsch ganz anders. In seinem Buch schildert er, in welchem Maße er persönlich der EU Geltung verschaffen und das Verhandlungsgeschehen steuern konnte. Doch dies ersetzte nicht die deutsche Präsidentschaft, die sich ja weitgehend zurückgezogen hatte bzw. von Briten und Franzosen in den Hintergrund gedrängt worden war. Wie die USA mit der EU umgingen, zeigte sich daran, dass Petritsch bei der HillReise zu Milosevic am 16. Februar zusammen mit seinem russischen Kollegen in Paris „vergessen“ wurde.406 Letztlich haben sich die Europäer mit keiner ihrer Positionen durchgesetzt, wenn diese von den amerikanischen abwichen. Fischer hat recht, wenn er feststellt:,,Je länger der RambouilletProzeß gedauert hat, desto mehr hat sich der Unterschied zwischen den USA und den Europäern verringert.“407 Doch dies war keine gegenseitige Annäherung, sondern ein Einschwenken der Europäer auf die amerikanische Linie.
406 Vgl. Gunter Hofmann, Wie Deutschland in den Krieg geriet. a.a.O., S. 20. 407 Die Zeit 16/1999, S. 3.
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So kann man mit Blick auf die Rolle der internationalen Organisationen feststellen: Vereinte Nationen und OSZE spielten bei den Verhandlungen keine Rolle, die EU eine marginale. Absolut dominant war die NATO, zwar nicht durch direkte Anwesenheit, doch durch das Gewicht ihrer Führungsmacht, der USA, und durch die Führungskraft und Entschlossenheit der amerikanischen Außenministerin. Russland begnügte sich mit einer abwartenden, ja schwachen Rolle. Zwar war der russische Diplomat Majorskij einer der drei Verhandler. Doch diese Verhandler hatten ja nur ein begrenztes Mandat. Für die westlichen Mächte war es wichtig, dass Russland überhaupt dabei war und es den Anschein hatte, die Kontaktgruppe sei geschlossen. Ansonsten kümmerten sie sich kaum um russische Positionen. Man nahm zur Kenntnis, dass Russland strikt gegen eine militärische Implementierungstruppe war, wenn Belgrad dem nicht zustimmte, berücksichtigte diese Position aber nicht. Dass die russische Führung Majorskij nicht zurückgezogen hat, ist schon recht verwunderlich. Von russischer Seite habe man so gehandelt, wird berichtet, um die Konferenz nicht platzen zu lassen. Zwei späte, schon fast verzweifelt anmutende und von vornherein aussichtslose Versuche machte die russische Diplomatie noch, um das Geschehen zu beeinflussen. Am 22. März habe, so Petritsch, Majorskij bei einem Treffen der drei Verhandler mit der Belgrader Führung einen überraschenden, nicht abgestimmten Vorstoß gemacht. Er habe Milosevic,,das nochmalige Aufschnüren des Abkommens“ offeriert und,,den gesamten politischen Teil zur Disposition“ gestellt. Majorskij habe Milosevic aufgefordert, seine Verhandler mit der Fortführung der Gespräche zu betrauen. Doch Milosevic habe dieses überraschende Angebot unbeeindruckt gelassen. Er habe den Rambouillet-Vertrag als Betrug bezeichnet und abschließend gemeint, man werde unter Umständen mit den drei Verhandlern noch Kontakt aufnehmen.408 Ob diese Version die Wirklichkeit wiedergibt, darf in Zweifel gezogen werden. Eines aber ist sicher, dass nämlich die westlichen Kontaktgruppenmitglieder einem,,nochmaligen Aufschnüren“ des Verhandlungspakets, das ja überhaupt noch nicht aufgeschnürt worden war, auf keinen Fall zugestimmt hätten. So soll doch die Geschichte vor allem zeigen, wie störrisch, unnachgiebig und verantwortungslos Milosevic war. Ein allerletzter russischer Versuch wurde dann von Primakow unternommen, als er am 23. März Holbrooke anbot, mit ihm zusammen den politischen Teil in Belgrad zu verhandeln. Doch darüber wurde offenbar im
408 Vgl. Wolfgang Petritsch u.a., Kosovo, Kosova, a.a.0., S. 349.
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NATO-Rat noch nicht einmal gesprochen. Vor dem Hintergrund der eigenen Probleme mit Tschetschenien kam es Russland vor allem darauf an, keinen Präzedenzfall für ein vom Sicherheitsrat nicht autorisiertes militärisches Eingreifen entstehen zu lassen, zumindest sich einem solchen Fall zu widersetzen und ihn zu einem Bruch des Völkerrechts zu erklären. Daneben spielte sicher auch eine Rolle, dass Russland an einer Totalkonfrontation mit dem Westen nicht gelegen sein konnte, war es doch von seiner finanziellen Unterstützung abhängig. Mandelbaum charakterisiert Rambouillet/Paris wie folgt: „Geführt von der amerikanischen Außenministerin Madeleine K. Albright, lud die NATO die Serben und die UCK in das französische Schloss Rambouillet vor, präsentierte ihnen einen detaillierten Plan für politische Autonomie im Kosovo unter NATO-Schirmherrschaft, forderte beide auf, dem zuzustimmen und drohte mit militärischer Vergeltung, wenn einer von beiden sich weigerte. Die Amerikaner verhandelten darüber mit der UCK, erhielten ihre Zustimmung zum Rambouillet-Plan, und als die Serben auf ihrer Weigerung beharrten, warteten die Amerikaner den Abzug der OSZEBeobachter ab und begannen dann zu bomben.409 Rambouillet – zum Misserfolg verdammt? Die Verhandlungen in dem französischen Schloss waren gar keine Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, sondern eine Art Pendeldiplomatie auf engstem Raum, in der Diplomatensprache „Proximity Talks“. Als Konzept für die Verhandlungen diente das Modell von Dayton, mit dem das Ende des Krieges in BosnienHerzegowina erzwungen wurde. Doch gerade die Fixierung auf dieses Modell war wohl mit einer der Gründe, weshalb Rambouillet scheiterte. Denn sowohl hinsichtlich des konkreten Problems als auch in Bezug auf die Parteien bestanden große Unterschiede. An Verhandlungen im üblichen Sinne, die von unterschiedlichen Ausgangspositionen gleichberechtigter Partner zu einem Kompromiss führen, der die Verhandlungspartner befriedigt, war auch gar nicht gedacht.410 Das Konzept der Kontaktgruppe ging davon aus, dass sich die beiden Konfliktparteien von sich aus nicht auf ein Interimsabkommen einigen können und ihnen deshalb eine Lösung aufgezwungen werden müsse. Die den Parteien
409 Michael Mandelbaum, A Perfect Failure, in: Foreign Affairs September/October 1999, S. 2-8, S. 4. 410 Die serbische Seite forderte zwar immer wieder direkte Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, doch sie drang mit dieser Forderung nicht durch. Das Verhandlungskonzept der Kontaktgruppe und die politische Zielsetzung der albanischen Seite standen dem entgegen.
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vorgegebenen Prinzipien waren überhaupt nicht verhandelbar, der zu Beginn der „Verhandlungen“ vorgelegte unvollständige Entwurf sollte nur in engen Grenzen veränderbar sein. Die Prinzipien kamen eher der jugoslawischen Seite entgegen, die konkrete Ausgestaltung dieser Prinzipien im Entwurf eher den Albanern. Für den politischen Teil des Abkommens wäre ein Übereinkommen wohl möglich gewesen. Der eigentliche Konflikt lag in den Regelungen für die Durchsetzung des Abkommens. Hier vertraten nicht nur die Konfliktparteien unvereinbare Positionen, sondern auch innerhalb der Kontaktgruppe herrschte Dissens. Die Kosovo-Albaner bestanden auf einer NATO-Implementierungstruppe, die Serben lehnten eine militärische Implementierungstruppe überhaupt ab. Die fünf NATO-Kontaktgruppenländer waren für eine NATO-Truppe, die Amerikaner machten sie zur conditio sine qua non, die Russen bevorzugten eine internationale Polizeitruppe für die Implementierung und waren auf keinen Fall bereit, den Serben eine militärische Truppe aufzuzwingen. In der Frage der Implementierung waren die Kosovo-Albaner und die USA zu keinerlei Kompromiss bereit, so dass alle Versuche, einen Kompromiss zu erreichen, daran abprallten. Zum Dissens in der Sache kam eine taktische Marschroute der Verhandler, die auf eine Überrumpelung der Serben angelegt war. Die Teile des Entwurfs, die sich mit der militärischen Implementierung befassten, wurden den Parteien erst sehr spät offiziell vorgelegt und auch nur noch in technischen Einzelheiten für veränderbar erklärt. Dieser gegen die serbische Seite gerichtete Coup wurde natürlich durchschaut. Zusätzlich zum sachlichen Dissens be- und verstärkte diese Taktik das ohnehin schon vorhandene Misstrauen der Serben und ihr Gefühl, einem Täuschungs- und Betrugsmanöver ausgesetzt zu sein. Gescheitert war das Rambouillet-Konzept schon vor den abschließenden Gesprächen in Paris. Es war auch zum Scheitern verurteilt, weil es in der Frage des nationalen Prestiges für die Serben keinerlei Kompromissbereitschaft auf Seiten der USA gab. Die USA wollten eine Unterwerfung der jugoslawischen Führung ohne Krieg, sie waren aber auch bereit, einen Krieg hierfür zu riskieren. Die jugoslawische Führung war zu einer kampflosen Kapitulation nicht bereit. In dieser Situation, in der beide Seiten, nämlich die von der amerikanischen Außenministerin entschlossen geführte NATO und die Belgrader Führung, in ihren Denkschemata verharrten und von ihren öffentlich bekundeten Positionen ohne größten Prestigeverlust nicht mehr wegzukommen schienen, war wohl für beide Seiten der Krieg akzeptabler als ein Nachgeben. Beide Seiten verweigerten in den Verhandlungen, die der Verhinderung eines Krieges dienen sollten, die Lösung, zu der sie nach 351
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einem mehrwöchigen Krieg dann aber doch bereit waren. Dies zeigt die ganze Absurdität der Verhandlungsstrategien.
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Zeittafel ‚Die Jugoslawien-Kriege‘411 Peter Becker
Übersicht 4. Mai 1980 Jugoslawiens Staatspräsident Josip Broz Tito stirbt im Alter von 88 Jahren. Schon seit den 60er Jahren gibt es Autonomiebestrebungen in den Einzelrepubliken. Die kroatische separatistische und nationalistische Bewegung steht unter Anführung von Franjo Tudjman. Die Bundesversammlung reagiert darauf mit einer neuen Verfassung, die den Teilrepubliken seit 1974 ein höheres Maß an Autonomie garantiert. Der Kosovo erlangt faktisch den Status einer eigenständigen Republik. 1986 Serbische Intellektuelle fordern im SANU-Memorandum 1986 ein Ende der sogenannten „Diskriminierungen des serbischen Volkes“ und eine Revision der jugoslawischen Verfassung von 1974. Behauptet werden ein Genozid am serbischen Volk im Kosovo und eine Verschwörung Kroatiens und Sloweniens gegen Serbien. Das Memorandum bleibt umstritten. September 1987 Slobodan Milošević wird Vorsitzender der serbischen kommunistischen Partei und 1989 Präsident der Teilrepublik Serbien. März 1989 411 Legende: Im Text finden sich Belegstellen wie folgt: Heinz Loquai: Weichenstellungen für einen Krieg, 2002; in diesem Buch; zit. L … (S.) Jürgen Elsässer: Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milošević–Prozess, 2004; zit. E … (S.); ein umstrittenes Buch, enthält aber viele Belege Marc Weller: The crisis in Kosovo, 1998-99, Cambridge 1999; zit. W … (S.).
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Das serbische Parlament beschließt eine Verfassungsänderung, mit der die Autonomie der Provinzen Kosovo und Vojvodina rückgängig gemacht wird. Es kommt zu Unruhen. Milošević hält am „Vidovdan“ (dem St.-Veits-Tag) eine Rede auf dem Amselfeld, der über eine Million vorwiegend SerbischStämmiger zuhören. Die internen Spannungen verschärfen sich. Franjo Tudjman gewinnt die kroatische Parlamentswahl und fordert eine Revision der Grenzen zu Jugoslawien. Mit einem Verfassungsentwurf wird die Loslösung Kroatiens vom Kommunismus und die Herabstufung der Serben in der kroatischen Provinz Krajina zu einer Minderheit erklärt. Die Regierung ordnet an, die Miliz wieder mit dem im faschistischen Ustaša-Regime (das auf deutscher Seite gekämpft hat) verwendeten Namen zu benennen. Schon vorher hatte Tudjman erklärt, er sei stolz, dass er nicht mit einer Serbin oder einer Jüdin verheiratet sei. 23. Dezember 1990 Bei einer Volksabstimmung in Slowenien stimmen 88,5 Prozent für die staatliche Souveränität Sloweniens. 19. Mai 1991 Bei einer Volksabstimmung in Kroatien stimmen 93 Prozent für die Trennung vom Jugoslawischen Bund. Die serbische Minderheit boykottiert die Abstimmung. 25. Juni 1991 Slowenien und Kroatien proklamieren ihre Unabhängigkeit. 26. Juni 1991 Die jugoslawische Föderation greift Slowenien an. Nach zehn Tagen wird mit dem Brioni-Abkommen unter Vermittlung der EG ein Waffenstillstand geschlossen. Der letzte Soldat der Föderation zieht im Oktober 1991 ab.
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25. Juli 1991 Die Serben der Krajina proklamieren ihre Unabhängigkeit. Juli 1991 Die deutsche Bundesregierung erwägt die völkerrechtliche Anerkennung von Kroatien und Slowenien, was bisher von der EG abgelehnt wurde. September 1991 Serbische Milizen erobern ein Drittel Kroatiens. Es kommt zu einer Waffenruhe. 22. Dezember 1991 Kroatien verabschiedet eine neue Verfassung als einheitlicher und souveräner Staat. 23. Dezember 1991 Die deutsche Bundesregierung erkennt Slowenien und Kroatien als selbständige Staaten an. Die von der EG verlangten Bedingungen für einen solchen Status sind allerdings nicht alle erfüllt. 2. Januar 1992 Der UN-Sonderbeauftragte Cyrus Vance vereinbart mit den Regierungen in Belgrad und Zagreb einen Friedensplan, der die Stationierung von UNTruppen ermöglicht. Diesen gelingt ein Waffenstillstand für ein Jahr. Frühjahr 1992 In Srebrenica leben bei Kriegsausbruch im Frühjahr 1992 etwa ein Drittel Serben.
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Januar 1993 Aus den Resten der abgezogenen jugoslawischen Armee hat sich eine bosnisch-serbische Armee in der Region konstituiert, die eine Gegenoffensive beginnt. Ende Januar 1993 Kroatien startet eine Offensive zur Vertreibung der Serben in der Krajina. Den UN-Vermittlern Owen und Stoltenberg gelingt ein Waffenstillstandsabkommen. April 1993 Der UN-Sicherheitsrat erklärt Srebrenica zur Schutzzone. Dort sind hauptsächlich niederländische Blauhelme stationiert, die sogenannte „Dutchbat“. In der Resolution ist eine Demilitarisierung angeordnet, die aber nicht durchgeführt wird. Mai 1995 Die kroatische Armee startet einen „Blitzkrieg“ gegen die serbisch kontrollierten Gebiete in Westslawonien und erobert diese zurück. Serbische Einheiten beschießen daraufhin die kroatische Hauptstadt Zagreb mit Raketen. 6.-13. Juli 1995 Massaker von Srebrenica: Die bosnisch-serbische Armee greift Beobachtungsposten der Schutzzone an. Mehrere Tausend Frauen, Kinder und vor allem ältere Männer fliehen zum UN-Stützpunkt in Potocari innerhalb der Schutzzone. Es kommt zu Massenhinrichtungen von bis zu 8.000 Männern; umgebracht zum Teil nach einer Aussonderung („Rampe von Srebrenica“). Der Ablauf des Massakers und die Zahl der Opfer sind strittig. Näheres ergibt sich aus • den Aussagen von 406 Dutchbatters, niederländischen Soldaten, eingesetzt von den UN, zusammengefasst im sogenannten debriefing report;
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dem Abschlussbericht der niederländischen Armee, verfasst vom niederländischen Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) im Herbst 1996 nach einer Befragung von über 900 Zeugen. Nach der Vorlage übernahm die niederländische Regierung unter Ministerpräsident Wim Kok die politische Verantwortung und trat zurück; • der Untersuchungskommission der französischen Nationalversammlung vom November 2001. • den Kriegsverbrecherprozessen vor dem International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY). • Der ICTY und der IGH sprechen von „Völkermord“ (vgl. dazu E 43 ff.). 24. Juli 1995 Der Kommandeur der Dutchbat, Thomas Karremans, sagt: „Die Schlacht um Srebrenica war von den Serben eine korrekte militärische Aktion. Sie haben auch absichtlich das Bataillon nicht direkt beschossen. Mladić hat uns auf schlaue Weise ausmanövriert.“ (MRC-Handelsbladt v. 24.7.1995); wohl eine Aussage mit Blick auf die laufende Untersuchung.
August 1995 Nach einer kroatischen Großoffensive flüchten über 150.000 Serben aus der Krajina. 30. Oktober 1995 Verteidigungsminister Vourhouve legt den debriefing report vor und spricht von „mehreren Tausend“ Opfern der Serben. Die Beobachtungen der Soldaten in dem Report sprechen nur für einige hundert bis eintausend Tote, und zwar als Opfer von „Kämpfen zwischen der bosnisch-serbischen und der bosnisch-muslimischen Armee“ (niederländisches Verteidigungsministerium, S. 80). Andererseits werden bis zu 8.000 Leichen in Massengräbern gefunden (Wikipedia: Massaker von Srebrenica, m. w. N.).
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Oktober 1995 Deutschland dringt bei den Dayton-Verhandlungen über einen Friedensschluss in Bosnien auf Einbeziehung der Kosovo-Frage. Das misslingt (E 72). Februar 1996 Die kosovo-albanische bewaffnete Untergrundorganisation Ushtria Çlirimtare e Kosovës (UCK) entsteht. Januar 1997 In München kommt es zu vermittelnden Gesprächen zwischen Beratern des serbischen Präsidenten Milošević und den Vertretern der kosovo-albanischen Führung (E 73). Ende November 1997 Bei einem Begräbnis hält ein Kämpfer der UCK eine Ansprache mit „einer Art Kriegserklärung an die serbische Besatzungsmacht“ (Bündnis 90/Die Grünen, Der Kosovo-Krieg, Bonn 1999, 10). Vor 1998 Die UCK startet eine Großoffensive, in deren Verlauf sie über ein Drittel des Kosovo unter ihre Kontrolle bringt (E 75). 28. Februar 1998 Die serbische Polizei tötet 58 Mitglieder der Jasheri-Familie (Hoffmann: Wie Deutschland in den Krieg geriet, ZEIT-Dossier vom 17).
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Ende Februar/ Anfang März 1998 Die UCK greift zwei serbische Polizeipatrouillen an. Vier Polizisten werden getötet. Die Polizei startet eine Such- und Vergeltungsoperation, bei der sie brutal und rücksichtslos vorgeht (L 230). 31. März 1998 Der VN-Sicherheitsrat verabschiedet die Resolution 1166. Diese verurteilt die exzessive Gewalt der serbischen Polizei gegen Zivilisten und friedliche Demonstranten im Kosovo, alle terroristischen Handlungen durch die UCK oder irgendeine andere Gruppierung oder Einzelperson, jede Unterstützung terroristischer Aktivitäten im Kosovo von außerhalb, einschließlich Geld, Waffen und Ausbildung. Der Sicherheitsrat stellt fest, er werde nach Kapitel VII der Charta tätig. Das ist eine Voraussetzung für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Art. 39 ff. der Charta, einschließlich militärischer Maßnahmen. 28. Mai 1998 NATO-Außenministertreffen: Deutschland votiert für ein militärisches Eingreifen in den Konflikt, treibende Kraft war Verteidigungsminister Rühe (CDU). Die Allianz folgt der deutschen Initiative. Loquai schreibt: „Über den genauen Zeitpunkt des Abschlusses der Planungen äußerten sich die verantwortlichen Generale Naumann und Clark in einer ZDF-Sendung am 21. September 1999 widersprüchlich. Naumann meinte, im September 1998 seien die Planungen begonnen worden, nach Clark waren sie bereits Ende Juni 1998 beendet [ZDF-Sendung „Chronik eines angekündigten Krieges. Eine Bilanz des Kosovo-Konflikts“, 21. September 1999]. (L 238, Fußn. 146).
16. Juni 1998 Die Deutsche Botschaft in Belgrad berichtet an das AA. In einem Zusatz zu diesem Bericht heißt es: „Abschließend möchte die Botschaft klarstellen, daß es ihr keineswegs darum geht, die serbische Seite von Schuld freizusprechen. Es scheint aber aufgrund der hier bisweilen als eher stark einseitig pro-albanisch empfundenen Berichterstattung westlicher Medien (bedingt natürlich auch durch das völlige Fehlen einer serbischen Öffentlichkeitsarbeit, die diesen Namen auch verdient) gebo-
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ten, immer wieder darauf hinzuweisen, daß das Kosovo-Problem eine Vielzahl von Zwischentönen enthält, die bei plakativer Darstellung verlorengehen, und auf mögliche Folgen hinzuweisen, sofern diese Aspekte unberücksichtigt bleiben.“ (L 212).
15. Juli 1998 Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses erklärt vor dem NATO-Rat in Brüssel, die Zeit arbeite für die UCK, für die jugoslawischen Sicherheitskräfte werde es immer schwieriger, die Lage zurückzugewinnen (L 231). Ab Mitte Juli 1998 Die Auseinandersetzungen eskalieren. Die UCK trägt den Kampf in die Städte und lässt sich auf größere Gefechte ein, die sie verlieren musste. In der Gegenoffensive erleidet die UCK schwere Verluste. Aus Angst vor der Gewalt flieht die Zivilbevölkerung. In dieser für die Zivilbevölkerung verzweifelten Lage intervenieren die Vereinten Nationen, die OSZE und die NATO (L 39). Spätsommer 1998 Die jugoslawische Armee erobert einen Teil der besetzten Gebiete im Zuge einer Gegenoffensive großenteils zurück. In den westlichen Zeitungen wird über serbische Massaker berichtet. Das Auswärtige Amt fragt: Betreiben die Sicherheitskräfte „eine gezielte Vertreibungsstrategie, eine Politik der verbrannten Erde“ (E 75)? August/September 1998 Die militärischen Auseinandersetzungen provozieren Flüchtlingsströme: • 29.7.1998: 50.000 Flüchtlinge • 24.8.1998: 235.000 Flüchtlinge • 8.9.1998: 281.000 Flüchtlinge • 30.9.1998: 292.000 Flüchtlinge (UN Inter-Agency Updates on Kosovo, zitiert in: W 264).
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23. September 1998 Resolution 1199: Im Bericht an den Sicherheitsrat vom 11. September spricht VN-Generalsekretär Kofi Annan davon, dass angesichts des nahenden Winters die gegenwärtige humanitäre Krise zur „humanitären Katastrophe“ werden könne. Der Sicherheitsrat nimmt diesen Begriff in die Resolution auf. Er fordert • die sofortige Einstellung aller Feindseligkeiten und die Einhaltung einer Waffenruhe, • den Rückzug der Einheiten der Sicherheitskräfte, „die zur Unterdrückung der Zivilbevölkerung eingesetzt werden“, • die Ermöglichung einer wirksamen und fortgesetzten Überwachungstätigkeit im Kosovo. Mitte September 1998 Die NATO schließt ihre Planungen für einen Krieg gegen Jugoslawien ab (L 241). Vorab hat die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright ihre Auffassung durchgesetzt, dass für einen Luftkrieg gegen Jugoslawien kein Mandat des VN-Sicherheitsrats erforderlich sei. Der amerikanische Diplomat Holbrooke meint in einer Pressekonferenz, „damit habe Madeleine Albright die meiste Zeit des Sommers verbracht“ (W 298). Loquai sieht einen Zusammenhang zur Lewinsky-Affäre: Dem amerikanischen Präsidenten Clinton habe sie die Möglichkeit gegeben, außenpolitische Handlungsfreiheit und Entschlusskraft zu demonstrieren, um die zum Eingreifen drängenden amerikanischen Medien durch eine krisenhafte Zuspitzung zufriedenzustellen und in der Außenpolitik innenpolitisch entlastet zu werden. Loquai schreibt: „Diese innenpolitischen Gegebenheiten waren – wie diplomatische Kreise in Washington urteilten – ein wichtiges Motiv für die Kosovo-Politik der USA zu dieser Zeit.“
24. September 1998 Die NATO löst die Stufe „Activation Warning“ aus. Der NATO-Oberbefehlshaber Europa kann die Mitgliedstaaten offiziell auffordern, Kontingente für die Beteiligung am Luftkrieg zu melden.
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2. Oktober 1998 Der amerikanische Verteidigungsminister Cohen erklärt am 2. Oktober, die NATO-Luftangriffe könnten in zwei Wochen erfolgen. 5. Oktober 1998 Der russische Außenminister teilt dem OSZE-Vorsitzenden einen ersten Erfolg seiner Gespräche mit der jugoslawischen Führung mit. Diese war offenbar bereit, eine OSZE-Mission im Kosovo zuzulassen. 6. Oktober 1998 Der jugoslawische Außenminister spricht eine Einladung an die OSZE aus. 6. Oktober 1998 Die Deutsche Botschaft in Belgrad meldet an das AA, die Beobachter vor Ort hätten in den letzten Tagen freien Zugang zu allen Gebieten. Die jugoslawische Armee habe sich fast vollständig in die Kasernen zurückgezogen. Die Flüchtlingssituation scheine sich etwas zu entspannen. Mit dem Rückzug der Sicherheitskräfte komme die UCK zurück. Sie würde versuchen, in das entstandene Vakuum zu stoßen (L 242). 8. Oktober 1998 Präsident Clinton verkündet, er habe die amerikanische NATO-Botschaft angewiesen, NATO-Luftangriffen gegen Serbien im NATO-Rat zuzustimmen, falls Präsident Milošević fortfahre, sich der Internationalen Gemeinschaft zu widersetzen. 9. Oktober 1998 Der amerikanische Diplomat Richard Holbrooke nimmt Gespräche mit dem jugoslawischen Präsidenten auf.
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9. Oktober 1998 Nachdem SPD und Grüne die Bundestagswahl gewonnen haben, machen der designierte Bundeskanzler Schröder und der designierte Außenminister Fischer ihren Antrittsbesuch in Washington. Der frühere Botschafter Joetze beschreibt in einem Buch (Der letzte Krieg in Europa?, 2001) die deutsche Position so, man wolle die NATO-Entscheidung nicht riskieren, aber die Bundeswehr solle an der Ausführung nicht teilnehmen, „wegen der historischen Belastungen“ und wegen der „inneren politischen Situation“. Auf jeden Fall wolle man warten, bis der neue Bundestag zusammengetreten und die neue Bundesregierung konstituiert sei (Joetze, 37). 10. Oktober 1998 Holbrooke behauptet schon am nächsten Morgen gegenüber Milošević, die Deutschen seien an Bord, er könne jeden Hintergedanken auf das deutsche Wahlergebnis vergessen (W 298). 12. Oktober 1998 Holbrooke und Milošević einigen sich über die OSZE-Mission, in deren Verlauf 2.000 Beobachter die Situation im Kosovo untersuchen und Vorschläge zur Deeskalation machen sollen. Präsident Milošević übernimmt die folgenden Verpflichtungen: •
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„Vollständige Erfüllung der Forderungen der VN-Resolution 1199, einschließlich eines sofortigen Waffenstillstandes, Rückzug der nicht im Kosovo ständig stationierten Truppen, sofortiger Zugang der humanitären Hilfsorganisationen zu den Hilfsbedürftigen, Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag, Akzeptierung eines strengen Verifikations-Regimes, einschließlich einer OSZE-Mission mit bis zu 2.000 „Verifikateuren“ im Kosovo und einer NATO-Luftüberwachung mit unbeschränkten Überflugrechten in der Provinz, Erstellung eines Zeitplans für den Abschluss einer politischen Vereinbarung, die dem Kosovo eine Selbstverwaltung und eine lokale Polizei gibt.“ (L 247 mit Mitteilung des US-Außenministeriums vom 13.10.1998).
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12. Oktober 1998 Washington verlangt innerhalb von 15 Minuten von den Deutschen eine Entscheidung (Gunter Hofmann, ZEIT-Dossier, 18). Hofmann meint, man habe „vollendete Tatsachen bei den Neulingen in Bonn“ schaffen wollen. Loquai sieht ein „eigenartiges Szenario“: Die USA benutzten das angebliche Verhalten des jugoslawischen Präsidenten, um auf Deutschland Zeitdruck auszuüben, sie instrumentalisierten das angebliche deutsche Verhalten, um Milošević unter Druck zu setzen. Spiegelbildlich seien der deutsche Bündnispartner und der jugoslawische Präsident geblufft worden (L 245 f.). 12. Oktober 1998 Die (CDU/FDP-) Bundesregierung beantragt beim Deutschen Bundestag ein militärisches Eingreifen in Jugoslawien. 13. Oktober 1998 Der NATO-Rat stimmt mit einer „Activation Order“ dem Einsatzbefehl für einen Luftkrieg gegen Jugoslawien zu. 15. Oktober 1998 Der Oberbefehlshaber der NATO in Europa, General Clark, und der jugoslawische Generalstabschef Generaloberst Perišić schließen ein Luftüberwachungs-Abkommen. 16. Oktober 1998 Der polnische Außenminister Geremek als Ratsvorsitzender der OSZE und der jugoslawische Außenminister Jovanovic unterzeichnen eine Vereinbarung über die OSZE-Mission im Kosovo.
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16. Oktober 1998 Der Deutsche Bundestag debattiert über den Antrag der Bundesregierung zum militärischen Eingreifen in Jugoslawien, der Sache nach der Bombardierung Serbiens. Die Probleme der Abgeordneten: • Die Faktenlage ist unklar: Die Abgeordneten kennen das Milošević-Holbrooke-Abkommen nicht und können daher in ihre Erwägungen nicht einbeziehen, dass eine erfolgreiche OSZE-Mission einen Krieg verhindern kann. • Deutschland hat als NATO-Partner Luftschlägen bereits zugestimmt. Damit besteht ein fait accompli, das in der Diskussion als Verpflichtung zur „Bündnissolidarität“ erscheint. • Deutschland wäre EU-weit isoliert, wenn dem Eingreifen nicht zustimmt wird. • Den Abgeordneten ist klar, dass der VN-Sicherheitsrat keine Ermächtigung zu einem militärischen Eingreifen erteilt hat. • Sie beruhigen ihr Gewissen mit der Verpflichtung zur Verhinderung einer „humanitären Katastrophe“. • Die Standfestigkeit der „humanitären Intervention“ als Ermächtigung zum militärischen Eingreifen außerhalb der VN-Charta kann nicht abschließend beurteilt werden. • Nur zwei Abgeordnete beurteilen die völkerrechtliche Lage zutreffend, Burkhard Hirsch/FDP, der mit „Nein“ stimmt, Ludger Volmer/Grüne, der sich enthält. • Der Abgeordnete Verheugen geht davon aus, dass das eigentliche militärische Eingreifen einer erneuten Befassung des Bundestags bedarf und nimmt damit eine Äußerung Schröders in der Debatte auf. 27. Oktober 1998 Der NATO-Generalsekretär und die amerikanische Außenministerin bestätigen, dass die jugoslawische Seite ihre Verpflichtungen hinsichtlich des Abzugs der Polizei und der Streitkräfte weitgehend erfülle. Die parlamentarische Versammlung der NATO kommt zu dem Fazit, dass die UCK das Milošević-Holbrooke-Abkommen als Atempause nutze, um ihre Kräfte neu zu gruppieren. Sie sammelt Spenden, wirbt Rekruten und schmuggelt Waffen über die albanische Grenze. Die Angriffe der UCK auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten nehmen ab September 1998 stark zu. Der
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Konflikt eskaliere neuerlich, „um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche die NATO zur Intervention bewegen würde“. General Klaus Naumann, seinerzeit Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, kommentiert: „Die UCK spielte im Grunde eine Rolle, die uns den Erfolg des Herbstes 1998 kaputtgemacht hat“ (in der ZDF-Sendung „Chronik eines angekündigten Krieges. Eine Bilanz des Kosovo-Konflikts“ vom 21. September 1999). Das Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr schreibt: „Belgrad hielt sich zunächst weitgehend an die getroffenen Vereinbarungen. Es war jedoch abzusehen, dass die serbischen Sicherheitskräfte das vom Geist der VN-Resolution abweichende Verhalten der UCK auf Dauer nicht tolerieren würden.“ (Stand 03/2000, 43, L 277, Fußn. 244).
30. Oktober 1998 Die Stabsabteilung FüS II des Verteidigungsministeriums gibt ein „Konzept zur Nachrichtengewinnung und Aufklärung im Rahmen der NATO-AirVerification Mission Kosovo“ heraus, das Loquai folgendermaßen kommentiert: „Für den Kosovo-Konflikt werteten die Stabsabteilung II im Führungsstab der Streitkräfte und das Amt für Nachrichtenwesen vor allem die militärische Lage, das Auswärtige Amt die politische und humanitäre Lage aus. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die militärischen Experten und die Diplomaten die ihnen verfügbaren Informationen kompetent verarbeiteten und die Lage objektiv darstellten und bewerteten.“ (L 214 f.).
3. November 1998 Der norwegische Chef des Stabes der Kosovo-Verification-Mission (KVM) berichtet, dass sich die Lage in Pristina wesentlich verbessert habe, größere Zusammenstöße gebe es nicht mehr. 18. November 1998 Im Lagebericht des AA (Stand November 1998) heißt es: „Im Kosovo kam es nach den Polizeiaktionen von Ende Februar/Anfang März 1998 zu einer erhöhten Eskalation und Militarisierung des Konflikts. Seit April 1998 war ein starker Anstieg der Anschläge auf Polizisten und Polizeieinrich-
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tungen zu verzeichnen. Die Polizei musste sich in der Folge aus zahlreichen betroffenen Gebieten zurückziehen. Die Gebiete wurden ausschließlich von der UCK kontrolliert. In den ‚befreiten Gebieten‘ […] kam es zum völligen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung […] Seit dem 24.7.1998 hatten Polizei und Armee begonnen, die Kontrolle über ‚befreite Gebiete‘ wiederherzustellen […] Ziel der serbischen Sicherheitskräfte ist es seitdem, die in die Wälder geflüchteten UCK-Kämpfer von Überfällen auf die Straßenverbindungen abzuhalten und ein Wiedereinsickern in die zurückeroberten Gebiete zu verhindern […] Ein klares Bild über die weitere Entwicklung lässt sich zurzeit nur schwer gewinnen. Nach dem durch das Milošević-Holbrooke-Abkommen erforderlich gewordenen Rückzug der Sicherheitskräfte aus dem Konfliktgebiet ist es vielerorts zu einer Rückkehr der UCK in kosovo-albanische Dörfer gekommen.“ (E 298 f.)
20./21. November 1998 Das VN-Flüchtlingshilfswerk berichtet, es gebe keine Flüchtlinge mehr, die im Freien lebten. Die Lage für die Zivilbevölkerung verbessert sich deutlich. Die Flüchtlinge kehren zurück. November 1998 Der Aufbau der KVM erfolgt schleppend. Die OSZE-Mitgliedstaaten halten zwar Millionen von Soldaten für den militärischen Einsatz bereit. Aber für Friedenseinsätze ist keine ausreichende Vorsorge getroffen. Deutschland leistet seinen Beitrag zur Unterstützung der OSZE „auf Arbeitsebene“, aber die Regierung versäumt es, ihren Ankündigungen Taten folgen zu lassen (L 270). 15./16. Januar 1999 „Massaker von Racak“. Am 15. Januar war es um und in Racak, wo die UCK einen Standort unterhielt, zu schweren Kämpfen gekommen, die von zwei Beobachtern der OSZE in ihren Fahrzeugen überwacht wurden. Die serbische Polizei hatte die Presse informiert. Journalisten von Le Figaro und Le Monde (Christophe Châtelot, Le Monde 21.1.1999) haben die Auseinandersetzungen beobachtet […] Es habe Tote auf beiden Seiten gegeben.
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Am 16. Januar 1999 fanden zwei Trupps der OSZE-Mission im Verlauf des Morgens 40 tote Kosovo-Albaner an mehreren Stellen in Racak und in der Nähe des Dorfes. Der amerikanische Leiter der OSZE-Mission William Walker informierte das amerikanische Außenministerium, begab sich zum Tatort und erklärte, es habe „Grausamkeiten gegen unschuldige Zivilisten“ gegeben. Der Begriff „Massaker“ wurde zunächst nicht verwendet. In der Pressemitteilung von Walker hieß es allerdings: • Es seien 45 Leichen gefunden worden, darunter drei Frauen und ein Kind. • Die Opfer seien offenbar dort, wo sie lagen, exekutiert worden. • Alle Toten seien in Zivilkleidung gewesen, es handele sich um einfache Dorfbewohner. • Er zögere auch nicht, die Sicherheitskräfte der Regierung als dafür Verantwortliche anzuklagen. • Er zögere nicht, dies als Massaker und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen. 17. Januar 1999 In einer Pressemitteilung des serbischen Präsidenten Milutinović heißt es, am 15. Januar habe eine Polizeiaktion zur Verhaftung eines Terroristen stattgefunden, der vorher einen serbischen Polizisten erschossen habe. Die Polizei war unter Beschuss geraten und habe hierauf geantwortet […] Walker [habe] die Justizbehörden daran gehindert, am Tatort ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen. Walker selbst sei mit von ihm persönlich eingeladenen Journalisten gekommen und habe falsche Erklärungen und persönliche Bewertungen abgegeben (L 300). 18. Januar 1999 Die Deutsche Botschaft in Belgrad berichtet über die Äußerungen jugoslawischer Regierungsstellen und Medien. Der stellvertretende serbischer Ministerpräsident Seselje habe festgestellt, zahlreiche Verificateure seien im Kosovo, um den Terroristen logistische Unterstützung zu geben. Walker arbeite für die CIA, sei wichtigster Beschützer albanischer Banden […] Die Sicherheitskräfte hätten lediglich auf einen Terrorangriff reagiert, die Leichen seien später verstümmelt worden, um NATO-Angriffe zu provozieren (L 301).
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18. Januar 1999 Der deutsche OSZE-Botschafter für die EU hebt hervor, dass für die Ermordung unbewaffneter Zivilisten das „Militär und die Polizei der DRJ die Schuld tragen“. Der amerikanische Botschafter zeigt sich empört über das „Massaker in Racak“. Der deutsche Diplomat Bernd Borchardt erklärt, es habe in Racak eine „klassische Exekution“ gegeben. Der norwegische Botschafter Eide stellt fest, den verfügbaren Informationen zufolge seien viele Opfer „brutal hingerichtet worden“. 19. Januar 1999 Jugoslawische und weißrussische Gerichtsmediziner beginnen in der Universität von Pristina mit Autopsien der 40 Leichen, die von der OSZE-Mission in Racak vorgefunden worden waren. 20. Januar 1999 Der französische Stellvertreter Walkers und Leiter der politischen Abteilung der KVM, Botschafter Gabriel Keller, erklärt in einem Interview, es gebe einen starken Verdacht, dass serbische Kräfte das Racak-Massaker ausgeführt hätten. Jedoch: „Selbst wenn es nur eine einprozentige Chance gibt, dass dies nicht so ist, wie wir glauben, müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen und der Internationalen Gemeinschaft nur Schlussfolgerungen präsentieren, die vollständig verifiziert sind.“
Die amerikanische Seite kritisiert diese Äußerung. Keller sei Walker in den Rücken gefallen (L 299). 22. Januar 1999 Eine finnische Expertengruppe untersucht die Opfer. Die Ergebnisse werden vom Auswärtigen Amt veröffentlicht. Dort heißt es, dass es „keine Hinweise [gab], dass es sich bei den Betroffenen nicht um unbewaffnete Zivilpersonen handelte“. Ob es sich jedoch um ein „Massaker“ gehandelt habe, „fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich des forensischen Teams der EU“. Die Leiterin der Gruppe, Frau Dr. Ranta, kritisiert, dass das Gebiet nicht abge-
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sperrt worden sei. Später distanzieren sich einige Mitglieder der Untersuchergruppe von den Ergebnissen (L 304). 25. Januar 1999 Das „Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr“ berichtet der Bundesregierung: „In Racak sollen Experten der OSZE sowohl Beweise für ein Massaker als auch Manipulationen am Tatort gefunden haben. Es soll festgestellt worden sein, dass am Schauplatz Veränderungen vorgenommen worden sind. […] Danach soll nur ein Teil der 45 Opfer an ihrem Fundort umgebracht worden sein. […] Einige der getöteten Kosovo-Albaner sollen nicht bei einem Massaker, sondern bei Kämpfen mit den serbischen Sicherheitskräften ums Leben gekommen sein.“ (L 311.).
6. Februar 1999 Im Schloss Rambouillet beginnt eine Friedenskonferenz unter Beteiligung der USA, geführt von Chris Hill, der EU, geführt von Wolfgang Petritsch, Russlands, geführt von Boris Majorski, Jugoslawiens unter Einschluss von Vertretern aller nicht-albanischen Volksgruppen im Kosovo, geführt vom serbischen Präsidenten Milan Milutinović, der Kosovo-Albaner, geführt von Hashim Thaçi (der von Belgrad steckbrieflich gesucht wird). Den Konferenzvorsitz haben die Außenminister Großbritanniens und Frankreichs, Robin Cook und Hubert Védrine. Sporadisch nehmen auch die US-Außenministerin Madeleine Albright und der deutsche Außenminister Joseph Fischer teil. 16. Februar 1999 Die serbische Seite stimmt einer internationalen Militärtruppe auf jugoslawischem Gebiet zu und schlägt vor, die Mission „einer auf 5.000 bis 6.000 Mitglieder verstärkten OSZE-Mission zu übertragen. Den Verificateuren könnte auch gestattet werden, leichte Waffen zu tragen.“ (L 336).
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17. Februar 1999 Milošević bietet an, „für die Implementierung einen gemeinsamen Stab aus NATO und jugoslawischer Armee zu bilden“. 19. Februar 1999 Zwei Tage vor dem geplanten Ende der Konferenz legt die NATO zum weitgehend ausverhandelten Abkommen einen „Annex B“ vor. Danach sollen der NATO jugoslawienweite Inspektionsrechte zukommen. Der serbische Delegationsleiter Milutinović kritisiert, „man habe versucht, den Serben ein Abkommen nach den Vorstellungen der Terroristen und Separatisten aufzudrängen. Nur 18 Stunden vor dem Schlusstermin habe man überraschend ein einseitiges Dokument von 81 Seiten vorgelegt, davon 56 Seiten völlig unbekannter Text, über den nie verhandelt worden sei und der den serbischen Standpunkt in keiner Weise berücksichtigt“ (Neue Züricher Zeitung vom 24.2.1999).
Dazu stellt der Untersuchungsbericht des britischen Unterhauses vom 23. Mai 2000 fest: „Wir schlussfolgern, dass die NATO, was immer die direkten Folgen des Militär-Annexes der Rambouillet-Vorschläge auf die Verhandlungen gewesen ist, sich einen ernsthaften Fehler hat zuschulden kommen lassen, weil sie ein Truppenstatusabkommen (status of forces agreement) im Verhandlungspaket zugelassen hat, das niemals für Jugoslawien annehmbar war, weil es ein schwerer Verstoß gegen seine Souveränität war“ (E 105).
25. Februar 1999 Der Deutsche Bundestag befürwortet die Beteiligung der Bundeswehr an einer Implementierungstruppe eines möglichen Rambouillet-Abkommens. Ende Februar 1999 Milutinović bietet Madeleine Albright ein Stationierungsabkommen für die US-Army an, allerdings unter der Bedingung, dass die Truppen keine Freizügigkeit in ganz Jugoslawien haben.
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8. März 1999 Die WELT titelt: „Ob es ein Massaker war, will keiner mehr wissen“. Ein OSZE-Diplomat wird mit den Worten zitiert: „Eine heiße Kartoffel ist dieser Bericht, keiner will ihn so richtig.“ 13. März 1999 Die Berliner Zeitung schreibt, dass nach „Erkenntnissen“ von „hochrangigen europäischen OSZE-Vertretern“ in Racak eine „Inszenierung durch die albanische Seite“ stattgefunden habe (E 89). 15. März 1999 Die Friedenskonferenz in Rambouillet wird wieder aufgenommen. Außenminister Fischer vertritt die Auffassung, dass über die unterschriftsreif vorliegende Vereinbarung nicht weiter verhandelt werden könne: „Eine von der NATO geführte Friedenstruppe bleibe ein unumstößlicher Bestandteil der Vereinbarung“ (Neue Züricher Zeitung vom 15.3.1999). Rudolf Augstein schreibt (Der SPIEGEL 18/1999): „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Volksschulbildung hätte unterschreiben können.“
19. März 1999 Die Konferenz endet. US-Vermittler Richard Holbrooke versucht noch einen Kompromiss. Jedoch hätten die Europäer „die Clinton-Administration davon überzeugt, dass jedes neue diplomatische Ultimatum die westliche Entschlossenheit beeinträchtigen und die militärische Situation auf dem Boden im Kosovo verschlechtern könne“ (International Herald Tribune, 20.3.1999).
19. März 1999 Nach einem Lagebericht des Auswärtigen Amtes warnt die jugoslawische Armee die Zivilbevölkerung bei geplanten Angriffen. Jedoch sei die Evakuierung der Zivilbevölkerung vereinzelt durch die UCK-Kommandeure
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unterbunden worden. Nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung meist in die Ortschaften zurück. Nach Schätzung des UNHCR müssten bisher lediglich etwa 2.000 Flüchtlinge im Freien übernachten. Es gibt keine Massenflucht. Verteidigungsminister Scharping erklärt allerdings im April 1999: „Im März 1999, vor der Ausreise der OSZE-Beobachter […] stieg die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen auf über 500.000“. 24. März 1999 Die Bombardierung Jugoslawiens beginnt. 2. April 1999 Der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, sagt in einem Interview im Freitag: „Die jugoslawische Armee [hat sich] an die getroffenen Festlegungen gehalten. Von der UCK wurden sie systematisch unterlaufen, so dass es zu einer unheilvollen Kette von Provokationen gekommen ist.“
Der NATO-Militärausschussvorsitzende, der deutsche General Naumann, sagt in der ZDF-Reportage „Chronik eines angekündigten Kriegs“ vom 21. 06.1999: „Die UCK spielte im Grunde eine Rolle, die uns den Erfolg des Herbstes 1998 kaputtgemacht hat. Sie stießen in das Vakuum, das der Abzug der Serben hinterlassen hat, nach und breiteten sich in einer Weise aus, die vermutlich niemand in irgendeinem unserer Staaten akzeptiert hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Deutschland akzeptiert würde, wenn da irgendjemand, der meint, sich gegen den Staat auflehnen zu müssen, Straßensperren errichtet, Grenzposten, anfängt Uniformen zu tragen, Waffen zu spenden. Wir würden das auch nicht tolerieren.“
April 1999 Die Juristen-Organisation IALANA veröffentlicht Lageberichte des Auswärtigen Amtes für Asylverfahren vor den Verwaltungsgerichten zur Situation im Kosovo; Berichte werden auch im Anhang des Buchs von Elsässer zitiert (E 295 ff.). 373
Peter Becker
8. Februar 2001 Frau Dr. Ranta sagt im ARD-Nachrichtenmagazin Monitor: „Ich bin mir bewusst, dass man sagen könnte, die ganze Szene in diesem kleinen Tal sei gestellt gewesen. Ich bin mir dessen bewusst. Denn dies ist tatsächlich eine Möglichkeit. Diesen Schluss legen unsere ersten Untersuchungsergebnisse genauso nahe, wie auch unsere späteren forensischen Untersuchungen, die wir im November 1999 direkt vor Ort vorgenommen haben.“
August 2001 Das UN-Tribunal in Den Haag hat Exhumierungsarbeiten in und um Srebrenica koordiniert. Es gab sechs Jahre nach den fraglichen Ereignissen die Gesamtzahl der gefundenen Leichen mit „mindestens 2.028“ an, die aus 21 Massengräbern geborgen worden waren. November 2001 Eine Untersuchungskommission der französischen Nationalversammlung legt ihren Srebrenica-Bericht vor. Dort findet sich ein Hinweis auf die Verwicklung der Vereinigten Staaten in die Ereignisse. Demnach hat UN-Generalsekretär Kofi Annan am 15. November 1999 „ein internes Treffen der bosnischen (muslimischen) Führung vom 28. und 29. November 1993 erwähnt, auf dem Präsident Izetbegović erklärt habe […] er habe in Erfahrung gebracht, dass eine Intervention der NATO in Bosnien-Herzegowina möglich sei, aber nur stattfinden könne, wenn die Serben gewaltsam in Srebrenica eindringen und dort mindestens 5.000 Personen massakrierten.“ (E 63).
April 2002 Der NIOD-Bericht wird vorgelegt und führt zum Rücktritt der Regierung. Dort wird vom Autor, der ungehinderten Zugang zu den Akten des niederländischen Geheimdienstes hatte, Folgendes berichtet: „Da haben wir die ganze Geschichte der geheimen Allianz zwischen dem Pentagon und radikalen islamistischen Gruppen aus dem Mittleren Osten, die den bosnischen Muslimen beistehen sollten – einige davon dieselben Gruppen, die das Pentagon jetzt bekämpft.“ (E 62).
Ferner sei es unwahrscheinlich, dass das Massaker geplant worden war. Angesichts der großen Zahl von Gefangenen hätten die bosnischen Serben die
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Selbstkontrolle verloren. Und: „Es gibt keine Hinweise auf eine politische oder militärische Verbindung [des bosnisch-serbischen Generalstabes] nach Belgrad.“
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Übersicht I.
Wer sollte über Krieg und Frieden entscheiden – Kaiser, Kanzler oder Parlamente? II. Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beteiligung deutscher Soldaten an Friedensmissionen 1. Das "out of area"-Urteil 2. Parlamentsvorbehalt 3. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz III. Der erste Ernstfall: Die Beteiligung Deutschlands am Krieg der NATO gegen Jugoslawien; genauer: Serbien IV. Die Bundestagsdebatte über die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien vom 16. Oktober 1998 1. Der Antrag der Bundesregierung 2. Die Mängel der Regierungsvorlage 3. Die Bundestagsdebatte vom 16. Oktober 4. Verständnis für die Entscheidung des Bundestags V. Die zivilen Elemente der Konfliktschlichtung müssen in das Bundestagsmandat eingebunden werden 1. Die rechtlichen Vorgaben: VU-Charta, Lissabon-Vertrag, Grundgesetz 2. Die Erfahrungen mit VN-Missionen 3. Inhaltliche Vorgaben und Verfahrensweisen in der Europäischen Union a) Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) b) Die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) 2003 c) Vertrag von Lissabon d) Das Stabilitätsinstrument e) Beteiligung des Europaparlaments bei Friedensmissionen 4. Die EU: Friedens- und/oder Militärmacht? 5. Die Lage in Deutschland a) Der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" b) Die institutionelle Seite c) Die Kritik der Friedenswissenschaft an den Friedensmissionen und an der Vernachlässigung der zivilen Konfliktbearbeitung VI. Die verfassungsrechtliche Verankerung des erweiterten Parlamentsvorbehalts 1. Das Friedensgebot des Grundgesetzes 2. Die konkrete bündnispolitische Anforderung 3. Parlamentarische Budgethoheit 4. Friedensrechtlicher Parlamentsvorbehalt
378 382 382 384 386 387 389 389 391 395 398 399 399 401 404 404 405 405 407 409 410 414 414 417 417 420 420 423 424 425
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Peter Becker VII. Die Afghanistan-Mission 1. Die Beschlusslage 2. Die Entwicklung 3. Die Stellungnahme der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD „Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik“ 4. Folgerungen für den Parlamentsvorbehalt VIII. Die Parlamentsbeteiligung nach dem ParlBG 1. Der Ablauf der Parlamentsbeteiligung 2. Der Krieg gegen Jugoslawien und der Afghanistan-Krieg nach 9/11 3. Vorschlag IX. Ergebnis
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I. Wer sollte über Krieg und Frieden entscheiden – Kaiser, Kanzler oder Parlamente? Immanuel Kant hat in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) Folgendes formuliert: Erst wenn „die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle oder nicht‘, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu schätzen; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie – wegen naher immer neuer Kriege – zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein solch schlimmes Spiel anzufangen.“412 Kant fordert damit die Volksabstimmung über Krieg und Frieden. Einen solchen Volksentscheid gibt es – über 200 Jahre später – noch immer in keinem Land, soweit ersichtlich. Nach der amerikanischen Verfassung entscheidet der Kongress über Krieg und Frieden. In der Praxis hat er das – angesichts zahlreicher Einschränkungen – bisher nur in wenigen Fällen getan. In Frankreich entscheidet die Regierung. In Deutschland ist die Rechtslage vom Bundesverfassungsgericht in seiner sogenannten „Out-of-area“-
412 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, 1. Auflage 1795, in: ders.: Werkausgabe, Bd. XI, Suhrkamp-Taschenbücher Wissenschaft (STW 192), Frankfurt/Main, 1977, 193 ff., 205-206; zit. n. Dieter Deiseroth: Zuviel parlamentarische Kontrolle? Weniger schadet der Demokratie, Arbeitspapier zum Forum Parlamentsbeteiligung unter Druck der Bremer Konferenz der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), Deutsche Sektion, im April 2013.
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Entscheidung vom 12. Juli 1994413 verändert worden. Im Grundgesetz von 1949 war keine Armee vorgesehen. Im Jahre 1952 wurde eine europäische Verteidigungsgemeinschaft gegründet. Die französische Nationalversammlung verweigerte ihr im Jahr 1954 die Zustimmung. Daraufhin beschlossen die Mitglieder der NATO und der Westeuropäischen Union (WEU), die Bundesrepublik in die Bündnisse aufzunehmen, was die Gründung einer Armee notwendig zur Folge hatte. Daher wurde mit der sogenannten Wehrverfassung von 1956 die Aufstellung von Streitkräften vorgesehen, die allerdings nach Art. 87 a Abs. 1 GG „zur Verteidigung“ dienen sollten. Der „Verteidigungsfall“ trat aber erfreulicherweise nie ein. Stattdessen kam der NATO mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Gegner abhanden. Im November 1991 erklärten daher die NATO-Mitgliedstaaten in Rom, dass die NATO nunmehr einem „breit angelegten Sicherheitskonzept dienen“ solle; „[…] unsere Streitkräfte […] werden so strukturiert, dass wir sowohl zur Krisenbewältigung als auch zur Verteidigung in der Lage sind […]“.
Die Bundeswehr wurde alsbald in drei Einsätze zur „Krisenbewältigung“ eingebunden. Diese hatten als Basis einen Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, wie es im VII. Kapitel der Charta der Vereinten Nationen (VN) vorgesehen war; Deutschland war den Vereinten Nationen im Jahr 1973 beigetreten und daher zur Einhaltung der Charta verpflichtet. Dabei ging es um • die Beteiligung der Bundeswehr an einer Aktion von Seestreitkräften der NATO und der WEU zur Überwachung eines von den VN gegen die Föderative Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) verhängten Embargos sowie • die Beteiligung deutscher Soldaten an der Durchsetzung eines von den VN verhängten Flugverbotes im Luftraum von Bosnien-Herzegowina, • schließlich ging es um die Beteiligung deutscher Soldaten an UNOSOM II, einer vom Sicherheitsrat der VN aufgestellten Streitmacht zur Herstellung friedlicher Verhältnisse in Somalia. Derartige Einsätze wollte der Bundestag aber, ohne dass er gefragt wurde, nicht länger hinnehmen. Deswegen wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen. Antragsteller war einmal die SPD-Bundestagsfraktion, aber auch – groteskerweise – die Bundestagsfraktion der FDP, obwohl die FDP der
413 BVerfGE 90, 286.
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Bundesregierung angehörte. Die FDP-Minister, die gegen die Auslandseinsätze waren, waren wohl im Kabinett überstimmt worden. Mit dem Out-of-area-Urteil vom 12. Juli 1994414 hat das Bundesverfassungsgericht die Beteiligung der Bundeswehr grundsätzlich zugelassen. Es wurde aber die Forderung aufgestellt, dass das Parlament derartige Einsätze mit konstitutiver Wirkung freigeben müsse. Mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz vom 18. März 2005415 erhielt diese richterrechtliche Forderung auch eine gesetzliche Grundlage. Allerdings wird die Beschränkung der Parlamentsbeteiligung auf die militärischen Komponenten der Missionen deren Anliegen nicht gerecht: Es geht ja nicht nur um das Stoppen von Blutvergießen oder die Herstellung sicherer Verhältnisse für zivile Einsatzkräfte, sondern um Konfliktschlichtung, im besten Falle Konfliktlösung. Zu diesen Zielen hat sich die Bundesregierung mit ihrem Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung 2004 auch bekannt. Die zivilen Elemente werden überdies auch quantitativ immer wichtiger. Die Europäische Union hat im Rahmen ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bisher 30 Missionen mit weit überwiegend zivilem Ansatz durchgeführt. Derzeit (Stand 2012) laufen zehn zivile und drei vorwiegend militärische Missionen. Das Europaparlament debattiert über alle Missionen und beschließt über die budgetierten Ansätze – der Bundestag aber nicht! Das zeigt, dass auch Deutschland seine Rechtsgrundlagen für die Beteiligung an derartigen Missionen überdenken muss. Derzeit beschließt nur die Bundesregierung über die zivilen Missionen oder die zivilen Elemente davon. Jedoch basieren die Missionen regelmäßig auf Bündnisverpflichtungen aus Systemen kollektiver Sicherheit nach Art. 24 Abs. 2 GG, die im Grundsatz auch der Zuständigkeit des Bundestages unterliegen. Diese Verantwortlichkeit erschöpft sich nicht nur in der Bereitstellung von Haushaltstiteln. Vielmehr folgt aus dem Friedensgebot des Grundgesetzes eine parlamentarische Verantwortung für die Frage, ob und in welchem Umfang Deutschland Beiträge zur internationalen Friedenssicherung leistet. Da Krisen, die internationaler Einsätze bedürfen, regelmäßig tiefgreifende strukturelle Ursachen haben, sind nachhaltige Lösungsansätze geboten, innerhalb derer das Militär nur eine sichernde Aufgabe hat. Daher muss der Parlamentsvorbehalt erweitert werden.
414 BVerfGE 90, 286. 415 ParlBG, BGBl I S. 775.
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Ein Musterbeispiel ist die ISAF-Mission in Afghanistan, für die Deutschland mit dem Petersberg-Übereinkommen vom 5.12.2001 auf der Basis von Sicherheitsresolutionen eine tonangebende Rolle übernommen hat. Zentrales Element war der Aufbau „politisch-administrativer Strukturen, die einen demokratischen Ausgleich und eine friedliche Balance zwischen den verschiedenen Ethnien und lokalen Machthabern ermöglichen", wie es im Afghanistan-Konzept der Bundesregierung 2003 heißt. Der Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen bedarf allerdings eines sicheren Umfeldes, das militärischen Flankenschutzes bedarf. Daher gab der Bundestag kontinuierlich die Beteiligung deutscher Soldaten an der ISAF-Mission frei. Heute ist die militärische Lage unsicherer denn je; es sterben zunehmend auch deutsche Soldaten und friedliche Bürger. Der Bundestag hat sich daher – den USA folgend – gegen die Fortführung des Militäreinsatzes entschieden. Die Frage ist aber, was dann wird. Die USA wollen weitere Präsenz, vor allem für eine Ausbildungsmission, auf der Basis eines Stationierungsabkommens. Bedingung ist, dass das Kontingent nicht dem afghanischen Rechtssystem, insbesondere nicht der afghanischen Strafverfolgung, unterstellt ist. Darauf wollte sich Präsident Karsai nicht einlassen. Deutschland hing entsprechend in der Warteschleife. Die Frage ist aber, ob Deutschland angesichts seines langwierigen (und teuren) Engagements sang- und klanglos aus Afghanistan abziehen will oder ob die Mission auf eine alternative Grundlage gestellt wird, mit der insbesondere die anfänglich postulierten Ziele weiterverfolgt werden. Diese Frage hat jüngst auch die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD416 unter Vorsitz des früheren Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Prof. Papier gestellt. Sie plädiert für eine Erweiterung des Parlamentsvorbehalts auf die zivilen Bestandteile der Missionen. Über diese Grundsatzfrage muss der Bundestag beschließen. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass der Bundestag nur über die militärischen und nicht über die zivilen Elemente solcher Missionen befindet. Rechtliche Basis des Beschlusses über die zivilen Elemente kann aber nicht der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt sein. Daher soll nachfolgend untersucht werden, welche Rechtsgrundlage dem Bundestag für seine umfassende Beschlusszuständigkeit zur Seite steht.
416 „Selig sind die Friedfertigen“. Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik, Februar 2014.
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II. Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beteiligung deutscher Soldaten an Friedensmissionen 1. Das "out of area"-Urteil Bis zum Ende des Kalten Krieges im Jahre 1990 hatte die Bundeswehr eine im Grundgesetz präzis verortete Aufgabe, die „Landesverteidigung" (Art. 87 a GG). Einsätze der Bundeswehr „out of area" waren für alle Bundesregierungen bis in die 90er Jahre tabu. Das galt auch noch bis zum zweiten Golfkrieg im Jahre 1990.417 „Grünes Licht" für internationale Einsätze der Bundeswehr gab das Bundesverfassungsgericht mit seinem „Out-ofarea"-Urteil, mit dem über Anträge der SPD- und FDP-Fraktionen im Bundestag sowie zahlreicher Abgeordneter aus diesen Fraktionen über die Verfassungsmäßigkeit von Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen internationaler Organisationen entschieden wurde. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Einsätze auf Basis des Art. 24 Abs. 2 GG grundsätzlich für verfassungsmäßig: Seine Ermächtigung berechtige den Bund nicht nur zum Eintritt in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte. Sie biete vielmehr auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden.418 Mandate im Rahmen der VN waren danach unproblematisch. Denn die VN seien ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit" im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG. Diese Vorschrift gehörte zum „Altbestand" des Grundgesetzes und wurde deswegen bereits im Parlamentarischen Rat diskutiert. Der Beitritt zu einem „staatenübergreifenden System der Friedenssicherung", das es mit den Vereinten Nationen bereits gab, sollte der Bundesrepublik Deutschland die militärische Sicherheit geben, die sie damals ohne eigene Streitkräfte nicht gewährleisten konnte. Als die Bundesrepublik am 6. Juni 1973 der Charta der Vereinten Nationen beitrat, wa-
417 An dem sich die Bundesrepublik Deutschland nur mit finanziellen Hilfsleistungen beteiligte (der erste war der Krieg des Irak gegen den Iran 1980 – 1988). 418 Erster Leitsatz.
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ren die friedenssichernden („Peace-keeping-") Operationen bereits Praxis, die die VN seit 1956 durchführen.419 Sehr streitig war allerdings die Frage, ob die NATO ebenfalls „ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit" im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG420 sei. Ein Teil der Richter verwies auf den Text des NATO-Vertrags, wo die Übernahme von friedenssichernden und friedensschaffenden Maßnahmen in Drittländern unter der Aegide der VN nicht als Aufgabe im Vertragstext angelegt sei. Vielmehr mache die Bestimmung des Art. 12 NATO-Vertrag deutlich, dass eine Erweiterung des vertraglichen Handlungsrahmens Gegenstand einer Überprüfung des Vertrages sein solle.421 Für diese Rechtsauffassung sprechen insbesondere die Entstehungsgeschichte des Art. 24 Abs. 2 sowie der Regelungszusammenhang.422 Verteidigungsbündnisse verfolgen notwendigerweise ein anderes Konzept von „Sicherheit" aIs ein System kollektiver Sicherheit.423 Die Senatsmehrheit ließ sich davon nicht überzeugen. Die NATO habe in den Jahren 1992/93 ein neues strategisches Konzept verabschiedet, das sich im Rahmen des bisherigen Vertrags gehalten habe. Die Handlungsinstrumente sollten einem neuen strategischen Umfeld angepasst werden. Das sei aber kein „Prozess der Fortbildung des vertraglichen Aufgabenkonzepts" gewesen.424 Diese Rechtsauffassung wurde im Urteil vom 22.11.2001425 zum neuen strategischen Konzept der NATO vom April 1999 bekräftigt, ohne dass die Kontroverse nochmals aufgegriffen wurde. Danach sei die NATO auch zu weltweiten „Krisenreaktionseinsätzen" ermächtigt. Der umstrittenste war dann der Krieg gegen Jugoslawien, zu dem sich die NATO selbst ermächtigt hat (was in diesem Buch näher untersucht wird).
419 BVerfGE a.a.O. S. 352 f.; im Einzelnen dazu Bothe in: Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Kommentar, nach Art. 38 Rn 61 ff. 420 Offengelassen in BVerfGE 68, 1, 80 f., 93 ff. 421 BVerfGE a.a.O., 373. 422 S. Deiseroth in: AKGG zu Art. 24 Abs. 2 GG, 182 ff., 214, 289; ders. in: Friedenswarte 75 (2000), 101. 423 Vgl. dazu auch Randelzhofer, in: Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 24 Rz 11 ff.; ders. in: Hailbronner/Ress/Stein (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Doehring, 1989, 762 f. 424 BVerfGE a.a.O., 375. 425 BVerfGE 104, 151.
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2. Parlamentsvorbehalt Alle Richter waren sich allerding einig, dass der Einsatz bewaffneter Streitkräfte in jedem Fall eines vorher einzuholenden, konstitutiven Mandats des Bundestags bedürfe.426 Die Bundeswehr sei ein „Parlamentsheer".427 Denn die grundgesetzlichen Regelungen über die Wehrverfassung sähen für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte grundsätzlich eine Beteiligung des Parlaments vor; so insbesondere Art. 59 a Abs. 1 GG in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956,428 der durch die sogenannt Notstandsverfassung aufgehoben wurde. Dieser Parlamentsvorbehalt entspreche seit 1918 deutscher Verfassungstradition. Denn Art. 59 a Abs. 1 GG habe an Art. 45 Abs. 2 WRV angeknüpft. Ausdruck eines ausgeprägten Systems der parlamentarischen Kontrolle seien auch Art. 45 a und b sowie Art. 87 a Abs. 1 Satz 2 GG. Danach bestehe eine Grundsatzverantwortlichkeit des Parlaments insbesondere hinsichtlich des Haushalts; nach Art. 87 a Abs. 1 Satz 2 GG müssen die zahlenmäßige Stärke der Bundeswehr und die Grundzüge ihrer Organisation im Haushaltsplan festgelegt werden. Gegenstand der Parlamentsbeteiligung sei der Einsatz bewaffneter Streitkräfte. Das gelte auch im Bündnisfall. Zwar sei die Bündnisverpflichtung im Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG grundsätzlich festgelegt. Aber auch der konkrete Einsatz bedürfe der Beschlussfassung des Parlaments nach Maßgabe des Art. 43 Abs. 2 GG. Ein solcher Beschluss müsse in den zuständigen Ausschüssen vorbereitet und im Plenum des Bundestags erörtert werden. Allerdings komme dem Bundestag keine Initiativbefugnis zu. Vielmehr sei der Regierung von der Verfassung für außenpolitisches Handeln ein „Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis" vorbehalten. Das gelte insbesondere „hinsichtlich der Entscheidung über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der Einsätze, die notwendige Koordination mit Organen internationaler Organisationen".429 Da die Anforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts in der Verfassung nicht im Einzelnen vorgegeben seien, sei es Sache des Gesetzgebers, die Form und das Ausmaß der Parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten. Danach seien je nach dem Anlass und den Rahmenbedingungen
426 Leitsatz 3 a. 427 BVerfGE 90, 286, 382; ein konstitutiver Parlamentsvorbehalt entspreche seit 1918 deutscher Verfassungstradition. 428 BGBl I S. 111. 429 BVerfGE a.a.O., 389.
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des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte unterschiedliche Formen der Mitwirkung denkbar. Die parlamentarische Beteiligung könne nach der Regelungsdichte abgestuft werden, in der die Art des möglichen Einsatzes der Streitkräfte bereits durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet sei.430 Denn im Verfahren und in der mündlichen Verhandlung war reklamiert worden, dass für Bundeswehreinsätze nach der „Wesentlichkeitstheorie“ eine gesetzliche Grundlage erforderlich sei; zum einen wegen des Rangs der Entscheidung im Rahmen des Friedensgebots des Grundgesetzes, wie es nicht nur in der Präambel angesprochen war, sondern auch wegen der Rechtsstellung der Soldaten bei solchen Einsätzen.431 Beide Grundsätze finden sich auch im Leitsatz 3 des Urteils: a) Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherrschende – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestags einzuholen. b) Es ist Sache des Gesetzgebers, jenseits der im Urteil dargelegten Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten. Dieses Gesetz kam allerdings erst 2005, und zwar mit dem Schub einer Doktorarbeit. Der Abgeordnete Dieter Wiefelspütz (SPD-MdB) veröffentlichte nämlich im Jahr 2005 seiner Dissertation Das Parlamentsheer; auf Basis der Erfahrung, dass er am Gesetz selbst mitgeschrieben hatte. An dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten. Im Organstreitverfahren zum neuen strategischen Konzept der NATO432 und im Urteil zum ISAF-Mandat vom 3.7.2007433 bekräftigte das Gericht, dass sich „die Zustimmung des Bundestages zu einem völkerrechtlichen Vertrag [...] nicht in einem einmaligen Mitwirkungsakt anlässlich des Vertragsschlusses [erschöpfe], sie bedeutet vielmehr die dauerhafte Übernahme von Verantwortung für das im Vertrag und im Zustimmungsgesetz
430 BVerfGE a.a.O., 389. 431 Der Verf. nahm als Prozessvertreter der Länder Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Schleswig-Holstein und Saarland an der mündlichen Verhandlung teil, unterstützte das Vorbringen der Antragsteller und monierte insbesondere die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung für die Parlamentsbeteiligung. 432 U. v. 22.11.2001, BVerfGE 104, 151. 433 BVerfGE 118, 244, 258.
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festgelegte politische Programm“. Allerdings komme der Regierung „im Bereich auswärtiger Politik ein weit bemessener Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung zu“.434 Wichtig ist der Hinweis, dass die Teilnahme der Bundesrepublik im Rahmen der Bündnisverpflichtungen „unter den Vorbehalt der Friedenswahrung gestellt" sei. Wenn ein System im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG „nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist [die Teilnahme] verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des auf der Grundlage von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 GG ergangenen Zustimmungsgesetzes" gedeckt sein. Im Awacs-Urteil vom 7.5.2008435 wurde zur Abgrenzung zwischen dem Verantwortungsbereich der Bundesregierung und den Rechten des Bundestages darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz „dem Bundestag ausreichende Instrumente für die politische Kontrolle der Bundesregierung auch im Hinblick auf die Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zur Verfügung" stelle; beim Eingehen von Verpflichtungen für den deutschen Beitrag zur Aufstellung der Streitkräfte, werde „sie das Budgetrecht des Parlaments in Rechnung stellen und sich insoweit um die politische Zustimmung des deutschen Bundestags bemühen müssen".436 3. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz Das im Out-of-area-Urteil von 1994 angemahnte Gesetz ließ fast elf Jahre auf sich warten. Es trat als „Parlamentsbeteiligungsgesetz“437 am 24. März 2005 in Kraft. In § 1 des „Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland" heißt es, dass das Gesetz das „Ausmaß der Beteiligung des Bundestags beim Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland" regele (Abs. 1 Satz 1). In Abs. 2 heißt es, dass „der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes [...] der Zustim434 BVerfGE a.a.O., 259. 435 2 BvE 1/03. Im konkreten Fall könnten in diesem Hinweis Zweifel des Gerichts an der Völkerrechtsgemäßheit der Operation Enduring Freedom USA in Afghanistan angeklungen sein. Denn das Gericht forderte eine klare rechtliche Trennung zwischen beiden Missionen und beschränkte die Teilnahme des deutschen Militärs auf das ISAF-Mandat. Deutschland zog sich daraufhin aus OEF zurück. 436 BVerfGE a.a.O., S. 10. 437 ParlBG, BGBl 2005 I S. 775.
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mung des Bundestags" bedarf. In den weiteren Vorschriften wird der Einsatz definiert und es werden die Verfahrenskautelen (Antrag, vereinfachtes Zustimmungsverfahren, nachträgliche Zustimmung, Unterrichtung, Verlängerung von Einsätzen) geregelt. In § 2 Abs. 2 zur Begriffsbestimmung findet eine Abgrenzung statt: Danach bedürfen keiner Zustimmung „humanitäre Hilfsdienste und Hilfsleistungen der Streitkräfte […]“. III. Der erste Ernstfall: Die Beteiligung Deutschlands am Krieg der NATO gegen Jugoslawien; genauer: Serbien Im Jahre 1998 war der Zerfall Jugoslawiens bereits weit fortgeschritten. Die Abläufe sind in der Zeittafel „Die Jugoslawien-Kriege“ (S. 349 ff.) dargestellt. Am 25. Juli 1991 hatten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit proklamiert. Die jugoslawische Föderation hatte Slowenien angegriffen. Jedoch kam schon nach wenigen Tagen unter Vermittlung der EG ein Waffenstillstand zustande. Die Serben der Krajina proklamieren angesichts der kroatischen nationalistischen Bestrebungen ihre Unabhängigkeit. Serbische Milizen erobern ein Drittel Kroatiens. Die EG kann jedoch eine Waffenruhe vermitteln. Kroatien verabschiedet eine neue Verfassung als einheitlicher und souveräner Staat. Die deutsche Bundesregierung erkennt Slowenien und Kroatien als selbständige Staaten an und präjudiziert damit die EG. Es kommt zum Krieg, der erst nach Eingreifen der VN mit einem Friedensplan beigelegt wird. Ähnliche Auseinandersetzungen beginnen im Frühjahr 1992 in BosnienHerzegowina. In Srebrenica leben bei Kriegsausbruch im Frühjahr 1992 etwa ein Drittel Serben. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen der jugoslawischen Armee und den bosnischen Muslimen. Zwar erklärt der UNSicherheitsrat Srebrenica zur Schutzzone. Jedoch können die dort stationierten niederländischen UN-Soldaten das „Massaker von Srebrenica“ – das in der Zeittafel eingehend geschildert wird – nicht verhindern. Weitgehend unbekannt ist, dass der Anführer der „Dutchbats“ im Kampf um Srebrenica eine ordnungsmäßige militärische Auseinandersetzung sah und dass auch die Serben hohe Verluste hatten. Mit dem Frieden von Dayton wird ein brüchiger Staatsaufbau gestartet; konstruktiv keineswegs vorbildhaft. Die Autonomie der Provinzen Kosovo und Vojvodina war unter dem Einfluss von Milošević schon im März 1989 aufgehoben worden. Seit dieser Zeit beginnt der zunächst friedliche Widerstand der albanisch-stämmigen Kosovaren, der später, mit der Gründung der UCK, in einen militärischen 387
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Widerstand übergeht. Daraus entstehen Auseinandersetzungen, die schließlich zu zwei internationalen Missionen führen: • Die OSZE soll den Konflikt mit Hilfe von 2.000 Verificateuren friedlich beilegen. Der amerikanische Diplomat Holbrooke erreicht die Zustimmung von Präsident Milošević zu dieser Mission. Aber sie scheitert im Ergebnis, weil sie von den Amerikanern unterlaufen wird. Damit befasst sich das (zweite) Buch von Loquai in dieser Veröffentlichung. • Die NATO beschließt parallel eine Bombardierung Jugoslawiens, an der Deutschland als Bündnispartner teilnehmen soll. Beide Stränge laufen im Sommer und Herbst 1998 nebeneinander. Die amerikanische Außenministerin Albright hat schon im Sommer an einer sogenannten „Humanitären Intervention“ gearbeitet, also einer kriegerischen Aktion ohne VN-Mandat. Die einschlägigen Resolutionen 1166 vom 31. März 1998 und 1199 vom 23. September 1998 hatten allerdings keineswegs den jugoslawischen Präsidenten Milošević allein für die Eskalation verantwortlich gemacht. Vielmehr wurde auch die UCK in den Blick genommen. Diese Vorgabe wird von der NATO missachtet. Sie wendet ihre Intervention ausschließlich gegen Rest-Jugoslawien; hier Serbien. Die OSZE-Mission wird von den USA unterlaufen, und zwar auf höchst auffällige Weise: Die USA bestehen darauf, die Leitung der OSZE-Mission zu übernehmen. Dafür wird der amerikanische Diplomat William Walker abgestellt, der schon in Südamerika erfolgreich hegemoniale Aktionen der USA durchgeführt hatte. Er ist die Führungspersönlichkeit, die das Ergebnis einer militärischen Auseinandersetzung zwischen serbischer Polizei und UCK zum „Massaker von Racak“ umwidmet, dabei die nächtlichen Arrangements der UCK nutzend. Damit wird einer der Kriegsgründe geschaffen. Der zweite Grund ist die von vornherein mit einer Sollbruchstelle versehene Friedensverhandlung von Rambouillet, auf der in letzter Minute ein für Serbien unannehmbarer Annex B präsentiert wird. Man denkt sofort an das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien in der Juli-Krise. Dieser Ablauf hat tragische Züge. Die OSZE geht durchaus erfolgversprechend an den Konflikt heran. Ein „guter“ Amerikaner, der Diplomat Holbrooke, überredet Milošević zur Unterstützung. Auf der anderen Seite unterläuft die amerikanische Außenministerin diese Bestrebungen, wirbt bei NATO-Verbündeten für eine „humanitäre Intervention“, also ohne Beteiligung des Sicherheitsrats, und arbeitet auf eine Bombardierung hin. All das wird von Loquai beobachtet und von ihm akribisch notiert und kommentiert: Wie das Buch von Kautsky ein seltenes historisches Dokument, in seiner 388
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Genauigkeit eine Sternstunde der Konfliktanalyse und –beschreibung. Loquais Verständnis kann man am Titel seines ersten Buches erkennen: „Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg“. Er wusste, dass dieser Krieg mit der OSZE-Mission hätte vermieden werden können. Er muss miterleben, wie die Mission unterlaufen wird. Er schreibt alles auf – und teilt im Vorwort zum hier wiederveröffentlichten zweiten Buch Folgendes mit: „Der 11. September 2001 hat schließlich die politische Diskussion über den Kosovo-Konflikt nahezu vollständig verdrängt.“ Loquais Buch erleidet dasselbe Schicksal wie Kautskys. Teile der Friedensbewegung nehmen es zur Kenntnis, einige rezipieren es fast wie eine Art Bibel. Aber im Großen und Ganzen bleibt das Buch – zunächst – folgenlos. Aber die Geschichte geht weiter. Wir befinden uns auf dem Weg zum „demokratischen Frieden“ im Sinne Kants. Der der FDP angehörende Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig, der gegen die Teilnahme Deutschlands am Krieg gegen Jugoslawien gestimmt hatte, hält in einer später abgegebenen Stellungnahme eine Wiederholung der Abläufe nicht für möglich. Der hier wichtigste Vorgang ist IV. Die Bundestagsdebatte über die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien vom 16. Oktober 1998 1. Der Antrag der Bundesregierung Am 12. Oktober 1998 richtete die Bundesregierung an den Bundestag einen Antrag mit dem folgenden Wortlaut: „Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt [Drucksache 13/11469] […] Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag stimmt dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte entsprechend dem von der Bundesregierung am 12. Oktober 1998 beschlossenen deutschen Beitrag zu den von der NATO zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt geplanten, begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen für die von den NATO-Mitgliedsstaaten gebildete Eingreiftruppe unter Führung der NATO zu. Begründung: Die internationale Völkergemeinschaft ist tief besorgt über die Lage im Kosovo. Das unverhältnismäßige gewaltsame Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte hat zu 290.000 Flüchtlingen und Binnenvertriebenen geführt. Der Hohe Reprä-
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sentant der Vereinten Nationen für Flüchtlingsfragen schätzt, daß ca. 50.000 Menschen schutzlos der Witterung ausgesetzt sind. Durch den herannahenden Winter wird die Lage äußerst kritisch. Diese Entwicklung kann, wenn nichts unternommen wird, in Kürze zu einer humanitären Katastrophe führen. Die Bundesregierung hat in bilateralen Bemühungen und in gemeinsamen Anstrengungen im Rahmen der Vereinten Nationen, der Nordatlantischen Allianz, der Kontaktgruppe, der EU und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa versucht, eine Lösung der Kosovo-Krise zu erreichen. Die Forderungen der internationalen Gemeinschaft an Belgrad zur Erreichung eines Waffenstillstands, zur Linderung der humanitären Notlage und damit zum Schaffen der Voraussetzungen für die Aufnahme von Substanzverhandlungen zwischen den Konfliktparteien sind in der Sicherheitsrats-Resolution 1199 festgehalten worden. Belgrad hat diese Forderungen bisher nicht erfüllt. Vor diesem Hintergrund hat der NATO-Rat am 9. Oktober 1998 die Rechtsgrundlage für das Handeln des Bündnisses erörtert. Der NATO-Generalsekretär hat das Ergebnis wie folgt zusammengefaßt: 1. Die Bundesrepublik Jugoslawien hat die dringlichen Forderungen der Internationalen Gemeinschaft trotz der auf Kapitel VII der VN-Charta gestützten Resolutionen des VN-Sicherheitsrates 1160 vom 31. März 1998 und 1199 vom 23. September 1998 noch nicht erfüllt. 2. Der äußerst eindeutige Bericht des VN-Generalsekretärs zu den beiden Resolutionen hat u.a. vor der Gefahr einer humanitären Katastrophe im Kosovo gewarnt. 3. Die humanitäre Notlage hält wegen der Weigerung der Bundesrepublik Jugoslawien, Maßnahmen zu einer friedlichen Lösung zu ergreifen, unvermindert an. 4. In absehbarer Zeit ist keine weitere Resolution des VN-Sicherheitsrates zu erwarten, die Zwangsmaßnahmen mit Blick auf den Kosovo enthält. 5. Die Resolution 1199 des VN-Sicherheitsrates stellt unmißverständlich fest, daß das Ausmaß der Verschlechterung der Lage im Kosovo eine ernsthafte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region darstellt. Der NATO-Generalsekretär erklärt, daß unter diesen außergewöhnlichen Umständen der gegenwärtigen Krisenlage im Kosovo, wie sie in der Resolution des VN-Sicherheitsrates 1199 beschrieben ist, die Drohung mit und ggf. der Einsatz von Gewalt durch die NATO gerechtfertigt ist. Die Bundesregierung teilt diese Rechtsauffassung mit allen anderen 15 NATO-Mitgliedsstaaten. Das Bündnis hat entschieden, den Eintritt einer humanitären Katastrophe abzuwenden. Der NATO-Rat hat die Operationspläne für begrenzte und in Phasen durchzuführende Luftoperationen am 8. Oktober abschließend gebilligt und hat nach Zustimmung der Mitglieder der Allianz den Einsatz autorisiert. Die Bundesregierung hat deswegen beschlossen, unter dem Vorbehalt der vorherigen konstitutiven Zustimmung durch den Deutschen Bundestag für die Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe die nachstehend aufgeführten Kräfte als Beitrag für die von NATO-Mitgliedsstaaten gebildete Eingreiftruppe unter Führung der NATO einzusetzen.
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1.Für die Luftoperationen werden bereitgestellt: A) Luftwaffenkräfte bestehend aus […] B) Marinekräfte bestehend aus […] C) Personal und Führungsunterstützungskräfte für die internationalen Hauptquartiere einschließlich AWACS. […] 2.Es kommen zum Einsatz • nur Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit sowie • Soldaten, die Grundwehrdienst, freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst oder eine Wehrübung leisten, nur, wenn sie sich für besondere Auslandsverwendungen freiwillig verpflichtet haben. 3.Die von der Bundesregierung bereitgestellten Kräfte können, soweit der VN-Sicherheitsrat eine entsprechende Resolution nicht verabschiedet, zur Abwendung einer humanitären Katastrophe und zur Unterbindung schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen im Kosovo auf der Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des NATO-Rates eingesetzt werden, um die Forderungen aus den Sicherheitsrats-Resolutionen 1160 und 1199 durchzusetzen. 4.Im Rahmen dieser Operationen kann der Einsatz von deutschem Austauschpersonal in Kontingenten anderer Nationen sowie der Einsatz von Austauschpersonal anderer Nationen im Rahmen des deutschen Kontingents auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen und in den Grenzen der für Soldaten des deutschen Kontingents bestehenden rechtlichen Bindungen genehmigt werden. 5.Bei dem Einsatz handelt es sich um eine besondere Auslandsverwendung im Sinne des § 58 a des Bundesbesoldungsgesetzes. 6.Die Kosten für den Einsatz sind, soweit nicht veranschlagt, aus dem Einzelplan 14 zu erwirtschaften.“
2. Die Mängel der Regierungsvorlage Der Antrag der Bundesregierung traf auf eine ganz eigenartige Konstellation, die in der Debatte vom 16. Oktober auch mehrfach angesprochen wurde: Die Bundestagswahlen hatten bereits stattgefunden. Der 27. September 1998 bescherte SPD und Grünen eine deutliche Mehrheit; „Dauerkanzler“ Helmut Kohl wurde abgewählt. Der neue Bundestag hatte sich am 16. Oktober aber noch nicht konstituiert. Demgemäß entschied noch die alte Bundesregierung mit ihrem Verteidigungsminister, dem „Transatlantiker“ Volker Rühe, über den Regierungsantrag; und der alte Bundestag hierüber. Zahlreiche Abgeordnete des neuen Bundestages waren daher bereits gewählt, konnten aber nicht abstimmen. Dahinter mochte eine Unsicherheit
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der scheidenden Bundesregierung über das Ergebnis einer eventuellen Abstimmung im neuen Bundestag gestanden haben. Auch die US-Regierung war sich über das deutsche Verhalten wohl nicht ganz sicher. Immerhin hatte Joschka Fischer deutlich vor der Wahl die Aufgabe der nuklearen Erstschlagdoktrin durch die NATO gefordert – eine Forderung, die im grünen Wahlprogramm dann nicht mehr auftauchte. Gleichwohl wurden Schröder und Fischer nach der Wahl von der amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright in die USA eingeladen. Dort wurde ihnen klargemacht, dass die US-Regierung einen Krieg der NATO gegen den jugoslawischen Diktator Milošević für unvermeidlich hielt – im Notfall auch ohne Mandant des Sicherheitsrats, also ohne völkerrechtliche Ermächtigung. Die beiden Politiker kehrten also heim mit der unmissverständlichen Forderung nach Bündnistreue. Der Antrag der Regierung legt die Dinge ziemlich klar auf den Tisch: Das Hauptaxiom war der militärische Einsatz zur Vermeidung einer „humanitären Katastrophe“. Schon dabei wird eine fragwürdige Zahl in den Raum gestellt: Es heißt dort nämlich, dass das „gewaltsame Vorgehen der serbischen Sicherheitskräfte […] zu 290.00 Flüchtlingen“ geführt habe. In der ebenfalls zitierten Resolution des Sicherheitsrats 1199, angenommen am 23. September, wird „nur“ von 230.000 Flüchtlingen gesprochen. Die weitaus größeren Mängel des Antrags liegen aber in der Faktenschilderung und der völkerrechtlichen Bewertung. Der Antrag der Regierung und die auf einen Beschluss folgenden Zwangsmaßnahmen richten sich ausschließlich an „Belgrad“. Die beiden maßgeblichen Sicherheitsresolutionen 1160 vom 31. März 1998 und 1199 vom 23. September schildern hingegen einen Bürgerkrieg, und zwar zwischen der serbischen Polizei – der Kosovo gehörte zum jugoslawischen Staat – und der bewaffneten UCK als Aufständischen, die im Frühjahr in einer Offensive fast ein Drittel des Kosovo unter ihre militärische Gewalt gebracht hatten. Daher wenden sich beide Resolutionen auch an die Adresse der UCK und wollen sie verpflichten, die Waffen niederzulegen und einer politischen Lösung zuzustimmen. Eine solche politische Lösung wurde in der Resolution vom 23. September auch angeboten, und zwar vom serbischen Präsidenten Milan Milutinović, der • den Konflikt mit politischen Mitteln lösen, • repressive Aktionen gegen die Zivilbevölkerung unterlassen,
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•
Bewegungsfreiheit für die internationalen humanitären Organisationen und Beobachter zusichern und • die sichere Rückkehr von Flüchtlingen gewährleisten wollte. Im Gegenzug sollten die Kosovo-Albaner terroristische Maßnahmen unterlassen und verurteilen. Dieser Blick der Resolutionen auf beide Konfliktparteien scheint in der Regierungsvorlage nicht auf. Dazu kommt, dass sich als Ergebnis diplomatischer Bemühungen eine Einigung mit der jugoslawischen Führung abzeichnete. Diese wollte eine OSZE-Mission zulassen. Am 6. Oktober sprach der jugoslawische Außenminister eine Einladung an die OSZE aus. Am 9. Oktober begann der amerikanische Diplomat Richard Holbrooke Gespräche mit dem jugoslawischen Präsidenten Milošević. Am 12. Oktober kam es zu einer Einigung mit folgenden Eckpunkten: • Vollständige Erfüllung der Forderungen der VN-Resolution 1199, einschließlich eines sofortigen Waffenstillstandes, Rückzug der nicht im Kosovo ständig stationierten Truppen, sofortiger Zugang der humanitären Hilfsorganisationen zu den Hilfsbedürftigen, Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag, • Akzeptierung eines strengen Verifikations-Regimes, einschließlich einer OSZE-Mission mit bis zu 2.000 „Verifikateuren“ im Kosovo und einer NATO-Luftüberwachung mit unbeschränkten Überflugrechten in der Provinz, • Erstellung eines Zeitplans für den Abschluss einer politischen Vereinbarung, die dem Kosovo eine Selbstverwaltung und eine lokale Polizei gibt.438 Angesichts dieser Vereinbarung war die Androhung von Luftschlägen überflüssig. Allenfalls hätte man eine bedingte Ermächtigung erbitten können; für den Fall des Scheiterns dieser Mission. Andererseits: Die Drohung mit dem Angriff musste die OSZE-Mission von vornherein entwerten. Aber: Der Text des Missionsauftrages fehlt im Regierungsantrag. Noch gravierender ist die unvollständige und fehlerhafte völkerrechtliche Bewertung: Beide Resolutionen enthalten keine Ermächtigung an die NATO, militärische Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Art. 2 Abs. 4 der Charta enthält ein Gewaltverbot. Ohne eine Ermächtigung des Sicherheits-
438 Loquai, S. 247.
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rats bleibt dieses Gewaltverbot in Kraft und verbietet eine „Selbstermächtigung“ – wie das in der Debatte verschiedene Redner formulierten – durch die NATO. Dazu kommt, dass Art. 2 Abs. 4 der Charta auch die Androhung von Gewalt verbietet. Dazu ist die Mitteilung interessant, dass der NATO-Rat am 9. Oktober 1998 „die Rechtsgrundlage für das Handeln des Bündnisses erörtert“ habe. Es wird festgestellt, •
dass die Bundesrepublik Jugoslawien die VN-Forderung noch nicht erfüllt habe, • dass vor einer humanitären Katastrophe im Kosovo gewarnt werde, • dass keine weiteren Resolutionen des Sicherheitsrats zu erwarten seien, die Zwangsmaßnahmen mit Blick auf den Kosovo enthielten, • dass die Sachlage, die in Resolution 1199 geschildert werde, eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region darstelle. Auf dieser Basis habe der NATO-Generalsekretär „erklärt, dass unter diesen außergewöhnlichen Umständen […] die Drohung mit und ggf. der Einsatz von Gewalt durch die NATO gerechtfertigt ist“. Und zur Bekräftigung heißt es, dass die Bundesregierung diese Rechtsauffassung „mit allen anderen 15 NATO-Mitgliedstaaten“ teile. Nur: Damit setzt sich die NATO über die UNO. Sie verletzt nicht nur Art. 2 Nr. 4 der Charta, sondern auch Art. 1 des NATO-Vertrages, wo es abschließend heißt, dass sich die Parteien verpflichten, „sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.“ Schließlich heißt es in beiden Resolutionen, dass der Sicherheitsrat beschließe, „mit der Sache befasst zu bleiben“. Das ist die übliche Formel, die ausschließen soll, dass sich andere Organisationen am Sicherheitsrat vorbei oder gar gegen ihn Maßnahmen anmaßen, die nur dem Sicherheitsrat vorbehalten sind. Die völkerrechtliche Lage war also ganz klar. Aber: Die Bundesregierung interpretierte sie – im Einklang mit allen anderen NATO-Staaten – anders und fehlerhaft und stimmte so die Bundestagsabgeordneten ein.
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3. Die Bundestagsdebatte vom 16. Oktober Die Debatte wird von Bundesaußenminister Kinkel (FDP) eingeleitet. Kinkel trägt vor, dass Präsident Milošević „der Hauptverantwortliche für die Tragödie im Kosovo“ sei. Denn „alle politischen Bemühungen der Kontaktgruppe, der Europäer, der Vereinten Nationen und der OSZE [seien] erschöpft“ geblieben – was angesichts der Einigung zwischen Milošević und Holbrooke glatt falsch war. Kinkel sieht das zwar, aber er meint, dass trotz der Übereinkunft „der militärische Druck auf Belgrad aufrechterhalten bleiben“ muss – unter klarem Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 der Charta und der Verpflichtungen Deutschlands aus dem OSZE-Abkommen. Später wird er von dem Abgeordneten Dr. Heuer von der PDS daran erinnert, dass militärischer Druck verboten sei. Das spielt für Kinkel aber keine Rolle. Vielmehr müsse gehandelt werden, um die humanitäre Katastrophe zu vermeiden. Zwar sieht Kinkel genau, dass Deutschland damit „auf eine schiefe Bahn komme, was das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates anbelangt“. Jedoch: Man muss doch etwas gegen die humanitäre Katastrophe tun … Kinkel teilt ferner noch zwei interessante Fakten mit: •
Die Amerikaner hätten die militärische Führung der OSZE-Mission beansprucht. Das sollte, wie sich später herausstellte, der amerikanische Diplomat William Walker sein, den man bereits aus anderen Zusammenhängen kannte.439 • Außerdem warnte Kinkel die albanische Seite, dass ein Ergebnis der Dialogverhandlungen zwar „eine weitgehende Selbstverwaltung und Autonomie, nicht aber Unabhängigkeit sein kann“.
Kinkel erwähnt nicht, dass es kurz vorher im Bundeskabinett zu einer Kontroverse gekommen sein muss. Sein Kollege, Bundesjustizminister Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP), war nämlich gegen die Einsatzentscheidung. Wir kennen seine Meinung.440 Maßgeblich war für Schmidt-Jortzig das
439 Vgl. dazu die Originalausgabe des Buches von Loquai, Weichenstellungen für einen Krieg, S. 131 f. (hier nicht abgedruckt). 440 Aus einer Dokumentation einer schriftlichen Befragung aller Bundestagsabgeordneten zu ihrem Abstimmungsverhalten hinsichtlich der Bundeswehrbeteiligung am Kosovo-Krieg, die der Bürger Hermann Theisen, Moltkestraße 35, 69120 Heidelberg, im Dezember 2000 durchgeführt hat; beziehbar über den Herausgeber dieses Buches.
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Fehlen eines Sicherheitsratsbeschlusses.441 Außerdem habe man in ähnlichen Fällen mit vergleichbaren humanitären Katastrophen von einer militärischen Intervention abgesehen, offenbar weil bestimmte Machtinteressen nicht sehr eindeutig dafür stritten. Auch sei vorhersehbar, dass durch die Luftoperation die zu schützende Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werde. Interessant ist, dass Schmidt-Jortzig meint, „dass es heute zu einer entsprechenden Initiative der NATO-Staaten nicht mehr kommen würde“. Schmidt-Jortzig hat sich daher an der Beschlussfassung im Bundestag nicht beteiligt und dafür ein Ordnungsgeld in Kauf genommen. Was wäre gewesen, wenn er – als Justizminister – zum Rednerpult gegangen und die völkerrechtliche Lage geschildert hätte? Sein FDP-Kollege Dr. Burkhard Hirsch hat eine schriftliche Stellungnahme zum Bundestagsprotokoll gegeben, in der er die Völkerrechtslage klar geschildert hat. Auch er hat mit Nein gestimmt. Ein weiterer hellsichtiger Kollege war der grüne Abgeordnete Ludger Volmer, designierter Staatssekretär im Außenministerium. Auch er stellte die völkerrechtliche Lage in einer längeren Stellungnahme im Bundestag dar und enthielt sich dann. Außerdem waren sämtliche Abgeordnete der PDS gegen den Einsatz. Der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi begründete dieses auch ausführlich. Er monierte einleitend, dass der abstimmende Bundestag dazu eigentlich gar nicht mehr berufen sei. Gysi teilte zwar die Ansicht verschiedener Debattenredner, dass Milošević insbesondere wegen der Aufhebung des Autonomiestatuts einen Teil der Hauptverantwortung für die entstandene Lage trage. Jedoch seien in vielen Fällen Autonomiebewegungen unterdrückt worden – Beispielsfälle Baskenland, Tschetschenien, Türkei –, ohne dass dort humanitäre Interventionen propagiert worden seien. Dazu komme, dass die Situation im Kosovo erst einmal die sei, dass die Hilfskräfte abzögen. Das sei keineswegs human. Vor allem stellt Gysi die völkerrechtliche Lage dar, wonach nicht nur die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen verboten sei, sondern schon die Androhung. Aber diese klaren völkerrechtlichen Argumentationen waren die Ausnahme. Es hat sich auch kein Debattenredner mit den Mängeln des Regierungsantrags auseinandergesetzt. Stattdessen wurde politisch argumentiert:
441 Vgl. zur Rechtslage Deiseroth: „Humanitäre Intervention“ und Völkerrecht, NJW 1999, 3084; Zuck: „Der Krieg gegen Jugoslawien“, ZRP 1999, 225; Stellungnahme von Staats- und Völkerrechtlern vom 15. Oktober 1998, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik, 1998, 1395.
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Hier gab die Linie Verteidigungsminister Volker Rühe vor. Die Bundeswehr stehe vor ihrem gefährlichsten Einsatz. Was aber bedeute es, wenn sich Deutschland nicht beteiligen würde: „Wir müssten ausscheiden aus den integrierten Strukturen, aus den Einsätzen mit den AWACS-Flugzeugen – ein Drittel aller Soldaten sind deutsche Soldaten –, aus dem NATO-Hauptquartier in Vicenza, möglicherweise sogar aus den Hauptquartieren der SFOR in Bosnien […].“
Deutschland müsse vielmehr in einer schwierigen Situation „voll handlungsfähig“ sein. Dieser Topos – Bündnistreue, Dabeisein – spielte auch in vielen anderen Debattenbeiträgen eine große Rolle. So auch bei dem designierten Bundeskanzler Gerhard Schröder. Der amerikanische Sondergesandte habe ihn – auch die amtierende Regierung – wissen lassen, dass Milošević sich offenbar an die Hoffnung klammere, das Bündnis werde wegen der politischen Übergangssituation in Deutschland nicht handlungsfähig sein. Die Bundesregierung sei jedoch alleine handlungsfähig. Schröder sah darin „einen Zuwachs an demokratischer Kultur“. Schröder bezweifelte, dass die OSZE-Mission das Ziel einer politischen Lösung erreiche. Dafür sei die militärische Intervention erforderlich. Die Stellungnahme zum Völkerrecht ist aufschlussreich: „Auch mir – ich sage das – wäre ein neues, mit einer klaren Ermächtigung versehenes UNO-Mandat lieber gewesen. Dass es dieses Mandat nicht gibt, lag aber nicht an den NATO-Mitgliedern“, sondern an Russland. Zwar sei er für das Gewaltmonopol des Sicherheitsrats. Aber in dem besonderen Fall wäre eine verweigernde Entscheidung negativ: „Das Ergebnis wäre ein verheerender Ansehens- und Bedeutungsverlust für die Bundesrepublik Deutschland gewesen.“ Ähnlich argumentierte auch der designierte Außenminister Joseph Fischer. Eine besondere Position vertrat der SPD-Abgeordnete Verheugen, der von Bundesminister Schäuble frontal angegriffen wurde, weil er sich in der Süddeutschen Zeitung vorab gegen die Deutung der Gespräche im Washington ausgesprochen hatte. Schäuble – selbst Jurist – meinte gegenüber Verheugen, die Entscheidung der Bundesregierung stehe „verfassungsrechtlich und völkerrechtlich auf sicherer Grundlage“. Verheugen wandte sich dagegen, dass der Bundestag jetzt einen „Vorratsbeschluss“ treffe. Richtig sei vielmehr, dass der Bereitschaftsstatus der NATO nur über einen kurzen Zeitraum aufrechterhalten bleiben könne. Wenn sich die Krise erneut verschärfe, sei ein neuer Entscheidungsprozess innerhalb der NATO und auch innerhalb von Bundesregierung und Bundestag nötig. Es dürfe „keinen militärischen Automatismus“ geben. Wenn 397
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man sich auf die humanitäre Intervention als Ermächtigungsgrundlage stütze, müsse darauf hingearbeitet werden, dass dafür eine völkerrechtliche Grundlage geschaffen werde. Schließlich: Verheugen bezweifelte auch, dass der Militäreinsatz die Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Region fördere. Man solle vielmehr daran arbeiten, Integration herzustellen. Noch schärfere Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien „würden vor allen Dingen die Nachbarländer in unglaubliche Probleme stürzen“. Diese Erwartung, dass es eine weitere dezidierte Befassung des Bundestags mit der Ermächtigung zum tatsächlichen Kriegseinsatz geben würde, äußerten verschiedene Abgeordnete. Die große Mehrzahl der Abgeordneten, insbesondere von der CDU und der FDP, aber auch von der SPD, stimmte dem Antrag mit Blick auf die humanitäre Situation zu. In der CDU gab es aber eine Ausnahme: Das war der Abgeordnete Willy Wimmer, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und als solcher über die tatsächliche Lage gut informiert. Wimmer enthielt sich. Und es gab sogar eine Nein-Stimme, nämlich die des Abgeordneten Reiner Krziskewitz/CDU. Auffällig ist allerdings die hohe Zahl entschuldigter Abgeordneter. Mehrfach wurde das Gewissensproblem angesprochen, der Konflikt zwischen der völkerrechtlichen Lage und der Notwendigkeit, humanitär einzugreifen. Das Problem der Abgeordneten: Sie hatten keine ausreichende Faktenschilderung und sie konnten vor allem die völkerrechtliche Lage angesichts der verfälschenden Diskussion im Antrag der Bundesregierung nicht ausreichend beurteilen. 4. Verständnis für die Entscheidung des Bundestags Man muss wohl für die Haltung der designierten Bundesregierung und der Bundestagsmehrheit Verständnis haben. Schröder und Fischer waren bei ihren Besuchen in den USA eingestimmt worden. Sie durften sich nicht außerhalb der NATO-Solidarität stellen. Die von Schröder geäußerten Befürchtungen waren – wie man an der späteren Kritik an Deutschlands Weigerung, am Irak-Krieg und am Libyen-Einsatz teilzunehmen, sehen kann – nur allzu berechtigt. Dazu kam die fehlende Einschätzbarkeit der Vereinbarung zwischen Milošević und Holbrooke, die der OSZE den Weg ebnete. Diese Vereinbarung war nicht im Wortlaut mitgeteilt worden. Die Bundesregierung hätte im Grunde die Befassung des Bundestags absagen müssen, was aber in der
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Übergangssituation einfach nicht ins Konzept passte. Jedenfalls hätte sie nach dem Ergebnis der Debatte zweierlei tun müssen: •
den Bundestag erneut befassen, wenn die Ergebnisse der OSZE-Mission vorlagen, • eigene Recherchen über die humanitäre Lage im Kosovo durchführen: Die Informationen waren beim Auswärtigen Amt vorhanden, etwa aus den Berichten der Botschaft in Belgrad und deren Verarbeitung in den Lageberichten des AA für die Asylverfahren.
Stattdessen hat sich die Bundesregierung, wie Loquais Untersuchungen zeigen,442 in die Kriegsbeförderung eingereiht. Das Massaker von Racak wurde nicht aufgeklärt. Stattdessen gibt es Indizien dafür, dass Fischer eine ehrliche Auswertung des sogenannten „Massakers von Racak“ verhinderte. Erst recht waren die abgebrochenen Verhandlungen in Rambouillet einseitig: Die Präsentation des Annex B, zwei Tage vor dem vorgesehenen Ende der Verhandlungen, mit 56 Seiten neuen Textes, war eine „Sollbruchstelle“; vergleichbar dem Ultimatum Österreich-Ungarns an die Serben in der Juli-Krise, mit einer Frist von zwei Tagen. Traurige Parallelität der Abläufe. V. Die zivilen Elemente der Konfliktschlichtung müssen in das Bundestagsmandat eingebunden werden 1. Die rechtlichen Vorgaben: VU-Charta, Lissabon-Vertrag, Grundgesetz Die – leider unterlaufene – OSZE-Mission hat aufgezeigt, wie die Staatengemeinschaft und damit auch der einzelne Mitgliedsstaat – der OSZE, der Vereinten Nationen und der EU auf der Basis des Lissabon-Vertrags – bei der Konzeption von Friedensmissionen vorgehen müssen, die diesen Namen verdienen. Nötig ist eine präzise Analyse des Konflikts und der ihn vorantreibenden Triebkräfte. Auf dieser Basis muss – sinnvollerweise nach umfassender Beratung und Konsultation auch der Friedensforschungsinstitute – der Weg der Herangehensweise an den Konflikt mit dem Ziel der endgültigen Beilegung definiert und beschlossen werden. Erst dann geht es um die Festlegung der Rolle des Militärs: Herbeiführung sicherer Verhältnisse für 442 S. 293 ff.; all das wird noch bestärkt von Jürgen Elsässer: Kriegslügen. Vom Kosovo-Konflikt zum Milošević-Prozess, 2004.
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die Konfliktregulatoren, Separierung der kämpfenden Konfliktparteien etc. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz kennt diese Herangehensweise bisher nicht. Es stellt sich daher die Frage nach einer rechtspolitischen Begründung der Erweiterung des Parlamentsvorbehalts und ferner der Rechtsgrundlage bei der Beteiligung des Parlaments an zivilen Missionen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Parlamentsbeteiligung für Einsätze der Bundeswehr in Friedensmissionen aus der sogenannten Wehrverfassung abgeleitet. Das war nicht sehr überzeugend, weil schon die historische Rolle des Militärs und auch ihre im Grundgesetz geschriebene Aufgabe (Art. 87 a) die der Landesverteidigung ist. Eine geschriebene Rechtsgrundlage für die militärische Beteiligung an Missionen auf der Basis der Art. 24 Abs. 2, 59 Abs. 2 GG existiert nicht. Vielmehr muss der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt analog auf militärische Anforderungen aus Bündnisverpflichtungen angewandt werden. Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt kann aber für die Beteiligung an zivilen Missionen bzw. die Bereitstellung ziviler Elemente integrierter Missionen nicht dienen. In Betracht kommt aber eine andersartige, komplexere Rechtsgrundlage, nämlich • die völkerrechtliche und innerstaatliche Geltung der Verpflichtungen aus Bündnissystemen, • insbesondere aus dem Kriegsächtungsvertrag vom 27.08.1928 (BriandKellogg-Pakt), der immer noch geltendes Völkerrecht ist, • die VN-Charta, • das Friedensgebot des Grundgesetzes, • das Budgetrecht und • der Parlamentsvorbehalt. Der jeweiligen Bündnisverpflichtung liegt regelmäßig ein Vertragssystem zu Grunde, das auch zivile Vorgehensweisen regelt. So sind im Rahmen der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten nach Kapitel VI UN-Charta dem Weltsicherheitsrat Untersuchungs- und Empfehlungsrechte eingeräumt. Vor allem kann er nach Art. 39 bzw. 41 nicht militärische Sanktionsmaßnahmen ergreifen. Häufig muss er dabei auf zivile Kräfte zurückgreifen, die ihm von Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden, so auf Basis von Sonderabkommen nach Art. 42. Die Frage, ob und in welchem Umfang ein Mitgliedstaat einer solchen Aufforderung der VN Folge leistet, hängt von seiner eigenen politischen Beurteilung der Lage ab. Denn gerade die Frage, ob und in welchem Umfang zivile bzw. militärische Kräfte bereitgestellt werden,
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unterfällt eigener Beurteilung der Mitgliedstaaten. Dabei sind verschiedene Abstufungen denkbar: •
Der Mitgliedstaat kann die Bereitstellung ausschließlich ziviler Kräfte für eine nachhaltige Lösung vertreten, • er kann interimistisch Soldaten bereitstellen, • er kann in einem umfassenden Sinne zivile und militärische Komponenten bewilligen.
Gerade der integrierte Einsatz wird nicht umfassend beurteilt werden können, wenn nicht die Interdependenzen zwischen den verschiedenen Komponenten der Mission beurteilt werden können. Das erzwingt auch eine integrierte Diskussion und Beschlussfassung. Dazu tritt eine wichtige Eigenheit der deutschen Verfassung: das sogenannte Friedensgebot, auf das das Bundesverfassungsgericht in den einschlägigen Entscheidungen mehrfach aufmerksam gemacht hat.443 Dieses Friedensgebot verpflichtet Deutschland, sich nicht nur bündnisloyal in einem restriktiven Sinne zu verhalten, also die jeweilige Anforderung gerade noch gesichtswahrend zu erfüllen. Vielmehr ist dem Friedensgebot vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte – Urheber von zwei Weltkriegen – ein Gebot zur nachhaltigen Friedenssicherung zu entnehmen (im Einzelnen später). Diese Vorgaben sind bei der Beschlussfassung über die Haushaltsansätze zu beachten. Ob und in welchem Umfang das Parlament zu beteiligen ist, unterfällt seiner eigenen Beurteilung: Nach diesen materiellrechtlichen und Verfahrenskautelen bestimmt sich der Parlamentsvorbehalt. Da die Frage, was aus den Bündnisverpflichtungen „auf Deutschland zukommt", nur aus den dortigen konkreten Entwicklungen heraus beantwortet werden kann, sei zunächst ein exemplarischer Blick auf diese „Systeme" vorangestellt. 2. Die Erfahrungen mit VN-Missionen Die VN haben auf Basis des VI. und VII. Kapitels der Charta bisher eine Vielzahl von „Friedenseinsätzen" durchgeführt, teils erfolgreich, teils fehlgeschlagen. Allerdings lässt die praktische Umsetzung der in den beiden 443 Vgl. etwa BVerfGE 104, 151,212 f.; E 118, 244, 261 f.; U. v. 07.05.08, 2 BvE 1/03 Rz 68.
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Kapiteln vorgesehenen Möglichkeiten und Aufträge viele Wünsche offen.444 Was militärische Einsätze angeht, liegt ein wichtiges Manko im Fehlen eines „stehenden Heeres" der VN für Friedenssicherung. Die VN müssen Personal für die Missionen immer erst rekrutieren, „wenn das Blut schon fließt"; vergleichbar einer Feuerwehr, die ihr Personal immer erst zusammensuchen muss, wenn es schon brennt.445 Erst recht waren zivile Missionen bzw. die zivilen Anteile an Friedensmissionen einer weitreichenden Entwicklung unterworfen. Zwar kam die RAND Corporation in zwei umfangreichen Studien zu dem Ergebnis, dass die Vereinten Nationen mit ihren Friedenseinsätzen in acht untersuchten Fällen eindeutig erfolgreicher gewesen seien als die USA in einer vergleichbaren Zahl.446 In vielen Fällen litten die Missionen aber daran, • • • •
dass sie zu spät eingesetzt wurden, dass sie personell völlig unzureichend ausgestattet, dass sie unterfinanziert und dass insbesondere die Mandate unklar oder widersprüchlich waren.447
Impulse zur Verbesserung der Missionen ergaben sich insbesondere aus der Agenda für den Frieden,448 die Generalsekretär Boutros Boutros Ghali 1992 veröffentlichte. In ihr ist das post-conflict peace building entwickelt. Sie wurde 1995 in einer Ergänzung zur Agenda für den Frieden von Generalsekretär Kofi Annan weiter entwickelt und von Sicherheitsrat und Generalversammlung der Union in einer Reihe von Resolutionen ausdrücklich unterstützt. In diesem Rahmen hat zwar das Militär eine wichtige Aufgabe: Es muss das Blutvergießen, etwa beim Einsatz in bürgerkriegsähnlichen Situationen, stoppen und für die nichtmilitärischen Akteure und ihre zivile Wie-
444 Dazu Herbert Wulf, Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden, 2005, 79 ff. 445 Kofi Annan; vgl. dazu Kühne, UN-Friedenseinsätze verbessern – Die Empfehlungen der Brahimi-Kommission, in: von Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO, 2003, 715, 723: Das in der UN-Charta (Kap VII., Art. 47 vorgesehene "Military Staff Committee", also ein Generalstab, existiert nicht, obwohl in der Charta vorgesehen. 446 Wulf (Fußn. 442), vgl. auch Kühne, UN-Friedenseinsätze in einer Welt regionaler und globaler Sicherheitsrisiken, zif-Analyse 06/05, Seite 2. 447 Vgl. dazu Steiner, in: Blanke, Krisen und Konflikte. Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung, 2004, 61 ff. (Steiner war der Hohe Beauftragte der VN für ihre Kosovo-Mission und ist jetzt Deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen). 448 UN Doc. A/47/277, dazu Ipsen, Völkerrecht, § 60 Rz. 5; auch Wulf 27,28.
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deraufbauarbeit ein sicheres Umfeld schaffen. Gebraucht werden aber auch "exekutive" Aufgaben, also die Übernahme von Regierungsgewalt: Erkennbar etwa bei der Kosovo-Mission, in der der Rechtsstaatsaufbau und die Herstellung sicherer Verhältnisse durch Polizeiaufbau im Vordergrund stehen. Die Durchführung der Missionen und die Gründe für ihren Erfolg oder ihr Fehlschlagen sind vielfach untersucht worden.449 Javier Solana, EU-Beauftragter für die ESVP, hat in der Europäischen Sicherheitsstrategie vom 12. Dezember 2003 dazu folgendes festgestellt: "Bei nahezu allen größeren Einsätzen ist auf militärische Effizienz ziviles Chaos gefolgt. Wir brauchen eine verstärkte Fähigkeit, damit alle notwendigen und zivilen Mittel in und nach Krisen zum Tragen kommen."
In der direkten Tätigkeit der VN nehmen daher die zivilen Elemente zu. Basis ist der Brahimi-Report,450 der feststellte, dass es im UN-Department of Peacekeeping Operations keine Einheit gebe, in der Vertreter aller in einer Friedensmission wichtigen Themenbereiche – politische Analyse, Militäreinsätze, Polizei, Menschenrechte, Entwicklung, humanitäre Hilfe, Flüchtlinge, Öffentlichkeitsarbeit, Logistik, Finanzen und Rekrutierung – zusammenkommen. Er schlug daher die Schaffung von Integrated Mission Task Forces vor, die aus hochrangigen Vertretern aller genannten Bereiche bestehen und (jeweils für den Einsatz in einem Land) als zentraler Kontaktpunkt die internationale Koordination der VN verbessern sollten. Diese thematisch weit gefächerten und gleichzeitig regional auf ein Land fokussierten Expertengremien gelten als potentielle Schlüsselgremien bei der Planung von (künftigen) VN-Friedensmissionen, denn sie können für ein einheitliches Verständnis von den Mandaten und Funktionen der verschiedenen VNAkteure in einem Konfliktgebiet sorgen.451
449 Vgl. etwa Blanke, Hrsg., Krisen und Konflikte, Von der Prävention zur Friedenskonsolidierung, 2004; Herbert Wulf, Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden, 2005; Schneckener, Auswege aus dem Bürgerkrieg, 2002; Thorsten Gromes, Leistungen und Gefahren der Demokratisierung nach Bürgerkriegen. Der Fall Bosnien und Herzegowina, Diss. Marburg 2006. 450 Von 2000; w. N. Fuß. 28. 451 Bonn International Center for Conversion (BICC), Handreichung Themenbereiche und Konfliktfelder zivilmilitärischer Beziehungen, November 2006.
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3. Inhaltliche Vorgaben und Verfahrensweisen in der Europäischen Union a) Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) Zentrale Rechtsgrundlage für Friedensmissionen ist der EU-Vertrag vom 7. Februar 1992,452 unterzeichnet in Maastricht mit der gleichzeitigen Einführung der „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)", die mit den Verträgen von Amsterdam vom 2. Oktober 1997, in Kraft seit 1. Mai 1999, und Nizza, am 1. Februar 2003 in Kraft getreten, weiter entwickelt wurde. Im Vertrag von Amsterdam haben sich die Mitgliedstaaten wie folgt verpflichtet: „Schaffung der Grundlagen für die Durchführung militärischer Operationen in den Bereichen humanitäre und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen durch Inanspruchnahme der WEU“ (Titel V.).
Beim Europäischen Rat in Köln im Juni 1999 wurden dann die politischen Kernelemente der „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)" genannt, festgelegt, die sogenannten „Petersberg"-Aufgaben. Sie sind geregelt in Art. 17 Abs. 2 des Vertrags. Dort heißt es wie folgt: „Die Fragen, auf die in diesem Artikel [zur Verteidigungspolitik und Verteidigung] Bezug genommen wird, schließen humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen ein."
Beim Europäischen Rat in Helsinki (Dezember 1999) wurden insbesondere die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung, beispielsweise durch Polizeikräfte, weiter konkretisiert. Im Juni 2000 wurden in Portugal numerische Ziele für EU-Einsätze festgelegt, sowohl für die militärischen als auch die zivilen Mittel: Bis zum Jahr 2003 sollte die EU Krisenbewältigungseinsätze mit bis zu 60.000 Soldaten und bis zu 5.000 Polizisten durchführen können. Im Ministerrat gibt es dafür drei Substrukturen: • •
Das politische und sicherheitspolitische Komitee (PSK); den Militärausschuss der Europäischen Union (EU Military Committee – EUMC); • das Komitee für die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung (ZIVCOM).
452 ABI EG C 191 v. 29.7.1992, S. 1; BGBl II 1992 S. 1253.
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b) Die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) 2003 Im Sommer 2003 erteilte der Rat dem Hohen Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, die Aufgabe, eine Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) zu formulieren. Der Rat nahm sie am 12. Dezember 2003 an. Die Einzelheiten: Ein umfassender Sicherheitsbegriff: Durch die Öffnung der Grenzen seit dem Ende des Kalten Krieges sei „ein Umfeld entstanden, in dem interne und externe Sicherheitsaspekte nicht mehr voneinander zu trennen sind. Die Handels- und Investitionsströme, die technologische Entwicklung und die Verbreitung der Demokratie haben vielen Menschen Freiheit und Wohlstand gebracht, aus der Sicht anderer steht jedoch die Globalisierung für Frustration und Ungerechtigkeit […]. Der Wettstreit um Naturressourcen – insbesondere um Wasser – […] dürfte in verschiedenen Regionen der Welt für weitere Turbulenzen und Migrationsbewegungen sorgen. Die Energieabhängigkeit gibt Europa in besonderem Maße Anlass für Besorgnis.“
Problematisch werde daher auch der Zugang zu Rohstoffvorkommen und Energiequellen, Armut und Fragen des Minderheitenschutzes. Die Strategie nennt als Hauptstörungen Europas Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, gescheiterte Staaten und organisierte Kriminalität. Sie fordert Stabilität und gute Staatsführung in der direkten Nachbarschaft der EU sowie die Stärkung einer auf Multilaterlismus gründenden Weltordnung. Die Charta der VN soll die internationalen Beziehungen grundlegend prägen. Das Konzept: Die EU sieht sich als Stabilitätsraum für die eigenen Mitglieder und Nachbarregionen wie Russland, Ukraine, Moldawien und Weißrussland. Die Beziehungen mit den USA werden als unersetzlich bezeichnet, allerdings nicht im Sinne einer Dominanz der USA. Das Aufgabenspektrum umfasst humanitäre Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben, aber auch Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung und Befriedung (sog. friedensschaffende Aufgaben). Der Einsatz von Gewalt als Mittel der internationalen Diplomatie sei daher grundsätzlich nötig. Er bedarf allerdings der Legitimation durch den Sicherheitsrat. c) Vertrag von Lissabon Der Vertrag von Lissabon ist seit dem 1. Dezember 2009 in Kraft. Sein Art. 2 Abs. 1 lautet wie folgt: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte 405
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und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern." Dieses Ziel wird in Abs. 5 weiter beschrieben und im Titel 5, Kap. 1, Art. 10 a, Abs. 2 zum auswärtigen Handeln der Union mit den Bestimmungen über die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik (GASP) wie folgt weiter festgelegt: „Die Union legt die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest, führt diese durch und setzt sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen ein, um […]. c. nach Maßgabe der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen sowie der Prinzipien der Schlussakte von Helsinki und der Ziele der Charta von Paris, einschließlich derjenigen, die die Außengrenzen betreffen, den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken […]“.
In Art. 28 a mit den Bestimmungen über die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP) heißt es dann: „Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden" (Abs. 1; Hervorhebungen durch den Autor).
Nach Abs. 3 dieser Vorschrift stellen die Mitgliedstaaten der Union „zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele zur Verfügung." Im selben Absatz ist auch die „Europäische Verteidigungsagentur" geregelt. Das Europaparlament hatte sich für ein ziviles Pendant eingesetzt, nämlich eine „Agentur für Zivile Konfliktbearbeitung", die allerdings im Auswärtigen Ausschuss an einer fehlenden Stimme gescheitert ist. Die Europäische Verteidigungsagentur ist einer der Hauptansätze der Kritik aus der Friedensbewegung und der Friedenswissenschaft, die eine „Militarisierung der EU“ befürchten.453 Der zweite Absatz des Art. 3 wird nämlich wie folgt eingeleitet: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ Darin sehen die Friedensbewegung und Teile der Friedenswissenschaft
453 Vgl. etwa Gerald Oberansmayr: Auf dem Weg zur Supermacht. Die Militarisierung der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005; Tilman Evers: Verhinderte Friedensmacht. Die EU opfert ihre zivilen Stärken einer unrealistischen Militärpolitik, in: Le Monde Diplomatique, 9/2006.
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einen der Hauptansätze für die „Militarisierung der EU“. Mit diesem Topos muss man sich beschäftigen. In Art. 43 Abs. 1 sind dann die in Art. 42 Abs. 1 „vorgesehenen Missionen“ näher beschrieben: Zu „deren Durchführung [kann] die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen […]. [Sie] umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“
In diesen Text sind offensichtlich die Erfahrungen der VN bei ihren Missionen eingegangen, ferner die eigenen Erfahrungen der EU. Bei der Beantwortung der Frage, welche Mittel letztlich eingesetzt werden, kommt es jedoch offensichtlich auf den politischen Standort der Mitgliedstaaten im Rat und die Kraft des Arguments pro zivile und/oder militärische Mittel an. Die zivilen Mittel haben einen interessanten und wenig bekannten Vorläufer: d) Das Stabilitätsinstrument Die Verordnung vom 15. November 2006 zur Schaffung eines Instruments für Stabilität454. Dort wird in Erwägungsgrund 1 festgestellt, dass die Gemeinschaft „ein wichtiger Geber wirtschaftlicher, finanzieller, technischer, humanitärer und makroökonomischer Hilfe für Drittländer" sei; die „Förderung stabiler Bedingungen für die menschliche und wirtschaftliche Entwicklung und die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Grundwerten sind weiterhin vorrangige Ziele des außenpolitischen Handelns der EU".
Im Erwägungsgrund 2 wird das „politische Engagement der Europäischen Union für die Konfliktverhütung" als eins der Hauptziele der EU-Außenbeziehungen hervorgehoben und festgestellt, dass „die gemeinschaftlichen Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit zur Erreichung dieses Ziels und zur Entwicklung der EU als Global player beitragen können". In Erwägungsgrund 3 wird zum Procedere vorgegeben, dass der Rat und die Kom-
454 VO (EG) Nr. 1717/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates.
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mission entsprechend ihren jeweiligen Befugnissen zusammenarbeiten sollten. In Art. 3 mit der „Hilfe in Krisenfällen oder bei sich abzeichnenden Krisen" werden dann die Einsatzbereiche genannt, insbesondere (Abs. 2) • die Bereitstellung technischer und logistischer Hilfe für die Bemühungen internationaler und regionaler Organisationen sowie staatlicher und nicht staatlicher Akteure bei der Förderung vertrauensbildender Maßnahmen und von Maßnahmen in den Bereichen Schlichtung, Dialog und Versöhnung (a.); • Unterstützung der Einrichtung und des Funktionierens von Interimsverwaltungen mit einem völkerrechtlichen Mandant (b.); • Unterstützung der Entwicklung demokratischer, pluralistischer Staatsorgane, einschließlich Maßnahmen zur Förderung der Rolle der Frauen in solchen Organen, leistungsfähiger Zivilverwaltungen und damit zusammenhängender Rechtsrahmen auf nationaler und lokaler Ebene, einer unabhängigen Justiz, verantwortungsvoller Regierungsführung und von Recht und Ordnung... (c.); • Unterstützung von... internationalen Strafgerichten und nationalen Adhoc-Gerichten, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen sowie Mechanismen zur gerichtlichen Schlichtung von Menschenrechtsfällen … (d.); • Unterstützung ziviler Maßnahmen im Zusammenhang mit der Demobilisierung und Wiedereingliederung ehemaliger Kombattanten in die Zivilgesellschaft und ggf. ihre Rückführung sowie Unterstützung von Maßnahmen zur Bewältigung der Situation der Kindersoldaten und Soldatinnen (f.); • Unterstützung von Maßnahmen zur Milderung der sozialen Auswirkungen der Umstrukturierung der Streitkräfte etc. Artikel II befasst sich dann mit der Durchführung der Maßnahmen, Artikel III mit den Begünstigten und den Arten der Finanzierung. Im Jahresbericht 2007 der Kommission455 wird im Einzelnen über Krisenreaktionsmaßnahmen der EU berichtet. Es wird auch auf die finanziellen Planungen aufmerksam gemacht: Danach seien durchschnittlich 230 Mio. € in dem Zeitraum 2007 bis 2013 eingeplant. Aus diesem Budget werden Maßnahmen der European Group on Training (EGT) und Europe’s New Training Initiative
455 Vom 11.4.2008, KOM (2008) 181; SEK (2008) 446.
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for Civilian Crisis Management (ENTRi) finanziert.456 Auf Basis dieser Projekte werden zivile Kräfte aus dem öffentlichen Sektor der Mitgliedstaaten rekrutiert, die in Friedens- und Stabilisierungsmissionen Aufgaben in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und zivile Administration übernehmen können. Deutscher Kooperationspartner ist das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF). Die Finanzierung von ENTRi endet allerdings 2015. Außerdem können die Kurse, die im Rahmen von ENTRi und ESDC (European Security and Defense College, seit 2005) umgesetzt werden, den Bedarf an Trainings bei weitem nicht decken. Die zivilen Missionen der EU müssen daher ausgeweitet werden. Hier zeigt sich der große Unterschied zum Militär, dass es in jedem Mitgliedstaat gibt und dass sich seinen Standort nicht erst erkämpfen muss. e) Beteiligung des Europaparlaments bei Friedensmissionen Die EU hat bisher 28 Missionen durchgeführt, davon 20 zivile.457 Derzeit laufen zehn zivile und nur drei militärgestützte ESVP-Missionen. Der Unterausschuss Verteidigung des Europaparlaments befasste sich ebenso wie der Auswärtige Ausschuss mit allen ESVP-Missionen. Das Europäische Parlament, so Angelika Beer,458 positioniere sich immer öfter zu bevorstehenden oder laufenden Aktionen. Allerdings fehle es an Transparenz im Prozess der Entscheidungsfindung. Daher sei es ein Ziel, die parlamentarische Kontrolle durch das Europaparlament zu stärken. Auch solle es zu einer engeren Abstimmung mit den nationalen Parlamenten kommen. Beer propagiert eine Ausweitung und Angleichung der nationalen Parlamentsvorbehalte.
456 Bernadette Knauder: Aufbau ziviler Expertise im EU-Krisenmanagement, in: Thomas Roithner/Johann Frank/Eva Huber: Werte, Waffen, Wirtschaftsmacht, 2014, 133, 140. 457 Vgl. dazu Bernadette Knauder: Stein der Weisen oder Stiefkind? Aufbau ziviler Expertise im EU-Krisenmanagement, in: Thomas Roithner/Jörn Frank/Eva Huber: Werte, Waffen, Wirtschaftsmacht. Wohin steuert die EU-Friedens- und Sichereitspolitik?, 2014, 133. 458 Ex-MdEP, damals Sicherheitspolitische Sprecherin Grüne/EFA, auf der Konferenz „Zivile Konfliktbearbeitung in der EU“ der IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms, Deutsche Sektion: Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen, für gewaltfreie Friedensgestaltung; vgl. www.ialana.de) am 24.4.2008 in der Berliner Europäischen Akademie.
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Die neuen Außenpolitikinstrumente, insbesondere das Stabilitätsinstrument, seien ein entscheidender Fortschritt. Hier habe das Parlament das Mitentscheidungsrecht erkämpft und spiele damit eine entscheidende Rolle in der Frage von Krisenprävention und ziviler Krisenintervention. Über den Haushalt nehme es direkten Einfluss auf kurz- und langfristig angelegte Maßnahmen außerhalb der EU. Erstmalig sei es gelungen, auch die Nichtregierungsorganisationen direkt einzubeziehen. Im Rahmen der im Stabilitätsinstrument vereinbarten „peacebuilding partnership" fänden ein direkter Austausch und eine Vernetzung statt. Die GASP und die ESVP gehören zur Zuständigkeit des Rates, umgesetzt durch den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Die Rolle des Europäischen Parlaments ist nach Art. 21 Abs. 1 und 2 allerdings auf ein qualifiziertes Anhörungsrecht beschränkt: „Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik hört das Europäische Parlament regelmäßig zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und unterrichtet es über die Entwicklung der Politik in diesen Bereichen. Er achtet darauf, dass die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend berücksichtigt werden. Die Sonderbeauftragten können zur Unterrichtung des Europäischen Parlaments mit herangezogen werden. Das Europäische Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat und den Hohen Vertreter richten. Zweimal jährlich gibt es eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“
Also: Das Europäische Parlament hat bezüglich der einzelnen Missionen kein Mitentscheidungsrecht. Es kommt auf sein Selbstbewusstsein an, in welchem Umfang es Einfluss nimmt. 4. Die EU: Friedens- und/oder Militärmacht? Die Frage ‚Quo vadis EU?‘ liegt auf dem Tisch – und jede Antwort ist möglich. Denkbare Antworten ergeben sich aus der bereits zitierten Veröffentlichung (Fußn. 44 f.), an der schon die Projektteilnehmer interessant sind: • Das Conflict-, Peace- and Democracy-Cluster (dpdc), • die Friedensburg Schlaining, • das österreichische Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport, Direktion für Sicherheitspolitik,
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•
ein Wissenschaftler, Thomas Roithner, Forschungsdirektor am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktforschung, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien, • Johann Frank, Brigadier, Leiter des Büros für Sicherheitspolitik im regierenden Ministerium, • Eva Huber, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des zivil-militärischen Kooperationsprogramms am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung. Sie haben unter dem Titel „Werte, Waffen, Wirtschaftsmacht. Wohin steuert die EU-Friedens- und Sicherheitspolitik?“ (2014) eine Veröffentlichung in drei Teilen vorgelegt: • Vom Schatten ins Licht. Aktuelle Problemfelder der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Friedenspolitik der EU, • Alle mit am Tisch? Alle auf Einsatz? Euro-Armee wünscht Ständig Strukturierte Zusammenarbeit als sicherheitspolitische Finalität? • Win-Win oder: Die Gunst der Stunde nutzen – Zivile Konfliktbearbeitung und ziviles Krisenmanagement als Chance und Herausforderung für die EU und ihre Mitglieder: Erfahrungen, Möglichkeiten, Visionen. Das Buch befasst sich mit also keineswegs nur mit österreichischer Friedenspolitik. Es lotet vielmehr die Möglichkeiten aus, die der europäische Rechtsrahmen bietet. Wintersteiner459 sieht drei Paradigmen: Paradigma 1: Die Staatenwelt sei nach wie vor ein nur durch wenige Regeln eingeschränktes offenes Volk, wo jeder gegen jeden antritt. Frieden und Sicherheit würden am besten durch ein militärisch verstandenes „Gleichgewicht“ gesichert. Die Durchführung weltweiter Interventionen, inklusive peace enforcement, sei ein effizienter Weg für diese verstandene Friedenspolitik. Ein Musterbeispiel sei die Außenpolitik der USA. Diese könne ein freundlicheres, stärker unilaterales Gewicht zeigen wie unter Obama, oder ein abweisenderes, unilaterales wie unter Bush. Paradigma 2: Die Welt sei ein Ort mit Inseln der Stabilität, des Rechts und des Wohlstands. Es gelte, diese Errungenschaften schrittweise auf die gesamte Welt auszudehnen: Frieden und (rechtliche) Sicherheit durch Recht. Dieses Paradigma vertrete einen stark menschenrechtsorientierten Ansatz. Es setze nicht in erster Linie auf militärische Stärke, sondern auf politisches
459 Werner Wintersteiner: Das friedenspolitische Potential der europäischen Außenund Sicherheitspolitik, 17 ff.
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und diplomatisches Krisenmanagement. In vielen Dokumenten und Deklarationen bekenne sich die Europäische Union zu diesem Paradigma. Wie weit dem ihre Praxis entspreche, müsse analysiert werden. Paradigma 3: Frieden und Sicherheit könnten am nachhaltigsten durch eine umfassende Friedenspolitik erreicht werden. Sie setze auf Gewaltprävention, zivile Konfliktbearbeitung und möglichst tiefergehende Konflikttransformation, mit Instrumenten wie traditional justice and reconciliation. Militärische Aktionen seien nicht ausgeschlossen, aber sie seien dem Paradigma der Friedenspolitik untergeordnet und nur als ultima ratio denkbar. Vor diesem Hintergrund sei das „europäische Projekt“ nicht weniger als ein vor unseren Augen stattfindendes Realexperiment. Aber: „Die Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt tragen in erster Linie die Vereinten Nationen; die EU hat sich im Bereich der Krisenbewältigung für den Weg einer engen bilateralen Zusammenarbeit entschieden, wobei jedoch die Rolle der VN als Dreh- und Angelpunkt des internationalen Systems unterstützt“,
betont Catherine Ashton. In den „Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020“, erarbeitet von Álvaro de Vasconcelos, die im Auftrag der EU durchgeführt wurde, werde zunächst das „einzigartige und charakteristische zivil-militärische Profil der EU“ betont. Anschließend würden allerdings ausschließlich Vorschläge betreffend das militärische Profil vorgebracht. Auch nach einer aktuellen Studie von Diedrichs über die ESVP seien „alle operativen Ziele des Dokuments militärischer Natur“. Es sei, als würde die EU alle ihre konkreten Anstrengungen auf den Ausbau ihrer militärischen Schlagkraft richten, unter Vernachlässigung der zivilen Komponente und einer friedenspolitischen Linie. Nicht nur von pazifistischer Seite, sondern auch von Spitzendiplomaten wie Petritsch460 werde Kritik an der „neuen Militarisierung der Politik“ wie auch der EU selbst laut. Gleichwohl definiere sich die EU – wenngleich diffuserweise – als Zivilmacht, die an einer eigenen Außenpolitik arbeite. Wenn man – im Sinne des Paradigmas 3 – die Sicherheits- und Friedenspolitik zum Ausgangspunkt der Außenpolitik mache, sei ein umfassenderes Verständnis von ziviler Konfliktbearbeitung nötig. Unter ziviler Konfliktbearbeitung werde viel zu oft eine zusätzliche Strategie verstanden, realisiert durch NGO-Mitarbeiter/
460 Überlegungen zur neuen Militarisierung der internationalen Politik, in: Europäische Rundschau, Jg. 33 (2005), Heft 3, 19 ff.
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innen, die aber letztlich der militärischen Gesamtstrategie untergeordnet bleibe. Tatsächlich müsse zivile Konfliktbearbeitung in einem umfassenden Sinne verstanden werden als Strategie der politischen Führungskräfte und der Diplomatie, so dass auch militärische Kräfte, die als ultima ratio weiterhin zur Verfügung stehen, dem Paradigma der zivilen Konfliktbearbeitung verpflichtet sein müssten. Auch vom Standpunkt der zivilen Konfliktbearbeitung positiv zu bewerten sei etwa der Militäreinsatz der EU in der Demokratischen Republik Kongo. Die weiteren Beiträge des Bandes loten die verschiedenen Ansätze aus. Werner Ruf,461 der einzige „externe“ Autor, Politikwissenschaftler (em.) an der Universität Kassel, sieht das Selbstverständnis der EU als „zivilisatorische Macht“ kritisch. Er verweist auf das janusköpfige Bild der EU als wirtschafts- und handelspolitischer Akteur, der seine Landwirtschaft mit enormen Subventionen zum vernichtenden Konkurrenten der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern mache. Er macht auch darauf aufmerksam, dass die EU als globaler militärischer Akteur unzureichend parlamentarisch und gerichtlich kontrolliert sei. Aber auch er sieht friedenspolitische Alternativen, die vor allem in einer engeren Zusammenarbeit mit den VN lägen. Viele Beiträge befassen sich mit dem zivil/militärischen Dualismus, so etwa Thomas Roithner, einer der Herausgeber, mit Theorie und Praxis eines militärischen und zivilen Kerneuropa, Bernadette Knauder untersucht die Möglichkeiten des Aufbaus ziviler Expertise im EU-Krisenmanagement oder durch die EU, mit einem interessanten Überblick über die Trainingsprogramme; Pete Hämmerle betrachtet die Friedensdienste. Insgesamt liefert der Band mit dem sehr differenzierten Sachverstand und der Transparenz einen Einblick in ein weithin unbekanntes Feld der Tätigkeit der EU. Wer über sie als Militär- oder Zivilmacht nachdenkt oder gar redet, sollte den Band kennen, zumal er mit seinen Lesehilfen und Literaturhinweisen viel Expertise bereitstellt.
461 Friedenspolitisches Plädoyer für eine andere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, a.a.O., 52.
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5. Die Lage in Deutschland a) Der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" Das Auswärtige Amt (AA) befasst sich seit 1995 institutionell mit der Aufgabe der zivilen Krisenprävention, die in Fischers Zeit als Außenminister sehr ausgebaut wurde. Am 12. Mai 2004 verabschiedete die Bundesregierung den ressortübergreifenden Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung", der – ausgehend von den internationalen Instrumenten der Krisenprävention (VN, OSZE, EU, Europarat, G8, NATO) – die nationalen Aufgaben beschreibt. 161 Aktionsempfehlungen konzentrieren sich, ausgehend von einem „erweiterten Sicherheitsbegriff“ auf folgende Bereiche: Stärkung deutscher Beiträge zu multilateralen Ansätzen, Wahrung und Aufbau staatlicher Strukturen in Krisenregionen, Förderung von Friedenspotentialen in der Zivilgesellschaft, Sicherung der Lebenschancen der Menschen und Vorgaben zum Aufbau einer Infrastruktur innerhalb der Bundesregierung als Voraussetzung für ein kohärentes und koordiniertes Vorgehen.
Zuständig ist der Ressortkreis Zivile Krisenprävention, der von einem „Beauftragten" koordiniert wird und in dem u.a. das Auswärtige Amt (AA), Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Bundesverteidigungsministerium (BVMg) und anderen Bundesministerien, z. B. das Umweltministerium zusammenarbeiten. Im 1. Bericht der Bundesregierung vom 31. Mai 2006462 über die Umsetzung des Aktionsplans (Mai 2004 bis April 2006) findet sich eine Zusammenstellung der Tätigkeits- und Aufgabenbereiche. Die aktive Rolle der Nichtregierungsorganisationen (NGO's) in der Krisenprävention, repräsentiert im Beirat Zivile Krisenprävention, wird besonders herausgehoben, weil diese „oft komparative Vorteile gegenüber staatlichen Akteuren" hätten. Daher ziehe sich „wie ein roter Faden ein Kooperations- und Kohärenzangebot an die nichtstaatlichen Akteure durch den gesamten Aktionsplan". Institutionell bilde sich dies im zivilgesellschaftlichen Beirat „Zivile Krisen-
462 Der 2. Bericht wurde am 16.07.2008 vorgelegt (BT-Drs. 16/10034). Vgl. die Stellungnahme von Winfried Nachtwei, Ex-MdB und Nestor der Zivilen Konfliktbearbeitung, im Bundestagsuntersuchungsausschuss „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln“ am 05.05.2014: Lehren aus 10 Jahren Zivile Krisenprävention – Wie weiter?
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prävention" ab, einem „Netzwerk zwischen Bundesregierung, Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft, Wirtschaft, Kirchen und dem parlamentarischen Raum". Allerdings: Das ist die Theorie. Welchen Stellenwert der Aktionsplan tatsächlich hat, ergibt sich aus der Dotierung des konkreten Haushaltstitels,463 „Unterstützung internationaler Maßnahmen in den Bereichen Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung durch das Auswärtige Amt", der für die Jahre 2004, 2006 und 2007 Beträge unter 14 Mio. EURO aufwies. Im Jahre 2005 waren es 27,5 Mio. EURO, im Jahre 2008 ca. 62 Mil. EURO, wobei der Sprung durch eine Konzentration auf Maßnahmen für Afrika erklärlich ist. Im Einzelplan 23 des BMZ bestehe kein eigener Haushaltstitel für Maßnahmen der zivilen Krisenprävention, obwohl ein Großteil der Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit der Bearbeitung von strukturellen Konfliktursachen (Armut, Ungleichheit, Bildungsmangel etc.) dienten. Insgesamt setze die deutsche Entwicklungspolitik rund ein Drittel ihrer bilateralen Finanzmittel in Krisenländern ein, im Zeitraum 2005 bis 2007 insgesamt 1,7 Mrd. EURO, wovon rund 700 Mio. EURO mit direktem Bezug zu Krisenprävention und Friedensentwicklung zugesagt waren.464 Insgesamt stellen, wie Nachtwei465 mitteilt, AA, BMZ, BMWi 3,27 Mrd. € für 2007 bereit (im Vergleich zur Bundeswehr, die 2007 28 Mrd. € erhielt). Da allerdings Deutschland und die internationale Gemeinschaft überwiegend mit Einsätzen im Kontext der Konfliktnachsorge befasst seien, gehe der Blick für den Nachholbedarf an Primärprävention verloren. Fragwürdig sei auch die unterschiedslose Vereinnahmung von Militäreinsätzen und Prävention, so Nachtwei:466 erst recht die Schwierigkeit, genau zuzuordnen, welche zivilen Aktivitäten dem Frieden dienen. Ein etwas anderes Bild zeichnet der Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den VN und einzelnen, global agierenden, internationalen Organisationen und Institutionen für 2006 und 2007467 vom 16.7.2008. Dort wird insbesondere geschildert, welchen
463 0502-68744 Ziff. 23 der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage aus der Fraktion der Grünen, BT-Drs. Nr. 16/9171 vom 9.5.2008. 464 BT-Drs. aao. 465 MdB (Die GRÜNEN, Mitglied im Verteidigungsausschuss): Viel beschworen, wenig bekannt: Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung (Stand März 2008), www.nachtwei.de. 466 Nachtwei, a. a. O. 467 Verabschiedet vom Bundeskabinett am 16.7.2008, BT -Drs. 16/10036.
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Stand die Friedenssicherung durch die VN im Jahre 2007 erreicht hat: Der Sicherheitsrat hatte den Einsatz von etwa 120.000 Soldaten, Polizisten und zivilen Experten autorisiert, die sich auf 20 von den VN geführten Friedensmissionen (Blauhelmmissionen oder peacekeeping missions) verteilt hatten. Entsprechend hoch seien die Herausforderungen an die VN-Mitgliedstaaten. Deutschland trage mit einem Pflichtanteil von ca. 8,6 Prozent am Haushalt der VN für friedenserhaltende Maßnahmen den drittgrößten Beitrag für deren Finanzierung. Dabei bemühe sich die Bundesregierung, auch mit zivilen Experten im VN-Sekretariat und bei den Missionen vertreten zu sein. In diesem Zusammenhang werden die Beiträge des Zentrums für internationale Friedenseinsätze (ZIF) dargestellt und es wird auf die Wahrnehmung hochrangiger Leitungsfunktionen hingewiesen, etwa durch Tom Koenigs als Sondergesandter des Generalsekretärs für die VN-Aufbaumission in Afghanistan (UNRNA) von 2006 bis 2007. Mit Joachim Rücker habe Deutschland seit September 2006 und bis Juni 2008 den Leiter der VN-Kommission im Kosovo (UNMIK) gestellt. Sodann werden im Bericht die einzelnen Missionen beschrieben. Dabei spielen zum einen die Bereitstellung finanzieller Mittel und zivilen Personals entscheidende Rollen. Ein wichtiger „Exportartikel" sind die deutschen Beiträge für Rechtsstaatsmissionen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Bericht des Generalsekretärs an der Generalversammlung 2005468 über die Fortschritte bei der Reform der VN-Friedenssicherung auf Basis des Brahimi-Berichts. Es werden zahlreiche Reformschritte insbesondere bei zivilen Maßnahmen dargestellt. Der Bericht des Generalsekretärs „Uniting our Strengths: Enhancing UN Support for the Rule of Law“469 führte zur Einrichtung einer neuen Gruppe „Koordinierung und Ressourcen im Bereich Rechtsstaatlichkeit" im April 2007. Die Nutzanwendung für Deutschland wurde mit der am 7. Juni 2007 von Generalsekretär Ban Ki Moon und Bundesaußenminister Steinmeier unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der EU bei der Krisenbewältigung" gezogen. Allerdings zeigt der Bericht auch ein aufschlussreiches Missverhältnis auf: Derzeit seien etwa 7.300 Soldaten/innen der Bundeswehr in internationalen Friedensmissionen eingesetzt. Demgegenüber seien etwa 90 deutsche zivile Fachkräfte im Rahmen von VN-Missionen tätig, die insbesondere Aufgaben im Justizbereich, beim Verwaltungsaufbau sowie bei der
468 N60/640 vom 29.12.2005. 469 Vom 14.12.2006, N61/636-S/2006/980.
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sanitätsdienstlichen und technisch-logistischen Versorgung wahrnähmen. Hervorgehoben wird allerdings die Leistung des zivilen Friedenspersonals durch den Zivilen Friedensdienst (ZFD) mit derzeit 134 Fachkräften vor Ort. b) Die institutionelle Seite Die gleichwohl geringe Bedeutung der zivilen Konfliktbearbeitung im Bewusstsein der Bundesregierung ist auch daran erkennbar, dass die Position des Beauftragten für zivile Krisenprävention im Auswärtigen Amt vom Beauftragten für globale Fragen mit wahrgenommen wird.470 Auch plant die Bundesregierung nicht die Berufung eines Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Krisenprävention. Damit bleibt es bei dem Nebeneinander der Zuständigkeiten des AA, des BMZ, des BMVg und des BMWi für die zivile Konfliktbearbeitung im Ressortkreis. Fazit: Die geringe Bedeutung, die die zivile Konfliktbearbeitung in den Budgettiteln aufweist, entspricht der mangelhaften institutionellen Verfassung, sowohl was die „manpower" als auch die Anbindung angeht.471 c) Die Kritik der Friedenswissenschaft an den Friedensmissionen und an der Vernachlässigung der zivilen Konfliktbearbeitung Die programmatischen und institutionellen Defizite in der deutschen Sicherheits- und Friedenspolitik sind in der Friedenswissenschaft und Politikberatung Deutschlands seit längerem bekannt. Mit den Militäreinsätzen hat sich insbesondere das Friedensgutachten 2007472 befasst. Militärische Mittel würden nicht von vornherein abgelehnt. Um zum Erfolg zu führen, müssten sie allerdings Teil eines Gesamtkonzepts der politischen und zivilen Stabilisierung sein. Mit Recht habe die Bundeskanzlerin auf dem NATO-
470 BT-Drs. aao, Ziff. 11. 471 Das zeigt beispielhaft die dürftige Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage aus der Fraktion Die Grünen zur Bedeutung des Ressortkreises Zivile Krisenprävention vom 16.4.2012, BT-Drs. 17/9318. 472 der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Bonn International Center for Conversion (BICG), des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF), der Forschungsstätte der Evangelischen Studienge meinschaft (FEST), des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), 3 ff.
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Gipfel in Riga betont, in Afghanistan müsse vor allem der zivile Wiederaufbau gestärkt werden. Längerfristige Konsolidierungs- und Stabilisierungsmissionen in Nachkriegsgesellschaften wie EUFOR (Bosnien 1995), KFOR (Kosovo 1999) und ISAF (Afghanistan 2001) erforderten über die Minimalerwartung hinaus, gewaltsame Auseinandersetzungen zu unterbinden, sehr viel intensivere Anforderungen an die politische Konsolidierungsarbeit. Besonderer Aufmerksamkeit bedürften die „Konfliktfelder zivil-militärischer Beziehungen", so die „Handreichung" des BICC.473 Die „Handreichung" macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass die VN nach dem Brahimi-Report an einer VN-Peacebuilding-Gesamtstrategie arbeite, die im Dezember 2005 mit der Annahme der Resolutionen 1645 und 60/180 durch den Sicherheitsrat und die Generalversammlung der VN mit der Einrichtung einer Peacebuilding-Commission (PBC) eine institutionelle Infrastruktur erhalten habe. Sie soll • umfassende, „integrierte" Peacebuilding-Strategien als „Empfehlungen" ausarbeiten, die sich (vor allem) an den Sicherheitsrat und die Generalversammlung richten und so die institutionelle Trennung von „Sicherheit" und „Entwicklung" im VN-Hauptquartier überwinden helfen sollen. • Best Practices in den Bereichen der Friedenskonsolidierung entwickeln, die ein enges Zusammenwirken politischer, militärischer, humanitärer und entwicklungspolitischer Akteure voraussetzen, • die politische Aufmerksamkeit für Nach-Konflikt-Regionen aufrechterhalten und • die finanziellen Ressourcen für den Bereich der Friedenskonsolidierung durch einen (aus freiwilligen Beiträgen getragenen) Peacebuilding Fund erhöhen. Die Umsetzung dieser Entwicklungen in ein kohärentes deutsches Politikprogramm sei mangelhaft, weswegen das BICC ein „Plädoyer für eine integrative deutsche Sicherheitsstrategie"474 hält. Im Einzelnen wird gefordert •
eine integrative Sicherheitsstrategie mit zivilem Primat und mit einer klaren Bestimmung der strategischen Grundlagen für die Mandatierung militärischer Einsätze;
473 November 2006 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 474 April 2007.
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•
die Weiterentwicklung bestehender ressortübergreifender Abstimmungsmechanismen zu einer wirklich integrativen und steuerungsfähigen Infrastruktur; insbesondere Schaffung eines Sonderstabes für Prävention und Sicherheit unter Mitwirkung einer/s unabhängigen präventions- und sicherheitspolitischen Sonderbeauftragten; • darüber hinausgehende Maßnahmen zur Überwindung fragmentierter Diskurse und Handlungsweisen unter verstärkter Berücksichtigung der Rolle des Parlaments.
Zwar enthalte der Aktionsplan die richtigen Elemente. Jedoch werde verpasst, eine prägnante und umsetzbare Version für die nahe Zukunft zu entwickeln. Das Weißbuch zur Sicherheitspolitik von 2006 verwechsle Militärund Verteidigungspolitik mit einem wirklich umfassenden, integrativen Sicherheitskonzept. Große Bedeutung habe die europäische Sicherheitsstrategie, zu der die spezifischen deutschen Akzente gesetzt werden müssten. Schließlich wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Sicherheitsrat im Jahr 2006 Beschlüsse gefasst habe, die auf eine Ausweitung der Friedensoperationen auf bis zu 100.000 Personen hinauslaufe; die Unterstützung von VN-Diplomatie, entwicklungspolitischem Engagement und Blauhelmmissionen sei notwendiger denn je. Von entscheidender Bedeutung seien die institutionellen Änderungen: Es müsse ein funktionsfähiger Mechanismus für Prävention und Sicherheit entwickelt werden. Der nach dem Vorbild des nationalen Sicherheitsrates geschaffene Bundessicherheitsrat (BSR) sei wenig durchsetzungsstark, weitgehend auf die Genehmigung von Rüstungsexporten fixiert und bisher nicht in der Lage gewesen, eine überzeugende Sicherheitsstrategie zu formulieren. Eine entsprechende Rolle, die in anderen Ländern unmittelbar in den Administrationen der Staats- oder Regierungschefs liege, etwa die Funktion des Sicherheitsberaters, bestehe in Deutschland weder beim Bundeskanzleramt noch beim Außenministerium. Gebraucht werde eine „Kerngruppe", der das Kanzleramt, das AA, das BMZ sowie das BMVg angehören sollten. Nötig sei ein „Sonderstab für Prävention und Sicherheit" auf hochrangiger politischer Ebene. Die Kernarbeitsgruppe solle auch finanzielle Anreizstrukturen zur verstärkten Ressortkooperation entwickeln, etwa in Anlehnung an die britischen „conflict prevention pools". Und schließlich: „Die Beteiligung des Parlaments an zentralen Entscheidungen ist die wichtigste institutionalisierte Garantie gegen eine Verselbständigung oder gar Militarisierung von Sicherheitspolitik in einer Demokratie. Sie stellt die beste verfügbare Garantie dafür dar, dass ein politischer und gesellschaftlicher Konsens herge-
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stellt, Kontroll- und Evaluierungsmöglichkeiten wahrgenommen und nicht zuletzt Haushaltsmittel effizient eingesetzt werden."
Fazit: Der Parlamentsvorbehalt muss erweitert werden. Er muss neben den militärischen Aspekten vor allem die Beschreibung des Konflikts, die Strategie und das Vorgehen der zivilen Konfliktbearbeitung umfassen. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz muss geändert werden. Die Änderung ist nötig aus Gründen des nationalen Verfassungsrechts und zur Anpassung an die internationalen rechtlichen Vorgaben und die Erfahrungen aus der Praxis. VI. Die verfassungsrechtliche Verankerung des erweiterten Parlamentsvorbehalts Das Grundgesetz enthält neben dem wehrverfassungsrechtlichen auch und vor allem einen speziellen friedensrechtlichen Parlamentsvorbehalt mit mehreren „Standbeinen", bestehend aus • dem Friedensgebot des Grundgesetzes (unten 1.) • den völkerrechtlichen Rechten und Pflichten aus den einschlägigen Vertragswerken, die über Art. 25 Satz 1 und 56 Abs. 2 GG als nationales Recht gelten (2.) • und den „klassischen" Zuständigkeiten des Parlaments, nämlich dem Budgetrecht und dem allgemeinen Parlamentsvorbehalt (3. und 4.). Daraus hat sich eine öffentliche Aufgabe entwickelt, die Deutschland verpflichtet, eine friedenspolitische Infrastruktur aufzubauen und einzusetzen, über deren konkrete Missionen der Bundestag zu befinden hat. Ihm kommt insoweit ein Aufgriffsrecht zu. 1. Das Friedensgebot des Grundgesetzes Nach der Präambel des Grundgesetzes ist es Wille des deutschen Volkes, „dem Frieden in der Welt zu dienen". Sie und die Artikel 1 Abs. 2, 24 Abs. 2, 25 und 26 sind Basis des sogenannten Friedensgebotes des Grund-
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gesetzes,475 Art. 1 Abs. 2 enthält das Bekenntnis zu „Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Art. 24 Abs. 2 betrifft die Einordnung des Bundes in Systeme „gegenseitiger kollektiver Sicherheit". Art. 25 betrifft das Verhältnis von Völkerrecht und Bundesrecht und Art. 26 Abs. 1 verbietet die Führung eines Angriffskrieges. Diese Vorschrift sollte nach dem Willen des Parlamentarischen Rates jedem Bürger einen klagbaren Unterlassungsanspruch geben;476 bisher noch nie genutzt, aber wohl von einer ungeheuren Brisanz. Deiseroth hat sich in seiner Veröffentlichung zum Friedensgebot477 im Einzelnen mit dem Friedensgebot auseinandergesetzt. Er zeigt zunächst auf, dass es auch ein Friedensgebot der UN-Charta gibt. Dort wird das System der Charta beschrieben, dass nach der Charta zunächst Verfahren angewandt werden sollen, die dazu dienen, den Frieden zu sichern. Zentraler Akteur ist der Sicherheitsrat. Erst dann geht es um die militärische Gewaltanwendung und ihre Maßgaben. Dann wendet sich Deiseroth den einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes zu: Grundlegende Ausführungen, die für das Verständnis des Friedensgebots von großer Bedeutung sind. Denn das Friedensgebot erschöpft sich nicht in der strikten Einhaltung der völkerrechtlichen Ordnung gemäß Art. 25 GG. Vielmehr fordert die Präambel einen überobligatorischen Beitrag der Bundesrepublik im Rahmen
475 K. Doehring, Das Friedensgebot des Grundgesetzes, in: HFtR VII., vgl. auch BVerfGE 104, 151, 212; vgl. dazu grundlegend Deiseroth: Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta, 2009, zu beziehen über die International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), Deutsche Sektion, Marienstraße 19-20, 10117 Berlin; Denninger, Freiheit der Wissenschaft und die Friedensfinalität der Verfassung, in: Thomas Nielebock u.a., Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium, 2012. 476 Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 54 ff.; vgl. ferner die Äußerungen von Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, in: Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 -1949, Hauptausschuss, 5. Sitzung, 18. November 1948, S. 66 zu Art. 25 Abs. 2. 477 Dieter Deiseroth: Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta – Aus juristischer Sicht, in: Peter Becker, Reiner Braun, Dieter Deiseroth, Friede durch Recht, 2010, S. 35 ff.; vgl. auch E Denninger, Zivilkausel und Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes: Was ist möglich?, in: Nielebrock/Meisch/Harms, Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium, 2012.
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aktiver Friedenspolitik.478 Verstärkt wird diese Pflicht zur Friedensförderung durch das Bekenntnis des deutschen Volkes zu den Menschenrechten als Grundlage des Friedens in Art. 1 Abs. 2 GG und die in Art. 24 Abs. 2 und 26 Abs. 1 GG niedergelegte Friedenspflicht.479 Tomuschat480 formuliert: „Das Grundgesetz belässt es nicht bei einer bloß rezeptiven Hinnahme des geltenden Völkerrechts, sondern fordert die verantwortlichen Staatsorgane zur aktiven Mitwirkung bei der Bewältigung internationaler Probleme auf." Dabei zeigt gerade Art. 24 Abs. 2 GG, was der Bezug auf die Internationalität bedeutet: Die „Einordnung" in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit" muss auf das Ziel der Kriegsverhütung angelegt sein; eine Einordnung darf nur in ein solches „System" erfolgen, das dem Verzicht auf den „Krieg als Mittel der Politik" verschrieben ist. Dies muss sowohl in der völkerrechtlichen Satzung des „Systems" als auch in der praktischen Politik seiner Organe und Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommen. „Wahrung des Friedens" läge jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn im konkreten Falle die einschlägigen völkerrechtlichen Vorschriften zur Friedenssicherung missachtet würden;481 vor diesem Hintergrund war der Krieg der NATO gegen Jugoslawien völkerrechtswidrig, denn die sogenannte „humanitäre Intervention" verstieß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot.482 Simon483 hat darauf aufmerksam gemacht, dass es trotz der vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung herausgearbeiteten staatlichen Verpflichtung zur Friedenssicherung bisher versäumt wurde, dieses Friedensgebot „ähnlich konkret herauszuarbeiten wie etwa das Sozialstaatsgebot oder das Rechtstaatsgebot... Vernachlässigt wurden vor allem die Folgerungen für zivile Konfliktbearbeitung und deren Vorrang vor militärischer Gewaltanwendung."
478 Dreier, in ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 1. Aufl. 1996, Bd. I, Präambel Rn. 31 f.; vgl. dazu auch Deiseroth, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar, Art. 24, Rz. 238. 479 G. Frank, in: AK-GG, Art. 26 Rz. 8; K. Doering, Das Friedensgebot des Grundgesetzes, in: HStR VII., § 178 Rn. 1 ff.; a. A. I. Pernice, GG-Kommentar Band 2, Art. 26 Rz. 17: Aus Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG folgt hingegen keine positive Pflicht zu einer „Friedensförderunpspolitik". 480 HStR § 172 Rn. 4. 481 Deiseroth, in: Mitarbeiterkommentar zum GG, Art. 24 Rz. 241 ff. 482 Deiseroth, NJW 1999, 3084. 483 Helmut Simon, Frankfurter Rundschau v. 6.1.2004.
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Simon hielt es „für unerträglich, dass für diese Aufgabe lediglich ein verschwindend geringer Teil der Mittel zur Verfügung steht, wie wir sie für das Militär aufwenden." Es fällt auf, dass das Bundesverfassungsgericht sich in seiner Rechtsprechung zu den bündnispolitischen Anforderungen wiederholt auf das Gebot der Friedenswahrung bezieht.484 Die Frage, ob der konkrete Einsatz dieses Gebot beachtet, gehört zum Prüfprogramm der Rechtsprechung. Damit stellt sich die Frage, ob die Eignung einer konkreten friedenspolitischen Maßnahme zur aktiven Friedensförderung auch zum Beschlussprogramm des Bundestags gehört. Dafür wird es auch auf die bündnispolitischen Maßgaben insbesondere der Systeme kollektiver Sicherheit ankommen. 2. Die konkrete bündnispolitische Anforderung Die Entwicklung der wichtigsten bündnispolitischen Vertragssysteme, denen Deutschland angehört, weist, wie gezeigt, einen auffälligen Wandel bei der Formulierung der Instrumente für Friedenswahrung und Friedensentwicklung auf. Das gilt sowohl für die Vereinten Nationen als auch für das Vertragswerk der Europäischen Union. Sie bewirken über Art. 56 Abs. 2 GG auch innerstaatliche Verpflichtungen, die aber bisher ohne verfassungsrechtliche Konsequenzen sind: Bei den Vereinten Nationen hat sich, wie schon dargestellt, ausgehend von der Agenda für den Frieden 1992, ein neues Instrumentarium der militärisch-zivilen Zusammenarbeit entwickelt, deren Erfolge und Misserfolge im Brahimi-Report 2000 untersucht sind. Der Vorschlag, Integrated Mission Task Forces zu schaffen, zeigt, dass gerade die Integration zivil-militärischer Instrumente, bezogen auf ihren jeweiligen Einsatzzweck, die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des Friedensengagements der Vereinten Nationen steigern könne. Bemerkenswert ist dazu, dass auch in der NATO seit Mitte der 1990er Jahre unter dem Kürzel CIMIC (Civil-Military-Cooperation) eine entsprechende Diskussion geführt wird. Im NATO-Verständnis bezeichnet CIMIC heute eine taktische Doktrin, die insbesondere durch die NATO-Direktive MC411/1 vom Juli 2001 und durch die darauf aufbauende Allied Joint Application AJP-9 vom Juni 2003 konkretisiert wird. Allerdings haben die zi-
484 BVerfGE 104, 151, 212 f.; 118, 244, 261 f.; 121, 135, 160.
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vilen Elemente vor allem die Funktion, die militärischen Aufträge zu unterstützen. Das führt allerdings dazu, dass Soldaten humanitäre und entwicklungspolitische Aufgaben in Kriegs- und Nachkriegssituationen über teils lange Zeiträume hinweg übernehmen.485 Eine solche Aufgabenvermischung wäre nach deutschen Soldatenrecht freilich unzulässig: Im Urteil vom 26.9.2006486 hat es das Bundesverwaltungsgericht als rechtswidrig bezeichnet, dass Soldaten Öffentlichkeitsarbeit für ein „Historienspektakel" übernehmen. Die Bundeswehr dürfe nur für „dienstliche Zwecke" (§§ 10 Abs. 4, 11 Abs. 1 Satz 3 SG) eingesetzt werden. Das gelte auch für Einsätze im Rahmen eines „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit" nach Art. 24 Abs. 2 GG. Insbesondere die Entwicklung in der EU zeigt, dass die Bedeutung ziviler Mittel zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit zunimmt, wie der neue Art. 28 a des Vertrags von Lissabon und das Stabilitätsinstrument vom 15. November 2006 zeigen. In Art. 3 des Stabilitätsinstruments ist eine Vielzahl von Einsatzbereichen ziviler Akteure genannt, die der Erreichung der politischen Ziele der Europäischen Union für die Konfliktverhütung dienen. 3. Parlamentarische Budgethoheit Die Entwicklung der bündnispolitischen Aufgaben, etwa die Bereitstellung „ziviler Mittel... mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden",487 signalisiert, dass es Aufgabe der öffentlichen Verwaltungen in den Mitgliedstaaten ist, für solche „Mittel" und „Fähigkeiten" zu sorgen. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer nationalen Infrastruktur zur Befriedigung der internationalen Verpflichtungen. Mit anderen Worten: Wenn in der Rechtsstaatsmission EULEX im Kosovo Polizisten488 oder im Kongo Wahlbeobachter489 eingesetzt werden, dann muss es eben entsprechende Kräfte und Mittel dafür geben. 485 486 487 488
Zum Thema insgesamt BICC, Handreichung aao, S. 2. BVerwGE 127, 1. Vgl. Art. 28 a des Lissabonner Vertragswerks. Bisher größte zivile ESVP-Mission mit vorgesehenen über 1.800 zivilen Experten, vgl. BT -Drs. 16/9171 v. 9.5.2008, Ziff. 15. 489 Vgl. den Beschluss zur Kongo-Mission vom 17.5.2006, BT-Drs. 16/1507, in dem freilich nur die militärische Komponente, nicht aber die zivile Wahlbeobachtungsaufgabe erwähnt wird.
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Deutschland stellt dafür bereits Ressourcen zur Verfügung, so das Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF),490 das sich insbesondere die Aufgaben stellt, Fachkräfte für Friedenseinsätze zu rekrutieren, auszubilden und einzusetzen, insbesondere in den Bereichen public law and order, humanitäre Hilfe, Entwicklungshilfe und politischer Dialog. Die Kartei des ZIF enthält über 1.000 Namen, mit denen ein ziviler Expertenpool zur schnellen, gezielten Bereitstellung für internationale Einsätze vorgehalten wird. Aktuell sind für das ZIF mehr als 9.100 zivile Fach- und Führungskräfte in mehr als 50 Friedenseinsätzen weltweit unterwegs.491 Im Schwerpunkt Wahlbeobachter sind in der Zeit von 2002 bis 2007 sogar 2.100 Personen insgesamt eingesetzt worden. Das Auswärtige Amt fördert aber auch Organisationen der zivilen Konfliktbearbeitung wie etwa den Zivilen Friedensdienst (ZFD).492 Wie die obige Kritik am Umsetzungsstand des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" zeigt, ist insoweit aber bei weitem nicht alles Programmatische umgesetzt; möglicherweise tritt sogar ein Rückschritt ein. Umso eher bedarf die auf zivile Mittel gestützte zivile Konfliktbearbeitung parlamentarischer Aufmerksamkeit. Der Bundestag muss über die entsprechenden Budgetansätze befinden. Zum Inhalt der Beschlüsse gehört die Prüfung der sachgerechten Verwendung der öffentlichen Mittel. 4. Friedensrechtlicher Parlamentsvorbehalt Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere im Urteil vom 7. Mai 2008493 nicht nur hervorgehoben, dass der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt parlamentsfreundlich auszulegen sei, sondern dass insbesondere Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG kein apriorisches Gewaltenteilungskonzept entnommen werden könne. Es stellt sich daher die Frage, welche Rechte der Bundestag bezüglich der zivilen Elemente von Friedensmissionen hat. Diese Fragestellung ist umso dringlicher, als der Bundestag bisher von der Bundesregierung nicht verlangt
490 Vgl. www.zif-berlin.org. 491 Vgl. Zahlen und Fakten zu Friedenseinsätzen, AA, Zivile Krisenprävention, Nationale Strukturen. 492 2007: 17,05 Mio. EURO, vgl. BT-Drs. 16/9171 v. 9.5.2008, Ziff. 23. 493 BVerfGE 121, 135.
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hat, in die Beschlussfassung über zivile Elemente von integrierten Missionen oder über zivile Missionen einbezogen zu werden. Allerdings gab es den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 23.10.2007,494 mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, nach Rückkopplung mit dem Deutschen Bundestag einen „Referenzrahmen für die Beantwortung von politischen, militärischen, völkerrechtlichen, zivilen und polizeilichen Fragen im Zusammenhang mit der Entsendung von bewaffneten Kräften [bereitzustellen], in dem Art und Umfang der parlamentarischen Unterrichtung klar und umfassend festgehalten ist (Ziff. 1); im Sinne eines Gesamtkonzepts in künftigen Mandanten des deutschen Bundestags den zivilen und polizeilichen Beitrag zur Erreichung der angestrebten Einsatzziele mit zu berücksichtigen" (Ziff. 2).
Zum Thema lagen auch Anträge der FDP und der LINKEN vor. In der Sitzung vom 24.10.2007 stimmte auch die SPD dem Anliegen zu. Nach ausführlicher Diskussion, in der das Ziel der Anträge fast von allen Diskussionsrednern unterstützt wurde, wurden die Anträge an die Ausschüsse verwiesen. Diese empfahlen, die Anträge abzulehnen. Besonders kritisiert wurde die Forderung nach einem „Sonderausschuss“: „Die Bundeswehr sei ein Parlaments- und kein Ausschussheer.“ Im Ergebnis sind die Initiativen gescheitert. Das Problem ist, dass sich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Verengung der Optik auf den militärischen Teil der Missionen ergeben hat. Allerdings fällt eine gewisse Brüchigkeit der wehrverfassungsrechtlichen Begründung für den Parlamentsvorbehalt auf: Die Rechtfertigung dieses Parlamentsvorbehalts folgt nämlich aus seiner Historie, der Beschlussfassung über Krieg und Frieden, also über die Landesverteidigung; und die entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes. Die Lage hat sich aber beim Einsatz des Militärs für Friedensmissionen von Bündnissystemen kollektiver Sicherheit völlig anders entwickelt. Denn hier steht das Peace-keeping durch eine Vielfalt von Instrumenten im Vordergrund, deren nur eines das Militär mit seiner Rolle ist, das Blutvergießen zu stoppen. An dieser Stelle zeigt sich übrigens die Dimension des historischen Fehlgriffs des Bundesverfassungsgerichts im Out-of-area-Urteil, die NATO als System kollektiver Sicherheit einzuordnen. Denn ihre im Ver-
494 BT-Drs. 16/6770 „Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickeln – Unterrichtung und Evaluation verbessern“; vgl. auch Nachtwei (MdB bis 2013): „Im Auftrag“: Auslandseinsätze der Bundeswehr im politischen Prozess: . http:// nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1273&theme=print.
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tragstext geschriebene Aufgabe ist die der kollektiven Verteidigung. Die weiteren Aufgaben, die sich die NATO im Laufe der Zeit zugelegt hat, entsprachen politisch-voluntaristischem Denken und führen dazu, dass die heutige Befassung der NATO mit Krisenreaktionsaufgaben, zu denen sie auch zivile Elemente zählt, jedenfalls nach deutschem Wehrrecht von Soldaten der Bundeswehr nicht wahrgenommen werden dürfen. Stellt man richtigerweise das „Frieden schaffen" in den Vordergrund, über den der Bundestag zu befinden hat, dann führt das zu zwei Effekten, die auch der Funktion des Parlamentsvorbehalts, wesentliche Entscheidungen nur auf gesetzlicher Grundlage zu treffen;495 zukommen: • Der Bundestag muss zunächst eine Prognose dazu abgeben, ob die Mission als solche überhaupt ihr Ziel erreichen kann, ob nämlich etwa das nation-building so wie geplant vorankommt, wobei das Militär nur eine Teilrolle übernimmt, • vor allem rückt damit in das Bewusstsein, dass Deutschland im Rahmen seines verfassungsrechtlichen Friedensgebotes einen umfassenden Beitrag zur Friedenssicherung leistet, der – was die zivilen Elemente betrifft – sicherlich eine weit höhere Akzeptanz als der militärische Teil beansprucht, in dessen Rahmen schwer zu vermitteln ist, dass deutsche Soldaten für gewaltsame Auseinandersetzungen in Drittstaaten ihre Haut riskieren.496 Die Beschlussfassung bedarf einer gesetzlichen Grundlage durch Erweiterung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes. Sichergestellt werden muss, dass auf der Basis gesicherter Fakten der deutsche Beitrag für eine Konfliktschlichtung definiert und die Rolle des Militärs dabei (Schaffung eines sicheren Umfeldes für NGOs, Separierung der Konfliktparteien, Entwaffnung etc.) beschrieben wird. VII. Die Afghanistan-Mission Gerade die Afghanistan-Mission zeigt die „lessons to learn“ auf.
495 Vgl. dazu Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20R Rz 107 ff. 496 Die Umfrage der Körber-Stiftung zu den außenpolitischen Einstellungen der Deutschen (Mai 2014) zeigt, dass „zivile Möglichkeiten außenpolitischen Engagements favorisiert“ werden; siehe http://nachtwei.de/index.php?module=articles &func=display&aid=1288 (24.05.2014).
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1. Die Beschlusslage Der Deutsche Bundestag hat am 22.12.2001 die Beteiligung deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen Sicherheitsunterstützungsgruppe in Afghanistan (ISAF) beschlossen. Mit ergänzenden Beschlüssen497 wurde das Mandat zuletzt bis Ende 2014 verlängert. Mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2007498 wurde entschieden, dass der Bundestagsbeschluss vom 9. März 2007 keine verfassungswidrige Fortentwicklung des NATO-Vertrags enthalte. Allerdings verlangte das Gericht eine strikte Trennung zwischen dem ISAF-Mandat und der US-amerikanischen Operation Enduring Freedom. Wesentlicher Bestandteil des deutschen Einsatzes in Afghanistan war und ist aber aufgrund des „Übereinkommens über vorläufige Regelungen in Afghanistan zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen", der sogenannten „Bonner Vereinbarung" vom 5. Dezember 2001, die Wiederherstellung staatlicher Strukturen in Afghanistan. Danach müssen nach dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung499 •
politisch-administrative Strukturen hergestellt werden, die einen demokratischen Ausgleich und eine friedliche Balance zwischen den verschiedenen Ethnien und lokalen Machthabern ermöglichen, • die Verbesserung der Sicherheitslage durch eine Reform des Sicherheitssektors • und des Wiederaufbaus der wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur erfolgen.
Nur sichtbare Aufbauleistungen könnten der Bevölkerung eine friedliche Perspektive aufzeigen. Basis dieses Konzepts sei der Plan des VN-Sonderbeauftragten Brahimi, der auf einem von ihm zwischen allen bedeutenden politischen Gruppierungen Afghanistans (mit Ausnahme der Taliban) erzielten Konsens beruhe. Innerhalb von zweieinhalb Jahren sollten durch personelle, finanzielle, zivile und militärische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft der Wiederaufbau Afghanistans soweit gefördert werden, dass staatliche, private und zivilgesellschaftliche Strukturen sich Schritt für Schritt entwickeln und festigen könnten.
497 Zuletzt Beschluss des Bundestags vom 20.02.2014, BT-Drs. 18/436. 498 BVerfGE 118, 244. 499 AA, BMVg, BMZ, BMI v. 11.9.2003; überarbeitet im Jahr 2006.
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Eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau sollten die sogenannten Provincial Reconstruction Teams (PRTs)500 übernehmen. Es handelt sich dabei um aus Soldaten und zivilen Experten zusammengesetzten Teams, die über den Raum der Hauptstadt Kabul hinaus auch in den afghanischen Provinzen „Inseln der Stabilität und Sicherheit" schaffen sowie den Einfluss der Kabuler Regierung stärken sollen. Die PRTs haben sich unter dem Mandat der mittlerweile NATO-geführten ISAF je nach Region und leitender Nation unterschiedlich entwickelt. Fast alle PRTs haben jedoch eine starke zivile bzw. entwicklungspolitische Komponente. Allerdings arbeiten nur bei den deutschen PRTs in Kunduz und Feyzabad die zivile und militärische Komponente „integriert" und gleichrangig unter einem politischen Gesamtauftrag zusammen. Dies bedeutet, dass die deutschen PRTs von einer „Doppelspitze" geführt werden – von einem Vertreter des Auswärtigen Amtes und von einem des Bundesministeriums der Verteidigung. Innerhalb der zivilen Komponente arbeiten Beauftragte des Bundesministeriums für zivile Zusammenarbeit und Entwicklung sowie des Bundesinnenministeriums (hier Polizeiausbildung) mit Vertretern des Auswärtigen Amtes zusammen. Damit unterstehen die Zivilisten im deutschen PRT nur in punkto Sicherheit nicht aber in diplomatischen und entwicklungspolitischen Fragen dem militärischen Kommando.501 Die entscheidende Legitimation für beide Elemente der Mission, die zivile und die militärische, bietet aber die zivile mit ihrer klassischen „state-building“-Komponente. Das Bedenkliche ist, dass der Deutsche Bundestag nur über den militärischen Teil befindet. 2. Die Entwicklung Würde allein auf den militärischen Teil abgestellt, hätte die Mission längst abgebrochen werden müssen. Sie hat offenkundig keinen Erfolg: Von 2005 auf 2006 stieg die Zahl der Selbstmordanschläge von 21 auf 139, nahmen Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern von 783 auf 1.677 zu und verdreifachte sich die Zahl direkter Angriffe auf internationale Streitkräfte von 1.558 auf 4.552. Das US-Militär verzeichnete 98 Tote, die übrigen interna-
500 Vgl. dazu zif-Analyse 04/05, Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan, April 2005. 501 BICC, Handreichung, S. 4 f. mit m. w. N.
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tionalen Truppen weitere 93.502 Die Medien sind sich weitgehend einig, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist.503 Der Nachschub für die Taliban erfolge über eine 2.560 km lange Grenze aus Pakistan. Werde sie nicht effektiv kontrolliert, sei „nation building" in Afghanistan unmöglich.504 Bei einer Umfrage im Jahr 2007 sprachen sich 57 Prozent der Bundesbürger für ein Ende der Militärmission aus.505 Anfang 2013 titelte die Welt: „AfghanistanEinsatz ist für Deutsche ein Fehlschlag“.506 Mindestens jeder zweite Bundesbürger lehne den Einsatz ab, nur noch 38 Prozent stünden hinter der Mission, so die jüngste Bevölkerungsbefragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Aber auch die zivilen Elemente der Mission haben sich sehr problematisch entwickelt. Mit seiner Analyse 04/05 hat das zif das amerikanische, das britische und das deutsche Modell der PRTs untersucht. Die PRTs seien ohne einheitliches Konzept und kohärente Planung aus einer Defizit-Situation heraus entstanden, die darin bestand, dass ISAF landesweit keine ausreichende Sicherheit für das peace-nation building gewährleisten konnte. Die USA hätten beim Aufbau der PRTs den Anfang gemacht, Großbritannien und Deutschland folgten nach. Allerdings wählten alle drei sehr unterschiedliche Modelle, basierend auf den spezifischen Militärdoktrinen, institutionellen Voraussetzungen und jeweiligem nationalen Denken über das richtige Vorgehen bei Krisenprävention und Wiederaufbau. Das hatte Konsequenzen: Das Grundproblem der US-PRTs sei die gleichzeitige Durchführung von Kampfoperationen und Wiederaufbau. Das führe aber nicht nur zu einer Instrumentalisierung der humanitären Hilfe, sondern auch zu einer starken Widersprüchlichkeit in den Zielsetzungen der amerikanischen Intervention. Zur Erreichung eines erfolgreichen „war on terror" wurden Maßnahmen angewendet, wie insbesondere die Aufrüstung und Unterstützung lokaler Warlords, die für die Erreichung der humanitären Ziele offensichtlich kontra-
502 Glassner/Schetter, Der deutsche Beitrag zum Wiederaufbau Afghanistans seit 2001: Bundeswehreinsatz und ziviles Engagement, in: Friedensgutachten 2007, 63 ff., 64. 503 Vgl. etwa DER SPIEGEL 22/2008.122 ff. 504 Schmiese, Das wichtigste Friedensprojekt, FAZ 25.8.2008. 505 Ingelfinger, Mehrheit der Deutschen für Truppenabzug, SPIEGEL online 17.3.2007. 506 Die Welt v. 14.1.2013.
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produktiv sei. Die britisch geführten PRTs, ebenfalls unter alleiniger militärischer Führung, hätten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Das deutsche PRT unter einer zivil-militärischen „Doppelspitze" liegt ein ressortübergreifendes Programm mit einer Teilung in militärische, außenpolitische und entwicklungspolitische „Säulen" zu Grunde, für die eine interministerielle Steuerungsgruppe der beteiligten Ministerien verantwortlich ist. Es soll den zivilen Aufbau entsprechend dem Afghanistan-Konzept voranbringen. Ein wichtiges Instrument sei die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und halbstaatlichen Organisationen sowie NGOs, also des deutschen Entwicklungsdienstes (DEO), der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Unter den NGOs sind in erster Linie die Deutsche Welthungerhilfe (DWHH), die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte (AGEF) und weitere zu nennen. Die meisten deutschen und internationalen NGOs zeigen sich aber skeptisch gegenüber dem deutschen PRT-Konzept. Die Vermischung von humanitären und militärischen Aktivitäten gefährde die Helfer und verletze die Neutralität der NGOs (wie bei den US- und britischen PRTs). Die Politisierung der humanitären Hilfe erodiere die eigenen Schutzmechanismen der Hilfsorganisationen. Vor allem weise das deutsche PRT den weitaus höchsten militärischen Anteil auf, obgleich es als einziges PRT unter ziviler Beteiligung geführt werde und sich am stärksten auf Aufgaben im zivilen Bereich konzentriere. Das liege zum einen an den deutschen wehrrechtlichen Bestimmungen, zum anderen habe das PRT den Anspruch, versorgungstechnisch autark zu sein. Ein spezielles Problem liege darin, dass im Einsatzgebiet der Deutschen die größten Mohnanbau-Gebiete Afghanistans lägen. Die deutsche Haltung dazu sei, dass die Bundeswehr Kundus sichern, die Warlords und deren Drogenhandel aber in Ruhe lassen solle.507 Damit unterscheidet sich die deutsche Haltung explizit von der der USA und der Briten. Diese Kritik ist in einer SWP-Studie508 im Einzelnen untersucht worden. Die Studie konzentriert sich auf drei Fragestellungen: •
Welche Versäumnisse sind den in Afghanistan aktiven Staaten im Verlaufe der letzten sieben Jahre anzulasten und wie versuchen sie neuerdings, ihre Strategie den Gegebenheiten anzupassen?
507 Wolfgang Schäuble, in: taz 25.10.2003. 508 Peter Schmidt (Hg.), Das internationale Engagement in Afghanistan, Strategien, Perspektiven, Konsequenzen, August 2008.
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•
Welche Konsequenzen sind aus der heutigen Lage zu ziehen und wie ist insbesondere das Verhältnis zwischen militärischen und zivilen Organisationen und Mitteln auszutarieren? • Welche Rolle spielen Iran und Pakistan als die entscheidenden Nachbarn Afghanistans bei dessen Stabilisierung und wie kann den widersprüchlichen Interessen beider Staaten Rechnung getragen werden? Im einleitenden Beitrag509 werden die strukturellen Defizite der bisherigen Stabilisierungsstrategie analysiert: Die zu bewältigenden Schwierigkeiten seien zu Anfang grob unterschätzt, die Ziele im Hinblick auf Marktwirtschaft und Demokratie zu hoch gesteckt, die Probleme des Landes nicht erkannt und konkrete Fehlleistungen insbesondere bei der Reform des Sicherheitssektors und Organisation des Justizwesens begangen worden. Die neue Afghanistan National Development Strategy der Kabuler Regierung (ANOS) führe in ein Dilemma: Denn mit dieser Änderung unterstütze die Staatengemeinschaft politische Eliten, die bei der Bevölkerung zunehmend als unfähig und korrupt gelten würden. Dadurch bestehe konkret die Gefahr, dass die Bereitschaft erodiert, die ausländischen Streitkräfte auf afghanischem Boden zu dulden. In einer Analyse der NATO-Strategie510 wird herausgearbeitet, dass die zivilen Mittel an Bedeutung gewännen. Die Autoren plädierten dafür, die Aufstandsbekämpfung zunehmend den afghanischen Polizeikräften zu übertragen. Für den Einsatz in Afghanistan würde ein viel zu kurze Zeitspanne veranschlagt. Insbesondere wird die mangelnde Verzahnung militärischer und ziviler Mittel kritisiert, die auch für die deutsche Politik gelten. Kritisiert wird auch das Polizei-Konzept:511 Die bislang ausgebildeten afghanischen Polizisten seien schlecht bezahlt und korrupt. Zudem fehle es an einer engen Verzahnung und Zusammenarbeit mit der Justiz. Weitere Ausarbeitungen sind dem CIMIC-Konzept und der Perspektive der NGOs gewidmet. Insbesondere der letztere Beitrag512 zeigt die Probleme der NGOs auf, die eine klare Grenze zwischen ihrer Arbeit und den Operationen der Streitkräfte brauchen, um sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Die Verknüpfung der monetären Hilfe und der Sicherheitsaufgabe sei fraglich. Die zivil-militärische Zusammenarbeit habe keinerlei zusätzliche Sicherheit gebracht und die
509 510 511 512
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Von Maaß, 13 ff. Noetzel/Schreer, 31 ff. Kempin, 37 ff. Von Hofmann, 49 ff.
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Situation der NGOs im Land sogar spürbar verschlechtert. Wenn ihr Aktionsraum durch Streitkräfte beeinträchtigt werde, denen es darum gehe, humanitäre Hilfe als „Bestechungsmittel" im Kampf um die Gunst der Bevölkerung einzusetzen, verschlechtere dies ihren Aktionsraum zusätzlich. Zu bemängeln sei auch das Fehlen einer grundlegenden Ausbildung in internationale Entwicklung und Friedenskonsolidierung beim militärischen Personal. Das Fazit der Studie513 zeigt viele Widersprüche, aber vor allem viel zu geringe internationale Anstrengungen auf: • Der Aufbau staatlicher Strukturen in einem sicheren Umfeld könne nur zusammen mit der lokalen Bevölkerung, nicht aber gegen sie gemeistert werden; • je umfangreicher die Reformagenda sei, desto mehr sei die internationale Gemeinschaft angewiesen auf Spezialisten aus internationalen Organisationen und NGOs; • die Abstimmung unter den vielen Akteuren sei fast unmöglich; • ein „vernetztes Vorgehen" sei einerseits ratsam, andererseits angesichts der Existenz von „drei Willen", einem afghanischem, einem amerikanischen und einem europäischen,514 kaum erreichbar; • noch immer seien 6.000 Soldaten weniger da als von den Mitgliedstaaten im NATO-Rat als erforderlich gebilligt, und auch damit immer noch nur ein Sechstel der Truppen, wie sie in Bosnien eingesetzt waren; • jedoch: Die Probleme in Afghanistan seien mit militärischen Mitteln allein nicht zu lösen, es sei vielmehr nötig, stärker auf die lokalen Sicherheitskräfte zu setzen, die gründlich ausgebildet werden müssten; • der afghanische Staat habe es sehr schwer, die auf ihn zukommenden Aufgaben zu finanzieren: 90 Prozent des afghanischen Staatshaushaltes würden von der internationalen Gemeinschaft finanziert; • dazu kämen Probleme mit den alten Eliten und mit der Korruption: „Die meisten Politiker in unserem Land sind Kriminelle.";515 • es sei wichtig gewesen, dass sich die Staaten und Organisationen beim NATO-Gipfel im April 2008 für eine Weichenstellung in Richtung einer 513 Unter dem aufschlussreichen Titel: Sysiphus bei der Arbeit – oder: Wieviel ist genug?, 73 ff. 514 ISAF-Kommandeur McNeil, S. 74 Fußnote 4. 515 So der Chef der Drogenbekämpfungsbehörde in Nangarhar, so Spalinger, „Geringe Erfolge bei der Drogenbekämpfung in Afghanistan", in: Neue Züricher Zeitung vom 17.07.08, S. 5.
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allmählichen Reduzierung des militärischen und eine Stärkung des zivilen Beitrags positioniert hätten; • insbesondere müsse geprüft werden, ob ein Versöhnungsprozess mit den innerstaatlichen Gegnern zum Erfolg beitragen könne; • und vor allem: Die Ausgaben für die multinationalen Truppen beliefen sich auf ein Mehrfaches der Mittel für Staatsaufbau und Entwicklung, in Deutschland belaufe sich das Verhältnis von militärischen zu zivilen Ausgaben auf rund 5:1, nach Umsetzung der Zusagen auf der Pariser Konferenz vom 12. Juni 2008 solle es 3,5:1 werden.516 3. Die Stellungnahme der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD „Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik“ Die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) nimmt diese Kritik in einer aktuellen Stellungnahme auf. Sie hatte sich schon in ihrer Friedensdenkschrift 2007 mit den konkreten Auswirkungen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan auseinandergesetzt und darauf aufmerksam gemacht, dass die Soldaten der Friedensmission in zunehmenden Maße als „Besatzer“ angesehen würden (Rz 150). Der militärische Einsatz sei nicht alles. Vielmehr müsse die internationale Gemeinschaft „umfassend Verantwortung übernehmen“. Das Nebeneinander des Versuchs, militärisch Sicherheit herbeizuführen und das Land wiederaufzubauen, müsse gut abgestimmt werden. Nötig sei die Erarbeitung eines „friedenspolitischen Gesamtkonzepts“. Die Diskussion in der Kirche ging offensichtlich weiter. „Nichts ist gut in Afghanistan“, sagte die damalige Ratsvorsitzender der EKD, Margot Käßmann, Anfang 2010. Es sei eine „teils hitzige“ Debatte über die Fragen gefolgt: War der Bundeswehreinsatz am Hindukusch gerechtfertigt, waren die Mittel vertretbar? Und jetzt legt die EKD ein sehr prägnantes neues Papier vor, „Selig sind die Friedfertigen.“ Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik,517 an dem Einiges auffällig ist: Die Stellungnahme der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD unter Vorsitz des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, war angestoßen worden vom Afghanistan-Besuch einer Delegation unter Leitung des Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider im 516 Vgl. BT-Drs. 16/6460 v. 19.9.2007 und Regierungserklärung von BM Steinmeier zu Afghanistan v. 25.6.2008. 517 Januar 2014.
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Februar 2011. Die Kammer sei beauftragt worden, den Afghanistan-Einsatz anhand des Leitbildes des gerechten Friedens der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 zu erörtern. In ihrer Bewertung hat sich die Kammer – teils auch kontrovers, was auf den Tisch gepackt wird – mit dem deutschen militärischen Engagement in Afghanistan und den „Grenzen rechtserhaltender militärischer Gewalt“ auseinandergesetzt – und der Befund ist niederschmetternd. Von Anfang an habe es kein „friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept“ vor Ort gegeben. Das habe auch an der „friedenspolitisch problematischen Überschneidung zwischen der mit Erzwingungsgewalt ausgestatteten Stabilisierungsmission von ISAF einerseits und dem auf das Selbstverteidigungsrecht gestützten OEF-Einsatz andererseits“
gelegen. In diesem Zusammenhang setzt sich die Kammer mit der Legitimität der ursprünglichen Interventionsentscheidung auseinander. Ein Teil der Kammer plädiert für die ständige Überprüfung der Legitimität der Voraussetzung einer Intervention und die Inkaufnahme einer Revision. Ein anderer Teil betont die Bedeutung der unvorhersehbaren Entwicklungen und halte flexible Reaktionen für legitim. Jedoch müsste von vornherein die Grundentscheidung zur militärischen Intervention mit größter Sorgfalt Unvorhergesehenes einkalkulieren. Ein Teil der Kammer sieht dabei das Argument der Bündnissolidarität eher kritisch: Es wird bestritten, „dass der Gesichtspunkt der Bündnissolidarität im Zweifelsfall Vorrang haben darf vor friedensethischen und rechtlichen Selbstbindungen“. Die Kammer erinnert auch daran, dass die Weichenstellungen auf der Petersberg-Konferenz im Herbst 2001 insofern mangelhaft waren, als „erhebliche Teile der Zivilgesellschaft, darunter auch oppositionelle Kräfte (insbesondere auch afghanische Frauengruppen), ausgeschlossen“ gewesen seien und „keine Stimme im vorgesehenen politischen Prozess“ erhalten hätten. Jedenfalls sei die Akzeptanz der auf dem Petersberg entwickelten Konzepte nachhaltig beeinträchtigt worden. Es sei auszuloten, ob nicht jede Mandatierung einer bewaffneten Friedensmission immer auch mit einem friedenspolitischen zivilen Konzept zu versehen sein müsste. Auf diese Weise wäre jedwede militärische Operation in eine notwendigerweise zivile Perspektive eingebunden und an ihr zu messen. Das erklärte Ziel ziviler Konfliktprävention könne durch Einbeziehung und Ausbau der vorgesehenen Kompetenzen (Aktionsplan zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung, Ressortkreis, Bundestagsunterausschuss) be-
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stärkt werden. Konsequent plädiert die Kammer für eine Änderung des Verfahrens zur Mandatierung von Einsätzen durch den Bundestag. Es liege nahe, „den militärischen Teil in eine umfassende Mandatierung einzubinden, in der die zivilen friedenspolitischen Ziele und Maßnahmen konkretisiert werden“.518 Die Kammer spießt auch ein weiteres prekäres Thema auf, die amerikanische „Allgemeine Strategie der Aufstandsbekämpfung (counter insurgency/COIN)“. Einerseits wolle diese Strategie durch ein breites zivil-militärisches Handlungsspektrum „die Loyalität der Zivilbevölkerung gewinnen und die Aufständischen isolieren“. Andererseits werde verstärkt auf „verdeckte Operationen“ durch Spezialeinheiten, die gezielte Tötung Aufständischer und Terrorismusverdächtiger und Angriffe mit Kampfdrohnen gesetzt. Dabei wird auch die Tötung von Osama bin Laden am 1.5.2011 durch ein Kommando amerikanischer Navy Seals auf pakistanischem Territorium angesprochen: „Ob die Absicht bestand, ihn gefangen zu nehmen und einem rechtsstaatlichen Verfahren zuzuführen, ist zumindest zweifelhaft.“ Auch zu diesem Thema gab es widerstreitende Positionen: Die eine hält den Einsatz von Kampfdrohnen mit dem humanitären Völkerrecht nicht für vereinbar. Die andere Position bestreite, dass es eine „institutionalisierte Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Gewaltakteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“, gibt. Es wird auf die völkerrechtliche Diskussion zum Kombattantenstatus verwiesen. Die Friedensdenkschrift der EKD und das Plädoyer der Kammer für eine Erweiterung des Parlamentsvorbehalts treffen auf eine öffentliche Diskussion, die bei näherer Betrachtung keineswegs aus einem Guss ist. Einerseits plädieren Bundespräsident Gauck und die neue Bundesverteidigungsministerin von der Leyen dafür, dass Deutschland wieder mehr militärische Verantwortung übernehmen müsse. Man will sich offenbar von dem Akzent distanzieren, den Bundesaußenminister Westerwelle und Verteidigungsminister de Maizière mit der Abstinenz beim internationalen Libyen-Einsatz setzten. Konsequent hat de Maizière bei seiner Verabschiedung deutsche Eigenständigkeit auch gegenüber den Bündnispartnern Frankreich und England reklamiert.519 Auch Bundesaußenminister Steinmeier lässt aufhorchen, wenn er in die Vorbereitung der Mandatierung von Auslandseinsätzen auch
518 Auch Ulf von Krause, Generalleutnant a.D., plädiert für ein umfassendes zivilmilitärisches Mandat; in: Die Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz, Vorgänge 1/2014, 36, 44. 519 Süddeutsche Zeitung vom 09.01.2014
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den neuen Entwicklungshilfeminister Gerd Müller einbinden will520, der schon mit seinen ersten öffentlichen Bemerkungen großes Problembewusstsein und den Willen zum Eingreifen unter Einbindung der Vereinten Nationen äußerte. Daher könnte eine Änderung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, noch in dieser Legislaturperiode, die die zivilen Ziele einer Konfliktschlichtung zum Sicherungsobjekt für einen Militäreinsatz macht, ein Schritt zu einem demokratischen Frieden sein. 4. Folgerungen für den Parlamentsvorbehalt Dieser Befund muss Folgen für den Parlamentsvorbehalt haben. Denn der Parlamentsvorbehalt bezieht hier seine Rechtfertigung daraus, dass die konkrete Aufgabe, um die es hier geht, zum Zeitpunkt der Zustimmung Deutschlands zur Charta der Vereinten Nationen noch nicht denkbar war. Deutschland gliedert sich mit der Afghanistan-Mission vielmehr erstmals ein in einen umfassenden Auftrag der Vereinten Nationen als System kollektiver Sicherheit mit einem sehr weitreichenden und vor allem mit zivilen Mitteln arbeitenden Auftrag. In einem solchen Fall stellt sich auch die Frage nach der Reichweite der ursprünglichen parlamentarischen Zustimmung neu.521 Allerdings hätte sich der Bundestag eigentlich schon zum Zeitpunkt des ersten Mandats vom 22.12.2001 damit befassen müssen, zumal die damalige Begründung war, dass die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte ein wesentlicher Beitrag Deutschlands zur Implementierung des auf dem Petersberg in Gang gesetzten nationalen Versöhnungsprozesses in Afghanistan sei.522 Allerdings war damals noch nicht erkennbar, ob und mit welchen Instrumenten der Erfolg der deutschen Beiträge zu diesem Versöhnungsprozess gewährleistet werden könne. Hinzu kommt, dass dem Bundestag – und der Bundesregierung – die Erfahrung mit einem solchen umfassenden und neuartigen Mandat fehlte. Heute hat sich die Lage geändert: Die Frage, ob der Bundestag die weitere Präsenz deutscher Truppen in Afghanistan verantworten kann und will, hängt in erster Linie davon ab, ob der intendierte Versöhnungsprozess auch tatsächlich vorankommt; mit anderen Worten: die Beschlussfassung hängt von einer Bilanz über alle Elemente des Mandates ab. Geht man davon aus, dass der „Krieg gegen die Taliban" nicht zu ge520 Badische Zeitung v. 11.02.2014; vgl. auch SZ v. 30.01.2014. 521 BVerfGE 118, 244, 260 m. w. N. aus der ständigen Rechtsprechung. 522 BVerfGE 118, 244, 246.
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winnen ist, entscheiden über den Erfolg der Mission die zivilen Elemente. Deren Ausstattung und ggf. Aufstockung kann nur der Bundestag verantworten. Das bedeutet für das Procedere: Der Bundestag muss die Bundesregierung beauftragen, ihm zunächst einen eigenen umfassenden, also die militärischen und die zivilen Elemente umfassenden, Lagebericht mit eigener Bewertung zu geben. Der Bundestag muss dann eigenständig darüber entscheiden, wie er die Weichen stellen will. Gerade der von der Bundesregierung intendierte Ausbau des zivilen Engagements greift mit der dafür erforderlichen Aufstockung der finanziellen Mittel in die Budgethoheit des Parlaments ein. Ob und in welchem Umfang sodann der militärische Teil fortgesetzt wird, hängt von der Prognose über den Erfolg des zivilen Teils ab. Das bedeutet auch, dass der Beschluss über die Fortsetzung der militärischen Mission auf allenfalls sechs Monate befristet werden darf. VIII. Die Parlamentsbeteiligung nach dem ParlBG523 1. Der Ablauf der Parlamentsbeteiligung Der Faktenstoff und die rechtliche Beurteilung werden bestimmt durch den Antrag der Bundesregierung an den Bundestag auf Zustimmung zum Einsatz der Streitkräfte nach § 3 ParlBG. Abs. 2 enthält Vorgaben für den Antrag der Bundesregierung insbesondere über • den Einsatzauftrag, • das Einsatzgebiet, • die rechtlichen Grundlagen des Einsatzes, • die Höchstzahl der einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten, • die Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte, • die geplante Dauer des Einsatzes, • die voraussichtlichen Kosten und die Finanzierung. Das Gesetz trat erst lange nach den Einsätzen in Jugoslawien (1999) und Afghanistan (ab 2001) in Kraft. Mit dem Gesetz hat sich insbesondere Wiefelspütz in seiner Dissertation „Das Parlamentsheer“524 befasst. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags (WD) haben sich in einer 523 vom 16. März 2005; BGBl I 775. 524 2005.
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Ausarbeitung „Informationspflichten nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz“ von 2007 auch auf dieses Buch gestützt. Der WD schreibt: „Der Bundestag ist nur dann in der Lage, eine verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen, wenn er alle wesentlichen Elemente eines neuen Einsatzes überblicken kann. Der Antrag auf konstruktive Zustimmung des Parlaments muss deshalb den Gesamtcharakter sowie den Anlass und die Struktur des Einsatzes erkennen lassen. […] Die insgesamt aufgeführten Angaben sollen dann eine umfassende Informationsbasis für die parlamentarische Entscheidung sicherstellen.“
Wiefelspütz kritisiert, dass die Antragspraxis der Bundesregierung eine Tendenz zur Beschränkung auf lediglich Mindestangaben beinhalte525. Andererseits teilt er mit, dass das Parlament selbst alle zu Gebote stehenden Informationen heranziehen muss, um sich ein umfassendes Bild über den Einsatz machen zu können526. In der Tat kann der Bundestag sich in umfassender Weise über Fakten und rechtliche Beurteilungen informieren und die Abgeordneten sind in der Regel auch der Überzeugung, dass sie ihre Möglichkeiten ausschöpfen. Dennoch stellt sich die Frage, ob das in der Vergangenheit wirklich so war. 2. Der Krieg gegen Jugoslawien und der Afghanistan-Krieg nach 9/11 Beide Bundestagsbeschlüsse weisen, wie gezeigt, schwere Mängel auf. Der Beschluss zur Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien ließ die zu gleicher Zeit beschlossene OSZE-Mission völlig aus dem Blick. Die Faktenschilderung in der Regierungsvorlage war daher unzureichend. Außerdem stimmte die völkerrechtliche Analyse nicht. Der Bundestag wurde in die Irre geführt und hat auf einer völlig unzureichenden Grundlage entschieden. Das ist in diesem Buch im Einzelnen dargestellt worden. Auch die Beschlüsse zur Beteiligung an den beiden Missionen in Afghanistan – OEF und ISAF – waren völlig unzureichend. Es wurde jegliche Reflexion darüber unterlassen, welches Ziel die Einsätze eigentlich hätten. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ auf Basis der OEF-Mission entbehrte einer zureichenden völkerrechtlichen Basis. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass sich OEF zwar auf das Selbstverteidigungsrecht des Art. 51 VN-Charta „berufe“. Es ist jedoch zweifelhaft, ob es überhaupt je-
525 A.a.O. 456 f. 526 A.a.O. 467 ff.
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mals bestanden hat. Denn ein bewaffneter Angriff auf die USA hatte nicht stattgefunden. Jedenfalls war das Selbstverteidigungsrecht erloschen, nachdem der Sicherheitsrat entschieden hatte, die Terroristen müssten mit rechtsstaatlichen Methoden verfolgt werden; er wolle mit dem Fall befasst bleiben. Die ISAF-Mission hat zwar eine ausreichende völkerrechtliche Grundlage, weil sie auf der Basis von fortgesetzten Sicherheitsrat-Beschlüssen durchgeführt wird, an denen sich die Parlamentsbeschlüsse orientieren. Aber die zivilen Ziele, die die Staaten nach den Petersberg-Beschlüssen verfolgt haben, sind nie wirklich definiert und vor allem finanziell und logistisch ausgestattet worden. Die Mission musste im Desaster enden. Beide Missionen sind daher klare Belege dafür, dass der Parlamentsvorbehalt in der derzeitigen Konstruktion nicht geeignet ist, an der internationalen Schlichtung von Konflikten auf Basis der Charta der Vereinten Nationen und des Lissabon-Vertrages der EU mitzuwirken. Er muss erweitert werden. 3. Vorschlag Das Parlamentsbeteiligungsgesetz sollte wie folgt ergänzt werden: § 3 Abs. 2 wird wie folgt formuliert: „Der Antrag der Bundesregierung enthält Angaben insbesondere über • • • • • • •
den Anlass des Einsatzes im Konfliktgebiet, das Ergebnis der Prüfung, ob, in welchem Umfang und mit welchem Ergebnis Bemühungen einer zivilen Konfliktregelung Erfolg hatten, die Darstellung der Elemente einer umfassenden Konfliktregelung mit Festlegung des deutschen Beitrags; unter strikter Achtung des Friedensgebots des Grundgesetzes, die Aufgaben der Bundeswehr bei der Herstellung sicherer Verhältnisse und der Absicherung der Konfliktregelung, das Einsatzgebiet, die völker- und bundesrechtlichen Grundlagen des Einsatzes, …“
Der Deutsche Bundestag würde so zum Instrument „demokratischen Friedens“. Die Volksvertretung würde in einem umfassenden Sinne über die Möglichkeiten einer zivilen Konfliktschlichtung und die Beteiligung der Bundeswehr an ihrer Absicherung entscheiden. Umfassende Friedenssicherung wäre damit parlamentarische Aufgabe. Deutschland befände sich im Einklang mit den Zielen des Lissabon-Vertrages, wie sie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, und mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes. 440
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IX. Ergebnis 1. Das Friedensgebot des Grundgesetzes, zu finden vor allem in der Präambel und in den Artikeln 1 Abs. 2, 24 Abs. 2, 25 und 26, verlangt einen überobligatorischen Beitrag der Bundesrepublik im Rahmen aktiver Friedenspolitik. Es fordert die verantwortlichen Staatsorgane zur aktiven Mitwirkung bei der Bewältigung internationaler Probleme auf. Es ist unerträglich, dass für diese Aufgabe lediglich ein verschwindend geringer Teil der Mittel zur Verfügung steht, wie wir sie für das Militär aufwenden. 2. Deutschland hatte das Militär bis zum Ende des Ost-West-Konflikts ausschließlich für die Aufgabe der Landesverteidigung gemäß Art. 87 a GG vorgehalten. Durch dessen Wegfall traten andere – und für Deutschland neue – Aufgaben auf, die sich aus der Integration in „Systeme kollektiver Sicherheit" wie der VN oder der OSZE ergaben. Deutschland darf an solchen Missionen mit dem Militär teilnehmen, wie das Bundesverfassungsgericht im Out-of-area-Urteil klargestellt hat. 3. Sehr fragwürdig war es allerdings, wenn das Bundesverfassungsgericht auch die NATO als „System kollektiver Sicherheit" ansah. Denn die NATO ist nach Wortlaut und System ihres Vertrages Verteidigungsbündnis. In der Völkerrechtswirklichkeit hat sich allerdings ein anderer politischer Wille herauskristallisiert, nach dem die NATO der Friedenssicherung diene und deshalb als verlängerter militärischer Arm der VN auch für Friedensmissionen eingesetzt werden könne und dafür „Krisenreaktionskräfte" bereitstellt. Das war und ist verfassungswidrig. 4. Die VN haben im Laufe der Jahre mit den „peace-keeping-operations" einen neuen Typus von Friedensmissionen entwickelt, der militärischer, aber in großem Umfang auch ziviler, Kräfte bedarf; diese zivilen Kräfte beschäftigen die VN teilweise unmittelbar, teilweise bedienen sie sich bereit gestellter Kontingente der Mitgliedstaaten, so auch Deutschlands. 5. Auch die Europäische Union will sich auf Basis des Lissabonner Vertrages weltweit als Friedensstifter betätigen. Es gibt also eine neue europäische Friedensordnung, die wegen Art. 59 Abs. 2 und 24 Abs. 2 GG auch die Verfassungsordnung der Bundesrepublik beeinflusst, so wie sich das Grundgesetz mittelbar der europäischen Union bedient, um sein Friedensgebot umzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Analyse des Lissabon-Vertrags dazu bekannt, dass das Grundgesetz die Friedenswahrung als überragendes politisches Ziel der Bundesrepublik festgeschrieben habe. Das Grundgesetz wolle eine europäische 441
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Integration und eine internationale Friedensordnung: Es gelte deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechts-, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit. 6. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Parlamentsvorbehalt für die militärische Beteiligung Deutschlands an Friedensmissionen auf die historische Rolle des Militärs als „Parlamentsheer" gestützt. Das „Parlamentsheer" diente aber historisch der Landesverteidigung. Der Landesverteidigung in diesem historischen Sinne bedarf es nicht mehr. An ihre Stelle sind die Friedensmissionen getreten, die nunmehr dem Friedensgebot des Grundgesetzes erstmals zu einer wirkkräftigen Bedeutung verhelfen. Das hat Folgenden für den Parlamentsvorbehalt: Der Bundestag muss gerade über diejenigen Missionsteile, mit denen das Friedensgebot des Grundgesetzes und die neue europäische Friedensordnung umgesetzt werden, mit konstitutiver Wirkung befinden. 7. Der Parlamentsvorbehalt bekommt damit seinen eigentlichen Rang: Im Vordergrund der politischen Willensbildung steht nämlich die Frage, ob und mit welchen Mitteln Deutschland in fremden Staaten Friedenssicherung betreibt. Dabei haben die zivilen Elemente, die allein eine nachhaltige Konfliktbewältigung versprechen, ausschlaggebende Bedeutung, vor allem Rechtsstaatsmissionen. Von der Prognose über ihren Erfolg hängt ab, ob der Einsatz deutscher Soldaten, die hier im Auftrag des Staates ihr Leben riskieren, verantwortet werden kann und wie er zu gestalten ist. Deswegen muss die Rolle der Bundeswehr zur Sicherung der zivilen Konfliktschlichtungselemente, voran die Herbeiführung sicherer Verhältnisse, im Wege „vernetzter Sicherheit“ festgelegt werden. 8. Bestrebungen, den nationalen Parlamentsvorbehalt aufzuweichen und Vorratsbeschlüsse zuzulassen, die auf Beschlussfassungen auf EU- oder gar NATO-Ebene zurückgreifen, kollidieren mit der friedensrechtlichen Fundierung des Parlamentsvorbehalts. Gerade in Fragen von Krieg und Frieden und der nationalen Beteiligung an internationalen Konfliktlösungsverfahren muss der nationale Sourverän entscheiden. Denn er muss die Fakten erheben und bewerten und kann sich nicht auf anderswo gefundene Ergebnisse abstützen, die – wie die Erfahrung zeigt – häufig einseitig und interessenorientiert fallen.
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Epilog
Kautsky zitiert ein bekanntes Wort Bismarcks: „Es wird nie so viel gelogen wie vor einem Kriege, während einer Wahl und nach einer Jagd.“ Deswegen sind Arbeiten, die versuchen, die wichtigen Quellen zu zitieren und zu bewerten, von so großer Bedeutung. So sind Karl Kautsky, Fritz Fischer (1961) und auch Heinz Loquai vorgegangen. Der Auftrag der Regierung der Volksbeauftragten an Kautsky und seine Arbeitsgruppe war mit seinem Anliegen, die Akten des Auswärtigen Amtes unmittelbar nach Kriegsende zu erheben und zu bewerten, von epochaler Bedeutung. Denn üblicherweise bleiben gerade die Akten der Auswärtigen Politik 30 Jahre unter Verschluss. Er übte auch eine große Wirkung aus, der sich die anderen Regierungen nicht entziehen konnten. Das deutsche Pendant zu Kautskys Dokumentensammlung war das Weißbuch vom Juni 1919, das den „unvermeidlichen Abwehrkrieg gegen Russland“ zu begründen suchte. Österreich veröffentlichte sein Rotbuch Diplomatische Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914, Wien 1919. In Russland erschien ein „Orangebuch“, in Frankreich ein „Gelbbuch“. Schon im September 1917 hatte der Journalist Hermann Bernstein im New York Herald die „WillyNicky-Telegramme“ publiziert, die der russische Zarismuskritiker Burzew im Februar 1917 in Akten des Zaren in einem Depot entdeckt hatte (Clark 655). Deutschland veröffentlichte in der Folge von 1922 bis 1927 unter dem Titel Die große Politik der europäischen Kabinette 39 Bände deutscher diplomatischer Dokumente. Die britische Regierung veröffentlichte von 1926 bis 1938 die British documents on the origins of war (elf Bände). Die Veröffentlichung der französischen Documents diplomatiques français 1871 – 1914 begann 1930, doch der letzte Band erschien erst 1953. Die Regierung der österreichischen Republik veröffentlichte 1930 acht Bände österreichungarische Dokumente. Gleichwohl ist die Diskussion nicht zuende, wie die erfolgreichen Bücher von Christopher Clark und Herfried Münkler zeigen. Sie setzen andere Akzente als die Arbeiten von Kautsky; Luigi Albertini: The origins of war of 1914, Oxford 1953; Immanuel Geiss: Juli-Krise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, Hannover 1963; Gerd Krumeich: Der Erste
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Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, 2014, die eher auf der Fischer-Linie liegen. Erst recht fehlt eine ausgewogene Rezeption der Arbeiten von Loquai und der umfänglichen kritischen Literatur zum Jugoslawien-Krieg 1999. Die Historiker nehmen die Bücher nicht zur Kenntnis. Man fragt sich, woran das liegt. Diese Neuedition versucht jedenfalls, einen Anstoß für die Verarbeitung zu geben. Aber das Anliegen des Buches ist es, die Fragen über Krieg und Frieden und die nachhaltige Lösung von Konflikten dort zu positionieren, wo sie hingehören: In die Parlamente. Daher ist eine Parlamentsbeteiligung, die darauf ausgerichtet ist, die richtigen Fakten zu erheben, zu bewerten, angemessene Maßnahmen zu beschließen und dabei dem Militär die ihm zukommende Rolle zuzuweisen, von größter Bedeutung. Das große Manko der bisherigen Kriegführungen war die Zuständigkeit der „Obrigkeiten“, seien sie verfassungsmäßig legitimiert oder schlicht Diktatoren. Ihr Erkenntnisvermögen ist jedenfalls begrenzt, wie Kautsky am Beispiel der Randglossen des deutschen Kaisers an den Depeschen des Auswärtigen Amtes zeigt, die „das seltene Vergnügen [gewähren], dass das Volk einmal einen Kaiser in Unterhosen zu sehen bekommt.“ Es muss endlich der demokratische Souverän im Sinne Immanuel Kants zuständig werden. Dabei ist die (reformierte) Parlamentsbeteiligung ein wichtiger Schritt.
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