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German Pages 366 Year 2017
Joachim Knape 1521
Joachim Knape
1521
Martin Luthers rhetorischer Moment oder Die Einführung des Protests
ISBN 978-3-11-054549-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054692-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054558-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelbild: Der päpstliche Nuntius Hieronymus Aleander (Kupferstich von Agostino dei Musi aus dem Jahr 1536. Ex. Berlin Kupferstichkabinett) und Martin Luther als schlichter Augustinermönch (Kupferstich von Lukas Cranach aus dem Jahr 1520) Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
IX
Einleitung Die Reise
Stationen und Themen 17 Aufbruch 17 Savonarola in Naumburg. Eine Ermutigung als Warnung Der neue Theorieentwurf. Drei Kritiken Luthers und drei Ausschließlichkeitsformeln 31 39 Die Todesschreie des Jan Hus Schlechte Nachrichten in Weimar 55 Gelehrtentriumph in Erfurt. Die Ruhmesvision 58 Zusammenbruch in Eisenach 66 68 Politik auf der Ebernburg Epiphanie in Worms 87
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Drei Reden
Die Macht klagt an. Aleanders Rede und Luthers erstes Verhör Aleander als Chefankläger Luthers 1520 95 100 Aleander als Ziel antisemitischer Angriffe 1520 Aleanders Aschermittwochsrede am 13. Februar 1521 109 Aleanders Rede als rhetorisches Event 130 Der ratlose Reichstag 132 Luthers Team 143 Luthers erstes Verhör am 17. April 1521 153
Der Protest spricht im Angesicht der Macht 166 Luthers Wormser Rede am 18. April 1521 166 Das neue Wormser Exordium 170 177 Aptum Differenzierungen 195 Der Feind der Deutschen sitzt in Rom 196
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VI
Inhalt
Prophet 198 200 Protestant Der Wormser Bekenntnisruf 203 Dixi – Hier stehe ich? 205 Licht aus 207
Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V. 213 Dynastische Pflicht Fünf Argumente 222
213
Schwierigkeiten beim Finden der Wahrheit
Fünf Wege zum Finden der Wahrheit 229 Fachwissenschaftliche Disputation 231 Autoritative Fest-Stellung 233 235 Publizistische Debatte Diplomatische Verhandlung 239 Das Satyrspiel 242 Objektive Quellen der Erkenntnis und eigenes Urteil Das Neue und das Uralte 263 Heilige Sprachen 263 264 Heilige Texte Neue Methoden und uraltes Wissen
268
Das Novum Instrumentum des Erasmus von Rotterdam
Sola scriptura
Die Schwierigkeiten bleiben
286 296
Luther, Macht und Protest Wann beginnt die Moderne? Einführung des Protests
303 309
Dialektik von Protest und Macht
258
312
275
Inhalt
Einheit oder Sezession? Literatur
322
Namensregister Sachregister
335 340
318
VII
Vorwort Woher kommt die besondere Wertschätzung unseres Denkens in Alternativen, des abweichenden Denkens als Merkmal der Kreativität, des Sinns für Neues, der bevorzugten Geltung, ja, Bewunderung für Innovationen als Signum moderner Kulturen? Warum gilt dem Individuum und seiner Subjektivität bei uns so viel Aufmerksamkeit? Wieso sehen wir das traditionale Denken nicht mehr unangefochten als höchsten Wert an? Woher kommen die heute im Westen gepflegte Toleranzidee und der bei den meisten Menschen bestehende Sinn für Vielfalt? Was für intellektualgeschichtliche Entwicklungsstufen hin zu diesen Sichtweisen können wir feststellen? Wo liegen die Anfänge dieser in der westlichen Welt in den letzten Jahrzehnten immer stärker akzeptierten Haltungen? Gab es für all das einmal eine impulsgebende Eruption, deren Wellen sich über die Jahrhunderte ausgebreitet haben? Dieses Buch geht zu einem Anfang zurück und handelt von einer Schlüsselszene in der Menschheitsgeschichte des Aufbegehrens und der unangepassten Kommunikation. Es war ein langer Weg zu den modernen westlichen Demokratien, ein Weg, auf dem Denkschulen wie der laikale Renaissance-Humanismus oder der religiöse Calvinismus eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Es war ein genauso langer Weg, bis sich in den modernen Staaten des Westens, vor allem auch in Deutschland, ein offenes gesellschaftliches Bewusstsein und der Verfassungsgrundsatz durchsetzen konnte, dass Protest, Oppositionen und ideologische Minderheiten gesellschaftlich zumindest im Prinzip gleichberechtigt sind. Auf dem Weg zu dieser Haltung hat sich im angelsächsischen Raum insbesondere der frühneuzeitliche protestantische Nonkonformismus im Zuge seiner Auswanderung nach Amerika große Verdienste erworben. Insofern wäre es gewagt, eine direkte Entwicklungslinie von Luther zu den mentalen Befindlichkeiten der Moderne zu konstruieren. Da gab es zu viele Wellenbewegungen und Zwischenstationen. Dennoch aber scheint in Worms im Jahr 1521 etwas auf, das zu den bedeutenden Impulsgebern unseres heutigen Denkens gerechnet werden muss. Wir nennen es kurz das Prinzip Protest. Aus der Geschichte Deutschlands Auskunft über Zukunftswege unseres Landes gewinnen zu wollen, fällt schwer. Das gilt insbesondere für das 20. Jahrhundert. Da haben es unsere europäischen Nachbarn mit ihren auch politisch erfolgreichen Aufklärern und Revolutionären als Wegbereitern der Moderne etwas besser. Identifikationsfiguren findet die demokratische Kultur Deutschlands, über die Jahrhunderte gesehen, fast nur unter den Verlierern. Der Wormser Luther jedoch ist eine Ausnahme. Sein Handlungsmodell des Aufbäumens und des Pro-
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Vorwort
testierens hatte (unabhängig von der Frage der Inhalte) in Europa auf lange Sicht weiträumigen Erfolg. Viele rhetorische Momente gingen dem heute erreichten Stand gesellschaftlicher Toleranz in den vergangenen 500 Jahren voran, in denen mutige Menschen rhetorisch, mit Freimut und Engagement für dieses Prinzip eintraten. Kommunikativ folgten sie dabei der schon in der Antike für die Rhetorik postulierten Aufgabe, eine scheinbar schwächere Sache zur stärkeren zu machen. Ein solcher historischer Moment war der 18. April 1521 in Worms, als Luther seine Rede hielt. Dieses Geschehen ragt aus der genannten rhetorischen Ereigniskette heraus, weil es in gewisser Weise das Aufbruchssignal für sehr viel Neues in den westlichen Staaten war. Ab jetzt war der ideologische Monopolgedanke grundsätzlich in Frage gestellt, wenngleich es auch noch lange dauern sollte, bis dies überall akzeptiert wurde. Und, das muss man betonen, bis heute gibt es starke Kräfte, die das seit den Wormser Ereignissen sich immer weiter verbreitende Pluralismuspostulat nach wie vor auch im Westen in Frage stellen. In dem Moment, in dem ich dies schreibe, muss man sich Sorgen machen, ob die positive Entwicklung hin zu immer besser gesicherten Freiheitsrechten für alle Menschen anhält. Wir werden sehen. Wenn wir als Kinder die rotbraune Tasche mit den Familienfotografien durchstöberten, fiel mir immer wieder das Hochzeitsfoto meiner Eltern aus dem Jahr 1939 auf. Meine Mutter trug auf dem Bild merkwürdigerweise nur einen zarten weißen Schleier über einem schwarzen Kleid und sah daher für mich als Kind nicht unbedingt wie eine Braut aus. Irgendwann sagte man mir, dass der Verzicht auf ein weißes Brautkleid die damals ortsübliche Bedingung für eine katholische Trauungszermonie bei sogenannten ‚Mischehen‘ war. Gemischt konfessionell zu heiraten, war zu dieser Zeit verpönt, wenn nicht gar eine Schande.Weiße Hochzeit fiel aus, die Braut war auch äußerlich stigmatisiert. Und vergessen wir nicht: Zu dieser Zeit mussten Juden in Deutschland einen großen gelben Stern auf ihrer Kleidung tragen. Meine Mutter hatte zu kämpfen, um diese Ehe überhaupt eingehen zu können. Ihre Schwester Katharina wurde daraufhin Nonne und gab sich als neuen Ordensnamen eine Variante ihres Namens. Meine Mutter hieß Berta, ihre Schwester nannte sich nun beim Eintritt in den Orden Bertina (kleine Berta), um zu symbolisieren, dass sie deren vermeintliche Vermischungsschuld mit eigener Ehelosigkeit ausgleichen und mit dem Ordensschleier abbüßen wollte. Mischehe, das war 1939 ein Makel, zumal in einer Zeit, die ideologische ‚Gleichschaltung‘ und ‚rassische Reinheit‘ zu höchsten politischen Werten erklärt hatte. Doch meine Eltern hatten für sich statt religiöser Konformität und Gleichschaltung etwas sehr viel Wichtigeres gefunden. Trotzdem war meine Mutter ihr Leben lang bemüht, eine ‚gute Katholikin‘ zu sein, wie man damals sagte. Das galt ihr als Lebensprinzip, wurde auf uns Kinder übertragen und schloss eifersüchtig alle anderen ideologischen Ausrichtungen aus. Der Preis für eine katholische Trauung
Vorwort
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war zu dieser Zeit, dass die ‚gemischten‘ Eheleute entsprechende Zusicherungen unterschreiben mussten. Bei all dem galt in unserer Familie aber eben doch auch eine grundlegende Toleranz. Die Mutterkonfession gab den Ton an, doch die Vaterkonfession wurde respektiert, ja, weckte mein Interesse. Protestant war bei uns ein akzeptierter Status, auch wenn die katholische Umwelt meiner Kindheit im Eichsfeld das ablehnte. So konnte ich als Kind lernen, dass ideologische Koexistenz auch auf engstem Raum möglich ist, wenn die Menschlichkeit herrscht. Ich denke jetzt beim Schreiben an den Mut meiner Mutter, die das lange unter widrigen Umständen gelebt und vermittelt hat. In meiner Kindheit habe ich in den 1950er Jahren noch große religiöse und allgemein ideologische Intoleranz erlebt. Damals beherrschten noch auf allen Seiten die von rohen Machtinstinkten geleiteten Verachtungsdiskurse das Feld, die man nicht erst in der Nazizeit eingeübt hatte, da aber besonders. Angesichts meines Vaters empfand ich das als ungerecht und bedrückend. Der Wert der Toleranz und des Respekts vor dem Andersdenken, vor allem auch vor dem Andersfühlen stand mir als Kind schon deutlich vor Augen. In späteren Jahren haben diese Erfahrungen mein Interesse an Fragen nach den Ursprüngen von Freiheitsund Emanzipationsideen wesentlich stimuliert. Und dazu gehörte immer auch die Frage nach ersten signifikanten Anfängen des modernen Denkens, der ich auch in meiner 1992 erschienenen Habilitationsschrift zur ersten politischen Freiheitstheorie vom Luther-Zeitgenossen Sebastian Brant nachgegangen bin. Diese persönliche Geschichte zeigt etwas vom steinigen Weg der deutschen Geschichte hin zu unseren heutigen, sozial weitgehend akzeptierten Standards bei Toleranz und Pluralität. Deutschland hat sich in dieser Hinsicht mit seiner Verfassung dem westlichen Denken in allen Belangen angeglichen. Meine Überlegungen sind im Kern aus einem öffentlichen Vortrag hervorgegangen, den ich am 25. September 2012 auf Einladung der Wittheit zu Bremen im Haus der Bremer Bürgerschaft als Eröffnungsvortrag der Wittheit-Veranstaltungsreihe 2012/13 gehalten habe. Darin habe ich mich unter anderem mit der These des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt in seinem Buch ‚Die Wende‘ (amerik. The Swerve 2011) auseinandergesetzt, das moderne Denken habe seinen Ausgang im Moment des Auffindens einer LukrezHandschrift im 15. Jahrhundert genommen (vgl. dazu auch meinen Beitrag im Neulateinischen Jahrbuch 17, Jg. 2015, S. 396 – 410). Meine gegensätzlichen Überlegungen gingen damals dahin, dass – wenn man überhaupt historische Momente als wirkliche Auslöser und nicht nur als signifikante Indikatoren von Entwicklungen verstehen kann – sicherlich nicht die Entdeckung eines spekulativen naturkundlichen Werkes aus der Antike zur Moderne hingeführt hat. Eine solche Vermutung ist bei Greenblatt offenbar als Fehlprojektion aus dem heutigen Übergewicht naturwissenschaftlicher Paradigmen im akademischen Leben her-
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Vorwort
ausgewachsen. Die von mir in Bremen und auch in diesem Buch vertretene Gegenthese besteht vielmehr darin, dass sich das moderne Denken und ein bestimmtes Kommunikationsverständnis des Westens, wie auch seine sonstigen philosophischen Grundlagen, in der Vormoderne wesentlich im Rahmen der Dialektik religiöser Diskurse herausgebildet haben. Insofern ist Luthers Wormser Auftritt von 1521 als symbolischer Verfahrensimpuls intellektualgeschichtlich sehr viel bedeutsamer als es die ersten Anfänge der Naturwissenschaft im 15. Jh. waren, die zu einer Ablösung von der älteren Naturkunde und zu neuem Methodenbewusstsein führten. Im Folgenden soll also von einem Beginn mit religiös-philosophischem und politischem Hintergrund die Rede sein, bei dem wir es freilich noch nicht mit dem zu tun haben, was wir heute als entwickelten Pluralismus, ideologischen Relativismus oder Artikulation ideologischer Polyphonie bezeichnen. Der schon am Anfang hervortretende Charakter des Protests besteht im aktiven kommunikativen Eintreten für Abweichung von den Vorgaben der herrschenden Macht. So auch in der berühmt gewordenen Speyerer protestatio von 1529, in der die religiösen Abweichler und zugleich Erneuerer des Religionsverständnisses ihren eigenen Rechtsstandpunkt in Glaubensfragen mit einer juristisch förmlichen Erklärung zu Protokoll gaben. Seitdem nannten sie sich auch selbst „Protestanten“. Worms 1521 war der gelungene Eintritt des jetzt, am Anfang, im Sinne eines spirituellen Empörungsgestus noch revolutionär gestimmten Luther in diese selbstbewusste Haltung. Protestiert haben Menschen im Ansatz zwar schon immer, in Worms aber geht es nicht mehr um etwas Individuelles, sondern darum, erstmals das rhetorische Prinzip Protest mit seinen sozial-kommunikativen Einrichtungen neben der Macht und als Teil des gesellschaftlichen Kräftefeldes gleichberechtigt zu etablieren. Im Initialmoment Worms kristallisiert sich schon zu Beginn das immer wieder aufbrechende Ringen um dieses Prinzip heraus. Diesmal gibt es ein Gelingen. Es ist ein weltgeschichtlicher rhetorischer Moment, dessen Vorbereitung, dessen Prozessualität und dessen historische Settingbedingungen in diesem Buch dargelegt und analysiert werden. Die für die Darstellung herangezogenen Zitate aus Originalquellen wurden von mir aus Gründen einfacherer Zugänglichkeit ins Neuhochdeutsche übersetzt oder aus schon vorliegenden Übersetzungen übernommen. Immer sind aber auch die Originalbelegstellen ausgewiesen. Bei der Vorbereitung des Buches hat mir Kathrin Schelling große Dienste erwiesen. Die Bilder hat Sebastian König aufbereitet. Bei der Redaktion und bei den Korrekturarbeiten haben Christopher Bischof, Bastian Böttcher, Alexander Fick und Rebecca Kiderlen mit viel Engagement geholfen. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Tübingen im Frühjahr 2017, JK
Einleitung
Einleitung
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Epochenjahr? Das Jahr 2017 gilt der evangelischen Kirche als Jubeljahr, als herausragendes Reformations-Jubiläum. Ist das Jahr 1517 aber deswegen auch schon ein Epochenjahr? Darüber kann man streiten, wenn man solche historischen Markierungen überhaupt für sinnvoll hält. Was begründet solch einen Status? Der bloße Anstoß einer welthistorischen Entwicklung oder seine Erfüllung in einem bestimmten historischen Moment? Die Jahreszahl 1521 scheint demgegenüber auf den ersten Blick weniger aufregend zu sein und einfach nur zur Menge all der anderen ungeraden und unspektakulären Jahresdaten zu zählen, die die Geschichtsbücher füllen. Doch auf den zweiten Blick wird uns bewusst, dass es sich doch etwas anders verhält. Es ist solch ein Jahr der Erfüllung oder des Sieges. Zweifellos ist der Wittenberger Weckruf des Jahres 1517 für die evangelische Kirche ein entscheidendes Datum,vielleicht sogar der Gründungsmoment der Kirche. Für die politische Geschichte Deutschlands jedoch und für die säkulare Weltgeschichte ist der Ausgang der Wormser Ereignisse von 1521 viel wichtiger, denn hier wurden für die Systemfrage und die Frage nach der Möglichkeit von zwei Wahrheiten nicht mehr zu revidierende faktische Antworten gegeben. 1521 ist vielleicht kein „Epochenjahr“, wie Historiker heute bisweilen die Jahre 1848, 1913, 1989 oder gar 2014 nennen, also Jahre, in deren Geschehnissen viele Entwicklungen zusammengeflossen sind. 1521 gehört eher zu jenen Jahren, die aufgrund eines einzigen welthistorischen Ereignisses ihren Platz im kulturellen Gedächtnis des Westens fanden. So verhält es sich auch mit anderen prominenten Jahren. Im Bewusstsein der Nachlebenden knüpfen sich diese Jahre an Schlüsselszenen, an einen bestimmten Tag, ja, an eine bestimmte Stunde oder Minute, in der sich das große Ereignis mit seiner meist komplexen Vor- und Nachgeschichte zu verdichten scheint. Wir denken an das Betreten Amerikas durch Christoph Columbus am 12. Oktober 1492, an den Sturm der Bastille am 14. Juli 1789, an den Kanonenschuss vom Schlachtschiff Aurora in St. Petersburg am 25. russischen Oktober 1917 oder an die Atombombe von Hiroshima am 6. August 1945 und an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Und wir denken hier ganz besonders an den 18. April 1521, an dem Luther seine entscheidende Verteidigungsrede auf dem Wormser Reichstag hielt. Es war am Ende von Luthers Rede jene Sekunde, in der Kaiser Karl V. zögerte und entschied, den Reformator wider Erwarten mancher Beobachter nicht zu verhaften und als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen, sondern ihm zu ermöglichen, das Tribunal erhobenen Hauptes zu verlassen. Die in diesem Buch unternommene Darstellung des Geschehens in Worms soll nicht die protestantische Heldenlegende Martin Luthers weiter ausarbeiten. Diese Art von Hagiographie ist in fünfhundert Jahren Reformationsgeschichtsschreibung schon zur Genüge geübt worden. Es geht aber auch nicht um eine Demontage des großen Reformators. Ganz im Gegenteil. An seinen Auftritt in Worms sollen nur einige andere Fragen DOI 10.1515/9783110546927-001
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Einleitung
aus rhetorikhistorischer Sicht gestellt und damit eine andere Perspektive ins Spiel gebracht werden. Rhetorik ist der große Dynamikfaktor der Kulturen, wenn Menschen ihr als berechtigt angesehenes Anliegen kommunikativ durchzusetzen versuchen. Luther nutzt diesen Faktor im rhetorischen Moment des Wormser Reichstags von 1521, und das hat welthistorische Folgen. Sternstunde der Menschheit? Im Jahr 1927 hat der Schriftsteller Stefan Zweig die herausragenden welthistorischen Ereignisse und Momente ‚Sternstunden der Menschheit‘ genannt. Luthers Worms-Rede kommt bei ihm interessanterweise nicht vor. Das unterscheidet ihn vom Historiker Alexander Demandt, der im Milleniumsjahr 2000 etwas zurückhaltender von ‚Sternstunden der Geschichte‘ spricht, zu denen er nun auch das Worms-Ereignis 1521 rechnet.¹ Die Rede von Sternstunden soll ein positives Licht auf das jeweilige Geschehen werfen. Es sind Momente, die wir faktisch oder symbolisch als Meilensteine am Weg zur menschenwürdigen Weltgesellschaft im Sinne Immanuel Kants sehen könnten; Schlüsselszenen der Entwicklung, in denen sich „eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet“.² Doch es ist diskussionswürdig, welche zu diesen herausragenden Stunden gehören. Stefan Zweig etwa zählte „Die Weltminute von Waterloo“ am 18. Juni 1815 zu den Sternstunden, als Napoleon Bonaparte, der Militärdiktator, Völkerunterjocher und Verantwortliche für Hunderttausende von Kriegstoten, durch die Abwesenheit seines Generals Grouchy so geschwächt wurde, dass er Schlacht und Herrschaft verlor. Diskussionswürdig sind auch die Kriterien, nach denen Jakob Burckhardt die Weltgeschichte im Kapitel „Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte“ seiner ‚Weltgeschichtlichen Betrachtungen‘ von 1868 sortiert. Ganz eurozentrisch und reformiert-protestantisch selegiert er Ereigniszusammenhänge des historischen Glücks und Unglücks der Welt, die eine klare antikatholische, antiromanische und antiislamische Werteskala bedienen. Da heißt es etwa: „Ein Glück, daß Europa im 8. Jahrhundert sich im ganzen des Islams erwehrte. – Ein Unglück, daß die deutschen Kaiser im Kampf mit den Päpsten unterlagen, und daß die Kirche eine furchtbare Gewaltherrschaft entwickeln konnte. – Ein Unglück, daß die Reformation sich nur in halb Europa vollzog und daß der Protestantismus sich in zwei Konfessionen teilte. – Ein Glück, daß Spanien und dann Ludwig XIV. mit ihren Weltherrschaftsplänen am Ende unterlagen – usw.“³
Zweig 1927 mit fünf Kapiteln; Zweig 1943 erweiterte Fassung mit dem Untertitel „Zwölf historische Miniaturen“; Demandt 2000. Kant 1784, S. 49. Burckhardt 1905, S. 254 f.
Einleitung
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Solche Behauptungen sind heute nicht mehr für alle Europäer selbstevident. Alexander Demandt weist angesichts dieser Aufstellung zu Recht darauf hin, dass hier offenkundig das Glück des einen mit dem Unglück des anderen einhergeht.⁴ Wenn wir an Martin Luthers Wirken denken, so stellt sich bei den gerade zitierten Glücks- und Unglücksfeststellungen Burckhardts zum Erfolg bzw. Misserfolg von Religionen und Konfessionen eine zentrale Frage: Auf welche Weltinstanz könnte man sich allen Ernstes berufen, wenn man weiterhin mit Jakob Burckhardt behaupten würde, die Hälfte Europas habe im Unglück gelebt, weil sie katholisch geblieben sei, und von der protestantischen Hälfte habe wiederum die lutherische Hälfte infolge der inneren Konfessionsteilung aus Sicht des schweizerisch-reformierten Burckhardt im Unglück gelebt? Kairos? In dem von Stefan Zweig geprägten Begriff der Sternstunde steckt eine Lichtmetapher, die uns darauf aufmerksam machen soll, dass in einem bestimmten historischen Moment etwas Ungewöhnliches aufleuchtet. So einen besonderen, unwiederbringlichen Moment nennt die klassische Rhetoriktheorie kairos.Wenn wir an den Stern von Bethlehem denken, dann erinnern wir uns, dass es eine alte poetische Idee ist, im Sternenlicht sich etwas Besonderes und Einmaliges spiegeln zu lassen. Luther nutzte den einmaligen und richtigen Moment der Geschichte, um die Sache seines Lebens der Entscheidung zuzuführen. Dabei wurde die menschliche Rede zum maßgeblichen Kommunikationsfaktor. Die insgesamt drei in diesem Buch untersuchten Reichstagsreden bzw. -Verlautbarungen von 1521 stehen für diesen Faktor im historischen Geschehen. Sie sind verwoben in einmalige Ereigniszusammenhänge, in denen Martin Luther als handlungsmächtig eingestellter Akteur und zugleich rhetorisch handelnder Orator im Spiel der intellektuellen und zugleich politischen Kräfte seiner Zeit hervortrat, aber nicht allein. Aufbruch? Wie das englische Wort break hat das deutsche Wort brechen schon in seinen mittelhochdeutschen Ursprüngen zahlreiche Bedeutungen. Wenn etwas bricht, dann stellen wir bisweilen einen Bruch oder aufgebrochene Strukturen fest. Wir sprechen dann vielleicht vom Aufbruch, Anbruch oder – in besonders weitgehenden Fällen – vom Umbruch. Etwas hat sich mit gewisser Gewalt geändert, ist gebrochen, sagen wir. Zugleich bedeuten die Wörter Aufbruch und Anbruch aber auch den Beginn eines Weges. Man beginnt eine Reise, wenn man aufbricht. So kann auch die spektakuläre Rede Luthers in Worms verstanden werden. Die in diesem Buch unternommene Darstellung des Redegeschehens auf dem Wormser Reichstag von 1521, insbesondere der Umstände der Luther-Rede, will von den bereits genannten Spekulationen, Vorannahmen und teleologischen
Demandt 2000, S. 16.
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Einleitung
Projektionen absehen. Worms 1521 hat in der Tat nicht dazu geführt, dass der Protestantismus als Konfession in Europa vorherrschend wurde. Worms 1521 markiert aber doch insofern einen Bruch, als Luthers Ansatz aufgrund seiner gedanklichen Tiefenstruktur dazu geführt hat, dass das freiheitliche Denken der Neuzeit in einem demonstrativen rhetorischen Ereignis endgültig aufs Gleis gesetzt wurde, ein Denken, dessen Struktur die Renaissance-Humanisten schon vorgeprägt hatten. Insofern ist Luthers Rede in Worms eine vom Anbruch gekennzeichnete Schlüsselszene der Menschheitsgeschichte. Das Geschehen in Worms ist von der typischen Struktur einer Entscheidungssituation gekennzeichnet, die irreversible Folgen größten Ausmaßes hat. Dadurch würde sie für Stefan Zweig zu einer Sternstunde. Wäre die jeweilige Entscheidung, sei sie politischer, juristischer, militärischer oder rein denkerischer Natur, anders gefallen, so die Annahme, wäre alles oder doch vieles anders gekommen. Zumindest hätte sich der zeitliche Ereignisrahmen deutlich verschoben, mit jenen Konsequenzen, die die Faktorenfülle komplexer geschichtlicher Systemzusammenhänge für die im Geschehen verfangenen Akteure so unberechenbar macht. Das unterscheidet Luthers Anregungen zur wissenschaftlichen Diskussion im Jahr 1517, die wir heute Thesenanschlag nennen, von seinem spektakulären Redeauftritt in Worms 1521. Auch der Fall Luther steht in dem von Stefan Zweig deutlich gesehenen wechselseitigen Bedingungsrahmen von Handlung, Entscheidung und Kontingenz. Religion oder Politik? Alles fing im Herbst 1517 mit der Ausarbeitung und dem Versenden der berühmten 95 Thesen gegen den Ablass an. Die folgenden Jahre waren für Luther von immer heftiger werdenden Konflikten um die religiöse Ordnung in Deutschland gekennzeichnet. Währenddessen arbeitete er seine Theorie unter starkem publizistischen Getöse, das er selbst anfachte, weiter aus. Der April 1521 sollte mit dem Reichstag die Entscheidung bringen. Die einen hofften, dass der Reichstag das schon erfolgte päpstliche Urteil über Luther als Ketzer formal bestätige, die anderen, dass Luther im Triumph davonkomme. Am Ende gelang und misslang beides zugleich. Luther wurde in Acht und Bann getan und musste erst einmal untertauchen, doch auch das vom Kaiser verhängte Wormser Edikt war kein Erfolg, blieb letztlich wirkungslos. Die für uns heute erstaunliche Tatsache, dass man 1521 mit Luthers Fall, der Causa Lutheri, wie man damals sagte, religiöse Differenzen, einen Theologendisput und eine innerkirchliche klerikale Disziplinarangelegenheit weltlichen Politikern auf einem Reichstag zur Entscheidung vorlegte, dürfte heute manchen wundern. Man bemerkt, dass hier eine historische Differenz zu der 500 Jahre zurückliegenden Zeit Luthers deutlich hervortritt, die man vielleicht eine Epochendifferenz nennen könnte. Die Verschränkung von Staat und Kirche war damals anders dimensioniert als in der heutigen westlichen Welt. Religion und mit
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ihr alles Ideologische waren auch zu dieser Zeit ein Politikum ersten Ranges. Im Interesse einer einfacheren Verständigung wird von mir in diesem Zusammenhang und auch im Folgenden der Begriff Ideologie stets als neutraler Oberbegriff für weltanschauliche Systeme aller Art (Religion, Philosophie, politische Alltagstheorien usw.) verwendet, auch wenn es Theologen oft nicht gern hören, dass man die Religion in dieser Weise subsumiert. Man kann die Religion zweifellos als eigenständigen Diskurs betrachten. In dem Moment jedoch, in dem die Religion danach strebt, in anderen Diskursen einer Gesellschaft, insbesondere im Rechts- oder Politikdiskurs, konstitutive Funktionen zu übernehmen, wird sie zum gesamtgesellschaftlichen ideologischen Faktor. Dieses zu allen Zeiten erkennbare Streben von Religionen, Mittelpunkt des gesamten ideologischen Systems von Gesellschaften zu werden, zeigt sich etwa in den Diskussionen um die Aufnahme von Gottes- und Religionsbezügen in das Fundament von Verfassungen.⁵ Solch ein Gottesbezug wurde in Deutschland erstmals in die Verfassung der Bundesrepublik von 1949 aufgenommen, fand sich nicht in den Vorgängerverfassungen. Im alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation der Lutherzeit gab es – von der anders konzipierten Goldenen Bulle abgesehen – kein geschriebenes Grundgesetz im heutigen Sinn. Aber die gewohnheitsrechtliche Verschränkung von politischer und kirchlicher Macht war nach heutigen Maßstäben unvorstellbar groß. Die Religion war unumstrittenes Kernelement des ideologischen Systems der Zeit. Das zog auch Luther nicht in Zweifel. Er warf nur die Frage auf, worin die Religion eigentlich besteht. Seine spektakulären Vorschläge für eine Reform der Kirche sind in mehr politische Handlungsfelder eingewoben als es heute bei uns noch möglich wäre (in anderen Gegenden der Welt sieht das natürlich anders aus). Das machte die politische Brisanz seines Protests aus. Als ein so zentraler Bestandteil der Politik gilt für die Religionsausübung dann unvermeidlich, was Aristoteles für das Handeln der Menschen und die Politik allgemein postuliert, dass sie nämlich der Kontingenz unterliegt. Damit ist sie ein Bereich, in dem fast alles „auch anders sein“ könnte, „weil der Gegenstand des Handelns sich auch anders verhalten kann“ (Nik. Eth. VI,5). Die Religionsgeschichte der letzten 500 Jahre in Europa mit ihrer Abfolge von Konfessionswechseln und Glaubenskriegen ist ein Beweis für die (für manchen Beobachter vielleicht ebenfalls erstaunliche) Tatsache, dass Religion faktisch wie Politik zu den Handlungsfeldern des „Auch-anders-sein-Könnens“ wurde. Erzwungene oder erwünschte Konfessionswechsel waren in Europa bis ins 18. Jahrhundert unter den Bedingungen der genannten Macht- und Diskursverschränkungen hinein trauriger Alltag für viele
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Menschen. Wechselte der Herrscher die Konfession, hatte das Volk auch die Konfession zu wechseln. Das war in Deutschland die Regelung nach dem 30jährigen Krieg. Luthers herausragende Position ergab sich aus der Rolle als Masterexponent des religiösen Protests, der die Religion neu auf den Prüfstand stellen wollte. Auch wenn er selbst sich immer nur als Theologen sah, so wurde er 1521 durch zwei Faktoren zum maßgeblichen Politikteilnehmer: (1) durch eine so nie dagewesene, durch den Buchdruck weltgeschichtlich zum ersten Mal möglich gewordene rhetorisch-publizistische Kampagne und (2) durch die schon genannten besonderen verfassungsrechtlichen Konstruktionen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Medialer Aufbruch? Was die kommunikations- und medienhistorische Seite des Geschehens angeht, so haben wir es mit einer historisch neuartigen Lage zu tun. Die Wormser Ereignisse stehen nämlich in einem Doppelrahmen bis dato unbekannter Dimensionierung. Da ist zunächst die Situativik des Reichstagsgeschehens, das ganz von den traditionellen Bedingungen der Mündlichkeit und direkten Konfrontation geprägt ist. Luther wird dementsprechend vom Sprecher des Kaisers für seinen entscheidenden Auftritt die Bedingung gestellt, nichts Schriftliches vorzulegen, sondern sich rein mündlich zu verteidigen, so wie es im Face-to-Face-Kontakt der Situativik üblich und heute noch von der deutschen Strafprozessordnung als Mündlichkeitsprinzip strikt vorgeschrieben ist. Doch zugleich steht das Wormser Redegeschehen von Anfang an in einem zweiten Rahmen, dem der Dimissivik, also der Distanzkommunikation über Raum und Zeit hinweg, die der gerade erfundene Buchdruck erstmals mit unglaublich weiter Streuung ermöglichte. Worms wird in einer so noch nie dagewesenen publizistischen Kampagne systematisch vor- und nachbereitet. Luthers Redeauftritt hatte vor Ort im Reichstag großes Gewicht. Der Redetext selbst entfaltete seine politische Durchschlagskraft im intellektuellen Deutschland der Zeit aber erst durch den Buchdruck. Der Text der Rede wurde sofort nach Luthers Redeauftritt, kombiniert mit zeitungsartigen Geschehensberichten, verbreitet. So kommt es, dass erstmals in der Geschichte Deutschlands ein authentischer Redetext im Wortlaut gedruckt verbreitet wird, der in allen Landesteilen zur programmatischen Positionsbestimmung in einer damals lebenswichtigen Frage dient.Wir können also von einer zweifachen Sensation im kommunikativen Geschehen sprechen: Luthers Auftritt markiert insofern den Beginn der öffentlichen deutschen Redekultur, als erstmals in Deutschland solch eine öffentlich gehaltene Rede auf einem Reichstag (deren Originalwortlaut uns auch vorliegt) im situativen Zusammenhang zum Fanal wird. Sie kann zum Fanal werden, weil sie in einem zweiten Schritt den Ausgangs- und
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Mittelpunkt einer sich anschließenden, in dieser Weise erstmals nachweisbaren publizistischen Öffentlichkeitsarbeit einnimmt. Wenn die Mächtigen in Worms von Luther verlangen, seine Positionen mündlich zu widerrufen, dann hängen sie zu diesem Zeitpunkt bereits einer veralteten Medienvorstellung an. Hätte Luthers Körper (als Medium seines Textes) den Widerruf in der Situativik des Reichstags ausgesprochen, dann wäre das juristisch relevant und vielleicht auch für seine individuelle Seelenlage von Bedeutung gewesen, doch nicht in gleicher Weise für den religionspolitischen Kampf im Land. Luther hatte nämlich in den drei Jahren zuvor, vor allem 1520, längst mit zahlreichen grundlegenden Schriften Tatsachen geschaffen. Seine Reformation lag gedruckt auf dem Tisch. Was immer auch in Worms mit ihm geschehen würde, Luthers publizistischer Einfluss war nicht ungeschehen zu machen. Mit ihrer Festlegung auf einen mündlichen Widerruf setzt die Macht 1521 also zu einseitig auf eine unzeitgemäße Kommunikationsform in einer Angelegenheit größter kommunikativer Reichweite. Sie ist noch ganz in den Dimensionen des Manuskriptzeitalters verhaftet, lernt erst nach und nach, was gedruckte Propaganda ist. Mündlicher Widerruf ist individuell gedacht und nicht auf der Höhe der kommunikativen Lage, wenn das Ereignis nicht zugleich auch publizistisch begleitet wird. Luthers Vorläufer in der Kirchengeschichte der Abweichler, also die Katharer (daher Ketzer), der Engländer Wycliff und der Böhme Hus, hatte man im Zeitalter der Oralität noch geradeso mit Gewaltmaßnahmen unter Kontrolle gebracht. Doch auch damals gab es schon mündlich organisierte Glaubensverbünde. Rom und die Kaiserlichen glauben 1521 immer noch, ein individueller Widerruf könne alles aufhalten. Doch, wie gesagt, zu diesem Zeitpunkt war durch die neue Publizistik von Luther selbst bereits alles Wesentliche gesagt. Luthers individueller Widerruf hätte die nun ebenfalls bald auf die Bühne tretenden Schweizer Reformatoren Zwingli (ab 1522), Bullinger und Calvin (ab den 1530er Jahren) oder Butzer im Elsass (ebenfalls ab 1522) nicht mehr aufhalten können. Die Verwertung der Luther-Rede in dem genannten doppelten kommunikativen Rahmen hat sie zu einem herausragenden Bewegungselement in der Geschichte gemacht. Was die politisch-rechtlichen Konstruktionen angeht, so war die Voraussetzung für eine unumgängliche Politisierung der Luther-Angelegenheit im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation durch die fehlende Trennung von Staat und Kirche im modernen Sinn geprägt. Aufgrund der juristischen Verflechtung der beiden Säulen der Macht im Reich und seinen Ländern, also der weltlichen Herrschaft und der kirchlichen Herrschaft, musste Luther seinen Auftritt unvermeidlich politisch werden lassen, ihn von der rein religiösen und kirchenrechtlichen auf die politische Ebene heben. Seine Sache war also von Anfang an ein mehrdimensioniertes Politikum ersten Ranges. Dass Luther die Kirchensonder-
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gerichtsbarkeit kippte und das ganze Ständesystem in Bewegung brachte,⁶ um nur diese beiden Details einer Geschichte der Egalität zu nennen, kann aus heutiger Sicht in seiner Modernisierungswirkung kaum hoch genug eingeschätzt werden. Indem Luther das alte Konzept von Herrschaft auch in Religionssachen zur Disposition stellte, rüttelte er zugleich an der alten Verfassungsordnung. Unter den Mächtigen war man zunächst in weiten Kreisen ratlos. Luthers Protest-These lautete: Religiöses Denken entzieht sich jeglicher äußeren Herrschaft. Das war unerhört. Politisch ging es um eine Teilung von etwas, das man bisher in der Macht als unteilbar verbunden ansah. Und es ging noch viel weiter, in Richtung dessen, was man später Menschenrechte nannte. Es ging um die von der herrschenden Macht als revolutionär empfundene Idee, dass sich für jeden einzelnen Menschen im Reich des Denkens und Fühlens ein Reich der Freiheit auftun müsse. Die Kernfrage war: Darf der Mensch selber frei denken, zumindest in Religionssachen, ohne Rücksicht auf die herrschende Macht und den Mainstream, ja, darf er etwa sogar sagen, was er denkt? Der deutsche Dichter Friedrich Schiller hat 1778, am Ende der durch die Reformation angestoßenen Entwicklung – oder besser: auf halber Strecke –, die bis heute an jede Macht der Welt gerichtete Antwort in Gestalt einer prägnanten Forderung formuliert: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Weltweit gilt dieser Imperativ jedoch bis heute keineswegs als verbindlich und die darin inbegriffene Frage ist nicht wirklich entschieden, auch wenn es Forscher gibt, die das Wormser Ereignis zum „Wendepunkt der neueren Geschichte überhaupt“ erklären.⁷ Nach 500 Jahren zeigt sich heute, dass Luther religiös nicht unbestritten gesiegt hat. Luther selbst war kein Muster an Toleranz.⁸ Doch in Worms und später haben er und seine Anhänger Ideen lanciert und Fakten geschaffen, die das Prinzip wechselseitiger Duldung bis hin zu wechselseitigem Verständnis in modernen Gesellschaften als Alternative gegenüber dauerndem Krieg um Ideologien hoch attraktiv gemacht haben. Das von Karl V. ausgesprochene und gegen Widerstände von ihm bis zum Schluss duchgehaltene Freie Geleit für Luther im April 1521 war das erste eingehaltene Toleranzedikt Europas, dem noch viele folgen sollten; immer aber auch mit Rückschlägen. Man kann heute durchaus davon sprechen, dass sich Luthers Anstöße und die des Renaissancedenkens insgesamt im Mainstream der säkularen Diskurse des Westens durchgesetzt haben. Freilich blieb auch das im politischen Raum bis heute nicht unumstritten. Der letzte große Versuch, das Kernprinzip der Moderne, die Pluralitätstoleranz, in der westlichen Leppin 2010, S. 156 f. Kessel 1961, S. 172. Zu den Schwierigkeiten mit der Toleranz in Kommunikation und Gesellschaft siehe Knape 2007b.
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Welt zu verhindern oder zurückzudrängen, war der Faschismus des 20. Jahrhunderts. Es wird sich zeigen, ob demgegenüber das Toleranz-Modernitätsprinzip im westlichen Denken Bestand hat. Eine große Rede? Zweifellos hat Luthers Rede die Welt in einem bestimmten Sinn aufgeteilt und verändert. Sie steht nicht allein, aber sie ist die herausragende Tat Luthers. Man hat seinen Redeauftritt in Worms 1521 die „Urszene des Protestantismus“⁹ genannt und die Rede als solche einen „Schlüsseltext des Protestantismus“¹⁰. In diesem Buch geht es jedoch nicht um solche konfessionshistorischen Bewertungen, sondern vor allem um eine intellektualgeschichtliche und eine rhetorikhistorische Einordnung.Was heißt das? Rhetorikhistorisch zu fragen, bedeutet unter anderem, etwa nach jenen Momenten der Menschheitsgeschichte zu fragen, in denen eine große Rede Geschichte gemacht hat. Eine solche Rede war zweifellos die antike Rede des Antonius an der Leiche Caesars oder die GettysburgRede Abraham Lincolns im amerikanischen Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts, vielleicht sogar die von Otto Wels im Angesicht der Gewalttäter gehaltene einzige mutige Rede gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz im Deutschen Reichstag von 1933. Und natürlich gehört auch die Rede Martin Luthers dazu. Es sind Reden, in denen etwas Wichtiges manifest wird oder die etwas Bedeutendes in Gang gesetzt haben und daher im kulturellen Gedächtnis der Völker entsprechende Wertschätzung erfahren. Meist haben solche Reden ein bemerkenswertes rhetorisches Profil, das sich aus dem Zusammenspiel von situationsangemessenem Redetext und Aufführungsrahmen ergibt. Das gilt auch für Luthers Rede von 1521. Der Begriff große Rede ist im Kern keine innerrhetorische Kategorie, sondern eine kulturelle. Eine große Rede muss kulturelle Relevanz haben. Sie zeichnet sich regelmäßig auch durch eine über die Situation hinausreichende Botschaft von allgemeingültiger Kraft aus. Luthers Rede ist eine Sternstunde, weil sie weit mehr als eine religiöse Botschaft formulierte. Von Anfang an hatte sie eine auf Zukunft gerichtete politische Dimension. Wir verbinden sie heute mit Begriffen wie Meinungs-, Gewissens- und Glaubensfreiheit. Mehr noch: Im Rückblick kann man sagen, dass Luther das Bewusstsein freigesetzt hat, dass Protest als Haltung und soziale Äußerungsform zu jeder Gesellschaft gehört, dass der Protest als Abweichung vom Mainstream seine Daseinsberechtigung hat und seine Stimme erheben darf und muss. Uns ist heute bewusst, dass Gesellschaften, wie es der polnische Philosoph Leszek Kolakowski ausgedrückt hat, „ebenso der Tradition wie der Revolte gegen die Tradition“ bedürfen.¹¹ Rhein 2014, S. 149. Schilling 2012, S. 225. Kolakowski ed. Reinisch 1970, S. 14; auch in Kolakowski ed. Oelmüller/Dölle/Piepmeier 1978, S. 388.
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Impuls für die Neuzeit und Aufbruch zum modernen Denken? Luther selbst konnte das Befreiungspotenzial seines Ansatzes nur religiös kodiert verstehen. Erst die Zeit deckte die inhärenten, viel weiter drängenden Dimensionen auf.Wenn wir heute das Worms-Ereignis intellektualgeschichtlich analysieren, sehen wir vorausweisende Subtexte, an die die Zeitgenossen im 16. Jahrhundert so noch nicht gedacht haben, die wir aber mit Blick auf die historische Entwicklung erkennen. Heute ordnen wir Worms 1521 auch in die Vorgeschichte des modernen Individualismus und Subjektivismus ein. Martin Luther hat die Welt nicht in zwei unversöhnliche Gegensatzpaare geteilt, sondern eine sehr tief in menschlichen Gesellschaften liegende Aufteilung dauerhaft an die Oberfläche befördert. In modernen Demokratien sowie im Sozialkonzept des Pluralismus ist diese Aufteilung präsent und in den beiden Institutionen von Regierungsgewalt und Opposition etabliert, die erst im Zusammenspiel das Ganze einer Gesellschaft ergeben. Dieses Buch hätte also auch den Untertitel ‚Protest und Macht‘ tragen können. Insofern wird hier nicht die Geschichte einer epochalen Entzweiung erzählt, sondern eines Moments unvermeidlicher Ausdifferenzierung, bei der beide Seiten der Verwicklung ihre legitime Rolle gespielt haben. Wenn Luther das Recht auf Abweichung vom Mainstream noch als legitimes Recht des Menschen auf Leben und Tod erkämpfen musste, um seinem Gott adäquat begegnen zu können, so werden Nonkonformismus und Abweichung (damit der Protest) in der weiteren Philosophiegeschichte durch John Stuart Mill geadelt und zu maßgeblichen gesellschaftsbewegenden Prinzipien erklärt. In seinem Essay ‚Über die Freiheit‘ von 1859 hebt Mill vor allem auch die innerlich freie Persönlichkeit hervor, die dem Druck der öffentlichen Meinung standhält. Das ist eine lutherische Position reinsten Wassers. Rhetorik? Rhetorik ist der Ausgang des Menschen aus gesellschaftlicher Sprachlosigkeit. Wenn ein Mensch dies am Beginn der Frühen Neuzeit modellhaft im Medieneinsatz und in leibhaftiger Rede umgesetzt hat, dann war es Martin Luther. Methodisch ist die Rhetorik jener Weg, jene methodos, ein ganz bestimmtes Anliegen in einer Gruppe oder in der Gesellschaft kommunikativ zu festigen oder neu durchzusetzen. Damit erbringt Rhetorik die spezifische Orientierungsleistung unter all den sonstigen Leistungen von Kommunikation. Sie selbst fördert keine Wahrheiten zu Tage, doch sie befördert sie. Rhetorik zeigt gefundene Einsichten und Anliegen vor, macht sie glaubhaft und verankert sie im Gelingensfall im Denken der Menschen. Im Jahr 1521 vor dem Reichstag eine Rede halten zu können, bedeutet für Luther, den Kern des rhetorischen Ansatzes zu aktivieren. Das heißt, jene kommunikative Möglichkeit des Menschen zu nutzen, per Überzeugungshandeln in die sozialen Handlungsfelder des „Auch-anders-sein-Könnens“ einzugreifen, von denen schon Aristoteles spricht. Rhetorik wird so zum Versuch des Menschen, mit
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sozial akzeptierten kommunikativen Mitteln einem eigenen Anliegen zur Geltung zu verhelfen. Mit Hilfe der Rhetorik und ihren kommunikativen Mitteln verwirklicht der Orator in solchen historischen Szenen die Aufträge der Weltgeschichte. Insofern ist sie, die Weltgeschichte, das Experimentierfeld der Rhetorik. Geschichte ist gewissermaßen das in der Diachronie ausgestreckte Labor der Rhetorikforschung. In diesem Buch geht es um die soziale Rolle der Rhetorik und darum, wie man Rhetorikgeschichte schreiben kann, insbesondere als Intellektualgeschichte. Unvermeidlich treten dabei die historisch verhandelten Inhalte ins Blickfeld und damit auch die denkgeschichtlichen Hintergründe und Ausweitungen. Am Ende stehen Fragen von aktueller Relevanz vor uns; Fragen nach Toleranz und Selbstbestimmung. Viele rhetorische Szenen wie jene, die sich auf dem Wormser Reichstag 1521 ereignet haben, ließen sich untersuchen, um die Geschichte als Abfolge immer wieder auftretender Schlüsselereignisse zu schreiben, in denen die Rhetorik als „sozialer Dynamikfaktor“ historischer Entwicklungen fungiert.¹² Rhetorik wirft in der Praxis immer die Machfrage auf, so oder so. Es ist die Frage nach Geltung von Geltungsansprüchen. Wenn sich Macht und Protest in einen kommunikativen Agon, in einen Wettstreit verstricken, dann kommt die Rhetorik zum Zuge, um einer Partei den Vorrang kommunikativ zu erarbeiten. Im Wormser Geschehen können wir bei den in Konflikt stehenden Parteien die beiden Elementarverfahren der Rhetorik (Affirmation bewirken oder Abweichung plausibilisieren) und die beiden rhetorischen Globalziel-Varianten (Systase, also Bindung, und Metabolie, also Wechselerzeugung) exemplarisch beobachten. Sie verteilen sich auf die Parteien der Macht einerseits und des Protests andererseits. Mit dem letztendlichen Sieg des Protests wird der Wormser Reichstag von 1521 zu einem Triumph der Abweichung. Als rhetorisches Kommunikationsverfahren erweist sich der Protest für Menschen als einer der Wege, Machtverhältnisse zu ändern. Unter dem Vorzeichen eines entsprechenden Änderungswillens geraten die Prinzipien von Macht und Protest in ein Spannungsverhältnis. Die Geschichte Luthers im Jahr 1521 kann man als Geschichte einer solchen Spannung erzählen.
Knape 2012d, S. 6 und 86.
Die Reise
1 Stationen und Themen Aufbruch Dienstag, 2. April 1521 Am Morgen des 2. April 1521 bricht in der kurfürstlich-kursächsischen Universitätsstadt Wittenberg eine kleine Reisegesellschaft von fünf Männern mit ihren Dienern und Helfern zu einer Reise auf. Diese Reise soll rund 14 Tage dauern, quer durch Deutschland in Richtung Westen führen und ihr Ziel in der Stadt Worms am Rhein finden. Eigentlich ist es nur die Reise eines 38-jährigen entpflichteten Augustiner-Eremiten und amtierenden Wittenberger Professors für biblische Theologie. Doch aus einer Reihe von Gründen, von denen noch die Rede sein wird, braucht dieser Mann Schutz und Gesellschaft, um sicher in Worms anzukommen. Wer reist da? Ein schlichter Mönch? Ein Akademiker auf Konferenzreise? Ein humanistisch gebildeter Gelehrter und berühmter Theologe? Ein Mensch unter absolutem psychischen Stress? Gar ein gefährdeter Mensch? Ein Krimineller oder ein Begnadeter? Ein Aufrührer oder ein Revolutionär? Ein Ketzer oder ein Prophet? Ein Skandalon oder ein Politikum? Verschiedene Episoden der im Folgenden geschilderten Reise des Jahres 1521 geben ereignishaft konzentrierte Antworten auf all diese Fragen und zeigen, dass mit dem 1483 im sächsischen Eisleben als Martin Luder geborenen und nun Martin Luther genannten Mann (je nach Standpunkt) all diese Aspekte zugleich verbunden waren. Wir können die Einzelheiten aus erhaltenen Dokumenten, Briefen und Berichten von Zeitgenossen über die Reise rekonstruieren, auch wenn sie bisweilen ins Anekdotische gehen. Die Reiseepisoden verbinden sich mit drei Krisen, die Luther auf der Reise nahegehen und die er vielleicht sogar im religiösen Sinn als Versuchungen verstanden hat. Sie stellen das ganze Reiseunternehmen immer wieder in Frage. Diese besonderen Momente der Reise, die sich immer auch an bestimmte Stationen binden, werfen charakteristische Schlaglichter auf den Hauptakteur Luther, auf sein Programm und auf seine gespannte Lage vor dem Erreichen des Reiseziels. Was ist Sinn und Zweck der Reise? Luther soll und will an einem in Deutschland mit Spannung erwarteten Ereignis teilnehmen, das die endgültige Entscheidung in einer Frage herbeiführen soll, der die Zeitgenossen in Deutschland größte Tragweite zusprechen. Es ist zu entscheiden, wer in einem religionspolitischen Streit mit vielen sozialen Folgen Recht hat. Es ist ein Streit, der unter Experten längst nicht mehr geklärt werden kann und der zur nationalen Konfliktangelegenheit ersten Ranges geworden ist. Hat die beharrende Macht DOI 10.1515/9783110546927-002
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Recht, die sich auf altes Herkommen und heilige Traditionen stützen kann, oder aber der auf Änderung drängende Protest, der mittlerweile in zahlreichen publizierten Analysen die Korruptheit des Systems und die Fragwürdigkeit seines derzeit geltenden theoretischen Überbaus nachzuweisen versucht hat? Welche Verbindung von Akteuren und Institutionen in einer bestimmten historischen Konstellation jeweils sinnvoll mit dem Kürzel Macht und welche mit Protest zu bezeichnen wäre, muss jeweils spezifisch diskutiert werden. Im Fall des anstehenden Wormser Reichstags soll unter Macht die auf Reichsebene operierende Verbindung der beiden Herrschaftssäulen Kaiserregiment und römische Kirche mit ihren Häuptern Kaiser und Papst und ihren Vertretern verstanden werden. In der Forschung werden diese beiden Säulen Kaisermacht (Imperium) und Priestermacht (Sacerdotium) genannt. Der Ausdruck Protest soll im Folgenden die Gruppe der auf Reformen drängenden Politiker, Gelehrten und Intellektuellen im Reich bezeichnen, voran Martin Luther, die mit rhetorischem Impetus hervortreten. Sie wollen mittels Kommunikation Wechsel erzeugen. Luther weiß, dass Protest immer auch Auseinandersetzung, Kampf, Streit bedeutet, und er will dem nicht aus dem Weg gehen. Schon um den 16. Februar 1520 herum schrieb er an seinen Freund, den kursächsischen Rat Georg Spalatin: „Ich beschwöre Dich, Spalatin, wenn Du ein rechtes Urteil hast über das Evangelium, glaube ja nicht, dass diese Sache geführt werden könne, o h n e Aufregung, Aufruhr und Ärger! Du kannst aus einer Feder kein Schwert machen und aus dem Krieg nicht Frieden. Gottes Wort ist ein Schwert, ist Krieg, ist Ärgernis und Verderben, ja Gift“.¹³ Wir werden sehen, dass Luther mit ähnlichen Formulierungen vor die in Worms versammelten Häupter der Macht treten wird. Es ist eine Protesthaltung, die in der Tat, aus friedfertigen theologischen Erwägungen hervorgegangen, auf lange Sicht Umschwung, Umsturz und Revolution erzeugen wird. In Worms wird uns ein ganz von sich und der Sache des Protests überzeugter Protestant der ersten Stunde begegnen, der sich als Exponent von etwas Höherem versteht, von etwas, das er Gott oder Wahrheit nennt. Luther schreibt 1520 in diesem Sinn weiter: „Gott reisst mich hin und Er mag zusehen, was Er durch mich wirkt. Ich bin gewiss, dass ich nichts von alledem gesucht oder erstrebt habe, aber ich fühle, wie eine fremde Gewalt mich dazu zwingt. Sei guten Mutes und sorge nicht um die Wahrheit.“¹⁴ Doch zurück zu unserer Reise. Sie fand unter Beobachtung und extremer Anspannung des ganzen intellektuellen Deutschlands statt. Der Fall Luther wurde von den Zeitgenossen als ein erstrangiges Politikum eingestuft. Luthers Gang nach Luther an Spalatin ca. 16. Februar 1520, in WA Briefwechsel 2, Nr. 255, S. 43 f.; dt. bei Berbig 1906, S. 100 f. Luther an Spalatin ca. 16. Februar 1520, in WA Briefwechsel 2, Nr. 255, S. 44; dt. bei Berbig 1906, S. 101.
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Worms war keine Privatreise, sondern Bestandteil des Wormser Reichstagsgeschehens. Was heißt das? Man hatte Luther zum Reichstag, der höchsten und wichtigsten politischen Entscheidungsinstanz Deutschlands, vorgeladen. Erst ab 1663 gab es bis zum Ende des alten Reichs (im Jahr 1806) mit dem ‚Immerwährenden Reichstag‘ in Regensburg eine fest installierte deutsche Reichsinstitution, bei der dann auch die ausländischen Diplomaten akkreditiert waren. In der hier interessierenden, anbrechenden Reformationszeit war jedoch auf der Ebene Gesamtdeutschlands alles noch anders geregelt. Es gab nur temporäre Reichstage, die in unregelmäßigen Abständen in deutschen Reichsstädten zusammentraten. Sie waren das wichtigste Forum zur Regelung aller das Reich betreffenden Angelegenheiten (Regierung und Verwaltung, Justiz und Militär, Finanzen und Außenpolitik, kriegerische Abwehr von Feinden, religiöse Konflikte und was es in dieser Zeit sonst noch auf gesamtdeutscher Ebene zu regeln galt). Der Kaiser hatte hier die Möglichkeit, die anderen Reichsstände an den Lasten der Herrschaft zu beteiligen, und die Reichsfürsten konnten hier ihren Mitregierungsanspruch zur Geltung bringen. Es gab diverse Gremien: einen Kurfürstenrat, einen Fürstenrat mit hundert geistlichen und weltlichen Ständen aller Art sowie einen Städterat. Der Kaiser konnte zwar die Beschlussversammlung einberufen und die Tagesordnung vorschlagen, war aber von den Ausschussberatungen ausgeschlossen. Was am Ende schwieriger Konsenssuchen jeweils an Einigungsformeln und Beschlüssen herauskam, wurde im sogenannten Reichsabschied zusammengefasst. Den Wormser Reichstag eröffnete der erst im Jahr zuvor gekrönte Kaiser Karl V. am 27. Januar 1521. Er sollte vier Monate bis zum 26. Mai dauern, dem Tag des Reichsabschieds. Die wichtigsten Themen auf dem Reichstag waren die Neuordnung der Reichseinkünfte angesichts der Türkenbedrohung und die Einrichtung eines Reichsregiments. Dieses lief auf eine Teilung der Macht in Deutschland hinaus zwischen dem Kaiser als König von Spanien und seinem Bruder Ferdinand als seinem in Österreich regierenden Vertreter. Am Ende jedoch sollte mit der Causa Lutheri ein ganz anderes Thema alles überstrahlen und dem Reichstag eine ungeahnte welthistorische Bedeutung verleihen. Geplant war, im Rahmen des Reichstags die durch Luther landesweit angefachte Diskussion um Fragen des rechten Glaubens abschließend zu klären, also einen Strich unter den ‚Fall‘ zu ziehen. Dass diese Hoffnung am Ende nicht aufging, konnte der deutsche König, Kaiser Karl V., nicht wissen, als er am 6. März verfügte, dass Luther binnen 21 Tagen nach Worms kommen solle. Diese kaiserliche Zitation war das Ergebnis von Verhandlungen zwischen der kaiserlichen Regierung und Luthers Landesherrn, Kurfürst Friedrich von Sachsen. Solche Mandate waren genau ausgetüftelte Schreiben der kaiserlichen Kanzlei, bei denen es auf jedes Wort ankam. Die zeitgenössischen Lehrbücher der
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Kanzleirhetorik legten alle Bestandteile genau fest. Luther wird aber nicht nur mit den in den Rhetorikformularen für Gelehrte vorgesehenen ‚Ehrwörtern‘, wie man sagte, angeredet.¹⁵ Die Grußformel lautet: „Ehrsamer, Lieber, Andächtiger“. Dabei ist das Ehrwort „Lieber“ von der kaiserlichen Kanzlei gegen die Gewohnheit als positives Signal eingefügt worden. Der päpstliche Sondergesandte Aleander in Worms verlangte Einsicht in das Schreiben vor dessen Absendung und legte dann Protest gegen solch eine Anrede ein. „Und diesen Titel,“ schreibt er empört nach Rom, „gibt man einem offenkundigen Ketzer gegen Gott und alle Vernunft. Auf meine Beschwerde erwiderte man, das sei einmal der Stil, und wenn man eine schroffe Fassung hätte wählen wollen, so hätte das einfach geheißen, er solle nicht kommen.“¹⁶ Die Kanzlisten wussten in der Tat, was zu tun war, wenn man eine Einladung wirkungsvoll und formgerecht ausfertigen wollte. Nach der förmlichen – aber wie man sieht, keineswegs unwichtigen – Grußformel kommt in amtlichen Briefen als nächster Inhaltspunkt das Anliegen, die sogenannte Petitio. Man wolle nur „Erkundigung“ einholen, heißt es im Mandat für Luther,verlangt ausdrücklich keinen inhaltlichen Widerruf, was von Aleander als noch unangemessener kritisiert wird. Er sieht nicht ganz zu Unrecht eher reformationsfreundliche Kanzlisten und Räte im Umfeld des Kaisers am Werk, die für die Korrespondenz zuständig sind. Er schreibt nach Rom: „Dass die Kaiserlichen das Erscheinen dieses Antichrists lebhaft zu wünschen scheinen, das wenigstens geht aus der Fassung ihres Schreibens hervor.“¹⁷ Im kaiserlichen Zitationsbrief an Luther folgt dann die Zusage freien Geleits, also die Garantie körperlicher Unversehrtheit während der Reise. Für den inzwischen vom Papst in den Kirchenbann getanen Theologen war diese aus Worms vom Reichstag kommende Geleitzusage überlebenswichtig. Hier der Text des Zitationsmandats: „Ehrsamer, Lieber, Andächtiger! Nachdem Wir und die Stände des heiligen Reichs, die jetzt hier versammelt sind, uns vorgenommen und beschlossen haben, wegen der Lehre und der Bücher, die vor einiger Zeit von dir herausgegeben wurden, Erkundigung von dir einzuholen und diese zu bekommen, haben wir dir für dein Herkommen und später wieder von hier zu deiner sicheren Bleibe Unser und des Reichs freie, ungeschmälerte Sicherheit und Geleit gegeben. Das senden Wir dir hiermit zu, mit dem Begehren, du mögest dich demnächst aufmachen, und zwar so, dass du in einundzwanzig Tagen, wie es unser Geleit bestimmt, mit Gewissheit hier bei uns sein mögest und nicht ausbleibst. Du sollst dir auch um keine Gewalt oder um Unrecht Sorgen machen.“¹⁸
Zu den „Ehrwörtern“ siehe Knape/Roll 2002, S. 25 und 59. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 14, 15. u. 16. März 1521), S. 121. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 14, 15. u. 16. März 1521), S. 121 f. Walch 15, Sp. 1787.
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Mit dieser Vorladung war auch ein kaiserlicher Erlass ergangen, der Luther vor Angriffen auf der Reise schützen sollte und alle Amtsträger des Reiches dazu aufforderte, den Reisenden völlig frei durch ihre Territorien ziehen zu lassen, ihm „Geleit zu verschaffen und ihn nicht beleidigen noch bekümmern“ zu lassen.¹⁹ Die ungefähr 400 Kilometer lange Reise führte in zwei Wochen über verschiedene Landesgrenzen mit den Hauptstationen Leipzig, Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach, Frankfurt und Oppenheim. Wie der Kaiser, so hatten auch die verschiedenen Fürsten, durch deren Gebiete der Weg ging, Geleitsbriefe ausgestellt.²⁰ Der Reichsherold Kaspar Sturm aus Oppenheim, der zur Unterscheidung von den romanischen Herolden des Kaisers den Dienstnamen „Germania genand Teutschland“ erhalten hatte, sollte die Reise begleiten (Abb. 1). Er war bereits ein heimlicher Anhänger Luthers, dessen Landesherr, Kurfürst Friedrich von Sachsen, einen reibungslosen Verlauf der Angelegenheit wünschte und darum schon am 12. März an den Amtmann und den Rat der Stadt Wittenberg schrieb, dass man auf eventuelle Unruhe achten und den Aufenthalt des Reichsherolds in Wittenberg auf jeden Fall sichern und schützen solle.²¹ Der päpstliche Sondergesandte Aleander berichtet kurz vor Ankunft Luthers in Worms nach Rom, dass er vom Beichtvater des Kaisers Glapion erfahren habe, wie der Herold das „Ungeheuer“ Luther mit sich führe und „wie, ohne dass er’s hindern könne, alle Welt, Alt und Jung, Knaben und Mädchen ihm entgegenströmten. Nun hatten wir wohl zehnmal den Kaiser gebeten, soweit es irgend tunlich sei, Luthern in der größten Heimlichkeit durch die Ortschaften ziehen zu lassen, und hatten die bestimmteste Zusage erhalten, aber da die Diener des Kaisers sich nur von ihrer Selbstsucht und weltlichem Interesse leiten lassen, so kehrte man sich nicht an das Versprechen. Es ist derselbe Herold, der im Saale des Kaisers gegen den Begleiter des Bischofs von Sitten das Schwert zückte, als er die Sache des Papstes gegen den Mönch Johannes Faber von Augsburg verteidigte“. Aleander lässt kein gutes Haar an Sturm: „Dieser Herold nun ist ein übermütiger Narr und Tölpel, ein grimmiger Feind des Klerus und gerade der rechte Mann, um dem Martin ein auf der Reise geschehenes Wunder oder eine Erscheinung des heiligen Geistes über seinem Haupte, wie er ja schon abgebildet wird, anzudichten“²² (Abb. 2). Dass der päpstliche Sondergesandte Aleander hier auf die Lutherikonographie zu sprechen kommt, macht deutlich, dass sein Informan Walch 15, Sp. 1787 f. Walch 15, Sp. 1789 – 1791; Luthers Bericht über die Reise nach Worms und den Reichstag: Fausel 1977, S. 204 f. Lingke 1769, S. 83. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 17, 15. April 1521), S. 163 f.
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Abb. 1: Der Reichsherold Kaspar Sturm. Silberstiftzeichnung aus dem Skizzenbuch Albrecht Dürers von 1520. Die Überschrift Dürers lautet: „1520 CASPAR STURM ALT 45 IOR“.
tensystem sehr genau den publizistischen Markt beobachtete. Wir werden später sehen, wie dieses von Agenten Roms zusammengetragene Wissen in der Anklage vor dem Reichstag eingesetzt wird. Doch zurück zu den Reiseaktivitäten. Sturm war am 16. März von Worms aufgebrochen. Er hatte die kaiserliche Zitation in Form eines Mandats im Gepäck.²³ Seine Anreise nach Wittenberg dauerte ebenfalls gute zwei Wochen, sodass nicht nur deswegen klar war, dass Luther die Frist von 21 Tagen für seine Reise nach
Lingke 1769, S. 80 Anm. 8.
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Abb.2: Martin Luther mit Taube als Symbol des Heiligen Geistes. Holzschnitt auf einem Flugblatt. Augsburg, Silvan Otmar, 1520. Die Beischrift lautet auf Deutsch: ‚Bildnis des Doktor Martin Luther, eines Wittenberger Augustiners. 1520‘.
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Worms unter normalen Umständen gut werde einhalten können. Luther selbst empfing das Vorladungsschreiben des Kaisers und den Geleitbrief am 24. März in Wittenberg. Die Stadt Wittenberg und ihre Universität taten alles, um Luther eine gute Reise zu gewährleisten. Der wohlhabende Wittenberger Goldschmied Christian Döring stellte den Wagen zur Verfügung, für den der Rat der Stadt laut Rechnungsbuch des Kämmerers beträchtliche Tagesmieten und am Ende ein Ersatzgefährt finanzierte. Später bedankte sich Luther über Cranach beim Rat für diese großzügige Hilfe.²⁴ Das Gefährt war keine bequeme Kutsche, wie wir sie aus Musketierfilmen kennen, sondern ein „Sächsischer Rollwagen mit Tuch überzogen“ zum Schutz vor der Witterung,²⁵ der uns eher an amerikanische Planwagen aus Trecks in den Wilden Westen erinnern würde. Das Rechnungsbuch der Stadt weist als Reisegeld für Luther und seine Begleiter eine großzügige Summe von drei sächsischen Schillingen und 30 Gulden aus.²⁶ Das war ein Betrag, der dem Jahreseinkommen eines höchst besoldeten Bergarbeiters im Sächsischen entsprach.²⁷ Zudem steuerte die Universität laut Abrechnungsbuch zum Sommersemester 1521 den Betrag von 20 Gulden bei.²⁸ Die Reisegesellschaft konnte damit ihre Unterkünfte, die Verpflegung und den Unterhalt der drei Pferde für die mehrwöchige Reise und die folgende Zeit in Worms gut bestreiten. Zu der am Dienstag nach Ostern von Wittenberg aufbrechenden Gruppe gehörten gewiss einige Schutz- und Fuhrknechte, über die wir nichts Näheres wissen. Zu dieser Zeit musste man immer mit räuberischen Überfällen rechnen. Daher war aus Sicherheitsgründen bei Reisen über Land immer ein gewisser Geleitschutz vonnöten. Es gibt eine Beschreibung der Ankunft in Worms von Veit Warbeck, die nur die maßgeblichen Mitreisenden nennt.²⁹ Die Reisegruppe sei, heißt es da, „zu viert auf einem sächsischen Rollwägelein hereingekommen“; Luther „zusammen mit seinem Ordensbruder“ Johann Petzensteiner, wie es den Reisegewohnheiten unter Ordensleuten entsprach, die keine Einzelreisen vorsahen. Der Nürnberger Petzensteiner, über den kaum etwas bekannt ist, erlangte später wegen seiner ängstlichen Flucht bei dem am 4. Mai erfolgten Wartburg-Überfall auf Luther eine
Lingke 1769, S. 83 Anm. 4. Lingke 1769, S. 83 f. Lingke 1769, S. 84 Anm. 7. Schilling 2012, S. 69. Bauch 1898, S. 408. Bericht Veit Warbecks in Walch 15, Sp. 1836 f.; Lingke 1769, S. 84: Der Adelige Peter von Suaven war unter anderem Schüler des Leipziger Humanisten Petrus Mosellanus und stand später als geheimer Rat in Diensten des Dänischen Königs (Lingke 1769, S. 84 Anm. 9). „Von Erfurt ab gesellte sich der junge [Jura‐]Professor Justus Jonas zu Pferde zu [Luther]“ (Kooiman 1949, S. 111).
Savonarola in Naumburg. Eine Ermutigung als Warnung
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gewisse Berühmtheit.³⁰ Dann nennt Warbeck noch einen Theologen, den „Licentiaten Niclas von Amsdorf, Domherrn zu Wittenberg“, sowie einen „gelehrten Edelmann aus Pommern“. Bei dem Adeligen aus Pommern handelt es sich um Petrus von Suaven, der zur Tischgesellschaft Melanchthons gehörte und ein Freund Luthers war. Wahrscheinlich muss man sich ihn in der Rolle eines Personenschützers für den gefährdeten Luther vorstellen. „Vor dem Wagen“, heißt es weiter, „ritten der gesandte kaiserliche Herold samt Diener, dessen Kleider am Arm den Reichsadler trugen“. Beim Worms-Einzug am Ende der Reise ritten hinter dem Wagen zudem der Erfurter Jurist Justus Jonas von Nordhausen und sein Diener ein. Da Luthers Reise überall Tagesgespräch war und man die Empfänge in den Zwischenstationen gut vorbereitete, wechselten sich im Lauf der vierzehn Tage gewiss noch viele weitere Geleitpersonen des Lutherzuges ab. Noch am Tag der Abreise kam der Wagen in Leipzig an. Die Quellen berichten lediglich davon, dass man Luther mit der bei wichtigen Gästen üblichen Ehrengabe an Wein vom Magistrat begrüßte, mehr nicht.³¹ Es war ein kühler Empfang, und wir sehen, dass das offizielle Leipzig den inzwischen schon so berühmt gewordenen Wittenberger Professor auf verlorenem Posten sah. Ein Professor der Leipziger Universität, der Theologe Johannes Eck, hatte an dieser Einschätzung einen hohen Anteil, denn er war es, der in Rom maßgeblich an der päpstlichen Bannandrohungsbulle gegen Luther mitgearbeitet hatte.
Savonarola in Naumburg. Eine Ermutigung als Warnung Mittwoch, 3. April 1521 Am nächsten Tag empfing der Magistrat von Naumburg Luther auf dieselbe Weise. Freilich ließ es sich der Bürgermeister Gräßler nicht nehmen, die Reisenden an seinen Tisch zu laden. Man hatte sich ja aufgrund des großen Aufsehens, den die Reise verursachte, auf ihren Besuch einstellen können. Friedrich Myconius schreibt dazu zwanzig Jahre später: „Wo er in eine Stadt einzog, lief ihm das Volk schon vor der Stadt entgegen, denn es wollte den Wundermann sehen, der so
Simon 1966, S. 119—121. Lingke 1769, S. 85; Köstlin 1903, S. 404– 405. Quellenüberblick zu Luthers Reise nach Worms bei Köstlin 1903, S. 770 f. Anm. 2 zu Seite 404.
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mutig wäre und sich gegen den Papst und alle Welt, die den Papst gegen Christus für einen Gott hielt, stellen dürfe.“³² Und hier nun geschah etwas, das uns den ersten Anlass gibt, die Position Luthers und den inzwischen eingetretenen Star-Kult, wie wir heute sagen würden, und damit seine Einschätzung durch die Umwelt zu beleuchten. Der LutherSchüler Johannes Mathesius berichtet in den 1566 erschienenen ‚Historien Doctoris Martini Luthers‘ folgendes Ereignis: „Ein Priester aus Naumburg, der sich sein Leben lang mit vielen Altertümern beschäftigt hatte, sandte ihm auf dem Weg das Bildnis des frommen christlichen Savonarola und ermahnte ihn, er möge doch bei der erkannten Wahrheit auf breitem Fuß stehend aushalten, denn sein Gott werde auch in diesem Fall mit ihm sein und fest zu ihm stehen und zu ihm halten.“³³ Man hat vermutet, dass dieser Priester Johann Langer war, der 1521 als Prediger in Naumburg wirkte und später Superintendent von Coburg wurde.³⁴ Das sind freilich nur Annahmen. Jedenfalls gibt es keinen Grund, die Naumburg-Episode in ihrem historischen Gehalt zu bezweifeln. Der Savonarola-Vorfall macht eines deutlich: Als Luther nach Worms reist, wissen oder ahnen die Leute bereits, dass Luther für Rom in einer Reihe mit anderen Ketzern steht und dass es jetzt für Luther darum geht, sein eigenes Abweichungs- und Protestmodell innerlich endgültig anzunehmen. Auch der Florentiner Girolamo Savonarola war ein Mönch. Ihm ging es um populistische politische Reformen und eine asketische Rückbesinnung auf strenge religiöse Lebensprinzipien. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die Verderbtheit der Klerikerkaste, in deren Reihen Rom den abtrünnigen Savonarola am Ende, wenn auch vergeblich, durch das Bestechungsangebot eines Kardinalshuts wieder einbinden wollte. Luther wird etwas Vergleichbares in Worms erleben. Rom sah in dem Dominikaner Savonarola letztlich einen disziplinarischen Abweichler vom Machtsystem Kirche sowie – nicht ganz zu Unrecht – einen politischen Abenteurer, der das italienische politische System ins Wanken zu bringen drohte, und ließ ihn darum 1498 in Florenz als Ketzer verbrennen. Damit aber war die Wirkungsgeschichte des aufrührerischen Mönchs keineswegs erledigt. Er wurde als Widerstandsfigur gegen das römische religiöse Machtsystem zum Bestandteil eines Kryptodiskurses über Reformatoren, der vor Luther schon bestand. Identifikationsfiguren des Widerstands waren neben Savonarola auch Wycliff und Jan Hus, von dem noch die Rede sein wird. Die „Wu er in ein Stadt zohe, lieff das Volck entgegen für die Stadt, und wollte den Wunder–Mann sehen, der so kühn wäre, und sich wieder den Papst und alle Welt, die ihn wieder Christum für einen Gott gehalten, legen dürfft“ (Walch 15, Sp. 1826). Mathesius ed. Loesche 1898, S. 55. Lingke 1769, S. 86.
Savonarola in Naumburg. Eine Ermutigung als Warnung
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Savonarola-Ikonographie legt ein beredtes Zeugnis all jener Rollenzuschreibungen an den Florentiner Aufrührer ab, die noch zu Luthers Zeit im Umlauf waren. In den zahlreichen frühen italienischen Drucken seiner Werke begegnet uns Savonarola bildlich als Lehrer in Debatten, vor allem aber auch als Prediger vor den Volksmassen (Abb. 3a), sodann als Theologe und Kirchenlehrer nach dem Vorbild der Hieronymus im Gehäus-Ikonographie, als Seelsorger (Abb. 3b) und als theologischer Gelehrter, der sich gegen den Aberglauben wendet. Diese Vorstellungen über den italienischen Mönch gelangten auch nach Norden. In zwei Reutlinger Drucken aus der Zeit um 1500 wird Savonarola in ähnlichen Rollen dargestellt und dabei immer, das ist das Besondere, mit einem Nimbus versehen, wie wir ihn sonst nur von Heiligenbildern kennen (Abb. 3c und 3d). Dieser Heiligenschein findet sich auch auf einem Kupferstich aus dem Jahr 1510, der Marcantonio Raimondi zugeschrieben wird.³⁵ Damit wird deutlich, dass die kirchenamtliche Denunziation Savonarolas als Ketzer wenig Eindruck auf bestimmte Zeitgenossen gemacht hat. Im Gegenteil. Die beiden Darstellungen auf den Titelblättern der Drucke aus Reutlingen zeigen ihn als populären ‚Heiligen‘ und Reformator avant la lettre. Insofern kann Savonarola zum Typus für Luther werden, woran man ihn in Naumburg erinnert, indem man ihm wohl eine dieser genannten Darstellungen, oder eine ähnliche, zur Mahnung in die Hand drückt. Luther verstand die Anliegen des Abweichlers Savonarola aus Florenz nur zu gut. Als Theologe war Savonarola für ihn freilich kein Vorgänger, an dem er intellektuell Maß hätte nehmen können. Die theologischen Positionen des Florentiners waren nicht spektakulär. Savonarola war – wie gesagt – in erster Linie als Symbolfigur für Askese und den Kampf gegen die Missbräuche der römischen Macht sowie den Niedergang der Kirche zu verstehen. Savonarola kommt in dieser Hinsicht zu einer ähnlichen Analyse wie Luther. Die Bewertung der spätestens im 15. Jahrhundert offenkundig werdenden Zustände ist heute in der kirchengeschichtlichen Forschung beider Konfessionen unumstritten. Jakob Burckhardts 1860 in aller Deutlichkeit vorgetragene römische Dekadenzthese hat man im Kern akzeptiert. Selbst ein 1939/40 aus katholischer Sicht schreibender Reformationshistoriker wie Joseph Lortz kommt nicht umhin, deutlich zu machen, dass die altkirchlichen Verhältnisse in Europa am Vorabend der Reformation skandalös waren und jeglicher Beschreibung spotteten, wenn man die eigenen Ideale der katholischen Kirche zum Maßstab nimmt.³⁶ Nicht nur die Konzile der Zeit, sondern auch eine 1494 in der Missstandsnot von Papst Alexander VI. eingesetzte kuriale Reformkommission blieben absolut erfolglos.
Delaborde 1888, S. 304, Nr. 37. Lortz 1941.
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Luther hat die Naumburger Savonarola-Episode nicht vergessen, denn wenige Jahre später beschäftigte er sich selbst ebenfalls mit den Schriften des Dominikanermönchs. Er gab 1523/24 die Auslegung des 51. Psalms Savonarolas, „dieses heiligen Mannes“,³⁷ unter dem Titel ‚Fromme Meditation‘ (Meditatio pia) heraus und würdigte dabei die Bedeutung ihres Autors auch mit Blick auf sich selbst, denn schon Savonarola habe sich „für die römische Kotlache einen Reiniger“ herbeigewünscht. Savonarola habe den Tod erlitten, weil er Rom, den Abgrund alles Verderbens, habe reinigen wollen. „Aber siehe, er lebt und sein Gedächtnis ist im Segen“, sagt Luther nun.³⁸ Dass man ihm in Naumburg ein Bildnis gerade dieses Romfeindes überreichte, hat Luther gewiss beeindruckt, ja, er hat diesen Typus des Protestierenden gegen eine dekadente Macht offenkundig als Vorbild akzeptiert. In der Einleitung zur Ausgabe von Savonarolas Auslegung reiht Luther ihn in die Reihe der wahrhaft evangelisch geprägten Denker ein: „Hier siehst du ihn hervortreten, nicht im Vertrauen auf sein Gelübde, auf Mönchskutten, Messen, und die guten Werke seines Ordens, sondern als jemand, der das Evangelium des Friedens zu Ende bringt, angezogen mit dem Krebs der Gerechtigkeit und gewappnet mit dem Schild des Glaubens.“³⁹
Abb. 3a: Savonarola als Prediger. Titelholzschnitt zu Girolamo Savonarola: Compendium revelationum. Florenz, Laurentius de Morgianis, 1495 (= GW M40373).
WA Werke 12, S. 248; Vorwort bei Walch 14, Sp. 254– 257, hier Sp. 254. WA Werke 12, S. 248; Vorwort bei Walch 14, Sp. 256. WA Werke 12, S. 248; Lingke 1769, S. 87.
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Abb. 3b: Savonarola als Seelsorger. Titelholzschnitt zu Girolamo Savonarola: Prediche e revelazioni. Florenz, Bartolomeo de Libri, 1495 (= GW M40364).
Abb. 3c: Savonarola als Seelsorger mit Nimbus. Titelholzschnitt zu Girolamo Savonarola: Expositio in psalmum ‚Miserere mei deus‘. Reutlingen, Michael Greyff, ca. 1500 (= GW M40513).
Luther wird in Naumburg mit der personifizierten Abweichung und Protesthaltung in Gestalt Savonarolas konfrontiert und damit zur Festigkeit ermahnt. Das Ketzer- und Protest-Modell wird hier in ein Propheten-Modell überführt, denn auch der Prophet begibt sich in kritische Distanz zur Macht und weist in die Zukunft. Aber natürlich hat die Savonarola-Episode für den Wittenberger noch eine andere, beängstigende Dimension. Nur zu deutlich steht jetzt plötzlich das Bild des Todes und Märtyrertums vor Augen. Diese Art von Propheten überlebt nicht. Wer sich radikal gegen die Macht stellt, hat nicht nur zu dieser Zeit eine schlechte Überlebensprognose. Savonarolas Schicksal macht das nur zu klar. Rom entscheidet gemäß seinem Grundsatz ‚Hat Rom gesprochen, ist der Fall erledigt‘
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Abb. 3d: Savonarola als Lehrer und Heiliger mit der Schrift und mit Nimbus. Titelholzschnitt zu Girolamo Savonarola: Expositio orationis dominicae. Reutlingen, Michael Greyff, ca. 1498 (= GW M4046610).
(Roma locuta, causa finita). Und Rom vernichtet. Rom diskutiert nicht über seine Autorität. Luther ist sich dessen bewusst und wird nicht nur in Naumburg an noch einen anderen Typus gedacht haben, der ihn seit längerer Zeit beschäftigt. Gemeint ist der böhmische Reformator Jan Hus, den Luther von einem bestimmten Punkt an durchaus als gleichrangigen Theologen sah. In der Leipziger Disputation vom 4. bis 13. Juli 1519 hatte der dortige, durchaus eifersüchtige Theologieprofessor Johannes Eck Luther ja deutlich genug an Jan Hus, seine Lehren und das Konstanzer Konzil erinnert, um Luther einzuschüchtern. Hatte nicht auch dieser Häretiker Jan Hus im Kern das Papsttum in seiner alles beherrschenden Stellung abschaffen wollen? Eck trieb Luther in der Leipziger Disputation so in die Enge, dass sich dieser – politisch unklug genug, aber inhaltlich unvermeidbar – zu dem Bekenntnis hinreißen ließ, unter den in Konstanz verurteilten Lehren seien mehrere ganz christlich gewesen.⁴⁰ Anders gesagt: Das Konzil habe geirrt. Damit war es heraus. Luther ergriff öffentlich Partei für einen verurteilten Ketzer. Das war ein wichtiger Schritt der Selbstbewusstwerdung des langsam zum Reformator reifenden Luther. Unter den als ketzerisch verurteilten Positionen des Jan Hus ragen neben der zu allen Zeiten üblichen Klerikerkritik vor allem sein Eintreten für die volkssprachliche Bibelübersetzung, die Ablasskritik, die Infragestellung des Papsttums, demgegenüber die alleinige Autorität der Schrift und der sogenannte Utraquismus heraus. Dieser letztgenannte Begriff bezieht sich auf die besonders umstrittene Forderung nach dem Abendmahl bzw. der Kommunion
Leppin 2010, S. 145.
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in beiderlei Gestalt, was man auch kurz als „Laienkelch“ bezeichnet hat. Das war gewissermaßen das Markenzeichen der Hussiten. Über die damals tödlich kontroverse Frage des Laienkelchs ist die Zeit längst hinweggegangen; heute gilt das Thema auch unter Katholiken als erledigt und der Laienkelch wird überall praktiziert. Damit entpuppt sich im historischen Rückblick auch der Konflikt mit Hus im Kern ebenfalls als Konflikt um den Machtanspruch Roms. Darüber wird noch mehrfach zu sprechen sein.
Der neue Theorieentwurf. Drei Kritiken Luthers und drei Ausschließlichkeitsformeln In der modernen westlichen Welt gilt die Religion heute weitgehend als Privatsache. Religiöse Überzeugungen und Praktiken sind für viele Menschen nur noch ein Lebensaspekt unter vielen anderen, die sich mit zahlreichen weiteren Lebenssphären und Diskursen verbinden. Das war im Spätmittelalter ganz anders. In dieser Zeit nicht beherrschbarer Krankheiten, sozialer und kriegerischer Unsicherheiten aller Art, dämonologischer Deutungen der geistigen und physischen Umwelt sowie eines mystifizierten, sehr oft angstbesetzten Naturverständnisses war die Religion der einzige Halt und die einzig legitime, alles umspannende Welterklärungs- und Handlungsanleitungsinstanz. Selbst die Philosophie galt einer berühmten scholastischen Sentenz zufolge nur als Magd der Theologie. Das ganze Leben war im Spätmittelalter also in geistiger und praktischer Hinsicht von kirchlich-religiöser Einflussnahme bestimmt. Gott und Teufel waren für die meisten Menschen stets realpräsent und man wollte immer genau wissen, wie man sich zu diesen beiden Einflussmächten stellen sollte, damit dann später das eigentliche Leben, das – so die Vorstellung – erst nach dem Tod kommt, gelingen konnte.Vor diesem Hintergrund können wir uns vielleicht vorstellen, welch große Irritation und Verunsicherung die abgrundtiefe Verderbtheit und Korruptheit des herrschenden römischen Klerikalsystems als selbsterklärter Repräsentanz des Göttlichen bei den Gläubigen hervorgerufen hat. Luther weist 1520 unter anderem in seiner Adelsschrift darauf hin, dass das seit dem 13. Jahrhundert abschließend in aller Härte errichtete Rechtssystem der Kirche wie ein Mauerring wirkt, der den Menschen keinen Ausweg mehr lässt. Da bleibt nur ein revolutionärer Ausbruch. Luther vollzieht ihn symbolisch am 10. Dezember 1520, wenige Wochen vor Eröffnung des Wormser Reichstags. Es ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Man studierte an den Universitäten beide Rechte, das kirchliche und das zivile, und man konnte den Abschluss als Doktor beider Rechte machen (Dr. utriusque iuris). Luther hatte bei seinem Autodafé nichts weniger im Sinn als einen ganzen anerkannten Rechtszweig zu vernichten. Wir
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werden später bei der Anklagerede in Worms sehen, warum man dies auch als einen Akt der Vorsorge Luthers fürs eigene Überleben sehen kann. Dem System, das ihn bedrohte, sollte der Rechtsboden entzogen werden. Bei kaltem Winterwetter verbrennt Luther in Anwesenheit seiner Studenten mehrere Ausgaben des kanonischen Rechtes, die ‚Summa angelica‘ des Angelo Carletti da Chivasso, d. h. eine kanonistische Beichtsumme, sodann Schriften des Leipziger Theologenkollegen Johannes Eck und des Dresdener Hofkaplans Emser sowie schließlich die auf ihn selbst bezogene römische Bannandrohungsbulle ‚Exsurge Domine‘.⁴¹ Luther wollte auch die Klassiker der mittelalterlichen Schultheologie einbeziehen, doch niemand wollte ihm seinen Thomas von Aquin oder Duns Scotus zum Verbrennen aushändigen. Der in Verteidigungsstellung befindliche Reformator organisierte trotzdem einen Zug mit Studenten, der zum Exekutionsplatz vor den Mauern am Elbufer, dem Schindanger, ging. Ein Magister zündete den Scheiterhaufen an und warf die drei Bände des Kanonischen Rechtes in die Flammen. Dann trat Luther näher heran und warf auch, von den meisten Teilnehmern kaum bemerkt, die wenigen Seiten der gedruckten Bulle dazu und sprach leise einige lateinische Worte, die gelautet haben sollen: „Weil du die Wahrheit Gottes zerstört hast, zerstöre dich dieses Feuer.“ Später berichtet Luther in einem kurzen Brief an Spalatin über den Vorfall, damit dieser dem Kurfürsten berichten könne. Im Akt des Verbrennens sollte der in diesen Schriften sitzende Teufel als Einbläser des Bösen mitverbrannt werden. Wer das mittelalterliche Kirchenrechtsbuch der Dekretalen verbrannte, ließ das Haupt- und Grundbuch der Institution Kirche symbolisch in Flammen aufgehen. Für die Zeitgenossen war das etwas Unerhörtes. Dass ein Mönch es wagte, nicht nur einzelne Texte, eine Bulle oder eine Liste von Sentenzen, sondern das gesamte in Jahrhunderten aufgebaute Gesetzeswerk zu vernichten, war beispiellos. Luther wollte das Ende der in diesen Rechtstexten verkörperten mittelalterlichen Stellung der Kirche als zweiter Säule der Macht im Reich herbeiführen.⁴² Das langfristig wirklich Entscheidende war, dass Luther den Gläubigen im Akt der Verbrennung nicht nur ein signifikantes revolutionäres Handlungsvorbild bot (Vernichtung der alten Knebelgesetze des Bösen), sondern vor allem auch eine neue Theorie lieferte, die das ganze Denk- und Glaubenssystem auf eine andere Grundlage stellen sollte. Wenn Luther in dieser Zeit das Wort protestieren verwendet, dann heißt dies immer noch ‚bezeugen, beteuern‘. Bei den Gesprächen mit dem päpstlichen Theologen Cajetan 1518 in Augsburg ist Luther noch gewillt,
Brief an Spalatin über die Bücherverbrennung vom 10. Dezember 1520, in WA Briefwechsel 2, Nr. 361, S. 234– 235; dt. Übersetzung bei Wartenberg 1983, S. 55; vgl. zur Mühlen 1999, S. 64. Friedenthal 1967, S. 303 – 306.
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zumindest den institutionellen Zusammenhalt der Kirche zu wahren. Er ist noch nicht so weit, gerade hier anzusetzen. Daher kann er in einer ‚Protestatio‘ auf Vorwürfe Cajetans mit den Worten reagieren: „Ich Bruder Martin Luther bezeuge (protestor), dass ich verehre und folge der heiligen römischen Kirche in allen meinen Reden.“⁴³ Zum Label der ganzen reformatorischen Bewegung wurde der Begriff protestatio erst später mit der auf dem Reichstag von Speyer 1529 formulierten ‚Speyerer Protestation‘, mit der sich evangelische Fürsten gegen eine Rekatholisierung ihrer Territorien wehrten.⁴⁴ Damit war der Name für eine Haltung des Widerstands geboren, die aus mehr als nur dem ‚Bezeugen‘ einer anderen Meinung bestand. Der Begriff Protestieren bekam damit auch eine deontische, auf eine Handlungsverpflichtung zum Widerstand festgelegte Bedeutungskomponente. Einzelne Sätze oder Dogmen wurden schon immer unter Theologen auf dem Forum internum, also im internen theologischen Diskurs, kontrovers verhandelt. Das war nichts Neues. Luther aber suchte nun auch das Forum externum, also eine breite publizistische Öffentlichkeit. Auch inhaltlich gab es jetzt kein Halten mehr. Im Jahr 1520 ging es an zentrale Basissätze, man kann sagen, an die geltende theologische Axiomatik, die im ganzen Land und in aller Öffentlichkeit verhandelt wurde. Die Frage der Freiheit des Denkens und damit des Abweichens von der herrschenden Norm wurde allseits als Politikum ersten Ranges empfunden. Luther weicht nicht in einzelnen verdächtigen Handlungen ab, was eine Kriminalisierung erleichtert hätte, sondern legt in diversen Schriften einen umfassenden alternativen Theorieentwurf für das religiöse System seiner Zeit vor. Für ihn ist es eine begründete Abweichung in fundamentalen Fragen. Das erkennen die entscheidenden Instanzen der Macht nun in aller Deutlichkeit und gehen ihrem inneren Gesetz gemäß mit einer Strategie der Generalkriminalisierung und Vernichtung gegen diese Abweichung vor. Im Erkenntnisprozess beruht Abweichung, methodisch gesehen, auf Kritik. Häretiker sind zunächst Kritiker. Aber dabei kann es nicht bleiben, denn Häresie heißt seinem Ursprung nach ‚Neues Entdecken‘. Es muss einen zweiten Schritt zur Formulierung von Alternativen geben. Aus der anfänglichen Kritik an praktischen Machenschaften der herrschenden Kirche (Ablasshandel) wird eine Kritik der theoretischen Grundlagen des römischen Glaubenssystems, die die Reformatoren des 16. Jahrhunderts in die Ausarbeitung von alternativen Theorien führt.
WA Werke 2, S. 8; Walch 15, Sp. 568: „Ich, Bruder Martin Luther, Augustiner, protestire vornehmlich und bezeuge öffentlich, daß ich die heilige römische Kirche in sonderlichen Ehren halte, und ihr in allen meinen gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Worten und Werken folge.“ Kohnle 2014.
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Es beginnt im Herbst 1517 damit, dass Luther Zweifel an der These formuliert, die Versöhnung zwischen Gott und Mensch erfolge durch kirchlich vermittelten Ablass, gar gegen bare Münze. Für ihn ist weder Gott bestechlich, noch lässt sich das Heil kaufen. Zwischen 1517 und 1521 ringt sich Luther im Wesentlichen zu drei großen Kritiken durch: zu einer Methodenkritik, zu einer Kritik an zentralen Dogmen und zu einer fundamentalen Institutionenkritik. Psychologisch gesehen schafft Luther damit auch für sich selbst eine Position, die sich gegen seinen tief verwurzelten und in den letzten Jahren seines Mönchseins leidvoll erfahrenen Normerfüllungsimpetus durchsetzt, die ihn zur Kritik befähigt und dann konsequenterweise neue Standpunkte einnehmen lässt. Es sind Kritiken, in denen Prinzipien verhandelt werden, die die Intellektualgeschichte der Neuzeit beeinflusst, ja, nach und nach in einem allgemeinen Sinn geprägt haben. Worum geht es im Kern? Luther geht vom betroffenen Subjekt, dem einzelnen Menschen als denkendem, glaubendem, religiös fühlendem Wesen aus. Die Kritik richtet sich gegen die Entmündigung des christlichen Individuums und setzt sich für die Autonomie des Denkens und seiner Artikulation ein. Luther drängt darauf, dass für jeden Menschen ein bestimmter Denkrahmen frei werden soll. Es ist eine radikale Wendung zum Subjekt als autonomer Deutungs- und Handlungsinstanz in Fragen religiösen und damit letztlich auch theoretischen Denkens. Und historisch war es dann nur eine Frage der Zeit, bis sich dieser Autonomiegedanke auch auf andere Bereiche des Denkens und Erfahrens zu erstrecken begann. Das moderne westliche Denken hatte damit seinen Weg gefunden, an dessen weiteren Ausbau sich die folgenden Jahrhunderte machten. Wir können es kurz ‚das von Bevormundung freie wissenschaftliche Denken‘ nennen. Kant wird es später im Imperativ sapere aude fassen: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Der Lutherforscher Volker Leppin spricht vom „reformatorischen Programm“, das im Jahr 1520 Schlag auf Schlag in einer Reihe von Publikationen Gestalt gewann.⁴⁵ Worin bestand der neue theoretische Glaubensansatz? Entscheidend für die weitere Intellektualgeschichte des Westens ist ein methodischer Aspekt. Luther wandte eine Art Zentralperspektivierung der Theorie an, die unter Theologen einen ganz ungewöhnlichen neuen Denkansatz darstellte. Die Zentralperspektive war eine Entdeckung der Renaissance des 15. Jahrhunderts. Man wollte die physikalischen Gesetze der Optik nun zur Norm der Visualisierung von Welt im Bild machen. Dieses Prinzip, Ableitungen aus einer zentralen Perspektive vorzunehmen bzw. alles, was man erkennen kann, auf einen zentral perspektivierten Punkt zurückzuführen, können wir in Luthers radikaler Rückführung von Glaubens-
Leppin 2010, S. 151– 164.
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sätzen an drei alles andere ausschließenden sola-Formeln erkennen, die man heute Ausschließlichkeitsformeln nennt.⁴⁶ Mit seinen Zentralperspektivierungen gelingt es Luther, einen alten Grundsatz der eleganten Theoriebildung umzusetzen, der da lautet: Einfach ist das Siegel des Wahren (simplex sigillum veri). In der sensationellen ersten kritischen Druckausgabe des Neuen Testaments von 1516 konnte Luther in der ‚Ermahnung‘ des von ihm zu der Zeit so bewunderten Erasmus von Rotterdam in ähnlichem Sinn lesen: „Nichts ist sicherlich wertvoller als das, was wir begehren, nämlich die Wahrheit. Je einfacher von ihr die Rede ist, desto wirksamer ist die Rede (simplicior hoc efficatior est oratio).“⁴⁷ Die solchen Grundsätzen verpflichteten Absolutheitsformeln tauchen schon im Mittelalter inhaltlich immer wieder einmal auf. Nun aber bekommen sie in ihrer Radikalität und inneren systematischen Verknüpfung sowie als Kern einer neuen Theorie auch eine neue Qualität.
Methode Der Theologenstreit, den Luther auslöste, ging um die Frage, wie man sich die Organisation der Beziehung eines Menschen zu seinem Gott vorstellen muss. Vorausgesetzt wird zweierlei: Der Mensch fühlt sich religiös an seinen Gott gebunden und dieser hat durch eine Offenbarung (in heiligen Schriften) Mitteilungen darüber gemacht, was über das Jenseits und die Verbindung zu ihm zu glauben ist und wie man vor dem Hintergrund dieses Wissens leben soll. Aus dem aus der Offenbarung extrahierten Regelwerk werden dann auch Maßgaben für konkrete irdische Institutionen abgeleitet, die das religiöse Leben organisieren (Kirche). Ausgangspunkt des Neuansatzes war die vom Renaissancedenken aufgeworfene Frage, was eigentlich als Erkenntnisquelle bei wissenschaftlichen und damit auch bei theologischen Fragen gelten soll. Luther wollte Theologie nun so betreiben wie der Kirchenvater Augustinus, bei dem etwa in der Schrift über ‚Geist und Buchstabe‘ allein die Bibel als geoffenbarte Quelle die Thesen stützt. Luther äußert sich dazu in einem Brief an seinen Freund Spalatin.⁴⁸ Wissenschaftstheoretisch steckt dahinter einerseits das neue humanistische Prinzip ad fontes (immer zuerst zurück zu den Quellen) sowie eine Abkehr von den Methoden der Scholastik, also vom herrschenden Ansatz der ‚Schul‘-Wissenschaft, die einen Leppin 2014, S. 90 – 94. Erasmus von Rotterdam: Novum Instrumentum, Paraclesis Bl. aaa3v. Luther an Spalatin am 18. Januar 1518, in WA Briefwechsel 1, Nr. 57, S. 132; dt. Berbig 1906, S. 24 f.
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riesigen Apparat von Autoritäten aufgebaut hatte, der zwar die Tradition spiegelt, sich aber auch in der Unterrichtspraxis der Universitäten völlig von den Ursprungsquellen entfernt hatte. Nach der neuen, sich ab jetzt langsam in weiten Teilen des Bewusstseins der führenden Denker Europas durchsetzenden Konzeption sind Institutionen, Autoritäten und Traditionen nicht ewig, sondern nur zeitlich und haben funktional begrenzte Reichweiten. Als Luther plant, auch die Schlüsselwerke der Scholastik zu verbrennen, will er die römische Doktrin von der ewigen Geltung der Tradition mitverbrennen. Den noch bis ins 20. Jahrhundert in der katholischen Theologie üblichen „spekulativen Beweis“ lehnt er ab. Thesen über die Einrichtung der Welt und des Kosmos müssen nach neuem RenaissanceWissenschaftsverständnis von den Fundamenten her gut begründet sein. Der wissenschaftliche Antispekulationismus soll ab jetzt auch für die Theologie gelten. Immer wieder verweist Luther auf die Willkür von spekulativen Auslegungstraditionen (Irrtümern, wie er sagt), die sich am Ende nicht mehr aus der einzig geltenden Glaubensquelle begründen lassen. Aus alldem ergibt sich die erste Ausschließlichkeitsformel: Nur aus der offenbarten Schrift (sola scriptura) darf ein dogmatisch geltender Satz abgeleitet werden.
Dogmatik Die Frage, um die es den Gläubigen (also fast allen Christen dieser Zeit, insbesondere aber auch Luther selbst) ging, kann man vielleicht so auf den Punkt bringen:Wie kann ich Gott nahe sein, um in den Himmel zu kommen und der Hölle mit dem Teufel zu entgehen? Luthers Antwort und sein religiös-inhaltlicher Neuansatz stecken im Begriff der Rechtfertigung (iustificatio). Für moderne Leser ist dies ein schwer verständliches Konzept, das hier nur in seiner Grundidee erklärt werden kann. Luthers Theorie der Rechtfertigung geht davon aus, dass jeder Mensch in einem geistigen Zusammenhang mit seinem Gott steht, der gepflegt oder vernachlässigt werden kann. Luther stellt sich die Beziehung zwischen dem Individuum und Gott nach dem Modell psychologischer Verbindungen zwischen Menschen vor, d. h. einerseits als Analogon zu einer menschlichen Liebesbeziehung, andererseits aber auch als eine Art Rechtsbeziehung zu einem absoluten Herrscher. Gott hat dem Christen Glaubensinhalte und Lebensregeln mitgeteilt, an die sich der gläubige Mensch halten soll. Man kann dabei von Dogmen und Geboten sprechen. Abweichungen von diesen Maßgaben heißen Sünde und sind das Problem. Wie in jeder menschlichen Beziehung, so wird angenommen, kommt es auch in der religiösen Beziehung zu Entfremdungen, zu Abweichungen vom Idealzustand, die das vertraute Verhältnis zwischen den Partnern, hier zwischen Mensch und Gott, trüben. Was ist da zu tun? Luthers Konzept besteht darin zu
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sagen, dass die Beziehung eines Menschen zu seinem Gott eine unvermittelte, exklusive, intime und absolut geistige ist. Das einzige Regulativ ist der Glaube an Gott gemäß Offenbarung (also kein beliebiger Glaube). In diesem Sinn formuliert Luther seine zweite Absolutheits- oder Ausschließlichkeitsformel: Allein aus dem Glauben (sola fide) entsteht die vertrauensvolle Harmonie zwischen Mensch und Gott. Das menschliche Mitwirken am Heilsprozess beschränkt sich auf diesen Akt der entschiedenen Akzeptanz einer transzendenten Größe. Aus diesem festen Glauben, der kein Wissen ist, folgt alles Weitere. Die Pointe besteht darin, dass der Mensch nicht einmal diesen Glauben selbst hervorbringen kann. Dahinter steht das Konzept reiner Geistigkeit, reiner Spiritualität des Religiösen. Das Konzept hat eine gewisse Logik, sucht es doch eine adäquate Verbindungs-, ja, Kommunikationsebene zwischen dem reinen Geist Gott und dem Menschen zu definieren. Die Ebene ist das Reingeistige. Diese radikale Voraussetzung, die weit von modernen, ganzheitlichen Embodiment-Konzepten des Menschen entfernt ist, gibt Luther die Chance, kompromisslos jede körperlich gedachte Werkgerechtigkeit (also alle materiellen Ablasspraktiken) abzulehnen. Dass darin aber auch die Gefahr der sprichwörtlichen protestantischen Verinnerlichung steckt, wird sich später in Luthers Haltung gegenüber den materiellen Freiheitsidealen der Bauern und ihrem Streben nach politischer Freiheit zeigen. Mit Verweis auf das Reingeistige wird er fatalerweise all diese politischen Bestrebungen als unspirituell, weltlich-materiell und damit jenseits religiöser Zuständigkeit abtun. Das freilich konnte langfristig gesehen den politischen Zug nicht mehr aufhalten, auch wenn Luther damit zunächst obrigkeitsstaatliche Vorstellungen begünstigte.
Institution Diese für katholisch-altgläubige Theologen der Zeit extreme Position hängt mit Luthers dritter Ausschließlichkeitsformel zusammen: Alles hängt an Gott, sogar die Möglichkeit, an Gott zu glauben, ist ein aus der Transzendenz kommendes Geschenk. Das hier wirksam werdende Modell der Beziehung zu einem absoluten Herrscher tritt an dieser Stelle besonders deutlich hervor. Damit ist der menschliche Voluntarimus als Glaube an die eigene Werk- und Willenseinflussnahme auf diese Beziehung und auf das persönliche Heil ausgeschlossen. Es gilt der Grundsatz: Allein aus der Gnade (sola gratia) des absolut Einfluss nehmenden Gottes ergeben sich für den Christen die Tatsachen und die Maßgaben des Glaubens und Lebens. Aktive Mitwirkung über materielle Werke ist sinnlos. Ein institutionelles Priesterwesen ist überflüssig. Prediger, Kult- und Gemeindeleiter sind freilich nützlich.
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Die römische Doktrin sieht demgegenüber vor, dass es unverzichtbare Vermittler geben muss, die zwingend daran beteiligt sind, die Beziehung des Individuums zu seinem Gott in Ordnung zu halten: die Priester. Sie allein können bestimmte Heilsgüter verteilen (Sakramente), die religiös Heiliges in die Welt bringen, den Eintritt in die religiöse Gemeinschaft ermöglichen und Störungen zwischen Mensch und Gott bereinigen. Reine Individualinteraktionen zwischen Mensch und Gott unter Ausschluss von Priestern sind eher schwach, in bestimmter Hinsicht defizient oder nur Notlösungen. Mit Hilfe der Priester dagegen können die Menschen immer wieder zu einer optimalen Beziehung zu Gott finden. Die obersten Priester können auch definieren, welche materiellen, körperlichen und sonstigen konkreten Handlungen (z. B. Geldzahlungen) des Kirchenmitglieds diesen Heilszustand herbeiführen. Die Gläubigen können diese materiellen Werke als Leistungen erbringen und damit Gott gnädig stimmen, ihn also beeinflussen. Das sind Vorstellungen, die in den meisten Religionen der Welt (von Fastenaktionen bis hin zu Menschenopfern) üblich sind. Luther sieht im römischen Konzept eine falsche Theorie am Werk, hinter der der Teufel steckt, was für ihn nicht zuletzt die absolut korrupte Praxis der römischen Kirche seiner Zeit beweist. Zu seiner Antwort gehört die Lehre vom allgemeinen Priestertum, das jeden Gläubigen in den Stand versetzt, mit den religiösen Dingen autonom umzugehen. Eine Institution kann sich nicht über das Gewissen des Einzelnen stellen. Glaubensfragen müssen weltlichen Institutionen jedweder Art entzogen und dem Individuum überantwortet werden. Prediger geben da nur noch Orientierung. Luther hat keinen Zweifel, dass der auch in seiner Theorie als reale Person vorgesehene Unheilbringer, der Teufel, die römische Kirche in Gestalt des Papstes beherrscht, ja, deren Doktrin seit der Spätantike immer mehr verunreinigt hat, um das Böse in der Welt zu stärken. Mit der im Mittelalter eingeführten Fegefeuer-Theorie hat sich der Papst sogar einen Weg geschaffen, den Gläubigen vorzugaukeln, per Ablassverordnung ins Jenseits hineinregieren zu können (er kann festlegen, wie lange man im Fegefeuer des Jenseits Strafzeiten abzubüßen hat). Das findet Luther unerträglich und als Glaubenssatz nur schwer aus der Bibel begründbar. Das gilt überhaupt für die diktatorische Papstinstanz in Rom. Das Neue Testament (also der christliche Teil der Bibel) macht für Luther klar, dass alle Apostel gleichgestellt waren, dass Petrus ihnen nicht befehlen konnte. Also können die Nachfolger der Apostel in aller Welt ebenso Papstrang beanspruchen usw. Dabei steht als Bedingung – das sollte man modernen Lesern auch noch zu bedenken geben – der Glaube an die Sukzession im Raum. Damit ist gemeint, dass ‚echter‘ sakraler Priester oder Bischof nur der ist, der sich in einer ununterbrochenen Abfolge von priesterlichen Weihehandlungen und auf dem Weg körperlicher Berührung (Handauflegen nach Art der Berührungsmagie) von den Aposteln herleiten kann. Auch diese Idee der Priestersukzession ist modern
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denkenden Menschen nur schwer zu vermitteln. Sie beruht auf der Annahme, dass eine mystische Verbindung aller Priester in ihrer Abfolge durch Körperberührung seit der christlichen Antike mit dem Religionsgründer Jesus besteht. Dem kann Luther nicht mehr folgen. Und Luther kann auch die bekannte biblische Zusage von Bindungs- und Lösungsgewalt an Petrus nur als individuelle Zusage verstehen, aus der kein exklusiver, institutioneller Anspruch des jeweiligen römischen Papstes in Abgrenzung zu den anderen Bischöfen ableitbar ist.
Die Todesschreie des Jan Hus Wenden wir uns nun wieder unserer Luther-Reisegesellschaft auf dem Weg nach Worms zu. Zu den Quellen über den Reiseverlauf gehören die schon erwähnten Luther-Predigten von Johannes Mathesius, einem Schüler des Reformators. In seinen Luther-Historien berichtet er über die weiteren Stationen der Reise nach Worms. Dabei entgleitet ihm bisweilen die Geographie, und er verwechselt in der Erinnerung auch manche Stationen von Luthers Heidelberg-Reise des Jahres 1518 mit denen der Worms-Reise 1521. Nicht von der Hand zu weisen sind jedoch die in seiner Darstellung mehrfach auftauchenden Bezüge auf den böhmischen Reformator Jan Hus. Mathesius bezieht sich auf schriftliche Quellen und mündliche Äußerungen seines Lehrers Luther. Man sah im Lutherkreis offenkundig eine deutliche Analogie zur Reise des als Ketzer angeklagten Jan Hus zum Konstanzer Konzil im Jahr 1415. Auch Luther habe sich vorgenommen, auf den Wegstationen zu lehren und zu predigen, schreibt Mathesius, „wie Magister Johann Hus auf seinem Weg nach Konstanz in allen Städten Halt machte und jedermann von seiner Lehre eine gut gemachte Erklärung geben wollte“.⁴⁹ Und wenn wir im Folgenden das Konstanzer Prozessgeschehen von 1415 etwas näher betrachten, dann deswegen, weil man sich auf dem Wormser Reichstag 1521 nur zu sehr im Klaren darüber war, dass die Behandlung des Jan Hus in Konstanz ein Modell für den Prozess gegen Luther abgab; ein Modell, das die einen fürchteten, die anderen als vorbildlich ansahen. Der böhmische Priester Jan Hus betritt 1415 zum letzten Mal in Konstanz die Weltbühne der Kirche, jener Institution, der er sein Leben verschrieben hat, als diese ihre historisch schwerste institutionelle Krise durchlebt. Es ist die Zeit des großen römischen Schismas, in der jahrzehntelang mehrere Päpste nebeneinander regieren, die nationalen Interessen von Spaniern, Franzosen und Italienern gehorchen und sich gegenseitig exkommunizieren und verfluchen. In ihrer Spitze
Mathesius ed. Loesche 1898, S. 55.
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ist die eigentlich von allen Zeitgenossen Europas anerkannte Heilsinstitution heillos zerstritten und unfähig, sich aus eigenen Kräften wieder in geordnete Verhältnisse zu bringen. Die Pariser Universität sammelt um das Jahr 1400 zehntausend Vorschläge, wie man die Einheit und den inneren Frieden der westeuropäischen Kirche wieder herstellen könne, kommt zu diversen Überlegungen, aber zu keinem Erfolg. Letztlich muss die weltlich kaiserliche Macht eingreifen, um die – wie sie sich selbst versteht – geistliche Agentur Gottes wieder halbwegs zu reorganisieren. Dies soll auf dem Konzil von Konstanz 1414– 1418 geschehen, auf dem Kaiser Sigismund dafür sorgt, dass schließlich alle konkurrierenden Päpste abgesetzt werden. Was nicht geschieht, ist eine inhaltliche Reform, ein Nachdenken über die religiösen Dogmen, Rituale und Praktiken. Abweichler hatten dazu aufgerufen: in England schon früher John Wycliff, jetzt in Böhmen Jan Hus und sein hochgelehrter Verbündeter Hieronymus von Prag. Für Hus ist mit Händen zu greifen, dass etwas im religiösen Leben Europas nicht stimmt. Das kirchliche Establishment jedoch findet aus egoistischen, institutionellen und theoretischen Gründen (die Wahrheit ist kirchenoffiziell bereits umfassend gefunden) zu keinem Neuansatz. Und wie einst im vierten Jahrhundert Kaiser Constantin im Konzil von Nizäa mit Gewalt dafür sorgte, dass schließlich ein einheitliches Credo unter den sich bis aufs Blut bekämpfenden Theologen gefunden wurde, so sorgt 1415 Kaiser Sigismund dafür, dass bei den drei Päpsten aufgeräumt und mit dem Abweichler Jan Hus kurzer Prozess gemacht wird. Man meinte, so die Ordnung wiederherstellen zu können. Doch das war ein Irrtum. Auch die folgenden Konzile in Basel, Ferrara, Florenz und im römischen Lateran sind nicht in der Lage, die allgemeine Dekadenz der römischen Institution zu beenden. In der fast genau hundert Jahre später, im Jahr 1521, anstehenden Causa Lutheri soll es dann wieder der römisch-deutsche Kaiser sein, der in der zerstrittenen Theologenkaste Ordnung schafft. Diesmal freilich werden sich die Gefahren eines Appells an die Politik für Rom in nicht vorhergesehener Weise zeigen, denn der alten Machtkonstellation steht plötzlich eine weltlich organisierte und kraftvolle Protestpartei in Deutschland gegenüber. Jan Hus war 1410 exkommuniziert worden und weigerte sich, seine Lehren zu widerrufen. Er hatte in Böhmen bereits eine reformierte Kirche installiert und mächtige böhmische Adelige stützten und schützten ihn. Da er selbst um die Möglichkeit gebeten hatte, seine Sache vor einem Konzil zu vertreten, konnte man ihn 1415 mit dem Versprechen des freien kaiserlichen Geleits, also der Zusicherung einer Unversehrtheit für Leib und Leben, nach Konstanz locken. Obwohl kurz zuvor einige seiner Schüler geköpft worden waren, hatte Hus die illusionären Hoffnungen eines Propheten. Er hoffte auf faire, rationale Disputationen in
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Konstanz, vertraute auf das Wort des Kaisers und darauf, dass sein Gott seine Wahrheit beschützen werde. Ein tödlicher Irrtum. Neben anderen Chronisten hat der Konstanzer Bürger Ulrich von Richental als Zeitzeuge die gesamten Konzilsereignisse und auch die Causa Hus um 1420 in seiner Konzilschronik beschrieben.⁵⁰ Sie wurde 1483 in Augsburg gedruckt, sodass 1521 die Macht im Reich und der Proteskreis um Luther genaue Kenntnis von diesen Ereignissen haben konnten. Richental berichtet, dass der böhmische König Wenzel Jan Hus mit einem Geleittross von Adeligen, 30 Berittenen und zwei Wagen im guten Glauben an das Geleitversprechen seines Bruders, des Kaisers, auf den Weg nach Konstanz schickte. Die Stadt lebte im Konzils-Ausnahmezustand, ein gefährliches Pflaster für verurteilte Ketzer. Richental schildert das für Süddeutschland ungeheure Ausmaß des Ereignisses am Beginn des 15. Jahrhunderts in bunten Farben. An ihm nahmen 30 Kardinäle, 300 Erzbischöfe, 100 Äbte, 300 Doktoren der Theologie, 5.000 Klosterbrüder und ungefähr 18.000 Priester teil. Vom Gefolge des Kaisers und Hochadels ganz zu schweigen; zu schweigen auch von den vielen hundert Prostituierten und sonstigem Unterhaltungspersonal. Alles in allem schätzt man eine Zahl von 50.000 bis 150.000 Gästen, die das kleine Konstanz nur schwer verkraften konnte. Am 3. November 1414 fuhr Hus mit seiner Begleitung „auf einem Wägelein, auf dem er und sein Kaplan saßen“, so Richental, in Konstanz ein. Die Stimmung war in der durch den erwähnten internationalen Adels- und Klerikerbetrieb völlig überfüllten Stadt von Anfang an gegen ihn gerichtet. Man schmähte ihn, entzog ihm drei Wochen nach seiner Ankunft auf Befehl der Kardinäle die Predigterlaubnis, und er wurde verhaftet. Dem Kaiser war unwohl bei der Sache. Richental schreibt: „Und als er so krank danieder lag, hätte ihm unser Herr, der Kaiser, gern geholfen, denn er meinte, es wäre für ihn als Herrscher eine große Schande, wenn man das freie Geleit des Hus breche. Da antworteten ihm die Gelehrten des Kirchenrechts, es könne doch nicht rechtens sein, dass ein Ketzer freies Geleit haben sollte. Als der Kaiser ihre ernsten Argumente hörte, ließ er es gut sein. Da wurde Hus in das Dominikanerkloster gebracht und in einer besonderen Zelle eingekerkert. Dann gingen jeden Tag die gelehrtesten Theologen zu ihm und sprachen mit ihm in der Absicht, ihn von seinem bösen Glauben abzubringen.“ Durch die unterirdische Zelle des Jan Hus wurden die Abwässer und Abfälle des Klosters entsorgt. Als er unter solchen Umständen schwer erkrankte, verweigerte man ihm Hilfe und eine Rechtsvertretung. Hus beharrte in den Verhandlungen darauf, nie von der rechten Lehre abgewichen zu sein, und lehnte daher einen Widerruf der aus seinen Schriften
Richental: Chronik des Konstanzer Konzils, S. 60 – 66.
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entnommenen, vom Konzil beanstandeten Sätze ab, es sei denn, sie würden aus der Heiligen Schrift widerlegt. So war er nicht zu retten, denn damit bestritt er zugleich die Autorität des Konzils. Im Hochsommer, am 6. Juli des Jahres 1415, trat das Konzil in einer öffentlichen Sitzung zusammen. Neben den Kardinälen, Prälaten und anderen Geistlichen waren viele weltliche Fürsten, der Kaiser und sein Stellvertreter, Herzog Ludwig von Bayern, anwesend. Richental beschreibt die Szenerie ausführlich. Man holte Jan Hus herbei, und der Cheftheologe der Universität Paris, die die vornehmste theologische Fakultät in Europa beherbergte, bewies in einer langen Rede seine böse Ketzerei mit Hilfe der „heiligen Lehren aus der heiligen Schrift“. Dann fällte die Versammlung das förmliche Urteil, ihn als geweihten Priester zu degradieren und ihm die Weihen zu entziehen. Das Ritual der Entpriesterung und Vorbereitung zur Verbrennung am 6. Juli 1415 beschreibt Richental wie folgt: „Da stellten sich Herr Nikolaus, der große Gelehrte und Erzbischof von Mailand, zwei Kardinäle, zwei Bischöfe und zwei Weihbischöfe zu ihm, bekleideten ihn wie einen Priester und zogen ihn dann wieder aus, dann wuschen sie die priesterlichen Weihezeichen von ihm ab. Diesen Vorgang kommentierte Hus spöttisch. Als das vorbei war, sprachen sie das Urteil über ihn, dass er ein Ketzer sei und einer, der bestraft gehöre wegen seiner Bosheit. Dann überantworteten sie ihn dem weltlichen Recht und baten unseren Herrn, den König Sigismund und mit ihm das weltliche Recht, dass man ihn nicht töte, sondern anderweitig behandele.“ Was uns hier von einem Augenzeugen geschildert wird, ist das bis zu Luthers Auftritt in Worms unangefochten geltende duale Herrschaftsprinzip des Zusammenwirkens von Klerus und weltlichen Herrschern, also des ideologischen und des politischen Zweigs der Macht. Mit ihren jeweiligen Institutionen bilden sie ein symbiotisch agierendes Machtkartell, dem bis Worms 1521 kein Einzelner entrinnen konnte. Mit einer gewissen inneren Konsequenz entwickelte Kaiser Maximilian I. zu Beginn des 16. Jahrhunderts dann sogar den kühnen Plan, beide Säulen des ekklesial-caesarischen Komplexes (Kirche und römisches Reichsregiment) in Personalunion zu vereinen, indem er sich selbst auch noch zum Papst wählen ließ. Die praktische Umsetzung dieses gescheiterten Vorhabens hätte dem symbiotischen Zusammenspiel beider Seiten der Macht die caesaropapistische Krone aufgesetzt. Wer weiß, wie es Luther ergangen wäre, hätte sich Maximilians neues Modell durchsetzen lassen. Wer von geistlicher Seite als Ketzer gebrandmarkt war, hatte aber auch nach dem bestehenden Modell keine Chance mehr gegenüber dem ekklesial-caesarischen Komplex aus Kirche und weltlicher Herrschaft, in dessen Händen sich das deutsche Rechtssystem befand. Hus konnte im geographisch etwas randständigen Böhmen nur deswegen so lange überleben, weil sich dort ein vergleichbarer Gegenkomplex etabliert hatte. Doch prinzipiell war im deutschen Reich bei ideo-
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logischen Konflikten das weltliche Recht laut Kirchenrecht ausgeschaltet bzw. hatte keine Spielräume. Der Ketzer konnte nicht auf die üblichen Verteidigungsregularien hoffen. In den ‚Dekretalen‘ Gregors IX. heißt es dazu: „Wir wollen hiermit euch Advokaten und Notaren, allen Ernstes bedeutet haben, dass ihr euch nicht unterfangen sollt, den Ketzern oder den Anhängern, Beschützern oder Verteidigern derselben in irgend einem Stück Hilfe, Rat oder Vorschub angedeihen zu lassen“ (‚Corpus iuris canonici‘ Buch V. Titulus VII. cap. 11).⁵¹ Die bis zum Wormser Reichstag 1521 alle Bereiche des ideologischen und politischen Lebens regulierende und den ekklesial-caesarischen Machtkomplex bestimmende Einheitsidee sieht vor, dass es in einem Reich auch nur ein einheitliches religiöses Glaubens- und Wertesystem geben darf. Denn Abweichung stellt die Machtstruktur fundamental in Frage. Die Arbeitsteilung innerhalb des ekklesial-caesarischen Machtkartells wird in Konstanz vorgeführt. In einem ersten Schritt fällt man ein theologisches Urteil über den Abweichler Hus. Dann macht man in einem zweiten Schritt symbolisch die priesterliche Investitur (Einkleidung) rückgängig: Man kleidet ihn noch einmal mit Ornat ein und entkleidet ihn wieder. Ebenso werden seine heiligen Priestersalbungen symbolisch abgewaschen. (Abb. 4a) Mit Ketzerurteil und Entpriesterung hat die Kirche ihren Teil des Prozesses erledigt. Ab jetzt tut sie so, als ob sie die Sache institutionell nichts mehr angeht. Sie übergibt den von ihr systemisch erzeugten, nach ihren Maßstäben (dem Kirchenrecht) verurteilten Delinquenten an die weltliche Abteilung der Macht zur Exekution. Dazu heißt es im Kirchenrecht: „Die aber, welche von der Kirche verurteilt sind, müssen zur Vollstreckung der gebührenden Strafe der weltlichen Obrigkeit übergeben werden und wenn die Ketzer dem geistlichen Stand angehören, so sind dieselben vorerst ihrer geistlichen Weihe verlustig zu erklären“ (‚Corpus iuris canonici‘ V.VII.15). Für redlich und klar denkende Menschen von heute ist der weitere Verlauf in seiner als heuchlerisch deutbaren Grundstruktur nur noch schwer zu verstehen. Die Kirche tut zunächst alles, um ihre Abweichler abzuurteilen, doch dann prätendiert sie Nächstenliebe. Es kommt daher zu der für heutige Leser absurden Situation in Konstanz, dass die Kirchenvertreter im Wissen um das Schicksal des gerade von ihnen ausgestoßenen und mit Plan verfolgten Ketzers nun plötzlich rituell um Gnade für sein Leben bitten, um – zynisch genug – so tun zu können, als hätten sie Mitleid; genauer gesagt: als hätte das System Mitleid. Was aber hätten die Kardinäle und Bischöfe wohl gesagt, wenn der deutsche König und römische Kaiser Sigismund den Ketzer Hus aufgrund dieses bloßen Lippenbekenntnisses
Hier und im Folgenden zitiert dt. nach Corpus juris canonici ed. Schilling/Sintenis 1837 und lat. nach Corpus Iuris Canonici ed. Friedberg 1881.
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tatsächlich begnadigt hätte? Alles nur vordergründiges Spiel, würden wir heute sagen, denn der Kaiser hätte – wenn er sich nicht wohlverhalten hätte – gewärtigen müssen, dass man nun auch gegen ihn vorgehen würde. Das Kirchenrecht lässt ihm eigentlich keine Wahl. Die Abteilungen „Über Häretiker“ und „Über Schismatiker“ der ‚Dekretalen‘ Gregors IX. geben die nötige Handhabe. In den entsprechenden Paragraphen steht die „an alle weltlichen Gewalten“ gerichtete Forderung nach willfähriger Kooperation („sie mögen nun Landesherren, Dynasten, Obrigkeiten von Städten oder andern Orten sein, in Würden und Ämtern irgend einer Art stehen und Namen haben“). Die Bestimmung gehe auf ein Gesetz Kaiser Friedrichs II. zurück, in dem es heiße, dass, wenn die weltlich Herrschenden „selbst für Christen gelten wollen, sie zur Verteidigung des Glaubens sowohl den Bischöfen der verschiedenen Diözesen, als auch den vom Apostolischen Stuhle gegen ketzerische Umtriebe niedergesetzten, oder noch niederzusetzenden Untersuchungsrichtern willfährig sein und auf deren Verlangen nach Kräften dazu beitragen mögen, dass die Ketzer, so wie die Anhänger, Beschützer, Hehler und Verteidiger derselben entdeckt, verhaftet und in enger Gewahrsam festgehalten werden […] bis ihre Angelegenheit durch das Urteil der Kirche entschieden ist. Ferner sind auch die erwähnten weltlichen Machthaber […] verpflichtet, diejenigen Personen, welche von dem Bischof oder einem oder mehreren Untersuchungsrichtern der Ketzerei wegen verurteilt und ihnen zum Zwecke der Bestrafung überliefert worden sind, ungesäumt zu übernehmen, ohne sich durch Appellationen oder Protestationen jener Sünder beirren zu lassen“.Verboten ist es den weltlichen Institutionen, „selbst Untersuchung anzustellen, sich auf irgend eine Weise die Entscheidung anzumaßen“ oder „die Vollstreckung derjenigen Strafe, welche wegen jenes Verbrechens vom Bischof oder den Untersuchungsrichtern ausgesprochen worden war, pflichtwidrig aufzuschieben oder ganz zu unterlassen“; wer dagegen verstößt, verfällt dem Kirchenbann und wird nach Jahresfrist selbst zum Ketzer erklärt (‚Corpus iuris canonici‘ V.II.18). Es werden auch gleich die Vermögensangelegenheiten mitgeregelt, die zur endgültigen Existenzvernichtung der Ketzer beitragen und um deren Exekution die weltliche Macht ebenfalls nicht herumkommt: „Für das Unserer weltlichen Gerichtsbarkeit unterworfene Gebiet verordnen Wir, dass das Vermögen der Ketzer eingezogen werden soll und dasselbe verfügen Wir in Hinsicht auf andere Länder, in welchen die weltlichen Fürsten und Machthaber gleiche Pflicht auf sich haben. Sollten sich aber dieselben hierin säumig erweisen, so wollen Wir sie dazu durch geistliche Besserungsstrafen angehalten wissen“ (‚Corpus iuris canonici‘ V.VII.10). Mit anderen Worten: Das Kirchenrecht enthält Paragraphen der Nötigung zur Amtshilfe für weltliche Machthaber in Ketzerprozessen. Wenn man also heute immer noch bisweilen das Argument hört, nicht die Kirche, sondern die weltlichen Instanzen
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hätten Ketzer und Hexen verbrannt, dann ist das unredlich, weil damit die Mithaftung der Kirche für dieses zweiarmige Rechtssystem geleugnet wird. Rund sieben Jahrzehnte nach der Hinrichtung des Jan Hus erscheint im Jahr 1486 der berüchtigte ‚Hexenhammer‘ (Malleus Maleficarum), dessen Menschenverbrennungsspur sich durch die folgenden Jahrhunderte ziehen wird und das Verbrennen von Menschen, auch lebenden Menschen, in Deutschland heimisch werden lässt. Manche sehen hier eine Linie bis hin zu den Verbrennungen der Nazis. Dieses Hexenprozesshandbuch rekapituliert noch einmal die genannten Kirchenrechtsbestimmungen, unterscheidet dabei zwar zwischen Laien und Klerikern, schreibt aber für beide Gruppen im Fall der Kriminalisierung umstandslos die Hinrichtung vor. Danach gilt im Sinne der Kirchenrechtsbestimmungen: „Wenn der Ketzer nach der Aufdeckung des Irrtums nicht unmittelbar umkehren und der Ketzerei abschwören will, muss er umgehend verbrannt werden, wenn er ein Laie ist. Die Fälscher des Geldes nämlich werden sofort dem Tod übergeben, um wieviel mehr die Fälscher des Glaubens! Wenn es aber ein Kleriker ist, wird er nach feierlicher Absetzung dem weltlichen Gerichtshof zur Hinrichtung überlassen“ (I, 14).⁵² Kaiser Sigismund hat 1415 letztlich keine Wahl. Der Spruch des geistlichen Teils der Macht legt seine Agenda fest. Die geistlichen Gelehrten hatten ihm ja im Vorfeld auf seine ausdrückliche Nachfrage hin schon erklärt, dass ein Ketzer rechtlos ist und er deshalb sein Geleitversprechen bedenkenlos brechen dürfe. Entsprechend verfährt er nun auch. Bei Richental heißt es: „Da sprach der König zu Herzog Ludwig, unseres heiligen römischen Reichs Kurfürst und Erztruchsess, so nehmt ihn als unser Stellvertreter, und behandelt ihn wie einen Ketzer. Herzog Ludwig rief den Konstanzer Richter herbei, der ein Reichsbeamter war (es war der anwesende Hans Hagen) und sagte: Vogt, nimm du ihn aufgrund unser beider Urteil und verbrenne ihn als einen Ketzer. Der Richter befahl den Ratsknechten und dem Scharfrichter, dass sie ihn hinaus führen sollten zur Verbrennung, jedoch ohne ihm sein Kleid, den Gürtel, das Übergewand, die Börse, das Messer, sein Geld, die Hosen und auch nicht die Schuhe zu nehmen oder auszuziehen. So geschah es auch. Und er hatte zwei gute schwarze Röcke an aus gutem Tuch gemacht und einen Gürtel, der war nicht gerade bescheiden mit Metallbeschlägen versehen, und er hatte zwei Messer in einer Scheide und eine lederne Börse, in der sich gewiss auch etwas befand.“ Richental stellt Hus mit dieser Schilderung der Kleidung als wohlhabenden und keineswegs asketisch lebenden Priester dar.
Hexenhammer ed. Jerouschek/Behringer 2007, S. 315; Hexenhammer ed. Schnyder 1991, S. 72– 74.
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Vor dem Ketzertod erfolgt aber noch eine neue Investitur, die ihn als Teufelspriester, ja, als Teufelserzbischof erkennbar macht, dem man nur mit einem Geleit vieler bewaffneter Soldaten beikommt (Abb. 4b). Dazu Richental: „Er trug nun eine Bischofsmitra aus Papier auf dem Haupt, wie man es hier später auf einem Bild sehen kann; auf dieser waren zwei Teufel aufgemalt, zwischen denen geschrieben stand: Heresiarcha, das heißt so viel wie Erzbischof aller Ketzer. Die Konstanzer führten ihn dann mit mehr als tausend bewaffneten Soldaten hinaus, und die Fürsten und Herren waren auch bewaffnet.“ Weiter heißt es: „Beim Hinausführen betete Hus nichts anderes als: Jhesu Christe, fili dei vivi, miserere mei (Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner). Und als er auf das offene Feld kam und das Feuer und das Holz und Stroh sah, fiel er dreimal auf seine Knie und rief mit lauter Stimme: Jhesu Christe, fili dei vivi, qui passus es pro nobis, misererere mei (Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, der du für uns gelitten hast, erbarme dich meiner). Danach fragte man ihn, ob er beichten wolle. Da sagte er: Gern, nur ist hier alles zu eng. Als er in den Ring trat, erweiterte man diesen. Da fragte ich ihn, ob er beichten wolle, denn es war da ein Priester namens Ulrich Schorand anwesend, der vom Konzil und vom Bistum mit entsprechender Vollmacht ausgestattet war. Ich rief diesen Herrn Ulrich heran. Der kam zu ihm und sagte zu ihm: Lieber Herr und Magister, wollt Ihr dem Unglauben abschwören und der Ketzerei, wegen der ihr leiden müsst? Dann will ich gern eure Beichte hören. Wenn ihr das aber nicht tut, dann wisst ihr ja wohl selbst, dass im Kirchenrecht steht, dass man einem Ketzer kein Sakrament gewähren soll. Da sprach Hus: Es ist nicht nötig, denn ich bin kein Todsünder. Dann wollte Hus anfangen, eine Predigt auf Deutsch zu halten. Das aber wollte Herzog Ludwig nicht und befahl, ihn zu verbrennen. Da nahm ihn der Scharfrichter, band ihn mit Kleid und allem anderen an ein aufrecht stehendes Brett, stellte ihm einen Schemel unter die Füße, legte Holz und Stroh um ihn, schüttete ein wenig Pech darüber und zündete es an“ (Abb. 4c). Diese Szene wurde später auch für die Schweizer Reformatoren des 16. Jahrhunderts zu einem identifikatorischen Schlüsselereignis. Johannes Stumpf (1500 – ca. 1578), ein Freund des Züricher Reformators Zwingli, berichtet 1541 in seiner Konzilsgeschichte darüber, dass ironischerweise noch ein einfacher Bauer hinzutrat, also ein Vertreter jener Gruppe, für die Jan Hus immer gekämpft hatte, und ein weiteres Holzstück auf den Scheiterhaufen legte. Hus soll dies lächelnd mit den letzten Worten „O sancta simplicitas! (O heilige Einfalt)“ kommentiert haben.⁵³ Richental beschreibt das Ende des Jan Hus mit den Worten: „Da begann Hus heftig und auf üble Weise zu schreien, und bald war er verbrannt. Als er schon
Stumpf 1541, Bl. 114.
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ganz verbrannt war, lag die Mitra noch unversehrt im Feuer. Da zerstieß sie der Scharfrichter. Nun verbrannte auch sie und erzeugte den bösesten Geruch, den man nur riechen kann, denn der Kardinal Pancratius hatte einen Maulesel besessen, der an der Stelle gestorben und eingegraben worden war. Von der Hitze öffnete sich nun das Erdreich, so dass der Gestank heraus kam. Danach fuhr man die ganze Asche, die da lag, in den Rhein“ (Abb. 4d). Ein Jahr nach Hus wurde seinem ebenfalls nach Konstanz gekommenen Anhänger Hieronymus von Prag der Prozess gemacht. Am 26. Mai 1416 verteidigte sich dieser mit den Doktorgraden der Universitäten Paris, Oxford und Heidelberg versehene Universitätsprofessor aus Prag vor dem Tribunal.⁵⁴ Am 30. Mai 1416 richtete man Hieronymus auf gleiche Weise wie Hus. Richental berichtet darüber, dass wieder alle hohen Geistlichen und weltlichen Herren zu einer Messe zusammengekommen waren.⁵⁵ „Sie sangen ein löbliches Hochamt zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit. Nach der Messe schaffte man Hieronymus den Ketzer herbei. Es predigte ein Professor der Theologie aus England. Nach der Predigt bewiesen die Gelehrten der Theologie, dass er und Hus falsch gepredigt und gelehrt hätten. Hieronymus wollte ebenfalls nicht widerrufen oder in Böhmen eine entsprechende schriftliche Erklärung verbreiten lassen. So wurde auch er als Ketzer verurteilt und dem Herzog Ludwig von Bayern überantwortet. Der befahl ihn hinaus zu führen und zu verbrennen. Also führte man ihn wie den Hus hinaus, nur dass diesmal nicht so viele Bewaffnete mitritten“. Der Bericht fährt fort: „Und als man ihn hinausführte betete er das Credo und als das beendet war, fing er an die Litanei zu singen, dann wieder das Credo. Auch er wurde an jener Stelle verbrannt, wo Hus verbrannt worden war, und wie im Fall des Jan Hus nahm man auch ihm nicht die Beichte ab. Im Feuer allerdings blieb er länger am Leben als Hus und schrie grauenvoller, denn er war ein dicker starker Mann mit einem schwarzen großen Bart. Und als er verbrannt worden war, fuhr man die Asche und die sonstigen Reste ebenfalls in den Rhein. Damals weinten viele gelehrte Leute darüber, dass er umkommen musste, denn er war viel gelehrter als Hus. Er war ja ein Magister der Wissenschaften in Prag, in der Stadt London in England, in Köln und Erfurt gewesen. Das ereignete sich im Jahr 1415 [1416]. So verlief also das Konzil in bestem Frieden und es gab in der Zwischenzeit auch keinen Unfrieden. Die Fremden wurden beschützt und lebten in Frieden, so dass sie eine Meile Wegs um Konstanz herum spazieren gehen konnten, in die Stadt hinein und durch die Wälder oder wohin sie auch wollten.“
Poggios Brief über Hieronymus und Brunis Antwort engl. übers. in Shepherd 1802, S. 78 – 90. Richental: Chronik des Konstanzer Konzils, S. 67 f.
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Für Richental ist nach der Tötung des Hieronymus von Prag, das zeigt der Fortgang seines Berichts, die Welt wieder in Ordnung. Wir erfahren von den Spaziergängen der weitgereisten Konzilsteilnehmer, die es sich gewiss auch mit den von Richental erwähnten siebenhundert Huren gut gehen ließen, die in die Stadt gekommen waren. Doch die biedere Rückkehr zu den Alltagsgeschäften, das Ausleben heiliger Einfalt und der Wunsch nach bequemer Gleichgültigkeit waren nicht mehr überall möglich. Die beiden Ketzerverbrennungen hatten in Europa irreversible Folgen. Die Todesschreie der Prager Protestler und der Gestank ihres brennenden Menschenfleisches verbreiteten sich auf ganz besondere Weise über den Kontinent. In Böhmen kamen die Reformationsbestrebungen nicht mehr zur Ruhe; die Hussitenkriege brachen aus und beschäftigten das ganze 15. Jahrhundert. Rund hundert Jahre später schweben der Geist und die Schreie des Jan Hus auch über Luthers Reise nach Worms.
Abb. 4a/4b: Degradierung des Jan Hus (oben)/ Jan Hus wird zum Richtplatz geführt (unten). Holzschnitt in Ulrich von Richental: Concilium zu Costencz. Augsburg, Anton Sorg, 1483, Bl. XXXIIIv (= GW M38152).
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Abb. 4c/4d: Jan Hus auf dem Scheiterhaufen (oben)/Versenkung der Überreste des Jan Hus im Rhein (unten). Holzschnitt in Ulrich von Richental: Concilium zu Costencz. Augsburg, Anton Sorg, 1483, Bl. XXXIIIIr (= GW M38152).
Es ist aber auch noch von einer ganz anderen Reaktion zu sprechen, die nach und nach ihre Kreise zog. Gemeint sind die Renaissance-Humanisten, die aus den Vorgängen ihre ganz eigenen Schlüsse zu ziehen hatten. Stellvertretend spricht zu uns in einem Briefwechsel über die Jahrhunderte hinweg der päpstliche Sekretär Poggio Bracciolini direkt aus Konstanz. Er ist höchst beeindruckt von Hieronymus, in dem er einen humanistisch gebildeten Lateiner mit großer rhetorischer Begabung erkennt, der für ihn keineswegs bloß ein religiöser Schwärmer oder Wirrkopf zu sein scheint. Poggio schreibt aus Konstanz nach dem zweiten Tribunal vom 26. Mai 1416 an seinen Freund Leonardo Bruni (Aretino): „Ich muss gestehen, dass ich niemals jemanden sah, der in einem Prozess plädierte, dazu in einem Fall, von dem sein eigenes Leben abhing, der dem Niveau antiker Redegewandtheit, die wir so bewundern, so nahe gekommen wäre.“ Und: „Es war erstaunlich mitzuerleben, mit wie gewählten Worten, mit wie dichten Argumenten, mit welcher Zuversicht er
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seinen Gegnern antwortete. So beeindruckend war sein Auftreten, dass man sich doch sehr wundert, dass ein Mann von so edlem und ausgezeichentem Geist sich in Ketzerei verwirrt haben sollte. Ich kann mir nicht helfen, in diesem letzten Punkt hege ich einige Zweifel. Doch es sei mir fern, hier, in einer so heiklen Angelegenheit, eine Entscheidung zu fällen. Ich sollte mich der Meinung jener fügen, die weiser sind als ich.“⁵⁶ Da springt uns der humanistische Zweifel an den Machenschaften der Theologen geradezu an, die die Macht repräsentieren. Der Freund Bruni kann auf solche Zweifel nur antworten: „Ich muss dir raten, in Zukunft über solche Themen in einer bedachteren Weise zu schreiben.“⁵⁷ Die frühen Humanisten, die in Klerikerdiensten oder gar – wie Poggio selbst – im Dienst des schismatischen, in Konstanz am Ende abgesetzten Papstes Johannes XXIII. standen, wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Sie und die ganze Bewegung des Renaissance-Humanismus wenden sich vom alten, mittelalterlichen Kirchenbetrieb ab und vergöttern am Ende einen Alternativentwurf: die Antike. Sie wird für sie zum alleinigen Diskursmaßstab. Das Christentum versuchen sie daneben in einer Art intellektueller Schizophrenie weiter zu praktizieren, aber eher auf dem Weg persönlicher Frömmigkeit oder auf dem Niveau von Volkssprache und heimischer Folklore. Geistige Faszination finden die Humanisten aber unbestritten in den Zeugnissen der heidnisch-antiken Kultur. Diese Teilung des Denkens erlaubt es ihnen, auf dem Feld der Wissenschaften und Künste eigene, gewissermaßen vom christlichen Umfeld abgekoppelte Wege zu gehen. So entstand die moderne Welt in Koexistenz mit den mittelalterlichen Denkund Glaubenstraditionen und zugleich in Abgrenzung zu ihnen. Die Konstanzer Ereignisse enthielten für Humanisten der Zeit kein Identifikationsangebot. Poggio und seine Freunde machten sich daher zu dieser Zeit auf, in den deutschen Klöstern nach verlorenen antiken Werken zu suchen. Und in den Kellern, verstaubten Bibliotheken und Dachböden der Klöster wurden sie spektakulär fündig. Viele Werke der antiken Naturkunde, Philosophie, Rhetorik und Dichtung, die man verloren glaubte, kamen nun zutage. Deren Sprache und Form waren ab jetzt die Orientierungspunkte für jene neuen Denker, die intellektuell etwas auf sich hielten und die wir Humanisten nennen. Im Bereich der langsam neu entstehenden Naturwissenschaft, insbesondere der Physik, traute man sich sogar langsam, über die antiken Inhalte nachzudenken und das eigene Wissen in Frage zu stellen.
Brief vom 3. Juni 1416 in Poggio Bracciolini: Epistolae, S. 11– 20, hier S. 11; engl. bei Shepherd 1802, S. 78. Leonardo Bruni, Liber IV, Epistola VII, S. 129; vgl. Shepherd 1802, S. 90.
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Indem Luther den böhmischen Reformator Jan Hus als Typus akzeptiert, akzeptiert er das Prinzip der Abweichung vom Mainstream. Das ist insofern ein persönlicher Durchbruch und eine biografische Paradoxie zugleich, als Luther, nach allem, was wir über seine intellektuelle und psychische Entwicklung vor den Wormser Ereignissen wissen, nicht nur dem üblichen klösterlichen Anpassungszwang peinlich genau, bis hin zu autoaggressiven Haltungen, folgte, sondern sich darüber hinaus in einem offenbar extrem stressbeladenen Eifer verfing, die rechte Norm religiöser Eichung hin auf den Willen Gottes zu finden. Hatte der europäische Mönchsvater Benedikt von Nursia nicht allen nachfolgenden Mönchsgenerationen der christlichen Orden des Westens das Streben nach Vollkommenheit ins Stammbuch geschrieben? Luthers von uns heute als zwanghaft verstehbare Suche nach einem gnädigen Gott ist in diesem Sinn die kompromisslose Suche nach einem idealen theologischen Wissen, nach Erkenntnis des theologisch wirklich Richtigen, um das Irrige zu vermeiden, und nach der wirklich richtigen Lebensnorm. Es ist bekannt, dass für Luther hinter alldem viele Ängste und ein tiefsitzender Rechtfertigungszwang standen. Welche Motive letztlich ausschlaggebend für sein am Ende so mutiges Handeln waren, wird sich kaum noch genau aufklären lassen. Kommunikativ hervorgetreten ist nur ein religiöses Anliegen. Persönliche Motive und erkennbare Anliegen stehen jedoch auf unterschiedlichen rhetorischen Blättern. Dennoch ist klar, dass bei der Motivsuche psychologische Kategorien ebenso zur Erklärung ins Spiel kommen müssen wie wissens- und erkenntnistheoretische. Für unseren Zusammenhang ist letztlich aber nur die Tatsache wichtig, dass Luther es wagte, einen Habituswechsel vorzunehmen, aus welchen Motiven heraus auch immer. Er wechselte vom Modell des machtergebenen, selbstquälerischen Normerfüllers und angeleiteten Erkenntnissuchers zum Modell des ebenso kompromisslosen, mutigen und selbstdenkenden Abweichlers sowie theoretischen Neutöners; dann freilich mit dem unvermeidlichen Ergebnnis, auf neue Weise zum Normerfüller, Erkenner und Richtungweiser für andere zu werden. Der am Kirchenvater Augustinus und an Jan Hus zugleich orientierte Habituswechsel Luthers musste in Hinblick auf seine theologische Arbeit methodische Konsequenzen mit sich führen. Der Mut zur Abweichung vom kirchennotorischen, gewissermaßen amtlichen Mainstream implizierte die Kritik als methodischen Ansatz. Das Protestmodell besagt, dass sich nur aus der Kritik an bestehenden Dogmatiken neue Erkenntnisansätze gewinnen lassen. Kritik führt zur Devianz, und das ist der Schlüssel zum Wechsel. Die Ironie der Geschichte besteht in dieser historischen Szenerie freilich darin, dass nun ausgerechnet in einer Glaubenswissenschaft, die eben auf Glauben, nicht auf den Zweifel setzt, der Kritik als Kernprinzip wissenschaftlicher Dynamik zum Recht verholfen werden sollte. Kritik heißt im Kern: Zweifeln. Die langsam dämmernde Einsicht, dass Zweifel gut
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sein kann, wird nicht nur für Luther, sondern für die gesamte frühe Neuzeit zum epochalen Schlüssel der Intellektualgeschichte und zum Schlüsselproblem mit allen Folgen auch für die politische Geschichte. Friedrich Myconius bestätigt 1541, dass Jan Hus und sein trauriges Schicksal auf Luthers Reise nach Worms immer wieder von der Umwelt zum Thema gemacht wurden: „Etliche trösteten Luther unterwegs sehr übel, indem sie sagten, weil so viele Kardinäle und Bischöfe in Worms beim Reichstag wären, würde man auch ihn dort bald zu Asche verbrennen, wie es dem Hus in Konstanz geschehen sei. Denen aber antwortete Luther: Und wenn sie gleich ein Feuer machen würden, das zwischen Wittenberg und Worms bis zum Himmel reichte, so wolle er doch im Namen des Herrn erscheinen, weil er aufgefordert worden sei, und er wolle dem teuflischen Behemoth zwischen die Zähne seines Mauls treten und Christus bekennen und diesen handeln lassen.“⁵⁸ Für Luther wird Hus neben Savonarola zu einer Figur, deren Zwiespältigkeit als Protestleitfigur einerseits und Todesengel andererseits ihm nur zu deutlich vor Augen steht. Schon 1518 äußerte er, dass ihm einige prophezeit hätten, er werde auf dem Scheiterhaufen enden,⁵⁹ und bei den Verhandlungen über das freie Geleit nach Worms im Jahr 1520/21 war von Luthers Team immer wieder auf den Fall Hus und dessen dramatisches Ende verwiesen worden.⁶⁰ Freilich hat sich Luthers Vorstellung darüber, dass er das Protestmodell des Jan Hus typologisch ebenfalls erfüllen muss, erst langsam entfaltet. So berichtet Luther am 15. Oktober 1519 an Spalatin in einem Brief über einen Boten der Böhmischen Brüder aus Prag. Seit dem zunächst auf 31 Jahre befristeten Religions- und Landfrieden von Kuttenberg im Jahr 1485 hatten diese von den Habsburgern eine eigene hussitische Kirche anerkannt bekommen, wenn auch nicht auf Dauer, wie sich später herausstellte.⁶¹ In Hinblick auf Roms Herrschaft weiß Luther also: Es geht auch anders. Man kann von Rom unter Umständen loskommen. Nach der spektakulären Leipziger Disputation hatten sich schon im Juli 1519 zwei utraquistische Geistliche aus Prag bei ihm gemeldet. Jetzt gab Luther dem
„Etliche trösteten ihn unterwegen sehr übel, daß, weil so viel Cardinal und Bischoff zu Worms am Reichstag wären, würd man ihn allda flucks zu Pulver brennen, wie dem Hussen zu Costnitz geschehen. Aber denen antwort Luther: Und wenn Sie gleich ein Feuer machten, das zwischen Wittemberg und Worms bis an den Himmel reicht; weil er aber erfordert wäre, so wolt er doch im Nahmen des HErrn erscheinen, und dem Behemoth in sein Maul zwischen seine grossen Zeen treten und Christum bekennen, und denselben walten lassen“ (Walch 15, Sp. 1826—1827). Luther an Joh. Lang am 21. März 1518, in WA Briefwechsel 1, Nr. 64, S. 154– 156; vgl. Kohnle 2001, S. 24. Kohnle 2001, S. 94. Leppin 2010, S. 145.
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böhmischen Boten seine kleineren Werke mit auf den Weg, hielt sich aber ansonsten noch mit einer klaren Parteinahme zurück.⁶² Der Grund waren Gerüchte, dass die Hussiten Luther inzwischen „verherrlichten wie ihren Schutzgott“, so Luther in einem Brief an Spalatin aus der Weihnachtswoche 1519.⁶³ Dass die Vorsicht berechtigt war, zeigt die Tatsache, dass Herzog Georg von Sachsen am 27. Dezember bei Kurfürst Friedrich, Luthers Landesherrn, klagt, Luthers jüngst erschienener ‚Sermon vom Sakrament‘ sei offenkundig böhmische Ketzerei. Das weist der Kurfürst zwar zurück,⁶⁴ doch Luther, der über solche Vorgänge informiert wird, muss sich unvermeidlich mit solchen Zuschreibungen beschäftigen. Es kommt jedoch bald zu einer Art Durchbruch in dieser Frage der Rollenidentifikation. In einem Brief vom ca. 14. Februar 1520 bricht es aus ihm heraus: „Ich unkluger Mann habe bisher nur gepredigt, wie einst Johann Hus und auch Johann Staupitz, kurz, wir sind alle Hussiten, auch Paulus und Augustinus sind dem Wort nach Hussiten. Ich weiss vor Staunen nicht, was ich denken soll. Ich sehe ein wunderbares Gesicht Gottes bei den Menschen. Die offenbare evangelische Wahrheit ist vor mehr als 100 Jahren öffentlich verbrannt worden, wird heute noch verdammt und darf nicht bekannt werden.Wehe der Welt!“⁶⁵ Immer noch wird die Wahrheit also, wie einst Hus in Konstanz, verbannt und verbrannt. Georg Berbig kommentiert in seinem ‚Spalatin‘-Buch diese erregten Zeilen Luthers mit den Worten: „Der Brief klingt wie das Rollen des Donners aus weiter Ferne.Wann wird der Sturm losbrechen in seiner ganzen Gewalt?“⁶⁶ Als Luther in Naumburg mit dem Bild des Savonarola konfrontiert wurde, muss er auch an Hus gedacht haben. Er wusste zu diesem Zeitpunkt, dass das Gewitter ihn in Worms so oder so anrühren würde. In Worms muss sich auch bei ihm der Protest-Typus Jan Hus erfüllen.Vor mehr als einem Jahr, am 19. März 1520, hatte er einen Neudruck der Hus’schen Schrift ‚Über die Kirche‘ an Spalatin geschickt. Es war ein Bestseller, von dem der Buchdrucker Thomas Anshelm aus Pforzheim bereits mehr als 2000 Exemplare abgesetzt hatte. Luther konnte dies nur mit der Aufforderung an den Freund Spalatin kommentieren: „Lies es. Es gefällt allgemein. Der Geist darin ist wunderbar. Man kann viel daraus lernen.“⁶⁷
Berbig 1906, S. 75. WA Briefwechsel 1, Nr. 234, S. 600, Z. 19; Berbig 1906, S. 87. Berbig 1906, S. 89. Luther an Spalatin, ca. 14. Februar 1520, in WA Briefwechsel 2, Nr. 254, S. 42; dt. Berbig 1906, S.106 f. Berbig 1906, S. 107. Luther an Spalatin am 19. März 1520, in WA Briefwechsel 2, Nr. 268, S. 72; dt. Berbig 1906, S. 108.
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In diesem Brief aus dem Jahr 1520 ging es nicht nur um die genannte Schrift des Jan Hus, sondern auch um Zeichen am Himmel, die man in Wien gesehen haben wollte. Luther nahm dazu Stellung und fragte sich, ob dies nicht auch Bedeutung für seinen eigenen Kampf haben könnte. Wann und wieweit Luther genau in die Überlegungen der kursächsischen Politikstrategen bezüglich seiner Wormsreise eingeweiht wurde, ist nicht klar. Jedenfalls hat ihn der Freund Spalatin, engster Berater des Kurfürsten, gewiss schon früh über das Wesentliche auf dem Laufenden gehalten. Der kursächsische Kanzler Brück und Spalatin hatten Anfang April in ihren Strategiegesprächen all jene Argumente zusammengetragen, die für oder gegen ein Kommen Luthers nach Worms sprachen. Die Vorverurteilung durch die päpstliche Bulle und die Ladung zum Tribunal sprachen für ein Fernbleiben. Man erinnerte sich nur zu gut an die Konstanzer Ereignisse um Jan Hus von 1415. Diese Befürchtungen wurden aber relativiert durch die Zuversicht, dass Kaiser und Stände den Bruch des Geleits nicht zulassen würden. Ausschlaggebend wurde am Ende für Brücks positive Entscheidung, dass Luthers Gegner es ihm schlecht auslegen würden, wenn er fernbliebe.⁶⁸ Der Kurfürst selbst, der auf Luthers Schutz bedacht war, blieb vorerst unschlüssig und überließ alles Luther selbst. Für diesen aber gab es kein Zurück. Das Nachdenken über die Protestvorgänger Savonarola und Hus, die eigenen neuen Standpunkte, ja, der ganze Kosmos mit seinen Himmelszeichen drängen seit 1518 auf eine Entscheidung. Jetzt freilich, im Jahr 1521 auf der Reise zu dieser letzten Entscheidung, werden Namen wie Savonarola und Hus zum Leitstern und Menetekel zugleich. Schon jetzt, in Weimar, Gotha und Eisenach gerät Luther unter starken psychischen Druck. Es wird immer deutlicher, dass sein Leben tatsächlich auf dem Spiel stehen könnte und sich der Bruch des Freien-Geleit-Versprechens vielleicht wiederholen könnte, so wie es einst Jan Hus in Konstanz erleben musste. Mathesius berichtet von den Kontroversen, Machenschaften und Intrigen, die sich schon auf der Anreise Luthers unter den in Opposition stehenden römisch und deutsch gesinnten Parteigängern, so seine Sicht, zutrugen: „Da sich aber der Doktor Luther nicht abschrecken lassen wollte und weiter nach Worms zog, begann man, andere Praktiken ins Werk zu setzen. Die päpstlichen Abgesandten gaben öffentlich bekannt, man dürfe doch bei einem Ketzer nicht das Geleitversprechen einhalten. Das waren römische Ansichten, die auch manch weltlichem Machthaber gefallen haben sollen. Doch der weise und friedliche Kurfürst am Rhein, Pfalzgraf Ludwig V., mit dem bei dessen späteren Tod Deutschlands Frieden begraben wurde, wollte als redlicher und löblicher Deutscher seine Unterschrift und sein Siegel nicht brechen lassen. Denn es wäre doch auch zu dieser
Kohnle 2001, S. 94.
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Zeit immer noch nicht vergessen, sagte er, dass man seinerzeit dem teuren Märtyrer Jan Hus gegenüber das Versprechen ebenfalls nicht eingehalten habe. Aus diesem Grund seien diejenigen, die dazu ihre Einwilligung gegeben hatten, später wenig siegreich und insgesamt glücklos gewesen.“⁶⁹ Die letzte Bemerkung bezieht sich auf den wortbrüchigen Kaiser Sigismund des Jahres 1415 und seinen in Prag regierenden Bruder Wenzel.Wenzel bekam die nach der Ermordung des Jan Hus in Böhmen um sich greifende Revolution nicht in den Griff und starb wenige Jahre danach. Sigismund regierte nach dem Konstanzer Konzil im Reich ohne große Fortune und sein fragwürdiger Nachruhm als Geleit-Zusagen-Brecher wird bald auch in Worms Luthers Kaiser, Karl V., unvermeidlich vor Augen stehen.
Schlechte Nachrichten in Weimar Freitag, 5. April 1521 Luther ist körperlich noch relativ stabil als er in Weimar eintrifft. Was ihn hier erwartet, trägt jedoch nicht zur weiteren Festigung seines Gemüts und optimistischen Einschätzung seiner Lage bei. Zwar erhält er nun erfreulicherweise zusätzliche Reisemittel von den Beauftragten des Herzogs Johann, des Bruders seines Landesfürsten, doch das verbessert nur die momentanen äußeren Bedingungen. Niederschmetternd ist dagegen eine Nachricht, die offensichtlich die ganze Reisegesellschaft in Unruhe versetzte, wie sich an der Reaktion des Herolds zeigt. Luther beschreibt im Rückblick die Situation in Weimar so, dass „das Gerücht (Geschrei) aufkommt, Doktor Martinus und seine Bücher seien in Worms bereits verdammt. Und das wäre wahr. Dazu kamen mir die Boten unter die Augen, die das kaiserliche Mandat in allen Städten anschlagen sollten, dass Dr. Martinus vom Kaiser verdammt wäre.“⁷⁰ Hintergrund des Gerüchts ist die Tatsache, dass die Häupter der Macht, also die in Worms anwesenden Mitglieder des kaiserlichen Hofs und der päpstlichen Kurie nur widerwillig Luthers Vorladung zugestimmt hatten und daher, um ihn von der Reise abzuschrecken, das sogenannte Sequestrationsmandat erließen (von sequestrieren = Bücher einziehen). Worum handelte es sich dabei? Der kaiserliche Großkanzler Gattinara hatte in Worms ein Mandat zur Beschlagnahme aller lutherischen Bücher erlassen und in diesem Zusammenhang festgestellt, dass sich der Reichstag inzwischen gegen jede Neuerung in Glaubenssachen ausgesprochen habe und Luther nur zum Widerruf
Mathesius ed. Loesche 1898, S. 56. WA Tischreden 5, Nr. 5342b, S. 68.
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nach Worms bestellt worden sei.⁷¹ Das entsprach in einem gewissen Sinn der schon herausgegangenen päpstlichen Bulle, war aber deutlich schärfer formuliert als die kaiserliche Vorladung Luthers, deren Text nur undeutlich von einer Einvernahme sprach. Der Befehl zur Einziehung der Luther-Bücher macht deutlich, dass die Macht zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelernt hatte,welche Mechanismen den modernen Printmarkt beherrschen. Mit dem veralteten Dreischritt Einsammeln, Verbieten und Verbrennen, meinte man, der Lage Herr zu werden. Die Zeit der wenigen handgeschriebenen Bücher als Manuskript-Individuen war aber längst vorbei. Seit Erfindung des Buchdrucks ließ sich der Besitz einer Druckauflage nach der Auslieferung und Verbreitung nicht mehr ohne Weiteres kontrollieren. Nur mit dem größten Aufwand konnte man in einem Territorium ermitteln, wer welche Bücher besaß. Freilich hielt das kirchliche Inquisitionsbehörden für lange Zeit nicht ab, Buchsuchen anzuordnen, um Buchverbote zu exekutieren.⁷² ‚Zukunftsträchtig‘ wurde hingegen die sich in dieser Zeit langsam entwickelnde Methode der Buchzensur, die bis heute von Machthabern mit totalitären Kontrollambitionen angewandt wird. In Worms ging die römische Macht mit den Vertretern ihrer beiden Säulen jetzt davon aus, dass sich nach diesen Maßnahmen „der Ketzer“ in Worms nicht mehr blicken lassen werde, und auch die kurfürstlich-sächsische Protestpartei beim Reichstag, wie man die Gruppe um den sächsischen Kurfürsten zur besseren Kenntlichmachung nennen kann, geriet in Sorge.⁷³ Luther selbst war über die nun offenkundig gewordene harte Gangart der Reichsmacht ebenfalls besorgt. Er ist sich in Weimar darüber im Klaren, dass – falls die Gerüchte stimmen – seiner Reise letztlich die ursprünglich angenommene Geschäftsgrundlage entzogen ist. Er muss abwägen, wie es weiter gehen soll, und sich entscheiden. Damit gerät die Reiseangelegenheit in eine erste Krise, die Luther vielleicht sogar als eine durch teuflische und irdische Mächte angestrengte Versuchung verstanden haben könnte, vielleicht doch Abstand von der Weiterreise zu nehmen. Die Luther-Reisegruppe und mit ihr der kaiserliche Herold sind verunsichert. Kaspar Sturm ergreift daher die Initiative, um die Lage zu klären, und der Mönch reagiert heroisch. Das beschreibt er später wie folgt: „Nun fragte mich der Herold: Herr Doktor, wollt ihr weiterreisen? Da antwortete ich: Ja. Ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass man mich in den Bann getan und dies auch in allen Städten publiziert hatte, wollte ich doch weiterreisen und mich an das kaiserliche Geleit halten.“⁷⁴ Laut Luthers
Zschäbitz 1967, S. 137. Ginzburg 1979, S. 57 f. Boehmer 1951, S. 320. WA Tischreden 5, Nr. 5342b, S. 68 f.
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Tischreden fügte er noch im Sinne der Versuchungsdeutung hinzu: „Wir werden in Worms einziehen, sollten sich auch die Pforten der Hölle und die Gewaltigen, die in der Luft herrschen, dagegen stellen.“ Diese Formulierung findet sich auch in dem Brief aus Frankfurt an Spalatin vom 14. April 1521.⁷⁵ Im Rückblick sieht Luther in all diesen hinderlichen Vorgängen – wohl zu Unrecht, aber in Übereinstimmungen mit Unterstellungen in kursierenden Flugschriften – eine Machenschaft des Mainzer Bischofs, dessen Ablasshandel er behindert hatte: „Dies war die erste Intrige, die der Bischof von Mainz in Gang setzte, in der Hoffnung, mich daran zu hindern, zum Reichstag zu ziehen, um dann gegen mich zu prozessieren mit dem Vorwurf, dass ich das kaiserliche Geleit missachtet hätte und verstockt geworden sei“.⁷⁶ Luther ließ sich also nicht abbringen von seinem Vorhaben, zumal er sich seit Langem mit dem Gedanken an den Märtyrertod vertraut gemacht hatte. Die Savonarola- und Hus-Schicksale machten ihm zweifellos Angst, doch sie hielten ihn nicht zurück. Luther hatte aufgrund der öffentlichen Debatten und jahrelangen publizistischen Auseinandersetzungen einen Punkt der theoretischen Klarheit in der Sache und der persönlichen Selbstgewissheit erreicht, an dem er nur noch von einer mentalen Mischung aus Gottvertrauen, Opfermut und Siegeserwartung angetrieben wurde. Alle früheren Fluchtpläne, etwa nach Frankreich, die ihn, seine Universität und seinen kursächsischen Schutzherren entlasten sollten, waren jetzt vergessen.⁷⁷ Inzwischen war auch der Erfurter Juraprofessor Justus Jonas eingetroffen, mit dem Luther auf der Weiterfahrt die rechtliche Seite des Vorgangs besprochen haben dürfte. Es ist gewiss kein Zufall, dass Luther seinen Begleitern dann auf der weiteren Reise das alttestamentliche Buch Josua mit dem Bericht über die erfolgreiche jüdische Landnahme als biblisches Vorbild auslegte.⁷⁸ Luther wird den Anfang dieses Textes mit Gottes Auftrag an Josua später wie folgt übersetzen: „So mach du dich nun auff, und zeuch uber diesen Jordan, du und dis Volck, in das
WA Briefwechsel 2, Nr. 396, S. 298, Z. 10 f. Dazu schreibt Walch: „Nach dem Bericht der Tischreden Cap. 55 § 2, hat Luther solche Worte zu dem Herold gesprochen, als dieser ihn fragte, ob er noch gedächte nach Worms zu gehen, nachdem das kaiserliche Edict wider ihn an vielen Stellen öffentlich angeschlagen war. Dies mag wirklich geschehen sein, ehe Luther sie an Spalatin schrieb“ (Walch 15, Sp. 1828 Anm. 1). „Das war die erste Practia, so der Bischof von Mainz übte, dadurch vermeinte, mich zu hindern, daß ich auf den Reichstag nicht ziehen sollte, und man alsdann wider mich procediren möchte, als hätte ich das kaiserliche Geleit verachtet, und wäre contumax [verstockt] worden“ (Walch 15, Sp. 1825). Zu den Fluchtplänen siehe Berbig 1906, S. 44– 46. WA Tischreden 3, Nr. 3357a, S. 281– 284; WA Tischreden 5, Nr. 5342a und 5342b, S. 65 – 74; vgl. Brecht 1981, S. 427.
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Land, das ich inen, den kindern Israel, gegeben habe“ (Josua 1,2). Konnte Luther hier nicht jenen Prophetentypus vorgeformt erkennen, der für ihn zum Modell werden musste? „Es sol dir niemand widerstehen dein lebenlang,Wie ich mit Mose gewesen bin, Also will ich auch mit dir sein, Ich will dich nicht verlassen und von dir weichen. Sey getrost und unverzagt,“ heißt es da weiter. Waren das nicht jene biblischen Worte, die Luther jetzt gerade brauchte? Und: Weiche nicht vom göttlichen Gesetz, „weder zur rechten noch zur linken, Auff das du weislich handeln mügest, in allem das du thun solt.“ Gegen Ende des ersten Kapitels gibt Gott Josua den Befehl zum Aufbruch zur Reise und verspricht zugleich die glückliche Rückkehr: „Ir aber solt fur euern Brüdern her ziehen gerüstet, was streitbar Menner sind, und inen helfen,“ und dann „solt ir widerumb keren in eur Land, das euch Moses der Knecht des HERRN eingegeben hat zu besitzen“ (Josua 1,15). Solche Worte der Bibel konnten die Reisegesellschaft ermutigen, und so meldet denn auch der Reichsherold nach der Ankunft in Erfurt dem Kaiser die Fortsetzung des Lutherzuges und fügte hinzu, dass „überall, wo er durchkomme, alle Welt, Alt und Jung, Knaben und Mädchen, ohne dass er es verhindern könne, dem Doktor Luther entgegenströme“.⁷⁹
Gelehrtentriumph in Erfurt. Die Ruhmesvision Samstag, 6. April 1521 Dieser breite Zuspruch der Bevölkerung zeigte sich auch einen Tag später in Erfurt.⁸⁰ Was sich in dieser Universitätsstadt ereignete, unterschied sich aber in der Inszenierungsweise deutlich von allem, was bisher auf der Reise geschehen war. Es war ein geplanter triumphaler Empfang und eine glanzvolle Aufnahme unter Freunden im Universitätsmilieu. Man war in der Stadt bestens gerüstet und äußerst gespannt auf den berühmten Zeitgenossen. Luthers Ruhm in ganz Deutschland und die unvergleichliche Popularität waren für einen Theologen der Zeit um das Jahr 1500 einzigartig. Die Zahl der Studenten an der Wittenberger Universität Luthers hatte sich in den letzten Jahren aufgrund der nun berühmt gewordenen theologischen Fakultät fast verdoppelt.⁸¹ Die Forschung hat das „Berühmtwerden Luthers“ inzwischen als einen außergewöhnlichen „Moment der Weltgeschichte“ (Moeller) in seinen Entwicklungsstufen rekonstruiert.⁸² Noch im
Boehmer 1951, S. 326. Lingke 1769, S. 88 – 90. Berbig 1906, S. 65; Leppin 2010, S. 137. Zum Folgenden Moeller 2001, S. 15 – 41.
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Jahr 1515 fehlt der Name Luthers in einer Aufstellung der wichtigsten Gelehrten seiner Zeit, denn erst im Frühjar 1517 erschien mit der Auslegung der sieben Bußpsalmen seine erste eigene Veröffentlichung. Auch in der Folgezeit wurde er zunächst nur von theologischen Insidern wahrgenommen. Doch es sollte insgesamt keine drei Jahre dauern, bis er zum alles überstrahlenden Stern am publizistischen und kulturpolitischen Himmel Deutschlands geworden war. Ein jüngst erschienenes Buch über Luthers aufgehenden Stern drückt in seinem deutschen Titel diese erstaunliche Publizitätsgeschichte wie folgt aus: „Die Marke Luther.Wie ein unbekannter Mönch eine deutsche Kleinstadt zum Zentrum der Druckindustrie und sich selbst zum berühmtesten Mann Europas machte – und die protestantische Reformation lostrat“.⁸³ In Erfurt wusste man am 7. April 1521 vom Drama der letzten Jahre und all den Vorgängen, die ganz Deutschland erregten. Man wartete gespannt, was jetzt noch alles kommen werde. Am 29. März schrieb Luther an Johannes Lang, er treffe am nächsten Donnerstag oder Freitag (also am 4. oder 5. April) ein und wolle in Erfurt bei den Augustinern übernachten, zusammen mit dem Reichsherold Kaspar Sturm. Luther hoffte dabei, dass keine Gefahr bestehe, nach Erfurt zu kommen oder nicht irgendein unbekannter Fall eintrete. Dann würde er ausführlich berichten. Wenn es nicht ginge, würde Lang ihn sicher in Eisenach treffen, wo er am Sonnabend sein wolle.⁸⁴ Diese brieflichen Ansagen machen deutlich, dass es für die Reise einen genau ausgearbeiteten Terminplan gab, der sich freilich nicht genau einhalten ließ, wie sich bald zeigen sollte. Am Tag der Einholung nach Erfurt stellt sich der Humanist Crotus Rubeanus, Luthers Freund aus Studientagen und jetzt Rektor der Universität, an die Spitze eines Ehrengeleits aus humanistischen Magistern, Bakkalaren und Studenten. Man reitet dem Held des Tages in einem gemeinsamen Zug entgegen bis an die Grenze des Erfurter Gebietes, bis zum Dorfe Nohra. So war es üblich, wenn man berühmte Gelehrte einholte, so hatte man auch den Professor Henning Göde im Jahre 1516 feierlich in die Stadt geleitet. Mit 40 Reitern zieht Crotus Luther entgegen. Er begrüßte ihn in einer begeisterten Rede als den „Rächer der großen Lüge der Zeiten, die uns den Glauben geraubt“ und pries die Stunde glücklich, da ihm nun vergönnt sei, sein Antlitz zu schauen. Mit solchen Worten wird klar, dass die römische Kirche auch hier endgültig als Werk des Antichrist gebrandmarkt ist. Luther bedankt sich mit einem Bescheidenheitstopos und erklärt, dass er solche
Pettegree 2016. WA Briefwechsel 2, Nr. 392, S. 293; Kleineidam 1969, S. 258.
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Ehrenbezeugungen weder verdient noch darauf gehofft habe, doch dankbar als Zeichen der christlichen Liebe annehme.⁸⁵ Auch der Humanist Eobanus Hessus stammelte dann ergriffen, wie er sich ausdrückte, einige Worte der Begeisterung. Er hatte auf den ankommenden und wieder abreisenden Gelehrten Luther sechs lateinische Elegien gedichtet, in denen der Flussgott Hieras (Gera) die Grüße der Stadt poetisch personifiziert ausspricht. Natürlich ist hier alles dichterisch überhöht, doch uns wird klar, mit welcher Erregung und mit welch hohen Erwartungen inzwischen viele Intellektuelle in Deutschland auf Luther blickten. Alles drängte auf eine Entscheidung in der angespannten Lage des geistigen Deutschland. „Nun frohlocke, erhabenes Erfurt,“ heißt es in der ersten Elegie im Jubelton, „bekränze mit festlichem Laubwerk dein Haupt, denn siehe es kommt, der dich vom Schmutze reinigt, unter dem du so lange geseufzet.“⁸⁶ Es ist der Schmutz Roms, von dem hier die Rede ist, den Luther aus dem Tempel fegen soll. Die Musen eilen Luther entgegen, sagt Eobanus, und eine himmlische Stimme ruft aus: „Ziehe nun, langersehnter Martin, in unsere Mauern ein, der du das reine Gotteswort wieder hergestellt und gleichsam die Decke des Antlitz Mosis hinweggenommen hast. Christus segne deinen Eingang und schütze dich vor deinen grimmen Feinden.“ Luther wohnte im Augustinerkloster bei seinem Freund, dem Prior Lange. Am Morgen des nächsten Tages, am 7. April, es war der Weiße Sonntag, predigte er auf vielfachen Wunsch in der Augustinerkirche. Der Auflauf war so groß, dass Hunderte vor der Kirche versuchen mussten, etwas mitzubekommen. Luther nahm das Evangelium des Tages (Joh 20, 19 – 23) zum Anlass, über den Kern seiner neuen Sicht des Glaubens zu sprechen. Ein Zuhörer schrieb mit und gab die Predigt später in den Druck, damit die gegen sie erhobenen Vorwürfe entkräftet werden konnten. Von Worms spricht Luther nicht. Er spricht nur vom Kern seiner in den letzten Jahren neu gewonnenen Erkenntnis, dass man zur ewigen Seligkeit und Gnade nicht durch eigene, menschliche Werke kommen kann. Der Mensch kommt allein durch eine geistige Anstrengung zu Gott, nämlich durch seinen Glauben an Christus. Jede Vermischung des religiösen Lebens mit Papsthörigkeit und Philosophie, die sich an den Namen Aristoteles knüpft (dessen Werke an einer Universität wie Erfurt normalerweise zum üblichen Pensum gehörten), sei gegen Gott gerichtet. Dann kommt er auf den Kern der Sache, den er mit Hilfe einer Antithese herausarbeitet, der Antithese von römischem Schmutz versus purer biblischer Wahrheit. Das ist Luthers auch hier vorgetragene Grundidee. Es geht um den Gegensatz von einerseits verrotteter kirchlicher Praxis und theologisch-dogma-
Bärwinkel 1883, S. 68. Die Übersetzung hier und im Folgendem nach Bärwinkel 1883, S. 67– 77.
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tischer Tradition und andererseits neu erkannter reiner, d. h. gereinigter Wahrheit. Man sehe doch, wenn man genau hinschaue, dass die kirchliche Verkündigung in der herrschenden Praxis ein unreines Gemisch aus Bibelstellen und allerlei fabulösen Zusätzen sei. Die Kleriker seien theologisch oberflächlich und auch sonst nur noch gerade zum Einhalten äußerer Rituale fähig. Der Missstand sei abgrundtief verankert. „Es sind wohl dreitausend Pfaffen, unter denen man nicht vier rechte findet: Gott erbarme sich über den Jammer!“ Überall habe der Teufel seine Finger im Spiel. „Ich weiß wohl“, ruft Luther aus, „dass man das nicht gern hört, doch ich will die Wahrheit sagen und muss es tun, auch wenn es mich zwanzigmal den Hals kostet.“ Dem Publikum muss es die Sprache verschlagen haben, denn nun erfolgt der Angriff auf das kirchliche Traditionsargument. Er möchte bitte nicht den Spruch hören, sagt Luther, dass „vor hundert oder vor fünfzig Jahren doch auch gelehrte Leute da gewesen seien“. Das stimme zwar, räumt er ein, doch immer habe sich der Teufel eingemischt und die reine biblische Lehre verunreinigt. Dieser Umstand legitimiert für Luther den radikalen Neuansatz und die einsame Frontstellung gegen eine Unzahl angeblicher Gottesgelehrter. Daher sein klares Bekenntnis: „Ich aber frage nicht nach der Länge oder Menge, denn obwohl man in der Tat schon etwas über die Dinge wusste, ist überall der Teufel ein Vermischer gewesen, der die heidnischen Skribenten lieber hatte als das heilige Evangelium. Ich aber will die Wahrheit sagen und muss es tun, darum stehe ich hier.“⁸⁷ Damit gibt er implizit zu verstehen, dass er als Theologe eine im Hier und Jetzt, also synchron anwendbare Methode der Erkenntnisgewinnung besitzt, die eine diachrone, also in historischen Interpretationstraditionen denkende Theologie nicht mehr braucht. Das waren unerhörte Töne, über deren Wirkung Eobanus Hessus spricht, wenn er der Nachwelt berichtet, dass von der Gewalt der Worte aus Luthers Mund die Herzen geschmolzen seien wie Schnee vom Hauch des Frühlings; der Wittenberger habe den jahrhundertelang verschlossenen Weg zu den Gütern des Himmels gezeigt. Diesen Eindruck, den die Predigt gemacht hat, schildert Eobanus Hessus in seiner dritten Luther-Elegie. Wieder beherrscht ein humanistisch-gelehrter Duktus des Hohen Lobs die Wortwahl und Vorstellungswelt.Weder Demosthenes noch Cicero, ja, kaum Paulus habe so die Herzen der Hörer rühren können wie Luther in seiner Erfurter Predigt.⁸⁸ Wie unerträglich die Spannung beim Anhören dieses religiösen Neutöners gewesen sein muss, zeigt eine überlieferte Anekdote. In ihr wird normales phy-
Martin Luther: Ein Sermon auf dem Hinweg gen Worms zu Erfurt gehalten. In: WA Werke 7, S. 803 – 813, hier S. 810 und 812. Bärwinkel 1883, S. 68 – 70.
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sikalisches Geschehen (das Knacken von Holz, wenn es bei Belastung arbeitet) im Sinne einer teufelsbezogenen Verschwörungstheorie zum gefährlichen Eingreifen höherer Mächte uminterpretiert. In der Kirche kam es nämlich zu einer Panik während der Predigt, als ein Krachen auf den völlig überlasteten Emporen entstand, durch das die Menge so erschreckt wurde, dass einige durch die Fenster auf den Kirchhof hinunterspringen wollten. Luther aber bewältigte die Situation, indem er eine Art exorzistischen Beschwörungsausruf tat: „Ich kenne deine Tücke, Satan!“ Dann sagte er: „Fürchtet nichts, es ist keine Gefahr da, der Teufel will mich abhalten, das Evangelium zu predigen, aber es soll ihm nicht gelingen.“ Da beruhigte sich die Menge, die Fliehenden blieben stehen und die Predigt ging weiter.⁸⁹ Die Altgläubigen reagierten erst nach Luthers Weiterreise auf diesen Auftritt. Einem Chorherrn, der Luther mit begrüßt und empfangen hatte, wurde der Zutritt zum Chor der Augustinerkirche verwehrt. Man warf ihm Umgang mit einem Ketzer vor, der im Bann sei. In der folgenden Nacht wurden mehrere Häuser von lutherfeindlichen Klerikern demoliert, was als Hinweis auf die inzwischen eingetretene feindselige Spannung zwischen den beiden Parteien verstanden werden muss, die sich durch jede Kleinigkeit entladen konnte.⁹⁰ Luther setzt die Reise am Montag, den 8. April, fort. Bei seiner Abfahrt von Erfurt suchte der Rektor Crotus, seinem scheidenden Gast Mut zuzusprechen und ermahnte ihn zur Standhaftigkeit bei seinem schweren Gang nach Worms. Und in seinem Luther-Gedicht ruft Eoban ihm zu: „Decke Du auf die römischen Ränke, die Schmach des Erdkreises. Das große Deutschland wird für Dich in den heiligen Kampf treten. Ziehe hin und fürchte Dich nicht!“⁹¹ Diese Gelehrtenruhm-Episode in Erfurt hat Luther zweifellos sehr beeindruckt und bestärkt. Er muss sich jetzt endgültig darüber klar geworden sein, welche gesellschaftliche Rolle er spielt und dass er angesichts aller auf ihn gerichteten Hoffnung durchhalten muss. Er ist berühmt, aber auch mehr als je gefährdet. Es ist ein Einzug, für den die Antike Begriffe wie Pompē, Triumphus oder Adventus zur Verfügung hatte. Luther empfand all dies,wie uns ein am selben Tag geschriebener Brief bezeugt, zwiespältig. Im glanzvollen Einzug in die Stadt spiegelt sich für ihn die Ambivalenz der Lage. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Szenerie mit Hilfe der zweiten Luther-Elegie des Eobanus Hessus. Er hat das Geschehen in hochtönende Humanistenverse gebracht, die zweifellos der Stimmung der Beteiligten entsprechen. Sie zeigen bei aller literarischen Stilisierung, wie die Dinge in der Luther-Partei standen. Eobanus beschreibt zunächst die erregte Auf Bärwinkel 1883, S. 77 nach Eobanus Hessus; Tschackert 1901, S. 137 f., der Daniel Greisers Bericht vom 7. April mitteilt; vgl. auch Köstlin 1903, S. 405 f. Zschäbitz 1967, S. 138. Kleineidam 1969, S. 259.
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bruchstimmung in der Hohen Schule Erfurts sowie die erste Begegnung mit der kleinen Luther-Gesellschaft. Offenbar saßen nur die beiden Mönche auf dem Luther-Wagen, während die kleine berittene Eskorte aus der Stadt an der Elbe (Wittenberg) den Schluss bildete. Das Bündnis zwischen dem schützenden Kurfürsten Friedrich von Sachsen und Luther als Zier der Stadt Wittenberg wird dann gerühmt.Wir erhalten auch Bericht über die ersten Begrüßungsworte beider Seiten vor den Toren Erfurts. Dann setzte sich der Triumphzug zur Stadt in Bewegung. Die Menschen säumten die Straßen, sie standen auf den Dächern der Häuser, auf den Türmen und Mauern – alle wollten sie den berühmten Mönch auf seinem Planwagen sehen. Am Ende des Gedichts kippt alles. Nun ist von der gegnerischen Seite, von Neid und Bosheit die Rede. Die angesichts des erhabenen Ereignisses spürbare Hochgestimmtheit des hymnischen Lobes wechselt in einen elegischen Tonfall, der die Sorgen um den Ausgang der Wormsreise deutlich spiegelt. Allen stellt sich die Frage: Wird Luther überleben oder wird er am Ende doch wie seinerzeit der Böhme Jan Hus verbrannt? Eobanus Hessus schreibt (in der Übersetzung Bärwinkels):⁹² „Niemals wurde die Stadt von so herrlicher Kunde erfüllet, Als da man hört: es kommt näher der herrliche Mann. Sehen konnte man da, wie die Hallen der Schule sich regten, Alles mit Feiergeleit ihn zu empfangen bereit. Ohne Verzug bestiegen wir da die gesattelten Rosse, Vierzig an Zahl, und zu Fuß folgte der übrige Troß. Wer kann zählen des Volks schaulustig drängende Menge? Solch ein Schauspiel fürwahr bietet nur selten sich dar. Paarweis‘ zogen wir alle geordnet in stattlichem Aufzug, Jetzt auch die Musische Schar einmal beritten gemacht. Rektor Crotus als Führer voran an der Spitze des Zuges, Crotus, des Musenchors Wonne und herrliche Zier. Und schon haben wir wohl drei Meilen des Weges durchmessen, Siehe da naht er heran, schneller noch, eh‘ wir gedacht. Klein zwar war, anständig jedoch das Gefolge bemessen, Schwerlich ein edler Geleit hätt ihn umgeben gekonnt. Vorne die Führer, vom Kaiser gesandt, um allen zu künden, Daß für den römischen Ar frei von Gefahren der Weg. Hinter ihm folgten die Männer gesandt von der wackeren Elbe, Männer, durch edlen Sinn und durch Verdienste gezieret. Glückliche Stadt, am Gestade der wogenden Elbe gelegen, Einstens an rühmlichem Platz unter den Städten genannt! Hebst unter Friedrichs Schutz dein herrliches Haupt, nicht verborgen Wirst du, von Martin geführt, bleiben dem Auge der Welt.
Bärwinkel 1883, S. 68 – 70.
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Unter den Kommenden auch war Jonas, voraus uns geeilt, Unseres Chores Stolz, unsere herrlichste Zier. Still hält jetzo der Zug, der Fuhrmann zügelt die Rosse, Crotus ergreifet darauf freundlich begrüßend das Wort: ‚O du einz’ger Rächer der großen Lüge der Zeiten, Die uns den Glauben geraubt, ja ihn beinahe vertilgt: Daß uns vergönnt dich zu sehen, vergönnt dein Antlitz zu schaun, Ach das bedeutet für uns Glückes unendliches Maß. Noch ist Lieberes nicht bislang hierher uns gekommen, Kaum selbst der Götter einer vermag uns teurer zu sein.‘ Jener darauf: ‚Nicht wagte ich selber die Ehren zu hoffen, Noch auch solchen Verdiensts glaubte ich würdig zu sein. Aber ihr stellet die Liebe zu mir über bessere Einsicht; Leicht, daß beides sich täuscht: aber es bleibt doch genehm.‘ Stammelnd redete darauf ich selber einige Worte; Ganz zu verstummen, das schien mir hier ein Frevel zu sein. Darnach kehren wir wieder zur Stadt langsameren Schrittes; Dicht vom städtischen Volk sehen wir die Staßen gefüllt. Rings war alles besetzt von dem bunten Haufen des Volkes, Mauern und Türme und Weg, Häuser und Straßen und Thor. Was da, ihr Götter, für Stimmen, der Freude Zeugen, ertönten, Was da für Zeichen der Lust, meinst du wohl, waren zu sehn? Neider, da konntest du platzen vor Ärger, daß solches sich zutrug, Hättest das Leben wohl gar dir mit dem Stricke geraubt. Doch die gerechte Natur läßt solch‘ eine Wut nicht erlöschen, Sie muß jeglich Zeit brennen zu eigener Pein. Jetzt nach Gelüsten, o Neider, jetzt platze und bläke und tobe, Jetzo zu Ärger und Qual findest du Grundes genug. Ewig ist Martins Ruhm, für Christi Ehre errungen, Mag er das Leben ihm nun, mag er den Tod ihm verleihn.“
Was aber empfindet Luther? Noch am Tag seiner Abreise aus Erfurt schreibt er aus Gotha den erwähnten Brief an den Freund Philipp Melanchthon in Wittenberg. In tiefem Zwiespalt bezeichnet er den feierlichen Einzugstag in Erfurt als „jenen Tag, der mein Palmsonntag war (diem illum palmarum meum)“.⁹³ Mit dieser Selbstdeutung seiner Lage in angespannter Situation, mit all den Hoffnungen, Ängsten und Nöten, verbindet Luther einen religiösen Bezug von ganz besonderer Qualität. Er bringt sich mit Jesus, seiner einzigen Orientierungsfigur, in Verbindung. Wenn er vom eigenen Palmsonntag spricht, identifiziert er sich in einem Akt der Imitatio Christi mit dem Leidensmann selbst, der laut biblischem Bericht kurz vor seinem Martyrium noch einmal im Triumph in Jerusalem eingeritten und mit Palmzweigen
WA Briefwechsel 2, Nr. 395, S. 296, Z. 13; Kleineidam 1969, S. 258.
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begrüßt worden war. Ein beängstigender Typus scheint hier auf, denn bei Jesus ist es der Vorabend der Hinrichtung. Solche Gedanken des Beieinanderliegens von Triumph und Tod beschäftigen Luther, als er am selben Tag des 8. April in Gotha ankommt. Der Jurist Jonas bleibt ab jetzt bei der Reisegesellschaft. Auch in Gotha wird Luther mit der Bitte konfrontiert, zu predigen; und auch hier wird der Predigtauftritt zum markanten Bestandteil der städtischen Erinnerungskultur. Bald nach Luthers Abreise weiß man von bösen Wundern und Zeichen zu berichten. Was man normalerweise der Materialermüdung an Bauwerken zugeschrieben hätte, wird auch hier als hoch bedeutsam interpretiert. Und wieder sieht man den Teufel am Werk. Noch Jahrzehnte später zeigte man Steintrümmer, die wohl irgendwann nach Luthers Abfahrt von der 200 Jahre alten Augustinerkirche herabgefallen waren. Jedenfalls fand sie der spätere Gothaer Superintendent Friedrich Myconius (Mecum) bei Abfassung seiner Reformationsgeschichte im Jahr 1541 noch vor. Er selbst war damals in Weimar als Priester im Amt und konnte die Ereignisse als Augenzeuge verfolgen: „Als Luther in Gotha im Augustiner Kloster eine Predigt hielt, bei der eine große Volksmenge anwesend war, da riss der Teufel nach der Predigt etliche Steine vom Kirchen-Giebel, der in Richtung Stadtmauer geht. Diese waren da seit 200 Jahren fest angebracht gewesen und sind bis heute nicht wieder angemauert worden.“⁹⁴ Die Reise ging noch am selben Tag, dem 8. April, weiter nach dem nahegelegenen Benediktinerkloster Reinhardsbrunn. Der dortige Vikar soll sich besorgt über die Machenschaften der Franzosen und Spanier im Umfeld des Kaisers geäußert haben, worauf Luther mit einer bemerkenswerten Selbstinterpretation als irdischer Interessenwahrer Christi geantwortet haben soll: „Bittet ihr doch Gott, dass er Christus, seinem Sohn, günstig gesonnen sein möge; wenn dessen Sache in Sicherheit steht, dann ist die meine auch sicher.“⁹⁵
„Und als er zu Gotha im Augustiner Closter ein Predigt thät, do ein trefflicher Volck bey war, da risse der Teuffel nach der Predigt etlich Stein von der Kirchen Giebel, der gegen der Stadt-Mauer gehet: Hatten über 200 Jahr alldo fest gelegen, und sind bis auf diesen Tag nicht wieder erbauet“ (Myconius: Geschichte der Reformation, S. 34; siehe auch Walch 15, Sp. 1826). Lingke 1769, S. 90 f.
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Zusammenbruch in Eisenach Dienstag, 9. April 1521 Nun führt der Weg Luthers Reisegruppe ins Herz Thüringens nach Eisenach, für Luther eine besondere Stadt, weil er in ihr einen Teil seiner Schulzeit verbrachte. Hier hatte er mit seinen Jugendfreunden den Humanisten Petrarca gelesen und musiziert. Letzteres bestand damals freilich zum Teil aus „Brotsingen“ vor den Häusern der Bürger, das man betteln nennen könnte, weil sich nur so das nötige Schulgeld erwirtschaften ließ. Vielleicht warten nun, im April 1521, in der Heimatstadt seiner Mutter auch Verwandte auf Luther. Später, nach den Worms-Ereignissen, wird ihn die nahe gelegene Wartburg aufnehmen. Jetzt aber gestaltet sich der Aufenthalt unerwartet lang und unangenehm. Luther predigt zwar auch hier, doch dann bricht er zusammen. Wahrscheinlich reagiert er körperlich heftig auf die unbequemen Reisebedingungen, vor allem aber gewiss auch auf all die Gedanken an das immer näher Kommende und auf die immer unerträglicher werdende Spannung, auf dieses widersprüchliche Hoffen-Bangen und GlaubenÄngstigen. Die Reise wird ab Eisenach auch körperlich zur persönlichen Passion, zu einer Art Leidensweg, den Gott ihm abverlangt, damit er „nicht ganz ohne Kreuz lebe“, wie er später nach Wittenberg schreibt.⁹⁶ Luther mag an die Ölbergszene Christi gedacht haben, in der Jesus, von menschlicher Angst gepackt und förmlich Blut schwitzend, darum bittet, verschont zu werden. In Eisenach hatte Luther Anlass genug zu erwarten, dass auch er vielleicht sein Leben werde aufopfern müssen. Innerlich war er dazu bereit. Luther wurde Zeit seines Lebens von Verdauungsproblemen geplagt, insofern kann man durchaus von einer physiologischen Schwäche ausgehen. Der SpalatinBiograph Berbig sieht Luther in Eisenach aber nicht ganz zu Unrecht auch unter dem besonderen Druck der bedenklichen Zukunftsaussichten. So kommt es zu einer Phase kreatürlicher psychosomatischer Reaktionen, die sich über Worms hinaus fortsetzten: „Es war nicht nur die Beschwerlichkeit der Reise, sondern auch die ganz natürliche innere Aufregung, in der Luther leben musste, besonders nach Kenntnisnahme des kaiserlichen Sequestrationsmandates in Weimar und Erfurt. Das alles machte ihn krank.“⁹⁷ Und der schon erwähnte Myconius berichtet in aller Kürze: „Zu Eisenach wurde Luther so sehr krank, dass man sich sogar um sein
12. Mai und 10. Juli 1521 von der Wartburg an Melanchthon und Spalatin, in WA Briefwechsel 2, Nr. 407, S. 333 und Nr. 417, S. 354; dt. Übersetzung nach Wartenberg 1984, S. 64 f.; siehe dazu Schilling 2012, S. 213. Berbig 1906, S. 147.
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Leben Sorgen machte. Als er sich aber einem Aderlass unterzog und Johann Oßwald, der Schultheiß, danach Bürgermeister zu Gotha, ihm ein edles Wasser zu trinken gab, und er darauf einschlief, wurde es besser. Reiste den andern Tag fort.“⁹⁸ Der Herr habe ihn, schreibt Luther selbst etwa einen Monat später von der Wartburg, wo ihn das Leiden immer noch nicht verlassen hatte, „im Hintern mit großen Schmerzen geschlagen (in posteriora gravi dolore). So hart ist der Stuhlgang, dass ich gezwungen werde, ihn mit großer Kraft bis zum Schweißausbruch herauszustoßen. Je länger ich es aufschiebe, desto mehr verhärtet er sich. Gestern habe ich nach vier Tagen einmal ausgeschieden. Dadurch habe ich die ganze Nacht weder geschlafen noch habe ich bis jetzt Ruhe.“⁹⁹ Dass Luther seinen Freunden in Wittenberg gegenüber so offen über diese körperlichen Schwächen spricht, gehört zu jenem Realismus, der ihn neben seinem tiefen religiösen Idealismus gleichermaßen beherrscht. Er steht zu den fundamentalen Tatsachen der menschlichen Existenz, wenn er in anderem Zusammenhang die Sentenz aufschreibt: „Träume sind Lügen. Wer ins Bett scheißt, das ist die Wahrheit.“¹⁰⁰ Luther deutet auch seine Krankheit als Machenschaft der Hölle, die ihn von Worms fernhalten will, und insofern als eine weitere Art Versuchung, von dieser Reise Abstand zu nehmen. Doch auch diesmal hält er durch und fährt weiter nach Frankfurt am Main.
Sonntag, 14. April 1521 Die Luthergesellschaft kommt zwei Tage vor Ablauf des auf 21 Tage begrenzten freien kaiserlichen Geleits in Frankfurt an. Man logiert in Wolf Parentes Herberge zum Strauß am Kornmarkt.¹⁰¹ Noch am Tag der Ankunft drückt Luther seine mutige Haltung ein weiteres Mal in einem Brief an den Freund und Berater Spalatin wie folgt aus: „Wir kommen, mein lieber Spalatin, wiewohl der Satan sich bemüht, mich durch mehr als eine Krankheit zu verhindern. Denn auf dem ganzen Wege von Eisenach bis hierher bin ich krank gewesen, und bin noch krank, auf eine mir bis dahin unbekannte Weise. Aber ich vernehme, dass auch das Mandat [Kaiser] Karls, um mich zu schrecken, veröffentlich worden sei. Aber Christus lebt, und wir werden in Worms einziehen, sollten sich auch die Pforten der Hölle und
Myconius: Geschichte der Reformation, S. 34. 12. Mai 1521 von der Wartburg an Melanchthon, in WA Briefwechsel 2, Nr. 407, S. 333.Vgl. auch den Brief vom 10 Juni 1521 an Spalatin. WA Briefwechsel 2, Nr. 417, S. 354; dt. Übersetzung nach Wartenberg 1983, S. 64– 67.; siehe dazu Schilling 2012, S. 213. Thiele 1900, Nr. 445, S. 390. Boehmer 1951, S. 327.
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die Gewaltigen, die in der Luft herrschen, dagegen stellen. […] Andere Briefe zu schreiben hat mir nicht gut gedünkt […] damit wir nicht etwa den Satan aufgeblasen machen, den vielmehr zu schrecken und zu verachten mein fester Vorsatz ist.“¹⁰² Auch in Frankfurt ereignete sich wieder Wunderbares, so wird später erzählt. Luther segnete eine Schule und legte Schülern die Hand auf. Eine weise alte Frau erkannte in ihm jenen Vorhergesagten und von Gott Berufenen, „der sich dem papistischen Menschenstande widersetzen würde“.¹⁰³ Der Gegenseite in Gestalt des päpstlichen Nuntius meldete man freilich noch ganz andere, skandalöse Dinge. Nach dem Bericht des Cochlaeus soll Luther mit Freunden gezecht und dabei wie ein Orpheus in der Kutte „auf heller Laute spielend“ gesehen worden sein.¹⁰⁴ Da sich beide Parteien in ihren Propagandaschlachten nichts schenken, werden solche Beobachtungen später in Rom für ein zur Fratze entstelltes Lutherfeindbild herangezogen. Luther sei ein „Hurer und Zechbruder (scortator et compotor)“ wird es in der Kurie heißen.¹⁰⁵
Politik auf der Ebernburg Montag, 15. April 1521 Die Reise geht weiter nach Oppenheim. Es ist die letzte Reisestation vor der Ankunft in Worms. Wir kennen keine Details über den Aufenthalt in dieser kleinen Stadt am Rhein, bis auf eine wichtige Ausnahme. In Oppenheim trat nämlich der Elsässer Martin Butzer auf die Bildfläche. Er war zu dieser Zeit Kaplan des mächtigen Reichsritters Franz von Sickingen mit Sitz auf der nahegelegenen Ebernburg. Die in Worms versammelten Vertreter der römisch-kaiserlichen Macht wussten, dass Luther die Reise angetreten hatte, und wurden auch über deren Verlauf informiert. Als Mitglieder des klerikal-politischen Komplexes, das heißt als kuriale und kaiserliche Parteigänger, waren sie entsetzt, dass Luther es trotz aller Drohungen wagte, zum Reichstag zu kommen. Der Nuntius Aleander schreibt in einem Bericht, man sei „wie vom Donner gerührt“ gewesen, als der Brief des Herolds Sturm in Worms ankam, der die Reisegesellschaft avisierte. Man spürt die Unsi Luther an Spalatin am 14. April 1521, in WA Briefwechsel 2, Nr. 396, S. 298; Walch 15, Sp. 1827 f.; Rogge 1971, S. 69 f. Lingke 1769, S. 92. Brecht 1981, S. 428. Kalkoff 1908, S. 141 f.
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cherheit und Angespanntheit, die auch im Lager der Macht kurz vor Ankunft Luthers in Worms herrschte. Die Sicherheit des Luther zugesagten freien Geleits beruhte auf einem Beschluss der Reichsstände auf dem Reichstag vom 5. März 1521, dem der Kaiser mit Rücksicht auf Friedrich den Weisen am 6. März förmlich beigetreten war, dem einzigen Beschluss, „der auf verfassungsmäßigem Wege zustande gekommen ist“.¹⁰⁶ Das hinderte die beiden Säulen der römisch-kaiserlichen Macht freilich nicht, sich am selben Tag auf eine gemeinsame Strategie gegenüber Luther zu einigen, die in eine ganz andere Richtung gehen sollte, wie das berühmte Protokoll vom 6. März 1521 zeigt. Der kaiserliche Großkanzler Gattinara, der päpstliche Nuntius Aleander und der im engsten politischen Umfeld des Kaisers angesiedelte kaiserliche Beichtvater Glapion vereinbarten laut Protokoll zu diesem frühen Zeitpunkt, bei Luther die Anerkennung seiner Bücher durch einen Gesandten abzufragen, bei Verweigerung des Widerrufs die Bannbulle vom Kaiser unverzüglich und ohne Rücksicht auf den Reichstag zu exekutieren und als Sofortmaßnahme Luthers Bücher vom Kaiser im Land beschlagnahmen zu lassen (Sequestrationsmandat).¹⁰⁷ Nun, Mitte April 1521, sah plötzlich alles anders aus,weil die kaiserliche Politik angesichts der starken Lutherpartei auf dem Reichstag immer vorsichtiger geworden war. Jetzt hieß es also doch in Worms: Luther ante portas! Konnte man das nicht noch verhindern? Der dem Kaiser als Beichtvater sehr nahestehende Jean Glapion versuchte es in letzter Minute und wählte dafür als Helfer und Boten Martin Butzer. Der dreißigjährige ehemalige Dominikanermönch Butzer war zu dieser Zeit ein aufstrebender Mann. Durch seine Beobachtungen bei der Heidelberger Disputation des Jahres 1518 war er zum glühenden Anhänger Luthers geworden, hatte gerade sein Kloster und seine Existenz als Mönch aufgegeben und unterbreitete nun in Oppenheim zur Überraschung Luthers den eigenartigen Plan einer Änderung des Reisewegs der Luthergesellschaft. Butzer wusste Luther zu berichten, dass ihm Jean Glapion, aus Worms kommend, geheime Eröffnungen machen wolle. Neuerlich war die Reisegruppe irritiert, wusste im ersten Moment nicht, was man davon halten sollte. Luther war sich seiner Sache inzwischen jedoch gewiss und nun auch misstrauisch. Er wollte nach Worms, egal was es am Ende kosten werde. Seine Antwort auf die Einladung zum Gespräch mit Glapion soll kurz und trocken gelautet haben: „Hat des Kaisers Beichtvater etwas mit mir zu reden, so
Kalkoff 1920, S. 308. Kalkoff 1920, S. 367 f.
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mag er es in Worms tun.“¹⁰⁸ In Worms freilich missglückten dann später die beiderseitigen Bemühungen, doch noch ins Gespräch zu kommen.¹⁰⁹ In seinen Tischreden deutet Luther den Ebernburg-Vorgang sehr viel später als eine weitere Intrige des Mainzer Erzbischofs, dessen Ablasshandel er ja angegriffen hatte („Das war die andere Praktik, die dem Bischof von Mainz noch fehlte; ich habe seit damals erfahren, dass er das betrieben hat“).¹¹⁰ Heute wissen wir, dass es – wenn es denn tatsächlich eine Intrige war, was nicht sicher ist – eine Intrige oder besser: ein misslungenes Diplomatenstück der kaiserlichen Diplomatie zur Glättung der Wogen war. Was wäre geschehen, wenn Luther die Einladung auf die Ebernburg angenommen hätte? Wäre es je zu der historischen, alles in Deutschland und Europa ändernden Rede gekommen, auf die sich Luther schon lange innerlich vorbereitet hatte? Im Rahmen der Ebernburg-Initiative hätte für Luther die Möglichkeit bestanden, nicht nur mit wichtigen Räten des Kaisers, sondern auch mit einer anderen, mächtigen politischen Partei des Reiches in direkte Verhandlungen einzutreten, um die er bislang einen Bogen gemacht hatte. Es handelt sich um die Reichsritterschaft, die neben Kaiser, Fürsten und Städten einen eigenen Reichsstand bildete. Luther blieb im Grunde zu den Rittern auf Distanz, hielt sich konsequent an die oberen Ränge der ihm wohl gesonnenen Fürsten. Allerdings gab es in kritischen Situationen doch immer wieder Annäherungen, denn letztlich stützten ihn die freien Reichsritter. So übermittelte Ulrich von Hutten im Februar 1520 durch Melanchthon eine Schutzzusage des kriegerischen und mächtigsten deutschen Kondottiere Franz von Sickingen.¹¹¹ Zu den Rittern gehörte auch der fränkische Ritter Silvester von Schaumburg, Amtmann von Münnerstadt, der am 11. Juni 1520 an Luther geschrieben hatte, er und die ganze fränkische Ritterschaft würden ihn schützen, wenn es nötig sei.¹¹² Schaumburgs Sohn studierte in Wittenberg bei Melanchthon. Luther bezieht sich nach Bekanntwerden der römischen Bannandrohung auf diese Schutzzusage und souffliert am 10. Juli 1520 Spalatin als engstem Mitarbeiter des sächsischen Kurfürsten, doch in der amtlichen Reaktion des Landesherrn gegenüber Rom darauf hinzuweisen, dass mitten in Deutschland Ritter stünden, die ihn, Luther, gegen alle römischen Blitze schützen würden, und dass die Römer besser darüber nachdenken sollten, wie erst ein freier, nicht mehr an die Wittenberger Universität gebundener Luther in dieser Gesellschaft freier
Boehmer 1951, S. 328. Walser 1928, S. 96. Walch 15, Sp. 1825 f. Brecht 1981, S. 353. Berbig 1906, S. 111.
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Ritter ohne diplomatische Rücksichten gegen Rom wüten werde.¹¹³ Luther kennt also seine Koalitionäre in der deutschen Ritterschaft und setzt sie geschickt politisch-argumentativ als Instrument ein. Bei dem eben erwähnten, von Luther selbst entwickelten Plan, Rom aus taktischen Gründen vor einer Luther-Ritterschaft-Koalition zu warnen, hat der Reformator zweifellos auch den Ritter und humanistischen Publizisten Ulrich von Hutten (1488 – 1523) im Sinn. Mit dem jetzt dreiunddreißigjährigen Heißsporn Hutten, der unstet in ungesicherten finanziellen Verhältnissen lebt, lernen wir den seit 1519 publizistisch herausragenden Exponenten einer ganz anderen Richtung deutscher Romkritik kennen (Abb. 5).¹¹⁴ Es ist eine säkulare, von nationalen Interessen geprägte, weltliche Säule des Protests, die von der Idee der alten deutschen Libertät geprägt ist und den Zweig der politischen Reformation vertritt. Die Freiheitsidee ist für diese Politiker keine philosophische oder theologische Frage, wie sie zwischen Luther und Erasmus verhandelt wird. Freiheit heißt für sie nicht mehr nur im alten politischen Sinn Gewährung von Privilegien, sondern nun ausdrücklich auch Befreiung. Das ist neu. Die sich um den Begriff der alten deutschen Libertät bewegende Debatte ergreift zu dieser Zeit ganz Deutschland. So schreibt Sebastian Brant, der in Europa berühmteste deutsche Jurist und Dichter, Verfasser des ‚Narrenschiffs‘, in Straßburg seine ‚Freiheitstafel‘, die das Libertäts-Thema ausführlich diskutiert, und lässt deren Texte im Straßburger Rathaus als Wandschmuck anbringen.¹¹⁵ Für Luther ist wichtig, dass der politische Zweig der Protestbewegung eine losvon-Rom-Bewegung mit dem Ziel der Errichtung einer deutschen Nationalkirche ist. Die Motive der Hutten-Fraktion sind allerdings im Kern ganz weltlich und radikal klerikerkritisch – das kann Luther nicht in jeder Hinsicht gefallen. Die weitere Entwicklung seit dem Bauernkrieg bestätigt diese gewisse Distanz. Mit Franz von Sickingen tritt in der Ebernburg-Episode zudem eine Figur in Erscheinung, die in besonderer Weise für die Gruppe der gewaltbereiten Romkritiker steht. Diese Fraktion wird bald nach dem Wormser Reichstag versuchen, in die politische Landschaft Deutschlands einzugreifen. 1522 versucht Sickingen als Führer der rheinisch-schwäbischen Ritterschaft das geistliche Kurfürstentum Trier zu erobern, zu säkularisieren und damit die geistliche Herrschaft zu beseitigen. Diese Linie der politisch-sozialen Radikalisierung von Freiheitsideen führt schließlich zum großen Bauernkrieg von 1525, der für Luther den endgültigen Bruch mit der weltlichen Protestbewegung und der politischen Reformation be-
Berbig 1906, S. 118. Schilling 1988. Knape 1992, S. 223 – 474; Knape 2014a, S. 33.
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deutet. Deren Anliegen bleiben Luther fremd. 1525 markiert letztlich auch das Ende des frühen revolutionären Umbruchsdenkens Luthers. Zurück zu Ulrich von Hutten. Wie Sickingen steht er einerseits für einen Weg der kompromisslosen politischen Agitation gegen Rom, andererseits sogar für einen Weg der militärischen Gewaltandrohung gegen das vermeintliche und das faktische Klerikerregiment. Es ist ein von Ritterromantik und Soldatentum geprägter Weg, der einem Theologen wie Luther in der Kombination der Mittel nicht unbedingt nahelag. Hutten war sich darüber im Klaren, was ihn mit Luther verband und was ihn trennte. Er wollte kein Prediger oder Theologe sein, sondern der unermüdliche, humanistisch-patriotische Mahner der Nation, der nicht um des Evangeliums willen, sondern des Vaterlands wegen handelt.¹¹⁶ Angesichts der später eintretenden Wormser Ereignisse schreibt er über den Unterschied zwischen sich und Luther: „Meine Dinge sind menschlicher Natur, doch du (Luther) bist vollkommener, hängst schon ganz am Göttlichen (mea humana sunt, tu perfectior iam totus ex divinis dependes)“.¹¹⁷ Zur Zeit der Wormsreise stellt sich Hutten also für Luther als Teil der säkular orientierten, parallel zu seinen publizistischen Aktivitäten verlaufenden Agitation gegen Rom dar. Beide Seiten beobachten sich mit Vorsicht. Auch Hutten legt Wert darauf, dass seine Protestaktivitäten nicht ohne Weiteres mit denen Luthers vermischt werden. Mehrfach betont er, dass man ihm in religiöser Hinsicht kein ketzerisches Verhalten vorwerfen könne, sondern in ihm lediglich einen Kritiker des unsittlichen und politisch verderblichen Verhaltens des Klerikersystems zu sehen habe.¹¹⁸ Mit dem Reichstag von Worms ändert sich Huttens Haltung insofern, als er nun der Öffentlichkeit gegenüber so etwas wie ein gemeinsames Kampfbündnis mit Luther zu prätendieren sucht. Auf dem Titelblatt seines ‚Gesprächsbüchleins‘ von 1521 sind daher auf dem Titelblatt links Luther als Mönch und rechts Hutten als Ritter im Holzschnitt zu sehen. Auch auf einem Einblattdruck der Zeit werden beide gemeinsam als Vorkämpfer der Freiheit dargestellt (Abb. 6a und Abb. 6b). Der von Rom nach Deutschland geschickte päpstliche Sondergesandte Aleander sieht Huttens Rolle mit aller Deutlichkeit, wenn er der Kurie nach Rom berichtet: „Schon hat er sich eine Änderung der gesamten deutschen Verhältnisse vorgesetzt, die Unterwerfung des Klerus und für seine Person das eitle Ruhmesbild eines Nationalhelden. Das Schlimmste aber ist, dass die deutschen Prälaten ihres zweifelhaften Wandels wegen nicht weniger seine Satire wie seine Waffen
Walser 1928, S. 118. Walser 1928, S. 118. Kalkoff 1920, S. 373.
Politik auf der Ebernburg
Abb. 5: Ulrich von Hutten. Holzschnitt von Hans Baldung Grien in Ulrich von Hutten: Gesprächsbüchlein. Straßburg, Johann Schott, 1521 (= VD16 H 6342).
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Abb. 6a: Luther und Ulrich von Hutten als nebeneinandergestellte Reformer. Titelholzschnitt von Hans Baldung Grien zu Ulrich von Hutten: Gesprächsbüchlein. Straßburg, Johann Schott, 1521 (= VD16 H 6342).
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Abb. 6b: ‚Den Vorkämpfern der christlichen Freiheit M. Luther, Ul. von Hutten‘/Christinae Libertatis Propugnatoribus M. Luthero. Ul. ab Hutten. Einblattdruck. Straßburg, Johann Schott, 1521. Ex. Berlin Staatsbibliothek, Porträtsammlung Lutherbildnisse.
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fürchten, während die ihm verbündeten Edelleute ihn vergöttern“.¹¹⁹ Im Kern zielte der Protest Huttens und seiner Mitstreiter auf die Trennung der beiden Systeme von Kirche und Politik mit dem Ziel, das alte ekklesial-caesarische Machtkartell aufzulösen und die Macht im deutschen Reich rein laizistisch zu organisieren.Wie schwer sich eine Entflechtung beider Systeme, des ideologischen Gesinnungsoder Wächtersystems und des laikal-politischen Machtsystems, prinzipiell und weltweit am Ende gestalten würde, sehen wir erst heute aus historischer Distanz und im Bewusstsein, dass die konsequente Entflechtung von Staat und Kirche auch im Westen immer noch nicht vollzogen ist, von den östlichen Regionen der Welt ganz zu schweigen.¹²⁰ Wenn wir über das Politikum Luther sprechen, das auf der Ebernburg zentrales Thema der Gespräche war, dann geraten drei Stichwörter in einen inneren Zusammenhang, die das weltliche und religiöse Geschehen um das Jahr 1521 verbinden. Gemeint sind die sogenannten Gravamina (die ‚Beschwerden der deutschen Nation‘ gegen Rom), sodann Ulrich von Huttens ‚Vadiscus oder Römische Dreifaltigkeit‘ und schließlich Luthers Adelsschrift (‚An den christlichen Adel deutscher Nation‘).¹²¹ Schon im Februar 1521, zwei Monate vor Luthers Ankunft, war bei den Verhandlungen der kaiserlichen Räte mit den Reichsständen in Worms der Gedanke aufgekommen, dass man die Luthersache zusammen mit den Gravamina der deutschen Nation auf dem Reichstag verhandeln könnte. Diese Verknüpfung lehnte die kaiserliche Seite aus gutem Grund ab, denn damit wäre Luthers religiöses Anliegen mit dem der weltlich-politischen Romgegner in eine für die Seite der römisch-kaiserlichen Macht ungünstige Gemengelage geraten.¹²² Man achtete also darauf, dass die Gravamina gesondert verhandelt wurden. Ein Ausschuss der Reichsstände unter Vorsitz Herzog Georgs von Sachsen stellte insgesamt 102 Beschwerden zusammen, die in ihrer Substanz das verquickte Machtkartell zwischen Kirche und weltlicher Herrschaft auf allen Ebenen im Reich aufs Beste dokumentierten. Auf dem Augsburger Reichstag von 1518 waren es noch deutlich weniger Punkte gewesen. Viele Kritikpunkte in Luthers 1520 erschienener Adelsschrift stimmten damit überein. Die beiden Reichstage von Augsburg und Worms kamen zu keiner ernsthaften speziellen Behandlung der Gravamina. Letztlich führte erst die Reformation zu einer Änderung der Verhältnisse. Die Reichsstände forderten 1521 in ihrem Gravamina-Papier des Reichstags ganz klar, „Wie sehr
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 16, 05. April 1521), S. 149. Knape 2013b. Rublack 1980, S. 292– 313. Kohnle 2001, S. 91 f.
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nötig es wäre, eine Reformation zu machen“, weil nämlich in Deutschland „viel an Verdammung der schwachen christlichen Seele entsteht und die deutsche Nation auch an Geld in schwer erträglicher Weise ausgeschöpft wird; zudem Ärgernis besteht, welches man bei dem geistlichen höchsten Haupt täglich zu sehen bekommt“.¹²³ Entsprechende Flugschriften machten das Beschwerdeprogramm 1513, 1520 und 1521 öffentlich und flankierten somit aus politischer Sicht die reformatorischen Bestrebungen.¹²⁴ Was waren das für Beschwerden, die den inhaltlichen Kern des politischen Reformationszweiges der Zeit ausmachen? Im Kern ging es um wirtschaftliche, rechtliche, kulturelle Übergriffe und Sonderreglungen zugunsten der Kirche, speziell der Kurie, sowie Verstöße gegen die guten Sitten.¹²⁵ Hier eine kleine Auswahl: Rom zieht Angelegenheiten der weltlichen Gerichtsbarkeit auf dem Weg über das Kirchenrecht an sich; Ausbeutung kirchlicher Sonderrechtsbereiche auf Grundlage des sogenannten Exemtionsprinzips, d. h. Bildung eines autonomen Rechtsbereichs (heute würden wir von einem Staat-im-Staate-Problem sprechen); unkontrolliertes Agieren päpstlicher Politiker und Diplomaten in der deutschen Politik; Verkauf von Begünstigungen bei Strafabbüßungen im Jenseits (Ablassverkauf); Verkauf von kirchlichen Einnahmequellen (Pfründen); Verstöße gegen eigene kirchliche Gesetze; Missbrauch des Kirchenbanns; Sakramentenverkauf; missbräuchliche Sakramentenverweigerung; Missbräuche aller Art in den geistlichen Orden; Geldeintreibungen für Rom; Missbrauch der Ehegerichtsbarkeit; Rechtsmissstände bei geistlichen Richtern und Missbrauch der geistlichen Gerichtsbarkeit. Wie gesagt, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts immer wieder vorgebrachten und publizierten Gravamina führten zu nichts, prallten am ekklesialcaesarischen Machtkartell ab. Erst als die größeren Territorialfürsten, unter ihnen Luthers Beschützer Friedrich von Sachsen, begannen, ihre Länder gegen äußere Eingriffe und Ansprüche, insbesondere von klerikaler Seite, abzuschotten, kam Bewegung in die romkritische Politik. Zu deren wichtigsten Propagandisten wurde mit einem Schlag Ulrich von Hutten, als er 1520 mit vier lateinischen Dialogen, deren Übersetzung nicht auf sich warten ließ, einen Frontalangriff gegen Rom startete. Seine Schrift ‚Tria Romana‘ (‚Vadiscus oder die Römische Dreifaltigkeit‘) ragt dabei heraus. Diese antirömische Kampfschrift ist ganz vom triadischen Strukturmodell durchdrungen, was sich zweifellos auf die dreigestaffelte Papstkrone bezieht. Drei Dinge regieren die Papstherrschaft ganz und gar, schreibt
Walch 15, Sp. 1743. Schwitalla 1983, S. 220 – 227. Walch 15, Sp. 1730 – 1779.
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Hutten: Hochmut, Unzucht und Raffgier (Hoffart, unküschheit vnd der gydt). In etwa sechzig solcher Dreierformeln handelt Hutten die Verdorbenheit des päpstlichen Systems ab und integriert dabei die vielen Punkte der Gravamina. Hier ein paar Beispiele: Drei Dinge halten die Würde Roms aufrecht: Die Autorität des Papstes, die Sakramentenhoheit und der Ablass als Handelsgut. Drei Dinge sind in Rom üblich: Fleischliche Wollust, teure Kleidung, Geringschätzung. Drei Dinge hält man in Rom in seinem Wert hoch: Hübsche Frauen, schöne Pferde und päpstliche Bullen. usw.¹²⁶
Ohne Zurückhaltung kritisiert Hutten das päpstliche Finanzgebaren, die juristischen Tricks und Missbräuche des Klerikalsystems, das er mit dem Begriff der „römischen Kurtisanen“ verbindet (gemeint sind die Kurialen und die vom römischen Hof, also von der Kurie, Abhängigen). Das Klerikersystem hat seine geistlichen Dienstleistungen so eingerichtet, dass alles bezahlt werden muss, vom Heilsgut bis hin zum Erlass transzendenter göttlicher Strafen. Huttens Kritik konvergiert an dieser Stelle mit Luthers in den 95 Thesen geäußerter Kritik am päpstlichen Anspruch, mit römischen Straferlassen ins Jenseits hineinregieren zu können. In der Praxis stellen Rom und seine Fußtruppen das Geistige und das ins Transzendente Führende als käuflich und verkäuflich dar, auch wenn die Theorie etwas anderes besagen mag. Hutten ist empört darüber, dass Deutschland mit einem kaum noch erträglichen Ausbeutungsapparat überzogen ist. Der humanistische Autor lässt nicht den geringsten Zweifel an der Verderbtheit dieses Spinnennetzes, das Rom über Deutschland gespannt hat. Und in der Tat schätzt die moderne Forschung, dass zwei Fünftel des damaligen Deutschen Nationaleinkommens durch die ungeheure Größe des klerikalen Sektors in den Klerikerbetrieb oder nach Rom flossen.¹²⁷ Eine Stadt wie Straßburg mit ihren 20.000 Einwohnern unterhielt im 14. Jahrhundert allein 21 Klöster; d. h. auf tausend Einwohner kam ein Kloster.Vor der Reformation waren es 15 Klöster.¹²⁸ Zur Zeit des Reichstags 1521 hatte die 7.000-Einwohner-Stadt Worms noch sechs Klöster sowie die Häuser der Dominikaner- und Augustinerchorherren. Auch Deutschritter und Templer hatten hier ihre Niederlassungen (sog. Kommenden).¹²⁹
Ulrich von Hutten: Vadiscus. In: Ukena 1970, S. 60 – 135, hier S. 126 f.; Bentzinger 1982, S. 45 – 83, hier S. 72 f. Spitz 1971, S. 313; Bernstein 1988, S. 88. Sauerbrey 2012, S. 39 f. Hausrath 1897, S. 3.
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Die Städte der Zeit waren nicht nur, aber doch wesentlich von Klerikern geprägt. Hutten wirft angesichts der offenkundigen Unlösbarkeit des Problems die Frage auf, ob die Deutschen hier nicht zu den Waffen greifen sollten. Sollte man das Problem nicht „mit Eisen und Flammen“ angehen?¹³⁰ Diese martialischen Töne sollten heute nicht verwundern, denn sie tragen der Tatsache Rechnung, dass die Kirche selbst auch in Gestalt weltlicher Fürstentümer mit gewalttätigen Bischöfen und Renaissancepäpsten auftrat. Hutten schreitet hier zum Generalangriff auf die Legitimation solch weltlicher Verankerung eines eigentlich nur spirituell begründeten Anspruchs. Er hatte 1517 für sich die Schrift des päpstlichen Sekretärs Lorenzo Valla aus dem Jahr 1440 entdeckt, in der dieser Humanist die Urkunde der sogenannten Konstantinischen Schenkung (Donatio Constantini) als klerikale Fälschung entlarvt hatte. Auf dieses Pseudo-Schenkungs-Dokument stützten die Päpste aber ihren bis ins 19. Jahrhundert bestehenden Machtanspruch im Kirchenstaat mitten in Italien. Erst durch die Reformation wurde Vallas Erkenntnis weiteren Kreisen bekannt, weil Hutten den Text ab 1518 mit seinen Kommentaren drucken ließ. Das war die humanistische Methode, fragwürdigen Mächten ihre falschen Legitimationen zu entziehen. Luther ist von Gewaltüberlegungen jeglicher Art natürlich weit entfernt. Doch seine Adelsschrift von 1520 fügt sich im geistlichen Reformstreben recht gut zu den Forderungen der politischen Protestpartei und deren publizistischen Kampagnen. Auch Luthers Forderungen laufen nun auf eine institutionelle Loslösung der Nationalkirche von Rom hinaus.¹³¹ Der Appell an die nationalen Gefühle verbindet Luther mit Ulrich von Hutten. Angriffspunkt ist auf beiden Seiten die Kirche als sichtbare Institution des religiösen Lebens und als ideologisch allein herrschender Zweig des römisch-kaiserlichen Machtkartells. In einem unter anderem auch als Narrenrede literarisch verfremdeten Anspruch wagt Luther in der Adelsschrift, den Kaiser und den Adel Deutschlands mit seinen Empfehlungen anzusprechen. Luther macht deutlich, wie sich der kirchliche Zweig der Macht so geschickt mit Mauern umgeben habe, dass ihn niemand mehr angreifen könne, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Davon war oben schon im Zusammenhang mit dem Jan Hus-Prozess und jener Zwangslage die Rede, in der sich 1415 Kaiser Sigismund befunden hatte. Die Romanisten, also die Papstkirche, beanspruchten die Oberherrschaft über die weltlichen Obrigkeiten und nutzten das ideologische Monopol als Hebel. Das Monopol übte Rom durch die allein seinen Klerikern vorbehaltene Schriftauslegungszuständigkeit und die Oberhoheit über das Konzil aus.
Zit. n. Bernstein 1988, S. 89 Anm. 158. Leppin 2010, S. 157 f.
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In radikaler Abkehr setzt Luther dem nun die Theorie des allgemeinen Priestertums entgegen. Sie unterminiert das ganze Klerikersystem als tragende Säule der Macht. Luther hebt auf diese Weise nicht nur den bislang konstitutiven Unterschied zwischen Klerikern und Laien auf, sondern letztlich auch die kirchliche Hierarchie. Martin Brecht betont, dass Luther damit die Rangordnung der mittelalterlichen Kirchengesellschaft zerbrach.¹³² Es war ein Vorgang von enormer emanzipatorischer Bedeutung. Der Mönch Luther sah bis 1518 noch den Gehorsam gegen die kirchlichen Oberen als Selbstverständlichkeit an. Auch später hat er nie daran gedacht, die ständische Ordnung der weltlichen Gesellschaft in Frage zu stellen. Seine Formulierung des allgemeinen Priestertums entstand nicht aus politischen Überlegungen, sondern war eine theologisch-exegetische Entscheidung. Ohne politische Absicht war damit aber ein entscheidender Grundstein für die nun nicht mehr aufzuhaltenden Ideen von Freiheit, Gleichheit und demokratischer Brüderlichkeit gelegt. Das ist die intellektualgeschichtliche Seite des Geschehens, die uns vorrangig interessiert. Doch es gibt auch die politische Perspektive. Luther formuliert in der Adelsschrift einen neuen Egalismus mit langfristiger Sprengkraft, der nur noch eine funktionale Differenzierung der sozialen Ränge unter Christen vorsieht. Das hat man bald auf die Gesamtgesellschaft projiziert und in sozialen Befreiungstheorien aller Art ausformuliert. Bei Luther aber geht es nur um die Idee der Gleichheit aller Gläubigen vor Gott. Doch in dem Moment, in dem diese Idee mit ihren institutionellen Folgen für die faktische Einrichtung der Kirche diskutiert wird, bewegt sich alles auf ein viel weiter reichendes naturrechtliches Gleichheitsprinzip zu. Das ist theoretisch nicht neu,¹³³ bekommt aber nun im Zeitkontext ganz neues Gewicht. Zumindest haben viele Zeitgenossen es so verstanden. Luther schreibt durchaus zweideutig, wenn er begrifflich geistliche und weltliche Herrscher zusammenbringt: „Denn was aus der Taufe hervorgekrochen ist, das kann in diesem Moment von sich sagen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei“. – „Hieraus folgt, dass Laien, Priester, Fürsten, Bischöfe und, wie sie sagen, Geistliche und Weltliche, in Wahrheit keinen anderen grundlegenden Unterschied haben als den des Amtes oder der Tätigkeit und nicht etwa den eines (eingeborenen) Standes“.¹³⁴ Für Volker Leppin ist in diesen Sätzen „ein Umsturz des geltenden Rechts und der geltenden Gesellschaftsverfassung angelegt“.¹³⁵ Ab jetzt stand politisch die Forderung nach gleichem Recht für alle im Raum. Was war mit den Bauern, also
Brecht 1981, S. 354 f. Knape 1992, S. 327– 406. WA Werke 6, S. 408; vgl. Leppin 2010, S. 156. Leppin 2010, S. 156.
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der in Halbsklaverei gehaltenen Mehrheit der Bevölkerung? Kleriker jedenfalls sollten jetzt nicht mehr die Sonderstellung in der Gesellschaft beanspruchen können, die bislang vom Kirchenrecht gedeckt war. Die Kirche habe auf eigenen Machtbesitz zu verzichten, fordert Luther und leistet damit einem säkularen Gewalt- und Machtmonopol massiven Vorschub. Die ganzen kirchenrechtlichen Konstruktionen dienen seiner Meinung nach letztlich nur einem unvertretbaren Machtanspruch der kirchlichen Säule in Gestalt der römischen Kirche. Folgerichtig verbrannte Luther symbolisch die Dekretalen und alle sonstigen Kirchenrechtsbücher zusammen mit der ihn konkret betreffenden Bannandrohungsbulle ‚Exsurge Domine‘ wenige Monate vor seiner Wormsreise. Damit war der Bruch des Protests mit der Macht vollzogen. Damit war das Prinzip der Macht aber nicht in Frage gestellt. Nach der Auflösung alter Strukturen folgt die Phase der Etablierung neuer Strukturen. Martin Brecht kommentiert Luthers Position mit den Worten: „Wenn es unter den Christen prinzipiell keine Unterschiede gab, dann unterstanden alle gleichem Recht und konnten bei Fehlverhalten kritisiert und gerichtet werden; dann konnten die, die über die entsprechenden Machtmittel verfügten, d. h. die christlichen Obrigkeiten, eine Geistlichkeit und Hierarchie, die ihren Aufgaben nicht mehr gerecht wurden, zur Verantwortung ziehen und die Kirchenreform in die Hand nehmen.“¹³⁶ So wurde der Weg zu jenen neuen Machtkartellen in den protestantischen Fürstentümern geebnet, die später unter der Formel „Thron und Altar“ eine Dominanz der weltlichen Machtsäule vorsahen. Luther hat in der Adelsschrift und in den anderen Schriften des Jahres 1520 eine neue Theorie entwickelt, auf deren Grundlage man die alte ekklesial-caesarische Machtstruktur in Frage stellen konnte, freilich um den Preis, dass sich politisch gesehen neue, vielfach protestantisch grundierte Machtverbünde bildeten. Doch das ist eine spätere Entwicklung. Noch befinden wir uns am Vorabend der Entscheidung auf dem Wormser Reichstag über die Frage, ob es überhaupt so weit kommen kann. Die Ebernburg des Ritters Franz von Sickingen lag nicht weit entfernt von Worms. Schon am 6. oder 7. April 1521, als Luther gerade auf seiner Reise Station in Erfurt machte, traf sich dort eine merkwürdige Gruppe zu Verhandlungen, die bis zum 8. April dauerten. Sie bestand aus Vertretern der beiden uns schon bekannten Wormser Parteien in der Causa Lutheri. Die drei wichtigsten Protestgruppen des Reiches waren durch Franz von Sickingen (Reichsritter), Ulrich von Hutten (lutherfreundliche Humanisten) sowie Martin Butzer (lutherisch gesinnte Theologen) vertreten. Die kaiserliche Partei repräsentierten der bewährte Diplomat Paul von
Brecht 1981, S. 426.
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Armstorff sowie der Beichtvater des Kaisers, der französischstämmige Franziskaner Jean Glapion. Ein päpstlicher Nuntius fehlte. Wer war dieser Glapion? Beichtvater des Kaisers zu sein, bedeutete faktisch auch, sein Ratgeber zu sein. Er war also Teil der engsten politischen Umgebung des Kaisers, äußerte sich insbesondere zu religiösen Fragen, war an allen Beratungen über die lutherischen Angelegenheiten, vor allem auch über die verschiedenen Entwürfe des Glaubensgesetzes beteiligt, stand später den päpstlichen Nuntien während Luthers Aufenthalt in Worms zur Seite und organisierte deren geheimen Verkehr mit dem Kaiser. Man hat ihn daher zu Recht als Mitglied des engeren „kaiserlichen Kabinetts“ bezeichnet.¹³⁷ Etwas übertrieben und mit Hinweis auf die bekannten Schwächen historischer Vergleiche kann man sagen, dass er nach heutigen Maßstäben so etwas wie ein Staatssekretär und Diplomat in Religionsangelegenheiten war. Seine Person kann einerseits für die Verflochtenheit des klerikal-politischen Komplexes im damaligen Reichsregiment stehen, andererseits aber auch für den historischen Abstand, den wir heute zu solchen institutionellen Komplexen haben. Oder könnten wir uns heute noch umstandslos vorstellen, dass es im Bundeskanzleramt oder im Innenministerium eine Abteilung für Religion gibt, die der Beichtvater von Frau Merkel leitet? Andererseits gibt es heute noch genug theokratisch orientierte Regimes auf der Welt, allein wenn man in den Nahen Osten, insbesondere in den Iran oder nach Saudi Arabien schaut, vom neuesten Kalifat in Syrien ganz zu schweigen. Viele Länder haben immer noch Religionsminister.Worum es politisch geht, zeigen die Schauprozesse des 20. Jahrhunderts unter den Nazis, im Stalinismus, im sonstigen asiatischen Bolschewismus des Ostblocks oder in Amerika in der McCarthy-Ära, vielleicht auch, abgeschwächt, in der westdeutschen Phase des Radikalenerlasses. In all diesen Fällen stand die ideologische Korrektheit und Linientreue von Abweichlern in Frage und kam es zu einem Zusammenwirken von Ideologiewächtern und politischen Exekutivorganen. Luthers Problem ist strukturell gesehen also kein vergangenes Phänomen. Strukturell setzt die Macht offenkundig regelmäßig und zu allen Zeiten auf Verfahren der Inklusion und Exklusion. Die Macht glaubt regelmäßig und zu allen Zeiten – wie der Blick auf die politischen Systeme aller Zeiten nahelegt –, dass Stabilität der Herrschaftsverhältnisse wesentlich durch mehr oder weniger starke Einheitlichkeit der Glaubens- und Ideologiesysteme bedingt ist. Mit entsprechenden Folgen. So gesehen darf es nicht verwundern, dass die Causa Lutheri für die Zeitgenossen ein Politikum ersten Ranges war. Allerdings ein zweischneidiges, denn es war ein Politikum für die Macht und für den Protest zugleich. Dies zeigt sich in dem
Kalkoff 1922, S. 216.
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erstaunlichen Intrigen- oder Diplomatenspiel der Ebernburg-Initiative, das kurz vor Luthers Ankunft in Worms noch einmal von Seiten der Macht in Gang gesetzt wurde. Die Fäden zieht Glapion unter der Parole ‚Lasst uns den eigentlich schon verlorenen Luther doch noch in letzter Minute retten‘. Die Parole verfängt bei den erwähnten wohlmeinenden Luther-Anhängern, die sich Sorgen um das Haupt des religiösen Zweigs der Protestbewegung machen. Glapion und Paul von Armstorff sagten dem in Geldnöten schwebenden Hutten bei den Verhandlungen zu, dass er in den kaiserlichen Dienst übernommen werde und gaben damit den Kompromisswillen des Kaisers zu erkennen. Dies verfing umso mehr, als Hutten ernsthaft glaubte, den Kaiser auf die Seite der Romgegner ziehen zu können. Glapion bestärkte Hutten und Butzer auf der Ebernburg in der Hoffnung, dass sich am Ende der Kaiser als der wahre Reformator erweisen werde. Kurz zuvor hatte Glapion in einem Brief an Spalatin schon behauptet, das berüchtigte Sequestrationsmandat sei nur als diplomatische Spiegelfechterei der Kaiserlichen zu verstehen; soll heißen: Man ziehe doch am gleichen Strang.¹³⁸ Nun gibt Glapion zu verstehen, dass Luthers auf die Reform der Kirche gerichtete Absichten den vollen Beifall des Kaisers fänden. Der Wittenberger selbst gefährde sich freilich, weil er in den theologischen Thesen zu weit gegangen sei. Man könne doch versuchen, die Abweichungen wieder in die geltende katholische Lehre zu integrieren. Glapion und Butzer disputieren über diesen Ansatz auf der Ebernburg, und offenkundig kann Glapion plausibel machen, dass eine gewisse Beweglichkeit bei den Positionen (quicquam-Lösung, von der noch die Rede sein wird) die Lage entspannen werde. Das berichtet Butzer in seinem Rechtfertigungsbrief, in dem er die Gründe für seine Einmischung in die Luthersache nennt.¹³⁹ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Luther längst eine innere Haltung der Kompromisslosigkeit erreicht hatte, die eine aufgeweichte und verunklärende Rückführung seiner theologischen Positionen in die herrschende Lehre (wie es sich Glapion offenbar vorstellte und Butzer aus Angst um das Leben Luthers hoffte) ausschloss. Die reformatorisch eingestellten Reichsritter, die keinem Fürsten, sondern nur dem Kaiser unterstellt waren, hofften auf den jungen, erst am 28. Juni 1519 gewählten Habsburger Karl V. Der Papst hatte diese Wahl zu verhindern versucht und ausgerechnet Luthers Landes- und Schutzherren, den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen, bewegen wollen, sich zum deutschen König und römischen Kaiser wählen zu lassen. Friedrich lehnte ab und protegierte Karl V., was zweifellos das respektvolle Verhalten beider Männer auch in der Luther-Angelegenheit begründete. Hutten und seine Partei schlossen daraus, dass Karl V. aufgrund dieser
RA 2, S. 530 Anm. 1; siehe auch Walser 1928, S. 79 Anm. 2. Waltz 1878, S. 124 f.; Walser 1928, S. 88; Kalkoff 1920, S. 377– 378.
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Vorgänge so etwas wie eine ‚natürliche‘ Gegnerschaft gegen Rom beibehalten haben müsste. Seit Hutten im Sommer 1519 ohne Beziehung zu Luther „den Kampf gegen Rom planmäßig“ aufgenommen hatte,¹⁴⁰ sah er Karl V. in vorderster Linie des Freiheitskampfes gegen die römische Tyrannis und für die Errichtung der deutschen Nationalkirche. Für ihn als Ritter waren Gewalteinsätze legitim und er plante daher 1520, den päpstlichen Nuntius Aleander zu überfallen und in Gewahrsam zu nehmen. Die päpstlichen Nuntien waren für Hutten keine Botschafter, sondern Spione des Papstes, wie er offen zu erkennen gab, „die alle böse und ungerechte Sachen und Anschläge trieben“.¹⁴¹ Kein Wunder, dass sich Aleander am 5. Oktober 1520 revanchierte, indem er ein Breve an den zeitweiligen Dienstherren Huttens, den Mainzer Erzbischof, überreichte mit der Forderung, alle Schmähschriften Huttens gegen Rom zu verbrennen und ein gerichtliches Verfahren gegen ihn in Gang zu setzen. Das Besondere daran ist, dass Hutten nicht als Luther-Anhänger oder Ketzer ins Visier genommen wurde, sondern als politischer Aufrührer. Insgesamt sah man Hutten von Seiten der Macht noch über die WormsEreignisse hinaus als ernstzunehmenden politischen Faktor im Reich an.¹⁴² In Huttens Reaktionen ist von Luther zunächst keine Rede. Ohne religiösen Impetus will Hutten sein Leben für Deutschland in einem Kampf gegen die römische Säule der Macht opfern; er nennt das seinen „Pfaffenkrieg“. Die klerikale Mit-Herrschaft der römischen „Kurtisanen“, wie er sagt (gemeint sind – wie gesagt – die römischen Kurialen), soll zugunsten einer rein laikalen Ordnung der Macht im Reich beseitigt werden und der Kaiser soll sich dabei an die Spitze der Bewegung stellen. So denkt Hutten, ruft den Kaiser in einem Gedicht zur Initiative auf und spricht ihm die Oberhoheit unter den Romgegnern zu: Du sollst als Hauptmann stehn allein Anheber und Vollender sein. So will mit allem, was ich kann, Zu Dienst dir sein in deinem Bann.
Und an anderer Stelle: Denn was ich alles tun nur kann Soll dir die Ehre bringen ein.
Walser 1928, S. 18. Kalkoff 1920, S. 370. Brecht 1981, S. 426.
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Sonst würde ohne Gründe sein, Dass Aufruhr ich im Reich schaff an.¹⁴³
Als dann während Luthers Worms-Reise das kaiserliche Sequestrationsmandat verbreitet wird, erkennt Hutten, dass die Kaiserlichen sich nun doch, wie gehabt, an die Seite Roms als zweiter Säule der Macht stellen werden. Hoffnung entsteht erst wieder durch Glapions Ebernburg-Initiative. Aleander hatte am 29. März 1521 nach Rom berichtet, dass die Lutheraner verbreiteten, der Kaiser stehe auf ihrer Seite.¹⁴⁴ Und in der Tat waren die kaiserlichen Räte, insbesondere die deutschstämmigen, zögerlich, um Ausgleich bemüht oder gar lutherfreundlich. Das alte klerikal-caesarische Machtkartell war zu dieser Zeit durchaus gebrechlich geworden. Unter Historikern ist bis heute umstritten, warum man in dieser unübersichtlichen Lage Luther wirklich auf die Ebernburg einlud. Die eine These lautet, dass Glapion ihn aufhalten wollte, damit er die 21-tägige Ladungsfrist nach Worms versäumte und damit den Geleitschutz verlor.¹⁴⁵ Die andere These besagt, dass Glapion mit Luther eine Absprache über sein Verhalten in Worms treffen wollte, dahingehend, dass Luther einige Thesen widerrufen sollte, um seinen guten Willen zu demonstrieren.¹⁴⁶ Mit dieser quicquam-Lösung hätte Luther zugegeben, dass auch er in einigen Punkten irrte oder doch über die Stränge geschlagen hatte. Das war eine typische Diplomatenlösung, denn damit hätte sich die radikale Frontstellung der beiden Parteien als aufgeweicht erwiesen. Das kaiserliche Kabinett strebte angesichts der Spannungen in Worms diese Lösung an. Die päpstlichen Diplomaten allerdings sahen das etwas anders; sie hofften, Luther aus einem Teilwiderruf einen Strick drehen zu können.¹⁴⁷ Aber Luther wäre im Fall irgendwelcher Konzessionen auch diskreditiert gewesen. Später gab der Erzbischof von Trier dem Nuntius gegenüber zu, dass man kaiserlicherseits durchaus darauf spekuliert hatte, Luther mit irgendeinem kleinen (eben quicquam) Eingeständnis des eigenen Irrtums unglaubwürdig zu machen.¹⁴⁸ Einig ist sich die Forschung, dass der Diplomat Glapion auf der Ebernburg „eine schlau berechnete Komödie gespielt hat“, die Frage ist eben nur: mit wel-
Hutten: Clag vnd vormanung (1520). In: Hutten ed. Böcking 1862, S. 473 – 526; Vers 880 – 884 und Vers 871– 874. Walser 1928, S. 80 Anm. 2. Kalkoff 1920, S. 365. Walser 1928, S. 85 – 94. Kalkoff 1920, S. 368 f. Hausrath 1897, S. 263.
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chem Ziel?¹⁴⁹ Als entscheidende Zusage Glapions empfanden die Luther-Freunde Hutten und Butzer jedenfalls, dass der Wittenberger Theologieprofessor in Worms nun doch verhört werden sollte, also in eine Art Disputation eintreten durfte, wie Hutten in einem Brief an den Humanisten Willibald Pirckheimer bestätigt.¹⁵⁰ Damit schien eine Forderung Huttens erfüllt, die dieser kurz zuvor, am 27. März 1521, in einem Brief an den Kaiser erhoben hatte: „Höre Luther ordentlich, laß ihn Red und Antwort stehen!“¹⁵¹ Immer noch träumte man also davon, dass Luther vor einem Experten-Schiedsgericht seinen Standpunkt rechtfertigen könne und nicht einfach nur Opfer übergeordneter, letztlich politischer Instanzen werde. Die Ebernburg-Protagonisten, die aus der zweiten politischen Reihe kamen, haben da wohl ihre Möglichkeiten überschätzt. Jedenfalls formuliert der Reformationshistoriker Paul Kalkoff in dieser Hinsicht Bedenken: „Es gehört eine starke Selbstgewißheit dazu, wenn Hutten und Butzer sich hier mit einer Angelegenheit von derartiger Tragweite befaßten, die von den höchsten Gewalten des Reiches und der Kirche mit einem unendlichen Aufwand von Scharfsinn und Geduld, unter Aufbietung der letzten staatsrechtlichen und kirchenpolitischen Machtmittel bis zu diesem Punkte geführt worden war, von dem ganz Deutschland, ja das Abendland eine entscheidende Klärung der Lage erwartete. In der Tat war, von dem rohen Sickingen abgesehen, den beiden andern Beteiligten doch nicht ganz wohl dabei zu Mute.“¹⁵² Auch für Luther muss die Oppenheim-Situation unangenehm gewesen sein, denn damit entstand für ihn ein drittes und letztes Mal so etwas wie eine Versuchung zur Umkehr. Sie hätte verlockend sein können, denn sie eröffnete ihm die letzte Chance, eine sichere Zuflucht bei ähnlich gesinnten Vertretern des Protests zu finden, zumal inzwischen auch ängstliche Warnungen der kursächsischen Freunde aus Worms in Oppenheim eingetroffen waren. Offenkundig waren die Wittenberger in der Wormser Gerüchteküche höchst besorgt um Luthers Sicherheit und auch mutlos geworden; ja, man war geradezu in Panik geraten.¹⁵³ Das bezeugen die Versuche des kursächsischen Rats Spalatin im Auftrag des Kurfürsten, Luther nun doch noch in letzter Minute zur Umkehr zu bewegen. Man sah die Situation als unberechenbar an und ängstigte sich um das Leben der Gallionsfigur des religiösen Protests. Spalatin bestätigt in seinen ‚Annalen‘, dass er den in Oppenheim angekommenen Luther warnte und zur Umkehr ermutigen wollte,
Walser 1928, S. 89. Walser 1928, S. 74 f., 89 und 98. Walser 1928, S. 90. Kalkoff 1920, S. 381. Köstlin 1903, S. 407.
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worauf Luther ablehnend geantwortet habe.¹⁵⁴ Luther erinnert sich lange danach in den Tischreden an die Lage und vergisst dabei nicht, den Teufel als großen Versucher ins Spiel zu bringen: „Wie ich nun nicht weit von Worms bin, schickt mir Spalatinus (der mit dem seligen Kurfürsten, Herzog Friedrich, unterwegs war) eine vertrauliche Nachricht, lässt mich warnen, ich sollte nicht in die Stadt Worms kommen und mich nicht in solche Gefährlichkeit begeben. Aber ich entgegnete ihm: Wenn so viele Teufel in Worms wären wie Ziegel auf den Dächern, so wollte ich doch hinein, denn ich war unerschrocken, fürchtete nichts. Gott kann einen wohl so unbesonnen machen; ich weiß nicht, ob ich jetzt auch so freudig wäre.“¹⁵⁵ In Luthers Umgebung wird die Angelegenheit als Kampf zwischen Gut und Böse bzw. der göttlichen und der teuflischen Macht interpretiert. Daher lässt der spätere Berichterstatter Mathesius seinen Lehrer Luther im Moment dieser Herausforderung auf die Idee des christlichen Ritters (Miles christianus) Bezug nehmen mit dem Ausspruch: „Wenn die Sache gut ist, wächst das Herz im Leibe und gibt Predigern und Soldaten Kraft und Mut.“¹⁵⁶ Luther lässt sich auf seiner Reise nach Worms nicht mehr aufhalten. Es drängt ihn zur Entscheidung.
Epiphanie in Worms Dienstag, 16. April 1521 Um zehn Uhr morgens geben die Glocken in Worms das Signal: Martin Luther ist angekommen. Freund und Feind beobachten den Vorgang sehr genau. Während der lutherfreundliche Altenburger Domherr Veit Warbeck die Fakten noch am selben Tag recht neutral an Herzog Johann von Sachsen berichtet, kommt es dem päpstlichen Nuntius Aleander darauf an, die Indikatoren für erkennbare Stimmungen und Machtkonstellationen nach Rom zu melden. Auch er schreibt gleich am 16. April einen Brief an die Kurie. Ankunft, Einfahrt und Erscheinen in Worms werden für den im einfachen Mönchsgewand auftretenden Wittenberger Theologieprofessor zu einer Ermutigung, denn er wird von einer großen, freundlich und neugierig gestimmten Menge wie ein Fürst aufgenommen, auch wenn hier der rituelle Rahmen, den es in Erfurt gegeben hatte, fehlt. Aleander schickt Beobachter, die ihm melden, dass etwa hundert Bewaffnete, vermutlich Leute von der Ebernburg Sickingens, eine
Spalatin: Annales, S. 38. WA Tischreden 5, 5342b, S. 68 f.; Walch 15, Sp. 1828 f. So die Fortsetzung bei: Mathesius ed. Loesche 1898, S. 56.
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Schutzeskorte bis ans Stadttor gebildet haben. Warbeck weiß zu berichten, dass Luther von vielen Fürstendienern und Adeligen um zehn Uhr, gerade als man sich in der Stadt zum Essen gesetzt hatte, in die Stadt geleitet wurde. Mit drei Begleitern im Wagen sitzend, umgeben von etwa acht Berittenen, fuhr Luther dann in die Stadt. Nach Warbeck gab es ein Gedränge von zweitausend Menschen auf den Straßen, die den Einzug sehen wollten. Im Brief aus Frankfurt an Spalatin hatte Luther zuvor den kursächsischen Rat gebeten „Weise mir also die Herberge an (dispone ergo hospicium)“.¹⁵⁷ Das war nicht zuletzt eine Sicherheitsfrage. Darum brachte man Luther auf Spalatins Veranlassung in den Räumen des Reichserbmarschalls Ulrich von Pappenheim unter. Sie befanden sich in der gut bewachbaren Komturei des Johanniterordens, wo auch noch die zwei kursächsischen Räte Friedrich von Thun und Philipp von Feilitzsch ihr Quartier hatten. Luther war sicher untergebracht, weil er mit den Personenschützern, wie wir heute sagen würden, Hans von Hirschfeld und Hans von Schott, in einem Zimmer wohnte. Der Johanniterhof der Rhodeserritter lag in der Nähe der Herberge zum ‚Schwanen‘,wo der sächsische Kurfürst logierte.¹⁵⁸ Wenn es nach Aleander gegangen wäre, hätte man Luther wie einen verurteilten Verbrecher behandelt, der er aus Sicht der Macht eigentlich auch schon war. Aleander schreibt: „Als nun Glapion im Namen des Kaisers unseren Vorschlag hören wollte, erklärten wir es erstens für notwendig, dass der Kaiser ihn möglichst unbemerkt die Stadt betreten lasse, dass er ihm ferner eine Wohnung in seinem Palast anweise, wo kein Verdächtiger mit ihm verkehren könne“. Doch er glaube, „dass man, wie bisher immer geschah, auch hierin das gerade Gegenteil tun wird.“¹⁵⁹ Aleander sollte sich nicht irren. Aleander berichtet auch nach Rom, dass Luther beim Herabsteigen vom Wagen seine Umgebung mit den Worten ansprach: „Gott wird mit mir sein!“ Dann schloss ihn ein Priester in die Arme, berührte dreimal sein Gewand und verhielt sich beim Weggehen so, „als hätte er eine Reliquie des größten Heiligen in den Händen gehabt“. Diese Nachricht soll den Römern andeuten, wie romfeindlich inzwischen auch die Haltung der einfachen Kleriker im Reich ist. Aleander fügt hinzu, dass er sich nicht wundern werde, wenn es bald heiße, Luther vollbringe Wunder. Aleander weiter: „Dann trat er in eine Stube, wo ihn viele Herren aufsuchten, mit deren zehn oder zwölf er auch speiste, und nach der Mahlzeit lief alle Welt hin, ihn zu sehen.“¹⁶⁰ Die Berichte über Luthers Erscheinen machen nur zu deutlich, dass der seit Januar tagende Reichstag mit unterschiedlichen Erwartungen auf diesen Moment
WA Briefwechsel 2, Nr. 396, S. 298, Z. 13; Berbig 1906, S. 147. Köstlin 1903, S. 409. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 17, 15. April 1521), S. 165 f. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 18, 16. April 1521), S. 167.
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hingefiebert hatte. Durch die dynastischen und klerikalen Verbindungen des Hochadels und der hohen Geistlichkeit sowie aus diplomatischen Zusammenhängen heraus waren alle wichtigen europäischen Nationen in Worms vertreten und längst hatten sich Parteien für oder gegen Luther gebildet. Nach den Monaten der geschäftsmäßigen politischen Beratungs- und Beschlussarbeit sollte jetzt gegen Ende noch ein Höhepunkt kommen, der in einer Art Showdown das jahrelange publizistische und politische Gezerre um die ideologische Richtung des deutschen Reiches auf einen Punkt der Entscheidung bringen sollte. Beide Parteien hatten dabei viel zu verlieren. Die komplizierte ideologische und politische Gemengelage ließ angesichts der im Raum stehenden Machtfrage die eigentlich religiöse Dimension verblassen. Hoffen und Bangen standen beieinander. Für die einen war es das Gespenst einer ungekannt-fragwürdigen Freiheit, das in Deutschland umging und die alten Strukturen ins Wanken zu bringen drohte. Für die anderen war es die Hoffnung auf Befreiung, die eine Neuordnung im Denken und Handeln mit sich bringen sollte, vielleicht sogar neue politische Ordnungen. Die kleine Stadt Worms mit ihren gerade mal 7.000 Einwohnern war für wenige Monate zum Nabel der Welt Mitteleuropas geworden. Rund 80 Fürsten (gefürstete Grafen, Herzöge, geistliche Fürsten und Kurfürsten), 130 Grafen, 15 Botschafter und Städteboten waren in den Spitzenzeiten mit ihrer Entourage anwesend.¹⁶¹ Wenn wir bedenken, dass allein der junge Landgraf Philipp von Hessen im Januar mit 400 gerüsteten Reitern und fast 200 Adligen und Bediensteten zum Reichstag gekommen war, können wir uns die Beengtheit des Zusammenlebens in den Unterkünften und das Gedränge in der Stadt vorstellen. Im Bericht des Dietrich Butzbach vom 7. März 1521 werden Verhältnisse in Worms geschildert, wie wir sie auch aus Berichten über das hundert Jahre zurückliegende Konzil in Konstanz kennen: „In der Nacht kann man hier in Worms nicht gut ausgehen; es ist selten eine Nacht, in der nicht drei oder vier Menschen ermordet werden. Der Kaiser hat einen Scharfrichter, der hat schon über hundert Menschen ertränkt, gehängt und getötet. Es geht hier ganz auf römische Art zu mit Morden, Stehlen und schönen Frauen; alle Gassen sitzen von ihnen voll. Bei uns gibt es kein Fasten, man sticht“ und „man frisst Fleisch, Lämmer, Hühner, Tauben, Eier, Milch, Käse, und es ist ein solches Unwesen wie im Venusberg“, also im Berg der Wollust.¹⁶² In dieser wilden Wirtschaft liefen ständig Gerüchte aller Art um, und der Fall Luther war Tagesgespräch. Am Abend des 16. April konnte sich Luther keineswegs von den Strapazen der Reise und der Ankunft in Worms ausruhen. Sofort begann ein reger diplomatischer Verkehr. Die Besucher gaben sich die Klinke in die Hand.
Butzbachs Bericht in RA 2, S. 815; Hausrath 1897, S. 99; Kalkoff 1922, S. 43. RA 2, S. 815 – 817; Hausrath 1897, S. 100.
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1 Stationen und Themen
In seinen ‚Annalen‘ wird Spalatin später berichten: „Und es ist ganz gewiss wahr, dass Gott den Doktor Martin auf dem Reichstag zu Worms in der Weise geehrt hat, dass er viel mehr Zuschauer und Publikum hatte als alle Fürsten und Herren. Solange er sich in Worms aufhielt, war seine Herberge jeden Tag von Leuten überlaufen.“ Er habe selbst – nach dem großen Rede-Ereignis –, schreibt Spalatin weiter, „unter all den Grafen und Herren in seiner Herberge den Landgrafen Philipp von Hessen, den Herzog Wilhelm von Braunschweig und den Grafen Wilhelm zu Henneberg gesehen.“¹⁶³ Luther hält sich insgesamt elf Tage in Worms auf, dann ist er für den Rest des Jahres 1521 wie vom Erdboden verschwunden, und Deutschland wird sich fragen, ob er tot oder irgendwo lebendig gefangen ist.
Spalatin: Annales, S. 48 f.
Drei Reden
2 Die Macht klagt an. Aleanders Rede und Luthers erstes Verhör Alles drängte im Jahr 1520 hin auf eine Entscheidung in der Luther-Sache. Der Wittenberger Theologieprofessor schrieb und veröffentlichte jene maßgeblichen Programmschriften, in denen er seine theologischen Positionen abrundete, und die römisch-kirchliche Seite der Macht bereitete den Kirchenbann vor. In Rom verständigte man sich den Sommer über bezüglich der Frage, wie eine Bannandrohungsbulle auszusehen habe. Daran war der Leipziger Theologe Johannes Eck maßgeblich beteiligt. Veröffentlicht wurde die auf den 15. Juni datierte Bulle am 24. Juli 1520 durch Anschlag an der Peterskirche in Rom, dann sofort gedruckt (Abb. 7). Sie erhielt ihren Namen ‚Erhebe dich Herr und führe deine Sache‘ (Exsurge Domine) nach den Anfangsworten von Psalm 74,22.¹⁶⁴ Die Verurteilung von 41 theologischen Sätzen Luthers wurde unter anderem mit Gutachten der Universitäten Löwen und Köln begründet, die kurz zuvor eingeholt worden waren. Alle Schriften Luthers, die solche Sätze enthalten, heißt es nun, sollen verbrannt werden. Luther darf nicht mehr predigen. Er wird nochmals zur Umkehr zur rechten, von Rom vertretenen Lehre ermahnt, da er sonst einfach als notorischer Ketzer behandelt werden könne, mit allen Folgen für Leib und Leben. Sollte Luther nicht binnen 60 Tagen widerrufen, können auch seine anderen Schriften verboten und verbrannt und sein Name ausgelöscht werden. Luthers Reaktion ist bekannt. Nach Ablauf der 60 Tage Bedenkzeit verbrennt er am 10. Dezember 1520 diese Bannandrohungsbulle zusammen mit jenen Kirchenrechtsbüchern, aus denen sich ihre Rechtsfolgen ergeben. Der endgültige Bruch mit Rom war von Luthers Seite symbolisch vollzogen. In der Kettenreaktion, die sich in der Folge beobachten lässt, war nun wieder Rom am Zuge. Am 28. Januar 1521 fertigte Rom die Urkunde mit dem definitiven Kirchenbann aus. Dem päpstlichen Sonderbeauftragten Aleander wurde diese Vernichtungsbulle am 10. Februar 1521 in Worms zugestellt.¹⁶⁵ Damit war die weltliche Säule der Macht, der Kaiser, gemäß Kirchenrecht in Zugzwang gebracht.Und in der Tat forderte Karl V. wenig später, am 12. Februar, den Chefankläger Aleander auf, mit seiner Anklagebegründung vorzutreten. Schon am nächsten Tag, dem 13. Februar 1521, einem Aschermittwoch, hielt der Gesandte des Papstes seine rhetorisch imposante An-
Text in Übersetzung bei Walch 15, Sp. 1425 – 1457. Text der Bulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521 in: Bullarum, diplomatum et privilegiorum sanctorum Romanorum pontificum Taurinensis editio. Tom. 5. Turin 1860, S. 761– 764. DOI 10.1515/9783110546927-003
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klagerede vor dem Wormser Reichstag, die lohnt, genauer analysiert zu werden, formuliert sie doch den Kern der Anklagepunkte beider Säulen der Macht.
Abb. : Titelblatt der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine Leos X. gegen Luther. ‚Bulle gegen die Irrtümer Martin Luthers und seines Gefolges‘/Bulla contra errores Martini Lutheri et sequacium. Rom .
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Aleander als Chefankläger Luthers 1520 Bevor wir diese Aschermittwochsrede genauer in den Blick nehmen, müssen wir uns mit der Person und Rolle des päpstlichen Sondergesandten Hieronymus Aleander befassen, der zu Luthers Chefankläger werden sollte (Abb. 8). Um ihn gab es schon im Vorfeld des Reichstags viel Aufregung. Er wurde (ebenfalls an einem 13. Februar) im Jahr 1480 nahe dem italienischen Treviso unter dem Namen Giorolamo Aleandro als Sohn eines Adeligen geboren und beschloss sein Leben 1542 in Rom als Leiter der Vatikanbibliothek. Aleander war ein humanistischer Gelehrter, der 1501 erstmals vom Papst mit diplomatischen Aufgaben betraut wurde. 1508 wurde er Griechisch-Professor an der Universität Paris, später auch deren Rektor. Es dauerte freilich nicht lange, bis er sich wieder der Politik widmete und Kanzler des Lütticher Fürstbischofs wurde. Am 25. September 1520 trat er in Antwerpen als päpstlicher Sonderbeauftragter in der Sache Luther beim Kaiser auf und legte am Hof die römische Bannandrohungsbulle ‚Exsurge Domine‘ vor. Offenkundig hatte er ab jetzt den Auftrag, die Luther-Sache kompromisslos zu Ende zu bringen. Nach Ablauf der zweimonatigen Widerrufsfrist sollte Aleander den Kaiser und die Fürsten veranlassen, Luther gefangen zu nehmen und mit ihm nach Recht und Gesetz zu verfahren. Aleander begann in den habsburgischen Niederlanden mit einer Serie von Bücherverbrennungen, denen weitere im ganzen Reich folgen sollten. Gemessen am Stand der zeitgenössischen Kommunikationsmöglichkeiten waren solche kirchenamtlichen Methoden letztlich veraltet. Rom arbeitete vor allem in der Situativik mit Plakaten an Kirchentüren, mit Predigtverlautbarungen oder Verbrennungen aller Art vor Ort (auch Menschenverbrennungen waren am Ende möglich), was immer umständlich veranlasst werden musste. Aleander war sich der Drastik solcher Maßnahmen bewusst, aber er sah sie als wirksame Kommunikationsmethode an. Seine Wirkungshypothese lautete: Angesichts der „Predigten und Flugschriften dieses Ketzers, der tausendmal schlimmer ist als Arius“, macht solch eine öffentliche „Urteilsvollstreckung“ tiefe Wirkung „auf das Volk“, sodass „viele sich von der Schlechtigkeit der verdammten Schriften überzeugen“.¹⁶⁶ Die Bettelorden führten jetzt, an der Jahreswende 1520/21, im Interesse der römisch-kaiserlichen Macht einen Propagandafeldzug von den Kanzeln herab in derart aggressiven Tonlagen, wie wir sie heute Klerikern kaum noch zutrauen würden.¹⁶⁷ Doch der Protest im Reich hatte längst andere Methoden öffentlicher
AD ed. Brieger 1884 (Nr. 1, etwa 14. oder 15. Dezember 1520), S. 18; AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 30, 14. Dezember 1520), S. 30. Kalkoff 1903b, S. 60 – 62.
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Publizität entwickelt, die nicht mehr auf Mündlichkeit setzten oder auf irgendwelche Erlaubnisse von oben warteten. Schon seit einiger Zeit nutzte man den Buchdruck systematisch mit kurzen Reaktionszeiten und viel größeren Reichweiten. Proreformatorische publizistische Kampagnen entstanden in einer bis dahin nicht gekannten Weise der freien Meinungsäußerung. Dadurch wurde der Medienstar Luther in Deutschland mehr und mehr zur unantastbaren Figur. Die Macht lernte erst relativ spät, mit ähnlichen Methoden und mit gleicher Reichweite Gegenpropaganda zu entfalten. Aleander freilich begreift sehr schnell, wie die Kommunikationslage auf beiden Seiten beschaffen ist. Seine Informanten lieferten ihm so etwas wie geheimdienstliche Berichte, die für Rom nicht günstig waren. Die Erklärungen sind zwiespältig. Einerseits finden wir bei Aleander im März 1521 eine Art Verschwörungstheorie: „Sehr zu verwundern ist es, dass einige Deutsche, die gegen Luther in deutscher und lateinischer Sprache schreiben, keine Drucker finden, und wenn sie wirklich einmal durch Geld und gute Worte den Druck ihrer Bücher durchsetzen, so werden diese schleunigst von den Lutherischen, die wie die Marannen gemeinsame Kasse führen, so weit sie zu erlangen sind, aufgekauft und sämtlich vernichtet. So hielt in Ulm ein Franziskaner von der Observanz im Anfang der Fastenzeit streng kirchliche Predigten, ohne einen Zuhörer zu bekommen“.¹⁶⁸ Zu Aleanders Informanten gehört auch der altkirchliche Theologe und Humanist Cochlaeus, der am 27. September 1522 berichtet: „Die Drucker sind fast alle heimliche Lutheraner, drucken uns nichts umsonst, nichts zuverlässig, wenn wir nicht selbst dabei sind.“¹⁶⁹ Andererseits sieht der römische Nuntius auch sehr deutlich die Schwächen des ganz mit sich beschäftigen, also weltfremden römischen Klerikerwesens. Er vergleicht das Engangement und die rhetorische Reflektiertheit der deutschen Aktivisten des Protests mit denen der römischen Säule der Macht und kommt dabei zu keinem günstigen Urteil über die Römer: „Das weiß ich aus verschiedenen Quellen, und erst neuerdings ist mir ein Blatt von Hutten in die Hände gefallen, ein Bruchstück, wie es scheint, von dem Entwurf jenes Schreibens ‚wider die Priester‘, mit mehr denn hundert Streichungen, so dass die Worte wohl zehnmal gewechselt sind.“ Ausgerechnet sein Feind Hutten wird hier als Meister des Variantenreichtums und der sprachlichen Sorgfalt im Dienst der rhetorischen Agitation hingestellt und mit jenen römischen Humanisten verglichen, die ihr Können mit nutzlosem ästhetischen Spiel vergeuden und nicht mehr an die Religion denken: „Ich sage es unseren Poeten und Rhetoren in Rom, deren ganzes Thun darin besteht, an ein paar Verschen monatelang zu feilen und um
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 14, 15. u. 16. März 1521), S. 127. Friedensburg 1898, S. 123; AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 14, 15. u. 16. März 1521), S. 127 Anm. 1.
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Abb.8: Der päpstliche Nuntius Hieronymus Aleander. Kupferstich von Agostino dei Musi aus dem Jahr 1536. Ex. Berlin Kupferstichkabinett.
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eines armen Wortes willen einander zu verleumden, gerade ins Gesicht, dass sie sich vertragen und einmütig in ihren Schriften unsern Glauben verteidigen sollten; mit ihren Einsichtigen und Fähigkeiten würden sie schöne Dinge ausrichten und mehr als sieben dieser Schreihälse zum Schweigen bringen, die allein mit ihren schriftstellerischen und poetischen Künsten sich bei der Menge in solches Ansehen gesetzt haben, als wenn sie die echte Theologie schon ganz unter die Füße getreten hätten.“¹⁷⁰ Es komme auch für Rom „auf die schriftstellerische Fertigkeit an sich sehr viel an, noch dazu bei einem so wichtigen Unternehmen.“¹⁷¹ In den habsburgischen Niederlanden ließ Aleander einen selbst verfassten und von der weltlich-kaiserlichen Seite der Macht ausgefertigten Erlass durch Plakatierung verbreiten. Er sollte dem Luthertum in dieser Region den Todesstoß geben und alle weiteren Maßnahmen rechtfertigen. Der französischsprachige Text betont, es sei durch Gutachten der Universitäten Köln und Löwen eindeutig nachgewiesen worden, dass Luther als Ketzer zu gelten habe.¹⁷² Durch ausdrücklichen Verweis auf den ketzerischen Prototypen Jan Hus macht Aleander dabei klar, was sich für ihn am Horizont als idealer Ausgang der Sache abzeichnet: Die beiden Säulen der Macht werden am Ende zu demselben Ergebnis kommen wie in Konstanz, d. h. Widerruf oder Exekution des Ketzers. Denn Luther vertritt abweichende theologische Positionen, „die schon durch das Konstanzer Konzil jenem Johann Hus, seinen Anhängern und Mitschuldigen gegenüber verworfen und verdammt worden sind“, so der Erlass. Es gehe, heißt es darin weiter, um „Punkte und Artikel, die sich beziehen auf das Sakrament der Taufe, die drei Teile der Beichte, die Wirkung der Reue und Buße, die Art und Beschaffenheit der Beichte und Absolution sowohl auf Seiten dessen, der sie empfängt, wie dessen, der sie gibt oder geben kann, ferner das Sakrament der Buße und des Sündenerlasses, die Ablässe und die Gnaden und ihre Frucht, die Exkommunikationen, die Zensuren und andere Kirchenstrafen, die Macht (la puissance) des Papstes, des Stellvertreters Christi auf Erden, den Heiligen apostolischen Stuhl und die Allgemeine Kirche“.
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 16, 05. April 1521), S. 151. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 16, 05. April 1521), S. 151 f. Text des französischen Plakats in Corpus documentorum inquisitionis, S. 43 – 45; im Folgenden zitiert nach der Übersetzung von Kalkoff in Kalkoff 1903b, S. 110 – 112.
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Was modernen Lesern hier als eine christlich-dogmatische Spezialitätenliste erscheint, berührt in Wahrheit den Kern der bislang außer Frage stehenden gesellschaftlichen Legitimität der kirchlichen Säule der Macht. Bemerkenswerterweise wird die Frage der Schriftauslegung und damit der theologischen Autorität nicht erwähnt. Aleander kommt gleich auf den Rom allein interessierenden Kern der Sache zu sprechen. Es geht um die Ausdrucksformen der kirchlichen Macht und ihr paternalistisches Monopol, das durch Luthers Theorien ins Wanken gerät. Was heißt das? Die maßgebliche soziale Funktion der Kirche betrifft die geistige Fürsorge in Gestalt einer alles kontrollierenden paternalistischen Lenkung der intellektuellen und spirituellen Seiten des Lebens. In Analogie zu heutigen Vorstellungen kann man die Aleander-Liste mit der nötigen Einschränkung wie folgt erläutern: Nur Rom und seine Priester verwalten, was Gott in dieser Welt an Heil zu geben hat (Sakramente und vom Papst geschenkte religiöse Gnadenmittel). Allein Rom und seine Priester sind die Psychoberater der Menschen in einer Zeit, die weder Psychologen, Psychotherapeuten noch Sozialarbeiter kennt. Mit den Begriffen Beichte, Buße, Sündenerlass und Ablass bezeichnen sie jene religiös kodierten Gegebenheiten und Praktiken, die sich auf die Psyche des ängstlichen, schuldbeladenen oder anderweitig seelisch gequälten Menschen beziehen, der Hilfe braucht. Für die Seelenhilfe gibt es zu dieser Zeit nur eine in der Welt situierte Institution, deren Zentrale den Namen „Heiliger Stuhl“ trägt. Sie wird im Papst verkörpert, der sein Amt und seine „Macht“ von Gott herleitet. Diese Macht besteht darin, Gnadenspendung zu gewährleisten, Zensur in Normfragen zu vollziehen und gegebenenfalls auch Kirchenstrafen zu verhängen.Wer das anerkennt, gehört zum Geltungsbereich dieses religiösen Systems, das sich den Namen „Kirche“ gegeben hat und faktisch eine der beiden Säulen der Macht im deutschen Reich darstellt. Das wirklich Revolutionäre Luthers besteht demgegenüber in einem unerhörten Versprechen. Es lautet, dass sich die Menschen darauf verlassen können, dass die unumstrittene transzendente, göttliche Instanz etwas ganz anderes will. Sie will kein paternalistisches Fürsorgesystem für das religiöse Denken und Fühlen, keine Fremdverwaltung des Spirituellen, des Religiösen und letztlich – wie wir vielleicht zusammenfassend sagen können – all dessen, was wir heute im neutralen Begriff des Ideologischen zusammenfassen können. Die Botschaft lautet nun: Der Mensch ist insofern geistig frei, als er selbst sein geistiges Verhältnis zu Gott handhaben kann, soweit der es zulässt. Der Mensch sollte sich nur als Gefangener eines göttlichen Willens verstehen. Das aber ist die wahre Freiheit, denn der gute Gott lässt uns als seine Ebenbilder an seiner eigenen Freiheit teilhaben. Gott will das so, und für diese Gewissheit gibt es eine Quelle: die Heilige Schrift.
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Aleander als Ziel antisemitischer Angriffe 1520 Nach der Krönung Karls V. als neu gewähltem deutschen König und damit auch Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation in Aachen am 23. Oktober 1520 zog der Hof mit den deutschen Fürsten, darunter auch Luthers Beschützer Kurfürst Friedrich von Sachsen, nach Köln weiter, um den geplanten Reichstag in Worms vorzubereiten. Aleander kam am 29. Oktober nach Köln. Er wollte hier ebenfalls eine Bücherverbrennung organisieren und die Propagandamaschine gegen Luther im deutschen Rheinland in Gang setzen. Doch nun spürte er deutlichen Gegenwind, der bald ebenso an anderen Stellen im Reich entstand. So missglückte die in Mainz geplante Bücherverbrennung gänzlich.¹⁷³ Völlig zu Recht zählte man Aleander bald auch im übertragenen Sinn zu den „Brandstiftern“ der Epoche.¹⁷⁴ Man verstand im Reich diese gewalttätigen Feuer nur zu gut, und die parallel zu Luthers Bemühungen laufende antirömische Bewegung unter deutschen Politikern bekam dadurch nur noch größeren Ansporn. So wurde Ulrich von Huttens schon im Jahr des Wormser Reichstags 1521 erschienener ‚Aufschrei‘ gegen die Verbrennung von Büchern Luthers in Mainz sofort in mehreren Druckausgaben auch in deutscher Sprache verbreitet.¹⁷⁵ Der schon damals berühmte Renaissance-Humanist Erasmus von Rotterdam, den Aleander als seinen großen Feind ansah, gab der Verachtung solcher Methoden klaren Ausdruck. Es sei zwar leicht, aber für Theologen nicht besonders rühmlich, „mit Bullen und Scheiterhaufen zu siegen“, hingegen sei Luther „durch die Verbrennung seiner Bücher“ höchstens „aus den Bibliotheken“ entfernbar, „schwerlich aus den Herzen der Menschen“.¹⁷⁶ Dass dieses stark symbolische Ritual unter den deutschen Nazis unter säkularisierten Vorzeichen im 20. Jahrhundert wieder auflebte, ist bekannt und macht seine Fragwürdigkeit deutlich. Aber auch Luther schreckte ja nicht vor solch einer drastischen Methode symbolischer Kommunikation zurück, wie wir gesehen haben. Die Lutherfreunde in Köln waren bei der Ankunft Aleanders gewarnt und gingen kampfgestimmt zur Gegenoffensive über. Johann Alexander Brassicanus,
Kalkoff 1920, S. 261. Vgl. Kalkoff 1903b, S. 79 f. Der erste deutsche Druck erschien gleich zu Jahresbeginn 1521 in Worms (der Buchschmuck trägt noch das Datum 1520); siehe Brall 1988, S. 52, Nr. 54– 58, hier Nr. 55; Text der Klageschrift bei Ukena 1970, S. 244– 248. Erasmus an Campeggi, 6. Dezember 1520, in Erasmus: Opera Omnia, Sp. 600; Erasmus an Cranefeld, 18. Dezember 1520, in Erasmus: Opera Omnia, Sp. 603 f.; Erasmus an Rosemund, 18. Oktober 1520, in Erasmus: Opera Omnia, Sp. 586 f.; Erasmus an Chieregato, 13. September 1520, in Erasmus: Opera Omnia, Sp. 579; siehe dazu Kalkoff 1903b, S. 84.
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ein lutherisch gesonnener Schwabe, folgte Aleander aus Löwen nach Köln und reihte sich in den Kreis der aggressiven Kölner Aleander-Gegner ein, der sich um Hermann von dem Busche gebildet hatte.¹⁷⁷ Die Luther-Freunde veröffentlichten zwei subversive Flugschriften, in denen die Echtheit der Bannandrohungsbulle in Frage gestellt und als eine gezielte Fälschung inquisitorischer papistischer Mitläufer charakterisiert wurde. Aleander habe sich das lutherkritische Gutachten der Universität Löwen, so wurde dreist behauptet, erschlichen. Für Aleander steckt hinter diesen Gerüchten Erasmus von Rotterdam, den er bald in Rom als Ketzer anschwärzen wird.¹⁷⁸ Besonders drastisch wird Aleander selbst in der zweiten, „überaus boshaften“ (Kalkoff), ebenfalls nur wenige Blätter umfassenden Flugschrift als Person denunziert und niedergemacht (Abb. 9).¹⁷⁹ Aleander galt als Roms bester Mann nördlich der Alpen, ausgewiesener Wissenschaftler der Universität Paris, diplomatisch versiert, zwar kein theologisches Licht, dafür aber linientreu. Genau dieses Image sollte nun mit der Anti-AleanderSchrift gründlich dekonstruiert werden, und zwar mit allen Mitteln. Man hat dieses zu Aleanders Begrüßung publizierte Pamphlet mit dem Titel ‚Handlungen der Universität Löwen gegen Luther‘ (Acta Academiae Lovaniensis contra Lutherum) in die frühen Werkausgaben Luthers aufgenommen, später jedoch dem zu dieser Zeit in Köln anwesenden Humanisten Erasmus von Rotterdam zugeschrieben und in dessen Werkausgabe integriert.¹⁸⁰ Da aus inhaltlichen Gründen weder die eine noch die andere Zuweisung schlüssig ist, muss man heute von einem humanistisch gesonnenen Anonymus oder gar von einer Gruppe aus dem Erasmus-Umfeld ausgehen, die sich der lutherfreundlichen Propaganda verschrieben hatte und Aleander bei seinem Auftauchen in Köln einen schweren publizistischen Schlag versetzen wollte.¹⁸¹ Dadurch war Aleander im politischen Gewimmel des gerade stattfindenden Kölner Fürstentags schon zu Beginn angeschlagen. Wir werden noch sehen, welche Rolle diese kleinen Gelegenheitsschriften der Lutherpartei in Aleanders Aschermittwochsrede von 1521 spielen werden. Die von uns heute als ekelerregend empfundene Denunziation Aleanders führt uns in die absoluten Niederungen der politisch-agitatorischen Auseinandersetzung um die Luther-Sache. Aus einer innertheologischen Kontroverse war inzwischen ein Politikum erster Ordnung geworden, weil alle spüren, dass ein
Kalkoff 1920, S. 260. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 6, 08. Februar 1521), S. 74– 78. Acta Academiae Lovaniensis 1520; dazu Kalkoff 1903a, S. 26; Kalkoff 1922, S. 84 f. Luther: Omnia Opera II, Bl. 34– 35; Luther: Omnia Opera I, Bl. 496 f.; Luther: Opera Latina varii argumenti, S. 308 – 314; Walch 15, Sp. 1331– 1337; Erasmus: Acta Academiae Lovaniensis, S. 304– 328; Engl. Übersetzung in Erasmus: Acts of the University of Louvain, S. 101– 105. Tracy 1972, S. 185 Anm. 113.
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ideologischer Umschwung im Gang ist. Der problematischste Anti-Aleander-Text ist der anonyme lateinische Einleitungsbrief der ‚Acta‘ an den Leser, also ein Text in einem Format, wie es als literarische Form unter Humanisten üblich war. Dieser Schmähtext taucht auch noch in anderen humanistischen Drucken der Zeit auf.¹⁸² Er entspricht im Duktus anderen antisemitischen Ausfällen gegen Aleander, wie sie sich ebenfalls bei Ulrich von Hutten finden. Für Hutten ist Aleander ein dem Judentum entsprungener zweiter Judas Ischariot.¹⁸³ In den bald erschienenen deutschen Übersetzungen der ‚Acta‘, die im direkten sächsischen Umfeld Luthers entstanden, fehlt der üble Einleitungsbrief allerdings.¹⁸⁴ Hier eine Übersetzung des Machwerks nach der Luther-Ausgabe Walchs: „Gruß dem ehrenwert geneigten Leser. Was jetzt Neues vorfällt, will ich, weil allen daran gelegen, es zu wissen, gern melden. Es ist dieser Tage Hieronymus Aleander angekommen, ein sehr großer Mann in seinen Gedanken, nicht allein wegen der Sprachen, die er vortrefflich versteht, da ja die hebräische seine Muttersprache ist, und die griechische mit ihm aufgewachsen ist, Lateinisch aber hat er gelernt durch die langjährige Professorschaft, sondern er erscheint sich selbst auch wegen des Altertums seines Geschlechts wunderbar, denn er ist geborener Jude, und dies Volk rühmt sich unmäßig wegen des uralten Abraham, von dem es herstammt. Ob er aber getauft sei, weiß man nicht. So viel ist gewiss, dass er ein Pharisäer ist, weil er keine Auferstehung der Toten glaubt; denn er lebt nicht anders, als ob er ganz mit dem Leibe vergehen werde, und lässt allen seinen bösen Gelüsten den Zügel. Er ist zornig bis zur Unsinnigkeit, und wütet bei jeder Gelegenheit. Er ist maßlos in seiner Anmaßung, von unersättlichem Geiz, schändlicher und unersättlicher Wollust. Er ist ein Erzsklave des eitlen Ruhms, obwohl er so läppisch ist, dass er durch keine tüchtige Schreibart Ruhm erlangen kann, und zu schlecht, als dass er in einer guten Sache etwas unternähme. Das aber ist doch zu wissen, dass ihm sein heuchlerischer Abfall zum Christentum sehr wohl gelungen ist. Denn er hat so Gelegenheit gehabt, seinen Moses zu preisen, und Christi Ehre, die in diesem Jahrhundert wieder aufzukommen angefangen hat, indem der Aberglaube und schädliche Menschensatzungen gefallen sind, herunterzumachen. Darum ist er neulich mit päpstlichen Briefen gekommen, damit er, soviel an ihm ist, alles Gute verderbe. Gehabt Euch wohl. Das habe ich den redlichen Lesern kundtun wollen.“¹⁸⁵
Tatsache ist, dass Luther während der Zeit der Reformation und Gegenreformation in vergleichbar übler Weise von der katholisch-altkirchlichen Partei denunziert, beschimpft und verleumdet wurde. Dennoch ist es angesichts der
Ulrich v. Hutten: Hochstratus Ovans (1520). In: Hutten ed. Böcking 1859, S. 439 – 442.; Ulrich v. Hutten: Hochstratus Ovans (1520). In: Hutten ed. Böcking 1864, S. 488; Kalkoff 1903a, S. 26 f. Ulrich v. Hutten: Epistula Udelonis (1520). In: Hutten ed. Böcking 1862, S. 469, siehe auch S. 460 und 468. Kalkoff 1903a, S. 26. Acta Academiae Lovaniensis 1520, Bl. av; dt. bei Walch 15, Sp. 1331 f.
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Abb. 9: ‚Handlungen der Universität Löwen gegen Luther‘/Acta Academiae Lovaniensis contra Lutherum. s.l., s.a. [Basel, Andreas Cratander, Oktober/November 1520] (= VD 16 A 137).
Tatsache, dass sich der schlimmste antisemitische Hetzer der Nazis, Julius Streicher, noch 1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess mit antijüdischen Luther-Zitaten zu verteidigen suchte, angebracht, sich hier ausdrücklich nicht dem Ansatz des kulturhistorischen Relativismus anzuschließen. Nach diesem Ansatz wären Entgleisungen wie der Anti-Aleander der ‚Acta‘ und all das, was wir heute nicht mehr tolerieren können, unter Hinweis auf zeitübliche Grobheiten oder auf die humanistische Gattungstradition brutaler Invektiven (wie wir sie auch schon bei Cicero finden) zu entschuldigen. Dieser Maxime folgt etwa der prominente Vertreter der älteren Lutherforschung Paul Kalkoff, selbst vielleicht antisemitisch angehaucht. Er spricht im ersten Jahrgang des ‚Archivs für Reformationsgeschichte‘ (1903/04) angesichts des ‚Anti-Aleander‘ mit süffisantem (und nicht gerade franzosenfreundlichem) Unterton vom „Kabinetstück einer ungeschmeichelten Porträtierung des ehemaligen Professors und Rektors der Universität Paris“ Hieronymus Aleander, das in dieser Form gekonnt „auf den
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Geschmack der Humanistengemeinde berechnet“ gewesen sei.¹⁸⁶ Was für ein Euphemismus angesichts dieses üblen Propagandamachwerks. Rhetoriktheoretisch gesehen bricht Propaganda mit dem in der Kommunikation immer stillschweigend vorausgesetzten Kooperationsprinzip. Propaganda im begrifflichen Sinn verletzt, anders als die Rhetorik, die Aufrichtigkeitsbedingung und die Bindung an gesellschaftlich akzeptierte Mittel der Kommunikation. Während der rhetorische Kommunikationsfall an das Verantwortungs- und Kooperationsprinzip gebunden ist, verletzt der Propaganda-Fall sehenden Auges, also bewusst, die Sorgfaltspflicht des Kommunikators gegenüber seinen Adressaten und hat vor allem keine Hemmungen, zu lügen. Die heutige Humanismusforschung findet glücklicherweise zu anderen Einschätzungen als Kalkoff und verharmlost dabei nicht mehr den fragwürdigen Charakter des Anti-Aleander-Pamphlets. So kommentiert etwa J. K. Sowards, der von Erasmus als Autor ausgeht und den Text der ‚Acta‘ im Rahmen der englischen Erasmus-Ausgabe übersetzt hat, die Schmähung wie folgt: „Es war eines der bösesten und von schäbigem Denken inspirierten Dinge, die Erasmus jemals geschrieben hat, ganz und gar rasend und hysterisch wie das Geschrei seiner Feinde. Sein Interesse war es, sowohl die Bulle als auch Aleander zu diskreditieren, ein weiteres Mal gegen seine Feinde in Löwen loszuschlagen und damit nochmals das ihm nun vertraute Argument vorzubringen, dass er weder ein Förderer noch das Alter ego Luthers sei, doch zugleich darauf bestehe, dass man Luther eine faire Anhörung geben müsse.“ Der einleitende Brief der ‚Acta‘ sei zwar an den „ehrenwerten Leser“ adressiert, doch sein Verfasser sei seinerseits „weit davon entfernt, selbst ehrenhaft zu sein“. Seine Ausfälle gegen Aleander seien „eine bösartige persönliche Attacke“, die Aleander als einen Mann „mit abscheulichen Verhaltensweisen, Gier und Wollust“ darstelle.¹⁸⁷ In der Tat ist der Verfasser der Invektive von der alten Lehre der Hauptlaster und Todsünden inspiriert. Er führt alle nur erdenklichen, vom angeblichen Judentum Aleanders hergeleiteten Laster an: Unglauben, Wollust, Zorn, Geiz und Habgier, Ruhmsucht, Aberglauben und Bosheit. Aleander wird dieses Pamphlet anonymer lutherischer Gegenpropaganda gegen Rom, insbesondere gegen die Integrität seiner Person, nicht auf sich beruhen lassen, sondern in seiner Wormser Aschermittwochsrede aufgreifen. Es sind drei glatte Lügen, mit denen der päpstliche Sondergesandte in Köln unglaubwürdig gemacht und als unberechtigt handelnd dargestellt werden soll:
Kalkoff 1903a, S. 26. Sowards 1993, S. xl.
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1. Die Abstammungslüge: Es wird behauptet, Aleander sei jüdischer Abstammung und nach damaliger Lesart folglich mit zahlreichen Defekten behaftet. Als gewissenloser Jude glaube er nicht an die religiösen Grundwahrheiten des Christentums, sei wahrscheinlich gar nicht getauft, täusche also die Umwelt mit seinem Christsein und sei vor allem auch ein Bischofsamtschänder, der selbst das Kirchenrecht bricht, das er einklagt, weil Juden nach kanonischem Recht nicht in höhere Kirchenämter berufen werden dürfen („ein Jude kann nicht Nuntius werden“¹⁸⁸). Dann ein weiterer Schlag unter die Gürtellinie: Aleander konnte, so die ‚Acta‘, nur deshalb als humanistischer Sprachgelehrter Professor in Paris werden, weil er als italienischer Jude das Griechische gewissermaßen automatisch mitbekommen hat, wohingegen seine Lateinkompetenz nur den Gewohnheiten seiner Lehrerexistenz gedankt sei, nicht etwa intellektuellen Fähigkeiten. 2. Die Rassenlüge: Die antisemitischen Angriffe gegen Aleander bedienen sich nicht nur der Abstammungslüge mit der falschen Behauptung, Aleander sei jüdischer Herkunft, sondern es werden die Juden insgesamt als Übeltäter verleumdet. Die Denunzianten konstruieren zwischen beiden Unterstellungen einen Zusammenhang und leiten ihre perfide Charakteristik Aleanders mit ihren extrem negativen Merkmalen aus seinem angeblichen Judentum ab. Auf Aleander soll jene abwertende Kampfparole gemünzt werden, die manche Humanisten im ideologischen Kampf der Zeit vor sich hertrugen: „Aberglaube und darüber hinaus Jüdisches“ (superstitio plusquam Judaica) seien zu bekämpfen.¹⁸⁹ Wir haben es hier mit einer Vorstufe des späteren antisemitischen Rassismus zu tun, der eine ganze Bevölkerungsgruppe, die Juden, zu amoralischen Verderbern erklärt. Die entsprechende Darstellung Aleanders hat bis ins 20. Jahrhundert weitergewirkt. Noch dem Reformationshistoriker Kalkoff läuft es offenbar beim Gedanken an Aleanders Judentum, das er nicht ausschließen will, eiskalt den Rücken herunter. Er macht sich 1903/04 die diffamierende Lesart zu eigen und charakterisiert diesen Vertreter der römischen Seite der Macht ausführlich, fast genussvoll, als einen Mann, dessen „religiöse Überzeugung als frivol“ und dessen „sittliche Haltung“ als „indifferent“ zu bezeichnen sei. Kalkoffs Schauergemälde dieses Mannes, der für ihn immer noch von „fragwürdiger“, also vielleicht doch jüdischer Abstammung ist, kulminiert in der Unterstellung, dass Aleander mit „rastlosem Ehrgeiz“ und „schlau versteckter Habgier“ vorgegangen sei; zwei Zuschreibungen, die unschwer als antisemitische Stereotype zu identifizieren sind. Kalkoff lässt nichts aus. Hinzu kommt für ihn Aleanders „zu ausgiebigem Genuß aller Freuden des Lebens“ neigende Einstellung. „Besonders aber“ sei hier Aleanders zu den
Kalkoff 1903a, S. 29. Kalkoff 1903a, S. 29 Anm. 1.
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Freuden „des Weines, der Liebe und der Musik hinneigender ‚Epikuräismus‘“ hervorzuheben, den man ja auch aus anderen Quellen nur zu gut kenne.¹⁹⁰ Mit einem Vergleich des Lebenswandels von Luther und Aleander (hier der asketische Mönch, dort der zwar gebildete, aber sexuell freizügige römische Renaissancemensch) will Kalkoff die These beweisen, dass Aleander gar nicht „zu einer gründlichen Erfassung“ der ihm gestellten historischen Aufgabe fähig gewesen sei, weil „es ihm auch am sittlichen Ernst“ mangelte.¹⁹¹ Kurz: Aleander war, wenn wir Kalkoff und den Denunzianten des Anti-Aleander von 1520 glauben wollten, die Inkarnation des Übels. 3. Die Fälscherlüge: Angesichts solcher Charakteristiken verwundert es den Leser dann nicht, dass der vermeintliche Jude Aleander in den ‚Acta‘ zugleich zum geborenen kriminellen Betrüger stilisiert wird, der mit einer gefälschten päpstlichen Bulle hantiert, also gar nicht legitimiert ist, im Namen des Papstes zu handeln. Aleanders Aktivitäten sollen damit als willkürliche Intrige eines Bösewichts gegen Luther erscheinen, wie Kalkoff schreibt, „die nur zur Deckung der mönchischen Faktion und Aufrechterhaltung ihrer auf scholastische Spitzfindigkeiten und judaisierendes Ceremonienwesen gegründeten Herrschaft eingefädelt worden sei: des Nuntius amtliche Kompetenz sollte als ‚falsch oder erschlichen‘ erscheinen.“¹⁹² Im weiteren Verlauf der Hassschrift von 1520 wird dann die schon erwähnte Behauptung aufgestellt, Aleander habe sich das Löwener Gutachten gegen Luther erschlichen. Eine solche Verleumdung vergisst man nicht. Spätestens jetzt wird Aleander klar geworden sein, dass Deutschland ein gefährliches Pflaster für römische Kuriale ist, die man im Land als „Kurtisanen“ verspottet. In seinen Depeschen aus dieser Zeit gibt er der Angst um sein Leben immer wieder Ausdruck. Schon bei seiner Anreise war Aleander in Frankreich verhaftet worden, weil dem französischen König Franz I. nicht klar war, ob Aleander rein kirchliche Absichten verfolgte. Allein diese Episode zeigt, dass päpstliches Personal überall in Europa als verdächtig angesehen wurde. Päpstliche Legaten waren eben nicht einfach nur um das Seelenheil von Gläubigen besorgte Priester, sondern immer zugleich auch Interessenvertreter des mittelitalienischen Kirchenstaates. Dessen Existenz als staatliches Gebilde basierte auf einer gefälschten Urkunde, wie man inzwischen wusste, nahm eine dubiose Stellung im politischen Kräftespiel Europas ein, und man hielt seine Vertreter überall für korrupt, intrigant, geld- und machtgierig.
Kalkoff 1903a, S. 28. Kalkoff 1908, S. 5 und 141– 146. Kalkoff 1903a, S. 29.
Aleander als Ziel antisemitischer Angriffe 1520
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Für Luther war diese institutionalisierte Verweltlichung der ideale Nistplatz des Teufels. Die fundamentale Zwitterhaftigkeit des klerikalen Systems ‚Rom‘ wurde der alten Kirche in Deutschland nun insofern zum Verhängnis, als sie endgültig ihre Monopolstellung im Reich verlor. Aleander repräsentierte für die Zeitgenossen nicht nur die überall bekannte römische Dekadenz, sondern auch die unverhohlen zur Schau gestellte Arroganz der römischen Macht, die nichts mehr mit christlicher Demut zu tun hatte. Bekannt sind die berüchtigten Aussprüche, die Papst Leo X. (1513 – 1521), dem Vorgesetzten Aleanders, zugeschrieben werden (Abb. 10). Er soll die Sache Luthers zunächst in völliger Verkennung der Lage als „deutsches Mönchsgezänk“ abgetan haben und dann gesagt haben: „Luther mag Recht haben, soviel er will, aber er soll mir meine Einkünfte nicht schmälern“. Die Bemerkung des Legaten Cajetan aus dem Jahre 1518 bringt diesen päpstlichen Hochmut und die Verkennung der Lage auf den Punkt: „Was schert Deutschland den Papst?“¹⁹³ Damit war es nun vorbei. Der neue Nuntius Aleander sieht sich gezwungen, die Lage völlig anders zu beurteilen. Noch am 8. Februar 1521 beklagt er sich in einem Brief vom Wormser Reichstag über die Peinlichkeit, „dass die heimkehrenden Romfahrer überall erzählen, in Rom mache man sich lustig über die lutherische Sache und lege ihr nicht die geringste Bedeutung bei. Darüber sind die Räte, die mit mir diese Frage zu erledigen haben, so erbost, dass sie uns am liebsten von diesem Reichstage unverrichteter Sache abziehen sähen“.¹⁹⁴ Aleander selbst fühlte sich, wie gesagt, schon lange nicht mehr seines Lebens sicher. Am 6. November 1520 hatte er bereits nach Rom geschrieben, dass Ulrich von Hutten den Päpstlichen den Krieg erklärt habe, dass er Romreisende überfalle und ihn selbst gefangen nehmen wolle. Erasmus von Rotterdam schreibt Ende November 1520 in einem Brief, dass Hutten mit vierzig Begleitern die Straßen belagere, um die päpstlichen Nuntien, insbesondere Aleander, gefangen zu setzen. Bald erscheint eine Flugschrift, die den geplanten Überfall auf Aleander als Tatsache darstellt.¹⁹⁵ Es kennzeichnet die aufgeheizte Lage, dass Luther nach Erhalt entsprechender Informationen „den allerdings etwas schadenfrohen Wunsch nicht unterdrücken“ konnte, so Kalkoff, „daß doch Hutten den Aleander oder Caracciolo möchte abgefangen haben“.¹⁹⁶ Als die für den 28. November 1520 von Aleander in Worms geplante Bücherverbrennung gescheitert und von den Freunden Luthers zu einem lächerlichen Spektakel umfunktioniert worden war, schrieb Ulrich von Hutten eine an
Leppin 2010, S. 151. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 6, 08. Februar 1521), S. 73. Kalkoff 1920, S. 262– 265. Kalkoff 1920, S. 264.
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Abb. 10: Papst Leo X. Kupferstich von Marcantonio Raimondi. Abb. nach Henri Delaborde: Marc-Antoine Raimondi. Etude historique et critique. Suivie d’un catalogue raisonné des oevres du maitre. Paris 1888, S. 59 (= Bibliothèque internationale de l’art).
klagende Elegie, in der die antijüdische Legende fortgestrickt und für den „jüdischen Verbrecher Aleander“ wie für den „bestialischen“ Papst Leo X. die Verbrennung gefordert wurde. Gott möge eingreifen, fleht Hutten, und weiter: „Und nun schau auf die brennenden Bücher (sie enthalten dein Wort), Schau, allmächtiger Vater, herab, und räche die Bluttat! Wahrheit trage den Sieg davon und Tugend die Krone! Aber es fasse die Glut das jüdische Aas Aleander, Strafe die Stifter der frevlen Tat. Nach dem wütenden Leo Sollen die Furien greifen, die er entfesselt; die Flammen, Die es dem redlichen Luther geschürt, das unheilige Rom selber verzehren. Iacta est alea (der Würfel ist gefallen)“.¹⁹⁷
Aleander befand sich in einer erregten Propagandaschlacht. Die Machinationen und Propagandaaktivitäten beider Seiten zeigen, wie Diplomatie, politisches Ränkespielen, Intrigen und Gewaltphantasien am Übergang zum Jahr 1521 den Konflikt zwischen Macht und Protest auf die Spitze trieben. Beide Seiten warteten mit Spannung und Hoffnung auf den bevorstehenden Wormser Reichstag, der endlich eine Lösung herbeiführen musste, so oder so.
Ulrich v. Hutten: In incendium Lutherianum exclamatio (1521). In: Hutten ed. Böcking 1862, S. 453 – 455, Verse 54– 65; vgl. zur Übersetzung Strauß 1858, S. 100 u. Hausrath 1897, S. 54.
Aleanders Aschermittwochsrede am 13. Februar 1521
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Aleanders Aschermittwochsrede am 13. Februar 1521 Am 10. Februar 1521 traf die endgültige Bannbulle, die die Androhungsbulle ersetzte, aus Rom bei Aleander in Worms ein. Jetzt hatte eigentlich die vorgesehene Rechtsmechanik einzusetzen. Der Kaiser war am Zug und hätte nur noch die Vollstreckung anordnen müssen. Doch die politischen Verhältnisse ließen das nicht mehr zu, weil sich – rechtlich gesehen – die deutschen Stände kurz zuvor ein Mitspracherecht des Reichstags bei solchen Angelegenheiten gesichert hatten. Doch es gab auch politische Gründe, die gegen den Automatismus sprachen. Am 12. Februar muss Aleander die Stärke der Gegenpartei in seinem Bericht für die römische Zentrale zugeben.¹⁹⁸ Der von Rom gewünschte kurze Prozess hätte zum Aufruhr geführt. Was ist zu tun? Die römisch-kaiserliche Macht beschließt, mit einer Anklage zu beginnen. Aleander schildert, wie der Kaiser ihn am Morgen dieses 12. Februars persönlich beauftragte, am folgenden Tag vor allen Ständen des Reiches die päpstliche Verurteilung Luthers vorzutragen und dann die Strafanträge gegen Luther zu begründen. Die Macht sah Gefahr im Verzuge und wollte Fakten schaffen. Die entsprechenden politischen Kalküle sahen die Inszenierung eines Überraschungscoups vor. Aleander übernahm die Aufgabe des Orators, obwohl er gesundheitlich nicht auf der Höhe war und jetzt nur noch eine Nacht zur Vorbereitung hatte, wie er nach Rom schreibt. Er konnte seine Rede dennoch gut präparieren, weil er mit der Materie seit Langem bestens vertraut war.¹⁹⁹ Der Kaiser und Guillaume Chièvres, sein niederländischer Kanzler, sowie der Mainzer Erzbischof hätten ihm geraten, ohne Scheu alles zu sagen, schreibt Aleander, was ihm geeignet erscheine. Deshalb habe er auch so unerschrocken gesprochen, als wenn er „Schulbuben eine Lektion erteilte, obwohl viele lutherische Fürsten wütende Gesichter dazu machten“.²⁰⁰ Nach Aleanders Bericht fand die Rede am Aschermittwoch, 13. Februar 1521, nach dem Mittagessen statt. Vor der Stadt war für den 13. Februar ein großes Turnier geplant und die kaiserliche Seite hielt an den Vorbereitungen fest, um den Überraschungseffekt eines plötzlichen Versammlungsaufgebots nicht zu beeinträchtigen. Schon war das kaiserliche Wappen auf dem Turnierplatz aufgehängt, als die Fürsten ganz unerwartet nach dem Bischofshof gerufen wurden zur Entgegennahme der Botschaft aus Rom. Friedrich der Weise durchschaute das Spiel und wurde plötzlich krank. Er sandte nur seinen Kanzler Brück. Ansonsten fanden sich neben dem Kaiser alle hochrangigen Fürsten und Ständevertreter ein. In der
Vgl. Kalkoff 1922, S. 242. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 7, 12. Februar 1521), S. 83. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 8, 14. Februar 1521), S. 87; RA 2, S. 494 Anm. 2.
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gedrängten Versammlung trug der Abt von Fulda zunächst das Breve des Papstes vor, das noch einmal den bisher abgelaufenen juristischen Gang der Dinge rekapitulierte, insbesondere, dass Luther die 60-tägige Bedenkzeit habe verstreichen lassen und dass er nun von Rom verurteilt sei. Leo X. ermahnte den Kaiser im Breve nochmal eindringlich, den von seinen Ahnen immer eingehaltenen üblichen Rechtsweg nun auch zu beschreiten und als weltliche Säule der Macht den kirchlichen Rechtsspruch physisch zu exekutieren. Nach dieser Verlesung erteilt der Kaiser dem Nuntius Aleander das Wort. Seine in Latein gehaltene Rede habe drei Stunden gedauert, schreibt Aleander später, nach einem anderen Bericht waren es nur etwa zwei Stunden. Wir können mutmaßen, dass die meist lateinunkundigen Fürsten wenig verstanden. Der Redetext ist uns in einem genauen Protokoll erhalten, das keineswegs nur eine oberfläche Verlaufszusammenfassung bietet. Erstaunlich genau, bis hin zu Ausrufen und Detailformulierungen (etwa Doppelformeln) liegt uns die Rede vor. Möglich wurde dies, weil mehrere kursächsische Sekretäre mitgeschrieben haben. Diese Tatsache war auch dem päpstlichen Nuntius selbst nicht entgangen. „Unter meinen Zuhörern waren viele lutherisch gesinnte Fürsten“, heißt es in Aleanders Bericht vom Folgetag, „und die Sekretäre des Kurfürsten von Sachsen, die, obwohl ich aus Furcht und Zeitmangel sehr schnell sprach, doch vieles von meiner Rede auffingen und niederschrieben“.²⁰¹ Techniken, Verhandlungen und Reden bei politischen Ereignissen mitzuschreiben, hatte schon die Antike entwickelt. Auch Cicero platzierte als Konsul Schreiber an verschiedenen Stellen im Senat, die die Reden mitschrieben. Offenkundig sahen sich auch die sächsischen Sekretäre in der Lage, mit verteilten Rollen, wie es heute noch Parlamentsstenographen tun, den Verlauf einer Rede genau mitzuschreiben. Diese Mitschriften der Sekretäre hat der kursächsische Kanzler Brück redigiert und dann für seinen Fürsten ins Deutsche übersetzt. Insofern liegt uns der Redetext nur in einer vermittelten Version vor. Dennoch gibt diese Überlieferung die Rede auf eindrückliche Weise wider. Offenkundig wollte Friedrich der Weise sehr genau, ungeschminkt und bis ins Detail über die Anklage informiert werden. Brücks frühneuhochdeutsche Version der Redenachschrift wurde 1896 in den auf die Worms-Ereignisse bezogenen zweiten Band der ‚Deutschen Reichstagsakten‘ mit 30 Textabsätzen im Wortlaut herausgegeben.²⁰² Im Folgenden soll diese Absatzgliederung als Zählung dienen. Die Rede ist ein Meisterstück humanistisch geschulter Oratorik nach dem Muster der Ciceronianischen Verrinen und Catilinarien. Aleander beginnt sie mit
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 8, 14. Februar 1521), S. 86. RA 2, S. 494– 507.
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der üblichen Anrede an den Kaiser: „Allergroßmächtigster, unüberwindlicher Kaiser!“. Auch Luther wird später lediglich diese Doppelformel benutzen. Der überlieferte Text geht dann im 1. Absatz sogleich in eine dreistufige Redeeinleitung über, die aus einer Sachverhaltsdarstellung (Erzählung oder Narratio), einer Formulierung des Anliegens (Antrag oder Petitio) und einer zusätzlichen Begründung (beweisende Befestigung oder Confirmatio) besteht: Narratio: „Wie viel Böses und Übles der von Martin Luther hervorgerufene Aufruhr und die Empörung dem christlichen Volk bisher schon eingebracht, welchen Schaden sie noch täglich bringen und einführen werden, liegt offen zu Tage“. Petitio: „Darum wäre es von höchster und größter Dringlichkeit, dass diese Umtriebe und der Aufruhr vordringlich ausgemerzt statt weiter in die Länge gezogen werden.“ Confirmatio mit Bezug auf den Konstanzer Präzendenzfall Jan Hus: „Denn wie die Böhmen einst unter dem Namen und der Gestalt des Evangeliums allen Gehorsam und die Ordnung unterdrückt und erstickt haben, so wagt es Martinus Luther mit seinen Helfern und Anhängern ebenfalls, alle Macht von Recht und kaiserlichem Gesetz, auch alle Herrschaft umzustoßen und umzukehren.“ Aleander ist sich sehr bewusst, vor einem deutschen Reichstag und nicht vor der römischen Inquisition zu reden. Darum steigt er gleich mit dem politisch maßgeblichen und in der Tat nicht von der Hand zu weisenden Befund ein. Daraus wird dann auch die politisch und staatsrechtlich maßgebliche Forderung abgeleitet: Die römisch-kaiserliche Macht ist durch den Protest fundamental in Frage gestellt. Wie seinerzeit schon das Beispiel des Jan Hus in Böhmen mit all seinen Bürgerkriegsfolgen gezeigt hat, geht es nicht nur um Religion, es geht ums Grundsätzliche, um die bislang geltenden Rechts- und Ordnungsprinzipien. Sie sind in allerhöchster Gefahr. Darum muss der Aufruhr ausgelöscht werden. Das heißt: Ab jetzt darf es keine Schonung mehr für Luther und seine Anhänger geben. Aleander kann sich sicher sein, dass dieser Einstieg bei den Spitzenvertretern der Macht (beim Kaiser und bei manchen Fürsten) gut ankommt. Aleander konnte in der zeitgenössischen Literatur zur politischen Kanzleirhetorik, etwa bei seinem Landsmann Franciscus Nigri oder bei dem Deutschen Friedrich Riederer lesen, dass man dieses Schema von einleitender Narratio und Petitio dreifach durchspielen könne, um die Wirkung zu erhöhen.²⁰³ Daran hält er sich im weiteren Verlauf seiner Rede. Noch zweimal spielt er das Schema der engen Abfolge von Sachverhaltsdarstellung und Forderung an die Inhaber der Macht durch (2. bis 11. Abschnitt), allerdings in rhetorisch höchst gekonnten Variationen.
Vgl. dazu Riederer: Spiegel der wahren Rhetorik, S. 233 – 237.
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Als er mit dem zweiten Durchgang durch dieses Schema beginnt, nimmt Aleander die rhetorische Figur eines bildlichen Vergleichs (Comparatio) als Ausgangspunkt. Luthers Handlungen sind wie Krankheiten, die sich tief einzuwurzeln drohen, sodass die ganze Christenheit eine Missgestalt und einen Makel bekomme. Der Papst sei ein erfahrener Arzt, der, was seinem heiligen Amt auch nur entspreche, für solche Wunden und Krankheiten die nötigen Pflaster, heilenden Umschläge und wirksamen Gegenmittel bereit halte. Nach diesem Modell des erfahrenen Arztes soll nun auch der Kaiser handeln und zu einem passenden Gegenmittel greifen. Die Krankheit heilen heißt demnach, dass ein räudiges Schaf, Martin Luther, aus der Herde ausgeschieden wird. Bei der abschließenden Confirmatio oder dem, was man in der Argumentationstheorie ein argumentatives backing des Arguments nennt, belässt es Aleander nicht mehr bei einem so drastischen Vergleich. Er greift nun auf eine zentrale Verfassungsrechtsfigur des Reichs zurück. „Als Schutzherr der Kirche“, also als „Vogt der Kirche“, wie man auch sagte, müsse Karl V. tun, was das „Amt erfordert“. Das ist der Moment, in dem Aleander als Nuntius durchaus pathetisch, im Tonfall einer Lamentation, seine Rolle als Bittsteller spielt, wie es die Kanzleirhetorik empfiehlt. „Euer kaiserlicher Majestät Hilfe, Beistand und Amtshilfe (ministerium) suchen wir und rufen wir an. Sie möge den Willen haben, nun auch weiterhin alles dazu zu tun, was seine päpstliche Heiligkeit erhofft, dass es durch Eure Majestät vordringlich zu geschehen habe und dass dieselbe das tun werde, was Ihrer Majestät Vorfahren Philipp und Karl, die Herzöge von Burgund, und die anderen seligen Gedächtnisses getan haben.“ Aleander hat damit zugleich massiv an die dynastische Verpflichtung des gerade erst vor fünf Monaten gekrönten Herrschers erinnert. Wir werden sehen, dass diese Erinnerung Eindruck gemacht hat und beim jungen Karl Folgen haben wird. Aleander weiß, dass die Macht im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation nicht nur vom Kaiser repräsentiert wird. Die Macht ist geteilt, wenn auch abgestuft. Vor allem die Fürsten sehen sich als fast gleichberechtigte Teilhaber der Macht im Reich. Darum appelliert Aleander in einer Wendung seines Ansatzes nun ebenfalls an sie und alle anderen Stände. Wiederum werden Sachverhaltsdarstellung und Anliegen bis hin zum Aufruf zur Tat (Narratio und Petitio) verknüpft: „Ebenso setzt seine päpstliche Heiligkeit auch keine geringere Hoffnung und Zuversicht auf euch, die anderen, die Kurfürsten, Fürsten und Stände des Heiligen Römischen Reichs, so dass seine Heiligkeit nicht zweifelt, ihr werdet denjenigen nicht dulden, der Johannes Hus und Hieronymus von Prag, die in Konstanz verdammt und verbrannt worden sind, wieder aus der Hölle hervorholt und aus der Unterwelt zurückruft. Dazu aber habt ihr jetzt wirklich Grund, denn Martin Luther handelt zu eurem Schaden und sucht ihn, indem er es wagt, die Sakramente und alle Kultzeremonien der Kirche zu
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zerbrechen. Darum müsst ihr alle von Rechts wegen zusammen mit uns solch eine Schmach und solch eine Rebellion bekämpfen, beseitigen und abwehren.“ Aleander liefert dem Reichstag auf diese Weise eine Bewertung und zugleich Maßgaben fürs Handeln. Luthers Bestrebungen werden mit zwei Vergleichen eingeordnet: Sie sind wie Krankheiten und sie gleichen in der Sache den Ketzereien des Jan Hus. Damit ist der immer wieder ins Spiel gebrachte Präzedenzfall angesprochen, aus dem sich die Handlungsmaxime ergibt: Wie Hus ist auch Luther zu vernichten, denn beide haben sich gegen die heiligsten Traditionen des Glaubens verschworen, indem sie die Sakramente und den uralten Ritus verwerfen. Aleander hat all das genau kalkuliert. Er geht an dieser Stelle nur auf das ein, was die theologisch meist uninformierten oder gar naiven Hochadeligen und Ritter aus ihrer religiösen Alltagspraxis kennen, also Sakramentenempfang und Zeremonien. Von der unpopulären päpstlichen Machtstellung spricht er an dieser Stelle vorsichtshalber nicht. Und in der Tat haben diese Ausführungen manchen jener Teilnehmer des Reichstags, die Luther für eher harmlos hielten,verunsichert. Nun setzt Aleander zum dritten Durchgang durch das Narratio-Petitio-Schema an. Er baut eine Brücke zum später folgenden, eher theologisch argumentierenden Hauptteil, der inhaltlich für viele weltliche Herren weniger gut nachvollziehbar ist. Das schätzt Aleander richtig ein. Hatte er bisher schon mit dem Verweis auf den Ketzer Hus und das mit Luther verbundene Umsturzproblem den empfindlichsten Nerv des konservativen Machtdenkens berührt, so steigert er nun entsprechende Besorgnisse noch durch Aufweis von Fakten über Normabweichung, Betrug, soziale Unordnung und Konfusion. Jeder Vertreter eines Machtsystems, so kalkuliert Aleander zu Recht, muss Nachweise solcher Tatbestände als eine Infragestellung für sich selbst als Ordnungshüter und als Herausforderung sehen. Daher zählt Aleander konkrete Delikte der Protestpartei auf, die dem herrschenden Recht und damit der Macht ins Gesicht schlagen. Er berichtet zunächst, wie der um den religiösen Frieden besorgte Papst alles daran gesetzt habe, doch noch die Ordnung aufrecht zu erhalten. Wie ein guter Hirte es tun soll, beschritt der Heilige Vater, so Aleander, alle Wege eines friedlichen Ausgleichs und der Ermahnung; doch ohne Erfolg. Nicht nur in Deutschland sei es inzwischen ja Tagesgespräch (geschrei und rumor), dass hier abweichende Glaubenslehren verbreitet würden, sondern auch in Italien und anderen Ländern, sogar bei den Türken. Rom habe alle erdenklichen Instanzen eingeschaltet, die in Religionsangelegenheiten kompetent sind: Kardinäle, Bischöfe, einzelne Theologen und die Universitäten von Löwen und Köln. Das ablehnende Urteil und die Verdammung Luthers seien einhellig. Wie habe die Protestpartei reagiert? Man habe sich nur dadurch zu wehren gewusst, dass man Fälschungsvorwürfe erhob und behauptet habe, die päpstliche Bulle sei unecht und „der
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Papst habe von der Verdammung und entsprechenden Verhandlungen gar nichts gewusst.“ Das ist ein deutlicher Bezug auf das Anti-Aleander-Pamphlet. In diesem Moment – die sächsischen Schreiber haben auch das genau dokumentiert – zieht Aleander das Originaldokument hervor und präsentiert es der vermutlich verblüfften Reichstagsversammlung zum Selberlesen. Diese Art, konkrete Evidenz durch Vorzeigen von Beweismitteln zu erzeugen, hatte schon Quintilian in seinem Rhetoriklehrbuch vorgeschlagen.²⁰⁴ Wäre diese Bulle gefälscht gewesen, setzt Aleander hinzu, hätte sie der ehrwürdige Bischof von Lüttich doch wohl nicht akzeptiert. Nun folgt ein Schlag gegen Luthers Landesherrn, den Aleander nicht zu Unrecht als Schutzherren des Reformators ansieht. Unverblümt erklärt er Friedrich den Weisen, der sich mit einer offenkundig politisch vorgeschützten Krankmeldung von Aleanders Auftritt fernhielt, ebenfalls zum Bestandteil des Lügennetzwerks der Protestpartei. Habe er, Aleander, in Köln nicht immer wieder bei Friedrich im Namen des Papstes um Audienz bitten lassen und habe der Fürst nicht immer wieder unter dem Vorwand, krank zu sein, abgesagt? Am Ende habe der Kurfürst in der Sache dann nur Winkelzüge vorgenommen, wie zwei Bischöfe bezeugen könnten. Doch damit nicht genug. Als er, Aleander, in Köln die Bücher Luthers habe verbrennen wollen, sei das nächste Gerücht ausgestreut worden. Diesmal sei behauptet worden, die Verbrennungen geschähen gegen den Willen des Kaisers. „Und genau dieses Gerücht“, fährt Aleander fort, „hat Luther selbst mit einer Schmähschrift in die Welt gesetzt, in der er geschrieben hat, dass man zu diesem Zweck etliche tausend Dukaten vergeudet habe.“ Wieder greift Aleander zum rhetorischen Mittel der Evidenz, zieht die unter Luthers Namen publizierte Schrift ‚Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von Doktor Martin Luther verbrannt worden sind‘²⁰⁵ hervor und rezitiert laut die entsprechende Passage in der Reichstagsversammlung. Das macht natürlich Eindruck, zumal diese offenkundige Lüge Aleander nun die Gelegenheit gibt, den Kaiser selbst zum Zeugen gegen solche Behauptungen zu machen: „Eure Majestät weiß es, und ich rufe dieselbe zum Zeugen auf, ob die Befehle mit Euer Majestät Wissen geschehen sind oder nicht.“ Damit ist die Voraussetzung für Aleanders vernichtende Schlussfolgerung geschaffen: Der Protest ist eine Betrügerveranstaltung. „Luther umgeht die Wahrheit, und es sind die offensichtlichsten Lügen (et apertissima mendacia), wie es ja der Ketzer Art und Verderbnis ist, dass sie mit Lügen umgehen und nichts anderes können als lügen.“ Aleander legt noch einmal nach, indem er nun auch noch das kaiserliche Kabinett als Zeugen aufruft und
Quintilian: Inst., VI, 1, 30 f.; Knape 2012d, S. 19. Walch, 1. Aufl. Bd. 15, Sp. 1927– 1941.
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dann die Luther zugeschriebene Verleumdung als unwahrscheinliche Unterstellung angesichts der Geldgier der Deutschen lächerlich macht: „Du weißt es, Herr Kanzler, und ihr anderen Räte der kaiserlichen Majestät, ob ich die Bücher zum Verbrennen vorher für viele tausend Dukaten gekauft habe, wie Luther geschrieben hat. Wenn ich etwas mit Geld hätte ausrichten sollen, so würde ich mit dem wenigen Geld, welches ich nach Deutschland mitgebracht habe, nichts zustande gebracht haben.“ Aus diesen Tatsachen und aus allem, was er jetzt noch vorträgt, leitet Aleander als entscheidende Forderung ab, dass Luther von der weltlichen Macht verbrannt werden müsse. Für Aleander ist der verfassungsrechtliche Grundsatz des gegenseitigen Unterstützungsverhältnisses beider Säulen der Macht im Heiligen Römischen Reich, der schon so lange gegolten hat, längst nicht erledigt. Kirchenrecht und weltliches Recht ergänzten sich spätestens seit dem 13. Jahrhundert. „Für Ketzerei war durch Gregor IX. die Todesstrafe auf dem Scheiterhaufen feierlich als Hauptstrafe festgesetzt worden, nachdem schon seine nächsten Vorgänger die Nebenstrafen festgelegt hatten und schon Urban II. erklärt hatte, dass jeder einen Exkommunizierten töten dürfe, wenn es aus Eifer um die Kirche geschehe.“ Die Formel lautete „Für die Verteidigung des Glaubens beseitigen (pro defensione fidei exterminare)“.²⁰⁶ Diese für moderne Menschen schwer erträgliche Rabiatheit in religiösen Dingen zeigt uns die Differenz zu heutigen westlichen Standards, die sich nicht zuletzt durch den Anstoß der Worms-Ereignisse bis heute entwickelt haben. Zugleich müssen wir aber daran denken, dass die heute noch in Amerika und anderen Teilen der Welt üblichen Vollstreckungsarten der Todesstrafe durch Gas, durch Gift oder den elektrischen Stuhl der hier geforderten Art der Todesstrafe, dem Verbrennen, in nichts nachstehen. Letztlich ist die Frage, was humanitäre Standards sind und was zu den Grundrechten des Menschen zählt, noch längst nicht zu Ende gedacht. Für Emile Durkheim, einen der Begründer der modernen Soziologie, veranlasst der Wunsch der Menschen, in einer „guten“ Gesellschaft, also inmitten der Gemeinschaft der Anständigen zu leben, Gesellschaften dazu, das Böse zu markieren und in einem groß inszenierten Ritual aus der Welt zu schaffen. Was das Böse ist, legt freilich immer die Macht fest. Das ist Aleanders Startvorteil gegenüber Luther, der auf dem Wormser Reichstag zunächst in der Defensive ist. Der Nuntius gibt Gründe an für seinen Exklusionsantrag, der sich auf das Mitglied einer Institution (hier der Kirche) bezieht, die dieses Mitglied nicht mehr ohne Weiteres akzeptieren kann. Wie können wir das verstehen? Hilfe bietet uns die
Kalkoff 1922, S. 174.
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Institutionentheorie an. Danach aktivieren hoch organisierte soziale Gruppen und Institutionen meist einen strukturell wirkungsvollen Inklusions-Exklusions-Mechanismus, um ihre Mitglieder zu definieren. Im Inneren einer Institution, also bei ihren Funktionsträgern, stellt sich die Frage nach dem ‚Dazugehören oder nicht‘ mit besonderer Härte, weil davon die Existenz der Institution abhängt. Diese Existenz ruht auf drei fundamentalen Bausteinen.²⁰⁷ Da sind zunächst die Normen, die mit den Zielsetzungen der Institution zusammenhängen. Bestimmte Wertvorstellungen und Ansichten über die erlaubten Mittel, mit denen die Ziele verfolgt werden sollen, sind hier konstitutiv. Zumindest die funktionstragenden Mitglieder müssen überzeugt sein, dass die Normen richtig und angemessen sind. Daraus entwickelt eine Institution ihre moralische Legitimität, die sich in Handlungsrollen von Akteuren sowie Handlungsvorgaben und -routinen niederschlägt. Der zweite Baustein des Fundaments sind die Regulative, die die Institution festsetzt. Dieser Vorgang besteht im Aufstellen von Regeln, in der Kontrolle und Beobachtung der Mitglieder und schließlich in Sanktionen von Verhalten. Wenn sich die Akteure in der Institution regelkonform verhalten, dann rufen sie damit gesellschaftliche Akzeptanz und die Selbsterhaltungsbestätigung der Institution hervor. Hier spricht man von der pragmatischen Legitimität der Institution. Das Fundament bildet die Kultur der Institution. Die kognitiven Prozesse der Mitglieder, ihre Denkgewohnheiten und Urteilsmaximen werden durch diesen kulturellen Rahmen bestimmt. Er drückt sich in Gemeinschaftsaktivitäten und gemeinsamen Sprachspielen aus. In Kirchen reicht diese kulturelle Einbettung von liturgischen Handlungen über Vorschriften zur Lebensweise (Askese, Essens- und Sexualvorschriften) bis hin zu Lesegewohnheiten oder Sprachregelungen aller Art. All dies trägt zur internen Legitimität von Institutionen bei. Dadurch, dass dies alles auch in der Umwelt verankert wird, bekommt die Gesellschaft, in der eine Institution wirkt, die Funktion einer externen Legitimitätsinstanz. Daher sind Kirchen, wie jede andere Institution auch, immer besonders darauf bedacht, dass sie vor der Umwelt ohne Abweichler oder sogenannte schwarze Schafe dastehen. Abweichler stellen die Daseinsbegründungen einer Institution fundamental in Frage. Man kann diese Überlegungen durchaus auch auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge ausweiten. Was die Kirche zur Zeit Luthers angeht, so haben sie und ihr Vertreter Aleander auf dem Wormser Reichstag vom Selbstverständnis her kaum eine Wahl, auch wenn wir dies heute nicht mehr akzeptieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die skeptische Einschätzung des Philosophen Cioran, was das kirchliche Exklusionsverhalten angeht: „Auf dem Konzil von
Zum Folgenden Scott 2001; Walgenbach/Meyer 2008, S. 57– 64.
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Florenz im Jahr 1441 wurde dekretiert, daß Heiden, Juden, Häretiker und Schismatiker keinen Anteil am ‚ewigen Leben‘ haben würden und daß sie alle, falls sie sich nicht vor ihrem Tod zur wahren Religion bekehrten, stracks in die Hölle kämen. Als die Kirche solche Ungeheuerlichkeiten proklamierte, war sie wirklich die Kirche. Eine Institution ist nur lebendig und stark, wenn sie alles verwirft, was nicht sie ist. Unglücklicherweise gilt das gleiche für eine Nation, für ein Regime.“²⁰⁸ Kehren wir zurück zur Rede des päpstlichen Nuntius Hieronymus Aleander. Nach dem dreifach gestuften Einleitungsteil, der insbesondere die weltlichen Mitglieder des Reichstags bei ihren Machtinteressen packen sollte, folgt der Hauptteil. Er konzentriert sich zunächst ganz auf die theologische und kirchenrechtliche Problematik der Luther-Sache. Ziel ist es, das kirchliche Ketzerurteil, das ja die weltliche Exekution mit aller Härte nach sich ziehen soll, für die weltlichen Vertreter der Macht plausibel zu machen. Da nur wenige Theologen vom Fach im Saal sind und selbst viele Kirchenfürsten zu dieser Zeit wenig Ahnung von Theologie haben, ist diese Aufgabe nicht ganz leicht. So beginnt Aleander mit einer Überleitung und vorangestellten Ankündigung, die aber in einem einzigen Satz die entscheidende Generalbewertung liefert, unter die alles Folgende subsumiert werden soll. Diese vorangestellte Summe erlaubt dann selbst den wenigen lateinkundigen Hörern, sich mental aus dem Fortgang der stundenlangen Suada auszuschalten. Diese im zwölften Abschnitt vorangestellte Quintessenz Aleanders lautet: „Nun mögen doch Euer kaiserliche Majestät auch etliche jener Punkte hören, die Martinus Luther vor kurzem geschrieben hat und die allein schon würdig wären, dass man hunderttausend Ketzer deswegen verbrannte.“²⁰⁹ Damit ist das Urteil letztlich formuliert: Tod durch Verbrennen.Was jetzt folgt, ist eine erste Argumentationsreihe (Argumentatio I in den Absätzen 13 bis 23) mit zahlreichen Einzelbeweisen, die die Schuldvermutung untermauern sollen. Aleander beginnt an dieser Stelle, ein weiteres von der klassischen Rhetorik empfohlenes Modell abzuarbeiten. Es handelt sich um die vier Statusfragen, die helfen sollen, in der Gerichtsrede die juristische Lage zu klären.²¹⁰ Am Anfang haben wir es mit dem Vermutungsstatus zu tun (status coniecturalis) und dabei lautet die Frage: Liegt überhaupt eine verdammungswürdige Tat vor oder kann sie geleugnet werden? Aleander fällt die Antwort nicht schwer, denn Luthers „Irrtümer sind so öffentlich geworden und durch ihn selbst täglich immer weiter ausgebreitet
Cioran 1979, S. 114. RA 2, S. 499, Z. 27– 29. Lausberg 1990, § 91.
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worden“ (so heißt es schon im 5. Absatz), dass jeder Ankläger zahlreiche Beweise vorlegen kann.²¹¹ Im Einzelnen zitiert Aleander nun Stellen aus aktuellen Publikationen Luthers, aus der ‚Assertio‘ (‚Grund und Ursach aller Artikel‘), aus der ‚Babylonischen Gefangenschaft‘, aus der Schrift über den ‚Freien Willen‘ und aus weiteren Texten. Dabei konzentriert er sich auf jene spektakulären Aussagen Luthers, die geeignet sind, bei vielen Reichstagsteilnehmern Kopfschütteln hervorzurufen, weil sie die gängigsten Glaubensinhalte betreffen und daher bei Laien Verwunderung auszulösen vermögen. Aleander hat leichtes Spiel, denn er kann in jeder zitierten Schrift Beweise der Tat finden. Am Ende ist die Beweislage erdrückend: Luther weicht massiv von der herrschenden Lehre ab. Alles, was bisher als hoch und heilig galt, wird in Frage gestellt. Keine päpstliche Amtsgewalt mehr, kein Fegefeuer mehr, keine Engel mehr, keine Priester mehr, keine Mönchsorden mehr, keine Kultzeremonien mehr, keine Heiligen und auch keine Konzilien mehr. Und da Luther sich als Anhänger des in Konstanz verurteilten Ketzers Wycliff darstellt, steht für Aleander auch außer Frage, dass mit der Sakramentenlehre sogar das Heiligste des Heiligen angetastet wird. Der Redner kann es nicht fassen. Er bricht in einen rhetorisch gut kalkulierten Gefühlsausbruch aus, der die Dramatik der Lage gerade bei diesem Punkt unterstreichen soll. Die kursächsischen Sekretäre protokollieren alles genau: „Du gütiger Gott, welch eine große Lästerung und Blasphemie ist dies gegen dich! Hiermit beleidigt und verletzt Martinus Luther Gott im Himmel. Soll es denn auch noch dazu kommen, das wir nun zu zweifeln beginnen, wie und ob Gott realiter im Altarsakrament zugegen ist?“ Aleander ist außer sich. Das zumindest verstehen die Anwesenden, aber nur aufgrund des performativen Verhaltens unseres Redners. Den vorgetragenen lateinischen Redetext selbst verstehen sie ja mehrheitlich nicht und können ihn erst später in Schriftform als Übersetzung zur Kenntnis nehmen. Aleander nutzt diese Beweisführung, um bei den einzelnen Punkten deutlich zu machen, dass Luther nicht nur theologisch abweicht, sondern dabei auch betrügerische oder doch fragwürdige Methoden anwendet. Luther habe sich in den letzten Jahren selbst in seinen Positionsbestimmungen widersprochen. Inzwischen bekenne er sich sogar öffentlich zu den Ketzern John Wycliff und Jan Hus, und er lehne das Ergebnis des Konstanzer Konzils in vielen Punkten rundweg ab, nenne es gar einen „Auswurf des Teufels (sentinam diaboli)“. – „Was für eine große Verstockung!“ Wieder eine empörte Exklamation, die sich so in der Nachschrift findet. Wer nicht nachgeben will und auf seiner Meinung beharrt, wird zu dieser Zeit als ‚verstockt‘, als so hart wie ein Stock, bezeichnet. Diese Adjektiv-
RA 2, S. 498, Z. 3 – 12.
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metapher kennt später auch die protestantische Rhetorik nur zu gut. Im Fortgang seiner Rede ergänzt Aleander seine Feststellungen um die Tatsachenbehauptung, dass Luther nachweislich falsche Angaben zu den theologischen Haltungen der griechischen Ostkirche mache oder sich gar auf heidnische Texte beziehe, um gegen die Zeremonien der Kirche zu wettern.
Abb. 11: Kämpfende Hunde. Holzschnitt als Schlussvignette in Martin Luther: Von der Babylonischen gefengknuß der Kirchen/ Doctor Martin Luthers. [Übersetzt von Thomas Murner.] Straßburg, Johann Schott, 1520, Bl. 72v (= VD16 L 4194).
Die Fülle der Beweise aus Luthers Schriften kann Aleander nicht in der vorangegangenen Nacht beschafft haben, in der er seine Rede schrieb. Es ist offensichtlich, dass die klerikalrömischen Inquisitionshelfer des Sondergesandten Aleander schon lange sorgfältig recherchieren und ein genaues Luther-Dossier angelegt haben. Luther wird sich im April bei seinem ersten Verhör wundern, dass alle seine Schriften in Worms vorliegen. Das Zitate-Dossier Aleanders enthält offenkundig nicht nur die für eine Anklage verwendbaren Resultate der akribischen Lektüre aller neueren Luther-Schriften, sondern auch weitergehende Überlegungen für Zwecke der Anklage. So kann Aleander beim Thema Zeremonien
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als Frucht humanistischer Studien auf die Tatsache verweisen, dass Melanchthon in Wittenberg den rituskritischen heidnischen Text ‚Hercules Gallicus‘ von Lukian herausgegeben hat.²¹² Freilich ist dann der angedeutete Versuch, von diesem Text aus eine Brücke zu Luthers Zeremonienkritik zu bauen, spekulativ. Etwas beweiskräftiger ist es,wenn Aleander gegen Luther bei seinen Bemerkungen über die Anerkennung des römischen Primats durch die orthodoxe Ostkirche auf eine Bulle des Konzils von Florenz aus dem Jahr 1439 verweist, an dem der byzantinische Kaiser Johannes Paleologus zustimmend teilgenommen hatte. Die entsprechende Quelle hatten Aleanders Leute zuvor im Archiv der Wormser Kirche gefunden, sodass sie der Nuntius schon im Dezember 1520 dem verblüfften deutschen Hofrat präsentieren konnte.²¹³ Die Recherchen des Inquisitionsteams gehen sogar so weit, die Aufmachung der Druckausgaben von Lutherschriften zu analysieren, um verdächtige Beobachtungen instrumentalisieren zu können. Als Aleander im 20. Absatz den Beweis antritt, Luther wolle das bestehende Klerikersystem vernichten, zitiert er zunächst aus der Schrift ‚Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche‘. Dann aber verweist er auf einen deutschsprachigen Straßburger Nachdruck dieser Schrift.²¹⁴ Man habe, sagt Aleander, „ans Ende dieses Buchs zwei Hunde gedruckt, die die Priester und die Laien bedeuten; und der Sinn und Zweck, dass sich die beiden Hunde ineinander verbeißen, ist es, dass die Priester und Laien ebenso handeln sollen“.²¹⁵ Über dem erwähnten Holzschnitt steht ein ambiger Vierzeiler, der sich immerhin mit dem Thema Gewalt beschäftigt (Abb. 11):²¹⁶ Mit Gewalt man Gewalt vertreiben soll Das sieht man an den Hunden wohl. Vernunft bei Gewalt hat keinen Platz. Christus macht Frieden, der Teufel Hatz.
Mit dieser Art von Evidenz nähert sich Aleander wieder der Interessensebene seines Publikums an. Er weiß, dass er den Reichstag nicht zu sehr mit theologischen Erörterungen bedrängen darf, wenn seine Rede Wirkung haben soll. Darum mischt er die Fakten und kommt mit solchen Anspielungen auch hier wieder zurück zur Machtfrage, die sich stellt, wenn die Ordnung in Gefahr gerät. Diesmal E Luciano Hercules Gallicus. Ex Thucydide. Oratio quaedam contra leges. Mit einer Widmung von Philipp Melanchthon. Wittenberg, Melchior Lotter (der Jüngere), ca. 1520. Ex. Karlsruhe BadischeLB. Vgl. Panzer 1801, S. 100, Nr. 320. vgl. RA 2, S. 503 Anm. 1. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 3, 17. Dezember 1520), S. 53. Luther: Babylonische Gefangenschaft; wie Abb. 11. RA 2, S. 502, Z. 22– 31. Luther: Babylonische Gefangenschaft (wie Abb. 11); Schlussblatt.
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soll klar werden: Luther schürt eine Art Bürgerkrieg, will einzelne Gruppen der Gesellschaft gegeneinander aufbringen und am Ende die Kleriker, die das Bildungs-, Psycho- und Seelsorgesystem tragen, vernichten. Politik und Recht müssen und sollen da hellhörig werden. Arbeitet Aleander bei solchen Ausführungen zu Randphänomenen des Protests mit parteiischen Unterstellungen? Der Nuntius rechnet mit dieser Frage, legt aus diesem Grund weitere Beweise vor und holt damit noch einmal zu einem Tiefschlag gegen Luther aus. Den ersten Beweis zieht Aleander nun im 22. Absatz aus Luthers Reaktion auf eine Schrift des päpstlichen Hoftheologen Prierias (‚Epitoma responsionis‘) aus dem Jahr 1520.²¹⁷ Tatsächlich belegt ein Brief an Spalatin (den Aleander natürlich nicht kennt), dass Luther äußerst aufgebracht über Prierias war. „Ich meine, sie sind in Rom alle toll, töricht, wütend, unsinnig, Narren, Stock, Stein, Hölle und Teufel worden“, schreibt Luther über den Text.²¹⁸ Er gibt die gegnerische Schrift selbst mit einer zornigen Epistel an die Leser heraus, in der er Prierias nicht nur ein „Werkzeug des Satans (Satanae organum)“ nennt, sondern sich auch etwas leichtsinnig zu missverständlichen Formulierungen über den Umgang mit solchen römischen Klerikern unter Verwendung eines Psalmverses hinreißen lässt.²¹⁹ Nicht nur unter den Zeitgenossen, sondern auch in der Lutherforschung hat das dem Reformator Kritik eingetragen. Manche sprachen in deutlicher Übertreibung vom beabsichtigten „Religionskriege“ und von den „Mordgedanken“ am Anfang der Reformation.²²⁰ Luther selbst hat sein ‚Blutwort‘ bald bereut und zurückgenommen. In der Wormser Redeszene des 13. Februars 1521 ist es für Aleander jedoch ein weiteres Beweisstück: „Ebenso hat der genannte Martinus Luther in einer Epistel geraten, dass man die Hände im Blut der Pfaffen waschen soll.²²¹ Das sollten diejenigen bedenken, die es mit betrifft, worin seine innere Haltung und sein Meinung besteht.“²²² Der letzte Satz war nicht zuletzt auch an Luthers Landesherrn gerichtet. Und Aleander hat sich wohl nicht einmal im Traum vorgestellt, welche irritierende Wirkung diese Ermahnung und der Hinweis auf Luthers Blutwort dann tatsächlich auch auf Friedrich den Weisen hatte. Davon wird später noch die Rede sein.
RA 2, S. 503, Z. 5 – 16. WA Werke 6, S. 325 f. WA Werke 6, S. 347; Kalkoff 1922, S. 223 f. Kalkoff 1920, S. 15 – 17. Luther: „manus nostras in sanguine istorum lavamus“ WA Werke 6, S. 347, Z. 25 f.; Historische Vierteljahrschrift 1916/18, S. 272. RA II, S. 503, Z. 5 – 7.
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Im Fortgang der Rede führt der Nuntius jetzt noch einen anderen Beweis zu einem weiteren Tatbestand. Dabei rekurriert er auf Luthers frühe Schriften, in denen dieser noch eine gemäßigte Haltung gegenüber der Todesstrafe einnahm. Aleander: „Ebenso versündigt er sich gegenüber allen, die Gericht halten. Denn der genannte Luther sagt, dass man keinen Menschen ohne Todsünde mit der Todesstrafe belegen dürfe. Man bedenke, was das für anmaßende Worte des Martinus Luther sind, wenn er sagt, dass die weltlichen Richter das Recht nicht ohne Vorhandensein einer Todsünde durchsetzen können! Viele würden zu Verbrechern werden, wenn man das glauben und sich daran halten müsste.“ Damit wirft der Redner dem Wittenberger vor, mit seinen Rechtsvorstellungen nicht nur gegen die geltenden Normen zu verstoßen, sondern sich als Mönch auch noch in die weltliche Gerichtsbarkeit einzumischen. Aleander kann sich sicher sein, dass solch ein Vorwurf von denjenigen Mitgliedern des Reichstags mit Unbehagen aufgenommen wird, denen es ja gerade darum geht, den Einfluss von Klerikern zurückzudrängen und eine Trennung von Staat und Kirche, wie wir heute sagen würden, zu befördern. Die von Aleander angesprochene Todesstrafen-Problematik darf man nicht als Bestandteil einer Diskussion um humanitäre Fragen sehen, wie wir heute sagen würden, oder gar als Diskussion über irgendwelche Humanitätskonzepte, die in der Renaissance durchaus schon aufgekommen waren. Aleander war vielleicht nicht fromm, doch ein gebildeter Humanist im Sinne seiner Zeit, was nicht bedeutet, dass er auch ein Vertreter der neuzeitlichen Humanitätsidee war; Luther war vielleicht kein Humanist im engeren Sinn seiner Zeit, doch fromm. Der homo mensura-Satz jedoch war beiden Männern innerlich fremd, nach dem der Mensch das Maß aller Dinge und darum das unverletzliche höchste Gut auf Erden ist. Beide glaubten sie nur an den christlichen Gott als höchstes Gut auch auf Erden, und beide waren, bildlich gesprochen, bereit, auf dessen Altar im Kampf um die gute Sache Menschen zu opfern, wenn es sein musste und wenn man damit ihrer Meinung nach gegen den Teufel vorgehen konnte. 1518 hatte Luther im Zusammenhang mit seinem eigenen Ketzerprozessverfahren an Jan Hus erinnert und die Todesstrafe für religiöse Abweichler noch mit Blick auf sich selbst kategorisch abgelehnt. Der Verlauf der weiteren Entwicklung belehrte ihn aber offensichtlich eines Besseren. Als Luther selbst vom System des Protests in das System einer neuen Macht zu wechseln begann, änderte er seine Haltung. „Als erster unter den Wittenberger Reformatoren sah Melanchthon 1531 bei Irrlehre die Todesstrafe legitimiert. Nach den Schrecken, die das Täuferreich zu Münster verbreitet hatte, bezog auch Luther die von Melanchthon vertretene Position.“²²³
Beutel 2013, S. 48 f.
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Zurück zu Aleanders Anklagerede. Er geht im Schlussteil zu einer zweiten Argumentationsreihe über (Argumentatio II in den Absätzen 24 bis 27). Dabei bezieht er sich weiterhin stillschweigend auf die rhetorische Statuslehre und handelt dementsprechend jetzt die rechtlichen Feststellungen zum zweiten und dritten Status ab, also zum Qualitätsstatus und zum Definitionsstatus. Hier lauten die Fragen, ob die Tat aufgrund ihrer Eigenart (Qualität) verteidigt werden kann und welchen Namen man ihr zu geben hat.²²⁴ Aleander inszeniert den Übergang zu diesem wichtigen Redeteil als Zäsur, indem er eine kleine Sprechpause macht und dann den Kaiser noch einmal mit seinem wichtigsten Ehrwort anredet („allerunüberwindlichster Kaiser“). Dann fährt er im Sinne der zweiten Statusfrage, ob man die Tat verteidigen könne, mit der Bemerkung fort, es gebe in der Tat „etliche“, die Luther „zustimmen und sagen, dass er die evangelische Wahrheit sage und schreibe und seine Worte mit starken Gründen aus der Heiligen Schrift bekräftige.“ Doch was ist von solch einer Verteidigung zu halten? Der Reichstag habe sich doch inzwischen selbst eine Meinung bilden können. „Ob Martinus Luther in den vorgetragenen Punkten die evangelische Wahrheit gesagt hat, das erkennen Eure Kaiserliche Majestät und die anwesenden Kurfürsten, Fürsten und Stände selbst. Denn wenn er auch zuweilen Zitate aus der Schrift bringt, um seine ketzerische Meinung damit zu bekräftigen, so führt er diese doch immer nur in einem anderen Sinn an als ihn die heiligen Väter vorgegeben haben und die heilige Mutter der Christenheit aufgenommen, rezipiert und eingehalten hat. Das ist die Methode der Ketzer, dass sie ihre falschen Lehren mit der Schrift belegen wollen, denn der Teufel kann den Menschen nicht besser als unter dem Aussehen von etwas Gutem und in der Gestalt des Guten (sub specie boni) betrügen. So machen es auch die Ketzer.“ Damit sind die Qualitätsund die Definitionsfrage zugleich erledigt. Man kann Luthers Taten nicht mit Recht verteidigen, weil er sich typisch ketzerischer Methoden bedient und sein Handeln bekommt dementsprechend den gerichtsnotorisch richtigen Namen: Ketzerei. Was diese Status angeht, ist alles gesagt. Doch Aleander belässt es nicht bei dieser einen Festlegung. Er variiert das soeben Gesagte noch durch vier weitere Untergliederungspunkte. In der Rhetorik spricht man hier vom Redeteil der Divisio oder Partitio.²²⁵ Einer dieser weiteren Punkte ist Luthers Leumund. Die Verteidiger Luthers verweisen auf sein untadeliges Leben, das als Bürgschaft für seine Redlichkeit gelten könne. Aleander gibt zu bedenken: „Wie gesagt, wenn der Teufel die Leute verführen will, so muss er das tun unter der Gestalt des Guten (sub specie boni). Ich will seine Lebensführung
Quintilian: Inst., III, 10, 5. Rhetorica ad Herennium IV.XL.52; Riederer: Spiegel, S. 146 f.
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nicht kritisieren. Man findet aber beim heiligen Hieronymus, in seinen und in den Schriften anderer, dass die Ketzer immer die größten Betrüger und Heuchler gewesen sind, aber im Innern reißende Wölfe.“ Das ist aus heutiger Sicht kein besonders originelles oder wirklich schlagendes Argument, denn auch Luther spricht so über seine Gegner. Wenn man den Teufel aus der Tasche zieht, hört das rationale Argumentieren zwar auf, doch die Zeitgenossen hat das Teufelsargument offenkundig überzeugt. Andernfalls hätten beide Seiten es nicht so oft als typischen Topos des Theologendiskurses der Zeit eingesetzt. Ein Topos aber ist ein Allgemeinplatz, den beide Parteien in ihren Begründungen verwenden können. Einwirkung des Teufels wird damit als argumentativer Topos ein Passepartout, wenn einem die Argumente ausgehen. Viel wichtiger ist ein Argument, das Aleander im Zusammenhang mit seiner Diskussion über den guten Leumund Luthers anschließend bringt: „Wenn sich Luther verhalten wollte, wie es sich für einen frommen Mann und Christen geziemt, so sollte er nicht mehr wissen wollen als die heiligen Väter und die Mutter der Christenheit bis jetzt gewusst und eingehalten haben.“ Aus der Perspektive der Macht heraus wird Luther an dieser Stelle einfach als Abweichler hingestellt, was er auch ist. Wir nachgeborenen Beobachter zweiter Ordnung fragen uns dabei, welche Rolle jemand wie Aleander in seiner Position dem Protest bei wohlwollender Prüfung auf Grundlage seiner eigenen, in tausend Jahren gewachsenen Axiomatik überhaupt einräumen kann. Aleanders Gegenrede thematisiert das sehr ernste, im Raum stehende methodische Hauptproblem der Kontroverse: Welche Legitimation hat der individuelle Protest, wenn er öffentlich wird? Ist Traditionswissen nicht dem individuellen Wissen überlegen? Ist Luther nicht ein idiosynkratisch interpretierender Sonderling? Warum sollte man ihm als einzelnem Interpreten der Schrift mehr glauben als der Menge der anderen Fachleute? Luther will ganz auf die einzige authentische Quelle des Glaubens setzen, auf die Bibel. Rom setzt vor allem auf die ungebrochenen Traditionen, innerhalb derer die Schriftüberlieferung zwar die Hauptkomponente ist, die sich aber zugleich, so die feste Überzeugung, mit den petrinischen Gründungsmythen der Kirche Roms verbinden. Aleander setzt mit dem Rechtsverständnis jedes Vertreters der Macht in dieser Welt auf das Faktische und seine normative Kraft. Kann es denn sein, fragt er sich unter seinen Voraussetzungen zu Recht, dass Gott die Welt 1500 Jahre bis zu Luthers Erscheinen im Irrtum und teuflisch gelenkt unter dem Namen Christentum hat leben lassen? Jede gegenteilige Behauptung kann doch ihrerseits nur vom Teufel stammen. Als nachgeborener neutraler Beobachter kann man solche Überlegungen zumindest aus logischen Gründen durchaus verstehen. Wenn Luther postuliert, dass die Kirche bis zu ihm (also seit tausend Jahren und mehr) in der Hand eines Betrügergottes war, den der Philo-
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soph René Descartes hundert Jahre später deus deceptor bezeichnen wird und den Luther zu seiner Zeit einfach Teufel nennt, dann lässt das erkenntnistheoretisch nicht gerade hoffen. Beobachter, die nicht zu einer der Glaubensparteien gehören, müssen sich nämlich fragen, woher man wissen kann, von welcher der beiden postulierten Inspirationsquellen der Wittenberger Mönch denn nun seinerseits gelenkt wurde. Wir können daher Aleanders Anfrage verstehen, die sinngemäß lautet, ob nicht auch Luther einem deus deceptor zum Opfer gefallen sein könnte. Die Sache bleibt für (religiös nicht auf eine Seite festgelegte Beobachter) unentscheidbar. Könnten wir Luther heute zu diesem Punkt befragen,würde er uns wohl sagen, dass er solche Skepsis bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen kann. Daher bietet er ja als Ausweg methodisch den alleinigen Rekurs auf die seiner Meinung nach einzig objektive Erkenntnisquelle, die Schrift, an. Davon wird später noch ausführlich die Rede sein. Aleander jedenfalls schließt im weiteren Verlauf seiner Anklagerede an solche Gedankengänge einen weiteren Untergliederungspunkt an, der in der These mündet, dass man Luther nicht schonen dürfe, nur weil in seinen Schriften auch gute Dinge gesagt würden. Er beendet diesen Argumentationsstrang, indem er – seiner Linie treu bleibend – noch ein weiteres Mal an den Instinkt der Macht appelliert. Ohne Umschweife spricht er jetzt das Phänomen Protest an und bewertet es. Es resultiere aus Luthers Abweichler- und Einzelgängertum und ziehe verheerende soziale und politische Konsequenzen nach sich. Dabei ist zu bedenken, dass Aleander an dieser Stelle und zu dieser Stunde im Februar 1521 noch in die Diskussion über ein freies Geleit für Luther eingreifen möchte, der ja erst im April kommen wird. Er verschiebt daher den Fokus wieder in Richtung ordnungspolitischer Fragestellungen, hin zu den Themen Aufruhr und Ungehorsam. Es gebe etliche, die „sagen und raten, dass man Martinus Luther anhören und ihm dazu freies Geleit geben soll, denn sonst gebe es einen Aufstand im Volk. Allergroßmächtigster Kaiser, wie soll man sich einen anhören, der öffentlich bekundet (protestirt), dass er keine Weisungen annehme, selbst wenn ihm die Engel vom Himmel etwas anderes sagten; und der auch in seinen Schriften sagt, er begehre exkommuniziert zu werden.“ Zweifellos beschreibt Aleander hier Luthers exzentrische Protest-Position aus Sicht der Macht sehr genau. Luther sei renitent gewesen, fährt Aleander fort, habe sich geweigert, die päpstlichen Versöhnungsversuche zu akzeptieren, die auch mit einer sicheren Geleitszusage versehen gewesen seien, wie man der entsprechenden Bulle entnehmen könne. Aus der unbestreitbaren Tatsache, dass sich Luthers theologische Theorien erst nach und nach entwickelt haben und dabei auch veraltete Standpunkte über Bord geworfen werden mussten, macht Aleander aus seiner auf Konstanz und Absolutheit setzenden Sicht eine Strategie der bedenkenlosen Widersprüchlichkeit, der es nur
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um Abweichung um jeden Preis gehe. Zur „Stärkung seines Mutwillens und aufrührerischen Vorhabens“ habe Luther zunächst ans Konzil appelliert, um das römische Angebot nicht annehmen zu müssen. Doch „des Konzils Beschlüsse kann er auch nicht leiden, denn er verwirft und verachtet alle Verordnungen der heiligen Konzilien, spricht öffentlich davon, dass das Konzil zu Konstanz dem Johannes Hus und dem Hieronymus von Prag Unrecht getan habe. Allergroßmächtigster Kaiser, Eure Majestät, auch den Kurfürsten und Fürsten, geistlich und weltlich, gebührt es und steht es zu, diese Schmach, die euren Vorfahren und Vorgängern durch Martinus Luther dadurch auferlegt wird, abzuwenden und abzuwehren. Daher möcht ich doch gern wissen, wer ihn jetzt noch hören oder in dieser Sache Richter sein möchte.“ Der in solcher Weise emphatisch vorgetragene Versuch, Luther von Worms fernzuhalten und ihm kein freies Geleit zu geben, ist – wie wir längst wissen – in den folgenden Wochen durch das diplomatische Geschick der Kursachsen vereitelt worden. Aleanders Rede geht nun langsam ihrem Schluss entgegen. Im Abschnitt 28 handelt er zunächst noch den vierten, den Translationsstatus ab. Hier geht es um die Frage, ob die Verhandlungsform aufgrund der Qualität der Tat zurückgewiesen werden kann, soll heißen: ob überhaupt das zuständige Gericht gewählt wurde. Aleander bekräftig den bekannten Rechtsstandpunkt der Kirche, dass Luthers Taten nach ihrer Qualität nur vor das geistliche Gericht Roms gehören. Der Kaiser wisse ja, dass ihm in Glaubenssachen kein Urteil zustehe. Sie auch noch vor deutschen Theologen und kirchlichen Amtsträgern verhandeln zu wollen (was Luther anstrebte), sei angesichts der Protesthaltung Luthers aussichtslos. Im Abschnitt 29 wird der Kaiser dann aufgefordert, Luthers Bücher im Reich einziehen und verbrennen zu lassen.²²⁶ Mit dem später vom kaiserlichen Kanzler Gattinara veranlassten, sogenannten Sequestrationsmandat wurde diesem Antrag entsprochen. Am Schluss der Rede stellt Aleander sonst keine weitergehenden formellen Anträge zum Gesamtverfahren, zumal zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht klar ist, ob und wie man Luther nach Worms zitiert. Spätestens an dieser Stelle wird uns klar, warum Luther wenige Monate vorher, als sich der Reichstag schon abzeichnete, die Kirchenrechtsbücher, also die ‚Dekretalen‘ Gregors IX., das ‚Dekret‘ Gratians usw. verbrennen musste. Es war zu erwarten, dass sich Aleander in Worms vor den anwesenden Vertretern der weltlichen Macht auf den geltenden Rechtsstandpunkt beziehen würde. Und in der Tat wurden die Fürsten durch Aleanders klaren Schuldnachweis verunsichert, wie sich aus den nachfolgenden Debatten ergibt. Nach geltendem Recht, das bisher noch niemand angezweifelt hatte, war Luther als Kirchenfeind auch ein ‚Staats-
RA 2, S. 506, Z. 20 – 33.
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feind‘, um hier einmal diesen modernen Ausdruck zu benutzen. Sein Protest war kriminell, um es noch deutlicher zu sagen. Aleanders Beweisführungen waren nicht von der Hand zu weisen. Und genau darum musste Luther vorbauen: Er selbst sorgte für ein Fanal, das die alte Rechtsordnung umzuwerfen beabsichtigte. Sein Argument: Der Glaube kann sich nicht mit der Mauer eines weltlichen Rechtssystems umgeben. So lässt sich die Beziehung des Menschen zu seinem Gott nicht organisieren. Darum muss dieses ganze kirchliche Rechtssystem als teuflisch markiert und seine Kodifizierung symbolisch verbrannt werden. Als Aleander spricht, stützt er sich also auf Normen und Paragraphen, die auf Seiten des Protests schon vernichtet waren, genauer gesagt: die ein Wittenberger Theologe textlich argumentativ und medial symbolisch im Feuer vernichtet hatte. Wie sollten sich angesichts dessen die Fürsten und Stände verhalten? Man kann eine gewisse Ratlosigkeit verstehen. Zugleich wird uns klar, was für eine charismatische Figur Luther zu dieser Zeit bereits aus sich gemacht hatte, einen potenziellen Vertreter des charismatischen Machttyps im Sinne Max Webers, der zwar im Moment noch unter der Fahne des Protests segelte, sich dennoch schon traute, auf unerhörte Weise mit geltendem Recht und Gesetz umzugehen. Insofern hat man ihm nicht zu Unrecht die Rolle eines Propheten zugeschrieben. Aleander bezieht sich also auf eine Rechtsgrundlage, deren Boden man ihm in Wittenberg schon unter den Füßen wegzuziehen versucht hatte. Wieder zurück zur Aschermittwochsrede. Ihr letzter Absatz ist völlig ungewöhnlich und ein bemerkenswerter Epilog in eigener Sache.²²⁷ Er ist eine direkte Replik auf den wenige Monate zuvor, im Oktober oder November 1520, erschienenen ‚Anti-Aleander‘, der den Nuntius um seine Reputation bringen sollte und ihn offenkundig persönlich zutiefst verletzte. Aleander reiht Luther nun ebenfalls in die Reihe der Verleumder ein, wendet sich zugleich gegen den Antisemitismus als solchen und gibt aus diesem Grund vor dem gesamten Reichstag Folgendes zu Protokoll: „Wiewohl Martinus Luther und andere meiner Person böswillig unterstellt haben, ich sei ein geborener Jude, allmächtiger Gott, so sind doch viele redliche Leute hier, die mich und mein Geschlecht kennen; und ich vermag wahrhaftig zu sagen, dass meine Vorfahren Markgrafen zu Ysterstein in Istrien gewesen sind. Dass meine Eltern heute arm geworden sind, das muss ich dem Schicksal zuschreiben. Ich habe dann meine Abstammung in einer Weise nachgewiesen, dass ich als Kanonicus in Lüttich angenommen wurde, was nicht geschehen wäre, wäre ich nicht von vornehmem oder hervorragendem Geschlecht (ex illustri vel spectabili prosapia). Und selbst wenn ich ein geborener Jude und
RA 2, S. 506, Z. 34 f. u. S. 507, Z. 1– 9.
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getauft worden wäre, so wäre ich trotzdem nicht verachtenswert; denn Christus und seine Apostel sind auch aus den Juden geboren.“ Damit endet die kursächsische Mitschrift der Rede Aleanders. Sein Auftritt war als solcher von hohem symbolischen und politischen Gewicht, weil er zu Recht als Manifestation des gewissermaßen konstitutionell verankerten Anspruchs der Kirche im Machtkartell verstanden wurde. Noch glaubten die Vertreter der alten Machtordnung im Reich, dass sich nichts verändert habe. Der Nuntius trat in die Rolle des Anklägers, wie es vom Kaiser gewünscht war. Ansonsten lässt sich sein Habitus weniger mit dem Begriff Arroganz der Macht, sondern eher mit dem Begriff unhinterfragter Selbstverständlichkeit der etablierten Macht fassen. Keine Sekunde lang stellt er die bestehende Ordnung in Frage, durchgängig aber den Protest als deren Feind. Man muss Aleander eines zugestehen: Auch er kämpft um die religiöse Wahrheit. Auch Aleander hofft auf seinen Gott wie so viele vor und nach ihm, die in Kriegen auf ihren Gürtel „Gott mit uns“ schrieben und dabei dem großen Irrtum unterlagen, dass dieser Gott nur für sie und nicht auch für die anderen Verständnis habe. Aleanders Rede war ein voller Erfolg, wenn sie mittel- und langfristig auch nicht den Sieg über den Protest mit sich brachte. Wie ist das zu verstehen? Aleander verfolgte mit seiner Rede in Worms drei konkrete Ziele. Er wollte in die Diskussion um Luther mit einem klaren Standpunkt eingreifen, die römische Rechtsposition klar machen und die Debatte, wenn nicht in seine Richtung, so doch auch nicht länger ohne Weiteres in Luthers Richtung laufen lassen. Das ist ihm gelungen. Aleander wollte zweitens seine Politik der Schriftenvernichtung und damit Ausmerzung von Luthers Gedankengut auf Reichsebene durchsetzen; er stellte am Schluss einen entsprechenden Antrag. Das ist ihm mit dem wenig später verhängten Sequestrationsmandat ebenfalls gelungen. Bleibt noch das dritte und wichtigste Anliegen: Aleander wollte das Edikt. Auch das gelang. Am Ende des Reichstags verhängte der Kaiser die Reichsacht über Luther, freilich ohne ausdrückliche Zustimmung der Stände, denn da waren die meisten Fürsten schon abgereist. Das Edikt erklärte Martin Luther für vogelfrei und der Vernichtung preisgegeben. Dass diese Maßnahme in weiten Teilen des Reiches wirkungslos blieb und Luther schließlich als moralischer und in einem gewissen Sinn auch als historischer Sieger aus den Wormser Ereignissen hervorging, zeigte sich erst später.Vordergründig schien sich Rom beim Abschluss des Reichstags im Mai 1521 auf der ganzen Linie durchgesetzt zu haben. Man kann mit Blick auf die beiden Hauptprotagonisten von einem paradoxen Ergebnis sprechen. Für den Kaiser hatte der Reichstag mittelfristig gesehen den Charakter des misslungenen Gelingens, für Luther den des gelungenen Misslingens. Die römische Wunschlösung wäre die radikale Umsetzung des Konstanzer Ketzer-Verbrennungs-Modells gewesen. Es ist also kein Zufall, dass Aleander
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dreimal in seiner Rede den Namen Jan Hus aufruft und ihn als Typus aller gegenwärtigen Ketzerei darstellt. Für das lange Gedächtnis der Kirche war der Fall Hus durchaus noch aktuell und die Böhmischen Brüder trieben ja aus Sicht Roms immer noch ihr Unwesen. Dass sich die politischen Verhältnisse in Deutschland beschleunigt verändert hatten und eine völlig neue kulturelle und gesellschaftliche Lage eingetreten war, entzog sich der Analyse Roms völlig. Rom denkt anders; in anderen Zeitdimensionen. Immerhin stellte Aleander keinen förmlichen Antrag auf Verbrennung Luthers nach dem Konstanz-Verfahren, denn dies hätte bedeutet, Luther nach Worms locken und dann verhaften zu müssen. Hätte der Nuntius solch ein Vorgehen in seiner Rede explizit gefordert, wäre Luther nie in Worms erschienen. Als Vertreter der Kirche hätte Aleander zugleich den Makel von Konstanz, den Betrug und Wortbruch eines Kaisers, zu fordern gehabt. So etwas war aber natürlich öffentlich ausgeschlossen. Das konnte man nur geheim im kaiserlichen Rat diskutieren. So kommt es zu der ebenfalls paradoxen Konstellation, dass Aleander den Reformator von Worms fernhalten will (in letzter Minute im April dann noch mit dem geplanten, jedoch gescheiterten Ebernburg-Coup), während Luther selbst im vollen Bewusstsein der Gefahr zum öffentlichen Manifest nach Worms drängt. Aleander sah voraus, dass Luther angesichts der Machtkonstellation im Reich und angesichts des antirömischen Klimas in Worms nur gewinnen konnte. Ein unbeschadeter Auftritt vor dem Reichstag in Worms wäre von höchster symbolischer Kraft, ja, historischer Bedeutung und in den Folgen unberechenbar. Der erfahrene Aleander ahnte diese Folgen. Daher musste der päpstliche Plan darin bestehen, Luther nicht auftreten zu lassen und ihn erst später mit Hilfe des Vernichtungsedikts zur Rechenschaft zu ziehen. Die kirchen- und gewohnheitsrechtliche Begründung für Luthers Vernichtung hatte Aleander schon jetzt in seiner Rede ohne Umschweife geliefert, auch wenn er daran anschließend und rein formal nur den Antrag auf Bücherverbrennung stellte. Das konkrete weitere Vorgehen gegen Luther war ja Anfang Februar noch in der Diskussion. Im 26. Abschnitt seiner Rede bemüht Aleander zur Rechtfertigung des geplanten Vorgehens bemerkenswerterweise nicht das Kirchenrecht, was vor dem Reichstag schlecht angekommen wäre, sondern das alte kaiserliche Recht, das er mit einem historisch-gewohnheitsrechtlichen Nachweis verbindet. Für die Regierung bleibt da nach Aleanders Auffassung eigentlich nichts mehr offen, sie muss Rom folgen: „Es ist keine neue Art zu Handeln, dass man die Ketzer und ihre Bücher verbrennt; denn man findet in den alten kaiserlichen Rechten, dass auch die Kaiser Archadius, Theodosius, Valencius und mehrere andere vor vielen hundert Jahren angeordnet haben, dass man die Bücher der Ketzer verbrennen und die Ketzer selbst strafen soll. Dies ist ebenso bei uns seit etlichen hundert
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Jahren die Gewohnheit und folglich hergebracht, wie man in den Historien belegt findet.“²²⁸
Aleanders Rede als rhetorisches Event Unter rhetorischen und politischen Gesichtspunkten hielt Aleander in der Summe eine erstklassige Rede, wenn man sich auf die überlieferte Textversion bezieht. Unter dem Aspekt der Ereignisqualität jedoch muss man seinen Redeauftritt als ziemlich missglückt bezeichnen. Dass diese Rede nicht in die Geschichtsbücher kam, praktisch vergessen wurde, hängt nicht nur mit der einseitig prolutherischen Reformationsgeschichtsschreibung zusammen, die Aleander meist nur als italienischen Bösewicht zeichnet; auch auf dem Reichstag selbst wurde die Rede weder stürmisch gefeiert noch ablehnend beschimpft. Man nahm sie aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten einfach nicht als rhetorisch aufregendes Event wahr, obwohl die Rede vom Inhalt her bald zu wirken begann. In einem rhetorischen Ereignis müssen Darstellungsformen gewählt werden, mit deren Hilfe die Mitglieder von Gruppen und Gesellschaften sich gegenseitig anzeigen, in welchen typisierbaren und daher erkennbaren Interaktionsstrukturen sie sich gerade mit ihren Interaktionspartnern befinden. Man teilt dabei ein zwar in individuellen Lerngeschichten entstandenes, aber doch gemeinsames Wissen, das erlaubt, die kollektiven Handlungs- und Situationstypen zu identifizieren und deren Muster zu interpretieren. Wichtig sind dabei die Anzeigehandlungen und Deutungshinweise, die in bestimmten Kommunikationsszenen mitgeliefert werden. Wir können auch von orientierenden Markierungen sprechen.²²⁹ Diese sind Teil der Inszenierung, geben dem Geschehen einen Sinn-Frame und bedienen bestimmte Erwartungshaltungen, die dann wieder den Rahmen für spätere Bewertungen abgeben. Ein solches kommunikatives Vorkommnis wird zum Event, wenn das anwesende Publikum der Ereignisstruktur die Qualität eines Ausnahmeerlebnisses zuspricht.²³⁰ Drei Faktoren bedingen entsprechende Image-Zuschreibungen an eine Ereignisinszenierung: 1.Vorfeld-Einstimmung des Publikums. 2. Perfektion in der Durchführung der Ereignisaktionen und Überraschungen im Event selbst.
RA 2, S. 505, 5 – 11. Knape 2017. Knape 2012a. Insofern ist ein Event mehr als einfach nur eine der von Menschen erzeugten Handlungsverknüpfungen mit Geschehenscharakter, von denen schon Lukrez im Unterchied zu den Eigenschaften von Dingen mit dem Begriff eventum bzw. pl. eventa (Ereignisse oder Ergebnisse) spricht (De rerum natura I, 450 – 490).
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3. Publizistische Nachbereitung oder Folgeevents zur Verklärung des Hauptereignisses. Es muss also ein Zusammenspiel von Rahmenkommunikationen und publikumserregender Durchführung im Eventmoment geben. Bei der Durchführung in der Ereignissituation erzeugen verschiedene Setting- und Textfaktoren die ausschlaggebende Struktur. Vorrangig kommen dabei ästhetische Inszenierungskomponenten ins Spiel, die das Textangebot, den Raum, die Performanz der Akteure, die Interaktionsformen des Publikums (z. B. abwechslungsreiche Reaktions- und Verhaltensmöglichkeiten durch Bewegung) und andere ergänzende Stimulationen betreffen (Schmuck, Farben, Licht, Musik, Gerüche, Temperaturen, Gedränge in der Masse, Mitschwingen in der Masse usw.). Wie werden sehen, dass all dies bei Luthers Rede-Event im folgenden April 1521 ins Spiel kommen wird. Jetzt, am 13. Februar sehen wir hingegen, dass all dies bei Aleanders Auftritt keine Rolle spielte, mit einer Ausnahme: Der kaiserliche Hof hatte sich bemüht, für die Rede Aleanders durch die schon erwähnte überraschende Einberufung der Sitzung wenigstens am Ereignistag eine spannungsgeladene Erwartungshaltung zu schaffen. Doch hinsichtlich der dann folgenden, eigentlichen Redeaufführung können wir davon ausgehen, dass die zwei oder drei Stunden dauernde Suada vom Publikum nicht als fesselnde Rede erlebt wurde, was sie vom Text her zweifellos war, sondern eher als eine von der Hocharistokratie oft trainierte, höfisch-rituelle Geduldsübung. Der Grund ist nicht zuletzt die schon erwähnte Sprachenproblematik. Von einigen Geistlichen, Gelehrten und den kursächsischen Sekretären abgesehen, verstand kaum jemand im Raum Aleanders ins Italienische kippende Latein. Dem Kaiser musste man sowieso alle Reden des Reichstags, die lateinischen und die deutschen, ins Französische übersetzen oder wenigstens stichwortartig zusammenfassen. Der Redetext als solcher sowie die Mitschriften, Auszüge und Übersetzungen entfalteten ihre Wirkung erst später beim Aktenstudium unter den Juristen, die den Kaiser und die verschiedenen Stände berieten. Friedrich der Weise jedenfalls hat die umgehend erstellte deutschsprachige Version seines Kanzlers Brück sehr genau studiert und auch sofort mit einer Anfrage an Luther bezüglich der ‚Blutworte‘ reagiert. Mit dem zwei Monate später stattfindenden Auftritt Luthers wird sich bei der Eventinszenierung alles ganz anders verhalten. In der Ereignissituation wird dann nicht die Macht allein im höchsten Gremium des Reichs öffentlich das Wort ergreifen, sondern auch der Protest. Ab jetzt und dann auch in Zukunft wird Protest viel aufregender als die langatmige Affirmation von Macht. Während Aleander damit leben musste, dass seine Rede erst mit Verzögerung und dann auch nur aktenmäßig vermittelt ins Reichstagsgeschehen einsickerte, wird Luther zwei Monate später das Glück haben, seinen großen Redeauftritt am 18. April 1521 auch zum situativ ergreifenden Ereignis machen zu können. Insbesondere die Rah-
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menkommunikationen führen zum Image-Erfolg für das Ereignis. Durch die publizistisch begleitete Vorgeschichte, die lange Anreise mit ihrer Stationen-Eventisierung, den außergewöhnlichen Publikumsandang in der ganzen Stadt und die sofort nach dem Reichstag einsetzende publizistische Nachbereitung bekommt Luthers Vortrag automatisch besonderes Gewicht. In der Situation erreicht auch der Text selbst durch den Redevortrag in Latein und Deutsch die gewünschte Anteilnahme. Dabei ist insbesondere zu bedenken, dass die Wahl der deutschen Sprache im internationalen Sprachengemisch des Reichstags einen Identifikationseffekt ganz besonderer Art hervorgerufen hat: Luther der Deutsche, Aleander der Welsche. Der emotionale Effekt von Luthers zweisprachigem Auftritt, eben auch unter bewusstem Einsatz des Deutschen, hängt damit zusammen, dass die Nationenfrage sowieso eine wichtige Rolle auf dem Wormser Reichstag spielte. Nationale, antirömische Gefühle waren ja schon im Vorfeld von der Hutten-Publizistik geschürt worden. Jetzt gehörte die Positionierung Deutschlands gegen Rom im allgemeinen unter dem Stichwort Gravamina der deutschen Nation – ganz unabhängig von der Causa Lutheri – zu den großen Themen des Reichstags. Aleander hatte da von vornherein bei vielen Ständevertretern schlechte Karten, egal, wie schlüssig man seine Beweisführung fand.
Der ratlose Reichstag Ein Reichstag war zu dieser Zeit politisches Legislativorgan auf Reichsebene und höchstes Reichsgericht in einem. Als die Stände am 28. Januar 1521 unter dem Vorsitz des jungen Kaisers Karls V. in Worms zusammentraten, war das LutherProblem nur ein Punkt unter vielen anderen auf der monatelangen Tagesordnung. Offenbar war zunächst nur eine kurze Einvernahme vorgesehen, um sich dann wieder den anderen Politikfeldern zu widmen. Wir erinnern uns: Luther war bereits endgültig vom Papst mit dem Bann belegt, und es sollte jetzt nur noch darum gehen, eine förmliche Bestätigung durch die weltlichen Organe der Macht im Reich herbeizuführen. Im Vorfeld war zwischen dem Kaiser und den Ständen ausgehandelt worden, dass es beim Bann keinen Bestätigungsautomatismus mehr in dem Sinn geben sollte, dass Roms Entscheidungen diskussionslos im Reich zu exekutieren waren. Der Reichstag wollte ab jetzt solche Fälle als letzte Rechtsentscheidungsinstanz prüfen. Das alte caesaro-papistische Machtsystem mit seinem Verbund der beiden Säulen war damit in Frage gestellt. Was Luther erwartete, war also eine Mischung aus juristisch angelegtem Prozess und politischer Verhandlung. Luther selbst hoffte wohl bis zuletzt auf eine Gelehrtendiskussion unter Theologen, was aber angesichts des Rahmens ‚Reichstag‘ illusorisch war.
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Auf der anderen Seite hoffte Aleander immer noch, dass man am Ende nach den alten Verfahrensregeln kurzen Prozess machte. Der Exkommunizierte hatte zu widerrufen oder sich jener Strafe zu beugen, die die weltliche Säule der Macht, so sah es das Kirchenrecht ja vor, an ihm zu vollziehen hatte. Teils irritiert, teils entsetzt musste der päpstliche Sonderbotschafter nun aber im Verlauf des Wormser Reichstags feststellen, dass alles aufgrund der für die deutschen Reichstage jener Zeit typischen, unberechenbaren Kompromissstimmung an Kontur verlor und klare Pläne zerrannen. Die Parteigänger Luthers auf der einen und die des Papstes auf der anderen Seite hatten als Individuen längst eine feste Position. Das galt auch für Luthers Landesherrn Friedrich den Weisen und den Kaiser. Diese beiden Spitzenpolitiker sahen in der ganzen Angelegenheit aber mehr als nur einen Theologenstreit. Es ging um die Frage, ob die alte Ordnung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation beibehalten werden konnte und sollte oder nicht. Durfte es bei der Oberhoheit Roms in ideologischen Fragen bleiben? Musste es ein reichseinheitliches ideologisches Wächteramt geben, das ausgerechnet in Rom saß? Da sich die Frage mit den allgemeinen politischen Beschwerden gegen Rom vermischte, wurde die Protestpartei in Worms immer stärker, insbesondere bei Politikern, die kein ausgeprägtes Verhältnis zu religiösen Fragen hatten. Unvermeidlich stand damit die Frage im Raum, wer in ideologischen Zweifelsfragen entscheiden sollte, ja, ob man überhaupt bei einer einheitlichen Glaubens- und Denkverfassung bleiben musste. Mit solchen Fragen waren viele Politiker überfordert. Die Praktiker unter Luthers Anhängern hatten den Reformator inzwischen selbst zu einer Art von entscheidungsmächtigem Propheten aufgebaut; und in der Tat sollte er in den Folgejahrzehnten, solange er lebte, in den lutherischen Territorien die praktische Entscheidungsinstanz in allen Streitfragen des Glaubens, der Sitte und des Philosophierens im allgemeinen Sinn werden. Luther selbst musste aber natürlich auf die Frage ‚Wer entscheidet und auf welcher Grundlage in diesen Fragen?‘ eine theoretische Antwort parat haben. Er hatte sie 1521 gefunden, und sie lief in der Konsequenz auf eine Spaltung hinaus, denn Rom war nach seiner Theorie nicht mehr als letzte Instanz vorgesehen. Wenn wir uns heute fragen, welche der beiden Parteien Recht hatte, stehen wir vielleicht genauso ratlos da, wie viele der Zeitgenossen, die sich von der Problemlage überfordert sahen. Ob wir sie heute historisieren oder ob wir versuchen, die mit ihr verbundenen Fragen systematisch zu beantworten, immer wird es am Ende darauf hinauslaufen, dass sie nur die Anhänger der einen oder anderen Glaubenspartei für sich selbst mit der subjektiven Gewissheit ihres Glaubens beantworten können. Für neutrale Beobachter ist die eine Glaubensüberzeugung (die sich auf gewisse, unbeweisbare Annahmen, Axiome oder Prämissen stützt) mindestens genauso glaubwürdig oder unglaubwürdig wie die andere. Es gibt für
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Dritte (etwa für einen Buddhisten, dessen Lehre keinen Gott vorsieht) keine sicheren Urteilskriterien, denn in Glaubenssachen gibt es keine Wahrheits- oder Geltungskriterien wie bei wissenschaftlichen Seinssätzen. Glauben heißt eben, nicht Beweisbares mit subjektiven Gründen zu akzeptieren. Wenn wir eine ganz andere Frage stellen, nämlich die nach dem Ursprung der heutigen ideologischen Grundwerte des Westens, die auf Glaubensfreiheit, Demokratie, Pluralismus, Aufgeklärtheit, Wissenschaft, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit einschließlich Minderheitenschutz basieren, dann muss man nach 500 Jahren begrüßen, dass der Protest als eine nicht mehr aus der Öffentlichkeit verbannbare Dimension in Worms einen symbolträchtigen Durchbruch schaffte. Ein Blick auf die religiöse Vielfalt in der Welt zeigt, dass faktisch eine Unmenge religiöser Wahrheiten nebeneinander besteht und die Zahl der ideologischen Ansätze groß ist. Ein Blick auf einzelne Machtterritorien zeigt aber auch, dass es in der Vormoderne im Westen und auch heute noch in vielen Teilen der Welt keine systemisch verankerte Toleranz gegenüber zwei „Wahrheiten“ mit sozial übergreifender Geltung gab und gibt, schon gar nicht für die römische Kirche der Lutherzeit im Rahmen der Machtkonstellationen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, dessen Herrscher sich einer universalen Idee verpflichtet fühlte. Ein Exponent dieser Auffassung ist der päpstliche Legat Aleander. Auch für ihn und seine Kirche kann es niemals zwei Wahrheiten, sondern nur ein einziges geltendes Wahrheitssystem geben, dessen Sätze für den Einzelnen verbindlich sind. Eine gegenteilige Sicht der Dinge muss Europa im Jahr 1521 erst noch lernen. Als Vertreter römischer Lenkungsprinzipien versteht Aleander die Welt nicht mehr, zumindest jene nicht, die sich ihm in Deutschland zeigte. Er spürt, dass sich etwas Grundlegendes verändert hat, das ihm aber als Vertreter des alten Regimes Angst macht: „Das ist nicht mehr das katholische Deutschland von ehemals!“ schreibt er erschüttert nach Rom.²³¹ Schon am 8. Februar 1521 hatte er der Kurie über die wenigen Möglichkeiten berichtet, in Deutschland „die Geister zu zügeln“. Für ihn haben die Deutschen „allen Respekt verloren und lachen sogar über die Exkommunikation“. In solcher Unbotmäßigkeit können beide Säulen der Macht nur die größte Gefahr für ihr bestehendes System erkennen, daher befasst sich auch der kaiserliche Staatsrat mit entsprechenden, unerhörten Vorkommnissen. Aleanders Informanten berichten ihm, und er schreibt daraufhin nach Rom: „Die Mönche wollen nicht von den Kanzeln gegen Luther predigen oder wagen es nicht; wie man denn dem Kaiser berichtet und im Staatsrate vorgelesen hat, dass in Antwerpen eine Frau den Prediger auf der Kanzel zur Rede stellte, ihm ein deutsches Buch Luthers vorwies
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 4, 18. Dezember 1520), S. 59; Hausrath 1897, S. 58.
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und erklärte, ihm zum Trotz wolle sie es lesen“.²³² Für den Römer Aleander sind solche Ereignisse nur Symptome eines Verfalls der Werte und Ordnungsstrukturen. Die unerhörte Aufsässigkeit zeigt sich für ihn in dem erzählten Fall ja nicht nur darin, dass die Autorität des Kanzelredners in Frage gestellt wird, sondern vor allem auch in der unglaublichen Tatsache, dass es eine Frau wagt, sich zu einer solchen Verletzung der Sitten aufzuschwingen. Aleander mag da an das PaulusWort im ersten Korintherbrief gedacht haben: „Lasst eure Frauen schweigen unter der Gemeinde“. Aleander befürchtet mit Grund den Umsturz. Der Luther-Forscher Volker Leppin kommentiert die Lage, mit der sich Aleander konfrontiert sah, wie folgt: „Die Umkehr der Werte ist ungeheuerlich.“ Das betraf insbesondere Luthers radikalen „Abbau innerweltlicher Autoritäten“ in Glaubensfragen. Sich in dieser Zeit allein auf Gottes Wort zu berufen, hieß, eine Position wie die alttestamentarischen Propheten einzunehmen, die sich ebenfalls „den Mächtigen entgegengestellt hatten. Faktisch war auch Luther nun in die Rolle eines solchen Propheten geraten“.²³³ Aleander konnte darüber nur den Kopf schütteln. So verwundert denn auch nicht sein Stoßseufzer angesichts der unglaublichen und für ihn völlig unübersichtlichen deutschen Verhältnisse: „Ich weiß also kaum, wo aus und ein. Ich stehe inmitten dieser unerhörten Verwirrung“.²³⁴ Angriff auf Denkgewohnheiten und Zweifelerweckung gegenüber institutioneller Autorität führen immer zwei gegenteilige Interpretationsmöglichkeiten mit sich. Aleander erlebt es hautnah. Was er Ende 1520 an Aggressivität der Frontstellung in Köln am eigenen Leibe wahrnimmt, zeugt von der inzwischen bei vielen Zeitgenossen eingetretenen Ahnung eines epochalen Wandels. Die Hoffnung liegt in der Luft, dass der Wormser Reichstag irgendeine Entscheidung herbeiführt. Zu Recht, wie wir heute wissen. Die weitere Entwicklung der Dinge in Europa und der westlichen Welt bis heute zeigt aber auch, dass diese Entscheidung nicht endgültig in dem Sinne war, dass damit überall vollendete Tatsachen geschaffen worden wären. Jede politische Wahl und jeder Konflikt zwischen intellektuellen Strömungen zeigen nach wie vor, dass sich Macht und Protest regelmäßig mit gleichgewichtigem Anspruch gegenüberstehen. Die Macht tendiert stets dazu, ihr jeweiliges Denksystem verbindlich zu machen. Das kommt vielen Menschen in ihrem Wunsch nach Stetigkeit, mentaler Sicherheit und Geborgenheit entgegen. Im Innersten können die Vertreter von Machtsystemen normalerweise nicht akzeptieren, dass Macht nur geliehen und in der zeitlichen Dimension
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 6, 08. Februar 1521), S. 71. Leppin 2010, S. 168. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 6, 08. Februar 1521), S. 73.
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und Indoktrinierungsreichweite begrenzt ist. So wie der Protest immer zur gänzlichen Befreiung drängt, drängt die Macht immer zu gänzlichem Einfluss, setzt tendenziell auf völlige Bindung an ihre Vorgaben. Aleander folgt dem inneren Gesetz der Macht nach Selbsterhalt. Dieses Gesetz ist immer konservativ und stützt sich regelmäßig auf die normative Kraft des Faktischen, denn jede Macht hält sich aufgrund von Herrschaftstraditionen zunächst einmal für fraglos legitimiert. In traditionalen Gesellschaften der Vormoderne ist es das immer schon geltende Herkommen, das für sich bereits Legitimität stiftet. In modernen demokratischen Gesellschaften muss diese Legitimität immer wieder in bestimmten zeitlichen Abständen durch formale Wahlakte aufgrund konsensgetragener Verfassungen erneuert werden. Wie der Protest hat also auch die Macht überall in sozialen Systemen ihre eigene, als berechtigt angesehene Raison d’être. Da sich, wie gesagt, bei den hier in Frage stehenden religiösen Positionen immer gute Argumente für eine der beiden Seiten finden lassen, kann Aleander als Exponent einer Säule der Reichsmacht in einer auf Traditionen fußenden Gesellschaft seine Position als bestens begründet empfinden. Für ihn sind die Versprechungen und Theorien Luthers daher nur Irrlehren. Der Mensch braucht nach Meinung des Nuntius in jeder Hinsicht Anleitung und ein paternalistisches System, denn er ist nicht zur geistigen Selbstverantwortung gemacht. Freiheit – das immerhin ist die Ausnahme – kann es für ihn als Kleriker alter Prägung nur als Willensfreiheit in Hinblick auf die individuelle Entscheidung für oder gegen die Sünde geben. Damit reduziert sich Freiheit auf den Aspekt der Zustimmung oder Ablehnung normativer Vorgaben. Diese Vorgaben aber stehen fest. Alles andere ist fragwürdig. Zur historischen Ironie gehört es, dass nach Etablierung des Protestantismus, also nach vollzogenem Wechsel von der Seite des Protests auf die Seite der (eigenen) Macht neue protestantische paternalistische Systeme entstehen und für abweichende Amtsträger sogenannte „Lehrzuchtverfahren“ eingeführt werden.²³⁵ Das gilt insbesondere für die calvinistisch-reformierten Länder, wo Überwachen und Strafen auf ideologischem Gebiet bald außer Frage stehen wird. „Im evangelischen Genf war die Lehr- und Lebenszucht schon immer die gemeinsame Angelegenheit von Kirchenleitung und Magistrat. Hier kam es auch zum ersten evangelischen Ketzerprozess.“²³⁶ Die Religionssoziologie eines Emile Durkheim wundert sich über solche Entwicklungen keineswegs, denn die symbolische, organisationsfördernde, normative und interaktiv-rituelle Dimension der Religion macht sie sowohl zum selbstbezüglichen System, das nach eigenen Regulierungen
Beutel 2013, S. 47– 55. Beutel 2013, S. 49.
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drängt, als auch zum idealen und unverzichtbaren Kern vormoderner Staatenbildung (im Sinne der hier sogenannten zweiten Säule der Macht). Für die Anhänger des Protest scheinen spätestens seit dem Ende des Jahres 1520 die Idee und die Möglichkeit einer Rückkehr zu den ursprünglichen religiösen Ansätzen des Christentums immer realer zu werden. Zu dieser Zeit sieht der Protest noch die Vision kaum begrenzbarer Freiheit eines Christenmenschen über dem Horizont leuchten. Alles kann nach Meinung der Protestler neu werden. Aleander sieht darin natürlich aus seinem Blickwinkel zu Recht den fundamentalen Bruch mit allem bisher Gedachten. Die Macht, jede Macht, muss so etwas als strukturell größte Bedrohung sehen, zumindest in der Vormoderne. Schriften, die das Versprechen der Möglichkeit der Umkehr der geistigen Verhältnisse mit drastischen Folgen für die Einrichtungen unserer Welt postulieren und etwas vom Geist unbekannter Utopie mit sich führen, sind nach Ansicht Roms auszurotten. Darum müssen Luthers Schriften, so heißt es im kaiserlichen Erlasstext für die habsburgischen Niederlande von 1520, verbrannt und eingezogen werden. Ihr Verkauf ist ab jetzt verboten. Der politisch entscheidende Vorwurf aus Sicht der Macht lautet, dass Luthers Ideen „vielfaches schweres Ärgernis (pluseurs grave esclandre)“ verursachen und dass dies mit „Verirrung und Unruhen bei Völkern und einzelnen Personen (troubles et erreurs entre les peuples et personnes)“ einhergehen könne. Dies sei vorbeugend „zu verhüten (obvier)“.²³⁷ Der Verfasser des kaiserlichen Erlasses, Aleander, betont also schon hier im Jahr 1520 die politische Dimension der Angelegenheit. Dazu gehört auch die Ableitung einer gegen die Reichspolitik gerichteten Position Luthers, die Aleander in einer beiläufigen Äußerung des Wittenbergers sehen will.²³⁸ Zu verdammen sei nämlich insbesondere auch Luthers Satz, „dass man nicht antasten oder bekämpfen dürfe die Personen der Türken und der Ketzer“. Luther wird damit zum Türken- und Ketzerfreund, also zum Freund der nach damaliger Auffassung ärgsten Reichsfeinde und somit zu jenem Typus des Unruhestifters stilisiert, der das wichtigste Anliegen jeglicher Macht zu allen Zeiten antastet: Ruhe und Sicherheit im herrschenden System sowie Festigung des Bestands seiner legitimen Institutionen. Wie wir gesehen haben, tauchten diese Argumente in Aleanders Aschermittwochsrede vom 13. Februar 1521 wieder auf. Beiden Prinzipien, also dem der Macht und dem des Protests, dient die Rhetorik in den zeitgenössischen Kampagnen als Helfer. Was die beiden Seiten darüber hinaus im Jahr 1520 als gesellschaftlich akzeptierte kommunikative Mittel
Zitiert nach gedruckten Erlass-Versionen aus den Jahren 1520 und 1521 nach Corpus documentorum inquisitionis, S. 43; Übersetzung Kalkoff 1903b, S. 110. Köstlin 1903, S. 352; Kalkoff 1903b, S. 111 Anm. 1.
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in der kampfgestimmten Gegnerschaft ihrer politisierenden Aktivisten akzeptieren, etwa das wechselseitige Bücherverbrennen, irritiert uns heute in Erinnerung an die Nazi-Verbrennungs-Barbarei in Deutschland nach 1933 völlig zu Recht. Durch den kaiserlichen Erlass abgesichert, ließ Aleander am 8. Oktober das erste Autodafé stattfinden. Luthers Bücher wurden feierlich in der Universitätsstadt Löwen verbrannt, am 15. Oktober dann in Lüttich. Das nahm man als symbolischen Akt der Vernichtung teuflisch inspirierter Ideen. In Worms dann sah alles noch so aus, als ob es zu einem Ketzerverfahren nach dem Vorbild des Konstanzer Konzils kommen könne. Um dies abzuwenden, bewegte die kursächsische Diplomatie auch Luther selbst zu Kompromisssignalen. So erschien am 6. Februar 1521 in Worms vor Karl V. und dem versammelten Hofstaat mit dem Hofmarschall Nickel Ende zum Stein ein hoher Vertreter Kursachsens als Exponent der kursächsischen Lutherschutzpolitik und überreichte ein als „Verwahrung und Erbieten“ (Oblatio) Martin Luthers in die Geschichte eingegangenes Dokument. Darin signalisiert der gebannte Ketzer Luther Kooperationsbereitschaft und ersucht um ein gerechtes Urteil. Der Kaiser aber würdigte das Schreiben keines Blickes, zerriss es auf der Stelle und warf die Stücke zu Boden. Aleander bewahrte die Fetzen auf und schickte sie triumphierend nach Rom.²³⁹ Er glaubte in diesem Moment wieder an die Möglichkeit, Luther ganz vom Reichstag fern halten zu können, die Stände einzuschüchtern und gegen Luther nach altem Recht verfahren zu lassen.²⁴⁰ Doch das Blatt wendete sich bald wieder. Aleanders Bericht vom 8. Februar 1521 beginnt mit den deprimierten Worten: „Obgleich Himmel und Erde und vor allem dieses ganze Deutschland sich verschworen zu haben scheinen, mich von der Durchführung meines Auftrags abzuschrecken oder wenigstens meinen Eifer abzukühlen, so soll der Teufel mich doch nicht dahin bringen, dass ich meine Aufgabe im Stich lasse.“²⁴¹ Nachdem am 10. Februar die offizielle Bannbulle in Worms vorlag, schritt die Macht zur Tat. Aleander hielt am 13. Februar seine uns inzwischen bestens bekannte Anklagerede in Worms und hoffte, dass damit die weitere Entwicklung determiniert sein würde. Mit Stolz vermerkt er in einem Brief nach Rom die positive Reaktion seiner Parteigänger auf seine Aschermittwochsrede und sein Redetalent. Man habe seine „Rede für durchaus geschickt, sachgemäß und erfolgreich“ gehalten. Er selbst aber halte, schreibt Aleander rhetorisch gekonnt unter Heranziehung eines typischen Bescheidenheitstopos‘, die Rede nach eigenen Maßstäben „für mittelmäßig und nur teilweise gelungen“ und er wolle das Erreichte auch
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 6, 08. Februar 1521), S. 78 f. Kalkoff 1922, S. 242. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 6, 08. Februar 1521), S. 69.
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nicht seinem Esprit oder seiner „Beredsamkeit“ zuschreiben. Alles geschah mit Gottes Hilfe, denn er habe ja eine „gerechte“ Sache gegen die „furchtbaren Ungeheuerlichkeiten Luthers“ vertreten.²⁴² Dieses Urteil konnte freilich nur aus Sicht der romanischen Parteigänger Roms gefällt werden. Die so wichtigen deutschen Kurfürsten, von denen fast die Hälfte Bischöfe waren, fanden keineswegs gleich zusammen. Dazu Aleander: „Denn obwohl nun der Kaiser an eben jenem Tage [am 13. Febr.] als ich unsere Forderung aussprach, seinen Willen, wie ich oben berichtete, kundgegeben und Tags darauf in der Versammlung der Fürsten […] hatte aussprechen lassen, berieten sich die Fürsten doch noch sieben Tage lang in so heftiger Erörterung, dass die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg nahezu handgemein geworden wären, wenn nicht der Erzbischof von Salzburg und andere Anwesende sich zwischen sie geworfen hätten: dergleichen ist nach aller Urteil seit den Anfängen des Kurfürstentums bis auf diesen Tag noch nicht vorgefallen: es birgt die Gefahr schwerer Verwicklung in sich, und alle sind darüber entsetzt. Also war das Kollegium der Kurfürsten in ihrem Saale […] gespalten.“²⁴³ Was war geschenen? Als der immer um Ausgleich bemühte Friedrich III. (der Weise), der Aleanders Rede am 13. Februar demonstrativ ferngeblieben war, in der Redenachschrift und Übersetzung seines Kanzlers Brück den Anklagepunkt über Luthers Blutworte las, muss er entsetzt gewesen sein. Er wusste von dieser Sache nichts und ihm war vermutlich schnell klar, dass Luther mit solchen Äußerungen in einen Zusammenhang mit Huttens „Pfaffenkrieg“-Projekt gebracht werden konnte.²⁴⁴ Damit tat sich für die kursächsische Lutherschutzpolitik ein Abgrund auf. Die seit dem Konstanzer Konzil im Norden in Verruf geratene KetzerprozessMechanik war auf dem Reichstag unpopulär, weil selbst im kaiserlichen Lager inzwischen viele darin eine Nötigung der deutschen Politik durch Rom sahen. Wenn Aleander nun die Tatbestände in Richtung Landfriedensbruch, Rebellion und Anstiftung zum Mord verschob, konnte Luther daraus bei Bedarf und mit der passenden Rabulistik ein Strick gedreht werden. Der Kaiser hätte etwa argumentieren können, dass sich das freie Geleit laut Zitationsmandat nur auf die Ketzerfrage bezogen habe, nicht auf andere Delikte usw. In der Tat ließen die Folgen der so gewendeten Anklage Aleanders dann auch nicht auf sich warten. Am 15. Februar erhebt ein kaiserliches Mandat an den Reichstag entsprechende Vorwürfe. Luthers Image als friedliebender Mönch ist zu diesem Zeitpunkt schwer beschädigt. Eine Diskussion um die Blutworte bricht auf. Dabei geht es ein weiteres Mal um die für die Macht so entscheidende Frage, ob Luther nicht vielleicht doch
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 8, 14. Februar 1521), S. 86. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 10, 27. Februar 1521), S. 92 f. Kalkoff 1920, S. 283 – 286.
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ein Aufrührer ist, welcher „des frommen Volkes Gemüt in neue verdammliche Irrsal führen, es gegen den Papst und allgemein die Priesterschaft“ aufbringen und folgerichtig gegen jede Obrigkeit zu Aufruhr, Ungehorsam und schwerem Blutvergießen anstiften wolle (so das Mandat vom 15. Februar).²⁴⁵ Erst nach und nach beruhigen sich die Parteien unter den Fürsten und in den Ständen wieder. Der Kaiser setzt sich mit seinem Mandat nicht durch. Der Kurfürst aber bleibt sehr besorgt und lässt seinen Sekretär in Wittenberg nachfragen, ob etwas an Aleanders schweren Vorwürfen dran sei. Der Postverkehr zwischen Worms und Wittenberg ist langsam, weshalb Luthers Antwort erst auf den 27. Februar datiert ist. Er wiegelt ab und weist jede Gewaltabsicht von sich, „denn gegen das unkriegerische Völkchen der Priester das Schwert erheben, wäre nichts anderes, als gegen Weiber und Knaben Krieg führen“.²⁴⁶ Doch Luther selbst ist nun gewarnt, und er wird später, im April, in dem vom politisch naiven Butzer unterbreiteten Angebot, die Ebernburg zu besuchen, nicht ganz zu Unrecht eine mögliche Falle erkennen. Hätte er sich dort nämlich kurz vor seinem Eintreffen in Worms mit den Pfaffenkrieg-Protagonisten Hutten und Sickingen an einen Tisch gesetzt, hätte der auf der Ebernburg anwesende kaiserliche Beichtvater Glapion in Worms als Zeuge für jedwede Verschwörungstheorie auftreten und damit Gründe für einen Zugriff des Kaisers ganz unabhängig von der Ketzerfrage liefern können. Die Panik der kursächsischen Politiker, Friedrichs III. und Spalatins, kurz vor dem Eintreffen Luthers in Worms, die dazu führte, ihn im letzten Augenblick von Worms fernhalten zu wollen, könnte mit entsprechenden Gerüchten und Mutmaßungen zu tun gehabt haben. Für die kaiserliche Regierung war die EbernburgVersuchung jedenfalls der Lackmus-Test zur Frage, wie Luther es mit der Gewalt hielt. Luther selbst bestand den Test, doch seine Protestbewegung sollte die Gewaltfrage nicht mehr losbekommen. Die Aschermittwochsrede Aleanders und ihr langes Verhandlungsnachspiel auf dem Reichstag machen ein zentrales Problem rhetorischer Ereignisse deutlich. Punktuelle Reden können im Moment die Zuhörer durchaus bewegen und zum Nachdenken bringen. Wenn eine solche Rede jedoch in einen länger dauernden Prozess, wie ihn der monatelange Reichstag darstellt, eingebettet ist, dann kann sich die kurzfristige Meinungsänderung wieder verflüchtigen und sich das Denken der Angesprochenen erneut in eine andere Richtung bewegen. So auch hier. Denn alle fürchteten in Worms nach Aleanders Worten einen „Brand in Deutschland“,²⁴⁷ und um das zu vermeiden, gingen schließlich alle Seiten wieder aufeinander zu. Je
RA 2, S. 510; Kalkoff 1920, S. 284. WA Briefwechsel 2, Nr. 378, S. 271, Z. 24 f.; Kalkoff 1920, S. 285; Kalkoff 1913, S. 116 und 118. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 10, 27. Februar 1521), S. 94.
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weiter der Reichstag voranschritt, desto klarer wurde allen, in welcher bisher nicht gekannten und ernsten Lage man sich befand. Die unübersehbare Krise der ideologischen und mit Rom zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Grundlagen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (im Sinne des Machtkartells) wird mit nicht mehr wegzudiskutierenden Gründen in Frage gestellt. Aber darf man wirklich einen Traditionsbruch ungekannten Ausmaßes wagen, wie er sich abzeichnet? Die zunehmende Diskussion schafft jedenfalls für Luther immer günstigere Bedingungen. Aleander berichtet Ende Februar, dass der kaiserliche Beichtvater Glapion in seiner Analyse der Lage nur noch von einem Durcheinander, ja, ratloser Panik sprechen könne. „Er habe noch nie eine solche Verwirrung gesehen, da alle durcheinander schrien und des Himmels Einsturz vor Augen sähen, ohne sich zu etwas entschließen zu können; in der einen Stunde schiene alles abgemacht zu sein, in der nächsten riefe der geringste Umstand wieder eine allgemeine Ratlosigkeit hervor. In dem Grade sind die Dinge verwirrt, dass, wenn Gott nicht hilft, der es allein vermag, Menschenwitz ganz gewiss weder Weg noch Ziel finden wird.“²⁴⁸ Aleanders Einschätzungen wechseln je nach Stimmung in Worms. Im Lauf der Zeit sieht er doch noch späte Wirkungen seiner Achermittwochsrede. Langsam dämmere vielen Reichstagsteilnehmern die religiöse Dimension des Konflikts. Viele verstünden nun, dass es ja nicht nur um die Gravamina gehe, sondern um den Kern des bisherigen Glaubens. Aleander erkennt, dass dies die Sache nun doch für viele unheimlich macht. Die Fürsten und Adeligen hätten zunächst „eben nur die schmählichen Angriffe Luthers auf Papst und Klerus gelesen“, was ihnen gefallen habe, „nicht aber seine Äußerungen über die Sakramente und seine Billigung sämtlicher Lehrsätze des Joh. Hus. Seit ich das vor zahlreicher Versammlung auf Grund seiner Schriften nachgewiesen habe,“ schreibt Aleander mit Genugtuung, „verabscheuen ihn sehr viele Fürsten, und nur der Hass gegen Rom steht der gänzlichen Beschwichtigung der Gemüter im Wege“.²⁴⁹ Kurz vor der Ankunft Luthers hat sich das Blatt aber schon wieder gedreht. Beide Seiten bekommen es mit der Angst zu tun. Die Kursachsen signalisieren Luther auf der letzten Station seiner Reise, wie gesagt, aus Sicherheitsgründen vielleicht doch besser Worms fern zu bleiben. Und Aleander schreibt am 15. April höchst verunsichert aus seiner Sicht: „Darum fürchte ich, dass die allgemeine Auflösung hereinbreche, in Anbetracht dieser Umwälzung ganz Deutschlands, da es niemanden gibt, weder Prälaten noch Fürsten, der nicht entweder ganz gegen uns wäre oder, wenn er für uns, oder besser gesagt, für sein eigenes Wohl ist, offen
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 11, 28. Februar 1521), S. 104. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 13, 08. März 1521), S. 117.
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hervorzutreten wagte; ein so tödliches Entsetzen hat alle gepackt, dass sie sich von einem Hutten bedrohen und bald schon mit Füßen treten lassen, ohne sich zu rühren. Der Kaiser allein ist noch zuverlässig, denn er ist von Natur gut und religiös, vorausgesetzt, dass der Berater seines Gewissens [Glapion] ihn aufrecht hält.“²⁵⁰ Veit Warbecks Bericht über Luthers Ankunft in Worms bestätigt Aleanders sorgenvolle Äußerungen, wenn er die Information liefert (die er aus eigenen Quellen hat oder aus in Worms umlaufenden Gerüchten bezieht), dass „die Romanisten daran keinen Gefallen gefunden“ hätten, „dass er gekommen sei und darüber nicht wenig erschrocken gewesen seien, denn sie seien die ganze Zeit der Hoffnung gewesen, er werde ausbleiben und nicht erscheinen, damit sie einen Grund hätten, weiter gegen ihn vorzugehen“.²⁵¹ In der Tat war die Stimmung unter den römisch-klerikalen Vertretern der Macht bei Ankunft Luthers offenkundig schlecht. Das Verhalten der Kaiserlichen, nicht des Kaisers selbst, warf immer mehr Fragen auf. Für Aleander gab es auf Seiten der weltlichen Reichsregierung keine klare romfreundliche Linie und viel zu viele diplomatische Zugeständnisse des Kaisers an seine deutschen Fürsten. Was wird die Welt am Ende über das Ansehen, die Pflichttreue zu Rom und die Befehle und Versprechungen des Kaisers sagen? Aleander ist nach Luthers triumphalem Einzug höchst skeptisch. In seinem Geheimbericht nimmt er kein Blatt vor den Mund. Der Kaiser sei von Beratern umgeben, die ihn „schlecht beraten oder vielmehr verderben und verführen“. Mit solchen Bemerkungen baut Aleander vor. Luthers Verhör steht am nächsten Tag an, und er will als päpstlicher Verantwortlicher schon jetzt Gründe für sein eventuelles Scheitern liefern. Man dürfe sich angesichts der unsicheren Kantonisten in der kaiserlichen Regierung nicht wundern, wenn es am Ende zu einem „schlechten Ausgang“ für die Sache Roms komme, denn während die Lutherfreunde „Wunderwerke versprechen, ergreifen die Kaiserlichen gerade die ärgsten Maßregeln, so dass, wenn sie nicht in böser Absicht handeln, man sie nicht nur für feige, sondern geradezu für blödsinnig halten muss. Schon triumphiert der Kurfürst von Sachsen, gebärdet sich wie ein Kaiser und König, handelt, wie ihn gelüstet, gegen Gott und Vernunft“. So spricht keiner, der am Vorabend einer großen Entscheidung siegesgewiss ist. Aleander ahnt, was kommen wird. Er sei schon vor längerer Zeit zu der Auffassung gekommen, schreibt er weiter, dass die deutschen Fürsten nur ihre Interessen verfolgten und, wenn es drauf ankomme, zur antirömischen Seite wechseln würden. Genau so sei es gekommen, schreibt Aleander, „und es wird täglich schlimmer werden, einmal weil es überhaupt auf deutschen Reichstagen so zu gehen pflegt
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 17, 15. April 1521), S. 161. Walch 15, Sp. 1837.
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und dann, weil die Kaiserlichen mehr mit den Menschen als mit Gott gerechnet haben“.²⁵² Bricht das alte klerikal-caesarische Machtkartell in Worms auseinander, wie Aleander befürchtet?
Luthers Team In der traditionellen Lutherforschung wird der Reformator meist nach dem heroischen Biografiemodell als herausragender Einzelkämpfer dargestellt. Bisweilen wird der Gedanke an eine etwaige Einbindung Luthers in politische Netzwerke explizit abgelehnt.²⁵³ Tatsächlich aber war Luther Zeit seines Lebens in enge Lebens-, Denk- und Arbeitsverbünde integriert, zunächst im Augustinerorden, dann im kursächsischen Politikbetrieb. Dieser nahm im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts äußerst aktiv an einer Entwicklung teil, die man heute in der Forschung mit dem Begriff Territorialisierung bezeichnet.²⁵⁴ Dabei ging es um die Ausdifferenzierung des politischen Systems im deutschen Reich und der sozialen Systeme in den einzelnen Ländern Deutschlands. Kursachsen gab sich im Zuge dieser Entwicklung eine verbesserte Organisation als deutscher Flächenstaat. Dazu gehörte die Gründung einer Landesuniversität in Wittenberg im Jahr 1502. Luther verfasste seine 95 Thesen als Theologieprofessor dieser Universität und sah sie zunächst als Beitrag zum wissenschaftlichen Fachdiskurs. Als seine Initiative aber unerwartet schnell eine überregionale skandalträchtige Dimension gewann, fand sie unvermeidlich das Interesse politischer Kreise. Ebenso unerwartet wurde die Causa Lutheri, je weiter sie sich entwickelte, Element der politischen Bestrebungen Kursachsens. Nach dem Soziologen Max Weber funktionieren neuzeitliche Gesellschaften auf der Basis von Funktionssystemen wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder auch Religion. Diese Teilsysteme versuchen regelmäßig, ihren Anspruch zu überziehen und Macht über das Ganze zu bekommen. Wenn aber Funktionssysteme offenkundig versagen, wie es beim alten Kirchennetzwerk zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach Meinung vieler deutscher Beobachter der Fall war, dann kommt die Legitimität des hegemonialen Anspruchs ins Wanken. Andere Systeme versuchen, ihren Anspruch auf Hegemonie geltend zu machen. In Kursachsen ist es das politische System. Es war die Absicht Friedrichs III. (des Weisen), in seinem Territorium das Primat der Politik insbesondere auch gegenüber der Kirche zu
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 17, 15. April 1521), S. 167 f. Kessel 1961, S. 174 f. Kohnle 2001, S. 14– 21.
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sichern. Luther legte im Jahr 1517 mit seinen 95 Thesen den Finger auf das große Versagen des alten Systems Kirche. Es bestand in dem skandalösen Versuch, den Warencharakter von religiösen Heilsgütern zu etablieren und damit zum Handelsobjekt im ökonomischen System werden zu lassen (Ablasshandel). In Kursachsen war Tetzels Handel mit Sündenstrafenvergebungspapieren schon von Anfang an verboten.²⁵⁵ Darüber hinaus bestand das Versagen des alten Klerikalsystems in der offensichtlichen Dekadenz der Klerikerkaste mit ihrem römischen Zentrum, einem kriegslüsternen Herrschaftsgebilde namens Kirchenstaat, dessen Funktionäre nur noch dem Namen nach fromme Priester waren. Das alles waren Gründe, die kirchlichen Reformbestrebungen in Kursachsen zugunsten der Vorherrschaft des Politiksystems im Lande zu stärken. Maßgeblicher Protagonist war hier der Jurist und Theologe Georg Spalatin. Es ist bekannt, welche überaus bedeutende Rolle auch Philipp Melanchthon im Leben Luthers und, nach dem Durchbruch des Protests, in der Reformationsbewegung gespielt hat (Abb. 12). Auch in den frühen Jahren ab 1519/20 wurde er schon zur wichtigen Figur im Wittenberger Team.²⁵⁶ Lucas Cranach war für die Bilder zuständig. Unter politischen Vorzeichen war es jedoch vor allem Spalatin, der maßgeblichen Einfluss auf Luther gewann. „Spalatin entfaltete während der Reichstagsverhandlungen in Worms eine fieberhafte Tätigkeit, wie sich aus den die Angelegenheit Luthers betreffenden Akten ergibt. Obwohl seine Mitwirkung nach außen wenig in Erscheinung trat – den wichtigsten Teil der Verhandlungen mit den Vertretern des Kaisers führte Gregor Brück – war er die eigentlich treibende Kraft; in seinen Händen liefen alle Fäden zusammen: er führte die Korrespondenz mit Luther und den anderen Wittenbergern“.²⁵⁷ Georg Burkhardt aus Spalt (1484 – 1545), der sich nach der Sitte der Zeit den Humanistennamen Spalatin zulegte, war zunächst Prinzenerzieher am kurfürstlichen Hof, wurde dann aber Hofkaplan (Abb. 13). Als Kaplan war er Chef der kursächsischen Kanzlei (der Cappella), über dessen Tisch alle Schriftstücke der Regierung gingen, zugleich Geheimsekretär, Archivar. Von weitreichender Bedeutung wurde es zudem, dass Spalatin engster Berater des Kurfürsten in Sachen Religion und Wissenschaft war, ein Amt, das wir heute vielleicht Religions- und Kultusminister des Kurfürstentums nennen würden.Während Luther die SpalatinBriefe nicht sammelte, archivierte Spalatin die mehr als 400 an ihn gerichteten Briefe Luthers nach kanzlistischer Manier. Ihre Frequenz steigt 1517 bis 1521 (bis zum Wormser Reichstag) immer mehr, sinkt dann ab. Luthers Briefe stellen eine
Kohnle 2001, S. 22. Berbig 1906, S. 68, 109, 130. Höss 1956, S. 189.
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Abb. 12: Philipp Melanchthon. Kupferstich von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1526. Die Beischrift lautet auf Deutsch: ‚Dürers geschickte Hand konnte wohl des lebenden Melanchthons Züge darstellen, nicht aber seinen Geist.‘
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Abb. 13: Georg Spalatin. Ölgemälde von Lukas Cranach d.Ä. von 1537. Ex. Karlsruhe Kunsthalle.
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Abb. 14: Friedrich der Weise. Kupferstich von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1524. Die Beischrift lautet in dt. Übersetzung: ‚Er liebte das Wort Gottes in großer Frömmigkeit, würdig, verehrt zu werden in alle Zukunft. Dem Herrn Friedrich, Herzog von Sachsen, des Heilgen Römischen Reiches Erzmarschall, Kurfürst, schuf es Albrecht Dürer aus Nürnberg. Dem Hochdverdienten schuf er es als Lebender dem Lebenden 1524‘.
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Quelle erster Güte über die intensive Zusammenarbeit Luthers mit der kursächsischen Administration und Politik dar. Georg Berbig hat auf dieser Basis 1906 eine höchst aufschlussreiche Rekonstruktion der Zusammenarbeit Luthers mit Spalatin, dem Kurfürsten und den andere Räten am sächsischen Hof vorgelegt. Berbig kommt zu dem Befund, dass Luther so in die politischen Kalküle Kursachsens eingebunden war, dass er an die Mächtigen der Zeit nur „auf Vorwissen und mit Rat des intimsten Freundes“ Spalatin schrieb.²⁵⁸ Im Briefwechsel der beiden Männer mit fast gleichen Lebensdaten geht die Initiative regelmäßig von Spalatin aus, und Luther unterrichtet seinen ‚Vorgesetzten‘ stets vertrauensvoll von allen „Plänen und Arbeiten“, weil er sich mit ihm einig weiß.²⁵⁹ Der kursächsische Rat Spalatin ist jene Brücke, über die Luthers Gedankenwelt an den kurfürstlichen Hof und ins Bewusstsein Friedrichs III. (des Weisen), des wichtigsten deutschen Kurfürsten kommt (Abb. 14). Als 1516 die sensationelle Erasmus-Ausgabe des Neuen Testaments erscheint, treten Luther und Spalatin erstmals in ein vertieftes theologisches Gespräch ein. Aus einem Brief vom 14. Dezember 1516 erfahren wir, dass sich auch der Kurfürst erstmals für Luther zu interessieren beginnt, weil dieser gute Ratschläge im Fall Reuchlin gegeben hatte.²⁶⁰ Luther berät den frommen Kurfürsten jetzt noch bei seiner Reliquiensammlung, später wird er ihm verdeutlichen können, dass sich Seelenheil nur über eine rein geistige Dynamik vollzieht, nicht über das Sammeln von Körperrelikten. Die in der Lutherforschung immer wieder auftauchende Einzelgänger- oder Einzelkämpferthese stimmt vermutlich nicht einmal für den Anfang des öffentlichen Wirkens Luthers, als der Thesenanschlag vorbereitet wurde. Schon damals führte Luther wohl im Freundeskreis theologische Gespräche mit Spalatin über brisante Themen. Ende August 1517 schickt Luther an Spalatin eine Einladung zu einer Tischgesellschaft im Wittenberger Kloster, an der auch Jacob Vogt, einer der Beichtväter des Kurfürsten, sowie der humanistisch gesonnene Professorenkollege Otto Beckmann und der Nürnberger Humanist Christoph Scheurl (ehemals Professor in Wittenberg) teilnehmen sollen. Spalatin muss den Wein beschaffen. „Ohne Zweifel waren es reformatorische Gedanken,“ schreibt der Spalatin-Forscher Georg Berbig, „die jene Unterhaltung erfüllten. Durch den obengenannten Beckmann schickt Luther wenige Tage später die 99 Thesen, gegen die scholastische Theologie und gegen Aristoteles gerichtet, nach Erfurt an Joh. Lang und erbietet sich zur Verteidigung derselben. Diesen Konklusionen sollten wenige
Berbig 1906, S. 6. Berbig 1906, S. 7. WA Briefwechsel 1, Nr. 30, S. 78; Berbig 1906, S. 15 f.
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Wochen später die weltgeschichtlich gewordenen 95 Thesen über den Ablass folgen“.²⁶¹ Berbig kommt zu einer bemerkenswerten Beurteilung dieses Treffens: „Vielleicht aber bildete schon damals bei jener Zusammenkunft im Augustinerkloster in Wittenberg das Thema vom Ablasshandel einen Teil der Unterhaltung. Nur wenige Tage nach dem Thesenanschlag schreibt Luther an Spalatin: ‚Ich wünsche nicht, dass u n s e r e Thesen in die Hände des Kurfürsten oder irgendeines Hofbeamten früher kommen, als in die der Gegner, damit letztere nicht etwa glaubten, dass diese Thesen entweder auf Befehl oder mit Billigung des Kurfürsten herausgegeben seien, aus Feindschaft zum Magdeburger Erzbischof‘. Offenbar hat also Spalatin um den Thesenanschlag gewusst, vielleicht schon vor ihrer Veröffentlichung, und Spalatin war auch die Mittelsperson, die dieselben dem Kurfürsten unterbreitete und an höchster Stelle verteidigte und vertrat.“²⁶² Der Kurfürst wollte sich zwar bedeckt halten, geriet aber immer mehr in einen inneren Zwiespalt. Als zutiefst religiöser Mensch, der wie Luther ein Leben lang nach einem gnädigen Gott suchte, konnte sich Friedrich der Weise der Lehre Luthers und damit dem Sog des Protests kaum noch entziehen. Trotzdem sah er sich bis zuletzt auch immer noch als Repräsentant und Teil der Macht im Reich, was er institutionell gesehen auch war. Der Kurfürst wird dennoch von seinem geistlichen Berater Spalatin für Luthers Thesen gewonnen. Friedrich ist Stellvertreter des Kaisers aus dem Kreis der Kurfürsten und will sich in Sachen Luther und Protest solange bedeckt halten wie nur irgend möglich. Etwas anachronistisch könnte man seinen Politikstil und seine Imagepolitik als ‚präsidial‘ bezeichnen, also öffentlich immer vermittelnd und über den Schachzügen der operativen Alltagspolitik stehend.²⁶³ Er hat im Reich eine Schlüsselstellung inne, wird bald, nach dem Tod des Kaisers Maximilian I. im Jahr 1519 (als zweiter Mann nach dem Kaiser), die Reichsverweserschaft übernehmen und damit zum Organisator der anstehenden deutschen Königswahl.²⁶⁴ Friedrich will und kann sich daher zunächst nicht offiziell als Exponent des Protests darstellen. Die heute in der Forschung als „Lutherschutzpolitik“²⁶⁵ bezeichnete Linie Kursachsens entwickelte sich erst langsam und bis zum Wormser Reichstag nur verdeckt. In paradoxer Weise und wider Willen zeigt sich an Friedrich die in der Neuzeit in bestimmten Entwicklungsphasen unumgängliche Verschränkung von Protest und Macht, die am Ende dazu führt, dass der evangelische Protest in einer neu konfigurierten Machtlage im Hegel’schen Sinn „aufgehoben“ wird.
Berbig 1906, S. 19 f. Berbig 1906, S. 20. Vgl. Kessel 1961, S. 176. Berbig 1906, S. 56; Kohnle 2001, S. 28. Kohnle 2001, S. 22.
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Luther akzeptiert die offizielle Zurückhaltung der kursächsischen Politik und versucht ab 1518, Gerüchten entgegenzuwirken, der Kurfürst stecke hinter dem Thesenanschlag (den als physischen Vorgang des Hammerschlags vielleicht nur der Universitäts-Pedell ausgeführt hat). Doch die Verschwörungstheorie, der Kurfürst stecke mit Luther unter einer Decke, hält sich hartnäckig.²⁶⁶ Im Jahr 1518 gehen Luther und Spalatin auch die Wittenberger Universitätsreform im Geist des neuen Renaissancehumanismus an, die sich im Jahr 1519 fortsetzt. Man schafft die Zweite-Hand-Theologie mit ihrer Autoritätenlektüre, die alten Fächer und das alte Kirchenrecht ab; dafür gilt jetzt die humanistische Maxime ‚zurück zu den Quellen‘ (ad fontes). Jetzt soll auch das von Luther geschätzte humanistische Fach Rhetorik auf den Studienplan.²⁶⁷ Spalatin leitet, Luther konzipiert.²⁶⁸ Ostern 1518 predigt Luther vor dem Kurfürsten und dieser gibt intern eine erste Schutzversicherung für Luther ab.²⁶⁹ Später frühstückt Luther mit dem kurfürstlichen Rat Pfeffinger.²⁷⁰ Er brauche Hilfe, schreibt Luther am 8. August 1518 an Spalatin. Es geht darum, dass der Kurfürst und Pfeffinger auf dem Augsburger Reichstag die Auslieferung Luthers nach Rom verhindern sollen. Der Brief vom 21. August 1518 macht deutlich, dass Luther selbst das politische Vorgehen des Kurfürsten gegen die römischen Werke der Finsternis plant, wie es heißt.²⁷¹ Die kursächsische Hofgesellschaft hört Anfang September auf der Rückreise von Augsburg Luthers Predigt in Weimar.²⁷² Luther reist in entgegengesetzte Richtung nach Augsburg, wo er mit dem päpstlichen Legaten Cajetan zusammentreffen soll. Der kursächsische Rat Fabian von Feilitzsch hat dieses Treffen mit einer kurfürstlichen Petition an Cajetan zu beeinflussen versucht.²⁷³ Spalatin wird laufend über die für Luther gefährlichen Vernehmungen in Augsburg informiert, und er informiert seinerseits „während der ganzen Zeit den Reformator“.²⁷⁴ Luther flieht am Ende aus der für ihn unsicher gewordenen Stadt Augsburg. Ende Oktober 1518 vermittelt Spalatin dessen Dank an den Kurfürsten als „Agent im besten Sinne des Wortes“.²⁷⁵ Ende November 1518 kommt es zu einer Krise der Dreierkonstellation SpalatinLuther-Kurfürst, weil der Kurfürst über Luthers Veröffentlichung der Augsburg-
Berbig 1906, S. 38, 59, 92. Berbig 1906, S. 61, 80; Knape 2014b. Berbig 1906, S. 28, 32, 39, 47, 57, 63. Berbig 1906, S. 29. Berbig 1906, S. 30. WA Briefwechsel 1, Nr. 85, S. 188; Berbig 1906, S. 33 – 35. Berbig 1906, S. 40, 51. Berbig 1906, S. 41. Berbig 1906, S. 43. Berbig 1906, S. 43.
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Akten verstimmt ist. Luther will nun Wittenberg verlassen und nach Frankreich flüchten, um Kursachsen nicht ins Gerede zu bringen. Im Frühjahr 1520 wird das Problem einer eventuellen Flucht erneut auftauchen. In der Krise am Ende des Jahres 1518 entwickelt Luther selbst ein politisches Konzept, wie es auf Reichsebenen mit seinen Ansätzen weitergehen kann. Es kommt zu Verhandlungen zwischen ihm und Spalatin. Im Brief vom 2. Dezember 1518 trägt Luther zum ersten Mal den Plan seiner Entführung bzw. seiner eigenen Gefangensetzung „an einem sichern Orte“ vor. „Luther überlässt aber diesen Rat Spalatin zur Prüfung und Begutachtung.Wir wissen, dass derselbe erst im Mai 1521 zur Ausführung kam“.²⁷⁶ Noch während des Wormser Reichstags 1521 greifen Spalatin und der Kurfürst also auf diese Idee aus dem Jahr 1518 zurück und ziehen Luther zur Sicherheit und zur Beruhigung der Gemüter durch die Wartburg-Entführung für knapp ein Jahr aus dem Verkehr. Luther wird dieses Vorhaben in Worms erst kurz vor dem Geschehen durch zwei kursächsische Räte eröffnet.²⁷⁷ Im Brief vom 8. Dezember 1518 erfahren wir, dass sich der Hof nach der genannten Vertrauenskrise nun doch endgültig zu Luther bekennt. Er soll nicht nach Rom ausgeliefert werden. Der Reformator ist glücklich. Angesichts der engen Verbindung von Luther und Spalatin wirft Berbig die Frage auf: „Was wäre aus Luther geworden und aus seiner Sache in allen ihren Konsequenzen, schon in Augsburg, hätte Spalatin gefehlt als Freund, Berater,Vermittler, ja Beschützer?“²⁷⁸ Wir können hinzufügen: Was wäre aus Luther geworden, wenn Spalatin, die anderen kursächsischen Räte und Luthers eigene Leute den Reformator 1521 vor Worms und in Worms nicht beraten hätten? Seit der Krise Ende 1518 wird das Verhältnis zwischen Luther und Spalatin immer enger, und im Jahr 1519 tritt uns die politische Planung von Luther und Kurfürstenhof genauestens abgestimmt entgegen.²⁷⁹ Luther begutachtet im Januar 1519 und im Januar 1520 Spalatins politischen Briefwechsel,²⁸⁰ Anfang November 1519 schickt Luther einen Brief an den Kurfürsten, den Spalatin ihm „vorgeschrieben“ hat.²⁸¹ Auch später legt Luther seine politisch relevante Korrespondenz dem Freund und kurfürstlichen Rat vor.²⁸² Alle kurfürstlichen Verfügungen und Mitteilungen zur Causa Lutheri werden 1519 an Luther weitergeleitet;²⁸³ zugleich wird der Kurfürst über alle Entwicklungen zu
Berbig 1906, S. 45; Brief vom 2. Dezember 1518 in WA Briefwechsel 1, Nr. 116, S. 260, Z. 8 – 10. Berbig 1906, S. 149 f. Berbig 1906, S. 49. Kohnle 2001, S. 39. Berbig 1906, S. 55, 95. Berbig 1906, S. 77. Berbig 1906, S. 104. Berbig 1906, S. 56, 84.
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seinem berühmten Professor informiert.²⁸⁴ Wiederholt beschenkt der Kurfürst Luther.²⁸⁵ Luther weiß, was er an Spalatin, seinem „Gestade“ in stürmischer See, hat.²⁸⁶ Am 6. Juli 1520 erfahren wir, dass Spalatin die neuesten Nachrichten zur Vorbereitung des Banns in Rom an Luther weitergegeben hat.Was soll geschehen? Luther schreibt, Spalatin solle selbst entscheiden, was zu tun ist. Später analysiert Luther dann doch die Lage des Kurfürsten und erteilt Maßgaben angesichts der Dummheit Italiens, wie es heißt.²⁸⁷ „Bei mir sind die Würfel gefallen“, schreibt Luther am 10. Juli 1520.²⁸⁸ Am 6. Juli waren am kurfürstlichen Hof in Lochau Briefe aus Rom eingegangen, die auf die Gefahr hinwiesen, in der Luther schwebte. Luther macht daraufhin politische Vorschläge.²⁸⁹ Bei Berbig heißt es: „Spalatin hatte sofort am folgenden Tag diese Briefe nach Wittenberg gesandt, mit der Frage, wie sich Luther dazu stelle, und was nach seiner Ansicht zu antworten sei. Luthers Antwort vom 9. Juli liegt vor. Wie selten ein Brief, kennzeichnet dieses Schreiben die ganze Situation. Der Vorsicht halber hatte Spalatin diese Schreiben unter festem Siegel und Verschluss geschickt. Luther sendet dieselben ebenso zurück.“²⁹⁰ Als Gemeinschaftswerk von Spalatin und Luther entsteht ein offener Brief an Karl V. Die gemeinsamen Vorbereitungen von Kurfürst, Spalatin und Luther auf den Wormser Reichstag beginnen; die gemeinsamen politischen Positionen des ‚Triumvirats‘ (wie man mit dem nötigen Vorbehalt sagen könnte) stehen Ende August 1520 fest.²⁹¹ Spalatin wird politisch immer mehr zum „Inspirator Luthers“, schreibt ihm wieder einen Brief an den Kurfürsten vor.²⁹² Schon im Frühjahr 1521 weilt Spalatin auf dem Reichstag in Worms und stimmt sich mit Luther ab. Im Februar 1521 rät er Luther zur Mäßigung im Schreiben. „Am 19. März hatte Luther den letzten Brief Spalatins erhalten und damit wohl auch die Gewissheit, dass er nach Worms bestimmt behufs Widerruf vorgeladen werde.“²⁹³ Zweifellos hat Spalatin Luther auch über all jene Besprechungen auf dem Reichstag berichtet, in denen öffentlich und geheim über einzelne Widerrufsartikel gesprochen wurde. „Während des Aufenthalts Luthers zu Worms ruhte selbstverständlich der schriftliche Verkehr zwischen beiden Männern. Um so reger
Berbig 1906, S. 76. Berbig 1906, S. 21, 80, 111, 121. WA Briefwechsel 1, Nr. 138, S. 310, Z. 8; Berbig 1906, S. 56. Berbig 1906, S. 114– 116. Berbig 1906, S. 118. Kohnle 2001, S. 43. Berbig 1906, S. 115. Berbig 1906, S. 123. Berbig 1906, S. 135. Berbig 1906, S. 146.
Luthers erstes Verhör am 17. April 1521
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gestaltete sich der mündliche, und es verging sicher kein Tag, an dem sie sich nicht gesehen hätten.“²⁹⁴ Bei den späteren Verhandlungen bis zu Luthers Abreise ist Spalatin fast immer dabei. In Worms dabei ist auch noch eine andere Gruppe, von der Spalatin in seinem sehr bald gedruckten Bericht über die Wormser Ereignisse spricht. Es ist eine kleine Gruppe von Wittenberger Akademikern, die Luther vor Ort beraten und von denen wir noch in verschiedenen Zusammenhängen hören werden.
Luthers erstes Verhör am 17. April 1521 Das ganze intellektuelle und politische Deutschland schaut ab dem 16. April 1521 auf die Stadt Worms. In einer zu dieser Zeit als Flugschrift verbreiteten ‚Litanei der Deutschen‘ wird Gott immer wieder auch um Aleanders innere Umkehr gebeten und zugleich Fürbitte für Hutten und die Sache Luthers geleistet.²⁹⁵ Aleander hatte noch im Februar ängstlich aus Worms nach Rom berichtet, neunzig Prozent der Deutschen schrien nach Luther, „und für das übrige Zehntel, falls ihm Luther gleichgültig ist, lautet die Losung wenigstens: ‚Tod dem römischen Hofe‘.“²⁹⁶ In Worms „schreien nicht nur die Steine, sondern sogar die Hölzer: ‚Luther, Luther!‘.“²⁹⁷ Angesichts des so nie dagewesenen öffentlichen Interesses, angesichts der Parteiungen und publizistischen Kampagnen wollte die Mehrheit der Fürsten und der anderen Stände auf dem Reichstag eine gütliche Regelung. Im Lager der römisch-kaiserlichen Macht gab es aber auch Radikale, die vorschlugen, nach dem Präzedenzfall Jan Hus zu verfahren und Luther zu töten. Gemäß Tischreden erfuhr Luther später, dass der päpstliche Nuntius Caracciolo in Worms darauf drängte, „man sollte mich verbrennen, aber der Pfalzgraf und Fürsten von Bayern wollten das Geleit nicht brechen. Es wäre auch ein Aufruhr daraus geworden.“²⁹⁸ Was sein Leben anging, konnte sich Luther nach der Ankunft in Worms also relativ sicher fühlen. Doch was konnte er über die inhaltliche Seite des angestrebten Verhörs wissen? Auf jeden Fall war er von den kursächsischen Räten, insbesondere Spalatin, über den Diskussionsstand in Worms in Kenntnis gesetzt. Mit anderen Worten: Er wusste, was auch Aleander wusste und über den 19. Februar nach Rom als Verhandlungsergebnis der Stände berichtete: „Über die Autorität des Papstes, die Dekrete und Dekretalien erklärte der Kaiser unter keinen
Berbig 1906, S. 147. Walch 15, Sp. 1829 – 1835. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 6, 08. Februar 1521), S. 69. Aleander an Eck, 16. Februar 1522, in Balan 1884, S. 58. Walch 15, Sp. 1839 f.
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Umständen eine Disputation zulassen zu können, sondern, wenn Luther kommen solle, dürfe er nur gefragt werden, ob er jene Bücher verfasst habe, und wenn er sich dazu bekenne, ob er aufrecht erhalten und verteidigen wolle,was er gegen den Glauben und die Satzungen und Gebräuche geschrieben habe, ‚die unsere Väter bis auf den heutigen Tag in allen Stücken beobachtet haben‘. Im Falle des Widerrufs werde er, der Kaiser, es auf sich nehmen, ihm die päpstliche Absolution zu verschaffen,“ im andern Fall werde Luther als Ketzer bestraft.²⁹⁹ Am 19. Februar ist Aleander folglich noch guter Dinge, wenngleich ihn auch gewisse Ahnungen beschleichen, dass im undurchsichtigen Wormser Verhandlungsklima doch noch etwas für ihn Ungünstiges passieren könne: „Der Kaiser macht uns gute Hoffnung und ist zuverlässig; wenn es nur alle die anderen auch wären! Nun, wir werden ja sehen, was seine Räte sagen werden“.³⁰⁰ Und in der Tat hat sich die Lage kurz vor Luthers Ankunft wieder geändert. Aleander schreibt im April, der päpstliche Nuntius Caracciolo habe am Sonntag, den 14. April, gehört, „dass die kaiserlichen Räte beabsichtigten, zwischen den Irrlehren Luthers einen gewissen Unterschied zu machen: er sollte nur einige den Glauben betreffende Sätze widerrufen, seine Angriffe auf die päpstliche Gewalt aber wollten sie ihm durchgehen lassen.“³⁰¹ Diese letzten Sätze beziehen sich auf die sogenannte quicquam-Lösung, d. h. Luther sollte nur bestimmte Punkte widerrufen. Damit hätte er sich auf einen diplomatischen Weg eingelassen und kompromissbereit gezeigt. Man hätte dann weiter verhandeln können. Die Kritik am Papst sollte kaiserlicherseits toleriert werden, weil man sie untheologisch auch als Variante der vom Reichstag ebenfalls diskutierten Beschwerden gegen Rom (Gravamina) interpretieren konnte. Ansonsten war klar, dass man Luther seine Bücher vorlegen und fragen würde, ob er dazu stehe. Der entscheidende Punkt war die Widerrufs-Frage. Würde man ihn angesichts seiner Schriften zu einem pauschalen General-Widerruf auffordern oder zum quicquam-Widerruf? Luther musste sich bei seiner Vorbereitung einer Stellungnahme auf beides einstellen, auch wenn er beides innerlich ablehnte.Von einer Disputation, wie er sie sich wünschte, konnte er bei seiner Ankunft in Worms realistischerweise nicht mehr ausgehen.Vor den Ständen des Reichstags wäre das auch sprachlich und technisch nicht möglich gewesen. Eine Disputation hätte auf Latein unter Fachleuten geführt werden müssen und sehr viel Zeit gekostet. Das kam angesichts der dichtgedrängten Tagesordnung des Reichstags nicht in Betracht. Da Rom als zuständige Instanz bei Ideologiefragen schon geurteilt hatte, war das auch juristisch von der weltlichen Seite der Macht kaum noch ins Auge zu
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 10, 27. Februar 1521), S. 96. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 9, 18. Februar 1521), S. 90. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 17, 15. April 1521), S. 166.
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fassen. Man musste also davon ausgehen, dass irgendeine Art kurzer Prozess angestrebt war. Für die Disputationslösung hat man dann später tatsächlich in einem gewissen Sinn durch die Nachverhandlungen Raum geschaffen. Das war aber zu Beginn noch nicht absehbar. Am Morgen des 17. April, einem Mittwoch, machte Luther zunächst einen Krankenbesuch bei dem bettlägerigen kursächsischen Rat Hans von Minkwitz, ließ ihn beichten und reichte ihm das Sakrament.³⁰² Noch vor Tisch, also vor zehn Uhr morgens, kam der vom Kaiser geschickte Reichserbmarschall Ulrich von Pappenheim zu Martin Luther und zeigte ihm den kaiserlichen Befehl, nach dem er nachmittags um vier Uhr vor dem Kaiser und allen Ständen des Reichstags zu erscheinen habe, um mitgeteilt zu bekommen, weswegen er vorgeladen worden sei.³⁰³ Über die folgenden Stunden des Tages wissen wir wenig. Spalatin berichtet, dass er sich mit Luther beraten habe. Auch die anderen kursächsischen Räte waren anwesend. Nachmittags versammelte sich der Reichstag in einem Saal des bischöflichen Palastes oder „Bischofshofes“,³⁰⁴ wo der Kaiser und sein Bruder Ferdinand logierten.³⁰⁵ Da die Zahl der Plätze begrenzt war, konnte nur eine Auswahl der Reichstagsvertreter anwesend sein. Lange danach, in den Tischreden, wird dieses Tagungshaus des Reichsrats einfach als „Rathaus“ bezeichnet. Als es vier geschlagen hatte, kamen der genannte von Pappenheim und der Herold Kaspar Sturm, forderten Luther auf mitzukommen, und führten ihn sicher durch den Deutschen Hof bis in die Herberge des Pfalzgrafen. Dieser Vorgang war nicht ohne symbolische Bedeutung von Seiten der Macht eingefädelt, war es doch auch ein Pappenheimer, der 1415 Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil, schon auf dem Scheiterhaufen stehend, nochmals zum Widerruf aufgefordert hatte. Jetzt freilich, fast genau hundert Jahre später, brauchte Luther in diesem Begleitschutz keinen Gegner zu sehen. Man führte ihn auf heimlichem Wege durch die Gärten der Johanniter und auf Seitenwegen zum Bischofshof, „damit ihm von der Menge des Volks, die sich auf der Straße hin zur kaiserlichen Herberge versammelt hatte, nichts widerführe. Trotzdem bekamen es viele mit, liefen hinzu und wollten mit hineindrängen. Aber die Schutzleute trieben sie mit Gewalt weg. Viele stiegen auf die Dächer und Häuser, um Doktor Martin zu sehen.“³⁰⁶
Köstlin 1903, S. 410. Walch 15, Sp. 1918. Eich 1863. Spalatins Bericht über die Handlungen mit Dr. Luther auf dem Reichstage zu Worms und Dr. Luthers Rede an den Kaiser, die Fürsten und Stände in: Förstemann 1842, S. 69. Walch 15, Sp. 1918.
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Die Zeit schritt voran. Die Verhandlungen des Reichstags zu anderen Themen gingen bis sechs Uhr. Erst dann ließ man Luther vor. Im großen Saal des Reichsrates im ersten Stock der bischöflichen Pfalz wurde Luther von den Ständen mit Spannung erwartet. Myconius berichtet später: „Der Kaiser saß in seiner Majestät mit allen Kurfürsten zusammen mit allen Fürsten, Bischöfen und Prälaten des Reichs. Die Grafen, Herrn und Ritter standen. Und als Luther vortreten sollte, entstand solch ein Gedränge, dass man mit Stangen und Hellebarden Platz schaffen musste, dass er vor den Kaiser treten konnte. Es waren wohl vier Kardinäle und Legaten von Rom da, die alle nach Luthers Blut dürsteten, abgesehen von den anderen Legaten und zahllosem Volk und vielen Gelehrten, die vorhanden waren.“³⁰⁷ Wie beschreibt Aleander, der wichtigste dieser Vertreter Roms, die Szene und das Verhalten Luthers? „Der Narr war mit lachender Miene eingetreten,“ beginnt er den Bericht, „und hatte vor dem Kaiser unaufhörlich den Kopf hin und her gewendet; beim Fortgehen schien er nicht so munter zu sein.“³⁰⁸ Mit anderen Worten: Luther trat recht gelöst auf, wenig verkrampft, im Gestus nicht mit bewegungslos gesenktem Haupt und Untergebenheitsgestus gegenüber Kaiser und Hochadel, sondern mit ostentativem Blickkontakt zu den Anwesenden. Den Augsburger Gesandten Conrad Peutinger, mit dem er in Briefkontakt stand, begrüßte er mit den Worten: „Doktor Peutinger, seid ihr auch hier?“³⁰⁹ (Abb. 15). Aleander fand all das höchst unangemessen. Luthers Auftritt bestätigte seine Einschätzung, dass sich dieser Mönch längst nicht mehr seinem niederen Klerikalstatus gemäß demütig verhalten konnte, schon gar nicht wie ein Büßer, was seinem Ketzerstatus entsprochen hätte. Für ihn war dieser Mann verloren. Über den Fortgang der Verhandlung unterrichten uns verschiedene Quellen. Den von dem Erfurter Juristen Justus Jonas verfassten ‚Acta et res gestae‘ zu Worms spricht die Forschung eine Art Protokollcharakter zu.³¹⁰ Dort wird berichtet, dass das Verhör mit einem Hinweis Ulrichs von Pappenheim auf die Verhandlungskonventionen begann. Luther habe sich an ein Frage-Antwort-Reglement zu halten und dürfe nur reden, wenn er gefragt werde. Das ließ nichts Gutes erwarten, denn es bedeutete, dass die Macht auf die Widerrufsfrage und Ja-Nein-Äußerungen Luthers hinaus wollte, keine Gelegenheit zu längeren Erklärungen einzuräumen bereit war. Dass Luther diese Ermahnung als Hinweis auf prozessrechtliche Verhaltensnormen verstand, zeigte sich dann später in seiner Erwiderung, bei der er, wie vor Gericht, ohne höfische Anredefloskeln ganz direkt antwortete.
Myconius: Geschichte der Reformation, S. 35. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 19, 17. April 1521), S. 171. Lutz 1958, S. 189; Peutinger: Briefwechsel, Nr. 209, S. 338. Über die Quellen und Berichte zum ersten Verhör Walser 1928, S. 126.
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Abb. 15: Conrad Peutinger. Bronzemedaille von Hans Hagenauer aus dem Jahr 1527. Ex. Augsburg Städtische Kunsthalle.
Der für die Verhandlung ausgewählte Ankläger, der „kaiserliche Orator“ Doktor Johann von der Ecken ergriff als Erster das Wort. Er bekleidete normalerweise als studierter Jurist das Amt des Offizials im geistlichen Kurfürstentum Trier, war dort also Vorsitzender des höchsten bischöflichen Gerichts. Mit hoher und vernehmlicher Stimme fragte er Luther gemäß dem Befehl des Kaisers, erst lateinisch, danach deutsch:
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„Erstens, ob du bekennst, dass diese Bücher die deinen sind“, wobei ein großes Konvolut und Bündel, lateinisch und deutsch geschriebener Bücher vorgezeigt wurde, „ob du sie als die deinen anerkennst? und ob du etwas widerrufen willst (quicquam retractare)“.³¹¹
Abb. 16: Die zwei Parteien in Worms vor dem Kaiser. Neben den Büchern in der Mitte links der kaiserliche Orator Von der Ecken, gegenüber in der Mitte rechts Luther. Titelholzschnitt der Schrift Doctor Martini Luthers offenliche Verhör Zu Worms jm Reichstag/ Red/ Vnd Widerred Am. 17. tag/ Aprilis/ Jm jar 1521 Beschechen. Augsburg, Melchior Remminger, 1521 (= VD16 L 3655).
Bevor Martin Luther darauf antworten konnte, mischte sich sein Rechtsbeistand, der kursächsische Rat Doktor Hieronymus Schurf, ein und „rief überlaut“, wie es heißt: „Man zeige die Bücher mit dem Namen an (legantur tituli librorum).“ Da zählte der Trierer Offizial die neunzehn Schriften mit den Buchtiteln auf.³¹² Dieser Zwischenfall macht deutlich, dass Luther im Team auftrat, dass man gut vorbereitet war und auf jedes juristisch relevante Detail achtete. Ein bald nach den Worms-Ereignissen gedruckter Bericht über die Ereignisse vom 17. April zeigt die
RA 2, S. 550, Z. 10 f.; Walch 15, Sp. 1919; Kühn 1914, S. 65. Historie, wie es Doctor Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms Anno 1521 ergangen sei, von ihm selbst zu Eisleben über Tisch erzählet Anno 1546, in: EA 64, S. 369; Walch 15, Sp. 1919.
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Konfrontation von zwei Gruppen vor dem Kaiser, jener der Macht und jener des Protests (Abb. 16). Schurfs Intervention sollte sicherstellen, dass auch wirklich nur Luther-Bücher vorgelegt wurden und keine Pseudo-Luther-Schriften, die zum Nachteil Luthers gegen ihn hätten verwendet werden können. Daran zeigt sich, dass man mit jedem Winkelzug der gegnerischen Seite rechnete und juristisch alles sehr genau nahm. Hintergrund ist die unübersichtliche Flut reformationsfreundlicher Drucke und die Tatsache, dass es eine Diskussion in Worms gab, ob Luther all das wirklich selbst habe schreiben können. Aleander vermutet in seinen Depeschen, dass unter Fachleuten die „Bücher von der schlimmeren Sorte für Werke des Erasmus“ gehalten würden,³¹³ und der Kaiser gesagt habe, dass er gar nicht begreifen könne, wie dieser Mann jene Bücher geschrieben haben sollte. Wiederholt erklärte Karl V. demnach, dass er das nicht glaube und nie glauben werde.³¹⁴ Luther selbst erzählt später von seiner Verwunderung darüber, woher man all seine Bücher bekommen habe, die alle der Reihe nach auf einer Bank lagen.³¹⁵ Er konnte nicht wissen, dass Aleander in der Zeit vor dem Worms-Termin seine Späher und Informanten darauf angesetzt hatte, alle juristisch verwertbaren Äußerungen Luthers zu sammeln. Dessen Anklagerede vom Februar lässt daran keinen Zweifel. Erst nachdem nun im ersten Verhör Luthers geklärt ist, dass 19 authentische Schriften des Wittenbergers zur Verhandlung stehen, antwortet Luther auf Deutsch, dann auf Latein. Luther trat am Anfang freundlich grüßend nach allen Seiten auf, was Aleander ja als närrisches Lachen und Halsverrenken deuten will. Im Moment der Rede allerdings ist Luther ernst und von betonter Zurückhaltung in der Performanz. Er spricht nicht laut tönend, sondern betont zurückhaltend. Genau das passt zum Image des schlichten Mönchs, das für den ersten Tag vorgesehen ist. Der Frankfurter Gesandte Fürstenberg berichtet ähnlich wie der spanische Staatsbericht entsprechend nach Hause, dass Luther „mit niedergelassener Stimme“,³¹⁶ also recht leise gesprochen habe. Dieser Eindruck kann freilich auch damit zu tun haben, dass Fürstenberg nach eigenem Bekunden zu weit entfernt stand und nicht wirklich alles genau hören konnte. Insofern relativiert sich auch seine viel besprochene Beobachtung, Luther habe bei der Vorhaltung des Offizials „erschrocken und entsetzt“ gewirkt. Das ist wohl eher als eine nachträgliche Projektion Fürstenbergs anzusehen, zumal sonst niemand
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 7, 12. Februar 1521), S. 84. AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 22, 29. April 1521), S. 196. Historie, wie es Doctor Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms Anno 1521 ergangen sei, von ihm selbst zu Eisleben über Tisch erzählet Anno 1546, in: Luther Erlanger Ausgabe 4, 12, S. 369; Walch 15, Sp. 1919. RA 2, S. 863; RA 2, S. 634; Kessel 1961, S. 174.
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darüber berichtet, auch nicht Luthers Gegner. Luther jedenfalls antwortet dann direkt und ohne förmliche Floskeln, wie es Pappenheims Ermahnung verlangte: „Zwei Fragen lässt mir die kaiserliche Majestät vorlegen: erstens, ob ich alle Bücher, die meinen Namen tragen, für mein Eigentum erkennen will, zweitens, ob ich entschlossen bin, bei der bisher von mir verbreiteten Lehre zu bleiben oder etwas davon zu widerrufen (quicquam reclamare ex eis). […] Die genannten Bücher muss ich als die meinen bezeichnen und werde niemals eines verleugnen. Wenn es denn heißt, ich solle alles in gleicher Weise aufrechterhalten oder widerrufen (revocare), was man mit dem Zeugnis der Schrift für unvereinbar hält, so antworte ich: Weil es sich hierbei um den Glauben und das Seelenheil handelt und das Größte im Himmel und auf Erden, das Wort Gottes betrifft, vor dem wir uns alle in Ehrfurcht beugen sollen, so darf ich mich nicht dreist der Gefahr aussetzen, dass ich ohne Vorbereitung etwas behaupte, wodurch ich entweder meiner Sache oder aber der Wahrheit etwas vergeben könnte; denn beides würde mich in das Wort Christi verstricken, wo er sagt: Wer mich vor den Menschen verleugnet, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater [Matth 10, 32]. Deshalb bitte ich in Demut Eure kaiserliche Majestät um Bedenkzeit, damit ich, ohne das Gotteswort zu verletzen und meine Seele zu gefährden, die rechte Antwort auf die Frage geben möge.“³¹⁷
Das war ein unerwarteter Coup, der für Verblüffung sorgte. Die Bitte um Bedenkzeit hat in der Lutherforschung mehrfach Unverständnis ausgelöst. Hat Luther etwa doch geglaubt, vor dem Reichstag disputieren zu können?³¹⁸ War Luther „für einen Moment befangen“, als ihm dieses Angebot zu Disputation am 17. April nicht gemacht wurde?³¹⁹ Und müssten die Verehrer Luthers es deshalb „hinnehmen, wenn der Reformator durch sein Schwanken kleiner würde“?³²⁰ Solche Überlegungen gehen von einem naiven und unvorbereiteten Luther aus. Sie unterstellen, dass hier ein Held überrascht wird und Schwäche zeigt, im Moment der Bewährung ins Schwanken gerät und nicht etwa einen geplanten Coup mit präpariertem Statement im Sinn hat. Doch ist das wahrscheinlich? Man kann aus dem, was wir über die jahrelange Zusammenarbeit Luthers mit dem sächsisch-kurfürstlichen Regiment, insbesondere mit Spalatin wissen, nicht den Schluss ziehen, ausgerechnet in Worms habe man sich nicht getroffen und vor dem Verhör keine Pläne geschmiedet. Bereits Hausrath hat die Überraschungsthese korrigiert: „Schon die umständliche Begründung seines Antrags zeigt, dass derselbe vorher in Beratung mit seinen Rechtsbeiständen formuliert und keineswegs der Ausfluss einer momentanen
RA 2, S. 548 f.; Kühn 1914, S. 65 f. Kessel 1961, S. 189 f. Kessel 1961, S. 175. Lehmann 1899, S. 181; zit. bei Kessel 1961, S. 175 Anm. 16.
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Befangenheit war“.³²¹ Dass über etwaige geheime Absprachen keine Quellen vorliegen, sollte nicht verwundern. Da Luthers Rechtsbeistand Schurf im Verhör intervenierte, sollte klar sein, dass man die Rollenverteilung vor dem Tribunal abgesprochen hat. Luther jedenfalls dürfte nicht darüber verwundert gewesen sein, dass sein Rechtsbeistand wie ein solcher agiert. Erst im Moment des Verhörs weiß die Luther-Gruppe nämlich ganz genau, was vom Beschuldigten (kirchenrechtlich relevant) gefragt ist, insofern kann er in seinem Statement mit Recht geltend machen, nicht genug vorbereitet gewesen zu sein. Man musste damit rechnen, dass im Verlauf der Entwicklung etwas anderes in Worms auf die Agenda gesetzt würde, als im Zitationsmandat steht. Diese Widersprüchlichkeit in den Ansagen war nun klar. Wir werden noch sehen, wie die Luther-Gruppe darauf reagierte. Dass es um seine Bücher gehen würde, wusste Luther aus den Reichstagsverhandlungen im Februar, und dass er mit der Forderung nach Widerruf konfrontiert werden würde, wusste er spätestens seit dem 19. März 1521 aufgrund eines Briefs von Spalatin.³²² Davon stand aber nichts im Zitationsmandat, mit dem er nach Worms vorgeladen worden war. Der Aufforderung, pauschal die Inhalte seiner Schriften zu widerrufen, konnte Luther aus inhaltlichen Gründen nicht ohne Weiteres nachkommen. Denn in ihnen spiegelt sich eine Denkbewegung als Entwicklung seiner theoretischen Positionen wider, und das heißt in diesem Fall, das Fortschreiten von bestimmten theologischen Positionen zu ganz anderen. Adolf Hausrath hat die daraus entstehende Widersprüchlichkeit und damit die aporetische Lage im Verhör Luthers wie folgt charakterisiert: „Er hatte das Fegefeuer erst bekannt, dann geleugnet, er hatte das Papsttum erst eine gute, menschliche Einrichtung genannt, dann eine Stiftung des Teufels, er hatte der priesterlichen Heilsvermittlung sich gebeugt, dann sie verworfen.Was also sollte er widerrufen, dass ein Fegefeuer sei oder dass keines sei? Dass das Papsttum eine gute menschliche Ordnung sei oder eine teuflische Erfindung? Wie rhetorisch und vom Augenblick eingegeben waren vollends seine rasch hingeworfenen Streitschriften gewesen! Wer sollte von ihm erwarten, er werde Zornesworte aufrecht erhalten wie die, man solle den Mönchen über die Köpfe hauen und sich die Hände im Blute der Priester baden? Solche Worte hatte er schon widerrufen, sobald der Zorn verraucht war. Sogar ausdrücklich hatte er in der größeren Schrift gegen Emser eben diese Äußerung abgelehnt. Auf der anderen Seite musste aber auch der beschränkte Widerruf die Anhänger verstimmen und forderte die Gegner zum Spotte heraus.“³²³
Hausrath 1897, S. 253. Berbig 1906, S. 146. Hausrath 1897, S. 262 f.
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In einer Manöverkritik kurz nach dem Reichstag hat Luther die Disputation als die für ihn selbst einzig adäquate Umgangsweise bei klärungsbedürftigen theologischen Fragen hervorgehoben.³²⁴ Die lange Geschichte der entsprechenden, aber immer wieder gescheiterten Vorverhandlungen hatte seine Haltung in diesem Punkt also nicht geändert. Dennoch wird ihm seine Umgebung, z. B. der mitreisende Erfurter Jurist Justus Jonas, auf der Reise und dann spätestens in Worms rechtzeitig klar gemacht haben, dass die Disputationsfrage seit Verhängung des endgültigen Kirchenbanns für den Wormser Reichstag juristisch erledigt war. Alles andere freilich änderte sich je nach Lage des Diskussionsstandes auf dem Reichstag. Luther blieb keinen Moment uninformiert. Warum hätte man ihn auch von kursächsischer Seite im Unklaren lassen sollen? Der vom Kaiser bestimmte Trierer Offizial jedenfalls stellte seine Fragen weisungsgemäß und im Einklang mit den Ständeverhandlungen. Für Luthers Team konnte es in der Vorbereitung also keinen Zweifel geben, dass man auf dem gegebenen Forum den Widerruf in irgendeiner Weise fordern würde. Es fügt sich zu dem auch sonst hervortretenden kursächsischen Verhandlungsprinzip, schwierige Angelegenheiten dilatorisch zu behandeln, dass auch dieses Mal irgendeine Form von Zeitgewinn für die weitere Strategieberatung herausgehandelt werden sollte.³²⁵ Wenn Beobachter am Ende eine ernste Miene bei Luther sahen, dann sicherlich deswegen, weil zunächst unklar war, ob man ihm Bedenkzeit geben würde und natürlich auch, weil die Aussicht auf den Showdown am nächsten Tag ebenfalls keinen Anlass zur Freude bot. Luther hatte in der gegebenen Situation zu überlegen, ob er sich auf die quicquam-Lösung einließ (einzelne Punkte zurücknehmen) oder ob er einen Widerruf pauschal ablehnen sollte. Ein knapper Widerruf hätte sofort alles beendet, Luthers von den Zeitgenossen als charismatisch empfundenes Prophetenimage wäre katastrophal ruiniert gewesen und seine Sache wäre möglicherweise auf einen Schlag gescheitert. Das aber konnte die Strategie der Protestpartei nicht wirklich vorsehen. Die von ihm jetzt gewünschte Bedenkzeit wäre ein Zugeständnis der Macht, das aber schon im Vorfeld und angesichts der Wormser Verhältnisse als nicht ganz aussichtlos erschienen sein muss. Vertagung ist ein klassisches juristisches Mittel, um neue Weichen zu stellen. Im vorliegenden Fall bestand für Luther jedoch nur die Möglichkeit, selbst eine entsprechende Bitte vorzutragen, weil das Reichstagsverhör kein formaler Prozess mehr in der Sache war. Rom hatte ja bereits entschieden. Der Zeitgewinn ermöglichte der kursäch-
Brief an Lucas Cranach vom 28. April 1521. WA Briefwechsel 2, Nr. 400, S. 305. Berbig 1906, S. 149; vgl. Höss 1956, S. 196.
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sischen Partei nur, die weitere Strategie im Detail mit Blick auf das politische Forum in Worms abzusprechen. Luthers Antwort auf die Frage war zweifellos die klügste in der gegebenen Situation, und wie er hatten sich gewiss nicht alle Teilnehmer der Gegenseite auf sie eingestellt. Sie wirkte also für den Moment wie eine Bombe. Trotzdem war Aleander unterm Strich mit dem ersten Verhör zufrieden, weil jetzt außer Frage stand, dass Luther ohne Wenn und Aber Farbe bekennen musste. Dem erfahrenen Diplomaten war aber auch klar, dass in Luthers Umfeld jetzt über weitere Strategien nachgedacht werden würde. Noch am 17. April schrieb er daher nach Rom: „Dieses erste Auftreten Luthers ist im ganzen nicht übel abgelaufen, wenn er nur morgen nicht, bearbeitet von seinen Anhängern, eine Antwort gibt, die weitere Verzögerung herbeiführt: dem wird man nach Kräften zu begegnen suchen.“³²⁶ Luther und sein Team müssen die Bedenkzeit strategisch eingeplant haben, auch wenn das in der Forschung bisweilen bezweifelt wird.³²⁷ Diese Methode, sich mit Hilfe einer 24-Stundenfrist einen Denkraum für strategische Kalküle zu schaffen, hatte er schon im August 1518 in Augsburg erprobt. Damals hatte der päpstliche Legat Cajetan es geschafft, ihn bei der Papstfrage in die Enge zu treiben. Luther verschaffte sich schon damals in Augsburg Luft durch eine Bedenkzeit. Seinerzeit hatte er am nächsten Tag mit der bereits erwähnten Protestatio eine rechtsverbindliche Treuerklärung vorgelegt, die formal seine Kirchentreue auswies und ihn in diesem Moment vor einer direkten Verurteilung schützte.³²⁸ Jetzt, in Worms, ging es um sehr viel mehr. Darum wäre es leichtfertig gewesen, nicht jeden Schritt mit dem kurfürstlichen Beraterstab durchzudiskutieren, der Luther wie seinerzeit in Augsburg zur Seite stand. Es lag also schon vor dem ersten Verhör nahe, auf eine Verschleppungstaktik zu setzen. Der Diplomat Aleander hat das, wie sein Brief vom selben Tag zeigt, nur zu gut verstanden. Luther wählte für seine Bedenkzeitbitte sorgfältige Argumente, damit man sein Begehren nicht ablehnen konnte. Nichts war dem Zufall zu überlassen. Luthers Statement beginnt mit einem Erhabenheitstopos: Die göttliche Sache, um die es geht, ist so erhaben, dass sich jeder leichtfertige Umgang mit ihr verbietet. Dann gibt Luther zu erkennen, dass er auch nochmal in eigener Sache über seine (juristische) Position nachdenken muss. Das ist ein Signal der Kompromissbereitschaft, das die Juristen unter den kaiserlichen Räten sofort verstehen. Es geht ja um das Leben eines gebannten Ketzers. Der Widerruf, so war den Kursachsen versprochen worden, rettete Luther vor dem Scheiterhaufen. Bedenkzeit hieß, dass diese
AD ed. Kalkoff 1987 (Nr. 17, 17. April 1521), S. 172. Kessel 1961, S. 174 f. Leppin 2010, S. 139 f., 173.
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Möglichkeit noch nicht ausgeschlossen war. Schließlich kommt Luther auf das Wichtigste zu sprechen. Es geht um die Sache Christi, und deshalb haben alle, auch er selbst, die allergrößte Sorgfaltspflicht. Das rechtfertigt ein weiteres Nachdenken. Die gewählte Taktik entsprach im Kern jedoch dem Habitus der Politik des Kurfürsten Friedrich, dessen Maxime in schwierigen politischen Lagen auch immer war, „man wolle ein Bedenken in der Sache nehmen“. Er selbst, schreibt Luther später, wäre wohl anders vorgegangen, doch er habe „zu Worms guten Freunden zu Dienst“ sein wollen, und darum seinen „Geist gedämpft und kein härteres und strengeres Bekenntnis vor den Tyrannen getan“.³²⁹ Dem Sorgfaltsargument angesichts heiligster Fragen kann sich auch die Seite der Macht, so Luthers Kalkül, nicht verschließen. Die weitere Entwicklung gibt ihm Recht. Der Kaiser wischt Luthers Antrag nicht vom Tisch, sondern unterbricht die Sitzung. Die Kaiserlichen, die Fürsten und die Stände ziehen sich zur Beratung des weiteren Vorgehens in ihre Beratungszimmer und Sitzungssäle zurück. Luther hatte zu warten. Dann rief man ihn in das Fürstenzimmer, und der kaiserliche Orator teilte ihm den Beschluss mit. Eine Minderheit unter den Reichstagsvertretern hatte befürchtet, dass das Zugeständnis einer Bedenkzeit die ganze Sache nur unnötig verzögern und Unruhe in Worms stiften würde. Die Mehrheit aber war großzügig. Die Zusage wird mit der Ansage eröffnet, dass Luther eigentlich genügend über die Fragestellung hätte informiert sein müssen. Dass der Kaiser nun doch noch einmal Bedenkzeit gewährt, wird einzig mit dem klassischen Topos kaiserlicher Milde (clementia caesarea) aus dem Arsenal politischer Herrscherrhetorik begründet.³³⁰ Damit wird klar gemacht, dass sich Luther auf keinerlei Rechtstitel stützen kann. Das Zugeständnis an ihn ist rein politisch motiviert. Wichtig ist dann die ebenfalls formulierte Bedingung, sich an das bis heute in Deutschland im Prozessrecht vorgeschriebene Mündlichkeitsprinzip zu halten. Das heißt, man will nach wie vor keine Gelehrtendisputation in der Sache, die sich für die Politiker offenkundig an Schriftlichkeit und Papiergeraschel knüpft: „Wiewohl du, Martin Luther, aus dem kaiserlichen Mandat und Befehl eigentlich zur Genüge hättest entnehmen können, wozu und warum du her befohlen wurdest, und deshalb jetzt eigentlich nicht verdient hättest, dass dir noch mehr und längere Bedenkzeit zugestanden wird, gewährt dir die kaiserliche Majestät aus angeborener Güte noch einen weiteren Tag Bedenkzeit. Du sollst also morgen um dieselbe Zeit hier erscheinen und zwar mit der Be-
An Hartmut von Cronberg im März 1522, Luther ed. de Wette S. 165; Hausrath 1897, S. 258 f. RA 2, S. 549.
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dingung, dass du deine Meinung nicht schriftlich, sondern mündlich darlegst und vorbringst.“³³¹
Die Sitzung ist beendet und Luther kann beim Herausgehen noch einige Worte mit den ihm wohlgesonnenen Fürsten wechseln. Dabei sollen ihm von verschiedener Seite aufmunternde Worte zugesprochen worden sein. Jemand von den Umstehenden soll gerufen haben: „Selig der Leib, der dich getragen hat“.³³² Der Herold Sturm geleitete ihn wieder sicher zur Herberge zurück.³³³ Im Anschluss an die Sitzung beauftragte der Kaiser seinen Beichtvater Glapion und den Orator Johann Von der Ecken, sich mit dem Nuntius über eine neue Strategie und neue Maßnahmen für den folgenden Tag zu verständigen.³³⁴ Luther erfährt in dieser Nacht noch Aufmunterung von adeligen Besuchern. Gewiss berät er sich auch diesmal mit seinen Anwälten,³³⁵ doch in der Sache ist er selbst längst fest entschlossen, egal, wie die Sache ausgehen mag, ein Widerruf kommt nicht in Frage. Er schreibt in diesem Sinn noch unter dem Datum des 17. April an den gelehrten Wiener Humanisten und kaiserlichen Rat Cuspinian: „Aber mit Christi Hilfe werde ich morgen auch kein Tüpfelchen widerrufen. Leb wohl, mein lieber Cuspinian.“³³⁶
RA 2, S. 549; vgl. Walch 15, Sp. 1920; vgl. Kühn 1914, S. 66. Kühn 1914, S. 67. Walch 15, Sp. 1920. Köstlin 1903, S. 413. Kohnle 2001, S. 29. WA Briefwechsel 2, Nr. 397, S. 300.; dt. bei Kühn 1914, S. 67.
3 Der Protest spricht im Angesicht der Macht Luthers Wormser Rede am 18. April 1521 War Luther in Worms beim Friseur? Diese Frage ist für die Beurteilung von Luthers Redeauftritt weniger abwegig als es den Anschein hat. Philipp Melanchthon, Luthers engster Weggefährte und wichtigster akademischer Mitstreiter in Sachen Reformation ließ gleich nach seiner Übersiedlung von Tübingen nach Wittenberg im Jahr 1519 eine wichtige Abhandlung ‚Über die Rhetorik‘ in Wittenberg drucken, die er 1521 um sein Lehrbuch ‚Rhetorische Unterweisungen‘ ergänzte.³³⁷ Luther selbst schätzte die Rhetorik und kannte Quintilians Rhetoriktheorie.³³⁸ Er und Spalatin setzten 1519 nicht zufällig mit Quintilians ‚Ausbildung des Redners‘ die Summe des antiken Rhetorikwissens auf den Lehrplan der Wittenberger Universität.³³⁹ Darin wird immer wieder auf das Hauptregulativ der Rhetorik, die Angemessenheit und Passung von Verhalten und Rede hingewiesen. Man lernte im schulischen Rhetorikunterricht unter dem Stichwort Aptum oder Decorum, dass man Form und Inhalt bei einem Redeereignis genau aufeinander abstimmen müsse. Vor allem unter Adeligen, am Hof und bei politischen Versammlungen wie dem Reichstag, ist die kalkulierte Angemessenheit der Selbstpräsentation von allergrößter Bedeutung. Wir sprechen heute vom Image-Aufbau.³⁴⁰ Im höfisch-politischen Raum hat man Rücksicht auf die Kleiderordnung, die Manieren und das Reglement für die Körperdarstellung zu nehmen. Wir werden sehen, wie Luther an diesem 18. April 1521, einem Donnerstag, vor dem Reichstag mit der Aptumsfrage umgeht, wie es sich mit seiner Frisur verhält und wie die gespannten Beobachter der Szenerie darüber berichten. Wir brauchen keine Zeugenaussagen aus den Hinterzimmern der Stadt Worms, um zu wissen, dass die Tausenden, die am Vortag neugierig Luthers Einzug beäugt hatten, und deren Zahl sich heute noch beträchtlich erhöhen wird, an diesem Morgen an ihren Frühstückstischen nur ein Thema haben: Luther. In der während des monatelangen Reichstags auf sehr viel mehr als die doppelte Einwohnerzahl angewachsenen kleinen Stadt Worms gibt es an diesem Tag nur ein Thema: Wie wird die Luther-Sache ausgehen? In der Nacht müssen sich die Nachrichten vom vorigen Abend mit seinem gescheiterten ersten Tribunal wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Wie hatte es Luther nur geschafft, den gefährlichen
Knape 1993; Knape 1999; Knape 2010. Knape 2000; Knape 2006c; Knape 2007a; Knape 2014b. Berbig 1906; Nembach 1972, S.131 f. Knape 2012b.
DOI 10.1515/9783110546927-004
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Prozess aufzuhalten? Wie würden die Dinge an diesem Tag ablaufen? Würde es zum endgültigen Showdown kommen? Hatte man schon Arbeiten am Scheiterhaufen gesehen? Welche Maßnahmen ergriffen Luthers Beschützer? Während die Ständevertreter des Reichstags weiter ihre Tagesordnung abarbeiten, als sei nichts geschehen, warten alle anderen mit größter Anspannung auf den Abend. Würde der Kaiser Luther etwa vom Fleck weg verhaften und verbrennen, wie es vor ziemlich genau hundert Jahren Jan Hus in Konstanz ergangen war? Oder würde das Undenkbare geschehen und Luther etwas von seinen berühmt gewordenen Thesen zurücknehmen? Luther selbst muss warten. Der Tag verläuft für ihn ähnlich wie der Vortag. Er hat Zeit, sich auf seinen Redeauftritt vorzubereiten, kann sich innerlich sammeln und nochmal mit den kursächsischen Räten die Strategie besprechen. Er empfängt auch wieder Besucher. Der Professor sei in guter Stimmung gewesen, weiß der Augsburger Gesandte Conrad Peutinger nach Hause zu berichten: „Am Donnerstag kam ich vor dem Verhör zu ihm zum Johanniterhof, wo er unter anderem zu mir sagte: ‚Lieber Doktor, was tun Frau und Kind?‘ Ich habe ihn nicht anders vorgefunden und gesehen als dass er guter Dinge ist.“³⁴¹ Auch diesmal ist Luther für vier Uhr nachmittags vor das Tribunal und ausgewählte Vertreter des Reichstags im Bischofshof bestellt. Die Stadt ist, als sich der Zeitpunkt nähert, in heller Aufregung und die Straßen sind voll mit Neugierigen. Die Volksmenge vor dem Verhandlungsgebäude ist nach der Schätzung eines Zeugen mit fünftausend Personen auf den Straßen und dem Vorplatz noch größer als gestern. Wieder wird Luther aus Sicherheitsgründen auf verborgenen Wegen zum Palast geführt; und wieder muss er bis etwa sechs Uhr im Untergeschoss warten. Dann sind die anderen Geschäfte des Reichstags abgewickelt, und man ruft Luther herauf. Der Saal wird für eine Nachtsitzung umgerüstet, denn es ist dunkel geworden. Man entzündet Fackeln, um die Szene ausleuchten zu können.³⁴² So viele Reichstagsmitglieder und andere Zugangsberechtigte sind erschienen, dass manche keinen Platz mehr finden und wieder gehen müssen. Der Frankfurter Berichterstatter Fürstenberg schreibt, dass bei diesem Andrang selbst der Kaiser und die sechs in Worms anwesenden Kurfürsten kaum Platz zum Sitzen gehabt hätten. Nur die Stühle der päpstlichen Nuntien sind leer. Die wie üblich sehr gut informierten Päpstlichen ahnen, ja, wissen, was sie bei ihrem Erscheinen
Peutinger: Briefwechsel, an den Bürgermeister von Augsburg am 19. April 1521, Nr. 209, S. 338; Lutz 1958, S. 189. Historie, wie es Doct. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms ergangen sei, von ihm selbst zu Eisleben über Tisch erzählet Anno 1546, nur etliche Tage vor seinem Abschiede aus diesem Leben, in EA 64, S. 370; Walch 15, Sp. 1879; Lange 1837, S. 41.
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im Saal erwarten würde, und sie wollen dieser Niederlage nicht auch noch beiwohnen. Diesmal hat sich an der kaiserlichen Ereignisinszenierung etwas für Luther geändert. Am Vortag hatte Pappenheim noch zu Beginn klar gemacht, dass es bei dem nun eingetretenen Stand des Prozesses nur noch um ein Ja-Nein-Verfahren gehen dürfe. Damit versuchte die Macht, in der gegebenen Situation die kommunikative Kontrolle zu wahren, Luther keinerlei Freiraum zu geben. Das ist jetzt anders. Anders als dem gespannt wartenden Publikum ist Luther selbst klar, dass er sich erklären und seine präparierte Rede halten kann, wenn ihm die Möglichkeit zur quicquam-Antwort eingeräumt wird. Auch der kaiserliche Orator Von der Ekken hat sich auf die neue Lage eingestellt. Die Sitzung kann ihren Verlauf nehmen, nachdem der Kaiser und die Fürsten von ihren Beratungen zurückgekehrt sind und den überfüllten Verhandlungssaal betreten haben.³⁴³ Der spanische Berichterstatter schreibt: Es „erschien in einem großen Saale desselben bischöflichen Palastes der königliche Hofstaat neben dem Thronsessel, und versammelte sich eine große Menge Volkes, Deutsche, Spanier und Vertreter anderer Nationen“.³⁴⁴ Da einige von ihnen später Depeschen an ihre Regierungen schreiben, liegen uns mehrere historische Berichte über das aufregende Geschehen vor. Der deutsche König und römische Kaiser Karl V. war zugleich spanischer König und so wartete das kastilische Kabinett besonders gespannt auf genaue Informationen über das Befinden seines Monarchen; entsprechend ausführlich fallen die Beschreibungen des Gesandten aus. Luther betritt auch heute die Szene der Machtrepräsentation „mit fröhlichem Gemüt“, wie ein Zeuge schreibt.³⁴⁵ Ihm voran schreitet der Herold Sturm. Bemerkenswert ist eine Information aus dem spanischen Kabinettsbericht, wo es heißt: „Hinter ihm kamen sechs oder sieben Männer, die sich in seiner Begleitung mit solchem gewaltsamen Ungestüm eindrängten, dass sie alle bei Seite schoben, die vorangingen; einige der Anwesenden sagten, es wären seine Schüler. Darauf entstand ein tiefes Stillschweigen“.³⁴⁶ Wer waren diese Männer? Faktisch bildeten sie als Eskorte so etwas wie Luthers Personenschutz, von dem auch sonst in den Quellen immer mal wieder in Andeutungen die Rede ist.Vermutlich waren es Luthers Berater und Spindoktoren, die im offiziösen kursächsischen Bericht über die Ereignisse erwähnt werden.
Cochlaeus 1582, S. 74. Bericht des königlichen Kabinetts an den Staatsrat von Kastilien über die mit Luther in Worms geführten Verhandlungen. Kalkoff 1898, S. 52. Georg Vogler an Joh. Tettelbach am 19. April, in RA 2, S. 853; Hausrath 1897, S. 261. Bericht des königlichen Kabinetts an den Staatsrat von Kastilien über die mit Luther in Worms geführten Verhandlungen. Kalkoff 1898, S. 50.
Luthers Wormser Rede am 18. April 1521
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Spalatin hat den Bericht ins Deutsche übersetzt und bald nach den Wormser Ereignissen publiziert. Darin ist von sechs akademisch gebildeten „Beiständen“ der Universität Wittenberg die Rede, die bei den Verhandlungen beratend assistierten. Spalatin nennt sie „Doctores“ (Gelehrte), was nicht zwingend auf einen förmlichen akademischen Grad verweist.³⁴⁷ Insofern ist die Vermutung des spanischen Berichts, es handele sich wohl um Luther-Schüler, nicht ganz von der Hand zu weisen. Ob der Feldherr Georg von Frundsberg Luther dann tatsächlich bei dessen Eintritt in den Saal mit den Worten „Mönchlein, Mönchlein, du gehest jetzt einen Gang, dergleichen ich und mancher Oberster auch in unser aller ernstesten Schlachtordnung nicht getan haben“ auf die Schulter geklopft hat, ist nicht ganz geklärt.³⁴⁸ Teile des Publikums jedenfalls sind kampfgestimmt und erwarten heute klare Ansagen Luthers. Er wird sie nicht enttäuschen. Von den Reichstagsmitgliedern stehen die Fürsten noch beisammen, nutzen auch diese Pause zwischen ihren Sitzungen zum Gespräch. Bevor Luther das Wort ergreifen kann, muss er warten, bis sich die Fürsten gesetzt haben und der Trierer Kanzler Johann von der Ecken die Sitzung eröffnet. Der Jurist Von der Ecken macht schon in den ersten Sätzen seines Eröffnungsstatements klar, erst in Latein, dann auf Deutsch, dass aus seiner Sicht Luthers gestrige Bitte um Bedenkzeit nur als Verschleppung des Verfahrens gedeutet werden könne. Schließlich habe Luther gewusst, wozu er heranzitiert worden sei, und er habe auch zuvor genug Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Jeder Christ müsse zu jeder Zeit über seinen Glauben Rechenschaft ablegen können, vor allem wenn er Professor der Theologie sei: „Also mach endlich voran und antworte auf die Frage des Kaisers, dessen Güte du durch die Gewährung der Bedenkzeit kennen gelernt hast.“ Der Offizial ist auch dieses Mal wieder bestimmt und heftig im Ton. Für den Fortgang der Ereignisse ist Von der Eckens Position von Bedeutung, der Gläubige sei jeder Zeit über seinen Glauben gegenüber der kirchlichen Obrigkeit rechenschaftspflichtig. Wir können darauf gespannt sein, wie Luther mit diesem Postulat und der Frage der Beweispflicht umgehen wird. Man hat Von der Ecken hinsichtlich der juristisch entscheidenden Fragestellung instruiert, nachgiebiger und differenzierter als gestern zu sein und eine unkomplizierte Doppelfrage zu stellen. Also fragt er: „Willst Du etwa deine anerkannten
Doctor Martini Luthers offentliche verhör zu Worms im Reychstag, Red vnnd widerred, am. 17. tag Aprilis, im jar. 1521. beschehen. Augsburg, Sigmund Grimm und Marx Wirsung, 1521. Abgedruckt in EA 64, S. 374– 383, hier S. 376. Lange 1837, S. 41, Köstlin 1903, S. 410.
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Bücher alle (libros omnes) verteidigen? Oder aber: Willst du irgendetwas zurücknehmen (quicquam retractare)?“³⁴⁹ Quicquam, das ist das Signal. Dieses Wort war zwar auch schon gestern in der Fragestellung enthalten, doch dann durch Luthers Antrag irrelevant geworden. Heute eröffnet die kurz und knapp gestellte quicquam-Frage für Luther die Möglichkeit, weit auszuholen, um sie zu beantworten. Die Zuhörer sind gespannt, ob er wirklich irgendetwas (quicquam) zurücknehmen wird. Von der Anklageseite sind natürlich jene Punkte seiner Lehre gemeint, die den Konzilien widersprechen. Diese Aufgabenstellung greift nun endlich die Ansage der kaiserlichen Zitation vom 6. März auf. Darin hieß es im Originalwortlaut, man lade ihn vor, „der Leren vnd Buecher halben, so ain zeither von dir ausgegangen sein, erkundigung von dir zuempfahen“.³⁵⁰ Dem Wunsch nach „Erkundigung“ über seine „Lehren und Bücher“ wollte Luther ja von Anfang an gern mit seinen Erläuterungen nachkommen. Und für genau diesen Fall lag schon seit einiger Zeit eine sorgfältig ausgearbeitete lateinische Rede vor; auch eine deutsche Version hatte er längst auswendig gelernt. Konnte also alles wie geplant ablaufen?
Das neue Wormser Exordium Ein routinierter Redner weiß, dass eine Rede dann besonders gut ankommt, wenn es gelingt, die Zuhörer in der gegebenen Situation mit Bezug auf das aktuelle Geschehen abzuholen. Wenn Luther in der Nacht zum 18. April oder am Morgen dieses Tages plante, genau dies zu tun, dann steckte dahinter freilich mehr als nur rhetorisches Kalkül. Inhaltlich maßgeblich ist vielmehr der auf diese Weise gleich einleitend zum Eröffnungsthema zu machende Rechtsstandpunkt. Luther hat in der Tat in Worms begonnen, einen neuen Baustein für seine große Rede zu konzipieren. Es ist eine gewichtige Änderung gegenüber dem schon lange vorher präparierten Text. Mit ihr will er ausdrücklich Bezüge zum ersten Verhör am Vortag herstellen. Die Rede bekommt so den Anstrich von Spontaneität. Die Funktion als Brücke zum Vortagsgeschehen macht es hoch wahrscheinlich, dass Luther diese erst in Worms formulierten Bemerkungen an den Anfang seiner Rede stellen wollte.³⁵¹ Ganz im Habitus des Protests will Luther in dieser neuen Einleitung zu verstehen geben, dass er mit dem ersten Verhör nicht einverstanden Bericht über den Aufenthalt Luthers in Worms und die dort mit ihm geführten Verhandlungen, RA 2, S.550. Die kaiserliche Zitation Luthers auf den Reichstag vom 6. März 1521 in RA 2, S. 526; Rogge 1971, S. 61 f. Daher spricht Blaha 2014 zu Recht vom „Beginn eines Redemanuskripts“.
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war und ist, weil die pauschale Widerrufsfrage seiner Meinung nach gegen jene in der Vorladung genannten Bedingungen verstieß, mit denen man ihn nach Worms gelockt hatte. Er formuliert nun also in der neuen Redeeröffnung (rhetorisch gesprochen: im neuen Exordium) einen rechtlichen und moralischen Einspruch zugleich. Es soll die öffentliche Aufforderung an die Macht sein, sich an die Zusagen zu halten. Dieses neue Wormser Exordium bringt Luther im Johanniterhof und erst kurz vor dem zweiten Auftritt, vielleicht am frühen Morgen, zu Papier. Es liegt heute in der originalen Handschrift Luthers im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar. Luther schreibt und bricht dann allerdings aus ungeklärten Gründen plötzlich in diesem einzig von seiner eigenen Hand überlieferten Redeteil mitten im Satz ab. Das Fragment lautet (Abb. 17): „Auf Begehren und Forderung seiner Römisch Kaiserlichen Majestät bin ich gestern erschienen und erscheine ich auch jetzt, um in Gottesfrieden und seiner Kaiserlichen Majestät freiem Geleit untertänig und gehorsam anzuhören und anzunehmen, was mir laut Kaiserlichem Mandat und seinem Inhalt vorzuhalten wäre. Nachdem mir aber gestern bei meiner Ankunft zwei Punkte vorgehalten worden sind, nämlich: ob ich mich zu den Büchern bekenne, die unter meinem Namen herausgegangen sind, wie man berichtet hat, und ob ich auch zukünftig zu ihnen, als die meinen anerkannt, stehen und sie widerrufen wolle, so habe ich als erstes ohne Umschweife meine klare Antwort gegeben und mich zu allen diesen Büchern bekannt; und ich anerkenne sie immer noch als die meinen; und ich bleibe auch bis zuletzt dabei. In Hinblick auf den anderen Punkt, der das höchste Gut im Himmel und auf der Erde betrifft, das heilige Wort Gottes und den Glauben, habe ich untertänig um eine Bedenkzeit und einen Aufschub gebeten, damit ich, weil ich ja meine Antwort mündlich geben sollte, mir nicht etwa aus Unbedachtsamkeit unterliefe, zu viel oder zu wenig unter Verletzung meines Gewissens abzuhandeln. Das habe ich aus Römisch Kaiserlicher Majestät [Güte] erlangt. Und obwohl im Verlauf meiner Rede so etwas mit eingeflossen ist wie …“³⁵²
Zit. nach der besten vorliegenden Ausgabe von Volz 1966, S. 64– 66; WA Werke 7, S. 814– 887; Rogge 1971, S. 76 f.
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Abb. : Martin Luther: Das Wormser Erxordiumsfragment. Thüringisches Hauptstaatsarchiv in Weimar. Ernestinisches Gesamtarchiv: Reg. E .
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Abrupt hört der Text auf dem erhaltenen Blatt auf. Die wenigen Sätze, die Luther hier eigenhändig zu Papier brachte, beginnen mit dem erwähnten Bezug auf das Vorladungs-Mandat als Rechtsgrundlage der Verhandlung. Er sei im Sinne dieses kaiserlichen Schreibens nur nach Worms gekommen, schreibt Luther gleich am Anfang des Fragments, um sich „anzuhören und anzunehmen, was mir laut Kaiserlichem Mandat und seinem Inhalt vorzuhalten wäre“. Mehr nicht. Von Widerruf ist keine Rede. Das ist eine klare Bestimmung der eigenen Auffassung über die Rechtslage. Das ursprüngliche Mandat des Kaisers gilt, und es sagt, was zur Verhandlung steht. Dann der Kontrast. Luther geht im nächsten Satz zu einer Rekapitulation über und erwähnt, wie es tatsächlich beim ersten Verhör zuging. Damit sagt er im Kern: Die Kaiserlichen haben sich gestern nicht ans Mandat gehalten! Dann aber der unerklärliche Abbruch mitten im Satz. Was ist geschehen? Was hat Luther vor? Als er später an diesem Donnerstag hinüber zum zweiten Verhör geht, lässt er das Blatt Papier mit seinem neuen Redeanfang im Johanniterhof zurück; jemand hat es für die Nachwelt gesichert und ins Archiv getan. Für das Verhör war Luther ja alles Schriftliche untersagt worden. Als es losgeht wird er, wie gesagt, nicht noch einmal ermahnt, nur auf die Fragen des Offizials zu antworten. Dessen Fragen sind an diesem Tag, wie wir gesehen haben, so zugeschnitten, dass Luther freies Feld für eine längere Rede hat. Genau darauf hat er sich zweifellos schon lange eingestellt und wir können beim Geschick des Kursachsen Friedrich davon ausgehen, dass dieses Verfahren im Hintergrund zwischen den Parteien und unter den Ständen informell abgesprochen ist. Über sein Befinden während des Redevortrags wird Luther später erzählen: „Aber ich schwitzte sehr; es war mir wegen des Getümmels sehr heiß und auch weil ich zwischen den Fürsten stand“. Als Johann von der Ecken mit seinen Fragen endet, tritt Luther mit ehrfürchtig leicht gebeugtem Knie vor den Kaiser und spricht – diesmal laut und im ganzen Saal hörbar:³⁵³ „Allergnädigster Herr Kaiser, hochberühmte Fürsten, gnädigste Herren! Gehorsam bin ich zu dem Termin, der mir gestern Abend bestimmt worden ist, erschienen. Um der Barmherzigkeit Gottes willen bitte ich, dass Eure allergnädigste kaiserliche Majestät und Eure hochwürdigsten Herrschaften diese Sache für würdig halten und als eine, wie ich hoffe, Sache der Gerechtigkeit und Wahrheit gnädig anhören. Und wenn ich durch meine Unerfahrenheit irgendjemandem die ihm gebührenden Titel nicht geben oder auf irgendeine Weise gegen höfische Sitten und Gebräuche verstoße sollte, so sehen Sie mir dieses gütig nach als einem Menschen, der nicht an Höfen, sondern in Mönchswinkeln
Der deutsche Text folgt im Wesentlichen der Übersetzung des lateinischen Texts von Rogge 1971, S. 89 – 101.
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versiert ist. Ich kann nämlich über mich nichts anderes bezeugen, als dass ich bisher in der Einfalt des Sinnes (simplicitate animi) gelehrt und geschrieben habe, um ausgerichtet zu sein allein auf den Ruhm Gottes und die rechte Unterweisung derer, die an Christus glauben.“
Wir sind zweifach erstaunt. Zunächst einmal: Wieso spricht Luther nicht gleich zur Sache, sondern erst einmal über sich selbst? Die Gebildeten unter seinen Zuhörern dürften darüber weniger erstaunt gewesen sein als wir, denn Luthers nun vorgetragenes Exordium (es ist nicht das zuvor neu ausgearbeitete) hält sich sehr genau an die Vorschläge der Schulrhetorik. Luther beginnt mit einer Unterwerfungsgeste, in der er von Gehorsam spricht (oboedientia), und geht dann zu einem klassischen Einwerben von Wohlwollen, zu einer Captatio benevolentiae über, an deren Ende er an die Gnade und Großmut (clementia) des Herrschers appelliert. Das ist ganz rhetorisch konstruiert. Die beiden sogleich eingeführten Schlüsselwörter der Unterwerfung „Gehorsam“ und Erwartung von „Großmut“ des Herrschers signalisieren Anpassung an den weltlich-institutionellen Rahmen und den Willen zur politischen Korrektheit. Schon im nächsten Satz kommt er aber auch auf seine eigene Person zu sprechen. Freilich geschieht dies in äußerst geschickter Verpackung, indem er mehrdeutig die Angemessenheitsfrage aufwirft. Was ist in dieser Situation angemessen? Die Frage kommt ins Spiel, als er vom eigenen Unvermögen spricht, vor dem deutschen Hochadel das rechte Decorum, das Passende, einzuhalten. Nach der zu dieser Zeit hoch entwickelten Titulaturlehre der Kanzleirhetorik drückt sich das darin aus, dass immer peinlich genau die angemessenen Anreden, Ehrwörter und Titel beachtet werden.³⁵⁴ Welchen Sinn haben diese einleitenden Bemerkungen zur Verhaltensrhetorik? Ganz offenkundig dienen sie einer geplanten Selbststilisierung. Luther stellt sich als absolut schlichter Mönch dar, der nichts von den Sitten der Höflinge weiß und nur die göttlichen Dinge im Herzen trägt. Ist das ein aufs Existential gehendes Bekenntnis, das sich als Kontrast des reinen Glaubens gegenüber dem höfischen Glanz der Macht zeigt? Durchaus, aber nicht nur. Es ist auch eine Image-Maßnahme. Seit Aristoteles gehört es nämlich zu den rhetorischen Verfahren, dass ein Redner in seiner Rede immer auch ein bestimmtes Image mitliefert, das Glaubwürdigkeit und Sachkenntnis signalisiert.³⁵⁵ Das Selbstdarstellungsprogramm für Luther sieht in der Tat die Erzeugung eines Kontrasterlebnisses für die Reichstagsmitglieder vor (hier der schlichte Mönch, dort der Hof bzw. die Höflinge). Zum klassisch-rhetorischen Konzept der Selbstdarstellung gehört ebenfalls, wenn auch weniger akzentuiert, sich als sachkundig zu präsentieren; in diesem Fall als Professor und kenntnisreichen Theologen vom Fach. Aufgrund seiner lateinischen Knape 2002, S. 24 f.; Knape/Luppold 2010, S. 121 f. Knape 2012b, S. 105 – 128.
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Version der Rede konnte er diesen Eindruck bei ausländischen Beobachtern auch erwecken. So schreibt Girolamo de‘ Medici einen Tag später, man habe ihm berichtet, dass Luther mit einer „recht gelehrten Rede“ hervorgetreten sei.³⁵⁶ Beide Selbstdarstellungsaspekte sind darauf ausgerichtet, ihm zu glauben und zugleich auf seine Sachkenntnis zu vertrauen. Der Mönch Luther kommt mit seiner ‚Einfalt des Denkens‘ daher (simplicitas animi), wie er nicht vergisst zu betonen; und der Theologieprofessor ist mit Hilfe Gottes nur auf „die rechte Unterweisung derer“ aus, „die an Christus glauben“. Ein merkwürdiges Paradox, wenn ein Gelehrter die Einfalt, die Simplicitas des Denkens betont. Das könnte eine Anspielung auf die Bergpredigt sein; Luther hatte schon in der lange zurückliegenden Heidelberger Disputation unter Bezug auf deren prominente erste Seligpreisung gesagt, dass derjenige, der philosophieren wolle, „notwendigerweise zuvor in Christus auf gute Weise töricht werden“ müsse.³⁵⁷ Es kann aber auch ein bewusst eingesetzter Fingerzeig auf den Ketzer Jan Hus sein, zu dem sich Luther längst bekannt hatte. Wir erinnern uns daran, dass es über Hus in einer etwas später im Reformationsschrifttum auftauchenden Anekdote heißt, er habe bei seiner Hinrichtung einem einfachen Bauern gegenüber, der das Feuer des Scheiterhaufens noch mit einem weiteren Holzscheit anfachen wollte, die heilige Einfalt, die „Sancta simplicitas“ apostrophiert. Dann unser zweites Erstaunen. Nach all dem, was wir über Luthers Vorbereitung auf seine Rede wissen, sind wir vielleicht am meisten überrascht, dass er sich offenkundig im letzten Moment gegen die frisch ausgearbeitete neue Redeeinleitung entschied und nun doch das schon viel früher vorbereitete Exordium vortrug. Diese Tatsache ist, wie der ganze lateinische Text der Rede aus Luthers Feder, durch die zahlreichen umgehend einsetzenden Publikationen sowie zahlreiche inhaltsparaphrasierende Berichte, auch von Gegnern Luthers, glaubwürdig belegt. Der uns vorliegende lateinische Originaltext der Wormser Rede wird bis heute von niemandem angezweifelt.³⁵⁸ Er ist keine Nachschrift eines spontanen Vortrags, sondern ein sorgfältig ausgearbeitetes Redemanuskript. In der Überlieferung tritt es als Bestandteil eines autobiographischen Berichts Luthers auf. Für die v o r h e r i g e Niederschrift des Redetextes spricht nach dem Urteil des Luther-Forschers Adolf Hausrath „der Umstand, dass die Erwiderung des Offizials und Luthers Replik, die erst n a c h der Sitzung aufgezeichnet werden konnten, viel summarischer berichtet sind und wie ein Nachtrag aussehen“.³⁵⁹ In
Girolamo de’ Medici an Francesco Gonzaga, Markgraf von Mantua. Kalkoff 1898, S. 48. StA 1, S. 212, 22 f.; Leppin 2010, S. 132. RA 2, S. 540 – 594. Hausrath 1897, S. 383 Anm. 434.
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diesem Nachtrag mit Luthers Wormser Bekenntnisruf wurde der Widerruf zum Hauptthema. Wann genau Luther seine große Rede geschrieben hat, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich hat er wesentliche Teile oder wenigstens wichtige Bausteine schon vor Reiseantritt in Wittenberg oder auf der Reise nach Worms abgefasst. Seit dem 24. März hatte er ja die Zitation in der Hand und meinte zu wissen, was auf ihn zukam; jedenfalls keine Widerrufsverhandlung im strikten Sinn. Nach Ankunft der römischen Bannbulle war freilich ebenfalls zu erwarten, dass das Widerrufsproblem in Worms in der einen oder anderen Form aufs Tapet kam. Darum umging Luther das Thema beim Abfassen seines Redetextes auch nicht einfach, sondern versuchte, den Widerruf rhetorisch auszumanövrieren, wie wir noch sehen werden. Ein so gut durchdachter und sorgfältig ausgearbeiteter Text hätte in Worms selbst nur unter größten Schwierigkeiten entstehen können, weil die beiden ersten Tage und Nächte dort mit zahlreichen anderen Verpflichtungen ausgefüllt waren. Der lateinische Text sollte ja inhaltlich ausgetüftelt und sprachlich und stilistisch elaboriert sein. So etwas schreibt man nicht zwischen Tür und Angel. Freilich war es Luther in Worms durchaus möglich, Aktualisierungen vorzunehmen. Bei genauerer Analyse zeigt sich eine besondere Eigenart des lateinischen Textes. Er ist stilistisch von einem typischen Kennzeichen der Kanzleiprosa geprägt. Wenn Spalatin hier nicht als Spezialist in irgendeiner Form mitgewirkt hat, wofür wir keine Evidenz haben, dann hat sich Luther diesen Prosastil selbst bestens nach Kanzleimustern angeeignet. Bei dem extrem auffälligen Merkmal handelt sich um die Stilfigur der Zwei- oder Mehrgliedrigkeit im Satz. So findet man etwa in den wenigen Zeilen eines zufällig ausgewählten Abschnitts der lateinischen Rede allein schon die folgenden Mehrgliedrigkeiten: leugnen und verhehlen; Lehre und Beispiel; geistlich und körperlich; Papstgesetze und Menschenlehren; verstrickt, gequält und gemartert; Evangelium oder Lehrmeinungen der Väter; Fenster, auch Türen; weiter und freier; zuchtlos und zügellos.³⁶⁰ Die Stilfigur der Mehrgliedrigkeit galt unter den Zeitgenossen als Ausweis von Wortreichtum und Eleganz. Luthers Gegner Aleander hatte seine im Februar abgefasste Achermittwochsrede ebenfalls damit verziert. Rhetorikgeschichtlich haben wir es bei Luthers Wormser Rede mit einem der ersten, ‚authentischen‘ bzw. faktisch auch mit diesem Wortlaut performierten deutschen Redetexte überhaupt zu tun. Solche originalen, wirklich gehaltenen und im Wortlaut beglaubigten Texte von ‚Reden‘³⁶¹, also nicht bloße Literatur, sind in vereinzelten Fällen erst seit dem 15. Jahrhundert überliefert. Ein frühes be-
RA 2, S. 553. Knape 2003.
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kanntes Beispiel ist die Heidelberger Lobrede des Humanisten Peter Luder auf Pfalzgraf Friedrich I. vom 11. Februar 1458.³⁶² Wir haben aus der Zeit davor praktisch keine originalen Reden deutscher Oratoren vorliegen, sondern nur literarische Berichte. Wie bei der gerade erwähnten lateinischen Rede Peter Luders, die dessen Zeitgenosse Mathias von Kemnat ins Frühneuhochdeutsche übersetzte, liegt uns auch von Luthers Worms-Rede keine eigene,von ihm selbst verantwortete deutschsprachige Version vor, wenn Luther diese Übersetzungsversion denn je selbst zu Papier brachte. Die überlieferte deutschsprachige Fassung seiner Wormser Rede stammt von Georg Spalatin, der ja auch schon in den Jahren zuvor immer wieder einzelne Texte Luthers verdeutscht hatte.³⁶³
Aptum Nach dem ersten Verhör am 17. April hatte der Kaiser seinen Beichtvater Glapion und den anklagenden Orator Johann Von der Ecken beauftragt, mit dem päpstlichen Gesandten Aleander über das Verfahren des nächsten Tages nachzudenken.³⁶⁴ Vom Wunschdenken getrieben, vielleicht auch von der Diplomatie animiert, verstanden sie die Vorgänge um das erste Verhör als Bereitschaft Luthers zum teilweisen Widerruf.³⁶⁵ Zeichnete sich zu dieser Zeit also für die Macht eine Art Sieg ab? Dass die päpstlichen Legaten dann am nächsten Tag bei der großen Rede fehlten, deutet darauf hin, dass etwas passiert war, dass sie nicht mehr mit diesem Teilerfolg rechneten. Sie erwarteten nun, dass Luther nicht widerrufen und wahrscheinlich dennoch nicht verhaftet werden würde. Was war geschehen? In irgendeiner Form muss Bewegung in die Sache gekommen sein. Wir können vermuten, dass Aleander nicht der einzige war, der einen Nachrichtendienst unterhielt. Es muss im Gedränge der Kleinstadt Worms irgendwelche informellen Kontakte von Mittelsmännern beider Seiten gegeben haben. Zeit war genügend vorhanden. Dass man darüber nichts verlauten ließ, kann bei Geheimdiplomatie nicht verwundern. Luthers Wormser Exordium deutet jedenfalls darauf hin, dass die Kursachsen, einschließlich Luther, planten, die Willkür des ersten Verhörs nicht auf sich beruhen zu lassen und vor dem Reichstag den Verstoß gegen die Ansage des von den kaiserlichen Räten doch recht lutherfreundlich formulierten Zitationsmandats zu
Müller 1989; Müller 1994. Berbig 1906, S. 71, 76 u. 81. Köstlin 1903, S. 413. Kalkoff 1917, S. 239.
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skandalisieren. Vom Widerruf war in diesem Vorladungs-Dokument ja nicht die Rede gewesen. Spätestens am 19. März erhielt Luther von Spalatin Nachrichten über die aktuellen Beschlüsse des Reichstages.³⁶⁶ Luther war zu diesem Zeitpunkt bereits empört, dass man ihn nun doch wie seinerzeit Jan Hus explizit zum Widerruf auffordern wollte. Das aber werde er nicht tun, und zu diesem Zweck werde er auch nicht nach Worms kommen, stellte er noch im März umgehend in einer brieflichen Äußerung klar. Darin arbeitet er mit der Bildlichkeit des Soldaten Christi, der in die Schlacht zieht: „Ich werde also dem Kaiser Karl antworten, dass ich allein um des Widerrufs willen nicht kommen werden, da es ja fast so ist, als ob ich schon dort gewesen und hierher zurückgekehrt wäre. Denn auch von hier aus kann ich widerrufen, wenn ich bloß widerrufen soll.Will der Kaiser mich rufen, um mich zu töten als einen Feind des Reiches, so will ich mich opfern und ich werde kommen. Ich will nicht fliehen und ich werde, so Christus mir gnädig ist, das Wort in der Schlacht nicht verlassen. Ich bin gewiss, dass jene Blutdürstigen nicht ruhen werden, bis sie mich umgebracht haben.“³⁶⁷ Friedrich der Weise handelte vor diesem Hintergrund andere, weichere Bedingungen aus, die Luther dann doch bewegten, nach Worms zu kommen. Infolgedessen war im Zitationsmandat nicht mehr vom Widerruf die Rede. Mit dem neu verfassten Wormser Exordium wäre eine Art Betrug, wenn nicht gar ein Rechtsbruch der Macht gegenüber dieser Ausgangslage öffentlich vor dem Reichstag angeprangert worden. Nach allem, was wir über das Verhalten der kaiserlichen Räte in Worms wissen, müssten sie vor der Aussicht eines solchen Protests zurückgeschreckt sein, wenn man sie mit diesem Ansinnen in informellen Kontakten konfrontiert haben sollte. Tatsache ist, dass Luther bei seinem Redeauftritt dann doch in diesem politisch brisanten Punkt von einer Skandalisierung absah, das neue Exordium vergaß und damit eher der kursächsischen Ausgleichslinie folgte. In der theologischen Sache blieb er natürlich fest. Mit der hier erkennbaren Doppelstrategie war die kursächsische Seite seit 1518 in der Causa Lutheri immer gut gefahren: inhaltlich stabil, diplomatisch flexibel. Luther war in diese Strategie eingebunden und Teil eines politischen Gruppenhandelns der Kursachsen. Das sehen die Lutherlegende und die ältere Lutherforschung freilich anders. Danach wird Luther nach dem heroischen Erzählmodell als einzelner, von allen Informationen und Taktiken abgeschnittener, weltfremder Mönch stilisiert, als ein in Worms von den Umständen eingeschnürter und getriebener Held, der auf eine Überraschung nach der anderen spontan reagieren muss. Todesmutig und mit
Brief an Spalatin vom 19. März 1521. WA Briefwechsel 2, Nr. 389, S. 288 f.; Berbig 1906, S. 146. Berbig 1906, S. 144 f.
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heldenmütigem Gottvertrauen, aber ohne Strategie stürzt er sich als Einzelner ins feindliche Getümmel, um Widerstand zu leisten. Entsprechende Sentenzen Luthers brachte man bald nach Worms gezielt in Umlauf, auch Spalatin, der berichtet, wie Luther nach abgelehntem Widerruf auf dem Weg zur Herberge wie ein Soldat bekennt: „Wenn ich tausend Köpfe hätte, so wollte ich sie mir eher alle abschlagen lassen als einen Widerruf zu tun.“³⁶⁸ Die wenig später verbreitete Rede Luthers, die nur in der Version der Wittenberger Presse den markanten Schlusssatz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ enthält, stand am Anfang dieser Heldenlegende. Insbesondere das erste Verhör vom 17. April wird als böse Überraschung für solch einen Luther gedeutet, der sich angeblich in der Verhaltens- oder Commentrhetorik überhaupt nicht auskannte und den die unerwartete Szenerie sprachlos gemacht habe. So schreibt etwa der angesehene Reformationsforscher Julius Köstlin: „Wenn nun Luther im Anblick der glänzenden Versammlung, des Kaisers, der höchsten Prälaten, der Reichsfürsten u.s.w. die üblichen Formen nicht fand, so ist dies nicht zu verwundern; ebensowenig, wenn er durch die Zumutung, alsbald einfach mit Ja oder Nein auf jene Fragen zu antworten, überrascht und betroffen war“.³⁶⁹ Jeden Ansatz strategisch-rhetorischen Verhaltens bei Luther weist der biedere Köstlin zurück. So etwas kann er sich nicht vorstellen. Bei ihm darf Luther nach seiner großen Rede natürlich das Gewicht der Entscheidung „tief“ fühlen. Köstlins Luther darf jedoch die später folgenden, befreienden Ausrufe „Gott helfe mir“ oder „Ich bin hindurch“ nur ganz schlicht und „ohne rhetorisches Pathos und theatralischen Effekt“ von sich gegeben haben.³⁷⁰ Unverkennbar spiegelt sich in solchen Einschätzungen die prinzipiell ablehnende, jedoch historisch nicht begründete Haltung des Protestantismus des 19. Jahrhunderts gegenüber dem rhetorischen Ansatz wider.³⁷¹ Luther mit Raffinement, Weltklugheit, rhetorischem Kalkül, mit Strategie und mit ebenso begabten Freunden auszustatten, passte nicht zur Lutherlegende dieser Zeit. Die bei Köstlin hervortretende Einzelkämpferthese mit einem frommen Luther, der sich von der Welt beeindrucken und verunsichern lässt, wirft heute zahlreiche Fragen auf:Wurde in Worms tatsächlich ein weltfremder Mönch ständig von Machenschaften der Gegenseite überrascht, auf die er nur situativ reagieren konnte? Anders gesagt: Ließ ihn die kursächsische Politik, insbesondere auch sein Freund Spalatin, im entscheidenden Moment seines bisherigen Lebens in Worms ratlos im Regen stehen? Handelte Luther politisch wirklich allein oder doch eher im Team? War Luther tatsächlich ein naiver, frommer und weltfremder Kloster
Berbig 1906, S. 148. Köstlin 1903, S. 412. Köstlin 1903, S. 420. Knape 2013a, S. 11– 52.
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bruder, nicht etwa auch ein seit Jahren politisch erfahrener Universitätsprofessor? War Luther das rhetorische Hauptregulativ der Angemessenheit bei öffentlichen Auftritten unbekannt? War Luther in Worms ein Opfer kaiserlicher Verfahrensherrschaft oder hatten die kursächsischen Räte ein durchaus wirksames Gegenkonzept? Wer führte in Worms überhaupt Regie bei den kommunikativen Aktivitäten? Hat in Worms nur die Macht inszeniert oder gab es einen Gegeninszenierungsplan des Protests? Luther war mutig. Luther war sich seiner Sache gewiss. Und Luther musste am Ende allein entscheiden, wie er sich verhielt. Das ist nicht zu bezweifeln. Aber, und das legt der Blick auf alle Ereignisse der Jahre 1518 bis 1521 nahe, Luther lernte seit seinem Erscheinen auf der politischen Bildfläche Deutschlands rasch, wie es sich mit dem politischen Ränkespiel verhielt. Er war gegenüber Rom zunehmend auch zu taktischen Absprachen mit Spalatin, zu Finessen und Manövern bereit.³⁷² In der eigenartigen Miltitziade ließ er sich sogar zu Manipulationen hinreißen, was die Lutherforschung heute immer noch eher peinlich berührt.³⁷³ Luther kannte sich in der Rhetorik als der maßgeblichen Kommunikationstheorie seiner Zeit aus.³⁷⁴ Und er besaß zweifellos auch politische Intelligenz. Er wusste, dass man auf politischem Feld als Einzelkämpfer verloren war. Insofern brauchte er in Worms das bewährte kursächsische Team. In dem kurz nach den Wormser Geschehnissen publizierten Reichstagsbericht der Lutherfreunde ist davon die Rede, dass „genannter Luther als seine Beistände sechs Doctores“ gehabt habe.³⁷⁵ Da Spalatin diesen Text ins Deutsche übersetzt hat, ist die Angabe glaubwürdig, auch wenn nicht ganz klar ist, wie man diese Angabe verstehen soll. Es gab zu dieser Zeit aber auf jeden Fall schon ein lutherisches Netzwerk, dessen Vertreter sich in Worms aufgehalten haben können. Wie umfangreich sein Team am Ende auch immer gewesen sein mag, voran der zwar friedliebende, aber politisch doch gewitzte Kurfürst selbst sowie sein Kanzleichef Spalatin; es agierte diplomatisch, juristisch und teilweise auch theologisch höchst erfahren und geschickt. Dies wurde zwar schon 1897 von Adolf Hausrath mit aller Klarheit so gesehen, doch von Teilen der Lutherforschung nachdrücklich abgelehnt.³⁷⁶ Hausrath deutet Luthers Umgang mit dem anstehenden ersten Verhör ganz anders als etwa sein Zeitgenosse Köstlin. Dass Luther am 17. April, so Hausrath, umgeben von all den kursächsischen
Berbig 1906, S. 34 f. Berbig 1906, S. 49 – 87; Leppin 2010, S. 160. Knape 2014b, S. 604– 606. Doctor Martini Luthers offentliche verhör zu Worms im Reychstag, Red vnnd widerred, am. 17. tag Aprilis, im jar. 1521. beschehen. Augsburg, Sigmund Grimm und Marx Wirsung, 1521. Abgedruckt in EA 64, S. 374– 383, hier S. 376. Kessel 1961, S. 174– 177.
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„befreundeten Staatsmännern, die mit seiner Sache standen und fielen, ohne fest verabredeten Plan in die ersten Reichstagssitzung gegangen sein solle, ist ganz undenkbar. Mag er seine Antwort im ersten Verhöre befangen oder unbefangen abgegeben haben, ein Produkt dieser angeblichen Befangenheit war sie jedenfalls nicht, sondern das Produkt der Beratungen, die vorher stattgefunden haben m ü s s e n. Hatte Brück noch vor wenigen Tagen eine Denkschrift bei dem Kurfürsten eingereicht, ob Luther kommen solle oder nicht, so wird er auch den nicht minder wichtigen weiteren Verlauf vorher erwogen haben.“³⁷⁷ Spalatins Bemerkung, man sei überrascht gewesen, dass der Trierer Offizial und nicht Glapion als Verhörrichter eingesetzt wurde, beweist, dass man vorher über eine Strategie nachgedacht hatte, worin der Trierer nicht vorgekommen war. Verwunderlich wäre aus heutiger Sicht auch, wenn Luthers Rechtsbeistand Schurf vor dem Verhör nicht mit seinem Schützling gesprochen hätte. Die Kursachsen waren sich darüber im Klaren, dass das ganze Bestreben der Gegner darin bestand, Luther eilends abzufertigen, wenn sie es schon nicht geschafft hatten, ihn fernzuhalten.³⁷⁸ Die kursächsische Gegenstrategie hieß wie schon früher: formaljuristische Korrektheit, aggressionsfreier Auftritt, taktisches Verhalten, dilatorisches Verfahren und Zeitgewinn.³⁷⁹ Luthers Vorgehen in Worms war also keineswegs strategie- und planlos. Man setzte auf peinliche Einhaltung des vom Kaiser im rechtlichen Sinn zugesagten Verfahrens auch für den Fall, dass am 17. April der Widerrufswinkelzug kam (den die Luther-Gruppe nach den vorliegenden Informationen zu erwarten hatte). Der Hinhalte-Antrag vom Vortage war der Gegenzug. Luther brauchte den zweiten Tag für seine Rede, die er nach Lage der Dinge als eine von zwei Möglichkeiten auch schon für den ersten Verhörtag eingeplant haben muss. Das neue Wormser Exordium sollte den Protest gegen die Winkelzüge der Gegenseite artikulieren. Davon ist man dann abgekommen. Mit der schließlich gehaltenen Rede wollte Luther seine Position der Welt auf dem Forum der obersten deutschen Machtinstanz ins Stammbuch schreiben. Das war der wichtigste kommunikative Coup des Jahres. Er gelang und konnte in der Folge, wie inzwischen auf Seiten des Protests üblich, mit nachhaltiger Wirkung publizistisch ausgemünzt werden. Wer also inszenierte in Worms? Wer führte tatsächlich Regie? Sicherlich nicht die kaiserliche Seite allein. Beim Einhalten der Strategie für den 18. April kam Luther allerdings zweimal ins Schwitzen. Einmal waren es die konkreten Umstände im Saal, die Luther im wörtlichen Sinn den Schweiß auf die Stirn trieben. Beim zweiten Mal war es im Hausrath 1897, S. 246. Dagegen Walser 1928. S. 131 und Kessel 1961, S. 174 f. Luther an den Grafen von Mansfeld in WA Briefwechsel 2, Nr. 404, S. 319 – 329; Hausrath 1897, S. 248 f. Kohnle 2001, S. 30.
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übertragenen Sinn der kaiserliche Orator, der am Schluss nicht auf die Gretchenfrage verzichten wollte. Davon aber später. Als Luther mit der Rede begann, war die Temperatur im Gedränge unerträglich angestiegen und die Hitze führte zur Erschöpfung des Redners nach dem Vortrag der deutschsprachigen Version seiner Rede. Die Lage wurde dadurch unerwartet kritisch und gefährdete die ganze Choreographie. Luthers Stubennachbar Friedrich von Thun nämlich reagierte in der kurzen Unterbrechung zwischen den beiden Vortragsversionen mit dem spontanen Vorschlag, sich die lateinische Wiederholung des Redetextes zu ersparen.³⁸⁰ Das ist ein Indiz dafür, dass Luthers Umgebung mit dem deutschsprachigen Redebeitrag die entscheidende Leistung erbracht sah. War jetzt nicht der maßgebliche symbolische Akt für die deutschen Reichstagsteilnehmer vollzogen? Die Nuntien waren ja nicht anwesend. Konnte man jetzt nicht gleich an Weiteres denken? Luther bleibt im Angesicht des Kaisers geistesgegenwärtig und hält sich an den Plan. Der Verzicht auf die Kirchensprache Latein wäre eine zu offensichtliche Missachtung nicht nur der ausländischen Kleriker und Adeligen gewesen. Dass Luther auf solch einen Affront trotz körperlicher Schwäche verzichtet, rechnet ihm sein Kurfürst hoch an („das gefiel dem Kurfürsten sehr“), wie Luther nach vielen Jahren in den Tischgesprächen berichtet.³⁸¹ Die auf Ausgleich orientierte kurfürstliche Weichenstellung ging wie üblich in Richtung Weiterverhandeln, da waren Formfehler zu vermeiden. In der moderaten Generallinie Kursachsens haben wir bereits den Grund dafür erkannt, dass Luther im letzten Moment auf den Vortrag des neuen Wormser Exordiums verzichtete. Die in diesem – nicht genutzten – Einstieg vorgesehene Beschwerde gegen das Abweichen von den Zitationsvorgaben hätte in diesem Moment von der kaiserlichen Seite als das falsche Signal, als noch dreistere Provokation verstanden werden können als die auch sonst schon im Text angelegten Herausforderungen. Die dann von Luther schließlich gemachten Äußerungen und sein Auftreten waren dem Kurfürsten trotzdem noch zu hart. Der Fürst hätte sich bei der ganzen Rede noch viel moderatere Töne Luthers gewünscht. Letztlich war Friedrich der Weise aber hin- und hergerissen. Er stand inhaltlich ganz hinter seinem Vorzeigeprofessor, musste jedoch auch jetzt wieder feststellen, dass dieser nur schwer im Sinne kursächsischer Diplomatie zu zügeln war. Selten hielt Friedrich den Widerspruch von Macht und Protest lange aus, in den er ab einem bestimmten Punkt
Historie, wie es Doct. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms ergangen sei, von ihm selbst zu Eisleben über Tisch erzählet Anno 1546, nur etliche Tage vor seinem Abschiede aus diesem Leben, in EA 64, S. 370. Hausrath 1897, S. 262. Historie, wie es Doct. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms ergangen sei, von ihm selbst zu Eisleben über Tisch erzählet Anno 1546, nur etliche Tage vor seinem Abschiede aus diesem Leben, in EA 64, S. 370.
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seiner Lutherschutzpolitik immer wieder geriet. Da war es dann sein Bestreben, den Ausgleich und für sich selbst Sicherheit in der Machtstruktur zu finden, die ihm das Gefühl der Geborgenheit gab. Insofern ist Friedrich ein Repräsentant der meisten Menschen zu allen Zeiten. In Worms war ihm allerding eine Sache auch völlig klar: So wie bisher ging es mit der Religion nicht weiter. Er und sein wichtigster Berater Spalatin gaben die Hoffnung auf irgendeinen Verhandlungserfolg in Worms nicht auf. Das sollte sich in den Tagen der Verhandlungen nach Luthers Rede zeigen, genauso wie die Vergeblichkeit dieses Hoffens. Spalatin schildert uns in seinen ‚Annalen‘ eine Szene, die sich nach Luthers erfolgtem Redeauftritt im Quartier des Kurfürsten abspielte und ein Schlaglicht auf die zwiespältige Lage wirft. Die Szene hält auch eine Antwort für jene bereit, die glauben, „dass einem solchen Fürsten irgendeine Initiative in der Sache Luthers 1521 in Worms nicht zuzutrauen war“.³⁸² Spalatin hielt sich seinem Bericht zufolge wie üblich zu einem Nachgespräch in Luthers Unterkunft auf. Da schickte der Kurfürst nach ihm, um eine politische Bewertung der Lage vorzunehmen und in eine Manöverkritik mit seinem Rat Spalatin einzutreten. Diese Notiz in Spalatins ‚Annalen‘ ist deswegen so intereesant, weil sie uns für einen Moment Einblick gewährt in die alltägliche politische Kabinettspolitik (im wörtlichen Sinn) zwischen dem Kurfürsten und seinen Ratgebern oder Ministern, wie wir heute sagen würden. Friedrich war offenbar immer noch innerlich von Luthers Auftritt bewegt. Der Fürst hatte, schreibt Spalatin, „eine solche Bewunderung für die christlich mutige Antwort des Herrn Doktor Martinus vor Kaiserlicher Majestät und den Ständen des Reichs, in Latein und Deutsch gehalten, dass seine Kurfürstliche Gnaden noch vor ihrem Abendessen und bevor sie zu Tisch saßen, nach mir, Spalatin, in Doktor Martinus Herberge schickten. Und als seine Kurfürstliche Gnaden als er gerade Wasser zu sich nehmen wollte, mich erblickten, winkten sie mir, in ihre Kammer zu folgen. Und wie ich da hineinkam, sagten seine Kurfürstliche Gnaden zu mir mit großer Bewunderung: ‚Gut hat der Pater, Doktor Martinus, geredet vor dem Herrn Kaiser und allen Fürsten und Ständen des Reichs in Latein und Deutsch. Er ist mir aber viel zu kühn.‘ Und so ließen sie mich gnädig wieder zu Doktor Martinus gehen.“³⁸³ Die von Friedrich hier angesprochene, seinem Naturell widerstrebende Kühnheit, die innere Entschlossenheit in der Sache, gehört seit Aristoteles zu den entscheidenden Faktoren erfolgreichen Redeverhaltens.³⁸⁴ Dem Kurfürsten aber war das nicht diplomatisch genug.Während sich Luther längst an einem revolutionären Point of no Return sah, müssen wir aus
Kessel 1961, S. 176. Spalatin: Annales, S.49 f. Knape 2012d, S. 73.
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der Mahnung des Kurfürsten schließen, dass dieser als Mitspieler auf beiden Seiten (Macht und Protest) immer noch an einen evolutionären Vorgang glaubte. Die Ereignisse der folgenden Tage aber werden zeigen, dass diese unterschiedlichen, offenkundig nicht in aller Klarheit diskutierten Sichtweisen zu einem eigenartigen Satyrspiel führten. Wir wissen nicht, ob das Gespräch zwischen dem Kurfürsten und seinem Minister wirklich nur aus dieser kurzen Ansage bestand. Spalatin jedenfalls gibt in den ‚Annalen‘ keine weitere Auskunft über eventuell stattgehabte strategische Überlegungen. Er kehrte nach diesem Gespräch in den Johanniterhof zurück. Was dort in dieser Nacht noch mit Luther diskutiert wurde, ist nicht überliefert. Die Quellen schweigen auch hier. Zweifellos aber ging es auch schon um die weitere Interaktionsstrategie, die den Reichstag noch eine Woche in Atem halten sollte. Kehren wir an dieser Stelle zurück zu dem von Luther in der gegebenen Situation für seine Rede tatsächlich gewählten Exordium. Welche rhetorischen Kalküle liegen diesem Textteil zugrunde? Auch das ist eine Frage, die der älteren Lutherforschung so nicht in den Sinn gekommen wäre. Man stellte sich Luther eher als schlafwandlerisch vom heiligen Geist geleiteten Propheten vor. Das entspricht ja auch den zeitgleich verbreiteten Bildern und dem späteren Image der Lutherlegende. In der Realität des beginnenden 16. Jahrhunderts aber gab es Regelwerke und ein Wissen über kommunikative Verhältnisse, die man nur bei sträflichem Leichtsinn missachten konnte. Weder Luther noch Spalatin waren so leichtsinnig. Sie dachten im Sinne dieses Wissens durchaus auch strategisch. Es war das rhetorische Wissen, das man in den Kanzleien der Zeit streng beachtete und das Spalatin als kursächsischem Kanzleichef in Fleisch und Blut übergegangen sein muss. Er hatte als solcher ja die herausgehenden Schriftstücke des Kurfürsten unter dieser Perspektive zu prüfen. Luthers Wormser Rede beachtet durchgängig die Vorschläge der Rhetorik. Unter den Sieben Freien Künsten hat Luther Dialektik (angewandte Logik) und Rhetorik (insbesondere verstanden als Stilistik von Prosatexten) hoch geschätzt. Beide klassischen Schulfächer stellen nützliches Wissen für die Arbeit an Texten und mit Texten zur Verfügung. Sehr viel später wird Luther eine theoretische Abgrenzung der beiden Disziplinen vornehmen. Die Rhetorik, schreibt er 1531 im Galater-Kommentar, „arbeitet texterweiternd, drängt, überzeugt und aufmuntert zur Beständigkeit, damit der Glaube nicht in der Versuchung unterliegt, sondern das Wort bewahren und es festhalten möge. Dialektik und Rhetorik aber sind unterschiedene Künste und dennoch so eng miteinander verwandt, dass man die eine von der andern nicht trennen kann, weil nämlich der Rhetor ohne Dialektik nichts Sicheres lehren kann und andererseits der Dialektiker die Zuhörer ohne Rhetorik nicht in die nötige Stimmung bringt; wer aber beide verbindet, der informiert und überzeugt. Ebenso sind Glaube und Hoffnung unterschiedliche Af-
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fekte, denn der Glaube ist etwas anderes als die Hoffnung und die Hoffnung etwas anderes als der Glaube, und dennoch kann man sie wegen ihrer großen Verwandtschaft, die sie miteinander haben, nicht auseinanderreißen. Wie sich also Dialektik und Rhetorik wechselseitig unterstützen, so auch Glaube und Hoffnung. In der Theologie verhält sich also die Unterscheidung von Glaube und Hoffnung so, wie in der Philosophie die von Denken und Wollen, in der Politik die von Klugheit und Tapferkeit und in der Rede die von Dialektik und Rhetorik.“³⁸⁵ Zentraler Bestandteil des Spalatin und Luther wohl vertrauten zeitgenössischen Wissens über die Kanzleirhetorik war das heute kaum noch bekannte, damals aber als extrem wichtig erachtete Komplimentier- und Titulaturwesen. Die einschlägigen Lehren dieses historischen Rhetorikfeldes unterrichteten darüber, wie man in amtlichen Schriftstücken formgerechte Anreden und wirkungsvolle Bitten zu stellen hatte. Jede Kanzlei, auch die kursächsische, verfügte über entsprechende Handbücher mit genauen Vorschriften. Studenten brachten Mitschriften solcher Lehrwerke von den Universitäten mit nach Hause.³⁸⁶ Man konnte die Angeredeten „überschreiben“, wie man sagte, also mit besseren „Ehrwörtern“ anreden als ihnen eigentlich zustanden, oder „unterschreiben“, also in der Anrede herabsetzen. Es war schon davon die Rede, dass die kaiserliche Kanzlei bei der Anrede in Luthers Zitationsschreiben aus politischen Gründen zu viel des Guten getan hatte und der päpstliche Nuntius deswegen protestierte. Es gab aber auch das Gegenteil. So verweigerte der Dresdner Herzog Georg dem vom Papst verurteilten Ketzer Luther in seinem Geleitbrief die Anrede „Ehrsamer“ mit der Begründung, so eine Anrede sei nicht angemessen für ihn, da er sich im päpstlichen Bann befinde.³⁸⁷ Anders als wir es uns heute vorstellen können, sah man die Anreden und Titel eben nicht als bloße Formalia an, sondern achtete genau auf den Ehren-Wert des Adressierten, auf Rang und Stand. Deswegen denkt Luther ebenfalls über das Ehrwort (die Determinatio) bei der Kaiseranrede nach, die nach den Regeln der Kanzleirhetorik immer im Superlativ zu stehen hat. Darf er ihn „Allergnädigster“ nennen, wo er ihm doch gar nicht so gnädig ist?³⁸⁸ In der Rede geht Luther dann doch äußerst formbewusst mit den Titeln um. „Allergnädigster Herr Kaiser, hochberühmte Fürsten, gnädigste Herren! (Serenissime domine imperator, illustrissimi principes, clementissimi domini)“ sagt er zur Eröffnung.³⁸⁹ Das geht als mündliche Anrede in dieser Situation eigentlich ganz gut, ist korrekt. Spalatin hat ihm gewiss nichts anders geraten. Warum entschuldigt sich Luther
WA Werke 40 II, S. 28. Senff ed. Knape 2002, S. 103 – 114. Conrad Cordatus: Tagebuch über Dr. Martin Luther, Nr. 999, S. 256. Hausrath 1897, S. 251. RA 2, S. 551, Z. 5 f.
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dann aber ausdrücklich für seine Unwissenheit (imperitia) in Titulaturfragen und bittet in diesem Punkt um Nachsicht? Ist das nicht Heuchelei? Keineswegs, sondern ein typischer Exordialtopos, also ein rhetorisch erlaubter, ja gewünschter Gemeinplatz zur Eröffnung, der aus einem Bescheidenheitstopos besteht. Luther kann damit zugleich sein vorgesehenes Image als schlichter, simpler Mönch untermauern, der nur Gott dient und sich von der Politik fernhalten will. Im rohen Mönchskörper soll der reine Geist Gottes aufleuchten. Das ist der hier gewählte Habitus des heiligen Protests, der ein bewusstes Gegenprogramm zur Veräußerlichung und Politisierung des Göttlichen durch Rom darstellt. Luther will diese Idee auch im äußerlichen Habit glaubwürdig vertreten, um der heiligen Sache den religiösen Ernst zu geben, den sie verdient. Dafür stehen Kleidung und Mönchsfrisur. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das Luther-Team seit Jahren erfolgreich auf dem publizistischen Markt agierte und genau die Reaktionen der nun langsam entstehenden, publizistisch gestützten Öffentlichkeit der Neuzeit beobachtete. Man arbeitete nun gezielt an Luthers Image. Luther selbst änderte seinen Namen, und in seinem Umfeld manipulierte man später auch aus astrologischen Gründen sein Geburtsdatum.³⁹⁰ Ergänzt wurden diese Bestrebungen durch die Verbreitung ganz bestimmter Bilder. Von Luther sollte also ein ganz bestimmtes Image (im Wortsinn) durch gezielt kontrollierte Bildpublizistik vermittelt werden. Im Wormser Moment hatten Lutherfreunde im Sinne dieser Imagebildungsmaßnahmen schon längst entsprechende Mönchsbilder mit der über dem Reformator schwebenden Taube des Heiligen Geistes in Umlauf gebracht. Solche flankierenden publizistischen Maßnahmen gehörten über die Jahre hin zur Öffentlichkeitsarbeit Spalatins. Verschiedentlich diskutierten Luther und Spalatin über die Opportunität bestimmter Publikationen.³⁹¹ Am 7. März 1521 erfahren wir aus einem Brief Luthers an den schon nach Worms gereisten Spalatin, dass er in Wittenberg Holzschnitte von Lucas Cranach eigenhändig unterschrieben hat (wir würden heute von Autogrammen sprechen), um sie dann nach Worms zur Weiterverbreitung zu schicken.³⁹² Um welches Bildmotiv es sich handelte, wird nicht gesagt. Jedenfalls lief die kursächsische Reformationspropaganda mit Luther-Bildern auch in Worms auf Hochtouren. Der Nuntius Aleander bestätigt dies sorgenvoll in seinen Berichten. Luthers Auftritt vor dem Reichstag war eine Reinszenierung dieser schon vor längerer Zeit auf den Markt gebrachten Mönchs-Propheten-Ikonographie Zu den publizierten Horoskopen mit falschem Geburtsdatum Luthers von Johannes Carion und Johann Pfeyl siehe Warburg 1920/1922, hier S. 216 f.; Talkenberger 1990, S. 377 f. Berbig 1906, S. 97– 99 und 123 f. WA Briefwechsel 2, Nr. 385, S. 283, Z. 23 f.; Berbig 1906, S. 144.
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Abb. 18: Martin Luther als idealisierter Prediger und prophetischer Lehrer vor einer Nische. Verbesserte Version des. Kupferstich von Lukas Cranach (?) aus dem Jahr 1520.
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Abb. 19: Luther als Prophet mit der Taube als Symbol des Heiligen Geistes. Holzschnitt von Hans Baldung Grien. Frontispiz zu den ‚Taten und Geschehnisse Doktor Martin Luthers auf der Wormser Fürstenversammlung im Jahr 1521‘/Acta et res gestae, D. Martini Lutheri in Comitiis Principum Vormaciae, Anno 1521. Straßburg, Johann Schott, 1521 (= VD 16 ZV 62).
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Abb. 20: Martin Luther am 17. April 1521 (rechts) ganz allein gegen Kaiser, Nuntius und Fürsten. Titelholzschnitt von Georg Spalatin: Doctor Martini Luthers offenliche verher zu worms. Augsburg, Jörg Nadler, 1521 (= VD16 L 3654).
(Abb. 18). Die motivische und ästhetische Realisierung dieser bildlichen Stilisierung Luthers im Holzschnitt als Mönch überwachte Spalatin persönlich und machte sie gewissermaßen amtlich.³⁹³ Das gilt auch für die gewissermaßen wittenbergamtliche Publikation der ‚Taten und Geschehnisse‘ (Acta et res gestae) von 1521, worin Luther wieder mit der Taube des Heiligen Geistes ausgezeichnet
van Gülpen 2002, S. 126 – 143.
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Abb. 21: Martin Luther im Gelehrtenhabit mit Doktorbarett. Verbesserte Version des KupferstichPorträts von Lukas Cranach aus dem Jahr 1521. Die Inschrift lautet auf Deutsch: ‚Dieses Lutherbild des Lucas [Cranach] ist vergänglich. Er selbst [Luther] hat sich für die Ewigkeit ausgedrückt. 1520.‛
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Abb. 22: Martin Luther als schlichter Augustinermönch. Kupferstich von Lukas Cranach aus dem Jahr 1520. Die Inschrift lautet auf Deutsch: ‚Luther selbst hat die Zeugnisse seines Geistes verewigt, wogegen die Darstellung des Lucas [Cranach] vergänglich ist. 1520.‛
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wird (Abb. 19). Die Bildkonzepte (Ikonographien) der vielen, sehr bald in Umlauf gebrachten Flugschriften der Zeit zum Worms-Geschehen spiegeln die verschiedenen Sichtweisen durchaus wider. In den 1521 umgehend gedruckten Handlungen Doktor Martin Luthers und Wormser Geschehnisse (Acta et res gestae) finden wir Luthers Bild mit Taube und Prophetenstilisierung auf der Rückseite des Titelblatts.³⁹⁴ Es gibt aber auch Flugschriften, die Luther vor dem Kaiser mit seinem Team in Frontstellung gegenüber der Partei der Macht zeigen (vergl. Abb. 16). Ein anderer Druck desselben Jahres 1521 stilisiert Luther unmissverständlich als schon legendären, heiligen Einzelkämpfer und Propheten im Protest, wie er sich ganz allein gegen die Phalanx der Macht stellt (Abb. 20). Die spätere Lutherlegende schloss sich dem zumeist gutgläubig an. Am Anfang stand dabei die zeitgenössische Nach-Worms-Propaganda, die den rhetorisch kalkulierten Ansatz des Einzelkämpfers für bare Münze nahm. In den Luther-Darstellungen aus späterer Zeit setzte sich diese heroische Deutung dann aus Unkenntnis über die rhetorische Durchtränktheit des zeitgenössischen Commentdenkens unkritisch durch. Dass die Image-Konstruktion der Kursachsen und Luthers damit auf der ganzen Linie gelang, belegen nicht zuletzt die zeitgenössischen Berichte der Luthergegner, die sich ebenfalls entsprechend beeindrucken ließen. Ja, Luther war beim Friseur, auch wenn wir nicht genau wissen, wie das vor sich ging. Als beurlaubter Augustinermönch hätte er vor dem Reichstag als Professor in eleganter Gelehrtenkleidung auftreten können. Lucas Cranach hat Luther auf einem Kupferstich in eben dieser Kleidervariante abgebildet (Abb. 21). Man geht davon aus, dass die Zeichnung zu diesem Gelehrtenporträt schon vor Luthers Abreise zum Wormser Reichstag angefertigt wurde. Wie im Fall des MönchsKupfers ließ Spalatin auch dieses Bild „in propagandistischer Absicht“ nachbessern.³⁹⁵ Bei der Luther-Bildpropaganda wollte Spalatin nichts dem Zufall überlassen. Für den Redeauftritt in Worms wählte man aber dieses Bild gerade nicht. Die Luther-Gruppe wollte sich eben nicht vordergründig auf das Gelehrten-Image, sondern aus rhetorischen Gründen auf die Ikonographie des rohen Mönchshabits ohne Barett konzentrieren. Luther sollte offen die im neuen Haarschnitt betont hervortretende Mönchstonsur zeigen, dann bei seinem Auftritt im Gestus das höfische Benehmen vermeiden und sich betont locker und damit zugleich ungeschliffen verhalten. Spalatins Strategie bei seiner schon 1520 in die Wege geleiteten ikonographischen Luther-PR war zweifellos, ein Gegenbild zu den allen
van Gülpen 2002, S. 481; weitere Bilder mit Taube ebd., S. 485 f. van Gülpen 2002, S. 151.
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Zeitgenossen bekannten verkommenen Klerikern, insbesondere den parasitären Mönchen, in Umlauf zu bringen. Dabei kam möglicherweise auch der uns bereits bekannte Mönch Savonarola als Typus des Reformers ins Spiel. Dazu schreibt Heiko A. Oberman in seiner Lutherbiographie: „Das Bild, das Lukas Cranach im Jahr 1520 vom Augustinereremiten Martin Luther in Kupfer gestochen hatte [Abb. 22], trägt genau diese Züge eines mönchischen Bußpredigers: der Savonarola aus Wittenberg, das Gegenbild zum verfressenen Mönch.“³⁹⁶ Diese Art Priming dürfte ihre Wirkung im Zuge der lutherfreundlichen PR-Maßnahmen in Worms mit entsprechender Vorinterpretation der Person Luthers gehabt haben. Das im höfischen Umfeld auf krasse Schlichtheit setzende Gegenprogramm der Wittenberger fanden die anwesenden Spanier und Italiener nicht nur befremdlich, sondern angesichts der kaiserlichen Majestät geradezu empörend.³⁹⁷ Aleander berichtet im Anschluss an das erste Verhör nach Rom, dieser Mann Luther habe sich in der gegebenen Situation durch „viele Verstöße“ gegen das höfische Zeremoniell „in Blick, Miene und Gang, in Wort und Tat“ um jedes „Ansehen“ beim weltläufigen Publikum gebracht. Und der Kaiser habe gleich beim ersten Anblick Luthers zu seiner nächsten Umgebung gesagt: „Der soll mich nie zum Ketzer machen.“³⁹⁸ Doch nicht nur der ans spanische Hofzeremoniell gewöhnte Kaiser schüttelte den Kopf. Seine kastilischen Berichterstatter achteten auf jedes Detail der Inszenierung von Rohheit. In dem Kupferstich von 1520 tritt uns dieser erdverbundene, unhöfische Mönch in seiner Charakteristik, die gewiss auch auf dem Reichstag hervortrat, deutlich entgegen (Abb. 22).Wie gesagt, Spalatin hat diesen veristischen Kupferstich dann vorsichtshalber zugunsten des oben erwähnten, weicher und zugänglicher gestalteteten Propheten-Kupfers (vergl. Abb. 18) zurückgezogen. Die Spanier jedenfalls protokollieren gewissermaßen kopfschüttelnd: „Er trug als Kleidung ein Gewand des Augustinerordens mit seinem Ledergürtel, die Tonsur groß und frisch geschoren, das Haupthaar verschnitten und zwar weiter als das gewöhnliche Verhältnis ist“.³⁹⁹ Und wie der Nuntius Aleander beobachten auch die Spanier das wenig ehrfürchtige, wechselnde Mienenspiel und die vielen Blickkontakte Luthers, die ihnen nur als Ausweis völliger körperlicher Unkontrolliertheit und als Kontrast zu den Anforderungen an höfische Selbstkontrolle vorkommen können. Freilich heißt es im spanischen Bericht auch, dass Luther zu
Oberman 1981, S. 83. RA 2, S. 632– 634. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 22, 29. April 1521), S. 196. Bericht des königlichen Kabinetts an den Staatsrat von Kastilien. In: Kalkoff 1898, S. 50.
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Beginn seines Redebeitrags im ersten Verhör „dem Kaiser seine Ehrfurcht“ mit einer Geste erwies.⁴⁰⁰ Die Wittenberger wollten offenkundig den Savonarola-Effekt. Das dabei vor allem in der Performanz zum Ausdruck gebrachte Image des schlichten Mönchs mit roher und oft geflickter Kutte, die Luther bis 1524 als Habit trug, und seine ungeschliffenen Umgangsformen, waren nicht ohne Ablehnungs-Risiko. Die Kursachsen wussten das. Aber, und das wussten sie auch, beim deutschen Publikum kam so etwas gut an; darauf war dieses Kontrastprogramm geeicht. Das heute noch im Lutherhaus aufbewahrte Exemplar einer zeitgenössischen Mönchskutte wurde inzwischen zu einer der Hauptattraktionen in den LutherAusstellungen des Jahres 2016, die in Amerika unter dem Titel „Here I stand“ stattfanden.⁴⁰¹ Bei Karl V. und seinen Höflingen hingegen löste Luthers Performanz in Verbindung mit seiner Härte in der Sache nur Kopfschütteln und Widerwillen aus. In einem gewissen Sinn kann man also sagen, dass der junge, an höfische Formen gewöhnte Monarch auf Luthers Selbstinszenierung hereingefallen ist; oder anders gesagt, dass die Reaktion des Kaisers das Präsentationskalkül der Protestpartei bestätigt hat. Ja, hier stand einer vor den Fürsten der Welt, der, von der geschmückten Buntheit und allem Pomp des Hofes und des hohen Klerus weit entfernt, nur der Sache Gottes dienen und vor den Ansprüchen der Macht nicht zurückweichen wollte. Wir werden noch davon hören, dass Karl V. letztlich nur eine Erklärung für das rohe Auftreten dieses Mannes hatte: Er war nicht ganz bei Sinnen. Diese Wahnsinnsthese scheint sich in Worms als Interpretationsschlüssel unter den kaiserlichen und päpstlichen Gegnern Luthers durchaus verbreitet zu haben. Der ohne jede höfische Geschmeidigkeit, mit Angriffslust und Bestimmtheit, im abgewetzten Mönchshabit und mit kaum verständlichem, thüringisch-sächsisch intonierten Latein auftretende Augustinerpater entsprach in keinem Punkt den Erwartungen romanischer Renaissance-Edelleute. Auf Seiten der Macht gibt es in Worms nur drei Deutungsansätze für dieses Verhalten: Luther ist kriminell oder dämonisch oder wahnsinnig. Wenn er kein Teufel oder Betrüger ist, so ist er ein Verrückter. Solch eine Deutung des Geschehens meldet der Sondergesandte Aleander, anfällig für Verschwörungstheorien, auch nach Rom. Luther sei keinesfalls den bekannten humanistischen Gelehrtengruppen zuzuordnen. Wer mit ihm zu tun habe, sehe sofort, „dass er weder für einen Grammatiker noch für einen Philosophen oder Theologen, sondern nur für einen reinen Tollhäusler gelten
Bericht des königlichen Kabinetts an den Staatsrat von Kastilien. In: Kalkoff 1898, S. 51. Kluttig-Altmann 2016, S. 171 f.
Differenzierungen
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könne“. So einer könne auch die vielen hoch gelehrten Schriften, die unter seinem Namen auf dem Markt kursierten, gar nicht selbst abgefasst haben. Aleander vermutet, dass hinter den meisten sogenannten Luther-Schriften der auch in Rom berühmte Erasmus von Rotterdam stecke. Nur dem traut er diese intellektuelle Leistung zu. Für Aleander ist klar, dass es eine Verschwörung deutscher Intellektueller geben muss, zu der Erasmus und Hutten zählen. Sie benutzen Luther seiner Meinung nach nur als Pappkameraden. In diesem Sinn schreibt er auf der Basis von Informationen aus der Wormser Gerüchteküche weiter nach Rom: „Man ist allgemein überzeugt, dass er den größten Teil der fraglichen Schriften nicht selbst verfasst habe, und so hat er auch schon einigen in allem Vertrauen gestanden, dass gerade diese schlimmeren Bücher von seinen Freunden herrührten, dass er aber seinen Mitverschworenen Treue halten müsse“.⁴⁰²
Differenzierungen Wie ging die Rede am 18. April weiter? Luther hat nach dem Exordium eine Zäsur eingeplant. Er setzt noch einmal neu an, beginnt wieder mit einer Anrede an Kaiser und Fürsten und fügt dann eine Bemerkung ein, die wir aus dem Wormser Exordium kennen. Dadurch wird ein aktueller Bezug möglich: „Allergnädigster Kaiser, hochberühmte Fürsten, was jene zwei Artikel angeht, die mir gestern durch Eure heiligste Majestät vorgelegt worden sind, nämlich ob ich die aufgezählten und unter meinem Namen ausgegangenen Bücher als die meinen anerkenne und ob ich auf deren Verteidigung beharren oder widerrufen wolle, so habe ich bezüglich des ersten Punktes meine bereitwillige und klare Antwort bereits gegeben.“ Ja, es sind seine Schriften.Was den zweiten Artikel angeht, fährt Luther fort, so möge der Kaiser bedenken, dass seine Bücher von unterschiedlicher Art sind. An dieser Stelle nun kann Luther zu seinem präparierten Hauptteil der Rede übergehen. Der enthält keine dogmatischen Einzelheiten, wie wir sie von Aleanders Aschermittwochsrede her kennen, sondern ist im Sinne des rhetorischen Aptums oder Decorums ganz auf das anwesende, mehrheitlich weltliche Politikerpublikum eingestellt. Es wird ab jetzt eine allgemein politische und zugleich eine religionspolitische Grundsatzrede, in der Luther sich selbst welt- und kirchenpolitisch positioniert und zugleich seinen Anhängern Weisung gibt. Wie gesagt, in der kaiserlichen Zitation vom März war Luther aufgefordert worden, über seine Bücher und die in ihnen enthaltene Lehre zu sprechen. Genau das tut er nun. Dass eine Reihe seiner Bücher am Vortag völlig undifferenziert zum
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 21, 27. April 1521), S. 188.
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Corpus delicti erklärt wurde, ist eine Steilvorlage. Das passt genau zu seiner Ablehnungsstrategie. Der präparierte Redetext kennt keine quicquam-Lösung, und Luther hat auch nicht vor, in diese Richtung eines Teilwiderrufs einzuschwenken. Günstiger ist es für ihn, wie schon im Mandat verlangt, über seine Bücher, das Corpus delicti, zu sprechen, weil ihm der Pauschalangriff auf das Paket seiner Bücher erlaubt, den Widerruf mit guten Gründen abzulehnen. Unter den angeklagten Schriften gebe es nämlich eine erste Gruppe, die in ganz einfacher evangeliumsbezogener Weise von Glauben und Sitte spreche. Habe nicht selbst die päpstliche Bannbulle eingeräumt, dass einige dieser Bücher christlich und aus römischer Sicht unschädlich seien? Dass man sie in Rom dennoch alle pauschal verdammt habe, betrachte er in dieser Pauschalität als ein grausames, weil ungerechtes, ja, ein „wirklich ungeheures Urteil“ (iudicium monstrificum). Mit gekonnter Rabulistik zieht Luther daraus einen Schluss in Form einer rhetorischen Frage, die als solche natürlich ohne Antwort bleiben kann, weil sie eigentlich eine These ist. Damit erledigt Luther das Thema Widerruf in einer ersten rhetorischen Variante: „Um Himmels willen, was würde ich tun, wenn ich es unternähme, diese Bücher zu widerrufen, und zwar als einziger unter allen Sterblichen diese Wahrheit verdammte, die Freunde und Feinde in gleicher Weise bekennen, mich also allein dem einmütigen Bekenntnis aller widersetzte?“
Der Feind der Deutschen sitzt in Rom Nun geht Luther mutig zum Hauptangriff über. Der religiöse Protest wendet sich damit offen gegen die kirchliche Säule der herrschenden Macht, kompromisslos auch in den Formulierungen. Hatte er soeben noch die Unfähigkeit Roms verdeutlicht, gerechte Urteile zu fällen, so verdammt Luther jetzt mit harten Worten die ganze Institution päpstlicher Herrschaft. „Eine zweite Art [meiner Bücher] richtet sich gegen das Papsttum und die Sache der Papisten, das heißt gegen solche, die mit ihren sehr schädlichen Lehren und Beispielen die Christenheit als durch ein doppeltes Übel geistlich und körperlich zerstören.“ Der Papst und sein Klerikersystem werden in aller Härte zum Übel der Welt erklärt. Das ist für manche im Saal von unerwarteter Entschiedenheit, entspricht aber durchaus Luthers inzwischen eingetretener Haltung und, was für den Moment wichtiger ist, der Stimmung des größeren Publikumsanteils. Dieses Verständnis für Luthers antirömische Position reicht bis hinauf zur kaiserlichen Regierung. Selbst der Kanzler Gattinara hatte zum Erschrecken Aleanders im Februar erklärt, dass der Kaiser keineswegs automatisch nach dem Willen Roms handeln werde, sondern sich doch wohl gegenüber dem Papst „die Freiheit des Handelns bewahren“ dürfe, ja
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müsse.⁴⁰³ Später wurde es aus Aleanders Sicht noch schlimmer. Die Informanten der Nuntien mussten am 14. April, also kurz vor Luthers Ankunft, die Nachricht aus einer Kabinettsbesprechung melden, dass – so Aleanders schon erwähnter Bericht – „die kaiserlichen Räte beabsichtigten, zwischen den Irrlehren Luthers einen gewissen Unterschied zu machen: er sollte nur einige den Glauben betreffende Sätze widerrufen, seine Angriffe auf die päpstliche Macht aber wollten sie ihm durchgehen lassen.“⁴⁰⁴ Auf seinen sofortigen Protest hin, schreibt Aleander weiter, habe der Kaiser klar zu verstehen gegeben, dass er im schlimmsten Fall eben „nach dem Reichstagsbeschlusse handeln werde“. Für Aleander war damit klar: Der Papst hatte in Worms nicht einmal von der kaiserlichen Säule der Macht uneingeschränkte Unterstützung. Inwieweit die kursächsische Seite von diesen inneren Reiberein im Lager der Kaiserlichen und von der Bereitschaft zu Zugeständnissen bei der Papstschelte Kenntnis hatte, wissen wir nicht. Luther aber konnte sich aufgrund der Hutten-Propaganda und aufgrund des noch anstehenden Wormser Tagesordnungspunktes ‚Beschwerden gegen Rom‘ (Gravamina) sicher sein, dass die Mehrheit im Saal bei der Papst-Schelte auf seiner Seite war. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, in welchen Misskredit das römisch-päpstliche Unwesen selbst bei katholisch gebliebenen Zeitgenossen, wie dem berühmtesten aller Humanisten jenseits der Alpen, bei Erasmus von Rotterdam, geraten war. In seiner ab 1517 oft gedruckten Schmähschrift gegen Papst Julius II. (1503 – 1513), dem Vorgänger des gerade herrschenden Papstes Leo X., beschimpft er ihn gleich im Einleitungsepigramm als Verächter Gottes und blutrünstigen Kriegstreiber. Im Rest des Textes geht es darum, warum diesem Papst „vor der verschlossenen Himmelstür“ kein Einlass gewährt wird.⁴⁰⁵ Das in Deutschland seit langem diskutierte politische antirömische Beschwerdeprogramm wird im Zusammenhang mit den Wormser Ereignissen dann nochmal durch die Flugschrift der ‚Hundert Gravamina‘ gegen Rom popularisiert.⁴⁰⁶ Auch das Wormser Publikum im Saal verrechnet das Papstwesen zu großen Teilen politisch und nicht theologisch, und ihm liefert Luther nun das entscheidende, von Hutten immer herausgestellte Schlüsselwort: Tyrannei! Die antirömische Mehrheit der Anwesenden ruft der Redner rhetorisch geschickt zum Zeugen auf. „Denn keiner kann es leugnen und verhehlen, weil die Erfahrung aller (experientia omnium) und die Klagen der ganzen Welt es bestätigen, dass durch die Papstgesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen auf elendeste Weise verstrickt, gequält und gemartert worden sind. Dann wurden auch Besitz
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 10, 27. Februar 1521), S. 92. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 17, 15. April 1521), S. 166. Erasmus: Dialogus. Schwitalla 1983, S. 221– 227.
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tümer und Vermögenswerte, vornehmlich in dieser berühmten deutschen Nation, durch unglaubliche Tyrannei (tyrannis) verprasst. Und das geschieht bis jetzt weiter ohne Ende auf unwürdigste Weise.“ Nun kommt Luther ein weiteres Mal auf den heikelsten Punkt, auf die Widerrufsfrage zu sprechen. Diesmal umgeht er eine Festlegung durch Verschiebung in den Konjunktiv. Die Formulierung im Potentialis erlaubt zugleich, die zukünftigen Folgen einer Rücknahme für das jetzt schon von der römischen Tyrannei geschundene Deutschland zu unterstreichen. Deutschland wäre im Fall eines Widerrufs Luthers verloren. Wir sind erstaunt, welche entscheidende Rolle sich Luther selbst als Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung zumisst. Er ist der Retter Deutschlands, der bei einer falschen Entscheidung aber zugleich auch Deutschlands Hauptschädiger werden könnte: „Wenn ich also auch diese [Bücher] widerrufen würde, würde ich nichts anderes erreichen, als dass ich der Tyrannei neue Kraft zuführte und so großer Gottlosigkeit nicht nur Fenster, sondern auch Türen öffnete, dass sie weiter und freier um sich griffe, als sie bisher jemals gewagt hätte. Und es geschähe durch das Zeugnis meines Widerrufs, dass das Reich ihrer zucht- und zügellosen Leichtfertigkeit dem leidenden Volk auf das unerträglichste und doch unumstößlich aufgerichtet würde, besonders wenn es bekannt werden würde, dass es von mir bewirkt wäre unter der Autorität Eurer heiligen Majestät und des ganzen Römischen Reiches.“ Das ist in der nun eingetretenen Selbststilisierung, die weit vom einfachen Mönch des Anfangs abgerückt ist, sehr hoch gegriffen und kann nach rhetorischer Logik nur noch durch einen entsprechend emphatischen Ausruf (eine Exclamatio) abgeschlossen werden. Und das tut Luther nun auch: „Gütiger Gott,wie sehr wäre ich dann ein Werkzeug der Nichtsnutzigkeit und Tyrannei!“
Prophet Luther hat jetzt wohl eine kleine Kunstpause im Vortrag eingelegt, denn nun kommt er im Text auf die dritte Art seiner Bücher zu sprechen: „Die dritte Art (tertium genus)“ heißt es lapidar nach Art einer Überschrift. Gemeint sind Schriften gegen ganz bestimmte Personen oder Personengruppen. „Das sind solche, die auch die römische Tyrannei zu verteidigen sowie die von mir gelehrte Frömmigkeit zu erschüttern trachten.“ Sicherlich denken Luther und sein Kurfürst an dieser Stelle an die von Aleander angeklagten Blutworte Luthers gegen die römische Kurie, gegen romtreue Kleriker und Ordensleute. Luther entschuldigt sich: „Ich bekenne, gegen diese rücksichtsloser als mit der Religion oder mit meinem Beruf vertretbar gewesen zu sein“. Ein Ausdruck des Bedauerns.Und wie steht es hier mit dem Widerruf? In der Antwort wird auch dieses Mal der Konjunktiv bemüht. Was
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wäre, wenn er diese Schriften, mit denen er ja ebenfalls nur die Sache Christi vertreten habe, widerrufen würde? Es würde auch in diesem Fall am Ende nur wieder der „Tyrannei und Gottlosigkeit“ Vorschub geleistet. Bei der Formulierung, die Luther an dieser Stelle wählt, könnte manchem im Publikum der Atem gestockt haben. Die Selbstzuschreibung an Macht ist nur zu deutlich. Oder meint Luther den Protest im Allgemeinen, für den er so herausragend steht und der inzwischen so viel Einfluss gewonnen hat? Luther dreht die Verhältnisse jedenfalls im Potentialis um: Er selbst könnte im Fall des Widerrufs jene Macht sein, unter deren Schutz sich die Tyrannei austobt. Damit sagt er aufs Neue implizit, dass er selbst inzwischen schon zu einer entscheidenden politischen, zumindest religionspolitischen Größe im Reich geworden ist, die auf gar keinen Fall für Roms Interessen umfunktioniert werden darf. Die Tyrannei würde andernfalls vielleicht „unter meinem Schutz (meo patrocinio) gegen das Volk Gottes regieren und wüten und zwar heftiger als sie je geherrscht“ hat. Der Konjunktiv ist eben die normalsprachliche Variante der Fiktion in Minimalform. Der Konjunktiv erlaubt Zukunftsfiktionen, die immer aber auch vielsagend sind und den Charakter von Visionen haben können. Dass sich hier in einer ersten Variante, gewollt oder ungewollt, im Hintergrund oder als Implikat, Luthers zukünftiges Bild als neuer Prophet andeutet,⁴⁰⁷ dessen Autorität dem römischen Alleinvertretungsanspruch in Sachen Wahrheit die Stirn bietet, werden viele im Publikum dankbar aufgenommen haben. Diese Rollenzuschreibung war nicht neu und Luther selbst hatte sie befördert. Sein Familienname war eigentlich Luder, ein Name, der sowohl im Lateinischen (ludus = Spiel, Scherz, Gespött) wie ihm Deutsch seiner Zeit (luderer = Lüstling) unangenehme Assoziationen mit sich führte. Im Aufbruchsjahr des Thesenanschlags 1517 änderte Luther daher seinen Namen nach Art der zeitgenössischen gelehrten Humanisten, indem er sich den griechischen Humanistennamen Eleutherius = Befreier zulegte und dann den ähnlich klingenden Familiennamen Luther statt Luder annahm.⁴⁰⁸ Zu denken ist auch noch an die anderen von Luther gewählten Beinamen wie Ecclesiastes (nach dem Prediger Salomo) oder Evangelist. ⁴⁰⁹ Natürlich muss Luther Wert darauf legen, dass das Fremdzuschreibungen und Fremdeinschätzungen sind, die er selbst nie in dieser Weise explizit vornehmen würde. Doch er braucht solch ein Image, insbesondere das Prophetenimage, um für sich allgemeinverständlich Autorität und Reputation aufzubauen.⁴¹⁰ Warum sollten die einfachen Gläubigen ihm sonst bei all den
Vgl. Leppin 2010, S. 165 – 192. Moeller/Stackmann 1981. Preuß 1933, S. 96 – 131; Wuttke 1987, hier S. 134 Anm. 49. Knape 2012b.
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Umsturzforderungen vertrauen? Wie hoch muss doch der Grad der altkirchlichen Verrottung gewesen sein, dass viele Luther so rasch als befreienden prophetischen Rufer begrüßten und seinem Abbruch einer mehr als tausend Jahre alten religiösen Tradition so freudig zustimmten. Zurück zu Luthers großer Rede. In ihr kann er nach der genannten Selbstpositionierung die Widerrufsproblematik ein weiteres Mal, doch anders gewendet angehen. Er ist aufgefordert, seine Schriften als Corpus delicti zu verteidigen oder zu widerrufen. Also ein Entweder-Oder. Angesichts dessen wirft Luther jetzt die Frage auf, wie er das überhaupt als Mensch, der sich der göttlichen Sache verpflichtet fühlt, bewerkstelligen könne. Das einzige verbindliche Modell bietet Jesus Christus, gibt Luther zu verstehen. Wieder ist Luthers Selbststilisierung im Habitus eines Propheten massiv. Als Verkünder gereinigter, neuer, besserer Glaubenswahrheiten als jener, die aus Rom kommen, ist er in derselben Lage wie Jesus. Auch ihm wollte die in Palästina religiös herrschende Macht der Hohepriester nicht glauben. Ich gebe meiner Lehre „keinen anderen Schutz“, sagt Luther, „als mein Herr Jesus Christus selbst seiner Lehre gab, der von Hannas über seine Lehre befragt und von einem Diener geohrfeigt sagte: Wenn ich übel geredet habe, so beweise, dass es böse sei.“ Wieder die Umkehrung der Verhältnisse. Nicht der angegriffene Protest, sondern die anklagende Macht ist in der Beweispflicht. Luther will sich als immer wieder irrender Mensch gern den Nachweis eines Irrtums vorlegen lassen, so wie es ja auch Jesus tat, der dabei genau wusste, „dass er sich nicht irren konnte“. Trotz aller eingesetzter Bescheidenheitsfloskeln wird der Vergleich mit Jesus auf diesem Forum und in dieser besonderen Situation doch immer mehr zum Nachweis eigener Erhabenheit, vielleicht unbewusst, denn die Imitatio Christi ist ein altes christliches Prinzip. Und in der Tat ist ja Luthers Lage für alle Anwesenden unerhört und herausragend: entweder wie die eines Ketzers wie Hus oder wie die eines Propheten aus dem Alten Testament. Etwas anderes steht als Typus eigentlich nicht zur Auswahl.
Protestant Luther versucht, diese beiden Bilder in seiner von der klassischen Rhetorik für die Rede geforderten Image-Konstruktion zu verbinden. Ohne Verklausulierung bekennt er sich dabei zum Protest, zum Widerspruch, zur Abweichung und zum Kampf. Aber dann eben auch zu seiner Rolle als demjenigen, der den neuen Weg weist. Damit tritt Luther in eine über Worms hinausweisende Oratorrolle ein. Der Orator ist, fundamentalrhetorisch gesehen, derjenige in der kommunikativen Interaktion, der zu lenken oder zu orientieren versucht. In den alten Kulturen folgten die Menschen dem Sprecher, der im Rang oft neben dem Anführer stand,
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wegen seiner auf Wissen gegründeten Lenkungskompetenz. Im Alten Testament treten unter anderem die Propheten als Oratoren auf. Alles, was ein solcher Prophet sage, geschehe auch, erklärt Saul im ersten Buch Samuel in Luthers späterer Übersetzung: „Nu las uns dahin gehen, vieleicht sagt er uns unsern weg, den wir gehen“ (9,6). Das Neue Testament stilisiert Jesus mehrfach in der fundamentalrhetorischen Vorsprecherrolle, d. h. in der Oratorrolle. Die Matthäus- und die Johannes-Schrift drücken das mit Hilfe der oft wiederholten, prägnant variierten Oratorformel „Ich aber sage euch“ aus, die antithetisch der MainstreamFormel „Ihr habt bisher gehört“ entgegengesetzt wird. Hier ein Beispiel, wieder in Luthers eigener Übersetzung: „Jr habt gehört, das gesagt ist, Du solt deinen Nehesten lieben, und deinen Feind hassen. Jch aber sage euch: Liebt eure Feinde.“
An dieser Stelle wird das Oratorprinzip deutlich: der kommunikative Eingriff in (1) ein Meinungsbild (2) mit dem Ziel der Lenkung und Neuorientierung. Daher die stereotypen Doppelformulierungen in Matthäus 5: (1) „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist“, (2) dann die Oratorformel „Ich aber sage euch“ (gr. ego de lego hymin; lat. ego autem dico vobis). Vergleichbar ist die mehrfach in Johannes 5 verwendete Variante der Oratorformel: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ (Amen, amen dico vobis).⁴¹¹ Als Kanzelredner hat Luther diesen Habitus des Orators längst verinnerlicht. In Worms aber muss er unter Politikern noch ganz andere Register ziehen. Hier spricht ja nun endlich das Haupt des Protests vor allen Ständen des Reichs, und dabei könnte alles – so muss Luther fürchten – noch scheitern. Darum geht er nun zu einer offenen Kampfansage über, die am Ende sogar, man glaubt es kaum, in einer Warnung an den Kaiser gipfelt. So im Angesicht der Macht aufzutreten, haben sich im Alten Testament nur die Propheten gegenüber den Königen Israels getraut. Luther wird auf dieses Beispiel gleich Bezug nehmen. Das ist ein deutlicher Fingerzeig auf das Verständnis seiner eigenen Rolle.Wie solch ein biblischer Held will sich Luther in den heiligen Kampf werfen. Er kenne, sagt Luther zunächst einfach feststellend, „die Auseinandersetzungen und Gefahren oder die Ereiferungen und Meinungsverschiedenheiten, die Knape 2012d, S. 30.
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aus Anlass meiner Lehre in der Welt entstanden sind“, nur zu gut. Dann die unverhüllte Kampfansage, die zugleich kurz und bündig das Programm des Protests als soziales Prinzip formuliert, hier natürlich situationsgemäß in religiöser Kodierung: Er schätze es am meisten, „dass wegen des Wortes Gottes Eifer und Streit entstehen.“ Genau das ist nämlich „der Lauf, der Ereignisfall und die Wirkung (cursus, casus et eventus) des Wortes Gottes“. Christus selbst sage doch ganz klar: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert: Denn ich bin gekommen, einen Menschen gegen seinen Vater zu erregen usw.“ Das immer nur auf Ruhe pochende Prinzip der Macht kann ja nur die eine Seite des Weltlaufs sein. Luther klagt mit Blick auf die Doppelnatur Gottes auch das andere Prinzip, das des Protests, ein: „Unser Gott ist in seinen Ratschlüssen wunderbar und furchtbar (mirabilis et terribilis)“ zugleich. Und darum darf bei religiösen Fragen das Streben eben gerade nicht dahin gehen, „Streitigkeiten zur Ruhe zu bringen“. Widerspruch, Debatten, Diskussionen und Kontroversen, kurz: Protest; all das ist legitim und notwendig, weil sich sonst „eine Flut unerträglicher Übel (über uns) ergießt“. Im Habitus des Propheten schwingt sich Luther nun sogar ohne diplomatische Rücksichtnahme mutig zu einer Warnung an den jungen, erst vor wenigen Monaten gekrönten Kaiser auf. Wir können uns vorstellen, dass es Friedrich dem Weisen auch an dieser Stelle den Atem verschlagen hat. Seine spätere Kritik an Luthers Kühnheit ist uns ja bekannt. Wer den Protest unterdrücke und damit dem Übel seinen Lauf lasse, gibt Luther unter Hinwendung zum Kaiser zu verstehen, müsse befürchten, „dass die Regentschaft dieses jungen, herrlichen Fürsten Karl, auf dem nächst Gott viel Hoffnung steht, einen unglücklichen Anfang nimmt.“ Wie sichert Luther diese prophetische, in die Zukunft blickende Eventualprognose ab? „Ich könnte aus zahlreichen Beispielen der Schrift über Pharao, den König von Babylon und die Könige Israels die Sache verdeutlichen, die dann der Selbstvernichtung am nächsten standen, wenn sie sich bemühten, mit überklugen Ratschlägen ihre Herrschaft zu befrieden und zu stabilisieren. Denn Gott selbst ist es, der die Listigen in ihrer eigenen List fängt, und er versetzt Berge, bevor sie es merken. Deshalb ist Gottesfurcht nötig.“ Hätte der Kaiser das im Moment der Rede alles genau verstanden, wer weiß, wie er reagiert hätte. So aber kann Luther mit seinen atemberaubenden Ausführungen fortfahren. Letztlich sprechen ja nicht der Prophet oder der Protestant, sondern die Wirklichkeit oder Wahrheit, deren Ausdrucksorgan seine Person lediglich ist. Für Luther bündeln sich all diese Quellen der Rede in Gott, der aus ihm spricht. In wessen Interesse aber spricht er auch noch auf diesem Forum? Längst richtet er sich nicht mehr nur an ein akademisches Publikum. Das ist vorbei. Seine „Lehre oder Meinung“ sei für die „bedeutenden Geister“ nicht wirklich nötig, sagt Luther. Er greift viel weiter, spricht zum ganzen deutschen Volk. Ich trete hervor,
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sagt er, „weil ich meinem (Vaterland) Deutschland den schuldigen Dienst nicht vorenthalten will“. Mit diesem Ausruf kauft er den weltlichen Hutten-Protestlern, die er nur zu gut kennt und die wegen der Interessen Deutschlands protestieren und nicht aus Religionsgründen, den national-antirömischen Schneid ab. Mit dieser Emphase ist Luthers nun folgender Schlussantrag gut vorbereitet. Die Causa Lutheri ist in Hinblick auf die drohende Reichsacht eine Sache ganz Deutschlands. In diesem Sinn schließt er mit einer Bitte in eigener Sache: „Und so empfehle ich mich Eurer heiligen Majestät und Euren Herrschaften mit der demütigen Bitte, es nicht zu dulden, dass ich wegen des (falschen) Eiferns meiner Feinde ohne Grund kriminalisiert werde.“ Aus dem Publikum kamen während der Rede vielfache Bekundungen der Zustimmung zum Inhalt.
Der Wormser Bekenntnisruf „Dixi“, „Ich habe gesprochen“, lautet das letzte Wort der Wormser Rede Luthers. Es ist der in dieser Zeit übliche Redeschluss. Doch es ist noch nicht das Ende des Ereignisses. Vermutlich tritt nun eine kurze Pause ein, weil Luther zurücktreten, der kaiserliche Orator sich wieder erheben und das Wort ergreifen muss. Noch ist die Sitzung ja nicht förmlich geschlossen. Alle sind gespannt, wie das Tribunal wohl enden wird. Es folgt der berühmte Nachtrag zur großen Rede, Luthers Wormser Bekenntnisruf. Der Sitzungsleiter Johann von der Ecken ist ein erfahrener Jurist, der die geschickten Argumentationslinien und rhetorischen Mittel Luthers durchschaut hat. Er setzt zu einer Art Gegenrede an, die Luthers Einlassungen aus Sicht der Macht kommentiert. Zwei Methoden sind ihm aufgefallen: Erstens geschicktes Ausweichen vor der Widerrufsfrage und zweitens Angriff. Dem kann man in der Tat nicht widersprechen. Luthers geschickt gewähltes Grundverfahren der Rede besteht letztlich aus bloßer Selbstbeschreibung. Der Duktus ist deskriptiv. So will Luther das Vorladungsschreiben ja auch verstanden wissen. Was heißt das? Luther beschreibt ganz einfach seine Schriften, das Corpus delicti, untergliedert es nach Art der rhetorischen Partitio in drei Teile und erläutert die Inhalte der Bücher. Bei der jeweiligen Bewertung weicht er dann in eine rhetorische Frage und in den Konjunktiv aus. Alles bleibt am Ende hypothetisch. Auf dieses Ausweichmanöver setzt Luther schließlich auch noch seine Verteidigung des Protests auf, die Kampfansage, seine Warnung an die Macht und seine Vorwärtsverteidigung, mit der er die Beweislast der päpstlichen Seite zuschiebt. Luther hat in der Rede hinsichtlich der Widerrufsfrage sowohl Konfession als auch Retraktation vermieden, formulierte also weder Bekenntnis noch Rücknahme. Er stellt Fragen und formuliert Hypothesen. Der kaiserliche Orator ist deswegen gereizt und tadelt Luther, er habe nicht
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zur angefragten Quaestio gesprochen. Es folgt daher die klare Aufforderung, Luther solle nun in einem Nachtrag ganz schlicht (simplex) und ohne Hörner, also ohne rhetorische Figuren und Ausweichmanöver antworten. Nun schlägt für Luther doch die Stunde. Bis jetzt konnte er ausweichen. In diesem Moment jedoch ist jene gefürchtete Situation eingetreten, die ihm eine reichstagsöffentliche und endgültige Entscheidung abfordert. Darüber muss er in den letzten Jahren und Monaten schon tausendmal nachgedacht haben. Das gilt auch für die Formulierungen, bei denen es auf jedes Wort ankommt. In seinen Briefen und in den belegten Äußerungen im internen Kreis der Kursachsen hat er sich längst festgelegt. Wenn jetzt der Moment des öffentlichen Bekenntnisrufs kommt, gibt es für ihn nur eine Wahl; und in diesem Sinn tritt er vor und gibt sein zusammenfassendes Bekenntnis ab. Dabei bringt er noch einmal den Kern der Sache auf den Punkt, diesmal klar, einfach und ohne Umschweife: „Da also Eure Majestät und Eure Herrschaften eine einfache Antwort fordern, werde ich diese in folgender Weise ungehörnt und ungezähnt geben: Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schriften oder einen klaren Vernunftgrund überzeugt werde (denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, weil es feststeht, dass sie des Öfteren geirrt und sich selbst widersprochen haben), kann und will ich nicht irgendetwas widerrufen (quicquam revocare), weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist. Durch die von mir angeführten Schriften bin ich schon besiegt und mit meinem Gewissen gefangen in Gottes Worten.“⁴¹²
Dieser Wormser Bekenntnisruf Luthers im Nachtrag zu seiner Rede hat ihn berühmt gemacht. Es wurde als Bestandteil von umgehend gedruckten Berichten über den Reichstag sofort in ganz Deutschland verbreitet und gelangte zu historischer Bedeutung. Mit seiner Wortwahl ruft Luther im Wormser Bekenntnisruf einen agonalen Geschehensrahmen auf, wie er ihn aus Prozessen oder aus Disputationen kennt. In solch eine kommunikative Kampfsituation fühlt er sich versetzt. Noch einmal dreht Luther die Beweislast um. Die Macht muss dem Protest rhetorisch-argumentativ beweisen, dass der Protest irrt. Es ist der klassische rhetorische Fall, in dem jemand durch Argumente und Beweise einen anderen überzeugen muss. Das fordert Luther hier ein. Zeugenaussagen, Testimonien, Zeugnisse in Form schriftlicher Beweise müssen her, um ihn zu überzeugen. In diesem Sinn beginnt Luther mit dem Satz: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schriften (testimoniis scripturarum) oder durch einen klaren Vernunftgrund (ratione evidenti) eines Irrtums überführt (convictus) werde“, dann „kann und will ich nicht irgendetwas widerrufen (quicquam revocare).“ Wichtig ist hier das von Luther benutzte Verb convincere aus der Kampf- und Militärsprache. Es besagt hier, Zur Übersetzung vgl. auch Köstlin 1903, S. 417.
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dass jemand im kämpferischen Disput „überwunden“ werden will, wie es Spalatin in seiner deutschen Version der Rede übersetzt.⁴¹³ Diese Kraft des Überwindens haben für Luther aber nur die Belege aus der Heiligen Schrift (scriptura), wenn sie sich im Beweis mit vernünftiger Einsicht als Begründung (ratio) verbinden. Spalatin übersetzt den in Luthers Bericht stehenden Begriff ratio evidens mit dem Ausdruck „augenscheinliche Ursache“.⁴¹⁴ Die von Luther geforderte Beweiskraft und augenscheinliche Evidenz besitzen auf keinen Fall die rein menschlichen Autoritäten Papst und Konzil, weil diese nachweislich mit Schriftbelegen fahrlässig umgegangen sind (Irrtümer) und es auch nicht immer mit der Vernunft gehalten haben (Widersprüche). Welches ist die Instanz, die im Disput über theologische Streitpunkte befindet? Das ist die Kernfrage. Und Luthers klare Antwort lautet: Es ist das Gewissen des einzelnen Gläubigen. Denn, sagt er, „gegen das Gewissen zu handeln“ sei „weder sicher noch lauter“. Damit ist klar: Luther wendet sich gegen die autoritative Feststellung von religiöser Wahrheit durch externe Institutionen. Er bleibt im Bild und verwendet nun zwei weitere Verben aus der Militärsprache, die aber für jede Art Wettstreit im Sinne rhetorischer Agonalität genommen werden können: „besiegt“ (victus) und „gefangen“ (captus). In seinen bisherigen Publikationen und Äußerungen sei er bereits längst in der geforderten Weise von Belegen aus der Heiligen Schrift besiegt; soll heißen: überzeugt worden, soll heißen: Ich kann euch nicht folgen, weil ich nun durch den Sinn der Schrift gefesselt bin. Deswegen könne er auch nicht mehr aus taktischen Gründen anders argumentieren, schon gar nicht in der Weise, die man von ihm fordere. Sein Gewissen als Urteilsinstanz sei ganz eingenommen von der Kraft des Gotteswortes. Ein Aufgeben der Gewissensbindung an die Schrift kommt für ihn nicht infrage: „Durch die von mir angeführten Schriften bin ich schon besiegt (victus sum) und mit meinem Gewissen gefangen in Gottes Worten (capta conscientia in verbis dei).“
Dixi – Hier stehe ich? Mit diesen zweifellos schon lange bedachten Formulierungen gibt Luther seine endgültige Entscheidung für die Weltgeschichte zu Protokoll. Dass sein Gewissen „gefangen in Gottes Worten“ sei, ist der entscheidende Satz. Luther verantwortet seine persönliche Deutung des Gotteswortes nur noch vor seinem eigenen Gewissen als Instanz und sonst vor keiner anderen Autorität mehr. Der Bezug auf das
RA 2, S. 581, Z. 27. RA 2, S. 581, Z. 24 f.; siehe dazu Lohse 1958, S. 124 f.
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Gewissen ist deswegen welthistorisch bedeutsam, weil hier in letzter Konsequenz in einem höchst prominenten politischen Kontext die Gewissens- und Denkfreiheit mit äußerst weitreichenden Folgen eingeklagt wird. Das soll ab jetzt gelten. Von den methodischen Aspekten der mit seinem Standpunkt verbundenen ausschließlichen Schriftbindung wird später noch die Rede sein. Und wie es für die Sache angemessen ist, bekräftigt er sein Bekenntnis mit einer passenden Schlussformel, die auch im lateinischen Text in deutscher Sprache steht und weit über das schlichte „dixi“ hinausgeht. Welche aber ist es die Wormser Schlussformel? „Dixi. Gott helfe mir. Amen.“ „Dixi. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ „Dixi. Gott komme mir zu Hilfe. Amen. Da bin ich.“ „Dixi. Das helfe mir Gott bzw. Deus adiuvet me.“ „Dixi. So helfe mir Gott. denn ich kann keinen Widerruf tun.“
Wie man sieht, ist Luthers Wormser Schlussformel in fünf Formulierungsvarianten überliefert. Es verhält sich also auch hier wie beim Thesenanschlag. Die beiden symbolträchtigsten und populärsten Elemente der Reformationsereignisse (Thesenanschlag und Wormser Schlussformel) sind, zumindest im Detail, nicht eindeutig nachweisbar.⁴¹⁵ Die Langvariante „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“ wurde zwar umgehend, doch nur von der Wittenberger Presse verbreitet. Sie erinnert uns immerhin an Luthers Sentenz in der Erfurter Augustinerkirche, die er ein paar Wochen zuvor auf der Reise nach Worms gefunden haben soll und wo es heißt: „Ich aber will die Wahrheit sagen und muss es tun, darum stehe ich hier.“⁴¹⁶ Für die Langversion der Wormser Formel spräche vielleicht, dass sie inhaltlich zu verstehen gibt, dass Luther eigentlich politisch zum Nachgeben bereit wäre, gemäß der kursächsischen Linie, dass er hier aber nun aus Gewissensgründen nicht anders handeln kann. Die Sache ist nicht zu klären.⁴¹⁷ Es könnte also sein, dass den Wittenbergern, voran Spalatin, die berühmte Schluss-Sentenz erst für die Publikationen des Redetextes als Resümee eingefallen ist. Sie bringt in jedem Fall die Wormser Position Luthers trefflich auf den Punkt. Überblick über die Überlieferungslage in RA 2, S. 555 – 557, Anm. 1; WA Werke 7, S. 814– 824 u. 838. Martin Luther: Ein Sermon auf dem Hinwege gen Worms zu Erfurt gehalten. In: WA Werke 7, S. 803 – 813, hier S. 812. Köstlin 1903, S. 419 f.
Licht aus
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Licht aus Was nun? Luthers offizielle Einvernahme vor dem Tribunal ist mit seinem Bekenntnis eigentlich beendet. Die Fürsten ziehen sich wieder zur Beratung zurück, insbesondere auch, weil der Kaiser die Ausführungen, wenn überhaupt, nur teilweise verstanden haben dürfte. In der Fürstenberatung kann man ihm den Inhalt der Ausführungen Luthers noch etwas genauer erklären und gemeinsam zu einer Beurteilung kommen. Luther hatte bisher insofern Glück, als der Kaiser während des flüssigen Vortrags weder die subtilen noch die expliziten Provokationen richtig verstanden haben dürfte. Darum blieben auch spontane Reaktionen Karls aus. In der Fürstenberatung ist ebenfalls keine Zeit für Einzelüberlegungen. Wie sich schnell herausstellt, konzentriert sich das Interesse der kaiserlichen Regierung für den Moment nur auf das Wesentliche. Es geht um die Frage, wie Luthers Äußerungen in Hinblick auf den Reichsacht-Automatismus nach der schon erfolgten Bannung durch Rom zu beurteilen sind. Das bereitet dem Kaiser Sorgen. Er ist bereit, alles von einer einzigen Frage abhängig zu machen. Darum muss man nochmal nachfragen. Nach der Rückkehr in den Verhandlungssaal gibt der Trierer Offizial das Ergebnis der Fürstenbesprechung bekannt.⁴¹⁸ Von der Ecken beginnt mit einer tadelnden Einschätzung des gesamten Auftritts: „Unbescheidener als dir zukommt, Bruder Martin, hast du geantwortet und nicht zur Sache.“ Der Trierer rügt noch einmal das Darstellungsverfahren Luthers in der großen Rede. Die gewählte Methode der rein deskriptiven Unterscheidung seiner Bücher sei keine vom Kaiser gewünschte Antwort gewesen. Dem obersten Repräsentanten der Macht hat insbesondere missfallen, dass Luther nicht auf die quicquam-Lösung eingeschwenkt ist. „Hättest du diejenigen Punkte widerrufen,“ sagt der Orator, „die vor allem ketzerisch sind, so würde die Milde (clementia) des Kaisers keine Verfolgung derer zulassen, die gut sind. Du aber willst, was schon die Konstanzer Synode verdammt hat, wieder aufleben lassen, und du führst dich so heftig auf wie ein Wahnsinniger.“⁴¹⁹ Luther wird auf diese Weise daran erinnert, dass der Kaiser vorab zugesichert hatte, ihn bei einem Teilwiderruf vor römischer Verfolgung schützen zu wollen. Wie kann man so etwas ablehnen? Damit wird das große Missverständnis auf Seiten der Macht offenbar. Sie denkt, dass es Luther um seine eigene Person, um Leib und Leben geht, und nicht etwa nur um das Anliegen des Protests als solches.
RA 2, S. 556 f. Übers. n. Hausrath 1897, S. 268 f.
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Nach dem Bericht Peutingers soll Von der Ecken insbesondere die rhetorisch ausweichende Argumentationsmethode kritisiert haben. Nach Ansicht des Offizials habe Luther argumentativ „nur an den Wänden entlang“ gehen wollen und nicht auf „die gerade Bahn treten“.⁴²⁰ Er solle gefälligst sein rhetorisches „Hochreden“ vermeiden und endlich zu wirklich klaren Antworten in der Widerrufsfrage kommen. Der Kaiser werfe ihm vor, dass er sich immer noch nicht von jenen Artikeln distanziere, die das Konstanzer Konzil verdammt habe. In seinen Schriften stehe vieles an Ketzerischem, das schon bei Jan Hus und Hieronymus von Prag zu finden sei. Luther könne in seiner Sache weder mit einem neuen Konzil noch mit einer Disputation rechnen.⁴²¹ Auch der kursächsische Bericht bezeugt, dass Von der Ecken vor allem auf der Konzilsfrage beharrte.⁴²² Dürfte konziliaren Entscheidungen immer wieder aufs Neue widersprochen werden, was bliebe dann noch Festes übrig? Man ist bei der alles entscheidenden Kernfrage angekommen. Und an dieser Stelle kommt es noch einmal zu einer Wendung, die zeigt, wie angespannt die Lage in diesen letzten Minuten des Wormser Luther-Tribunals ist. Freilich ist die Quellenlage zu diesem Nachgeplänkel nicht besonders klar.⁴²³ Was wir rekonstruieren können ist dies: Die Erregung des Kaisers ist gewachsen, und es wird deutlich, dass er letztlich doch auf die quicquam-Lösung gesetzt und geglaubt hatte, seine vorab gegebene kaiserliche Schutzzusage werde Luther im letzten Moment umstimmen. Würde Luther einlenken, müsste Karl V. das Vernichtungsedikt nicht mehr gegen den Widerstand des Reichstags durchsetzen. Ein großes politisches Problem wäre für ihn gelöst. Daher mischt er sich jetzt höchstpersönlich ein, verwickelt Luther vom Thron herab nicht nur in einen Disput, was ungewöhnlich genug ist, sondern nähert sich selbst auch noch einer dogmatischen Auseinandersetzung an. Freilich müssen wir uns diesen Wortwechsel als ein Gespräch über mehrere Ecken vorstellen. Alles, was der Orator auf Latein zu Luther sagt, muss dem Kaiser auf Französisch simultan oder nachträglich übersetzt werden.Vielleicht fragt der junge Mann auf dem Thron zwischendurch sogar noch seine theologisch geschulten Berater Chièvres oder Glapion, die vermutlich dabeistehen, um keinen Fehler zu machen. Wenn er nun selbst in dieser Situation nachfragt, muss dies zunächst wieder ins Latein übersetzt und die Antworten dann ebenfalls wieder ins Französische gebracht werden. Zudem spricht der Kaiser Luther nicht direkt an, sondern über den Orator. Die Situation ist ungünstig, Überliefert in einem Flugblatt, in das Peutingers Bericht eingegangen ist. RA 2, S. 861 und 582 f.; auch bei Hausrath 1897, S. 269. RA 2, S. 861; auch bei Hausrath 1897, S. 269. RA 2, S. 557; WA Werke 7, S. 886. RA 2, S. 557; WA Werke 7, S. 886.
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es herrscht Unruhe im Saal, alles ist in Auflösung begriffen, alles scheint gesagt. So befiehlt Karl dem Trierer Offizial Von der Ecken schließlich, den Mönch noch einmal ultimativ zu fragen, wie er es denn nun mit den Konzilien halte. Können Konzile nun irren oder nicht? Karl will mit dieser von ihm selbst, wenn auch indirekt gestellten Frage abschließend sein ganzes persönliches Gewicht in die Waagschale werfen. Seine Berater haben ihm klargemacht, dass von dieser Frage der Anerkennung einer institutionellen Oberautorität in Glaubensfragen alles abhängt. Der kluge Theologieprofessor muss doch bei all dem gezeigten guten Willen und im Angesicht seines Herrschers wenigstens in diesem Punkt ein Einsehen haben, denkt er wohl. Da der Kaiser Luthers längst erfolgte klare Aussagen zu diesem Punkt offenkundig nicht verstanden hat, bleibt Luther nichts anderes übrig, als sich zu wiederholen. Ja, Konzile können irren, denn das Konstanzer Konzil habe deutlich gegen den Sinn eindeutiger Stellen in der Bibel entschieden, und Jan Hus habe durchaus schriftgemäß gedacht. Als man dem Kaiser diese Antwort übersetzt hat, weiß er endgültig Bescheid, erhebt sich und verlässt den Saal mit der Bemerkung, er habe jetzt genug.⁴²⁴ Es ist vorbei. Da Luther in dieser Weise auf der Irrtumsfähigkeit von Konzilien beharrt, keine neuen Argumente mehr kommen, die Diskussion sich im Kreis zu drehen beginnt und ja eigentlich sowieso keine Disputation vorgesehen war, muss Karl die Szene rasch verlassen, wenn er nicht öffentlich den Verlust seiner herrscherlichen Contenance zur Schau stellen will. Karl ist aufgewühlt. An diesem Abend wird ihm spätestens klar geworden sein, welche Bürden das mit Hilfe Fuggers so teuer erkaufte Amt des deutschen Königs mit sich bringt. Nach wenigen Monaten wird er Deutschland verlassen und es fast ein Jahrzehnt lang nicht mehr betreten. Doch auch dann, bis zu seiner Resignation 1556 und dem endlichen Rückzug in ein spanisches Kloster, wird er schwer mit der Reformation zu kämpfen haben. Hatte Aleander, vom Kaiser im Februar überraschend in die Pflicht genommen, seine Aschermittwochsrede in einer einzigen Nacht geschrieben, und Luther unter dem Eindruck der Ereignisse ebenso kurzfristig sein Wormser Exordium zu Papier gebracht, so wird der Kaiser nun in der vor ihm liegenden Nacht seine ganz persönliche Wormser Erklärung niederschreiben. Davon später mehr. Offensichtlich war im Saal bei dem kaum vernehmlichen, sprachlich und interaktiv umständlichen, ins dogmatische Detail gehenden Nachgeplänkel Unruhe unter den Anwesenden ausgebrochen. Die Repräsentanten der deutschen Stände konnten nicht nachvollziehen, was da vorne jetzt immer noch besprochen
Von diesem Wortwechsel haben Aleanders Informanten berichtet in AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 20, 19. April 1521), S. 173 – 176; Hausrath 1897, S. 270.
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wurde. Der Kaiser war doch gegangen. Die Szene löste sich auf. Nur die beiden ineinander verbissenen Protagonisten können sich nicht trennen. Von der Ecken ruft Luther zu: „Lass dein Gewissen los, Martinus, so wie es deine Pflicht ist, wenn du im Irrtum bist.“⁴²⁵ Die Konzile hätten, wenn überhaupt, nur in disziplinarischen Dingen geirrt, niemals in der dogmatischen Substanz. Das Argument des irrigen Gewissens ist in der Tat erörterungswürdig, kommt aber jetzt zu spät. Luther versucht noch zu antworten. Er wiederholt sich. Er könne seinen Standpunkt durchaus mit Hilfe der Schrift beweisen. Zu spät. Der Kaiser und sein Hof sind ja gegangen, und auch die anderen verlassen in Lärm und allgemeiner Aufbruchstimmung den Raum. Doch die Kampfhähne können laut Peutinger immer noch nicht voneinander lassen: „Der Offizial sagte Nein, Luther Ja, und dass er es beweisen könnte. Damit war die Auseinandersetzung für dieses Mal beendet. Es entstand ein großes Geschrei, als Luther den Ort verließ“.⁴²⁶ So ist der Schlagabtausch mit letzten Entgegnungen versiegt. Die kursächsische Schilderung sagt lapidar: „Weil es aber schon im ganzen Saal dunkel geworden war, ging jeder nach Hause.“⁴²⁷ Mit anderen Worten, die kaiserliche Regie löste die Versammlung auf, indem sie das Licht der Fackeln löschte und so „unter großer Verwirrung diesem Zwiegespräch ein Ende“ machte (spanischer Bericht).⁴²⁸ Ein großes Ereignis der Geschichte verliert sich am Ende im situativen Chaos. Dass das ganze Tribunal ein stürmisches Ende nahm, ist gut bezeugt. Die kursächsische Quelle schreibt: „Als sich Luther von der kaiserlichen Majestät und dem Richterstuhl (tribunal) fortbegab, folgte ihm ein großer Teil der Spanier mit Spottlauten und voller Hohn und mit lange anhaltendem Lärm.“⁴²⁹ Nach Spanien wird Ähnliches gemeldet: „Der Kaiser ging nun hinauf nach seinem Zimmer, und die Kurfürsten und Fürsten begaben sich nach ihren Herbergen; das ganze übrige Volk aber und Luther selbst, voller Freude und begleitet von vielen Deutschen, die ihn schon vorher geführt hatten, eilte aus dem Palaste, er wie sie mit hoch erhobenen Armen, die gespreizten Hände ausgestreckt, wie die Deutschen beim Lanzenbrechen zum Zeichen des Sieges zu tun pflegen; und so geleiteten sie ihn nach seinem Quartier. Die Reitknechte der Spanier aber, die am Ausgang der Pfalz auf ihre Herren, die Spanier, warteten, schrien am Tore hinter ihnen her: Ins Feuer mit ihm, ins Feuer!“⁴³⁰
RA 2, S. 594; AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 20, 19. April 1521), S. 176, Anm. 2; Hausrath 1897, S. 270. Hausrath 1897, S. 270. RA 2, S. 558. Bericht des königlichen Kabinetts an den Staatsrat von Kastilien. In: Kalkoff 1898, S. 54. RA 2, S. 558; Rogge 1971, S. 101. Bericht des königlichen Kabinetts an den Staatsrat von Kastilien. In: Kalkoff 1898, S. 54 f.
Licht aus
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Nach dem Bericht des bayerischen Rats Kölner dauerte der Auftritt Luthers ungefähr anderthalb Stunden.⁴³¹ Als Luther am Ende vor den Bischofshof trat, drängten sich die sächsischen Edelleute um ihn. „Als ich zu Ende geredet hatte“, erzählt Luther später, „ließ man mich gehen, und man gab mir zwei, die mich führten und begleiteten. Da erhob sich ein Getümmel. Ob man mich gefangen wegführe, riefen mir die Edelleute zu. Aber ich sagte, sie begleiteten mich nur.“⁴³² Mit fröhlichem Victory-Zeichen, von Spalatin und anderen Mitgliedern des kursächsischen Teams begleitet, geht Luther zur Herberge zurück. Der von Luthers Personenschützern geäußerte Verdacht, dass es im Lärm des Aufbruchs doch noch zu einer Verhaftung kam, hing natürlich mit dem so oft beschworenen Präzedenzfall Jan Hus zusammen. Im Schlussgetümmel, wie es Luther selbst nennt, wäre in der Tat der Moment für Karl V. gewesen, die Wachen zu rufen und den vom Papst gebannten Ketzer nach dem Vorbild des Konstanzer Verfahrens von 1415 in Haft nehmen zu lassen. Doch der Herrscher tut nichts; und dafür gibt es Gründe, die auch den päpstlichen Nuntien zum Teil schon vorher bekannt waren. Sie gaben sich keinen Illusionen hin, weil sie verstanden hatten, dass es Luther um etwas Prinzipielles ging. Deshalb sind sie nicht erschienen.Was waren die Gründe für die Haltung des kaiserlichen Regiments? Längst hatte man in den Gruppierungen des Reichstags und im Regierungskabinett alle Eventualitäten diskutiert. Luthers Verhalten überraschte niemanden wirklich, auch wenn es vor seinem Auftritt noch einen Rest an Unsicherheit gegeben haben mag. Vordergründig haben wir es in Worms mit einem staatsrechtlich festgelegten Vorgang zu tun, dessen Modellablauf wir in Konstanz 1415 beobachtet haben. Ketzerfragen berühren beide Säulen der Macht gleichermaßen.Wenn die Kirche ihr Urteil gefällt hat, sorgt das weltliche Regiment für die Vollstreckung. Im Fall Luther hat sich die Lage insofern geändert, als die Stände des Reichs den Automatismus abgeschafft haben und nun selbst erst noch einmal auf dem Reichstag am Entscheidungsprozess beteiligt werden wollen. Luther soll nach diesem neuen, modifizierten Modell gehört werden. Die kaiserliche Macht aber will eigentlich kurzen Prozess machen nach dem alten Modell. Danach hätte der Kaiser wie einst in Konstanz Luther schon am Vortag, dem 17. April, auf den Widerruf festlegen können und im Fall der Verweigerung zur Verhaftung und Exekution übergehen können. Doch durch die definitive Zusage des Kaisers gegenüber Friedrich dem Weisen, am Geleitschutz festzuhalten, nicht wortbrüchig werden zu wollen, ist Luther in Worms vor Verfolgung sicher.
RA 2, S. 577; Hausrath 1897, S. 272. EA 64, S. 370.
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Es gibt also Spielraum für weitere kommunikative Manöver.Wir werden sie als Wormser Satyrspiel erleben. Dabei handelt es sich um die im Nachgang geführten Verhandlungen, die man unter anderem auch als ein weiteres Kapitel jener kursächsischen Konfliktbewältigungspolitik verstehen kann, die in den Jahren zuvor schon oft erprobt worden war. Friedrich der Weise hatte auf Institutionen- und Reichsebene stets Verhandlungsbereitschaft, politische Beweglichkeit und Friedfertigkeit signalisiert, fühlte er sich doch als Primus unter den Kurfürsten immer auch verantwortlich für den Frieden im Reich. Diese Grundlinie spiegelte sich ja auch schon 1518 in Luthers Verhalten bei der Konfrontation mit Cajetan in Augsburg. Jetzt in Worms muss der junge Kaiser davon ausgehen, dass er in Deutschland nur auf Konsensbasis regieren kann. Bald nach den Verhören werden also wieder einige seiner Räte und Diplomaten auf Wunsch der Stände Kontakt zur anderen Seite aufnehmen, um doch noch einen Ausweg zu finden. In der Reichsversammlung war Luther bei seinen Auftritten mindestens zur Hälfte von Hochadeligen umgeben, die mit ihm als Romgegner politisch sympathisierten, auch wenn sie zumeist gar nicht wirklich verstanden, worum es theologisch überhaupt ging. Daher fühlte sich der neu ins Amt gekommene Kaiser Karl V. gebunden, und darum standen in Worms, anders als in Konstanz 1415, keine Scheiterhaufen für die Verbrennung bereit. Der Kaiser jedenfalls hatte sich vorab auf Einhaltung des sicheren Geleits festgelegt; gleichzeitig hoffte er – wie sich gezeigt hat – bis zum letzten Moment auf die quicquam-Lösung. Er war noch zu jung und idealistisch, um sich wie seinerzeit der skrupellos-wortbrüchige Kaiser Sigismund zu verhalten. Zudem hatte er ja auch vor, seine eigene Politik gegenüber Rom zu machen. Und es galt nicht zuletzt, Rücksicht zu nehmen auf die reformfreundliche Stimmung im Land und unter den Ständen, weil sich die Herausforderungen in der Türkenfrage nur gemeinsam bewältigen ließen. Jedenfalls gab man Luther zwei Soldaten als Eskorte zum Schutz und nicht zur Bewachung mit auf den Weg. In der Herberge angekommen begrüßte er die Wartenden mit erhobenen Armen und fröhlichem Gesicht und rief befreit aus: „Ich bin hindurch! Ich bin hindurch!“⁴³³
RA 2, S. 853; Hausrath 1897, S. 272; Riederer 1768, S. 97.
4 Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V. Dynastische Pflicht Am Morgen des 19. April hat Karl V. eine unangenehme Nacht hinter sich gebracht. Aus den überlieferten Indizien können wir schließen, dass er am Vortag nur noch mit seinen engsten Beratern die Äußerungen Luthers im Detail besprochen hat, nicht mit dem römischen Nuntius. Zu diesem engsten, auch theologisch gebildeten Kreis rechnet man Männer wie seinen niederländischen Kanzler Chièvres, den Großkanzler Gattinara und den uns von der Ebernburg-Episode her bekannten Beichtvater Glapion.⁴³⁴ Während Luthers Auftritt muss es ein Sprachen- und Verständigungsproblem gegeben haben. Ein Indiz für die Existenz kommunikativer Schwierigkeiten auf dem Reichstag ist die Tatsache, dass so gut wie alle Berichte von der Mehrsprachigkeit und sogar von der Reihenfolge des Spracheneinsatzes in den Verhandlungen berichten, aber sich dabei widersprechen. In dieser nicht ganz unerheblichen Frage, bei der es ja um Stimmungen und Verstehens- und Missverstehensmöglichkeiten im Saal geht, muss die Forschung daher immer die wahrscheinlichste Version rekonstruieren. Wie war die Verständigung während der drei Phasen des zweiten Luther-Tribunals am 18. April (große Rede, Nachtrag, Nachgeplänkel)? Johann von der Ecken und Luther haben in den ersten beiden Phasen auf Deutsch und Latein zugleich konferiert, wobei die Reihenfolge der Sprachen nicht festgelegt gewesen zu sein scheint. Das gab Luther rhetorische Inszenierungsmöglichkeiten, denn mit Deutsch an erster Stelle konnte er sein deutsches Publikum eher für sich einnehmen. Wie sich dann aber der Wortwechsel beim abschließenden Nachgeplänkel im Detail gestaltete, ist unklar. Da sich der Kaiser einmischte, muss es auf jeden Fall in Latein abgelaufen sein, mit französischen Zwischenübersetzungen. Deutsch war in diesem Moment nicht mehr nötig,weil das Publikum im Saal am Schluss kaum noch einbezogen war und sich die Szene daher langsam auflöste. Der Kaiser war auf jeden Fall darauf angewiesen, dass man ihm im Nachgang den Gesamtinhalt und auch die Einzelheiten der Äußerungen Luthers noch einmal auseinandersetzte, weil seine Lateinkennisse für solche komplizierten Sachverhalte wohl kaum ausreichten. Vermutlich gab es auch in diesem Fall irgendwelche Protokollnotizen. Nicht nur die kursächsischen Sekretäre waren ja in der Lage, bei Reden mitzuschreiben, auch die kaiserlichen Übersetzer dürften für den Kaiser – wie üblich – solche
Kalkoff 1922, S. 216. DOI 10.1515/9783110546927-005
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Notizen zur Rede angelegt haben. Diese Rekapitulation in der Nacht nach Luthers zweitem Tribunal muss Karl V. teils deprimiert, teils so empört haben, dass er sich zurückzog und eigenhändig – mit oder ohne Berater – ein Statement verfasste. Es sollte am nächsten Tag den Fürsten vorgehalten werden. Das Luther-Ereignis war für den jungen, ganz andere Formen höfischer Unterwürfigkeit gewohnten Herrscher eine Mischung aus Demütigung durch einen in seinen Augen wahnsinnigen Mönch und die Konfrontation mit dessen aufsässigem Anhang im Saal. Insbesondere Luthers bewusst gewählte unhöfische Performanz, was den deutschen Rittern und Städtevertretern gewiss gut gefiel, seine Selbstinszenierung nicht als Gelehrter, sondern als einfacher Mönch mit für die Romanen befremdlich akzentuiertem Latein, muss den in verfeinertem romanischen Adelsambiente aufgewachsenen Karl verschreckt, ja abgeschreckt haben. Karl hatte bei diesem Auftritt weder die deutsche Version der Rede Luthers noch die lateinische wirklich in allen Details verstanden. Die ganze Aufführung ist ihm offensichtlich schon allein von der Performanzseite her wie die eines aggressiven Verrückten vorgekommen, vom Inhalt ganz zu schweigen. Johann von der Ecken hatte Luther diesen Eindruck des Herrschers am Ende auch unverblümt vorgehalten: „Du führst dich so heftig auf wie ein Wahnsinniger (vehementer deliras)“.⁴³⁵ Am 29. April wird Aleander nach Rom berichten, dass „der Kaiser und beinahe auch alle anderen ihn [Luther] für einen Verrückten halten, liederlich und dämonisch“ (Cesar et quasi tutto il mondo l’ha extimato per pazzo, dissoluto et demoniaco).⁴³⁶ In der Nachbesprechung muss sich dieser Eindruck bei Karl vor allem aus inhaltlichen Gründen immer mehr verstärkt haben. Gab es nicht Passagen in der Rede, die man als religiös verklausulierte Drohung gegen ihn, den Kaiser, verstehen konnte? Hatte Luther nicht zu so etwas wie Rebellion aufgerufen, jedenfalls unbotmäßigen Protest für gut befunden? Nicht einmal das Konzil wollte dieser Aufsässige respektieren. All das war unglaublich und ging zu weit. Der Kaiser war jetzt im Affekt und später auch nach reiflicher Überlegung fest entschlossen, dem ein Ende zu machen. Das längst vorgesehene Edikt musste erlassen werden. Regierungstechnisch konnte Karl in dieser Sache auf ein erfahrenes Team zurückgreifen. Es gab einen Redaktionsausschuss, der schon Ende Dezember 1520 mit Aleanders erstem Entwurf eines Reichsgesetzes gegen alle kirchenfeindlichen Bestrebungen beschäftigt gewesen war. Er trat auch später wieder mit nur geringen Veränderungen in der Besetzung in Aktion. Das kaiserliche Team bestand aus Personen der Umgebung Karls V., die sich ziemlich gleichmäßig auf die
RA 2, S. 557, Z. 8. AD ed. Brieger 1884 (Nr. 26, 29. April 1521), S. 170.
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spanisch-burgundischen Räte und Diplomaten sowie auf die der alten Zentralregierung seines Vorgängers Maximilians I. verteilten. Aus einer Liste der vierzehn „Höfräte“ dieser Zeit ergibt sich, wie eng die Interessen dieses Kreises mit den Einrichtungen der römischen Kirche verflochten waren.⁴³⁷ Karl V. spricht im doppelten Sinn des Wortes nicht die Sprache der meisten Politiker seines deutschen Reichs. Das Kommunikationsproblem ist nicht nur linguistischer Natur, nein, es reicht bis an die Wurzeln des Verfassungs- und Politikverständnisses. Karl V. versteht seine Deutschen nicht, die diesen Mönch immer mehr im ganzen Lande verehren, und es hat den Anschein, dass auch sie ihren Kaiser in dieser Sache weder verstehen können noch verstehen wollen. Karl wird es ihnen jetzt zurückzahlen. Er bestellt die Kurfürsten und Fürsten auf acht Uhr zu einer Vormittagssitzung ins bischöfliche Palais ein, soweit diese sich in der Lage dazu sehen. Hier trifft sie der Nuntius Aleander später bei seinem üblichen Besuch an.⁴³⁸ Er bemerkt mit Freude, dass der Kaiser nun doch endlich kurzen Prozess machen und die Umtriebe des Protests abstellen will. Luther soll sofort heimgeschickt und dann ohne weiteres Federlesen in die Reichsacht getan werden. Die Kurfürsten ahnen die schrecklichen Folgen eines solch überstürzten Vorgehens in Worms und im Lande und suchen zu beschwichtigen. Man muss sich die Sache doch erst einmal reiflich überlegen, geben sie zu bedenken. „Gut,“ sagt der Kaiser, doch „ich will euch zuerst meine Ansicht eröffnen.“ Dann gibt er den Befehl, seine in der Nacht entstandene Wormser Erklärung zu verlesen. Die Fürsten trauen ihren Ohren nicht. Der Sprecher verliest ungerührt einen französischen Text, den kaum einer der Anwesenden versteht.⁴³⁹ Das weiß der Kaiser. Diesmal sitzt Karl institutionell und kommunikativ am längeren Hebel, und er lässt es seine Deutschen spüren. Die zeigen keine Regung, sind an höfische Etikette und Selbstkontrolle im öffentlichen Raum gewöhnt. Die Fürsten haben während des an ihnen im Speisesaal des Kaisers vorbeirauschenden Vortrags Gelegenheit, sich ihren Kaiser noch einmal genauer anzusehen.Vor ihnen sitzt ein schmächtiger, bleicher junger Mann, im Gesicht durch den extrem hervorstehenden Habsburger-Unterkiefer und die wulstige Habsburger-Unterlippe entstellt – die zeitgenössischen Bilder beschönigen die Physiognomie eher (Abb. 23). Er sabberte und seine sprachliche Artikulation muss durch die Kieferanomalie beeinträchtigt gewesen sein. Er war introvertiert, heißt es, ohne wirklich tiefergehende humanistische Bildung, aber offenbar sehr fromm.
Kalkoff 1922, S. 92. Herzog Ludwig an Herzog Wilhelm von Bayern, ca. 20. April 1521, in RA 2, S. 869; AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 20, 19. April 1521), S. 177; Hausrath 1897, S. 275. RA 2, S. 594– 596.
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4 Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V.
Die Macht und ihre Techniken sowie der politische Instinkt sind Karl in die Wiege gelegt, aber auch das dynastische Pflichtbewusstsein. Wir werden noch sehen, dass sich daraus für ihn ein wichtiges Argument gegen Luthers Protest ergibt. Der Reformator seinerseits wird sich ungefähr ein Jahrzehnt später an den jungen Monarchen als ein frommes Lämmlein auf dem Thron erinnern, umringt von unangenehmen politischen Kreaturen. Anlässlich des Augsburger Reichstags von 1530 bittet Luther in einer Berichtsvorrede Gott, er möge „dem frommen, guten Kaiser Karl, der wie ein unschuldiges Lämmlein zwischen so vielen Säuen und Hunden, ja zwischen vielen Teufeln sitzt (bei denen kein Beten zu Gott, sondern nur eitler Trotz und Rechthaberei auf die eigene Einsicht und Macht vorkommt), seinen heiligen Geist mit Kraft verleihen, Frieden und gutes Regieren auszurichten in Deutschland“.⁴⁴⁰ Diese Charakterisierung ist offenkundig noch vom Wormser Erlebnis geprägt, da Luther selbst nicht in Augsburg anwesend war. Jetzt, 1521, bringt man Karl auf dem Wormser Reichstag förmlich den gebührenden Respekt entgegen, doch er sitzt als politische Autorität noch nicht fest im Sattel. Insofern ist der Kampf um Luther auch der Initiationskampf eines erst vor kurzem gekrönten Herrschers in einem für ihn noch fremden Land. Als sich der Konflikt um Luther nach dieser Fürstensitzung zuspitzt, tauchen Zettel mit den demütigenden Worten „Wehe dem Land, dessen König ein Kind ist“ auf; sogar in der Wormser Residenz des Kaisers soll man eines dieser Blätter gefunden haben.⁴⁴¹ Wir können uns heute nur zu gut vorstellen, welche Motive und Vorstellungen den jungen Mann auf dem Thron gelenkt haben, der streng katholisch und im Wissen um seine Rolle als höchster Repräsentant der Macht erzogen wurde. Noch sind ihm die durch Föderalismus und Ständewesen bedingten Mechanismen auf deutschen Reichstagen fremd. Er weiß nur, dass der Reichstag ihm überall politische Schwierigkeiten macht, er aber gezwungen ist, in diesem deutschen Kompromisslersystem mitzuspielen. Heute freilich soll es einmal anders sein. Er wird sich als wahrer Kaiser und Schutzherr der Kirche zeigen. Von seinem ganzen Denken her kann Karl nicht im Geringsten verstehen,warum man einem verurteilten Ketzer nachgeben sollte. Auch als er ihn selbst am Vortag mit kaiserlicher Autorität noch einmal nach dem Kernpunkt, dem Konzil als kollektiver Wahrheits- und Entscheidungsagentur in Religionssachen befragte – vom Papst hatte er ja bewusst gar nicht gesprochen –, selbst da wollte Luther nicht vernünftig werden. Dieser Mann akzeptiert keine Autorität über sich. Teuflisch oder wahnsinnig? Karls Erklärungsmöglichkeiten sind erschöpft. Luther ist ein Ketzer wie Hus. Der Beweis ist erbracht.
WA Werke 30 III, S. 196 f. RA 2, S. 873.
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Abb. 23: Der 20jährige Kaiser Karl V. Eisenradierung von Hieronymus Hopfer aus dem Jahr 1520.
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4 Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V.
Als Inkarnation der Macht ist Karl in einem festgefügten Weltbild verwurzelt. Warum sollte er davon abrücken, sich dem Protest à la Luther öffnen, sich ihm gar unterwerfen und damit einem einzelnen Abweichler folgen? Im Lauf der Zeit wird Karl lernen, dass längst ein Punkt der im Dreischritt erfolgenden sozialen Religionsbildung erreicht ist, bei dem es gar nicht mehr nur um einen einzelnen Abweichler geht. In der Tat, am Anfang trat Luther als einzelner Theologe mit seiner Ansicht hervor, dann schlossen sich andere Theologen an. Der zweite und wichtigste Schritt war die Gruppenbildung, bei der sich nun auch viele Gläubige fanden, die Luther zustimmten. Am Ende, auf der dritten Stufe, traten auch Teile des über die Herrschaftsmittel verfügenden Machtsystems in die Reihen der abweichenden Gläubigen ein, vor allem Friedrich der Weise, aber auch andere Vertreter der Macht. Diese zunehmende Spaltung des Machtsystems als Ergebnis des Protests wurde schließlich ausschlaggebend. In den nächsten Jahrzehnten seiner Herrschaft sollte Karl V. das noch zu spüren bekommen. Hier in Worms zeigten sich schon erste Anzeichen der irreversiblen Teilung. Aber Karl schrieb im Moment noch alles Luther zu und glaubte, mit einem Schwenk Luthers ließe sich alles bereinigen. Sein Weltbild war so dimensioniert, dass die Meinung eines Mönchs in ihm keine Rolle spielte. Er ist König von Spanien mit seinen Kolonien in Übersee, Herrscher der spanischen Niederlande und nun auch noch deutscher König und Römischer Kaiser. Er hat ein für Europäer so noch nie dagewesenes Reich, in dem die Sonne, wie es später sprichwörtlich heißt, nicht untergeht. Karl ist allein deshalb schon der geborene Kosmopolit. Woher soll er irgendein Verständnis für den deutschen Provinzketzer und sächsischen Partikularisten Luther nehmen? Die Idee des Universalismus liegt für Karl näher denn je. Und das universale Kaiserkonzept hat in Europa immer mit der universalen Papstidee zusammengespielt. Soll ausgerechnet jetzt die Einheit des Reiches an einer empfindlichen Stelle geschwächt, soll ab jetzt die Idee des religiösen Universalismus in Frage gestellt werden, nur weil ein deutscher Mönch, nun gut, ein Theologieprofessor, gegen Rom rebelliert? Solche Leute sind weder ein neues Phänomen noch sind sie je geduldet worden. Hieronymus von Prag war auch ein hochgelehrter theologischer Experte. Hat man ihn etwa zusammen mit Hus schalten und walten lassen? Karl hat auch noch andere herrschafts- und ordnungspolitische Gründe für seine ablehnende Haltung gegenüber der Lutherpartei. Er muss in diesem Fall versuchen, im Reichstag die für ihn naheliegende Rangordnung von Kaiserregiment auf der einen und Fürsten- und Ständeregiment auf der anderen Seite aufrecht zu halten, Mitspracherecht der Stände hin oder her. Er hat dafür zu sorgen, dass im gegebenen Fall der alte BannbullenReichsacht-Mechanismus wirksam werden kann, und er ist heute gewillt, ihn auch durchzusetzen. In diesem Moment sieht es politisch für Karls Regierung noch ganz danach aus, als ob bestimmte deutsche Fürsten und Aufwiegler wie Ulrich von
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Hutten oder Franz von Sickingen einen Ketzer als Hebel benutzen, um ihre partikularen Interessen durchzusetzen. Dem will Karl mit allen Mitteln entgegentreten. In Worms will Karl dem Protest keine Chance mehr einräumen. Unvorstellbar, dass alle Menschen im Reich Protestanten werden. Hatte Aleander nicht in seiner Aschermittwochsrede von einer Krankheit gesprochen, die man kurieren müsse und könne? Neben dem ganz persönlichen Antrieb als frommes Mitglied der römischen Kirche haben Karl zweifellos solche und ähnliche Motive veranlasst, etwas ganz Ungewöhnliches zu tun und seine Wormser Erklärung eigenhändig niederzuschreiben. Man streut die Nachricht über diesen Vorgang auch bewusst aus. Entsprechend kann Girolamo de‘ Medici an Federico Gonzaga, den Markgrafen von Mantua, aus der Fürstensitzung berichten: „Und so befahl er ein Schreiben vorzulesen, das von seiner eigenen Hand stammte; und mir hat einer seiner Sekretäre bestätigt, der beim Schreiben anwesend war, dass es von seiner Majestät ohne Hinzuziehung irgendeiner anderen Person abgefasst wurde“⁴⁴² (Abb. 24). Die Fürsten wussten, was dieses ganz persönliche Niederschreiben bedeutete. Nach der mittelalterlichen Fürstenlehre hat der Herrscher zwei Körper, den offiziellen und den privaten.⁴⁴³ Karl gibt durch diesen Akt subjektiver Involviertheit zu verstehen, dass ihn die Sache vor allem auch als Person ergriffen hat und nicht nur als Politiker und Repräsentanten der Macht im Reich. Er verbindet sein persönliches Heil mit der Ketzerfrage. Die im Raum versammelten Fürsten verstehen also durchaus, was mit Karls persönlichem Einsatz bis hin zum Ergreifen der Feder gemeint ist. Sie verstehen ebenfalls, dass er nun auch kommentarlos erst einmal in seiner Muttersprache spricht und nicht in der ihren. All das verweist auf Karl als Individuum. Doch sie verstehen nicht, was er da aufgeschrieben hat und vortragen lässt. Unvermeidlich muss nun also auch eine deutsche Übersetzung verlesen werden. Das geschieht. Doch als die Fürsten hören, was ihnen der Kaiser da aufgeschrieben hat, erbleichen viele von ihnen, wie Aleander triumphierend nach Rom berichtet. Mit dieser Wendung haben die Deutschen dann doch nicht gerechnet. Karl wird das Edikt durchsetzen. Der päpstliche Nuntius ist begeistert. Jetzt räumt Aleander sogar ein, dass die Zitation Luthers nach Worms der politisch richtige Schachzug gewesen sei, weil nun das Edikt gegen den Ketzer viel größere Autorität haben werde.⁴⁴⁴ Die auf die Zeiten Heinrich IV. und Gregor VII. zurückgehende Verfassungskonstruktion des Zusammenstehens der beiden Säulen der Macht, Imperium und Sacerdotium, im
RA 2, S. 855. Kantorowicz 1992. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 20, 19. April 1521), S. 178.
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4 Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V.
Abb. 24: Erklärung Kaiser Karls V. vom 19. April 1521. Kopie des kaiserlichen Manuskripts. Einziges erhaltenes Exemplar in der vom Kaiser benutzten französischen Sprache. Ex. London Public Record Office.
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Heiligen Römischen Reich deutscher Nation soll erhalten bleiben.⁴⁴⁵ Der Nuntius Aleander war bislang nicht müde geworden, auf die Rechtslage zu verweisen, die dem Kaiser eine zwingende Exekution päpstlicher Urteile vorschreibe. Er habe auch, berichtet er am 27. Februar 1521 nach Rom, den Reichstag „auf die Pflicht des Kaisers“ hingewiesen, dass der Herrscher als oberster weltlicher Herr, „sobald er die nach dem allgemeinen Urteil wirklich abscheulichen Schriften Luthers vom Papste, dem einzigen und rechten Richter in dieser Frage, verdammt sähe, sie als öffentlich zu kennzeichnen, sie zu verbieten und zu vertilgen und mit dem Martin nach Recht und Gesetz zu verfahren“ habe.⁴⁴⁶ Karl will dem Folge leisten und verfassungskonform handeln. Er unterstreicht diese Absicht mit einer starken affirmativen Geste dadurch, dass er seine Wormser Erklärung selbst an den Papst schickt, der sie dann am 11. Mai feierlich im Konsistorium verlesen lässt.⁴⁴⁷ Damit löst Karl ein Problem, das sich aus der Widerrufsverweigerung eines festgestellten Ketzers ergibt. Nach kanonischem Recht muss der Kaiser nach Luthers Weigerung handeln, so wie es einst Kaiser Sigismund in Konstanz tat. Doch der Reichstag hat inzwischen ein Mitspracherecht und schweigt. Karl wählt daher den Weg der persönlichen Erklärung, um sich wenigstens persönlich aus der rechtlichen Zwickmühle zu befreien. Gegenüber dem Papst nimmt Karl eigentlich eine zwiespältige Position hinsichtlich der wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Säulen der Macht ein. Daher kommt es auch immer wieder zu Konflikten mit Rom. In solch einem Streit war ihm jüngst erst der Papst diplomatisch entgegengekommen mit dem Ziel, die religiöse Einheit in Deutschland zu retten. Dieser Streit in Karls anderem Herrschaftsgebiet Spanien ging um die Autonomie der spanischen Inquisition. Papst Leo X. gab hier schließlich angesichts der für ihn gefährlichen Entwicklung in Deutschland nach, indem er seine zunächst ablehnenden Breven, die ja doch nur die Macht des spanischen Episkopats, nicht die der Kurie verstärkt hätten, zurücknahm. Die Inquisition sollte eine Einrichtung der spanischen Krone bleiben. Zwei Tage nach diesem Breve vom 16. Januar 1521 aber erließ Leo ein zweites Schreiben an Karl, in dem er nun sehr deutlich und gewissermaßen als Gegenleistung den Vollzug des Strafurteils gegen Luther forderte. Da beide erlassenen Breven Karl in Worms gleichzeitig zugestellt wurden, kann man ihren inneren Zusammenhang und ihren Einfluss auf Karls Haltung zur Luther-Sache kaum bestreiten. Der Papst lässt dem König von Spanien seine Privilegien in Sachen der dortigen Inquisition, verlangt aber dafür vom Kaiser, dass er nun auch in
Ebersbach 1994, S. 8 u. 135 – 137. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 10, 27. Februar 1521), S. 99. Balan 1884, S. 214; Hausrath 1897, S. 276.
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4 Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V.
Deutschland die Ketzerei ausrotte.⁴⁴⁸ Die von Rom in diesem Zusammenhang genannten Argumente werden sich teilweise in Karls Wormser Erklärung wiederfinden. Der junge Kaiser war bestimmten Kirchenreformen gegenüber, die man seit hundert Jahren anstrebte, nicht prinzipiell abgeneigt.⁴⁴⁹ Insofern waren die Hoffnungen im Reich, die bei seinem Amtsantritt bestanden und auf die jemand wie Ulrich von Hutten setzte, nicht ganz aus der Luft gegriffen. Dass Karl dem Papsttum als politischer Größe keineswegs alles durchgehen zu lassen gewillt war, zeigte sich dann auch spätestens 1527 beim Sacco di Roma, jener berüchtigten, zwar von Karl nicht genehmigten, jedoch auch nicht verhinderten totalen Verwüstung Roms durch sein Heer. Hier in Worms allerdings ging es um ideologische Grundsatzfragen.Wenn man Luther freie Hand gäbe, würden heiligste Traditionen angegriffen, dann wären Einheit und Universalität der Religion im Reich gefährdet und dem Protest als Prinzip Tür und Tor geöffnet. So etwas überstieg Karls Vorstellungsvermögen, und er persönlich fand Luthers Argumentation ja auch nicht tragfähig. Mit Max Weber, dem Begründer der deutschen Soziologie, erkennen wir in Karl in dieser Lage einen typischen Vertreter traditionaler Herrschaft, dessen Aufgabe darin besteht, überlieferte Normen und Traditionen einzuhalten. Als Herrscher ist er gehalten, sich nach diesen Normen zu richten und gütig, das heißt, in seinem Reich auf Versöhnung hin orientiert zu regieren, um so die Dienstwilligkeit der Untertanen zu erhalten. Ihm tritt in der historischen Situation des Wormser Reichstags mit Luther eine Akteursfigur des Protests entgegen, der wir ebenfalls mit Max Weber einen charismatischen Habitus zuschreiben können. In Abgrenzung zum rational-legalen und traditionalen Herrscher setzt Luther auf die affektive, außeralltägliche Hingabe an die Herausgehobenheit, Heldenkraft und Vorbildlichkeit, ja, Heiligkeit seiner Person und der durch sie offenbarten und angestrebten Ordnung.
Fünf Argumente Des Kaisers Text ist nach Duktus und Inhalt eine absolut klare und harte Ansage. Sie besteht, rhetorisch gesehen, aus einer Untergliederung (Divisio oder Partitio) in fünf Feststellungen und einer abschließenden Conclusio mit Aufforderung zur Tat. Der Text verzichtet auf jeden Schmuck, verweigert den deutschen Fürsten
RA 2, S. 495 f., Hausrath 1897, S. 124. Walser 1928, S. 76.
Fünf Argumente
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irgendein einleitendes freundliches Wohlwollensangebot (Captatio benevolentiae) und tritt ohne die übliche Anrede in die befehlsmäßig gehaltene Äußerung zur Sache ein (in medias res). Wir können nachvollziehen, warum die an den Kanzleistil mit seinen umständlichen und auf diese Weise aggressions-abbauenden Eingangsformulierungen gewöhnten Fürsten bleich wurden. Nicht zufällig gingen ja die mit Macht und Krieg befassten deutschen Herren jeglicher Couleur auf den Reichstagen stets harmoniesüchtig miteinander um. Macht und Aggression liegen in einer Zeit des alltäglichen Fehdewesens eben doch zu nah beieinander. Ritualisierte Höflichkeit trägt da zu Entspannung bei.⁴⁵⁰ Und nun dieser Text. Der junge Herrscher des Reichs zeigt Zähne. Sein Text enthält keines der auf Reichstagen gewohnten Freundschafts- oder Kompromisssignale. Die Kurfürsten haben ihn zum Herrscher gewählt, nun müssen sie ihn auch respektieren. Sie hoffen, ihn nicht auch noch fürchten zu müssen. Mit seinen diversen Kronen ist Karl V. der reichste und mächtigste Herrscher Europas, und als solcher hat er begriffen, dass die Neigung vieler seiner deutschen Fürsten zur lutherischen Protestbewegung auch politisch als Formierung eines Gegengewichts gegen ihn verstanden werden kann. Er muss daher jetzt und in dieser fundamentalen Frage die kaiserliche Flagge zeigen. 1. Das Traditionsargument:⁴⁵¹ Karls am Anfang stehende längste Feststellung bezieht sich auf seine dynastischen Verpflichtungen. Hier wird das den ganzen Text als Kernelement durchziehende Traditionsargument aufgebaut. Die Macht folgt aus der Tradition und aus ihr entsteht Verpflichtung. Für den Herrscher des Reiches ist damit seine Rolle als „Vogt der Kirche“, als ihr Schützer und Helfer verbunden. Karl hat sich an dieser Stelle ohne Wenn und Aber für die Aufrechterhaltung der traditionellen Verflechtung von Imperium und Sacerdotium entschieden. Das heißt, die traditionellen Verfassungsgrundsätze des alten Reichs sollen nicht angetastet werden. Dafür tritt er persönlich als Garant ein. Alle Fürsten im Saal haben das dynastisch konkretisierte Traditionsargument sofort verstanden, denn es ist das Kernargument der Legitimierung jeglichen Adels. Auch das Prinzip des Gottesgnadentums ergibt sich letztlich nur aus der traditionellen Akzeptanz dieses Prinzips. Zunächst äußert sich Karl zu seinem im Reich einmalig edlen Herkommen: „Ihr wisst, dass ich von den allerchristlichen Kaisern der edlen deutschen Nation abstamme, von den katholischen Königen Spaniens, von den Erzherzögen Österreichs, von den Herzögen Burgunds“. Nun zur Schutzverpflichtung der habsburgischen Dynastie: Sie waren „alle bis zum
Knape 2012c, S. 1– 10. Übersetzung im Folgenden mit leichten Varianten nach Rogge 1971, S. 104– 107.
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4 Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V.
Tode treue Söhne der römischen Kirche“ und „sie waren immer Verteidiger des katholischen Glaubens, der heiligen Zeremonien, des Kirchenrechts, der Weisungen und heiligen Gebräuche zu Gottes Ehre, zur Mehrung des Glaubens und zum Heil der Seelen.“ Karl geht ab jetzt in seinem Text zu einem besonderen rhetorischen Verfahren über. Dem besonderen Charakter seiner Wormser Erklärung gemäß, die in diesem Fall nach der Zwei-Körper-Theorie ausdrücklich als Äußerung eines Herrschers und zugleich eines gläubigen Individuums zu verstehen sein soll, wechselt Karl V. nun betont vom Pluralis maiestatis zum Ich-Pronomen und zurück. Für Karl ergibt sich aus seiner dynastischen Verkettung ein nicht wegzudiskutierendes Pflichtenerbe. Es wird realisiert durch Nachahmung des traditionellen Handlungsmodells seiner Vorfahren: „Nach ihrem Ableben sind uns durch natürliches Recht und Erbe die genannten heiligen katholischen Pflichten überkommen, um dafür nach ihrem Beispiel zu leben und zu sterben. Als wahre Nachahmer (inmitateurs) dieser unserer Vorfahren haben wir durch die Gnade Gottes bis jetzt gelebt.“ Nun wieder Wechsel in der Pronominaldeixis zum ‚ich‘: „Deshalb bin ich entschlossen, alles das zu erhalten, was meine Vorfahren und ich selbst bis in die Gegenwart hinein erhalten haben“. Deutlicher kann man als Kaiser eine ganz individuelle Betroffenheit gar nicht aussprechen. Die Tradition ist ohne Irrtum: Karl hebt das Traditionsargument nun auf eine andere Ebene und bringt dabei ein starkes Argument ins Spiel, das uns an Aleanders Aschermittwochsrede erinnert. Kann Gott gewollt haben, dass die Christenheit bis jetzt im Irrtum lebte, dass der Konsens aller Konzile in die Irre ging? Ist es plausibel, dass demgegenüber ein einzelner Mensch, Martin Luther, nicht irrt? Karl kennt die Antwort: Das ist nicht möglich. „Denn es ist sicher, dass ein einzelner Bruder in seiner Meinung irrt, die gegen die ganze Christenheit in ihren mehr als tausend Jahren bis hin zur Gegenwart steht, der zufolge die ganze Christenheit sich ständig im Irrtum befunden hätte“. Die Häresie muss ausgerottet werden: Karl V. leistet nun einen heiligen Schwur, wie ihn sonst nur Kriegshelden vor einer Schlacht leisten, und betont auf diese Weise den unvergleichlichen Wert der Sache, für die er kämpfen will, nämlich den traditionellen Glauben und damit die Universalität (Katholizität) der Kirche: „Deshalb bin ich fest entschlossen, dafür meine Reiche und Herrschaften, meine Freunde, meinen Leib, mein Blut, mein Leben und meine Seele einzusetzen.“ Das ist die Absichtserklärung eines universal denkenden Herrschers. Die Territorialherren des partikulären Deutschlands, die Fürsten („die ihr die edle und angesehene deutsche Nation verkörpert“) sollen dabei nicht abseits stehen. Er appelliert daher an das Kastenbewusstsein des Adels mit seinem wichtigsten Wert Ehre. Es wäre für sie und ihn eine „Schande“ und „zu unserer und unser Nachfolger immerwährenden Unehre (perpetuel des-
Fünf Argumente
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honneur)“, wenn man nicht gemeinsam jeden Anflug von „Häresie oder Minderung der christlichen Religion“ ausrotten würde. Kaiser und Fürsten sind nämlich „durch Vorrecht und Vorrangstellung als Verteidiger und Beschützer des katholischen Glaubens bestellt“. Luther hat die Berechtigung des Kirchenbanns bei seinem Auftritt bestätigt: „Und nachdem ich die halsstarrige Antwort, die Luther gestern in unser aller Beisein gegeben hat, vernommen habe, erkläre ich Euch, dass ich es bereue, so lange das Vorgehen gegen Luther und seine falsche Lehre aufgeschoben zu haben.“ Das Edikt wird erlassen: „Ich bin nicht gewillt, ihn noch weiter anzuhören,“ sagt Karl in aller Deutlichkeit. Er werde ihn zurückschicken „unter Einhaltung des Geleits“. Danach solle Luther wie ein Ketzer behandelt werden. Ab jetzt gilt für ihn ein Predigt- und Lehrverbot. Schließlich die Schlussforderung: Die Fürsten sollen sich hinter den Beschluss des Kaisers stellen. „Ich fordere Euch auf, Euch in dieser Sache als gute Christen zu erklären, wie Ihr es zu tun gehalten seid und mir zugesagt habt. Ausgefertigt von meiner Hand am 19. April. Gezeichnet: Carolus.“ In dieser Aufforderung bezieht sich Karl unter anderem auf eine Zusage, die ihm der Reichstag schon am 19. Februar gegeben hatte. Sie betraf den ersten Ediktsentwurf. Karl wird diese Zusage als juristisch weiterhin gültig ansehen und das Wormser Edikt am 8. Mai 1521 in Kraft setzen, ohne noch einmal eine förmliche Zustimmung der Stände einzuholen.⁴⁵² Für die Macht gilt dann die Devise: Den kriegen wir schon. Für Friedrich den Weisen und die Protestpartei hingegen lautet die Devise: Den schützen wir schon.
Am nächsten Tag, dem 20. April 1521, ging es in Worms hoch her. Unruhe war unter den Luther-Anhängern entstanden. Rasch hergestellte Fehdebriefe mit Aufrufen zur Rebellion wurden als Plakate angeschlagen und Protestflugblätter gegen den Nuntius Aleander kursierten, wie der Bericht des königlichen Kabinetts an den Staatsrat von Kastilien meldet.⁴⁵³ Nun intervenierten in Worms auch die Stände, und die harsche Ansage des Kaisers wurde zum Gegenstand weiterer Debatten auf dem Reichstag. Die Causa Lutheri war noch nicht abgeschlossen. Karl V. hat sich erst im Mai am Ende des Reichstags mit dem Wormser Vernichtungsedikt gegen Luther ein gutes Gewissen gegenüber Rom verschafft, auch wenn es praktisch nicht umgesetzt werden konnte. Er wird davon nie abrücken. Aber so wie Luther
Schmidt 1971, S. 292 f. Kalkoff 1898, S. 55.
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4 Die Macht schlägt zurück. Entgegnung Kaiser Karls V.
nach dem Wormser Reichstag in den Untergrund geht, so verlässt Karl V. Deutschland im selben Jahr 1521, um erst nach etwa einem Jahrzehnt auf dem Augsburger Reichstag 1530 wieder im Land aufzutauchen, und auch da wird Luther ihn erneut beschäftigen.
Schwierigkeiten beim Finden der Wahrheit
5 Fünf Wege zum Finden der Wahrheit Die Luther-Ereignisse des Wormser Reichstags von 1521 stellen das vorläufige Ende eines rund drei Jahre dauernden Ringens um dogmatische und kirchenpolitische Fragen dar, das Luther mit dem Öffentlichmachen seiner 95 Thesen im Jahr 1517 in Gang gesetzt hatte. Für die sozialoffen diskutierten Problemstellungen interessierte sich am Ende ganz Deutschland, und die Politik kam schließlich nicht umhin zu versuchen, einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen. Wir nennen jene Partei den Protest, die in dem genannten Ringen eine neue Sicht der religiösen Verhältnisse durchsetzen will, und die andere die Macht, weil ihre Repräsentanten zu dieser Zeit die institutionalisierten Herrschaftshebel in Kirche und Reich (zumindest der Idee nach) gemeinsam und aufeinander abgestimmt bedienten. Von den einzelnen Themen, um die es in dieser Auseinandersetzung ging, ist schon mehrfach die Rede gewesen. Alles drehte sich, allgemein gesagt, um abweichende Konzepte und Interpretationen bei zentralen religiösen Fragen. Alle Betroffenen und alle Beobachter fragten sich: Welche der auf beiden Seiten gefundenen Antworten sind richtig und welche wahr? Damit ist jene Frage aufgeworfen, die schon am Beginn der christlichen Kirche in den Raum gestellt wurde und ohne Antwort blieb: „Was ist Wahrheit?“ Der Römer Pontius Pilatus, Richter über den Religionsgründer Jesus von Nazareth, stellt diese Frage Quid sit veritas? in seiner Sprache im Jerusalemer Hochverratsprozess gegen eben jenen Jesus. Doch in diesem entscheidenden Moment bleibt die Frage offen.⁴⁵⁴ Für konfessionell nicht-involvierte, neutrale Beobachter bleibt sie es weiterhin. Der Versuch, die Wahrheitsfrage definitiv in eine bestimmte Richtung zu beantworten, misslang in Worms. Die Gläubigen beider Seiten nahmen vom Reichstag jeweils die eigene Wahrheit mit nach Hause. Doch weder damals noch heute wollen die meisten betroffenen Gläubigen, die involvierten Fachgelehrten und die institutionell etablierten religiösen Funktionsträger die Wahrheitsfrage offen lassen. Sie suchen, verlangen und geben dann auch möglichst klare Antworten. Allen geht es dabei um Zweifelsüberwindung, denn beim Glauben bleibt immer ein Rest Unsicherheit. Darum will man so viel wie möglich darüber wissen, was an Wahrheit erkennbar ist. Das scheint ein zutiefst menschliches Bedürfnis zu sein. Die Frage ist nur, wie man dieses Glaubenswissen oder eine entsprechende Glaubensgewissheit als Individuum gewinnt. Schon die Zeitgenossen haben im Jahr 1521 gesehen, dass ein Reichstag bei Religionssachen eigentlich nicht das richtige Entscheidungsforum ist. Darum sollte in Worms ja auf höchster Ebene den alten Spielregeln gemäß auch nur rein Knape 2012d, S. 25. DOI 10.1515/9783110546927-006
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5 Fünf Wege zum Finden der Wahrheit
formal geklärt werden, ob der inkriminierte Martin Luther den Spruch der zuständigen Urteilsinstanz, also des Papstes, akzeptiert oder nicht. In der Sache selbst sollte in Worms nicht entschieden werden, oder anders gesagt: Der Reichstag sollte nicht über religiöse Wahrheiten entscheiden. Aus Sicht der Macht war das schon entschieden, aus Sicht des Protests natürlich noch nicht. Aber wie kann man so etwas überhaupt entscheiden? Wie kann man klären, was in der Religion wahr oder richtig ist? Da die Wahrheitsfrage immer auf dünnes philosophisches Eis führt, kann man nur mit Vorsicht und mit den üblichen Einschränkungen von Wahrheit sprechen. Was soll in unserem Zusammenhang damit gemeint sein? Um ihr Denken und ihr Leben gottgefällig einzustellen,wollen die Religionsmitglieder in Europa auch im Jahr 1521 wissen: Was ist? und was gilt? Verbindet man in unserem Zusammenhang diese Erkenntnisanliegen mit dem Begriff Wahrheit, dann ist Wahrheit eine Chiffre für Glaubensaussagen, die die Existenz transzendenter Größen und ihren Einfluss auf die Welt betreffen. Dies nehmen Gläubige damals wie heute als Grundlage für jene Überzeugungen, die auch Ordnung in der Welt stiften. Gläubige halten Glaubens-Wahrheiten für relevant und gültig. Daher wollen sie wissen, ob sie mit gutem Grund davon ausgehen können, dass in Sprache gefasste Aussagen über transzendente Größen auf etwas außerhalb der Sprache Existierendes, Reales verweisen. Wir haben es mit zwei verschiedenen Fragen zu tun. Die eine Frage der Gläubigen lautet: Welche Aussagen können wir glauben? Die andere: Was müssen wir glauben? Letztere führt in den Bereich von Geltungsansprüchen, die regelmäßig zu Streit führen, weil sie institutionelle Folgen haben (zum Beispiel organisatorischer, rechtlicher und finanzieller Art). Damit jedoch bewegt man sich immer auch im Bereich von Macht und Herrschaft. Das hat in der Causa Lutheri sehr schnell zur Eskalation im Streit der Parteien geführt. Luther und seine Zeitgenossen haben geglaubt, dass die „Liebhaber der Wahrheit“, wie Luther in einem Brief vom 31. August 1518 schreibt,⁴⁵⁵ untereinander die Wahrheit in dem genannten Sinn als von Gott gegebene Seinswahrheit ermitteln können. Die alte skeptische Tradition Europas, die da schon immer anderer Ansicht war, wurde damals nur in kleinen Zirkeln unter den Renaissance-Humanisten und ohne Reichweite diskutiert. In den drei Jahren vor dem Wormser Reichstag wurde folglich ein unglaublicher Aufwand an Aktivitäten getrieben, um die Wahrheit im Streit um die gültigen Glaubensansichten zu klären. Und man hoffte dabei immer, zu einem Durchbruch in Richtung Konsens zu kommen. Die Versuche der Fest-Stellung von Wahrheit angesichts der Herausforderungen durch Luther waren zunächst auf vier kommunikativen Ebenen angesie-
WA Briefwechsel 1, Nr. 88, S. 192, Z. 7; Hausrath 1897, S. 37.
Fachwissenschaftliche Disputation
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delt: auf der internen fachwissenschaftlichen, auf der externen publizistischen, auf der diplomatischen und schließlich auf der rechtlich-politischen Ebene. Man bediente sich auf diesen Ebenen verschiedener kommunikativer Verfahren, um die hoffnungsvoll erwartete Klärung herbeizuführen. Für Luther aber sieht die Lösung des Problems der Überzeugung als innerer Gewissheit am Ende ganz anders aus. Er favorisiert – und das ist gewissermaßen die fünfte Ebene – den Ansatz, das Individuum durch Rückgriff auf eine objektive gegebene Quelle in den Stand zu versetzen, in diesen religiösen Fragen die alleinige Urteils-Instanz zu sein.
Fachwissenschaftliche Disputation Auch im Zusammenhang des alten Reichs lag es zunächst nahe, gesellschaftlich weitreichende Streitpunkte von Experten klären zu lassen. Zu diesen Kontroversthemen gehörten die spätestens seit der Zeit um 1400 unverkennbar aufgebrochenen Streifragen im religiösen System. Das Schisma und der Fall Jan Hus hatten längst gezeigt, dass sie kaum noch systemimmanent zu lösen waren. Trotzdem versuchte man es immer wieder. Für den Austrag fachlicher Konflikte unter den Gelehrten der Hohen Schulen des alten Reichs gab es die Einrichtung der mündlichen Disputation.⁴⁵⁶ In mündlicher lateinischer Rede und Gegenrede versuchte man mit Hilfe dieses Kommunikationsformats, der Wahrheit auf wissenschaftlich vertretbare Weise – wie wir heute sagen würden – näher zu kommen. Kommunikationshistorisch ist beim Setting dieses Verfahrens wichtig, dass es nicht den Bedingungen moderner Öffentlichkeit unterlag, sondern im geschützten Raum mit stark ritualisierten Interaktionsformen stattfand. Es ging also um inhaltlich gezähmte, kommunikativ genau kanalisierte und gesteuerte Konfliktbewältigung. So ließen sich im Normalfall die ganz großen Kontroversen unter Gelehrten vermeiden. Erst seit Luther werden solche Debatten auch auf den gesamtgesellschaftlichen Bühnen mit Hilfe der Druckerpresse ausagiert. Das aber hat dann eine andere Qualität. Als Hochschullehrer hielt sich Luther zunächst an den Usus. Er verteidigte seine Standpunkte immer wieder auf kleineren Diskussionsforen gegenüber Fachkollegen; so etwa im Juli 1518 gegenüber Emser in Dresden.⁴⁵⁷ Herausragend sind vor 1521 jedoch nur zwei große wissenschaftliche Disputationen. Die eine fand im April 1518 im Rahmen des Augustinerordens in Heidelberg statt, wo Luther seine neue theologische Sicht der Dinge im Kontrast zur alten scholastischen
Siehe zu diesem Phänomen den Überblick bei Traninger 2012. Berbig 1906, S. 54.
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5 Fünf Wege zum Finden der Wahrheit
Philosophie erfolgreich gegen eine Reihe kluger Respondenten verteidigte.⁴⁵⁸ Die zweite Disputation war in ihrem Rang noch bedeutender. Sie fand vom 4. bis 13. Juli 1519 im Rahmen einer akademischen Großveranstaltung – wir würden es heute einen Kongress nennen – an der Universität Leipzig statt. Luther fand hier mit Johann Eck einen erstklassigen Disputationsgegenredner, der nicht als Ankläger auftrat, sondern als ein nach den üblichen Regeln vorgehender, fachwissenschaftlich argumentierender Kontrahent. Das Besondere war dabei, dass Eck Luther zunächst überführte, alte Thesen der verurteilten Ketzer Wycliff und Hus zu vertreten, die vom Konzil von Konstanz schon verworfen worden waren. Das muss Luther selbst einiges über den Status seiner Protest-Position klar gemacht haben, wenn es ihm vorher nicht schon klar gewesen sein sollte. Sodann trieb Johann Eck Luther soweit in der Autoritätenfrage (Primat von Papst und Konzil) in die Enge, dass diesem nun endgültig der qualitative Sprung klar wurde, den seine neue und andere Theologie darstellte. „Luther hatte begonnen, die Kirche von Rom zu verlassen, ob er wollte oder nicht“, wie Volker Leppin es auf den Punkt gebracht hat.⁴⁵⁹ Der Schweizer Reformator Zwingli pries Luther vor diesem Hintergrund später als den wiederkehrenden Elia und nahm damit eine Rollenzuschreibung an Luther als Propheten vor, von der schon die Rede war.⁴⁶⁰ Maßgeblich war bei den Disputationen, dass Luther sich von der herrschenden Axiomatik insbesondere in Methodenfragen entfernte. Die Autoritäten der Institution Kirche, der Konsens der Autoritäten und die von ihnen begründete theologische Tradition interessierten ihn zunehmend weniger. Das Sola scripturaPrinzip trat immer deutlicher hervor, zugleich aber auch das nicht wegzudiskutierende Problem, dass man sich nun als Theologe neuer Art auch zum Geltungsanspruch seiner individuellen Schriftinterpretation bekennen musste.Weder der Mainstream, noch der Consensus omnium, geschweige denn ein erleuchteter Papst waren ab jetzt das Deutungsgesetz der Schrift, der einzigen verbindlichen Quelle religiösen Wissens. All das bedeutet aber auch: Diese Art von Wahrheit kann nicht mehr im Disput abschließend ermittelt werden. Der einzelne Gläubige findet sie und steht für sie ein. Die intellektualgeschichtlichen Folgen sind bekannt. Diese Denkfigur wird sich vom religiösen Rahmen lösen und weitreichende epistemische Auswirkungen auf die Entwicklung des westlichen Denkens, insbesondere auch auf den Freiheitsbegriff haben.
Dieter 2001, S. 431– 631; Leppin 2010, S. 126 – 135. Leppin 2010, S. 144– 151, hier S. 146. Leppin 2010, S. 147.
Autoritative Fest-Stellung
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Autoritative Fest-Stellung Das Besondere bei religiösen und insgesamt bei ideologischen Fragen ist, dass sie sich dem rein fachwissenschaftlichen Diskurs regelmäßig entziehen und dass hier meistens institutionelle Funktionsträger im Wahrheits-Wächteramt (Päpste, Bischöfe, Muftis, Imame, Kommissionen, Komitees, Chefideologen etc.) mitreden und mitbestimmen. Wen wundert es, dass sich damit immer wieder auch die Machtfrage stellt? So auch im Fall Luthers. Das von Rom normalerweise vorgesehene Verfahren war ein zweischrittiges: 1. Interne Diskussion unter Theologen und 2. Entscheidung an höchster Stelle (Papst oder Konzil). Luther hat sich, wie schon gesagt, den theologischen Fachkollegen in Disputationen auf Konferenzen gestellt. Auf einer nächsten Stufe wurden dann Gutachten der theologischen Fakultäten von Köln und Löwen eingeholt.⁴⁶¹ Sie hatten durchaus autoritativen Charakter. In gewissem Sinne kann man nämlich schon die damalige Universitätswissenschaft mit dem soziologischen Systemtheoretiker Niklas Luhmann auch als gesellschaftliches Teilsystem verstehen, das sich eines symbolisch generalisierten Hilfsmittels bei der Kommunikation bedient, das Luhmann im binären Wahrheitscode wahr/unwahr kondensiert sieht. Mit anderen Worten: Wissenschaft ist als soziale Einrichtung damit beschäftigt, fachlich als wahr geltende Aussagen zu gewinnen und demgegenüber falsche, irrtümliche oder nicht (mehr) geltende Sätze mit den Methoden der jeweiligen Disziplin auszusortieren. Das taten auch die mit Luthers Schriften befassten Theologen im Jahr 1520. Nach dem internen Regelwerk der Zeit prüfte man die fachlichen Aussagen Luthers und fand dabei 41 dogmatisch nicht korrekte Thesen.⁴⁶² In Rom stellte man sie dann mit Hilfe des uns schon bekannten Leipziger Theologen-Kollegen Luthers, Johann Eck, für den Kirchenbann zusammen. Für Rom waren die festgestellten Abweichungen nicht erlaubt. Luther hielt dagegen und war davon überzeugt, dass er sie vor seiner Vernunft und vor seinem Gewissen vertreten könne. In letzter Konsequenz hieß das: Luther bestand darauf, dass Abweichung möglich sein muss. Auch heute haben solche gutachterlichen Feststellungen, egal in welchem Fach, gewisse Folgen für die betroffenen Wissenschaftler im Universitätssystem. Aber es geht dabei nicht mehr um Leib und Leben. Im Fall der Theologie mischt sich aber auch heute noch die institutionelle Macht des Wahrheits-Wächteramts ein. Man kann heutzutage im katholischen System immerhin auch noch die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen oder eingeschränkt bekommen; hier ist etwa an
Grundmann 2012, S. 30 – 37. Grundmann 2012, S. 64– 70; vgl. Kalkoff 1917, S. 141.
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5 Fünf Wege zum Finden der Wahrheit
den Fall Hans Küng zu denken. Im evangelischen System gibt es die Lehrzuchtverfahren. Damals sahen die Anhänger Luthers in den Kölner und Löwener Universitätsgutachten zu Recht eine große Gefahr für Luther. Denn das letzte Wort hatte in diesen ideologisch sensiblen Fragen nicht die Wissenschaft, sondern die Kirche als amtliche Wahrheitsagentur und Wahrheits-Wächterin mit Machtbefugnis. Diese hatte für Abweichler bekanntlich das Format ‚Ketzer‘ entwickelt und mit Todesstrafe belegt, sofern kein Widerruf der strittigen Sätze erfolgte, und selbst beim Widerruf konnte die Sache für den Abweichler schlecht ausgehen. Daher suchte man, die Universitätsgutachten in lutherfreundlichen Protestkreisen zunächst als erschlichen bzw. als Fälschungen hinzustellen. Davon war schon die Rede. Doch Rom ließ sich davon nicht beeindrucken. Gefährlich war es zuvor für Luther schon 1518 geworden, als Rom seinen versierten Kardinal Cajetan nach Augsburg geschickt hatte, um Luther zu disziplinieren. Ausgangspunkt war dabei der Standpunkt Roms, dass die Wahrheit bei den strittigen Punkten bereits festgestellt sei und es eigentlich nur darum gehe, sie im Verständnis zu vertiefen und in ihrer Geltung zu sichern. Die akademische Theologie wird von Rom bis heute als Verkünderin und Anpasserin oder anpassende Umformuliererin des längst Geklärten angesehen, nicht als Weiterentwicklerin von Glaubensinhalten. Luther nutzte die Gelegenheit am 12. Oktober 1518 geschickt, den auch als Theologen ausgewiesenen Cajetan wissenschaftlich herauszufordern und doch zu einer eigentlich nicht vorgesehenen Disputation zu bewegen. Dabei geriet Luther schließlich an einen Punkt, der wieder gefährlich wurde, weil die Einvernahme zu einem Grundsatzgespräch über die Autoritäten in der Kirche geriet, in dem Luther schon deutliches Abweichlertum zeigte. Er konnte sich nur dadurch retten, dass er erstmals das von seinen kursächsischen Rechtsberatern vor Ort empfohlene Mittel der „Bedenkzeit“ anwandte, die bereits erwähnte Protestatio als Rettungsanker auswarf, in der er sich noch als kirchentreu bekannte, und am Ende aus der Stadt floh.⁴⁶³ Schon in Augsburg zeigte sich, dass Luther gegen die herrschende Position der Fest-Stellung einer kontrollierten Wahrheit eine Position der Frei-Stellung von Wahrheit anstrebte. Das Wahre der Religion wäre demnach institutionell unverfügbar, läge im Erkennen jedes einzelnen Menschen. Gott hat seine Offenbarung entsprechend eingerichtet. Das ist ein Ansatzpunkt, der im Fortwirken der Reformation wichtig wurde. Er wurde im historischen Verlauf gesellschaftlich in Richtung Moderne weitergedacht.
Leppin 2010, S. 137– 141.
Publizistische Debatte
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Funktionierende Gesellschaften können in ihren Teilsystemen nicht auf Wahrheitsagenturen verzichten. Darum hat die Wissenschaft als solch eine Agentur in modernen Staaten eine derart wichtige Position als Objektivitätsgarant erreichen können. Im Sinne moderner westlicher Freiheitsvorstellungen müssen sich aber auch solche allgemein akzeptierten Wahrheitsagenturen der sozialen Kontrolle unterwerfen, und sie können auch nicht in allen Fragen ihren Machtanspruch bedingungslos einfordern, insbesondere wenn sie das freie Denken und das Gewissen betreffen. Im Rechtssystem etwa gibt es immer noch eine andere Instanz (die Richter), die über den Wert von Gutachten aus dem Wissenschaftssystem entscheidet. Es gibt demnach im Westen für uns Heutige viele Bereiche, in denen das Denken mit Folgen frei ist. Man kann nicht deutlich genug darauf hinweisen, dass dieses Abrücken von Prinzipien autoritärer Fest-Stellungen im Denken und der institutionellen Verwaltung von Glauben und Gewissen eine menschheitsgeschichtlich ganz junge Errungenschaft ist und wesentlich von Luther angestoßen wurde.
Publizistische Debatte Zu der Idee vom allgemeinen Priestertum gehört auch Luthers Anliegen, aus der Expertenkaste herauszutreten, an alle Gläubigen zu appellieren und damit ein anderes, weiteres Forum für die Suche nach der Wahrheit zu finden. Was Luther interessierte, sollte nicht mehr nur die Sache von einigen wenigen Schriftgelehrten mit Autoritäts- und Kontrollanspruch sein. Luther entdeckte daher die Druckerpresse. Die neuen Glaubensprinzipien finden zeitgleich ihre eigene, neue Medienstruktur. Das gedruckte Buch wird zum Signum des neuen Ansatzes, denn der Gebrauch gedruckter Bücher ist letztlich nicht mehr kontrollierbar. Die ab jetzt nicht mehr technisch behinderten Auflagenhöhen erlaubten es zumindest potenziell, dass sich Bücher und Flugschriften ungebremst in beliebige Benutzerhände verbreiten konnten. Man führte dann zwar bald – nicht zuletzt als Ergebnis der Reformation als Abweichungsbewegung – Zensur und Bücherbesitzkontrollen ein, doch deren Effektivität hielt sich damals in Grenzen. Anders als heute mussten die Gelehrten der Lutherzeit erst lernen, dass ihre fachliche Reputation wesentlich auch von ihren veröffentlichten Schriften abhing. Traditionell profilierte man sich als Fachgelehrter in der Situativik der Universität, also mündlich vor Ort mittels Disputation oder in Vorlesungen. So gab es etwa unter den Juristen der Universität Basel bis zum Jahr 1500 nur einen einzigen, der
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5 Fünf Wege zum Finden der Wahrheit
systematisch mit gedruckten Büchern hervortrat: Sebastian Brant.⁴⁶⁴ Luther stieg 1517 in eine damals absolut neue Entwicklung ein, die darin bestand, wissenschaftliche Positionen per Buchdruck zu verbreiten. Er begann sehr rasch, im modernen Sinn wissenschaftliche Schriften zu publizieren und sich damit auch in der Dimissivik, also in der Distanzkommunikation, die durch den neuen Buchdruck zur modernen Öffentlichkeit wurde, zu präsentieren.⁴⁶⁵ Das Besondere an dieser Entwicklung war, dass nun in breiter Öffentlichkeit unkontrollierte gesamtgesellschaftliche Debatten durch Schrift und Gegenschrift organisiert werden konnten. Luther sah sich in der Lage, die neuen Möglichkeiten publizistischer Offensiven für sich noch ungebremst zu nutzen. Das Zensursystem war noch in den Anfängen, denn zunächst begriff die Macht nicht wirklich, was die später als ‚Vierte Gewalt‘ bezeichnete Pressewelt bei der Durchsetzung von Protest bewirken kann. Die erste Phase von Luthers Gang an die neue Öffentlichkeit ist bis 1519 gekennzeichnet von einer zunehmend hektischer werdenden Publikationstätigkeit. Luther wird zum literarischen Großautor auf dem theologischen Sachbuchmarkt. Als Initialzündung gilt zu Recht die Veröffentlichung der berühmten 95 Thesen und entsprechender Folgepublikationen ab dem Herbst 1517. Unübertrefflich prägnant hat Luthers Zeitgenosse Myconius die Wirkung des Thesendruckes zusammengefasst: „Aber ehe 14 Tage vergingen, hatten diese Thesen das ganze Deutschland und in vier Wochen sogar die ganze Christenheit durchlaufen; als wären die Engel selbst Botenläufer, und sie trugen sie vor die Augen aller Menschen. Es glaubt kein Mensch, wie das zum allgemeinen Tagesgespräch (Gered) wurde; sie wurden umgehend ins Deutsche gebracht.“⁴⁶⁶ Luther selbst war zunächst von der ganz ungewöhnlichen öffentlichen Reaktion auf diesen in lateinischer Sprache formulierten Hieb gegen die Machenschaften kirchlicher Einrichtungen und ihre theologische Fehlleistung unangenehm überrascht. Der Gelehrte sah sich plötzlich genötigt, über die engen Mauern des Klosters und seiner Heimatuniversität Wittenberg hinauszudenken. In einem Brief vom März 1518 schreibt Luther: „Nicht dass mir nichts daran läge, dass die Wahrheit unters Volk kommt, ja dies allein hatte ich im Sinn. Aber jenes Verfahren ist nicht geeignet, das Volk zu unterrichten. Mir sind nämlich selbst einige der Thesen zweifelhaft, und wenn ich geahnt hätte, dass es so käme, hätte ich sie ganz anders formuliert, manche sicherer, manche hätte ich auch weggelassen.“⁴⁶⁷ Doch die Geschichte ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Luther lernte schnell, sich nicht
Knape 1992, S. 93 – 160. Zur Differenz von Situativik und Dimissivik siehe Knape 2005, S. 30 f. Myconius: Geschichte der Reformation, S. 22. WA Briefwechsel 1, Nr. 62, S. 152, Z. 10 – 15; Moeller 2001, S. 19.
Publizistische Debatte
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nur zu seinen Publikationen zu bekennen, sondern auch ihre Berechtigung immer aktiver zu verteidigen. Aus dem Stubengelehrten wurde ein Schriftsteller mit einem unglaublichen Output. Jede Anfeindung und negative Reaktion spornte ihn offenbar noch mehr an. Bis zum Jahresende 1519, also innerhalb von zwei Jahren, kamen 45 Einzelpublikationen in 263 Auflagen auf den Markt, davon 25 ursprünglich auf Latein, 20 gleich in deutscher Sprache. Hinzu kommen schon bis 1519 drei lateinische Gesamtausgaben seiner Schriften. Das ist für diese Zeit sensationell. Luthers zweigleisige Sprachenpolitik war Teil der nun gefundenen publizistischen Strategie. Luther wollte – wie gesagt – nicht mehr nur die diskutierenden Gelehrten erreichen, sondern auch die von den theologischen Klärungsprozessen betroffenen Gläubigen. Sie waren zunächst das,was wir heute vielleicht die Zielgruppe und die User der Diskussionsergebnisse nennen würden, doch bald waren sie das Hauptziel der Kommunikation: Die urteilende Gemeinde in Deutschland wurde zum Hauptadressaten, weil sie aus den betroffenen Gläubigen bestand, um die es ging, die aber zugleich zum Schutzschild für den Abweichler Luther und seine neuen Positionen werden konnten. Der Appell an die Öffentlichkeit, das erkannte Luther sehr schnell, schützte ihn. In diesem Sinn wird später in Worms ebenfalls auf das Volk und eventuell entstehende Unruhen Bezug genommen. „Das Reich des Antichrists neigt sich dem Ende zu!“ schreibt er im November 1520 an den Freund Spalatin.⁴⁶⁸ Dass sich der Dresdner Herzog Georg mit Bischöfen und Theologen gegen ihn verbünde, wolle er zum Anlass nehmen, an das Volk zu appellieren. Man werde dann sehen, dass es zu einem unversöhnlichen Aufstand kommen werde. Die breite Öffentlichkeit ist für Luther längst zum Ansprechpartner und Schutzschild geworden. Hier scheint ein neues politisches Prinzip auf. Das Gewissen eines jeden Einzelnen ist die entscheidende Urteilsinstanz in solchen Fragen von öffentlichem Interesse, damit also das individuelle Bewusstsein der Menschen im Land: „Ich werde nicht persönlich an die Fürsten schreiben. Aber ich werde meine Appellation [vom 28. Nov. 1518] erneuern, die Großen und die Kleinen im deutschen Volk anrufen und die Schmach darlegen. Dann werde ich mich an das Gewissen von jedermann wenden, auf dass niemand schuldig ist, jenen Ungeheuern zu gehorchen in der Stunde der Todesnot.“⁴⁶⁹ Luther formuliert damit zugleich eine Legitimation für den Protest. Auch hier erkennen wir eine Maxime von Jan Hus, der schon gesagt hatte, man dürfe Befehlen nur gehorchen, wenn man sie selbst geprüft habe.
WA Briefwechsel 2, Nr. 351, S. 211, Z. 35 f. WA Briefwechsel 2, Nr. 351, S. 211, Z. 41– 45; Berbig 1906, S. 129.
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5 Fünf Wege zum Finden der Wahrheit
Luther suchte und fand aber auch noch andere Foren, auf denen er seine Sache vertreten konnte: den ausgedehnten Briefwechsel mit allen wichtigen Intellektuellen seiner Zeit, sodann das Forum der öffentlichen Predigt und das der öffentlichen wissenschaftlichen Disputation mit all ihren Begleitpublikationen. All das führte für ihn persönlich zu einer rastlosen, heute in ihrem Ausmaß und in dem nötigen Zeitmanagement nur noch schwer nachvollziehbaren Aktivität. Luther wollte bis 1519 vor allem das christliche Leben auf eine neue theoretische Basis stellen und dabei die Frömmigkeitspraxis reformieren. Es ging um Themen, die die Gläubigen in ihrem religiösen Alltagsleben direkt betrafen: Fürbitte der Heiligen, Fegefeuer, Ablass, Kirchengebote, gute Werke. Das interessierte die Menschen, weil es dabei um ihr alltägliches Leben ging, und konnte auch die Theologen in Wallung versetzen. Mit Polemik und Kirchenkritik, insbesondere dem Rütteln am Primat Roms, hat sich Luther noch bis zum Frühjahr 1520 weitgehend zurückgehalten. Insgesamt ist die Resonanz auf seine Schriften überwältigend positiv, wie viele Briefe der Zeitgenossen, aber auch publizistische Reaktionen zeigen. Die harte und feindselige Ablehnung, die es auch gab, trug nur zur allgemeinen Popularität des Wittenberger Professors bei. Wahrscheinlich kommt Ulrich von Hutten selbst auf die Idee, Luthers Porträt als Werbemittel für die gemeinsame romkritische Sache einzusetzen (vgl. Abb 6a und Abb. 6b).⁴⁷⁰ Immer mehr Flugschriften verherrlichen den Reformator bald, und sein Konterfei wird systematisch verbreitet. Luther wird innerhalb weniger Jahre zu einer Ikone des intellektuellen Aufbruchs. Den ersten Höhepunkt der Entwicklung markiert die Tatsache, dass der Basler Buchdrucker Andreas Cratander im Mai 1520 eine Werkausgabe aller deutschen Schriften Luthers für „die ganze deutsche ungelehrte Gemeinde“ auf den Markt bringt, wie der Drucker im Vorwort schreibt. Cratander spricht hier ausdrücklich die lateinunkundigen und daher „einfältigen Menschen“ als Leser an. „Wer begehrt in vielen Dingen eine Erleuchtung zu haben“, schreibt er, und wer „in kurzer Zeit zu einer inneren Gewissensruhe kommen will, der möge dieses Buch mit Hingabe und Aufmerksamkeit lesen.“⁴⁷¹ Da tritt die Überlegenheit deutschsprachiger Schriftlichkeit im religiösen Diskurs des Glaubens hervor, die Luther schon zu dieser Zeit ebenfalls unterstützt. „Einen literarischen Erfolg, wie er sich in all diesen Zahlen, Entwicklungen und Maßnahmen spiegelt,“ schreibt Bernd Moeller, „hatte es seit der Erfindung der Buchdruckerkunst noch nie gegeben, das heißt es hatte ihn überhaupt noch nie gegeben. Noch niemals hatte ein Autor seine Sache derart rasch, derart umfassend und derart genau dem lesenden Publikum vermitteln
Van Gülpen 2002, S. 138. Luther: Mancherlei Büchlin, Bl. 3a–4a; Moeller 2001, S. 31.
Diplomatische Verhandlung
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können. Der Vorgang hatte auch für die Zeitgenossen etwas Überwältigendes, für manche rückte er in absolute Kategorien.“⁴⁷² Soweit die Entwicklung der zwei Jahre bis Ende 1519, Anfang 1520. Mit dem Jahr 1520 bekommt Luthers publizistische und intellektualpolitische Aktivität sowohl im Ausmaß als auch im Inhalt eine weitere, neue ungeahnte Dimension. Allein in diesem Jahr erscheinen 27 neue Buchtitel Luthers, bei denen sich Latein und Deutsch auf neue Weise durch Übersetzung und Parallelveröffentlichung ergänzen. Luthers Schriften finden nun Eingang in die fremdsprachliche Buchproduktion der Nachbarländer, doch mit einem wichtigen Vorbehalt. Wir befinden uns nun im Jahr der Bannandrohungsbulle Roms, die in den Nachbarländern zu neuen Haltungen führt. Luther wurde von der religiösen Seite der Macht zum Ketzer erklärt und trat nun auch von sich aus erklärtermaßen auf die Seite des abweichenden Protests. Er verbrannte 1520 die Rechtsbücher der religiösen Macht und die Bannbulle am Wittenberger Elstertor. Konnte man Luthers Aktivitäten bisher mit Etiketten wie Theologendebatte oder Mönchsgezänk (Papst Leo X.) marginalisieren, so war nun eine neue Qualität erreicht. Es hatte sich eine Teilung vollzogen, die die einsetzende Wahrnehmung Luthers im Ausland einfärbte. „Als es Übersetzungen in die Landessprachen gab und auch ursprünglich deutsche Schriften verbreitet wurden, war Luther ein Ketzer. Das beeinträchtigte deren Publizität – nur ein geringer Bruchteil von Luthers Werken wurde in nichtdeutsche Sprachen übersetzt“. Man kann sagen, „der Ketzer Luther wurde, ähnlich wie ein Jahrhundert zuvor der Ketzer Hus, national isoliert, zumindest als Person. Auch insofern erlangten die besonderen Umstände des Berühmtwerdens Luthers weltgeschichtliche Dimension.“⁴⁷³
Diplomatische Verhandlung Luther hätte sich bei all den Disputen seiner Zeit zweifellos jene Art des Findens der Wahrheit gewünscht, wie sie heute Jürgen Habermas in seinem kommunikativen Idealmodell des herrschaftsfreien Diskurses modelliert. Nach diesem Modell würden die an der Klärung einer Frage, die wir mit dem nötigen Vorbehalt Wahrheitsfrage genannt haben, beteiligten Partner sich in freier Assoziation nur dem „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments beugen. Unter solchen Bedingungen entstehen nach Habermas „Akte des Wissens und der Überzeugung“,
Moeller 2001, S. 34 f. Moeller 2001, S. 38 f.
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die „von einem Typus von ‚Gewissheitserlebnis‘ begleitet“ sind, der „sich allein der Erfahrung des eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments verdankt“.⁴⁷⁴ Am Anfang des 16. Jahrhunderts ist solch ein interesselos ausgeführter Diskurs bei ideologischen Themen offenkundig nur für Luther selbst denkbar. Er muss mit der Tatsache leben, dass jedes mit sozialem Anspruch auftretende Aufwerfen der Wahrheitsfrage immer auch mit der Geltungsfrage im Sinne der Machtfrage verbunden ist und seine Umwelt daher immer fragt: Wem nutzt es (cui bono)? Herrschaftsfreie Diskurse sind damals nicht vorgesehen. Sind sie je wirklich möglich? Und deshalb müssen wir uns fragen, wie es mit Luther selbst steht: Will er selbst am Ende wirklich ohne soziale Geltungsansprüche auftreten? Auch heute müsste man für herrschaftsfreie Diskurse – bei denen man im Sinne einer Idealkonstruktion von psychologisch bereinigten Situationen ausgehen müsste – extra geschützte Kommunikationsräume schaffen; was man inzwischen in der Wissenschaft ansatzweise versucht. Luther jedenfalls war seit dem Thesendisput von 1517 in Aktivitäten verwoben, in denen man bemüht war, die Wahrheitsfrage auch auf dem pragmatischen Verhandlungsweg zu klären oder genauer gesagt: fest-zustellen. Von den fachlichen Disputationen und disziplinarischen Verhören bis 1521 war schon die Rede. Die hier gemeinten Verhandlungen hatten einen ganz anderen Charakter. Sie waren mit Ideen des Ausgleichs, des Kompromisses, des Aufeinanderzugehens und Aushandelns, mit Nachgeben und Vorteilsuchen verbunden, wie sie im Geschäft von Diplomaten üblich sind. Symptomatisch ist hier die sogenannte Miltitziade. ⁴⁷⁵ In der Forschung wird damit eine merkwürdige Initiative des sächsischen Adeligen Karl von Miltitz bezeichnet, der über zwei Jahre als Geheimkämmerer des Papstes und Spezialkommissar in Sachen Luther in Deutschland unterwegs war. Man kann seine Unternehmungen, deren Auftragslage bis heute unklar ist, vielleicht am besten als eine Mischung aus Abenteurerei, Diplomatie und Geheimdiensttätigkeit beschreiben. Dass er vergeblich versuchte, den Kurfürsten Friedrich den Weisen mit der Goldenen Rose des Papstes (einer römischen Treueauszeichnung) zu bestechen und auf die Seite des Papstes zu ziehen, ist berühmt geworden und durchaus bezeichnend für den Charakter der Miltitziade. Auch Luther war zunächst nicht ganz klar, was Miltitz vorhatte. Er ließ sich Anfang Januar 1519 auf Verhandlungen mit ihm ein.⁴⁷⁶ Man traf sich in der zeitweiligen kurfürstlichen Residenzstadt
Habermas 1972, S. 144 und 161; vgl. Knape 1998, S. 54 f. Kohnle 2001, S. 31– 41. Berbig 1906, S. 52– 60.
Diplomatische Verhandlung
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Altenburg in der Domherren-Wohnung Georg Spalatins, die unterhalb des Schlosses lag. Von Seiten der kursächsischen Politik war neben Spalatin auch noch der rechtskundige Fabian von Feilitzsch dabei. Feilitzsch hatte Luther schon bei den Augsburger Verhandlungen mit Kardinal Cajetan zur Seite gestanden und wird später auch in Worms behilflich sein. Was sich 1519 in den zwei Tagen in Altenburg abgespielt hat, ist nicht ganz klar. Luther spricht von einem „Disputatiönchen“.⁴⁷⁷ Man legte Artikel fest, über die sich ein Vergleich finden lassen könnte. Die Verhandlungen führten am Ende dazu, den kurfürstlichen Plan umsetzen zu wollen, drei deutsche Bischöfe als Schiedsrichter über Luther einzusetzen, keinesfalls aber einen Römer. Luther reagierte wie in Augsburg mit Gehorsamserklärungen gegenüber Rom in disziplinarischer Hinsicht. Miltitzens diplomatische Bemühungen und Verhandlungen in dieser Sache und seine zugehörigen Reisen durch ganz Deutschland zogen sich bis zum Herbst 1519 hin. Für Luther wandte sich dann aber alles durch das Eingreifen des Leipziger Professors Johannes Eck in eine andere Richtung. Damit war die Miltitziade gescheitert. Am 9. Oktober 1519 kam es noch einmal in Liebenwerda zu einem Gespräch zwischen Luther und Miltitz, doch ohne Erfolg, denn Luther wollte sich dem geplanten Schiedsspruch jetzt nicht mehr beugen.⁴⁷⁸ Miltitz beschönigte das für ihn am Ende wenig gelungene Ergebnis nach außen, um nicht als erfolglos dazustehen, indem er in Briefen weiterhin behauptete, Luther wolle sich einer deutschen Kommission beugen. Als Luther davon hörte, konnte er das nur noch als Possenspiel eines Fabulierers bezeichnen, der nach seiner Kenntnis auch in Rom für einen Taugenichts und Angeber gehalten werde. Selbst in Rom habe man unter Kardinälen den Kopf über das Ansinnen geschüttelt, so Luther in einem Brief vom 13. Oktober 1519, mit der Goldenen Rose, die Miltitz im Gepäck führte, „vom Kurfürsten einen Mönch zu kaufen“.⁴⁷⁹ Später sagte Luther über Miltitz, dieser sei wenig zuverlässig und „ein rechter Windhund“.⁴⁸⁰ Die letzte Begegnung zwischen beiden Männern fand im Oktober 1520 in Lichtenberg (nahe Prettin an der Elbe) statt. Noch einmal wurde Miltitzens Strategie der Beschwichtigung deutlich. Er wollte nach dem Aussenden der Bannandrohungsbulle Luther dazu bewegen, disziplinarisch-institutionell die Treue zu wahren, nicht auszubrechen und Rom gegenüber Ruhe, ja, Stillschweigen zu wahren. Luther versprach, mit allen Mitteln den Frieden zu erhalten.⁴⁸¹ Doch es war zu spät. Die Bannandrohungsbulle tat ihre Wirkung in Deutschland; die Parteien formierten sich im Lande schon aggressiv
WA Briefwechsel 1, Nr. 139, S. 311, Z. 6; Berbig 1906, S. 57. Berbig 1906, S. 72 f. WA Briefwechsel 1, Nr. 205, S. 529, Z. 33 f.; Berbig 1906, S. 74. Berbig 1906, S. 88. Berbig 1906, S. 127.
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und auch Luther konnte sich dem nicht entziehen. Mit Verhandlungen solcher Art ließ sich die Wahrheit nicht einfangen. Es musste zum Showdown in Worms kommen.
Das Satyrspiel Wenden wir uns also noch einmal den Wormser Ereignissen und hier dem Satyrspiel nach dem dramatischen Hauptereignis zu. Wie bei den alten Griechen auf das Hauptdrama noch ein Satyrspiel folgte, so schloss sich in Worms dem Drama des Luther-Tribunals ein eigenartiger Verhandlungsparcours an. Es war ein letzter merkwürdiger Versuch, im Nachgang doch noch alles zu ändern. In einem gewissen Sinn sollten jetzt die von der kursächsischen Seite schon zu Beginn der Kontroverse erhobenen Forderungen nach einer innerdeutschen Schlichtung ohne Rom und diese auf der Basis von so etwas wie Fachgesprächen eingelöst werden. Hatte sich nicht auch Luther immer solche theologischen Gespräche und nicht einfach nur Machtsprüche gewünscht?⁴⁸² Was man sich nach dem Showdown vom 18. April freilich hätte klarmachen können, ist die Tatsache, dass der Zeitpunkt für solch eine Lösung längst verstrichen und dieser Ansatz von den Ereignissen überholt worden war. Luther wirkte zwar nochmal bei den Verhandlungen mit, doch für ihn konnten sie letztlich nur den Status der kuriosen Miltitziade haben. Es gab kein Zurück mehr. Vorsichtshalber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Vergleich mit dem klassischen Dramenablauf des griechischen Theaters hier natürlich nicht so zu verstehen ist, dass Luthers Rede am 18. April einem Drama oder gar einer ‚Tragödie‘ im umgangssprachlichen Sinn gleichkam.Vielmehr geht es darum, dass man in Worms einem sehr ernsten Ereignis mit spektakulärem dramatischen Umschlag des Geschehens noch ein von Illusionen genährtes und auf diversen Missverständnissen beruhendes Nachspiel zugesellte, das nicht ohne Ironie war. Für die beiden Hauptrepräsentanten der Säulen der Macht, Sacerdotium und Imperium, den Papst und den Kaiser, war die Sache eigentlich erledigt. Beide hatten sich schriftlich per Bulle und Wormser Erklärung festgelegt. Jetzt also wollten mit den Ständen die anderen weltlichen Machtinstanzen des Reichs, die ja ebenfalls herausgefordert waren, auch noch aktiv werden.⁴⁸³ Da der Kaiser den aus seiner Sicht überführten Ketzer am 19. April, also sofort nach dem Tribunal, abschieben wollte, intervenierten die Stände mit dem Argument, man könne dem
Boehmer 1951, S. 342. Walser 1928, S. 97.
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Volk nicht plausibel machen, dass man die Vorwürfe nicht doch noch genauer und im Einzelnen geprüft habe. Die Mehrheit der Ständevertreter war davon überzeugt, dass sich weiterer Verhandlungsaufwand lohnen könnte, und sei es auch nur, um dem Volk zu zeigen, dass man alles Erdenkliche im Sinne einer Konsenssuche unternommen hatte. Wenn sich nach weiteren Verhandlungen immer noch kein Widerruf einstelle, werde man der Reichsacht nicht im Wege stehen. Dem Kaiser war es nach einigem Zögern recht, auch wenn er damit etwas von seiner Macht aus der Hand gab; aber das war in Worms ja sowieso der Fall. Also stimmte er zu, dass die Deutschen die Sache unter sich aushandelten, vorläufig noch mit der trügerischen Hoffnung auf Erfolg. Die weiteren Einvernahmen Luthers wurden vom Trierer Erzbischof und Kurfürsten Richard von Greiffenklau gut vorbereitet (Abb. 25). Luthers Rede vom 18. April war sofort nach dem Tribunal in handschriftlichen Kopien in Worms verbreitet worden. Der Text lag ja schon in weiten Teilen vor. Drucke mit der Rede und einer Darstellung der ganzen Handlung ließen nicht lange auf sich warten. Luther selbst blieb in der Stadt und wurde als Person nun endgültig zur Sensation. „Wo der Mönch über die Gassen geht“, schrieb der Ratsherr Oelhafen nach Nürnberg, „stehen sie überall voll mit Menschen, ihn zu sehen, und es entsteht ein großes Aufsehen und Diskutieren über ihn.“⁴⁸⁴ Der altgläubige Humanist und Theologe Johannes Cochlaeus berichtet, dass sich die Anhänger des Protests, die er unzufriedene Elemente nennt, nur so um Luther drängten und ihn aufmunterten. Die Fürsten wollten ihn sich nun auch genauer ansehen, vielleicht weil sie damit zu Hause an ihren Höfen renommieren konnten, bei ihm gewesen zu sein. „Er wurde besucht,“ sagt der kursächsische Bericht, „von vielen Fürsten, Grafen, Freiherrn, Rittern, Edlen, Priestern, Mönchen und Laien, des gemeinen Volks zu schweigen. Sie umlagerten stets das Haus und konnten sich seines Anblicks nicht sättigen.“⁴⁸⁵ Zu ihnen gehörte auch der erst 16-jährige hessische Landgraf Philipp, dessen Stammburg oberhalb Marburgs lag (Abb. 26). Er genoss das junge Fürstenleben und wollte sich die Sensation nicht entgehen lassen. Ihm waren Gerüchte über Luther zu Ohren gekommen, die ihn als offenkundig wirren und ketzerischen Theologen darstellten. Den wollte er kennenlernen. Auf der anderen Seite musste sich die Luther-Sache ihrer Verbündeten versichern. Der römische Gesandte Aleander sah in Philipp solch einen Freund und Parteigänger der lutherischen Sache. Er schreibt über ihn nach Rom, der Landgraf sei „ein mächtiger Herr und, obwohl noch sehr jung, von glänzenden Gaben und übelster erzlutherischer Gesinnung, was bei der
RA 2, S. 854; Hausrath 1897, S. 280. RA 2, S. 559; Hausrath 1897, S. 279.
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Vormundschaft des sächsischen Kurfürsten nicht zu verwundern ist“.⁴⁸⁶ Luther erzählt laut einem Tischreden-Bericht von 1540, also Jahrzehnte später, dass ihn der junge, als stolzer Ritter zu Pferde heransprengende Philipp zunächst übermütig mit einem der umlaufenden, haarsträubenden Gerüchte über seine angeblichen Ketzereien zur Ehelehre konfrontierte. Luther gibt also im Rückblick zu verstehen, dass sich der spätere Bigamist Philipp, der Luther im selben Jahr 1540 in eine unangenehme Zwickmühle als Gutachter bringt (weil er die Bigamie aus politischen Gründen zugestehen muss), schon damals als Jüngling für Sex- und Ehefragen interessierte. Luther berichtet, dass er die merkwürdige Ehenachfrage Philipps rasch ins Scherzhafte zog und damit den Hessen – später ein glühender Anhänger der Reformation – für sich gewinnen konnte. Beim Abschied gab der Fürst dann zu erkennen, dass er den Ernst der Lage begriffen hatte. In den Tischreden heißt es entsprechend: „Als erster kam in Worms der Landgraf von Hessen zu mir; da war er noch nicht auf meiner Seite. Er kam in den Hof geritten und ging dann in mein Gemach. Er war noch sehr jung und sagte: Lieber Herr Doktor, wie geht’s? Da sagte ich: Gnädigster Herr, ich hoffe, es wird alles gut werden. Da sagte er: Ich höre, ihr lehrt, wenn einer nicht mehr kann, so kann seine Frau einen anderen nehmen? Und dabei lachte er. Das aber hatten ihm die Räte bei Hofe eingeblasen. Da lachte ich auch und sprach: Ach nein, so solltet ihr nicht reden, gnädigster Herr! Er verließ mich aber bald wieder, gab mir die Hand und sagte: Wenn ihr Recht habt, Herr Doktor, dann helfe Euch Gott!“⁴⁸⁷ Bevor die Ständeverhandlungen mit Luther begannen, gab es ab dem 19. April eine Vorbereitungsphase, in der es zu geheimen Kontakten aller Art gekommen sein muss. Bei Ulrich von Hutten und dem Nuntius Aleander finden sich entsprechende Hinweise.⁴⁸⁸ Die Tage gingen mit Gesprächen und Verhandlungen dahin, über die wir nichts Genaueres wissen. Dann war es soweit. Am Abend des 23. April, vor dem Abendessen, bekommt Luther die Nachricht vom Trierer Erzbischof, er solle am nächsten Morgen noch einmal über seine Lehre gehört werden.⁴⁸⁹ Dem päpstlichen Nuntius gefällt diese Entwicklung gar nicht. Aleander fürchtet jetzt, dass es den deutschen Fürsten gelingen könnte, Luther doch noch an einer entscheidenden Stelle zum Nachgeben zu bewegen,⁴⁹⁰ um dann gemeinsam mit ihm die weltlichen ‚Beschwerden gegen Rom‘ durchzufechten.
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 16, 05. April 1521), S. 150. WA Tischreden 5, Nr. 5342b, S. 73. Hausrath 1897, S. 282 unter Verweis auf Huttens Brief vom 20. April und Aleanders Schreiben vom 27. April 1521 (zu Hutten siehe Enders 1889, S. 126 f und zu Aleander siehe AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 21, 27. April 1521), S. 182– 193. RA 2, S. 560 u. S. 602. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 21, 27. April 1521), S. 190.
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Würde Luther seine starren Angriffe auf die unwiderruflichen Beschlüsse des Konstanzer Konzils aufgeben, dann hätte er in Glaubensfragen eine Autorität über sich anerkannt und der Weg wäre frei für ein Bündnis der Beschwerdeführer beider Seiten gegen die Missbräuche der Kurie. Und hier nun zeigt sich der große Irrtum der Stände beim Finden der Wahrheit. Wir haben es mit einer ersten Annahme zu tun, die wir die pragmatische Hypothese nennen können. Sie bestand auf Seiten der deutschen Fürsten darin, zu glauben, man könne dogmatische Theorie auf der einen Seite von der ekklesiologischen anderen Seite bzw. von der institutionellen kirchlichen Praxis (auf Basis des Kirchenrechts) trennen. Würde Luther da mitspielen, so glaubte man, wären alle Probleme gelöst. Für Luther jedoch gab es zwischen beiden Bereichen einen untrennbaren Zusammenhang. Aus der falschen Rechtfertigungslehre folgte für ihn der Ablassmissbrauch, aus dem falschen Kirchenbegriff folgte das Willkürregiment der römischen Hierarchie und aus der erfundenen Lehre vom Fegefeuer folgte die Ausbeutung der Lebenden.Wenn er ein falsches Dogma zugab, ließ sich auch die zugehörige Praxis nicht mehr ändern.⁴⁹¹ Die nun auf Luther angesetzten deutschen Unterhändler sahen das anders. Unter ihnen traten als Verhandlungspartner ein gutwilliger und verständnisvoller Fürstbischof aus Trier auf sowie ein eifernder Theologe aus Frankfurt und zwei rechtlich-politisch denkende Humanisten aus Augsburg und Baden. Sie glaubten, die Wahrheit als Verhandlungsergebnis fest-stellen zu können, so wie man diplomatische Kompromisse macht. Noch immer verstanden sie nicht, dass für Luther der Zusammenhang von Theorie und Praxis unauflösbar und darüber hinaus die Wahrheit im essentialistischen Sinn etwas Unverfügbares, jeglichem Gruppenzwang Entzogenes war. Erstes Treffen: Der Verhandlungsparcours wurde am 24. April 1521 eröffnet, indem man sich nach Art zweier politischer Verhandlungsdelegationen traf.⁴⁹² Eine regelrechte wissenschaftliche Disputation sollte es ja ausdrücklich nicht werden. Unter dem Vorsitz des Trierer Erzbischofs Greiffenklau, einem der sieben Kurfürsten des Reichs, saßen im Deutschordenshaus, seinem Quartier, auf der einen Seite zwei Kurfürsten, zwei Bischöfe, zwei Fürsten und zwei Städtevertreter, darunter der Humanist Conrad Peutinger aus Augsburg. Auf der anderen Seite saßen Luther sowie die Theologen und Juristen Spalatin, Schurf, Amsdorf und Justus Jonas. Der Offizial Von der Ecken durfte nicht dabei sein. Das Gespräch
Hausrath 1897, S. 283. RA 2, S. 560 – 565 u. S. 602– 608; zum Gesamtablauf WA Briefwechsel 2, Nr. 404, S. 319 – 329; Hausrath 1897, S. 275 – 303; Schmidt 1971.
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Abb. 25: Kurfürst Richard von Greiffenklau, Erzbischof von Trier. Kalkstein-Epitaph im Trierer Dom.
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Abb. 26: Landgraf Philipp von Hessen. Ölgemälde von Hans Krell (?) aus den Jahren 1525 – 30. Ex. Eisenach Wartburg.
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wurde diesmal von dem humanistisch gebildeten Juristen Dr. Hieronymus Veuß, genannt Vehus, Kanzler des Markgrafen von Baden, geleitet. Luther war im Nachhinein mit ihm und seiner Art zu fragen zufrieden. Man führte Luther zwischen sechs und sieben Uhr morgens herein.⁴⁹³ Vehus beginnt die Verhandlung mit zwei Argumenten, die er dem Protestanten entgegenhält. Mit der Formulierung des ersten Arguments will er Luther eine goldene Brücke in der Konzilsfrage bauen: 1. Die Konzilien haben nicht „Widersprüche“ (contraria), sondern „Unterschiedliches“ (diversa) je nach „Gelegenheit und aktuellem Bedarf“ formuliert. Auch die weltlichen Erlasse des Papstes dürfe man nur als Reaktion auf konkrete Bedarfsentwicklungen sehen. 2. Luthers jüngere ketzerische Bücher würden ganz klar zu Unfrieden führen. Das könne Luther doch nicht wollen.⁴⁹⁴ Die kursächsische Quelle zu diesem Verhör schließt ihre Darstellung dieser Vehus-Vorhaltung mit einer Zusammenfassung, in der deutlich wird, dass der Jurist Vehus am Schluss vor allem den Respekt vor der herrschenden Ordnung einfordert, also in die typische Macht-Argumentation gegen den Protest verfällt: „In der Summe war die ganze Rede (oratio) nach ihren rhetorischen Topoi vor allem darauf ausgerichtet, ihn zu ermahnen, er möge den Nutzen und die Heilsamkeit der Gesetzesordnung auf der einen Seite bedenken und die Gefahr der Verwirrung der Gewissen und des öffentlichen Unfriedens auf der anderen Seite.“⁴⁹⁵ Luther erwidert und bleibt bei seinem Standpunkt; die Fürsten ziehen sich zurück; dann neuerliche Ermahnung zum Gehorsam, und Luther hat das Schlusswort. Sein erstes Ergebnis: Sola scriptura! Luther sagt im Schlusswort, nicht nur hohe Herren, „sondern auch Allergeringste wolle er als Richter anerkennen, falls sie ihn mit der Autorität der Schrift widerlegten“, „oder mit klaren Vernunftgründen (rationes clares)“.⁴⁹⁶ Zweites Treffen: Nach der Verhandlung lud der Trierer Kurfürst Luther in seine Herberge zum Frühmahl. Der uns schon bekannte Offizial Von der Eck und der humanistisch gebildete, altgläubige Theologe Cochlaeus waren ebenfalls anwesend. Cochlaeus war Domdechant am Liebfrauenstift in Frankfurt/M, war kurz vor dem Reichstag angereist und vom Ehrgeiz geleitet, durch eine Bekehrung Luthers berühmt zu werden. Zweifellos trieb ihn aber natürlich auch die Angst vor einer
RA 2, S. 602 und 613. RA 2, S. 561; Hausrath 1897, S. 285. RA 2, S. 561 f.; Hausrath 1897, S. 285. RA 2, S. 563; dt. „durch helle ursach“ RA 2, S. 606, Z. 20.
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Kirchenspaltung um. Zudem dürfte ihn eine vom Nuntius Aleander vorgesehene Belohnung motiviert haben.⁴⁹⁷ Beim Frühmahl dieser Männer nun soll sich der Legende nach das Glaswunder ereignet haben.⁴⁹⁸ Von Luthers Glas sei der Boden herabgefallen, als Luther das Kreuz darüber machte. Die einen sagten, dieses ‚Wunder‘ habe ihn vor der Vergiftung gerettet. Die anderen, einschließlich Luther, glaubten an physikalische Gründe. Man habe das Glas zuvor zu schnell in kühles Wasser getaucht, es einem Kälteschock ausgesetzt und darum den Bruch herbeigeführt. Nach dem Mahl beginnt eine Sondersitzung mit den Anwesenden, zu der Luther auch wieder Amsdorf und Schurf hinzugebeten hat. Die üblichen Argumente der Anklage: Luther stürze seine Anhänger ins Unglück; auch Arius habe seine Irrlehren allein aus der Schrift bezogen; Luther möge sich dem Schiedsgericht stellen. Dann ein äußerst kritischer Punkt. Luther bringt das unklare Pauluswort ins Spiel: „Wenn aber einem anderen, während er da sitzt, eine Offenbarung zu Teil wird, so soll der erste schweigen.“⁴⁹⁹ Der scharfsinnige Cochlaeus kann nun die entscheidende und gefährliche Frage nach Luthers Deutungsgewissheit stellen: „Ist dir offenbart worden?“ Luther verheddert sich wohl etwas, zumindest scheint der trickreiche Cochlaeus ihn absichtlich misszuverstehen. Hier geht es in der Tat um eine heikle Sache. Nach allgemeiner theologischer Lehrmeinung kann es nach der Zeit der Kirchenväter eigentlich keine neue Offenbarung mehr geben. Ist Luther etwa mehr als nur der kompetente, helfende Theologe, der den Gläubigen die Schrift besser zu verstehen lehrt? Meint er vielleicht doch, eine Autorität höheren Rechts zu sein? In der späteren Praxis muss Luther damit leben, dass er von seinen Anhängern als solch eine Art Prophet betrachtet wird. Hier in Worms jedoch wäre solch eine Rollenzuschreibung gefährlich. Cochlaeus kommt vom Autoritätsgedanken nicht los, insinuiert, dass auch Luther letztlich nichts anderes im Sinne habe und selbst eine Offenbarungsautorität anstrebe. Der Frankfurter Dechant kann mit allgemeiner Priesterschaft nichts anfangen, sehr wohl aber mit dem Ansinnen, eine neue Autorität an Stelle des Papstes zu etablieren. Er kann sich eben eine Welt ohne Autoritäten in Glaubenssachen nicht vorstellen. Daher will er Luther als falschen Propheten überführen. Luther versucht, die Sache klar zu stellen; Cochlaeus wird sophistisch, provoziert weiter, reißt die Rede an sich. Da geht der Jurist Schurf, die Gefahr spürend, dazwischen: „Lass ihn doch sprechen!“⁵⁰⁰ Es geht hoch her. Von der
AD ed. Brieger 1884 (Nr. 26, 29. April 1521), S. 175; Hausrath 1897, S. 295. Ratzeberger 1850, S. 51 f.; Hausrath 1897, S. 287 f. 1 Kor 14,30; vgl. RA 2, S. 625 f. und Schmidt 1971, S. 283. RA 2, S. 626; Schmidt 1971, S. 283.
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Ecken fällt ins Wort, will Luther ein weiteres Mal mit der Konzilsfrage in die Enge treiben, dann reden beide Ankläger zugleich auf den Wittenberger ein, wieder muss Schurf auf Deutsch dazwischen gehen, zuletzt bemüht Cochlaeus sogar die Logik nach scholastischer Manier. Die Mittagszeit naht und der Erzbischof hat Hunger. Es ist ein politischer Hunger, denn eigentlich will er durch Abbruch des Redegefechts nur deeskalieren. Er hebt die Versammlung auf. Nach dem sofort beim Nuntius abgegebenen Bericht des Cochlaeus kann Aleander über diese Begegnung nach Rom berichten: „Kurz, es fruchtete bei ihm [Luther] weder Belehrung noch Ermahnung, noch Überlistung, denn er blieb hartnäckig bei dem einen Worte, er wolle nicht gegen sein Gewissen handeln, und dann sagte er ein paarmal, er habe eine Offenbarung empfangen und leugnete es in einem Atem. Und so war denn auch diesmal alle Mühe vergeblich.“⁵⁰¹ Zweites Ergebnis: Sola scriptura! Luther will die im Raum stehenden Fragen nicht dialektisch mit logischen Schlüssen, „nicht aus Syllogismen“ klären, sondern nur auf Basis expliziter Stellen in den Schriften (non syllogismis, sed scriptis).⁵⁰² An dieser Stelle ist es nötig, darauf hinzuweisen, aus welchen Vorgängerwerken Luther seinerseits seine Standpunkte bezog. Seine Position war nicht neu, sondern inhaltlich schon von Augustinus geprägt und von einem berühmten Zeitgenossen vorformuliert worden. Luther erweist sich mit seinem Rückgang auf die originalen biblischen Quellen nicht nur als Humanist, der den herkömmlichen Vorrang aristotelisch geprägter Logik und Dialektik in der Scholastik zurückweist, sondern auch als gelehriger Schüler des Erasmus von Rotterdam. In der wenige Jahre zuvor (1516) erschienenen Denkschrift des Erasmus zu einer neuen theologischen Methodik, die Luther aufmerksam gelesen hatte, distanzierte sich Erasmus harsch vom üblichen theologischen Schulbetrieb: „Wem scholastische Kämpfe gefallen, der verfolge auch weiterhin, was er in den Schulen gelernt hat. Wenn aber einer mehr in der Frömmigkeit als in der Disputation unterrichtet sein will, so halte er sich vor allem und zuvörderst bei den Quellen (fontes) auf, er halte sich bei den Schriftstellern auf, die unmittelbar aus den Quellen geschöpft haben.Was man bei den Syllogismen (in syllogismis) an Zeit gespart hat, das kommt dem Gebet zugute.“⁵⁰³ Dann der für Theologen entscheidende neue methodische Grundsatz des Erasmus: Der Theologe „muss allenthalben sichere Grundpfeiler haben, auf die er
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 21, 27. April 1521), S. 189. RA 2, S. 627, Z. 10; zum Vernunftbegriff bei Luther siehe Lohse 1958. Erasmus: Methodus, S. 76 f.
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das übrige beziehen kann“, also auf die Schrift, und zwar zuerst die Evangelien und dann die Briefe der Apostel.⁵⁰⁴ Er soll ausdrücklich nicht „gewisse Personen nachahmen, die sich unterstehen, die Wahrworte der göttlichen Weisheit in einen fremden Sinn, manchmal sogar ins Gegenteil zu verdrehen. Es gibt solche, die vorgefasste Ansichten mit sich herumtragen und die Heilige Schrift zwingen wollen, diesen zu dienen, wo doch von ihr aus alle menschlichen Ansichten überprüft werden müssen.“⁵⁰⁵ Tatsache ist, „dass sich große Theologen ersten Ranges“, weil sie sich nicht auf die ursprüngliche Quelle bezogen, „in offensichtliche und peinliche Irrtümer begeben haben, was zu klar ist, als dass es verneint oder weggeleugnet werden könnte“.⁵⁰⁶ Dieser Sola scriptura-Standpunkt des Jahres 1516 ist uns nur zu gut auch vom Luther des Jahres 1521 bekannt. Erasmus macht seine Abkehr von der bisherigen Theologenausbildung noch einmal mit einer rhetorischen Frage deutlich: „Wie reimt sich das zusammen, dass ein angehender Theologe die sophistischen Lehrsätzlein auswendig lernt, irgendwelche Kommentare zu Aristoteles auswendig lernt, die Konklusionen und Argumente auswendig lernt,“ die von mittelalterlichen Theologen stammen, zugleich aber nicht lernt, mit den eigentlichen, entscheidenden biblischen Quellen umzugehen? „Aus diesen Quellen strömt doch die gesamte Theologie, sofern sie nur wahrhaft Theologie ist?“⁵⁰⁷ Es ist eine Theologie, die Erasmus schon 1516 den ganz einfachen Menschen mit Geistesgaben von plebejischer und geringer Art (plebeis et inferioris venae ingeniis) nahebringen will.⁵⁰⁸ Wir erinnern uns an Luthers spätere Idee vom allgemeinen Priestertum. Doch zurück nach Worms. Drittes Treffen: Am Nachmittag desselben Tages, 24. April 1521, wagt sich der als theologisch-gelehrter Vermittler gedachte Cochlaeus in einem Alleingang in den Johanniterhof, Luthers Herberge.⁵⁰⁹ Nach dem gescheiterten zweiten Treffen will Cochlaeus den Wittenberger jetzt in ein brüderliches Zwiegespräch unter Priestern verwickeln, um ihn zum Widerruf zu bewegen. Doch er erlebt eine Überraschung. Er muss feststellen, dass er in die sprichwörtliche Höhle des Löwen geraten ist. Amsdorf führt Cochlaeus in eine Gesellschaft, die aus Luther und seinen kursächsischen Reisegefährten, Beratern und Spindoktoren besteht, darunter auch
Erasmus: Methodus S. 58 f. Erasmus: Methodus S. 62 f. Erasmus: Methodus S. 44 f. Erasmus: Methodus S. 68 f. Erasmus: Methodus S. 38 f. RA 2, S. 627– 632; Hausrath 1897, S. 291– 295; Spahn 1898, S. 81– 85; Schmidt 1971, S. 284– 286.
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Dr. Schurf.⁵¹⁰ Die Gruppe ist in bester Stimmung und Luthers mitgereister Ordensbruder Petzensteiner fordert Cochlaeus wohl eher im Scherz zu einer Disputation heraus. Der Dr. theol. Cochlaeus fühlt sich von diesem unbekannten Mönch verhöhnt und registriert etwas, das viele andere der altgläubigen Theologen, die sich in der Sicherheit eines uralten Glaubensverständnisses wiegen, ebenfalls abstößt: die als besserwisserisch empfundene Wittenberger Arroganz. Cochlaeus kanzelt Petzensteiner folglich mit der Bemerkung ab „Brüderchen (fratercule), glaubst du, dass es nur in Wittenberg Menschen gibt?“ – stellt ihn zur Rede und wirft ihm vor, jüngst als kleines Wittenberger Licht den Dominikanerprior nach einer Predigt am Mantel gezupft und unverschämter Weise wegen angeblich falscher Paulus-Auslegung zur Rede gestellt zu haben. Genau das ist für den Frankfurter Dechanten die Wittenberger Arroganz. Cochlaeus empfindet sie als symptomatische Unverschämtheit der ganzen Protestpartei. Petzensteiner reagiert nun seinerseits empört, doch Luther beruhigt die Kontrahenten mit einem Scherz auf Kosten des einfältigen Petzensteiner, wenn er sagt: „Mein Bruder will gelehrter sein als wir alle, zumal, wenn er tüchtig getrunken hat.“ Allgemeines Gelächter. In dem nun folgenden Gespräch muss sich Cochlaeus von den jungen Anhängern Luthers Verrat an humanistischen Idealen vorwerfen lassen. Das ist von besonderem Interesse, weil sich hier die Querverbindungen zwischen der Reformation und den Bildungsidealen des Renaissance-Humanismus zeigen. Nach dem Empfinden der jungen Leute, unter denen gewiss auch die von Spalatin im Reichstagsbericht genannten sechs Spindoktoren waren, prallte hier das alte Denken des barbarisch verrotteten mittleren Zeitalters (des medium aevum), wie man sich unter Humanisten der Zeit angewöhnt hatte zu sagen, mit dem neuen Denken der Wiedergeburt ursprünglicher Werte und Ansätze zusammen. Etwas plakativ könnte man es den Zusammenprall von Mittelalter und Renaissance in Luthers Quartier nennen. Die kursächsischen Edelleute und Akademiker aus Luthers Umfeld erkannten in Cochlaeus eine Ausgeburt des mittelalterlichen Niedergangs. Am nächsten Tag, als das Gespräch im Johanniterhof bekannt geworden war, musste sich Cochlaeus daher als Beschimpfung gefallen lassen, ein Parteigänger mittelalterlicher Barbaren zu sein. In der Johanniterhof-Verhandlung kommt es nun zur Debatte über theologische Kontroverssätze, bei der sich die kursächsischen Edelleute als theologische Kenner und als Verteidiger Luthers hervortun. Sie fordern Schriftbeweise; Cochlaeus beruft sich auf die Konzilsbeschlüsse. So geht es hin und her. Luther ver-
Hierzu und zum Folgenden Simon 1966; S. 118 f; vgl. dazu die Schilderung bei Cochlaeus in: Enders 1889, S. 173 – 185.
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sucht, den lockeren Konversationston zu halten. Cochlaeus geht darauf ein und fordert wohl wiederum eher im Scherz, Luther könne doch das freie Geleit aufgeben und sich einer öffentlichen Disputation und einem Schiedsspruch stellen, wenn seine Deutungsgewissheit so groß sei. Da kippt die Stimmung. Die kursächsischen Edelleute und Akademiker sind entrüstet, wollen Cochlaeus die Treppe hinunterwerfen, weil sie hierin den Versuch sehen, Luther mit raffinierter Rabulistik auf ein lebensgefährliches Pflaster zu locken. Doch Luther versteht es offenbar, die Stimmung wieder aufzuheitern. Nun empfindet man Cochlaeus in der Wittenberger Gruppe, nicht zuletzt aufgrund solcher Vorschläge, immer mehr als Narren und die Szene geht wieder in Gelächter über.⁵¹¹ Inzwischen haben sich weitere Zuhörer aus Kursachsen eingefunden. Cochlaeus lässt nicht locker. Weder der offenkundige Spott der Wittenberger Neutöner noch ihre Arroganz beeindrucken ihn. Sein Plan ist, Luther in letzter Minute zu bewegen, sich einem Schiedsspruch zu stellen, der nach Lage der Machtverhältnisse zu Luthers Ungunsten ausgehen würde.⁵¹² Als Abgesandter der alten Mächte liegt Cochlaeus alles daran, Luther doch noch zur Anerkennung einer höheren religiösen Autorität auf Erden zu bringen. Luther ist das natürlich klar. Er muss diesem Ansinnen sein Konzept vom allgemeinen Priestertum entgegensetzen. Doch wie soll er das dem verkrustet denkenden Frankfurter Dechanten überhaupt verständlich machen? Halb im Scherz, halb im Ernst bietet Luther an, bei einer eventuellen Disputation ein Kind zum Schiedsrichter zu ernennen. Damit will er sagen, dass jedes Kind die reine evangelische Wahrheit der Schrift von anderen Konstrukten unterscheiden könne. Priesterexperten seien da nicht vonnöten. Das Gespräch nimmt immer turbulentere Formen an. Deshalb ziehen sich Luther und Cochlaeus in Luthers Schlafzimmer zurück. Cochlaeus hatte zwar versichert, keine Waffen bei sich zu tragen, doch Luther besteht drauf, dass zumindest sein Reisegefährte (socius itinerarius) mit in das Nebenzimmer geht. Die beiden Theologen setzen sich nun – etwas abseits von Petzensteiner als dem Zeugen – zu dem von Cochlaeus gewünschten brüderlichen Gespräch nieder.⁵¹³ Noch einmal werden die kritischen Punkte besprochen. Wenn Luther wenigstens einen Teil seiner angefeindeten Sätze zurücknehme, könne ihm der Trierer Erzbischof eine gut ausgestattete Versorgungsstelle und Schutz für das weitere Leben anbieten. Der Wittenberger möge doch eine Folgenabschätzung bei seinen
WA Werke 38, S. 165 f; Hausrath 1897, S. 293. Vgl. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 21, 27. April 1521), S. 188. Enders 1889, S. 184– 187.
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Handlungen vornehmen. Wie könne er denn nur so wunderbare Männer wie Melanchthon durch seine Hartnäckigkeit in Gefahr bringen wollen? Alles dreht sich im Kreis. Im Gedanken an die Einheit der Kirche und in seiner Furcht vor dem Kirchenspaltungsgedanken verliert Cochlaeus die Nerven, ist ratlos, gerät in einen Weinkrampf. Mit großer Wahrscheinlichkeit wirkt dieser Schlüsselreiz auf Luther, und auch er bricht in Tränen aus. Die Quellen sind in diesem Punkt freilich widersprüchlich. Luther will davon später nichts mehr wissen, bevorzugt eher die heroischen Lesarten des Geschehens.⁵¹⁴ Schließlich reicht man sich die Hand, verspricht sich, in Briefkontakt zu bleiben. Damit ist auch dieser Versuch, etwas Unverhandelbares doch irgendwie auszuhandeln, gescheitert. Cochlaeus muss sich gefallen lassen, dass nun in Worms und anderswo Spottverse und Spottlieder über ihn verbreitet werden.⁵¹⁵ Drittes Ergebnis: Sola scriptura! Als es in der Johanniterhof-Diskussion um schwierige theologische Kernpunkte geht, beruft sich Cochlaeus auf die Konzilsbeschlüsse, etwa auf das Laterankonzil, bei dem neben dem Papst mehrere Patriarchen aus Ost und West, aberhunderte von Erzbischöfen und Bischöfen sowie viele weltliche Herrscher anwesend waren.Wie könne man deren einhellige Meinung denn verwerfen? Auch da verweist Luther wiederum auf nichts anderes als die Schrift und betont, „dass man sich nicht auf menschliche Autorität stützen dürfe (quod non oporteat humanae autoritati stare)“.⁵¹⁶ Viertes Treffen: Am Morgen des Donnerstag, 25. April 1521, kommt es zur vierten Verhandlung mit Luther. Die ganze Stadt war am Vortag in Aufregung gewesen. Gerüchte und Falschmeldungen machten die Runde. Man meinte, bei Luther Nachgiebigkeit beobachtet zu haben. Darum bat der Trierer Kurfürst den Kaiser, noch weiter verhandeln zu dürfen. Der gab die Erlaubnis zu weiteren Gesprächen. Luther war inzwischen entspannt. Er wusste nun, dass sein Leben in Worms nicht gefährdet war. Die Strategie des Trierers war klar. Man hatte ein paar Tage verstreichen lassen, um Ruhe einkehren zu lassen. Greiffenklau, der die Verhandlungen in der Hand hatte, war jetzt ausgesucht freundlich zu dem Wittenberger Professor, lud ihn zu sich zum Essen ein (wir erinnern uns an das Glaswunder). Man disputierte, weil man wusste, dass Luther das wollte. Man machte in Andeutungen gewisse Versprechen und ließ nicht mehr los. Druck wurde aufgebaut. Es sollte um zwei Dinge gehen: Erstens sollte mit Luther nicht nur über die Sache, RA 2, S. 630. RA 2, 632, Anm. 1; Schmidt 1971, S. 286. Johann Cochlaeus an Georg N. aus dem Jahr 1540. In: Enders 1889, S. 182, Z. 300 f.; vgl. RA 2, S. 629, Z. 10 – 15.
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sondern auch über die Folgen seines Handelns geredet werden, und zweitens wollte man seine Gewissheit erschüttern. In der Tat gab es bei der Folgenabschätzung viel zu bedenken, und das machte Luther offenkundig auch zu schaffen. Die vierte Verhandlung am 25. April begann in Luthers Herberge, dem Johanniterhaus, um sechs Uhr morgens. Man war Luther nun auch räumlich entgegengekommen. Der badische Kanzler Vehus leitete wieder das Gespräch. Der Trierer fehlte. Auf Seiten der Stände wurde wieder der gelehrte Humanist Conrad Peutinger aus Augsburg hinzugezogen, ein Bekannter Luthers.⁵¹⁷ Mit diesen beiden Protagonisten hatte die Gesamtkonstellation ein etwas anderes Gesicht bekommen, denn Vehus und Peutinger repräsentieren das humanistisch gesonnene Deutschland. Vehus ist mit neulateinischen Dramen und Gedichten, also typisch humanistischen Gattungen, hervorgetreten, und Peutinger zeichnete sich ebenfalls als Reneissance-Humanist durch seine Schriften und Aktivitäten zur humanistischen Altertumsforschung und zur Politik aus. Auf Luthers Seite nahmen seine gelehrten Berater teil. Man beriet sich drei Stunden. Die goldene Brücke, die Vehus und Peutinger zu bauen suchen, besteht in einem Perspektivwechsel und darin, davon auszugehen, dass der Sinn seiner Schriften die Erbauung der Christen sei. Wenn nun eine von den Ständen berufene Kommission in den Schriften etwas fände, das sie nicht als Erbauung werten könne, dann könne Luther dies ja in diesem Sinn zurücknehmen. Man lobe Luthers evangelisches Anliegen; und in der Opposition gegen Rom stehe man ja sowieso mit ihm zusammen. Luther gibt dem gegenüber zu bedenken, dass bei dem Verfahren seine alten Gegner wieder dabei sein würden und ihm das nicht gefalle. Man sagt ihm zu, nur neutrale Personen und keine römischen Kurtisanen zu benennen. Luther sieht, dass man ihm sehr weit entgegenzukommen gewillt ist, dass alle irgendwie in Gewissensnöten sind, und beginnt, nachdenklich zu werden. Luthers Berater werden misstrauisch und empfinden das als kritische Lage für ihre Sache. Einer verlässt unwillig den Raum. Es ist Friedrich von Thun, den wir schon als engen Gefährten und eifrigen Reformanhänger kennengelernt haben. Neuerlich greift Luther daher zum Rettungsanker einer Bedenkzeit. Man verabredet sich auf ein Uhr mittags. Luther fühlt offenkundig in dieser Situation das Gewicht der nahenden Entscheidung, der er nicht mehr lange ausweichen kann. Bleibt er sich treu, dann ist es um den Frieden und die Einheit der Kirche geschehen und der Protest muss seinen Weg irreversibel nehmen.
Peutinger: Briefwechsel, S. 333 – 339; Lutz 1958, S. 189.
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Die Bedenkzeit verstreicht. Als man sich um die Mittagszeit wieder zusammensetzt, hat die kursächsische Regie dafür gesorgt, dass der Raum mit lutherfreundlichem Publikum angefüllt ist. Plötzlich gibt es Unmutsäußerungen gegenüber dem redlichen Vehus und dem freundlichen Peutinger. Da nimmt Luther Partei für die Angegriffenen, deren aufrechtes Bemühen er sieht, und lässt sich im weiteren Verlauf auf den spektakulären Vorschlag ein, seine Sache auf einem Konzil klären zu lassen. Seine Überlegung könnte gewesen sein, dass man sieht, wie anders man inzwischen unter Gläubigen und Theologen miteinander umgehen kann; ganz anders als seinerzeit in Konstanz, wo es die Doktoren waren, die Jan Hus in den Abgrund gestürzt hatten. Luther ist wohl in dieser Situation einen Moment lang mit einer Verschiebung der letzten Entscheidung auf ein anderes Forum einverstanden, weil ihm das in dieser konkreten Gesprächslage psychische Entlastung verschafft,weil man ihm weitere Lehrfreiheit in nichtstrittigen Punkten zusagt und weil er sieht, dass es vernünftige Leute gibt, die die Sache rational und methodisch angemessen, wie er es voraussetzt, klären wollen. Viertes Ergebnis trotz allem: Sola scriptura! Als Vehus und Peutinger von den kursächsischen Beratern mit dem Argument angegriffen werden, sie seien Juristen und keine Theologen und sollten sich daher zurückhalten, verteidigt sie Luther ausdrücklich mit dem theologischen Hinweis darauf, dass Schriftbeweise jeder vernünftige Gläubige erbringen könne, wobei er impliziert, dass das auch auf einem neuen Konzil – anders als seinerzeit in Konstanz – gelingen müsse und man folglich am expliziten Schriftbezug nicht mehr vorbeikomme. „Gottes Wort wäre eines klaren, schlichten Sinnes“, sagte er, und es „könne durchaus von jedem gelesen und verstanden werden“.⁵¹⁸ Luther vertraut zu dieser Zeit darauf, dass sein Gott in der Offenbarung keine Rätsel für die Gläubigen produziert hat, weshalb man auf die ganze Theologenkaste als Wahrheitsentscheider verzichten kann. Waren die Tyrannen von Konstanz nicht alle gelehrte Doktoren gewesen und hatten nicht gerade sie geirrt? Fünftes Treffen: Vehus und Peutinger verließen Luthers Herberge euphorisch. Sie eilten zum Trierer Kurfürsten ins Deutschordenshaus, um ihm die vermeintliche Einigung mitzuteilen. Der Trierer blieb aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit Luther auf dem Reichstag skeptisch.⁵¹⁹ Sollte Luther in der Frage der Konzilsautorität, um die sich ja am Schluss alles gedreht hatte, wirklich eingebrochen
Hieronymus Vehus an Herzog Georg. 1521, den 3. Juni. In: Seidemann 1851, S. 83 – 100, hier S. 97; RA 2, S. 619 f. Hausrath 1897, S. 299 – 302.
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sein? Bevor er dem Kaiser Mitteilung macht, bestellt er Luther vorsichtshalber noch einmal zu sich. Als dieser erscheint, stellt sich das Missverständnis rasch heraus. Der Wittenberger war bei allem, so auch bei seiner Konzilszusage, immer stillschweigend von einer entscheidenden methodischen Prämisse ausgegangen: Sola scriptura! Keine Kompromisse in der Frage der Erkenntnisquellen. Also doch keine Einigung. Allgemeine Enttäuschung. Der Verhandlungsführer Vehus sieht seine hochgesteckten Erwartungen zusammenbrechen, ist empört, beharrt darauf, dass doch vorhin im Angesicht so vieler Zeugen von etwas anderem die Rede gewesen sei. Er und Peutinger müssten sich beschweren, dass Luther es nicht unterlasse, sie durch seine widersprüchlichen Handlungen zu verletzen („anzuritzen“).⁵²⁰ Nun zeigt sich, dass die beiden Juristen doch nicht gewohnt waren, wie Theologen zu denken. Luther stellt noch einmal die entscheidende Frage: Wie hätte er denn Gottes Wort auf einem Konzil allein der Diplomatie oder der Abstimmung irgendwelcher Prälaten unterstellen können? Da habe man ihn theologisch gründlich missverstanden. Immer spreche die Heilige Schrift für sich. Die Schriftwahrheit ist und bleibt unverhandelbar. Richard von Greiffenklau weiß nun, was die Stunde geschlagen hat. Es ist aus. Die Verhandlungsgruppe löst sich auf. Fünftes Ergebnis: Sola scriptura! Wenn es einen Moment in Worms gab, an dem Luther zu Kompromissen bereit war, dann war es das Vehus-Peutinger-Gespräch. Offenbar versuchten die beiden, Luther durch die Formulierung unklarer und aufgeweichter Positionen zum Einlenken zu bewegen. Die Sola scriptura-Frage sollte als angebliche Selbstverständlichkeit ausgeklammert werden. In diesem allerletzten Moment des Verhandlungsparcours waren beide Seiten auf Harmonie aus. Luther müssen die Risiken des ganzen Pakets der unterschiedlich gedeuteten Prämissen des Kompromisses dann erst auf dem Weg zum Trierer Erzbischof wirklich klar geworden sein. Vermutlich gab es auch noch eine kurze Beratung unter den Wittenbergern. Die Hoffnung des gerade vorbeigegangenen Gesprächsmoments war da schon wieder verrauscht. Nun stand es Luther wieder ganz klar vor Augen. Über allem hatte die Bedingung zu stehen: Allein aus der Schrift.
Vehus-Bericht in: RA 2, S. 623, Z.16.
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Objektive Quellen der Erkenntnis und eigenes Urteil Als sich am 25. April 1521 die letzte Verhandlungsgruppe trennt, ziehen sich der Trierer Erzbischof Richard von Greiffenklau und Martin Luther noch einmal zu einem allerletzten Gespräch zurück. In diesem Moment stehen sich zwei individuelle Personen und zugleich Vertreter sozialer Dimensionen gegenüber, die wir die Macht und den Protest genannt haben. Beide Männer beobachten sich und bewerten einander nach mindestens drei Weltbezügen, die wir mit Jürgen Habermas die objektive, die soziale und subjektive Weltperspektive nennen können.⁵²¹ Beide haben zunächst unter objektiver Perspektive zu beurteilen, ob ihr Gegenüber in kognitiver Hinsicht den Zwecken ihrer Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kirche etc.) dient, wie es bei Habermas heißt. Unter diesem Aspekt muss der Trierer zu einer negativen Einschätzung kommen: Luther ist für das herkömmliche System Kirche verloren. Und auf der anderen Seite erkennt auch Luther, dass er zusammen mit dieser Sorte von Machtrepräsentanten nie neue Wege wird beschreiten können. Sodann beurteilen sich die Gesprächspartner wechselseitig unter sozialer Perspektive und fragen sich dabei, ob ihr Gegenüber den allgemein geltenden Maßstäben normativ-moralischer Korrektheit gehorcht. War der päpstliche Nuntius Aleander geneigt, in Luther einen Verrückten, Betrüger und Dämon zu sehen, weil ihm andere Einordnungen von seinem Horizont her nicht möglich waren, so gesteht der Trierer Erzbischof Martin Luther durchaus moralische Integrität zu. Mit seiner Bitte um Beichte gibt Luther dem Trierer entsprechend zu verstehen, dass er in dieser Hinsicht im Normrahmen bleiben will. Greiffenklau akzeptiert das. Luther seinerseits stellt ihm zu dieser Zeit ebenfalls ein positives Zeugnis aus: „Seine fürstliche Gnaden haben sich in dieser Sache tatsächlich sehr gut und mehr als gnädig erwiesen; er hätte es gern gut gemacht.“⁵²² Nach Habermas bleibt schließlich noch als dritte Beurteilungsfrage, welche emotionale Wirkung vom je individuellen Wesen des anderen Akteurs ausgeht. Auch in diesem Punkt besteht in der letzten Szene, von der wir im Moment reden, wechselseitige Anerkennung und Geneigtheit. Beide Männer begegnen sich offenkundig in einer emotional positiven Stimmung. Hinsichtlich der normativen Korrektheit in der Interaktion und der emotionalen Attraktivität und Authentizität der Gesprächspartner gibt es also keine Probleme. Sie entstehen in Hinblick auf
Habermas 1987, S. 82– 84 und 114– 151 und dort insbesondere S. 148 – 150. Luther an Graf Albrecht von Mansfeld. Eisenach, 3. Mai 1521. WA Briefwechsel 2, Nr. 404, S. 319 – 328, hier S. 326, Z. 194– 196.
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alle drei Weltbezüge erst bei „den Geltungsansprüchen der kognitiven Wahrheit“, wie es bei Habermas heißt. Priestersysteme mit Sakralanspruch verstehen sich interkulturell immer als Wahrheitsagenturen und Agenturen für Heilsadministration, deren sakrale Weihe, man könnte auch etwas schnöde von esoterischer Kompetenz sprechen, die Gläubigen oder Anhänger selbst nie erreichen. Priester und Gläubige sind in Priestersystemen nicht gleichgestellt. Geweiht/nicht geweiht ist das systemische Trennkriterium. In Worms wird diese Sichtweise von der Protestpartei demonstrativ in Zweifel gezogen. Seinswahrheiten zu ermitteln, gelingt weder durch Diktat noch durch Verhandlung, so die neue Sicht der Protestanten. Und die göttliche Gnade erreicht die Gläubigen direkt. ‚Heilige‘ Agenturen, die sich nach den Beobachtungen der Zeitgenossen in der Praxis als Ausgeburten der Verworfenheit entpuppen, können nicht die Lösung beim Erkennen des Wahren sein, und sie sind auch nicht die Hüter des Heiligen in der religiösen Praxis, insbesondere weil sie jene Theorie subvertieren, die ja in der Religion immer auf heiliges Leben geeicht zu sein prätendiert. Luther denkt das Problem der unauflöslichen Verbindung von Theorie und Praxis von Grund auf neu und nimmt Abstand zu der schon genannten pragmatischen Hypothese. Wenn es darum geht, dass jeder einzelne Mensch praktisch, also im persönlichen religiösen Handeln, mit seinem Gott ins Reine kommen muss und kann, dann sollte die Theorie diesem dyadischen Interaktionsansatz auch entsprechen. Warum sollte Gott selbst etwas anderes wollen? Befreiung heißt auch Befreiung von Bevormundung durch Priester, deren Status die römische Kirche ja aus paganer Zeit, aus der Zeit Constantin des Großen geerbt hat. Es bedarf keiner Institutionen als unverzichtbarer Hüterin von Wahrheit und Heil. Als Luther in Worms verhandelt, stehen für ihn bei diesem komplexen Zusammenhang insbesondere zwei wesentliche Fragen im Vordergrund, zumal auch seine Gegner in diese Richtung drängen: 1. Auf welche Erkenntnisgrundlage kann man sich bei der Ermittlung von Sätzen über religiöse Wahrheiten stützen? 2. Wer fällt das letzte Urteil über die Geltung der ermittelten Aussagen? Luthers Antworten sind für ihn im Jahr 1521 unumstößlich. Erstens gelten religiöse Sätze nur, wenn sie aus einer unumstößlich glaubwürdigen Quelle stammen. Sie müssen folglich aus der einzigen autoritativen Quelle des christlichen Glaubens, aus der Heiligen Schrift stammen. Andere Informationen über das Göttliche gibt es nicht. Zweitens kann es für den Gläubigen keine Wahrheitsagentur geben, die ihm die Erkenntnis dessen, was zu glauben ist, abnimmt. In Diskussionen und in Debatten kann man versuchen, die strittigen Fragen zu klären. Es gibt also Verstehenshilfen und Verstehenshelfer, kommunikative Konsensbildungsverfahren und Konsensstifter, aber keine Gesetzgeber. Am Ende gibt es keinen externen weltlichen Richterspruch über das Gewissen des Einzelnen. Wer bei dieser Frage vom irrigen
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Gewissen spricht, geht von der traditionalen Vorstellung einer rechtlich verbindlichen Glaubensnorm aus, die extern fest-gestellt ist und auf Erden durchgesetzt werden muss. Was in der Religion für den Menschen gilt, so der Protest, bestimmt jedoch das individuelle Gewissen. Gott hat seine Wahrheit ja auch so eingerichtet, dass selbst Kinder sie verstehen. Davon lässt sich Luther, jedenfalls in Worms, nicht abbringen. Mit diesem Gedanken der Unverfügbarkeit gewisser Wahrheiten, die sich folglich dem sozialen Diktat entziehen, wird in Europa erstmals ein ganz wesentliches ideologisches Segment dem politischen Einfluss entzogen und der Privatheit überantwortet. Wenn es maßgebliche Ursprünge der modernen westlichen Anschauungen über Subjektivität, Individualität und Freiheit des Denkens gibt, dann ist ein ganz wesentlicher unter ihnen hier zu finden. Am Nachmittag des 25. April 1521, nach dem Scheitern der offiziellen StändeVerhandlungen, kommt es in Worms zu dem letzten bekannten Gespräch der Parteien. Der Trierer Richard von Greiffenklau, der als Erzbischof und Kurfürst in Personalunion das alte Konzept der untrennbaren Verbindung beider Säulen der Macht aufs Schönste repräsentiert, zieht sich mit Luther, dem Haupt des Protests, zu einem Vieraugengespräch zurück. Es ist der letzte Moment des Wormser ‚Satyrspiels‘, also jener merkwürdig-verzweifelten Versuche, nach dem Hauptdrama die Wahrheit doch noch im Nachgang fest-zustellen, indem man Verhandlungen mit neuer, rein deutscher Besetzung führt. Es ist der allerletzte Versuch, bevor Luther für fast ein Jahr aus der Gesellschaft Deutschlands verschwindet. Der Trierer macht noch einmal die bekannten politischen Vorschläge. Dann versucht er es, Ausdruck der Verzweiflung, mit einer Art Bestechungsversuch, dem Cochlaeus schon mit Andeutungen vorgearbeitet hatte. Die Methode ist nicht ganz neu.⁵²³ Luther könne doch ein schönes Priorat in Trier bekommen, heißt es nun, und Mitglied des Trierer Hofstaats werden. Mit Rom könne man am Ende gewiss Frieden machen.⁵²⁴ Der Trierer denkt in diesem Moment vielleicht daran, dass man auch Luthers alten Ordensvorgesetzten Staupitz auf diese Weise in Salzburg stillgestellt hatte. Solche Hintergedanken kommen Luther gar nicht in den Sinn. Er ist gerührt von so viel Fürsorge, soll um die Abnahme der Beichte gebeten und dem Trierer dabei manch Geheimes gesagt haben.⁵²⁵ Aleander bemühte sich später vergebens, das Beichtgeheimnis aufzubrechen (was sonst offenbar meist gelang und was als einer der skandalösen Machtmissbräuche Roms allein schon die Reformation
Kalkoff 1922, S. 55 f., siehe auch S. 55, Anm. 2. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 21, 27. April 1521), S. 190; siehe auch S. 189, Anm. 4. RA 2, S. 874; Hausrath 1897, S. 301.
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rechtfertigte), um in Erfahrung zu bringen, was der Ketzer dabei gesagt hatte. Der Trierer wies das Ansinnen des Nuntius ab.⁵²⁶ Luther bestätigt in einem Brief, dass der Trierer sich in diesem Gespräch ehrlich um eine Lösung bemüht habe („hätte es gern gut gemacht“). Doch jetzt kann der Wittenberger Professor nicht mehr weiter verhandeln. Er ist psychisch und physisch erschöpft. Er hatte vor Kaiser und Reich gestanden, mit Von der Ecken und Cochlaeus verhandelt, dann mit Vehus und Peutinger, schließlich noch einmal mit dem Trierer Erzbischof persönlich. Jetzt ist es genug. Immer nur wurde verlangt, dass er sich unterwerfe. Es durfte nichts anderes herauskommen, als was vorher schon klar war, lediglich der Widerruf. Luther bittet den Kurfürsten, der Sache ein Ende zu machen, beim Kaiser seine Entlassung zu erwirken. Er befinde sich ja nun schon seit zehn Tagen in Worms und alles verlaufe ergebnislos. Die Zukunft werde erweisen, wer im Recht sei. Der Trierer verspricht es, auch er ist erschöpft. Er geht zum Kaiser. Am Abend dieses 25. April 1521 sind die Brücken in Worms zwischen dem Haupt des Protests und dem Haupt der traditionalen Macht endgültig abgebrochen. Zwischen 5 und 6 Uhr lässt Kaiser Karl V. dem Theologieprofessor Martin Luther durch hochgestellte Regierungsmitglieder im Johanniterhof mitteilen, er solle umgehend abreisen, habe 21 Tage freies Geleit und müsse sich ab jetzt an das Lehrverbot halten. Am nächsten Morgen, am 26. April um zehn Uhr, bricht Luther auf. „So ist denn der ehrwürdige Schurke gestern drei Stunden vor Mittag mit zwei Wagen abgereist,“ schreibt Aleander kurz darauf triumphierend dem Papst, nicht ohne Luther noch einmal als genusssüchtigen Mönch zu denunzieren: „nachdem er sich eigenhändig in Gegenwart vieler Personen viele Brotschnitten geröstet und manches Glas Malvasier, den er ausserordentlich liebt, getrunken; vor dem Tor empfingen ihn zwanzig Reiter, die ihm vermutlich Sickingen auf Huttens Betrieb geschickt hatte. Einige meinen nun, dass er sich nach Ablauf des Termins nach Böhmen, andere, dass er sich nach Dänemark begeben werde. Daher baten wir heute Morgen den Kaiser, die beiden Könige zu benachrichtigen und in unserer Sache die abschließenden Anordnungen zu treffen.“⁵²⁷ Bei der Schutztruppe, die Luther von Worms wegführte, handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um Sickingens Leute, wie Aleanders Geheimdienstinformanten glaubten, sondern um den kursächsischen Personenschutz aus Freunden und Anhängern, dem der kaiserliche Herold Sturm wenig später als offizielle Begleitung nachfolgte. Die uns von der Anreise her bekannte Luther-Gruppe mit Luther selbst, sodann Jonas, Amsdorf, Suaven, Petzensteiner und diesmal noch Schurf, traf auf
AD ed. Brieger 1884 (Nr. 27, 15. Mai 1521), S. 213, Z. 2– 4; Schmidt 1971, S. 289, Anm. 97. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 21, 27. April 1521), S. 193.
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zwei Wagen verteilt am Samstag, 27. April, in Frankfurt ein. Luther selbst wusste zu diesem Zeitpunkt längst, dass er bald entführt und aus dem Verkehr gezogen werden würde.
6 Das Neue und das Uralte Vom Konzil von Vienne erging 1311/12 ein bemerkenswerter Forschungsauftrag an die Universitäten Bologna, Oxford, Paris und Salamanca. Sie sollten ab jetzt die ersten Sprachen der Menschheit (Hebräisch, Arabisch und Chaldäisch) unterrichten. Dabei verstand man unter Chaldäisch die Sprache der Astronomen Babylons. Mit diesem Auftrag wurde eine Erkundung alter Sprachen und Texte angestoßen, die sich zur Philologie des Renaissance-Humanismus entwickelte. Diese Philologie hatte unter dem Schlachtruf „Zurück zu den Quellen (ad fontes)!“ das Programm herauszufinden, was sich an antiken Originaltexten erhalten hat, welches die ursprüngliche Textgestalt dieser Werke ist und wie man das alte, als überlegen angesehene Wissen der Antike rekonstruieren könnte.
Heilige Sprachen Von Griechisch und Latein war im Auftrag des Konzils von Vienne nicht die Rede. Diese beiden Sprachen sah man damals zusammen mit dem Hebräischen als heilige Sprachen an.⁵²⁸ Doch wie stand es um deren Pflege? Um das Hebräische kümmerten sich nur die Rabbiner, ums Griechische nur die Byzantiner im Osten. Das Latein, die Sprache der ‚Vulgata‘, der autoritativen Bibelversion, war zwar die europäische Lingua franca und Schulsprache, doch von einer gelehrten Pflege konnte zu Beginn des 14. Jahrhunderts keine Rede mehr sein. Diesen Befund sahen junge Intellektuelle der Zeit, wie etwa Francesco Petrarca, als niederschmetternd an. Sie blickten daher mit Verachtung zurück auf ein mittleres Zeitalter (medium aevum), das diesen Niedergang in den heiligen Sprachen hinterlassen hatte, und in dem sogar das wahre Latein zum Volgare des Italienischen verkommen, verrottet oder ganz abhandengekommen war. Die jungen Humanisten, wie man sie bald nannte, hatten verschiedene Motive für die Erforschung und Wiederherstellung des klassischen Lateins. Das wichtigste war eine aus der Verfallsanalyse hervorgegangene Sehnsucht nach Wiedergeburt antiker Ideale und Erneuerung (renovatio) des abhanden Gekommenen, zunächst im sprachlichen, dann auch im textlichen, schließlich im weiteren kulturellen, ja sogar politischen Bereich (man denke etwa an Cola di Rienzo). Diese Bewegung ließ sich ab dem 14. Jahrhundert nicht mehr aufhalten und prägte das intellektuelle Leben in Europa bis zum 17. Jahrhundert zunehmend.
Borst 1957– 1963. DOI 10.1515/9783110546927-007
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Heilige Texte Der Wissenschaftshistoriker Fritz Krafft betrachtet diese im 14. Jahrhundert einsetzenden Bestrebungen als Teil einer ersten historischen Stufe der Wissenschaftsentwicklung im Renaissance-Humanismus, an die sich weitere Entwicklungsstufen anschließen.⁵²⁹ Davon wird später noch die Rede sein. Ich möchte orthogonal zu diesem h i s t o r i s c h e n Stufen- oder Verlaufsmodell ein s t r u kt u r e l l e s Methodenmodell ansetzen. Dazu gehören zunächst die folgenden methodisierten Verfahren: 1. Quellensuche, -erhebung und -sicherung. 2. Quellenkritik (Emendation, also Textwiederherstellung) sowie Ausgaben der kritisch wiederhergestellten Texte. 3. Kommentierung und wissenschaftliche Untersuchung der antiken Texte. 4. Popularisierung antiker Diskursbestandteile und Import in andere Diskurse mittels Übersetzung. Diese systematischen Ansätze gehören schon alle in die erste historische Phase der Renaissance, laufen zu dieser Zeit und eben auch in späteren Epochen parallel und ergänzen sich, wie der Fall Petrarca im 14. Jahrhundert zeigt. Er durchstöbert auf seinen Reisen die Büchereien der Kirchen und Klöster, nützt seinen Ruhm, seine Freundschaften und seine Schüler, um in Italien und Frankreich, in Spanien und England, ja, selbst in Griechenland ein ganzes Netz von Nachforschungswegen zu installieren.⁵³⁰ Dabei spürt er unter anderem den Hauptteil der Briefe Ciceros auf und bearbeitet ihn schon quellenkritisch. Die bedeutendsten Funde jedoch, das sprach sich im 15. Jahrhundert bald herum, waren in den heruntergekommenen Klosterbibliotheken Deutschlands zu machen. So fand man die ‚Annalen‘ des Tacitus im Kloster Corvey und die ‚Germania‘ des Tacitus in der Abtei des heutigen Bad Hersfeld. Man fand nördlich der Alpen aber auch verschollen geglaubte Handschriften von Quintilians Rhetoriklehrbuch oder ManuskriptÜberlieferungen naturkundlicher und naturwissenschaftlicher Werke, so etwa das Buch ‚Über die Natur der Dinge‘ des Römers Lukrez. Wir haben es also mit Entdeckungen zu tun, die teils von sprachlichem, teils von literarischem oder rhetorischem Interesse waren, teils von naturwissenschaftlichem. Zu Luthers Zeit hatten die Humanisten inzwischen alle wichtigen lateinischen Texte des ersten Jahrhunderts nach unserer Zeitrechnung kritisch gewürdigt: Lucan, Plinius, Quintilian, Seneca oder Tacitus. Doch ein wichtiger, der ent-
Krafft 1991. Eppelsheimer 1980, S. 22 f.
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scheidende Text aus dem ersten Jahrhundert n.Chr. fehlte noch: das ursprünglich griechisch abgefasste Neue Testament, insbesondere die Evangelien. Das darf uns nicht wundern, weil in der katholischen Kirche die lateinische ‚Vulgata‘ des Kirchenvaters Hieronymus aus dem 4. Jahrhundert als verbindliche Bibelversion gilt. Damit schien lange alles geklärt zu sein. Ausgerechnet der päpstliche Sekretär und römische Rhetoriklehrer Lorenzo Valla jedoch brachte den Glauben an diese autoritative Schriftversion ins Wanken. Er verglich schon 1444 in seiner ‚Vergleichenden Zusammenstellung des Neuen Testaments (Collatio Novi Testamenti)‘ die griechischen Urtexte mit der amtlichen lateinischen Übersetzung und wies deren Fehler nach. So begann man auch hier mit Erneuerungs- und humanistischphilologischen Wiederherstellungsüberlegungen. Interessanterweise waren es jedoch die jüdischen Rabbiner, die sich erstmals gründlich um die Rekonstruktion des Urtextes ihres Bibelteils, also des Alten Testaments, kümmerten. Jüdische Schriftgelehrte gaben 1488 im italienischen Soncino die erste gedruckte hebräische Gesamtausgabe des Alten Testaments mit gewissem philologischem Anspruch heraus.⁵³¹ Hinter diesen Bestrebungen blieben die christlichen Theologen auffallend zurück. Zwar erschienen zwischen 1462 und 1500 rund 80 vollständige Ausgaben der lateinischen ‚Vulgata‘,⁵³² doch ohne textkritischen Ansatz. Wo blieb der zuverlässige, philologisch-bereinigte Text des Neuen Testaments, des Grundbuchs der Christen, ohne den jede Sola scripturaForderung ins Leere laufen musste? Erst relativ spät, als der Buchdruck sich etabliert hatte, ging man das Problem an. 1502 begann der hochgelehrte spanische Primas, Kardinal Francisco Ximenes de Cisneros (Abb. 27), an der von ihm selbst gegründeten Universität Alcalá de Henares – lateinischer Name Complutum – mit den Arbeiten an einem ehrgeizigen Projekt, das später den Namen Complutenser Polyglotte erhielt und erstmals den kritisch geprüften Urtext der ganzen Bibel in sechs Bänden zum Druck bringen sollte.⁵³³ Ximenes wählte die besten Kenner des Griechischen, Lateinischen und Hebräischen aus, um diese anspruchsvolle Wiederherstellung des biblischen Urtextes, wie man meinte, zu bewerkstelligen. Die herangezogenen jüdischen Fachleute für Hebräisch waren bereits getaufte Juden oder wurden sicherheitshalber kurzerhand getauft. Das ganze Unternehmen war den frühkapitalistischen Marktmechanismen entzogen und wurde auf Kosten des Kardinals noch ganz nach den alten Spielregeln großzügigen Mäzenatentums umgesetzt. Es sollten nach den üblichen Vorstellungen der esoterischen Klerikerkaste auch nur 600 Exemplare
Hefele 1851, S. 114. Hefele 1851, S. 113. Zum Folgenden Hefele 1851, S. 113 – 135.
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Abb. 27: Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros. Nach dem Marmorrelief in der Universität zu Madrid. Frontispiz in Johannes B. Kißling: Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros (1436 – 1517). Erzbischof von Toledo. Spaniens katholischer Reformator. Münster 1917.
für den Theologengebrauch hergestellt werden. Unter ungeheuren Finanzaufwendungen und mit Hilfe eines internationalen Netzwerks, an dem sich auch Papst Leo X. beteiligte, erwarb Ximenes die wichtigsten alten Handschriften, die die Texte der Bibel überlieferten. Man schuf eine Synopse. Links stand der Originaltext und rechts die lateinische Übersetzung für den alltäglichen Gebrauch unter Gelehrten. Alle griechi-
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schen Wörter waren mit kleinen Indexbuchstaben überschrieben, die sich auf der anderen Seite auch über den lateinischen Wörtern fanden, sodass man auf einen Blick bei der Lektüre sehen konnte, welches griechische Urwort etwa welchem lateinischen Übersetzungswort entsprach. Ansonsten fehlte ein Apparat, der Auskunft über die genaue Quellenlage gegeben hätte. Am 10. Januar 1514 war der erste Teil des Werkes gedruckt; der letzte Teil war am 10. Juli 1517 fertig. Diese vollständige gedruckte, wissenschaftlich emendierte Bibelausgabe kam aber nicht auf den Markt, sondern blieb erst einmal unter Verschluss. In der Forschung wird über eine vatikanische Intrige nachgedacht, die die Auslieferung des Druckes verhinderte, um ein gleichzeitiges Konkurrenzunternehmen zu begünstigen, von dem noch die Rede sein soll.⁵³⁴ Die päpstliche Erlaubnis zur Veröffentlichung der Polyglotte erschien jedenfalls erst 1520; die Auslieferung begann sogar erst zwei Jahre später, sodass diese Pionierarbeit bis 1522 weder von humanistischen Philologen wie Erasmus von Rotterdam noch von Theologen wie Martin Luther benutzt werden konnte. Die Tatsache, dass die Complutensische Polyglotte letztlich im Hinterhof der Macht entstand und sich in Hinblick auf ihre Verbreitung gehorsam auf die römische Lizenz-Gewalt verließ, brachte sie um ihren historischen Erfolg als theologisch-philologisches Jahrhundertunternehmen. Den Ruhm der ersten kritischen Edition des Neuen Testaments ernteten nicht Ximenes und sein Team, sondern ein anderer, dessen Ausgabe 1522 bei der schließlich doch erfolgten Auslieferung der Polyglotte schon den Markt beherrschte. Das ließ sich dann auch nicht mehr umkehren. Der Schreiber des Vorworts zur Polyglotte gibt das Konzept des Herausgebers Ximenes wie folgt wieder: Keine Übersetzung sei im Stande, „den vollen Sinn des Originals genau auszudrücken“, was insbesondere auch für die „Sprache“ gelte, „in welcher Christus selbst geredet“ hat, also für das Aramäische, einer Sprache, in der kein Text von Jesus erhalten ist. „Zudem weichen auch die Handschriften der lateinischen Übersetzung (Vulgata) zu sehr von einander ab, als dass man nicht Verfälschungen, meistens durch Unwissenheit und Nachlässigkeit der Schreiber entstanden, argwöhnen sollte. Darum müsse man, wie schon Hieronymus und Augustin verlangten, zu dem Anfang der heiligen Schriften zurückgehen und die Bücher des A.T. nach dem hebräischen, die des Neuen nach dem griechischen Texte verbessern, wie denn jeder Theologe aus den Quellen des Urtextes selbst das ins ewige Leben fließende Wasser zu schöpfen habe“.⁵³⁵
Eckert 1967 Bd. 1, S. 226. Übersetzung bei Hefele 1851, S. 115.
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Neue Methoden und uraltes Wissen Der Humanistenruf „Zurück zu den Quellen!“ bezog sich nicht nur auf die heiligen Texte der Christenheit, an die man sich, seltsam genug, erst zu Luthers Zeit mit den neuen Methoden einer nach der Urtextgestalt suchenden Textkritik und Editionstechnik heranwagte. Man wollte endlich auch erkunden, was man in der Antike schon über die Natur und die Welt als solche wusste und was im mittleren Zeitalter des Niedergangs, so die damalige Sichtweise, verloren gegangen war. Damit entsprang aus der Suche nach Quellen auch die Suche nach den alten und zugleich neuen Sichtweisen sowie nach alten und neuen Methoden der Wissensgewinnung.Wir stehen in dieser Zeit also auch am Anfang unseres modernen wissenschaftlichen Denkens, das ja vor allem auch ein Denken auf Grundlage beweiskräftiger Vorgehensweisen ist, die wir kurz Methoden nennen. Den neuen theoretischen Ansatz finden die bildenden Künste mit ihren Überlegungen zur Zentralperspektive, die seit dem 15. Jahrhundert auf der Basis der wissenschaftlichen Optik die Bildsyntagmen regieren soll. Damit ist das beherrschende Prinzip der Renaissance gefunden. Wir müssen Luther als Komponente in einem komplexen Vorgang der Ausdifferenzierung von sozialen und epistemologischen Teilsystemen verstehen, die dennoch alle nach einem verbindenden Prinzip gesucht haben. Am Ende stehen gewisse Vorstellungen von Autonomie und Emanzipation solcher Teilsysteme, auch des religiösen, in dessen Mittelpunkt nun der homo religiosus stehen soll, der allein mit seinem Gott klar kommen muss. Wir beobachten diese Bestrebungen in der Naturwissenschaft (allein die Empirie und die Mathematik), davon wird gleich die Rede sein, aber auch in der Politiktheorie bei Machiavelli (allein die Macht) und in der Rhetorik und Erkenntnislehre bei Petrus Ramus (allein die zehn Prinzipien der Topik).⁵³⁶ Luther gehört mit seinen sola-Formeln ebenfalls in diese Reihe. Wir wissen nicht genau, wieweit er mit den neueren humanistischen Gedanken zur naturwissenschaftlichen Methodik vertraut war, jedenfalls hätte er da schon viele Ideen für sein eigenes Vorgehen entdecken können. Wir können die vom Humanismus kultivierten Prinzipien des wissenschaftlichen Arbeitens in der OCT-Formel zusammenfassen, gemäß der auch die genannten Naturwissenschaftler der frühen Neuzeit vorgehen: 1. O für die korrekte Origo. Der Ursprung des Wissens muss korrekt sein. Die Quellen müssen also wirklich aus der Antike stammen. 2. C für den korrekten Code. Für die einen ist es der wiederhergestellte korrekte Code der goldenen Latinität, für die Theologen sind es die originalen heiligen
Zu Machiavelli: Knape 2006b; zu Ramus: Knape 2015d, S. 237– 259.
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Schriften, für die Physiker ist es die Mathematik. Das Bemühen um den Code beginnt jeweils um den ersten, den unbestechlichen reinen Code, jenseits der Volkssprache. Die reine Sprache (auch der mathematische Code) ist das erste System der Ermöglichung von Text, das heißt von Repräsentation und Beschreibung von Wirklichkeit. T für die korrekte Textformulierung. Jeder gefundene antike Text muss hebräisch-, griechisch- oder lateinisch-sprachlich, stilistisch und poetologisch oder in seinen mathematischen Formulierungen schon korrekt sein oder eben restauriert werden. Für Rekonstruktion und Korrektur des vorgefundenen Naturwissens werden erst nach und nach eigene Naturbeobachtungen und Experimente hinzugenommen.
Das neue Denken entsteht aus intensiver Arbeit an einer neuen Methodik, die noch lange keine Trennung in die zwei Kulturen eines C. P. Snow kennt.⁵³⁷ Arbeit an den alten Texten und Arbeit an neuen Erkenntnismethoden gehen noch Hand in Hand. Für diese andere Themenabteilung des Renaissance-Humanismus stehen etwa die Namen der ersten Wiener mathematischen Schule, insbesondere der von Georg von Peuerbach (1423 – 1461) und der von Johannes Müller (1436 – 1476), genannt Regiomontanus nach seinem Heimatort Königsberg in Bayern.⁵³⁸ Der Astronom und Mathematiker Regiomontan sammelt um die Mitte des 15. Jahrhunderts nicht nur die antiken astrophysikalischen Quellen systematisch, sondern emendiert auch methodisch; das heißt, er bereinigt und korrigiert die mathematische Überlieferung seiner über die Jahrhunderte im Abschreiben verdorbenen Quellen. In einer eigenen kleinen Methodenschrift, die 1474/75 als Widmungsvorrede gedruckt wird, betont er, dass es eine Illusion sei zu glauben, „im Besitz der Kosmographie des Ptolemäus zu sein“, wenn man eine lateinische Version besitze.⁵³⁹ „Nicht einmal den Schatten eines so großen Werkes“ könne man vorzeigen, denn schon die Griechen selbst hätten den Text mit seinen mathematischen Angaben fachlich kaum verstanden, geschweige denn der lateinische Übersetzer. So jemand sei mangels Fachkenntnis nicht als „Korrektor“ des Textes, sondern als dessen „Korruptor“ anzusehen.⁵⁴⁰ Er, Regiomontan, wolle aber „fehlerfreie Bücher (recta exemplaria) herausgeben“. Historisch kommt nun eine entscheidende methodische Weiterung, die Fritz Krafft der zweiten Phase des Humanismus zuordnet und die wir mit dem Verfahren Snow 1959; siehe dazu den erhellenden Beitrag von Pyle 2008. Dear 2009, S. 32– 46. Regiomontanus 1474/75, S. 513– 515; im Folgenden dt. zitiert mit kleineren Übersetzungsvarianten nach Grössing 1983, S. 222– 229. Grössing 1983, S. 225 f.
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der selbstständigen Fortschreibung antiker Ansätze in Verbindung bringen. In dieser Phase wird von den Quellen abgelöstes Wissen konsequent weitergedacht und es findet eine neuartige Zusammenfassung der antiken Kenntnisse und Vorstellungen statt. Das tritt deutlich im 1530 abgefassten Werk des Nicolaus Copernicus über die „Umwälzung“, die revolutio des Himmelsraums hervor, in dem er die Sonne zentralperspektivisch als neuen Mittelpunkt des Planetensystems nachweist. Schon im 15. Jahrhundert erkennen wir bei Regiomontan die Methode des selbstständigen Weiterdenkens, wenn er schreibt, er habe mit eigener „guter Überlegung“ die alten Texte kritisch verbessert, „wirklich nicht, um fremde Autoren herabzuwürdigen, sondern damit die naturwissenschaftlichen Studien (studia mathematicarum), die ja schon seit Jahrhunderten auf vielfältige Weise verunstaltet und fast allgemein vernachlässigt sind, soweit als möglich von allem Makel gereinigt wiedererstrahlen mögen, wofür es wahrlich nötig ist, das meiste zu verändern oder neu [aus dem Griechischen ins Lateinische] zu übersetzen. Den Schriftstellern, auch den antiken, zu widersprechen, wenn sie irgendwo, wie es bei Menschen vorkommt, geirrt haben, ist, wie wir glauben, einem rechtsinnigen Mann und freidenkenden Geist angemessen, vom Beispiel all derer angeleitet, die irgendwann einmal etwas Originäres geschaffen haben.“ Hier also die entscheidenden Stichworte: den Mut haben, etwas Neues zu schaffen, aliquid novi componere; selbst bei den antiken Texten „Leichtgläubigkeit (credulitas)“ ablegen; nicht glauben, „das aussagekräftigste und höchste Argument stets von den Autoritäten entlehnen“ zu müssen, denn dabei schenkt man „nämlich irgendeiner fremden Meinung mehr Vertrauen“ als einer selbst gefundenen ratio certissima, d. h. einem höchst sicheren Beweis. Damit taucht schon hier im 15. Jahrhundert ein zentraler methodischer Begriff auf, der uns an Luthers Pochen, nicht nur auf die Heilige Schrift, sondern auch auf den Vernunftbeweis, seine ratio evidens, erinnert. Regiomontan spricht von ratio certissima. Der lateinische Begriff ratio kann Berechnung, Vernunft und Begründung, aber auch Methode oder Verfahren heißen. Diese Ratio aber soll den höchsten Gewissheitsgrad garantieren, sie soll die sicherste, certissima, sein. Ja, Regiomontan geht noch weiter, er postuliert für die Physik „unveränderliche Gewissheit oder Sicherheit (perpetua certitudo)“, die ja bei anderen Disziplinen, schon gar nicht bei den philologischen der Humanisten aus der Artistenfakultät erreicht worden sei.Wir wollen uns dieses kritische Verdikt, dass der philologische Humanismus die nötige ewige, unveränderliche Gewissheit sowieso nicht hinbekomme, für spätere Überlegungen merken. Regiomontan legt äußerst strenge Maßstäbe an und kritisiert nicht nur seine geisteswissenschaftlichen Kollegen in der Artistenfakultät, wie man die philosophische Fakultät zu dieser Zeit nannte, mit scharfen Worten: „Daher würde ich also glauben, dass es vorkommt, dass
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oftmals die humanistischen Studien (studia litterarum) wegen gar unachtsamen Lesens und gefällig geschriebener Kommentare das Aussehen von Traumgebilden oder eines altweiberhaften Geschwätzes angenommen haben. Obwohl tatsächlich dieser Makel beinahe allen artistischen Studien anhaftet, so ist er in den mathematischen aber besonders schmählich und unerträglich, Wissenschaften, die ja nach dem Bekenntnis aller stets die unveränderliche Gewissheit in sich bergen, nun aber durch den Müßiggang unserer Zeitgenossen zu Exkrementen abgebrüht worden sind, und zwar so sehr, dass wir in der Sternwissenschaft (über alle Naturwissenschaften zu sprechen, würde hier zu weit führen) ausgenommen den Gerhard von Cremona und den Johannes von Sacrobosco fast alle anderen Autoren vernachlässigen“.⁵⁴¹ An dieser Stelle sei nun auf die dritte Phase des wissenschaftlichen Humanismus verwiesen. Diese Phase wird mit den um und nach 1600 tätigen Physikern Johannes Kepler und Galileo Galilei in Verbindung gebracht: Die aus der Antike stammenden „Ideen, Methoden und Philosopheme“ werden nun, so Fritz Krafft, als Sprungbrett, „als heuristischer und strukturierender theoretischer Überbau für teilweise neue Fakten und Theorien“, dann auch für ganz neue Ansätze genommen.⁵⁴² In dieser Phase ist für den naturwissenschaftlich-physikalischen Humanismus die Suche nach dem reinen Code – hier also der Mathematik – und den Möglichkeiten, mit seiner Hilfe wahre Texte zur Darstellung von Wirklichkeiten zu formulieren, in einem gewissen Grundverständnis abgeschlossen.⁵⁴³ Dazu schreibt der Philosoph Edmund Husserl, Begründer der Phänomenologie, in seinem Werk über den Umschwung im wissenschaftlichen Weltbild: „Mathematik als Reich echter objektiver Erkenntnis (und Technik unter ihrer Leitung), das war für Galilei und schon vor ihm im Brennpunkt des den ‚modernen‘ Menschen bewegenden Interesses für eine philosophische Welterkenntnis und eine rationale Praxis. Es muß Maßmethoden geben für alles, was Geometrie, was Gestaltenmathematik in ihrer Idealität und Apriorität umfaßt. Und die ganze konkrete Welt muß sich als mathematisierbar-objektive erweisen, wenn wir jenen einzelnen Erfahrungen nachgehen und alles an ihnen vorausgesetztermaßen der angewandten Geometrie zu Unterstellende wirklich messen, also die entspre-
Grössing 1983, S. 222– 225. Krafft 1991, S. 364. Dass die Mechanismen der Natur „der Mathematik, und zwar ihr allein, zu entnehmen sind“, das ist ein Gedanke, den vor Leibniz in aller Konsequenz Galilei und Descartes zu Ende denken, so Artur Buchenau in Descartes: Prinzipien der Philosophie, S. III.
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chenden Maßmethoden ausbilden. Wenn wir das tun, muß sich die Seite der spezifisch qualitativen Vorkommnisse i n d i r e k t m i t m a t h e m a t s i e r e n . “⁵⁴⁴ Galileis Zeitgenosse René Descartes, Haupt des Rationalismus und berühmtester Philosoph seiner Generation, bringt die Entwicklung dann insofern integrativ zum Abschluss, als er eine Universalmathematik, eine mathesis universalis, anstrebt und in seinem philosophischen Methodentraktat fordert, dass jegliches Denken more geometrico/‚nach mathematisch-geometrischer Sitte‘, das heißt: nach dem Modell mathematischer Erkenntnissicherheit, erfolgen müsse.⁵⁴⁵ Sein Grundsatz lautet: „Nach meiner Ansicht geschieht alles in der Natur auf mathematische Art (apud me omnia fiunt mathematice in natura)“.⁵⁴⁶ Insbesondere müsse auch bei der Erkenntnis Gottes das Streben dahingehen, eine quasi-mathematische Gewissheit auf Basis untrüglicher Nachweise zu erlangen.⁵⁴⁷ (Wir denken an Luthers Sola scriptura-Postulat.) In dieser philosophischen Endposition der humanistischen Entwicklung zeigt sich, so Artur Buchenau in seiner Descartes-Ausgabe, die Erneuerung „des Platonischen Idealismus“⁵⁴⁸ und eben gerade nicht eines Lukrezischen Materialismus, wie neuerdings Greenblatt behauptet.⁵⁴⁹
Husserl 1962, S. 37. „In der Auslegung der Galileischen Selbstverständlichkeit einer universalen Anwendbarkeit der reinen Mathematik ist folgendes zu betrachten. In jeder Anwendung auf die anschaulich gegebene Natur muß die reine Mathematik ihre Abstraktion von der anschaulichen Fülle fahren lassen, während sie doch das Idealisierte der Gestalten (der Raumgestalten, der Dauer, der Bewegung, der Deformation) unberührt lässt.“ (ebd.). Descartes: Discours II, 11– 13. Descartes in einem Brief vom 11. März 1640 an seinen vertrauten Freund Mersenne. In: Descartes: Correspondance, S. 36; zitiert nach Descartes: Prinzipien der Philosophie, S. III. So Descartes in den ‚Meditationes‘ von 1641, V,7,79. Descartes: Prinzipien der Philosophie, S. XIII. Greenblatt 2012; siehe dazu Knape 2015c.
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Abb. 28a: Erasmus von Rotterdam. Kohlezeichnung von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1520. Paris, Louvre.
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Abb. 28b: Erasmus von Rotterdam mit Terminus, dem Gott der Grenze. Holzschnitt von Hans Holbein d.J. Die Unterschrift lautet: ‚Wer Erasmus selbst nicht sehen kann, der soll wissen, dass dieses Bild ihn dem Leben entsprechend darstellt.‘
7 Das Novum Instrumentum des Erasmus von Rotterdam Ab dem Jahr 1514 kursierte in Europa unter Fachleuten eine Art theologischer Mythos. Er besagte, dass man in Spanien die erste vollständige und kritische Druckausgabe der Bibel herausbringe und dass davon schon Teile fertig seien. Man hörte auch, dass in Venedig ein ähnliches Projekt geplant sei. Der berühmte humanistische Gelehrte Erasmus von Rotterdam war betroffen (Abb. 28a und 28b). Er hatte schon länger als zehn Jahre an seiner Hieronymus-Ausgabe gearbeitet, bei deren Planung auch eine Edition des Neuen Testaments, also der christlichen Teile der Bibel, vorgesehen war. Nun konnte man aus Rom hören, dass das konkurrierende Großunternehmen der Complutenser Polyglotte in Spanien Früchte zu tragen begann. Erasmus, der eine Mitarbeit abgelehnt hatte, zögerte jetzt keine Minute länger.⁵⁵⁰ Unter größter Anspannung, mit Hilfe einiger anderer Gelehrter und in der vergleichsweise kurzen Zeit von nur acht Monaten schuf er seine kritische Edition des Neuen Testaments, die 1516 in Basel bei Froben erschien. Der Ruhm des Erasmus wurde durch diese allseits bewunderte Leistung so gesteigert, dass er 1536 als einziger erklärter Katholik von den Basler Reformatoren im protestantischen Basler Münster wie ein Heiliger mit großem Pomp zu Grabe getragen wurde. Seine später mehrfach revidierte Ausgabe des Neuen Testaments (NT), die heute natürlich überholt ist, blieb im Protestantismus jahrhundertelang verbindlich. Diese bei aller zeitgenössischen Kritik doch immer auch zu Recht hoch gerühmte Edition entstand nicht wie die Complutenser Polyglotte im Hinterhof der Macht, sondern im Vorhof des Protests. Erasmus wartete nicht auf Rom, auch wenn er seine Ausgabe des NT dem Papst widmete und später dessen Zustimmung bekam. Ohne auf fremde Autoritäten zu warten, veröffentlichte Erasmus seine kritische Edition, als sie fertig war, ohne Verzug unter dem Titel Novum Instrumentum. Erst ab der zweiten Auflage von 1519 bekam das Werk den Titel Novum Testamentum. Im Jahr 1516 beschleunigte nicht zuletzt auch der Basler Druckerverleger Johannes Froben, der im Vorwort ausdrücklich auf seinen Kapitaleinsatz hinweist, die Drucklegung. Jedes so opulent gestaltete Buch der Zeit musste mit großem Kapitalinvestment vorfinanziert und dann so rasch wie möglich auf den Markt geworfen werden, damit es sich amortisierte. Die Zahl der Verlegerpleiten war in dieser Frühzeit des Buchdrucks sehr groß.⁵⁵¹ Insofern ist das Basler NT des
Eckert 1967, Bd. 1, S. 213 – 251. Knape/Till 2008, S. 231– 304, hier S. 250 – 256. DOI 10.1515/9783110546927-008
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Erasmus zugleich ein Exponent des frühkapitalistischen Systems. Auch in diesem Punkt unterscheidet sich die Basler Ausgabe von der Complutenser Polyglotte, die – wie schon an anderer Stelle gesagt – ein Ergebnis traditionellen Mäzenatentums ist. Luther war 1516 glücklich über die Textausgabe und glaubte, damit endlich die vera scriptura, die wahre Schrift in Händen zu halten. Nur der Kommentar gefiel ihm nicht in allen Punkten. Ansonsten benutzte er diese Ausgabe sofort für seinen Unterricht. Für seine eigene NT-Übersetzung ins Deutsche stützte er sich dann später (1521) neben dem traditionellen lateinischen ‚Vulgata‘-Text (dessen NT-Teil er so gut wie auswendig kannte) auf die zweite Auflage des Erasmus-NT von 1519. Erasmus selbst wusste nur zu gut, dass allzu hochfliegende Einschätzungen seiner Arbeit nicht angebracht waren; er hoffte mit gutem Grund, revidierte Neuauflagen veranstalten zu können. Noch zu seinen Lebzeiten entstanden bis 1535 insgesamt fünf immer wieder verbesserte Ausgaben. Für die Erstauflage standen Erasmus in Basel nur vier griechische Handschriften zur Verfügung und keine von ihnen war vor dem elften Jahrhundert entstanden. Das spanische Team um die Polyglotte hatte da ganz andere Möglichkeiten. Tausend Jahre trennten die Überlieferungszeugen des Erasmus also von den antiken Originalmanuskripten. Philologenkunst musste in seinem Fall dem Originalwortlaut nachhelfen. Luther wusste davon nichts. Am schlimmsten stand es um die Apokalypse des Johannes. „Erasmus hatte nur eine Handschrift mit einem zwischen den Zeilen geschriebenen griechischen Kommentar,“ schreibt der amerikanische Erasmus-Forscher Roland H. Bainton.⁵⁵² Der Text der Apokalypse musste also erst als Extrakt gewonnen und für den Drucker neu abgeschrieben werden. Erasmus überließ das einem Gehilfen, der beim Abschreiben Fehler machte. Als Autor nahm sich Erasmus weder jetzt noch später ausreichend Zeit, die Abschrift zu überprüfen. In der Handschrift fehlten die fünf letzten Verse der Apokalypse, die Erasmus dann selbst vom Lateinischen ins Griechische zurückübersetzte.⁵⁵³ War das nun endlich das gesicherte Wort Gottes? Luther jedenfalls glaubte das. Trotz aller zweifellos vorhandenen eigenen, inneren Vorbehalte zögerte Erasmus nicht, für das Neue Testament eine Art Authentizitätsversprechen abzugeben. Er schrieb das Neue und Mutige seines Unternehmens dem Text gleich auf die Stirn. Auf dem Titelblatt des Erstdrucks nennt er seine Heilige Schrift nicht Neues Testament, sondern Novum instrumentum omne, also ‚das ganze neue Beweismittel oder Zeugnis‘; Instrumentum kann aber auch ‚Werkzeug‘ heißen.⁵⁵⁴
Bainton 1972, S. 130. Delitzsch 1861, siehe insbesondere S. 13 – 14. Holeczek 1986, S. VIIIf.
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Wer, wenn nicht Luther, muss von diesem Beweismittel, von dieser Urkunde, wie man instrumentum auch übersetzen könnte, begeistert gewesen sein? Sowohl ‚neu‘ als auch instrumentum bekommen bei Erasmus einen ganz neuen Klang. Am Beginn der vier kanonischen Evangelien des NT schreibt er über das MatthäusEvangelium die Bemerkung (siehe Abb. 29): ‚Die vier Evangelien gemäß Bürgschaft der ältesten lateinischen Exemplare, und entsprechend der griechischen Wahrheit von Erasmus von Rotterdam, Professor der hl. Theologie, mit Sorgfalt Punkt für Punkt durchgesehen [d. h. sorgfältig in Bezug auf Richtigkeit geprüft, also ‚textkritisch‘ revidiert]‛. Quatuor evangelia ad vetustissimorum exemplarium latinorum fidem, et ad Graecam veritatem ab Erasmo Roterodamo sacrae theologiae professore, diligenter recognita. ⁵⁵⁵
Hier nun also lag sie vor, die ganze und wiederhergestellte Wahrheit. Ein sprachsensibler Schriftausleger wie Luther konnte bei dieser Überschrift, wenn er wollte, assoziativ einen wortspielerischen Fingerzeig erkennen. Denn das Wort für Glauben/fides ist hier mit den lateinischen Quellen verknüpft, das Wort Wahrheit/ veritas hingegen mit den griechischen. Ja, Erasmus spricht in sehr harter Fügung sogar von der ‚griechischen Wahrheit‘, die er über die lateinische stellt.⁵⁵⁶ Dies druckt Erasmus ausdrücklich auch über die anderen Teile seiner Ausgabe (so über die Apostelbriefe, wo die ‚griechische Wahrheit‘ sogar vorangestellt wird).⁵⁵⁷ Die Ausgabe versprach, dass man zum ersten Mal seit den Evangelisten wieder Christi Wort in gesicherter und authentischer Form lesen konnte. Dem originalen griechischen Bibeltext fügte Erasmus eine neue lateinische Übersetzung für den gelehrten Alltagsgebrauch hinzu sowie eine Auslegung durch kritische Anmerkungen und eine auch für Laien gedachte Erklärung in Form einer lateinischen Paraphrase. Damit wurde die alte lateinische ‚Vulgata‘ aus dem 4. Jh. n.Chr. als überholt gekennzeichnet. Erasmus stellte diese alte Übersetzung des Kirchenvaters Hieronymus im Vorwort explizit, wenn auch vorsichtig, in die zweite Reihe. Hart geht er mit den lateinischen Interpreten, Abschreibern und Korruptoren der Schrift (interpretes, scribae, depravatores) ins Gericht,⁵⁵⁸ wie wir es ja auch schon
Erasmus: Novum Instrumentum, Quartuor Evangelia, Bl. Ar. Holeczek 1986, S. VIIIf. Erasmus: Novum Instrumentum, Ad Romanos, Bl. Ar. Erasmus: Apologia, S. 96 f.
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Abb. 29: Beginn der Evangelien (gr./lat.). In: Erasmus von Rotterdam: Novum Instrumentum. Basel, Johann Froben, 1516 (= VD16 B 4196).
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bei Regiomontan in ganz anderem Zusammenhang kennengelernt haben. Für Erasmus ist klar, warum er philologisch handeln musste: „Durch Irrtum und Blindheit der Schreiber wurden früher die heiligen Codices verderbt, wie sie auch heute noch allenthalben verderbt werden. Hieronymus hat [mit seiner lateinischen ‚Vulgata‘-Version] weder allein alles wiederhergestellt, noch konnte er es.“⁵⁵⁹ Mit seiner eigenen lateinischen Neuübersetzung entlockte Erasmus dem Bibeltext nun in vielen Fällen ein ganz neues Verständnis, das von dem des Kirchenvaters Hieronymus abwich und unter den Zeitgenossen eine rege Diskussion auslöste. So interpretierte Erasmus das griechische Wort logos an einer prominenten Stelle des NT zu Recht als die fließende Rede, als den mündlich vorgetragenen Redetext und wählte dafür das lateinische Interpretament sermo. Mit dieser Lösung stand Erasmus im Einklang mit dem Gebrauch des Wortes Logos etwa in der aristotelischen Rhetorikschrift. Dem Rotterdamer schwebte also „das Bild Christi als der Beredsamkeit Gottes“ vor, wie Roland H. Bainton schreibt; und weiter: Diese Übersetzung von Joh 1,1 habe „Aufsehen gemacht“. Die ‚Vulgata‘ bot die Übersetzung „Im Anfang war das Wort“, engte also mit dem lateinischen Begriff verbum (‚Wort‘) das Verständnis auf die reine Sprachlichkeit als solche im linguistischen Sinn oder gar auf das einzelne Wort ein. Seit der Neuausgabe von 1519 übersetzte Erasmus an dieser Stelle mit sermo und betont damit die Text- und Redeperspektive des Sprechereignisses. „Man warf ihm dies als völlige Neuerung vor und verdächtigte ihn, die Inkarnation herabzusetzen. Er bewies durch Zitate aus den Kirchenvätern, dass er kein Neuerer war, auch abgesehen von der Tradition, sagte er, ist sermo die bessere Übersetzung. Das griechische Wort, das es wiedergibt, ist logos, was sowohl die dem Universum innewohnende Vernunft meint wie die Vernunft, die sich in der Sprache ausdrückt, nicht einfach in einzelnen hervorgestoßenen Wörtern, sondern in sinnvoller Rede. Verschiedene lateinische Wiedergaben sind möglich: ratio, oratio, sapientia.“⁵⁶⁰ Wir kennen dieses Problem aus Goethes ‚Faust‘, wo der Gelehrte Faust über eben diese Übersetzungsvarianten ins Grübeln gerät. Bainton schreibt weiter: „Sie alle übertrifft die Umschreibung eloquentia vere theologica, die göttliche Beredsamkeit, die Überredungskunst Gottes. In seinem Traktat über die Ausbildung der Prediger bekräftigt Erasmus, dass die Bezeichnung sermo allein für Christus verwendet wird. Menschen werden manchmal Söhne Gottes genannt und sogar Götter, aber niemals das Wort Gottes. Christus war sermo. Wir sollen die sermones predigen. Dies
Erasmus: Ratio, S. 136 f. Bainton 1972, S. 136.
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war die christliche Form der Beredsamkeit, auf die Erasmus seine Hoffnungen für die Erneuerung der Welt setzte.“⁵⁶¹ Die erste kritische Ausgabe des NT war im Jahr 1516 einfach eine Sensation. Luther reagierte elektrisiert und versuchte noch im Erscheinungsjahr, indirekt per Brief in ein theologisches Fachgespräch mit Erasmus über den beigegebenen Kommentar zum Thema Rechtfertigung bei Paulus einzutreten. Luther fühlte sich zu dieser Zeit noch nicht selbstsicher genug, auch noch zu unbekannt, als dass er gewagt hätte, selbst zu schreiben. Er wählte den Weg über Georg Spalatin, der Luthers Anfrage als die eines ihm bekannten „Priesters aus dem Augustinerorden“ weiterleitete.⁵⁶² Unter der Perspektive der Intellectual history ist die ErasmusAusgabe der christlichen Teile der Bibel der absolute Kulminations- und Höhepunkt des philologischen Humanismus. Im Widmungsschreiben an Papst Leo X., der die Ausgabe zwei Jahre später approbiert, profiliert sich Erasmus auch deutlich als Reformtheologe und fordert lange vor Luther eine „Wiederherstellung und Erneuerung der christlichen Religion“, eine restitutio im Sinne des Renaissance-Denkens: „Denn da es mir ganz klar war, dass die herausragende Hoffnung und der ganz entschieden heilige Anker, wie man sagt, für die Wiederherstellung und Erneuerung der christlichen Religion darin liegt, dass alle, die sich auf Erden zur christlichen Philosophie bekennen, besonders die Lehrsätze ihres Autors [d. h. die Decreta Christi, laut Marginalie der 2. Aufl.], aus den Schriften der Evangelisten und Apostel annehmen, in denen jenes einst aus dem Herzen des Vaters zu uns gekommene Himmelswort noch bei uns lebt, atmet, wirkt und zu uns spricht (meiner Ansicht nach so wirksam und so gegenwärtig wie nirgends sonst); und da ich zudem sah, dass jene Heilslehre viel reiner und lebendiger aus den Adern selbst entnommen, also aus den Quellen selbst geschöpft wird als aus Tümpeln oder [lediglich abgeleiteten] Bächen, so haben wir das ganze sogenannte ‚Neue Testament‘ gemäß der sicheren Grundlage des griechischen Ursprungs kritisch bearbeitet, nicht leichtfertig oder mit geringer Mühe, sondern unter Heranziehung vieler Manuskripte beider Sprachen [griechischer und lateinischer], und zwar nicht der erstbesten Handschriften, sondern der ältesten und korrektesten.“⁵⁶³ Jetzt, schon ein Jahr vor dem Wittenberger Thesenanschlag, konnte Luther endlich überzeugt sein, das authentische Gotteswort als Schriftwerk in Händen zu halten. Auf diese Gewissheit konnte sich nun alles gründen. Wir können sagen, dass die nun gegebene humanistisch-philologische Textgewissheit für ihn zum Bainton 1972, S. 136. Erasmus: Correspondence (Nr. 501), S. 165 – 169; Eckert 1967, Bd. 2, S. 328. Erasmus: Novum Instrumentum, Praefatio ad Leonem X, Bl. aaa2v; Übers. leicht variiert nach Eckert 1967, Bd. 1, S. 249.
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Präzertum, zu einer Vorgewissheit wurde, die der theologischen Deutungsgewissheit vorangeht, ihr Fundament bildet. Wesentliche Punkte dessen, was Luther brauchte, waren bei Erasmus vorformuliert. Das betrifft insbesondere das neue Methodenbewusstsein. Auch Erasmus ist klar, dass Wahrheit eine Frage der Methode ist. Daher stellt er seiner sensationellen Ausgabe des NT eine Methodus voran, eine Methodenschrift für Theologen, in der uns das Wort ratio als lateinische Übersetzung von gr. methodos wiederbegegnet. In der zweiten Auflage von 1519 wurde diese Methodenschrift erweitert und erhielt den Titel ‚Ratio theologica‘. Freunde hätten ihn gedrängt, schreibt er, diese „Methodenlehre bzw. Ratio des theologischen Studiums (methodus ac ratio theologici studii)“ zu schreiben.⁵⁶⁴ Die Methodos, also der Weg des Vorgehens, legt fest, was Wahrheit ist. Für den Theologen ist es wichtig, „den Weg (die via) zu kennen, wie man das Geschäft anzupacken hat. Und genug sputet sich, wer nirgends vom Weg abweicht.“⁵⁶⁵ Erasmus formuliert zu dieser Zeit bemerkenswerte Grundsätze, die uns klar machen, wieso Aleander auf den Gedanken kommen konnte, Erasmus stecke hinter den wichtigsten der unter Luthers Namen veröffentlichten Schriften: Manche erklären den Papst, manche die Konzile zu entscheidenden Autoritäten, heißt es etwa bei Erasmus, und dann weiter: „Wird nicht durch Dogmen dieser Art ein ungeheures Fenster für die Tyrannei geöffnet, falls eine so große Vollmacht auf einen ruchlosen und verdorbenen Menschen fällt?“⁵⁶⁶ Der Theologe „muss sichere Grundpfeiler haben, auf die er das übrige beziehen kann“.⁵⁶⁷ Solch ein Grundpfeiler ist die textlich gesicherte Heilige Schrift: Sola scripura. Darum müssen die Theologen endlich weg von ihrer Fixierung auf Kommentare und andere Sekundärquellen. Der Theologe halte sich „vor allem und zuvörderst bei den Quellen auf (in primis et potissimum versetur in fontibus)“.⁵⁶⁸ Hütet euch, „die reinsten Quellen (purissimi fontes) der Philosophie Christi“, also die Heilige Schrift, die ja die „einzige Quelle (unicus fons)“ der Religion ist, mit „menschlichen Gesetzen (leges humanas)“ zu vermischen. Die Schrift „bleibe die sichere Grundfeste (solidum fundamentum), die keinem Hauch der Meinungen oder den Stürmen der Verfolgung weichen wird“.⁵⁶⁹ Denn „aus diesen Quellen strömt doch die ganze Theologie“.⁵⁷⁰ Es gibt natürlich Menschen, die die Heilige Schrift zwingen wollen, ihren
Erasmus: Ratio, S. 118 f. Erasmus: Ratio, S. 120 f. Erasmus: Ratio, S. 208 f. Erasmus: Methodus, S. 58 f. Erasmus: Methodus, S. 76 f. Erasmus: Ratio, S. 200 f. Erasmus: Methodus, S. 68 f.
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„vorgefassten Ansichten“ zu dienen. Dem muss man widerstehen. Die Schrift ist das Richtmaß für alle menschlichen Ansichten.⁵⁷¹ Diese Grundsätze stammen nicht etwa von Luther 1521, wie man meinen könnte, sondern von Erasmus 1516. Ja, Erasmus formuliert auch die letzte Legitimation des Schrift-Ansatzes. Die religiöse Schriftfixierung ist die wahre Imitatio Christi, denn Jesus selbst gibt das Vorbild für den ganz auf die Schrift bezogenen Theologen ab: „Fast nichts behauptet er [Jesus], was er nicht durch das Zeugnis der Schrift [also des Alten Testaments] bekräftigt.“⁵⁷² Argumentiert Luther in seiner Wormser Rede nicht ähnlich? Als Erasmus 1516 das NT herausbrachte, war das humanistisch gesonnene Rom begeistert. Papst Leo X. schickte einen herzlichen Dankensbrief für die Widmung des Werkes. Der Brief wurde ab der zweiten verbesserten Ausgabe des Jahres 1519 als Empfehlungsschreiben jeweils am Anfang der weiteren Auflagen abgedruckt. Der Papst lud Erasmus auch nach Rom ein. Sein Ruhm hatte den Höhepunkt erreicht. Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn Erasmus die Einladung hätte annehmen können und in Rom zum Berater des Papstes in der Luther-Sache geworden wäre und nicht Johann Eck, jener Eiferer und Leipziger Konkurrent Luthers, der dann nach Rom reiste, um die Bannandrohungsbulle vorzubereiten? Wie kompliziert die Verhältnisse schon 1519 geworden waren und wie sich das Verhältnis der deutschen und römischen theologischen Parteien bereits zugespitzt hatte, zeigt gerade der Abdruck des genannten päpstlichen Empfehlungsbriefs zur zweiten Auflage des Erasmischen Neuen Testaments im Jahr 1519. Der Basler Drucker Johannes Froben hat nämlich den Papstbrief mit einer Holzschnittrahmung versehen, die die theologische Konfliktlage bestens ausdrückt und die Autorität der päpstlichen Äußerung ins Gegenteil verkehrt (Abb. 30a).⁵⁷³ Der in die Mitte der Seite gedruckte Brief ruht im Holzschnittrahmen auf einer unten angebrachten Leiste allegorischer Figuren, die alles Negative der Welt versammelt. In einem Spruchband über dieser Leiste wird darauf hingewiesen, dass das Motiv der Macht der Verleumdung von dem antiken Maler Apelles stammt. Eine Signatur rechts oben in der Ecke weist den Rahmen als Werk von Ambrosius Holbein aus. Die untere, allegorisch anklagende Leiste beginnt links mit der Figur der Dummheit (Ignorantia). Sie steht auf derselben Ebene wie der nun folgende Thron (mit der Eule als Symbol der Weisheit versehen, die aber aus dem Bild wegschaut), auf dem eine Figur mit erhobenem Zeigefinger sitzt. Der Erasmus: Methodus, S. 62 f. Erasmus: Ratio, S. 254 f. Erasmus von Rotterdam: Novum Testamentum omne. Basel, Johannes Froben, 1519 (= VD16 B 4197). Die untere Bildleiste ist auch abgebildet bei Eckert 1967, S. 258.
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Abb. 30a: Päpstliches Empfehlungsschreiben mit umgebendem Holzschnitt von Ambrosius Holbein. In: Erasmus von Rotterdam: Novum Testamentum omne. Basel, Johannes Froben, 1519, Bl. Aav (= VD16 B 4197).
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Abb. 30b: Detail aus dem umgebendem Holzschnitt des päpstlichen Empfehlungsschreibens von Ambrosius Holbein. In: Erasmus von Rotterdam: Novum Testamentum omne. Basel, Johannes Froben, 1519, Bl. Aav. Ex. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Signatur: Bb griech. 151901-1 (= VD16 B 4197).
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Sitzende blickt nach rechts auf die weiteren Figuren des Lasters: Verdächtigung (Suspicio), Rechtsverdrehung und Verleumdung (Calumnia), Neid (Invidia) und Lüge (Fraus). Den Schluss bildet die abseits stehende Buße (Paenitudo) mit dem Schleier der Scham. Über dieser unteren Schiene des Lasters erheben sich links und rechts aufstrebend nach oben die Seitenleisten mit den Kardinaltugenden. Links aufsteigend Gerechtigkeit und Mäßigung, rechts von ganz unten aufsteigend Wahrheit, Tapferkeit und Nächstenliebe. Das Wichtigste aber findet ganz oben auf der Figurenschiene über dem Papstbrief statt. Von links drängen die Deutschen (Germani) mit ihren Kriegsscharen in zeitgenössischen Landsknechtstrachten unter ihrem legendären Heerführer Arminius heran. In der Mitte treffen sie auf den ebenso legendären römischen Verlierer Quintilius Varus mit seinen Truppen, die nach rechts unter der Flagge Roms (SPQR) fliehen. Der dramatische Höhepunkt befindet sich in der oberen rechten Ecke (Abb. 30b). Wir sehen hier, wie ein deutscher Landsknecht auf einem am Boden liegenden Mann kniet. Der Bildentwerfer gibt hier eine Szene wieder, die sich bei dem römischen Historiographen Florus findet (‚Epitome‘ 30):⁵⁷⁴ Ein Germane schneidet einem römischen Patronus, einem Anwalt, die Zunge heraus und näht ihm den Mund zu. Mit der Zunge in der Hand sagt er auf unserem Basler Holzschnittrahmen, Florus zitierend, zu dem Patronus: Tandem vipera sibilare desiste/„Du Natter, hör endlich auf zu zischen“. Unverkennbar haben sich die Basler Drucker mit diesem Holzschnitt auf die Seite des romkritischen Protests geschlagen und damit dem Werk des Erasmus einen neuen Rahmen gegeben. Durch den Rahmen wird das Papstwort gebannt, angegriffen und widerlegt. In dieser Erzeugung eines performativen Widerspruchs spiegelt sich die schon im Jahr 1519 durch die antirömische Agitation eines Ulrich von Hutten und durch die Reformationsdebatte eingetretene aggressive Stimmung gegenüber Rom wider. Hieß es bisher „Rom hat gesprochen, damit ist die Sache beendet“ (Roma locuta, causa finita), so wird nun die Parole ausgegeben: Bringt Rom zum Schweigen, ja, reißt dieser Schlange die Zunge heraus und näht ihr den Mund zu. Was für eine Entwertung der vom Bild umzingelten freundlichen Worte des Papstes!
Für diesen Hinweis danke ich Thomas Zinsmaier.
8 Sola scriptura In den Jahren 1482 bis 1484 ließ der Freisinger Bischof Sixtus von Tannenberg von einem Bamberger Buchdrucker einige hundert Gebets- und Messbücher herstellen. Anschließend ließ er jedes einzelne Exemplar dieser Auflage genau vergleichend Korrektur lesen. Für ihn waren immer noch die Erfahrungen des Manuskriptzeitalters maßgeblich. Das heißt: Er konnte sich nicht vorstellen, dass es seit Erfindung des Buchdrucks möglich geworden war, jedes Druckexemplar genau identisch im Wortlaut mit allen anderen Exemplaren einer Auflage herzustellen. Dem Bischof war wichtig, dass diese heiligen Texte absolut korrekt im Wortlaut waren. Die Erfahrungen mit den herkömmlichen Schreiberwerkstätten, in denen man auch zu dieser Zeit noch Bücher als Manuskripte herstellte, ließen bei ihm nämlich bei der Korrektheitsfrage Zweifel aufkommen. Der Bischof weist in einem Vorwort darauf hin, „dass die handschriftlichen Meßbücher durch Nachlässigkeit der Schreiber, durch das hohe Alter des Pergaments und der Tinte so fehlerhaft seien, dass Gefahr bestehe, dass sich bei der Feier des heiligsten Geheimnisses Irrtümer und Fahrlässigkeiten einschlichen“.⁵⁷⁵ Um die Zweifel am Texbestand auszuräumen ordnete der Bischof nicht etwa an, einen Probeabzug mit den Textvorlagen zu vergleichen und dann die notwendigen Korrekturen zu veranlassen, wie wir es heute machen würden, sondern ließ unter immensem Zeitaufwand und hohen Kosten Exemplar für Exemplar vergleichen. Auch der Regensburger und der Augsburger Bischof ließen in diesen Jahren ähnliche Exemplarvergleiche vornehmen. Der Regensburger Bischof Heinrich von Absberg gibt im Vorwort des ‚Regensburger Missale‘ seine Furcht zu erkennen, eines Tages für eventuelle Textverderbnis solch heiliger Bücher zur Rechenschaft gezogen zu werden.⁵⁷⁶ Ihm erschien vor diesem Hintergrund das Resultat der buchstabengenauen Korrektur jedes einzelnen Druckexemplars wie ein Wunder. „Und siehe“, schrieb er, „wie durch ein göttliches Wunder fand man, dass (der Text) in den Buchstaben, den Silben, den Worten, den Redeteilen, der Interpunktion, den Rubriken und allem was sonst nötig ist, in allen (Exemplaren) überall (in omnibus et per omnia) mit den Vorlagen unserer Domkirche in Ordnung und Einteilung übereinstimmte.“⁵⁷⁷ Diese Äußerung macht deutlich, dass damals noch viele Zeitgenossen jedes Buch als Individuum innerhalb einer Familie von leicht vari-
Geldner 1961, S. 101. Geldner 1961, S. 101. Liber missalis secundum breviarium chori ecclesie ratisponensis. Regensburg, Johann Sensenschmidt und Johann Beckenhaub, nach 1485,Vorwort (= GW M 24660); Geldner 1961, S. 104; Müller 1995, S. 213; Knape/Till 2008, S. 231– 304. DOI 10.1515/9783110546927-009
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anten Handschriften betrachteten, die niemals identisch sein konnten – daher der beschriebene Aufwand des Exemplarvergleichs auch bei gedruckten Büchern. Diese Fälle lassen uns erahnen, welche Revolution die Erfindung des Buchdrucks in der Zeit um das Jahr 1500 immer noch bedeutete und warum die Zeitgenossen in Lobeshymnen über diese Erfindung ausbrachen. Das moderne Ingenieurswesen mit seinen alltäglich gewordenen technischen Verfahren hat unser Denken längst in besonderer Weise geprägt, wie Marshall McLuhan schon in den 1960er Jahren konstatierte, und wir wundern uns eher, dass der Regensburger Bischof in der industriellen Serialität ein Wunder erblickt. Dieses Unverständnis gegenüber den technischen Leistungen des neu aufgekommenen Buchdrucks, insbesondere gegenüber den Phänonemen industrieller Standardisierung, Korrektheit, Einheitlichkeit und Serialität, können wir heute kaum noch nachvollziehen. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, seitdem der Buchdruck erfunden wurde, hat der Westen eine besondere Lern- und Denkgeschichte sowie insgesamt eine historisch unvergleichlich sprunghafte Entwicklung durchgemacht, die der genannte Marshall McLuhan unter dem Begriff der Gutenberg-Galaxis mit der neu entstandenen Buchkultur und dem nun möglichen Kult der Schriftlichkeit verbindet.⁵⁷⁸ Dieses heute, nach 500 Jahren, an sein Ende gekommene Zeitalter können wir in Abwandlung von Luthers methodischer Leitformel und einem anderen Wortverständnis das Sola scriptura-Zeitalter nennen. Im allgemeinen Bewusstsein dieses Zeitalters wird das ‚Wunder‘ der technischen Schriftlichkeit in Form des Gedruckten in unvergleichlicher Weise zum Bürgen für das Wahre und Geltende. Der Anfang des 16. Jahrhunderts steht noch unter dem Signum der alten Mündlichkeit. Erst die so noch nie dagewesenen publizistischen Kämpfe der Reformationszeit heben die Schriftlichkeit unumstritten auf den Schild. In Worms hat man 1521 schon die ersten Erfahrungen mit den neuen gutenberggalaktischen Verhältnissen gemacht. Der Protest und voran Luther gelten seit 1518 als die unbestrittenen Meister neuer Methoden der Publikumsbeeinflussung durch gedruckte Schriften. Nicht zuletzt deswegen verbietet die Macht in Worms, dass Luther sich schriftlich zu den Anklagepunkten äußert. Der kaiserliche Orator Von der Ecken verlangt nach dem ersten Verhör am 17. April 1521 in barschem Ton nur noch situationsangemessene Mündlichkeit. Es ist das Mündlichkeitsprinzip, das bis heute im deutschen Prozessrecht verankert ist. In Worms hat die Macht von unkontrolliert zirkulierenden Schriftwerken des Protests die Nase voll. Man will hier keine dimissiven Gelehrtenschriftwechsel mehr sehen. Gegen den Sola scriptura-Protestler will man unter der Gegenparole solo verbo, „Allein durch das
McLuhan 1968.
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mündliche Wort“, nur noch die mündliche Kommunikationsweise des situativen Tribunals zulassen. Nur durch sie, so die Prämisse, wird das Individuum Luther, dessen Körper dann spricht und nicht bloß ein Blatt Papier, greifbar. Der Kaiser stimme an diesem Tag der Bedenkzeit zu, sagt Von der Ecken am Ende der Sitzung, „doch nur unter der Bedingung, dass du deine Äußerungen nicht schriftlich vorlegst, sondern die Sache in mündlichen Worten darlegst“ (ea conditione ne scriptam sententiam tuam proponas, sed verbis exaequaris).⁵⁷⁹ Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte man in einer Welt gelebt, in der kein Buch dem anderen glich, so gut wie jedes Textexemplar desselben Werkes von allen anderen in irgendeiner Weise abwich, auch bei heiligen Texten. Textmutabilität oder -Instabilität waren normal. Nun aber gab es technisch gesicherte Textstabilität. Durch den Buchdruck konnte man endlich auch den Markt mit Standardwerken in ganz ungewohnt hohen Auflagen pflastern. So wurde das griechischlateinische Neue Testament des Erasmus in der für damalige Verhältnisse sehr hohen Auflage von mehr als 1500 „gleichen“ Exemplaren gedruckt.⁵⁸⁰ Damit war der Markt erst einmal gesättigt und kein interpretierender Theologe kam ab diesem Moment um seine Edition herum, auch Luther nicht, der sie begrüßte. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, wie sehr das gedruckte Wort in der Zeit um das Jahr 1500 die Suggestion des Ewigen, materiell Fixierten, des wie in Erz Gegossenen erzeugte. Plötzlich gibt es keine Mutabilität des Heiligen Textes mehr, so die Suggestion. Das führt zu einer gewissen Umdrehung der Bewusstseinsverhältnisse. ‚Schrift‘ war bisher nur eine Chiffre für die medial überdauernde Überlieferung des Glaubens, kein philologischer Begriff, denn Schrift war unzuverlässig. Nur im Zusammenwirken mit der flankierenden Interpretationstradition des Glaubens, über die Wächter wachten, war der Heilige Text inhaltlich gefestigt. Das soll ab jetzt anders werden, weil es inzwischen methodisch möglich ist. Luther kann sein Sola scriptura-Prinzip so apodiktisch und mit der erstaunlichen, von ihm gewählten Ausschließlichkeit vortragen, weil er sich in einem Moment der theologischen Entwicklung sieht, der den Ruf nach einer Reformtheologie rechtfertigt. Neue Methoden und Möglichkeiten stehen bereit. Luther ist auch ein Exponent des wissenschaftlichen Neuerungs- und Aufbruchsoptimismus des Renaissance-Humanismus. Aus ihm kann er für seine theologischen Positionen unter anderem drei Argumente beziehen. Vom ersten, dem Argument der neuen Möglichkeiten für Textstabilität war schon die Rede. So etwas hatte es vor dem Buchdruck noch nicht gegeben. Das zweite Argument ist das Argument der neuen Textgewissheit. Diese Gewissheit
RA 2, S. 549, Z. 9 f. Holeczek 1986, S. XXIX.
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wird für Luther und seine Zeitgenossen durch die humanistische Wissenschaft geliefert. Während die Naturkundler sich jetzt zu Naturwissenschaftlern zu wandeln beginnen, wandeln sich die Theologen, so Luthers Ideal, von institutionell bewachten Traditionsinterpreten zu radikalen Offenbarungsinterpreten, das heißt, zu Interpreten des Originals der göttlichen Mitteilungen. Die Natur sagt nur etwas über sich selbst, daher muss der Glaube eine andere sichere Quelle finden. Das kann nur die Schrift gewordene Offenbarung sein. Luther glaubt an das Versprechen der neuen humanistischen Editionsphilologie, sie gewährleiste methodisch korrekt, mittels Emendation und Konjektur, also durch Verbesserungen und gut begründete Ergänzungen, die Originaltexte wiederherzustellen. Das gilt auch für die Bibel. Die ‚Vulgata‘ des Hieronymus, mit der sich viele zufrieden geben, ist eben nicht genug.⁵⁸¹ Die Gegner des ErasmusProjekts schreien empört, es sei ein Verbrechen, die lateinischen Evangelien zu verbessern. Ihnen antwortet Erasmus, dass solche Worte eines unverständigen Fuhrmanns würdiger seien als eines Theologen. Diese Leute dächten, es sei ganz in der Ordnung, wenn ein ungeschickter Schreiber beim Abschreiben einen Fehler macht, hielten es dann aber für ein Verbrechen, ihn zu berichtigen. Den echten Text könne man nur durch Vergleichung mit den früheren Handschriften feststellen und dann hat man auch das Recht der Wiederherstellung des ursprünglichen Textes.⁵⁸² Solch einem Bekenntnis zur Rückkehr zu den objektiven Ursprüngen kann sich Luther inhaltlich nur anschließen. 1518 trägt er in einem Brief zur Wittenberger Universitätsreform seinem Freund und Vorgesetzten Spalatin das humanistische Credo „Zurück zu den Quellen“ vor.⁵⁸³ Damit verbindet sich für Luther das dritte Argument, das der Textoriginalität. Es ist im Kern theologisch unterfüttert und besagt, dass Gott für die Origo-Sicherheit, also die Herkunfts- und Ursprungssicherheit sorgt, weil er will, dass jeder Gläubige Zugang zur wahren Offenbarung hat. Die Schrift sichert die Verbindung zu Gott. Das hatte Luther schon dem von ihm so geschätzten Buch Josua entnehmen können. Wer klug und mit weiser Einsicht handeln will, sollte sich an dieses Buch halten, wo dem Lenker des Volkes Israel von Gott befohlen wird, in der Rede nie vom heiligen Buch abzukommen. Luther wird diese Stelle später wie folgt übersetzen: „Und las das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem munde komen, sondern betracht es tag und nacht, Auff das du haltest und thust aller ding nach dem, das drinnen ge-
Erasmus: Methodus, S. 44 f. Erasmus: Apologia, S. 100 f. WA Briefwechsel 1, Nr. 117, S. 262; Berbig 1906, S. 47.
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schriben stehet. Als denn wird dir gelingen, in allem das du thuest, und wirst weislich handeln können“ (Josua 1, 8). Die Philologen setzen bei ihrer Philologenbibel nur um, was Gott will. Luther stellt sich gegen die katholische Theorie, dass die Bibel im Wandel der Zeiten ein autoritatives Auslegungs- und Richtigkeits-Wächteramt mit Gesetzgeberbefugnis braucht. Die neue Gegenposition lautet: Zeitgerechte Vermittlung erreicht man durch wissenschaftliche Arbeit und Übersetzung. Das impliziert, dass Gott seine Offenbarung schützt. Für die Bibeledition heißt dies, dass wissenschaftliche Emendation autoritativen Lehramtsspruch ersetzt. Wahrheit kann nicht durch Machtspruch ermittelt werden. Die Theologie erforscht die Wahrheit, aber sie verwaltet sie nicht mehr priesterlich. Ein amtlicher Wächterrat (Konzil) oder gar ein oberster Wächter (Papst) der Glaubensüberlieferung ist bei Luther nicht mehr vorgesehen. Wir können hierin den Konflikt einer wissenschaftlichen mit einer mystischen Position erkennen. Luther lässt gelten, was die Theologie gerade erwirtschaftet hat, aber nicht Papstentscheide, die sich demgegenüber letztlich wie die Fortsetzung der Offenbarung verhalten, die für Gläubige verbindlich und unumstößlich ist. Autoritativ ist für den Reformator nur der Text der Heiligen Schrift selbst. Er lässt sich nicht nur durch Philologie gewinnen, sondern kann auch allen Gläubigen durch Sprachstudium oder durch Dolmetsche vermittelt werden. Dieser Gedanke stammt, wie so vieles andere, ebenfalls von Erasmus von Rotterdam. Erasmus stellte zum Entsetzen mancher seiner Kritiker unter den Theologen demonstrativ das in der Kirche Übliche, nämlich das Vorrecht des Lateins, in Frage, indem er in seiner Ausgabe zuerst den griechischen Text und erst danach den lateinischen platzierte. Dieses Zurücksetzen des römischen Codes ist kein Zufall. Hier soll ausdrücklich etwas zurechtgerückt werden. Darüber hinaus spiegeln die Paraphrasen des NT, die Erasmus mitliefert, seine Überzeugung wider, dass die Heilige Schrift popularisiert, also übersetzt werden darf und muss. Das war bisher kirchenamtlich untersagt. Erasmus sähe die Bibel gern in den Händen „des Bauern, des Schneiders, des Steinmetzen, der Dirnen, Zuhälter und Türken“.⁵⁸⁴ Daraus wird Luther 1521/1522 die Konsequenzen ziehen und seine deutsche Übersetzung des NT vornehmen, die für alle Schichten des Volkes gedacht ist. Jede Übersetzung beruht auf bestimmten Prämissen und bringt auch im Fall der Bibel unvermeidlich ganz bestimmte dogmatische Annahmen zum Ausdruck. Sprachliche Übersetzungsvarianten können theologische Positionen ins Wanken bringen. Eine solche Stelle ist Matth 4,17, wo Jesus sagt: „Bereut, denn das Him-
Vorwort an den Leser zu den Paraphrasen in Novum Testamentum. In Erasmus: Opera Omnia, Bd. 7, Bl. **2v.
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melreich ist nahe.“ In der kirchenamtlichen ‚Vulgata‘ steht: poenitentiam agite, was man verstand als: „tut Buße“. In seinem Novum Instrumentum von 1516 übersetzte Erasmus ins Lateinische: peniteat vos/„seid reuig“, und später: resipiscite/„ändert euren Sinn“, wodurch er eine sprachliche Verbindung mit dem Bußsakrament beseitigt. Luther hat dies für seine neue Sicht der Buße genutzt.⁵⁸⁵ Und damit sind wir bei den Contra-Positionen gegen die Verabsolutierung des Sola scriptura-Postulats. Schon die zeitgenössische Kritik am Novum Instrumentum des Erasmus sah einen ganz klaren Zusammenhang zwischen der Abkehr von der kirchenamtlichen lateinischen ‚Vulgata‘ und dann eintretenden, kaum noch berechenbaren dogmatischen Verfallserscheinungen. Die ‚Vulgata‘ galt, weil ihre Offenbarungsversion von der Tradition und den Wahrheitswächtern über die Jahrhunderte bestätigt worden war. Die Erasmische philologische Version des Neuen Testaments bedeutete demgegenüber einen epochalen Bruch. Der ehemalige Pariser Universitätsgelehrte Pierre Cousturier, genannt Sutor, sah in seiner umgehend erfolgten Kritik an der Erasmus-Edition die Folgen für die altkirchliche Dogmatik nur zu deutlich. Für ihn war klar, dass alles in Zweifel stürzen würde, „wenn die ‚Vulgata‘ in einem einzigen Punkt im Irrtum sei, denn dann würde die gesamte Autorität der Heiligen Schrift hinfällig, Liebe und Glaube würden ausgetilgt, Ketzerei und Kirchenspaltung müssten überhand nehmen, der Heilige Geist würde gelästert“, auch „ das Ansehen der Theologen wäre erschüttert,“ und „die katholische Kirche selbst würde bis in ihre Fundamente zusammenbrechen.“⁵⁸⁶ Solche Kirchenspaltungs- und Katastrophenszenarien malte auch ein anderer Zeitgenosse, Eduard Lee, der spätere englische Bischof von York, an die Wand. Freilich ging es bei seinen Einwendungen um ein Kernstück der religiösen Dogmatik. Erasmus hatte zentrale Beweis-Verse zur Trinitätslehre weggelassen bzw. geändert, worauf Lee empört reagierte. Ähnlich wie der Franzose Sutor prophezeite der Engländer Lee, dass bei solchen Änderungen gegenüber der sakrosankten ‚Vulgata‘ „die Welt wieder von Ketzerei, Kirchenspaltung, Zwietracht, Unruhen, Streit und Stürmen gefoltert werden würde“.⁵⁸⁷ Worum ging es? Erasmus hatte in seiner Ausgabe des NT die für die Trinitätslehre wichtigen Verse 7– 8 in 1 Joh 5 weggelassen. Zunächst den Satz „Denn drei sind, die Zeugnis geben im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind eins“; sodann den Satz „und sind drei, die Zeugnis geben auf der Erde, Geist, Wasser und Blut, und diese drei sind eins“. In den ihm zur Ver Bainton 1972, S. 136. Pierre Cousturier zit. in Apologia Adversus Debacchationes Sutoris. In: Erasmus: Opera Omnia, Bd. 9, Col. 760E–F. Eduard Lee zit. in Responsio ad Notationes Edvardi Lei in Erasmum Novas. In: Erasmus: Opera Omnia, Bd. 9, Col. 279F.
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fügung stehenden griechischen Handschriften fand Erasmus den ersten dieser beiden Verse gar nicht und der andere hatte die Form „Es gibt drei Zeugen, den Geist, das Wasser und das Blut, und diese drei stimmen überein“. Diese Lesart ließ Erasmus drucken und erntete damit große Entrüstung unter Dogmatikern wie dem genannten Engländer Eduard Lee. Da Erasmus immer um Ausgleich bemüht war, wollte er den Kritikern gerecht werden. Unüberlegt versprach er in einer Entgegnung, den fehlenden Vers wieder einzusetzen, „wenn er in einer einzigen Handschrift gefunden werden könnte. Es wurde eine solche vorgelegt – in England hergestellt, was wir heute wissen und Erasmus damals argwöhnte. Eine andere wurde in Spanien entdeckt, und er vermutete, dass diese von der englischen abgeschrieben war. Nichtsdestoweniger fügte Erasmus den Vers, seinem Versprechen getreu, in seiner dritten Ausgabe von 1522 ein, gleichzeitig aber die Zweifel an seiner Echtheit verstärkend, indem er in seinen Anmerkungen die Entdeckung einer griechischen Handschrift in Antwerpen erwähnte, bei der die umstrittenen Worte in zeitgenössischer Schrift an den Rand gesetzt waren. In der Ausgabe von 1527 berichtete Erasmus, dass sein Freund Bombasius in Rom den Codex Vaticanus geprüft und dabei festgestellt hatte, dass der Vers fehlte.“⁵⁸⁸ Der Codex Vaticanus Graecus 1209 aus dem 4. Jh. n.Chr. galt damals als wichtigster antiker Manuskriptzeuge des NT. Noch heute gilt er zusammen mit dem Codex Sinaiticus als die bedeutendste neutestamentliche Handschriftenüberlieferung. Ähnliche Probleme wie bei der gerade besprochenen Stelle gab es auch an anderen wichtigen Bibelstellen. Hier sei nur noch auf die bekannte VaterunserDoxologie (Matth 6, 13) hingewiesen: „Denn dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“, die in der ‚Vulgata‘ fehlt, aber in den mittelalterlichen griechischen Handschriften des Erasmus vorhanden war.⁵⁸⁹ Die aus dem 4. Jh. n.Chr. stammende ‚Vulgata‘ stützte sich bei ihrer Version (ohne Doxologie) auf viel ältere, antike griechische Quellen, die Erasmus nicht mehr zur Verfügung standen. Was war da nun richtig? Auf diese Frage gibt es drei Antworten und eine Anschlussfrage: Die Philologie sagt damals, richtig ist, was sich aus dem gesamten Quellenvergleich als wahrscheinlichste Lösung anbietet. Der Protest sagt, richtig ist, was der Gläubige mit Gottes Hilfe als richtig erkennt. Die Macht sagt, richtig ist, was die Tradition und das Wächteramt im Namen Gottes als verbindlich feststellen. Die Anschlussfrage des modernen Skeptikers lautet: War die Überlieferungs-Kontingenz, also der unübersehbare historische Zufall bei der Textüberlieferung gottgewollt? Die Frage führt an die Abgründe des Problems heran. Denn man kann dann
Bainton 1972, S. 133 f. Bainton 1972, S. 134.
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fragen, warum ein gütiger Gott seine Anhänger so schlecht behandelt, warum er sie mangels ausreichender Offenbarungsinformation in Gewissensnöte und so viele Gewaltausbrüche aus Glaubensgründen stürzt. Für einen unerschütterlich an die Güte und Kooperationsbereitschaft seines Gottes glaubenden Luther sieht das anders aus, und für ihn sind die Antworten im Kern ganz einfach: Wir Menschen haben alle Offenbarungsinformationen, die wir brauchen. Jeder Gläubige kann gut damit umgehen, wenn er sich kundig macht. Gott informiert einfach, will keine Abgründe, sondern bürgt für die Perspicuitas, also die Klarheit der Schrift. Die Schrift ist „für sich selbst die sicherste, einfachste, offenste und ihr eigener Interpret, die allen alles beweist, beurteilt und erleuchtet“, schreibt Luther in der Vorrede zu seiner Assertio über die Artikel, die von Papst Leo X. verdammt worden waren.⁵⁹⁰ Darum gibt es auch nur einen einfachen wörtlichen Schriftsinn, um Interpretationswillkür auszuschließen, was eintreten würde, wenn man allegorische Deutungen zuließe. Die Probleme, die das Sola scriptura-Postulat für die Schultheologie aufwarf, traten in ihren theoretischen und methodischen Konsequenzen schon im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts hervor. Der Philosoph Wilhelm Schmidt-Biggemann hat die wichtigsten zusammengestellt. „Der Text der Bibel musste als inspiriert anerkannt werden,“ schreibt er, „damit ihm die Wahrheit innewohnte, die geglaubt werden musste.“ Der Text der Bibel musste „mit überprüfbaren hermeneutischen Methoden ausgelegt“ werden können, und das „hatte nun zirkulär zur Voraussetzung, dass der Text der Bibel historisch-kritisch gesichert war, das heißt, dass der Urtext in seiner ursprünglichen, geoffenbarten Form zur Verfügung stand“. All dessen war sich Flacius Illyricus, ein Reformator aus Luthers SchülerGeneration, bewusst, und suchte daher eine biblische Hermeneutik als methodisch sicheres Interpretationsverfahren zu etablieren.⁵⁹¹ Die methodischen und die theoretischen Probleme waren damit jedoch nicht beseitigt. Auf katholischer Seite gingen sie als Kritik in die Gegenrechnung ein. Dort fragte man sich, ob sich das Sola scriptura-Postulat wirklich gut begründen ließ, was in Worms auf Seiten der Macht für Verwirrung sorgte. Luther selbst hatte ja einen klaren Standpunkt formuliert, doch konnte man das wirklich alles so einfach sehen? Für Luther ist die Heilige Schrift eindeutig und klar, und jedes Kind kann sie in ihrem einfachen Buchstabensinn verstehen. Die Schrift selbst ist in sich höchst gewiss, leicht und höchst offen zugänglich für das Verstehen sowie höchste Instanz für ihre eigene Auslegung (ipsa per sese certissima, apertissima,
WA Werke 7, S. 97, Z. 23 f. Schmidt-Biggemann 2007.
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sui ipsius interpres).⁵⁹² Die alte Interpretationsmethode des vierfachen Schriftsinns, die auch allegorische Deutungen der Bibel zuließ, kommt dagegen von außen und ist für Luther als Einfallstor für päpstliche Manipulationen abzulehnen. „Der Literalsinn, der tut’s. Da ist Leben, Trost, Kraft, Lehre und Kunst inne. Das andere ist Narrenwerk, wiewohl es sehr glänzt“, heißt es in den Tischreden.⁵⁹³ Doch das ist Theorie. Denn dass der kundige Theologe in der praktischen Exegese gar nicht um die Allegorese herumkommt, zeigt Luthers eigene Auslegungspraxis (die er als besonderes Gnadengeschenk für sich selbst reklamierte). Jene Punkte, bei denen man in der Kampfgestimmtheit des Anfangs in der Beurteilung noch nicht weit genug gekommen war, wurden bald von prominenten altgläubig-katholischen Theologen systematisch diskutiert. Zu ihnen gehört der eine Generation später wirkende Robert Bellarmin (1542– 1621). Seine systematischen Argumente hat Schmidt-Biggemann ebenfalls zusammengestellt: Klarheit? Auch nach einer gründlichen Emendation der Heiligen Schriften bleiben dunkle Stellen übrig. Eindeutigkeit? „Jedem aufmerksamen, rhetorisch geschulten Leser der Bibel musste bald auffallen, dass es sich bei den biblischen Texten um verschiedene Sorten handelte: Um dogmatische Deutungen des Wirkens Christi, um Predigten, um Dichtungen, um Schriftbeweise, um Prophetien, um Geschichtsschreibung.“⁵⁹⁴ Der einfache, wörtliche Schriftsinn konnte daher gegenüber dem mehrfachen, insbesondere auch allegorischen Sinn kein eindeutiges Interpretationsmonopol beanspruchen.
Das sah auch Flacius Illyricus schon teilweise so. „Was macht die besondere Autorität der Tradition aus, die die exegetischen Inhalte und die Entscheidungssituationen gleichermaßen prägt? Die Antwort, gegen den reformatorischen Biblizismus gerichtet, ist knapp und kaum widerlegbar. Sie lautet: Weil die Bibel selbst Ergebnis der Tradition ist.“⁵⁹⁵ Bellarmin formuliert als argumentativen Beleg für diese These fünf Argumente: a. die Existenz einer vormosaischen Kirche; b. die Rolle der Tradition vor der Redaktion des Alten Testaments durch Esra. Diese beiden Argumente betonen, dass es auch in der rein mündlichen Phase der jüdischen Vorgeschichte des christlichen Glaubens Quellensicherheit gegeben haben muss, und unterstellen, dass auch Lutheraner die Dignität der mündlich vermittelten Tradition des alten jüdischen Glaubens jenseits jeder Skripturalität nicht leugnen können;
WA Werke 7, S. 97, Z. 23. WA Tischreden 5, Nr. 5285, S. 45. Schmidt-Biggemann 2007, S. 71. Schmidt-Biggemann 2007, S. 75.
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die Geschichte der Abfassung des Neuen Testaments [zwischen 70 und 100 n.Chr.], in der auch mit mündlichen Traditionsvorgängen zu rechnen ist; d. die Redaktion des Kanons des Neuen Testaments, die nicht ohne Kontingenzfaktoren ablief und e. die unsichere biblische Fundierung der christlich-trinitarischen Dogmatik, die dennoch keine Zweifel an der Trinitätslehre auf protestantischer Seite generiert.⁵⁹⁶
Schmidt-Biggemann 2007, S. 75 – 78.
9 Die Schwierigkeiten bleiben Als moderner Beobachter steht man ratlos vor diesem Hin und Her unter Theologen und den Unvereinbarkeiten der Sola scriptura-Debatte des 16. Jahrhunderts. Unter den jeweiligen Prämissen der im Konflikt befindlichen Gruppen lassen sich allerlei Pro- und Contra-Argumente finden. Wer könnte darüber objektiv entscheiden? Letztlich hängt alles am Glauben. Glaubenswahrheiten aber lassen sich nicht mit den üblichen Verfahren beweisen. Sie lassen sich nur glaubhaft machen und können am Ende geglaubt werden oder nicht. Was die radikale Sola scriptura-Position angeht, so muss man ihr unter der Perspektive historischer Langzeitbetrachtung bescheinigen, dass sie in der gegebenen Situation am Anfang des 16. Jahrhunderts die einzig richtige Antwort auf die von Luther selbst gesehenen Herausforderungen war. Luthers Analyse der religiösen Verhältnisse seiner Zeit im Allgemeinen und der kirchlichen Missstände im Besonderen verlangte nach einer Diskussion der Fundamente und nach einem Alternativkonzept. Welchen anderen sicheren Argumentationsgrund hätte Luther gegen die subjektive Willkür der Macht und ihrer Autoritäten anführen können, wenn nicht die einzige als verbindlich geglaubte Quelle religiöser Sicherheit: die von ihm als objektives Fundament betrachtete Heilige Schrift? Unter den christlichen Zeitgenossen zog sie niemand in Zweifel. Diese zentralperspektivische Lösung stand zudem im Einklang mit den anderen wissenschaftlichen Bestrebungen des zeitgenössischen Renaissance-Humanismus. Luther stellte der Klerikerwillkür mit der unumstrittenen Schrift eine vermeintlich objektive Erkenntnisquelle entgegen. Die Stellvertreter-Hypertrophie hatte die Päpste zu religiösen Gesetzgebern werden lassen, die nicht mehr auf die eigentliche Quelle ihrer Macht achteten; so Luthers Vorwurf. Die herrschende Praxis gab ihm Recht. Fundamentalrhetorisch gesehen besteht der erste Schritt jeglicher rhetorischer Intervention, d. h. der mentalen Wechselerzeugung, im Erwecken von Zweifel, im Erschüttern fester Haltungen oder Meinungen auf Seiten der Adressaten. Luther tat das publizistisch-dimissiv (per Distanzkommunikation) und dann vor Ort in Worms auch situativ. Er fing 1517 bei sich selbst an und hatte bald mit seinen Verbündeten den Mut, Zweifel an den institutionellen Kräften der herrschenden Macht und ihren Axiomen zu artikulieren. Doch das ist nur der erste Schritt des Persuasionsprozesses. Jedes rhetorische Überzeugungsgeschehen muss schließlich wieder zu neuer Gewissheit (wie stark sie auch sein und wie lange sie auch immer währen mag) führen. Persuasion, der Kern des rhetorischen Geschehens, ist in ihrem Kern wiederum der Wechsel von Dogma A zu Dogma B.⁵⁹⁷ Knape 2015a, S. 12– 14, 17 und 50 f.; Knape 2015b, S. 173 f. und 169. DOI 10.1515/9783110546927-010
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Das sich als eine solche feste Vorstellung im Menschen als neue Gewissheit darstellende Denken und Fühlen aber braucht einen neuen axiomatischen Grund. Luther liefert ihn mit seinen Ausschließlichkeitsformeln und unter ihnen vor allem mit der Sola scriptura-Formel. Egal für wie tragfähig man heute Luthers Aufbruchsrhetorik und seinen radikalen Schrift-Reduktionismus hält, damals traf genau das den Nerv der Zeit. Die 1521 schon mehr als hundert Jahre währende Wiedergeburts-, Renovations-, Reformations- und Neuanfangsdebatte fand im Sola scriptura-Fanal ihren epochalen Ausdruck. Der neue Schriftwerk-Kult der Gutenberg-Galaxis, der humanistische Methodenruf „Zurück zu den Quellen“ und die in weiten Teilen der Bevölkerung aufbrechende Sehnsucht nach Rückkehr zum ursprünglichen, zum goldenen Zeitalter religiöser Ursprünglichkeit verbanden sich mit diesem Fanal. Der in Deutschland weit verbreiteten Niedergangs- und Verfallsanalyse und der unter den Gutgläubigen entstandenen Wahrheitsirritation musste sach-methodisch und kommunikativ-rhetorisch etwas Absolutes entgegengesetzt werden. Für Luther konnte dieses Absolute allein die Urquelle der Offenbarung, die Schrift, sein. Diese Haltung entsprach – wie gesagt – zugleich der neuen humanistischen MethodenAxiomatik. In der kulturellen Aufbruchstimmung des Renaissance-Humanismus, vor allem auch in den Wissenschaften, wo überall nach solchen sicheren Grundlagen und Gewissheit schaffenden Quellen gesucht wurde, war Luthers Anspruch absolut plausibel. Der konsequente Rekurs auf eine unhintergehbare, objektive Quelle faszinierte viele Zeitgenossen und war einer der Garanten des Erfolgs der Reformationsbewegung, die sich dann ja auch bald in ganz Europa ausbreitete. Selbst dem humanistisch gebildeten päpstlichen Nuntius Aleander, Luthers Gegenspieler in Worms, stand der Neuansatz, der sich mit Luthers Sola scripturaPrinzip verband, nur zu klar vor Augen (zur Erinnerung: man studierte die Bibel im bis dahin üblichen Theologiestudium nicht). Zunächst reagiert er als methodisch konservativer, von der Schultheologie geprägter Kleriker noch aufgebracht. Am 14. Dezember 1520 schreibt er nach der Lektüre von Luthers ‚Babylonischer Gefangenschaft‘ kopfschüttelnd seufzend nach Rom. Wie schwierig es doch inzwischen für ihn geworden sei, überhaupt noch mit Luther als Vertreter des Protests ins Gespräch zu kommen, wenn dieser das Lehr-Amt und die ganze scholastische Theologentradition ablehne: „Wie und vor welchen Richtern sollte man disputieren, wenn die höchste Autorität des Papstes beiseite gesetzt wird? Verwirft er doch in seinem ‚Protest‘ als Richter die Theologen, die Philosophen, die Lehrer beider Rechte als ganz unbedeutende und als vorzugsweise verdächtige Men-
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schen.“⁵⁹⁸ Wenig später, am 17. Dezember 1520 berichtet Aleander, immer noch empört, dass er sich in einer langen Rede vor dem deutschen Hofrat zu Luthers Irrtümern ausgerechnet auf Luthers Methodik des Schriftbeweises habe einlassen müssen, um bei den Deutschen überhaupt noch argumentativ punkten zu können: „Ich berührte in erster Linie die Punkte, die besonders den Laien, den verheirateten Doktoren im Hofrate anstößig sind. Auch führte ich zur Widerlegung viele Aussprüche der alten Konzilien, der griechischen und lateinischen Kirchenlehrer an, ohne dass ich von den Theologen der letzten siebenhundert Jahre ein Wort entlehnen durfte; denn von diesen will Luther nichts wissen“.⁵⁹⁹ Aleander begreift nach und nach, welche inhaltlichen Voraussetzungen erforderlich sind,wenn man ab jetzt mit den Theologen der Reformation mithalten will. Vermutlich zur Überraschung seiner römisch-kurialen Briefempfänger rückt er wenige Monate später deren Vorstellung von Wirkungen kirchlicher Strafen zurecht und macht sich – das ist das Besondere – Luthers theologische Methodik ebenfalls in einem gewissen Sinn zu eigen. Auch in Rom sei es an der Zeit, nicht mehr nur die nachbiblische Theologentraditon aufzurufen, sondern ebenfalls zurück zu den biblischen Quellen (ad fontes) selbst zu gehen. Humanisten unter den Römern sollte das nicht überrascht haben. Aleander fordert jetzt, sich auch in Rom dem Bibelstudium zu widmen: „Man denke auch ja nicht mit der Exkommunikation auf sie Eindruck zu machen, über die sie nur spotten; hier heißt es, einen Keil auf den andern setzen und diese Leute mit ihren eigenen Waffen besiegen. Möchte doch der Papst auf Ew. Herrlichkeit Verwendung hin durch Gunstbeweise und Belohnungen einige tüchtige Talente zum fleißigen Studium der Bibel ermuntern, die dann nach dem Beispiel der Deutschen ihre Federn in Bewegung setzen, aber zur Verteidigung des Glaubens, wozu Gott ihnen seinen Beistand leihen wird. Zur Widerlegung dieser Schurken sind uns jetzt weniger die großen Doktoren der Theologie vonnöten, von denen sie nichts wissen wollen, wie man wohl sieht.“⁶⁰⁰ Erasmus lieferte wesentliche Ideen des Reformprogramms; Luther setzte diese und andere durch und hielt dabei seinen Kopf hin. Was er in seinem Kampf für die religiöse Wahrheit als kommunikative Verfahrensweisen durchgesetzt hat, machte Schule, diffundierte aus dem religiösen Diskurs in die anderen Diskurse der Neuzeit des Westens. Wir können es zusammenfassend, vielleicht auch nur provisorisch, moderne Debattenkultur nennen. Aus der Wahrheit in der Schrift wurde in der Gutenberggalaxis unter laizistischen Vorzeichen das Prinzip von Wahrheiten in Schriften, die in einer Gesellschaft zirkulieren und Wahrheiten konsti-
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 1, 14. Dezember 1520), S. 37. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 3, 17. Dezember 1520), S. 52. AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 16, 5. April 1521), S. 151 f.
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tuieren. Was wahr ist, ist bei uns heute Glaubenssache des Einzelnen. Auf einem ganz anderen Blatt steht in der Moderne, was gesellschaftlich gilt. Das wird in den modernen Gesellschaften des Westens in sozialen Debatten ermittelt und in politischen Entscheidungsprozessen festgelegt.
Luther, Macht und Protest
10 Wann beginnt die Moderne? Gibt es eine Tradition des sozialen Rechts auf Protest in der westlichen Welt und kann sie historische Anfänge geltend machen? Die heutigen Verfassungen vieler westlicher Staaten sehen ein Recht auf Protest und abweichende Meinung ganz selbstverständlich vor. Ob es dabei bleibt, wird sich zeigen. Dahinter stehen historische Erfahrungen und politische Traditionen. Aber gibt es überhaupt Traditionen? Manche Historiker neigen heute dazu, Traditionen unter Konstruktionsverdacht und damit in Frage zu stellen. Und in der Tat ist jede Tradition das Ergebnis der rhetorischer Anstrengung, ein gemeinsames Handeln und Denken aus Vergangenheit und Gewohnheit zu begründen. Insofern sind Traditionen immer sozial konstruiert. Und Mächtige wie Protestierer stützen die Legitimität ihres Handelns regelmäßig auf lebendige oder sinnstiftende Traditionen. Regelmäßig findet sich da auch der Verweis auf erste Anfänge oder historische Schlüsselmomente, denen man Traditionsstiftung zuschreibt. Es sind nicht selten Momente des Bruchs und des Aufbruchs, die langfristig wirkende Denkbewegungen in Gang gesetzt haben. Der ursprünglich polnische, später in Oxford lehrende Philosoph Leszek Kolakowski sieht das ähnlich. Unter dem Eindruck der westeuropäischen 1968er Revolte kommt er 1970 zu folgendem Befund: „Seit mehreren Jahrhunderten machen die heranwachsenden Generationen – jede auf eigene Faust – dieselben Entdeckungen: Die Autorität habe keinen Wert; an nichts dürfe man allein deshalb glauben, weil es von den angeblichen Autoritäten zu glauben aufgegeben ist; keine Wahrheit und kein Wert verdienen die Anerkennung, sie seien ewig oder allgemeingültig und so weiter.“⁶⁰¹ In dieser Diagnose steckt eine zeitliche Zuordnung. Kolakowski sieht den von ihm beschriebenen Revolten-, ja, Revolutions-Habitus aufstrebender Generationen seit „mehreren Jahrhunderten“ etabliert. Er äußert sich nicht konkret zum Anfang und zu den zeitlichen Bedingungen dieser Entwicklung, doch es ist klar, dass er den Ausgangspunkt in der europäischen Renaissance und nachfolgend in der Aufklärung sieht. In der Tat hat die Renaissance in Europa die Dinge seit dem 14. Jahrhundert neu sortiert und bestimmte Weichen gestellt. Will man jedoch in der historischen Entwicklung darüber hinaus noch den entscheidenden Moment auslösender Dynamik bestimmen, kommt man nicht umhin festzustellen, dass sich in den Wormser Ereignissen des Jahres 1521 der intellektualgeschichtliche Ansatz der Renaissance auskristallisiert hat; zwar in religiösem Gewand, doch mit Kolakowski ed. Reinisch 1970, S. 1; Kolakowski ed. Oelmüller/Dölle/Piepmeier 1978, S. 378; vgl. dazu Fuhrmann 1993, S. 23 – 32. DOI 10.1515/9783110546927-011
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weitreichenden Folgen.Vergessen wir nicht: Als Luther auftritt, diskutiert man mit Blick auf die Ideale der klassischen Antike und der spätantiken Kirchenväter bereits seit mehr als hundert Jahren unter den Renaissanceintellektuellen die Begriffe Wiedergeburt, Renovatio und Reformation. Inzwischen war auch schon der erste politische Freiheitstraktat in dichterischer Form entstanden.⁶⁰² Der Gedanke, dass etwas in Fluss geraten war, schreckte nicht mehr ab, machte bei vielen eher Hoffnung. Luthers besonderer Einfluss auf die weitere Entwicklung ergibt sich daraus, dass er einige wichtige Punkte des intellektuellen Programms des Renaissance-Humanismus aus den esoterischen Gelehrten-Zirkeln in die Welt der religiösen Empfindungen breiter Kreise überführen konnte. Damit bekamen sie eine ganz neue Wucht. Der erlernte und erlebte Glaube, der letztlich immer auch ein geprägtes Gefühl ist, erweist sich auch hier als der größte Wirkfaktor. Die von Luther religiös verstandene Debatte ging nach ihm in säkularisierter Form weiter. Insofern kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass das Wormser Redegeschehen eine maßgebliche Vorbedingung modernen Denkens ist. Jede Generation wirft die Frage auf, warum wir heute so leben, wie wir leben. Können wir erklären, warum es heute so ist, wie es ist? Gibt es Momente in der Weltgeschichte, die alles zum Kippen bringen? Im Rückblick sind solche Analysen und Kausalketten-Konstruktionen möglich, und jede Zeit formuliert dazu ihre eigenen Einsichten. Wir stehen vor dem Paradox, dass ausgerechnet ein Theologieprofessor das Tor zur Moderne und damit zu säkularen oder, besser gesagt, laizistischen Gesellschafts- und Staatskonzepten sowie, langfristig gesehen, auch zu Toleranz und Pluralismus geöffnet hat. Damit wurde die Theologie zum Katalysator einer epochalen Neupositionierung in der Intellektualgeschichte des Westens. Aus einem Versuch der Rückkehr zum Ursprünglichen entsteht das Neue. Im Strom des Renaissance-Denkens stand Luther nicht allein, doch seine Wormser Tat bekam ein unvergleichliches Gewicht als Symbol und Impuls in Deutschland, dann in Europa. Wir können hier an das Handlungsmodell des neuen Engels von Walter Benjamin denken, der „eine revolutionäre Chance“⁶⁰³ in einem bestimmten Moment der Geschichte entdeckt. Seinem Handeln geht eine Analyse voraus, die Walter Benjamin in seiner 9. Geschichtsthese wie folgt beschreibt: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine
Knape 1992, S. 223 – 475. 17. Geschichtsthese in Benjamin 2010, S. 92.
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einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“ – und „ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“⁶⁰⁴ Luther hätte solch ein Sprechen mit Bezug auf biblische Figuren, etwa Engel, nachvollziehen können. Für ihn ist es der gefallene Engel, der Teufel, der solche Trümmer im religiösen Leben aufgehäuft hat und dem er, Luther, eine neue, zukünftige Art des Glaubens und religiösen Lebens entgegenstellen muss. Der Teufel ist für ihn konkret und er hat eine Wohnung: in Rom.⁶⁰⁵ Dass Religion und Nicht-Religion, jedenfalls der eigene Lebensstil, heute bei uns individuell gelebt werden können, hängt nicht unwesentlich mit Luthers Tat zusammen. Wenn er in seiner Theorie dem Verhältnis des Individuums zu seinem Gott die tiefenstrukturelle Idee der Intimität, Privatheit und Subjektivität ohne Einmischung der Gesellschaft zugrunde legt, dann hat er damit eine bis heute wirkende Position des geistigen Eigenrechts von Individuen formuliert. Das hatte bald auch Auswirkungen auf die Frage, wie sozial frei die Menschen sind, etwa die bis zum 18. Jahrhundert in Formen gemäßigter Sklaverei lebenden, sogenannten leibeigenen Bauern, und später dann, wie moderne Gesellschaften organisiert werden sollten. Diese politische Weiterentwicklung hat sich ohne Luther, ja, teilweise gegen sein Politikverständnis bzw. gegen seine Politikabstinenz vollzogen. Doch er hat eine Denkbewegung mit politischen Wirkungen in Gang gesetzt. Luther wendet sich gegen die alte Priesterkirche mit ihren Prinzipien und Instanzen von Autorität, Traditionalität (starres Festhalten am Gewachsenen), Sakralität, Hierarchie und ideologischem Zwangskollektivismus oder Denkdiktat. Seine neue Gläubigenkirche, in der nach dem Prinzip des allgemeinen Priestertums jeder seinen individuellen Weg zu seinem Gott finden könnte, soll auf einer einzigen objektiven Quelle der Erkenntnis (Biblizismus) beruhen und jedem seinen eigenen Gewissensfreiraum eröffnen. Davon ließen sich im Lauf der Zeit auch wichtige säkulare Prinzipien moderner Demokratien ableiten bzw. entsprechende Prinzipientransfers ins Säkulare unternehmen. Verfassungspatrioten etwa sehen das Grundgesetz im Sinne einer Analogiebildung als solch eine objektive Quelle für Maßstäbe des Handelns an. Worms legte den Grund für moderne Sichtweisen intellektueller Freisetzung des Menschen. Hier wurden die Weichen zum Aufbruch in die Moderne als Projekt des Westens gestellt. Wie gesagt, anders als manche Autoren es sehen, ist das
Benjamin 2010, S. 98. Zu Luthers Teufelsglauben siehe Obendiek 1931; Barth 1967; Oberman 1981.
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moderne Denken nicht gegen die Religion entstanden, sondern aus der Religion heraus. Freilich konnte Luther die Folgen seines Handelns für die Entwicklung der Neuzeit noch nicht absehen. Durchsetzen konnte er sich, weil die Zeit reif und die politische Konstellation in Deutschland günstig war. Es bedurfte allerdings des „Lebenswerks“ Luthers, wie es der Reformationsforscher Bernd Moeller genannt hat, um drei maßgebliche Entwicklungen in Gang zu setzen: 1. „die Reformation der Kirche“, 2. „die Spaltung der Christenheit“ und 3. die „Mitwirkung am Aufbau der Neuzeit“.⁶⁰⁶ Der letzte Punkt markiert Luthers welthistorische Bedeutung. Ob Luther in seinen theologischen Ansichten Recht hatte oder nicht und inwieweit die Reformation der Kirche nötig war, ist eine Frage des Standpunkts, letztlich eine Kirchen-Insider-Frage. Die Spaltung der Christenheit aber ist ein Wert in sich, weil damit in Europa dem Prinzip selbstbestimmter Differenzierung im Denken der Weg in die soziale Anerkennung gebahnt wurde. Geistiger Totalitarismus war ab jetzt in Frage gestellt. Entscheidend wurde die soziale Verankerung der Möglichkeit zur ideologischen Abweichung von ganzen Gruppen. Damit ist nicht das individuelle und idiosynkratische Abweichlertum gemeint, das es schon immer gegeben hat (mit unterschiedlichen Graden der Duldung durch die Umwelt). Es geht um Abweichung als sozial toleriertes, ja, gewünschtes Verhaltensprinzip jenseits des Querulantentums. Unbestreitbar ist, was für Schlussfolgerungen man nach 1521 aus Luthers eigentlich bloß religiös gedachtem Ansatz zog. Die deutschen Bauern sahen Luthers Freiheitspostulat sehr bald auch als ökonomisches und rechtliches Prinzip, für das sie kämpften. Sie waren die ersten, die wenige Jahre nach Worms Luthers Anstoß sozial zu Ende gedacht haben. Luther wollte die Freiheitsidee in theologischen Diskursgrenzen halten. Doch Freiheit ließ sich schon bald nicht mehr bändigen. Die Mächtigen waren entsetzt und erstickten im großen Bauernkrieg das neue soziale Freiheitsdenken im Blutrausch.⁶⁰⁷ Die wenige Jahrzehnte später anbrechenden Zeiten der lutherischen Orthodoxie und der neuen Machtbündnisse von Protestantismus und Staat sind da nur als Ernüchterung zu verstehen. Demgegenüber waren die Impulse bei Philosophen und Intellektuellen Europas langfristig erfolgreicher. Mit oder ohne Bezug auf Worms machten sie Worms über das Religiöse hinaus zu einem Erfolg, wenn wir die Maßstäbe moderner Demokratie anlegen. Man erkannte im religiösen Freiheitspostulat eine allgemeinere Tiefenstruktur, die von nun an aus dem intellektuellen Leben nicht mehr wegzudenken war. Ab jetzt schlugen die großen Denker nach dem Modell Luther
Moeller 2001, S. 15. Blickle 1981.
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bedenkenlos über die Stränge, um intellektuell weiterzukommen. Das gilt auch für die politischen Denker. Luther selbst war kein Aufklärer, sondern ein immer noch in der Dämonologie verfangener frommer Mann; doch er war Kirchenkritiker und darin liegt ein Kernelement des späteren aufklärerischen Ansatzes, der mit der Akzeptanz sozialer Vielfalt, Veränderung und Unruhe einhergeht⁶⁰⁸ und damit zugleich auf der fundamentalrhetorischen Position ruht, seinem eigenen Anliegen gegen Widerstände kommunikativ Geltung zu verschaffen. Luthers mutiger Auftritt hat Vieles für die Moderne erwirtschaftet bzw. für Vieles die Tür geöffnet. Unter anderem für die Akzeptanz der doppelten Wahrheit als einer erkenntnistheoretischen Möglichkeit und einem praktischen Toleranzauslöser. Das Wormser Geschehen hat langfristig den Protest als öffentliche und zulässige Einrichtung etabliert, d. h. Hegemon und Protest werden im Lauf der Zeit ideologisch und sozial-organisatorisch gleichgestellt (Prinzip der institutionalisierten Opposition bzw. des Mehrheitsprinzips bei Minderheitenschutz), wenn auch nicht funktional. Für Gläubige hat Luther den Weg für andere, neue Formen des Gottverhältnisses frei gemacht (psychologisch individuell befriedigende Lösungen werden möglich, sind nicht mehr monistisch normativ vorgegeben). Man kann das den sozialen Relativismus in Glaubensfragen nennen. Das Prinzip der Duldung öffentlicher Manifestation von Protest und damit mindestens einer zweiten Wahrheitsposition im sozialen Leben eines großen Landes konnte nicht zufällig seinen ersten Sieg in Deutschland erringen. Der deutsche Föderalismus trug schon immer das Potenzial der Teilung in sich, und es gibt im Mittelalter viele Beispiele der inneren Zersplittertheit des Reiches. Jetzt sind die Territorialfürsten so stark geworden, dass der Kaiser auf Reichsebene größte Rücksicht auf sie nehmen muss. Das verhilft dem Protest im entscheidenden Moment zum Durchbruch. Hier sei noch einmal an die in eine Karikatur übergehende Analyse des Luther-Gegners Aleander vom Februar 1521 erinnert: „Ich habe genugsam die Geschichte dieses Volkes mit ihren Ketzereien, Kirchenspaltungen und Konzilien studiert: aber noch nie ist Ähnliches geschehen. Die Empörung Heinrichs IV. gegen Gregor VII., die hier in Worms, der alten Brutstätte aller und besonders der gegen den Klerus gerichteten Fehden anhub, war dagegen noch lieblich.“ Jetzt gehe nur noch der Kaiser selbst mit Rom einher; „und das ist ja immerhin von großer Bedeutung, wenn er nicht aus Furcht vor der Volksbewegung oder auf den argen Rat seiner Umgebung hin uns im Stiche lässt“. Alle anderen sind laut Aleander im Jahr 1521 Feinde Roms. Das Problem bestehe insbesondere darin, dass die Deutschen, wie er mit der Arroganz des italienischen Renaissance-Humanisten, mit Ärger und Überraschung feststellen muss, inzwi-
Martus 2015, S. 216 – 223.
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schen auch durch „Waffen des Geistes und des Arms“ bestens ausgerüstet seien und selbst betonten, „dass sie nicht mehr die unverständigen Bestien seien wie ihre Vorfahren, dass sie den Tiber in ihren Rhein abgeleitet haben und Italien den Schatz der Wissenschaften an sie verloren habe; daher sind sie zu nie dagewesenem Trotz und Übermut gediehen und handeln daraufhin, wie es jetzt am Tage ist“.⁶⁰⁹ Luther befand sich also insgesamt in einer historisch günstigen Lage, weil sich die oberste Ebene der Macht im Reich während der kritischen ersten Jahre seines Aufbruchs in einer Phase der Umorganisation und Unsicherheit befand (neuer König 1519/1520), und die im Reichstag symbolisierte Macht des deutschen Reichs in der von Luther aufgeworfenen Religionsfrage gespalten war. Letztlich wird Luther durch die Verschränkung des religiösen und politischen Machtbereichs im Reich gerettet, denn die weltlichen Träger der Macht haben sich aufgespalten, und ein wichtiger Teil neigt ebenfalls zum Protest. Weitere kontingente Umstände begünstigen Luthers Beginnen. Zu denken ist etwa daran, dass der Kaiser 1521 den Kampf gegen die Türken organisieren muss. Das kann aber nur mit Hilfe der lutherfreundlichen Fürsten und Stände gelingen. Vielleicht hätte es ohne die Rücksichtnahme der Kaiserlichen auf das Türkenproblem keine Reformation gegeben.
AD ed. Kalkoff 1897 (Nr. 14, 15./16. März 1521), S. 151 f.
11 Einführung des Protests Zu den kulturgeschichtlich prägenden Wortschöpfungen Luthers zählt das Wort Ärgernis für den griechischen Begriff Skandalon. Luther wusste um die Problematik des Menschen, der das Ärgernis, das Skandalon, hervorruft. „Es mus ja ergernis kommen,“ übersetzt er Matthäus 18,7, „Doch weh dem Menschen / durch welchen ergernis kompt.“ Er selbst hat sich der Skandalisierung ausgesetzt, weil er seiner Sache, der Sache des Protests, gewiss war. Aus rhetorischer Sicht ist die Durchsetzung des öffentlichen Protestprinzips als sozialer Einrichtung und des Protests als eines geübten Kommunikationsverfahrens die wichtigste langfristige Errungenschaft, die ihren Ausgang bei den Worms-Ereignissen nahm. Protestierer finden sich in der Geschichte immer wieder mal, doch durch das Nichtscheitern Luthers wird der Protest im Westen langfristig zur etablierten Möglichkeit: in politischer Positionierung, sozialer Rolle, Habitus und Verfahren. Protest-Toleranz und Protest-Integration ins soziale Leben kennzeichnen heute moderne Kulturen und westlich orientierte politische Systeme. Protest-Intoleranz hingegen ist ein Kennzeichen diktatorisch-autoritärer Staaten. Was damals auf religiösem Gebiet mit Luthers Durchbruch erreicht wurde, kennzeichnet heute die modernen Gesellschaften. Die großen, den Zusammenhalt stabilisierenden Narrative, die Werte und verbindlichen Normkodifikationen können heute im Westen kontrovers diskutiert werden; Abweichung vom Mainstream bleibt stets ein geschütztes Gut. Das in diesem Rahmen voranstehende Toleranzgebot schützt die Vielfalt ideologischer, insbesondere auch religiöser Ausrichtungen. Im Protest erhebt sich die Stimme des Unterschieds zur Macht, und in ihm artikuliert sich der Wille zur Durchsetzung eigener Anliegen. Das ist der Kern auch jedes anderen rhetorischen Kommunikationsverfahrens. Unter modernen politischen Rahmenbedingungen versteht man Protest heute als ein „Kommunikationsverfahren, das auf die Artikulation eines politisch-gesellschaftlichen Anliegens zielt, welches der bis dato allgemein akzeptierten Meinung entgegensteht,“ und das anzeigt, „dass ein bestehender oder mutmaßlich drohender Missstand nicht widerspruchlos hingenommen wird“.⁶¹⁰ Der Protest hat eine friedliche Chance, weil er auf rhetorische Verfahren setzen kann. Der Sinn der Rhetorik besteht darin, Entscheidungen durch kommunikative Plausibilisierungen und nicht durch Gewalt herbeizuführen.⁶¹¹ Rhetorik kann die schwächere Sache durch Überzeugungshandeln zur stärkeren machen. Jeglicher Gherairi 2015, S. 66. Blumenberg 1971. DOI 10.1515/9783110546927-012
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Protest beruht auf dieser Möglichkeit. Protest stammt aus der Kritik, rührt Zweifel auf und führt am Ende durch rhetorisches Überzeugungshandeln zu Alternativen und neuen Haltungen.⁶¹² Der Protest hat das Ursprüngliche, Eigentliche und Neue gegenüber dem Alten und Verrotteten in Händen. Er gibt eine Antwort auf die Fragen der Gegenwart und Zukunft. Darin besteht das Protestargument. In Worms geht das Protestargument von der Feststellung des Missbrauchs und Verfalls des Kirchenwesens aus und fordert im Sinne des Renaissancekonzepts eine Wiedergeburt aus dem Geist der ursprünglichen Quellen des Christentums. In dieser Zeit gibt es aber auch noch eine andere Variante des Protestarguments. Sie zeigt sich in jenen utopischen Entwürfen von Zeitgenossen Luthers, etwa eines Thomas Morus (sein Werk Utopia gibt einer neuen politischen Literaturgattung den Namen) oder eines Thomas Müntzer, die rein literarisch oder auch schon lebensweltlich mit dem Gedanken an einen radikalen Systemwechsel spielen. In jedem Fall aber beruht das Protestargument auf einer Forderung nach Wechsel in Verbindung mit einem Zukunftskonzept. Allerdings: Wenn der Protest erfolgreich war, reorganisiert er sich als neue Macht, strebt von der bloßen Legitimität zur Legalität. Davon wird noch zu reden sein. Martin Luther teilt in Worms nicht die Welt in dem Sinn, wie schon immer Teilungen, Abtrennungen, Loslösungen und Sezessionen unter Menschen stattgefunden haben. In Luthers Wormser Redeauftritt wird in einem welthistorischen Moment eine in menschlichen Gesellschaften schon immer latent bestehende Aufteilung manifest, die ab jetzt im sozialen Denken des Westens, bald in der ganzen Welt, einen festen Platz einnehmen wird: Die Aufteilung in Macht und Protest. Immer wieder sind Haltungen des Protests im Lauf der Jahrtausende aufgetaucht, und immer wieder wurden sie von der jeweiligen Macht vernichtet. Ab Worms lernen die Menschen in Europa das Prinzip Protest zu verstehen und zu schätzen. Es beginnt im Religiösen, breitet sich bald auf andere ideologische und soziale Bereiche aus und wird am Ende zu einem Grundpfeiler neuzeitlicher Demokratien. Historisch ist Worms zunächst nur ein weltgeschichtlicher Moment aufkeimender Hoffnung, dass es Gesellschaften gelingen kann, auch bei großen Divergenzen im Denken unter ihren Mitgliedern durch rhetorisches Bemühen, durch kommunikative Überzeugungsversuche und Verhandlungen einen Ausgleich herbeizuführen. Luthers Woche in Worms liefert in einem Moment äußerst günstiger politischer Konstellationen bereits das Modell für solch einen kommunikativen, unkriegerischen Umgang mit Differenz. Mehr nicht. Die vom Phi-
Knape 2015a.
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losophen Hans Blumenberg vorgenommene Bestimmung der Rhetorik als sozialer Alternative zum physischen Krieg wurde in der frühen Neuzeit bei den konfessionellen Auseinandersetzungen im Westen nicht umgesetzt. Es blieb für lange Zeit beim Krieg, aber nicht nur. Der Protest musste zwar im Zeitalter des Absolutismus nach Amerika auswandern, doch er kam nach Europa zurück. In Nordamerika konnte er sich im Lauf der Zeit seine bis heute kaum irgendwo in der Welt so weit gehenden Rechte gegenüber der Macht sichern. Mühsam und erst sehr langsam lernte Alteuropa, wie man die sich auch heute immer noch für viele Menschen ausschließenden Prinzipien von Macht und Protest unter einem verfassungsmäßigen Dach organisiert.
12 Dialektik von Protest und Macht Wir sprechen hier davon, wie Luthers Reformideen, die im Kern zunächst auf eine Neubestimmung des Verhältnisses des Individuums zu seinem Gott hinausliefen, nach und nach eine andere, säkulare und gesellschaftliche Dimension gewannen. Im historischen Rückblick stellt sich bei solchen Überlegungen regelmäßig der teleologische Trugschluss ein. Oft meint man, alles habe so kommen müssen, weil sich alles unvermeidlich auf die später in der Entwicklung erkennbaren Strukturen zubewegt habe. Da sollten wir uns besser wieder an Aristoteles erinnern, der in seiner Nikomachischen Ethik feststellt, dass alles von Menschen Gemachte immer auch hätte anders ausfallen können. Hatte Kardinal Aleander in seiner Anklagerede vom 13. Februar 1521 vielleicht doch gute oder gar bessere Argumente als Luther? Wäre es besser gewesen, wenn er am Ende die Weichen tatsächlich in seinem Sinn hätte stellen können? Solche Überlegungen sind auch heute noch eine Frage des Standpunkts. Vermutlich sind die meisten Menschen in der westlichen Kultur froh, dass sich Luther und damit langfristig die Moderne durchgesetzt hat, doch zwangsläufig hat es so nicht kommen müssen. Es ist so gekommen wie es gekommen ist, weil kulturelle Systeme Aktor-gesteuert sind und sich immer wieder genügend solcher bewusst Handelnder fanden, die Gesellschaften kommunikativ in die plurale Richtung gesteuert haben. Tatsache ist freilich, dass in Umbruchssituationen auch das Machtargument – wie wir es unterscheidend nennen können – nie von der Hand zu weisen ist. Gegenüber dem Protestargument besteht das Machtargument immer aus einem Beharren auf lange Zeit funktionierende Traditionen, die es zu schützen gelte. Nach dem polnischen Philosophen Leszek Kolakowski kommt dieses Machtargument dem „Anspruch auf die selbstverschuldete Unmündigkeit“ des Menschen entgegen. Kolakowski entzieht mit dieser hoch aufgeladenen Formulierung dem sapere aude in Kants Aufklärungsdefinition einen Moment lang seine ins moderne Bewusstsein eingegangene Exklusivität, indem er die Gegenrechnung aufmacht. Der ursprünglich im Marxismus und also auch in Hegels Philosophie geschulte Kolakowski hebt den inneren Widerspruch seiner Formulierung im Sinne der Hegel’schen Dialektik auf, wenn er ihn in sein berühmt gewordenes dialektisches Prinzip kultureller Entwicklung integriert: „Es gibt zwei Umstände, deren wir uns immer gleichzeitig erinnern sollten: erstens, hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; zweitens, wenn die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell würde, werden wir uns wieder in den Höhlen befinden. Der Kult der Tradition und der Widerstand gegen die Tradition sind gleichermaßen unentbehrlich für das gesellschaftliche Leben; eine Gesellschaft, in der der Kult der DOI 10.1515/9783110546927-013
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Tradition allmächtig wird, ist zur Stagnation verurteilt; eine Gesellschaft, in der die Revolte gegen die Tradition universell wird, ist zur Vernichtung verurteilt. Die Gesellschaften produzieren immer sowohl den Geist des Konservativismus wie den Geist der Revolte; beide sind nötig, können aber immer nur im Konflikt, nie in einer Synthese, koexistieren.“⁶¹³ Darum musste sich Luther entscheiden, und er entschied sich für das Ärgernis, das seine Position in den Augen der anderen bedeutete. Wie Luther erkennen wir, dass die Macht im Lauf der Zeit blind wird. Nur jene Macht sieht wieder, die sieht, dass sie blind geworden ist und des Protests bedarf, um wieder sehen zu können. Nun gehört aber zur Dialektik von Macht und Protest als sozialen Faktoren, dass sie im Verlauf von Entwicklungen immer wieder die Positionen wechseln. Jeder Protest, der am Anfang Aufbruch bedeutet, nutzt sich ab, wird im Verlauf des Geschehens alltäglich und seine Protagonisten streben zur Macht. Insofern ist die Rhetorik als kommunikatives Instrument des Protests am Ende immer der Ausdruck eines Willens zur Macht. Dabei ist Macht nach dem Verständnis von Theoretikern wie Max Weber, Hannah Arendt oder Niklas Luhmann weder etwas Dämonisches noch etwas Gefährliches. Macht ist, wenn sie denn wirklich gegeben und nicht nur Gewalt oder bloßer Zwang ist, eine durch rhetorisches Überzeugen erworbene und dann vom Konsens der Mehrheit einer Gruppe oder einer Gesellschaft getragene Position.⁶¹⁴ Rhetorik will Meinungswechsel erzeugen, baut daher mit guten Gründen Zweifel gegenüber dem Überkommenen auf, strebt am Ende aber stets zur Etablierung neuer Gewissheiten.⁶¹⁵ Das können wir ein Streben zur Macht nennen. Vor diesem Hintergrund ist die Deutung Luthers durch den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan in bestimmter Weise zu verstehen. Für Lacan ist das menschliche Leben (und darin empfindet er sich in Übereinstimmung mit Luther) geprägt von Auseinandersetzungen mit einer nicht mehr wegzubekommenden Übervaterfigur (als dem symbolischen Repräsentanten der Macht) und daraus resultierenden Komponenten des Selbsthasses, wechselseitiger Zufügung von Grausamkeit und einem endlosen Wettbewerb um Macht. Der Wille zur Macht ist hier die Chiffre für eine uns mitgegebene, unersättliche Begehrensstruktur. „Die Begierde (concupiscentia) kommt ohne besonderen Anlass, wie Flöhe und Läuse“ sagt Luther.⁶¹⁶ Begehren steuert nach Lacan auch die Suche nach dem höchsten Gut. „Der Bereich des Guten ist die Entstehung der Macht.“⁶¹⁷ Für Lacan besitzt das
Kolakowski ed. Reinisch 1970, S. 1; Kolakowski ed. Oelmüller/Dölle/Piepmeier 1978, S. 378. Knape 2006a, S. 59; Knape 2006b. Knape 2015b, S. 173 – 177; Knape 2015a, S. 16 – 20. WA Tischreden 3, Nr. 3358, S. 289. Lacan 1986, S. 276; vergl. Goebel 2007, S. 140.
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Gute einen „tiefen Doppelcharakter“. Die „wirkliche Natur des Guten“ liegt demnach darin, „dass es nicht schlicht und einfach ein natürliches Gutes ist, die Antwort auf ein Bedürfnis, sondern mögliche Macht, Macht zu befriedigen. Deshalb organisiert sich jedes Verhältnis des Menschen zum Realen der Güter durch das Verhältnis zur Macht, die die Macht des anderen ist, der imaginären anderen, ihn derselben zu berauben.“⁶¹⁸ Der Protest liegt somit immer auf dem Weg zur Macht; und jede rhetorische Intervention, die den Protest zur Sprache bringt, drückt in sich schon diesen Willen zur Macht aus. Worms 1521 führte im Ergebnis zur Etablierung des Protests als einer akzeptierten sozialen Institution, die Abweichung, Differenz und Opposition als gesellschaftlich wertvolles und schützenswertes Gut vertritt. Luther hat die Teilung der Welt in Macht und Protest natürlich nicht hervorgerufen, sondern nur dazu verholfen, dass sie ab jetzt immer mehr sozialoffen zu Tage treten konnte, sodass wir heute in der Lage sind, sie als dialektischen Faktor sozialer Dynamik zu erkennen und zu akzeptieren. Man kann an den Ereignissen um den Wormser Reichstag durchaus erkennen, dass Macht und Protest gesellschaftlich äquivalent, wenn auch nicht gleichartig sind.⁶¹⁹ Die Macht lebt aus der Legalität der Tradition, der Protest aus der Legitimität seines auf Zukunft gerichteten Anliegens. Hatten Kaiser Karl V. und Papst Leo X. Unrecht, wenn sie als Exponenten der Macht eine über mehr als tausend Jahre geltende politisch-kulturelle Struktur verteidigten? Hatte Luther Unrecht, wenn er im Protest forderte, Grundlegendes umzustrukturieren, weil es bei all den von ihm erkannten Missbräuchen so nicht weitergehen konnte? War nicht am Ende alles eine Frage der Interpretation von Quellen, sei es der institutionell-organisatorischen oder der mündlichen Tradition, sei es der schriftlichen? Solche und ähnliche Fragen stellen sich angesichts der Wormser Ereignisse nach wie vor und immer wieder. Macht ist nötig, damit Gesellschaften funktionieren, und Protest ist sinnvoll und nötig, damit Gesellschaften sich entwickeln und aus Krisen befreien können. So sehen wir das heute. Beide Institutionen (Macht und Protest) sind, wenn sie als solche etabliert sind, aufeinander bezogen und ergänzen sich. Das ist zumindest die moderne Sicht auf dieses eigentlich antagonistische Verhältnis. Im Jahr 1521 war die Sichtweise natürlich anders, sonst hätte es die Konflikte um Luthers Anliegen nicht gegeben. Der Protest als solcher musste sich erst langsam soziale Anerkennung verschaffen und damit das Modell der Möglichkeit einer Koexistenz von zwei Wahrheiten in die Welt bringen. Es hat sehr lange gedauert, bis diese
Lacan 1986, S. 281. Zu den systematischen Definitionen von Macht und Protest als sozialen Einrichtungen siehe Knape 2006a, S. 59 und Gherairi 2015, S. 66.
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Koexistenz überall im Westen in weiten Kreisen, zumindest in den intellektuellen Funktionseliten, als tolerabel, als sinnvoll und als gesellschaftlich produktiv erkannt wurde. In anderen Teilen der Welt hat sich diese Sicht überhaupt noch nicht durchgesetzt. Die historische Protest-Macht-Dialektik in der Entwicklung von Protestbewegungen zeigt sich am Schönsten in der Entwicklung der evangelischen Konfession. Es dauerte nur ein halbes Jahrhundert und das Luthertum, das vorher Protest war, verfiel in die heute sogenannte lutherische Orthodoxie und wurde zum Staatskirchentum in den evangelischen Ländern. Der Protest wurde zur Säule der Macht transformiert. Das bei Luther seit den Bauernkriegsereignissen hervortretende Lob der Obrigkeit begünstigte massiv die deutsche Obrigkeitsgläubigkeit der Folgezeit. Doch das Prinzip des Wechselspiels von Macht und Protest war in der westlichen Welt, vor allem außerhalb Deutschlands, nicht mehr völlig zu beseitigen, auch wenn die Politik nach Luther zwei Jahrhunderte lang mit dem Konzept des Absolutismus zu radikaler Machthypertrophie überging und versuchte, den dialektischen Macht-Protest-Ansatz zu negieren. Diese Verabsolutierung der Macht blieb allerdings als Flächenphänomen im Westen à la longue nur historische Episode, wenngleich sie bis heute immer wieder aufflackert, meist mit verheerenden Folgen. Mit der in modernen westlichen Gesellschaften akzeptierten Kategorie Protest ist ein Bewegungsfaktor gemeint, den man später auch mit dem Begriff Fortschritt in Zusammenhang brachte. Die Kategorie Fortschritt ist inzwischen umstritten. Viele Philosophen und Kulturwissenschaftler lehnen sie ab, viele Wissenschaftshistoriker kommen ohne sie freilich nicht mehr aus.⁶²⁰ An das Konzept Fortschritt bindet sich eine vektoriell gerichtete Entwicklungsvorstellung und die Komponente der Hoffnung auf Besseres. Dass es in dieser Welt immer besser im Sinne der Fortschrittsidee werden kann, bezweifeln viele. Entsprechende Diskussionen werden ohne Unterbrechung weiter gehen. Bis sich da ein Ende abzeichnet, können wir provisorisch und unter Verzicht auf das Hoffnungsmerkmal im Zusammenhang mit Protest nur ganz neutral von sozial erkennbarer Bewegungsauslösung sprechen und davon, dass der Protest eine Motorfunktion hat. Wer aber die Kategorie Hoffnung nicht aufgeben will, wird in dem Zusammenhang zweifellos auch weiterhin das Konzept Fortschritt einbeziehen. Was dabei als kommunikativer Dynamikfaktor der Gesellschaft, als Antrieb und Verfahren in der Kommunikation in Erscheinung tritt, nennen wir Rhetorik. Die Prägung neuer sozialer Konzepte geht nicht nur von Luther aus, doch die Religion und der Kampf um die Religion ist in dieser Zeit das entscheidende
List 2007, S. 99 – 101.
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Vehikel für jene irreversiblen Veränderungen im Denken und Handeln, die uns heute vor Augen stehen. Die sich seit Worms anbahnende intellektualgeschichtliche Differenzierung der Welt ist kein Vorgang des Untergangs oder Aufstiegs der einen oder anderen Richtung. Es ist kein Vorgang der Auslöschung und Ersetzung, sondern eher so etwas wie eine Zellteilung. Keine religiöse Richtung ist seit damals verschwunden, obwohl der folgende jahrhundertelange Konfessionskampf dies im Sinn hatte. Nein, neues Denken ist mit neuen Institutionen entstanden, die nicht mehr umzustürzen waren. Es ist ein Vorgang der Diversifikation, der Eröffnung neuer Möglichkeiten als Prinzip erlaubter, gewünschter, vielleicht auch nur geduldeter oder ganz einfach faktischer Varianz. Wie gesagt, Macht und Protest können ab jetzt nach und nach als sich ergänzende, gleichberechtigte Strukturen angesehen werden, auch wenn sie sich im Kampf jeweils zu eliminieren suchen. Aber gerade das ist das komplexe Verhältnis beider Pole. Man kann es eine praktische Coincidentia oppositorum nennen, das Zusammenwirken sich vom inneren Ansatz her eigentlich ausschließender Gegensätze, logisch paradox, praktisch unvermeidlich. Diese Struktur hat es auf individueller Ebene schon immer gegeben, doch nun wird sie (zunächst ungewollt) sozial erkennbar verankert. Am Ende steht das, was wir uns heute mit diversen Begriffen verständlich zu machen suchen: Geduldete Abweichung, Pluralismus, Innovation, Fortschritt, Kreativität, Demokratie, Kritizismus, Relativität, Diversität usw. Immer ist in den mit solchen Begriffen verbundenen abstrakten Modellen die Koexistenz von Macht und Protest auf verschränkte Weise enthalten. Wir verbinden im Deutschen mit dem Wort Macht zunächst eine politische Dimension. Daneben gibt es aber auch ein psychologisches Macht-Konzept, das in der Rhetoriktheorie von Anfang an eine Rolle gespielt hat. In der Rhetorikdefinition des Philosophen Aristoteles, die bis heute dem Konzept Rhetorik zugrunde liegt, wird Rhetorik als eine Dynamis bezeichnet, also als eine Kraft oder ein Vermögen, zu erkennen, wie man in einer gegebenen Lage Einfluss auf andere Menschen nehmen kann und wie man diesen Einfluss dann auch kommunikativ umzusetzen in der Lage wäre (Arist. Rhetorik 1.2.1). Der Orator gewinnt dann in einem gewissen Sinn Macht über die Psyche des anderen. Am Ende hat alles auf ein soziales Einverständnis nach den kommunikativen Klärungsprozessen hinauszulaufen, das dann kein Zwang ist, sondern ein gemeinsames Machteinverständnis auf Zeit.⁶²¹ Wie gesagt, Sozialität ohne Machtstrukturen ist nicht möglich, zumindest hat weder der praktische noch der theoretische Anarchismus bis heute den Gegenbeweis antreten können. Aber Macht tendiert zur Selbstbezüglichkeit,will letztlich
Knape 2006a, S. 59.
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ihren Sinn immer in sich selbst finden. Davon legen die Diktaturen aller Zeiten ein trauriges Zeugnis ab. Macht muss daher als sozial ambig und in ihren sozialen Strukturen eher als notwendiges Übel betrachtet werden. Die Macht kann man nicht lieben, man kann sie respektieren und das ist das Problem, denn sie kann zur unkontrollierten Leidenschaft werden. Machthaber finden Lust an der Macht. Darum hängen sie an ihr. Das Machtgefühl reißt Menschen mit sich. Das ist gefährlich. Die Machtaktiven sind ihr unter Umständen genauso ausgeliefert wie die passiv Machtunterworfenen. In der politischen Welt ist die Macht unvermeidlich, aber durch die von Luther angestoßene neuzeitliche Entwicklung können wir uns eine Welt vorstellen, in der die Menschen immer wieder gefragt werden, ob sie sich ihr widerspruchslos unterwerfen wollen oder ob sie frei sein wollen. Im alten Rom gab es den Diktator; doch nur auf Zeit und nur in Krisen. Wir sehen heute solche Diktaturen als zu risikoreich an und haben daher innere Gewaltaufteilungsmechanismen anderer Art entwickelt. Die Errungenschaft der modernen parlamentarischen Demokratie besteht darin, neben den klassischen Instanzen der Gewaltenteilung auch noch die Bereiche Protest und Macht in einer Symbiose organisiert nebeneinander koexistieren und interagieren zu lassen.
13 Einheit oder Sezession? Aber ist der Protest nicht auch ambig oder gar gewalthaltig? Ist er nicht strukturell auf die Störung oder gar Zerstörung jener Bindung angelegt, die aus dem Einheitspostulat folgt? Das Jahr 1521 liefert uns dazu die nötige Anschauung. Bei der Betrachtung der Wormser Ereignisse von 1521 haben wir zweifellos am sozialoffenen Initialakt einer Sezession teilgenommen. Luthers damals endgültig eingeschlagener Weg ist ein bedeutender Fall in der Weltgeschichte jener Sezessionen, die sich historisch immer wieder auf den verschiedensten kulturellen Feldern ereignet haben: Kunst, Wissenschaft, Religion oder Politik. Jeder Protest reklamiert einen eigenen Weg und trägt damit in irgendeiner Form den Keim der Sezession in sich. Trennungsbestrebungen und ihre Vertreter werden von den Mächtigen regelmäßig als Feinde angesehen und doch gehört ihnen oft die Zukunft; wenn auch nicht immer, wie viele politische Beispiele zeigen, etwa der Ausgang des US-amerikanischen Bürgerkriegs und das Ende der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1990. Wenn sich die Macht bei Sezessionsbestrebungen dem Protest in den Weg stellt, lautet regelmäßig ihre Hauptforderung, die Einheit der Gruppe, des Sozialwesens oder Staates sei aufrecht zu erhalten. Einheit als Wahn oder als höchstes Gut? Was hat man im Lauf der Geschichte, auch der Kirchengeschichte, der Einheitsidee nicht schon für Opfer gebracht? Einheit gegen Abspaltung aufrecht zu erhalten, bedeutete historisch regelmäßig, sie in Unterwerfungsaktionen, Kämpfen, Kriegen, Gewalttaten (man denke nur an die Ausrottung der französischen Katharer, von denen das Wort Ketzer abgeleitet wird) oder gar Kriegen durchzusetzen. Mit der Festigung der institutionellen Vorstellung von Kirche, wurde auch in der christlichen Welt die Einheitsfrage zum Problem. Vor dem 4./5. Jahrhundert gab es weder eine einheitliche Bibelversion, wenn wir etwa an die gnostischen Evangelien aus dem 2. Jahrhundert denken, noch war das Christentum institutionell uniert. Es war lebendig divers und verweigerte sich einer universalen Macht, die erst im vierten Jahrhundert mit Constantin und seinem römischen Imperialgedanken im institutionellen System der Kirche flächendeckend durchgesetzt werden sollte. Damit begann in der christlichen Welt die systematische Entmündigung des Individuums in Glaubensfragen. Auch Luther stand am Tag der Entscheidung in Worms vor der Einheitsfrage. Er siedelte sie zu diesem Zeitpunkt in ihrer Wertigkeit gegenüber der Reformfrage offenkundig niedriger an. Hatte der Humanist Vehus, Kanzler des Markgrafen von Baden, nicht am ersten Tag der Wormser Nachverhandlungen eindringlich auf das Einheitspostulat verwiesen und gesagt, die Einheit der Kirche sei so ideal und so DOI 10.1515/9783110546927-014
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unteilbar wie der aus einem Stück gewirkte Trierer Rock?⁶²² Hatte der Humanist Cochlaeus in denselben Nachverhandlungen des Satyrspiels nicht Tränen im Gespräch mit Luther beim Gedanken an die zerbrechende Einheit vergossen, vielleicht auch Luther selbst? Am Ende blieb Luther aber ungerührt. Intuitiv oder bewusst erkannte er vielleicht, dass das Einheitspostulat regelmäßig eine strategische Rolle als ideologisches Konstrukt der Macht spielt. Wie sich auch im Fall Luther zeigt: Die (wenigstens zeitweilige) Aufgabe des Einheitsgedankens als Ober-Ordnungsprinzip ist oft der Preis für Neuordnung und Neuorientierung unter den Menschen. Der Einheitsgedanke hat im außerreligiösen Leben durchaus psychologische und machtpolitische Plausibilität. Die Menschen fühlen sich unter Gleichgesinnten wohl und sind anthropologisch gesehen in ihrer Tiefenstruktur auf Kooperation und Zusammenhalt in Gruppen eingestellt, um als Gruppe besser zu überleben. Gemeinschaft bringt Glück und ist sozial nützlich. Das ist unbestreitbar. Strittig bleibt jedoch oft, worin die Gruppe besteht. Einheit ist ein überlebenswichtiger Fitnessvorteil von Gruppen in allen Fragen der Auseinandersetzung mit feindlichen Umwelten. Das ist ein in uns tief verwurzeltes Wissen und ein berechtigtes Gefühl, auf das uns die biologische Verhaltensforschung eindringlich hinweist. Und die Menschen brauchen immer wieder Einheit stiftende Institutionen und Organisationen aus Gründen politischer Effektivität. Einheitsstaaten können für bestimmte Aufgaben und für gewisse Zeiträume effektiver sein als plural organisierte. Aber wie steht es mit der Einheit auf ideologischer oder philosophischer Ebene? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass ideologische Einheitsbegründungen, wenn sie nicht im Sinne der genannten Hintergründe politisch oder psychologisch motiviert sind, meist schwach sind. Religiös ist immer wieder vom Einheitspostulat die Rede, doch die Begründung sieht wie eine (mystisch gefärbte) Analogiebildung aus dem Bereich der Sozialpsychologie aus, wenn man etwa an die gern verwendete, uralte organologische Körper-Metapher für die Kirche denkt. Bei ihr wird aus einer poetischen Analogiebildung (‚Kirche ist der mystischen Leib Christi‘), also aus einer Metapher, eine faktische Befindlichkeit mit einem konkreten institutionellen Imperativ abgeleitet (Deswegen müsst ihr euch einheitlich organisieren!). Wenn man an Luthers frühe Theorie denkt, kann man die Frage stellen, ob es nicht reicht, wenn jeder Mensch selbst mit seinem gnädigen Gott übereinkommt, und ob die Gemeindebildung nicht doch eher etwas mit dem genannten sozialpsychologisch motivierten Zusammenhang zu tun hat. Gemeinde
RA 2, S. 603, Z. 12.
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wäre so gesehen lediglich ein Helfer des Individuums im religiösen Kontext, keine Institution mit Zwangsmitgliedschaftscharakter. Bei diesen Überlegungen nähert sich ein konfessionell neutraler Wissenschaftler als Beobachter zweiter Ordnung freilich einem heiklen Punkt, weil hier das innere Verständnis von Kirchen und damit immer auch ihr Machtanspruch berührt wird. Man kommt an dieser Stelle also an die Grenzen des Sinns bzw. des Verständnisses von Religion, von religiöser Lehr- und Kultpraxis sowie der religiösen Institutionen, die nie ohne Machtfaktor existieren. Und Mystiker sehen das sowieso alles anders. Als Beobachter zweiter Ordnung muss man demgegenüber sachlich konstatieren, dass in der Praxis religiöser oder ideologisch gebundener Gruppen die soziale Interaktion ihre Gruppenbildung offenkundig ganz wesentlich konstituiert. Solche Überlegungen sind insofern von Belang, als sie Fragen zu Luthers Wormser Entscheidung aufwerfen, den Einheitsgedanken letztlich zurückzustellen. Und sie sind von Belang, weil sie den Transfer von Luthers Kernidee der individuellen geistigen Freiheit in die außerreligiöse Lebenswelt betreffen. In der Theorie steht immer die philosophische Frage voran, wie sich das Postulat ideologischer Gleichausrichtung begründen lässt, ob es etwa unter dem Begriff „Wahrheit“ als gottgewollt oder anderweitig ontologisch begründbar ist. Das würde implizieren, dass die Mehrheit der Menschen (die ja keine Christen sind) seit langer Zeit ausdrücklich ‚gottgewollt‘ aus der Gemeinde ausgeschlossen sind, im Irrtum leben oder gelebt haben, weil die Wahrheit sie ja praktisch nicht erreicht hat. Wo bleibt da die im Gottesbegriff implizierte Allgerechtigkeit? Hier könnte man endlos weitere Fragen anschließen, die aber zu keiner befriedigenden Antwort führen. Die empirische Gegenrechnung besteht darin, dass bei vielen einzelnen Menschen das Anti-Gleichförmigkeits-Streben, das Streben nach Individualität, Abweichung und Differenz der alltäglich beobachtbare Normalfall ist im Sinne des Entropiesatzes (Streben nach der Normalstruktur in physikalischen Systemen, also hin zum Chaos). Sozial wirksame Negentropie als eine von den Gruppenlenkern organisierte Gegenbewegung, also einer Stiftung von Ordnung, hat immer etwas mit dem Erhalt oder dem Aufbau von Macht zu tun. Dem muss man – wie gesagt – zu Gute halten, dass nur so Sozialsysteme am Laufen gehalten werden und – nicht zu vergessen – dass es auch viele Menschen gibt, denen Konformismus als Lebenshaltung durchaus angenehm ist. Seit dem spätantiken Plotinismus nimmt im Denken des christlichen Europa die Idee des Einen als höchstem Gut und damit der Einheitsgedanke gegenüber der Idee der Vielfalt eine dominierende Rolle ein. Einheitskonzepte finden wir nach wie vor in zahlreichen gesellschaftlich relevanten Theorien: technokratisch (Wirtschaft, Politik), ideologisch (Werte), metaphysisch (mystische Einheit der Kirche), psychologisch (streben nach Harmonie), volksromantisch (Nation oder
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gar Rasse). Dass es beim Durchsetzen des Einheitsgedankens im Kern immer um die Machtfrage geht, wird am deutlichsten bei politischen Sezessionsbestrebungen.Vom amerikanischen Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts war schon die Rede, in dem die eine Seite, die Weißen der Südstaaten, das Recht auf Protest (also dem eigenen Standpunkt gemäß zu leben) und das Recht auf Abspaltung geltend machte, und auf der anderen Seite Präsident Lincoln die Einheit der Union zum obersten Kriegsziel erklärte (nicht etwa vorrangig die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten). An dieser Stelle seien nur andeutungsweise die historisch umstrittenen und umkämpften Einheitsbestrebungen in der Deutschland- und Europapolitik genannt. Immer wieder stand oder steht auch da der Sinn von Einheit und Einheitlichkeit auf dem Prüfstand. Das Abgründige bei der Einheitsidee ist die nicht zu übersehende Tatsache, dass Einheit in den Kirchen und auch sonst (wo es um ideologische Hebel für den Machterhalt geht) stets unter Hegemonialprämissen angestrebt wird: ‚Einheit ja, aber nur unter unseren Prämissen‘ heißt da die Devise. Das enttarnt das ganze Konzept als Teil der Machtideologie. Wer von religiöser oder allgemein von ideologischer Einheit spricht, muss sich also immer zunächst fragen lassen, ob er nicht eigentlich von der Macht spricht. Ohne substanzialistischen oder mystischen Unterton kann man modern-pragmatisch sagen, dass sich Menschen mit gleichen Auffassungen natürlich in einheitlich gestifteten Gruppen zusammenfinden und organisieren können. Sie können sich auch religiös (mit all ihren Differenzen in den Ansichten) in praktischer Gemeinschaft als Verbund von Christen organisieren. Doch für den Luther von Worms gibt es im Moment der Entscheidung andere Hierarchien. Für ihn kann es keinen Einheitsdruck geben, der erlaubt, dass externe Gruppen-Gesetzgeber über das individuelle Gewissen bestimmen und dem Einzelnen um der Einheit Willen die Entscheidung in Glaubensfragen abnehmen oder ihm gar die ‚Wahrheit‘ diktieren. Diese Haltung ist im Lauf der weiteren Geschichte selbst im Protestantismus mit seinen verschiedenen Ausläufern praktisch immer wieder in Frage gestellt worden. Und nach wie vor gibt es mehrheitlich in der Welt vom allein ideologischen Machtgedanken dominierte politische Systeme, in denen der vom Schriftsteller Salman Rushdie 2015 in einer Erklärung auf der Frankfurter Buchmesse geäußerte Satz „Ohne die Meinungsfreiheit gibt es keine anderen Freiheiten“ keine Anerkennung findet. Rushdie spricht hier jenen Gedankenfreiheits-Grundsatz an, für den sich im Westen seit 1521 viele Menschen in ideologischen, einschließlich religiösen Fragen eingesetzt haben. Er steht den vielen Möglichkeiten der f r e i e n Gemeinschaftsbildung und damit dem Streben nach praktischer Einheit, wie sich zeigt, nicht im Wege.
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Literatur
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Literatur
Warburg 1920/1922 = Aby M. Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920). In: Aby M. Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hrsg. v. Dieter Wuttke. Dritte, durchgesehene und um ein Nachwort ergänzte Auflage. Baden-Baden 1992, S. 199 – 304 (= Saecvla Spiritalia 1) Wartenberg 1983 = Günther Wartenberg (Hrsg.): Martin Luther. Briefe. Eine Auswahl. Leipzig 1983. Wuttke 1987 = Dieter Wuttke: Humanist gesucht. Ist Gregorius Arvinianus identisch mit Publicus Vigilantius? Ein Identifizierungsproblem aus dem Umkreis des Hans Baldung gen. Grien, des Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter, der Erzgießerfamilie Vischer und des Sixtus Tucher. In: Dieter Wuttke: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren. Bd. 1. Baden-Baden 1996, S. 105 – 145 (= Saecvla Spiritalia 29). Zschäbitz 1967 = Gerhard Zschäbitz: Martin Luther. Größe und Grenze. Teil 1 (1483 – 1526). Berlin 1967. Zweig 1927 = Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Leipzig 1927. Zweig 1943 = Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Zwölf historische Miniaturen. Stockholm 1943.
Namensregister Albrecht, Graf von Mansfeld 258 Aleander, päpstlicher Nuntius 20 f., 68 f., 72, 84 f., 87 f., 93, 95 – 143, 153 f., 156, 159, 163, 176 f., 186, 193 – 198, 209, 214 f., 219, 221, 224 f., 243 f., 249 f., 258, 260 f., 281, 297 f., 307, 312 Alexander VI., Papst 27 Amsdorf, Niclas von 25, 245, 249, 251, 261 Angelo Carletti da Chivasso 32 Anshelm, Thomas 53 Antonius 11 Apelles 282 Archadius (Arcadius), oströmischer Kaiser 129 Arendt, Hannah 313 Aristoteles 7, 12, 60, 148, 174, 183, 251, 312, 316 Arius 95, 249 Arminius Arius 285 Armstorff, Paul von 81, 83 Augustinus 17, 33, 35, 51, 53, 65, 250, 266 f. Bainton, Roland H. 276, 279 f., 291 f. Balan, Petrus 153, 221 Barth, Hans-Martin 305 Bärwinkel, Richard 60 – 63 Bauch, Gustav 24 Beckenhaub, Johann 286 Beckmann, Otto 148 Behringer, Wolfgang 45 Bellarmin, Robert 294 Benedikt von Nursia 51 Benjamin, Walter 304 f. Bentzinger, Rudolf 78 Berbig, Georg 18, 35, 53, 57 f., 66, 70 f., 88, 144, 148 – 153, 161 f., 166, 177 – 180, 186, 231, 237, 240 f., 289 Bernstein 78 f. Beutel, Albrecht 122, 136 Blaha, Dagmar 170 Blickle, Peter 306 Blumenberg, Hans 309, 311 Böcking, Eduard 85, 102, 108
Boehmer, Heinrich 56, 58, 67, 70, 242 Bombasius, Paulus 292 Borst, Arno 263 Bracciolini, Poggio 47, 49 f. Brall, Arthur 100 Brant, Sebastian 71, 236 Brassicanus, Johann Alexander 100 Brecht, Martin 57, 68, 70, 80 f., 84 Brieger, Theodor 95, 214, 249, 261 Brück, Gregor, kursächsischer Kanzler 54, 109 f., 113, 120, 131, 139, 144, 148, 170, 181, 248, 255, 261 Bruni, Leonardo 47, 49 f. Bucer, siehe Butzer Buchenau, Artur 271 f. Bullinger, Heinrich 9 Burckhardt, Jakob 4 f., 27 Burkhardt, Georg aus Spalt, siehe Spalatin Butzbach, Dietrich 89 Butzer, Martin 9, 68 f., 81, 83, 86, 140 Caesar, Gaius Julius 11 Cajetan, Thomas 32 f., 107, 150, 163, 234, 241 Calvin, Johannes 9 Caracciolo, Marino 107, 153 f. Carion, Johannes 186 Chièvres, William de Croÿ 109, 208, 213 Cicero, Marcus Tullius 61, 103, 110, 264 Cioran, Emil M. 116 f. Cisneros, Francisco Ximenez de 265 f. Cochlaeus, Johannes 68, 96, 168, 243, 248 – 254, 260 f., 319 Columbus, Christoph 3 Constantin der Große 40, 79, 252, 259, 318 Copernicus, Nicolaus 270 Cordatus, Conrad 185 Cousturier, Pierre, alias Sutor 291 Cranach, Lucas 24, 144, 146, 162, 186 f., 190 – 193 Cratander, Andreas 100, 238 Cronberg, Hartmut von 164 Cuspinian, Johannes 165
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Namensregister
Dear, Peter 269 Delaborde, Henri 27, 108 Delitzsch, Franz 276 Demandt, Alexander 4 f. Demosthenes 61 Descartes, René 125, 271 f. di Rienzo, Cola 263 Dieter, Theodor 232 Dölle, Ruth 11, 303, 313 Döring, Christian 24 Duns Scotus 32 DürerAlbrecht 22, 145, 147, 273 Durkheim, Emile 115, 136 Eck, Johannes 25, 30, 32, 93, 153, 232 f., 241, 248, 282, 285 Ecken, Johann von der 157 f., 165, 168 f., 173, 177, 203, 207 – 210, 213 f., 245, 250, 261, 287 f. Eckert, Willehard Paul 267, 275, 280, 282 Eleutherius, alias Luther 199 Elia 232 Emser, Hieronymus 32, 161, 231 Enders, Ernst Ludwig 244, 252 – 254 Eppelsheimer, Hanns W. 264 Erasmus von Rotterdam 35, 71, 100 f., 104, 107, 159, 195, 197, 250 f., 267, 273 – 285, 288 – 292, 298 Faber, Johannes 21 Federico II. Gonzaga , Markgraf von Mantua 219 Feilitzsch, Fabian von 150, 241 Feilitzsch, Philipp von 88 Ferdinand I., deutscher König 19, 155 Flacius Illyricus 293 f. Florus 285 Förstemann, Carl Eduard 155 Francesco II. Gonzaga, Markgraf von Mantua 175 Franz I., König von Frankreich 106 Friedensburg, Walter 96 Friedenthal, Richard 32 Friedrich I., Pfalzgraf 177 Friedrich II., römisch-deutscher Kaiser 44
Friedrich III. (der Weise), Kurfürst von Sachsen 19, 21, 77, 100, 109 f., 131, 139 f., 143, 147 – 149, 178, 182, 212, 218 Froben, Johannes 275, 278, 282 – 284 Frundsberg, Georg von 169 Fugger, Jakob 209 Fuhrmann, Helmut 64, 289, 303 Fürstenberg 159, 167 Galileo Galilei 271 Gattinara, Mercurino Arborio 55, 69, 126, 196, 213 Geldner, Ferdinand 286 Georg, Herzog von Sachsen 18, 53, 76, 144, 146, 148, 168, 177, 185, 189, 237, 241, 254, 256, 280 Gerhard von Cremona 271 Gherairi, Jasmina 309, 314 Ginzburg, Carlo 56 Girolamo de’ Medici 175, 219 Glapion, Jean 21, 69, 82 f., 85 f., 88, 140 – 142, 165, 177, 181, 208, 213 Goebel, Eckart 313 Gräßler 25 Gratian 126 Greenblatt, Stephen IX, 272 Gregor VII., Papst 219, 307 Gregor IX., Papst 43 f., 115, 126 Greiffenklau, Richard von 85, 243 – 246, 253 f., 257 f. 261 Greiser, Daniel 62 Grimm, Sigmund 169, 180 Grössing, Hemluth 269, 271 Grouchy, Emmanuel de 4 Grundmann, Hannegreth 233 Gülpen, Ilokna van 189, 192, 238 Habermas, Jürgen 239 f., 258 f. Hausrath, Adolf 78, 85, 89, 108, 134, 160 f., 164, 168, 175, 180 – 182, 185, 207 – 212, 215, 221 f., 230, 243 – 245, 248 f., 251, 253, 256, 260 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 149, 312 Hefele, Karl Joseph 265, 267 Heinrich IV., römisch-deutscher Kaiser 219, 307 Hermann von dem Busche 101
Namensregister
Hessus, Helius Eobanus 60 – 63 Hieronymus von Prag 30, 47 – 49, 112, 126, 208, 218 Hieronymus, Kirchenvater 27, 124, 265, 267, 275, 277, 279, 289 Hirschfeld, Hans von 88 Holbein, Ambrosius 274, 282 – 284 Holeczek, Heinz 276 f., 288 Hopfer, Hieronymus 214 Höss, Irmgard 144, 162 Hus, Jan 26, 30 f., 39 – 55, 57, 63, 79, 98, 111 113, 118, 122, 126, 129, 141, 153, 155, 167, 175, 178, 200, 208 f., 211, 216, 218, 231 f., 237, 239, 256 Husserl, Edmund 272 Hutten, Ulrich von 70 – 79, 81, 83 – 86, 96, 100, 102, 107 f., 132, 139 f., 142, 153, 195, 197, 219, 222, 238, 244, 261, 285 Jerouschek, Günther 45 Johann, Herzog von Sachsen 55, 87 Johannes VIII. Paleologus, byzantinischer Kaiser 120 Johannes von Sacrobosco 271 Johannes XXIII., Papst 50 Jonas, Justus 24 f., 57, 64 f., 156, 162, 245, 261 Julius II., Papst 197 Kalkoff, Paul 20 f., 68 f., 72, 76, 82 – 86, 88 f., 95 f., 98, 100 – 107, 109 f., 115, 120 f., 134 f., 137 – 143, 153 f., 156, 159, 163, 168, 175, 177, 193 – 195, 197, 209 f., 213, 215, 219, 221, 225, 233, 244, 250, 253, 260 f., 298, 308 Kant, Immanuel 4, 34 Kantorowicz, Ernst 219 Karl V., römisch-deutscher Kaiser 3, 10, 19, 55, 83 f., 93, 100, 112, 132, 138, 152, 159, 168, 194, 208, 211 – 215, 217 f., 220, 223 – 225, 261, 314 Kepler 271 Kessel, Eberhard 10, 143, 149, 159 f., 163, 180 f., 183 Klee, Paul 304 Kleineidam, Erich 59, 62, 64 Kluttig-Altmann, Ralf 194
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Knape, Joachim 7, 10, 13, 20, 71, 76, 80, 114, 130, 150, 166, 174, 176, 179 f., 183, 185, 199, 201, 223, 229, 236, 240, 268, 272, 275, 286, 296, 304, 310, 313 f., 316 Kohnle, Armin 33, 52, 54, 76, 143 f., 149, 151 f., 165, 181, 240 Kolakowski, Leszek 11, 303, 312 f. Kooiman, Willem Jan 24 Köstlin, Julius 25, 62, 86, 88, 137, 155, 165, 169, 177, 179 f., 204, 206 Krafft, Fritz 264, 269, 271 Kühn, Johannes 158, 160, 165 Lacan, Jacques 313 f. Lang, Johannes 52, 59 f. 148 Lange, Georg 167, 169 Langer, Johann 26 Lausberg 117 Lee, Eduard, späterer Erzbischof von York 291 f. Lehmann, Max 160 Leibniz, Gottfried Wilhelm 271 Leo X., Papst 94, 107 f., 110, 197, 221, 239, 266, 282, 293, 314 Leppin, Volker 10, 30, 34 f., 52, 58, 79 f., 107, 135, 163, 175, 180, 199, 232, 234 Lincoln, Abraham 11, 321 Lingke, Johann Theodor 21 f., 24 – 26, 28, 58, 65, 68 List, Elisabeth 32, 99, 202, 215, 315 Loesche, Georg 26, 39, 55, 87 Lohse, Bernhard 205, 250 Lortz, Joseph 27 Lotter (der Jüngere), Melchior 120 Lucan 264 Luder (Geburtsname Luthers) 17, 199 Luder, Peter 177 Ludwig V., Pfalzgraf bei Rhein und Kurfürst von der Pfalz 54 Ludwig X., Herzog von Bayern 42, 45 – 47, 215 Ludwig XIV., König von Frankreich 4 Luhmann, Niklas 233, 313 Lukian 120 Lukrez 130, 264 Luppold, Stefanie 174 Lutz, Heinrich 156, 167, 255
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Namensregister
Machiavelli, Niccolò 268 Martus, Steffen 307 Mathesius, Johannes 26, 39, 54 f., 87 Mathias von Kemnat 177 Maximilian I., römisch-deutscher Kaiser 42, 149, 215 McLuhan, Marshall 287 Melanchthon, Philipp 25, 64, 66 f., 70, 120, 122, 144 f., 166, 254 Mersenne, Marin 272 Meyer, Renate E. 116 Miltitz, Karl von 180, 240 – 242 Minkwitz, Hans von 155 Moeller, Bernd 58, 199, 236, 238 f., 306 Morus, Thomas 310 Mosellanus, Petrus 24 Mühlen, Kalr-Heinz zur 32 Müller, Jan-Dirk 177, 286 Müller, Johannes 269 Müntzer, Thomas 310 Murner, Thomas 119 Myconius, Friedrich 25, 52, 65 – 67, 156, 236 Napoleon I. 4 Nembach, Ulrich Nickel 138 Nigri, Franciscus
166 111
Obendiek, Harmannus 305 Oberman, Heiko A. 193, 305 Oelhafen 243 Oelmüller, Willi 11, 303, 313 Oßwald, Johann 67 Otmar, Silvan 23 Panzer, Georg Wolfgang 120 Pappenheim, Ulrich von 88, 155, 160, 168 Petrarca, Francesco 66, 263 f. Pettegree, Andrew 59 Petzensteiner, Johanns 24, 252 f., 261 Peuerbach, Georg von 269 Peutinger, Konrad 156 f., 167, 208, 210, 245, 255 – 257, 261 Pfeyl, Johannes 186
Philipp I., Landgraf von Hessen 89 f., 243, 247 Piepmeier, Rainer 11, 303, 313 Pilatus, Pontius 229 Pirckheimer, Willibald 86 Preuß, Hans 199 Prierias (Silvester Mazzolini) 199 Ptolemäus, Claudius 269 Pyle, Cynthia 269 Quintilian, Marcus Fabius 264
114, 123, 166,
Raimondi, Marcantonio 27, 108 Ramus, Petrus 268 Ratzeberger, Matthäus 249 Regiomontanus, Johannes 269 Reinisch, Leonhard 11, 303, 313 Reuchlin, Johannes 148 Rhein, Stefan 11, 17, 47, 49, 54, 68, 308 Richental, Ulrich von 41 f., 45 – 49 Riederer, Friedrich 111, 123, 212 Rogge, Joachim 68, 170 f., 173, 210, 223 Roll, Bernhard 20 Rubeanus, Crotus 59 Rublack, Hans-Christoph 76 Saul 201 Savonarola, Girolamo 25 – 30, 52 – 54, 57, 193 f. Schaumburg, Silvester von 70 Scheurl, Christoph 148 Schiller, Friedrich 10 Schilling, Heinz 11, 24, 66 f. Schilling, Johannes 71 Schmidt, Alois 225, 245, 249, 251, 254, 261 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 293 – 295 Schnyder, André 45 Schott, Hans von 88 Schott, Johann 73 – 75, 119, 188 Schurf, Hieronymus 158 f., 161, 181, 245, 249 f., 252, 261 Schwitalla, Johannes 77, 197 Scott, William Richard 116 Seidemann, Johann Karl 256 Seneca, Lucius Annaeus 264 Senff, Johann 185
Namensregister
Sensenschmidt, Johann 286 Shepherd, William 47, 50 Sickingen, Franz von 68, 70 – 72, 81, 86 f., 140, 219, 261 Sigismund, römisch-deutscher Kaiser 40, 42 f., 45, 55, 79, 212, 221 Simon, Matthias 25, 252 Sintenis, Carl Friedrich Ferdinand 43 Sixtus von Tannenberg, Bischof von Freising 286 Snow, Charles Percy 269 Sowards, Jesse Kelley 104 Spahn, Martin 251 Spalatin, Georg 18, 32, 35, 52 – 54, 57, 66 – 68, 70, 83, 86 – 88, 90, 121, 140, 144, 146, 148 – 153, 155, 160 f., 166, 169, 176 – 181, 183 – 186, 189, 192 f., 205 f., 211, 237, 241, 245, 252, 280, 289 Spitz, Lewis W. 39, 59, 63, 78, 84, 108 Stackmann, Karl 199 Staupitz, Johann 53, 260 Strauß, David Friedrich 67, 108 Streicher, Julius 103 Stumpf, Johannes 46 Sturm, Kaspar 3, 21 f., 53, 56, 59, 68, 155, 165, 168, 261, 305 Suaven, Peter von 24 f. Sutor, alias Pierre Cousturier 291 Tacitus, Publius Cornelius 264 Talkenberger, Heike 186 Tannenberg, Sixtus von, Bischof von Freising 286 Tettelbach, Johann 168 Tetzel, Johann 144 Theodosius der Große, oströmischer Kaiser 129 Thiele, Ernst 67 Thomas von Aquin 32 Thun, Friedrich von 182, 255
339
Till, Dietmar 275, 286 Tracy, James D. 101 Traninger, Anita 231 Tschackert, Paul 62 Ukena, Peter
78, 100
Valencius (Valens), oströmischer Kaiser 129 Valla, Lorenzo 79, 265 Vehus, alias Hieronymus Veuß 248, 255 – 257, 261, 318 Vogler, Georg 168 Volz, Hans 171 von der Ecken, siehe Ecken, Johann von der Walch, Johann Georg 20 f., 24, 26, 28, 33, 52, 57, 65, 68, 70, 77, 87, 93, 101 f., 114, 142, 153, 155, 158 f., 165, 167 Walgenbach, Peter 116 Walser, Fritz 70, 72, 83 – 86, 156, 181, 222, 242 Waltz, Otto 83 Warbeck, Veit 24 f., 87 f., 142 Warburg, Aby M. 186 Wartenberg, Günther 32, 66 f. Weber, Max 127, 143, 222, 313 Wels, Otto 11 Wenzel, König von Böhmen 41, 55 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 164 Wilhelm, Graf zu Henneberg 90 Wilhelm, Herzog von Bayern 215 Wirsung, Marx 169, 180 Wuttke, Dieter 199 Wycliff 9, 26, 40, 118, 232 Zinsmaier, Thomas 285 Zschäbitz, Gerhard 56, 62 Zweig, Stefan 4 – 6, 42, 71, 79, 83 Zwingli, Ulrich 9, 46, 232
Sachregister Abendmahl 30 Ablass 6, 30, 33, 34, 37, 38, 57, 70, 77, 78, 98, 99 144, 149, 238, 245 Absoluter Herrscher 36 f. Absolutismus 311, 315 Abweichung XII, 11 – 13, 26, 29, 33, 36, 43, 51, 83, 98, 113, 118, 126, 136, 200, 218, 229, 233, 235, 239, 303, 306, 309, 314, 316, 320 Abweichler 9, 26 f., 40, 43, 51, 82, 116, 122, 124 f., 218, 234, 237, 303 Acta Academiae Lovaniensis contra Lutherum, siehe Löwen, Acta Acta et res gestae 156, 188 f., 192 Adelsschrift, Luther 31, 76, 79 – 81 ad fontes 35, 150, 263, 268, 289, 297 f. Affekte 185 Agitation 96 Agitation gegen Rom 72, 285 Agon 13, 204 f. Alcalá de Henares, Universität 265 Aleanders Rhetorik der Wormser Rede 93, 109 – 132 Allegorese 293 f. Alleinvertretungsanspruch 199 allgemeines Priestertum, siehe Priestertum Altenburg 87, 241 Alternativen IX, 10, 33, 296, 310 f. Altes Testament 201, 265, 282, 294 ambig 120, 317 f. Amerika IX, 3, 82, 115, 194, 311 amerikanischer Bürgerkrieg 11, 318, 321 Anarchismus 316 Angelus Novus 304 Angemessenheit 166, 174, 180 Anrede 20, 111, 123, 156, 174, 185, 195, 223 Anti-Aleander-Schrift 101 – 104, 106, 144, 127 Antichrist 20, 59, 237 Antike X f., 11, 38 f., 49 f., 62, 110, 166, 263 f., 268 – 271, 276, 282, 292, 304, 320 Antike, Popularisierung von Diskursbestandteile 264
Antisemitismus 100, 102 f., 105, 108, 127 Antwerpen 95, 134, 292 Apokalypse 276 Appellationen 44 Aptum 166, 177, 195 Arabisch 263 Aramäisch 267 Ärgernis 18, 77, 137, 309, 313 Argumentation 112, 117, 123, 125, 203, 208, 222, 248, 297 Arroganz der römischen Macht 107, 128 Aschermittwochsrede 93, 95, 101, 104, 109, 127, 137 f., 140, 195, 209, 219, 224 Assertio 118, 293 Aufklärung; Aufklärer IX, 134, 303, 307, 312 Augsburg 32, 41, 76, 150 f., 156, 163, 167, 212, 216, 226, 234, 241, 245, 255, 286 Augsburg, Reichstag 76 Augsburg-Akten 150 f. Augustinerkirche 60, 62, 65 Augustinerorden 143, 193, 231, 280 Ausschließlichkeitsformeln 31, 35 – 37, 297; siehe auch sola-Formeln Authentizitätsversprechen 276 Autodafé 31, 138 Autonomie 34, 221, 268 Autorität 30, 36, 42, 78, 99, 135, 153, 198 f., 205, 209, 219, 232 – 235, 245, 248 f., 253 f., 259, 263, 265, 275, 282, 290 f., 294, 296 f., 303, 305 Autorität des Konzils 42, 205, 256, 281 Autoritätenfrage 232 Autoritätenlektüre 150 Autoritätsgedanke 249 Axiomatik 33, 124, 232, 297 backing 112 Babylon 202, 263 Babylonische Gefangenschaft 118 – 120, 297 Bad Hersfeld 264 Bann 6, 32, 53, 56, 62, 132, 152, 185, 207; siehe auch Kirchenbann
Sachregister
Bann-Reichsacht-Automatismus 109, 132, 207, 211, 218 Bannandrohungsbulle; siehe Exsurge Domine Bannbulle 54, 56, 69, 109, 138, 176, 196, 239 Basel 40, 235, 275 f. Bastille 3 Bauern 37, 80, 175, 290, 305 f. Bauernkrieg 71, 306, 315 Bedenkzeit 93, 110, 160, 162 – 164, 169, 171, 234, 255 f., 288 Befreiung 71, 89, 136, 259, 321 Befreiungstheorien 80 Begehrensstruktur 313 Begierde 313 Beichte 46 f., 98 f., 155, 258, 260 Beichtgeheimnis 260 Bekenntnis; siehe Wormser Bekenntnisruf 203 f., 205, 207 Beobachter 3, 87, 124 f., 133, 143, 162, 166, 175, 229, 296 Beobachter zweiter Ordnung 124, 320 Beredsamkeit 139, 279 f. Bescheidenheitstopos 59, 138, 186 Beschwerden der deutschen Nation gegen Rom 76 f., 133, 154, 197, 244 Beweismittel 114, 276 f. Bibel 35, 38, 58, 61, 124, 209, 265 f., 275, 289 f., 292 – 294, 297 f. Bibelausgabe 263, 267, 275, 280, 290, 318 Bibelübersetzung 30, 201, 264 – 267, 276 f., 279, 290 Biblizismus 294, 305 Bildpropaganda 192 Bischofshof, siehe Worms, Bischofshof Böhmen 40, 42, 47 f., 55, 111, 261 Böhmische Brüder 52, 129; siehe auch Hussiten Böses 32, 38, 87 Bremen, Bürgerschaft XI f. Brüderlichkeit 80 Buchdruck 8, 53, 56, 96, 236, 238, 265, 275, 286 – 288 Bücherverbrennungen 32, 95, 100, 107, 129 Burgund 112, 215, 223 Bußpsalmen 59
Bußsakrament Butzbach 89
341
291
Calvinismus IX calvinistisch-reformierte Länder 136 Captatio benevolentiae 174, 223 Causa Hus 41 Causa Lutheri 6, 19, 40, 81 f., 132, 143, 151, 178, 203, 225, 230 Chaldäisch 263 Chaos 210, 320 Charisma 127, 162, 222 charismatischer Habitus 222 charismatischer Machttyp 127 clementia 164, 174, 207 Code 268 f., 271, 290 Codex Sinaiticus 292 Codex Vaticanus 292 Commentrhetorik 179, 192 comparatio 112 Complutenser Polyglotte 265, 267, 275 f. Complutum 265 Conclusio 222 concupiscentia 313 Confirmatio 111 f. Constantinische Schenkung 79 Corpus delicti 196, 200, 203 Corpus Juris Canonici 43 f. Corvey, Kloster 264 Dämonisches 194, 214, 258 Dämonologie 31, 307 Dänemark 261 Debatte 27, 57, 71, 126, 128, 202, 225, 231, 235 f., 252, 259, 285, 296 f., 298 f., 304 Debattenkultur 298 Decorum 166, 174, 195 Definitionsstatus 123 Dekadenzthese 27 Dekretalen 32, 43, 81, 126 Demokratie 12, 134, 305 f., 310, 316 f. Denkfreiheit 206 Determinatio 185 deus deceptor 125 Deutsche Demokratische Republik 318 deutsche Nationalkirche 71, 79, 84 Deutsche Reichstagsakten 110
342
Sachregister
Deutscher Hof, siehe Johanniterhof Devianz 51 Dialektik 184 f., 250 Dialektik religiöser Diskurse XII Dialektik und Rhetorik 184 f. Dialektik von Macht und Protest 313, 315 Dichtung 50, 294 Differenz 6, 115, 236, 310, 314, 320 f. Differenzierung im Denken 306 Dimissivik 8, 236, 296 Diplomaten 19, 77, 81 f., 85, 163, 212, 215, 240 Diplomatenspiel 83 Diplomatie 70 f. 83, 89, 108, 138, 177 f., 182, 239 f., 257 Diskussion 6 f., 19, 122, 128, 141, 202, 209, 259, 296, 315 Disputation 40, 86, 154 f., 160, 162, 164, 204, 208 f., 231 – 235, 238, 240 f., 245, 250, 252 f. Distanzkommunikation 8, 236, 296 Diversität 316 Divisio 123, 222 Dixi 203, 205 f. Dogmatik 36, 51, 291, 295 Dogmen 33 f., 36, 40, 210, 233, 245, 281, 290 f. Donatio Constantini 79 Doppelstrategie, kursächsische 178 Doxologie 292 Drucker 53, 96, 238, 276, 282, 285 Druckerpresse 231, 235 Druckexemplare 286 Dynamikfaktor Rhetorik 4, 13, 315 Ebernburg 68, 70, 76, 81, 83, 85 – 87, 140 Ebernburg-Coup 129 Ebernburg-Episode 71, 213 Ebernburg-Initiative 70, 83, 85 Ebersbach 221 Edikt 6, 128 f., 208, 214, 219, 225 Egalismus 80 Ehrwort 20, 123, 185 Einheit der Kirche 254 f., 318, 320 Einheitsfrage 318 Einheitsgedanke 319 f. Einheitsidee 43, 318, 321
Einheitspostulat 318 f. Einzelkämpferthese 148, 179 Eisenach 21, 54, 59, 66 f., 247, 258 Eisleben 17, 158 f., 167, 182 ekklesial-caesarisch 42 f., 76 f., 81 elektrischer Stuhl 115 eloquentia vere theologica 279 Elstertor 239 Emanzipation 268 Empirie 268 Engel 118, 125, 236, 304 f. Engel der Geschichte 304 Entführung 151 Entropiesatz 320 Ephesus 40 Epikuräismus 106 Epitoma responsionis 121 Epochenjahr 3 Erasmus’ ‚Novum Instrumentum‘ 275 f. Erasmus-Ausgabe des Neuen Testaments 148 Erfahrung 197, 240, 256, 261, 271, 286 f., 303 Erfurt 21, 24 f., 47, 57 – 64, 66, 81, 87, 148, 156, 162, 206 Erfurter Augustinerkirche 206 Erhabenheit 200 Erhabenheitstopos 163 Europa 4 – 7, 10, 27, 36, 40, 42, 48, 59, 70 f., 106, 134 f., 218, 223, 230, 260, 263, 275, 297, 303 f., 306, 310 f., 320 Evangelien 251, 265, 277 f., 289, 318 Event 130 f. Eventinszenierung 131 Evidenz 114, 120, 176, 205 exclamatio 108, 118, 198 Exordialtopos 186 Exordium 171, 174 f., 178, 184, 195; siehe auch Wormser Exordium experientia 197 Experiment 269 Expertenkaste 235 Exsurge Domine 25, 32, 54, 70, 81, 93 – 95, 101, 239, 241, 282 Fälschungen 234 Fanal 8, 127, 297
Sachregister
Faschismus 11 Fegefeuer 38, 118, 161, 238, 245 Fehdebriefe 225 Ferrara 40 fides 277 Figuren, rhetorische 112, 114, 176, 196, 198, 203 f., 251, 282 Fiktion 199 Florenz 26 – 29, 40 Fluchtpläne 57, 151 Flugschriften 57, 77, 95, 101, 107, 153, 192, 197, 235, 238 fontes 250, 281 Fortschritt 315 f. Forum 19, 33, 162 f., 181, 200, 202, 235, 238, 256 Frankfurt am Main 67 Franziskaner 82, 96 Französisch 98, 106, 131, 208, 213, 215, 220, 313, 318 freie Meinungsäußerung 96 freier Wille 118, 136 freies Geleit 20, 41, 69, 125 f., 171, 261 freies kaiserliches Geleit 40, 67 Freiheit 10, 12, 37, 71 f., 75, 80, 89, 99, 136 f., 196, 306, 320 f. Freiheit des Denkens 33, 260 Freiheitsbegriff 232 Freiheitsidee 71, 306 Freiheitskampf 84 Freiheitspostulat 306 Freiheitsrechte X Freiheitstafel 71 Freiheitsvorstellungen 235 Friedberg 43 Frieden 18, 28, 40, 47, 54, 113, 120, 202, 212, 216, 241, 255, 260 Friseur 166, 192 Frömmigkeitspraxis 238 frühe Neuzeit 12, 52, 268, 311 fundamentum 281 Funktionssysteme 143, 258 Fürsten 21, 33, 42, 44, 46, 70, 80, 83, 89 f., 95, 100, 109 – 112, 123, 126 – 128, 139 – 142, 153, 155 f., 164 f., 168 f., 173, 183, 185, 189, 194 f., 202, 207, 210, 214 f.,
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218 f., 222 – 225, 237, 243 – 245, 248, 308 Gebote 36 Gegenpropaganda 96, 104 Geheimdiplomatie 177 Geldzahlungen 38 Geleit 10, 20 f., 41, 46, 52, 54 – 57, 63, 139, 153, 212, 225, 253 Geleitschutz 24, 85, 211 Geltungsansprüche 13, 230, 240, 259 Geometrie 271 ‚Germania‘ des Tacitus 21, 264 Geschichte XI, 3, 5, 8 – 10, 13, 51 f., 210, 236, 282, 304, 307, 309, 318, 321; siehe auch Intellektualgeschichte, Kirchengeschichte und Weltgeschichte Geschichte, Religion 7 Geschichte, Sternstunden 4 Gesetze, menschliche 281 Gesprächsbüchlein 72 – 74 Gewalt 5, 18, 20, 40, 44, 53, 61, 81, 86, 120, 140, 154 f., 236, 267, 309, 313 Gewaltausbrüche aus Glaubensgründen 293 Gewalteinsätze 84 Gewaltphantasien 108 Gewaltüberlegungen 79 Gewissen 11, 38, 42, 56, 125, 128, 142, 154 f., 171, 194, 197, 204 – 206, 210, 225, 233, 235, 237, 242, 248, 250, 259 f., 271, 288, 298, 304, 316, 321 Gewissensfreiraum 305 Gewissensnöte 255, 293 Gewissheit 20, 99, 133, 152, 231, 270 – 272, 280, 288, 296 f., 313 Gewissheit erschüttern 255 Gewissheitserlebnis 240 Gewissheitsgrad 270 Glaswunder 249, 254 Glaube 9, 18, 35, 37 f., 41, 51, 59 f., 64, 66, 88, 98, 105 f., 122, 124, 127, 134, 154, 159 f., 169, 171, 174 f., 183 – 185, 196 f., 200, 204, 224, 229 f., 235, 245, 259, 265, 269 f., 277, 289, 291, 296, 303 f. Glaubensfreiheit 11, 134 Glaubenskriege 7
344
Sachregister
Glaubenswahrheit 200, 296 Glaubwürdigkeit 174 Gleichheit 80 Goethes ‚Faust‘ 279 Goldene Rose 240 f. goldenes Zeitalter 297 Gotha 21, 54, 64 f., 67 Gott 7, 12, 18, 20, 26, 31 f., 34 – 38, 40 f., 46, 51, 53, 57 f., 60 f., 65 f., 68, 80, 87 f., 90, 99, 108, 118, 122, 124, 127 f., 134 f., 139, 141 – 143, 147, 149, 153, 160, 171, 173 – 175, 179, 186, 194, 197 – 199, 202, 204 – 206, 216, 224, 230, 234, 244, 256 f., 259 f., 268, 272, 274, 276, 279, 289 f., 292 f., 298, 305, 312, 319 Gottesbezug 7 Gottesgnadentum 223 Gravamina 76 – 78, 132, 141, 154, 197 Griechenland 264 Griechisch 95, 102, 105, 119, 199, 242, 263, 265, 267, 269 f., 276 f., 279 f., 288, 290, 292, 298, 309 griechische Wahrheit 277 Grundrechte des Menschen 115 Gründungsmythen der Kirche Roms 124 Grundwerte des Westens 134 Grußformel 20 Gutachten 93, 98, 101, 233, 235 Gutenberg-Galaxis 287, 297 Habitus 51, 128, 164, 170, 186, 200 – 202, 222, 303, 309 Habitus, charismatischer 222 Habituswechsel 51 Handschriften 264, 266 f., 276, 280, 287, 289, 292 Handschriftenüberlieferung 292 Häresie 33, 224 Häretiker 30, 33, 44, 117 Hauptlaster 104 Hebräisch 102, 263, 265, 267, 269 Heidelberg 39, 47, 177, 231 Heidelberger Disputation 69, 175 Heiliger Stuhl 99 Heilige Schrift 35, 42, 99, 123, 205, 251, 257, 259, 267, 269 f., 276, 281, 290 f., 293 f., 296
Heilige Sprachen 263 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 7 – 9, 100, 112, 134, 141, 221 Heilige Texte 264, 268, 286, 288 Heilsprozess 37 Heldenlegende 3, 179 Hercules Gallicus 120 Hermeneutik 293 Herold 21, 25, 55 – 57, 68, 155, 165, 168, 261 Herrschaft 4, 9 f., 19, 42, 52, 71, 76, 84, 106, 111, 173, 196, 202 – 204, 218, 224, 230 herrschaftsfreie Diskurse 239 f. Hexen 45 Hexenhammer 45 Hierarchie 80 f., 245, 305, 321 Hieronymus-Ausgabe 275 Hier stehe ich 179, 205 f. Hiroshima 3 historische Ironie 136 Hofzeremoniell 193 homo mensura-Satz 122 homo religiosus 268 Humanismus 268 – 271, 280 Humanismus, philologischer 265, 270, 279 f., 291 Humanist 59 f., 79, 96, 100, 122, 148, 243, 245, 250, 255, 318 f. Humanisten 24, 50, 66, 81, 86, 96, 101 f., 105, 165, 177, 194, 197, 199, 245, 252, 263 f., 270, 298 Humanistennamen 144, 199 humanistische Editionsphilologie 289 humanistische Gelehrtengruppen 194 humanistische Ideale 252 Hunde 119 f., 216 Hundert Gravamina 197 Hus’ Protestmodell 52 Hus’ ‘Sancta simplicitas’ 46, 175 Hussiten 31, 53, 129 hussitische Kirche 52 Hutten-Protestler 203 Huttens ‚Tria Romana‘ 77 Huttens ‚Vadicus oder Römische Dreifaltigkeit‘ 76 – 78
Sachregister
Ideologiebegriff 7 Ideologisches 133, 260, 319 Ikone 238 Ikonographie 27, 192 Image 101, 130, 139, 159, 166, 174, 184, 186, 192, 194, 199 Image-Erfolg 132 Image-Konstruktion 192, 200 Imperium 18, 219, 223, 242 Individualismus 12 Individualität 260, 320 Individuum 34, 36, 38, 219, 224, 229, 231, 286, 288, 305, 312, 318, 320 Inklusion und Exklusion 82, 116 Innovation 316 Inquisition 111, 221 Inquisitionshelfer 119 Institution 32, 37 – 40, 79, 99, 115 – 117, 196, 232, 314, 320 Institutionen 12, 18, 35 f., 38, 42, 44, 116, 137, 205, 212, 259, 314, 316, 319 f. Inszenierung 131 Intellectual history 280 Intellektualgeschichte 13, 34, 52, 304 intellektualgeschichtlich 11 f., 80, 232, 303, 316 intellektualgeschichtlicher Ansatz 303 Intellektuelle 5, 8, 18, 50 f., 60, 99, 105, 135, 153, 195, 238, 263, 304 – 306, 315 Intrigen 54, 83, 108 Invektive 103 f. Investitur 43, 46 Ironie 242 Irrlehren 136, 154, 197, 249 Irrtum 40 f., 45, 85, 124, 128, 200, 204, 210, 224, 245, 279, 291, 320 Irrtümer 36, 94, 117, 205, 251, 286, 298 Islam 4 Israel 58, 201 f., 289 Italien 79, 113, 152, 264, 308 Italiener 39, 193 Italienisch 26 f., 95, 105, 130 f., 263, 265, 307 iustificatio 36 Johannes 1,1 279 Johannes 1,5,7 – 8 201, 291
345
Johanniterhof 88, 167, 171, 173, 184, 251 f., 254, 261 Johanniterorden, Komturei in Worms 88 Josua 1,2 und 1,15 57 f., Josua 1,8 289 f. judaisierendes Ceremonienwesen 106 Juden 102, 104 f., 117, 128, 265 Jüdisches 105 jüdischer Verbrecher Aleander 108 jüdisches Aas Aleander 108 Jüdische Schriftgelehrte 265 Kairos 5 Kaiser 3 f., 6, 8, 18 – 21, 24, 40 – 45, 54 f., 58, 63, 65, 67, 69 f., 79, 82 – 86, 88 f., 93, 95, 100, 109 – 112, 114, 120, 123, 125 f., 128 f., 131 – 134, 138 – 140, 142, 144, 149, 153 – 159, 162, 164 f., 167 – 169, 173, 177 – 179, 181 – 183, 185, 189, 192 – 197, 201 f., 207 – 225, 242 f., 254, 257, 261, 288, 307 f., 314 kaiserliche Schutzzusage 208 kaiserliches Kabinett 82, 85, 114, 197, 211 Kaisermacht 18 Kalifat in Syrien 82 Kants Aufklärungsdefinition 312 Kanzleien 184 Kanzleimuster 176 Kanzleiprosa 176 Kanzleirhetorik 20, 111 f., 174, 185 Katastrophenszenarien 291 Katharer 9, 318 Katholizität 224 Ketzerei 42, 44 – 46, 50, 53, 72, 113, 115, 123, 129, 222, 244, 291, 307 Ketzerprozesse 44 Ketzerprozess-Mechanik 139 Kirche 3 f., 7, 18, 26 f., 31 – 33, 35, 38 – 40, 42 – 45, 53, 59 f., 62, 65, 76 f., 79 – 81, 83, 86, 98 f., 107, 112, 115 – 117, 119 f., 124, 126, 128 f., 134, 143 f., 211, 215 f., 219, 223 f., 229, 232, 234, 258 f., 264 f., 290 f., 294, 306, 318 – 321 Kirche und Staat 6, 9, 76, 122 Kirchenbann 20, 44, 77, 93, 162, 225, 233 Kirchenbegriff 245
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Sachregister
Kirchenrecht 41, 43 f., 46, 77, 81, 93, 105, 115, 129, 133, 150, 224, 245 Kirchenreformen 222 Kirchenspaltung 249, 291 Kirchenspaltungen 307 Kirchenstaat 79, 106, 144 Kirchenvater 35, 51, 249, 265, 277, 279, 304 Klarheit der Schrift 293 Kleiderordnung 166 Kleriker 45, 61 f., 78 – 81, 88, 95, 121 f., 136, 182, 193, 198, 297 Klerikerkaste 26, 144, 265 Klerikerregiment 72 Klerikersystem 31, 72, 78, 80, 120, 144, 196 Klosterbibliotheken Deutschlands 264 Köln 47, 93, 98, 100 f., 104, 113 f., 135, 233 Kölner Fürstentag 101, 211, 234 Kommentare 79, 251, 271, 281 Kommentierung 264 Kommunikation 8, 10, 12, 18, 100, 104, 130, 233, 237, 315 Kommunikationsmethode 95 Komturei des Johanniterordens 88 Konfession 4 – 6, 8, 27, 203, 315 Konfessionskampf 316 Konfessionswechsel 7 Konjunktiv 198 f., 203 Konservativismus 313 Konstantinische Schenkung 79 Konstanzer Konzil, siehe Konzil Konstanz Konstanzer Verfahren 211 Kontingenz 6 f. Kontroversen 54, 202, 231 Konzepte, abweichend 37, 315 Konzil, Konstanz 30, 39 – 50, 55, 89, 98, 118, 126, 138 f., 155, 207 – 209, 232, 245 Konzilien 27, 79, 118, 126, 170, 204 f., 209 f., 248, 252, 257, 298, 307 Konzilien, Irrtumsfähigkeit von 209 Konzilsautorität 208, 214, 216, 224, 232 f., 248, 254, 256, 281, 290, 298 Konzil von Florenz 116 f., 120 Konzil von Konstanz 40, 232 Konzil von Vienne 263 Körperdarstellung 166 Körper-Metapher 319
Krankheit 31, 67, 112 f., 219 Kreativität 316 Kriminalisierung 33, 45 Kritik 26, 33 f., 51, 72, 78, 121, 154, 202, 275, 290 f., 293, 310 Kritiken Luthers 31 Kritizismus 316 Kultur der Institution 116 Kultzeremonien 112, 118 kursächsische Diplomatie 138, 182 Kurtisanen 84, 106 Kutte 28, 68, 194 Laienkelch 31 laizistisch 76, 298, 304 Lämmlein auf dem Thron 216 Landfriedensbruch 139 Laster 104 Latein 49, 110, 131 f., 154, 159, 169, 182 f., 194, 208, 213 f., 237, 239, 263, 290 Legalität 310, 314 Legaten, päpstliche 106, 150, 177 Legitimation 79, 124, 237, 282 Legitimität 99, 116, 136, 143, 303, 310, 314 Legitimität, pragmatische 116 Lehramt 297 Lehrzuchtverfahren 136, 234 Leipziger Disputation 30, 52 Leo X., Widmungsschreiben 280, 282 – 285 Libertät, alte deutsche 71 Litanei der Deutschen 153 Literalsinn 294 Logik 37, 184, 198, 250 logos 279 Löwen, Acta 93, 98, 101 – 106, 113, 138, 233 f., 251 Luderer 199 ludus 199 lutherische Orthodoxie 306, 315 Lutherlegende 178 f., 184, 192 Luther, Bildpropaganda 192 Luther, Einzelkämpferthese 148, 179 Luther, Glaswunder 249, 254 Luther, PR 192 Luther, Rhetorik 150, 166, 179 f., 184 f., 192, 297 Luther, Schutzpolitik 138 f., 149 f., 183
Sachregister
Luther, Star-Kult 26, 96 Luther als Prophet 17, 29, 58, 127, 133, 135, 162, 184, 186 – 188, 192, 198 f., 200 – 202, 232, 249 Luther als Tollhäusler 194; siehe auch wahnsinniger Mönch Lutheri Causa 6, 19, 40, 81 f., 132, 143, 151, 178, 203, 225, 230 Luthers Beinamen 199 Luthers Blutworte 121, 131, 139 f., 198 Luthers Bücher 20, 55 f., 69, 96, 100, 108, 114 f., 126, 129, 138, 154, 158 – 161, 170 f., 195 f., 198, 203, 207, 235 f., 248 Luthers Fluchtpläne 57, 151 Luthers Habitus 51, 128, 164, 170, 186, 200 – 202, 222, 303 Luthers Kritiken 31 Luthers Leumund 124 Luthers Rede, Original 8, 171, 175 f. Luthers Rhetorik der Wormser Rede 170 – 205 Luthers Schlussformel 206 Luthers Stuhlgang 67 Luthers Team 52, 143 f., 158, 162 f., 179 f., 186, 192, 211, 214, 267, 276 Luthers Verdauungsprobleme 66 Luthers Verhör am 17. April 1521 142, 153, 181, 287 Luthers ‚An den christlichen Adel‘ 31, 76, 79 – 81 Luthers ‚Assertio‘ 118 Luthers ‚Galater-Kommentar‘ 184 Luthers ‚Grund und Ursach aller Artikel‘ 118 Luthers ‚Oblatio‘ 138 Luthers ‚Tischreden‘ 55 – 57, 70, 87, 153, 155, 244, 294, 313 Luthers ‚Sermon vom Sakrament‘ 53 Luthers ‚Verwahrung und Erbieten‘ 138 Luthers ‚Von der Babylonischen gefengknuß der Kirchen‘ 118 – 120, 297 Luthers ‚Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher verbrannt worden sind‘ 114 Lüttich 95, 114, 127, 138 Macht und Protest 12, 149, 312, 317 Macht und Rhetorik 13, 137, 313 – 317 Machtargument 312
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Machtfrage 89, 120, 233, 240, 321 Machthaber 44, 54, 56, 317 Machtmonopol 81 Machtsysteme 135 Machttyp, charismatischer 127 Machtverhältnisse 13, 253 Magdeburger Erzbischof 149 Mainstream 10 – 12, 51, 201, 232, 309 Malleus Maleficarum 45 Mandat 19 f., 22, 55, 67, 139 f., 161, 164, 171, 173, 177 f., 196 Manieren 166 Manuskriptzeitalter 9, 286 Märtyrertod 57 Märtyrertum 29 Martyrium 64 Marxismus 312 Mathematik 268 f., 271 f. mathesis universalis 272 Matthäus-Evangelium 277 Matth 4,17 290 Matth 5 201 Matth 6,13 292 Matth 10,32 160 Matth 18,7 309 Mäzenatentum 265, 276 medialer Aufbruch 8 Medienstar 96 Medienstruktur 235 Medium 9 medium aevum 252, 263 Mehrgliedrigkeit 110, 176 Menschenrechte 10, 134 mentale Wechselerzeugung 296 Metabolie 13 Methode 35, 56, 61, 79, 95 f., 100, 118, 123, 163, 203, 207, 233, 260, 268, 270 – 272, 281, 287 f., 297 Methoden, neue 268 f., 287 f. Methodenbewusstsein 281 methodos 12, 250 f., 281 f., 289 miles christianus 87 Militärsprache 204 f. Miltitziade 180, 240 – 242 Minderheit 164 Minderheitenschutz 134, 307
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Sachregister
Moderne 9 f., 12, 31, 34, 36 – 38, 56, 78, 99, 115, 127, 136, 231, 234 – 236, 260, 268, 271, 287, 292, 296, 298 f., 303 – 307, 309, 312, 314 f., 317 moderne Welt 50 Modernitätsprinzip 11 Mönch 17, 21, 26 f., 32, 56, 59, 63, 69, 72, 80, 106, 122, 125, 134, 139, 156, 159, 161, 174 f., 178 f., 186, 189, 192 – 194, 198, 209, 214 f., 218, 241, 243, 252, 261 Mönchsbilder 186 Mönchskutte 28, 194 Mönchs-Propheten-Ikonographie 186 Mündlichkeit, alte 8, 96, 287 Mündlichkeitsprinzip 8, 164, 287 Münster, Täufer 122 Mutabilität des Heiligen Textes 288 Narratio 111 – 113 Narrative 309 Nation 72, 76 f., 89, 117, 132, 168, 198, 223 f., 320 Nationalhelden 72 Naturbeobachtung 269 Naturkunde 50 Naturwissen 269 Naturwissenschaft 50, 268, 271 Naumburg 25 – 30, 53 Nazis 45, 82, 100, 103, 138 Nazi-Verbrennungs-Barbarei 138 Neuanfangsdebatte 297 neue Methoden 268 f., 287 f. neuer Engel 304 Neues, Sinn für IX f., 33, 270, 316 Neues Testament 35, 265, 267, 275 f., 282, 291, 295 Niederlande 95, 98, 137, 218 Nikomachische Ethik 312 Nonkonformismus 12 Normabweichung 51, 113 Normen 116, 122, 127, 222 Normerfüllungsimpetus 34 Normfragen 51, 99 Normkodifikationen 309
Novum Instrumentum des Erasmus von Rotterdam 275 f. Nuntien, päpstliche 82, 84 f., 105, 107, 167, 182, 197, 211, 213 Oblatio 138 OCT-Formel 268 Offenbarung 35, 37, 234, 249 f., 256, 289 f., 297 Offenbarungsautorität 249 Offenbarungsinformation 293 Öffentlichkeit 33, 72, 134, 231, 236 f. Öffentlichkeit der Neuzeit 186 Offizial 157, 159, 169, 173, 175, 208, 210, 245, 248 Oppenheim 21, 68 f., 86 Opposition 12, 54, 255, 307, 314 oratio 35, 120, 248, 279 Orator 5, 13, 109, 157 f., 164 f., 168, 177, 182, 200 f., 203, 207 f., 287, 316 Oratorformel 201 Oratorik 110 Oratorprinzip 201 Oratorrolle 200 f. Ordnung 6, 38, 40, 48, 80, 84, 89, 101, 111, 113, 120, 128, 133, 161, 222, 230, 248, 286, 289, 320 Ordnung im Reich 133 Ordnungsprinzip 319 Ordnungsstrukturen 135 Orientierungsleistung 12 Österreich 19, 223 Orthodoxie, lutherische 306, 315 Ostkirche 119 f. Oxford 47, 263, 303 Papisten 196 Pappenheimer 155 Papst 18, 20 f., 26 f., 38 f., 42, 50, 78, 80, 83, 93, 95, 98 f., 106 f., 110, 112 – 114, 132 f., 140 f., 153 f., 185, 196 f., 204 f., 211, 216, 221, 230, 232 f., 240, 242, 248 f., 254, 261, 275, 281 f., 285, 290, 297 f. Papst, Spione 84 Papstbrief 282, 285 Päpste 4, 39 f., 79, 233, 296
Sachregister
Papstidee 218 päpstliche Legaten 106, 150, 177 Papstschelte 197 Papsttum 30, 161, 196, 222 Paris 40, 42, 47, 95, 101, 103, 105, 108, 263, 273, 291 Pathos 179 partitio 123, 203, 222 paternalistisches Monopol 99 Paulus 53, 61, 135, 252, 280 Performanz 131, 159, 194, 214 perpetua certitudo 270 perspicuitas 293 Persuasionsprozess 296 petitio 20, 111 – 113, 150 Pfaffenkrieg 84, 139 f. Pfaffenkrieg-Protagonisten 140 Pharao 202 Philologen 267, 290 Philologenbibel 290 Philologie 263, 290, 292 philologischer Humanismus 265, 270, 279 f., 291 Philosophen 116, 194, 297, 306, 311 f., 315 f. Philosophie 7, 31, 50, 60, 185, 271 f., 280 f., 312 Physik 50, 269 f. Physiognomie 215 Plotinismus 320 Pluralis maiestatis 224 Pluralismus X, 12, 134, 304, 316 Pluralitätstoleranz 10 Politik 6 f., 18, 40, 68 f., 71, 76 f., 95, 121, 128, 133, 139 f., 143, 148, 150, 164, 179, 185 f., 212, 215, 219, 229, 241, 255, 258, 315, 318, 320 Polyglotte, siehe Complutenser Polyglotte Polyphonie XII Porträt 190, 192, 238 pragmatische Hypothese 245, 259 pragmatische Legitimität 116 Präzertum 281 Predigt 39, 46 f., 60 – 62, 65 f., 95 f., 150, 238, 252, 294 Predigt- und Lehrverbot 225 Prierias’ ‚Epitoma responsionis‘ 121
349
Priester 26, 38 f., 41 f., 45 f., 65, 80, 88, 96, 99, 106, 118, 120, 140, 144, 161, 243, 251, 259, 280 Priesterkirche 305 Priestermacht 18 Priestersysteme 259 Priestertum, allgemeines 38, 80, 140, 235, 249, 251, 253, 305 Primat Roms 238 Printmarkt 56 Privatheit 260, 305 Propaganda 9, 101, 104, 192, 197 Propagandafeldzug 95 Propagandaschlacht 68, 108 Prophet Luther 17, 29, 58, 127, 133, 135, 162, 184, 186 – 188, 192, 198 f., 200 – 202, 249 Propheten aus dem Alten Testament 135, 200 f., 232 Propheten-Kupfer 193 Propheten-Modell 29, 58 Prophetenstilisierung 192 Prosastil 176 Protest IX, 7 f., 10 – 13, 18, 20, 71, 76, 81 f., 86, 95 f., 108, 111, 114, 121 f., 124 f., 127 f., 131, 134 – 137, 144, 149, 159, 166, 170, 178, 180 – 182, 184, 186, 192, 196 f., 199 – 204, 207, 214 – 216, 218 f., 222, 229 f., 236 f., 239, 243, 248, 255, 258, 260 f., 275, 285, 287, 292, 297, 303, 307 – 311, 313 – 316, 318, 321 Protestanten XII, 18, 200, 202, 219, 248, 259 Protestargument 310, 312 protestatio, Augsburg 1518 33, 163, 234 protestatio, Speyer 1529 XII, 33, 163, 234 Protestationen 44 Protestbewegungen 315 Protestflugblätter 225 Protest-Intoleranz 309 Protest-Modell 29, 51 Protestmodell des Jan Hus 52 Protestposition 125, 232 Protestprinzip IX, 310 Protest-Typus 53 Protest und Macht 12, 149, 312, 317 Prozesse 43, 116, 168, 204
350
Sachregister
Publikum 61, 90, 120, 130 f., 168 f., 193 f., 197, 199, 202 f., 213, 238, 256 publizistische Kampagne 8, 79, 96, 153 Quaestio 204 Qualitätsstatus 123 Quellen 25, 35, 39, 96, 106, 142, 150, 156, 161, 168, 184, 202, 250 f., 254, 258, 263, 267 – 270, 277, 280 f., 289, 292, 297 f., 310, 314 Quellenkritik 264 Quellen, siehe auch ad fontes Quellensuche 264 quicquam-Lösung 83, 85, 154, 158, 160, 162, 168, 170, 196, 204, 207 f., 212 Rabbiner 263, 265 Rabulistik 139, 196, 253 Rassenlüge 105 Rathaus 71, 155 ratio 205, 270, 279, 281 f. ratio certissima 270 ratio evidens 205, 270 Rationalismus 272 rationes clares 248 ratio theologica 281 Raum 8, 10, 38, 80, 89, 124, 131, 133, 155, 166, 210, 215, 219, 229, 231, 250, 255 f. Rebellion 113, 139, 214, 225 Recht, kanonisches, siehe Kirchenrecht Recht, weltliches 115 Rechtfertigungslehre 36, 129, 245, 280 Rechtsbeistände 160 Rechtsbeziehung 36 Rechtsmechanik 109 Rechtsstaatlichkeit 134 Rechtsstudium 31 Rechtssystem 31, 42, 45, 127, 235 Redeeinleitung 111, 175 Reden 11, 33, 69, 110 f., 131, 140, 156, 176, 213, 244, 250, 258, 310 Rede Luthers, Original 8, 171, 175 f. Reden, originale der Zeit 177 Reformationsdebatte 285 Regensburger Bischof Heinrich von Absberg 286 Regime 82, 117, 134
Reichsacht 128, 203, 215, 243 Reichsacht-Automatismus 207 Reichsherold 21 f., 58 f. Reichsregiment 19, 42, 82 Reichsritterschaft 70 Reichsstände 19, 69, 76; siehe auch Stände Reichstag von Augsburg 76 Relativismus 103, 307, 316 Religion 5 – 8, 31, 38, 52, 82, 96, 111, 117, 136, 143 f., 183, 198, 222, 225, 230, 234, 259 f., 280 f., 305 f., 315, 318, 320 Religionskriege 121 Religionssachen 10, 229 Religiöses 10, 43, 51, 76 Renaissance 34, 100, 122, 194, 252, 264, 268, 280, 303 f. Renaissancedenken 10, 35 Renaissance-Humanismus 50, 252, 263 f., 269, 288, 296 f., 304 Renaissance-Humanisten 6, 49, 230, 307 Renaissance-Wissenschaftsverständnis 36 renovatio 263, 304 restitutio 280 Revolte 11, 303, 312 f. Revolutionäre 31 f., 72, 99, 183, 304 revolutionäres Denken 32, 72 Revolutions-Habitus 303 Rhetorik, Definitionen 4, 12 f., 18, 104, 184 f., 296, 307, 309 – 313, 315 f. Rhetorik, Dynamikfaktor 4, 13, 315 f. Rhetorik, Formulare 20, 185 Rhetorik, Fortschrittsidee 315 Rhetorik, Fundamentalrhetorik 201, 296, 307 Rhetorik, Kanzleirhetorik 20, 111 f., 174, 185 Rhetorik, Luther 150, 166, 179 f., 184 f., 192, 297 Rhetorik, Macht 13, 137, 313 – 317 Rhetorik, Studienfach 150, 166, 174 Rhetorik, Titulaturwesen 174, 185 f. Rhetorik, Verhaltenslehre 174, 179 Rhetorik, Wormser Rede Aleanders 93, 109 – 132 Rhetorik, Wormser Rede Luthers 170 – 205 Rhetorik, Orientierungsleistung 12 Rhetorikgeschichte 11 – 13, 50, 176, 192 rhetorikhistorische Sicht 4, 11 f., 192
Sachregister
rhetorische Figuren 112, 114, 176, 196, 198, 203 f., 251, 282 rhetorische Intervention 296, 314 rhetorische Kampagne 8, 137 rhetorischer Ansatz XII, 12, 179 rhetorischer Impetus 309 – 311 rhetorischer Moment X, 4 rhetorisches Ereignis 6, 130, 140 rhetorisches Event 130 – 132 rhetorisches „Hochreden“ 208 rhetorisches Pathos 179 rhetorisches Prinzip XII Ritterromantik 72 Ritualisierte Höflichkeit 223 Rom 9, 20 – 22, 25 f., 28 – 31, 38, 40, 52, 60, 68, 70 – 72, 76 – 79, 84 f., 87 f., 93 – 96, 98 f., 101, 104, 107 – 110, 113, 121, 124, 126, 128 f., 132 – 134, 137 – 139, 141 f., 150 – 154, 156, 162 f., 180, 186, 193 – 197, 199 f., 207, 212, 214, 218 f., 221 f., 225, 232 – 234, 239, 241 – 243, 250, 255, 260, 275, 282, 285, 292, 297 f., 305, 307, 317 Romanisten 79, 142 römische Dekadenz 107 römische Kirche, Gründungsmythen 124 römische Kurtisanen 78, 255 Romkritik 71 Roms Primat 238 Sacco di Roma 222 Sacerdotium 18, 219, 223, 242 sakrale Weihe 259 Sakralität 305 Sakramente 38, 99, 112 f., 118, 141 Salamanca 263 Sancta simplicitas 46, 175 sapientia 279 Satan 62, 67 f., 121; siehe auch Teufel Satire 72, 242 Satyrspiel 184, 212, 319, 242, 260, 319 Savonarola-Episode 28 f. Savonarola-Ikonographie 27 Schauprozesse 82 Scheißen 67 Scheiterhaufen 3, 32, 46, 49, 52, 100, 115, 155, 163, 167, 175, 212
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Schiedsspruch 241, 253 Schisma 39, 231 Schismatiker 44, 117 Schlüsselmomente 303 Schlussformel 206 Schmähschriften 84, 102 Scholastik 35 f., 250 scholastische Manier 250 scholastische Philosophie 232 Schreiberwerkstätten 286 Schriftauslegung 99 Schriftbindung 206 Schriftlichkeit 164, 238, 287; siehe auch sola scriptura Schrift-Reduktionismus 297 Schwert 18, 21, 140, 202 scriptura 205, 257, 276, 294, 297; siehe auch Schriftlichkeit Skripturalität 294 Sentenzen 32, 179 Sequestrationsmandat 55, 66, 69, 83, 85, 126, 128 Serialität 287 sermo 61, 206, 279 Sezessionen 310, 318 Sieben Freie Künste 184 Situativik 8 f., 95, 131, 179, 210, 235 f., 288, 296 Skandalisierung 178, 309 Skandalon 17, 309 skeptische Tradition 230, 292 Sklaven 321 sola-Formeln 35, 268; siehe auch Ausschließlichkeitsformeln sola fide 37 sola gratia 37 sola scriptura 36, 248, 250, 254, 256 f., 272, 286 f., 291, 293, 296 f. Sola scriptura-Fanal 297 Sola scriptura-Forderung 265 Sola scriptura-Prinzip 232, 288, 297 Sola scriptura-Standpunkt 251 Sola scriptura-Zeitalter 287 solo verbo 287 soziale Perspektive 258 Soziologie 115, 222 Spalatins ‚Annalen‘ 86, 90, 183 f., 264
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Sachregister
Spanien 4, 19, 210, 218, 221, 223, 264, 266, 275, 292 Spanier 39, 65, 168, 193, 210 spanische Krone 221 Speyerer Protestation, siehe protestatio Spindoktoren 168, 251 f. Spione des Papstes 84 Spirituelles XII, 37, 79, 99 Sprache 41 f., 50, 54, 61, 96, 100, 102, 109, 121, 132, 206, 213, 215, 220, 229 f., 236 f., 239, 263, 267, 269, 279 f., 314 Sprachregelungen 116 Staatskirchentum 315 Staat und Kirche 6, 9, 76, 122 Stände 19 f., 54, 109, 112, 123, 127 f., 131 f., 138, 140, 153 – 156, 164, 173, 183, 201, 209, 211 f., 218, 225, 242, 245, 255, 260, 308 Ständewesen 216 Star-Kult 26, 96 Statuslehre 117, 123 status coniecturalis 117 status definitionis 123 status qualitatis 123 status translationis 126 Sternstunde 4 – 6, 11 Stilistik von Prosatexten 184 St. Petersburg 3 Strategie 33, 69, 125, 162 f., 165, 167, 178 f., 181, 192, 237, 241, 254 Subjektivität, Subjektivismus 12, 260, 305 Sukzession 38 Superlativ 185 Syllogismen 250 Systase 13 Systemwechsel 310 Tacitus‘ ‚Germania‘ 21, 264 Taube, als Heiliger Geist 23, 186, 188 f., 192 Täuferreich zu Münster 122 Team 52, 143 f., 158, 162 f., 179 f., 192, 211, 214, 267, 276 Territorialisierung 77, 143, 224, 307 Teufel 31 f., 36, 38, 46, 61 f., 65, 87, 107, 118, 120 – 125, 138, 161, 194, 216, 305; siehe auch Satan Teufelsargument 124
Text
8 f., 20, 32, 56 f., 71, 79, 93, 98, 100, 102, 104, 111, 118 – 121, 131 f., 170, 173, 175 – 177, 180, 182, 184, 197 f., 206, 215, 222 – 224, 243, 263 – 267, 269 – 271, 276, 279, 286, 288 – 290, 293 f. Textgewissheit 280, 288 Textmutabilität 288 Textoriginalität 289 Textstabilität 288 Theologen 7 f., 20, 25, 30, 32 – 34, 37, 40 f., 50, 58, 72, 81, 100, 113, 117, 126, 132, 174, 194, 218, 233 f., 237 f., 243, 245, 250 – 253, 256 f., 265, 267 f., 281 f., 289 – 291, 294, 296 – 298 Theologenausbildung 251 Theologenstreit 35, 133 Theologie 17, 31, 35 f., 41, 47, 61, 98, 117, 148, 150, 169, 185, 232 – 234, 251, 277, 281, 290, 298, 304 Theologie, Reformtheologie 288 Theologie, Schultheologie 32, 293, 297 theologische Methodik 250, 298 Theorie 6, 32 – 36, 38, 78, 80 f., 99, 125, 133, 136, 245, 259, 271, 290, 294, 305, 319 f. Thesen, fünfundneunzig 6, 35 f., 78, 83, 85, 143 f., 148 f., 167, 229, 232, 236 Thesenanschlag 6, 148 – 150, 199, 206, 280 Thron und Altar 81 Thukydides 120 Titular-Fragen 174, 185 f. Todesstrafe 115, 122, 234 Todsünden 104 Toleranz X f., 10 f., 13, 134, 304, 307, 309 Tonsur 193 Topik 268 Topos 124, 164, 248 Totalitarismus 306 Tradition IX, 11, 18, 36, 61, 113, 124, 136, 200, 222 – 224, 232, 279, 291 f., 294, 303, 305, 312 – 314 traditionale Herrschaft 222 Traditionsargument 61, 223 f. Traditionsbruch 141 Traditionsstiftung 303 Traditionswissen 124
Sachregister
Tribunal 3, 47, 49, 54, 161, 166 f., 203, 207 f., 210, 213 f., 242 f., 288 Trier 71, 157, 169, 181, 207, 245 f., 248, 254 – 256, 258, 260 f., 319 Trierer Offizial 158, 162, 181, 207, 209 Trinitätslehre 291, 295 Türken, Türkenfrage 19, 113, 137, 212, 290, 308 Typus 27 f., 30, 51, 65, 129, 137, 193, 200, 240 Tyrannei 197 – 199, 281 Tyrannis 84, 198 Überlieferungs-Kontingenz 292 Übersetzung 32, 60, 63, 66 f., 77, 93, 98, 101 f., 108, 118, 131, 137, 139, 147, 173, 201, 204, 219, 223, 239, 264 – 267, 276 f., 279, 281, 290 Übersetzungsvarianten 269, 279, 290 Überzeugungsgeschehen 296 Überzeugungsversuche 310 Universalismus 218 Universität 31, 36, 47, 185, 233, 235, 263 Universität, Alcalá de Henares 265 Universität, Basel 235 Universität, Bologna 263 Universität, Erfurt 58 – 60 Universität, Köln 93, 98, 113, 234 Universität, Leipzig 25, 232 Universität, Löwen 93, 98, 101, 103, 113, 138, 234 Universität, Oxford 47, 263, 303 Universität, Paris 40, 42, 95, 101, 103, 291 Universität, Wittenberg 17, 24, 57, 70, 143, 150, 166, 169, 236, 289 Unmündigkeit 312 Utopia 310 Utopie 137 Vaterunser-Doxologie 292 Verbrennen, Aleander 108 Verbrennen, Bücher 32, 36, 56, 84, 95, 100, 107, 114 f., 126, 129, 138 Verbrennen, Hexen 45 Verbrennen, Ketzer 3, 26, 42, 45 – 48, 95, 115, 117, 128 f., 212 Verbrennen, Luther 52, 153, 167
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Verbrennen, Papst Leo X. 108 verbum 279 Verdauungsprobleme 66 Verfassung 7, 136, 215, 303 Verhandlungen 19, 41, 52, 70, 76, 81, 83, 110, 114, 144, 151, 153, 156, 168 – 170, 183, 212 f., 240 – 244, 254, 260, 310 veritas 229, 277; siehe auch Wahrheit Vernunft 20, 120, 142, 205, 233, 270, 279 Vernunftbeweis 270 Vernunftgründe 248 verrückter Mönch 194 Verschwörungstheorie 62, 96, 140, 150, 194 Verteidiger des katholischen Glaubens 224 vierfacher Schriftsinn 294 Visionen 199 Vogt der Kirche 45, 112, 148, 223 Volgare 263 Volkssprache 50, 263, 269 Vorladungs-Dokument, siehe Zitationsbrief Vulgata 263, 265, 267, 276 f., 279, 289, 291 f. Wächteramt 133, 233 f., 290, 292 Wächterrat 290 Wächtersystem 76 Wagen 24 f., 41, 63, 88, 134, 141, 261 f. wahnsinniger Mönch 194, 207, 214 Wahrheit 12, 18, 35, 40 f., 53, 60 f., 67, 108, 114, 123, 128, 134, 160, 173, 196, 199 f., 202, 205 f., 229 – 232, 234 – 236, 239 f., 242, 245, 253, 259 f., 277, 281, 285, 290, 293, 298, 303, 320 f. Wahrheit der Schrift 257, 298 Wahrheit, griechische 277 Wahrheiten, zwei 3, 12, 134, 230, 259 f., 307, 314 Wahrheitsagenturen 216, 234 f., 256, 259 Wahrheitsirritation 297 Wahrheits-Wächteramt 233 f. Warencharakter von religiösen Heilsgütern 144 Wartburg-Entführung 151 Wechselerzeugung 13, 296 Weimar 21, 54 – 56, 65 f., 150, 171 f. Weinkrampf 254 Weltbezüge 258 f.
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Sachregister
Weltgeschichte XII, 3 f., 6, 11, 13, 58, 205, 304, 318 weltliches Recht 115 Weltperspektiven 258 f. Werke, fromme 28, 37 f., 60, 238 Werte, Wertedebatten X f., 4, 35, 43, 78, 116, 134 f., 224, 252, 303, 306, 309, 314, 318, 320 Westen, Grundwerte 134 Westliches Denken IX-XI, 10, 34, 76, 134, 235, 287, 298 f., 304 f., 309 – 311, 315, 321 Widerruf 9, 20, 40 f., 47, 55, 69, 85, 93, 98, 133, 152, 154 f., 156, 158, 160 – 163, 165, 171, 173, 176 – 179, 195 – 200, 203 f., 206 – 208, 211, 234, 243, 251, 261 Widerrufswinkelzug 181 Widersprüche 205, 248 Widerstand 26, 33, 179, 208, 312 Widmungsschreiben an Papst Leo X. 280, 282 – 285 Wiedergeburt 252, 263, 297, 304, 310 Wiener mathematische Schule 269 Wille, freier 118, 136 Wille zur Macht 313 f. Wissenschaft 35, 134, 143 f., 233 – 235, 240, 258, 289, 318 Wissenschaften 47, 50, 271, 297, 308 Wissenschaftsentwicklung 264 Wittenberg 3, 17, 21 – 25, 29, 52, 58, 61, 63 f., 66 f., 70, 83, 86 f., 93, 120, 122,
125, 127, 140, 143 f., 148 – 153, 159, 166, 169, 176, 179, 186, 193 f., 206, 236, 238 f., 250 – 254, 257, 261, 280, 289 Wittenberger Arroganz 252 Wittenberger Weckruf 3 Wittheit zu Bremen XI f. Worms, Bischofshof 109, 155, 167, 211 Worms, bischöfliche Pfalz 156 Wormser Bekenntnisruf 176, 203 – 207 Wormser Exordium 170 f., 177 f., 181 f., 195, 209; siehe auch Exordium Wort 279 Wunder 6, 21, 88, 142, 249, 254, 286 f. Wundermann 25 f. Zeichen – himmlische 54, 65 – Markenzeichen 31 – Vorzeichen 13 – Weihezeichen 42 Zensur 56, 98 f., 235 f. Zentralperspektive 34 f., 268, 270, 296 Zeremonien 112 f., 118 – 120, 224 Zitation 19 f., 22, 170, 176, 195, 219 Zitationsmandat 20, 139, 161, 177 f.; siehe auch Mandat Zweifel 7, 34, 38, 50 f., 78, 118, 148, 159, 162, 229, 259, 286, 291 f., 295 f., 310, 313 Zweigliedrigkeit 110, 176 Zwei-Körper-Theorie 219, 224