Zwischen Hakenkreuz und Sichel: Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946). Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung [1 ed.] 9783666552946, 9783525552940


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German Pages [305] Year 2022

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Zwischen Hakenkreuz und Sichel: Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946). Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung [1 ed.]
 9783666552946, 9783525552940

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James R. Edwards

Zwischen Hakenkreuz und Sichel Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946)

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James R. Edwards

Zwischen Hakenkreuz und Sichel Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946) Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Büste von Ernst Lohmeyer von Theodor von Gosen (1931), heute aufgestellt im Ernst-Lohmeyer-Haus in Greifswald. Mit freundlicher Genehmigung der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Lohmeyer#/media/Datei:Lohmeyer_Gosen.JPG, CC BY-SA 3.0. Dieses Buch ist eine aktualisierte Übersetzung von James R. Edwards, Between the Swastika and the Sickle: The Life, Disappearance, and Execution of Ernst Lohmeyer. Grand Rapids: Eerdmans, 2019. Übersetzung: Dr.in Jutta Nickel Lektorat: Prof. Dr. Christfried Böttrich Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-55294-6

Für Melie Seyberth Lohmeyer, geliebte Frau von Ernst Lohmeyer, die sich für sein Leben einsetzte und das Angedenken an ihn bewahrte

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort ............................................................................................

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Prolog .................................................................................................. 11 Danksagung des Autors für die deutsche Ausgabe ................................. 17 Landkarten .......................................................................................... 19 Kapitel 1. Eine posthume Inauguration .................................................. 21 Kapitel 2. Eine unpassende Frage ......................................................... 27 Kapitel 3. Der junge Ernst ..................................................................... 35 Kapitel 4. Jahre an der Universität ......................................................... 45 Kapitel 5. Der Große Krieg .................................................................... 59 Kapitel 6. Verpflanzung nach Breslau .................................................... 75 Kapitel 7. Hochblüte in Breslau ............................................................. 95 Kapitel 8. Hakenkreuz! ......................................................................... 111 Kapitel 9. Antisemitismus in der Theologie ............................................. 127 Kapitel 10. Kampf in Breslau ................................................................ 147 Kapitel 11. Amtsenthebung................................................................... 173 Kapitel 12. Barbarossa ......................................................................... 193 Kapitel 13. Neuanfänge ........................................................................ 213 Kapitel 14. Einer gegen viele ................................................................. 231

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 15. Jahre der Stille .................................................................... 249 Kapitel 16. Rückkehr zur posthumen Inauguration ................................. 267 Kapitel 17. Der letzte Brief .................................................................... 285 Abkürzungen ........................................................................................ 297 Bibliografie........................................................................................... 299

Geleitwort

Die Geschichte Ernst Lohmeyers (1890–1946) ist immer wieder erzählt worden, trotz oder gerade wegen ihres offenen Ausgangs. Zu DDR-Zeiten galt sie als ein Tabu-Thema, über das man nur hinter vorgehaltener Hand sprach. Der Punkt, von dem alle Erzählungen ihren Ausgang nehmen, liegt bei jener Nacht vor der feierlichen Wiedereröffnung der Greifswalder Universität im Februar 1946, in der Lohmeyer, designierter Rektor seiner alma mater, vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet wurde - und verschwand. „Es ist so unheimlich still um ihn“, notierte seine Frau Melie Lohmeyer drei Jahre später ohne zu wissen, dass er schon nicht mehr am Leben war. Mutmaßungen, Gerüchte und Befürchtungen über seinen Verbleib lösten einander ab, bis schließlich die Ahnung eines gewaltsamen Todes zur Gewissheit wurde. Lohmeyers Bücher erlebten Nachauflagen. Gedenkbände erschienen. Häuser erhielten seinen Namen. Im Westen Deutschlands entstand eine besondere Erinnerungskultur, um Lohmeyer nicht jener damnatio memoriae zu überlassen, die der politische Apparat im Osten verordnet hatte. In Greifswald aber, dem Ort seines letzten Wirkens, blieb alles Gedenken aus dem öffentlichen Raum verbannt. Um das Geheimnis von Lohmeyers Ende lüften zu können, bedurfte es erst einer Veränderung der politischen Verhältnisse. Sie begann mit der Perestroika in der Sowjetunion und setzte sich mit der Wiedervereinigung Deutschlands fort. Jetzt wurde es möglich, das Tabu zu brechen, die Akten zu recherchieren und in Moskau den längst fälligen Rehabilitierungsprozess einzuleiten. In dieser Phase des Aufbruchs und der Öffnung, in der das Geschick Lohmeyers eine neue, gesamtdeutsche Aufmerksamkeit fand, erschien 1996 in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ ein Beitrag von James R. Edwards, der den jüngsten Kenntnisstand vorlegte: „Ernst Lohmeyer – ein Schlußkapitel“. Seit der vollständigen Rehabilitierung Lohmeyers durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation gab es nun endlich auch Antworten auf viele der seit Langem drängenden Fragen. Zeit also für eine abschließende Beurteilung der Ereignisse? So konnte es 1996 scheinen. Doch im Grunde fing damit die biographische Arbeit erst an. James R. Edwards setzte seine Recherchen fort. Das Thema, das ihn seit Studientagen begleitet hatte, beschäftigte ihn auch weiterhin – bis weit über die Zeit seiner Emeritierung hinaus. James R. Edwards, Professor an der Whitworth University in Spokane (Washington), schaut auf die Geschichte Ernst Lohmeyers gleichsam von außen, aus einer amerikanischen Perspektive. Das ist das Besondere an seiner Darstellung, die von großer Empathie, detaillierter Quellenkenntnis und kollegialem Einfühlungsvermögen getragen wird. Viele persönliche Begegnungen, Besuche und Gespräche

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Geleitwort

in Deutschland fließen darin zusammen. So entsteht eine Biographie, die aus der Fülle einzelner Mosaiksteine ein stimmiges Gesamtbild zusammenfügt. Das vermeintliche „Schlusskapitel“ wird zum Ausgangspunkt einer neuen Reise. Sie folgt Lohmeyers Leben auf allen seinen Wegen und Umwegen und verbindet sich dabei in unterhaltsamer Weise auch mit den eigenen, verschlungenen Entdeckungswegen des Autors. Vor allem aber spiegelt sie in dieser Verflechtung jene Faszination wider, die bis heute von Lohmeyers Leben und Werk ausgeht. Mit der Originalausgabe des vorliegenden Buches aus dem Jahr 2019 kommt James R. Edwards das große Verdienst zu, der englischsprachigen Welt den nicht immer einfach zu lesenden, stilistisch brillanten Theologen Ernst Lohmeyer grundlegend erschlossen und nahegebracht zu haben. In ihrer Anlage zielt sie auf ein breites Lesepublikum ab. Dem schließt sich nun auch die deutsche Übersetzung als eine hochwillkommene Gabe an die interessierte Leserschaft diesseits des Atlantiks an. Das Buch erzählt keine Heldengeschichte. Es würdigt eine Persönlichkeit, die sich in finsteren Zeiten Charakterfestigkeit und unabhängiges Denken zu bewahren vermochte. Dafür gebührt dem Autor ein aufrichtiger Dank. Christfried Böttrich, Pfingsten 2022

Prolog

Im Jahr 1996 schrieb ich einen Artikel über das mysteriöse Verschwinden und den Tod von Ernst Lohmeyer. Der Artikel erschien nur wenige Wochen vor dem fünfzigsten Jahrestag der Hinrichtung Lohmeyers, derer am 19. September 1996 an der Universität gedacht wurde. Ich ging davon aus, dass die Veröffentlichung des Artikels mein einziger, mehr oder weniger bedeutender Beitrag zur LohmeyerForschung bleiben sollte. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem damit einhergehenden Untergang des Kommunismus wurden die Quellen zu Leben und Tod Ernst Lohmeyers, die ich heimlich in der DDR erschlossen hatte, endlich allen zugänglich. Ich hielt es für richtig, es den Deutschen selbst zu überlassen, die Geschichte dieses ungewöhnlichen Wissenschaftlers und Zeugen von Glaube und Charakter zu erzählen. Für die nächsten zwanzig Jahre legte ich die Rolle des Spürhunds in Ostdeutschland ab und schlüpfte in andere Rollen, die mehr mit meinem Fach als Professor für Neues Testament zu tun hatten. Lohmeyer blieb natürlich etwas Besonderes in meiner Gedankenwelt, aber ich hatte nicht vor, mich über den 1996 geschriebenen Beitrag hinaus damit zu befassen. 2015 ging ich in den Ruhestand und zog mich aus der Vollzeit-Lehrtätigkeit zurück. Zweierlei bewog mich, meine Meinung zu ändern und mich in die Arbeit an einer umfassenden Biografie von Ernst Lohmeyer zu stürzen. Erstens waren Lohmeyers Tochter Gudrun und sein Schwiegersohn Klaus Otto 2015 gestorben – und auch Günter Haufe, Lohmeyers Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Greifswald. Gudrun, Klaus und Günter waren meine drei besten „Informanten“ zu Lohmeyers Leben und Schicksal. Und mehr: Sie waren mir echte Mentoren. Nach ihrem Tod bleibt meine merkwürdige amerikanische Stimme eine von wenigen, die die Geschichte Lohmeyers noch im Kontext der Bemühungen erzählen können, sein Angedenken während der versuchten Tilgung seines Namens im kommunistischen Ostdeutschland zu bewahren. Der zweite Grund war mit dem ersten eng verbunden und vielleicht noch zwingender für meine Meinungsänderung. Mehr als einmal wird im Buch erwähnt, dass die Sowjets Lohmeyer nicht einfach nur ermordeten, sondern versuchten, jegliche Erinnerung an ihn auszulöschen, „als ob er nie existiert hätte.“ Gudrun hatte mir ins Gedächtnis gerufen, dass wir alle sterben müssen; mag der Tod auch unausweichlich sein, der unehrenhafte Tod ist es nicht. Ersteres muss hingenommen werden, das Zweite nicht – oder besser: Es sollte nicht hingenommen werden. Mir wurde immer klarer, dass ich, sei es auch ungewollt, der Auslöschung seines Angedenkens Vorschub leisten würde, wenn ich die Geschichte nicht erzähle. An verschiedenen Stellen in der Biografie erwähne ich das Rüstzeug, das ich für eine

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Prolog

solche Erzählung mitbringe, meine persönlichen Veranlagungen, die mich mit ähnlichen Veranlagungen bei Lohmeyer verbinden. Die Entschlossenheit der Sowjets, die Erinnerung an ihn zu tilgen, erschien mir wie ein Auftrag, diese Veranlagungen zusammenzuführen, um eine Geschichte zu erzählen, die es verdient, erzählt zu werden, sonst aber vielleicht nicht erzählt würde. Diese letztere Erkenntnis wurde praktisch zu einem Aufruf, zu einer notwendigen Gegenoffensive, um den trügerischen Sieg derer, die die Erinnerung an Lohmeyer auslöschen wollten, zu durchkreuzen. Gudrun merkte an, dass ihr Vater die Regel aufgestellt hatte, Hilfe nicht zu verweigern, wenn er um Hilfe gebeten wurde und helfen konnte. Ich steckte zu sehr in einer Lage wie Lohmeyer, daher musste ich mich an sein „Muster“ halten. Der theologischen Fakultät an der Universität Greifswald ist zu danken, dass sie die Flamme der Erinnerung an Lohmeyer weiter leuchten lässt. Eine Dissertation über Lohmeyer hat sie gefördert und begleitet; in einem kleinen, aber stetigen Strom von akademischen Arbeiten und Tagungen (eine davon erwähne ich zu Anfang von Kapitel 17) wird Lohmeyers Bedeutung als Theologe erforscht. Ein besonders erfreuliches Beispiel für dieses Wiederaufleben ist die Benennung des neuen Domizils der theologischen Fakultät in Greifswald nach Ernst Lohmeyer. Die Erinnerungstafel, die anlässlich der Rehabilitierung Lohmeyers am fünfzigsten Jahrestag seiner Hinrichtung am 19. September 1996 angefertigt wurde, schmückt jetzt den Eingang zum Ernst-Lohmeyer-Haus, das auf der anderen Seite der Grünanlage direkt gegenüber dem Hauptgebäude der Universität liegt. Praktisch alle für die Niederschrift dieses Buches genutzten Quellen gibt es nur auf Deutsch, egal ob mündlich oder schriftlich. Das konnte nicht anders sein, denn Ernst Lohmeyer war durch und durch Deutscher. Außerdem glaubte und schrieb er in einer Epoche, in der weit weniger deutschsprachige Werke ins Englische übersetzt wurden als heute. Abgesehen von seltenen Fällen, in denen Arbeiten Lohmeyers ins Englische übersetzt wurden, stammen alle Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische in diesem Buch zwangsläufig von mir. Für Interessierte habe ich die deutschen Originaltexte, einzelne Wörter oder auch ganze Absätze, in den Endnoten eines jeden Kapitels mitgegeben. Auch Leserinnen und Leser mit lediglich minimalen Deutschkenntnissen können von Lohmeyers luzidem, starkem und eindringlichem Deutsch profitieren. Manchmal gebe ich in Anführungszeichen Gespräche wieder, ohne dass ich die deutsche Fassung in den Endnoten zur Verfügung stelle. Meistens zitiere ich diese Gespräche aus der Erinnerung. Ich reklamiere keine Wortgenauigkeit, möchte den Lesern aber versichern, dass der Sinn wenn schon nicht wortgetreu, so doch wahrheitsgemäß dargestellt wird. In vielen Fällen konnte meine Erinnerung sich auf Tagebücher stützen, die ich bei meinen Pilgerreisen durch Deutschland geführt habe. Aus Angst, dass meine Aufzeichnungen bei Grenzübertritten beschlagnahmt werden und unsere Freunde im Osten in Schwierigkeiten bringen könnten, habe ich während meiner Zeit bei Berlin

Prolog

Fellowship (die Organisation wird im Buch vorgestellt) in Ostdeutschland kein Tagebuch geführt. Nach meiner Rückkehr nach Westdeutschland habe ich meine Reiserouten, meine Erlebnisse und die wichtigsten Gespräche in persönlichen Aufzeichnungen festgehalten. Die in Kapitel 15 und 16 berichteten Gespräche fanden nach dem Fall der Mauer statt; die Zeitspanne zwischen Ereignis und Niederschrift belief sich auf höchstens einen Tag, oft auch nur auf wenige Stunden. Zu den für mich persönlich höchst erfreulichen Aspekten bei der Beschäftigung mit Lohmeyer gehörte das Wechselspiel zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen der streitbaren und der siegreichen Kirche. In dieses Wechselspiel waren Stimmen von beiden Seiten des Atlantiks eingebunden. An etlichen Stellen in diesem Buch wird klar, dass viele Deutsche einen Beitrag zum Erhalt des Vermächtnisses von Lohmeyer geleistet haben. Die wichtigsten Persönlichkeiten werden in diesem Buch genannt, insbesondere Gudrun und Klaus Otto sowie Günter Haufe. Andreas Köhns Biografie über den Neutestamentler Ernst Lohmeyer und der Veröffentlichung seiner Predigten als Rektor der Universität Breslau bin ich ebenfalls verpflichtet. Doch auch hinter den Kulissen gibt es Menschen, denen ich danken möchte. Ted Schapp, Pastor in Westberlin, und Bärbel Eccardt, eine für die „Ostarbeit“ mit Berlin Fellowship verantwortliche Westberliner Katechetin, haben mein Verständnis der Kirche in Ostdeutschland mehr als zwei Jahrzehnte lang gefördert und vertieft. Beide, Ted Schapp und Bärbel Eccardt, sind inzwischen verstorben. Ihr Gegenüber im Osten, Gerhard Lerchner († 2018; Pastor in Ostdeutschland) und Gerlinde Haker, Katechetin an der evangelischen Domkirche zu Schwerin, besaßen die seltene Tugend, hartnäckig Widerstand gegen Unterdrückung zu leisten, ohne die Unterdrücker ihrerseits herabzuwürdigen. Beide predigten das Evangelium der Versöhnung in der entmenschlichenden Welt des ostdeutschen Sozialismus. Unmittelbar mit der Entstehung dieses Buches verbunden sind die Namen Barbara Peters und Dr. Ingeborg Schnelling-Reinicke. Frau Peters hat mir während ihrer drei Jahrzehnte andauernden Dienstzeit im Archiv der Universität Greifswald immer prompt und professionell geholfen; Dr. Ingeborg Schnelling-Reinicke vom Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Dahlem hat mir auf ähnliche Weise Unterstützung zukommen lassen, wenn auch zeitlich nicht ganz so ausgedehnt. Frau Dr. Schnelling-Reinicke hat mir Zugang zu Materialien verschafft, die für dieses Buch von entscheidender Bedeutung sind. Ich danke Professor Dr. Christfried Böttrich, der heute den einst von Lohmeyer besetzten Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Greifswald innehat, für die Einladung zu einem Lohmeyer-Symposium im Oktober 2016 und seine offene Werbung für dieses Buch. Ferner danke ich sowohl Ingeborg als auch Christfried für ihre Bereitschaft, den gesamten englischen Entwurf dieses Buches zu lesen und viele hilfreiche Verbesserungsvorschläge zu machen. Schließlich möchte ich Dr. Julia Otto und Stefan Rettner, den Enkeln von Ernst und Melie Lohmeyer, meinen Dank dafür aussprechen, dass sie das gemeinnützige Legat ihrer Eltern Gudrun und Klaus fortführen,

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aus dem meine Nachforschungen über ihren Großvater unterstützt wurden. Ganz besonderer Dank gilt ihnen dafür, dass sie alle Fotos in diesem Buch zur Veröffentlichung freigegeben haben. Auch Amerikaner waren bei meiner Beschäftigung mit Lohmeyer wichtig. Eine frühe Ermutigung zum Schreiben einer Lohmeyer-Biografie kam von meinem Freund Gus Lee. Jerry Sittser, Adam Neder, Gerri Beal, Myra und Gary Watts, William Yakely sowie meine Frau Jane, unsere Tochter Corrie Berg und unser Sohn Mark Edwards waren so großherzig, erste Entwürfe der Arbeit zu lesen und mich sowohl zu ermutigen als auch hilfreiche Änderungsvorschläge beizusteuern. Vielleicht kann nur ich als Autor erfassen, wie sie mit ihrer Fürsprache und den kritischen Anmerkungen das Manuskript zu diesem Buch in den verschiedenen Stadien seiner Entstehung weiterentwickelt und dafür gesorgt haben, dass das Werk der Würde seines Gegenstandes entspricht. Mein besonderer Dank gilt dem Verlag Eerdmans Publishing Company für sein Interesse an einer Lohmeyer-Biografie. Theologische Verlage sind generell eher zurückhaltend, Biografien von Theologen zu veröffentlichen, und manche verweigern sogar die Durchsicht diesbezüglicher Manuskript-Einsendungen. Trevor Thompson, Redakteur bei Eerdmans, war der Meinung, dass diese Biografie abseits solcher Vorbehalte betrachtet werden müsse und dass Lohmeyers Geschichte nicht nur von historischem Wert, sondern auch von aktueller Bedeutung sei. Ich bin dankbar für Trevors Arbeit und auch für die seiner Kollegen Tom Raabe, Jennifer Hoffman, Chris Fann und Tom DeVries. Sie haben die Biografie durch das Publikationsverfahren gelotst und dabei noch besser gemacht. Der Mensch, dem ich beim Schreiben dieses Buches am meisten zu verdanken haben und dem ich größten Dank schulde, ist meine Frau Jane. Sie ist mit dem Namen Ernst Lohmeyer vertraut, seit ich im Vorwort seines Markuskommentars von 1974 über einen unverständlichen Hinweis auf ihn gestolpert bin. Sie hat mich bei meinem Bemühen, die Fäden im Lohmeyer-Geflecht zu entwirren, öfter nach Deutschland begleitet, als ich zählen kann. Ihre Bereitschaft, über viele Jahrzehnte hinweg sowohl physisch als auch mental mit mir auf Lohmeyer-Reisen zu gehen, war mir immer eine Hilfe und hat auf wertvolle Weise zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen. Im letzten Kapitel vergleiche ich die Verbindung, die sich zwischen Lohmeyer und mir bei der Recherche zu diesem Buch und seiner Abfassung ergeben hat, mit der Verlegung von Kabeln in einem Haus, in dem irgendwann der elektrische Strom eingeschaltet wird. Als der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) mir 1993 finanzielle Zuschüsse für Recherchen über das mysteriöse Verschwinden und den Tod Lohmeyers gewährte, nahm ich meine Familie mit nach Deutschland. Auch Shane Berg war dabei, damals einer meiner Studenten an der University of Jamestown und heute mein Schwiegersohn, sowie Jane Holslag, ehemalige Kollegin

Prolog

an der First Presbyterian Church in Colorado Springs, damals tätig für Berlin Fellowship. Weihnachten 1993 verbrachten wir alle im Châlet von Professor Eduard Schweizer in Braunwald, einem nur per Seilbahn erreichbaren Dorf hoch in den schweizerischen Alpen. Tagsüber fuhren wir Ski, doch abends nach dem Essen schürten wir das Feuer im Kamin des Pilgerhüsli und versammelten uns um den Esstisch, um zu hören, welche Fortschritte ich bei meinen Lohmeyer-Recherchen gemacht hatte. Dann verwandelte sich die Familie in einen Trupp von QuasiDetektiven, der das Lohmeyer-Rätsel zu lösen versuchte. 1996, also drei Jahre später, saß ich nach der posthumen Inaugurationsfeier für ihren Großvater, die in der Aula der Universität Greifswald stattgefunden hatte, bei einem Empfang im Hotel am Dom neben Lohmeyers Enkelin Julia Otto. Julia wollte wissen, wie es sein konnte, dass ich, ein Amerikaner, der zu jung ist, um ihren Großvater persönlich gekannt zu haben, sich für ihn interessierte. Ich erwiderte, dass nicht nur ich, sondern auch meine Familie sich für das LohmeyerRätsel interessieren würde, und erzählte die Geschichte von den allabendlichen Ermittlungsgesprächen im Pilgerhüsli. Von dieser Anekdote war Julia besonders angetan. Erst später bei meinen Nachforschungen begann ich zu verstehen, warum. Nach der Verhaftung Lohmeyers verbrachten seine Frau Melie und ihre beiden Kinder Hartmut und Gudrun den Rest ihres Lebens damit, zu bergen, was von ihrer zersprengten Familie übrig geblieben war. Diese Erfahrung war so eindrücklich, dass Gudrun sie aus der Familie bannen wollte und den Kindern nur wenig über den Großvater erzählte. Mit Desinteresse oder Geringschätzung hatte das nichts zu tun; kaum jemand hätte sich tapferer für das Gedenken an den Vater einsetzen können als seine Tochter Gudrun. In der Familie war Gudrun für die Verwaltung des väterlichen Erbes zuständig, sodass Julia und Stefan sich ihr Leben frei von der Überschattung durch den Tod und die Verunglimpfung des Großvaters einrichten konnten. Und ich vermute, dass dies der Grund war für Julias Freude an meinem Bericht über das Pilgerhüsli: Endlich war die Geschichte nicht mehr durchtränkt vom Trauer und Schmerz über den Verlust, sondern bot, und das galt zumindest meiner Familie, Anlass zum Zusammensein, für Gerechtigkeit und Hoffnung. Ein zweiter Vorfall ereignete sich im Herbst 2016 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Zur Bestimmung von Reiserouten und Stationierungen während seines Militärdienstes an der russischen Ostfront arbeitete ich die umfangreiche Korrespondenz Lohmeyers der Jahre 1942 bis 1943 durch. Ich faltete einen Brief auseinander, ich befürchte, zu nachlässig, und eine kleine Blume, die Lohmeyer gepresst und aus der russischen Steppe an Melie geschickt hatte, fiel zu Boden. Ich bückte mich und wollte sie aufheben, aber dieses Memento voller Liebe, das Melie ein Dreivierteljahrhundert lang gleichermaßen liebevoll aufbewahrt hatte, zerfiel bei meiner Berührung. Der Verlust dieser zarten Blume erfüllte mein Herz mit Kummer; Tränen stiegen mir in die Augen. In diesem Moment wurde mir klar, wie eng mein Leben mit Ernst und Melie Lohmeyer verbunden war und wie

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Prolog

der Abstand von Zeit und Raum, der uns trennte, für einen Moment geschlossen wurde. Ihr Verlust war zu meinem geworden, und meine Tränen wären vielleicht auch ihre gewesen. Eine gepresste Blume aus der russischen Steppe, verloren. Möge diese Geschichte zur Sprache bringen, was ihre fragile Schönheit bedeutet.

Danksagung des Autors für die deutsche Ausgabe

Es ist mir eine große Freude, dass dieses Buch auf Deutsch erscheint, weil Vandenhoeck & Ruprecht (seit 2021 ein Imprint von Koninklijke Brill) viele Bücher von Ernst Lohmeyer veröffentlicht hat. Günther Ruprecht, damals Verleger von Vandenhoeck & Ruprecht, stand Melie Lohmeyer nach der Festnahme ihres Ehemannes, während der Inhaftierung und in den sich anschließenden Jahren des Schweigens mit Einfühlungsvermögen und Freundlichkeit zur Seite. Selten nur spielt ein Verlag selbst eine so einzigartige Rolle bei einem Buchthema wie Vandenhoeck & Ruprecht im vorliegenden Band. Mein besonderer Dank gilt folgenden Personen, deren Beitrag für das Gelingen dieses Übersetzungsprojekts unverzichtbar ist: Tom DeVries vom Verlag Eerdmans für seine Beharrlichkeit bei der Vermittlung eines deutschen Verlagshauses; Izaak de Hulster von Brill, Vandenhoeck & Ruprecht für die zugewandte und effiziente Koordination der Arbeiten des Übersetzerteams; Ingeborg Schnelling-Reinicke vom Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem für die unermüdliche Unterstützung bei der Gewährung des Zugangs zu den Quellenmaterialien; Christfried Böttrich, Professor für Neues Testament in Greifswald, für seine Sachkenntnis und seinen Scharfsinn während des gesamten Übersetzungsprozesses sowie für sein Geleitwort zur deutschen Ausgabe; und vor allem Jutta Nickel aus Hamburg für ihre sprachliche Fachkompetenz und ihr künstlerisches Feingefühl bei der Wiedergabe des englischen Originals in der deutschen Übersetzung, die Sie nun in den Händen halten. In seinem letzten Brief, den Ernst Lohmeyer in einer NKWD-Gefängniszelle schrieb und an seine Frau Melie schmuggeln ließ, hing er quälenden Gedanken über sein Schicksal nach: „Hätte mir Gott dies alles nur geschenkt, um es hinter Gefängnismauern zu vergraben?“ Lohmeyer dürfte damit gerechnet haben, dass sein Leben tatsächlich innerhalb der Gefängnismauern endet. Diese deutsche Ausgabe indes verspricht genau das, womit er vielleicht nicht gerechnet hat – dass nämlich die Erinnerung an ihn nicht hinter Gefängnismauern untergeht. James R. Edwards

Landkarten

Bildunterschrift 1: Europa zu Beginn des Ersten Weltkriegs

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Landkarten

Bildunterschrift 2: Europa während des Zweiten Weltkriegs (1942)

Bildunterschrift 3: Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg

Kapitel 1. Eine posthume Inauguration

„Niemand weiß, wo Lohmeyer seine letzte Ruhe gefunden hat. Wir alle aber wissen, wer er war und für uns noch immer ist: ein hervorragender Theologe, ein großer Mensch, voller Lauterkeit und Arglosigkeit, ein Märtyrer für die Freiheit der Universität, in der Sprache Israels: ein ‚Gerechter unter den Völkern‘.“1 Günter Haufe, 1996

Ein unbeholfener Auftritt Ich schob mich seitlich vor den Menschen vorbei, die in der zweiten Reihe saßen. In der Mitte der Reihe befand sich ein freier Stuhl, der mit einer Karte für „Herr Edwards“ reserviert war. Rasch nahm ich Platz und richtete alle Aufmerksamkeit auf das Abendprogramm, das sich vorne abspielte, in der Hoffnung, meine Störung wiedergutmachen zu können. Aber zumindest in diesem Moment nahm ich alles wahr wie durch einen Schleier. Ich hatte gerade eine Reise von knapp zehntausend Kilometern hinter mich gebracht, um an einer wichtigen Inaugurationsfeier teilzunehmen, sicherlich der ungewöhnlichsten, die ich je erlebt hatte. Und ich war spät dran. Von North Dakota, wo ich eine Professur für Religion an der University of Jamestown innehatte, war ich nach Chicago geflogen, von Chicago per Nachtflug nach München und von dort mit einem Inlandsflug nach Hamburg. In Hamburg war ich in den Zug gestiegen – nicht in den ICE, sondern in die langsamere Regionalbahn, die mir Zeit verschaffen sollte, mich auf meine ganz besondere Pilgerfahrt einzustimmen. Fünfeinhalb Stunden später kam ich in Greifswald an, einer malerischen, mittelgroßen Universitätsstadt, die im Norden an die Ostsee grenzt und im Osten an Polen. In den vorangegangenen vier Jahren hatte ich Nachforschungen über den Mann angestellt, der in das Amt eingeführt werden sollte. Ich hatte einen wissenschaftlichen Artikel über ihn verfasst, der ins Deutsche übersetzt wurde und nur einen Monat vor der Inauguration in einer führenden deutschen Fachzeitschrift erschienen war. Dieser Artikel hatte mir eine förmliche Einladung zur Amtseinführung an der Universität Greifswald eingebracht, das hieß: bei der Feierlichkeit neben den Honoratioren und der Familie zu sitzen, neben Universitätsvertretern und politischen

1 Haufe: Ein Gerechter unter den Völkern. Gedenken an Ernst Lohmeyer. Rede an der Universität Greifswald anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Hinrichtung Lohmeyers, 19. September 1996.

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Eine posthume Inauguration

Repräsentanten des nordöstlichen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Die ersten beiden Reihen waren für die Honoratioren reserviert. Zeit und Ort waren auf der Einladung deutlich angekündigt: Aula der Universität, 19. September 1996, 19 Uhr. Ich bat den Dekan der University of Jamestown, mich für eine Woche von meinen Lehrverpflichtungen beurlauben, damit ich dabei sein konnte. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn das Lehrdeputat in Jamestown war hoch, es gab kaum Assistenten. Vier meiner Religionsstudenten im Hauptstudium erklärten sich freundlicherweise bereit, mich eine Woche lang zu vertreten. Nach Abschluss der Vorbereitungen trödelte ich herum. Manchmal geht einfach alles schief … Ich hatte im Kopf, dass die Veranstaltung um 19.30 Uhr beginnen sollte, und keinen Blick mehr auf die Einladung geworfen. Zügig eilte ich zur Universität und rechnete damit, deutlich zu früh einzutreffen. Ich rannte die Treppe zur stattlichen Aula im zweiten Stock hinauf und war um 19.10 Uhr dort. Als ich Musik hinter den geschlossenen Türen hörte, nahm ich an, dass das Orchester sich einspielt. Vorsichtig öffnete ich die Tür … und musste feststellen, dass der Saal voll besetzt war und die Feierlichkeiten längst angefangen hatten. Unmöglich, jetzt noch ruhig oder unauffällig einzutreten. Die Musik – Bachs Contrapunctus IV aus Die Kunst der Fuge, gespielt von einem Pianisten auf einem polierten schwarzen August-Förster-Flügel, zwei Geigern, einem Cellisten und einem Bratschisten –, war gerade zu Ende, als ich meinen Platz einnahm. Professor Jürgen Kohler eröffnete die Zeremonie mit einer förmlichen Begrüßung. Regine Marquardt, Kultusministerin von Mecklenburg-Vorpommern, sprach im Namen der Bundesregierung ein paar feierliche Worte. Eine zweite Bach-Fuge, Contrapunctus I, wurde nun als Zwischenspiel aufgeführt. Aufmerksam ließ ich den Blick durch den Barocksaal schweifen, dessen Ambiente Bachs Musik optisch zu spiegeln schien. Die Wände in tiefem Zinnoberrot wurden durch zwei Reihen hochglänzender elfenbeinfarbener Säulen scharf abgegrenzt, die den Saal in ein Mittelschiff und zwei schmalere Seitenschiffe unterteilen. Die ionischen Voluten, die die Säulen krönten, stützten einen umlaufenden Balkon, ebenfalls aus hochglänzendem Elfenbein. Vergoldete Endstücke, Urnen und Ornamente zierten den oberen Teil der Balkonbrüstung. Die hohe Decke wurde von einem großen, dekorativen Medaillon in der Mitte dominiert, mit Kronleuchtern an beiden Enden. Der polierte Kastanienboden darunter reflektierte den ästhetischen Tanz von Farbe und Licht. Der besänftigende Schwung des Contrapunctus I lenkte meinen Blick auf den vorderen Teil des Saals. Dort befand sich das Podium für die Reden der Würdenträger. Dort befand sich auch der Stuhl des Rektors; er hatte eine Patina, die aussah wie Runen einer Sprache, die nur der Universität selbst vertraut war. Die Rückenlehne des Stuhls war mit der Amtskette des Rektors geschmückt. Der Stuhl allerdings war leer. Daneben stand das Foto eines Mannes – sein schönes Gesicht etwas gemeißelt

Die Fuge als Metapher des Lebens

und abgemagert, mit wissenden Augen, die leicht nach rechts blicken. Über dem Foto prangte eine schwarze Marmortafel mit der Inschrift in goldenen Lettern: In memoriam ERNST LOHMEYER geboren am 8.7.1890 Professor für Neues Testament Greifswald 1935–1946 Rektor der Universität ab 15.5.1945 verhaftet vom NKWD am 15.2.1946 zu Unrecht hingerichtet am 19.9.1946 rehabilitiert am 15.8.1996 Beim Lesen der vorletzten Zeile ersetzte ich die Jahreszahl 1946 in Gedanken durch 1996. Auf den Tag genau fünfzig Jahre zuvor war Ernst Lohmeyer vom berüchtigten NKWD, dem Vorläufer des ebenso berüchtigten KGB der Sowjetunion, hingerichtet worden. Dies war eine posthume Inauguration.

Die Fuge als Metapher des Lebens Die Fuge ist die europäische Musikform mit den höchsten formalen und theoretischen Anforderungen. Eine Fuge beginnt mit dem Ton der Tonika, einem Leitthema oder einer „Stimme“ des Trostes und der Besänftigung. Dieses Thema wird anschließend von bis zu drei oder vier nachfolgenden „Stimmen“ in neuen Variationen aufgegriffen. Die Folgestimmen unterscheiden sich vom Ausgangsthema in zweierlei Hinsicht. Es sind Stimmen der Dominante, stärker als das anfängliche Thema der Tonika. Und sie fordern das Hauptthema heraus und verfolgen es weiter, wodurch die Spannung in der Fuge entsteht. Das Gelingen der Fuge ist abhängig von der Auflösung der Spannung zwischen dem Ausgangsthema auf der Tonika und den nachfolgenden Stimmen der Dominante. Das Selbstgespräch der Bach-Fuge klingt, als wäre es eigens für Lohmeyer komponiert worden. Sein Leben war so komplex und metronomisch so präzise wie eine Fuge. Das Anfangsthema seines Lebens war tonal – verheißungsvoll, besänftigend, tröstend. Mit seinen zwei Doktortiteln, jeweils einem in Theologie und Philosophie, konnte er sich in der intellektuellen und akademischen Welt früh und überzeugend durchsetzen. Zu seinen Interessengebieten gehörten das griechisch-römische Altertum, Altgriechisch sowie Latein und semitische Sprachen; dazu die Auslegung des Neuen Testaments, Philosophie, Musik und Poesie. Als er in seinen Dreißigern war, trug sein Genie Früchte – in renommierten Verlagen und Fachzeitschriften veröffentlichte er eine beeindruckenden Anzahl von Artikeln und Büchern. Er wurde auf

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Eine posthume Inauguration

angesehene Professorenstellen in Heidelberg und Breslau berufen, in Heidelberg erhielt er die Ehrendoktorwürde, in Breslau wurde er zum Rektor der Universität ernannt. Seine Schaffenskraft und sein Bekanntheitsgrad sprechen dafür, dass die Musen ihm gnädig gestimmt waren. Doch Anfang der 1930er-Jahre mischten sich neue, aufdringlichere und störendere Stimmen in die Fuge von Lohmeyers Leben. Wie viele aus seiner Generation sah er sich von Kräften beherrscht, die sich seiner Kontrolle entzogen. Die autoritäre NS-Ideologie lehnte er ab, insbesondere deren fanatischen Antisemitismus. Er schloss sich der Bekennenden Kirche an, einem Zweig der deutschen protestantischen Kirche, der sich dem Anschluss der Kirche durch den Staat widersetzte. Die ganze Zeit hielt er unerschütterlich am ursprünglichen Thema seines Lebens fest: biblischer Theologe zu sein. Er schrieb sehr viel – nicht nur Geisteswerke, sondern bei fast jeder Gelegenheit auch Werke, die seiner Seele näher waren, in Predigten, in der Korrespondenz mit intellektuellen Koryphäen der Zeit sowie Briefe an seine Frau während der neuneinhalb Jahre im Militärdienst beider Weltkriege. Sein Charakter und seine Brillanz führten dazu, dass er zum Rektor nicht nur einer, sondern von zwei deutscher Universitäten ernannt wurde. Die dissonanten Stimmen, die ihn angriffen, setzten ihn mit seiner Rektoratsverantwortung unter äußersten Zugzwang. An beiden Universitäten, die erste in nazibraunes Gewand gekleidet und die zweite in kommunistisches Rot, wurde ihm abverlangt, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, ohne Gott zu gewähren, was Gottes ist. Im gefährlichen Zirkus des öffentlichen Lebens im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre war dies wie ein Hochseilakt ohne Sicherheitsnetz. Die erste Prüfung bestand er noch, ebenso die zweite – aber sein Erfolg bei der zweiten Prüfung kostete ihn das Leben. Die Veranstaltung, an der ich teilnahm, war eine Replika der Zeremonie, mit der Ernst Lohmeyer am 15. Februar 1946 in sein Amt eingeführt werden sollte. An diesem Tag stürmte der NKWD um 2 Uhr nachts in sein Haus und holte ihn ab. Am selben Tag fand vormittags um 11.00 Uhr die feierliche Amtseinführung statt, doch Lohmeyer war nicht anwesend, der Stuhl des Rektors blieb leer, und sämtliche Verweise auf ihn wurden eilig aus den Reden gestrichen. In der DDR wurden sein Name und sein Schicksal in den Jahrzehnten danach aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt. Alle Angaben über ihn und seinen Verbleib lagerten verschlossen in Archiven, und niemand wusste, wo. Fragen durften nicht gestellt, Informationen nicht preisgegeben werden. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989, dem Zusammenbruch des Kommunismus in den Ostblockländern und schließlich in Russland selbst konnte das Schicksal von Ernst Lohmeyer geklärt werden. Das wichtigste Symbol für die lang ersehnte Aufklärung war die Feier, an der ich teilnahm – zu Ehren seiner, wenn auch posthumen, Amtseinführung, die ihm fünfzig Jahre zuvor zu Unrecht versagt worden war. Die Inaugurationszeremonie, die Schönheit des Barocksaals und der Frohsinn des Contrapunctus I heiterten meine Seele wieder auf und regten meine Lebensgeis-

Die Fuge als Metapher des Lebens

ter an. Die wilde Leidenschaftlichkeit in Lohmeyers Gesichtszügen hatte mich in den Bann geschlagen, wie eine Ikone einen Verehrer in den Bann schlägt. Die Worte, mit denen er rehabilitiert wurde – „zu Unrecht hingerichtet … entlastet“ – waren befreiend, eine Ehrenrettung und trotz der Traurigkeit voller Freude. Der Gedenkgottesdienst war wie das reinigende Wasser der Absolution, die Vollendung von fast zwei Jahrzehnten der Bemühungen meinerseits und noch mehr seitens seiner Familie und der Universität Greifswald, um dem Nebel der kommunistischen ostdeutschen und russischen Bürokratie Fakten über sein mysteriöses Verschwinden mitten der Nacht und seinen Tod zu entreißen. Zudem spiegelte die Bach-Fuge, obwohl eher schwach, meine eigene Suche nach Lohmeyers Schicksal wider. In mir war eine Stimme gewesen, die nach einem Doktortitel in Theologie strebte, doch dieses Streben war durch Stimmen von Lohmeyers ungelöstem Schicksal aufgestört worden. Im Lauf der Jahre wurden die Stimmen immer zahlreicher und eindringlicher. Sie zogen mich, einen merkwürdigen Amerikaner, hinein in die Lebensgeschichte dieses sehr preußischen Mannes, dessen Mut und Glaube erst in Nazi-Deutschland und später im kommunistischen Ostdeutschland bis ans Limit geprüft werden sollten. Als sowjetische Militärangehörige ihn als „Staatsfeind“ bezeichneten und 1946 ermordeten, hatten sie nicht nur vor, ihm das Leben zu nehmen, sondern darüber hinaus jegliche Erinnerung an ihn zu tilgen, als ob er nie existierte2 – „as though he never existed“. Fast wäre es ihnen gelungen. Aber nur fast. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Ernst Lohmeyer. Und es erzählt, wie mein Bestreben, sein Schicksal ans Licht zu bringen, mein eigenes Leben verändert hat.

2 Deutsch und kursiv im Original.

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Kapitel 2. Eine unpassende Frage

„bis ihn höhere Gewalt einem bis heute ungeklärten Schicksal entgegenführte.“1 Gerhard Saß, 1967

Zufallsfund in einer Bibliothek Als ich das erste Mal von Ernst Lohmeyer hörte, war ich Ende zwanzig. Ich stieß auf seinen Namen, wie ich damals auf viele Namen stieß – ein Wissenschaftler mehr, den ich bei Recherchen für meine Doktorarbeit zu berücksichtigen hatte. Mitte der 1970er-Jahre schrieb ich meine Dissertation über das Markusevangelium in der McAlister Library am Fuller Theological Seminary in Pasadena, Kalifornien. Ernst Lohmeyers Evangelium des Markus galt als führender Kommentar zu Markus, publiziert im renommierten Meyerschen Kommentar in Deutschland. Lohmeyer veröffentlichte seine Schrift erstmals 1936, als Professor für Neues Testament an der Universität Greifswald. Die von mir verwendete Ausgabe war aber 1967 erschienen und wurde von einem Ergänzungsheft begleitet. In der deutschen Fachliteratur sind solche Hefte nicht ungewöhnlich; sie enthalten weitere Belege, Korrekturen, Änderungen, Streichungen usw., die sich aus späteren Erkenntnissen ergeben, und werden von Autor und Verlag angeboten, um eine frühere Publikation zu aktualisieren und länger lebendig zu halten. Zusammen mit der 1967 erschienenen Ausgabe von Lohmeyers Kommentar war das fünfzigseitige Ergänzungsheft also durchaus üblich, nur dass es nicht von Lohmeyer geschrieben war. Es trug den Namen Gerhard Saß, war auf 1950 datiert und begann mit folgenden Worten: „So erfreulich die Tatsache ist, dass der Markuskommentar Prof. Lohmeyers nunmehr in 2. Auflage erscheint, so schmerzlich ist es zugleich für Wissenschaft und Kirche, daß der Verfasser nicht mehr selbst die Herausgabe der Neuauflage übernehmen kann. Sein mir vorliegendes Handexemplar zeigt [,] wie er ständig an der Verbesserung und Ergänzung gearbeitet hat, bis ihn höhere Gewalt einem bis heute ungeklärten Schicksal entgegenführte.“2 Ich bin, wie viele andere auch, interessiert an dem Autor, den ich gerade lese, und möchte etwas über sein Leben erfahren, besonders wenn der Autor mir gefällt. Das Bedrückende im Vorwort von Saß wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen; das

1 Saß: Ergänzungsheft, in: Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, 8. Aufl. 1967, 4. 2 Saß: Ergänzungsheft, in: Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, 8. Aufl. 1967, 4.

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Eine unpassende Frage

Schicksal dieses Autors war ein ungelöstes Rätsel. Ich zeigte die Passage meinem „Doktorvater“ Professor Ralph Martin und fragte ihn, was es damit auf sich habe. Niemand kannte sich mit solchen Dingen besser aus als Martin, der mir aber irgendwie entmutigt und in knappem britischen Tonfall erwiderte: „Es ist und bleibt ein Mysterium.“ Das machte es noch schlimmer für mich. Was war denn diese „höhere Gewalt“, auf die Saß sich bezog – ein Regime, eine Regierung, vielleicht eine Streitkraft? Was hatte diese Gewalt ihm, Lohmeyer, angetan? Warum war das Mysterium nach all den Jahren immer noch nicht gelüftet? In der abgeschiedenen und eigentlich sicheren Welt der Wissenschaft sind solche Machenschaften nicht die Regel. Genauso aufschlussreich war, was Saß nicht sagte, was zu sagen er nicht über sich bringen konnte. Lohmeyers Schicksal war endgültig und unumkehrbar. Sein Verschwinden wurde nicht gemeldet, als ob er aufgefunden, das Rätsel gelöst und alles wiedergutgemacht werden könnte. Er war weg … für immer, und niemand wusste, warum. Es war die pure Anziehungskraft um Lohmeyers rätselhafte Unauffindbarkeit, die dafür sorgte, dass ich den Zettel behielt. Trotzdem kümmerte ich mich nicht weiter um die Angelegenheit. Damals war ich verheiratet, meine Frau und ich hatten zwei kleine Kinder, und ich war mit einer Vollzeitstelle plus Rufbereitschaft als Jugendseelsorger an der First Presbyterian Church in Colorado Springs beschäftigt. Aber junge Paare und junge Familien handeln gerne mal unvernünftig, sei es aus Notwendigkeit oder aus freiem Entschluss. Meine Frau Jane und ich machten da keine Ausnahme. Wir kauften ein älteres Haus, das wir in unserer Freizeit mit spärlichen Mitteln renovierten. Außerdem schrieb ich mich für ein DoktorandenProgramm ein, was bedeutete, drei Mal pro Jahr nach Pasadena zu fliegen, um mich dort in der Bibliothek jeweils zwei Wochen lang in Recherchen zu vertiefen, während Jane mit dem Alltag in Colorado Springs zurückblieb und sich allein um Kinder, Haus, Hund, Garten und Unvorhergesehenes kümmerte. Nach den zwei Wochen in Pasadena flog ich wieder nach Colorado Springs und schrieb zu Hause die Kapitel meiner Dissertation, die meine Recherchen erbracht hatten. In den 1970er-Jahren war meine To-do-Liste länger als je zuvor oder jemals danach. Und während eines Fuller-Kurzsemesters stolperte ich über den irritierenden Hinweis von Gerhard Saß. Dieser Hinweis führte dazu, dass ich den Namen Lohmeyer nicht mehr vergessen konnte; aber mir fehlten Zeit und Muße, mich näher darauf einzulassen.

Entschluss an einer Stadtmauer 1978 erhielt ich meinen Doktorgrad in Neuem Testament und wurde als Professor für Religion an die Universität Jamestown in North Dakota berufen. Im folgenden Sommer kehrte ich mit einer Organisation namens Berlin Fellowship nach Ost-

Entschluss an einer Stadtmauer

deutschland zurück, wo ich Beziehungen auffrischte, die ich bei einem Besuch 1971 geknüpft hatte. Berlin Fellowship war aus dem Flüchtlingsdienst der Hollywood Presbyterian Church nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 hatte die halbe Stadt vom Westen abgeschnitten, und was dann als Eiserner Vorhang in die Geschichte einging, trennte die östlichsten Länder Deutschlands von den westlichen ab. Durch jährliche Besuche der amerikanischen Kirche bei Pastoren, Kirchen und Christen im Osten Deutschlands wurde Berlin Fellowship ein stiller, aber mächtiger Zeuge der Einheit der Kirche in einer politisch geteilten und militärisch instabilen Welt. Der Name verrät, worum es Berlin Fellowship hauptsächlich ging: um „Berlin“, die geteilte Stadt und Brennpunkt des Kalten Krieges zwischen Ost und West, und um „Fellowship“, den Aufbau von Freundschaften und wechselseitig förderlichen Beziehungen. Das wurde erreicht, indem amerikanische Christen in Vierer-Teams für einige Tage bestimmte Gemeinden in Ostdeutschland besuchten, sich dort zu Ausflügen, Picknicks, Spielen, Gesprächen trafen und zu Bibelarbeit, Gottesdienst und Gebet zusammenfanden. Berlin Fellowship drehte sich zuallererst um Menschen – nicht um Politik oder Wirtschaft, nicht um Ideologie oder Militärstrategie. Berlin Fellowship vermied alles, was verboten war oder provokativ sein konnte, um das Leben der Menschen in Ostdeutschland nicht zu gefährden. Die Organisation hat sich nicht an subversiven politischen Aktivitäten beteiligt und keine Konterbande nach Ostdeutschland geschmuggelt. Die Einreise erfolgte mit legalen Touristenvisa. Auch wenn es der breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt war, hat die ostdeutsche Seite zu solchen Reisen sogar ermutigt, waren sie doch eine Möglichkeit, sich harte Westwährung zu beschaffen. Im Juni 1979 übersetzte ich für ein Berlin Fellowship Team in Greifswald. Wir saßen in unserem Abschlusstreffen, gönnten uns Kaffee und Kuchen in der Dicken Marie, wie die Kirche, deren Turm ziemlich gestaucht aussieht, liebevoll genannt wurde. Das Untergeschoss des Gebäudes war bis auf den letzten Platz besetzt mit Leuten, die den amerikanischen Besuchern zuhören und mit ihnen sprechen wollten. Solcher Besuch war im abgelegenen Greifswald eine Seltenheit. Wer an dem Treffen teilnahm, ging damit auch ein gewisses Risiko ein, denn die Stasi missbilligte öffentliche Veranstaltungen, die nicht unter staatlicher Kontrolle standen. Unter die Anwesenden hatten sich garantiert Stasi-Agenten und Informanten gemischt, aber wer es war, konnte man nur vermuten. Trotzdem sprachen wir offen miteinander, und in dem Treffen, das mittlerweile in die zweite Stunde ging, schien noch viel Leben zu stecken. Während einer Diskussionspause fiel mir plötzlich ein, das Greifswald der Ort war, wo sich Ernst Lohmeyers „mysteriöses Verschwinden“ abgespielt hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich den Zusammenhang komplett ausgeblendet. Sein Schicksal und die Stadt Greifswald schienen zwei stromführende Leitungen zu sein; ich sollte versuchen, sie zu verbinden. „Hat Ernst Lohmeyer

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Eine unpassende Frage

nicht in Greifswald gelehrt?“, warf ich rasch ein. „Weiß jemand, was ihm zugestoßen ist?“ Sofort wich alle Wärme und Geselligkeit aus der Zusammenkunft. Ich hatte keine Ahnung, woran es lag, aber Dr. Reinhard Glöckner, der Pastor der Dicken Marie, konnte den Vorfall natürlich einordnen. Er erhob sich hastig, beendete das Treffen ungelenk und schlug mir vor, einen Spaziergang zu machen. In einer Gesellschaft, in der Abhörgeräte in Radios und Fernsehern installiert waren, in Lampenfassungen und unter Empfangstresen, wo in Veranstaltungen wie diesen ausnahmslos immer die Ohren aufgesperrt und gelauscht wurde, garantierte ein Spaziergang normalerweise Ungestörtheit. Wir gingen die Brüggstraße entlang bis zu der Stelle, wo sie die alten Wallanlagen verließ. Dort bogen wir nach rechts ab und liefen auf einem Kiesweg weiter. Rechts von uns befand sich die alte Stadtmauer aus rotem Backstein, links eine großzügige, einladende Baumgruppe. Ich war innerlich angespannt; irgendwie nervte mich der Kies, der unter unseren Schritten knirschte, als ich darauf wartete, dass Glöckner zu reden anfing. Schließlich beendete er das Schweigen. „Jim, in dieser Stadt darf der Name Ernst Lohmeyer nicht ausgesprochen werden!“ „Und warum nicht?“, hakte ich nach. Ich war in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der allzu forsches Nachfragen vielleicht als Verstoß gegen die gesellschaftlichen Umgangsformen gewertet wurde, aber eine lebhafte Veranstaltung würde sich damit nicht sprengen lassen. Mein „Warum nicht?“ drängte sich also förmlich auf, doch für Glöckner, der sein Leben lang Kirchen durch die Skylla des Nationalsozialismus und die Charybdis des Kommunismus gelotst hatte, klang meine Bemerkung fast unverzeihlich naiv. „Die Kommunisten haben bei Lohmeyers Verschwinden ihre Finger im Spiel“, erwiderte er mit leiser Verzweiflung. „Höchstwahrscheinlich haben sie ihn ermordet, auch wenn uns keine Einzelheiten bekannt sind. Wer vom Staat verhaftet und liquidiert wird, gilt als Staatsfeind, und wer auch immer sich nach ihrem Verbleib erkundigt, gilt als Mittäter. Mittäter sind Staatsfeinde! Deine Frage heute Nachmittag hat jeden, der sich dort aufhielt, in Gefahr gebracht!“ Ich blieb erschrocken zurück. Glöckners Erklärung ergab Sinn, obwohl ich zugeben muss, dass ihre Wucht mich nicht erreichte, abgesehen von seiner scharfen Zurechtweisung. Wichtiger als der Verweis war das ungeheure Unrecht, das in der Vertuschung an sich lag – dreiunddreißig Jahre lang war die Ermordung eines unschuldigen Mannes in Schweigen gehüllt geworden. Ich war aufgebracht. „Sicherlich kann sein Tod geklärt werden“, ich wollte nicht nachgeben, „Lohmeyer war ein bedeutender Theologe. Wie kann es sein, dass man ihn in der Stadt, in der sich alles abgespielt hat, in Vergessenheit geraten lässt?“ Den Kalten Krieg hatte ich immer als Machtkampf begriffen. Genau jetzt befanden wir, Glöckner und ich, uns im Sog dieses Machtkampfes. Aber uns ging es nicht um Macht. Uns ging es um etwas viel Grundlegenderes – um Wahrheit. Glöckner war genauso mit Lohmeyers Schicksal beschäftigt wie ich. Wahrscheinlich noch

Ausrichtung von Sternbildern

mehr, nur dass er nicht frei aus Ostdeutschland ausreisen konnte, anders als es mir, dem Amerikaner, möglich war. Und als ostdeutscher Pastor musste er, wenn er dem Schicksal Ernst Lohmeyers nachforschte, immer auch das für seine Gemeinde existenziell Notwendige im Blick behalten - einer Gemeinde, die, und dies galt für alle Kirchen in Ostdeutschland, innerhalb eines überall sich einmischenden Staates, der sie unterdrücken und letztlich auslöschen wollte, ihren Weg finden musste. Es ist richtig, dass die ostdeutsche Kirche Freiräume genoss, die anderen Institutionen nicht zugebilligt wurden. Doch selbst der größtmögliche Freiheitsgrad überschritt nie die Grenzen widerwilliger Duldung seitens der Regierung. Rechts von uns hinter der Mauer befanden sich mehrere heruntergekommene Gebäude. Zu den auffälligeren zählte ein vierstöckiges Bauwerk in Orwellscher Überwachungsarchitektur, errichtet aus rotem Backstein mit schmalen Fenstern hoch im Gemäuer. In früheren Zeiten war es als Gefängnis genutzt worden. Damals hatte ich nichts davon gewusst, aber in diesem Gefängnis hatte Lohmeyer seine letzten Lebensmonate zugebracht und im Hof möglicherweise den Tod gefunden. Wieder zerrte der Kies, der unter unseren Schritten knirschte, an meinen Nerven. Ich fasste einen stummen Entschluss, so undeutlich, dass ich ihn nicht klar hätte formulieren können. Aber eines stand fest: Sollte sich jemals die Gelegenheit bieten, würde ich versuchen, Lohmeyers Geschichte auf den Grund zu gehen.

Ausrichtung von Sternbildern Es ist ein Kennzeichen von Totalitarismus, dass er sich anmaßt, die Koordinaten der Wirklichkeit zu verändern. Man versucht, den Begriff der „unveräußerlichen Rechte“ umzudefinieren und sogar abzuschaffen; man versucht, Werte wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit auszulöschen – Werte, die nicht in Form von Argument und Beweis existieren, sondern als angeborene Haltung. Sowohl Nazi-Deutschland als auch das kommunistische Ostdeutschland nahmen solche chthonischen Umbildungen der Realität in Angriff. Der ostdeutsche Blackout zum Schicksal Lohmeyers war geradezu mustergültig dafür. Mit dem Verbot eines Namens wie Lohmeyer sollte nicht einfach nur verhindert werden, dass er in Zukunft genannt wird; letztlich ging es darum, ihn aus der Vergangenheit auszuradieren. Sofern es gelingt, einen Namen sowohl aus dem öffentlichen Gespräch als auch aus den Geschichtsbüchern zu tilgen, werden Unwissende diesen Namen nie zu hören bekommen und Wissende ihn mit der Zeit vergessen. Mit dem Ziel, die Wirklichkeit trügerisch zu entstellen, kann die Vergangenheit selbst gesäubert, zeitlich verändert und manipuliert werden. Gegen diese arglistige Umbildung gibt es nur eine einzige Verteidigung. Es ist das Gedächtnis. Das Gedächtnis ist die stärkste Waffe im Widerstand gegen Gewaltherrschaft. Die Informationsüberwachung in Ostdeutschland schuf so etwas

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wie ein Diorama, einen Schaukasten der gegebenen Gesellschaft. Innerhalb dieser blutleeren Zurschaustellung arbeiteten einzelne Menschen still, manchmal im Geheimen, immer furchtlos und unerschrocken daran, die Erinnerung an Lohmeyer lebendig zu halten, und sie gaben sich größte Mühe, seine Geschichte aufzudecken. Dazu gehörten seine Frau, sein Sohn, ganz besonders seine Tochter und deren Ehemann, ein paar Professoren an der Universität und in geringerem Maße auch Menschen wie ich. Als 1989 der Kommunismus in Deutschland zusammenbrach, konnten Schicksale wie das von Ernst Lohmeyer und Hunderttausenden anderen Deutschen nicht nur wieder aufgegriffen, sondern möglicherweise sogar geklärt werden. Mehrere Gestirne in meinem Leben traten zu einer Konstellation zusammen und versetzten mich in die Lage, Lohmeyers Geschichte nachzuverfolgen. Das wichtigste Band zwischen uns bildete die Pilgerfahrt, die wir als Gelehrte wie Lernende des Neuen Testaments teilten. Zwei Menschen, die einzeln und je für sich zur gleichen Pilgerfahrt aufbrechen, wissen viel übereinander, noch bevor sie den Namen des jeweils anderen hören. Lohmeyer kannte mich natürlich nicht, aber die beiderseitige Verbundenheit mit dem Neuen Testament öffnete mir das Tor für Einblicke in seine Persönlichkeit. Es gab weitere entscheidende, wenn auch weniger integrale Berührungspunkte. Einer dieser Punkte war Deutsch. Nachdem ich 1970 am Princeton Seminary graduiert worden war, hatte ich das große Glück, an der Universität Zürich in der deutschsprachigen Schweiz Neues Testament studieren zu dürfen. Dort führte Professor Eduard Schweizer mich in die Lebendigkeit der deutschen Sprache und der deutschen Theologie ein und machte mich auch mit der wunderbaren deutschen Universität vertraut. Lohmeyer war zutiefst deutsch, sogar Preuße, und abgesehen von den deutschen Bezügen war es nicht möglich, dass die übrige Welt sein bemerkenswertes Leben mitbekam oder dass Nachrichten über ihn publiziert werden konnten. Die deutsche Sprache verschaffte mir Zugang zu einem Bereich der deutschen Gesellschaft, der fast vollständig vom Westen abgesondert war. Das erste Mal fuhr ich nach Ostdeutschland, als ich in der Schweiz studierte, und in mancher Hinsicht bin ich niemals wieder zurückgekehrt. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich mich durch meine Besuche in Ostdeutschland in dem Leben der Christen dort verankert. Die meiste Zeit seines Lebens hat Lohmeyer in dem Teil Deutschlands verbracht, der zu Ostdeutschland wurde, und dort ist er auch gestorben. Die Kirche, auf die ich dort traf, war die Tochter der Kirche, die Lohmeyer selbst geführt und der er gedient hat. In Ostdeutschland bin ich Menschen begegnet, die Lohmeyer kannten. Und wer ihn nicht kannte, wusste, dass seine Erfahrung mit dem Osten Deutschlands essenziell war; ohne sie war er nicht zu begreifen. Was ich aus Freundschaften und Gesprächen mit Ostdeutschen über Lohmeyer lernte, hat meine Erkenntnisse aus Recherchen in Bibliotheken und Archiven über ihn wesentlich erweitert.

Ausrichtung von Sternbildern

Ein letzter Punkt, der nichts mit den Umständen oder meinen Interessen zu tun hat‚ verbindet mich vielleicht tiefer mit Lohmeyer als das oben Gesagte. Es war sein Mut, die Courage, nach Grundsätzen zu handeln, von denen er wusste, dass sie wahr sind und denen er sein Leben widmete. Manche Menschen setzen sich tapfer für die Wahrheit ein; Lohmeyer stritt und kämpfte leidenschaftlich für sie. Seine Fähigkeit, überzeugt und entschlossen zu handeln, voller Zuversicht und mit beinahe größter Gelassenheit im Angesicht vernichtender Widersacher, berührt mich tief im Innern – nicht weil es eine Tugend ist, die auch mir zukommt, sondern weil ich sie bewundere und weil ich glaube, dass eine couragierte, charakterstarke Persönlichkeit eine unbezwingbare Gewalt im Widerstand gegen Tyrannei darstellt. Ich habe mich intensiv mit seinem Leben befasst, weil das Lebensbild eines Menschen genauso wichtig ist wie die Worte aus seinem Mund, die Tugend und Werte kommunizieren sollen. Im Untergeschoss der Dicken Marien im Jahr 1979 – oder nach Glöckners scharfem Verweis nach der Veranstaltung – traten diese verschiedenen Gestirne, die am Nachthimmel meines Gelehrtendaseins leuchteten, in meinem Bewusstsein auf merkwürdige, aber unumkehrbare Weise zu einer Konstellation zusammen. Wenn ich mir diese Fügung heute vor Augen führe, drängt sich mir der Eindruck auf, dass ich bei dem Entschluss an der Stadtmauer in Greifswald, mich auf die Suche nach Lohmeyer zu machen, vielleicht nicht ganz allein war. Ja, vielleicht hat auch er zu mir gerufen, und aus den Gründen, die ich oben aufgezählt habe, war ich in der Lage, seinen Ruf zu vernehmen und ihm zu gehorchen.

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Kapitel 3. Der junge Ernst

„Du, mein Sohn, sei stark in der Gnade, die dir in Christus Jesus geschenkt ist.“ 2 Tim 2,1

Aufwachsen in Deutschland um die Jahrhundertwende Wer ein amerikanisches Kind nach seinen Helden fragt, bekommt wahrscheinlich Namen aus Entertainment und Sport zu hören. Wenn man zu Lohmeyers Zeiten einen jungen Menschen nach seinen Helden gefragt hätte, wären Namen aus Wissenschaft, Kunst und Literatur gefallen, jedenfalls in seiner sozialen Sphäre. Schon früh war Lohmeyer in die kultivierte Welt eingeführt worden – in die Antike, die klassischen Sprachen, die Musik und in die humanistische Tradition, wie es für das Curriculum des Gymnasiums im Deutschland des späten neunzehnten Jahrhunderts üblich war. Aber dass Schüler sich das Curriculum so selbstverständlich und aus eigenem Antrieb angeeignet haben wie der junge Ernst, dürfte eher unüblich gewesen sein. Lohmeyer ist in einer ganz anderen intellektuellen Galaxie aufgewachsen als ich. Dabei konnte die Bildungslandschaft, die ich in Colorado Springs kennenlernte, sich nach damaligen Maßstäben durchaus sehen lassen. Ich besuchte die Cheyenne Mountain School, viele begabte Schüler gingen dorthin. Natürlich hatte der Unterricht auch einen genuin intellektuellen Anteil, aber das Unterrichtswesen spiegelte die amerikanische Kultur in ihrer Gesamtheit wider, sodass die sozialen, praktischen, aktivistischen und sportlichen Anteile meist überwogen. In meiner Schule hätte der Schüler Lohmeyer sich für seine geistigen Interessen und Leistungen rechtfertigen müssen. Als ich in seinem Alter war, hatte ich einfach etwas anderes im Kopf als er, und wenn ich mich mit dem hätte beschäftigen wollen, worum es ihm ging, wäre sie es mir unerreichbar und ziemlich merkwürdig vorgekommen. An meine Erfahrungen im amerikanischen Schulsystem der 1950er- und 1960erJahre denke ich in quantitativen Begrifflichkeiten zurück: wie viele Tore wir geschossen hatten, wer von wem zum Weihnachtsfest nach Hause eingeladen wurde, welches Auto oder Motorrad bist du gefahren, hast du die neueste Ausrüstung für sportliche oder anderweitige Herausforderungen und, das Folgende gilt besonders für die Cheyenne School, wie viele Skitickets sind an den Reißverschluss deiner Jacke genäht? Lohmeyers Erfahrungen lassen sich dagegen eher qualitativ beschreiben. Sein Leben war ganz sicher schlichter als meins, denn einem deutschen Jungen

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in den 1890ern standen längst nicht die Möglichkeiten eines amerikanischen Jungen in den 1950ern zur Verfügung. Angeln, Wandern, Skifahren, Reisen und die Abenteuer, wie ich sie in den Bergen von Colorado erleben durfte, all das kannte er nicht – und den Überfluss von amerikanischen Gimmicks, die für meine Freunde und mich wie selbstverständlich dazugehörten, hätte er sich nicht einmal vorstellen können. Sein Leben spielte sich rund um das Elternhaus ab, dort lag sein Anker, aber die Tiefgründigkeit seiner Reflexion und sein Ausdrucksvermögens waren genauso bemerkenswert wie das, was ich in der Breite erlebte. Im Alter von zwölf Jahren konnte er in stolzer, aufrechter Handschrift Aufsätze schreiben, die praktisch publikationsreif waren. Ich habe fast den Eindruck, dass er niemals jugendlich war; falls doch, kann seine Jugend nur sehr kurz gewesen sein. Ich tendiere dazu, ihn mir vorzustellen wie das offenkundig abwegige Stereotyp auf byzantinischen Gemälden oder in der mittelalterlichen Kunst, wo sogar junge Kinder als kleine Erwachsene gemalt wurden. Die Unterschiede zwischen Lohmeyers Erziehung und meiner spiegeln in weiten Teilen die Differenz zwischen den in Amerika und Deutschland praktizierten Erziehungs- und Bildungssystemen wider, die in ihren Ländern jeweils ganz selbstverständlich anerkannt waren. Die amerikanische Bildung zielt insgesamt darauf ab, dass die Schülerinnen und Schüler eine ganze Bandbreite von Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln. Der deutschen Erziehung zu Lohmeyers Zeiten ging es, und daran hat sich bis heute wenig geändert, eher um Tiefe als um Breite, um den Aufweis besonderer Befähigung in wenigen Teilbereichen, „Spezialisierung“ würden wir heute sagen. Während das amerikanische Modell auf „Vielseitigkeit“ abzielt, geht es beim deutschen Modell um Schärfe, Zuspitzung. In Deutschland steht „Spitzenwissenschaft“1 hoch im Kurs: Lernen auf den Punkt gebracht. Und in der Tat hatte der junge Ernst seine Kenntnisse sehr scharf zugespitzt. Wir nehmen gerne an, dass früher alles „einfacher“ war. Doch allzu oft geht es bei diesem „einfacher“ nicht um frühere Zeiten, sondern unsere eigene Begrenztheit, Vergangenes zu verstehen. In Lohmeyers Kindheit war alles festgelegt und geordnet, fokussiert und tiefgründig, reflektiert und vor allem eingewurzelt. Eine deutsche Akademiker-Familie im Jahr 1890 orientierte sich weitgehend an geistigen Werten und preußischen Idealen – zum Beispiel an Pflicht und Gehorsam. Familie Lohmeyer war von beidem geprägt, und genauso maßgeblich durch die Kirche. Karl Niemann, der Großvater mütterlicherseits, war Superintendent des Konsistoriums in Münster, im Prinzip also Vizebischof, der zweite Platz in der Rangfolge gleich nach dem Bischof. Heinrich Lohmeyer, der Großvater väterlicherseits, war Rektor einer Dorfschule in Westfalen und durch die Veröffentlichung von Evangelisches

1 Deutsch und kursiv im Original.

Aufwachsen in Deutschland um die Jahrhundertwende

Choralbuch für Kirche und Haus2 zu bescheidenem Ruhm gelangt. Lohmeyers Vater, er hieß ebenfalls Heinrich und war seinerseits evangelischer Pastor, heiratete Marie Niemann. Heinrich fühlte sich von Maries Lebensfreude und ihrem Lachen anzogen, zu dem auch gehörte, dass sie sich manchmal über ihn lustig machte. An ihrem Hochzeitstag im Juni 1884 feierte Heinrich schwärmerisch ihre Liebe. In einem Brief an seine Braut Maria Niemann schrieb er: „Wenn wir bei einander sind und uns umschlungen halten, […] und wann darum aus der Ferne von Dir herüber der Liebe Sehnsuchtslaut ertönt, so ist das ja natürlich, aber meinst Du nicht selbst, daß es dem Herzen süße tönt, liegt nicht etwas drin von dem Nachtigallenschlag, der durch die Einsamkeit tönt und ihre Stille unterbricht! Ich fühle so!“ Er schloss mit einem Hinweis auf den Abschnitt aus dem Evangelium, das bei ihrer Hochzeit gelesen wurde: „Die Ehe wird ja immer eine Hochschule für den Himmel genannt.“3 Ernst Johannes Lohmeyer war das vierte der neun Kinder, die Heinrich und Marie in die Welt setzten. Die Kinder wurden streng erzogen, neben Wissen und Kenntnissen wurden ihnen auch Manieren, Musik, Glaube und Tugend beigebracht. Die Tradition des evangelisch-lutherischen Pastorenhauses, damals in der zweiten Generation, übte entscheidenden Einfluss auf Lohmeyers Leben aus. Als er einen Monat alt war, wurde Ernst von seinem Vater in Dorsten getauft, einer kleinen Stadt in Deutschlands nordwestlichem Industriekorridor, das Pfarramt innehatte. Mit fünfzehn wurde Lohmeyer konfirmiert, wieder von seinem Vater. In Deutschland werden Konfirmanden aufgefordert, sich zu ihrer Konfirmation einen Bibelvers als Lebensmotto auszusuchen. Ernst entschied sich für 2 Timotheus 2,1: „Du, mein Sohn, sei stark in der Gnade, die dir in Christus Jesus geschenkt ist.“ Für das Leben, das vor ihm lag, hätte seine Wahl nicht glücklicher ausfallen können. Ernst sollte die Tradition des lutherischen Pastorenhauses in die dritte Generation führen. In seiner ersten Predigt, gehalten anlässlich seiner Ordination zum Predigtamt im Jahr 1912, veranschaulichte er – nur an dieser einen Stelle in der Predigt – die Bedeutung seiner Familie für seinen Werdegang: „Laßt mich ein Beispiel gebrauchen!“, sagte er, als er über die bewusste Wahrnehmung Gottes in seinem Leben sprach, „in der Zeit, da wir noch Kinder waren, lag all unser Leben, unser Glück und unsere Freude in den Händen unseres Vaters und unserer Mutter. Von ihnen empfingen wir alles. Denn wir waren nichts und waren alles nur in ihrer Liebe. Das war unser Leben und unsere Freude.“4

2 Heinrich Lohmeyer (Hg.): Evangelisches Choralbuch für Kirche und Haus. 371 Choräle sowohl in ihren ursprünglichen Tönen und Rhythmen, als auch in neuerer Form. Nebst einer Angabe für die Liturgie. 4. Aufl. Bielefeld u. a.: Velhagen & Kiesing 1880. 3 Heinrich Lohmeyer an Maria Niemann, 23. Juni 1884. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 2, II d. 4 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 28.

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Der junge Ernst

1895 wurde Heinrich von der Kirche in Dorsten an die St. Stephanskirche in Vlotho versetzt, 140 Kilometer nordöstlich in einer eher ländlichen Gegend Westfalens gelegen. Dort ging der junge Ernst vom fünften bis zum neunten Lebensjahr zur Schule. Als er sechs Jahre alt wurde, fing sein Vater Heinrich an, ihn zusätzlich zu den traditionellen Schulfächer Lesen, Schreiben und Rechnen persönlich in Latein, Griechisch und Musik zu unterrichten. Etliche Jungs hätten sich bei so viel väterlicher Initiative aufgerieben. Nicht so Ernst, der darauf reagierte wie eine Blume auf Sonnenschein und Wasser. Die Unterweisung durch den Vater ging in ihm, zusammen mit eigenem Willen und angeborener Intelligenz, eine tiefe und dauerhafte Verbindung ein. „Mit eifrigem Interesse lernte ich die alten Sprachen, allen voran das Griechische“, schrieb er als Junge. Er war „überglücklich“, als sein Fortschritt in alten Sprachen ihm den begehrten Platz am 24 Kilometer westlich von Vlotho gelegenen Friedrichs-Gymnasium in Herford verschaffte, das er vom neunten bis zum achtzehnten Lebensjahr besuchen sollte. Später im Leben wurde Ernst Lohmeyer oft als Einzelgänger5 bezeichnet. Eigentlich heißt das Wort nichts anderes als „alleine gehen“. Im Hinblick auf Lohmeyer bedeutete Einzelgänger nicht „eigenbrötlerisch“, sondern vielmehr selbstsicher und unabhängig im Denken. Damit ist jemand gemeint, der eigene Entscheidungen treffen kann und in der Lage ist, auch danach zu handeln, falls notwendig. Es ist nicht gemeint, dass Lohmeyer seine intellektuellen Leistungen völlig autonom erbrachte und einen eigenartigen Charakter hatte. Außerdem würde es Heinrich nicht gerecht, dessen Einfluss auf die Bildung, Glaube und Charakter seines Sohnes nicht nur früh einsetzte und sich organisch mit ihm verband, sondern auch bis zu seinem Tod 1918 fortdauerte, wenn auch auf andere Art und Weise. Sobald Ernst von zu Hause ausgezogen war, schrieb sein Vater ihm jeden Monat einen Brief – mit Neuigkeiten, Ratschlägen und eigenen Gedanken – bis zum Ende der Universitätsjahre. Während der Kriegsjahre, in denen Ernst sowohl an der Westfront als auch an der Ostfront stationiert war, schrieb der Vater sogar doppelt so häufig. Lohmeyers sprachliche und arithmetische Fähigkeiten waren vom gleichen Sinn für Ästhetik geprägt, der sein Leben insgesamt auszeichnete. Aus seinen Studien spricht eine Aufmerksamkeit für Form und Proportion, Symmetrie und Symbolismus, Alliteration und Muster, Rhythmus und Metrum. Lohmeyer schrieb früh, er schrieb produktiv, und er schrieb gut. Poesie war seine Sache nicht, aber trotzdem schrieb er nur selten unpoetisch. Seine mathematische Begabung gab sich mit der Mechanik der Zahlen nicht zufrieden, sondern vertiefte sich eher in deren Bedeutung für Formen und Architektur. Bei der Anwendung auf das Neue Testament sorgte das Zusammenspiel von kritischen Werkzeugen, besonders in Griechisch und Alter Geschichte, mit seinem Sinn für Ästhetik für bahnbrechende

5 Deutsch und kursiv im Original.

Aufwachsen in Deutschland um die Jahrhundertwende

Erkenntnisse. Lohmeyer überzeugte die Gelehrtenzunft, dass die Verfasser des Neuen Testaments nicht selten vorbestehende christliche Glaubensbekenntnisse und Hymnen in ihre Schriften eingliederten. Dies galt besonders für die Verfasser der Episteln und ganz besonders für Paulus; das klassische Beispiel dafür ist der sublime Christus-Hymnus in Philipper 2,5–11, den Lohmeyer für ein frühes eucharistisches Bekenntnis hielt. Sein literarischer Sinn führte zu weiteren Einsichten, zum Beispiel, dass Referenzen auf Galiläa und Jerusalem in den Evangelien nicht einfach nur Ortsnamen sind, sondern für zwei verschiedene Gemeinden und Traditionen im frühesten Christentum stehen. In seiner Untersuchung des Vaterunser sollte Lohmeyer herausarbeiten, dass nicht nur die Worte, sondern die Struktur an sich für die Bedeutung essenziell ist. Und in Bezug auf das Rätsel des abschließenden Buchs der Bibel, der Offenbarung des Johannes, argumentierte er, dass der Schlüssel zu dessen Verständnis in der Zahl sieben liege. Beim schöpferischen Zusammenwirken des Intellektuellen und Ästhetischen in seinem Leben spielte Lohmeyers Zuhause eine wichtige Rolle. An Sonntagnachmittagen verwandelte Familie Lohmeyer sich in ein Kammerorchester. „Wie in so vielen Pfarrhäusern lebte man auch bei den Lohmeyers in Vlotho a.d. Weser der Musik“, schrieb Lohmeyers Tochter Gudrun später. „Großmutter Marie spielte gewandt Klavier, der Vater saß gern improv[is]ierend in seinem Studierzimmer am Harmonium, jedem Kind wurde ein Instrument zugedacht, und sonntägliches Musizieren gehörte zum Wochenendprogramm.“6 Am Klavier, an dem er Stücke aus dem Stegreif spielte, konnte Lohmeyer seine musikalischen Fähigkeiten am vollständigsten ausdrücken. Es gehört zu Gudruns glücklichsten Erinnerungen, vierhändig mit ihm zu spielen, und sie sah sich genötigt, hinzuzufügen: „Dann war es das vierhändige Klavierspielen, […] das wir später so perfektionierten, daß wir uns ohne Skrupel an alles heranwagten, sicher nicht zum Vergnügen der Mithörenden.“7 Zu diesen Erinnerungen gehört auch, dass Lohmeyer in den frühen 1930ern, damals Rektor der Universität Breslau, sich als Mozart kostümierte und das Universitätsorchester dirigierte. Lohmeyers schwarze Hefte vom Gymnasium Herford zeigen nicht nur einen begabten, sondern einen überragenden Schüler mit Eigenschaften, wie sie Lehrern nur selten begegnen. Die Buchstaben bringt er mit einem nadelspitzen Füllfederhalter zu Papier; seine Schrift ist flüssig, fehlerfrei und kalligrafisch schön sowohl in der Ausführung als auch im Format. Damals war es üblich, in den Schulheften Vorder- und Rückseite zu beschreiben, am Rand blieben vier bis fünf Zentimeter für Lehrerkommentare frei. Lohmeyers Mitschüler müssen voller Neid auf sein Heft

6 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 45 (Fehlschreibung im Original ergänzt). 7 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 39.

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geblickt haben, welches den Lehrern wiederum eine helle Freude war. Sprachliche Korrekturen, inhaltliche Verbesserungen oder Beurteilungen tauchten fast nie auf, ein „Ja“ oder „!“ dagegen auffallend häufig. Als Lohmeyer sich an der Universität einschrieb, beherrschte er das Lateinische perfekt. Das war sicher eine beachtliche Leistung. Allerdings muss man dazu wissen, dass Latein in der abendländischen Bildung damals eine herausragende Rolle spielte. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war es also keine Ausnahme, dass Studenten in dem Fach glänzten. Lohmeyers umfassendere Beherrschung des Griechischen und seine tiefere Verbundenheit mit dieser Sprache kamen dagegen viel seltener vor. Den pragmatischen und politischen Geist der Römer respektierte er, doch vom Sinn der Griechen für das Ästhetische war er regelrecht fasziniert. Es stimmt, dass er das Lateinische beherrschte, aber seine Beziehung zum Griechischen müssen wir völlig anders fassen. Es wäre richtiger zu sagen, dass das Griechische ihn beherrschte. Griechische Sprache, Kunst und Werte riefen in ihm das Interesse am Potenzial des Griechischen wach, das Menschliche zur Entfaltung zu bringen. In seiner Abiturarbeit ließ der siebzehnjährige Ernst seinen Ansichten in einem thermischen Redefluss freien Lauf: Das Griechentum hat mich immer aufs Höchste entzückt, denn dieses stellt ja eine überschwenglich reiche Blüte des Menschengeistes dar, und die Ursache davon ist, daß seine ganze Kultur auf künstlerischer Grundlage ruht, das frei schöpferische Werk menschlicher Phantasie ist bei den Hellenen der Ausgangspunkt ihres so unendlich reichen Lebens. Darum ist uns von hellenischem Boden jeder Zoll heilig … In Hellas ist jeder Stein belebt, individualisiert, die Naturstimme zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht. Und die Männer, die dieses Wunder vollbracht, stehen vor uns, von den halb fabelhaften Zeiten des trojanischen Krieges an bis zur Herrschaft Roms: Helden, Herrscher, Krieger, Denker, Dichter, Bildner. Hier ward der Mensch geboren, fähig ein Christ zu sein.8

Lohmeyers Ode an die „reiche Blüte des Menschengeistes“ in der griechischen Zivilisation, wo die Natur selbst zum Bewusstsein erwacht und die Menschheit als würdige Erbin des Christentums erwachsen wird, kam seinen Zuhörern vor wie eine jugendliche Übertreibung. Nicht so diesem Siebzehnjährigen. Lohmeyer tat mehr, als die Seele der Griechen über den Pragmatismus der Römer zu erheben. In der Wahrheit über die Griechen, die er entdeckt hatte, lag auch eine Wahrheit über sich selbst. All unsere Träume sind in der Jugend angelegt, davon bin ich überzeugt.

8 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 41–42. Ein Großteil der Angaben über Lohmeyers Jugend im vorherigen Abschnitt stammt aus Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 36–52 sowie Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 5–7.

Griechisch und Deutsch

Lohmeyers früher Traum erweckte ihn zu der Erkenntnis, wer er war, und wies ihm den Weg, den er im Leben einschlagen musste. In der Rede, die seine Tochter Gudrun 1990 anlässlich des hundertsten Geburtstages ihres Vaters am Gymnasium Herford hielt, zitierte sie die griechische Rhapsodie ihres Vaters als Keim der Einsicht in sein geistiges Leben. „Die Beherrschung sprachlicher Mittel – auch im Griechischen – ist schon so groß, daß der Blick für geistige Zusammenhänge frei werden kann und ihm eine emotionale Identifizierung möglich macht.“9

Griechisch und Deutsch Ich erzähle nicht nur deshalb mit besonderem Interesse von Lohmeyers Beherrschung des Griechischen und Deutschen, weil er beides so früh und so vollständig erlernte, sondern weil der Erwerb der Sprachen so grundlegend anders verlief als bei mir. Beide Sprachen, Griechisch und Deutsch, sind für das Studium des Neuen Testaments unerlässlich. Wäre da nicht meine Liebe zum Neuen Testament gewesen, hätte ich garantiert weder die eine noch die andere Sprache erlernt. Und ohne Griechisch und Deutsch wäre ich Ernst Lohmeyer nie begegnet. Im Unterschied zu Lohmeyer begann mein Einstieg in die beiden Sprachen spät und nicht sonderlich vielversprechend. Meine beiden beruflichen Ziele im College bestanden darin, das Predigerseminar zu besuchen und zum Pastor ordiniert zu werden. Für beides wurden Griechisch-Kenntnisse verlangt. In meinem letzten Jahr an der Whitworth University belegte ich einen Einführungskurs in Griechisch. Obwohl ich die Höchstpunktzahl erreichte, stellte sich keine innere Verbundenheit mit der Sprache ein, und ich mochte sie nicht. Als ich mich im Herbst in das Princeton Seminary einschrieb, fand ich mich in einer Zwickmühle wieder: Mein Griechisch war zu gut für den Einführungskurs, aber zu schlecht, um die Eignungsprüfung für Exegesis des Neuen Testaments zu bestehen. Ich beschloss, meine Griechisch-Kenntnisse bei der Vorbereitung auf die Eignungsprüfung in eigener Regie zu verbessern. In dieser Zeit fing ich an, die Mahlzeiten im Refektorium mit Pastoren einzunehmen, die zur Weiterbildung ans Predigerseminar zurückgekehrt waren. Ich fragte sie, ob sie in ihrem Predigtamt Griechisch nutzten, und falls ja, wie das aussehen würde? Von den etwa fünfzig Pastoren, mit denen ich zusammen in der Kantine saß, berichteten lediglich zwei oder drei, dass sie Griechisch mehr als üblich nutzen würden. Das verschärfte meine Griechisch-Krise. Ich fand es irrsinnig, unglaublich viel Zeit und Energie in diese Sprache zu investieren, nur um sie dann wieder aufzugeben. Mir blieb also die Wahl, überhaupt kein Griechisch

9 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 41–42.

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zu lernen – oder aber einen Weg zu finden, mir die Sprache zu einem dauerhaften Instrument in meinem theologischen Werkzeugkasten zu machen. Ein Kommilitone wusste über mein Dilemma Bescheid und lotste mich zu Margaret Schatkin, Maggie, wie sie auch genannt wurde, die bereits eine Doktorarbeit in Altphilologie abgeschlossen hatte und nun am Predigerseminar in Princeton eine zweite Doktorarbeit über die Kirchenväter verfasste. Meine Stimmung war im Keller, als ich Maggie von meiner offenbar ausweglosen Lage erzählte. Ich weiß nicht einmal, was genau ich von ihr erwartete – was hätte sie schon sagen oder tun sollen? Vielleicht nur ihre Anteilnahme auf möglichst geistreiche Art zum Besten geben? Zu meinem Erstaunen kam ihre Antwort rasch, leichten Herzens und ganz sachlich: „Wenn du wirklich willst, kannst du in ungefähr einem Jahr genauso gut Griechisch lesen, wie du Shakespeare liest.“ „Wie sollte das denn gehen?“, erwiderte ich ungläubig. „Wirf deine englische Bibel weg“, sagte sie, „und fang an, jeden Tag das griechische Neue Testament zu lesen – jeden Tag –, solange, bis du in der Lage bist, ein ganzes Kapitel pro Tag zu lesen. Wenn du ein Kapitel pro Tag schaffst, wirst du das ganze Neue Testament auf Griechisch in einem Jahr durchlesen können, und wenn du dabeibleibst, gehört dir Griechisch dein Leben lang!“ In weniger als fünf Minuten hatte Maggie meine Blockade gelöst! Auf dem Rückweg in mein Zimmer in der Alexander Hall wiederholte ich mir ihren Rat, und dort angekommen, fing ich an, mich holprig durch eine Zeile des griechischen Neuen Testaments zu buchstabieren. Und was mir im Vorhinein noch regelrecht Furcht eingeflößt hatte, sollte sich in der Durchführung erstaunlicherweise als viel weniger beängstigend erweisen. Ich las ein Wörterbuch des Neuen Testaments und notierte die Bedeutung eines jeden mir unbekannten Wortes auf einer Karteikarte. Im Neuen Testament kommen annähernd siebentausend verschiedene griechische Wörter vor; meine Karteikarten waren bis ungefähr viertausend nummeriert. Ich lernte diese Vokabeln auswendig, benötigte dazu aber nicht, wie Maggie hochgerechnet hatte, ein Jahr, sondern zwei. 1972 gelang es mir, das Neue Testament auf Griechisch von vorne bis hinten durchzulesen. Seither lese ich fünfundzwanzig Zeilen täglich auf Griechisch, jeden Tag; mittlerweile habe ich das griechische Neue Testament sechsundvierzig Mal von vorne bis hinten gelesen. Das ist, abgesehen vom Frühstück, meine wichtigste Tätigkeit an jedem Morgen, und sie hat das Griechische fest in mir verankert. Es ist, als ob Lohmeyers Ode an das Griechische die Akkorde meiner Seele berührt hat. Mit Deutsch lief es ein wenig anders. Nach dem Predigerseminar wollte ich weiter Neues Testament studieren. Dafür musste ich Deutsch lernen, und im Unterschied zu Griechisch wollte ich Deutsch lernen,. Ich schrieb an drei Professoren, die mich unterrichten sollten – einer lebte in England, einer in Deutschland, der dritte in der Schweiz. Die erste Antwort bekam ich von Professor Eduard Schweizer an der Universität Zürich. Auf einer Postkarte, datiert auf den 5. Mai 1970, erläuterte er

Griechisch und Deutsch

den Studienablauf in Zürich und schloss zuversichtlich: „Wir wollen hoffen, dass Sie einen Weg finden, nach Zürich zu kommen.“ Mir ist nicht klar, ob Schweizer seine Worte als persönliche Einladung verstanden wissen wollte, aber ich fasste sie so auf. Nun tickte die Uhr. Bevor ich mich im Herbst einschreiben konnte, musste ich meine Deutsch-Kenntnisse in einer Prüfung unter Beweis stellen. Ich ging zur Universitätsbuchhandlung in Princeton, kaufte eine gebrauchte DeutschGrammatik und arbeitete sie durch, als hinge mein Leben davon ab – so war es ja auch. Auf dem Flug nach Europa im Juni 1970 lernte ich die ganze Nacht über Deutsch-Vokabeln auf Karteikarten. Das Theologiestudium in Deutschland ist nicht gerade anspruchslos. Ein flüchtiger Besuch in einer deutschen oder schweizerischen Unibibliothek macht schnell klar, dass Theologie und Philosophie in der deutschsprachigen Welt etablierte und angesehene Disziplinen sind, mit einem zweihundertjährigen Forschungsvorsprung vor ihrer Einführung in Amerika. Ich war also reichlich nervös, als ich im Oktober 1970 die kleine Bibliothek betrat, um die Sprachprüfung abzulegen. Man hatte mir gesagt, dass die Prüfung kurz und einfach sein würde: Ein Professor nimmt dich mit in eine Bibliothek, zieht ein deutsches Buch aus dem Regal, schlägt es an einer beliebigen Stelle auf und bittet dich, drei Seiten daraus laut vorzulesen. Danach musst du erläutern, was du gelesen hast. Punkt. Meine sechsmonatige Deutsch-Lernphase hatte ich keineswegs für eine angemessene Prüfungsvorbereitung gehalten. Lediglich an eine Sache, die mich zu Beginn der Prüfung ermutigte, kann ich mich erinnern, und das war das wohlwollende Auftreten des Professors, der im mittleren Alter war. Die Prüfungssituation machte mich nervös, ich war nicht in der Lage, den Austausch von Höflichkeitsfloskeln bis zum Ende durchzuhalten. Mein Beitrag beschränkte sich auf ein bisschen Grummeln und Nicken, nicht viel anders, als ich beim Zahnarzt Fragen während der Zahnreinigung beantworte. Der Professor ging zu einer Bücherwand und zog Albert Schweitzers Zwischen Wasser und Urwald aus dem Regal. Das war wirklich bemerkenswert. Das Leben Albert Schweitzers hatte mich inspiriert, ich hatte die englische Übersetzung dieses herausragenden Werks gelesen, es trug den Titel On the Edge of Primeval Forest. Die berühmteste Stelle in diesem Buch ist eine Reflexion, so einzigartig, wie Albert Schweitzer sie an keiner anderen Stelle zu Papier gebracht hat. Es geht um die Erzählung seiner Bootsfahrt den Ogowe-Fluss hinauf nach Französisch-Äquatorialafrika, um in Lambarene ein Krankenhaus zu errichten. Beim Anblick des wimmelnden Lebens dort, wo Fluss und Wald aufeinandertreffen, gelangte Schweitzer zu einer revolutionären und lebensverändernden Einsicht – alles Lebendige strebt danach zu leben. Mehr noch: Der Wille zum Leben sollte von anderen Lebensformen respektiert werden, besonders von den mächtigsten Lebensform, der menschlichen. Schweitzer gehört zu den ersten Denkern in der Geschichte, die Natur in den Kreis der menschlichen ethischen Verantwortung

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einbezog. Seine lebensbejahende Philosophie der „Ehrfurcht vor dem Leben“ wurde zu einem wichtigen Schlüssel für den Sinn des Lebens. Genau diese Passage im Buch schlug der Professor auf. Da alle deutschen Wörter genauso gesprochen werden wie geschrieben, hatte ich keine Schwierigkeiten, den Text zwar nicht akzentfrei, aber doch verständlich vorzulesen. Die Quintessenz der Geschichte hatte ich bereits auf Englisch kennengelernt, also blieb mir nicht mehr zu tun, als sie in elementares Deutsch zu übersetzen. Auch das gelang mir. Nach zwei bis drei Minuten entspannte sich die Aufmerksamkeit des Professors, und er sagte wie beiläufig: „Ganz gut.“ 10 Er notierte ein paar Worte in einem Formular, reichte es mir und bat mich, es im Fakultätsbüro abzugeben. Wer Deutsch kann, weiß, dass mit ganz gut nicht höchstes Lob gemeint ist – das wäre sehr gut, „excellent“. Ganz gut heißt „fine“, „okay“, „good enough“. Trotzdem hätten seine nüchtern anerkennenden Worte in diesem Moment niemandem größere Freude bereiten können als mir. Beim Verlassen der Bibliothek hielt ich kurz inne und ließ den Blick schweifen. In den Regalen mochten vielleicht dreitausend Bände stehen. Ohne ein einziges Wort über Albert Schweitzer und ohne die geringste Ahnung hatte der Professor zielsicher zu dem einzigen Buch in diesem Bestand gegriffen, das ich jemals gelesen hatte.

10 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original.

Kapitel 4. Jahre an der Universität

„Denn Gott, der sprach: Aus der Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi.“ 2 Kor 4,6

Studium Ohne Atempause und nur drei Wochen, nachdem er im Jahr 1908 am Gymnasium in Herford das Abitur bestanden hatte, begann Lohmeyer mit dem Studium. Gudruns Feststellung, dass ihr Vater bereit war, sich mit der Immatrikulation an der Universität auf „geistige Zusammenhänge“1 einzulassen, sich also daran zu machen, die Einzelteile seines Lebenspuzzles zusammenzufügen, sollte nicht heißen, dass die Zukunft ihres Vaters als Theologe schon beschlossene Sache war. Lohmeyer war achtzehn Jahre alt, und er wollte in die Symphonie des sich vor ihm ausbreitenden Wissens eintauchen, wobei Theologie, Philosophie, Geschichte, Musik und Kunst, aber auch Mathematik und die Naturwissenschaften nichts anderes waren als verschiedene Instrumente in einem großartigen Orchester. Oder, um ein anderes Bild zu bemühen, er wollte das Gemenge all dessen erkunden, was die Universität zu bieten hatte, wie jemand, der das Nachtteleskop auf den Himmel richtet – aber nicht, um sich an nur einem einzigen Stern zu erfreuen, sondern um in die unendlichen Weiten des Weltalls an sich einzutauchen. Lohmeyers Interesse am Ganzen statt am Einzelnen belegt einmal mehr den Einfluss der Griechen auf seinen Intellekt. Das bei Sokrates, dem intellektuellen Störenfried, beispielhaft erörterte griechische Ideal oder die goldene Mitte zwischen den Polen zerstörerischer Exzesse bei Aristoteles umfasste immer die ganze Person. Vieles sollte sich ändern, während Lohmeyer erwachsener wurde, aber seine Leidenschaft für das ganzheitliche Leben statt für das Abgetrennte, Fragmentierte, blieb immer erhalten. Heinrich glaubte, sein Sohn sei prädestiniert für ein Musikstudium. „Mich freut, daß Du besonders für Deine musikalischen Neigungen ein Feld der Tätigkeit gefunden hast“, schrieb er an Ernst in dessen erstem Jahr an der Universität und bekräftigte seinen Eindruck wie üblich mit einer väterlichen Mahnung: „Vielleicht

1 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 42.

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Jahre an der Universität

kannst Du dann auch einige Meisterstunden nehmen, um den feinen Schliff im Bogenstriche zu bekommen.“2 Im Frühjahr 1908 wandte Lohmeyer sich schriftlich an Dr. Theodor Haering, Professor für Philosophie an der Universität Tübingen, und erkundigte sich nach einem Philosophiestudium. Haering schrieb zwei Postkarten zurück, und kurz nach dem achtzehnten Geburtstag im Juli begann Lohmeyer sein erstes Semester in Tübingen. Tübingen ist ein malerisches, in eine Biegung des Neckar geschmiegtes Universitätsstädtchen; die Geschichte der Tübinger Universität reicht so weit ins Mittelalter zurück, wie der Neckar sich im Herzen Deutschlands verzweigt. Im Fluss spiegelt sich der gelbe Turm am Haus von Friedrich Hölderlin, ein Dichter, den Lohmeyer sein Leben lang verehrte. Hoch über dem Neckar krönen eine Reihe stattlicher Villen, umgewandelt in Verbindungshäuser deutscher Burschenschaften, die Stadtsilhouette wie eine mit Zinnen bewehrte Burgmauer. Universitätsbibliotheken, Vorlesungssäle und Seminarräume, Institute, Kliniken und Studienzentren waren wie die Rippen mit der Wilhelmstraße verbunden, die die Stadt durchzog wie ein Rückgrat. In der anregenden akademischen Atmosphäre Tübingens blühte Lohmeyer vom Sommersemester 1908 (Juli bis September) bis zum Wintersemester 1908/1909 (Oktober bis Februar) regelrecht auf. Heinrichs Prophezeiung, dass sein Sohn Musik studieren würde, sollte sich als unrichtig erweisen. Schon im ersten Semester schlug Lohmeyer einen anderen Kurs ein. Vater und Familie mögen erstaunt gewesen sein, doch dies war der wahre Norden in Lohmeyers persönlichem Kompass, und daran sollte sich nichts mehr ändern. Er stieg in das Studium der orientalischen Sprachen ein – Assyrisch, Babylonisch und Aramäisch. Die Entscheidung eines Achtzehnjährigen, Aramäisch zu studieren, also eine semitische Sprache, die von rechts nach links geschrieben wird, außerdem noch Assyrisch und Babylonisch, beide verfasst in Keilschrift (Schreibgriffel auf Tontafeln), beweist, dass er alles andere als akademisch unentschlossen war. Dass der Kurs, den der mittlere Sohn einschlug, die Familie überraschte, verrät uns mehr über die Tiefe seines inneren Lebens als über die Fehleinschätzung seiner Person. Er ließ es sich nicht nehmen, frei und ungebunden in der Mitte des breiten, durch Tübingen fließenden Strom des Wissens zu rudern, und wechselte zwischen den Bahnen Theologie und Philosophie hin und her.

Berlin Ein erfolgreicher amerikanischer Hochschulabschluss setzt eine gewisse Anzahl von Creditpoints voraus. Nicht so an der deutschen Universität, wo umfangreiche

2 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 45.

Berlin

Prüfungen in einem ausgewählten Studienbereich bestanden werden müssen. Zur Vorbereitung auf diese Abschlussexamina besuchen deutsche Studenten oft Vorlesungen an zwei oder mehr Universitäten. Im Winter 1909 erkundigte Lohmeyer sich schriftlich nach der Möglichkeit, bei Dr. Heinrich Zimmern in Leipzig zu studieren. Zimmern war der Nachfolger von Friedrich Delitzsch und einer der führenden Orientalisten und Semitisten in Deutschland. Lohmeyers Anfrage bei Zimmern zeigt, dass die semitische Literaturwelt ein lebhafter Gegenpol zur klassischen Welt des Griechischen und Lateinischen in seinen akademischen Bestrebungen bleiben sollte. Das Sommersemester 1909 verbrachte Lohmeyer an der Universität Leipzig.3 Doch Tübingen und Leipzig waren nur der Auftakt zu seinem eigentlichen akademischen Ziel. Im Wintersemester 1911 wechselte er an die Humboldt Universität zu Berlin, wo er im folgenden Sommersemester seine Prüfungen ablegte. Unter den Linden gelegen, dem prächtigsten Boulevard Deutschlands und einem der prächtigsten in Europa, war Humboldt in einem neoklassischen Palais untergebracht, das Prinz Heinrich von Preußen gehörte. Eine heraldische Reiterstatue von Friedrich dem Großen paradierte vor dem Hauptgebäude der Universität unten am Boulevard. Der Stern der Humboldt Universität erstrahlte hoch am Himmel über dem kaiserlichen Deutschland. In den vier Jahren, die Lohmeyer an der Universität verbrachte, erhielten sechs ihrer Fakultäten den Nobelpreis. Weitere Nobelpreisträger warteten vor der Tür, darunter Albert Einstein und Max Planck, beide Physikprofessoren an der Uni. Theologen bekommen keine Nobelpreise, aber wäre das anders, hätte Adolf von Harnack, damals die wohl führende Persönlichkeit in Theologie in Europa und einer der herausragendsten Patristik-Gelehrten aller Zeiten, höchstwahrscheinlich zu den Preisträgern gehört. In den vierzig Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg erhielten zweiunddreißig Fakultätsmitglieder der Humboldt Universität den Nobelpreis. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Aufteilung Berlins unter den Siegermächten Russland, Amerika, England und Frankreich lag die Universität mitten im russischen Sektor. Der Unterschied zwischen dem Zustand der Universität in der kommunistischen Nachkriegsära und der Vorkriegsära hätte nicht größer ausfallen können. Die Erfahrungen an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg hatten Lohmeyer über die Eigenheiten des russischen Kommunismus aber schon gut aufgeklärt. Im Nachkriegsdeutschland stand er als Rektor der Universität Greifswald im Briefwechsel mit Professor Johannes Stroux, Rektor an der Humboldt. In einem Brief heißt es: „Angesichts der damit drohenden Gefahren fühlen wir uns verpflichtet, den ererbten Charakter einer deutschen Universität

3 Zu Lohmeyers Korrespondenz mit Haering und Zimmern siehe GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 4a.

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dadurch fester zu bewahren, daß wir das Moment der Forschung [im sowjetischen Sektor Deutschlands] deutlicher in den Vordergrund schieben.“4 Als Student an der Humboldt Universität korrespondierte Lohmeyer mit einer Reihe von Professoren, insbesondere mit Adolf Deißmann und Reinhold Seeberg in Berlin, aber auch mit anderen, die weiter entfernt in Süddeutschland oder der Schweiz lebten. In der überladenen, effektvollen Handschrift der Epoche berieten sie ihn auf ihren Postkarten zu wissenschaftlichen Vorhaben und Fragen, die die Publikation seiner Arbeiten betrafen. Deißmann und seine Frau luden Lohmeyer, der noch keinen Abschluss vorweisen konnte, zum Abendessen in ihr Haus ein – im damaligen Deutschland eine Seltenheit. Es war Adolf Deißmann, der Lohmeyer in Berlin am nachhaltigsten beeindruckte. Um 1910 war es üblich, dass Studenten sich der Erforschung des Neuen Testaments durch das Perspektiv der Geschichte annäherten, der Originalsprachen, der Theologie oder der vergleichenden Religionswissenschaft. Beiträge aus Archäologie sowie die Erforschung des sozialen Umfelds des Neuen Testaments steckten noch in den Kinderschuhen oder blieben gänzlich unbeachtet. Deißmann jedoch hatte ausgedehnte Reisen in den östlichen Mittelmeerraum unternommen, wo er mit den spektakulären archäologischen Funden in Berührung kam, die damals den deutschen Gelehrten und deutschen Museen insbesondere von der ottomanischen Türkei zur Verfügung gestellt wurden. Zusammen mit Wissenschaftlern wie Adolf Schlatter und Gustaf Dalman in Deutschland sowie William Ramsay in England hatte Deißmann gerade erst entdeckte Papyri und Inschriften untersucht, es handelte sich um größtenteils aus Ägypten stammende profane Dokumente von erheblicher Bedeutung. Bei der Auswertung war Deißmann daran interessiert, ob die Dokumente ein neues Licht auf den Wortschatz des Neuen Testaments werfen konnten. Vor diesen Entdeckungen im späten 19. Jahrhundert war das Griechisch des Neuen Testaments, das sich vom klassischen Griechisch zum Beispiel des Plato oder der griechischen Dramatiker unterschied, kaum verstanden worden. Oft war es sogar als seltsame, minderwertige Form des Griechischen missverstanden worden – und verunglimpft als Heilig-Geist-Griechisch. Mit seinen soziologischen und epigrafischen Ansätzen, die die Studien zur Frühkirche direkt in die griechisch-römische Welt des ersten und zweiten Jahrhunderts verlegten, sollte Deißmann das Forschungsfeld zum Neuen Testament grundlegend neu ausrichten. Doch Deißmann war nicht nur akademischer Theologe, er war auch ökumenischer Kirchenmann. Die geteilten Kirchen Europas und ihre eifrigen Bemühungen um Bündnisse mit nationalistisch und militaristisch gesinnten Kräften im Vorfeld des Ersten Weltkriegs ängstigten ihn zutiefst. Deißmanns Karriere erreichte ihren Höhepunkt im Großen Krieg, in dem er seine Forschungsarbeit weitgehend

4 Ernst Lohmeyer an Johannes Stroux, 30. November 1945. - UAG R. 458/VII, p. 51.

Berlin

einstellte, um den von ihm sogenannten ökumenischen Zusammenhalt unter den Protestanten in Europa zu fördern. Katholiken gehörten nicht zu seiner ökumenischen Umlaufbahn, diese Erweiterung sollte erst in der Nachkriegsära erfolgen. Aber das Eintreten für die protestantische Ökumene über nationale Grenzen hinweg war ein weitsichtiger Antidot zum ekklesiastischen Schulterschluss mit dem Nationalismus der Epoche. Lionel Strachan, der englische Übersetzer von Deißmanns einflussreicher Schrift Licht vom Osten, war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als britischer Staatsbürger in Berlin gestrandet. Strachan wurde für die Dauer des Krieges in den Berliner Gefängnissen Plötzensee und Ruhleben interniert (Herbst 1914 bis Frühjahr 1918). Im Vorwort zu seiner englischen Übersetzung mit dem Titel Light from the Ancient East bezeugt Strachan Deißmanns Einsatz für eine „christliche Solidarität“, zu der auch Gefangenenbesuche gehörten. „Ungefähr alle zwei Monate nahm [Deißmann] eine lange Fahrt auf sich, nur um einen fremden Feind durch ein halbstündiges Gespräch unter den Augen vom Soldaten in einem Wachraum aufzumuntern; 21 Besuche fanden insgesamt statt, für jeden Einzelnen musste eine Genehmigung bei den Militärbehörden eingeholt werden, was nicht ohne Schwierigkeiten ablief. Die Genehmigung wurde allerdings nur selten erteilt. Und nie kam der Besucher mit leeren Händen, stets brachte er Nahrung für den Geist und immer etwas für das leibliche Wohl mit, selbst wenn zu spüren war, daß auch in deutschen Häusern die Not regierte.“ Strachan schloss seine Eloge auf Deißmann mit einem Zitat von Matthäus 25,36 auf Griechisch: „Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“5 Seine beeindruckendsten Werke als Student schrieb Lohmeyer unter Deißmanns Anleitung. Die Studie zu Diatheke, Griechisch für „Bund“, war eine von acht Forschungsarbeiten an der Humboldt Universität, die 1910 als beste studentische Arbeiten prämiert wurden. Doch Lohmeyer ruhte sich nicht auf seinen Lorbeeren aus, sondern nutzte die Auszeichnung als Sprungbrett für weiterführende und ambitioniertere Forschungen. Im Frühjahr 1911 fertigte er drei zusätzliche Studien für Deißmann an, zwei davon über das Buch der Offenbarung. In der längsten, einer in schöner Handschrift verfassten Monografie von 190 Seiten, versuchte er auf Grundlage der in der Offenbarung überlieferten Belege, ein Profil jener christlichen Gemeinden zu erstellen, an die Johannes die Apokalypse adressiert hatte. Eine zweite, kürzere Studie von 35 Seiten untersuchte die Sendschreiben an die sieben Kirchen der Offenbarung. Eine letzte Studie aus dem Frühjahr 1911, ebenfalls in schöner Schreibschrift verfasst, war ein Papier von 120 Seiten mit dem Titel Eine Hypothese in Bezug auf Könige und Helden in der hellenistischen Ära.6 Die starke

5 Lionel R. M. Strachan: Translator’s Preface, in: Light from the Ancient East. Grand Rapids: Baker, 1978, xix. 6 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 17.

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Jahre an der Universität

Studie beginnt mit einem langen Xenophon-Zitat über heraldische Tugenden. Diese frühen, sicher noch unausgegorenen Untersuchungen enthalten bereits Lohmeyers methodologische Signatur als Theologe – sich so weit wie möglich von Zitaten aus Sekundärliteratur frei zu machen, um sich in erster Linie auf die originären griechischen und lateinischen Quellen zu konzentrieren. Ein weiterer Wissenschaftler aus Berlin, der bleibenden Eindruck auf Lohmeyer hinterließ, war sein Kommilitone Karl Ludwig Schmidt. Ein Jahr jünger als Lohmeyer, erwarb er den Doktorgrad bei Deißmann ein Jahr später als sein Freund. Beide blieben Deißmann bis zu dessen Tod im Jahr 1937 als treue Briefpartner erhalten. Danach waren die Freunde bis zu Lohmeyers Verhaftung 1946 in Kontakt. Schmidt legte sich ordentlich ins Zeug und bemühte sich nach Lohmeyers Verhaftung schriftlich um dessen Entlassung. In den Laufbahnen von Ernst Lohmeyer und Karl Ludwig Schmidt, die sich auf unvorhergesehene Weise überkreuzten, spiegelt sich Deißmanns Förderung ihres Engagements wider. Sowohl Lohmeyer als auch Schmidt wurden von den Nazis von namhaften Lehrstühlen des Neuen Testaments vertrieben, Schmidt 1933 in Bonn und Lohmeyer 1935 in Breslau. Beide bekleideten Ämter in politischen Parteien, Schmidt in der SPD und Lohmeyer in der Zentrums-Partei, dem Vorläufer der heutigen CDU. Beide mischten sich ein und diskutierten die Herausforderungen, die die Ton angebende Theologie von Rudolf Bultmann für die historische Wahrhaftigkeit und die literarische Integrität der Evangelien des Neuen Testaments bedeutete. Das Wichtigste und zweifelsohne auch das Ungewöhnlichste war jedoch, dass Schmidt und Lohmeyer zu den wenigen deutschen Intellektuellen gehörten, die im NS-Deutschland öffentlich den Ruf der Juden verteidigten.

Melie Seyberth Bei einem Ausflug zum Wannsee am Rande Berlins begegnete der neunzehnjährige Lohmeyer im Frühjahr 1910 einer jungen Frau namens Amalie Seyberth. Melie, wie Lohmeyer sie bald nennen sollte, war die Tochter eines Stadtrats des im Südwesten Deutschlands gelegenen Wiesbaden, geboren 1886 und damit vier Jahre älter als er. Sie war eine junge Frau mit Haltung und starkem Willen – durch und durch ein Charakter. Für oberflächliche Freundschaften war sie nicht zu haben, für tiefe und beständige Beziehungen hingegen sehr. Eine solche Beziehung fand sie mit Ernst Lohmeyer. Später beschrieb sie ihre ersten Eindrücke von ihm folgendermaßen: „,Mir erschien er als das Reinste und Klarste und Echteste, was mein Leben je berührt hatte. Sein fast kindliches Aussehen kontrastierte seltsam mit diesen ausdrucksvollen grünen Augen, die er vom Vater geerbt hatte, und mit der hohen denkerischen Stirn, die so viele Gedanken verriet. Ein geheimer Wille und eine geheime Leidenschaft stand hinter diesen Zügen. Doch war mir das damals nicht

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klar, der sanfte Zauber seines Wesens, seine vermeintliche Ausgeglichenheit, seine Zartheit der Gesinnung, seine Ritterlichkeit waren weit größer, überwogen und ließen keine Rätsel zu.‘“7 Soweit wir wissen, hatte Lohmeyer, bevor er Melie kennenlernte, sich nicht mit Mädchen verabredet und auch kein sonderliches Interesse an ihnen gezeigt. Mit Melie gab es zu viele Gemeinsamkeiten, ihr konnte er nicht aus dem Weg gehen. Beide liebten Musik, nicht nur das Musikhören, sondern auch das Musikmachen. Ernst spielte Instrumente, in erster Linie Klavier, aber Melie war Altistin und hatte vor ihrer Ehe in und um Wiesbaden herum einen guten Ruf genossen. Singen war ihr ein Leben lang eine wichtige Nebenbeschäftigung geblieben. Es mochte sein, dass sie bei öffentlichen Auftritten Schüchternheit an den Tag legte, aber diese Schüchternheit verschwand, wenn sie eine Arie von Bach oder Schumann oder Mendelssohn anstimmte, begleitet von einem Kammerorchester. Ernst und Melie waren entschlusskräftig und stark, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Ernsts wissenschaftlicher Ausstoß ist ein Beleg für seinen inneren Antrieb; nur wenige deutsche Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts hatten in der kurzen Spanne ihres Lebens mehr zukunftsträchtige wissenschaftliche Arbeiten in Druckmedien vorzuweisen als er. Melies innerer Antrieb brachte zwar kein Lebenswerk hervor, bewahrte aber ihr gemeinsames Leben in Sammelalben, Gästebüchern, Reisetagebüchern, Kalendern und, in Lohmeyers letzten Jahren, in wichtigen Tagebüchern. Unermüdlich und mit festem Entschluss hielt sie die Erinnerungen lebendig und die Vergangenheit immer gegenwärtig, in ihrer Ehe und ihrer Familie.

Werbung durch Korrespondenz Es gibt nichts, wofür Melie und Ernst sich mehr interessierten als für das Briefschreiben; es gibt nichts, was ihr Wesen grundlegender bestimmte, und nichts sollte die Eheleute noch fester aneinanderschmieden. Worte waren für diese so unterschiedlichen, aber gleichermaßen leidenschaftlichen Seelen mehr als ein Kommunikationsmedium. Beide hielten sie das geschriebene Wort für so natürlich wie Atmen oder Gehen und für fast noch lebenswichtiger als körperliche Anwesenheit. Ihre Briefe sind aufschlussreich und ausdrucksstark, ohne aufdringlich oder affektiert zu klingen. Statt die Stimme zu dämpfen oder die Gedanken zu zügeln, schien die Korrespondenz im literarischen Gewand den Puls ihres Lebens noch schneller und lauter schlagen zu lassen. Korrespondenz war ihnen mehr als eine bloße Vorliebe, sie war eine Notwendigkeit. Melie und Ernst mussten schreiben. Sie schrieben einander sogar, wenn sie

7 Zit. nach Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 42.

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nicht getrennt waren. Ihre fünfunddreißigjährige Beziehung ist in Tausenden Briefen überliefert. Mehrere Monate habe ich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem verbracht und eine Archivbox nach der anderen durchforstet. Vier oder fünf Briefe pro Woche schrieben sie einander, insbesondere in den neuneinhalb Jahren, die sie wegen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs getrennt voneinander verbracht hatten. Darunter sind viele Postkarten und manchmal noch weniger, einfach nur zwei oder drei Sätze auf einen Zettel gekritzelt, der gerade zur Hand war. Aber der größte Teil besteht aus veritablen Briefen, geschrieben in schöner Handschrift über mehrere Seiten unliniertes Briefpapier. 1915, mitten in den Kriegswirren, schickte Lohmeyer ein Dutzend Sendschreiben, die nichts anderes waren als Kriegstagebücher, jedes sechzig Seiten und länger. Melie bewahrte Ernsts Briefe auf. Jeden Brief. Sogar die Quittungen ihrer Hotelzimmer hoben sie auf, Quittungen von Restaurantbesuchen und dem Kauf eines Huts oder Hosen für Ernst. Melie sortierte alles nach Jahren, jeden Brief chronologisch, band sie mit einer dünnen, braunen Schnur zu dicken Bündeln zusammen und versah jedes Bündel mit einem Deckblatt zur Identifizierung des Inhalts. Die Briefe waren aus dem Leben gegriffen, ging es doch meist um ganz gewöhnliche Vorfälle an ganz gewöhnlichen Tagen – um all das, was wir für banal und stumpfsinnig halten, nicht für wert, es schriftlich festzuhalten. Aber Melie und Ernst schien nichts zu banal, jeder Vorfall war es wert, erzählt zu werden. Oft war ich mehr von den Briefschreibern selbst beeindruckt als vom Inhalt ihrer Briefe – diese beiden Seelen, sie sich so unermüdlich und mit jeder Faser ihres Herzens dem Akt und der Kunst ihrer Kommunikation widmeten. Es mögen alltägliche Ereignisse gewesen sein, die Ernst und Melie einander mitteilten, aber die Art und Weise ihrer Mitteilung war nicht alltäglich, sondern unverfälscht, sich selbst preisgebend, liebevoll. Lohmeyers Beziehung zu Melie begann, wie sie endete – mit einer Trennung. Beide Trennungen waren primär dem Krieg geschuldet. Nach Abschluss seines Studiums an der Humboldt Universität nahm Lohmeyer eine einjährige Stellung als Hauslehrer für die beiden Söhne des Grafen Max von Bethusy-Huc in Klein Gaffron nahe Breslau an, heute Wrocław, Polen. Lohmeyer kannte Melie seit anderthalb Jahren, als er ihr einen Brief über die von ihm unterrichteten Söhne des Grafen sandte, die er „meine Kinder“ nannte. Er hatte versprochen, über beide Jungen zu schreiben, aber Clemens, der jüngere, nahm ihn so sehr in Beschlag, dass er nie etwas über den älteren berichtete. „Soll ich ihn Dir beschreiben? Er ist ein kleiner lieber, fast hübscher Junge mit langen bis zur Schulter herabhängenden schwarzen Haaren und großen leuchtenden braunen Augen; in seinen Bewegungen bisweilen noch ganz kindlich ungebärdig und doch wiederum jungenhaft bestimmt. Er steht auf der Schwelle von früher Kindheit zu wirklicher Jugend,

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und so ist’s oft ein seltsames, reizendes Gemisch von beidem. Sein ganzes Wesen ist mir so innig lieb und verwandt. Mit seinen großen Augen schaut er mich immer an, wenn ich etwas erzähle, und hängt an meinen Lippen; und dann kommen wundervoll kindliche, besinnliche Fragen aus seinem Munde. Ich hatte ihm einmal eine Geschichte aus dem alten Testament erzählt, ganz in naiver Weise: Der liebe Gott sprach … usw. Da fragte er denn: Ach, sagen Sie doch, spricht der liebe Gott auch jetzt noch? Ich: Oja, wenn man einmal ganz still ist und ihn um etwas bittet, dann antwortet er auch. Er: Spricht er dann so, wie ich zu ihnen spreche, hören Sie’s? Ich: Nein, so nicht; aber wenn man etwas gebeten hat, dann wird man plötzlich ganz froh und weiß, was man tun soll, und dann weiß man auch, daß der liebe Gott einem etwas gesagt hat. Und dann nach einer kleinen stillen Pause: Aber wenn ich in den Himmel komm, dann spricht er doch ganz richtig mir mir? Ich: Ja, das tut er ganz gewiß. Er: Ich möchte so gern jetzt gleich zu ihm gehen. … Und dann weiter: Ist der liebe Gott immer allein? Ich: Nein, er hat eine ganze Menge lieber kleiner Engel, mit denen ist er immer zusammen und ist ganz fröhlich mit ihnen. Er: Sagen Sie, wann ist der liebe Gott eigentlich geboren? Ich: O nein, der ist nicht geboren; er war schon, als gar keine Menschen auf der Erde waren. Er: Aber hat er denn keinen Vater und keine Mutter? Ich: Nein, die hat er nicht. Er: Ach dann ist der liebe Gott eine Waise. … Aber dann will ich ganz bald zu ihm gehen und mit ihm sprechen; dann freut er sich doch gewiß, nicht wahr? Da nahm ich den lieben Jungen, der die ganze Zeit still an mich gelehnt gestanden hatte, in meinen Arm und gab ihm einen Kuß: Ja, geh Du nur ganz bald zum lieben Gott, dann freut er sich gewiß. Und danach sprang er fort, und lief fröhlich wie ein Kind im Park herum und wollte ein Eichhörnchen fangen.“8

Dissertation Lohmeyer hat seine Dissertation in dem Jahr in Klein Gaffron nicht auf die lange Bank geschoben. Während er die beiden ihm anvertrauten Kinder unterrichtete, weitete er seine Studie über das Wort Diatheke (Griechisch für „Bund“), die 1910 die höchste Auszeichnung für studentische Arbeiten der Humboldt Universität erhalten hatte, zu einer Doktorarbeit aus.9 Kurz nach seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag im Juli 1912 verteidigte er die nun 160 Seiten umfassende Arbeit in Berlin.10

8 Der Brief wurde verwahrt von Klaus Otto, zugänglich gemacht von Andreas Köhn am 16. Dezember 2001. Siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 8. 9 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 17. 10 Lohmeyers Dissertation ist erschienen unter folgendem Titel: Diatheke: Ein Beitrag zur Erklärung des neutestamentlichen Begriffs. Leipzig: Hinrichs, 1913.

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Mit einer Dissertation sollen die Kenntnis der grundlegenden Inhalte sowie die methodische Beherrschung eines gegebenen Forschungsfeldes und gleichzeitig die Bedeutung für einen neuen Bereich dieses Forschungsfeldes nachgewiesen werden. Das ist ein schmaler Grat, denn einerseits verlangt das Doktorat, neu zu denken, andererseits aber nicht allzu radikal. Die „gesicherten Erkenntnisse“ einer Disziplin sollen zwar erweitert werden, allerdings ohne sie aufzugeben oder zu unterminieren. Lohmeyer balancierte auf diesem schmalen Grat, indem er sich dem „Bund“ durch die Erforschung der Geschichte des Wortgebrauchs näherte. Er begann mit der griechischen Antike, verfolgte den Wortgebrauch im hebräischen und griechischen Alten Testament sowie im intertestamentlichen Judentum und schloss mit dem Neuen Testament. Lohmeyer war zwar nicht der Erste, der mit diesem historischen Ansatz auftrat, hat ihn in seiner Dissertation aber fast bis zur Perfektion getrieben. Das gleiche historische Verfahren sollte im neunbändigen Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament angewendet werden – dem maßgeblichen deutschen Werk über das Vokabular des Neuen Testaments, das zwischen 1933 bis 1973 erschien. Mit der Arbeit zu Diatheke bewies Lohmeyer nicht nur seine Meisterschaft in der Philologie des Neuen Testaments, sondern übte sich auch in wissenschaftlicher Unabhängigkeit. Ein typisches Beispiel ist seine Diskussion der „DamaskusApokalypse“ (heute bekannt als Damaskus-Dokument), das 1896 von Solomon Schechter in der Ben-Esra-Synagoge in Kairo entdeckt worden war. Eine Genisa, üblicherweise an eine Synagoge angeschlossen, ist buchstäblich ein ‚Totenhaus für Bücher‘, das heißt, eine jüdische Lagerstätte für alte Schriften und Ritualobjekte, die den Gottesnamen enthalten und daher nach dem jüdischen Gesetz nicht zerstört werden dürfen. Das Damaskus-Dokument gehört zu derselben Urkunden-Familie, die später (1947) in den Höhlen über der nordwestlichen Küste des Toten Meeres entdeckt wurden, heute bekannt als Schriftrollen vom Toten Meer. Schechters Entdeckung des Damaskus-Dokuments könnte man für die erste dieser Schriftrollen vom Toten Meer halten – entdeckt fünfzig Jahre vor dem Hauptkorpus der Schriftrollen. Laut Lohmeyer ist das Damaskus-Dokument „von ungemeiner Wichtigkeit“11 für das Neue Testament, weil in ihm wie in Jeremia 31 die Erfüllung der Diatheke, des Bundes, mit der Ankunft des Messias verknüpft wird. Das vergangene Jahrhundert wissenschaftlicher Forschung hat Lohmeyers Beurteilung des Damaskus-Dokuments eindrucksvoll bestätigt.12 Darüber hinaus bewies Lohmeyer seine wissenschaftliche Unabhängigkeit durch Zweifel an verschiedenen Strängen der literarischen Tradition der ersten fünf Bücher des Alten Testaments, dem Pentateuch, die allgemein als JE-Quellen bezeichnet werden. Bezüglich der Urkundenhypthese zog er das „Labyrinth literarkritischer

11 Ernst Lohmeyer: Diatheke, 121. 12 Zum Damaskus-Dokument siehe Ernst Lohmeyer: Diatheke, 115 f.

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Hypothesen“ in Zweifel.13 Bei der Abfassung von Diatheke war Lohmeyer erst zweiundzwanzig, aber seine Forschung schon so weit gediehen, dass sich in ihr bereits der beeindruckende Korpus von Arbeiten vorgeprägt fand, der noch kommen sollte. In Diatheke und danach stützte er seine Diskussionen eher auf die Originalquellen statt auf sekundäre Quellen. Seine Forschung war durchweg von Logik, Kontrolle, Prägnanz und klarer Schwerpunktsetzung geprägt. Er erforschte den Gegenstand bis in die Wurzel, statt sich in Ranken und Seitentrieben zu verlieren, die eventuell auch interessant sein mochten, aber eben erst an zweiter Stelle. Vor allem presste Lohmeyer den Saft aus den Trauben der historischen, soziologischen, linguistischen und epigrafischen Belege und kelterte daraus den theologischen Wein, der in ihnen enthalten war. Was Diatheke betrifft, so liegt der Kern ihrer biblischen Bedeutung in Jesu Worten beim letzten Abendmahl, bei dem Jesus seinen Tod als „neuen Bund“ deutete. Jesus begriff sein messianisches Selbstopfer als Erfüllung von Jeremias Vision des neuen Bundes (Jer 31), was im Damaskus-Dokument ein Echo fand, als Einsetzung einer neuen, ewigen Beziehung zwischen Gott und der Menschheit. Es ist nicht verwunderlich, dass die lange Geschichte des Begriffs Diatheke ein Wirrwarr von Abschweifungen, Neben- und Umwegen einschließt. Aber die wesentlichen Triebe fließen alle in Jesu eucharistischer Lehre über den Bund zusammen – dem „Kern“, der „Summe allen Christentums.“ An den Anfang der Diatheke stellte Lohmeyer ein Zitat des Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der genau ein Jahrhundert früher erster Rektor der Humboldt Universität gewesen war: „Die Quelle aller Wissenschaft und aller Wahrheit und aller Gewißheit und aller Realität ist die Liebe.“14 Diese Liebe zum Bund wurde von Jesus beim letzten Abendmahl eingesetzt.

Ordination Abfassung und Verteidigung der Dissertation waren nicht die einzigen theologischen Beschäftigungen Lohmeyers im Jahr 1912. Sechs Monate nach der Verleihung der Doktorwürde legte er die Prüfungen zur Ordination in der evangelischlutherischen Kirche ab. Die Ordination war ein zweigleisiges Verfahren. Das erste Gleis war das Studium der Theologie, das Lohmeyer in Tübingen, Leipzig und Berlin absolviert hatte, und das zweite, parallel verlaufende Gleis die kirchliche Vorbereitung, die vom protestantischen Konsistorium in Münster überwacht wurde. Die kirchliche Zulassung versteckte sich in dem lateinischen Zungenbrecher

13 Ernst Lohmeyer: Diatheke, 53. 14 Johann Gottlieb Fichte: Anweisung zum würdigen Leben. Zehnte Vorlesung, zit. nach Ernst Lohmeyer: Diatheke, III.

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pro licentia concionandi, was schlicht ‚Berechtigung zur öffentlichen Wortverkündung‘ bedeutet. Damit war sowohl die fachliche als auch die praktische Seite der Kirchen- und Gemeindearbeit gemeint – wie etwa Predigt, Liturgie, pastorale Beratung und Seelsorge, Kirchenverwaltung etc. Von den Kandidaten wurde ein Eid der Unterwerfung unter die Heilige Schrift und das Augsburger Bekenntnis verlangt. Lohmeyer legte beides ab und erhielt die Erlaubnis, das Wort Gottes zu predigen. Seine Kommilitonen riefen ihn ein wenig scherzhaft „Frater Ernestus“. Den Abschluss der Ordination, zu dem Freunde, Familie und Bekannte eingeladen waren, bildete die Predigt, die Lohmeyer am 12.12.1912 in Berlin hielt, am 12. Dezember 1912. Sein Predigttext war 2 Korinther 4,1–6, der mit folgendem Vers endet: „Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi.“15 Lohmeyer führte vier Punkte an. Der wichtigste war seine durch die gesamte Predigt wiederholte Überzeugung, dass das Evangelium eine objektive Wahrheit darstellt, ohne die „wir wie Flüchtlinge umher[irren], ungewiß, wo wir uns sicher gründen sollen, bis uns das Bewußtsein geschenkt ist, daß unser Leben in Gott ruht, daß wir in ihm, in seiner Liebe leben dürfen, bis uns Barmherzigkeit widerfahren ist.“16 Hier lässt Lohmeyer einen berühmten Ausspruch von Augustinus durchklingen: „Du schaffest, daß er mit Freuden dich preise, denn zu deinem Eigentum erschufst du uns, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir.“17 Der zweite Punkt war, dass das Amt, in das er eingesetzt werden sollte, nicht allein ihm als Geistlichem vorbehalten ist, sondern eine Verantwortung aus Gnade, die allen Christen obliegt, ungeachtet ihrer Berufe und Werke. Hier wandte Lohmeyer Luthers Begriff des „Priestertums aller Gläubigen“ an, weitete ihn aber über die Kirche hinaus aus und schloss die Arbeit der Gesellschaft insgesamt ein. Drittens, das verwandelnde Licht von Christus werde nicht durch entkörperlichte Wahrheiten kommuniziert, sondern durch Mitgläubige: „Ihre Gestalten treten dann zu uns und reden mit uns wie vertraute Freunde, die sich einst ebenso sehnten, wie wir es tun und Ruhe gefunden haben.“18 Mit anderen Worten, das Evangelium ist „inkarnatorisch“. Auf Wegen, die ihnen unbekannt sind, werden Gläubige manchmal für andere, was Christus für sie geworden ist. Dann kam Lohmeyer zum Schluss. Diese Gegebenheiten seien Rüstzeug für die Gläubigen, ihr Leben auf das auszurichten, wofür die Menschen nicht nur erschaffen wurden, sondern was auch in ihrer Bestimmung liege, um wahrhaft menschlich zu sein: verantwortungsbewusst zu handeln, sinnvolle Arbeit zu verrichten. „Und 15 „Dafür halte uns jedermann.“ - Predigt Ernst Lohmeyers über 2 Kor 4,1–6 in Berlin 1911, zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 26–35. 16 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 29. 17 Augustinus: Bekenntnisse. Zürich: Ex Libris, 1970, 31 [Lizenzausabe]. 18 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 29.

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wenn wir so leben, in einem überweltlichen Leben in der Welt, dann haben wir das Recht und die tiefe Gewißheit, daß wir arbeiten dürfen, und nimmermüde Freudigkeit dazu. Alles Leben drängt nach Tat, weil es unversiegliche Kraft in sich birgt; es will Arbeit, um in freier Fülle sich zu entfalten.“19 Die meisten Ordinanden wollen, dass ihre Ordinationspredigt nicht nur vom zeitlichen Ablauf her die erste ist, sondern auch bedeutungsmäßig an erster Stelle steht; sie soll den Kurs angeben, den sie im Leben und mit ihrem Predigtamt einschlagen wollen. Lohmeyers Ordinationspredigt gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Die Suche nach Gewissheit, nach unumstößlicher Wahrheit sollte sämtliche Facetten seiner späteren theologischen Arbeiten prägen. Dass er ein Gespür für seine Berufung oder für sein Amt besaß, sollte sich in seinem Verhalten als Professor, Prediger oder Rektor der Universität zeigen. Dass er offen war für den Einfluss anderer auf sein Leben, allen voran von Melie, aber auch und gerade von späteren Kollegen, belegt sein inkarnatorisches Verständnis der Evangelien. Aber was vielleicht am Wichtigsten ist – die Predigt kündet von seiner unermüdlichen Schaffenskraft und Entschlossenheit zur Arbeit, wovon seine Produktivität als Gelehrter und auch als Führungskraft zeugen. Lohmeyer schloss die Predigt mit einem Zitat von Johannes 8,32: „Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien.“ Wahrheit erdet und fokussiert, macht einen ganz und allein. Wahrheit schützt vor Zerstreuung, von Teilwahrheit, Halbwahrheit und Kompromissen. Wahrheit verleiht Kräfte. Lohmeyer empfing die Wahrheit, die befreit, im christlichen Evangelium, und sie bildete ihn für einen einzigartigen Lebensweg heran – als Gelehrter, als Führungskraft und als Zeuge.

19 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 33.

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Kapitel 5. Der Große Krieg

„So ist denn auch Freiheit vorhanden, solange Vernunft in uns ist, die Gerechtigkeit zu erkennen, und Wille, sie zu bewahren.“ Ernst Lohmeyer, 19141

Kurz nachdem Lohmeyer seine theologische Dissertation bei Deißmann verteidigt hatte (das genaue Datum ist nicht überliefert), begann er mit einer zweiten Dissertation, diesmal in Philosophie. Ende Januar 1914, also achtzehn Monate später, reichte er an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen die Arbeit Die Lehre vom Willen bei Anselm von Canterbury ein, geschrieben bei Professor Richard Falckenberg, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Geschichte der deutschen Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Nikolaus von Kues.2 Zum Zeitpunkt der Einreichung stand Lohmeyer, der sich im Oktober 1913 beim Militär gemeldet hatte, bereits seit vier Monaten im aktiven Wehrdienst. Im Januar 1914 lag die Welt noch nicht im Krieg, bis dahin sollte es noch sechs Monate dauern. Und so bestand Lohmeyers militärisches Leben eher aus Ausbildung und nicht aus Kampf. Die lockere Disziplin nutzte er für die Fertigstellung seiner Dissertation. Kompakter als seine 75-seitige Untersuchung über Anselm, bestehend aus einer knappen Einführung, drei Hauptkapiteln und einem noch knapperen Schluss, kann eine Dissertation nicht ausfallen. In dieser zweiten Arbeit wiederholte Lohmeyer den modus operandi seiner Arbeit über Diatheke – Sekundärliteratur und Kommentare umging er zugunsten der Originalquellen, konzentrierte sich auf das Wesentliche, ließ das Nebensächliche aus, zitierte Quellen statt Übersetzungen und wertete alle historischen, linguistischen, philosophischen etc. Daten im Hinblick auf ihre letztendliche theologische Bedeutung aus. Dieses methodische Vorgehen sollte Lohmeyers Forschung auch in Zukunft charakterisieren.

Die Grenzen der Scholastik Die Figur des Anselm krönt das gotisch-mittelalterliche Geistesgebäude, das wir Scholastik nennen. Scholastik war der Versuch, auf Grundlage der von Aristoteles

1 Ernst Lohmeyer: Die Lehre vom Willen bei Anselm von Canterbury, 47–48. 2 Ernst Lohmeyer: Die Lehre vom Willen bei Anselm von Canterbury. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Lucka: Reinhold Bergen, 1914.

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überlieferten logischen Verfahren und Kategorien das christliche Dogma in seiner Gesamtheit zu verteidigen. Neben Aristoteles blieben die Heilige Schrift und die Kirchenväter (besonders Augustinus) die Hauptquellen der Scholastiker. Die Errungenschaft der Scholastik lag nicht in ihrem Inhalt, nicht in neuen theologischen Einsichten oder Wahrheiten, sondern in ihrer neuartigen Vorgehensweise. Scholastik bezog sich also eher auf den Weg, Theologie zu betreiben, statt auf den eigentlichen Inhalt. Lohmeyer begann mit der Behandlung von ‚Substanz‘ und ‚Akzidentien‘, den zwei grundlegenden Distinktionen im mittelalterlichen Denken. Der ‚Substanz‘ kommt die größere Bedeutung zu, denn sie macht das Wesen eines Dings aus, sie macht das Ding zu der Art Ding, das es ist – und deshalb ändert sie sich nicht. Akzidentien dagegen sind Ding-Eigenschaften, die sich ändern können, ohne jedoch die Essenz des zugehörigen Dings zu verändern. Ein Pferd ist hinsichtlich seiner Substanz ein großes, einhufiges, Pflanzen fressendes Säugetier, das als Lasttier domestiziert wurde; seine Akzidentien können Farbe und Größe sein. Für Anselm gehört der menschliche Geist in die Kategorie der Substanz, der menschliche Wille hingegen zu den Akzidentien. Der Geist wurde dem menschlichen Geschöpf von Gott eingegeben, aber der Wille ist ein Werkzeug des Geistes, das aus der menschlichen Natur stammt und nach dem Sündenfall verdorben wurde. Die Macht des Willens über den Menschen ist erhaben, aber nicht allumfassend, denn sie ist nicht in der Lage, das menschliche Geschöpf so zu durchdringen, dass es sich mit Gott versöhnt. Daraus resultiert der für alle mittelalterliche Theologie typische Dualismus – der Konflikt zwischen Verstand und Wille, Geist und Materie, Himmel und Erde, Gott und Welt. Menschliche Freiheit offenbart die Abtrünnigkeit des Willens. Vor dem menschlichen Ungehorsam gegenüber Gottes Gebot und dem Sündenfall in Genesis 3 hat der menschliche Wille sich frei und lustvoll für das entschieden, wofür er sich entscheiden „sollte“. Das „Gesollte“ bezog sich auf das gottgewollte Gute, das von Gott befohlen und vor dem Sündenfall von einem unversehrten menschlichen Willen auch erreichbar war. Doch der Sündenfall verdarb den menschlichen Willen, und seither entscheidet er sich nicht mehr für das Gesollte, sondern für das, wonach es ihn „verlangt“ – nach Selbsterfüllung statt gottgewollter Gerechtigkeit. Der Konflikt zwischen der Menschheit und Gott wird jetzt in der Arena der menschlichen Freiheit ausgetragen. Der Konflikt zwischen göttlicher Transzendenz und Güte einerseits und andererseits menschlichem Eigensinn, der gefesselt ist von Endlichkeit und Angst und frei von Gerechtigkeit und Frieden, bleibt ungelöst. Und diese Kluft kann nicht durch die zwei gebräuchlichsten mittelalterlichen Instrumente überbrückt werden – weder durch vita contemplativa, Mönchstum, noch durch vita activa, Dienst. Lohmeyers Dissertation ist über weite Strecken deskriptiv, analysiert den komplexen Gedankengang Anselms zum Verhältnis von Vernunft und Wille. Warum

Einberufung zum Krieg

war Lohmeyer als Wissenschaftler des Neuen Testaments an diesem Thema interessiert, und was hat er daraus für sich mitgenomment? Die Frage ist berechtigt. Die Antwort könnte lauten, dass er die Unzulänglichkeit menschlicher Vernunft als Fundament des Evangeliums von Jesus Christus aufweisen wollte; eine beiläufige Bemerkung in der Einführung seiner Arbeit weist jedenfalls darauf hin. Anselms Philosophie, so heißt es dort, sei ein Schritt auf einer langen Reise, die erst vollendet war, als die Reformation das menschliche Bewusstsein befreit und mit wahrem Inhalt gefüllt hatte. Die Scholastik hatte das Gebäude der christlichen Lehre auf einem von der aristotelischen Logik und Methodologie geborgten Fundament gegründet. Dieses Fundament war einer spezifisch christlichen Perspektive fremd und letztlich unzureichend. Die Reformatoren (die Luther, die Calvins, Melanchtons und Bullingers) waren die Ersten, die eine christliche Lehre auf dem richtigen Fundament von Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte bauen sollten. Anselm demonstrierte die Unzulänglichkeit menschlicher Vernunft als Fundament der christlichen Lehre. Weiter konnte er nicht gehen, dafür wäre eine Reformation notwendig gewesen, aber er wagte einen entscheidenden Schritt in diese Richtung. Lohmeyers Dissertation hatte zum Ziel, den Stellenwert dieses ersten Schrittes aufzuzeigen.

Einberufung zum Krieg Im Deutschen Reich waren alle wehrtauglichen jungen Männer zu einem einjährigen Dienst an der Waffe verpflichtet. Am 1. Oktober 1913 wurde Lohmeyer zum Westfälischen Jäger-Bataillon Nr. 7 eingezogen, das in Bückeburg stationiert war, unweit Vlotho, seinem Zuhause. Drei Monate vor dem Ende des obligatorischen Dienstjahres – genauer gesagt, am 28. Juni 1914 – fielen Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich und seine Frau Herzogin Sophie einem Mordanschlag zum Opfer. Auf der Weltbühne war die Person des Erzherzogs allenfalls zweitrangig. Aber im überreizten politischen Klima im Europa des Jahres 1914 wirkte das Attentat, als schlüge der Blitz in ein Hilfskraftwerk ein, was gewissermaßen zu einem globalen Stromausfall führte. Plötzlich gingen die Lichter aus, die Welt befand sich unerklärlicherweise im Krieg. Der für Lohmeyer vorgesehene Militärdienst sollte sich am Ende auf fast fünf Jahre erstrecken, die er sowohl an der Westfront als auch im Osten verbrachte. Der Erste Weltkrieg war der erste „moderne“ Krieg. Er führte zu einer Motorisierung sowie zu einer Verwendung von Waffen und Taktiken, die es in der menschlichen Kriegsführung nie zuvor gegeben hatte, eingeschlossen die Entwicklung von Grabenkrieg, Einsatz von U-Booten, Panzern, Maschinengewehren, Granatwerfern, Giftgas und Flugzeugen. Letztere dienten zunächst der Luftaufklärung, wurden aber schon bald für Bombenangriffe eingesetzt. Das Deutsche Reich war

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zur Kriegsführung mit all diesen Mitteln bereit. Großbritannien hingegen verwarf vieles davon und orientierte sich stattdessen am ‚gentleman soldier‘, einem aus dem neunzehnten Jahrhundert überkommenen Mythos. Der britische Oberbefehlshaber General Douglas Haig lehnte das Maschinengewehr mit der Begründung ab, dass es vor Tapferkeit an der Front abschrecken würde, und beschränkte die Anzahl der Maschinengewehre in jedem Bataillon. Aus ähnlichen Gründen verweigerte er die Einführung von Stahlhelmen für Soldaten, obwohl die Zahl der schweren Kopfverletzungen in der Schlacht mit Helm nachweislich erheblich geringer war. Das Flugzeug verwarf er als überschätzten neumodischen Apparat und stellte sogar das Gewehr unter Verdacht. Was für Haig zählte, waren Pferd und Säbel, deren Zukunft „wahrscheinlich so groß wie immer sein wird“.3 Wegen dieser unfähigen Führung mussten eine Dreiviertelmillion junge britische Männer in einem Hagel aus deutschem Maschinengewehrfeuer in den Tod marschieren. Die genaue Anzahl der Kriegstoten zwischen 1914 und 1918 ist nicht bekannt, aber mehr als zehn Millionen Soldaten mussten sterben und mindestens halb so viele Zivilisten. Der Großteil einer ganzen Generation in Europa war praktisch verloren. Von den zehn Millionen oder mehr gefallenen Soldaten stammte ein Drittel aus den Mittelmächten, das heißt, aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei. Anders als die alliierten Kräfte des Westens und Russland im Osten führten die Mittelmächte den Kampf nicht nur an einer, sondern an zwei Fronten – an der russischen Front im Osten und an der französischen im Westen. An diesen beiden Fronten erlitten die Mittelmächte, allen voran Deutschland, größere Verluste als jede andere kriegführende Nation. In seinen fast fünf Jahren beim Militär durchlebte Lohmeyer Schlachten an beiden Fronten. Erstaunlicherweise finden sich die Zerstörung und die Desillusionierung aufgrund des brutalen Konflikts nicht auf den Fotografien wieder, die Melie und ihn während des Kriegs zeigen. Beide posieren vor der Kamera in stimmungsvoller Umgebung. Lohmeyers sieht gut aus, die kräftige Statur und die schicke Kleidung demonstrieren sein Selbstwertgefühl, selbstbewusst in nachdenklicher Pose mit der Hand am Kinn, den durchdringenden Blick direkt in das Kameraobjektiv gerichtet. Melie fühlt sich vor der Kamera nicht sonderlich wohl. Sie lächelt verhalten, sogar ein wenig misstrauisch. Die glamourösen Posen der Frauen in dem Sammelalbum, das Melie während des Ersten Weltkriegs anlegte, stammten nicht von ihr, sondern von ihrer attraktiven Stimmbildnerin Else Schünemann. Auch Melie war attraktiv, vielleicht nicht auf den ersten Blick, so wie Else. Sie hält etwas in der Hand und lenkt den Blick dadurch von sich ab. Auf einer Fotografie reckt sie einen Blumenstrauß in die Höhe, wie ein Priester das Heilige Sakrament bei der

3 Siehe Wade Davis: Into the Silence. The Great War, Mallory, and the Conquest of Everest. New York: Knopf, 2011, 15–16.

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Einsetzung des Abendmahls. Der Schnappschuss, auf dem Melie allein zu sehen ist, ist keine Nahaufnahme. Es gibt erstaunlich wenig Fotos, auf denen Ernst und Melie zusammen zu sehen sind. Tatsächlich finden sich genauso viele Fotografien von Melie und ihrem Hund wie von Ernst und ihr. Seit sie sich kennengelernt und umeinander geworben hatten, gab es immer wieder Leerstellen in ihrem Zusammensein. Diese Leerstellen sollten auch bleiben, als ihre Beziehung reifer wurde und schließlich in eine Ehe mündete. Manche Leerstellen sollten durch den nächsten Krieg noch größer werden, andere entstanden durch Anforderungen des Alltags. Falls es Beziehungen gibt, die solche Trennungen überhaupt aushalten können und daran sogar noch wachsen, dann ihre, denn es war nicht körperliche Nähe, die sie in erster Linie zusammenschweißte. Es war ihre Liebe zur Musik, zur Sprache und Poesie, ihre Freude daran, sich in ihrer Korrespondenz selbst zu entdecken und mitzuteilen. All dies sorgte dafür, dass die sprühenden Funken eine gemeinsame Flamme des Lebens entfachten; doch die Funken schienen auch Platz zu brauchen, um zu überleben und das Feuer ihrer Vereinigung zu schüren. Wenn es galt, Briefe aufzubewahren, Telegramme, Fotografien, Zeitungsausschnitte und Memorabilien aus den Kriegsjahren, war Melie verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk. Auf den meisten Seiten in ihren Sammelalben finden sich getrocknete Blumen, dazu ein halbes Dutzend Programmzettel von Kirchenkonzerten, besonders von Weihnachten, in denen sie als Alt-Solokünstlerin auftrat. Außerdem komponierte sie, zum Beispiel eine zweistimmige Partitur, gezielt eingerichtet für sich und Ernst. Während Ernsts Abwesenheit an der Front schrieb sie Gedichte in Sonettform. Mit Stolz, Patriotismus und Naivität stürzten die europäischen Nationen sich in den Großen Krieg, und Melie stimmte in diesen Marsch ein. Eines ihrer Gedichte fängt an wie folgt: Über Stock und über Stein Schritt das brave Deutsche Bein. Lange Strümpf von Wolle rein Strickt man noch viel Liebe ein Für das brave Deutsche Bein Wird der Marsch noch besser sein.4

Die Posen, die Lohmeyer auf Kriegsfotos einnimmt, sind sichtlich unangepasst. Ein früh im Krieg aufgenommenes Bild zeigt ein Dutzend uniformierte Soldaten in einer Bierhalle, die Bierkrüge aufdringlich platziert, die Gesichter blicken finster entschlossen drein. In der Mitte sitzt Lohmeyer, den Bierkrug vergessen im Schoß,

4 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 177.

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den Kopf in die Hand gestützt, mit gelangweiltem Gesichtsausdruck, oder vielleicht besser wie Diogenes, höhnisch angesichts der Verschwendung kostbarer Zeit.5 Ein im Januar 1916 aufgenommenes Foto zeigt drei Offiziere, aufrecht und stolz draußen vor einem Landhaus aus Holz in Ostpreußen stehend. In ihrer Mitte befindet sich Lohmeyer – sitzend mit lässig gekreuzten Beinen.6 Am 1. August 1914 wurde Lohmeyers Wehrstatus von Reserve auf aktiv hochgestuft. Er meldete sich zum Dienst im westfälischen Bückeburg, die Einheit wurde rasch nach Westen verlegt. Am Ende des Monats wurden seine Briefe an Melie von Cambrai in Nordfrankreich verschickt, am 1. September aus Crepy-en-Valois, ein Ort, der „nur dreißig Kilometer von Paris entfernt ist“, wie er am Ende eines Briefes notierte. Soldaten war es verboten, in Briefen Einzelheiten über militärische Aktionen und andere Informationen preiszugeben, aber höchstwahrscheinlich war Lohmeyer in der ersten Marne-Schlacht vom September 1914 im Einsatz. Zu jener Zeit hielt er sich unmittelbar in der Region auf; im Januar 1915 schickte er Melie einen Artikel aus der Kölnischen Zeitung mit einem Bericht über die Schlacht. Dem Befehlshaber der französischen Armee General Joseph Joffre war es gelungen, die sich zurückziehenden alliierten Kräfte neu zu bündeln, die vorrückenden Deutschen strategisch zu umgehen, auf diese Weise deren Vorstoß aufzuhalten und sich den Sieg an der Marne zu sichern. Alexander von Kluck gehörte zu den Generälen, die den deutschen Vorstoß anführten. Im Zeitungsartikel unterstrich Lohmeyer den Punkt, in dem von Kluck das gewagte französische Manöver als „eines der spannungsreichsten Ereignisse“ bezeichnete, die er im Krieg je erlebt hatte. Mitte November 1914 schrieb Lohmeyer an Melie, dass er quer durch Deutschland reisen würde und sie in Kiel treffen wolle. Eine Reise „quer durch Deutschland“ konnte nur seine Verlegung nach Russland bedeuten, an die Ostfront. Lohmeyer schloss die Briefe meist mit einem kurzen Verweis auf den Aufenthaltsort: „aus Cambrai“ oder „aus Lille“. Ab Dezember lauteten die Ortsnamen slawisch, „Ruszki an der Bzura“ oder „Bralla“. Melie und er schrieben sich weiterhin mehrere Briefe pro Woche. Wir denken oft nicht daran, wie fortgeschritten das deutsche Postund Transportwesen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war. Die Bahn von Berlin nach Breslau braucht heute über vier Stunden, damals schaffte sie die Strecke in zweieinhalb Stunden. Das Post- und Telegrafenwesen war genauso gut entwickelt, Briefe wurden von und nach vielen Kriegsfronten in Frankreich, Russland und Griechenland geschickt. Lohmeyer und Melie nutzten das Kommunikationswesen größtmöglich aus, manchmal amüsierten sie sich auch darüber. In den ersten drei Monaten an der Ostfront schickte Lohmeyer zusätzlich zu den

5 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 159. 6 Ernst Lohmeyer an Melie, 30. Januar 1916. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 73.

Einberufung zum Krieg

Briefen fünf Telegramme; er sandte ihr sogar einen einzeiligen Brief mit der Ankündigung, dass sie am nächsten Tagen mit zwei oder drei Briefen rechnen solle: „Innige Gedanken. Großer Brief kommt. Dein Ernst.“7 Als Lohmeyer im Februar 1915 in Deutschland ein verstauchtes Fußgelenk auskurierte, konnte er Melie kurz treffen. Im März war er zurück in Ostpreußen, nahe Königsberg (heute: Kaliningrad), wo er bis Juni blieb. Im selben Monat bestellte er ein kleines, mit Schmucksteinen besetztes Pillendöschen aus Siegen als Geschenk für Melie. Im April bekam sie ein Telegramm zu ihrem fünften Jahrestag als Paar. Im Mai legte er einen schrecklichen Zeitungsbericht über einen Kurier bei, der zu Pferd zwischen der deutschen und russischen Schlachtlinien pendelte. „Viele Grüße“, schrieb er über den Artikel, ein Anhaltspunkt dafür, dass er an der Schlacht teilgenommen hatte. Mehrere während der Kriegsjahre an Melie geschickte Fotografien, die ihn auf dem Rücken eines Pferdes zeigen, sowie die eigentümlichen Unterstreichungen in dem Zeitungsbericht lassen darauf schließen, dass Lohmeyer selbst dieser unerschrockene Reiter war. Als Ernst im Juni 1915 auf eine Woche Heimaturlaub nach Hause kam, besuchte er Melie. Einen Monat nach seiner Rückkehr an die Front sandte er ihr ein sechzigseitiges Tagebuch, in dem er über jeden einzelnen Tag seit ihrer Trennung Rechenschaft ablegte. Der schmale Band war lediglich einer der 160 Briefe, die er ihr in den folgenden sechs Monaten schrieb. Im Juli legte er neben dem Brief zwei quadratische Schwarzweiß-Fotos von ungefähr fünf Zentimeter Größe in den Umschlag. Das eine zeigte ihn auf einem Pferd, das andere zwei Frauen auf dem Boden sitzend vor einem einfachen, strohgedeckten Haus in der russischen Steppe. Im September und Oktober verwickelte das Jäger-Bataillon Nr. 7 die Russen in eine große Schlacht an der Düna östlich von Riga, Lettland. Lohmeyer schickte Melie einen Zeitungsartikel über die Schlacht. Unterstrichen war der Hinweis auf sein Bataillon, das sich, wie es im Artikel hieß, durch die Gefangennahme von achthundert russischen Soldaten ausgezeichnet hatte, was den Deutschen wiederum den Sieg einbrachte. Im Artikel wurde das besondere Heldentum eines „Musketiers“ namens Weiß gefeiert, eines Handgranaten-Spezialisten, der nachts durch den See geschwommen war und auf der anderen Seite den Drahtzaun der Verteidigungsanlage durchtrennt hatte. Er hatte es geschafft, die Zitadelle an der Düna einzunehmen, zusammen mit zwölf befreiten deutschen Soldaten. Der deutsche General zeichnete das Jäger-Bataillon Nr. 7 mit Orden aus, Musketier Weiß wurde das Eiserne Kreuz verliehen. In dem Artikel wurde nicht erwähnt, dass das Jäger-Bataillon Nr. 7 nach der Schlacht achthundert Opfer zu beklagen hatte, fast ausschließlich Todesfälle. Viele Gefallene stammten aus Lohmeyers Bückeburger Einheit.

7 Ernst Lohmeyers Briefwechsel mit Melie siehe GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 60.

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Hochzeit Im Februar 1916 berichtete Lohmeyer von starken Kopfschmerzen infolge eines „Sturzes“. Die Folgen waren an seiner fahrigen Handschrift zu erkennen. Weitere Einzelheiten drangen nicht durch, aber die Verletzung könnte aus einem Sturz vom Pferd herrühren. Im Ersten Weltkrieg spielte das Pferd eine wichtige Rolle, und traurigerweise wurden fast so viele Pferde und Maultiere getötet wie Menschen. Im Monat nach dem Sturz wurde Lohmeyer in zwei Krankenanstalten in Ostpreußen (heute: Polen) behandelt und Mitte März zur Rekonvaleszenz in die Militärkrankenhäuser nach Köln, Bückeburg und Paderborn verlegt.8 Im Jahr 1916 war der Krieg in Europa zum Stillstand gekommen. Ein tödliches Niemandsland, übersät mit Landminen und Leichen, trennte die durchweichten und verseuchten Schützengräben im Osten Frankreichs. Auf der einen Seite lagen die deutschen Truppen, auf der anderen die britischen, französischen, kanadischen, australischen und italienischen. Im Frühjahr hatte Lohmeyer sich von seiner Kopfverletzung erholt. Die Pattsituation im Krieg sowie die Nähe zu Melie bot Gelegenheit zu häufigen, wenn auch nur kurzen Treffen. Nach sechsjähriger Werbung und Tausenden Briefen beschlossen Ernst und Melie, ihre Beziehung in ein dauerhaftes Eheleben umzuwandeln. Am 16. Juli 1916 vereinte Lohmeyers Vater Heinrich sie in einem Traugottesdienst in Vlotho. Den restlichen Juli verbrachten sie zusammen. Schon der August sollte sie wieder trennen, Lohmeyer kehrte zurück an die Front, und Melie verbrachte längere oder kürzere Zeitspannen bei der Familie, bei Freunden und Bekanntschaften in verschiedenen Gegenden Deutschlands. Für die nächsten zwei Jahre verlief ihr Eheleben ungefähr so, wie auch ihr unverheiratetes Leben verlaufen war: mit noch mehr Trennungen und Unmengen von Briefen. Mit der Rückverlegung an die Westfront – zunächst in die ostfranzösische Gegend von Alaincourt-la-Côté zwischen Metz und Nancy, später in die Region Saarbrücken – besserte Lohmeyers Lage sich für den Rest des Krieges erheblich. Wegen der größeren Nähe zu Melie wurde ihm nicht selten Urlaub bewilligt. Urlaub bedeutete gemeinsame Zeit. Im Oktober 1917 verlebten sie zwei prächtige Wochen in Süddeutschland, besuchten Klassikkonzerte und eine Aufführung der Zauberflöte in der Oper; sie machten Urlaub am idyllischen Walchensee, gekrönt von mehreren Nächten in einem First-Class-Hotel in München.9

8 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 74. 9 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 95.

Wissenschaft im Schützengraben

Wissenschaft im Schützengraben Lohmeyers persönliche Kriegserfahrungen wurde nicht nur durch die vermehrt nach seiner Rückverlegung an die Westfront Mitte 1916 gewährten Fronturlaube entschärft, sondern auch dadurch, dass er in den Jahren kriegsbedingten Stillstands zunehmend Zeit für die Wissenschaft fand. In beiden Weltkriegen bestand Lohmeyers wissenschaftliche Aktivität darin, in seinem Rucksack ein Neues Testament auf Griechisch mitzuführen, eine Schreibunterlage und das lebenslange Werkzeug für den schriftlichen Ausdruck – einen grünschwarzen Füllfederhalter mit Goldfeder. Von zusätzlichen wissenschaftlichen Materialien konnte er nur träumen. Die frühen Morgenstunden von fünf bis sieben waren am wenigsten belastet, bevor militärische Prozeduren und Pflichten ihm den Tagesablauf diktierten. Innerhalb dieses Zeitfensters musste er seine Konzentration gegen Erschöpfung verteidigen, gegen behelfsmäßige Arbeitsplätze und Schreibunterlagen, gegen Lärm, Unterbrechungen, schlechtes Licht und andere Widrigkeiten, die für ihn nicht kalkulierbar waren und die wir uns nicht vorstellen können. Wenn er nur täglich ein bisschen Zeit für die Wissenschaft abknapsen konnte, unter welchen Umstände auch immer – und sein Verlangen danach war unstillbar –, konnte er mit allen aufkommenden Pflichten, Ablenkungen und auch Härten fertigwerden. Wissenschaft war ihm ein Lebenselixier in den schlammigen, blutgetränkten Schützengräben, diesen Zeugen des Gemetzels, die in seiner Generation zu maßloser Desillusionierung und Verzweiflung führten. Kein Charakterzug hinterließ bei seiner Tochter Gudrun größeren Eindruck als seine Kraft zu gedanklicher Konzentration und Produktivität. „Ob Ferien oder Semester“, schrieb Gudrun 1989, „Wochen- oder Feiertag, Stadt oder Land, es verging kein Tag ohne wissenschaftliche Arbeit. Es läßt sich schwer vorstellen, besonders für die jungen Menschen unter uns, was es für ihn bedeutet haben muß, fast neun Jahre in seinem Leben Soldat gewesen zu sein.“10 Mit Füllfederhalter oder Bleistift hielt Lohmeyer das entscheidende Requisit in der Hand, das ihn in die Lage versetzte, mit der Welt im Reinen zu sein. Wissenschaft bildete das Fundament für jede andere Tätigkeit in seinem Leben. Nachdem dieses Fundament gelegt und gefestigt war, sei es für nur ein oder zwei Stunden täglich, konnte er allem, was seinen Weg kreuzen sollte, gewappnet und mit Fassung entgegenblicken. Schreiben war ihm das Wasser des Lebens. „Wenn ich schreibe“, vertraute er seinem Tagebuch 1932 an, „so kann ich in allen Höhen und Tiefen jauchzen und traurig sein!“11 Dieses Gefühl von Erlösung, wenn der Ausdruck

10 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 44. 11 Zit. nach Haufe: Ein Gerechter unter den Völkern. Gedenken an Ernst Lohmeyer. Rede an der Universität Greifswald anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Hinrichtung Lohmeyers, 19. September 1996.

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erlaubt ist, gab es natürlich nicht geschenkt. Denn Menschen mit solch einer Leidenschaft empfinden normalerweise mehr als den Hauch eines schlechten Gewissens, wenn sie studieren und schreiben, statt sich um Dinge zu kümmern, die wenn schon nicht wichtiger, so doch dringlicher zu erledigen sind. Wer Prioritäten setzt und sich strikt daran hält, kennt dieses Gefühl nur allzugut, und ich bin sicher, dass es Lohmeyer vertraut war. Außerdem glaube ich, dass er entdeckte, was alle entdecken, auf deren Schultern die Last dieser Gnade ruht: dass man nämlich Zeit für die nachrangigen Dinge findet, sofern man den vordringlichen Anliegen auch Vorrang einräumt. Normalerweise wird das Nachrangige sogar besser und mit größerer Gewissenhaftigkeit erledigt, als wenn ihm Vorrang gewährt würde. Augustinus, dessen Schriften ganz weit oben auf Lohmeyers lebenslanger Leseliste rangierten, beschrieb dieses Phänomen als ‚recht geordnete Liebe‘. Chaos und Sünde resultierten aus ungeordneter Liebe, während recht geordnete Liebe Sinn und Fruchtbarkeit im Leben erzeugte. Zwei Wochen nach seiner Entlassung aus dem aktiven Militärdienst im November 1918 reichte Lohmeyer an der Universität Heidelberg seine Habilitation ein. In Deutschland müssen Absolventen, die es auf einen Lehrstuhl abgesehen haben, ergänzend zu ihrer Doktorarbeit eine zweite wissenschaftliche Monografie vorlegen, die Habilitation. Damit soll die Befähigung nachgewiesen werden, eigenständig auf einem wissenschaftlichen Niveau zu arbeiten, das die Qualität der angeleiteten Forschung im Rahmen der Dissertation erreicht. In seiner Habilitation mit dem Titel Vom göttlichen Wohlgeruch untersucht Lohmeyer die Rolle des Geruchs unter besonderer Berücksichtigung der Weihrauch- und Ritualaromen in der göttlichen Offenbarung.12 Lohmeyer setzt ein mit der Rolle von Weihrauch im religiösen und kulturellen Milieu der Bibel. In der griechischen Welt waren Narzisse und Hyazinthe und vor allem Weihrauch und Ambrosia das „Symbol des Duftes, in dem göttliches Leben sich offenbart.“13 In Ägypten hielt man Weihrauch für den Duft der Götter, in Persien für das Symbol der Seligen im Paradies. In merkwürdigem Gegensatz dazu spielte der Geruchsinn in der Kultur und den heiligen Schriften Israels in der göttlichen Offenbarung keine Rolle. In den späteren Schriften des Alten Testaments taucht Geruch hin und wieder auf, aber lediglich als Vergleich: Gott ist wie ein angenehmer Duft. Aber Gott ist nicht der Duft, und der Duft ist nicht das Medium der Anrufung Gottes oder seiner Offenbarung. Im Neuen Testament spielt der Geruchsinn keine größere Rolle, mit Ausnahme von Paulus’ Darstellung Gottes: „Dank sei Gott, der uns stets im Siegeszug Christi mitführt und durch uns den Duft der Erkenntnis Christi an allen Orten verbreitet. Denn wir sind Christi

12 Ernst Lohmeyer: Vom göttlichen Wohlgeruch, 9. 13 Ernst Lohmeyer: Vom göttlichen Wohlgeruch, 11.

Ein Versuch, den Krieg zu verarbeiten: Angriff

Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verlorengehen“ (2 Kor 2, 14–15). Im Unterschied zu den umgebenden heidnischen oder gnostischen Kulten, wo massiv Weihrauch waberte, war die judeo-christliche Tradition außergewöhnlich rauchfrei. Lohmeyer behauptete, dass die Beliebtheit von Weihrauch in den umgebenden Kulten dessen Einsatz oder Begutachtung in der Frühkirche praktisch unmöglich machte. Wenn Weihrauch in den mittelalterlichen Katholizismus Einzug erhielt – und das tat er –, dann folgte daraus: „Die vernichtende Kraft des Protestantismus hat den [Weihrauch-]glauben in die Sphäre des Volksaberglaubens hinabgedrückt.“14 Die Bedeutung von Weihrauch im römischen Katholizismus und in der Orthodoxie der Moderne ließ er unerwähnt, vielleicht weil zumindest seiner Meinung nach das Fehlen von Weihrauch an den Ursprüngen der christlichen Tradition dessen Glaubwürdigkeit in der späteren Überlieferung zunichtemachte. Eine Habilitation über den „göttlichen Wohlgeruch“ sieht auf den ersten Blick vielleicht aus wie eine Übung in wissenschaftlicher Irrelevanz. Nur sollte nicht vergessen werden, dass das Thema einmal mehr Lohmeyers Sinn für das Ästhetische demonstriert. Andere menschliche Fähigkeiten wie etwa Sprechen, Sehen, Hören und Berühren ragen in der biblischen Offenbarung deutlicher heraus. Es wäre einleuchtend, dass Geruch als empirischer Gegenpol göttlicher Offenbarung sich zu den anderen menschlichen Fähigkeiten gesellt. Denn Gerüche, Aromen und Düfte sind unmittelbar und evokativ, wenn auch weniger fassbar als Hören und Sehen und nicht so konkret. Wie kein anderer Sinn kann der Geruchssinn versunkene Erinnerungen wachrufen und verborgene Sehnsüchte wecken. Lohmeyers esoterische Studie über Wohlgeruch ist in diesem Fall besonders wichtig, weil er die Fallstricke von ungeprüften Annahmen demonstriert. Riechen ist der einzige der fünf Sinne, der in der göttlichen Offenbarung in Israel und im Urchristentum keine Rolle spielt. Womöglich war der Sinn sogar geächtet, um Israel und die Frühkirche vor der heidnischen Praxis zu bewahren, für Götzen Weihrauch abzubrennen.15

Ein Versuch, den Krieg zu verarbeiten: Angriff Als Lohmeyer im Herbst 1918 seine Habilitationsschrift in Heidelberg einreichte, hätten die Zustände in Deutschland kaum instabiler sein können. Die Welle der Begeisterung, mit der Deutschland vier Jahre zuvor in den Krieg gezogen war, hatte sich erschöpft und Deutschland ausgelaugt und demoralisiert zurückgelassen.

14 Ernst Lohmeyer: Vom göttlichen Wohlgeruch, 50–51. 15 Gerhard Dellings Artikel zu „Aroma“ in ThWNT 5, 492–495 greift umfangreich auf Lohmeyers Habilitation zurück.

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Die außerordentlich hohen Verluste im Krieg – wofür überhaupt? – hatten dafür gesorgt, dass 1918 in Europa schlimmere Zuständen herrschten als 1914. Der Große Krieg hatte dem weitverbreiteten Optimismus, dass die Welt sich in Richtung Perfektion entwickeln würde, einen k.o.-Schlag verpasst. Moralisch und spirituell versank der Westen im Chaos. Der sich anschließende Nihilismus war stärker als der Optimismus, den er unrühmlich zerstörte. Der Sog des Pessimismus erfasste die Künste, die Literatur, Politik, Moral, Wirtschaft und allgemein die Kultur. Privatleben und berufliche Pläne hatte Lohmeyer während des Krieges im Auge behalten, seine Heirat und der Abschluss der akademischen Arbeit hatten ihn sogar vorangebracht. Aber nicht einmal er konnte den verheerenden Auswirkungen jenes Krieges entkommen, der sich zwischen 1914 und 1918 ereignet hatte. Im Mai 1918 war klar geworden, dass Deutschland den langen und kostspieligen Zweifrontenkrieg verloren hatte. Lohmeyer verarbeitete diese Umwälzung in einem langen Essay, einer persönlichen Philosophie der Geschichte mit dem Titel Angriff. Mit Angriff tauchte er tief in seine Gedankenwelt ein und förderte wie mit einem Schleppnetz in chtonischen Sprach-Bildern zutage, wie er Deutschlands Platz in der Welt sieht. Schon der aggressive Titel der Arbeit ist untypisch für ihn und ein Zeichen inneren Aufruhrs. In Alexander dem Großen und der Herrlichkeit Roms suchte er nach Metaphern für Deutschlands Bestimmung – eine Bestimmung, die durch das unrühmliche Ende des Krieges ernsthaft gefährdet war. Wo war nun Deutschlands „Geist“ zu finden, sein „Wesen“, sein „Volk“, sein „Rang“ und sein „Ansehen in der freien Welt“? Wie konnte Deutschland überleben, was ihm im Krieg widerfahren war? Lohmeyer suchte einen Weg nach vorn, wenn schon nicht für die deutsche Nation oder gar ihr Volk16 , dann in ihrem Geist: „So schwer auch der gegenwärtige Gang durch Blut und Eisen angehoben hat, schwerer noch bleibt der fernere Gang, darin der deutsche Geist durch eine Welt und ein Leben ohne Ende sich formt und wandelt hin zu seiner Vollendung.“17 Lohmeyer war im Südwesten Deutschlands stationiert, als er Angriff schrieb. Er schickte den Text per Post an Melie und bat sie um ein Urteil. Sie las, setzte sich eigenständig mit dem Essay auseinander und schickte ihn drei Tage später per Post zurück. „Nein, das ist nicht wahr“, hieß es ganz offen in einem Randkommentar. In einem weiteren Kommentar widersprach sie gemäßigter: „Das scheint mir überbehauptet“. Alles in allem fand sie es glänzend. „Ja – Ja mein Geliebter. Ich freue mich“, schrieb sie am Ende. Sie tippte den gesamten Text ab und schickte ihm das Typoskript zur Schlusskorrektur. Die Erwartung, dass das Königreich Gottes auf Erden Wirklichkeit werde, war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht ungewöhnlich. Die oberflächliche Iden-

16 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original. 17 Zu Angriff siehe GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 17, pp. 101–104 (5. Mai 1918).

Deutsche Kapitulation

tifikation der nationalen Politik mit göttlichen Absichten, wie sie auf den Kanzeln Europas oft gepredigt wurde, spiegelt solche Hoffnungen wider, genau wie im „Social Gospel Movement“ in Amerika. Angriff war das einzige Mal, dass Lohmeyer sich diesem gefährlichen und zwangsläufig aussichtslosen Marsch anschloss, der das Königreich Gottes mit dem Schicksal und der Politik einer Nation identifizierte. Es ist kaum verwunderlich, dass der Gesang der Sirenen ihn in Versuchung führte, auch wenn er ihm nicht unterlag. Wie sollte jemand, der den Krieg mit all dem sinnlosen Gemetzel durchgestanden hatte, seine Gedanken dazu nicht so letztgültig, so eschatologisch verarbeiten? Der Vorstoß war nicht zu vermeiden und meiner Meinung nach vielleicht sogar notwendig, denn ohne den Versuch hätte er auch dessen Vergeblichkeit nicht erkennen können. Glücklicherweise hat er Angriff nicht publiziert. Lohmeyer erkannte den Irrtum, die Vollendung der eschatologischen Absichten Gottes im Schicksal einer Nation oder gar in deren politischer Agenda zu suchen. In der NS-Zeit sollte es noch viele geben, die Gerhard Kittels und Ludwig Müllers, die derart faustische Fantasien begeistert begrüßten. Wenn Lohmeyer seinen eigenen Irrtümern in Angriff nicht auf die Spur gekommen wäre, hätte er die gleichen Irrtümer bei anderen nicht so scharfsinnig erkennen und kritisieren können.

Deutsche Kapitulation Die 1914 in Deutschland weitverbreitete Siegesgewissheit machte die spätere Niederlage noch verheerender. Der endgültige Untergang Deutschlands war allerdings nicht das Ergebnis einer Niederlage auf dem Schlachtfeld, sondern resultierte aus einem Zusammenbruch der Moral. Sobald Bulgarien, die Türkei und Österreich den Alliierten zugefallen waren, meuterte die deutsche Kriegsmarine; politische Demonstrationen ergossen sich in die Straßen. Die Eruption war katastrophaler als die Niederlage im Krieg, denn sie fegte das Fundament des Deutschen Reiches selbst hinweg. Deutschlands konservative politische und militärische Führung einschließlich des Kaisers, der sie verkörperte, hatte das Land in den Krieg getrieben, doch diese Führung konnte die soziale Revolution, die im Nachgang des Zusammenbruchs der Mittelmächte aufkam, nicht überleben. Am 9. November 1918 dankte Kaiser Wilhelm II. ab und floh nach Holland. Er trieb das Deutsche Reich, das Otto von Bismarck 1871, also knapp fünfzig Jahre zuvor, aus der Taufe gehoben hatte, einem unrühmlichen und bedrohlichen Ende zu. Das Vakuum, das Deutschlands diskreditierte konservative Führung hinterlassen hatte, wurde rasch von freiheitlich linken Parteien gefüllt, besonders von der Sozialdemokratie. Die linken Parteien waren nicht unbedingt Bettgenossen der russischen Kommunisten, zumindest nicht alle, doch ihre Agenda bewegte sich viel

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weiter links als alles, wofür der Kaiser und das alte Regime plädiert hätten. Soziale und politische Spannungen strapazierten das politische Gefüge aufs Äußerste. Das war sogar noch die mildeste der Hiobsbotschaften für Deutschland. Viel schlimmer waren die Sanktionen, die die Alliierten im Versailler Vertrag für die „Hunnen“ ausgehandelt hatten. Versailles verlangte die Abtretung ElsassLothringens an Frankreich sowie die Abtretung weiterer Territorien an Belgien, Dänemark und Polen. Der Verlust dieser landwirtschaftlich und industriell geprägten Gebiete und deren natürliche Rohstoffe war eine Gefahr für Deutschlands Ökonomie. Zu den territorialen Verlusten zählten auch die Saarregion und das Rheinland, das industrielle Kraftwerk Deutschlands, das den Alliierten in Versailles für fünfzehn Jahre zur Besetzung zugeschlagen wurde. Die dem Land auferlegten Reparationen ließen das Geldwesen unkontrolliert abstürzen. Wären die von Versailles diktierten Bedingungen erfüllt worden, hätte Deutschland seine letzte Zahlung im Jahr 1984 leisten müssen! Nach dem Machtantritt Hitlers war dies nicht mehr möglich. Doch die schlimmste unter den schlimmen Nachrichten war die Kriegsschuld-Klausel von Versailles, die die Schuld am Krieg Deutschland auflud – und zwar Deutschland allein. In den Worten von Versailles: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“18 Der Erste Weltkrieg endete mit Deutschlands Niederlage, der Versailler Vertrag sorgte dafür, dass er auch mit Deutschlands Schmach endete. Der verlorene Krieg, der Zusammenbruch der kaiserlichen Herrschaft, die gefährdete Wirtschaft – all dies führte zu einer politischen Massenschlägerei im Nachkriegsdeutschland. Der einzige Punkt, der Deutschland hätte helfen können, war die Versailler Forderung, auf Grundlage der gescheiterten Monarchie einen demokratischen Überbau der Nachkriegszeit zu errichten. Es ist kaum verwunderlich, dass diese eigentlich begrüßenswerte Ouvertüre durch die negativen Effekte der anderen Bedingungen von Versailles zum Scheitern verurteilt war. Die Kräfte, die dafür sorgten, dass die Demokratie sich im Nachkriegsdeutschland nicht durchsetzen konnte, waren beachtlich. Fünfunddreißig Parteien erlebte die Weimarer Republik im Wettstreit um die Macht in Deutschlands erstem, noch jungem und letzlich fehlgeschlagenem Demokratie-Experiment. Die Granaten, die die Alliierten während des Krieges über Deutschland nicht hatten abwerfen können (lediglich ein

18 Siehe Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 [Versailler Vertrag]. Teil VIII (Wiedergutmachungen), Abschnitt I (Allgemeine Bestimmungen), Artikel 231. http://www.documentarchiv.de/wr/ vv08.html [Zugriff am 10.02.2022].

Deutsche Kapitulation

kleiner Teil der Kämpfe des Ersten Weltkrieges fand auf deutschem Boden statt), wurden, welche Ironie, nach dem Krieg vom Versailler Vertrag gezündet. Der Völkerbund, zweifelsohne das positivste Ergebnis des Versailler Vertrages, griff den Slogan des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auf: die Welt für die Demokratie sicher zu machen. Nur wenige Deutsche teilten den Optimismus und bisweilen die Begeisterung der Alliierten bei der Gründung des Völkerbundes. Fast 3,5 Millionen Soldaten hatten die Mittelmächte im Krieg verloren, großenteils Deutsche. Kaum ein Haushalt, der nicht Ehemann, Vater, Sohn oder Enkel in vier kostspieligen Jahren auf dem Schlachtfeld hatte lassen müssen. Und was war gewonnen? Der Kaiser hatte abgedankt. Der gewaltige Verlust an deutschen Soldaten war, wie vom politischen Gegner im Nachkriegsberlin vorgebracht wurde, für eine gescheiterte Sache gewesen. Das Verdikt von Versailles, mit dem Deutschland die Alleinschuld am Krieg zugeschoben wurde, bedeckte die deutschen Kriegstoten in einem Tuch der Schande. Die Bitterkeit schlug tief und schnell Wurzeln – überall in Deutschland. Nur wenige Deutsche hielten die Bestimmungen von Versailles für gerechtfertigt; niemand, denke ich, hielt sie für ehrenhaft. Natürlich konnte niemand vorhersagen, was die Zukunft für Deutschland bereithalten sollte. Hitlers prometheischer Aufstieg zur Macht, die Katastrophe und die Zerstörung, die er über Europa hereinbrechen ließ, waren nicht vorhersehbar, geschweige denn vorstellbar – und noch weniger die nachfolgende russische Besetzung der gesamten Ostgebiete Deutschlands. Aber ein Gefühl hatte sich tief eingesenkt: Der Große Krieg hatte nichts geregelt. Stattdessen hatte er die Bühne bereitet für das Unheilvolle, das kommen sollte. Viele Deutsche sollten auf dieser Bühne auftreten müssen – aber nur wenigen war eine Rolle zugedacht wie Ernst Lohmeyer.

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Kapitel 6. Verpflanzung nach Breslau

„Unsere ganze Würde besteht demnach in der Fähigkeit zu denken. Von da aus müssen wir gehen und nicht von Raum und Zeit, die wir doch niemals ausfüllen könnten. Arbeiten wir also daran, richtig zu denken: Das ist das Prinzip der Moral.“1 Blaise Pascal, 1670

Assistenzprofessor in Heidelberg Wie kehrt jemand, der fast fünf Jahren im Krieg verbracht hat, in die zivile Gemeinschaft zurück? Es kommt wohl darauf an, wer dieser Jemand ist, was er erlebt hat, was getan – und nicht getan. Der Erste Weltkrieg hatte Lohmeyers Lebenskoordinaten nicht wesentlich verschoben. Zwar hatte der Krieg manches verändert, aber es waren positive Veränderungen, sofern sie überhaupt spürbar wurden. Durch den Entzug der Wissenschaft war er wie ein Bergsteiger, der ausgehungert und mit schier unersättlichem Appetit von einer Kräfte zehrenden Expedition zurückkehrt. Bei Lohmeyer war es der Appetit auf wissenschaftliche Produktivität. Dieser Appetit hat jedoch nur verstärkt, was er und alle anderen längst wussten. Der Fokus und die Energie, mit denen er aus dem Krieg heimgekehrt war, sollten dafür sorgen, dass die nächsten fünfzehn Jahre zu den produktivsten seiner akademischen Laufbahn wurden. Darüber hinaus hatte der Krieg ihn etwas gelehrt, was ihm selbst vielleicht noch nicht deutlich gewesen war. „Die Härten des Krieges, das lange Soldatenleben“, schrieb Gudrun, „hatten ihn männlicher werden lassen und seine von Natur aus vorhandenen praktischen Fähigkeiten und seinen Sinn für reale Gegebenheiten ausgebildet, was ihm später bei der verwaltenden Universitätsarbeit zustatten kam.“2 Dass er in die Wissenschaft gehörte, hatte Lohmeyer schon immer gewusst. Jetzt war ihm klar geworden, dass er auch Führungsqualitäten hatte. 1918 konnte er einen beneidenswerten Lebenslauf vorweisen. Gut die Hälfte der Stationen hatte er während des Krieges absolviert: Er hatte eine Dissertation in Theologie über den „Bund“ geschrieben, eine weitere über Anselms Lehre vom Willen und als Drittes die Habilitation über die Rolle des Wohlgeruchs in der judeo-christlichen Tradition. Im Juli 1918 wurde ihm per handgeschriebenem Brief von der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg die Stelle eines

1 Blaise Pascal: Pensées 6. Fragment 347. 2 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, 46.

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Verpflanzung nach Breslau

Privatdozenten in Neuem Testament angeboten, die erste Sprosse auf der Leiter zur vollen Professur. Mit ihr war die venia legendi verbunden, die ihn berechtigte, nun auch in der Lehre tätig zu werden.

Antrittsvorlesung Während seines letzten Heimaturlaubs Mitte Oktober 1918, also knapp vier Wochen vor dem Waffenstillstand, der den Ersten Weltkrieg beenden sollte, hielt Lohmeyer die für die Verleihung der venia legendi notwendige Antrittsvorlesung an der Universität Heidelberg. Der Vortrag mit dem Titel Christuskult und Kaiserkult 3 wurde im Jahr darauf veröffentlicht. Wie im Titel angedeutet, untersuchte Lohmeyer den römischen Kaiserkult und dessen möglichen Einfluss auf die Anbetung Christi im Christentum. Lohmeyer verfolgte die Spuren des Kaiserkultes bis an die Wurzeln im griechischen Osten, ging den ganzen Weg zurück bis zu Platons Ideal des Philosophenkönigs, zielte aber noch direkter auf den Einfluss Alexanders des Großen im späten vierten Jahrhundert v. Chr. Im Osten hatten sich Kulte mit HalbgötterHelden stark ausgebreitet; man glaubte, sie wären auf unterschiedlichste Weise von Göttern herabgestiegen, Herrscher, Philosophen, Poeten und Wundertäter jeglicher Art. Lohmeyer hielt diese Kulte der „Heiligen Männer“ eher für Fanfarenstöße, die auf den großen Einzug des römischen Kaiserkultes vorbereiten sollten, beginnend mit der Selbstausrufung des Caesar Augustus zum Heiland und Gottessohn kurz vor der Geburt Jesu Christi. Lohmeyer war der Ansicht, dass aus dem anmaßenden Anspruch des Augustus auf Gottgleichheit ein unausgegorener Kaiserkult entstanden war, der wiederum beeinflusste, wie frühe Christen an Jesus glaubten und sich auf ihn bezogen, insbesondere als „Heiland“, „Sohn Gottes“ und „Herr“. Lohmeyer jedoch weitete den Einfluss des Kultes über die Epoche des Neuen Testaments aus. Er betrachtete ihn als Blaupause für die Doktrin der Suprematie des Papstes und die Heiligenverehrung im römischen Katholizismus. Der größte Einfluss des Kaiserkultes bestand laut Lohmeyer jedoch in dessen Umwandlung in den Christuskult während der Regentschaft Konstantins im frühen vierten Jahrhundert. Die Fülle der archäologischen Entdeckungen und Erkenntnisfortschritte in Bezug auf den Kaiserkult nach Lohmeyers Abhandlung sorgte dafür, dass sich nicht alle seine Schlussfolgerungen aufrechterhalten ließen. Das prachtvolle Gewand des Kaiserkultes, der sich von Augustus bis Konstantin erstreckte, ist nicht so nahtlos, wie es in Lohmeyers Vortrag erscheint. Richtig ist, dass der Kaiserkult im zweiten Jahrhundert als Prüfung der Gefolgschaft gegenüber dem römischen Staat fungierte

3 Ernst Lohmeyer: Christuskult und Kaiserkult. Tübingen: Mohr Siebeck, 1919.

Antrittsvorlesung

– und dass mit dem Tod bedroht war, wer sich dieser Prüfung verweigerte. Aber im ersten Jahrhundert war der Kult weniger klar definiert und weniger verbreitet, als Lohmeyer annahm. Die Geschichte von Jesu Geburt in Lukas 2 mag die Voraussetzung für die Verkündigungen des Augustus Caesar als „Sohn Gottes“ sein, und die Verweise auf die „Hure Babylon“ und das „Ungeheuer“ in Kapitel 16 bis 18 der Offenbarung rücken das römischen Reich eindeutig in ein unheilvolles Bild. Doch solche vereinzelten Anspielungen und Verweise lassen weder die Annahme zu, dass es im ersten Jahrhundert einen systematischen „Kaiserkult“ gegeben habe, noch gibt es Belege dafür, dass die Opfergabe für den Kaiser wie etwa das Trankopfer für Caesar zu jener Zeit allen römischen Untertanen abverlangt wurde, und ganz sicher nicht um den Preis des Lebens derer, die sich verweigerten. Lohmeyers Vortrag griff auch die im frühen zwanzigsten Jahrhundert in der deutschen Wissenschaft verbreitete Ansicht auf, dass die neutestamentlichen Titel für Jesus von hellenistischen Prototypen abgeleitet wurden. Seiner Auffassung nach übertrugen Christen nicht nur die römische Kaiser-Terminologie auf Jesus, wobei „Sohn Gottes“ und „Herr“ die wichtigsten waren, sondern auch das römische Verständnis der Terminologie. Das Neue Testament scheint beide Annahmen infrage zu stellen. Mehrere sprechende Titel für Jesus im Neuen Testament – zum Beispiel „Messias“, „Wort“ und „Diener“ – sind jüdisch und tauchen im Kaiserkult nicht auf. Einige Titel, die im Kaiserkult auftauchen, zum Beispiel „Sohn Gottes“ und „Herr“, übertragen vielmehr Bedeutungen aus dem Alten Testament statt aus dem Kaiserkult. Aber das Wichtigste ist, dass die religiöse Ergebenheit gegenüber dem Kaiserkult ganz anders aufgefasst wurde als die Ergebenheit gegenüber Jesus im Neuen Testament und in der Frühkirche. Der Kaiserkult war lediglich ein Ausdruck der facettenreichen römischen Religion, die sich viel mehr über öffentliche Zurschaustellung definiert und dies durch die Befolgung von Verhaltensnormen demonstriert als durch persönlichen Glauben und Überzeugung. Der Treueschwur in Amerika oder die Beflaggung öffentlicher Gebäude anlässlich nationaler Gedenkund Feiertage ist eine moderne Entsprechung der Ergebenheitsbekundung, wie sie für die römische Religion typisch war. Solche öffentlichen Zeremonien und Observanzen lassen sich mit der religiösen Ergebenheit im Frühchristentum allerdings nur unzureichend vergleichen. Der Anspruch, den das Evangelium auf das Leben des Gläubigen erhob, war allumfassend, und wer ihm folgte, gab sich durch ein gewandeltes Herz und Leben zu erkennen. In der römischen Religion und im späteren Kaiserkult wurde keine solche Transformation erwartet, und ganz bestimmt opferte niemand sein Leben für den Kaiserkult. Dass Tausende Christen in der Ära des Neuen Testaments lieber ihr Leben gaben als den römischen Herrscher anzubeten, deckt die grundlegende Differenz zwischen der Anbetung des Kaisers und der Anbetung Christi auf. Genau wie seine Dissertation über den „Bund“ spiegelte auch Lohmeyers Antrittsvorlesung das Interesse Adolf Deißmanns, die Spuren des Frühchristentums in

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der griechisch-römischen Welt nachzuverfolgen. Obwohl die Schlussfolgerungen aus Christuskult und Kaiserkult im Lichte heutiger Erkenntnisse neu bewertet werden müssen, ist Lohmeyers Studie nicht hinfällig. Von fortdauernder Bedeutung ist, dass er das Studium der neutestamentlichen Christologie direkt in den Kontext der Soziologie des römischen Reiches rückte, hier speziell in den Kontext des berühmt-berüchtigten Kaiserkults. Der Kurs, den Lohmeyer in seiner Antrittsvorlesung einschlug, wurde seither fortentwickelt und verfeinert, aber nicht rückgängig gemacht. Am 1. Dezember 1918 trat Lohmeyer seine Assistenzprofessur in Heidelberg an. Bei seiner Ankunft war die Universität noch mit der Umstellung des akademischen Kalenders auf die Friedenszeit beschäftigt. Seine ersten Vorlesungen waren in einem „Kriegsnotsemester“ angesetzt, das von Ende Januar bis Mitte April 1919 dauerte. Im Sommersemester lief der Unibetrieb in Heidelberg wieder voll und ganz nach dem traditionellen akademischen Fahrplan. Von Beginn seiner Karriere an las Lohmeyer zu den lebenswichtigen Organen des christlichen Korpus: Römer, Korinther und die Passionserzählungen in den Evangelien. Schon im Kriegsnotsemester hielt er eine Vorlesung zu einem Buch des Neuen Testaments, über das er seinen bedeutendsten Kommentar schreiben sollte – das Markusevangelium.4 Dieser Kommentar war es, der mich auf seinen Namen aufmerksam gemacht hat.

Breslau: Juwel an der Oder Am 10. Oktober 1920 schrieb Lohmeyer an Rudolf Bultmann, der eine Professur für Neues Testament in Gießen angenommen hatte und Breslau verließ: „Vom preußischen Kultusministerium erhielt ich heute den Ruf, als Ihr Nachfolger nach Breslau zu kommen. Es ist mir eine Ehre und Freude zugleich, gerade den Lehrstuhl inne haben zu können, den Sie bisher bekleidet haben.“5 Kurz nach seiner Ankunft schrieb er Bultmann noch einmal und fand Breslau „reichlich fremd und reichlich östlich“; trotz der Fremdheit seien seine Fakultätskollegen Hans von Soden und Karl Bornhausen jedoch „sehr freundlich“ gewesen.6 Mit diesem Briefwechsel markierte er den Übergang von den zwei kurzen Jahren in Heidelberg zu fünfzehn erfüllenden Jahren in Breslau.

4 Eine vollständige Liste der Vorlesungen Lohmeyers in Heidelberg, Breslau und Greifswald bietet Hutter: Theologie als Wissenschaft, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 69, 1990, 123–169. 5 Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 69, 1990, 154. 6 Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 69, 1990, 131.

Breslau: Juwel an der Oder

Die Stadt Breslau (heute: Wrocław, Polen) wird an ihrer Nordseite durch eine geschwungene Schleife der Oder begrenzt. Jahrhundertelang war die Oder in Grachten und Kanäle umgeleitet worden, sodass die Stadt praktisch vom Wasser umschlossen und ein Dutzend Inseln entstanden waren. Diese Wasserarme, die sich durch die Stadt schlängeln, machen Breslau zu einem Venedig des Nordens. Einhundert Brücken verbinden das urbane Archipel zu einer malerischen Stadt der Türme und Kirchturmspitzen, der bezaubernden Gassen und, besonders auf dem Marktplatz, der Fassaden im Stil der Neorenaissance. Das imposante Universitätsgebäude, mittig zwischen zwei Brücken über die Oder gelegen, blickt über die breite nördliche Schleife des Flusses. Die Universität wurde im 17. Jahrhundert von Jesuiten gegründet, architektonisch passenderweise in prunkvollem Barock. Mit Fresken geschmückte Gänge, Unterrichtsräume, die eher an Kirchen als an Hörsäle erinnern, reich mit Schnitzereien verzierte Treppenhäuser aus Walnussholz, Aussichtstürme mit Panoramablick auf Stadt und Fluss – all das macht die Universität Breslau ungewöhnlich prachtvoll. Zehn Jahre nach seiner Ankunft sollte Lohmeyer ihr Rektor werden. Das vielleicht berühmteste Foto von Lohmeyer zeigt ihn als Rektor mit einem Barett aus Samt auf dem Kopf, einem Talar mit breitem Kragen, bedeckt mit kunstvollem Brokat und eingefasst mit metallischen Kordeln. In jeder anderen Umgebung würde dieses goldgerahmte Bild ein Beispiel verschwenderischer Extravaganz abgeben, aber mit der preußisch-barocken Pracht der Universität Breslau konnte es nicht besser im Einklang stehen. Breslau befand sich am äußeren Rand des Gebietes, das Lohmeyer für seine Lehrtätigkeit ins Auge gefasst hatte. Er bat Bultmann um Unterstützung bei der Suche nach einer Behausung – mindestens fünf Zimmer, erklärte er.7 Er erwarb das Anwesen und auch ein Ferienhaus – in Glasegrund, im schlesischen Bergland südlich von Breslau gelegen. Am 9. Mai 1920 machte Melie ihren ersten Eintrag in das Gästebuch von Glasegrund, genoss den Sonnenschein auf der Veranda, während die kleine Beate-Dorothee, die im Februar geboren worden war, im Zimmer nebenan schlief. Der Eintrag war eine idyllische Vignette auf die Zeit der Zufriedenheit in Lohmeyers Leben.8 Aber frei von Sorgen war sie nicht. Zuerst kam die Sorge um die kleine Beate-Dorothee. Am 19. Februar 1921 gab Lohmeyer im Heidelberger Tageblatt Folgendes bekannt: „Am 17. Feb., mittags 1 Uhr, starb uns unser einziges Kind, unsere kleine Beate-Dorothee nach 5-wöchentlichen mit holdseliger Geduld getragenen Qualen im zarten Alter von 1 Jahr. Prof. E. Lohmeyer und Frau Melie Lohmeyer.“9 Die Todesursache wurde nicht mitgeteilt. Höchstwahrscheinlich starb 7 Zu Ernst Lohmeyers Brief an Rudolf Bultmann siehe Hutter: Theologie als Wissenschaft, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 69, 1990. 8 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 174. 9 Heidelberger Tageblatt, 9. Februar 1921.

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sie infolge der Grippe-Pandemie, die in den späten Zehner- und frühen Zwanzigerjahren so viele Menschen das Leben kostete. Die Pandemie war so allgegenwärtig, dass Menschen wie Lohmeyer sie nicht einmal mehr für erwähnenswert hielten. Drei weitere Kinder wurden Ernst und Melie geboren, zwei Söhne – ErnstHelge (1922) und Hermann-Hartmut (1923) – sowie eine Tochter, Gudrun-Ricarda (1925). Die Kinder sollten bis in die Teenagerjahre in Breslau aufwachsen. In der intellektuellen Community der Universität blühte Lohmeyer auf, genau wie Melie in der Breslauer Musikkultur. Otto von Grünewald, die führende Persönlichkeit der Breslauer Musikwelt, war in einem langen, warmherzigen Brief voll des Lobes für sie und bat sie inständig, in Breslau auf Konzerten zu singen, wie sie es in Heidelberg und andernorts während des Krieges getan hatte. Das Haus der Lohmeyers wurde zu einem anregenden Treffpunkt, und Ernsts akademische Freunde wurden auch zu Melies Freunden, wie Melie sich mit vielen ihrer Ehefrauen anfreundete.

Das soziale Umfeld des frühen Christentums In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hielten soziologische Methoden und Ansätze in großem Umfang Einzug in Theologie und Bibelwissenschaft, und daran scheint sich bis heute nichts geändert zu haben. Die Erforschung der sozialen Gegebenheiten im östlichen Mittelmeer und in den urchristlichen Gemeinden steuerte hochkarätige Beiträge zu unserem Verständnis des Neuen Testaments und der Frühkirche bei. 1921 erschien Lohmeyers Soziale Fragen im Urchristentum. Geschrieben volle fünfzig Jahre, bevor Bibelwissenschaftler sich überhaupt dieser Fragestellung annahmen, bleibt es einer seiner prägnantesten Beiträge in der theologischen und Bibelwissenschaft.10 Adolf von Harnack, die theologische Riesengestalt in Deutschland an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, verkündete fast schon päpstlich, dass das Schrifttum des Urchristentums von sozialen Grundsätzen nichts wusste und dass sämtliche Einflüsse auf das Urchristentum ausschließlich religiös und moralisch waren. Harnack mag die Auffassung vertreten haben, dass soziale Grundsätze in den Vorstellungen des Frühchristentums keine Rolle spielten, aber andere Zeitgenossen, insbesondere marxistische Theoretiker, hielten dogmatisch an der Überzeugung fest, dass soziale Kräfte im historischen Wandel die entscheidende Rolle spielten. Es führte kein Weg daran vorbei, solche Prinzipien auch bei der Erforschung des Urchristentums anzuwenden. Einige Sozialtheoretiker versuchten sogar, den proletarischen Charakter des Urchristentums aufzuzeigen.11 Lohmeyer 10 Ernst Lohmeyer: Soziale Fragen im Urchristentum. Leipzig: Quelle und Meyer, 1921 [Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973]. 11 Georg Liebster: K. Kautskys Ursprung des Christentums, in: Christliche Welt 8, 1910, 170–175. Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 17–18.

Das soziale Umfeld des frühen Christentums

war kein marxistischer Sozialtheoretiker, glaubte aber, wie es in der Einführung zu Soziale Fragen hieß, dass Urchristen und moderne Europäer trotz ihrer zeitlichen und räumlichen Distanz durch eine große Gemeinsamkeit verbunden waren. Beide waren in einem Zusammenprall tektonischer sozialer Kräfte gefangen, der sie unwiderruflich veränderte. Über den genauen Befund sozialer Veränderung kann man sicher streiten, doch die Existenz sozialer Kräfte, die dazu führte, war nicht zu leugnen. Lohmeyers Soziale Fragen setzt sich aus Elementen zusammen, die für seine Wissenschaft inzwischen typisch waren – Direktheit, Genauigkeit und Anschaulichkeit, nicht selten flackert ein bildlicher und lyrischer Stil auf. Wie Jacob Burckhardt teilt er die soziale Welt des antiken Nahen Ostens in drei große Bereiche – Staat, Gesellschaft und Religion/Kirche. Lohmeyer teilte die Bereiche weiter auf in städtisches Leben, Agrikultur, Handel/Gewerbe, freie Bürgerschaft, Sklaven, Familie, religiöse und philosophische Sekten und so weiter. Das Ergebnis ist eine skizzenhafte Analyse der sozialen Topografie der griechischen, römischen, jüdischen und frühchristlichen Welten. Anders als der Titel vermuten lässt, geht es in dem Buch weniger um eine Einlassung zu tatsächlichen sozialen Fragestellungen und Sachverhalten, denen die urchristliche Bewegung sich gegenübersah, als vielmehr um eine Darstellung der unterschiedlichen, in der antiken Welt agierenden sozialen Gruppen. In einem frühen Kommentar heißt es, dass Lohmeyer die antiken Gesellschaftsformen eher philosophisch, vielleicht sogar metaphysisch untersuchen würde und nicht so sehr soziologisch.12 Einmal mehr analysierte er theologische Fragestellungen philosophisch. Lohmeyers Studie setzt zweierlei voraus: Erstens, dass das Christentum die antike römische Welt viel rascher und umfangreicher durchdrang als jeder andere Glaube, jede andere Philosophie oder Bewegung. Und zweitens, dass das Christentum weniger von den Wechselfällen der Welt tangiert wurde als jeder andere Glaube, jede andere Philosophie oder Bewegung. Dies führt langfristig zu transformativen Effekten des Christentums auf die römische Welt, ohne dass umgekehrt der Kern des Christentums seinerseits durch die römische Welt transformiert wurde. Mit anderen Worten: Christentum existierte in der römischen Welt, griff in sie ein und übte mit der Zeit tiefgreifenden Einfluss auf sie aus, ohne jedoch seine unverwechselbaren Eigenschaften preiszugeben. Lohmeyer beschrieb Jesus in Soziale Fragen als „Fackelschwinger des Höchsten“, als Lichtstrahl der gnädigen, überirdischen Gottheit. Dies scheint sehr an Ernst Renans romantisierende und doketische Jesus-Figur zu erinnern, die leicht über der Welt schwebt, statt sie vollständig zu erfüllen. Außerdem porträtierte Lohmeyer das Urchristentum als Bewegung überwiegend aus den Unterschichten, bestehend

12 Esking: Glaube und Geschichte in der theologischen Exegese Ernst Lohmeyers, 152.

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aus heidnischen Außenseitern, ländlichen Armen, Fremden aus Galiläa, Sklaven und Frauen. Es ist verlockend, diese Hervorhebung im Licht der soziologischen Kräfte zu lesen, die im Deutschland der 1920er-Jahre am Werk waren, das heißt, bezogen auf die Privilegien, die dem deutschen Volk13 in den näherrückenden Nazi-Jahren gegenüber „Ausländern“ und „Wesensfremden“ zugesprochen werden sollten. Allerdings ist unklar, inwieweit Lohmeyer dies schon im Jahr 1921 voraussehen konnte. Und selbst wenn er es gekonnt hätte, bleibt die Frage, ob er bereit gewesen wäre, historische Schlussfolgerungen für ihre „prophetische“ Relevanz in der Kirche seiner Zeit zu ziehen. Keine dieser Fragen kann zuverlässig beantwortet werden, und so ist es das Beste, Lohmeyers Schlussfolgerungen für bare Münze zu nehmen. Obwohl die „Abgehängten“ einen signifikanten Anteil am Urchristentum ausmachten, vielleicht sogar die Mehrheit bildeten, stellten sie nicht die Gesamtheit. Im Neuen Testament richten sich die Ansprüche der Evangelien auch an die oberen Gesellschaftsschichten und an die Mächtigen – an den Adel, die Wohlhabenden und an die militärische Führung, die in urchristlichen Gemeinden nicht fehlten. Mitglieder der herodianischen Dynastie wurden im inneren Zirkel des Urchristentums gezählt (Lk 8,2; Apg 13,1), und insbesondere das lukanische Doppelwerk betont die Verkündung des Evangeliums an die Mächtigen und Fürsten sowie auch deren Rezeption des Evangeliums. Die fruchtbare Kultur des frühchristlichen Briefschreibens setzt für sich genommen schon ein einigermaßen schriftkundiges Publikum voraus. Aufmerksamkeit für solche Gruppen hätte die leitende Prämisse Lohmeyers, dass das Christentum die antike Welt umfassender durchdrungen hatte als jede andere religiöse oder soziale Sekte, veranschaulicht und gestützt. Lohmeyers kompakte Studie zur Soziologie des Frühchristentums wurde zu einer Zeit geschrieben, als der Reichtum der antiken materiellen Kultur, den die wir heute für selbstverständlich halten und der so grundlegend zu unserem Verständnis des ersten Jahrhunderts des Christentums beigetragen hat, noch nicht bekannt war. Sein Blick auf das Vergangene erfolgte durch ein lichtschwaches Teleskop, jedenfalls im Vergleich zu den modernen, leistungsstärkeren geschichts- und sozialwissenschaftlichen Teleskopen. Kann Soziale Fragen heute überhaupt noch eine Bedeutung haben, und wenn ja, welche? Ich denke, dass die Studie in mindestens zweierlei Hinsicht wichtig bleibt. Soziale Fragen gehört zu den ersten Studien, die die Sozialgeschichte des frühen Christentums als brauchbares akademisches Genre innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft behandeln. All die Monografien, Reihen, Artikel, Präsentationen und Publikationen, die wir heute zu diesem Thema kennen, verdanken wir Ernst Lohmeyers Soziale Fragen des Urchristentums – ob es den Wissenschaftlern nun bewusst ist oder nicht. Die heutige breit ausgebaute

13 Deutsch und kursiv im Original.

Intellektuelle Community

wissenschaftliche Schnellstraße zur Sozialgeschichte des Urchristentums folgt dem Kurs, mit dem Lohmeyer in Soziale Fragen Pionierarbeit geleistet hat. Und zweitens ist Soziale Fragen ein frühes, aber sicher nicht das letzte Beispiel dafür, dass er die Segel seiner Forschungen nach dem Wind seines eigenen Charakters und seiner Bildung setzt und nicht nach den in der damaligen Wissenschaft vorherrschenden Winden. Ein wichtiger Leitsatz seines Lebens stammt von Blaise Pascal: „Unsere ganze Würde besteht demnach in der Fähigkeit zu denken. Von da aus müssen wir gehen und nicht von Raum und Zeit, die wir doch niemals ausfüllen könnten. Arbeiten wir also daran, richtig zu denken: Das ist das Prinzip der Moral.“14 Soziale Fragen ist ein Versuch, richtig zu denken, und sich als Einzelner der übergeordneten Autorität eines Harnack entgegenzustellen, der darauf beharrte, dass es so etwas wie eine soziale Perspektive auf das Urchristentum nicht gibt, und gleichermaßen unabhängig zu sein gegenüber den wachsenden marxistischen Theorien, dass Geschichte einzig und allein von sozialen Kräften gemacht werde.

Intellektuelle Community In Kapitel 2 habe ich die Geschichte von meiner Zulassungsprüfung in Deutsch an der Universität Zürich erzählt. Eine zweite Geschichte aus Zürich könnte den Rahmen für den Rest dieses Kapitels abstecken. Alle paar Wochen betrat Eduard Schweizer, bei dem ich in Zürich Neues Testament studierte, den Hörsaal, zog einen Kalender aus der Westentasche seines Sakkos und kündigte an: „Diese Woche habe ich am Donnerstagabend frei. Alle Interessierten sind auf ein Bier oder ein Glas Wein zu mir nach Hause eingeladen, und wir sprechen über Theologie.“ Prompt tauchte ich am Donnerstag auf. Auch ein japanischer Student war dabei, fühlte sich aber mit seinem Deutsch nicht sicher und sagte nicht viel. Ich freute mich riesig über Schweizers Einladung und war erstaunt, dass weder die schweizerischen noch die deutschen Studenten seiner Einladung gefolgt waren. „Warum nicht?“, wollte ich wissen, worauf sie ein wenig beschämt eingestehen mussten, dass solch große Nähe – immerhin hatte ein angesehener Professor sie zu sich nach Hause eingeladen – sie einschüchtern würde. Und genauso beschämt gestanden sie ihren Neid auf diejenigen ein, die ihre Schüchternheit überwinden konnten. In Amerika hatte ich verschiedenen Clubs angehört – kirchlichen Jugendgruppen, Ski- und Bergwandergruppen, Pfadfindergruppen für Jungs, Sportgruppen, Schulband, Lateinclub und so weiter. Aber noch nie hatte ich einem intellektuellen Zirkel angehört, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, jemals von einem solchen gehört zu haben – also einem Kreis von Leuten, die sich der Diskussion

14 Pascal: Pensées 6, Fragment 347.

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von Inhalt und Methodologie eines bestimmten Themas widmen. Dabei war nicht Schweizer auf die Idee gekommen. Für deutsche Professoren war so etwas ungewöhnlich, daher die Schüchternheit der Studenten in Zürich, aber unbekannt war es nicht. Schweizer hatte bei Karl Barth studiert, der Studenten zu einer lockeren intellektuellen Fragerunde in geselliger Atmosphäre eingeladen hatte; nun lud er, Schweizer, seine Studenten zu einer ähnlichen intellektuellen Gemeinschaft zu sich nach Hause ein. Schweizers „Offene Abende“, wie er sie nannte, waren der Gipfelpunkt meines akademischen Lebens. Er hatte bei einflussreichen Theologen im deutschsprachigen Europa studiert, bei Rudolf Bultmann, Emil Brunner, Gottlob Schrenk, Rudolf Otto, und, ja, sogar bei Barth selbst. Als ich bei Schweizer studierte, hatte er im akademischen Rang zu ihnen aufgeschlossen. In seinem Wohnzimmer diskutierte ich Anliegen, die ich aus Princeton mitgebracht hatte, und lernte auch neue Fragestellungen kennen. Annäherungen an das Neue Testament, die aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar waren – Form- und Redaktionskritik zum einen, Bultmanns Programm der „Entmythologisierung“ zum anderen – solche Ansätze konnten ausgiebig mit jemandem besprochen werden, der bei den Initiatoren gelernt hatte. Wir sprachen über das Verhältnis von theologischer Wissenschaft zur Predigt, über die Bedeutung des Laienstandes in der kirchlichen Missionsarbeit, über die stumpfe Gewalt des Nationalsozialismus auf die intellektuelle Welt in Europa, Theologie eingeschlossen, und warum manche Professoren mit ihnen kollaboriert hatten. Wir sprachen über marxistische Einflüsse auf die Theologie, die sich in der Befreiungstheologie der 1970er-Jahre spiegelten, und über die „Theologie der Hoffnung“. Aber vor allem sprachen wir über Theologie an sich, darüber, dass Gottes Tun vor aller menschlicher Reaktion ist; wir sprachen über Jesus, über den Schweizer vier Bücher geschrieben hat; im letzten bezeichnet er Jesus auf unnachahmliche Weise als „Gleichnis Gottes“. Schweizer fasste seine theologische Pilgerfahrt in folgenden Worten zusammen: „Gott ist eine Wirklichkeit, im Vergleich zu der alles, was wir ‚Wirklichkeit‘ nennen, nur ein Bild und eine schwache Kopie sind. Verglichen mit seiner Liebe ist alles, was wir Liebe nennen, nur eine Emanation von Gottes eigener Liebe. Deshalb ist nur Gottes eigenes Engagement für uns, wie es in Jesus Christus geschehen ist, in der Lage, die Kluft zwischen Gott und Mensch zu überbrücken.“15 Unsere Gespräche streiften frei durch die theologische Landschaft, fanden aber zielsicher immer wieder zum Neuen Testament zurück sowie zur verantwortungsvollen und gewissenhaften Exegese. Schweizer hatte sich der Theologie mit Haut und Haar hingegeben, insbesondere dem Neuen Testament. Seine Beherrschung der

15 Eduard Schweizer: Jesus Christ. The Man from Nazareth and the Exalted Lord. The 1984 Sizemore Lectures in Biblical tudies at Midwestern Baptist Theological Seminary, hg. Hulitt Gloer, Macon: Mercer University Press, 1987, 90.

Poet

Sprachen und die Breite seiner Studien war beeindruckend. Am eindrücklichsten erinnere ich mich jedoch an sein bescheidenes Auftreten und an die Bereitschaft, von anderen Wissenschaftlern zu lernen, auch bei Nichtübereinstimmung, verbunden mit dem Eingeständnis, wie viel er ihnen verdanke.16 Die „Offenen Abende“ waren ein unvergleichliches Geschenk in meinen prägenden Jahren als Wissenschaftler. Sie sorgten dafür, dass ich mich zutiefst lebendig fühlte. Die intellektuelle Gemeinschaft, zu der Eduard Schweizer geladen hatte, setzte mich einem Auftrag aus, der fortan mein Leben bestimmen sollte. Etwas Ähnliches geschah mit Lohmeyer in Breslau.

Poet In Breslau entwickelten sich Lohmeyers poetischer Stil und die philosophische Ausrichtung in seiner Theologie. Die Züge tauchten nicht erst in Breslau auf, sie waren auch früher schon in nuce vorhanden. Aber auch natürliche Begabungen brauchen Anregung und Nahrung. Beides erhielt Lohmeyer in Breslau, und zwar im schöpferischen Kreis von Kollegen und Freunden. In den 1920er- und 1930er-Jahren entwickelte sich unter deutschen Intellektuellen eine Anzahl von Kreisen17 , die sich nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs fast ausnahmslos der Erneuerung des kulturellen und spirituellen Lebens widmeten. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, wie spät Deutschland als Nation auf die europäischen Bühne trat – erst 1871 konstituierte Otto von Bismarck Deutschland als Nationalstaat. 1920 steckte Deutschland als Nation noch in den Kinderschuhen, war es doch kaum fünfzig Jahre alt. Die Katastrophe des Großen Kriegs warf die ernste Frage auf, ob die Nation jemals das Erwachsenenalter erreichen würde. In den verschiedenen intellektuellen Kreisen, die in der Interimszeit von etwa zwölf Jahren zwischen dem Versailler Vertrag und Hitlers Machtantritt entstanden waren, wurde angenommen, dass für Deutschlands Überleben die Rückgewinnung moralischen und spirituellen Quellwassers oder vielleicht sogar dessen Neuerschließung erforderlich war, um das Land von den Verlusten des Krieges, der Kapitulation der Monarchie und der heraufziehenden politischen und ökonomischen Misere der Nachkriegsära zu reinigen und zu erlösen. Von diesen und anderen humanistischen Zielen waren verschiedenen Kreise in Deutschland geprägt.

16 Für einen Einblick in Eduard Schweizers persönliche Gedanken über Theologie und Leben siehe En Route with My Teachers, in: Jesus Christ, 57–91. Hier 90. 17 Deutsch und kursiv m Original.

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Viele Kreise wurden förmlich gegründet und benannt. Der zumindest aus heutiger Sicht berühmteste war der Kreisauer Kreis in Berlin, gegründet von Helmut James von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg. Zu Kreisau gehörten führende soziale, politische, ökonomische und militärische Denker, fast alle jüdischchristlicher Überzeugung; sie strebten danach, das Dritte Reich zu stürzen und es durch eine legitime moralische und demokratische Regierung zu ersetzen. Eugen Rosenstock-Huessy, einer von Lohmeyers engen Kollegen, schloss sich später dem Kreisauer Kreis an. Eugen Rosenstock-Huessy emigrierte später nach Amerika, wo er neben vielen weiteren Verdiensten um das nationale Leben des Landes die Führungsausbildung des Civilian Conservation Corps unter Franklin Roosevelt entwarf und leitete. Mehrere Mitglieder des Kreisauer Kreises nahmen am 20. Juli 1944 an der Verschwörung des Attentats auf Hitler teil – und bezahlten das Scheitern mit dem Leben. Kreisau war nicht der einzige Kreis. Paul Tillichs Kairos-Kreis näherte sich der Erneuerung Deutschlands aus genuin theologischer und sozialer Perspektive, allerdings ohne ein politisches Programm zu entwickeln. Der Eckart-Kreis, ein anderer intellektueller Freundeskreis, widmete sich der Wiederbelebung des protestantischen Geisteslebens in Deutschland. Viele seiner Mitglieder sympathisierten in den 1930ern mit der Bekennenden Kirche oder wurden sogar Mitglied. Jochen Klepper, Christ mit jüdischen Vorfahren, war einer von ihnen, er stieg zum führenden Journalisten in Deutschland auf, studierte bei Lohmeyer in Breslau. Klepper wurde ein bedeutender, vielleicht sogar der bedeutendste christliche Dichter und Hymnendichter im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch er musste seinen Widerstand gegen das NS-Regime mit dem Leben bezahlen. Insbesondere im Kreisauer und im Eckart-Kreis zählten auch Frauen als vollwertige Teilnehmerinnen, einige von ihnen waren Ehefrauen der männlichen Mitglieder. Der vielleicht bekannteste Kreis zu Lohmeyers Zeiten war der George-Kreis, benannt nach dem quixotischen deutschen Gelehrten Stefan George. Der GeorgeKreis strebte nach einer Erweckung Deutschlands auf Grundlage der spirituellen und mythischen Werte des klassischen Altertums, vor allem insoweit sie durch Dichtung und die lyrische Kraft der Sprache vermittelt wurden. Etliche Begabungen und Neigungen Lohmeyers stimmten mit denen von Stefan George und seinem Kreis überein. Dazu gehörte auch Georges Empfindsamkeit für Ästhetik, besonders in Sprache, aber auch in Musik und Dichtung, seine Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Struktur und Zahl im Text sowie seine Liebe zur Antike und den von ihr inspirierten Dichtern wie etwa Friedrich Hölderlin und Hugo von Hofmannsthal. Sowohl George als auch Lohmeyer glaubten, dass Wissenschaft mehr als Analyse sein sollte, ganz gleich, wie makellos die Analyse auch ausfallen mochte. Es sollte auch um die Klarheit des Ausdrucks gehen, mit dem die Analyse vermittelt wurde. Allerdings setzten Lohmeyer und George Sprache nicht einfach nur als Ausdrucksmedium ein. Sie glaubten an Sprache, nicht nur an Sprache als

Poet

Ausdrucksmedium, sondern als eigenständigen Gehalt, der für die Vermittlung und Wahrnehmung von Wahrheit wesentlich war. Stefan George war eine schillernde Figur im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Autodidakt beherrschte er ein Dutzend Sprachen so gut, dass er ihre Epen und Meisterwerke ins Deutsche übersetzen konnte. Sprache faszinierte ihn so sehr, dass er Geheimsprachen erfand wie etwa J. R. R. Tolkien im Englischen. Die Geheimsprache in seinen persönlichen Aufzeichnungen war so komplex und undurchdringlich, dass sie nie entschlüsselt werden konnte; seine Experimente mit der deutschen Sprache ähneln denen von E. E. Cummings mit Englisch. Für die Publikation seiner Bücher entwickelte er Typografien, die seiner Handschrift ähnelten, und entwickelte spezielle Formate und Interpunktionen für diese Schriftarten. Er verhielt sich persönlich wie die starken und mythischen Gestalten in seinen Schriften, ähnlich wie G. K. Chesterton in seine Figuren schlüpfte. Bei öffentlichen Lesungen aus seinen Werken war er in eine Priesterrobe gekleidet. Er versuchte, die Verkaufszahlen seiner Bücher und auch das Publikum, vor dem er las, zu begrenzen – wirklich ungewöhnlich für einen Autor. Es verwundert nicht, dass sein Elitismus eine große Anzahl von Zuhörern zu seinen Lesungen zog und die Buchverkäufe anheizte. Die Weimarer Republik vergötterte George. Seine transzendente mythische und moralische Anschauung, seine literarische Kunstfertigkeit und seine einzigartige Persönlichkeit inspirierten die Anhänger in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Vision, von der sie glaubten – oder hofften –, dass sie dem Nihilismus, der Deutschland verschlang, gewachsen war. Und manche inspirierte er zu Taten, die großen Mut erforderten. Zu ihnen gehörte Hans Scholl, Student an der Universität München; er war George nie begegnet. Zusammen mit seiner Schwester Sophie, einem Philosophie-Professor namens Kurt Huber und einem Dutzend Münchner Studenten stellte Scholl etwa fünf Ausgaben der Weißen Rose her, einem literarischen Faltblatt von moralischer Weisheit und christsozialer Verantwortung gegen die verachtenswürdige Barbarei des NS. Dieses Faltblatt ließ er zwischen 1942 und 1943 zirkulieren. Der Widerstand der Weißen Rose wurde von der Gestapo zerschlagen, die Geschwister Scholl, Huber und fast alle Studenten hingerichtet. Am Tag der Enthauptung von Hans Scholl fand man diese Worte auf den Tisch seiner Todeszelle geschrieben: „Kreuz du bleibst noch lang das licht der erde. Hellas ewig unsre liebe.“ (Stefan George)18 Anderthalb Jahre später zeigte sich der Einfluss von George im Zusammenhang mit einer ähnlichen Heldentat. Unter seinen treuesten Anhängern fanden sich die

18 Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod: mit einem Vorspiel, 9. Auflage, Berlin: Bondi, 1920, S. 98; The White Rose: The Student Resistance against Hitler, München 1942/43. [Weiße Rose Stiftung e.V., Ludwig-Maximilians- Universität, München], 35.

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drei Brüder von Stauffenberg, von denen zwei, Claus und Berthold, die Verschwörung vom 20. Juli 1944 gegen Hitler anführten. Am Abend vor der Tat schworen sie, das „verborgene“, doch wahre Deutschland wiederzuerwecken, zu dem George sie geführt habe. Das Attentat am folgenden Abend scheiterte, Claus starb vor einem NS-Erschießungskommando im Hof der deutschen Admiralität im Bendlerblock in Berlin. Drei Wochen später wurde sein Bruder Berthold in Berlins berüchtigtem Gefängnis Plötzensee hingerichtet.19 Es gab unverkennbar kultische, sogar okkulte Aspekte bei Stefan George. Aber in einem wesentlichen Punkt verhielt George sich nicht wie der typische Sektenführer: Öffentlichen Beifall und Macht lehnte er konsequent ab. 1927 wollte die Stadt Frankfurt ihn mit der erstmaligen Verleihung ihrer prestigeträchtigsten Auszeichnung ehren, dem Goethepreis. Er, der Orden und Medaillen sonst als Profanierung der Kunst schmähte, nahm tatsächlich an. 1933 bot Joseph Goebbels ihm den Ehrenvorsitz der Gesellschaft für die Deutsche Dichterakademie des Dritten Reichs an; diesmal jedoch lehnte er ab. Die NS-Propagandisten wussten die Macht des Symbols für ihre Sache zu nutzen und sehnten sich danach, Stefan George vor ihren Karren zu spannen. Doch so leicht ließ er sich nicht zähmen. Als Hitler 1933 an die Macht kam, verließ er Deutschland in Richtung Schweiz, wo er im Dezember desselben Jahres starb. Stefan George war eine lebendige Sphinx, ein Geschöpf, in dem verschiedenste Teile von Tieren sich zu einer neuen und mächtigen mythischen Wirklichkeit vereinen. Seine intellektuelle Anziehungskraft war ein Konglomerat aus der Numerologie des Pythagoras, Luthers robuster Entwicklung der deutschen Sprache, Goethes ewigem Menschen, Friedrich Hölderlins romantisierter Antike und Nietzsches „Übermensch“. Diese heidnischen und poetischen Elemente wurden zu einer mythischen Gestalt 20 umgeschmiedet, die Deutschlands tiefe Sehnsucht nach dem Verlorenen auslotete – oder nach dem, was noch nicht gefunden worden war. Soweit wir wissen, hat Lohmeyer George nie persönlich getroffen. Jedenfalls hat sich zwischen den beiden keine persönliche Beziehung entwickelt, denn in der im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz verwahrten Korrespondenz Lohmeyers findet sich kein einziger Brief an oder von George. Den Kontakt zu George scheint Melie vermittelt zu haben, die während der Kriegsjahre mit Friedrich Gundolf, Georges Stammapostel in Heidelberg, Bekanntschaft schloss. Daher war Georges Einfluss auf Lohmeyer indirekt, wenn möglicherweise auch nicht unbedeutend, denn sie waren geistesverwandt – in ihrer Hingabe an die wesentliche Rolle der Sprache, des Symbols und der Ästhetik im Dienst der Wahrheit.

19 Zu Georges Einfluss auf die Stauffenberg-Verschwörung siehe Kniebe: Operation Walküre, 86–89, 106 und 153–164. 20 Deutsch und kursiv im Original.

Philosoph

Philosoph Die Professoren, mit denen Lohmeyer sich in Breslau befreundete, waren weder ein formell konstituierter oder benannter Zirkel noch inszenierten sie sich so ostentativ wie der George-Kreis. Gleichwohl fungierten sie als Arbeitsgruppe von Philosophen und Theologen, und der magnetische Norden, auf den die Kompassnadel der Gruppe zeigte, war Ernst Lohmeyer. Die Mitglieder trafen sich regelmäßig und lasen aus ihren Werke vor. Die meisten Namen sind im Gästebuch des Sommerhauses in Glasegrund verzeichnet, sie lauten: Richard Koebner (†1958), Otto Strauß (†1938), Eugen Rosenstock-Huessy (†1973), Ernst Joseph Cohn (†1976) und Richard Hönigswald (†1947). Alle waren Juden, manche allerdings zum Christentum konvertiert wie etwa Richard Hönigswald. Die meisten waren Philosophen, besonders Kantianer, genauer gesagt: Neukantianer; diese Ausrichtung hat Lohmeyers theologische Arbeit deutlich geprägt. Wie der Name schon sagt, war der Neukantianismus eine Wiederbelebung der Philosophie Immanuel Kants, der an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert gestorben war. Kant gründete seine Philosophie im Begriff der menschlichen Autonomie, die vier Ideale voraussetzte: die Existenz Gottes, Freiheit, Ethik und Unsterblichkeit. Diese Ideale und der Kantsche Idealismus insgesamt wurden im neunzehnten Jahrhundert von verschiedenen Seiten belagert. Der Hauptangriff, der praktisch keinen Aspekt der westlichen Kultur verschonte, kam vom Materialismus. Der Materialismus prägte die Wirtschaft, indem er die Industrielle Revolution befeuerte; er beeinflusste die Wissenschaft in der gesamten Spannbreite wissenschaftlicher Entdeckungen, und er prägte Philosophie und Politik, indem er Karl Marx eine Theorie bereitstellte, die die gesamte menschliche Geschichte auf Grundlage materieller Kausalzusammenhänge erklärte, insbesondere durch ökonomische Kausalität. Auch die Theologie war betroffen, denn im späten neunzehnten Jahrhundert schwang das Pendulum weg von der Theologie als Diskurs über Gott hin zu einer Theologie als Diskurs über menschliche Moral. Die Faszination des neunzehnten Jahrhunderts für Archäologie war eine besonders ertragreiche Kombination aus wissenschaftlichen und materialistischen Einflüssen. Eine logische Konsequenz des Materialismus war Determinismus, der in der westlichen Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ebenfalls eine große Rolle spielte. Dem Determinismus zufolge lassen sich alle Wirklichkeiten auf vorgeordnete empirische Ursachen in der natürlichen Ordnung zurückführen. Mit anderen Worten: Die Realität existiert innerhalb eines geschlossenen Systems von bekannten oder erkennbaren Faktoren. Das philosophische System, das aus der Bereitschaft resultiert, die Wirklichkeit auf der Basis der materialistisch-determinierenden Faktoren zu erklären, ist der Naturalismus. Naturalismus schließt die Möglichkeit von kausalen Faktoren außerhalb der natürlichen Ordnung aus, wie etwa Gott, Freiheit oder Ethik, basierend auf nicht quantifizierbaren Werten. Der philosophische Naturalismus beanspruchte

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also, die Grundlagen und Schlussfolgerungen von Immanuel Kant zu widerlegen. Die naturalistischen Methoden, die so positive Ergebnisse in den Naturwissenschaften wie Biologie, Chemie, Physik hervorbrachte, wurden unweigerlich auf die menschliche Natur selbst ausgedehnt. Soziologie, Psychologie, Geschichte, Philosophie und Religion wurden ebenfalls nach Kriterien untersucht, die quantifiziert, gemessen, empirisch beschrieben und statistisch kalkuliert werden konnten. In der Religion war Deismus das Ergebnis, der, mit Ausnahme der Schöpfungsdoktrin, Gott praktisch mit der natürlichen Ordnung identifizierte. In der Ethik war das Resultat Utilitarismus, der versuchte, das Gute in quantitativen, zahlenmäßigen Begrifflichkeiten auszuarbeiten.

Neukantianismus Die von dieser intellektuellen Revolution am stärksten bedrohten Bereiche menschlicher Bestrebungen waren Philosophie und Religion. Für beide war die Freiheit der menschlichen Denk- und Verhaltensweisen wesentlich und für die Religion auch Gott und Unsterblichkeit. Hier kommt der Neukantianismus ins Spiel, der versuchte, Kants Quadrivium aus Gott, Freiheit, Ethik und Unsterblichkeit vor dem Ansturm von Materialismus und Determinismus zu verteidigen. Die Verteidigung erfolgte auf der Ebene der Erkenntnistheorie, das heißt der Theorie des Wissens, die das materialistisch-deterministische Programm untermauert. Neukantianer behaupteten, dass Empirismus – Erkenntnisse, die aus den fünf Sinnen Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen gewonnen werden – nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Weg ist, über den wir Dinge erkennen. Auch andere Mittel der Erkenntnis führen zur Wahrheit und zu tieferer Wahrheit. Hierzu gehören menschliche Intuition, Wahrheiten, die sich in Kunstformen mitteilen, Wahrheiten, die sich auf verlässliche Autoritäten stützten, und vor allem: Wahrheiten, die durch den Glauben an Gott vermittelt wurden. Eine führende Gestalt im neukantianischen Verteidigungsteam war Richard Hönigswald, Lohmeyers fünfzehn Jahre älterer Kollege und Vertrauter in Breslau. Hönigswald stammte aus Österreich-Ungarn, hatte aber im Westen studiert – Medizin in Wien, später Philosophie in Halle (Saale) und Graz. Schon sein Titel verwies auf die außergewöhnliche Bandbreite seines Denkens und seiner wissenschaftlichen Befähigung: Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Seine Theorien über Erkenntnis, Geist, Denken und Methode sind gängige Unterthemen in der heutigen modernen Philosophie, aber zu seiner Zeit waren sie ungewöhnlich und fortgeschritten. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum Lohmeyer in Hönigswald einen intellektuellen Verbündeten fand, der Philosophie und auch Theologie dagegen verteidigte, ausschließlich auf ihre materialistischen Gegebenheiten reduziert zu werden. Ein

Persönliche Überlegungen

Erfolg der materialistisch-deterministischen Philosophie-Revolution des neunzehnten Jahrhunderts hätte die Exegese des Neuen Testaments auf bloße Linguistik und Wortstudien herabgestuft; aus der biblischen Erzählung würde schlicht eine ethnische Erzählung des jüdischen Volkes. Das Evangelium würde zu einer menschlichen Erfindung ohne Realitätsbezug außer auf sich selbst. Wäre eine solche Revolution erfolgreich, würde sie das Ende von Theologie an sich einläuten, das heißt, das Ende von Gott, Glaube, Gebet und geistigen Fundamenten der Tugenden wie Liebe und Hoffnung und der Ethik als Ganzes. Wenn der Begriff Gottes aus dem Feld der zulässigen Realitäten gestrichen würde, gäbe es keinen Gott zu erkennen und zu lieben, keine Offenbarung Gottes in Jesus Christus, kein Gotteswort in der Heiligen Schrift und kein Volk Gottes in der Kirche. Der Neukantianismus selbst war jedoch keine einheitliche Philosophie. Tatsächlich war er in den 1920er-Jahren zu einem Hühnerhaufen konkurrierender Philosophien verkommen. Die Gockel rupften sich gegenseitig die Federn aus, es bildeten sich nicht weniger als sieben neukantianische Schulen, jede mit Anbindung an eine bestimmte deutsche Universität, jede mit eigener Zeitschrift. Hönigswalds Philosophie richtete sich enger an Immanuel Kant aus als die meisten anderen Neukantianer, denn er – und darin folgte Lohmeyer ihm – glaubte, dass das menschliche Denken (das Kant als phenomena bezeichnete) tatsächlich auf Naturtatsachen beruhe (die er als noumena bezeichnete). Das heißt, dass die verschiedenen menschlichen Konzeptualisierungen authentische Reflexionen auf objektive Realitäten sind.21 Diese Einsicht verschaffte Lohmeyer, der von Kopf bis Fuß und mit jeder Faser seines Herzens Theologe war, ein Bollwerk, das die Möglichkeit von Theologie absicherte. Seine Schriften stecken voller Verweise, die diese Möglichkeit feiern: „Ewigkeit“, „Objektivität“, „Faktizität“, „transzendente Werte“, „übernatürliche Prinzipien“, „bedingungslos“, „unendlich“, „eschatologisch“, „zeitlos“. Und so weiter und so fort. Nie habe ich einen deutschen Theologen gelesen, der das Wort sachlich22 mit Bezug auf metaphysische Gegebenheiten häufiger verwendet als Ernst Lohmeyer.

Persönliche Überlegungen Die Gestalt Richard Hönigswald und die Philosophie des Neukantianismus übten außergewöhnlichen Einfluss auf Lohmeyer aus. Am Schluss dieses Kapitels möchte

21 McCormack: Karl Barth’s Critically Realistic Dialectical Theology spricht auf S. 43–44 über das Verhältnis zwischen noumena und phenomena als „Ding an sich“ (noumena), das, indem es sich uns von außen aufzwingt und zu Erkenntnis verhilft. 22 Deutsch und kursiv im Original.

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ich ein paar Worte über diese Einflüsse verlieren.23 Erstens zu Hönigswald. Aristoteles beschrieb Freundschaft als „eine einzige Seele in zwei Körpern“24 Es gibt keine zwei Wissenschaftler, die diesem Modell besser entsprachen als Ernst Lohmeyer und Richard Hönigswald. Hönigswalds zweite Frau starb 1921, genau in dem Jahr, in dem Lohmeyer nach Breslau zog. Nach dem Tod seiner Frau und möglicherweise infolgedessen entwickelte Hönigswald rasch eine beständige Freundschaft zu Lohmeyer. Obwohl beide an derselben Fakultät arbeiteten und sich fast täglich sahen, blieben sie in schriftlichem Kontakt. Hunderte von Briefen gingen zwischen Hönigswald und Lohmeyer hin und her, nur Ernst und Melie schrieben sich noch häufiger. Im Jahr 1999 wurde ein ganzes Buch mit dem Briefwechsel zwischen Lohmeyer und Hönigswald publiziert.25 Hönigswald schloss Melie in seine Freundschaft zu ihrem Mann ein, adressierte seine Briefe fast immer an beide. Die Tatsache, dass Ernst und Melie ihre Tochter Gudrun-Ricarda nach ihm benannten, belegt, dass auch Melie die Freundschaft zu schätzen wusste. Der Berauschung an der intellektuellen Community von Breslau und insbesondere an Hönigswald wirkte sich allerdings nicht immer positiv auf Lohmeyers Familie aus. Hönigswald war ein älterer Wissenschaftler, dessen geistige Formung und, noch wichtiger, dessen wissenschaftliche Laufbahn gefestigter war als die Lohmeyers. In seinem letzten Brief an Melie aus dem Gefängnis legte Lohmeyer eine Beichte ab, schrieb lang und umfassend über sein Leben, seine Hoffnungen, seine Versäumnisse. Und eines der Versäumnisse, die er bedauerte, drehte sich um Hönigswald. Er räumte ein, dass er sich seiner wissenschaftlichen Arbeit zulasten seiner Ehe und seiner Familie gewidmet hatte, „vielleicht auch verlockt von dem verführerischen und imponierenden Beispiel Hönigswalds“.26 Es ist wichtig, das Augenmerk darauf zu richten, was Lohmeyer in seiner Lebensbeichte sagte und was er nicht sagte. Weder unterstellte er Hönigswald böse Absichten noch warf er ihm vor, den Einfluss missbraucht zu haben. Sieht man auf den Respekt, den er Hönigswald entgegenbrachte, und auf ihre freundschaftliche Verbundenheit, ist es unvorstellbar, dass Lohmeyer das eine oder andere unterstellen wollte. Stattdessen räumt er ein, dass das Problem vielmehr bei ihm lag. Er selbst hatte es Hönigswald, dem Witwer, der damals außer der Betreuung seines kleinen Sohnes keinerlei familiären Verpflichtungen nachkommen musste, erlaubt, sich übermäßig

23 Hilfreich für eine Einschätzung von Richard Hönigswald und den Neukantianismus auf Lohmeyers Theologie und sein Leben ist Hutter-Wolandt: Ernst Lohmeyer und Richard Hönigswald, in: Studien zur Philosophie Richard Hönigswalds, hgg. Ernst Wolfgang Orth und D. Aleksandrowicz. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1996, 205–230. 24 Aristoteles: Rhetorik 2.4. 25 Wolfgang Otto (Hg.): Aus der Einsamkeit – Briefe einer Freundschaft. Richard Hönigswald an Ernst Lohmeyer. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999. 26 Brief aus dem GPU-Gefängnis in Greifswald. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 146, p. 6.

Persönliche Überlegungen

in sein Leben einzumischen, und diese Erlaubnis hielt ihn ab, selbst Verantwortung zu übernehmen – für die Familie wie für seine akademische Karriere, die sonst womöglich anders verlaufen wäre. Lohmeyers Blick auf Hönigswald im Jahr 1946 deckt eine kritische Komponente auf, die ihr zwanzig Jahre zuvor in Breslau noch gefehlt hatte. Zweitens, zum Neukantianismus. Bei starker Abhängigkeit von einem einzigen System besteht die Gefahr, dass der untersuchte Gegenstand verzerrt und missverstanden wird. Lohmeyer entging dieser Gefahr nicht. Das Neue Testament kann in seinen Schriften häufig als metaphysische Quellensammlung auftreten, die Verfasser in seinen Kommentaren als griechische Denker, die sich tief in Fragestellungen hineingrübeln. Er ist imstande, Christentum in Worten und Kategorien beschreiben, die besser zum platonischen Idealismus passen als zu jüdisch-christlichen Autoren in Palästina. Das Neue Testament kann wie eine Festschreibung des obersten religiös-ethischen Prinzips wirken: Paulus als Anwärter auf die metaphysische Gewissheit des Glaubens, Jesus als eigentliche Verkörperung der letzten Gründe, Gott als unwandelbare ewige Wirklichkeit und Ethik als die „Idee des Guten“. Für seine Deutung des Neuen Testaments in solchen Kategorien haben die Zeitgenossen Lohmeyers ihn oft kritisiert, manchmal auch scharf. Hans Windisch rezensierte den Philipperkommentar als neuartig, einfallsreich und theologisch anregend, aber die „Frage ist, natürlich, wieweit er hiermit die Intentionen des Apostels richtig erfasst“.27 Bultmann äußerte seine Sorge häufiger, traf härter. Wieder mit Bezug auf den Philipperkommentar merkte er an, dass Theologen oft vorgeworfen wurde, Philosophie als Magd der Theologie zu benutzen, aber Lohmeyer habe die Theologie zur Magd der Philosophie gemacht!28 Siebzig Jahre sind seither vergangen, doch die Kritik bleibt. „Lohmeyers Gemisch aus peinlich genauer Kritik und schöpferischer Vision [lässt] den Beobachter verwirrt zurück“, bemerkt William Baird. Gleichwohl habe er „den antiken Quellen eine Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts aufgezwungen.“29 Die neukantianische Orientierung Lohmeyers ist das Apogäum seines Planeten von meiner eigenen Umlaufbahn. An keiner Stelle ist er weiter von mir entfernt. Das gilt vermutlich für die meisten modernen Leser. Ich bin sogar fachwissenschaftlichen Philosophen begegnet, denen Neukantianismus ein fremder Begriff ist. Es fällt nicht schwer, an diesem Punkt den Kontakt zu Lohmeyer zu verlieren. Aber bevor Sie die Sache abtun – und vielleicht Lohmeyer gleich mit –, sollten Sie nicht aus dem Blick verlieren, welches Problem der Neukantianismus aufwirft – nicht aber die Philosophie selbst. Das Problem, um William Bairds oben zitierte Kritik an 27 Hans Windisch: [Rez. Zum Philipperbrief], in: ThLZ 53, 1928, 513. - Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 173. 28 Siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 215 und 253. 29 William Baird: History of New Testament Research. Minneapolis: Fortress, 2003. Bd. 2, 469.

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Lohmeyer leicht abgewandelt wiederzugeben, dreht sich darum, dem Evangelium eine ihm fremde Ideologie überzustülpen. Diese Lektion sollte beherzigt werden. Jedes Zeitalter ist versucht, dem Evangelium seine Ideologien überzustülpen, um es für seine eigenen Vorlieben und Zwecke herzurichten. Wenn wir heute auch nicht mehr in der Gefahr stehen, Bibel und Glaube mit Neukantianismus zu überschreiben, so sind wir dennoch anderen Gefahren und Mächten ausgeliefert, die aus der Verbreitung und dem Einfluss einer Reihe moderner „-ismen“ entstehen, sowohl subtil als auch offen – einschließlich Materialismus, Konsumismus, Hedonismus, Militarismus, Rassismus und, besonders heutzutage, Egoismus. Auch wir können diese Werte nicht nur den alten Quellen des Glaubens aufdrücken – und tun es oft –, sondern ebenso dem Glauben selbst.

Kapitel 7. Hochblüte in Breslau

„,Die Wahrheit immer zuerst, und nachher die feineren Gefühle und das übrige‘.“1 Wilhelm Karl Raabe

Gudrun, ca. 1990 Im Dezember 1993 erhielt ich einen finanziellen Zuschuss vom DAAD zur Untersuchung des mysteriösem Verschwindens von Ernst Lohmeyer und der Umstände seines Todes. Bei der Vorbereitung meiner Reise nach Deutschland stellte ich den Kontakt zu Ernst Lohmeyers Tochter Gudrun (Lohmeyer) Otto her, die in Wannsee lebte, am Rande Berlins. In Berlin angekommen, stieg ich in die S-Bahn nach Wannsee und dort in ein Taxi in die Bergstraße, wo Gudrun mit ihrem Mann Klaus wohnte. Sie war siebenundsechzig Jahre alt, mittelgroß oder etwas größer, schlank mit eher kurzem Haar. Sofort erkannte ich in ihrem Gesicht Züge, die an Fotos von ihrem Vater erinnerten – Kinn und Mund, Nase und ein freundlicher, wissender Blick. Sie empfing mich mit Wärme und Offenheit, und rasch entwickelte sich eine gute Verbindung zwischen uns. Ich war Neuling in einer Sache, mit der ihre Familie sich seit mehr als einem halben Jahrhundert beschäftigt hatte, aber niemals verhielt Gudrun sich herablassend oder gab mir das Gefühl, bloß geduldet oder unerwünscht zu sein. Ich kam mir eher vor wie ein Kind, das von seiner großen Schwester zu einer versteckten Festung im Wald mitgenommen wird, gebaut in der Hoffnung, sie mit seiner Hilfe noch verbessern zu können. Bei meinen Recherchearbeiten zu Lohmeyer war die Zusammenarbeit mit Gudrun so effizient wie erfreulich. Bereitwillig gab sie ihr Wissen weiter, scharfsinnige Kritik teilte sie gründlich durchdacht und umsichtig mit. Im Laufe der Zeit erfuhr ich mehr über Lohmeyer und stellte fest, dass wir die Dinge durchweg sehr ähnlich einschätzten. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Einschätzungen im persönlichen Gesprächen oder in Briefen geäußert wurden. Auch meine Frau Jane und Gudruns Ehemann Klaus, dessen Spürsinn bei der Jagd nicht weniger ausgesprägt war als ihrer, gehörten zu unserem Team. Im Jahr 1996 waren Jane und ich wieder in Berlin, wo Gudrun und Klaus uns einluden, bei ihnen zu bleiben. Es war Juni, die Ottos nahmen uns mit auf einen Spaziergang durch Potsdam, das früher nahe Ostberlin

1 Wilhelm Karl Raabe, zit. nach Richard Hönigswald, in: Alois Riehl: Unterhaltungsbeilage der Schlesischen Zeitung [Breslau], 22. Februar 1925.

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lag. Das Wetter war warm und sonnig, und die Wiese neben dem See blühte in üppigem Grün. Klaus und ich gingen voran, ins Gespräch vertieft. Eine Frau, die sich rechts von uns gesonnt hatte, erhob sich und überquerte vor uns den Weg. Sie war vollkommen nackt. „Die Menschen feiern das Ende des Kommunismus in Ostdeutschland auf ausdrucksvolle Weise“, bemerkte er, nachdem sie vorüber war.

Gudrun, ca. 1930 Die Lohmeyers wuchsen in Breslau von einem Paar zu einer sechsköpfigen Familie. Den traurigen und plötzlichen Tod von Beate-Dorothee im Jahr 1921 habe ich bereits erwähnt. Im Januar 1922, also ein Jahr später, wurde Ernst-Helge geboren, der erste Sohn der Lohmeyers. Anderthalb Jahre später, im Mai 1923, folgte Hermann-Hartmut, der zweite Sohn. Drei Jahre später, im Frühjahr 1926, wurde Gudrun-Ricarda geboren, das vierte und letzte Kind. 1946, also zwanzig Jahre später, erinnerte Lohmeyer sich im Brief an Melie an ein „schweres Gespräch“2 das sie geführt hatten, als Melie ihm mitteilte, dass sie mit Gudrun schwanger war. Er hatte kein weiteres Kind gewollt und angekündigt, dass er sich von Melie zurückziehen und in seine Arbeit vergraben wolle. Deswegen gingen Ernst und Melie immer mehr auf Abstand, Ernst und Gudrun allerdings nicht, was sicher nicht verwunderlich ist. Kinder haben eine ganz eigene Art, eingefahrene Einstellungen von Erwachsenen zu verändern. Und dies gilt besonders für das jüngste Kind, das einen besonderen Platz in einer Familie einnimmt. Die kleine Gudrun hatte einen speziellen Winkel im Herzen ihres Vaters erobert. Am 9. April 1926 – dem Tag ihrer Geburt – schrieb Lohmeyer stolz an die Universitätsverwaltung in Breslau: „Erlaube ich mir mitzuteilen, daß mir heute früh eine Tochter geboren wurde, die den Namen Gudrun Ricarda tragen soll.“ Im zweiten Satz wird deutlich, warum er den Verwaltungsleiter informierte, dessen Namen man vielleicht nicht unbedingt ganz oben auf der Liste des von der Familie zu benachrichtigenden Personenkreises erwartet: „Ich bitte ergebenst Anweisung zu geben, daß mir auch für dieses Kind die festgelegte Zulage ausgezahlt werde.“3 Viele frühe Erinnerungen von Gudrun sind geprägt durch die Perspektive auf dem Schoß ihres Vaters: Ich war die Jüngste, das einzige Mädchen und mit den Sonderrechten bedacht, die das Kleinste in der Familie wohl immer erfährt. Mein Vater tadelte mich nie, strafte schon gar nicht, half mir bei allem, wenn ich ihn darum bat, und meine Erinnerungen konzentrieren

2 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 146, p. 5. 3 UAG, PA, 347, Bd. 1, 117.

Ein Platz am Tisch des Verlags

sich auf diese Augenblicke entspannten Zusammenseins, von denen ich schon sprach, in denen nicht der Ansatz eines Mißklanges zu spüren war. – Unzählige Stunden verbrachte ich auf seinem Schoß, was er langmutig nie verweigerte, sei es am Ende der mittäglichen Runde oder auch im häuslichen Studentenkreis. Wir spielten alle üblichen Kinderspiele allein oder mit den Brüdern zusammen. Das tat er nicht nur uns zuliebe, sondern es machte ihm selbst Spaß, so, wie er mit unseren schlesischen Bauern oft skatspielend zusammensaß. – Und dann war es das vierhändige Klavierspielen, das wir langsam begannen und das wir später so perfektionierten, daß wir uns ohne Skrupel an alles heranwagten, sicher nicht zum Vergnügen der Mithörenden. – Schularbeiten erledigte er sachlich und altersgemäß mit einem gewissen Vergnügen für mich, wenn die Zeit drängte, und er unterbrach dabei stets seine eigne Arbeit.4

In späteren Jahren fasste Gudrun die Beziehung zu ihrem Vater folgendermaßen zusammen: „Es kommt mir fast verwunderlich vor, daß ich einen Vater hatte, wie ich ihn mir nicht besser oder anders hatte vorstellen wollen.“5 Lohmeyers Zuneigung zu Gudrun und ihren Brüdern war tief und so besonders, wie nur die Liebe eines Vaters sein kann. Auch in seinen Beziehungen zu anderen fehlte sie nicht, auch wenn sie auf andere Art und Weise zum Ausdruck kam. Ihrem Vater sei es leicht gefallen, sich mit Menschen anzufreunden, sagte Gudrun, er „hatte die naturhafte Gabe, sich auf schlichte Menschen einstellen zu können, ob es unsere schlesischen Bergbauern waren, […] seine ihm unterstellten Soldaten während des Krieges oder eben meine Brüder und ich, als wir noch Kinder waren.“6

Ein Platz am Tisch des Verlags Die 1920er waren für Lohmeyer intellektuell und beruflich aufregende Jahre. Er erhielt Einladungen als Redner auf Tagungen. Seine Artikel wurden in führenden theologischen Zeitschriften veröffentlicht. Sein allererster wissenschaftlicher Artikel über die Transfiguration im Markusevangelium7 , erschienen 1922, beeindruckte das angesehene Göttinger Verlagshaus Vandenhoeck & Ruprecht (V&R) so sehr, dass Verleger Gustav Ruprecht ihn einlud, die Kommentare für die Gefängnisbriefe

4 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 38–39. 5 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 38. 6 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 39. 7 Die Verklärung Jesu nach dem Markusevangelium, in: ZNW 21, 1922, 185–215.

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des Paulus, Epheser, Philipper, Kolosser und Philemon für die renommierte MeyerKommentar-Reihe auf den neuesten Stand zu bringen. Im neunzehnten Jahrhundert war bei Vandenhoeck & Ruprecht eine vollständige Reihe von Meyer-Kommentaren zum Neuen Testament erschienen. Spätere Erkenntnisse in neutestamentlicher Wissenschaft machte eine zweite Generation dieser Kommentar-Reihe erforderlich. Ruprecht lud Lohmeyer nicht nur ein, die erwähnten Beiträge zu schreiben, sondern auch, das Verlagshaus in Bezug auf das Format und die Auswahl der Beiträger für die künftigen Bände zu beraten. Das ist der Traum eines jeden Wissenschaftlers, und für ihn wurde er wahr. Bei mir sah es so aus, dass ich quasi an der Straßenecke stehen und mit einer Blechdose in der Hand um die Aufmerksamkeit der Verleger betteln musste. Lohmeyer hingegen wurde sofort und sehr frühzeitig gebeten, am Tisch des renommiertesten theologischen Verlags in Deutschland Platz zu nehmen, ja, sogar am Kopfende des Tisches. Zwischen Lohmeyer und V&R entwickelte sich ein langer und lebhafter Briefwechsel. Insgesamt sieben Bücher von Lohmeyer sollten in den nächsten fünfzehn Jahren im Verlag erscheinen. Er beriet das Haus in Sachen Konzept und „Gewicht“ der theologischen Ausrichtung und wirkte mit bei der Auswahl der an der Meyer-Reihe beteiligten Wissenschaftler. Die Briefe gingen häufig hin und her, sie schrieben offen, die Korrespondenz war von offensichtlicher Bedeutung für beide Seiten. Die Schnelligkeit des Briefwechsels, die Länge der Schreiben und Lohmeyers rhetorische Schnörkel weisen auf die Ernsthaftigkeit hin, mit der er seine Chance wahrnahm. Für ihn wurde die Sache zu einer regelrechten Mission. Sowohl Gustav Ruprecht als auch dessen Sohn Günther sollten eine ungewöhnlich wichtige Rolle in Lohmeyers beruflichem Leben spielen. Und dies wirkte sich auch auf sein Familienleben aus. Nach dem Verschwinden von Ernst im Jahr 1946 hätte Melie keinen standhafteren, weiseren und mitfühlenderen Ratgeber finden können als Günther Ruprecht. Er war ihr ein aufrichtiger und hervorragender seelsorgerischer Beistand. Sogar die dreieinhalbjährige Gudrun wurde Teil der Beziehung zu V&R. In einem langen und wichtigen Brief an den Verlag im Jahr 1929 kreiste Lohmeyer ein paar Tintenkleckse am Rand ein und bat im Postskriptum um Vergebung für das Kunstwerk, das sein „kleines Mädelchen“ angehängt hatte, während er den Brief unbeaufsichtigt auf dem Schreibtisch liegen ließ.8 Energisch nahm Lohmeyer die Zügel in die Hand, um Meyers Bekanntheitsgrad in der deutschen Wissenschaft und Theologie zu steigern. Der Fluch der Reihe, heißt es im Brief an Gustav, liege darin, dass die alten Bände mit alter Geschichte und Sprachenzitaten so überfrachtet seien, dass sie nicht anregend, unlesbar und

8 Der Vorfall mit dem „kleinen Mädelchen“ wird geschildert in Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 49, Fn. 65.

Philipper 2,5-11

unerschwinglich seien. Karl Barths Kommentar Der Römerbrief war just erschienen und wurde in Europa gelesen wie kein Theologie-Band zuvor. V&R solle sich davon eine Scheibe abschneiden, so Lohmeyer. Die neue Meyer-Reihe solle ein gesundes Gleichgewicht zwischen historischem und philologischem Material und theologischer Substanz herstellen; historische und philologische Erwägungen sollten auf das Material begrenzt sein, das für das Verständnis des biblischen Textes und Kontextes wesentlich seien, und die theologische Bedeutung solle, wie bei Barths Römerbrief, im Vordergrund stehen. Anders als im Römerbrief jedoch – und hier ließ Lohmeyer seine Vorbehalte gegenüber Barths Ansatz durchscheinen –, sollten theologische Überlegungen an den Text geknüpft werden und nicht im freien Flug darüberschweben. Die Korrespondenz zwischen Lohmeyer und V&R setzte sich ein Jahrzehnt lang ununterbrochen fort. Eine befriedigendere und produktivere Fachkorrespondenz ist kaum vorstellbar. Lohmeyers Kommentar zu Philipper erschien ab 1927 bei V&R, sein Kommentar zu Kolosser im Jahr 1928, und die drei Bände Philipper, Kolosser und Philemon zusammen im Jahr 1929.9

Philipper 2,5-11 Einer der bedeutenderen theologischen Beiträge Lohmeyers ist in der Wissenschaft des Neuen Testaments heute so unumstritten, dass manche Wissenschaftler vergessen haben (oder nie wussten), dass Ernst Lohmeyer der Erste war, der ihn ans Licht brachte. Im engeren Sinne entwickelte er ein neues, revolutionäres Verständnis des Christus-Hymnus in Philipper 2,5-11, aber die Aussagekraft seiner Entdeckung sollte sich auf etliche Stellen im Neuen Testament erstrecken. In Philipper 2,1-4 ermahnt Apostel Paulus die Gläubigen zu einem Leben in Demut und Achtsamkeit gegenüber anderen. In den Versen 5-11 zeigt der Apostel den Gläubigen das oberste Vorbild für ein solches Leben in Jesus Christus auf. Paulus sagt, dass Christus Jesus ursprünglich in der Form Gottes existierte, ja, er sei sogar gleich mit Gott, habe aber nicht um jeden Preis an dieser Form und an der Gleichheit festgehalten. Vielmehr habe er sich „entäußert“ und sei zu einem menschlichen Wesen geworden, sogar zu einem menschlichen „Sklaven“, und habe sich dem schmachvollen Tod an einem Kreuz hingegeben. Weil er sich selbst hingegeben habe, habe Gott ihn über alle Namen im Himmel und auf der Erde erhöht, sodass jeder Mensch sich zu Jesus Christus als seinem Herrn bekennen sollte.

9 Für eine umfassende Diskussion von Lohmeyers Korrespondenz mit Vandenhoeck & Ruprecht siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 30–51.

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Ein Jahrhundert zuvor hatten Wissenschaftler diese und ähnliche Stellen im Neuen Testament für spätere Zusätze gehalten. Das in der Zeit vorherrschende evolutionäre und naturalistische Paradigma argumentierte, dass eine „hohe Christologie“, will sagen, ein Glaube an Jesus Christus als göttlichen Sohn Gottes, nicht Teil des urchristlichen Evangeliums war. Erhabene und vergöttlichte Auffassungen von Jesus galten als spätere und manchmal fremdartige Entwicklungen, die nicht dem Alten Testament und der jüdischen Wiege der Christenheit verpflichtet waren, sondern eher griechischen Mythen über Helden wie Herakles oder Asklepios, die nach ihrem Tod zu Göttern und Göttinnen „apotheotisiert“ wurden. 1927 veröffentlichte Lohmeyer eine Grundlagenstudie zu Philipper 2,5-11 in einer Monografie mit dem Titel Kyrios Jesus: Eine Untersuchung zu Phil. 2,5-11.10 Kyrios Jesus erschütterte praktisch jeden bis dahin gültigen Konsens zu diesem wichtigen Text. Lohmeyer setzte nicht mit der Theologie dieses Textes ein, auch nicht mit der vermuteten Datierung, sondern mit der Form. Mit seinem Auge für Ästhetik entdeckte er ein Muster, das anderen Blicken entgangen war; eine poetische Komposition von achtzehn Verlautbarungen, geteilt in zwei Hälften. Die erste Hälfte in den Versen 6-8 erzählt die Herabkunft des ewigen Gottessohns auf die Erde. Der Teil besteht aus drei Strophen, jede aus drei Zeilen. Die zweite Hälfte mit den Versen 9-11 erzählt die Erhöhung des irdischen Christus zum Himmel, auch sie besteht aus dreizeiligen Strophen. Lohmeyer stellte fest, dass auf das erste Verb im griechischen Text in jeder Strophe Verben folgen, die einen ähnlichen Sinn wie Zeile 2 und 3 tragen (die Übersetzung ins Deutsche oder Englische gibt dies nicht so deutlich wieder). Das Ergebnis ist „ein zeitloser ‚Hymnus‘“ und „ein carmen Christi in strengem Sinne.‘“11 Er war Gott gleich hielt aber nicht daran fest wie Gott zu sein sondern entäußerte sich wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.

10 Ernst Lohmeyer: Kyrios Jesus: Eine Untersuchung zu Phil. 2,5-11. 11 Ernst Lohmeyer: Kyrios Jesus, 7.

Philipper 2,5-11

Sein Leben war das eines Menschen er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod (bis zum Tod am Kreuz). Darum hat Gott ihn über alle erhöht und ihm den Namen verliehen der größer ist als alle Namen, damit im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt „Jesus Christus ist der Herr“ – zur Ehre Gottes, des Vaters.

Sobald Lohmeyer die ursprüngliche Form des Christus-Hymnus bestimmt hatte, machte er sich daran, alle diesbezüglichen Auffassungen in der akademischen Theologie über den Haufen zu werfen. Er begann mit einer Voraussetzung, die Stefan George und er in der Literaturkritik für elementar hielten, nämlich dass die Form für Inhalt und Bedeutung essenziell sei. Dies gilt ganz besonders für die Poesie sowie für Hymnen- und Liedgut. Lohmeyer zufolge stammte die Form des Hymnus nicht aus der Feder des Paulus, denn ihre Beziehung zum Kontext in Philipper ist unklar, das tragende Vokabular und der poetische Rhythmus sind nicht paulinisch. Genauso wenig war der Hymnus griechisch oder hellenistisch. Mehrere griechische Formen, die an sich noch leicht barbarisch waren, lassen sich als Übersetzungen aus einem ursprünglich semitischen Text erklären. Mehr noch, die vorherrschenden Themen der Demütigung und des Abstiegs sind für die griechische Mythologie untypisch, erinnern aber an den leidenden Knecht Jesajas. Darüber hinaus ist Glaube das zentrale Motiv, eine jüdisch-christliche Eigenschaft. Wäre der Hymnus griechisch, müsste das zentrale Motiv Weisheit sein. Lohmeyer spürte sogar frühe trinitarische Elemente in dem Hymnus auf, Vater und Sohn natürlich, aber auch die Arbeit des Geistes in dem abschließenden Bekenntnis zu Jesus Christus als Herrn. Auch war Philipper 2,5-11 keine späte, nachapostolische Schöpfung. Keine Epistel im Neuen Testament war authentischer paulinisch als der Brief an die Philipper. Die Paulusbriefe stellen die früheste Schicht der Schriften des Neuen Testaments dar, abgefasst in den 50er-Jahren des ersten Jahrhunderts. Wenn Paulus in Philipper 2,5-11 einen vorbestehenden Hymnus an Christus zitiert, dann muss der

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Hymnus zwangsläufig vor Paulus entstanden sein. Der Hymnus war alles andere als eine spätere Hinzufügung; er war eines der ersten Bekenntnisse des christlichen Glaubens, in den 40er-Jahren des ersten Jahrhunderts schon in Gebrauch, vielleicht sogar schon in den späten 30ern. Lohmeyer nahm an, dass der Hymnus in Eucharistie-Feiern unter Judenchristen in Jerusalem entstanden war. Die letztgenannte Vermutung ist zwar interessant, aber es gibt weder bestätigende noch widerlegende Beweise. Schließlich und in erster Linie wurde mit der oft wiederholten und weitverbreiteten Annahme aufgeräumt, dass die „hohe Christologie“ eine späte Christologie sei. Philipper 2,5-11 stellt die vielleicht höchste Christologie im Neuen Testament dar, und sie existierte schon vor der frühesten Etappe der Abfassung des Neuen Testaments! „Hohe Christologie“ ist kein spätes und fremdes Anhängsel der Evangelienüberlieferung, sondern gegenwärtig schon in ihren frühesten literarischen Zeugnissen.12

Martyrium Lohmeyers theologischer Output an der Universität Breslau war enorm. Als er 1930 Rektor wurde, hatte er ein Dutzend wissenschaftliche Bücher veröffentlicht, noch einmal halb so viele wissenschaftliche Artikel und ungefähr fünfzig bedeutende Bücher rezensiert. Auf dem Höhepunkt dieses Erfolgs und der wachsenden Zustimmung, die sein Output ihm einbrachte, wandte Lohmeyer sich einem Thema zu, mit dem niemand gerechnet hatte. Das Thema lautete Martyrium, und er handelte es nicht nur ein Mal ab, sondern zu drei verschiedenen Zeitpunkten. Sein Interesse am Martyrium war sicher nicht angestoßen durch irgendwelche fatalen Gewitterwolken, die sich in den späten 1920ern über ihm zusammenbrauten. Der Himmel über seinem Leben war klar, die Vorhersagen versprachen gutes Wetter. Das Martyrium wurde auch nicht durch Sturmwolken in den sozialen und politischen Prognosen für Deutschland ausgelöst. Richtig, zehn Jahre später gaben Juden und Christen ihr Leben für ihren Glauben und ihre Überzeugungen. Aber als Lohmeyer 1926 zuerst über das Thema Martyrium schrieb, sah die Weimarer Republik endlich wie eine lebensfähige Regierung aus. Wenn Deutschland die „roaring twenties“ auch nicht unbedingt genießen konnte, so genoss das Land doch immerhin einen

12 Zusätzlich zum bereits zitierten Kyrios Jesus, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon sowie Die Briefe an die Philipper finden sich hilfreiche Diskussionen von Lohmeyers Behandlung von Phil. 2,5-11 in Esking: Glaube und Geschichte in der theologischen Exegese Ernst Lohmeyers, 160–167; William Baird: History of New Testament Research, Minneapolis: Fortress Press, 2003, Bd 2, 462–470; und Ralph Martin: Carmen Christi: Philippians 2:5-11 in Recent Interpretation and in the Setting of Early Christian Worship (Grand Rapids: Eerdmans, 1981) 25–30.

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Aufschwung, und der strahlte Zuversicht aus. Niemand konnte sich vorstellen, was zehn Jahre später mit Deutschland passieren sollte. Lohmeyer entwickelte seine Gedanken zum Martyrium auf drei getrennten Schauplätzen. 1926 publizierte er einen wichtigen Kommentar über das Buch der Offenbarung, in dem er dessen Verfasser Johannes als „Seher“ vorstellte und die Offenbarung selbst als „Zeugen“. Als „Seher“ und „Zeuge“ wovon? Von Märtyrertum! In seinen eigenen Worten: „[Die Offenbarung] ist das Buch eines Märtyrers für Märtyrer, und durch sie für alle Gläubigen.“13 Im Jahr darauf nahm er an einer Tagung in Paris teil, wo er seine Gedanken in einem Vortrag mit dem Titel „Die Idee des Martyriums im Judentum und Urchristentum“ umfassender entwickelte; der Vortrag erschien 1927 in der Zeitschrift für systematische Theologie. Lohmeyer machte geltend, dass das christliche Verständnis des Martyriums aus dem Boden der jüdischen Geschichte erwachsen war. Wie auch bei ihrem jüdischen Gegenpart waren Christen im Akt des Martyriums Zeugen des Evangeliums in der Kirche und Anwälte des Evangeliums in der Welt.14 Die umfassendste Entwicklung des Martyriums entstand jedoch in seinem 1928 veröffentlichten Kommentar zu Philipper in der Meyer-Reihe. Lohmeyer deutete den Philipperbrief von Anfang bis Ende als Epistel des Martyriums. Der Apostel Paulus habe sein Martyrium in der Epistel antizipiert, genauso wie das Martyrium der Gemeinde von Philippi. Lohmeyer behauptete, dass Struktur und Inhalt des Philipperbriefes durch das Martyrium bestimmt seien; Trost im Martyrium, Gefahren in Erwartung des Martyriums, Mahnungen im Angesicht des Martyriums.15 In Philipper 3,10 sah er das Anliegen des Briefes in nuce, genauso wie auch die Forderung des Evangeliums an Gemeinde und ihre Gläubigen: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen.“ Was war für Lohmeyer so anziehend an dem ungewöhnlichen Thema, über das zu jener Zeit praktisch kein Theologe schrieb? Wir müssen den Blick über seine neukantianische Überzeugung hinaus richten. Der Kantsche Idealismus war immerzu auf der Suche nach Essenzen, dem zentralen Punkt der Sache, dem irreduziblen Element in jedem gegebenen Ding, das dessen „objektiven“, seinen „gesicherten“, „absoluten“ und „zeitlosen“ Kern konstituierte. Wenn Lohmeyer das Neue Testament und den christlichen Glauben durch das Mikroskop des Neukantianismus untersuchte, fand er sich bei einem Blick auf das Märtyrertum wieder. Das Martyrium war der irreduzible Kern des Christentums, weil es das wesentliche Bindeglied zwischen dem Evangelium und der Welt darstellte. Im Martyrium bezeugen der einzelne Christ und die Kirche gemeinsam das Wesen des Evangeliums in einer 13 Ernst Lohmeyer: Die Offenbarung des Johannes, 202. 14 Ernst Lohmeyer: Die Idee des Martyriums im Judentum und Urchristentum, in: ZST 5, No. 2, 1927, 232–249. 15 Ernst Lohmeyer: Die Briefe an die Philipper.

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Reinheit und Vollständigkeit, die sie nirgendwo sonst für das Evangelium verkünden. Und im Martyrium wird die Welt Zeuge und erlebt die Wahrheit und Kraft des Evangeliums auf eine Weise und in einem Ausmaß, wie das Evangelium sie nirgendwo sonst bezeugt und erlebt. Das Martyrium ist das kompromissloseste Zeugnis, das Gläubige oder Kirche vor Gott geben können, und als solches ist das Martyrium kompromissloseste Zeugnis, das die Welt vom Evangelium empfangen kann. Es ist verlockend, Lohmeyers frühes und untypisches Interesse am Martyrium im Lichte seines eigenen Schicksals zwanzig Jahre später zu lesen. Hatte er geahnt, was ihn erwartete? Oder hat er vielleicht im Martyrium ein prophetisches Zeugnis für die Kirche gesehen? Diese Frage kann man eigentlich nur mit einem Nein beantworten. Lohmeyers Diskussion des Märtyrertums als versteckten Verweis auf sich selbst zu deuten, würde sowohl seinen Charakter als auch sein Anliegen als Theologe verkennen. An keiner Stelle hat Lohmeyer das Märtyrertum existenziell diskutiert, als Möglichkeit eines eigenen physischen Schicksals. Im Gegenteil, das Thema wurde stets und ausschließlich im Rahmen seiner theologischen Bedeutung für das christliche Zeugnis abgehandelt, für das es essenziell war. Das war typisch Lohmeyer. An erster Stelle stand immer die Wahrheit, und was auch immer auf dieses Erste folgte, es war bestimmt durch die Kraft der Wahrheit. Wahrheit befreit, und sobald man frei ist, gibt es keine andere Realität, die die Freiheit gefährden kann. Natürlich wird Lohmeyer sich an die Arbeiten zum Martyrium erinnert haben, als er seinem Ende ins Auge sah. So wenig wir von Augenzeugen über dieses Ende auch wissen, blickte er ihm mit dem Glauben und der Tapferkeit eines Märtyrers entgegen.

Die Antrittsvorlesung des Rektors Lohmeyer in Breslau Rektoren einer deutschen Universität werden durch das Votum des Senats gewählt und nicht durch ein Kuratorium, wie es an amerikanischen Universitäten üblich ist. Die deutschen Universitätsrektoren werden also von demselben Gremium und nach denselben Kriterien gewählt, nach denen amerikanische Universitäten ihren Fakultätsvorsitz wählen. Ausschlaggebend sind in beiden Fällen intellektuelle Seriosität und Vertrauenswürdigkeit der Person. Im deutschen System ist der Rektor jedoch nicht allein für die Angelegenheiten der Fakultät zuständig, sondern darüber hinaus für die Universität insgesamt. 1930 wählte die Universität Breslau Ernst Lohmeyer zum rector magnificus für das akademische Jahr 1930/31. Für jemanden, der sich im Großen und Ganzen nicht für Politik interessierte, kam Lohmeyers Wahl vielleicht unerwartet. Mit seinem unveröffentlichten Angriff am Ende des Ersten Weltkriegs hatte er sich in politisches Fahrwasser begeben; nach heutigen Maßstäben ist Angriff chauvinistisch, der Text war damals aber eher

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Mainstream. Lässt man dieses missglückte Unterfangen beiseite, hatte Lohmeyer es nicht auf eine politische Stellung abgesehen und hegte keine diesbezüglichen Absichten. Mit dem zunehmenden Einfluss des Nationalsozialismus und später des Kommunismus in Deutschland entstand jedoch eine komplexe Spannung in seinem Leben. Eine von Natur aus unpolitische Persönlichkeit war gezwungen, sich politischen Realitäten zu stellen. Lohmeyer engagierte sich weder in politischen Widerstandsbewegungen noch in Verschwörungen gegen Hitler. Als das NS-Regime an der Macht war, hat Lohmeyer seine unerbittliche Opposition nicht in politische Strategien umgesetzt. Er suchte nach alternativen Mitteln und nach einer alternativen Stimme – selbst wenn es eine Stimme war, die in der Wüste rief. Von Anfang an verbündete er sich mit dem Pfarrernotbund und später mit dessen Nachfolgeorganisation, der Bekennenden Kirche. Er opponierte dort, wo der Nationalsozialismus sich stark und abträglich auf sein Leben auswirkte – in der Kirche, in der Universität, bei seinen jüdischen Kollegen. An diesen Stellen nutzte Lohmeyer seine mächtigste Form der Verteidigung – seinen unerschrockenen Mut, seinen messerscharfen Intellekt, seinen theologisch fundierten Glauben. Tatsächlich waren es diese Einsatzbereitschaft, diese Fähigkeiten und Strategien, die zu seiner Wahl als Rektor der Universität Breslau im Jahr 1930 geführt hatten. Lohmeyer war vierzig Jahre alt, als er zum Rektor gewählt wurde. Die Universität hatte 6.000 Studierende, 150 davon an der theologischen Fakultät. Er rechnete damit, dass sein Rektorat ein oder höchstens zwei Jahre dauern würde und dass er danach eine zweite Welle seiner wissenschaftlichen Arbeit und Publikationen einleiten konnte, die ihn durch die 30er-Jahre tragen würde, wie die erste Welle ihn durch die 20er getragen hatte. Aber „ein Weg führt in den nächsten Weg“, wie Robert Frost über seine Lebensreise sagte.16 Bis zu seinem Tod fünfzehn Jahre später konnte dieser Mann, der so sehr von der Welt der Antike und den mit ihr verbundenen biblischen, theologischen und philosophischen Strömungen geprägt war, diesen Interessen nicht ungehindert nachgehen, ohne dass die beiden berüchtigtsten Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts – der erste braun, der zweite rot – sich einmischten und sich ihm entgegenstellten. 1930 waren es noch drei Jahre bis zu Hitlers Machtergreifung, aber die NS-Flut lief bereits auf. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB), gegründet 1926 zur Verbreitung von NS-Prinzipien und Treue zum Führer in der Studentenschaft, vereinte die Mehrheit der Breslauer Universitätsstudenten bei der Übernahme des Rektorats durch Lohmeyer bereits hinter sich. Der NS-Zeitgeist des „Willens zur Macht“ wurde rasch zur vorherrschenden Ideologie nicht nur in der deutschen Kultur, sondern auch an den deutschen Universitäten und in den Kirchen. Dieser Zeitgeist wurde von einflussreichen Intellektuellen propagiert.

16 Robert Frost: Promises to Keep. Gedichte. München: Beck, 2011, 67.

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Emmanuel Hirsch, Kirchenhistoriker, Theologe sowie Experte für Luther und Kierkegaard, wurde zum führenden Ideologen und praktisch zum Drehbuchautor der Deutsch-Christlichen Bewegung. Das deutsche Volk17 , donnerte Hirsch, sei das einzige Gegenmittel zum Gift des Internationalismus und Pazifismus, der Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg in die Knie gezwungen habe. Stimmen wie die von Hirsch prägten die öffentliche Agenda um 1930. Ein konservativer protestantischer Journalist schrieb, dass das „deutsche Volk keine bloß menschliche Idee ist, sondern die Idee Gottes“, der, wie er hinzufügte, die Kirche zu gehorchen habe! Auf dem Kirchentag 18 1927 in Königsberg stelllte der einflussreiche LutherForscher Paul Althaus die Richtlinien einer neuen politischen Theologie vor, die er „Deutscher Glaube“ taufte. „Wir sind heute“, verkündete Althaus, „ein durch und durch politisches Geschlecht. Auch unsere Frage nach dem ‚Heil‘ wird in der Dimension des Politischen wach. Nicht um den Frieden mit Gott geht es den Menschen unserer Tage, sondern um Überwindung der politischen Not im weitesten Sinne […].“19 Althaus nannte konkret das Hauptproblem, das die Kirche angehen müsse: die „Zersetzung der Volksgemeinschaft“.20 Dies waren die Wellen, durch die Lohmeyer mit seiner Antrittsrede in Breslau zu steuern hatte. Das Wasser sah noch einigermaßen ruhig aus, doch unter der Oberfläche machten sich heftige Strömungen und Gegenströmungen bemerkbar. Der Titel von Lohmeyers Rede war ungefährlich und wissenschaftlich: „Glaube und Geschichte in vorderasiatischen Religionen“. Seine literarischen Finessen – Wortspiele, Alliterationen, Satzwiederholungen, dramatische Kontraste – versprachen, eine schwerfällige Ansprache angenehm zu machen, um zu bestätigen, dass die Wahl Lohmeyers zum neuen Rektor richtig war. Der Titel, das wissenschaftliche Thema und die literarischen Leuchtkugeln waren jedoch lediglich die Verpackung für ein Paket voller Überraschungen. Die erste Überraschung war Lohmeyers Fähigkeit als Redner. Die meisten Akademiker sind gute Wissenschaftler, manche sind gute Autoren und sogar gute Dozenten. Aber nicht alle sind auch gute Redner. Lohmeyer konnte alles auf sich vereinen. Einige Jahre zuvor hatte Gustav Ruprecht Lohmeyer eingeladen, sich an der Entwicklung einer Kommentarreihe zum Neuen Testament mit mittlerem Anspruchsniveau zu beteiligen. Die nachfolgend ausgearbeitete Reihe, Das Neue Testament Deutsch, war überaus erfolgreich und hat ein ungewöhnlich breites Publikum mit seriöser Wissenschaft vertraut gemacht. Lohmeyer lehnte Ruprechts

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Deutsch und kursiv im Original. Deutsch und kursiv im Original. Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 55. Zur auflaufenden Flut des NS zur Zeit von Lohmeyers Antritt des Rektorats in Breslau siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 54–55.

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Einladung mit der Begründung ab, dass das theologische Gebot der Stunde hochkarätige Wissenschaft erforderte, Exzellenzforschung, wie wir heute sagen würden. Was mich betrifft, ich bedaure Lohmeyers Entscheidung in dieser Sache. In mündlicher Kommunikation war er glänzend. Es war das gebildete, aber nicht wissenschaftliche Publikum, das anzusprechen Ruprecht in der vorgeschlagenen Reihe ihn einlud. In diesem Medium und für dieses Publikum brachte Lohmeyer es zu unvergleichlicher Klarheit, Bildhaftigkeit und Überzeugungskraft, was in seinen Predigten ganz besonders deutlich wurde – und in seiner Inauguraladresse in Breslau. Eine zweite Überraschung war Lohmeyers Fähigkeit, die Vergangenheit in ihrer prophetischen Signifikanz für die Gegenwart zu erschließen. Dies nutzte er im Einführungsvortrag. Seine Eröffnungsthese lautete, dass Geschichte die Wurzel unseres Daseins sei: „die Wurzeln unseres Daseins zu greifen als dort, wo alles Erkennen zur Tat treibt und alles Tun in Erkenntnis sich gründet, in der Geschichte. Denn das im Wandelbaren ein Unwandelbares Gestalt und Begriff werde, das ist Geschichte“21 Lohmeyer zufolge ist Geschichte als Forschungsfeld einzigartig, weil man sich der Geschichte mit gleichem Recht sowohl wissenschaftlich als auch vom Glauben her annähern könne. Wissenschaft skizziere die irrlichternde Suche der Menschheit nach der unverfälschten Wahrheit. Dies sagte er auf Lateinisch, adressiert an alle arroganten Querulanten, die möglicherweise im Publikum saßen – per varios errores sero pervenitur ad veritatem. Aber „Glaube“, fuhr er fort, „behauptet einen ewigen Sinn und eine ewige Wirklichkeit in untrüglicher Wahrheit und eindeutiger Gewißheit zu besitzen.“22 Dann begann Lohmeyer mit einer beeindruckenden Übersicht über die antiken Zivilisationen, um zu zeigen, dass in ihnen die gesamte Geschichte auf der „Unverrückbarkeit ewiger Gesetze“23 beruhe. Das Verhältnis von Glauben und Geschichte sei daher vielmehr von Stabilität als von Furcht geprägt, vielmehr von Ordnung als von Chaos, vielmehr von individueller Aufklärung als vom vorbestimmten Volk.24 „Geschichte ist nicht gegebenes Schicksal, das man empfängt, sondern aufgegebenes Ziel, um das man sich strebend müht … nicht im Triumph der Macht, sondern im Sieg des Guten des weisen Gottes ewiges Gesetz.“25

21 Ernst Lohmeyer: Glaube und Geschichte in vorderorientalischen Religionen, in: Breslauer Universitätsreden, Heft 6, 1931, 4. 22 Ernst Lohmeyer: Glaube und Geschichte in vorderorientalischen Religionen, in: Breslauer Universitätsreden, Heft 6, 1931, 5. 23 Ernst Lohmeyer: Glaube und Geschichte in vorderorientalischen Religionen, in: Breslauer Universitätsreden, Heft 6, 1931, 6. 24 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original. 25 Ernst Lohmeyer: Glaube und Geschichte in vorderorientalischen Religionen, in: Breslauer Universitätsreden, Heft 6, 1931, 11.

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Erst nach zwei Dritteln seiner Rede sprach Lohmeyer über die eine Zivilisation und das eine Volk, das mehr als alle anderen die Welt gelehrt hatte, was Glaube und Geschichte bedeuten – mehr als Babylon, Griechenland, Rom, Ägypten, Indien, Persien, Germanien, China und Mexiko. Das Volk war das „israelitisch-jüdische Volk“, dem Gott gesagt hatte: „Ich werde als mein Volk berufen, was nicht mein Volk war, und als Geliebte jene, die nicht geliebt war“ (Röm 9,25). Lohmeyers Deutsch ist hier entscheidend, denn das Wort „Volk“, das er den Juden zuschreibt, war ein geradezu heiliges Wort in der nationalsozialistischen Propaganda. Dieses kleine, randständige und scheinbar unbedeutende Volk bezeugte eine Synthese aus Glaube und Geschichte, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Es machte die Welt mit dem rettenden Glauben des Einzelnen bekannt, mit dem Glauben, der sich auf einen Einzigen konzentriert, den Messias Israels, den Messias für die Welt. Eine der grundlegenden Ideen aller Geschichte kommt im Judentum zum Ausdruck, in dem der Messias und seine Gemeinschaft zur Krone des geschichtlichen Prozesses werden. Dieser Messias ist ein besonderes „Ich“, das in der Geschichte lebt und für die Geschichte arbeitet; und die Form dieses besonderen Lebens und Arbeit ist nichts anderes als die Form der Gemeinschaft, die er sowohl erschafft als auch lenkt und leitet.26 Der Schlüssel zum Verhältnis von Glauben und Geschichte ist auch der Schlüssel zum Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der größeren Gemeinschaft von Völkern, Nationen und Staaten. „Wen Gott setzt, den bestimmt er zu dem einzigen Ort seiner Wahrheit und Wirklichkeit und vollendet durch ihn alle Gemeinschaft und Geschichte. Er reißt ihn von dem Grunde aller irdischen Bindungen los und prägt ihn zu der Stätte, da er sich erfüllt und sein ‚Wort Fleisch wird.‘.“27 Lohmeyer schloss mit einem Crescendo, das Beethovens Fünftem Klavierkonzert vergleichbar ist: Darum ist er Gewißheit des ewig Gegenwärtigen und Sehnsucht nach dem ‚Kommenden‘, Erfüllung und Verheißung in Einem. In solcher eschatologischen Vollendung des Unvollendbaren wird auch die Geschichte zu eigenem und ursprünglichem Gange frei. Sie bleibt in ewigem Wandel des Geschehens und ewiger Unwandelbarkeit ihres Sinnes,

26 „Wenn also im Judentum der Gedanke des Messias und seiner Gemeinde den Lauf der Geschicht krönt, so kommt darin nur ein grundsätzlicher Gedanke aller Geschichte zum Ausdruck. Darum ist dieser Messias ein bestimmtes Ich, aus der Geschichte lebend und in der Geschichte wirkend; und der Gehalt dieses Lebens und Wirkens ist nichts anderes als der Gehalt der Gemeinschaft, die er schafft und regiert.“ - Ernst Lohmeyer: Glaube und Geschichte in vorderorientalischen Religionen, in: Breslauer Universitätsreden, Heft 6, 1931, 24. 27 Ernst Lohmeyer: Glaube und Geschichte in vorderorientalischen Religionen, in: Breslauer Universitätsreden, Heft 6, 1931, 25.

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unerschöpflich und mannigfaltig in ihrem Werden und Vergehen, durchsichtig und einheitlich in ihrem Sinn, immer gerichtet und immer gerettet. So im Ganzen ihres Sinnes webend, so im Tatsächlichen ihres unendlichen Laufes sich regend, wird sie immer was sie ist und ist sie immer was sie wird. […] Das Verhältnis von Glaube und Geschichte erschließt –, wenn das Johannesevangelium von Jesus die Sätze prägt: ‚Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Und wir sahen seine Herrlichkeit‘.28

Lohmeyers Inauguraladresse war eine geistesgeschichtliche Tour de Force. Auf ihre Weise ähnelt sie C. S. Lewis’ Abolition of Man, indem sie ein moralisches Universum in den tiefsten Wurzeln der menschlichen Geschichte verankert. Und doch war die Rede mehr als ein Streifzug durch die Vergangenheit. Ohne ein einziges Mal „Nationalsozialismus“ zu erwähnen, dessen Lehrmeinungen, Parolen oder Zerrbilder, gelang es Lohmeyer, den NS-Mythos von Hass und Angst dem erdrückenden Gewicht der historischen Realität und Wahrheit zu unterwerfen. Der Einzelne kann nicht im Volk aufgelöst werden. Der Staat kann nicht vergöttlicht werden. Macht 29 – raue Gewalt – kann nicht als höchste Tugend des Staates verherrlicht werden. Das historische und religiöse Zeugnis der ewigen moralischen Ordnung kann nicht durch willkürliche Werte einer falschen Ideologie ersetzt werden. Das Zeugnis Gottes für das Evangelium von Jesus Christus wurde einzig und allein durch „die israelitisch-jüdische Religion“ offenbart, denn „das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Das Objekt der giftigen Gehässigkeit und der brutalen Gewalt war die Wiege des Christentums selbst. Ernst Lohmeyers Inauguraladresse in Breslau war eine vernichtende intellektuelle und theologische Bloßstellung des Nationalsozialismus, bevor der offiziell überhaupt an die Macht gelangt war.

28 Ernst Lohmeyer: Glaube und Geschichte in vorderorientalischen Religionen, in: Breslauer Universitätsreden, Heft 6, 27. 29 Deutsch und kursiv im Original.

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Kapitel 8. Hakenkreuz!

„Jahrelang hatte ich in einer Umgebung gelebt, der ein Menschenleben nichts bedeutete; es schien mich nichts anzugehen. Jetzt merkte ich, daß diese Erfahrungen nicht an mir vorbeigegangen waren. Ich war nicht mehr nur in das Dickicht von Täuschungen, Intrige, Niedertracht, Mordbereitschaft verstrickt, sondern war selbst ein Teil dieser pervertierten Welt geworden.“1 (Albert Speer, Erinnerungen)

Hitzewelle Das Jahr nach Lohmeyers Rektorat in Breslau fing schlecht an. Dabei hätte es für ihn eigentlich gut anfangen sollen, denn ohne die Verpflichtungen als Rektor war er wieder frei für seine Wissenschaft. Eine Meinungsverschiedenheit mit einem Kollegen führte jedoch dazu, dass ein für die Bibelforschung des zwanzigsten Jahrhunderts herausragendes Thema sich zu einer Frage des persönlichen Grolls verschob und besagter Groll das eigentliche Thema erstickte. Ende 1931 lehnte Hans Lietzmann, Herausgeber der führenden Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft (ZNW), einen von Lohmeyer zur Publikation eingereichten Artikel über Johannes den Täufer ab. Solche Ablehnungen sind nicht unüblich und auch nicht unbedingt zu beanstanden. Ich könnte die Wände meines Arbeitszimmers mit solchen Schreiben tapezieren und kenne keinen Wissenschaftler, der sie nicht erhält. Lietzmann war ein erstklassiger Kirchenhistoriker, Nachfolger von Adolf von Harnack auf dem renommierten Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Humboldt Universität. Er war ein theologischer Universalgelehrter, der die ZNW ein Jahrzehnt lang erfolgreich herausgegeben hatte. Sein redaktionelles Urteil war nicht unfehlbar, verdiente aber immer Beachtung. All das wusste Lohmeyer, denn unter Lietzmanns reaktionellem Auge waren bereits ein halbes Dutzend seiner Artikel in der ZNW erschienen. Lietzmann wollte die Ablehnung von Lohmeyers Artikel als aufrüttelndes Signal verstanden wissen, aber Lohmeyer fasste den Vorfall als Frontalangriff auf. Doch hinter diesem Zusammenstoß steckt noch eine weitere Geschichte. Lohmeyers Buch Grundlagen paulinischer Theologie2 , erschienen 1929, hatte Lietzmann alarmiert.

1 Albert Speer: Erinnerungen. Berlin: Propyläen, 1971, 427. 2 Ernst Lohmeyer: Grundlagen paulinischer Theologie. Tübingen: Mohr Siebeck, 1929.

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In den späten 1920ern waren in drei separaten Artikeln mehr als einhundert Seiten Paulinischer Theologie in der ZNW erschienen, und das, was Lietzmann da zu sehen bekommen hatte, beunruhigte ihn. Er beklagte den Trend in der deutschen Bibelwissenschaft zu verschlungener Sprache und einen auf die theologische Zunft zugeschnittenen Jargon, den er „esoterische Sondersprache“ nannte. Lietzmann war verärgert, dass Lohmeyer für diesen elitären Kreis von Eingeweihten schrieb. Die Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft wurde international gelesen, und er wollte die Beiträge in einem Deutsch abgefasst wissen, das einer breiten Leserschaft zugänglich war. Lietzmann räumte ein, dass er Mühe hatte, Lohmeyers Artikel zu verstehen, und erklärte unumwunden: „Ich bringe grundsätzlich keine Aufsätze, die ich selbst nicht verstehen kann.“3 Das war noch nicht alles. Lietzmann war irritiert wegen Lohmeyers „falscher“ Methodik. Damit war gemeint, Lohmeyer habe gegen das Prinzip verstoßen, alle „Beteiligten müssen sich über die letzten Grundsätze historischer Methode einig sein.“4 Theologische Wissenschaft müsse der gleichen Methodologie folgen wie andere Wissenschaften auch, nämlich Argumente und Schlussfolgerungen auf empirische und historische Belege stützen und nicht auf philosophische und theologische Vorannahmen, wie Lohmeyer es in seinem Artikel getan hatte. Lohmeyer verlor nur selten die Fassung, aber bei Lietzmanns Kritik war es soweit. Unverzüglich schrieb er an Hönigswald und schickte eine Abschrift des Ablehnungsbriefs mit. „Die beigefügte Abschrift des Lietzmannschen Briefes hat mich empört […]“, antwortete Hönigswald. „Zunächst einmal würde auch ich zur Sache absolut nicht schweigen.“5 Eine Absage löst Bestürzung aus, und es ist normal, dass Lohmeyer sich an seinen Vertrauten wandte. Bedauerlich ist jedoch, dass Hönigswald sich für ihn stark gemacht hat. Hönigswald hatte mit dem Streit nichts zu tun, und seine Parteilichkeit führte mit Sicherheit dazu, dass Lohmeyer überzogen reagierte. Und das tat er. An Weihnachten (!) 1931 kündigte Lohmeyer in einem kurzen Schreiben an Lietzmann einen offenen Brief an, der 1932 im ersten Heft der Theologischen Blätter erschien. Damit war die aus Lietzmanns Sicht persönliche Angelegenheit in eine öffentliche verwandelt, für alle frei zugänglich. Man ergriff Partei. Lietzmann wurde zum Tyrannen, Lohmeyer zum schlechten Verlierer und eine konstruktive Debatte unterbunden. Lohmeyer gab zu, dass sein Stil anders geworden war, verteidigte sich aber damit, dass Grundlagen Paulinischer Theologie nicht nur „rein geschichtlich“ sei, sondern 3 Hans Lietzmann an Rudolf Bultmann, 29. Mai 1931. - Der offene Brief ist wiedergegeben in: Lührmann: Ernst Lohmeyers exegetisches Erbe, in: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 63. 4 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 227. 5 Richard Hönigswald an Ernst Lohmeyer, 18. Dezember 1931. - Der Brief ist wiedergegeben in: Aus der Einsamkeit – Briefe einer Freundschaft, hg. Wolfgang Otto, 48–49.

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den Grundsätzen und den Vorannahmen der Theologie selbst verpflichtet. „Wie aber soll man anders in wissenschaftlicher Weise von diesen Prinzipien sprechen als dadurch, daß man sich in die wissenschaftliche Tradition dieser Prinzipienlehre einordnet? Sie reicht von Plato bis Leibniz und Kant; ihre Sprache ist es, die ich nachsprechen, ihr Denken, das ich nachzudenken versuche.“6 Diese Verteidigung schien Lietzmanns Kritik an Lohmeyers schwülstiger Sprache eher auszuweichen als sie zu thematisieren. Die Kritik drehte sich einmal mehr darum, dass Lohmeyer der biblischen Überlieferung einen philosophischen Idealismus überstülpte, und Lietzmanns Kritik an dieser Stelle ist durchaus bedenkenswert. Es war jedoch Lietzmanns methodologische Kritik, die Lohmeyer besonders persönlich nahm und auf die er aggressiv reagierte. „So müßte ich eigentlich fragen […] welchem Umstande Sie Ihr Wächteramt verdanken. […] Wollen Sie wie in einer Schule als praeceptor theologiae germanicae Forschern vorschreiben, was an ihren Arbeiten ‚legitim‘ ist?“7 Lohmeyer erinnerte Lietzmann daran, dass intellektuelle Durchbrüche und Fortschritte oft den neuen Perspektiven von Außenseitern und Ausreißern zu verdanken seien – Perspektiven, die die akademische Zunft möglicherweise anrüchig findet. In Bezug auf den abgelehnten Artikel rügte Lohmeyer insbesondere die Zurückweisung theologischer Kriterien zugunsten einer ausschließlich „historischen“ Perspektive. Lohmeyer begründet seinen Artikel mit der Feststellung, dass der Täufer selbst als bloße historische Figur unbedeutend sei. Vielmehr zeugen sein Werk und seine Gestalt von einer Tat, die Gott zu einem früheren Zeitpunkt in der Geschichte Israels verheißen habe und die jetzt, in dem verheißenen Wort und der geschichtlichen Erfüllung, eine größere Tat bewirke, die wiederum nach einer Antwort des Glaubens verlange.8 Wir können nur wünschen, dass eine fundierte Debatte stattgefunden hätte. Hätte Lohmeyer doch nur auf Lietzmanns Kritik an seinem literarischen Stil gehört. Mehr noch, hätte Lietzmann doch auf Lohmeyers Kritik gehört, dass eine allein vom Naturalismus bestimmte Methodik nicht ausreiche, um die theologische Substanz des Neuen Testaments zu erklären. Lietzmann trat für eine Methode ein, die ihr Monopol in der Wissenschaft des Neuen Testaments für die nächsten fünfzig Jahre behaupten sollte. Mit seinem offenen Brief wollte Lohmeyer das historisch-kritische Kartell brechen, demzufolge lediglich eine methodische Grundlegung zulässig sei, auf der der Überbau der neutestamentlichen Studien zu errichten war. Hätte die

6 Ernst Lohmeyer: Offener Brief an Hans Lietzmann, zit. nach Lührmann: Ernst Lohmeyers exegetisches Erbe, in: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 61. 7 Ernst Lohmeyer: Offener Brief an Hans Lietzmann, in: ThBl 11, 1932, 18–21. - Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 229. 8 Siehe Ernst Lohmeyer: Zur evangelischen Überlieferung von Johannes dem Täufer, in: JBL 51, 1932, 302.

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theologische Zunft auf Lohmeyer gehört, dann hätte das offenere Spielfeld, das sich in den 1980er-Jahren rund um die neutestamentliche Forschung entwickelte, früher entstehen können. Dieses Spielfeld hat die entwickeltere kritische Methode, also die kritische Untersuchung der von den Verfassern der biblischen Bücher verwendeten literarischen Methoden und Quellen, nicht beseitigt. Und das war auch nicht beabsichtigt. Beabsichtigt war, den Bereich im Hinblick auf ein tieferes Verständnis des Neuen Testaments mit anderen, ebenfalls relevanten Methoden und Ansätzen zu ergänzen. Lohmeyers Appell für die Öffnung des Spielfelds wurde leider nicht erhört, und er wurde darüber hinaus in den Status des Einzelgängers9 gedrängt – in den Stand eines vereinzelten Individuums.

Hasswelle Noch bevor Hitler im Januar 1933 an die Macht gelangte, stieß Ernst Lohmeyer mit den Nationalsozialisten an ihrem virulentesten Punkt zusammen, dem Antisemitismus. 1932 fand ein politisches Spektakel statt, das an den zwei neuen Lebenswirklichkeiten in Deutschland keinen Zweifel ließ: dem Aufstieg des Nationalsozialismus und der Ohnmacht der Weimarer Republik. Die Bühne des Spektakels war bezeichnenderweise der deutsche Braintrust, das Hochschulwesen, das sich schon vor Hitlers Aufstieg zur Macht eigenständig an die nationalsozialistischen Richtlinien angepasst und sie vielfach aktiv begrüßt hatte. Als Bekundung ihrer Absichten prangerte die NSDAP im Herbst 1932 öffentlich fünf Professoren an, die sie aus der Hochschule vertreiben wollte. Einer der fünf war Ernst Cohn in Breslau. Doch bevor ich zu seiner Geschichte komme, erzähle ich kurz die Geschichte der anderen vier. Die Intention der Nationalsozialisten, jüdischen Menschen in Deutschand einen Maulkorb zu verpassen und ihren Einfluss auszuschalten, hatte zur Folge, dass drei der vier ihrem Schicksal praktisch nicht entkommen konnten. Der Kulturphilosoph Theodor Lessing war Zionist. Der Rechtsprofessor Hans Nawiasky hatte durch Sympathiebekundungen für einige Punkte des Versailler Vertrags die politische Korrektheit der Nazis beleidigt. Und der Mathematiker Emil Julius Gumbel hatte anhand statistischer Studien argumentiert, dass politischer Terror unproduktiv sei. Die Formulierung „politische Bühne“ zur Beschreibung der Verschwörung gegen die Wissenschaftler führt in die Irre, denn auf einer Bühne wird Realität lediglich simuliert. Das Ende der fünf Wissenschaftler auf der Todesliste der Nationalsozialisten war aber alles andere als simuliert. Auf Anordnung von Hermann Göring

9 Deutsch und kursiv im Original.

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wurde Lessing bei seiner Rückkehr vom Prager Zionistenkongress August 1933 von der Gestapo ermordet und sein Leichnam in den Wald geworfen. Nawiasky und Gumbel blieben glücklicherweise am Leben, mehr aber auch nicht. Ihnen wurde die Stellung an der Universität sowie die Staatsbürgerschaft entzogen, sie wurden ins Exil gezwungen. Name vier und fünf standen eher unerwartet auf der Liste der Schande, denn diese Juden stellten keine politische Gefahr dar; einer der beiden war nicht einmal Jude. Diese atypischen Namen auf der Liste signalisierten, dass die Nationalsozialisten nirgendwo eine Insel politischer Unantastbarkeit einrichten würden, weder an deutschen Universitäten noch in der Kultur insgesamt. Auch die Vorwürfe gegen die fünf Betroffenen wichen voneinander ab, was ein weiterer Vorbote dafür war, in welchem Ausmaß der NS-Terror metastasieren würde. Alle akademischen Disziplinen standen unter Verdacht und wurden für Vergeltungsaktionen ins Auge gefasst. Opfer Nummer vier war Christian Günther Dehn. Dehn war in einer armen Arbeiterfamilie aufgewachsen, ohne religiöse Bindungen. An der Universität hatte er eine Konversionserfahrung durchgemacht. In seinen eigenen Worten: „Ich bin nicht durch einen Evangelisten erweckt, nicht durch eine Predigt erschüttert, nicht aus einem unordentlichen, sündigen Leben herausgerufen worden. Ich habe nicht Vergebung der Sünden verlangt, sondern ich suchte den Sinn meines Lebens. Ich fand ihn am Schluß meines ersten Semesters in der Begegnung mit der Gestalt Jesu Christi.“10 Dehn wurde Pastor in Moabit, einem Arbeiterviertel Berlins, dessen wirtschaftliche und soziale Verhältnisse dem Viertel ähnelten, in dem er aufgewachsen war. Wie Dietrich Bonhoeffer sollte er eine klandestine theologische Ausbildung für die Bekennende Kirche durchlaufen, wie Dietrich Bonhoeffer sollte die Gestapo ihn dafür ins Gefängnis stecken. Die „Affäre Dehn“ zeigt genauso wie die „Affäre Cohn“ das spezielle Geschick, mit dem die Nationalsozialisten Einzelpersonen bestraften. Tod für das Vaterland hatte in der NS-Rhetorik um 1930 praktisch einen sakrosankten Status eingenommen. Dehn argumentierte gegen das Opfer menschlichen Lebens für einen halb vergöttlichten Staat. So behauptete er, der Tod durch Militär sei kein Märtyrertum, weil Soldaten ihrerseits eine Tötungsabsicht hätten, wohingegen christliche Märtyrer nicht die Absicht hätten, andere zu töten. Dehn räumte ein, dass Regierungen das Recht zuerkannt werden müsse, Kriegstote mit öffentlichen Denkmälern zu ehren, hielt es aber für unangemessen, Denkmäler und Plaketten für Kriegstote in Kirchen anzubringen. Die NSDAP griff Dehns sorgfältige Argumentation auf, verdrehte sie aber mit der Behauptung, seine Weigerung, gefallenen deutschen Soldaten den Märtyrerstatus in Kirchen zu

10 Zit. nach Friedrich Wilhelm Bautz (Hg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hamm: Traugott Bautz, 1975, Bd. 1, 1242.

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verleihen, wäre gleichbedeutend damit, sie als „Mörder“ zu verunglimpfen. Daher wurde Dehns Name auf die Liste der Schande gesetzt und sein Ruf an eine Professur in Heidelberg zurückgenommen.11

Der Iden des November: Die Affäre Cohn Das fünfte Opfer der Säuberung unter Professoren war das vielleicht merkwürdigste, ein achtundzwanzigjähriger Jurist in Breslau namens Ernst Joseph Cohn. Die Vorwürfe gegen Cohn, wie auch immer sie lauteten, waren erheblich geringer als die der anderen vier Personen. Offenbar war er vor allem wegen seiner jüdischen Herkunft auf die Liste gesetzt worden. In dieser Perspektive löste der Name Cohn auf der Liste größte Unruhe aus, war er doch ein Beleg dafür, dass in der neuen nationalsozialistischen Ordnung Jüdischsein an sich schon als strafwürdiges Vergehen eingestuft wurde. Elie Wiesel fasste es später so zusammen: „Nicht alle, die unter dem Nationalsozialismus litten, waren Juden, aber alle Juden litten unter dem Nationalsozialismus.“12 Im Herbst 1932 erhielt Ernst Cohn, Assistenzprofessor an der Universität Frankfurt, einen Ruf an die juristische Fakultät der Universität Breslau. Den Ruf nach Breslau erhielt er unter anderem durch seinen Beitritt zur SPD, die dreizehn juristische Lehrstühle an verschiedenen deutschen Universitäten eingerichtet hatte. Breslau hätte für Cohn wie eine sichere Wahl aussehen können, denn der Anteil der Juden am Lehrkörper dort war höher als an anderen deutschen Universitäten. Seine Ernennung wurde jedoch zum Katalysator für das vielleicht größte antijüdische Spektakel, das die deutsche Öffentlichkeit vor Hitlers Machtantritt erlebte. Im August sprach die rechtsgerichtete Zeitschrift Allgemeiner Deutscher Waffenring sich gegen Cohns Berufung aus. Als Grund wurde seine politische Unangepasstheit angegeben: Er passe nicht zur „gesinnungsmäßigen Zusammensetzung der Breslauer Studentenschaft“. Die Breslauer Organisation der Freistudentenschaft, in Ausrichtung und Intention Befürworter des NS, stimmte in den Chor ein und verurteilte Cohn für die Zugehörigkeit zu der „Rasse, die am 9. November 1918 schuld ist, an dem Tage, an dem unser deutsches Volk verraten wurde.“ Dekan Ludwig Waldecker ersuchte in Berlin um offizielle Unterstützung für Cohns Ernennung. Berlin schwieg. In der Hoffnung, dass die Unruhen wieder abflauen würden, verschob Waldecker Cohns Antrittsvorlesung um zwei Wochen – auf den 9. November 1932.

11 Friedrich Wilhelm Bautz (Hg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hamm: Traugott Bautz, 1975, Bd. 1, 1242–1248. 12 Interview von Ron Eyrie mit Elie Wiesel in „Judaism“, The Long Search video series.

Der Iden des November: Die Affäre Cohn

Es darf nicht vergessen werden, dass der 9. November für Deutschland der Jahrestag der Unterzeichnung des schmachvollen Versailler Vertrags von 1918 war. Ein explosiveres Datum für die Einführung eines jüdischen Professors, der bereits unter Beobachtung der Presse stand, hätte Waldecker sich nicht aussuchen können. Zu Waldeckers Verteidigung muss gesagt werden, dass es ihm höchstwahrscheinlich nicht darum ging, Cohn eine Falle zu stellen, denn ein Jahr später wurde er selbst entlassen, weil er nicht nachweisen konnte, dass er nicht jüdisch war. 1935 wurde er in den Vorruhestand gezwungen. Bevor Cohn mit seiner Vorlesung anfing, brachen studentische Proteste aus. Student Helmut Heiber, der dabei war, notierte Folgendes: „Hörsaal V total überfüllt, Scharren, Pfiffe, ‚vaterländische Lieder‘, ,Juden raus!‘, ‚Cohn raus!‘“ Rektor Carl Brockelmann und der geschäftsführende Dekan Albrecht Fischer eskortierten Cohn persönlich in den Hörsaal. Statt Cohns Position zu stärken, heizte das Eintreten der zwei höchsten Universitätsoffiziellen die studentischen Proteste weiter an. „Juden raus!“, schrien Studenten im Hörsaal und auf den Gängen, „Wir wollen deutsche Professoren! Synagoge! Juda verrecke! Fort mit den Juden!“ Es kam zu einem Handgemenge mit Schlägen und Tritten. Rektor Brockelmann rief die Polizei. „Rektor, Polizei, Räumung, Flucht ins Dozentenzimmer“, heißt es in Heibers Notizen weiter, „und unter Polizeischutz durch die Universität, aus der Universität und durch das Universitätsviertel.“ Ernst Cohns Antrittsvorlesung an der Universität Breslau hatte einen Aufstand ausgelöst. Die Universität wurde für zwei Wochen geschlossen. Am 22. November wurde wieder geöffnet, Cohns Vorlesungen im Hauptgebäude in den dritten Stock verlegt. Eugen Rosenstock-Huessy, Mitglied des „LohmeyerKreises“ in Breslau, versuchte, die Treppen zum dritten Stock mit Stacheldraht zu sichern. Schwerbewaffnete Polizeieinheiten patrouillierten zu Fuß und zu Pferd um die Universität. Wer die Gebäude betreten wollte, musste eine Studentenkarte vorweisen können. Rektor Brockelmann, der ab 22. November abwesend war, hatte Lohmeyer zum Prorektor während seiner Abwesenheit bestimmt. Als Cohn seine Vorlesungen wieder aufnahm, brach der Aufstand erneut aus.13 Hier ist Cohns persönliches Zeugnis der chaotischen Zustände: Kurz vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus brachen an der Universität von den Nazis initiierte Krawalle aus, die vor allem gegen meine Person richteten. In dieser aufreibenden Zeit fand ich in Prof. Lohmeyer den stärksten und entschlossensten Beistand. Ich bin immer noch davon überzeugt, daß es ihm, wenn er Rektor gewesen wäre statt Konrektor, gelungen wäre, durch seine starke Persönlichkeit und seinen unbeugsamen demokratischen Glauben […] die Unruhen gleich zu Beginn zu ersticken. Als ich nach

13 Die obigen Zitate und Darstellung der Cohn-Affäre verdanke ich Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 61–62.

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Professor Lohmeyers Meinung einmal besonders gefährdet war, stellte er sich selbst als Schutzschild gegen angreifende Studenten vor mich.14

Lohmeyer rief die Polizei zur Unterstützung. Wieder wurde die Universität geschlossen. Seine studentische Hilfskraft Hannah Bedürftig erinnerte sich 1946 in einem Brief an den Vorfall: „Professor D. Dr. Lohmeyer hat […] scharf Stellung genommen gegen die Einflüsse nationalsozialistischer Politik auf das Leben und die Arbeit der Universität. […] Er hat sich als [Cohns] Verteidiger schwersten Angriffen ausgesetzt, diese aber nicht gefürchtet, sondern auch seine Stellung einige Male Massen tobender Studenten gegenüber verteidigt. Er wurde deswegen und weil seine Person sowie sein Haus als Zuflucht für die bedrängten jüdischen Kollegen und Studenten galten (in seinem Sommerhäuschen in Glasegrund […] hat er mehreren dieser bedrängten Menschen Aufenthalt und Ruhe gewahrt!) […].“15 Bedürftigs Zeugnis der „schwersten Angriffe“ gegen Lohmeyer, der sich nicht einschüchtern ließ, weckt Erinnerungen an meine Erfahrungen mit den antikriegsund bürgerrechtlichen Protesten im Amerika der späten 1960er-Jahre. Bei einer Protestaktion flogen die Fäuste, einer meiner Professoren am Seminar wurde im Gesicht getroffen. Auch wenn solche Vorfälle bei aufgeheizten Demonstrationen nicht unüblich sind, wird leicht unterschätzt, wie traumatisch sie sein können. Der getroffene Professor erlitt eine Art emotionalen Zusammenbruch, weshalb er ein Semester lang nicht unterrichten konnte; die Spätfolgen zogen sich sogar noch länger hin. Ernst Cohn und Hannah Bedürftig bezeugen, dass Lohmeyer aus persönlicher Erfahrung wusste, wie es sich anfühlt, Opfer von Bosheit und Gewalt zu werden. Im Dezember wurde die Universität wieder geöffnet, doch die Aggression gegen Cohn flaute nicht ab. Karl Bornhausen, Theologie-Professor und NS-Befürworter, begann seine Ethik-Vorlesung mit dem Dank an Studenten für ihre Teilnahme am „Kampf gegen Cohn“. Es ist wichtig festzuhalten, dass Bornhausens Vorlesung nicht unterbrochen wurde! Er beendete seine Vorlesung mit einem von ihm angeführten

14 „Shortly before the coming to power of Nazism Nazi-inspired students’ riots broke out at the University which were chiefly directed against me. During that trying time I found in Professor Lohmeyer the strongest and most determined supporter. I am still convinced that if he had been the Rector instead of being the Deputy-Rector, he would have succeeded in quelling through his strong personality and with his unfaltering democratic faith … the riots at their very start. On one occasion when Professor Lohmeyer believed me to be personally threatened he tried to shield me against students who wanted to attack me with his own person.“ –Cohns Zeugenaussage (einschließlich des falschen Präpositionalsatzes am Ende), die ein Jahrzehnt später aus seinem Exil in England auf Englisch verfasst wurde, findet sich in: GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 18. - Siehe auch Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 63. 15 Eidesstattliche Erklärung der Vikarin Hanna Sommer vom 25. November 1946. - Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 64.

Der Iden des November: Die Affäre Cohn

antisemitischen Marsch von mehr als sechshundert Studenten durch die Straßen Breslaus. Kurz vor Weihnachten 1932 schwächte Cohn seine ohnehin schon prekäre Stellung an der Universität durch eine unvorsichtige Replik auf die Frage eines Zeitungsreporters. Auf die Frage, ob Leo Trotzki in Deutschland politisches Asyl gewährt werden solle, gab Cohn keine hinreichend ablehnende Antwort. Für naive politische Statements zahlte man damals in Deutschland einen hohen Preis; das galt ganz besonders für Cohns Statement, denn es gab Anlass zu der Vermutung, dass er mit den Kommunisten sympathisierte. Die Presse stürzte sich auf das Statement, die NS-Propaganda wertete es als sicheren Beweis dafür, dass Juden Deutschlands Erzfeind in Russland unterstützten. Eine Flasche mit stinkender Flüssigkeit flog durch die Frontscheibe des Hauses von Rektor Brockelmann, offenbar ein versuchter Brandbombenanschlag. Brockelmann zog seine Unterstützung für Cohn zurück, genau wie andere Professoren auch, wodurch der Rückhalt für ihn noch weiter erodierte. Ende Januar 1933, am Vorabend des Machtantritts Hitlers, wurden Cohns Vorlesungen wieder aufgenommen. Und wieder flammten Proteste auf, heftiger als je zuvor; zwei Studenten wurden schwer verletzt, mehrere verhaftet. Lediglich fünf Professoren blieben auf Cohns Seite, darunter Lohmeyer und Rosenstock-Huessy, sowie drei Mitglieder der theologischen und philosophischen Fakultäten. Durch seinen Machtantritt im Januar 1933 wurde Hitler zu einem festen und prägenden Bestandteil des deutschen Lebens, und die Berauschung am Nationalsozialismus war nicht zu bremsen. Jüdische Geschäfte wurden einem verschärften Boykott ausgesetzt, und mit dem April-Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde die vorzeitige Entpflichtung jüdischer Professoren legalisiert. Ernst Joseph Cohn wurde offiziell entlassen und emigrierte kurz darauf nach England. Was als „Cohn-Skandal“ bekannt wurde, war ein sechs Monate sich hinziehendes politisches Spektakel der Nationalsozialisten. Das langwierige Absetzungsverfahren gegen Cohn führte nicht zu einer Atempause, sondern belebte die Säuberungsdynamik an der Universität erneut. Carl Brockelmann zog sich als Rektor zurück; Gustav Adolf Walz rückte an seine Stelle, lupenreines Mitglied der NSDAP seit 1931. Auch Dekan Waldecker wechselte in den Ruhestand, Nationalsozialist Anton Jirku rückte nach.16 Damit blieb noch Lohmeyer, dem man die Schuld am „Cohn-Skandal“ zuschieben konnte. Walz und Jirku sorgten dafür, dass die Schuld nicht in Vergessenheit geriet.

16 Zum Abschluss der Cohn-Affäre siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 65–68.

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Das Schicksal von Richard Hönigswald Der gnadenlose Angriff auf Ernst Cohn gab den jüdischen Angehörigen des Lehrkörpers zu verstehen, womit sie an der Universität Breslau zu rechnen hatten. Der „Lohmeyer-Kreis“ war zahlenmäßig größtenteils jüdisch, und wer ihm angehörte, war der antisemitischen Hetze an der Universität schutzlos ausgeliefert. Jedes Mitglied des Freundeskreises stand seinem Schicksal allein gegenüber. Richard Koebner emigrierte nach Israel und lehrte dort für viele Jahre an der Hebräischen Universität. Eugen Rosenstock-Huessy ging nach Amerika, nahm eine Stelle an der Harvard University an, fand dort aber kein offenes Ohr für seine Überzeugung, dass Gott lebendige Gegenwart in der Geschichte sei. Er wechselte nach Dartmouth und später in die Sozialprogramme der Roosevelt-Administration. Das Schicksal von Richard Hönigswald verdient kurze Berücksichtigung, nicht nur, weil er Lohmeyers engster Vertrauter war, sondern auch, weil seine Geschichte veranschaulicht, was mit Juden geschah, die in Deutschland bleiben wollten. Vor dem Dammbruch gegen jüdische Professoren in Breslau hatte Hönigswald versucht, seine Karriere in einem weniger unsicheren Umfeld neu aufzubauen. 1929 folgte er einem Ruf als Philosophie-Professor an die Universität München. Im selben Jahr heiratete er Hilde Bohn und hoffte, in München ein neues Leben beginnen zu können. Im April 1933 jedoch wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums verabschiedet, das den rassistisch-despotischen Staat ermächtigte, Juden und politische Gegner aus dem deutschen Staatsdienst zu entlassen. Zwanzig Jahre zuvor war Hönigswald durch Taufe in die christliche Kirche aufgenommen worden, aber nach dem deutschen Gesetz war er wegen seiner jüdischen Vorfahren noch immer Jude und bewegte sich daher sehr wohl im Geltungsbereich des Wiederherstellungsgesetzes. Viele deutsche Akademiker und Philosophen setzten sich für seinen Verbleib auf der Professur in München ein. Am Ende war ihr Einsatz jedoch vergebens, größtenteils deshalb, weil Deutschlands berühmtester Philosoph Martin Heidegger eine diffamierende Schrift gegen Hönigswald verfasste. 1933 wurde das NSDAP-Mitglied Heidegger zum „Führer-Rektor“ an der Universität Freiburg ernannt. Hönigswald, so Heidegger, sei „gefährlicher Scharfsinn“, denn er [Hönigswald] „verficht eine leerlaufende Dialektik“, die junge deutsche Studenten in die Irre zu führen drohe. Die Berufung Hönigswalds nach München sei ein „Skandal“, beharrte er.17 Heidegger war als römischer Katholik geboren und aufgewachsen, und er räumte ein: „Ich muß auch heute noch die Berufung dieses Mannes an die Universität München als einen Skandal bezeichnen, der nur darin seine Erklärung findet, daß das katholische System solche Leute, die scheinbar weltanschaulich indifferent sind, mit Vorliebe bevorzugt, weil sie gegenüber den

17 Vgl. hierzu Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 241.

Das Schicksal von Richard Hönigswald

eigenen Bestrebungen ungefährlich und in der bekannten Weise ‚objektiv-liberal‘ sind.“18 Aber die Welle des NS, die durch Deutschland schwappte, sorgte dafür, dass Heidegger schnell von solchen Sympathien abtrieb. Trotzig fügte er hinzu, dass er nicht mit Wohlwollen auf einen solchen Professor blicken würde! Zusammen mit Alfred Loewy, Edmund Husserl – bei dem Heidegger Assistenzprofessor gewesen war! – und weiteren Professoren jüdischer Herkunft wurde Richard Hönigswald in den Worten von Lohmeyers Tochter Gudrun „unter dem direkten Einfluss des Philosophen Martin Heidegger aus der Universität herausgedrängt.“19 Richard und Hilde Hönigswald lebten in den nächsten fünf Jahren praktisch isoliert, meist in München, eine längere Zeit auch in Italien. 1938 wurde Hönigswald der Doktorgrad in Philosophie offiziell aberkannt; damit waren Aussichten auf eine Professur in Deutschland endgültig zerstört. Er wurde auf eine PhilosophieProfessur an die University of Scranton in Amerika berufen, doch am 9. November des Jahres kam die Reichskristallnacht 20 dazwischen. Im nachfolgenden Pogrom wurde Hönigswald verhaftet und für den restlichen Herbst im Konzentrationslager Dachau interniert. Im Vergleich mit der großen Mehrheit der Juden in Deutschland gehörte Hönigswald trotz eines Jahrzehnts der Verfolgung zu den wenigen Juden, die sich sehr glücklich schätzen konnten. Internationale Proteste führten zu seiner Entlassung aus Dachau. In der Schweiz fand er vorübergehend Asyl, 1939 emigrierte er nach Amerika. Er starb 1947 in New Haven, Connecticut. 1995 traf ich mich mit Hönigswalds Sohn Henry, der Richard und seiner ersten Frau Gertrud 1915 geboren wurde. Seine Ausbildung erhielt Henry überall dort, wo sein Vater gelehrt hatte – Breslau, München, Zürich, Padua, Florenz. Er war Mitte zwanzig, als die Familie nach Amerika emigrierte, und bereits als Sprachwissenschaftler anerkannt. Von 1948 bis 1985 unterrichtete er an der University of Pennsylvania als Linguistik-Professor. In dieser Zeit wurde er in die National Academy of Sciences gewählt und war Vorsitzender der Linguistic Society of America. Henry Hönigswald lud mich zum Lunch in den Fakultätsclub an der University of Pennsylvania ein. Er war achtzig Jahre alt und im Ruhestand, im Gespräch einladend und gesellig. In seinen Augen funkelte es, als er von der Freundschaft zwischen seinem Vater und Lohmeyer erzählte. Er berichtete, wie sein Vater über dessen geistige Spannbreite und kritische Urteilsfähigkeit staunte. Als junger Mann gehörte Henrys wichtigsten persönlichen Erinnerungen, dass die Hönigswald-LohmeyerBeziehung auch die Familien und die Ehefrauen einschloss. Gelegentlich hatte Hönigswald sogar einen Brief an Gudrun geschrieben, an „Püppi“, wie sie damals genannt wurde, wie auch Ernst gelegentlich einen Brief an Henry schrieb. Henry 18 Die vorangehenden Zitate wurden Martin Heideggers Denunziationsbrief entnommen. - Siehe Wolfgang Otto (Hg.): Aus der Einsamkeit, 20. 19 Wolfgang Otto (Hg.): Aus der Einsamkeit, 20. 20 Deutsch und kursiv im Original.

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schwärmte davon, wie natürlich und harmonisch Hönigswald und Lohmeyer das Geistige und Persönliche in ihrer langen Beziehung vereinten. „Solche Beziehungen sind selten“, sagte er, „,besonders zwischen starken Charakteren.“21

Hitler ergreift die Macht Die Deutschen sind sich nicht ganz einig, wie sie den Machtantritt Hitlers am 30. Januar nennen sollen. War es eine Machtübergabe – reception of power – oder eine Machtergreifung 22 – seizure of power? Letzteres ist die übliche Deutung. Für das deutsche Gewissen ist es natürlich schmeichelhafter, dass Hitler die Macht ergriffen hat, statt zu sagen, dass sie ihm übergeben wurde. Aber Machtergreifung ist immer noch die bessere der beiden Formulierungen. Bei keiner Wahl hat die NSDAP jemals mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen können. Trotz des Minderheitenstatus und ihrer Unfähigkeit, bei einem Plebiszit die Mehrheit zu erringen, fügte die Parteistrategie der Destabilisierung der deutschen Demokratie derart Schaden zu (nicht zuletzt durch Gewalt und Straßenterror), dass Hitler, nachdem er die Weimarer Republik schachmatt gesetzt hatte, jeglichen Widerstand ausschalten konnte. Es gibt Gründe, und zwar jede Menge Gründe, warum Hitlers Machtantritt (wie auch immer er zustande kam und wie auch immer er genannt wird), alles in allem nicht unwillkommen war. Der finanzielle Zusammenbruch in den späten 1920ern hatte verheerende Folgen für Deutschlands Ökonomie, die durch die wirtschaftlichen Sanktionen des Versailler Vertrages angeschlagen und gelähmt war. Aufstieg und Expansion des „Bolschewismus“ (Sowjetkommunismus) stellten keine eingebildete Gefahr, sondern eine echte Bedrohung für Deutschlands Souveränität dar. Die eigenwillige Demokratie-Variante der Weimarer Republik, die radikal von den gewohnten preußischen Verhältnissen abwich, wurde weithin als Unterminierung des sozialen und moralischen Gefüges in Deutschland wahrgenommen. Vor allem aber vergiftete die Schande der Kriegsschuldklausel von Versailles die nationale Identität und den Nationalstolz Deutschlands. Die einzige Person, die in der Lage schien, solchen lähmenden Kräften der Geschichte Einhalt und Umkehr zu gebieten, war Adolf Hitler. In den prekären 1930ern sahen viele Deutsche – sehr viele – in ihm eine heilbringende Kraft. Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, brach der Sturm, der sich seit 1929 über Deutschland zusammengebraut hatte, plötzlich und mit entfesselter

21 Für eine kurze gedruckte Reminiszenz von Henry Hönigswald siehe Wolfgang Otto (Hg.): Aus der Einsamkeit, 23–24. 22 Deutsch und kursiv im Original.

Hitler ergreift die Macht

Gewalt los. Die NSDAP war natürlich nicht erst 1929, sondern schon in den frühen 20er-Jahren gegründet worden. Doch ein verbessertes wirtschaftliches Klima in der zweiten Hälfte der 20er hatte das frühe Momentum der Partei abgeschwächt, im Frühjahr 1929 schwand die Anziehung, die sie ausübte. Wie so viele andere politische Parteien im damaligen Deutschland schien auch sie bestimmt, entweder zu verwelken und abzusterben oder in gemäßigteren Bewegungen aufzugehen. Im Herbst des Jahres wurde ihr Abstieg jedoch unerwartet gebremst und radikal umgekehrt. Der Börsencrash an der Wall Street in New York City am Schwarzen Dienstag, 29. Oktober 1929, wirkte wie ein bösartiger Scharfmacher auf die Geschicke der Nazi-Partei ein. Insbesondere in seinen frühen Reden berief Hitler sich nicht selten auf die begünstigende Hand der „Vorsehung“ in eigener Sache und der Sache der Partei. Niemals sollte Hitler größere Ursache haben, der „Vorsehung“, was auch immer er mit dem Ausdruck sagen wollte, zu danken als bei der weltweiten ökonomischen Krise von 1929. Der Börsencrash sowie Angst und Panik in den nachfolgenden Erschütterungen ließen Deutschland in einen ökonomischen Abgrund stürzen. Es war, als würde der Crash Deutsche in nie da gewesener Anzahl in die Blutgefäße der Hitler-Bewegung infundieren, und wie bei einer wundersame Transfusion von erschöpfter Energie kehrten Kraft und Farbe in den blassen Körper der NS-Politik zurück. Ein Energieschub folgte auf den nächsten, und Anfang 1933 konnte Hitler uneingeschränkt über Deutschland herrschen. Schwarzmaler und Zweifler, die Hitlers politische Fantasterei für bloße Hysterie und Schwulst hielten, wurden schon bald eines Besseren belehrt. Die Ereignisse, die seinem Machtantritt auf dem Fuße folgten, räumten alle Zweifel an der Entschlossenheit und Fähigkeit der Nationalsozialisten, politische Rhetorik in eiskalte Tatsachen zu übersetzen, aus dem Weg. Sechs Monate sollte es dauern, bis in Deutschland deutliche Veränderungen sichtbar wurden. Autobahnen zogen sich in langen, geraden Linien durch das Land. Das Getriebe der Schwerindustrie wurde wieder angeworfen und produzierte Güter für starke Ökonomien – und starke Militärs. Deutschland definierte sich in scharfer Abgrenzung zu Europa, ja, es isolierte sich. Auf Isolation folgte Fremdenfeindlichkeit. Der wirtschaftliche Aufschwung und die verbesserte Stimmung in Deutschland musste von allem befreit werden, was die weitere Erholung ausbremste. Das größte Hindernis auf dem Weg Deutschlands zu wirtschaftlicher und moralischer Erholung waren dem NSNarrativ zufolge die Menschenrechte, allen voran die Rechte und der Schutz von Minderheiten – die Alten, die körperlich und geistig Behinderten. Und natürlich die Rechte der Juden, denen die Schuld an den ökonomischen Verwerfungen in Deutschland und an seiner Schmach zugeschoben wurde. Diese Minderheiten wurden zunächst geschmäht, dann wurden ihnen ihre Rechte aberkannt, bald darauf wurden gesetzliche Maßnahmen ergriffen und industrielle Verfahren entwickelt, um sie in ihrer bloßen Existenz zu vernichten.

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Diese Änderungen waren in ganz Deutschland rechtsverbindlich, wurden aber in manchen Gebieten, zu denen auch die Stadt Breslau und ihre Universität gehörten, früher vorangetrieben und entschlossener durchgesetzt. Einige Beweggründe der Nationalsozialisten sind leicht nachvollziehbar. Breslau lag an der Ostgrenze des Deutschen Reiches, im heutigen Wrocław, Polen. Dort bewegte sich die Zahl der in der Stadt lebenden Juden und die Zahl der jüdischen Professoren an der Universität deutlich über dem Durchschnitt anderer deutscher Städte und Universitäten. Es gab weitere Gründe, sie waren unterschwelliger, aber vielleicht entscheidender. Die Nürnberger Gesetze von 1935, mit denen Juden die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, sollten für die Bevölkerung und die Politik in Breslau folgenreicher sein als an den meisten anderen deutschen Schauplätzen. Seit dem späten 19. Jahrhundert war Breslau zu fast einhundert Prozent Deutsch und stellte daher, zumindest für die NSDAP, so etwas wie eine „Erstlingsfrucht“ dessen dar, was Hitler für Polen vorschwebte. In den frühen 1930ern war Hitlers LebensraumProgramm23 für den Osten, der als Raum für deutsche Expansion vorgesehen war, noch nicht offengelegt worden, aber lange sollte es nicht mehr dauern. Breslau scheint ein Symbol für die Pläne des Führers gewesen zu sein, an der östlichen Grenze des Reiches ein Bollwerk mit deutscher Bevölkerung gegen Russland zu errichten. Als ob er die unheilvolle Veränderung ankündigen wollte, reiste Hitler im Herbst 1933 nach Breslau, um dort zur Wahl einer nationalsozialistischen Einparteien-Liste in den Reichstag aufzurufen. Die Wahl sollte am 12. November stattfinden. Ein solcher Sieg würde, wie er seinen Zuhörern versicherte, Deutschland endlich von der Schande des Waffenstillstands von Versailles befreien. „Sorgt dafür“, mahnte er am 4. November 1933auf einer Kundgebung in Breslau, „daß dieser Tag als Tag der Befreiung in die Geschichte unseres Volkes eingehen wird; daß man sagen wird: an einem 11. November verlor das deutsche Volk seine Ehre, aber dann kam fünfzehn Jahre später ein 12. November, an dem das deutsche Volk seine Ehre selbst wieder herstellte‘.“24 Hitlers Machtantritt im Januar 1933 war wie die gewaltsame Intervention des Schicksals in der griechischen Tragödie, die eine blühende Landschaft unumkehrbar in ein Trümmerfeld verwandelt. Lohmeyers Rektoratsrede und die Cohn-Affäre machen deutlich, dass die Zeichen der Zeit für ihn schon vor Januar 1933 erkennbar waren. Doch das, was er bisher vom NS erlebt hatte, sollte sich noch weiter verschärfen und verabsolutieren. Totalitarismus implementiert, wie der Terminus schon sagt, nicht nur autoritäre Politik, sondern auch eine bedingungslose Gefolgschaft innerhalb der Massen. Kleine Vorfälle wecken Verdacht, Verdacht führt zu Denunziation, Denunziation führt zu Repressalien.

23 Deutsch und kursiv im Original. 24 William Shirer: Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Köln u. a.: Kiepenheuer & Witsch, 1961, 208–209.

Hitler ergreift die Macht

Die NS-Behörden an der Universität Breslau waren bereit, diese erbarmunglose Kettenreaktion auszulösen, sofern nötig.

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Kapitel 9. Antisemitismus in der Theologie

„Der christliche Glaube ist nur so lange christlich, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt; auch ist der jüdische Glaube nur so lange jüdisch, als er den christlichen in sich zu hegen vermag.“ Ernst Lohmeyer an Martin Buber, 19. August 1933

Literatur im Giftschrank In den späten 1980ern gewährte mir die University of Jamestown in North Dakota, wo ich damals lehrte, ein Sabbatical für ein Studiensemester an der Universität Tübingen. In Tübingen wollte ich in erster Linie an der hervorragenden Fakultät für Neues Testament arbeiten, aber auch der Frage nachgehen, welche Rolle die Tübinger Theologen während der NS-Jahre gespielt hatten. Zwischen 1933 und 1945 waren deutsche Universitäten weitgehend „braun“, soll heißen, dass sie sich frühzeitig und ohne größere Probleme mit dem Nationalsozialismus arrangiert hatten. Dies galt besonders für einige der berühmtesten Theologen an der Fakultät in Tübingen. Als ich in den späten 1960ern am Princeton Seminary war, erwähnte einer meiner Professoren, der in Tübingen studiert hatte, dass die dortige theologische Fakultät eine Sammlung von während der NS-Zeit geschriebener „Judenhass“-Literatur besitzen würde. Die Sammlung war nicht katalogisiert und wurde im Giftschrank verwahrt. Die theologische Fakultät war im sogenannten Theologicum untergebracht, einem großen, gerichtsähnlichen Gebäude, das seit fast einem Jahrhundert genutzt wurde. Ich nahm an, dass der Literaturbestand, an dem ich interessiert war, irgendwo im Theologicum lagerte, konnte aber nicht feststellen, wo. Mit der Zeit gelang es mir, mich mit einem der Bediensteten im Theologicum anzufreunden, der mir anvertraute, dass die angebliche Sammlung tatsächlich existierte. Ich ließ durchblicken, dass ich mir Materialien gerne anschauen würde, und er stimmte der Einsichtnahme unter der Bedingung zu, dass dies nur geschehen dürfe, wenn das Theologicum geschlossen war. Aber wo wurde der Bestand aufbewahrt? Der Angestellte führte mich die Treppe hinauf zu einem großen Schrank im Flur der ersten Etage, an dem wir Studenten jeden Tag vorbeigingen. In diesem unscheinbaren Kasten befand sich ein Haufen Papiere, Artikel, Reden, Pamphlete, Broschüren und Bücher – allesamt mehr oder weniger antisemitisch. Meist handelte es sich um Kopien oder Sonderdrucke, aber auch Original-Typoskripte waren vorhanden. Der Angestellte zeigte mir, wo der

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Antisemitismus in der Theologie

Schlüssel aufbewahrt wurde. Nachdem es dunkel und ruhig war und das Theologicum geschlossen wurde, öffnete ich den Schrank, hockte mich auf den Boden und las kreuz und quer in den Materialien. Sobald ich fertig war, legte ich die Schriften in den Schrank zurück, schloss wieder ab, deponierte den Schlüssel in seinem Versteck und verließ das Gebäude. Viele Abende verbrachte ich allein in dem verlassenen Theologicum. Der Schrank war wie ein Fenster in die schicksalhafte Vergangenheit Tübingens. Verriegelt und getarnt, kam er mir vor wie eine verschlossene, aber nicht verheilte Wunde. In Hitlers Reden las ich von übertriebenen Versprechen auf Frieden und Wohlstand – eine aufschlussreiche Mahnung im amerikanischen Wahljahr 1988 … die für jedes Wahljahr gilt. Protokolle, Berichte, und Konferenzen, die sich mit der sogenannten „Judenfrage“ befassten, argumentierten bürokratisch, akademisch und hygienisch – mit tödlicher Auswirkung. Ein Teil der antisemitischen Literatur kam von außerhalb des deutschen Sprachraums; zum Beispiel ein auf Englisch geschriebenes Buch von Henry Ford im Jahr 1921. Auch von deutschen Theologie-Professoren verfasste Materialien waren darunter. Zu ihnen gehörte Walter Grundmann, der Gründer und Leiter des Instituts zur Erforschung und Beseitigung des Jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Das Institut versuchte den christlichen Antisemitismus durch den schlechterdings unmöglichen Beweis zu legitimieren, dass Jesus nicht Jude, sondern Arier sei. Der Kontakt mit solcher Lektüre rief naheliegende und erwartbare Empfindungen in mir hervor – Niedergedrücktheit, Angst, Wut, Ekel. Und auch eine weniger erwartete Empfindung stellte sich ein. Im Angesicht des Feindes schwand die Angst, und ich wurde stärker in der Überzeugung. Das griechische Wort für Reue im Neuen Testament ist metanoia und bedeutet „Überzeugung, die zu einer Umkehr führt“. Die Person, die diese Überzeugung am stärksten in mir weckte, war der Mann, dessen Schriften den größten Teil der Antisemitica im Schrank ausmachten: Professor Gerhard Kittel.

Gerhard Kittel: Gelehrter in Springerstiefeln Wie der Nationalsozialismus selbst, so war auch Kittel ein verwirrendes, paradoxes Phänomen. Sein Vater Rudolf Kittel war berühmt für die Herausgabe des hebräischen Alten Testaments, die Biblia Hebraica (1905). Stolz trat Gerhard in die Fußstapfen seines Vaters und lernte Hebräisch bei Issar Israel Kahan, einem jüdischen Gelehrten, den Kittel warmherzig als „echten Israelit“ bezeichnete, als „Mann ohne Falschheit“ (Joh 1,47).1 Gerhard Kittel kam 1926 an die theologische Fakultät

1 In der ersten, 1933 erschienenen Auflage umfasste die Schrift 78 Seiten. Schon 1934 kam es zu einer zweiten Auflage, die um die Antwort von Gerhard Kittel auf Martin Bubers Reaktion erweitert wurde

Kittels Machwerk

in Tübingen. In seiner Zeit dort, also in den späten Jahren der Weimarer Republik, publizierte er eine Reihe von wissenschaftlich anerkannten Studien über das Judentum. Manche Beiträge wurden zusammen mit jüdischen Wissenschaftlern verfasst; alle zeigen die engen Verbindungen zwischen dem frühen Christentum und dem palästinischen Judentum auf. Wie oben erwähnt, steckte Lohmeyer 1920ern mit Gustav Ruprecht brieflich den Rahmen der Kommentarreihe Meyer ab. Wiederholt ermutigte Lohmeyer den Verleger, Gerhard Kittel als Autor des Bandes über die Hebräer aufzunehmen.2 Es war, als würde mit dem Machtantritt Hitlers ein Schalter in Gerhard Kittel umgelegt. 1933 trat er der NSDAP bei. Er wurde Gründungsmitglied von Walter Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, einer Einrichtung der NSDAP, die bemüht war, den Antisemitismus mit intellektueller Seriosität auszustatten. Und er schuf eine bedeutende literarische Apologie des Nationalsozialismus während der gesamten Dauer des Dritten Reichs. Kittel redete nicht einem gossenhaften Nationalsozialismus das Wort, von der Art, wie es durch den Stürmer gespült wurde oder in den hässlichen Juden-Karikaturen der NS-Massenzeitungen zum Ausdruck kam. Er wurde zum Verfechter eines raffinierteren, intellektuellen Nazismus, dem „echten National Sozialismus“, wie er es nannte.3

Kittels Machwerk Im selben Jahr, in dem Kittel sich der NSDAP anschloss, veröffentlichte er Die Judenfrage, ein 78 Seiten starkes Buch, das die vom NS-Antisemitismus ausgetrocknete Landschaft in Brand setzte. Die Einzigartigkeit von Die Judenfrage lag nicht in der Propagierung des Antisemitismus, denn in den frühen 1930ern hatte die NS-Propaganda bereits unaufhaltbar Fahrt aufgenommen. Das Einzigartige an der Schrift war vielmehr ihre Absicht, den Antisemitismus mit der geistigen Kultur in Deutschland zu rechtfertigen, und dies ganz besonders innerhalb der Kirche. Daher sind die Hauptargumente der Schrift eine Überprüfung wert. Kittel begann mit der Problematik der gesellschaftlichen Minderheiten in Deutschland und behauptete, dass die meisten deutschen Minderheiten aus den Ländern stammten, aus denen sie kamen. Die Polen aus Polen, zum Beispiel, die Griechen aus Griechenland. Anders jedoch bei der jüdischen Minderheit. Juden hätten kein Ursprungsland, sondern würden ein internationales jüdisches Netzwerk repräsentieren. Dieser internationale Einfluss, so Kittel, würde Juden zur und daher 128 Seiten stark ist. Die hier zitierte dritte Auflage hat (mit Anmerkungen) 135 Seiten. Gerhard Kittel: Die Judenfrage. 3. Aufl. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1934, 92. 2 Man muss Ruprecht zugutehalten, dass er Lohmeyers Ermutigung immer wieder zurückwies. 3 Gerhard Kittel: Die Judenfrage. 3. Aufl. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1934, 77.

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Treulosigkeit gegenüber Deutschland verleiten; sie würden versuchen, das Land zu destabilisieren. Das besondere deutsche „Judenproblem“ sah Kittel durch die lange Grenze mit dem slawischen Osten noch verschärft. Diese durchlässige Grenze sei ein Einfallstor für osteuropäische Juden nach Deutschland. Daraus schloss Kittel, dass Juden einen permanenten, für Deutschland gefährlichen Einfluss ausübten, während sie in anderen europäischen Ländern lediglich ein potenzielles und sporadisches Problem darstellten. Unter „Juden“ verstand Kittel nicht in erster Linie religiöse Juden, das heißt, fromme Juden, die beispielsweise Sabbat und Speisegesetze befolgten, sich beschneiden ließen und in jüdischen Glaubensgemeinschaften lebten. Kittel bestätigte und bekräftigte sogar das Recht religiöser Juden auf Beibehaltung ihrer Lebensweise, weil er glaubte, dass sie im Festhalten an ihrem alttestamentlichen Glauben mit der Zeit, so Gott wollte, Jesus Christus als ihren Erlöser anerkennen würden. Für Kittel stellte sich die „Judenfrage“ eher durch Juden, die ihren jüdischen Glauben aufgegeben hatten und säkularisiert waren, sich also der deutschen Gesellschaft „assimiliert“ hatten. Diese Juden seien in der deutschen Berufswelt als Bürokraten, Politiker, Journalisten, Autoren besonders einflussreich, vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Recht, Medizin und Erziehung/Ausbildung. Diese assimilierten Juden hätten in das deutsche Volk4 eingeheiratet und dessen rassische Reinheit korrumpiert. Assimilierte Juden seien Kittel zufolge nicht einfach ein verunreinigendes und „dekadentes“ Element in Deutschland, sondern wirklich gefährlich in ihrem Wunsch, Deutschland zu beherrschen. Diese apokalyptische Einschätzung verlangte nach einer schlüssigen Lösung in Kittels Denken. Drei Möglichkeiten zog er in Betracht. Die erste war die Vernichtung der Juden. Dies wies er als undurchführbar zurück, denn den Deutschen könne nicht gelingen, eine Bevölkerung auszurotten, die die spanische Inquisition und die russischen Pogrome nicht auszurotten vermocht hatten. Der Begriff „Ausrottung“ löst bei Lesern, die mit der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland vertraut sind, größte Beunruhigung und Abscheu aus, und das vollkommen zu Recht. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass mit dem Begriffs etwas so Finsteres wie der Holocaust gemeint war. Kittel hat sich kaum vorstellen können, bis zu welchem Ausmaß NS-Deutschland seine „Endlösung der Judenfrage“ vorantreiben würde. Dies rechtfertigt allerdings nicht die Ungeheuerlichkeit seines Vorschlags. Doch seine Analogie mit der spanischen Inquisition oder den russischen Pogromen lässt vermuten, dass er eher an lokale und sporadische Gewaltakte dachte als an einen systematischen, industrialisierten Genozid. Die zweite Option war der Zionismus – die Ausweisung der Juden nach Palästina. Auch dies wurde als undurchführbar verworfen, denn Palästina sei zu klein für die

4 Deutsch und kursiv im Original.

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Aufnahme aller Juden. Dies führte zur dritten Option: Juden in Deutschland seien zu erfassen und umzusiedeln. Insbesondere sollte ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden, sie sollten den Status „ausländischer Gäste“ erhalten und in unbedenklichen Gettos angesiedelt werden. In Die Judenfrage verfocht Kittel diese dritte Lösung. Es bleibt unklar, ob Kittel ‚Getto‘ buchstäblich oder eher allgemein verstanden wissen wollte. Doch das ist nicht entscheidend, weil der Status als „ausländischer Gast“ Juden ohne staatsbürgerliche Rechte zu gesellschaftlichen Parias machen würde. Der Status würde ihnen Eheschließungen mit Nichtjuden untersagen und sie aus Berufen wie Medizin, Recht und Lehramt ausschließen, zudem aus Politik und Journalismus vertreiben. Kittel versuchte, den Status „ausländischer Gast“ als Kehrseite des mosaischen Gesetzes zu rechtfertigen. In Deuteronomium 24,14 und 27,19 wird dargestellt, wie Nichtjuden in jüdischen Gemeinden des Alten Testaments auf den Fremden-Status zurückgestuft werden, und nun sollten Juden in Deutschland auch auf diesen Status zurückgestuft werden. Laut Kittel sei es eine moralische Verpflichtung, Juden in der deutschen Nation ihre staatsbürgerlichen Rechte zu entziehen: „Ein Recht und eine Pflicht, wenn [die Nation] sich nicht selbst aufgeben wolle.“5 Die Konstante in Kittels Erörterung ist seine Verteidigung des Volks6 – der deutschen Bevölkerung, der Rasse, des Blutes und des Landes. Alles andere – auch das Christentum! – sei diesem unverrückbaren Ziel untergeordnet. Kittels Bild von zum Christentum konvertierten Juden ließ diese Konstante besonders klar hervortreten. Ein christlicher Jude, so argumentierte er, „wird christlicher Bruder, aber nicht deutscher Bruder.“7 Den Himmel würde Kittel sich mit einem konvertierten Juden wohl teilen wollen, nicht aber die Erde – jedenfalls nicht in Deutschland! Unter Berufung auf das Beispiel segregierter Kirchen im damaligen Amerika erklärte Kittel, dass christliche Juden jüdisch-christliche Gemeinden besuchen sollten; weder sollten sie in nichtjüdische christliche Kirchen aufgenommen werden noch in ihnen predigen. Kein Aspekt in Kittels Schrift ist für die christliche Lauterkeit seiner Argumentation schädlicher als dieser Ausspruch. Indem ihm das Deutschtum – Blut, Rasse, Boden – im Umgang mit anderen Menschen wichtiger ist als der erlösende Glaube an das Evangelium, stellte Kittel Hitler als Führer über Jesus als Erlöser. Das Kernthema in Die Judenfrage war daher nicht die Bibel oder das Evangelium, sondern das deutsche Volk in der Konstruktion des Nationalsozialismus.

5 Gerhard Kittel: Die Judenfrage. 3. Aufl. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1934, 80. 6 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original. 7 Gerhard Kittel: Die Judenfrage. 3. Aufl. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1934, 80.

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„Deutsches Christentum“ Kittels Stimme war nur eine unter vielen, die einen ganzen Flügel in der deutschen lutherischen Kirche dominierten. Dem Flügel, bekannt als „Deutsche Christen“, gehörten nicht weniger als drei Viertel der deutschen Protestanten in der NS-Zeit an. Kittels Standpunkt, so abwegig und verstörend er heute auch erscheinen mag, wurde damals in Deutschland von der Mehrheit vertreten, oder, besser gesagt, von der Mehrheit der öffentlichen Stimmen. „Deutsche Christen“ traten für „positives Christentum“ ein. Positives Christentum strebte danach, sich die für das NS-Programm brauchbaren Elemente des Christentums einzuverleiben, um das deutsche Volk vor biologischer und kultureller Degeneration zu schützen. Positives Christentum versuchte, Christentum von „überflüssigen“ Elementen zu säubern, wie zum Beispiel dem Alten Testament und dessen Lehre, dass Juden das auserwählte Volk seien. Das positive Christentum verwarf den schwachen und leidenden Jesus der Evangelien zugunsten eines heroischen Jesus, der sich für die beiden Kräfte stark machte, auf die der Nationalsozialismus angewiesen war: Nationalismus und Militarismus. 1933, dem Jahr von Hitlers Machtantritt, gliederten die Deutschen Christen ihre Kirchenjugend mit 700.000 Mitgliedern in die Hitlerjugend ein. In ihren Kirchen stellten sie die NSFahne neben dem Altar auf, im Gottesdienst schworen sie einen Treueeid auf Hitler. Das positive Christentum begrüßte das Dritte Reich als notwendige Vollendung der protestantischen Reformation, woraus eine wahrhaft deutschnationale Kirche resultiere. Die theologische Grundlage des positiven Christentums war nicht beschränkt auf das sola scriptura (die Schrift allein) wie im historischen deutschen Luthertum, sondern erweitert um die „Schöpfungsordnungen“ Blut, Boden, das deutsche Volk und Nationalismus. Die kirchliche Verkörperung des positiven Christentums war die deutsch-christliche Kirche, ein kirchlich-staatliches Amalgam aus „ein Volk, ein Reich, ein Glaube“, das sich spirituell dem gleichen Kampf verschrieb, dem sich der NS-Staat politisch und militärisch verschrieben hatte: Antikommunismus, Antipazifismus, Antiinternationalismus (bezogen auf den Vertrag von Versailles), Antifreimaurerei und Antisemitismus.

Die zentrale Stellung des Antisemitismus im Nationalsozialismus Antisemitismus war nicht nur ein Punkt unter anderen im Parteiprogramm der Nationalsozialisten. Es war der zentrale Punkt. Zwischen 1933 und 1945 führte Hitler zwei Kriege. Der besser bekannte war der Krieg gegen die Nationen, größtenteils ausgefochten mit konventioneller militärischer Taktik. Der zumindest im Westen

Ein höchst gefährlicher Nazi

weniger bekannte Krieg war der gegen Untermenschen8 , ausgefochten in erster Linie gegen die Slawen an der Ostfront und gegen die europäischen Juden. Der Krieg gegen Juden wurde mit größerer Grausamkeit und größerer Entschlossenheit geführt als der Krieg gegen die Nationen. Das Konzentrationslager in Dachau war bereits im Frühjahr 1933 errichtet worden, die Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte durch die Nürnberger Gesetze erfolgte 1935, 1938 in der Kristallnacht 9 wurden jüdische Geschäfte und Synagogen angezündet – all das begann, bevor beim Überfall auf Polen im September 1939 die ersten Schüsse aus Kanonen und Gewehren abgefeuert wurden. Auch haben die beiden Kriege sich nicht ergänzt, vielmehr standen sie in Konkurrenz zueinander. Die für die Vernichtung von elf Millionen Juden erforderlichen industriellen Ressourcen – elf Millionen war die Zahl der auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 zur Vernichtung bestimmten Juden – war den militärischen Zielen des Kriegs gegen die Nationen nicht dienlich. Da Nachschub, Material und Transportmittel gegen Ende des Krieges knapper wurden, wurde dem Transport von Juden in die Vernichtungslager im Osten vor dem Transport von Truppen an die verschiedenen Fronten Priorität eingeräumt. Als der Krieg gegen die Nationen nach der Schlacht um Stalingrad Anfang 1943 faktisch verloren war, konzentrierte der NS-Moloch sämtliche Kräfte auf die Vernichtung der Juden. In den zwei Jahren nach Stalingrad wurden mehr Juden ermordet als in all den Jahren zuvor. Als Gerhard Kittel das antisemitische Pamphlet schrieb, war noch nicht klar, welche Rolle der Antisemitismus im NS-Programm genau spielen sollte; der allgemeine Charakter und die Stoßrichtung hingegen waren sehr wohl klar. Übergriffe und Verunglimpfungen von jüdischen Professoren wie Ernst Cohn und das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das Juden aus dem öffentlichen Dienst vertrieb, die antisemitischen NS-Straßenbanden und allem voran Beschimpfungen und Schmähungen von Juden in Nazi-Reden – all dies fand statt, bevor Kittel die Schrift verfasste. Angesichts solch unheilvoller Zeichen war ein entschärfter Nationalsozialismus, wie Kittel sich ihn vorstellte, Unfug.

Ein höchst gefährlicher Nazi Kittel sprach sich zwar gegen die Ermordung der Juden aus, aber seine Begründung, die eher auf Undurchführbarkeit abhob als auf moralische Verwerflichkeit, war erschreckend. Oben habe ich gesagt, dass Kittel kaum ahnen konnte, was „Endlösung der Judenfrage“ zu bedeuten hatte, jedenfalls nicht als Versuch, alle europäischen

8 Deutsch und kursiv im Original. 9 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original.

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Juden in industriellen Mordzentralen wie Auschwitz oder Treblinka umzubringen. Als Kittel nach dem Krieg mit den Fakten konfrontiert wurde, beteuerte er, erschüttert und entsetzt zu sein. Seinen Einfluss innerhalb der NSDAP hielt er für gemäßigt und positiv. Er habe sich bemüht, die schlimmsten Auswüchse zu unterbinden, die vulgärsten Ausdrücke zu entschärfen und den wahren, sogar gottgegebenen Auftrag wieder einzusetzen, nämlich ein Bollwerk gegen die liberalen und aufklärerischen Einflüsse der Weimarer Republik zu errichten, die Deutschland seiner Auffassung nach geschwächt und korrumpiert hatten. Nationalsozialismus bzw. das Ideal, das Kittel sich von ihm gemacht hatte, sei die einzig rettende Kraft gegen die angebliche Flut der jüdischen Infiltration und Verunreinigung des edlen deutschen Volks. Meine Äußerungen über Kittel unterscheiden sich nicht grundlegend von dem, was über Zehntausende andere NSDAP-Mitglieder in den 1930ern geäußert werden könnte. Was Kittel anders, geradezu paradox erscheinen ließ, ist, dass er den Nationalsozialismus in Die Judenfrage propagierte und in Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands den jüdischen Einfluss auf die deutsche Geschichte eliminieren wollte, gleichzeitig aber begann, das umfangreiche neue Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) herauszugeben. Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament hatte sich einer ausführlichen Behandlung des Vokabulars des Griechischen Neuen Testaments auf die Fahnen geschrieben, insbesondere seiner theologischen Bedeutsamkeit. 1928 begann Kittel mit dem Projekt und veranschlagte, dass etwa fünfzehn Wissenschaftler drei Jahre lang daran arbeiten und zwei Bände herstellen sollten. Letztlich waren 105 Wissenschaftler an dem Projekt beteiligt, das sich über fünfzig Jahre hinziehen und im Ergebnis zehn voluminöse Bände hervorbringen sollte. Den Abschluss erlebte Kittel nicht mehr, aber als Herausgeber des ThWNT schöpfte er den Rahm der deutschen neutestamentlichen Gelehrtenzunft ab. Anders als Die Judenfrage oder die Arbeit in Franks Reichsinstitut ist das ThWNT ein seriöses wissenschaftliches Unterfangen. Und wenn das ThWNT nicht ohne antijüdische Verzerrungen ist – und das trifft sicher zu, zumindest auf einige Beiträger und Artikel –, so ist sein Antijudaismus dennoch eher auf ungeprüfte Annahmen zurückzuführen, die in der neutestamentlichen Zunft damals vorherrschten, nicht aber auf die bösartigen und schamlosen Invektiven, die Kittels Judenfrage und die Arbeit an Franks Reichsinstitut vergiftet hatten. Und hierin liegt das erschreckende Paradoxon – ein Hitler-Verbündeter, dessen theologische Arbeit der Kirche zugutekam. Gerhard Kittel war ein vorbildlicher Familienvater, ein zu sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit fähiger Intellektueller, dem Studenten und Kollegen gleichermaßen aufrechtes Verhalten bescheinigten. Er hat nichts getan, was wir normalerweise mit dem Bösen in Verbindung bringen. Seine persönliche Moral war über allen Zweifel erhaben. Er log nicht und unternahm keine Täuschungsversuche, er war nicht hinterhältig, er zeigte weder Zorn noch übermäßige Eitelkeit und war (seiner Meinung nach) nicht vorurteilsbehaftet.

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Wie wir sehen werden, bewies er in seiner Korrespondenz mit Martin Buber den Anschein von Demut und Aufrichtigkeit. Kittel war ein „netter Nazi“ – falls es so etwas überhaupt gibt. Zu den größten Übeln des Nationalsozialismus gehört dessen Fähigkeit, die persönlichen Tugenden seiner Anhänger für die Übel der Partei zu vereinnahmen, ohne jedoch die Tugenden zu korrumpieren oder die Anhänger mit übermäßiger Verantwortung oder Schuld zu belasten. Albert Speer, leitender Architekt Hitlers und ab Februar 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition, konnte sein technologisches Genie in Architektur, Ökonomie und Rüstung für das NSProgramm einsetzen, ohne sich übermäßig belastet oder schuldig zu fühlen, dass die NSDAP sein Talent für ihre Zwecke missbraucht hatte. Auch Gerhard Kittel war in der Lage, sowohl seine persönliche Integrität als auch ein Gefühl von Unschuld zu wahren, während er hartnäckig ein grausames Judenbild propagierte, das zu gesteigerter Grausamkeit führte. Er sang nicht das krasse Horst-Wessel-Kampflied der Nazis. Er machte sich nicht mit den theologischen Irrtümern und dem vulgären Tonfall der Deutschen Christen gemein. Seine Parteilichkeit für den Nationalsozialismus richtete sich auf die „gemäßigte Mitte“, so würden wir es heute wohl nennen. Auch wenn er Hitler und NS-Quellen in Die Judenfrage weit häufiger zitierte als die Heilige Schrift, war Kittel ein überragender Theologe, und wer ihn herausfordern wollte, musste ebenso überragend sein. War Kittel also ein „netter Nazi“? Wenn das Kernanliegen der Nationalsozialisten ihr ungebremster Hass auf Nichtarier war und ihre gleichermaßen ungebremste Entschlossenheit, sie zu unterwerfen und, im Fall der Juden, von der Erde zu tilgen, dann war der Nationalsozialismus selbst das ungebremste Übel. An einer solchen Programmatik konnte man nicht „nett“ teilhaben. Was also war Kittel? Für meine Begriffe war er ein Narr, wie nur ein intelligenter Mensch, nicht zuletzt auch ein Akademiker, ein Narr sein kann. Er übernahm ein utilitaristisches Rationale und argumentierte, dass seine Ansichten und Theorien von größerer Bedeutung waren als all das Unglück und Leid, das sie anderen zwangsläufig zufügten. Wenn Juden ihren Beruf nicht mehr ausüben durften, wenn ihnen die Bürgerrechte entzogen wurden, sie von ihren Arbeitsplätzen und aus ihren Häusern und Familien und Geburtsorten vertrieben wurden, wenn sie wegen solcher Auffassungen jegliche Bestimmungsgewalt über ihr Leben verloren, dann war das in seinem stolzen Gemüt die unausweichliche, wenn auch unglückliche Folge der Richtigkeit seiner Ansichten. Und auch in anderer Hinsicht war er ein Narr, wiederum die Art von Narrheit, für die begabte und intelligente Menschen besonders anfällig sind. Er überschätzte seine Bedeutung, so als ob sein persönlicher Einfluss die schlimmsten Folgen des Nationalsozialismus aufhalten und verzögern konnte. Wegen dieser besonderen Schwachstelle war Kittel meiner Einschätzung nach ein besonders gefährlicher Nazi, denn er setzte seine beachtliche Energie und seinen Einfluss ein, um den NS respektabel zu machen und auch glaubwürdig, sobald er erst einmal

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respektabel war. Kittel gab das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament heraus, setzte sich aber gleichzeitig für das Wesen, wenn nicht gar für die Exzesse des NS ein – und die gelungene Kombination solch widersprüchlicher Polaritäten in ihm führte zwangsläufig dazu, dass Menschen, die auf sein Wissen vertrauten, dem Nationalsozialismus offener und anerkennender gegenüberstanden. Und schließlich war Kittel aus christlicher Sicht ein Götzendiener, denn er stufte die nationalsozialistische Weltanschauung von Rasse, Blut und Nation höher ein als die Erlösungsbotschaft des Evangeliums. Wir können nicht wissen, wofür Kittel betete, wenn er im Vaterunser die Worte „Dein Reich komme“ sagte; sicher hingegen ist, dass er in Die Judenfrage nicht für das Reich des Vaters stritt, sondern für das Reich des Führers. Letztlich spielt es keine Rolle, womit Kittel seine Ansichten rechtfertigte. Die Heinrich Himmlers und Reinhard Heydrichs und Hermann Görings übernahmen nur zu gerne das Staffelholz, das ihnen von Männern wie ihm in die Hand gedrückt wurde, und verwandelten eine Vorstellung, die Kittel lediglich für „undurchführbar“ gehalten hatte, in ein unvorstellbar böses Ende.10

Martin Buber Am 13. Juni 1933 schickte Kittel ein Exemplar seines Buchs an Martin Buber, den berühmten jüdischen Gelehrten, der vier Jahre später sein bekanntestes Buch veröffentlichen sollte, Ich und Du. Wie viele deutsche Juden war Buber, der in Wien, Leipzig, Berlin und Zürich studiert hatte, umfassend an den deutschen Alltag und an die deutsche Kultur assimiliert. Er war Begründer und Herausgeber eines Periodikums für deutschsprachige Juden, Der Jude, und hatte, als Kittel ihm schrieb, an der Universität Frankfurt den ersten Lehrstuhl für jüdische Religionsphilosophie und Ethik in Deutschland inne. Außerdem arbeitete Buber an der heute als meisterlich anerkannten Übersetzung des hebräischen Alten Testaments ins Deutsche. In einem Begleitbrief an Buber drückte Kittel aus, wie „ernst ich gerade Ihre Lebensarbeit nehme und wie ich Sie und Ihresgleichen mir im tiefsten verbunden zu wissen glaube.“ Kittel räumte ein, dass er, Buber, sicher nicht mit allem einverstanden sei und manches als „feindselig“ empfinden werde, aber er hoffe, dass Buber

10 Für eine umfassende und fundierte Diskussion zu Gerhard Kittel siehe Ericksen: Theologians under Hitler. Gerhard Kittel/Paul Althaus/Emanuel Hirsch. New Haven: Yale University Press, 1985, 28–78. - Außerdem Leonore Siegele-Wenschkewitz: Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage: Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte. München: Christian Kaiser, 1980.

Martin Buber

seinem Hauptpunkt zustimmen würde: „Es lag mir daran, der ‚völkischen‘ Bewegung einen Weg zu zeigen, der dem Berechtigten an ihr Rechnung trägt, der aber zugleich dem Judentum wirklich als solchem gerecht wurde.“11 Kittel hoffte darauf, dass Buber die Redlichkeit 12 spüren würde, mit der er Die Judenfrage verfasst habe. Entscheidend ist Redlichkeit, es bedeutet „honesty“ oder „sincerity“. Kittel hatte sich eingeredet, dass Redlichkeit (sincerity) nicht nur wichtiger sei als Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern auch alle Ungerechtigkeit und Übel aufwiegen würde, die damit einhergingen. Dass Kittel sich tatsächlich einbildete, er könne Bubers Verständnis oder sogar dessen Zustimmung für die in Die Judenfrage ausgebreiteten Ansichten gewinnen, demonstriert die grenzenlose Torheit, der er erlegen war. Bubers Antwort, die 1933 als offener Brief in der August-Ausgabe der Theologischen Blätter erschien, war im Tonfall bemerkenswert liebenswürdig und gemessen. Buber sagte, er habe das ganze Buch „mit der besonderen Aufmerksamkeit gelesen“13 , insbesondere die Passagen, auf die Kittel ihn aufmerksam gemacht habe, und habe danach gesucht, „worüber in der Tat ein Einvernehmen bestehen oder entstehen kann.“14 Die Gesamtwirkung des antisemitischen Machwerks war jedoch so schlimm, dass Buber beim besten Willen nicht zustimmen konnte, dass Kittels Ansichten den Juden gerecht wurden: „[…] nicht gerecht finden“.15 Höflich wies Buber Stereotypen wie „der jüdische Arzt“, „der jüdische Anwalt“ oder „der jüdische Geschäftsmann“ zurück, die Kittel auf alle Juden projiziert hatte. Er verwarf das Ansinnen, jüdischen Schriftstellern zu verbieten, Deutsch zu schreiben und zu lehren, eine Sprache, die seit Jahrhunderten ihre Muttersprache war. Dass er seine Professur einzig und allein wegen seiner ethnischen Abkunft verlieren sollte, empfand er als Unrecht. Sollten deutsche Minderheiten andernorts der Welt, so fragte er, von ihren Gastländern auf den gleichen strafrechtlichen Status eines „fremden Gastes“ zurückgestuft werden? Vor allem jedoch seien die Fremden-Gesetze im Alten Testament, auf die Kittel sich berufe, nicht dazu erschaffen, Fremden zu schaden und sie zu verteufeln, wie die Nationalsozialisten es für die Juden planten. Abschließend zitierte Buber aus den Gesetzen des Alten Testaments – jenen Gesetzen, die Kittel zwecks Diskriminierung von Juden verdreht hatte – zugunsten einer menschlichen Behandlung der Juden: „Gleiches Gesetz und gleiches Recht gilt für euch und für die Fremden, die bei euch leben.“16 (Num 15,16; vgl. auch Lev 24,22) – „Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott über den Göttern und der Herr über dem

11 Gerhard Kittels Brief an Martin Buber ist überliefert in Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten Bd. II, 486–487. 12 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original. 13 Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten Bd. II, 487. 14 Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten Bd. II, 487. 15 Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten Bd. II, 487. 16 Siehe Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten Bd. II, 487–488.

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Herren. Er läßt kein Ansehen gelten und nimmt keine Bestechung an. Er verschafft Waisen und Witwen ihr Recht. Er liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen.“ (Deut 10,17-19)

Lohmeyer an Buber Als Lohmeyer in seinem schlesischen Sommerhaus in Glasegrund Bubers offenen Brief an Kittel las, reagierte er sofort. Glasegrund bei Habelschwerdt, 19.8.1933 Sehr verehrter Herr Kollege, Ich las soeben Ihren offenen Brief an Gerhard Kittel, und es drängt mich Ihnen zu sagen, daß mir jedes Ihrer Worte wie aus meinem Herzen gesprochen ist. Aber was mich drängt, ist nicht nur dieses Gefühl geistiger Verbundenheit, wenngleich das in diesen Tagen um seiner Seltenheit willen mich begleitet, sondern es ist, um es offen zu sagen, etwas wie Scham, daß theologische Kollegen so denken und schreiben können, wie sie es tun, daß die evangelische Kirche so schweigen kann, wie sie es tut, und wie ein führerloses Schiff von dem politischen Sturmwind einer doch flüchtigen Gegenwart sich aus ihrem Kurse treiben läßt; und dieser Brief soll Ihnen nur ein Zeichen sein, daß nicht alle in den theologischen Fakultäten, auch nicht alle Neutestamentler, Kittels Meinungen teilen. Ich möchte freilich nicht den Eindruck erwecken, als nähme ich die Frage, von der Sie schreiben, nicht bitter ernst. Aber es wäre schon vieles gewonnen, wenn man nur klar erkennen wollte, wo und wie sie zu stellen ist. Nicht von Mensch zu Mensch, auch nicht unter Gesichtspunkten des Staates, des Volkes, der Rasse oder welche fürchterlichen Schlagworte jetzt immer ihr Wesen treiben oder besser ihr Unwesen – es gibt da keine Möglichkeit, zu fragen oder auch zu antworten, weil jede gesicherte Voraussetzung fehlt und jede Diskussion in These und Antithese, in Pathos und Sentiment abgleiten muß. Und allem, was auf diesen Gebieten an Bedrückendem sich ereignet, ist nicht durch Worte, sondern nur durch Hilfe zu begegnen. Es bleibt die Frage des Glaubens—die ebenso enge Verbundenheit und Gebundenheit an das eine Buch und die ebenso deutliche Geschiedenheit. Und es scheint, als sei es dem deutschen Christentum besonders schwer, diese Doppelheit der Beziehungen zu tragen und zu begreifen. Es bedürfte einer weitreichenden Klärung all der geschichtlichen und sachlichen Voraussetzungen, auf denen dieses zweifache Verhältnis ruht; ich kann sie jetzt nicht geben und brauche sie Ihnen nicht sagen. Ich hoffe, dass Sie mit mir darin übereinstimmen werden, dass der christliche Glaube nur so lange christlich ist, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt; ich weiss nicht, ob Sie auch der Umkehrung beistimmen werden, dass

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auch der jüdische Glaube nur so lange jüdisch ist, als er den christlichen in sich zu hegen vermag. Das soll zunächst nichts weiter sagen, als daß diese Frage von Judentum und Christentum nicht wie zwischen Part und Widerpart hin- und hergeworfen werden kann, sondern daß es eine innere, den eigenen Ernst und die eigene Wahrheit erschütternde Frage des Glaubens ist. Ich wüßte für einen christlichen Theologen fast nichts wo das ‚Tua res agitur‘ ihn so gefangennehmen sollte, wie diese Frage des Judentums. Und es ist für mich eine bittere Erfahrung, daß in unserer christlichen wie theologischen Öffentlichkeit man so leichthin politischen oder sonstwie gefärbten Schlagworten zuneigt, wie es etwa in Kittels Begriff vom ‚Gehorsam gegen die Fremdlingschaft‘ geschieht, der einer politischen Maßnahme ein religiöses Mäntelchen, fadenscheinig und voller Löcher, umhängt. Und noch bitterer ist es, daß, wenn die ‚Diffamierung‘ politisch und sozial durchgeführt wird, daß dann kein Theologe und keine Kirche nach dem Beispiel ihres Meisters zu den Verfemten spricht: Mein Bruder bist Du, sondern von ihnen fordert, statt ihnen zu helfen. Aber alles Geschehene ist ja nur zu begreifen, wenn man sich immer wieder sagt, daß wir kaum jemals so weit vom christlichen Glauben entfernt waren wie eben jetzt, und es bleibt uns nur die leise Hoffnung auf eine Erneuerung des Christentums, wie Sie sie für die Erneuerung des Judentums hegen. Dann erst scheint mir auch der Boden recht bereitet zu sein, um die jedem im anderen entstehende Frage fruchtbar zu lösen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren offenen Brief und bin mit aufrichtigem kollegialem Gruß, und wenn ich Ihnen auch nicht persönlich bekannt bin, dennoch in alter und nun wieder neuer Verbundenheit.17

NS-Antisemitismus im Jahr 1933 Lohmeyers Brief gehörte zu den frühesten und entschlossensten Protesten gegen den NS-Antisemitismus, die in Deutschland zu hören waren. Es war auch ein leuchtendes Zeichen für die unauflösliche Beziehung zwischen Judentum und Christentum. Der ‚Arierparagraf ‘, mit dem die Nationalsozialisten Nichtarier aus dem öffentlichen Dienst ausschlossen (auch in der Kirche), war erst zwei Monate zuvor inkraftgetreten. Schon im Sommer 1933, also sechs Monate nach Hitlers Machtantritt und vor der Gründung des Pfarrernotbundes oder des Marburger Gutachtens zur „Rassenfrage“ oder der Organisation der Bekennenden Kirche, hatte Lohmeyer mit prophetischer Stimme zur Verteidigung Martin Bubers und gegen die götzendienerische Perversion des Christentums gesprochen. Was könnte der Grund für Lohmeyers Solidarität mit Juden sein? Es darf nicht vergessen werden, dass 1930 weniger als zwei Prozent der deutschen Bevölkerung jüdisch waren. Es war also durchaus möglich, dass Deutsche tagein tagaus ohne

17 Ernst Lohmeyer, in: Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten Bd. II, 499–501.

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nennenswerten Kontakt mit Juden verbrachten, manchmal ihr ganzes Leben lang. Lohmeyer hatte mehr Kontakt zu deutschen Juden als der Durchschnittsdeutsche, denn in Vlotho, wo sein Vater Pastor war, gab es eine Synagoge. Geschäfte und Bekanntschaften zwischen Juden und Nichtjuden in Vlotho waren gar nicht zu vermeiden. Und mehr noch, Lohmeyers Kreis von jüdischen Kollegen in Breslau wurde größer und vertiefte seine Beziehungen zu Juden. Lohmeyers Brief an Buber beruhte also auf mehr als auf einer persönlichen Beziehung zu Juden, so wichtig diese auch war. Sie basierte auf einem theologischen Verständnis dessen, was in der Heiligen Schrift verwurzelt war. Andere neutestamentliche Wissenschaftler und Theologen hätten natürlich die gleiche Schriftgelehrtheit für sich reklamieren können. Aber wegen der klimatischen Veränderungen durch den Nationalsozialismus gingen die meisten auf Distanz zur sogenannten „Judenfrage“, und einige wurden zu regelrechten Apologeten des Antisemitismus. Dass Kittel das „Deutschtum“ über das christliche Bekenntnis erhebt, ist das beste Beispiel. Anders dagegen Lohmeyer, der nicht die Führung Hitlers mit der Führung durch den Guten Hirten verwechselt. Die Offenbarung Gottes im Alten und Neuen Testament lieferte die eigentliche und rettende Wahrheit zur „Judenfrage“, und für Lohmeyer war sie die entscheidende, die letztgültige Wahrheit. Als Lohmeyer den Brief Buber verfasste, hatte er bereits die vulgäre und gewalttätige Seite des NS-Antisemitismus erlebt. Die Cohn-Affäre (siehe vorangehendes Kapitel) war ein böses Omen für die Zukunft. Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht gelangte, waren solche Aktionen schon bald nicht mehr kriminell, sondern gesetzlich legitimiert. Der Reichstagsbrand im Februar 1933, einen Monat nach Hitlers Machtantritt, führte zu einer Welle von Verhaftungen und Terror gegen Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten in ganz Deutschland. Am 1. April, zwölf Wochen nach dem Machtantritt, begann der Boykott gegen jüdische Geschäfte. Die Reaktion der Kirche auf diese frühen antisemitischen Ausbrüche war leider verhalten. Von Deutschen Christen, die die Mehrheit der protestantischen Kirche stellten und Antisemitismus prinzipiell unterstützten, war natürlich kein Protest zu hören. Auch die Stimme der katholischen Kirche blieb stumm, wenngleich aus anderen Gründen. Im Juli 1933, einen Monat vor der Veröffentlichung von Bubers offenem Brief an Kittel, unterzeichnete der Vatikan ein Konkordat mit dem Dritten Reich. Das Konkordat garantierte den Katholiken die Nichteinmischung in ihre Angelegenheiten von staatlicher Seite, einschließlich der Freistellung der katholischen Jugend vom Beitritt zur Hitlerjugend. Umgekehrt garantierten Kirche und Vatikan, sich in die nationalsozialistische Regierungstätigkeit in Deutschland nicht einzumischen. Selbstverständlich gab es zahlreiche Katholiken, die gegen den NS je einzeln tapfer und aufopferungsvoll Widerstand leisteten, aber das Reichskonkordat hat die Opposition der katholischen Kirche als organisiertes Ganzes faktisch ausgeschaltet. Ein „Konkord“ bedeutet definitionsgemäß der „Einklang im Herzen“.

„Du bist mein Bruder“

Und es war nie sonderlich klug, am allerwenigsten für die Kirche, das eigene Herz im Einklang mit Hitler zu wissen. Der verbleibende Zweig kirchlichen Widerstands gegen den NS-Antisemitismus waren die gegen die Deutschen Christen opponierenden Protestanten. Als Lohmeyer an Buber schrieb, hatten sie sich noch nicht zusammengeschlossen, obwohl innerhalb eines Jahres die Barmer Theologische Erklärung erschienen und die Bekennende Kirche formiert worden war. Man hätte darauf hoffen können, dass die Bekennende Kirche ihren Protest gegen den Arierparagrafen zu einer pauschalen Verdammung des NS-Antisemitismus ausweiten würde. Das war traurigerweise nicht der Fall. Sogar die Haudegen der Bekennenden Kirche wie Martin Niemöller, Karl Barth und Otto Dibelius entschieden sich dafür, zur „Judenfrage“ zu schweigen. Angesichts der damaligen Umstände war das nicht verwunderlich. Aus strategischer Perspektive mag es sogar ratsam gewesen sein, denn es begrenzte die Fronten, an denen die Bekennende Kirche gegen den Nationalsozialismus kämpfen musste. Gleichwohl blieb die Bekennende Kirche mit dem Notbehelf des Schweigens ohne Protest gegen das teuflischste Element des NS zurück. Und dies führte zu Gewissensnöten in der Kirche. Als die EKD nach dem Ende des Krieges im Oktober 1945 ihre moralische Bilanzierung durchführte, legte sie das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ ab, mit dem sie sich zu ihrem Versagen bekannte, ohne allerdings den Holocaust zu erwähnen; bis zur Einleitung des ernsthaften „christlich-jüdischen Dialogs“ im Jahr 1961 sollten allerdings noch gut anderthalb Jahrzehnte vergehen.

„Du bist mein Bruder“ In diesem Kontext steht Lohmeyers Brief an Buber, dessen wichtigster Aspekt die unmissverständliche Artikulation seiner Gegnerschaft zum Antisemitismus war. Lohmeyer stand mit Buber als einem Opfer zusammen, er erhob seine nichtjüdische deutsche Stimme für das Opfer. Genauso wichtig ist, dass er das Arglistige an der Position Kittels entlarvte. Lohmeyer war ein Mann der Zurückhaltung, jemand, der Ruhe bewahren konnte, ein Vorbild der christlichen und kantischen Ethik in praktisch jeder Hinsicht. Kittels Angriff auf Buber löste jedoch gerechte Empörung in ihm aus. Zweimal wurde Kittel im Brief persönlich genannt. Er beschuldigte ihn – den „theologischen Kollegen“ und „Neutestamentler“ – Parolen wiederzukäuen und zu versuchen, die nationalsozialistische Barbarei theologisch zu rechtfertigen. Lohmeyers wichtigster Vorwurf war jedoch, dass Kittel versuche, Jesus Christus zu betrügen, da „kein Theologe und keine Kirche nach dem Beispiel ihres Meisters zu den Verfemten spricht.“ Lohmeyers Frontalangriff beweist nicht nur seine Gegnerschaft zu Kittels Antisemitismus, sondern auch die Gefahr, die er darin erkannte.

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Antisemitismus in der Theologie

Lohmeyer war kein Jude, aber Kittels Einfluss ließ ihn trotzdem nicht kalt. Zu dem Zeitpunkt konnte Kittel sich auf einen größeren wissenschaftlichen Stellenwert berufen als Lohmeyer, und er hätte ihn gegen Lohmeyer ins Feld führen können. Bei der Herausgabe des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament warb Kittel Beiträge von Deutschlands führenden Wissenschaftlern des Neuen Testaments ein. Mit seinen Kommentaren und wissenschaftlichen Artikeln zählte Lohmeyer zu den besten neutestamentlichen Gelehrten seiner Zeit. Um die fünfzig deutsche Wissenschaftler des Neuen Testaments steuerten Artikel zu Hunderten Griechisch-Wörtern des Neuen Testaments für die vier Bände des ThWNT bei, die Kittel zu Lebzeiten Lohmeyers herausgab. Es ist die vielleicht bemerkenswerteste Beobachtung zu den Beiträgen der ersten vier Bände, dass Ernst Lohmeyer unter den bedeutendsten deutschen Wissenschaftler derjenige war, der nicht dazugehörte. Unwahrscheinlich, dass Kittel ihn einfach nur übersehen hatte. Zwei weitere Aspekte von Lohmeyers Brief verdienen Beachtung. Der erste ist seine Bandbreite. Lohmeyers Parteinahme für Buber war nicht nur deshalb epochal, weil er den Widerpart zum Schweigen der Kirche auf den Antisemitismus der frühen Nazi-Jahre bildete, sondern auch, weil er die umfassendere Frage nach der Beziehung des Judaismus zum Christentum anschnitt. Das Verständnis der Beziehung zwischen den beiden Religionen, das er in die Waagschale warf, war einzigartig, und zwar im Sinne einer Entwicklung und nicht als Gegensatz. An Buber erging die freundliche Anfrage, ob der sich nicht zum gleichen Verständnis durchringen könne: „Ich hoffe, dass Sie mit mir darin übereinstimmen werden, dass der christliche Glaube nur so lange christlich ist, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt; ich weiss nicht, ob Sie auch der Umkehrung beistimmen werden, dass auch der jüdische Glaube nur so lange jüdisch ist, als er den christlichen in sich zu hegen vermag.“18 Im Christentum wird die Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Judentum und Christentum normalerweise in der Terminologie des Gegensatzes angelegt. In diesem Konstrukt lehren das Alte Testament und Judentum die „Gesetze“, also Werk, Gehorsam, Richtersprüche; das Neue Testament und Christentum hingegen lehren das „Evangelium“, also Glaube, Freiheit und Liebe und Gnade Gottes. Die Dichotomie von Gesetz vs. Evangelium ist teilweise zutreffend, aber eben nur teilweise, denn auch das Alte Testament und das Judentum kennen die Liebe und Gnade Gottes, genau wie das Neue Testament und das Christentum sich umgekehrt auf Werk und Gehorsam berufen. In der Dichotomie werden allzu leicht Gesetz und Evangelium gegeneinander ausgespielt. Sie ermutigt zu der Unterstellung einer christlichen Privilegierung und Überlegenheit – und damit auch zur Behauptung einer christlichen Vormachtstellung und zu Stolz. In den

18 S. Anm. 17.

„Du bist mein Bruder“

Händen der deutschen Nationalsozialisten war die Dichotomie von Gesetz vs. Evangelium wie feuchte Tonerde. Lohmeyer ließ die Dichotomie hinter sich, er stellte Judaismus und Christentum in ein komplementäres Verhältnis zueinander und dachte die Beziehung eher als Kontinuum von Verheißung und Erfüllung denn als konfliktbehaftet. Sein Gedanke erinnert an die berühmte Darstellung des Augustinus, dass das Neue Testament im Alten schon angelegt ist und das Alte Testament im Neuen offenbart wird. Der Apostel Paulus wurde in der Regel so gedeutet, dass das Evangelium dem Gesetz und daher auch das Christentum dem Judentum überlegen sei. Aber in seinem Werk Grundlagen paulinischer Theologie19 von 1929 deutete Lohmeyer das paulinische Verständnis vielmehr als eines der Entwicklung statt als Antithese, als Verlängerung 20 („extension“) oder „Erneuerung“ dessen, was in der göttlichen Absicht vom Judentum zum Christentum liegt. Israel bedeutet nicht das Scheitern der göttlichen Absicht; es ist ein prägender Kern im Herzen des Christentums, und das Christentum ist nicht die Zersetzung des Judentums, sondern, nach Lohmeyers Verständnis, dessen notwendiger und essenzieller Reifepunkt. In seinem Markuskommentar von 1937 veranschaulicht Lohmeyer dasselbe Verständnis auch mit der messianischen Hoffnung. Im Flussdiagramm der Heilsgeschichte gab es eine untrennbare Entwicklung zwischen Jesajas „Gottesknecht“ und Jesus als „Menschensohn“. Jesus Christus war die Erfüllung des prophetischen Versprechens in Jesaja. Sowohl Versprechen als auch Erfüllung, sowohl Urform als auch Realisierung konstituieren eine Offenbarung Gottes im Alten und im Neuen Testament.21 Nun zum zweiten bemerkenswerten Aspekt des Briefes – Lohmeyer spricht Buber als „Bruder“ an. Wir wissen von keiner anderen christlichen Führungspersönlichkeit, von keinem anderen Theologen oder Bibelwissenschaftler, der damals zu einem Juden sagte: „Du bist mein Bruder.“ Noch sieben Jahre sollte es dauern, bis Dietrich Bonhoeffer Juden als Brüder bezeichnete. Erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde der jüdisch-christliche Dialog, in hohem Maße ausgelöst durch den furchtbaren Holocaust, als geschwisterliche Beziehung zwischen Judentum und Christentum vorstellbar. Als Papst Johannes Paul II. im Jahr 1987 die Synagoge in Rom besuchte – es war der erste Papst-Besuch in der Geschichte –, wurden Juden in einer päpstlichen Verlautbarung als „Brüder“ bezeichnet. „Bruder“ steht für eine genetische Beziehung zwischen Judentum und Christentum. „Bruder“ ist auch das neutestamentliche Wort für „Nachbar“ oder „Nächster“ im Alten Testament, das für eine von Jesus Christus gestiftete Beziehung steht und es Lohmeyer daher unmöglich macht, Buber als Bruder im Stich zu lassen. Buber

19 Ernst Lohmeyer: Grundlagen paulinischer Theologie. 20 Deutsch und kursiv im Original. 21 Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, 6.

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Antisemitismus in der Theologie

war zwölf Jahre älter als Lohmeyer. Die deutsche Grammatik zwingt Lohmeyer zu einer förmlichen Anrede: „Mein Bruder sind Sie.“ 22 Doch stattdessen wählte Lohmeyer eine vertraulich klingende Anrede: „Mein Bruder bist Du.“ Mit dieser Entscheidung folgte Lohmeyer Bubers Leitbild in dessen Werk, das als theologischer und philosophischer Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts gilt: Ich und Du. der englische Titel lautet I and Thou. Buber vertrat die Ansicht, dass zwei Arten von Beziehungen in der Welt sind: „Ich-Es-Beziehungen“ und „Ich-Du-Beziehungen“. Erstere sind Beziehungen zwischen Sachen – quantifizierbar, wägbar, greifbar. Solche Ich-Es-Beziehungen sind natürlich notwendig, wenngleich nicht erfüllend und nicht menschlich. Ich-Du-Beziehungen sind persönlich, sie verleihen dem Leben Sinn und Zweck. Eine Ich-Es-Beziehung ist „,Inhalt‘“, doch eine Ich-Du-Beziehung ist persönliche „Gegenwart und Kraft“.23 Der Brief, den Lohmeyer an Buber schrieb, ist ein Ich-Du-Brief. Indem er Buber als Du anspricht, schließt Lohmeyer, der praktisch Fremde, sich ihm als stärkende Gegenwart an. Die Nationalsozialisten stigmatisierten Buber als „Fremden“; der Christ ehrte ihn als „Bruder“. Buber hat Lohmeyers Solidarität nie vergessen. Als Lohmeyers Sohn Hartmut ihn, Buber, im November 1946 in Israel besuchte, wohin er 1938 emigriert war, erzählte Buber ihm: „Später, als die Situation sich schon recht verschärft hatte, besuchte er [Lohmeyer] mich in meinem Wohnort Heppenheim, […] und sagte im Hotel, in dem er abstieg: Ich bin hergekommen, um Herrn Professor Buber zu besuchen.“24 Das Kuriose an dieser familiengeschichtlichen Perle ist die Tatsache, dass Gudrun, die die Geschichte von ihrem älteren Bruder Hartmut erfuhr, nie sagte, ob Lohmeyer tatsächlich mit Buber zusammengetroffen ist oder nicht. Wir vermuten – und hoffen –, dass er es tat. Erlasse der Nationalsozialisten haben dies möglicherweise verhindert. Die einfache Geste des Herkommens blieb für Buber dennoch eine persönliche „Gegenwart als Kraft“. Im Nationalsozialismus war Martin Buber nurmehr ein Es, seiner Staatsbürgerschaft beraubt und wegen seiner Religion verteufelt. Lohmeyer kam hin zu Buber und verkündete dessen Namen und den Titel, und indem er dies tat, behandelte er ihn als Du.

Die Benediktiner-Mönche von Beuron Zu Beginn dieses Kapitels habe ich vom Schrank mit verbotener Literatur am Theologicum der Universität Tübingen erzählt. Ich habe ihn mit einem Fenster in

22 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original. 23 Buber: Ich und Du, 105. 24 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 359.

Die Benediktiner-Mönche von Beuron

die Vergangenheit verglichen, vielleicht einem Geheimgang. Wie alle Geheimgänge hat auch dieser mich an Orte geführt, mit denen ich niemals gerechnet hätte, nicht nur in die Vergangenheit. Er brachte mich an unerwartete Orte in der Gegenwart, in ein Kloster, wo die Dunkelheit des Schranks zu einer Vorahnung von Licht führte. Als ich 1987 und 1988 in Tübingen studierte, gab es dort so viele Studenten, dass ich außerhalb der Stadt nach einer Unterkunft für meine Familie und mich suchen musste. Wir fanden ein Haus bei Ravensburg. Ravensburg war so weit von Tübingen entfernt, dass ich die Nacht gelegentlich in Tübingen verbrachte statt heimzufahren. In diesen Fällen blieb ich oft bei Frau Rapp, der Mutter des Mannes, der uns das Haus bei Ravensburg vermietet hatte. Ihr verstorbener Ehemann, Rev. Paul Rapp, war im Zweiten Weltkrieg Pastor in Tübingen gewesen. Oft blieben Frau Rapp und ich noch lange nach dem Frühstück sitzen und sprachen miteinander, und immer habe ich von ihrem reichen Wissen über Tübingen profitiert. Einmal erwähnte ich, dass ich antisemitische Literatur im Theologicum gelesen hatte. Sie erwiderte fast schon beiläufig, dass Gerhard Kittel ein Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen sei, genau wie Martin Buber. Und als die beiden ihn zu Hause besuchten, hätten sie tatsächlich auf demselben Stuhl gesessen, auf dem ich gerade saß. „Wie ging es mit Kittel eigentlich weiter?“, fragte ich. Frau Rapp berichtete, dass Kittel von den Franzosen, die Tübingen im Mai 1945 besetzt hatten, als NSKollaborateur festgenommen und nach anderthalb Jahren Haft wieder entlassen worden war. Die Pension als Professor wurde ihm aberkannt, die Rückkehr nach Tübingen untersagt. Kittel war obdachlos und ohne einen Pfennig Geld. Glücklicherweise nahmen die Benediktinermönche in Beuron ihn für die letzte Saison seines Lebens auf. In Beuron begann Kittel mit dem fünften Band des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament und arbeitete daran, bis er 1948 starb. Einige Zeit später fuhren meine Frau und ich am Oberlauf der Donau entlang, wo Beuron lag. Bei dem wunderschönen Benediktinerkloster hielten wir an. Ich fragte den Mönch, der für den Empfang von Besuchern zuständig war, ob er mir Auskunft geben könne, wo Kittel während seiner Anwesenheit im Kloster gelebt habe. Der Mönch schaute mich verwirrt an. „Meinen Sie den Kittel vom berühmten ThWNT?“ „Ja“, erwiderte ich, „Gerhard Kittel.“ „Kittel war nie hier“, sagte der Mönch, „wie kommen Sie darauf?“ Ich verriet lieber nicht, dass eine alte Dame es mir erzählt hatte. Ich wusste längst, dass ich auf Frau Rapps Angaben vertrauen konnte, so unwahrscheinlich es in dem Moment auch schien. Der diensthabende Mönch mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein und daher zu jung für eine Anwesenheit in Beuron, als Kittel sich angeblich dort aufgehalten hatte. „Wohnt hier vielleicht noch ein Mönch, der schon 1945 im Kloster gelebt hat?“, hakte ich nach. „Falls ja, wäre es eventuell möglich, dass Sie ihn anrufen und nach Kittel fragen?“ Mir war klar, dass ich das Wohlwollen und

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die Geduld des Mannes strapazierte, aber ich blieb hartnäckig und so freundlich wie nur irgend möglich. Glücklicherweise siegte die benediktinische Nachsicht des Mönchs über seine Verärgerung, und er wählte eine Nummer. Brav wiederholte er meine Frage für den Mann am anderen Ende der Leitung. Daraufhin wurde ziemlich lange geschwiegen, durchbrochen von vereinzelten Ausrufen. „Wirklich? … Ist das so? … Kaum zu glauben!“ Der Mönch legte auf und drehte sich zu mir. „Bruder Soundso erinnert sich an Kittel“, sagte er freundlich, „er meinte, Sie seien der Erste, der sich nach ihm erkundigt. Der Bruder ist zu alt, um Sie persönlich zu empfangen, aber es ist genauso, wie Sie gesagt haben. Kittel hat sich über ein Jahr lang hier aufgehalten. Er hat am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament gearbeitet. Schließlich wurde ihm die Rückkehr nach Tübingen gestattet, wo er starb.“ „Warum hat Beuron einen Mann wie Kittel aufgenommen?“, wollte ich wissen. „Die Ordensregeln schreiben uns Benediktinern vor, alle Gäste zu so empfangen, als wäre es Christus“, erwiderte der Mönch. „Nach dem Krieg gab es viele Menschen, die wie Kittel nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten. Wir nahmen sie auf.“ Das Leben von Kittel, Buber und Lohmeyer endete mit einer Ironie des Schicksals, die providenzielle Ausmaße hatte. Kittels letzte Jahre verliefen besonders dramatisch. Wie König David, der den heiligen Zorn auf die Sünder herabgerufen hatte, nur damit der Prophet Natan ihm zurief: „Du selbst bist der Mann“ (2 Sam 12,7), und wie Haman, der selbst an dem Galgen hing, den er für Juden aufgestellt hatte (Ester 7), starb Gerhard Kittel, der einflussreiche Universitätsprofessor, in dem Status, den er für Martin Buber vorgesehen hatte – als Fremdling in Deutschland! Martin Buber hingegen starb nicht in dem Stand, den Kittel für ihn ersonnen hatte. Buber starb als angesehener Bürger des neuen jüdischen Staates Israel. Und Ernst Lohmeyer? Sein Schicksal nahm einen Lauf, der nicht ungewöhnlich ist für Menschen, die sich der Wahrheit und Gerechtigkeit verschrieben haben.

Kapitel 10. Kampf in Breslau

„Herrn Lohmeyers antinationalsozialistisches Verhalten und seine antinationalsozialistische Gesinnung ist eine offenkundige Tatsache.“1 Dr. Gustav Walz, Rektor der Universität Breslau, 1934

Predigen in Breslau Während seiner Jahre in Breslau hielt Lohmeyer regelmäßig Gottesdienste ab. Die Hochschule in Breslau war eine jesuitische Gründung, deshalb predigte er nicht in ihrer prachtvollen Barockkapelle, sondern in der protestantischen St. Christopherikirche ein paar Straßen weiter. In seiner Ordinationspredigt von 1912 hatte er vier Punkte aufgezählt, die für einen Christen oder zumindest für ihn als Pastor wichtig waren. Zum Schluss hatte es geheißen, dass der einem Pastor abverlangte Lebenswandel bis auf winzige Verschiebungen dem gleiche, was allen Jüngern Jesu Christi abverlangt werde: „Alles Leben drängt nach Tat.“ Rückzug und Passivität kämen für Christen nicht infrage. „Nur auf persönlichem Wege können wir den Menschen das Leben bringen, wie es uns einst selbst nur auf persönlichem Wege nahte. […] Ein Leben in Gott und in seiner Liebe, und ein Leben unter den Menschen und in der Arbeit an ihnen, beides unlöslich ineinander verschlungen, das ist die täglich neue Gabe und Aufgabe unseres ‚Berufes.‘“2 Das Evangelium solle nicht nur durch die Worte des Pastors verkündet werden, sondern auch durch dessen Taten. In Breslau praktizierte Lohmeyer einen solchen Predigtdienst, dazu gehörten auch die Herbst- und Frühjahrssynoden. Er konzentrierte sich auf einen Bibeltext, oft auf nur einen einzigen Vers, und bezog die Zuhörer mit rhetorischen Fragen ein. Seine Ideen entwickelte er mit Alliterationen, Homophonien und kontrastreichen Gegenüberstellungen. Die Predigten waren sorgfältig und kunstvoll strukturiert, aber nicht affektiert. Die Botschaft war leidenschaftlich und zielgerichtet, aber nicht melodramatisch. Seine Art zu predigen holte die Zuhörer in ihrem Alltagsleben ab und rief sie zu Taten des Vertrauens und der Hoffnung auf. Deutsche Wissen-

1 Dr. Gustav Walz, Rektor der Universität Breslau. Brief an den deutschen Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 1934. - Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 69, 1990, 164. 2 Ernst Lohmeyers Predigt ist wiedergegeben in: Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 26–35. Hier 33 und 35.

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Kampf in Breslau

schaftler waren stark im logos, in rationalem Denken, doch Lohmeyer war ebenso stark im Ethos. Er strahlte Glaubwürdigkeit und Vertrauen aus, nicht nur gegenüber Professoren-Kollegen, sondern auch gegenüber den Studenten, die bei ihm hörten. Seine Hörerschaft war Zeuge des Niedergangs und Zusammenbruchs der Weimarer Republik, der Ausweidung der deutschen Wirtschaft zunächst durch den Versailler Reparationsvertrag und später durch die Finanzkrise von 1929, und sie war Zeuge der unaufhaltsam steigenden NS-Flut. Insbesondere seine jüngeren Zuhörer müssen sich angesichts der Ereignisse an der großen und unpersönlichen deutschen Universität sehr einsam gefühlt haben. Wenn wir Lohmeyers Predigten mit solchen Ohren hören, können wir ihn als Seelsorger wahrnehmen. In den Predigten schwingt die Überzeugung mit, dass Gott wisse, was sich in Deutschland abspielt, und er versicherte der Zuhörerschaft, dass das Versprechen Gottes weiterhin gilt: „Ich bin mit euch.“ Lohmeyer hielt keine politischen Predigten. In den frühen 1930ern wären direkte und abfällige Bezugnahmen auf den NS sicher nicht geduldet worden. Es hätte durchaus sein können, dass der Prediger nicht unbeschadet nach Hause kommt oder dass sein Haus abgefackelt wird, falls er es doch schafft. Trotzdem hielt Lohmeyer während dieses unheilvollen Wachwechsels von der Weimarer Republik zum NS-Regime an seinen Predigten fest. Bei der Vorbereitung und im Gottesdienst blendete Lohmeyer die Begleitumstände nur selten aus, gehörten sie doch zu den Faktoren der Predigtaufnahme und -wirkung. Sein Text für den Februar 1931 war die Versuchung Jesu in Matthäus 4. Er begann damit, die Gedanken seiner Zuhörer zu lesen. „Jesus lehrt beten: Führe uns nicht in Versuchung, und hat von diesem ‚uns‘ niemanden – nicht einmal sich selbst – ausgenommen. Versuchungen sind da und bleiben, solange Menschen wissen und wählen, was sie tun; keiner bleibt verschont, und keiner darf je verschont bleiben: Er hätte sonst aufgehört, lebendig zu raten und zu taten.“3 Natürlich will niemand in Versuchung geführt werden. Hat Jesus nicht seine Jünger gelehrt zu beten, „führe uns nicht in Versuchung“? (Mt 6,13) Hat das Neue Testament nicht seinen Lesern versichert, dass Gott nicht versucht werden könne? (Joh 1,13) In dieser Hinsicht ist unser Wunsch, wie Gott zu sein, nur natürlich. Aber wir sind nicht wie Gott. Wir sind Geschöpfe, fehlbar und in Versuchung geführt. Wir beklagen die Realität, in der wir leben. Lohmeyer ermutigte seine Hörerschaft, sich dieser Versuchung zu stellen, statt sie zu beklagen. „Liebe Freunde, scheuen wir uns nicht vor der Frage: Würden nicht Not und Grauen aufhören, würden nicht Friede und Eintracht unter der Menschheit wohnen, die nie so zersplittert und zerrissen war, wie sie es heute ist?“4 Dieses selige Verlangen, so warnte Lohmeyer,

3 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 113. 4 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 116.

Predigen in Breslau

sei sogar die gefährlichste aller Versuchungen. „Alles grenzenlose Sehnen ist im tiefen Sinne wider Gott gerichtet.“5 Warum? Weil solche Sehnsucht sich nach einer Wirklichkeit sehnt, die selbst gemacht ist, statt von Gott gemacht zu sein. Nein, noch schlimmer: Darin steckt vielmehr die Sehnsucht nach vorteilhaften Umständen als nach Gott selbst. „Gott ist nicht das Traumbild des Phantasten, und nichts Phantastisches ist in ihm; von Gott reden heißt von der strengen Gebundenheit unseres Lebens auch an alle seine Notdurft reden.“6 Wer Jesus verbunden ist, weiß, was es heißt, Gottes Licht in die Welt der Finsternis zu tragen. Hier stellte Lohmeyer eine entscheidende Verbindung zu seinen Hörern her: Ihre Versuchungen und sogar ihre Ängste sind der Beleg für das Licht des göttlichen Geistes in ihnen. In dieser Hinsicht teilen sie das Schicksal Jesu – und auch den Segen. Gott in seiner Gnade sendet denen, die an ihn glauben, dienende Engel, wie er auch seinem Sohn Jesus dienende Engel sandte.7 Als Lohmeyer 1931 diesen Gottesdienst hielt, hatte der Nationalsozialismus sich in Deutschland noch nicht durchgesetzt und wurde auch nicht erwähnt, weder in dieser noch in anderen Predigten. Lohmeyers Voraussicht und seine Warnung hätten trotzdem nicht deutlicher ausfallen können. Der Weg Christi lag nicht in der Flucht vor dem Kampf, der Deutschland in Beschlag genommen hatte, und auch nicht darin, sich dem Mythos eines nationalen Erlösers zu ergeben. Er lag in der „Bindung“ eines jeden an die Offenbarung des Lichts Gottes in dieser Welt im Kreuz von Jesus Christus. Lohmeyer hatte keinen Zweifel daran, wo sich der Lebensnerv der nationalsozialistischen Agenda befand, und ebenso wenig zweifelte er an dem Auftrag des Evangeliums bezüglich dieser Agenda. Besonders gefährlich war der Verfolgungswahn. Von Anfang an versuchte der Nationalsozialismus, den nationalen Blick nach innen zu kehren, in Richtung des deutschen Volks.8 Die innere Emigration und das Absinken in das Volk führte Deutschland unausweichlich in die Isolation und zur Fremdenfeindlichkeit. Alles außerhalb dieses geheiligten inneren Kreises wurde zum Feind – „Außenseiter“, „Fremde“ und „internationale Interessen“. Schon 1925 hatte Lohmeyer in einer Predigt zu Mt 18,13 davor gewarnt, sich in einen Nationalismus zu flüchten, der sich als ethnisches Kollektiv definiert: Wir hören jetzt so viel von Pflicht des Einzelnen, Gemeinschaft zu halten mit allen, die ihm durch Blut oder Abstammung, durch Lebensfügung oder -führung nahe sind. Und diese Pflicht ist unumstößlich; aber alle diese Formen der Gemeinschaft reichen nicht in

5 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 117. 6 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 116. 7 Über die Versuchung. Eine Predigt von Lohmeyer zu Mt 4,1-11, 22. Februar 1931, in: Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 112–117. 8 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original.

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den Grund, auf dem der Glaube seine Gemeinschaft gründet. Denn in ihm hat und hält der Einzelne nicht Gemeinschaft, sondern er ist die Gemeinschaft. Er ist sie eben so sehr, wie er Gemeinschaft mit Gott ist; und das ist der Sinn jenes Doppelgebotes Jesu: Du sollst Gott lieben und Deinen Nächsten wie Dich selbst.9

Als Deutschland sich abschottete und den Rückzug in die nationale Isolation antrat, machten einzelne Deutsche auch Erfahrungen mit persönlicher Isolation, besonders wenn Herz und Sinn sich nicht im vollständigen Einklang mit dem Nationalsozialismus befanden. Gegen Ende seiner Amtszeit in Breslau im April 1934 thematisierte Lohmeyer diese unausgesprochene Befürchtung. Seit achtzehn Monaten waren die Nationalsozialisten an der Macht, und in einer Predigt zu Joh 16,7: „Doch ich sage euch die Wahrheit; es ist gut für euch, daß ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden“, stellte Lohmeyer eine rhetorische Frage: Wo können Gläubige einen Platz finden inmitten der zwingenden Gegensätze von Freude und Leid, Tod und Herrlichkeit, Verlassenheit und Wahrheit? „Und weiten wir etwas den Blick auf unsere Gegenwart: Was gibt uns die Sicherheit des Standes und Weges? In ihr sind alle Gegensätze aufs fürchterlichste gewirrt: Jauchzen und Weinen, Not und Heil, Tod und Leben. […] Hier hören wir: Ein neuer Frühling geht durch unser Land, und dort sehen wir, wie Kummer und Sorge sich immer tiefer in die Herzen und Gesichter gräbt.“10 Mehr brauchte er nicht zu sagen. Das Ohr der Zuhörer konnte die fanatischen Wutreden von Hitler und Goebbels vernehmen, vor ihrem geistigen Auge konnten sie den Boykott sehen und die marodierenden Straßenbanden der Nazis, mit jedem Herzschlag konnten sie spüren, wie die Bösartigkeit sich im bürgerlichen Alltag ausbreitete, Juden zum Sündenbock gemacht wurden, irrationale Ängste. Wenn das der „Frühling“ der Nazis war, was würde erst der Winter bringen? Anschließend schwenkte Lohmeyer zu Jesu Jüngern über, deren Gesicht von den gleichen Sorgen und Ahnungen gezeichnet war, als Jesus ihnen eröffnete, dass er zum Vater gehen müsse. Das Herz war ihnen schwer. „Was hat Jesus zu ihnen gesagt?“, fragte Lohmeyer. Jesus hatte kein Mitleid mit ihnen. Er sprach das völlig Unerwartete aus: „Es ist gut für euch, daß ich hingehe.“11 Die Jünger waren bestürzt, wie auch viele Zuhörer Lohmeyers 1934 in Deutschland. Was könnte daran gut sein, dass Jesus seine Jünger verlässt … oder an der Finsternis, die Deutschland einhüllt? Doch Jesus blieb dabei: „Es ist gut.“ Lohmeyer blieb dabei: „Alles ist

9 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 76. 10 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 188. 11 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 139.

Predigen in Breslau

gut!“12 ‚Es ist gut‘ – sogar und gerade im Tod des Herrn selbst. Dies ist die letzte Sicherheit, die einzige Wahrheit. Es geht nicht länger um Dich und Mich, um das, was wir wünschen und wollen, es geht nicht länger um Klagen und Verzweiflung. In jeglichem Leben und Tod, in allen Wünschen und Wechseln bleibt eines bestehen: „,Alles ist gut‘— auch und gerade der Tod dieses Herrn. Dies ist die letzte Sicherheit, und dieses die einzige Wahrheit. Da geht es nicht mehr um dich und mich, nicht um Wollen und Wünschen, nicht um Klagen und Verzweiflung; über allem Leben und Tod, über allem Wechseln und Wandeln steht dieses eine: Es ist gut.“13 Wie kann dies gut sein, für die Jünger oder für die Deutschen? Wenn wir die Richtigkeit des Weges bejahen, den Gott uns vorgibt, dann können wir uns nur Gottes Willen unterwerfen. „Sie reden schlicht von Gottes Wirklichkeit in diesem einen Tode und versenken in ihn alle Wahrheit und allen Trost. Sie sprechen von Leitung und nicht von Forderung, von Verkündung und nicht von Anspruch, sie sprechen von einem einmaligen Geschehen, das alle Not und allen Tod zu dem einen Pfade wandelt, auf dem wir sicher und behütet wandeln.“14 Beim Lesen von Lohmeyers Predigt geht mir durch den Kopf, wie gefährlich Predigen doch sein kann! Wie gefährlich, die göttliche Ironie des Evangeliums zu verkünden, dass es gut sei für Jesus, in Jerusalem in den Tod zu gehen, dass es gut sei für die Jünger, das Leben zu verlieren in dem Versuch, es zu retten. Wie gefährlich, Freiheit zu verkünden im Angesicht von Furcht und Resignation, Wahrheit im Angesicht von Irrglaube und falschen Göttern. Wie gefährlich zu verkünden, dass das Geschenk Gottes in Zeiten von Terror nicht in Feigheit besteht oder darin, sich in halbseidene Ausreden zu flüchten, sondern zu leben, und zwar in froher und stolzer Tat. Warum ist solches Predigen gefährlich? Nicht, weil es unwahr ist; kein Mensch würde so predigen, es sei denn, es ist ihm oder ihr durch den Geist Gottes gegeben. Es ist gefährlich, weil das Wort Gottes immer persönlich ist. Das Wort Gottes erklärt nicht alles, was in der Welt geschieht. Es konfrontiert die Gläubigen mit Jesu Aufforderung: „Folgt mir nach.“ Und die Aufforderung ist, sich selbst zu opfern. „Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,24) Lohmeyer sah sich diesem Ruf ausgesetzt, den er seiner Hörerschaft präsentiert. Als er am 19. September 1946 exekutiert wurde, lautete die Tageslosung in den Herrnhuter Losungen, die er täglich aufschlug: „Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, daß die Tauben hören und die Stummen sprechen.“ (Mk 7,37) In all unserem Leben und all unserem Sterben steht Jesu Verheißung: „Es ist gut.“

12 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 139. 13 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 139–140. 14 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 142.

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Kampf in Breslau

Widerstand gegen den Nationalsozialismus versammeln „Das Ende seiner Breslauer Zeit kam, und meinen Vater traf es hart. Es war ein Kaltstellen von einem Tag zum anderen, ein demütigender Abbruch einer 15jährigen produktiven Zeit“, schrieb Gudrun über Lohmeyers letzte Jahre in Breslau.15 Es liegt auf der Hand, dass sie dies von ihrer Mutter erfahren hatte, denn zum fraglichen Zeitpunkt war sie nicht einmal zehn Jahre alt, und der Ernst der Lage wurde ihr sicher verschwiegen. Ihre Reflektionen auf das Familienleben werfen ein vielsagendes Licht auf Lohmeyers Persönlichkeit. „Es ist merkwürdig, daß wir als Kinder von den Spannungszuständen, in denen er oft lebte, nichts merkten oder gar in der Reaktion uns gegenüber spürten. Erklärbar scheint es mir nur so zu sein, daß sich sein eigentliches Leben im rein Geistigen vollzog und das reale, zu dem wir gehörten, bei aller Liebe nicht den gleichen Stellenwert hatte.“16 Als Erwachsene erklärte sie dieses erstaunliche Faktum mit geistigen Vitalität ihres Vaters. Das Drama, das er im elendigen NS-Regime durchlebte, war nicht die einzige Realität seines Lebens und auch nicht die wichtigste. Ob seine Geisteskraft ihm angeboren war oder ob er sie durch Disziplin erworben hatte (wahrscheinlich traf beides zu) – er war in der Lage, sich auf das Leben mit all seinen Schwierigkeiten einzulassen und entlang seiner theologischen Überzeugungen vergleichsweise frei von Furcht und Angst zu handeln. In diesem Kapitel wird uns diese bemerkenswerte Eigenschaft klar und deutlich vor Augen geführt, als Lohmeyer trotz eines vernichtenden Angriffs auf seine Position und seine Überzeugungen den Kampf nicht aufgab. Wer erleben musste, wie erbittert seine Gegner in Breslau gegen ihn aufgetreten waren, weiß, was für eine außerordentliche Leistung dies ist. Wir könnten das Festhalten am Platonismus und am Neukantianismus inmitten der brutalen Welt des NS auch für wissenschaftlich bedeutungslos halten. Wenn dem so ist, liegen wir mit unserer Einschätzung falsch, war es doch genau diese Welt ewiger Wahrheiten und unveränderlicher Schönheiten, die die hässliche Brutalität der Nationalsozialisten so unerträglich und konstruktives Vorgehen dagegen so notwendig machte. Man hätte erwarten können, dass Lohmeyer sich angesichts der Lage zu einer gewissen Zurückhaltung entschloss, aber das Gegenteil war offenbar der Fall. Sein studentischer Mitarbeiter Gerhard Saß (der Saß mit dem Vorwort zum Ergänzungsheft, das anfangs meine Aufmerksamkeit erregt hatte) schilderte Lohmeyers Umgang mit Studenten in folgenden Worten: „Er war immer offen für andere Meinungen, konnte zuhören und war immer ausgeglichen und deshalb ausgleichend. Nie wurde er scharf, sondern blieb auch in der Auseinandersetzung sachlich

15 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 359. 16 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 39.

Widerstand gegen den Nationalsozialismus versammeln

und vornehm. Er glaubte sich nicht im Besitz der Wahrheit, sondern sah sich hineingestellt in einen Prozeß des Lernens und Forschens, der seinem Wesen nach ein unendlicher Prozeß ist.“17 Nur selten sind die persönliche Aufrichtigkeit und Haltung Lohmeyers in seinem durchdringenden Blick auf Fotos nicht zu erkennen. In den letzten beiden Januarwochen des Jahres 1934 – genau ein Jahr nach Hitlers Machtantritt – wurde ein Zeitungsausschnitt vom schwarzen Brett der Theologischen Fakultät der Universität Breslau entfernt. Dieser belanglose Vorgang, der noch ein Jahr zuvor kaum Aufmerksamkeit erregt hätte, wurde zum katalytischen Tropfen in der flüchtigen Nazi-Chemie, die inzwischen an der Universität vorherrschend war. Der Tropfen löste eine Kettenreaktion aus und beendete Lohmeyers Tätigkeit in Breslau. Um zu begreifen, wie die Chemie an der Universität sich verändert hatte, müssen wir uns vor Augen führen, wie die Opposition zum NS sich in den verschiedenen Gebieten Deutschlands nach Hitlers Machtantritt entwickelt hatte. Nichts, was an die Größenordnung der „Cohn-Affäre“ heranreichte, war im Jahr zuvor in Breslau geschehen. Doch die Ruhe täuschte darüber hinweg, dass der Dampfkessel gewaltig unter Druck stand. Lohmeyer opponierte weiterhin gegen die schlimmsten Veränderungen im Universitätsleben. Dazu gehörte auch die seine „Judenfreundlichkeit“, um es in NS-Sprache auszudrücken, also seine Freundschaft zu jüdischen Professoren in Breslau – jedenfalls zu denen, die noch geblieben waren. In seinen Vorträgen und Predigten hat er keinen provozierenden Kurs gegenüber den Nationalsozialisten eingeschlagen. Erstens entsprach das nicht seiner Art, aber selbst wenn es ihr entsprochen hätte, war die Zeit dafür im Jahr 1933 längst vorbei. Wenn heikle Fragen zur Debatte standen, scheute er sich nicht davor, die Wahrheit auszusprechen, so, wie sie sich ihm darstellte. An seinen Predigten haben wir sehen können, dass er sich bemühte, die Wahrheit so zu verkünden, dass sie gehört und beherzigt wurde. Die Ruhe war trügerisch, es gab ungelöste Konflikte. Im Mai 1933 fand eine geschmacklose Parodie auf Luthers Verbrennung der päpstlichen Bannbulle vor dem Stadttor von Wittenberg statt, nur dass es diesmal auf dem Breslauer Schlossplatz brannte, dem zentralen Platz der Stadt. Bei der Verbrennung auf dem Schlossplatz ging es allerdings nicht um eine päpstliche Bulle, sondern um Zehntausende Bücher, die die fanatischen Nazis für unwürdig hielten, sie dem deutschen Volk18 zu überlassen. Während Theologiestudenten in SA-Uniformen Bücher in die Flammen warfen, hielt Karl Bornhausen, nationalsozialistischer Professor für theologische Ethik, eine Feuerrede19 – „fire speech“. Lohmeyers wissenschaftliche Mitarbeiterin

17 Saß: Die Bedeutung Ernst Lohmeyers für die neutestamentliche Forschung, 357. 18 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original. 19 Deutsch und kursiv im Original.

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Hanna Bedürftig führte Aufsicht in der theologischen Bibliothek, als Studenten hereinstürmten, Bücher aus den Regalen rissen und zum Schlossplatz schleppten. Rasch griff Bedürftig zum Telefon und rief Lohmeyer an. Lohmeyer rannte zur Bibliothek und konfrontierte die Studenten mit ihrem Tun. Die Bücher, erklärte er, seien Eigentum des Staates und unantastbar! Es gelang ihm, die Bücher zu retten, doch die Propagandamühlen setzten sich in Gang und schlachteten den Vorfall zugunsten der Nazis aus. Georg Walter, einer von Bornhausens Studenten, verfasste ein wütendes Pamphlet mit dem Titel An die evangelischen Theologen!, in dem er Pastoren und Theologen anprangerte, die sich der deutsch-christlichen Bewegung widersetzten. Sie würden „,wirkungslose Scheinwissenschaft‘“20 betreiben, höhnte er, unfähig, Deutsche zum Glauben zu führen, eine „,selbstverständliche Pflicht und Aufgabe, daß wir Theologen deutsch denken und fühlen‘.“21 Die deutsche Kirche, die sich „,sklavisch an den Text der Bibel‘“ halte, was „,unchristlich und undeutsch‘“22 sei, müsse sich daraus befreien und die Offenbarung Gottes durch die Kultur empfangen. „,Nicht ohne Grund‘“, schloss Walter, „,haben wir im Mai 1933 auf dem Schloßplatz deutschfeindliche Bücher verbrannt.‘“23 Im Juni begann Lohmeyer seine Semester-Vorlesung zur Christologie des Neuen Testaments mit dem öffentlichen Statement, dass der Nationalsozialismus ein „Ungeist“24 sei, der jede freie Forschung verkrüppeln würde.25 Bereits im Mai 1933 hatte Herbert Franke, NSDAP-Verbindungsmann für den Zusammenschluss der nationalsozialistischen Lehrkräfte und Studenten in Breslau, die krisenhafte Lage geschildert: „Von jeher einen schweren Kampf gegen die Gegner des Nationalsozialismus“, warnte er.26 Die Gegnerschaft, so Franke weiter, zeige sich besonders bei Lohmeyers Assistenten Gottfried Fitzer und Friedrich Gogarten, die von „der bürgerlich-demokratisch-nationalen Seite her die Bewegung aufs schärfste bekämpften“ und sich dem Nationalsozialismus entschieden widersetzten.27 Am schlimmsten aber sei Lohmeyer selbst, dessen ausdrückliche „Judenfreundlichkeit“ während seiner Amtszeit als Rektor einen Affront gegen den Nationalsozialismus darstelle.

20 Georg Walter: An die evangelischen Theologen! - Zit. nach. Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 80. 21 Georg Walter: an die evangelischen Theologen! - Zit. nach: Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 80–81. 22 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 80. 23 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 80. 24 Deutsch und kursiv im Original. 25 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 74. 26 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 81. 27 Zit. nach Köhn (Hg.): Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, 81.

Vierzehn Tage des Zorns

Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, hatte Lohmeyer Martin Buber gegen den Angriff von Gerhard Kittel verteidigt. Kurz darauf gab es zwei beachtenswerte Proteste gegen den Antisemitismus der Nazis. Der erste kam von der Kirche. Am 11. September gründete Martin Niemöller, Pastor an der St. Anna Kirche in BerlinDahlem, zusammen mit anderen protestantischen Pastoren den Pfarrernotbund – einen kirchlicher Zusammenschluss, der sich dem „Arierparagrafen“ entgegenstellte. Wie wie oben erwähnt, erweiterte der Arierparagraf den Geltungsbereichs des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Die Erweiterung schloss Personen jüdischer Abstammung aus dem Staatsdienst und aus kirchlichen Ämtern aus. Der Notbund erklärte den Arierparagrafen zur Häresie und wandte sich strikt gegen alle Versuche, christliche Pastoren mit jüdischen Vorfahren von ihren Pfarrstellen zu entfernen. Rasch traten dem Bund bis Januar 1934 über siebentausend deutsche Pastoren bei. Der zweite Protest kam aus der Hochschule und richtete sich ebenfalls kompromisslos gegen den Arierparagrafen. Im Herbst 1933 hatten die beiden Marburger Theologie-Professoren Rudolf Bultmann und Hans von Soden ein Papier mit dem Titel Neues Testament und Rassenfrage unter Wissenschaftlern des Neuen Testaments verbreitet. Diese sogenannte Marburger Erklärung verkündete unter Berufung auf Galater 3,28, dass sowohl jüdische als auch nichtjüdische Christen zur Amtsführung in der protestantischen Kirche berechtigt seien. Im Oktober hatten einundzwanzig neutestamentliche Wissenschaftler die Erklärung unterzeichnet, darunter auch Lohmeyer28 , der früh dem Pfarrernotbund beigetreten war; 1933 wurde in Breslau eine Ortsgruppe gegründet. Auch sein Assistent Gottfried Fitzer schloss sich dem Bund an und führte ihn bis zur Gründung der Bekennenden Kirche Ende 1934. Durch die Mitgliedschaft im Notbund grenzten Lohmeyer und Fitzer sie nicht nur deutlich vom mehrheitlich deutsch-christlichen Lager der theologischen Fakultät in Breslau ab, es machte sie auch anfällig für Repressalien.

Vierzehn Tage des Zorns Das ganze Jahr 1933 war Lohmeyer wie ein Bergsteiger, der einen hängenden Felsvorsprung unterquerte. Bei jedem Schritt drohte der Felsvorprung abzubrechen und eine Lawine auszulösen, die ihn vom Berghang fegen würde. Doch der Felsvorsprung blieb, wo er war, und Lohmeyer setzte seinen Weg fort. Selbst mit der Ernennung von Dr. Gustav Adolf Walz, einem strammen Nationalsozialisten, zum Rektor der Universität schien der Fels zu halten. Walz’ Ernennung war jedoch eine Gefahr für Lohmeyer, der die Leitung des theologischen Seminars innehatte. Als

28 Siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 72–73.

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Lehrstuhlinhaber wurde Lohmeyer von seinen Kollegen wissenschaftlich respektiert, aber die am Fachbereich vorherrschenden deutsch-christlichen Sympathien konfligierten offenkundig mit seinen theologischen Überzeugungen. Zwei Monate nach Walz’ Ernennung zum Rektor brach der Felsvorsprung ab. Die angebliche Ursache für die Lawine, die er auslöste, war der oben erwähnte Vorfall am schwarzen Brett. In Wirklichkeit war der Fels aber nicht wegen eines Fehlers von Lohmeyer abgestürzt, sondern weil Walz den Absturz lange vor der Sache mit dem Zeitungsausschnitt eingefädelt hatte. Es fing an mit einem „blauen Brief “. Am 20. Januar 1934 bedankte Anton Jirku, Professor für Altes Testament und Dekan, sich schriftlich bei Lohmeyer für dessen Seminarleitung und teilte ihm mit, dass sie ihm entzogen würde. Jirku berief Dr. Hans Leube, einen Deutsch-Christen, zum Nachfolger. Doch in diesem „blauen Brief “ ging es nicht nur um eine normale Absetzung. Es ging darum, dass die Universität die Leitung des Seminars und deren Lehrplan der deutsch-christlichen Bewegung in die Hände legen wollte. Kurz, der Fachbereich Theologie in Breslau sollte nicht länger orthodox sein, sondern häretisch ausgerichtet werden. Der 20. Januar war ein Samstag. Selbst bei entsprechender Bereitschaft hätte Lohmeyer es kaum schaffen können, die Fakultät über das Wochenende zu mobilisieren. Am Mittwoch darauf antwortete Lohmeyer schriftlich, dass die Mehrheit des Lehrkörpers fest hinter ihm stehe und Jirku nicht befugt sei, ihn abzuberufen. Lohmeyer wollte die Sache an den Hochschulrat weitergeleitet wissen, an Dr. Adolf von Hahnke. Einen Tag später, Donnerstag, 25. Januar, schrieb Lohmeyer einen weiteren Brief an Jirku und wiederholte, dass er, Jirku, nicht befugt sei, ihm die Leitung des Seminars zu entziehen. Am selben Tag spielte sich der Vorfall mit dem Zeitungsausschnitt ab. Lohmeyer wurde mitgeteilt, dass zwei Artikel aus dem Völkischen Beobachter am schwarzen Brett des Fachbereichs aufgehängt worden waren. Einer, Kleine Geister in großer Zeit, berichtete beifällig über die Festnahme des Tübinger katholischen Theologen Karl Adam; der andere, Unerhörte Herausforderung des Nationalsozialismus, war ein Angriff auf den Pfarrernotbund.29 Die nationalsozialistischen Zeitungen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Zur ersten Gruppe gehörte der Der Stürmer, ein Blatt, wie man es heutzutage in jedem amerikanischen Supermarkt an der Kasse kaufen kann, nur dass Der Stürmer sich nicht in sexueller Freizügigkeit suhlte, sondern in politischem Schlamm. Der Stürmer gab nichts auf Vernunft und hatte keinen Sinn für Menschlichkeit, auf welcher Ebene auch immer, sondern nahm stattdessen direkt die Ängste, Vorurteile und Klischeevorstellungen seiner Leser ins Visier. Es waren mehr als nur Worte oder Gedanken, mit denen der Stürmer seine üble Fracht vor der Leserschaft ablud, es

29 Siehe Hutter: Theologie als Wissenschaft, 138.

Vierzehn Tage des Zorns

war das Bild – die übertriebene Parodie, die Karikatur, die Groteske. Die Klischees waren sattsam bekannt: der reiche, fette Jude, der aufrechten Deutschen das Blut aus den Adern saugte, der dumme Kommunist, dem Blut aus dem Bajonett tropfte, englische Industrielle, die mit den Reparationen des Versailler Vertrags Deutschland bis aufs Blut auspressten. Für den Stürmer war deutsches Blut quasi ein Sakrament. Mit den Bildern gelang es, die Leser zu spontanen Aktionen aufzustacheln, die das NS-Regime wünschte und zu provozieren wusste. Die zweite Gruppe wurde vom Völkischen Beobachter repräsentiert, aus dem der Ausschnitt am schwarzen Brett stammte. Die Zeitung war nicht so vulgär wie Der Stürmer. Ich muss mich korrigieren: Sie war genauso vulgär, nur stilistisch nicht so draufgängerisch. Der Beobachter brachte die gleichen Lügen und Boshaftigkeiten in Umlauf und schürte die gleichen Ängste, aber mehr im gängigen Zeitungsformat; er war nicht so offensichtlich zynisch wie der Stürmer und daher vielleicht sogar das gefährlichere Blatt. Als Lohmeyer von den Ausschnitten aus dem Beobachter erfuhr, tat er, was jeder Wissenschaftler tun würde, der die Wahrheit verteidigt und seine Kollegen achtet: Er wies seine studentische Mitarbeiterin Hanna Bedürftig an, die Ausschnitte zu entfernen. Noch etwas zu diesem an sich belanglosen Vorfall. Am Mittwoch, 24. Januar, dem Tag, bevor Lohmeyer die Ausschnitte entfernen ließ, brachte das NS-Parteiblatt einen Artikel über mehrere Kirchenleute, die inhaftiert worden waren. Der Artikel war eine unverhohlene Drohung an die Adresse aller Kirchenleute. Lasst es den katholischen Priestern, die den NS als „Teufelsbewegung“ und Nazis als „gekränkte Pastoren“30 diffamieren und ihre Theologie mit Politik vermischen, zur Warnung dienen, drohte das Blatt. In der engen Gefängniszelle werden die Gegner schon zur Vernunft kommen! „,Sie müssen sich schon den Verdacht gefallen lassen, daß sie sich zum Werkzeug reaktionärer Kreise hergegeben haben, die die Aufbauarbeit der nationalsozialistischen Regierung sabotieren wollen. Saboteure aber müssen unschädlich gemacht werden, auch wenn sie im Gewande eines Dieners Gottes ihr verwerfliches Handwerk ausüben […]‘.“31 Walz empfand die Entfernung des Ausschnitts vom Schwarzen Brett der Fakultät als einen unerträglichen Affront. Am Freitag, 26. Januar, schrieb er einen Brandbrief an den Reichskultusminister in Berlin und drängte ihn zur fristlosen Entlassung Lohmeyers. Walz versicherte dem Minister, dass Dekan Jirku im Einvernehmen mit ihm agiere, wenn er Lohmeyer den Lehrstuhl des Fachbereichs Theologie entziehe. Lohmeyers Weigerung, Jirkus Zuständigkeit in dieser Sache zu akzeptieren, sei gleichbedeutend mit der Weigerung, die Autorität des Rektors zu akzeptieren! Walz

30 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 78. 31 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 78.

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versuchte, die Schlinge noch enger zu ziehen. „Durch Zufall“ habe er erfahren, dass Lohmeyer beim Minister gegen seine Entlassung Widerspruch eingelegt habe, ohne jedoch ihn als Rektor zu informieren. Dieses Vorgehen sei „völlig untragbar“.32 Walz räumte ein, dass die derzeit geltende provisorische Regelung während des Übergangs zur NS-Herrschaft an der Universität rein verfahrenstechnisch gesehen zu Lohmeyers Gunsten ausgelegt werden könne. Bei meiner Recherche zu diesem speziellen Punkt habe ich die Dokumente wieder und wieder gelesen. Angesichts der dienstrechtlichen Unterstellungsverhältnisse in der Übergangszeit scheint mir Lohmeyers Zurückweisung von Jirkus Befugnis, ihn zu entlassen, ebenso gerechtfertigt wie Jirkus Ansicht, er sei durchaus berechtigt, so zu handeln. Doch dafür interessierte Walz sich nicht. Lohmeyers Rückgriff auf das Rechtsverfahren und Präzedenzfälle waren irrelevant angesichts des größeren Problems – ja, sogar des einzigen Problems, auf das es hier ankam –, und das war Walz’ Autorität! Walz war ein „Führer-Rektor“. Die neue, autoritäre NS-Epoche war angebrochen – und Lohmeyer hatte ein „sehr bedenkliches, rechtswidriges Verhalten“ an den Tag gelegt.33 Das Schreiben von Walz an den Reichkultusminister steigerte sich zu einem wütenden Crescendo. Lohmeyers Widerstand sei nur ein weiteres Beispiel für „eine ganze Reihe Gründe“34 , zu viele, um sie aufzuzählen, zu bekannt, um sie zu ignorieren, und zu beleidigend, um sie noch länger hinzunehmen. „Herr Lohmeyers antinationalsozialistisches Verhalten und seine antinationalsozialistische Gesinnung ist eine offenkundige Tatsache, für die ich weitere Belege zu bringen nicht für erforderlich halte!“35 Der Kultusminister solle Lohmeyers unverzügliche Entlassung anordnen.

Bürokratischer Blitzkrieg Die Schonzeit war vorbei. Am nächsten Tag, dem 27. Januar, schrieb Walz an Lohmeyer, ohne Anrede, ohne ein persönliches Wort. Dass Lohmeyer seine Autorität unterlaufe, sei „aufs Schärfste“36 zu missbilligen; dass er die Entscheidung des Dekans zurückzuweise, sei anmaßend und ebenso verwunderlich. „Die Folgen Ihres Verhaltens werden Sie in vollem Umfange zu tragen haben“, drohte er.37 Die gegenüber Lohmeyer nicht näher ausgeführten Konsequenzen waren bereits vom Reichsminister „in vollem Umfange“ in Gang gesetzt worden.

32 33 34 35 36 37

Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 163. Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 164. Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 164. Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 164. Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 165. Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 165.

Bürokratischer Blitzkrieg

Unter einer totalitären Herrschaft verlagern sich die Interessen der Menschen zwangsläufig vom Einsatz für das Gemeinwohl zur Selbsterhaltung. Ein effiektives Mittel zur Selbsterhaltung ist die Denunziation anderer. Eine solche Denunziation kam nun ins Spiel. Walz teilte Lohmeyer mit, ihm sei zugetragen worden, dass Lohmeyer einen Artikel im Beobachter als „provozierend“38 bezeichnet habe, und zwar ungefähr zum Zeitpunkt der Entfernung der Ausschnitte vom schwarzen Brett. Es war ein schwerwiegender Verstoß, eine NS-Quelle öffentlich infrage zu stellen, also war Lohmeyer dem Rektor eine Erklärung schuldig. Umgehend entwarf er einen Brief mit einer hochachtungsvollen Anrede – „Eure Magnifizenz“ – und führte aus, dass er sich an eine solche Bemerkung nicht erinnern könne. Keinesfalls habe er beabsichtigt, den Beobachter zu verunglimpfen.39 Am selben Tag, dem 29. Januar, ging die von den Nazis kontrollierte Studentenschaft zu einem gemeinschaftlichen Angriff auf Lohmeyer über. Die Studentenschaft schrieb an Walz: „Das Verhalten von Prof. Lohmeyer ist völlig unmöglich und seine weitere Lehrtätigkeit für eine Universität im nationalsozialistischen Staate untragbar. Die Studentenschaft fordert deshalb sofortige Abberufung von Prof. Lohmeyer. Der alleinige Rücktritt von Prof. Lohmeyer als Seminardirektor genügt der Studentenschaft nicht.“40 Lohmeyers Schiff wurde torpediert. In einem Versuch, die Lecks zu stopfen, reagierte er am 30. Januar mit einem vierseitigen Brief an den Kurator Dr. Hahnke auf die Vorwürfe. Er wiederholte die ersten zwei Punkte, nämlich, dass Jirku nicht die Befugnis habe, ihn zu entlassen, und zweitens, dass das korrekte Vorgehen in jedem Fall in den Händen der Universitätsverwaltung und des Fachbereichs Theologie liege. Doch es gab größere und wichtigere Lecks zu stopfen. Am längsten und erstaunlichsten war der dritte Punkt, den Lohmeyer anführte. Bei einer Fakultätssitzung vom 24. Januar hatte Rektor Walz einen Plan vorgestellt, mit welchem Verfahren unerwünschten Fakultätsmitgliedern den Doktorgrad zu entziehen sei! Dies war gleichbedeutend mit einem Berufsverbot, denn ein Doktorat ist sine qua non einer akademischen Berufung in Deutschland. Der Plan war der Beleg dafür, dass der Nationalsozialismus versuchte, die deutschen Universitäten vollständig unter seine Kontrolle zu bringen. Noch ein Jahr sollte es dauern, bis Juden mit den Nürnberger Gesetzen die Bürgerrechte entzogen wurden; Walz’ Vorschlag zielte bereits darauf ab, die Gedankenfreiheit der Professoren einzuschränken, ungeachtet der politischen Ermächtigung. Lohmeyers Name wurde nicht explizit genannt. Es konnte natürlich sein, dass es ihn zuerst traf, aber er würde nicht der Einzige bleiben. Die Formulierung musste so allgemein sein, dass weitere Menschen mit einer ähnlichen Haltung einbezogen werden konnten. Lohmeyer

38 Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 167. 39 Zu diesem Brief siehe Hutter: Theologie als Wissenschaft, 167. 40 Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 138.

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antwortete klug und stoisch: Die einzige Institution, die einen Doktorgrad aberkennen könne, sei diejenige, die ihn verliehen habe. Seine Doktorgrade stammten aus Berlin und Erlangen und waren daher offenkundig gefeit gegen die Anfechtung aus Breslau. Walz hatte sogar die Einrichtung einer Kommission zur Entziehung des Doktorats vorgeschlagen, in der der Führer der NS-Sturmtruppen mit Zuständigkeit für Universitätsangelegenheiten zwangläufig Mitglied sein müsste! Lohmeyer meldete sich erneut zu Wort. Eine solche Kommission solle aus dem Rektor und den Dekanen der vier Fakultäten bestehen, das heißt, aus entsprechendem akademischem Personal, nicht aus politischem Personal von Außen. Sein Vorschlag wurde von der Fakultät angenommen, und die Angelegenheit wurde im Großen und Ganzen beigelegt. Doch die Verteidigung war nicht lückenlos. Die „Cohn-Affäre“ war seinen Gegnern weiterhin ein Dorn im Auge, und in Punkt vier musste er eine ganze Seite der Rechtfertigung widmen, warum er die Polizei gerufen hatte. Lohmeyer erinnerte den Kurator daran, dass die Ladungen vor dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933 erfolgt waren. Das Datum war wichtig, denn vorher war die NSDAP keine rechtmäßige politische Körperschaft und der studentische Aufruhr illegal. Seine Aktion war bei den NS-Studenten natürlich nicht gerade beliebt, und das galt umso mehr zu der Zeit, als die NSDAP in Deutschland auch rechtlich das Sagen hatte. Doch Lohmeyer hielt die Stellung: Der politische Wind mochten sich gedreht haben, konnte aber weder an der Untragbarkeit der studentischen Aktionen noch an seiner Reaktion auf sie etwas ändern. Studenten, so Lohmeyer, könnten bei Störung des Universitätslebens keine Immunität beanspruchen, nur weil sie NS-Uniform trügen, genauso wenig wie Professoren ein Anrecht auf Freibier und Bratwurst hätten, nur weil sie Talare trügen! Nur in einem einzigen Punkt der Cohn-Affäre bekannte Lohmeyer sich schuldig: Es entsprach der Wahrheit, dass er den Hitler-Gruß der Polizei, die den Aufruhr unterdrückt hatte, nicht erwidert hatte. Er bat um Nachsicht: „Nach der Einführung des deutschen Grußes kann es möglich sein, daß ich aus alter Gewohnheit meinen Hut gezogen habe, wenn ein Student mich durch Erheben des rechten Armes grüßte.“41 Fünftens und letztens musste Lohmeyer seine Unterstützung des Pfarrernotbundes verteidigen. Protestantische Studenten in Breslau hatten eine Unterstützungserklärung für den Bund verfasst. Die mehrheitlich deutsch-christlichen Professoren an der theologischen Fakultät verabscheuten den Bund und vermuteten Lohmeyers Mitwirkung an der Erklärung. Lohmeyer teilte ungerührt mit, dass die Erklärung von Studenten entworfen worden sei und die Unterschriften von ihnen gesammelt. Als er am 11. Januar davon erfahren habe, war das Papier bereits eingereicht. Es war

41 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 12.

Öffentliche Demütigung

eine Initiative in studentischer Regie, für den internen Gebrauch im Fachbereich gedacht und nicht als Propagandamaßnahme.42 Lohmeyer beendete das Verteidigungsschreiben mit seiner Unterschrift, aber ohne das übliche „Heil Hitler“. Sein emotionsloser Tonfall und das Fehlen von Beschimpfungen angesichts der Bosheiten, die er abwehren musste, sind bemerkenswert. Lediglich an der technischen Seite des Briefes können wir stressbedingte Frakturen erkennen. Seine Schreibmaschine hat bei der hastig verfassten Verteidigung an den Kurator nicht ganz mitgespielt. Es finden sich mehrere Fehler bei Großbuchstaben, Ausstreichungen und eine leere Zeile – vielleicht lag es daran, dass er den Wagen der Schreibmaschine zu kraftvoll zurückgeworfen hatte. Bei praktisch jedem anderen Autor würden solche Fehler nicht weiter ins Gewicht fallen; bei Lohmeyer erinnern sie subtil, aber unübersehbar an die Feinseligkeit, die er auszuhalten hatte.

Öffentliche Demütigung Dem Intellekt und Charakter Lohmeyers war Walz nicht gewachsen. Leider war das auch nicht nötig, denn als Rektor lag es in seiner Macht, ihn zu demontieren. Am Montag, 29. Januar, verlangte er, dass Lohmeyer am kommenden Donnerstag, 1. Februar, öffentlich vor den Studenten eine Entschuldigung verlas, weil er den Beobachter als „provozierend“ bezeichnet hatte. Lohmeyer versuchte, dies abzuwenden. Er argumentierte, dass es wenig Sinn habe, eine Entschuldigung zu verlesen, die Studenten abverlange, sich für oder gegen eine Sache auszusprechen, über die sie nicht informiert seien. Lohmeyer schloss mit der Bemerkung, dass man sich zusammensetzen und gemeinsam nachdenken solle. Sofern Walz einverstanden sei oder Lohmeyer nichts von ihm höre, würde er auf die Entschuldigung am Donnerstag verzichten.43 Walz war nicht einverstanden und auch nicht zu Diskussionen aufgelegt. „Ich möchte Ihnen die dringende Bitte zum Ausdruck bringen“, erwiderte er nachdrücklich, „daß Sie das Schreiben am Beginn der nächsten Vorlesung verlesen. Ich habe den Führer der Studentenschaft in diesem Sinne informiert, der mir gegenüber die Garantie übernommen hat, daß jegliche Unruheäußerung unterbleibt. Ich bin vollkommen Herr der Studentenschaft. Ich muß Sie nun aber wirklich im eigensten Interesse bitten, im besprochenen Sinn die Sache zu beschließen.“44 Am Donnerstag, 1. Februar, nachmittags um 16 Uhr verlas Lohmeyer eine öffentliche Entschuldigung vor einer übergroßen Menge von Studenten an der Universität 42 Ernst Lohmeyer an den Kurator der Universität Adolf von Hahnke, 30. Januar 1934. - Siehe GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 12. 43 Der Brief ist wiedergegeben in Hutter: Theologie als Wissenschaft, 165–166. 44 Gustav Walz an Ernst Lohmeyer, 30. Januar 1934. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 12.

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Breslau. Schon früher am Tag hatte er Rektor Walz eine Abschrift der Entschuldigung zukommen lassen. Im Begleitbrief wiederholte er, dass er sich nicht erinnern könne, das Wort „provozierend“ gebraucht zu haben. Er unterrichtete Walz, dass er die beiden Theologiestudenten, Fräulein Bedürftig und Herrn Pohle, nicht als Zeugen seiner Unschuld aufrufen wolle, um sie nicht in die Sache hineinzuziehen.45 Lohmeyers Entschuldigung klang zugewandt statt mürrisch und abwehrend. Ein Gespräch im Freundeskreis, das laut Lohmeyer nicht wiederholt werden müsse, habe zu Missverständnissen und Gerüchten geführt. „Von dem was ich in diesen Gesprächen gesagt habe, habe ich nichts zurückzunehmen und werde ich nichts zurücknehmen“, sagte er.46 Der Streitpunkt sei nicht, was er gesagt habe, sondern dass daraus falsche Schlussfolgerungen betreffs seiner politischen Überzeugungen gezogen worden seien. Bedenken Sie die Tatsachen, sagte er zum Schluss: Vier Jahre lang habe er als Offizier in den Schützengräben gedient und als Rektor die Universität vor dem Einfluss der Sozialdemokratie bewahrt, was ihm damals scharf vorgeworfen worden sei. Lohmeyers späterem Bericht zufolge klopften die Studenten am Ende seiner Entschuldigungsrede mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. In den letzten zwei Wochen des Januar 1934 kämpfte Lohmeyer unbeirrbar und entschlossen um seine Berufung als Professor nach Breslau und versuchte, die Studenten zu schützen, die noch mehr gefährdet waren als er. Unter widrigen Umständen verhielt er sich ungewöhnlich integer. Er log nicht und opferte die Wahrheit nicht auf, um einen strategischen Sieg einzufahren. Es gibt aber Stürme, die man nicht unbeschadet überstehen kann. Dies war so einer. Nach seiner Entschuldigung am 1. Februar schrieb er abends einen siebenzeiligen Brief an Dekan Jirku und überließ der deutsch-christlichen Bewegung die Leitung des Fachbereichs Theologie. Einen Monat später, am 1. März, verfasste Lohmeyer vermutlich auf Anweisung der Universitätsbehörden handschriftlich einen persönlichen Bericht über die Vorfälle, die zu seiner Absetzung geführt hatten. Für die Niederschrift dieses dreizehnseitigen, 3.500 Wörter starken Berichts musste er die Tinte in seinem Füllfederhalter vier Mal aufziehen. Wie schon in den Briefen konzentrierte Lohmeyer sich auf die strittigen Punkte statt auf seine persönlichen Empfindungen. Wir wissen nicht, welche inneren Kämpfe er ausgefochten hat, denn weder in seiner Korrespondenz noch in den Familienerinnerungen ist davon die Rede. Gezwungen zu sein, die Verwendung des Wortes „provozierend“ zu rechtfertigen, dafür bestraft zu werden, das Ansehen aufrechter Wissenschaftler zu verteidigen, und mit der Aberkennung des Doktorgrads bedroht zu werden – solches scheint in einer

45 Ernst Lohmeyer an Gustav Walz, 30. Januar 1934. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 12. 46 Ernst Lohmeyer an Studenten. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 12.

Öffentliche Demütigung

akademischen und intellektuellen Gemeinschaft nicht möglich. Aber so sah die hässliche Realpolitik47 des Nationalsozialismus aus. Eine unrühmlichere Schlacht und einen erniedrigenderen Ausgang kann man sich kaum vorstellen. Aber unsere Schlachten und Schlachtfelder können wir uns nicht aussuchen. Lohmeyer hat einen unwürdigen Kampf würdevoll ausgefochten. Man mag sich wundern, warum er sich auf einen solchen Kampf überhaupt einließ bzw. ihn so lange ausfocht, wie er es tat. War ihm nicht klar, dass die Kräfte, die sich gegen ihn zusammengetan hatten, ihm keine Möglichkeit zum Sieg einräumen würden? Der Sieg war den Braunhemden schließlich schon zugesprochen worden. Rückblickend liegt natürlich alles klar auf der Hand. Aber 1934 konnte Lohmeyer nicht wissen – und weder er noch der Rest der Welt hatte sich vorstellen können –, wohin der NS-Albtraum führen sollte. Als Lohmeyer sich abkämpfte, den Fachbereich Theologie vor dem nationalsozialistischen Zugriff zu bewahren, lagen die schlimmsten Angriffe, die mit dem Entzug von Bürgerrechten 1935 einsetzen sollten, noch in der Zukunft. Noch wichtiger ist, dass die Vorstellung, nur dann für etwas zu streiten, wenn man am Ende den Sieg davonträgt, auf Lohmeyer nicht zutrifft. Er dachte nicht in Nützlichkeitskategorien, wog den Einsatz nicht gegen das Ergebnis ab. Er war ein Idealist – Platonscher Idealist, Kantscher Idealist und vor allem christlicher Idealist –, der sich auf der Grundlage von Tugend und Verdienst mit strittigen Fragen auseinandersetzte und sonst gar nichts. Der Kampf, der zu kämpfen sich lohnt, war nicht der Kampf, den man gewinnen konnte, sondern der Kampf, den die Tugenden – Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe – zu kämpfen verlangten, ungeachtet des Ergebnisses. Die einzige Tugend war für Lohmeyer immer, als ein Mensch zu leben – und, wenn nötig, zu sterben –, der der Freiheit würdig ist, die in der Tradition des christlichen Humanismus sowohl gegeben als auch geboten ist.

47 Deutsch und kursiv im Original.

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Fotostrecke

Foto 1: Ernst Lohmeyer als Hauslehrer der beiden kleinen Söhne des Grafen von BethusyHuc, Schlesien, ca. 1912. © Andreas Köhn

Foto 2: Ernst Lohmeyer, Rektor der Universität Breslau, 1930. © Universität Greifswald

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Foto 3: Bronzebüste von Ernst Lohmeyer, angefertigt zu seiner Zeit als Rektor der Universität Breslau. Heute ausgestellt an der Universität Greifswald. © Universität Greifswald

Foto 4: Ernst Lohmeyer mit Tochter Gudrun, ca. 1931 © Julia Otto und Stefan Rettner, geb. Otto

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Foto 5: Ernst Lohmeyer, Melie und Gudrun als Kind, 1934. © Julia Otto und Stefan Rettner, geb. Otto

Foto 6: Melie Lohmeyer, 1937. © Julia Otto und Stefan Rettner, geb. Otto

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Foto 7: Ernst und Melie Lohmeyer in Schweden, 1937. © Julia Otto und Stefan Rettner, geb. Otto

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Foto 8: Melie Lohmeyer, 1940. © Julia Otto und Stefan Rettner, geb. Otto

Foto 9: Ernst Lohmeyer, 1945. © Universität Greifswald

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Foto 10: Ernst Lohmeyers Ausweis während der sowjetischen Besatzung von Greifswald. Ausstellungsdatum: 28. September 1945, knapp ein Jahr vor seiner Hinrichung. © Julia Otto und Stefan Rettner, geb. Otto

Foto 11: Die Universität Greifswald, 1996. © James R. Edwards

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Foto 12: Lohmeyer-Haus in Greifswald, 1996. Die Familie wohnte in der zweiten Etage. © James R. Edwards

Foto 13: Das NKWD-Gefängnis in Greifswald, in dem Lohmeyer inhaftiert war, 1996. © James R. Edwards

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Foto 14: Autor am Hauptportal der Universiät Breslau, 2016. © James R. Edwards

Kapitel 11. Amtsenthebung

„Wenn etwas uns fortgenommen wird, womit wir tief und wunderbar zusammenhängen, so ist viel von uns selber mit fortgenommen. Gott aber will, daß wir uns wiederfinden, reicher um alles Verlorene und vermehrt um jeden unendlichen Schmerz.“1 Rainer Maria Rilke an Fürstin Cathia von Schönaich-Carolath, 1908

Die Politik der Verkleinerung Im Januar 1934 hatten Lohmeyer und die Universitätsverwaltung erbittert gegeneinander gekämpft. Rektor Walz hatte seine Züge im gesamten Angriff genau abgestimmt und die nötigen Verbündeten um sich geschart. Es gelang ihm, Lohmeyer den letzten Rest an Einfluss zu rauben, der ihm aus seiner Zeit als Rektor und aus der aktiven Leitung des Fachbereichs Theologie noch geblieben war. Lohmeyer war auf den Status eines einfachen Professors zurückgestuft worden. Ein klarer Sieg für Walz. Es hätte kaum anders ausgehen können, denn im Januar 1934 konnte Walz mit dem Rückenwind des Nationalsozialismus agieren. Aber es war kein uneingeschränkter Sieg. Walz hatte den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung informiert, dass Lohmeyers langjähriges Verhalten eine „sofortige Abberufung“ erforderlich mache.2 Allerdings hatte er sich nicht durchsetzen können, jedenfalls nicht sofort. Noch immer war Lohmeyer Professor in Breslau, und er eröffnete eine zweite Front in der Stadt; oder, falls die Metapher zu dramatisch klingt, er bemühte sich um effektivere Züge auf dem Schachbrett der Universitätspolitik. Wie wir gesehen haben, war Lohmeyer aktives Mitglied im Pfarrernotbund, den Martin Niemöller im September 1933 formiert hatte. Im Januar 1934 war der Bund, für den anfänglich dreizehnhundert Pastoren unterzeichnet hatten, auf über siebentausend Pastoren angewachsen und transformierte sich sehr schnell in das, was im Frühjahr 1934 zur Bekennenden Kirche werden sollte. Walz war es gelungen, Lohmeyers Einfluss am Fachbereich Theologie zu beschneiden, aber über dessen Arbeit im Pfarrernotbund und der Bekennenden Kirche, über die Lohmeyer weiterhin Einfluss ausübte, hatte er weniger Kontrolle.

1 Rainer Maria Rilke an Fürstin Cathia von Schönaich-Carolath, 7. Mai 1908. 2 Gustav Adolf Walz an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 26. Januar 1934, zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 163–164.

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Im Mai 1934 trafen sich die Kirchenleitungen des Pfarrernotbundes einschließlich Karl Barth, Hans Asmussen und Thomas Breit in Barmen bei Düsseldorf, um die Barmer Erklärung zu entwerfen und zu verabschieden, die sich staatliche Einmischung in die evangelische Kirchenordnung ausdrücklich verbat. Barmen verpflichtete die Kirche auf die Autorität der Schrift und der reformatorischen Konfessionen, insbesondere auf das Augsburger Bekenntnis, wodurch sie zum Gründungsdokument einer neuen kirchlichen Einheit wurde – der Bekennenden Kirche, die als kirchliches Bollwerk gegen die deutsch-christliche Bewegung stehen sollte. Auf ihrem Zenit Mitte der 1930er-Jahre sollte die Bekennende Kirche beinahe ein Drittel aller lutherischen und reformierten Pastoren und Gemeinden in Deutschland umfassen. Das Eintreten für die Bekennende Kirche in Breslau wurde für Lohmeyer zum Mittel, dem Einfluss der am Fachbereich Theologie dominierenden deutsch-christlichen Professoren entgegenzuwirken. Aber es besiegelte auch sein Schicksal in Breslau, weil es der Pro-NS-Universität einen Anlass lieferte, ihn endgültig aus der Fakultät zu vertreiben. Die theologische Erklärung von Barmen wurde von 138 Kirchenleitungen unterzeichnet, die im Mai 1934 an der Barmer Bekenntnissynode teilgenommen hatten. Weder gehörte Lohmeyer zu den Unterzeichnern noch hatte er an der Synode teilgenommen. Dass seine Unterschrift fehlte und er nicht dabei war, verwundert nicht. Denn Barmen zielte vor allem auf Kirche und Pastorat, die Synode wollte die evangelisch protestantische Kirche mit einer theologischen Abwehr untermauern, die der Umgarnung durch die deutsch-christliche Bewegung widerstehen und so verhindern konnte, dass die kleinere Bekennende Kirche von der „Deutschchristlichkeit“ geschluckt wurde. Der Aufruf von Barmen erging daher an Pastoren und Kirchenleitungen statt an Professoren. Einzige Ausnahme war Professor Karl Barth, der die Erklärung federführend entworfen hatte. Doch auch die Professoren, die mit Barmen einverstanden waren, sollten nicht ohne Stimme bleiben. Hans von Soden, Theologie-Professor in Marburg, schrieb und verteilte das Bekenntnis und Verfassung in den evangelischen Kirchen, eine theologische Verteidigung gegen die Gleichschaltung, dem Versuch der NSDAP, das gesamte deutsche Alltagsleben und insbesondere unangepassten und widerständigen Nebenflüsse in den Mainstream der NS-Ideologie einzuspeisen. Solche Nebenflüsse gab es in allen Sektoren – Ökonomie, Finanzen, Industrie, Politik, Kultur, Künste, Literatur und Religion. Die römisch-katholische Kirche war durch das Reichskonkordat von 1933 erfolgreich angeschlossen oder umgelenkt worden, doch die protestantische Kirche, die die Mehrheit stellte, war nicht in gleicher Weise kooptiert. Die protestantische Kirche war für den Nationalsozialismus potenziell gefährlicher, weil sie größer und wegen ihrer verschiedenen und uneinheitlichen Glaubensgemeinschaften nicht so leicht zu kontrollieren war. Dass die Nationalsozialisten den Arierparagrafen, der Personen jüdischer Abstammung von der Bekleidung öffentlicher Ämter in Deutschland ausschloss, auf die Kirche ausweiten

Die Politik der Verkleinerung

und diese Menschen vom protestantischen Pastorendienst fernhalten wollte, war ein Versuch der Gleichschaltung 3 . Hitler verschärfte diesen Versuch, indem er persönlich die Zügel in die Hand nahm, um die disparaten und potenziell aufrührerischen protestantischen Kirchen unter einem einzigen Oberhaupt zu vereinen, quasi einem protestantischen Papst. Im September 1933 ernannte er den fünfzigjährigen protestantischen Kirchenmann Dr. Ludwig Müller, Parteimitglied seit 1931, zum „Reichsbischof “. Müller war theologisch inkompetent, machthungrig, hinterhältig und eitel – genau der Richtige für den Posten. Noch eifriger in seinem Antisemitismus als in jeder theologischen Lehre, ob orthodox oder nicht, fehlte es Müller an jeglicher Eignung für das Bischofsamt. Und sein Übermaß an nationalsozialistischem Prunk und Pomp in der kirchlichen Theatralik machte ihn für Hitler fast so geschmacklos, wie er es für die Bekennende Kirche von Anfang an war. Die Einführung des Arierparagrafen und die Ernennung Müllers zum Reichsbischof führten unverzüglich zu einer entschlossenen Gegenreaktion der Kirche. Im selben Monat, in dem Hitler Müller als Reichsbischof einsetzte, bildete Martin Niemöller innerhalb der Kirche den Pfarrernotbund. Zwei Monate später, also im November 1933, entwarf und verteilte Hans von Soden die Erklärung Bekenntnis und Verfassung mit der Forderung, Müller als Reichsbischof abzuberufen. Einhundert Universitätsprofessoren unterzeichneten die Erklärung, auch Lohmeyer, genau wie etwa achtzig Theologiestudenten an der Universität Breslau.4 So wichtig Barmen und Bekenntnis und Verfassung auch waren, für sich genommen reichten sie nicht aus als Mittel gegen den Krebs, der die Kirche befallen hatte. Effektive Strategien, Verfahren, Lehre und Katechismus mussten wie theologische weiße Blutkörperchen in den Blutkreislauf der Kirche infundiert werden, um Letztere vor dem bösartigen Nationalsozialismus zu schützen. Im Sommer 1934 lehrte Lohmeyer über das Johannesevangelium und dessen kompromisslose Christologie. Außerdem, und damit ging er noch deutlicher auf Konfrontationskurs, richtete er eine neue Lehrveranstaltung in Breslau ein – „Christentum und Judentum“, in dem er die Idee eines wechselseitigen Verhältnisses zwischen den beiden Religionen entwickelte, wie er es ein Jahr zuvor in seinem Brief an Martin Buber angeschnitten hatte. Und im gleichen Sommer unterstützte er seinen Assistenten Gottfried Fitzer bei der Gründung von Gemeinden der Bekennenden Kirche in Schlesien.

3 Deutsch und kursiv im Original. 4 Die studentischen Unterschriften unter Bekenntnis und Verfassung erwähnt Lohmeyer in seinem persönlichen Bericht über die Ereignisse rund um seine Abberufung vom Lehrstuhl der theologischen Fakultät. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 12.

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Schluss in Breslau Es ist verlockend, sich einen effektiven Einsatz gegen Gewaltherrschaft in Form einer dramatischen Konfrontation vorzustellen. Martin Luthers unerschrockene Verteidigung auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521 kommt einem in den Sinn, wo er als Mönch allein vor den gegen ihn angetretenen weltlichen und kirchlichen Autoritäten verkündete: „Hier stehe ich!“ Der Verzicht von Bischof Thomas Cranmer auf Widerruf unter der Herrschaft der Bloody Mary ist ein weiteres Beispiel. Unmittelbar vor seiner Verbrennung auf dem Scheiterhaufen im Jahr 1556 schob er seine Hand ins Feuer und rief: „Diese Hand hat beleidigt!“ Oder wer erinnert sich nicht an die Aussage von Professor Kurt Huber, dem einzigen deutschen Universitätsprofessor, der in zwölf Jahren NS-Diktatur wegen Widerstands hingerichtet wurde? In seinem mutigen Auftritt vor dem fanatischen Richter Roland Freisler, in dem Huber seine Unterstützung der studentischen Widerstandsorganisation Weiße Rose an der Universität München verteidigte, zitierte er Johann Gottlieb Fichte: Und handeln sollst du so Als hinge von dir und deinem Tun allein Das Schicksal ab der deutschen Dinge Und die Verantwortung wär´ dein.5

Lohmeyers letzte Offensive gegen den Nationalsozialismus in Breslau kam zwar nicht so dramatisch daher, war aber meiner Meinung nach auf ganz andere Art und Weise heldenhaft. Die Bekennende Kirche in Breslau und Schlesien war eher schwach im Vergleich mit den Kirchen deutsch-christlicher Überzeugung, die an Stärke und Mitgliederzahl weit überlegen waren. Für die Bekennende Kirche gab es im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kein wichtigeres Rüstzeug und kein wichtigeres Zeugnis als die Gremienarbeit im Ordinationsverfahren der Pastoren. Diese weltliche Aufgabe war es, der Lohmeyer sich widmete, und dabei hielt er die Stimme der Rechtgläubigkeit in den Kirchen lebendig. Seine Stimme war in der Minderheit, und manchmal war es auch die einzige, aber die Unterstützung der Pastoralkandidaten bildete einen spürbaren Unterschied im Zeugnis der Bekennenden Kirche in Schlesien. Günther Ruprecht bot ihm die Dienste des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht für die Publikation von „wissenschaftlicher Theologie mit Substanz“ an, um einen Ausgleich gegen die Flut der deutsch-christlichen Propaganda zu schaffen. Ohne solche Theologie, warnte Ruprecht, könne „wissenschaftliche Gründlichkeit […], ohne

5 Zu Hubers letztem Zeugnis vor dem Volksgerichtshof und Richter Roland Freisler siehe Dying We Live, hg. Helmut Gollwitzer, Käthe Kuhn und Reinhold Schneider, London: Collins, 146–148.

Schluss in Breslau

die kein ehrlicher und dauerhafter Frieden möglich ist“, unter keinen Umständen erwartet werden.6 1935 kam es jedoch zu einem Zwischenfall, der Lohmeyers prekäre Position in der Opposition gegenüber dem Nationalsozialismus in der schlesischen Kirche gefährdete. Im Frühjahr des Jahres, also fast ein Jahr nach der Barmer Erklärung und Bekenntnis und Verfassung, prangerten die Bekennenden Pastoren der Altpreußischen Union in einer Kanzelerklärung Theologie und Ziele der Deutsch-Christen an. Bedenkt man Zeit und Ort, kann es keinen Zweifel daran geben, wie mutig die Verlesung der Erklärung war, obwohl natürlich die Frage im Raum steht, ob es auch klug war. Die Nationalsozialisten reagierten schnell und hart. Zweihundert Bekennende Pastoren wurden festgenommen und ins Gefängnis gesteckt, unter ihnen Lohmeyers früherer Doktorand und Assistent Werner Schmauch. Die Haft dauerte zwischen zwei Wochen und zwei Monaten, ein Beleg dafür, dass die Festnahmen vorrangig der Einschüchterung dienten. Dennoch waren sie ein unheilvolles Zeichen und signalisierten gleichzeitig die offene Einmischung der NSDAP in kirchliche Angelegenheiten. Pastor Otto Zänker, Bischof der Bekennenden Kirche in Schlesien, musste die für März vorgesehene Einberufung der Vorläufigen Schlesischen Synode verschieben. Die Versammlung fand schließlich im Mai in der St. Christophorikirche statt, derselben Kirche, in der Lohmeyer während seiner Amtszeit in Breslau regelmäßig gepredigt hatte. Lohmeyer war das einzige Mitglied der Breslauer theologischen Fakultät, das an dem Treffen teilnahm. Die Priesteramtskandidaten der Bekennenden Kirche waren zunehmend den mehrheitlich deutsch-christlichen Professoren ausgeliefert, die die theologischen Prüfungen abnahmen und bewerteten. Die Stimmung der Deutsch-Christen gegenüber der Bekennenden Kirche in Breslau war ausgesprochen unbarmherzig. Im Einklang mit der dritten Bekenntnissynode in Augsburg im Juni 1935 versuchte Bischof Zänker, die deutsch-christlichen Mitglieder aus dem Prüfungsverfahren für das Priesteramt auszuschließen. Das Oberkonsistorium der lutherischen Kirche, das fest in der Hand der Deutsch-Christen war, schlug schnell zurück und verweigerte Zänker den Zugang zu den Prüfungen und den Räumen, in denen er Prüfungen abhalten sollte. Darüber hinaus erklärte das Oberkonsistorium das theologische Prüfungsverfahren der Bekennenden Kirche für ungesetzlich. Lohmeyer deutete die Antwort des Oberkonsistoriums als Ächtung von Zänker, nicht von sich selbst. Für das restliche Jahr 1935 verblieb er im Prüfungsausschuss von Breslau. Anfang Januar 1936 führte seine fortgesetzte Teilnahme an Prüfungsverfahren jedoch zu einem scharfen Verweis des Dekans der Breslauer theologischen Fakultät. Lohmeyer, so der Dekan, habe absichtlich gegen das Verbot der Teilnahme von Pastoren der

6 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 87.

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Bekennenden Kirche an Ordinationsprüfungen verstoßen und sei eine umfassende Erklärung für sein Verhalten schuldig.7 Mitte Januar verfasste Lohmeyer einen vierseitigen handschriftlichen Brief von elfhundert Wörtern an den Dekan, in dem er sich sorgfältig, sachlich und, was wohl am meisten beeindruckt, ohne Invektiven verteidigte. Er erläuterte, wie sich die Sache abgespielt hatte. Was der Dekan als „illegale Prüfungen“ bezeichnete, sei nach sorgfältiger Lektüre des Gesetzes in das Ermessen der betreffenden Teilnehmer gestellt. Bischof Zänker war rechtmäßig in den Vorsitz des Verfahrens berufen worden und Lohmeyer sein regulärer Nachfolger. Als ordentlicher Professor und Mitglied der lutherischen Kirche behauptete Lohmeyer sein Recht auf Teilnahme an den Ordinationsprüfungen. Das vielleicht Wichtigste an Lohmeyers Erwiderung war das Datum – Januar 1936. Zu diesem Zeitpunkt lag seine Abberufung von der theologischen Fakultät in Breslau schon vier Monate zurück. Er adressierte das Schreiben an den Dekan aus Greifswald, wohin er umgezogen war. Lohmeyer ging es jedoch nicht darum, ob er noch Fakultätsmitglied in Breslau war oder wo er gerade lebte. Ihm ging es stets um Wahrheit, für die er Zeugnis ablegen würde, selbst wenn er der letzte Mensch auf Erden wäre. Die von Rektor Walz seit Langem eingefädelte Absetzung Lohmeyers wurde schließlich im Oktober 1935 vollzogen, achtzehn Monate nach dem Denkzettel vom Januar 1934. Den ganzen Sommer 1935 hatte es Verhandlungen wegen Lohmeyers Strafversetzung8 nach Greifswald geben. Joachim Jeremias verließ Greifswald für eine neutestamentliche Professur in Göttingen, ein Nachfolger wurde gesucht. Zusammen mit Karl Heinrich Rengstorf und Julius Schniewind kam Lohmeyer in die Endrunde der Bewerbung. Anfang August hatte der Dekan der theologischen Fakultät Greifswald dem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin mitgeteilt, dass er Schniewind für den besten Kandidaten hielte, allerdings befürchte, dass der „schärfste Vorkämpfer der Bekenntniskirche in Königsberg“9 (Bezeichnung des Dekans für Schniewind) die Fakultät in Greifswald destabilisieren könnte. Im Unterschied zu Schniewinds „außerordentlich starkem Einfluß“10 schlug der Dekan Lohmeyer vor und führte ins Feld, dass „bei D. Lohmeyer wenigstens dieser starke persönliche Einfluß nicht ganz so zur Auswirkung“11 komme. Wie falsch diese Prognose doch sein sollte! Mitte Oktober 1935 hatten Unterstützer-Briefe von Universitätsvertretern in Greifswald einschließlich

7 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 12, p. 50. - Der Brief von Dekan Lothar ist datiert auf den 8. Januar 1936. 8 Deutsch und kursiv im Orginal. 9 UAG PA, 347, Band 1, p. 57. 10 UAG PA, 347, Band 1, p. 57. 11 UAG PA, 347, Band 1, p. 57.

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des Rektors Carl Engel die Versetzung Lohmeyers beim Reichminister in Berlin durchgesetzt.12 Endlich war die Entlassung Lohmeyers aus dem Lehrkörper der Universität Breslau komplett abgeschlossen. Als Grund für die Versetzung wurden Lohmeyers „antinationalsozialistischen Einstellungen und Verhaltensweisen“ genannt, wie von Rektor Walz bereits im Januar 1934 vorgebracht. Doch nach Lohmeyers Auffassung war es letztlich nicht um seine NS-Gegnerschaft gegangen, sondern um den Einsatz für die Bekennende Kirche. In einem vertraulichen Brief an Günther Ruprecht vom 18. März schrieb er: „übrigens ist die Nachricht von meiner Berufung eines der bekannten Täuschungsmanöver. Es ist in Wirklichkeit eine Versetzung, und zwar wie mir mündlich zugegeben worden ist, eine Strafmaßnahme wegen kirchlicher Haltung und Betätigung im Sinne der bekennenden Kirche.“13

Greifswald Lohmeyer mochte keine Veränderungen. So geht es den meisten Gelehrten – Veränderungen stören die produktiven Arbeitsabläufe. Schon der Umzug aus dem geschäftigen Berlin in das akademische Heidelberg fast zwanzig Jahre zuvor war nicht besonders leicht gefallen, ebenso wenig der Umzug von Heidelberg nach Breslau – es lag so weit im „Osten“. Greifswald stellte die Lohmeyer-Familie vor besondere Herausforderungen. Die Stadt war viel kleiner als Berlin oder Breslau, sogar kleiner als Heidelberg. An der Ostsee war das Wetter zwar nicht so kalt wie im norddeutschen Inland, aber es war grauer, feuchter und windiger. Außerdem lag Greifswald weiter von den akademischen Drehscheiben entfernt, die Lohmeyer bis dahin kennengelernt hatte. Doch Greifswald bot auch angenehme Überraschungen. Die theologische Tradition an der Universität war besonders langlebig und solide. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert waren Studenten aus ganz Deutschland in den Zug gestiegen und Richtung Norden gefahren, vorbei an Heidelberg und Göttingen, Leipzig und Berlin, um in Greifswald bei theologischen Schwergewichten wie Julius Wellhausen, Hermann Cremer, Wilhelm Lütgert und Adolf Schlatter zu studieren und bei Orientwissenschaftlern wie Gustaf Dalman und Victor Schultze. Und Greifswalds theologische Vorrangstellung war keine Sache der Vergangenheit. Rudolf Hermann, Hans von Campenhausen, Walter Elliger und Ernst Lohmeyer sorgten für die theologische Lebendigkeit bis in die 1930er-Jahre.

12 Die Dokumentation in Bezug auf Lohmeyers Strafversetzung nach Greifswald stammt aus UAG PA, 347, Bd. 1. 13 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 93.

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Die Stadt selbst war eine erfrischende Abwechslung zum barocken Breslau. Von der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert hinein hatte Schweden Greifswald regiert. Der skandinavische Einfluss zeigt sich in sauberen und schlichteren Architekturlinien und einem Stadtbild vorwiegend in rotem Backstein. Größe und Anlage der Stadt erinnerten Lohmeyer an Tübingen. Beide Städte haben Hauptstraßen, die sich der Länge nach durchzogen, die Wilhelmstraße in Tübingen und die Langestraße in Greifswald. Die Langestraße verbindet Stadt, Universität und Hafen wie eine Arterie. Das in den Gemälden der großen flämischen Maler des baltischen Nordens vorherrschende Merkmal ist zugleich auch das markanteste Merkmal Greifswalds – der Himmel. Einen Tag zeigt er sich riesig, schwer und übersät mit grauen Wolken, am nächsten Tag mit ausgedehnter Bläue und einer Meeresbrise – der Himmel ist das auffälligste Element von Greifswald. Die Breslauer Behörden hatten die Absicht, Lohmeyer zu „verbannen“ – was sonst hätte „Strafversetzung“14 bedeuten können? Lohmeyer beschloss jedoch, die Versetzung und Berufung an den neuen Ort als Vorsehung Gottes zu deuten. In seiner letzten offiziellen Predigt in Breslau am 13. Oktober 1935, als seine Stelle in Greifswald schon gesichert war, brachte er diese Haltung zum Ausdruck. Textgrundlage der Predigt war „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (Ps 98), sein Thema Gottes erlösende Gegenwart inmitten unerlöster Verhältnisse: Gottes Wort entbindet uns von keinem Ringen, es nimmt uns nicht die tägliche Mühsal des Lebens, ja wir müssen sagen, erst dort wo wir sein Heil sehen, wird uns das Unheil unseres Lebens voll bewußt. Wir sind gerade dann die Angefochtenen, wenn Er uns aus allem Streit reißt; und die Anfechtung ist unendlich tiefer und größer als alle Anfechtungen, die wir von Menschen und Verhältnissen erdulden mögen. Aber liebe Freunde, auch in der tiefsten Anfechtung wird noch der Klang Seiner Stimme vernehmbar und weht sie hinweg wie einen leichten Rauch. Ihr wißt es wohl, daß es hier keine Beweise gibt; […]. Wir können uns auch ihr versagen, und Generationen von Menschen haben sich ihr versagt. Wir können uns auch der Stimme Gottes versagen – und wie viele sind es, die es tun – und wie oft tun wir es selbst. Aber auch noch dem Versagenden schenkt Er seine Stimme; wie das Meer braust und niemals stumm wird, wie die Wasserströme frohlocken und ihren Lauf nicht hemmen konnen, so klingt auch durch unser Leben, wir mögen uns ihr entziehen oder uns ihr aufschließen, das Wunder Seiner Stimme, unfaßbar und dennoch immer vernehmlich. Und wem er diese Seine Stimme schenkt, und wem schenkt er sie nicht, der kann nicht anders als mit dem Psalmisten sprechen: Singet dem Herrn ein neues Lied.15

14 Deutsch und kursiv im Original. 15 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 8.

Rückzug aus dem Kampf?

Das Wort, das ich mit „trials“ ins Englische übersetzt habe, heißt auf Deutsch Anfechtung 16 und ist in der lutherischen Sprache und Theologie ein häufig benutzter und wichtiger Begriff. Für Luther waren Anfechtungen kein Anzeichen dafür, dass Gott den Gläubigen aufgegeben hatte, sondern das genaue Gegenteil – Anzeichen für Gottes aktive Präsenz im Glaubenden, denn die Welt und der Teufel prüfen den am strengsten, der sich für ein Leben im Herrn entschieden hat. Lohmeyer hielt sich in seiner Predigt eng an Luthers Vorbild und sollte dessen Wichtigkeit in Greifswald ebenso erleben wie in Breslau. In Breslau war er von allen Seiten bedrängt worden, in den Worten des Apostels Paulus: „von außen Widerspruch und Anfeindungen, im Innern Angst und Furcht.“ (2 Kor 7,5) In Greifswald kommen die Anfechtungen in anderer Gestalt daher. Die Stadt lag nicht so nah an der Frontlinie wie Breslau, war aber auch nicht ungefährlich – ungefährlich war es nirgendwo in Deutschland.

Rückzug aus dem Kampf? Als der DAAD mir 1993 ein Stipendium für Recherchen zum mysteriösen Verschwinden und dem Tod Lohmeyers gewährte, kontaktierte ich Bischof Albrecht Schönherr wegen eines Gesprächs über Lohmeyer. Schönherr hatte den ersten Kurs des später illegalen Predigerseminars für die Bekennende Kirche besucht, das Dietrich Bonhoeffer in Finkenwalde bei Stettin eingerichtet hatte, ungefähr achtzig Kilometer südöstlich von Greifswald. Anders als Bonhoeffer überlebte Schönherr die NS-Zeit und wurde im kommunistischen Ostdeutschland Bischof von BerlinBrandenburg. 1936 hatte Bonhoeffer ein Studentenheim der Bekennenden Kirche in Greifswald eingerichtet und die Leitung des Theologie-Studentenamtes übernommen. Er ernannte Schönherr zum stellvertretenden Studiendirektor und übertrug ihm die Aufsicht über das Studentenamt. Lediglich drei Universitätsprofessoren unterstützten Bonhoeffers Initiative in Greifswald – Otto Händler, Erdmann Schott und Ernst Lohmeyer, wobei Lohmeyer der maßgebliche Fürsprecher war. Die Mehrheitskirche und Fakultätsmitglieder, die der deutsch-christlichen Bewegung nahestanden, empfanden das Studentenheim als „Affront“. NS-Aktivisten in der Greifswalder Kirche überzogen das Haus wiederholt mit Durchsuchungen durch die Gestapo; mit Kriegsbeginn 1939 wurde das Haus geschlossen.17 Schönherr war Anfang achtzig, als wir uns trafen. Er war im Ruhestand, aber immer noch von großer, aufrechter Statur und feinen Gesichtszügen. Früher war er Pastor und Bischof gewesen, daher hatte ich mit einer energischen, vielleicht sogar 16 Deutsch und kursiv im Original. 17 Zusätzlich zu Schönherrs Schilderung bin ich hier Dirk Alvermann und Karl-Heinz Spieß (Hgg.) verpflichtet: Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald (1456–2006) Bd. 1, 90–91.

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streitbaren Persönlichkeit gerechnet. Der Mann, der mich begrüßte, war sanfter als angenommen, zurückhaltend und bescheiden. Ich weiß nicht genau, wie Schönherr als Bonhoeffers Assistent in Greifswald aufgetreten war, aber als ich mit ihm ungefähr ein halbes Dutzend Mal zu tun hatte (verteilt über mehrere Jahre), war ich beeindruckt von seinem irenischen Temperament und seiner Bescheidenheit, so als wolle er ausdrücken: „Alles ist gut.“ Als Bischof von Berlin-Brandenburg in den 1970ern hatte Schönherr die goldene Mitte zwischen den Polen der Kompromisslosigkeit und des Schwankens gehalten. Ich begriff, warum Bonhoeffer ihm die Verantwortung für das Studentenheim in Greifswald übertragen hatte: Bonhoeffers kristallklare theologische Einsichten und seine unbeugsame Überzeugung brauchten den Pragmatismus eines Schönherr, um in der konfliktreichen Kirchenumgebung von Greifswald wirken zu können. Nach Lohmeyers Ankunft in Greifswald Anfang 1936 hatte Schönherr sich ein paar Mal mit ihm getroffen. Schönherr behauptete allerdings nicht, ihn besonders gut gekannt zu haben. Im Lichte der Feindseligkeiten, die Lohmeyer während seiner letzten Jahre in Breslau erlebt hatte, war ich daran interessiert zu erfahren, wie er mit der Fakultät in Greifswald klargekommen war. Schönherr sagte, dass Lohmeyer das einzige Mitglied der Bekennende Kirche an der Fakultät gewesen sei. (Tatsächlich war es nicht ganz so schlimm. Sechs Fakultätsmitglieder gehörten der Bekennenden Kirche an – Deißner, von Campenhausen, Hermann, Händler, Schott und Lohmeyer – aber, wie oben erwähnt, unterstützten nur die letzten drei das Studentenheim der Bekennenden Kirche in Greifswald. Dass Schönherr sich an Lohmeyer als einzigem der Bekennenden Kirche zugehörigen Fakultätsmitglied in Greifswald erinnert, ist ein Beleg dafür, wie bedeutend seine Rolle war.) Lohmeyer kam Schönherr vor wir ein Einzelgänger: „Ich hatte den Eindruck“, sagte er zusammenfassend, „dass er sich aus dem Kampf zurückzog.“18 Es mag so ausgesehen haben, dass Lohmeyer sich in Greifswald „aus dem Kampf zurückzog“, aber ich glaube nicht daran. Falls er tatsächlich den Rückzug antrat, wäre es das erste Mal in seinem Leben gewesen. Der von Schönherr wahrgenommene Unterschied lässt sich besser mit den veränderten Bedingungen erklären, mit denen Lohmeyer sich in Greifswald konfrontiert sah. Die Tatsache, dass er Julius Schniewind im Rennen um den Posten in Neuem Testament knapp ausgestochen hatte, bedeutete eher eine Schwächung seiner Position. Außerdem kam er nach Greifwald nicht mit der gleichen Bekanntheit, die er bei der Abreise aus Breslau gehabt hatte. Vor allem aber war das politische Klima an der Universität Greifswald weniger aufgeladen und nicht so schwankend wie in Breslau. In einem kalten Krieg reagiert man anders als in einem heißen.

18 Deutsch und kursiv im Original.

Rückzug aus dem Kampf?

Aber an seiner ausdrücklichen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus hatte sich in Greifswald nichts geändert. Seine heftige Verteidigung gegenüber dem Dekan der theologischen Fakultät in Breslau, geschrieben nach dem Kampf, den er dort verloren hatte, bezeugt, dass seine Antipathie gegen den NS nicht nachgelassen hatte. In seinem ersten Jahr in Greifswald hat er sogar erneut das Schwert mit den NSBehörden gekreuzt. Anfang 1937 hielt ein Gauleiter im Barocksaal der Universität eine alberne Rede vor der theologischen Fakultät – in demselben Saal, in dem 1996 die posthume Inauguration gefeiert wurde. Die NSDAP hatte Deutschland in einunddreißig Gaue19 eingeteilt (später erweitert auf dreiunddreißig), ein Terminus aus der Zeit der Herrschaft Karls des Großen, ein Millenium früher. Das Oberhaupt des Gaus hieß Gauleiter und war mit einer Autorität betraut wie der Governor in einem amerikanischen Staat. Der Gauleiter, um den es hier geht, war Franz Schwede-Coburg; er referierte vor der Greifswalder theologischen Fakultät über die Vielfalt der nicht christlichen Weltreligionen und behauptete, die Bibel sei in einer verwirrenden Vielzahl von Handschriften überliefert, die sich gegenseitig widersprächen. Gönnerhaft ermahnte er die „Herren Theologieprofessoren“, dies „doch gefälligst auch einmal ihren Studenten [zu] sagen.“20 Die Vorlesung wurde via Lautsprecher in einen Raum übertragen, in dem die Studenten sich dicht drängten. Als die Studenten Allgemeinplätze über Weltreligionen und Falschdarstellungen über Bibelhandschriften hörten, pfiffen sie und scharrten mit den Füßen, um den Vortrag der Lächerlichkeit preiszugeben. In einem totalitären Regime kann solche Reaktion gefährlich sein. Es wird berichtet, Lohmeyer habe diesen Vortrag als „unter dem Niveau eines Sekundaners befunden.“21 Es mag durchaus sein, dass Lohmeyers Urteil noch etwas zu großzügig war. Die Behörden sahen es allerdings anders. Lohmeyer wurde wegen Verstoßes gegen das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ (Heimtückegesetz) angeklagt und fünf Monate später, also im Mai 1938, in Stettin vor Gericht gezerrt. Vor einem Urteil konnte er sich nur retten, indem er etliche Zeugenaussagen zu seinen Gunsten beibrachte.22 Auch Gerhard Saß hat Lohmeyers Haltung in Greifswald falsch eingeschätzt. Laut Saß habe Lohmeyer in Greifswald auf das Predigen verzichtet: „Das geschah sicher nicht deshalb, weil er das Katheder für wichtiger hielt, sondern weil ihm die Verantwortung für das auf der Kanzel, also im Auftrag und Namen Gottes zu Sagende so unendlich groß und schwer erschien. […] Wie kann flüchtiges Bleibendes aussagen und im Unvollkommenen Vollkommenes aufleuchten? Wie kann 19 20 21 22

Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original. Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 99. Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 99. Zur Gauleiter-Episode siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 98–100. - Siehe auch Köhn: „Von der ‚Notwendigkeit des Bekennens‘, in: Martyrium im 20. Jahrhundert, 109–121.

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ein Mensch den Weg zeigen zur Quelle des Lebens selbst? Solche Gedanken erklären Lohmeyers Zurückhaltung gegenüber eigenem Predigtdienst in den letzten Wirkungsjahren.“23 Es ist schwer vorstellbar, dass Saß hier angemessen urteilt. Unterliegt nicht jede menschliche Predigt der Torheit, die Saß beschreibt? Tatsächlich ist solche Torheit laut Apostel Paulus das entscheidende Charakteristikum jeder wahrhaftigen Predigt (1 Kor 1,18-31). Hatte Lohmeyer in seinen Jahren in Breslau nicht immer wieder solche Torheiten begangen? Warum also sollte er vor seiner Aufgabe in Greifswald zurückschrecken? Die Gründe für seinen Predigt-Verzicht in Greifswald sind einfacher – und meiner Meinung nach praktischer Natur. Einladungen zur Verkündigung des Gotteswortes werden selten gegenüber Unbekannten oder nicht Vertrauenswürdigen ausgesprochen. Auf Lohmeyer traf beides zu: Er war ein relativ unbekannter Neuankömmling in der Fakultät, und im Lichte seiner Strafversetzung in eine angstbesetzte Nazi-Umgebung war seine Platzierung in einem kontrollierten Hörsaal sinnvoller als die Beförderung auf eine offene Kanzel. Die dreijährige Dienstzeit in Greifswald vor seiner Einberufung in den Krieg war zu kurz, um Befürchtungen bezüglich seiner Person zu zerstreuen. Die Veränderungen, die Schönherr und Saß registriert hatten, waren mehr den veränderten Umständen in Greifswald geschuldet als Veränderungen bei Lohmeyer. Nun konnte er sich erholen von den endlosen Konflikten seiner letzten Jahre in Breslau, die ihn Energie gekostet und seine Schreibtätigkeit gestört hatten. Das relativ stabile politische Klima in Greifswald erlaubte ihm im Oktober 1937 eine Vortragsreise nach Schweden, wo er auch mit Theologie-Kollegen zusammentreffen konnte. Den Empfang, der ihm zuteilwurde, und die Beziehungen, die er aufbauen konnte, insbesondere zu Anton Fridrichsen, Hugo Odeberg und Anders Nygren – all das sollte sich drei Jahre später mit gleicher Begeisterung wiederholen, als er Fronturlaub vom Krieg in Belgien hatte. Der Umzug nach Greifswald markierte auch einen Neubeginn im Familienleben. Melie und er waren seit zwanzig Jahren verheiratet. Aus den Kindern wurden Teenager – Ernst-Helge war vierzehn, Hartmut dreizehn und Gudrun zehn Jahre alt. Melie und die Kinder brauchten ihn. In Greifswald schienen glückliche Zeiten anzubrechen.

Die Einzigartigkeit Ernst Lohmeyers als Theologe Theologie war für Lohmeyer wie die Luft in seiner Lunge, wie das Blut in seinen Adern. Die Störungen und Hemmnisse der letzten Jahre in Breslau, so massiv sie auch waren, hatten den lebensspendenden Fluss der Theologie in seinem Leben nicht gestoppt. Sie hatten ihn nurmehr gestaut, und diesen Stau nahm er mit nach

23 Saß: Die Bedeutung Ernst Lohmeyers für die neutestamentliche Forschung, in: DP 8, 1987, 357.

Die Einzigartigkeit Ernst Lohmeyers als Theologe

Greifswald – als sechs Jahre altes Reservoir an sauberem, tiefem theologischem Wasser. In Greifswald veröffentlichte er sechs Bücher, siebzehn wissenschaftliche Artikel und zehn Buchrezensionen. Einige dieser Publikationen waren schon in Breslau begonnen und als work in progress nach Greifwald mitgenommen worden, aber dort zu Ende gebracht und erschienen. Die Worte Josefs an seine verräterischen Brüder bewahrheiteten sich auch für Lohmeyer in Greifswald: „Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschehen ist: viel Volk am Leben zu erhalten.“ (Gen 50,20) Der Silberstreif in der Wolke seiner Strafversetzung waren der Raum, die Zeit und die weniger angespannte politische Atmosphäre, die für die Erfüllung seiner theologischen Berufung erforderlich waren. Doch das ist nicht einmal das Ungewöhnlichste an seinem abschließenden theologischen Vermächtnis, auch wenn ihm damals nicht klar war, dass es das Ende sein würde. Zwar sollte es während des Abstiegs von Deutschland in die Finsternis des Zweiten Weltkriegs entstehen, aber nicht dadurch bestimmt werden. Einmal mehr bewies er, wozu er fähig war, einmal mehr war seine Tochter Gudrun zutiefst davon beeindruckt, denn außer Melie wusste niemand besser als sie, mit welchen Schwierigkeiten ihr Vater fertigwerden musste. Sein Weg war nicht der Weg von Krisen oder Emotionen, sondern von Idealen und objektivem Denken; er setzte auf das Dauerhafte und Wichtige statt auf das emotional Lähmende und Vergängliche. Es ist wichtig zu verstehen, welcher Wissenschaftler-Typus Ernst Lohmeyer war, denn nicht alle Wissenschaftler haben die gleiche Arbeitsweise. Viele Wissenschaftler konzentrieren sich auf Themen, die das Interesse ihrer Generation wecken, und hoffen darauf, den gesicherten wissenschaftlichen Konsens wenn möglich zu verstetigen oder zu verfeinern. Anderen Wissenschaftlern ist es lieber, verkehrsreiche Gelehrtenstraßen zu meiden. Sie entscheiden sich für weniger befahrene Straßen und Pfade, in der Hoffnung auf Beiträge, die vielleicht bescheiden, aber trotzdem originell und richtungsweisend sind. Wieder andere widmen sich voll und ganz dem Ziel, zu entdecken oder zu erfinden, und entscheiden sich für eine beschreibende Wissenschaft, die Disziplinengeschichte oder für eine Zusammenfassung des Forschungsstands. Die Formen, Ziele und Themen der theologischen Wissenschaft sind, genau wie in anderen Bereichen auch, vielfältig und sehr verschieden. In einem Brief an Vandenhoeck & Ruprecht aus dem Jahr 1936 wies Lohmeyer das Verlagshaus darauf hin, zu welchem Gelehrtentypus er gehörte. Um zu rechtfertigen, warum er sich weigerte, einen für die durchschnittlich gebildete Leserschaft gedachten Standardkommentar für V&R zu verfassen, und um sich darüber hinaus gegen den Vorwurf zu verteidigen, dass seine Wissenschaft oft tendenziös und unausbalanciert sei – beziehungsweise zu sehr philosophisch determiniert –, schrieb Lohmeyer wie folgt:

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In der gegenwärtigen Lage von Theologie und Kirche und für die Zukunft des Meyerschen Kommentars scheint mir nichts nötiger zu sein als eine gründlich von ,neuen Ideen‘ geleitete Forschung am Neuen Testament. […] Wenn Sie in den letzten Jahren Ihre Ansicht geändert haben sollten, so tut mir das aufrichtig leid, aber ich kann deswegen nicht von den Prinzipien meiner Arbeit lassen.24

Im Mittelpunkt stehen die „neuen Ideen“. Lohmeyer war ein theologischer Pionier. Natürlich war er an den großen Debatten seiner Zeit beteiligt, aber wenn er sich einmischte, dann mit fast schon herrschaftlicher kritischer Unabhängigkeit; er folgte den allgemeinen Entwicklungen, gelangte aber zu ungewöhnlichen Ergebnissen. Er verweigerte sich der Langeweile modischer Falschheiten, die allen intellektuellen Disziplinen zu eigen sind. Der Wahnsinn, das deutsche Volk25 theologisch zu rechtfertigen, ist ein Beispiel für eine Strömung, die er mied und zu widerlegen versuchte. Noch häufiger griff er Themen auf, die die theologische Zunft beiseitegeschoben oder gar vergessen hatte. Beispiele hierfür sind seine Studien zum sozialen Kontext des Neuen Testaments, das Thema Märtyrertum, eine positive und wechselseitige Beziehung zwischen Judentum und Christentum und viele andere mehr. Lohmeyer hatte eine Aversion gegen Trends und Konformität und ein tief verwurzeltes Vertrauen in eine konsequente historische Wissenschaft, in objektive Bewertungen und die Unabhängigkeit des Denkens. Über allem stand seine Unzufriedenheit mit der Reduktion der Theologie auf die Mechanismen der Disziplin oder mit Überlegungen, einzelne Teile losgelöst vom Gefüge des Ganzen zu betrachten. Seine unbeirrbare Hingabe an die theologische Bedeutung biblischer Texte war seine Lösung für die Fragmentierung von Methoden und Schlussfolgerungen. Für die christliche Deutung waren biblische Sprachen, Archäologie und Epigrafik, Alte Geschichte und Soziologie und sämtliche exegetische Methoden unzureichend und bedeutungslos, es sei denn, sie dienten einer „gläubigen Theologie, die auf Grund der gläubigen Setzung deren Gehalt in ein gläubiges Wissen erhebt und zu einem System theologischer Aussagen entfaltet. Es gibt kein Wort des Glaubens und deshalb auch kein Wort der im Glauben gesehenen Offenbarung, das nicht danach drängt, in einer gläubigen Theologie seine legitime Stelle zu finden […].“26

24 Ernst Lohmeyer an Günther Ruprecht, 13. November 1936. - Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 94. 25 Deutsch und kursiv im Original. 26 Ernst Lohmeyer: Die rechte Interpretation des Mythologischen, zit. nach: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 31.

Das Markusevangelium

Das Markusevangelium Lohmeyer sah in dem eigentlich eher ungünstigen Umzug nach Greifswald eine Chance, den lange geplanten Kommentar zu Markus anzufertigen. Seit Beginn seiner akademischen Karriere hatte er sich für Markus interessiert. Das vorangehende Jahrhundert deutscher Wissenschaft hatte eine geradezu spektakuläre Neubewertung des zweiten Evangeliums erlebt. Fast zwei Jahrtausende lang war Markus für eine spätere und minderwertige Abschrift des Matthäusevangeliums gehalten worden. Beim sorgfältigen Vergleich des griechischen Markustextes mit Matthäus und Lukas waren Friedrich Schleiermacher und dessen Schüler jedoch zu einem radikal anderen Schluss gekommen: Das zweite Evangelium ist kein gekürzter Klon von Matthäus, sondern das erste und älteste Evangelium, ja sogar ein Prototyp sowohl für Matthäus als auch für Lukas. In seinem ersten Lehr-Semester in Heidelberg 1919 hatte Lohmeyer ein Seminar zum Markusevangelium angeboten. In den nächsten fünfzehn Jahren folgten mehr als zehn Seminare zu Markus oder mit ihm verbundenen Aspekten, einschließlich Passionserzählungen, synoptische Probleme, Menschensohn und frühchristliche Christologie. Ein Jahrzehnt vor seinem Umzug nach Greifswald zeichnete er einen Vertrag mit Vandenhoeck & Ruprecht, in dem es um die Anfertigung eines Markuskommentars für die Meyer-Reihe ging. 1934 jedoch kam die Arbeit am Kommentar nur noch im Schneckentempo voran. Unterbrechungen durch studentische Demonstrationen, Kirchenkämpfe und akademische Angelegenheiten hatten ständig für Ärger gesorgt. In seinen letzten Jahren in Breslau hatte Lohmeyer Ruprecht mitgeteilt, dass er „keinen Pfad aus diesem Dunkel“ sehe.27 Der Umzug nach Greifswald bot ihm eine günstige Gelegenheit, das lange aufgeschobene Projekt neu zu beleben, und in dem Markuskommentar sehen wir die Quintessenz des Theologen Lohmeyer. Der Kommentar strotzt nur so vor Erkenntnissen und Neuerungen. Zum Beispiel in der These, die er in einer Monografie mit dem Titel Galiläa und Jerusalem präsentiert, geschrieben ein Jahr zuvor als Vorbereitung auf den Kommentar. Lohmeyer stellte insbesondere die These auf, dass Geografie speziell im zweiten Evangelium eine theologische Bedeutung habe. Laut Lohmeyer präsentiert Markus Galiläa als Ort der Segnung, wo Jesus zuerst erschien, wo die Menschenmenge sich versammelte um sein Wirken zu empfangen und seine Lehre zu hören: „Der Aufriß des Lebens Jesu im Mk-Evangelium ruht auf dem klaren theologischen Gedanken, daß Gott für sein eschatologisches Werk und Evangelium das verachtete Galiläa erkoren hat.“28 Doch Gott bestimmte auch, dass das Evangelium von den Gesegneten in

27 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 83. 28 Ernst Lohmeyer: Galiläa und Jerusalem, 34.

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Galiläa an die Verdammten in Jerusalem weitergegeben werden solle, die Stadt der „Feinde“ und „Sünder“: „Der Weg des eschatologischen Vollendung ist von Gott so bestimmt, daß er in dem von Jerusalem verfemten, jetzt aber erwählten Galiläa begann. Aus dem Lande des eschatologischen Anbruchs führt er Jesus in die Stadt der Feinde und Sünder, aus der von Gott erkorenen Heimat – der doppelten Heimat des Evangeliums und des Menschensohns – in den Ort der Fremde und des Todes; […].“29 Dies „muß“ (Mk 8,31) geschehen, sagt Lohmeyer, doch Jesus befahl seinen Jüngern, nach Verleugnung und Tod nach Galiläa zurückzukehren, und wies dergestalt auf den Ort hin, an dem die eschatologische Arbeit begonnen hatte und auch erfüllt würde. (Mk 14,28; 16,7) Die wichtigste im Kommentar aufgeworfene „neue Idee“ war die zentrale und überragende Bedeutung von Jesus Christus. Das klingt nach großer Lobpreisung des Selbstverständlichen, aber es muss daran erinnert werden, dass neutestamentliche Wissenschaftler in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im Großen und Ganzen Rudolf Bultmann folgten, der die Einsetzung des Christentums eher dem Apostel Paulus zusprach als Jesus. Jesus und Johannes der Täufer wurden beide in die Ära des alten Bundes lokalisiert, nicht des neuen. In diesem Verfahren wurden die Evangelien eher so betrachtet, als lehrten sie mehr über die Frühkirche als über Jesus. Genauer gesagt, in dem Verfahren wird behauptet, dass der in den vier Evangelien porträtierte Jesus kein echtes Abbild des historischen Jesus sei, sondern vielmehr ein Abbild seiner Bedeutung für die Frühkirche. In einigen Fällen wurde sogar angenommen, dass die Frühkirche den Stoff über Jesus hergestellt habe, um ihre Überzeugungen zu rechtfertigen. Der historische Jesus wurde zu einer Figur geringerer Bedeutung herabgestuft. Diese Ansicht war in der deutschen Wissenschaft der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wie ein Goliath, dem Lohmeyer sich mit der Kühnheit eines David näherte, der nichts als fünf glatte Steine bei sich trug. Einführend sagte er, dass die Überlieferung der Evangelien nicht mit Paulus begonnen habe, sondern eindeutig mit Jesus, ja sogar mit Johannes dem Täufer als Wegbereiter. Johannes war so essenziell als Wegbereiter, dass Lohmeyer das Schreiben am Markuskommentar aufschob, bis er einen separaten Band über Johannes den Täufer fertiggestellt hatte; der Band sollte der erste eines siebenbändigen Werks über die Geschichte des Urchristentums sein.30 Zur Stützung seiner Behauptung, dass das Evangelium eine Verkündigung Jesu sei und nicht eine Selbstdarstellung der Kirche, untersuchte Lohmeyer die verschiedenen Titel, die Markus Jesus zuordnete: Lehrer, Prophet, Gesalbter, Gottessohn und Menschensohn. Lohmeyer erkannte richtig, dass Markus

29 Ernst Lohmeyer: Galiläa und Jerusalem, 34. 30 Ernst Lohmeyer: Das Urchristentum, 1. Buch: Johannes der Täufer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1932.

Das Markusevangelium

diese Titel im gesamten Evangelium nicht mit Verweis auf die Kirche interpretiert, sondern mit Verweis auf Jesus, der in der denkbar engsten Beziehung zur Person und dem Willen Gottes stehe. Bezüglich der Lehrtätigkeit Jesu nahm Lohmeyer an, dass die Jesu eigentümliche Form der Rede das Gleichnis sei, für das sich weder in der biblischen Überlieferung noch in anderen Religionen eine Parallele finde. Im Unterschied zur akademischen Theologie seiner Tage, die Gleichnisse als moralische Maxime ansah und sicher auch als Geschichten, die sich trotz ihrer Einzigartigkeit nicht grundsätzlich von anderen Sagen unterschieden, behauptete Lohmeyer, dass Jesu Gleichnisse unverwechselbar seien, sowohl literarisch als auch in dem vertrauensvollen Kontakt mit den Zuhörern.31 Mehr noch: Gleichnisse können nur verstanden werden mit Jesus als wichtigstem Bezugspunkt. Das Wesentliche der Gleichnisse liegt nicht nur in der Botschaft, sondern vor allem im Überbringer der Botschaft – Jesus. Wer in Gleichnissen spricht, ist in der Tat ein Gleichnis in nuce. Lohmeyer verfolgte die ethnische Zugehörigkeit Jesu und dessen theologische Weltanschauung im zweiten Evangelium auf ihre jüdischen Wurzeln im Alten Testament zurück. Die theologische Wissenschaft in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts deutete das Neue Testament normalerweise im Kontext der hellenistischen Kultur und setzte es in einen antithetischen und sogar feindlichen Gegensatz zum Judentum. Oben haben wir gesehen, wie die deutsch-christliche Bewegung und insbesondere Gerhard Kittel auf diesen latenten Antagonismus zum Judentum gesetzt hatten. Lohmeyer bekräftigte die jüdische Identität Jesu ohne Vorbehalte und hielt dies für das Verständnis der Mission und Botschaft Jesu für essenziell. Das Christentum sei keine hellenistische Religion, die dem Judentum antagonistisch gegenüberstehe, so Lohmeyer, sondern eine Reformbewegung innerhalb des Judentums, die Jesajas Wort vom „Licht für die Völker“ (Jes 49,6) erfüllen solle. Zu seiner Zeit war es üblich, die synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) für die historisch genaueren Evangelien zu halten und das Johannesevangelium für eine spätere theologische Abhandlung, der praktisch kein historischer Wert zukomme. Das entspricht der Linie, die das 1985 in den USA gegründete Jesus-Seminar als ein Zusammenschluss vorwiegend historisch orientierter Exegeten verfolgt. Lohmeyer weigerte sich, den historischen Wahrheitsgehalt des vierten Evangeliums zu bestreiten, da er dessen Jesus-Erzählung näher an den Synoptikern sah, als oft eingeräumt wird, und in einigen Fällen sogar historisch genauer. Sein Verständnis der Gattung der Evangelien war damals einzigartig. Der primäre Ansatz der Evangelienforschung in der deutschen Theologie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts stammte aus der sogenannten religionshistorischen Schule. Diese Schule vertrat die Ansicht, dass alle Religionen als Mythen oder Moralphilosophien

31 Siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 200–201.

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begannen oder von außerordentlichen menschlichen Gründern abstammten. Alle Ansprüche auf die Göttlichkeit solcher Gründer sei auf eine spätere theologische Legendenbildung zurückzuführen. Kurz gesagt, die religionshistorische Schule nahm an, dass die Kirche sich einen menschlichen Jesus später zum göttlichen Christus zurechtgestutzt habe. Darüber hinaus glaubte die Schule, dass das Markusevangelium den frühesten nicht theologischen menschlichen historischen Rahmen der Jesus-Erzählung darstelle, den Matthäus, Lukas und Johannes später theologisch aufgepolstert und ausgeschmückt hatten. In einem Artikel über Johannes den Täufer, erschienen fünf Jahre vor seinem Markuskommentar, brachte Lohmeyer diese Illusion zum Platzen. Das Markusevangelium sei keine einfältige und langweilige historische Erzählung: „An diesem kleinen Abschnitt des Markusevangeliums zeigte sich, daß jeder Satz und jedes Wort von einer bestimmten theologischen Anschauung getragen ist. Hier ist nichts naive Geschichtserzahlung, sondern alles bewußter Glaubensbeweis; und das Gleiche ist in anderer Weise bei Matthäus und Lukas, wie selbstverständlich bei Johannes, der Fall.“32 Lohmeyer beharrte darauf, dass theologische Perspektiven kein spätes Verblendfurnier der christlichen Tradition seien, sondern der früheste und prägendste Faktor der Evangelien. Die Reihenfolge sei nicht erstens Geschichte und zweitens Glaube, sondern umgekehrt: die Evangelien erzählen Jesu Geschichte, und zwar aus der grundlegenden Perspektive des Glaubens, und daher sind alle vier gleichermaßen wertzuschätzen – sowohl für den Glauben als auch für die Geschichte. Lohmeyers Gelehrsamkeit und seine Unabhängigkeit stellten andere „überlieferte Konsense“ der Bibelwissenschaft infrage. Bereits im frühen zwanzigsten Jahrhundert hatte die „Q-Hypothese“ in der Zunft des Neuen Testaments breite Akzeptanz gefunden. Die Hypothese besagt, dass die früheste Schicht der Jesus-Überlieferung eine Quelle sei, die von den drei Evangelisten (Matthäus, Markus und Lukas) herangezogen und für je eigene redaktionelle Zwecke genutzt wurde. Angeblich sei Q lediglich eine Spruchsammlung, ohne Jesu Reisen, Wunder, Exozismen, menschliche Begegnungen oder die Passionserzählung (Kreuzigung und Auferstehung). So bewertete Q die Lehren Jesu höher als seine rettenden Taten in den Evangelien. Dadurch wurde die Bedeutung des Todes Jesu als Sühne geschwächt oder sogar getilgt und die Person Jesu mit seiner Lehre über das Reich Gottes verdrängt. Q lieferte genau das, was die Aufklärung von der Religion erwartete oder gar verlangte: Jesus sei ein Morallehrer, aber kein göttlicher Heilsbringer. Lohmeyer beklagte die zersplitternde und fragmentierende Wirkung der QHypothese – und nicht nur der Q-Hypothese, sondern aller Quellentheorien. Durch Quellentheorien würden die Wissenschaftler in die mutmaßliche Herausbildung

32 Ernst Lohmeyer: Zur evangelischen Überlieferung von Johannes dem Täufer, 318.

Das Läuterungsfeuer

der Evangelienerzählungen verwickelt, während Lohmeyer an deren Sachlichkeit interessiert war, an ihrer Essenz und Bedeutung, der erlösenden Bedeutung von Jesu Leben. Schon im Planungsstadium zu seinem Kommentar schrieb er an Gustav Ruprecht: „Voraussetzung ist freilich, daß die Frage der Quellentheorien nicht mehr, wie es eine Zeit lang üblich war, in erster, sondern in dritter und vierter Linie steht.“33 Ähnlich skeptisch war Lohmeyer gegenüber der vorherrschenden Methode der Evangelienauslegung als sogenannte Formkritik. Laut Formkritik zirkulierten die frühesten Jesus-Überlieferungen als unabhängige Einheiten – „Formen“ – ohne jeden historischen Kontext. Wegen ihrer Relevanz für das Kirchenleben zur Zeit der Abfassung der Evangelien seien diese Einheiten konserviert worden. Die Theorie besagt ferner, dass die Meta-Erzählungen, die ursprüngliche narrative Struktur, in der solche Einheiten oder „Formen“ zuerst auftauchten, schon lange verloren gegangen waren. Die Formkritik nahm an, dass die Verfasser der Evangelien solche disparaten „Formen, also die verwaisten Einheiten der Überlieferung, einfügten, und zwar in einen narrativen Rahmen, den sie selbst hergestellt hatten. Man ging davon aus, dass Markus der erste hergestellte Rahmen war, im Wesentlichen gefolgt von Matthäus und Lukas. Lohmeyers künstlerischer und kantischer Sinn für das Ganze machte sich in der Zurückweisung des Unterbaus der Formkritik bemerkbar. Er glaubte, dass ein bedeutungsvolles und funktionales Ganzes, ob nun in Kunst, Musik, Ingenieurswesen oder Literatur, sich niemals aus einer zufälligen Zusammenstellung von Teilen ergeben könne. Das galt auch für die Evangelien. Sie waren kein Flickenteppich, keine Schnipsel zweifelhafter Authentizität, die für spätere historische Kontexte neu aufgelegt wurden, sondern in der Substanz authentische Bewahrungen der Jesus-Geschichte als Ganzes. Es war in der Tat die Essenz des Ganzen, die über die Einbeziehung der verschiedenen Teile entschied.

Das Läuterungsfeuer Die vorangegangene Diskussion vermittelt einen Eindruck von der Komplexität der Evangelienforschung und hoffentlich auch von der Bedeutung Lohmeyers als Theologe in Bezug auf diese Fragen. Sein Kommentar zum Markusevangelium fasst die Erträge von zwei Dekaden Forschungsarbeit zusammen. Nach meiner Einschätzung sind die Ergebnisse bemerkenswert reif, voller Einsichten und auch heute noch in weiten Teilen zu verteidigen. Das ist bemerkenswert, umso mehr,

33 Ernst Lohmeyer an Gustav Ruprecht, 1. Mai 1928. - Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 43.

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da er, als er den Kommentar schrieb, fünfundvierzig Jahre alt war, relativ jung für einen Bibelwissenschaftler. Darüber hinaus hatte er bedeutende wissenschaftliche Beiträge in mehreren theologischen Bereichen außerhalb der Evangelienforschung vorzuweisen. Und was vielleicht das Wichtigste ist: Dieses vielschichtige Opus hat er in einer Zeit geschaffen, in der er mehr als neun Jahre aktiven Dienst in beiden Weltkriegen aushalten musste – und dazwischen die Angriffe auf seine akademische Karriere. Wissenschaftler brauchen Ordnung, Verlässlichkeit und Ruhe, um produktiv arbeiten zu können. Es fällt nicht schwer, das Fehlen dieser Faktoren in Lohmeyers Leben als Wissenschaftler zu beklagen. Aber vielleicht sollten wir auch bedenken, dass dies womöglich eine Bedeutung für seine Wissenschaft hatte. Vielleicht hat Ernst Lohmeyer nicht trotz, sondern gerade wegen der widrigen Umstände sich zu dem Theologen des Neuen Testaments entwickelt, der er war, und im Läuterungsfeuer der Kriegsjahre und der Breslauer Opposition wurde zu reinem und beständigerem Metall geschmiedet, was sonst Schlacke geblieben wäre.

Kapitel 12. Barbarossa

„Schwerer ist noch, daß man in dies fürchterliche Chaos von Grauen und Schuld mit verflochten ist, gewiß als ein Unschuldiger, mancher wohl auch als einer, der mit allen Kraften draußen und drinnen versucht hat, einen geringen Teil solcher Schuld wieder gut zu machen – aber die Verflechtung bleibt.“1 Ernst Lohmeyer an Anton Fridrichsen, 1943

Krieg Widersprüche und Unstimmigkeiten, die im Alltagsleben eigentlich die Ausnahme bilden, wurden für Lohmeyer im Zweiten Weltkrieg zur Norm. Manche dieser Unstimmigkeiten sind interessant und eigenartig: Fronteinsatz wechselt sich plötzlich ab mit einer Woche Urlaub inklusive Opernbesuch mit Melie oder Familienbesuch in Vlotho. Ununterbrochene Korrespondenz zwischen Ernst und Melie während der Kriegsjahre. Zwei Wochen Urlaub für Lohmeyer, um in Schweden Vorlesungen zu halten … oder zwei Monate Urlaub für Unterricht in Greifswald. Getrocknete Blumen aus der russischen Steppe, sorgfältig in einen Brief an Melie eingeschlossen. Doch diese Eigenartigkeiten werden überschattet von gewichtigeren Fragen. Warum forderte das Dritte Reich einen neunundvierzigjährigen Professor für Kampfeinsätze im Krieg an? Wie kamen Melie und Gudrun, die in relativer Sicherheit lebten, mit dem Wissen um die Gefahr zurecht, der ihre drei Männer an der Ostfront jeden Tag ausgesetzt waren? Und das Erstaunlichste – warum wurde Lohmeyer, ein gläubiger Christ von aufrechter Moral und ungewöhnlichem Mut, für einen militärischen Feldzug an der Ostfront angefordert, der einen krassen Bruch internationalen Rechts darstellte? In diesem Kapitel haben wir es mit schwierigen Fragen zu tun; auf schwierige Fragen gibt es nur selten einfache Antworten. Kein Kapitel in Lohmeyers Leben – und kein Kapitel beim Schreiben dieses Buches – hat mich mit einem stärkeren Gefühl der Unzulänglichkeit zurückgelassen als dieses. Wie kann ich, der ich niemals in einem Krieg gekämpft habe, Lohmeyers Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg wirklich nachvollziehen? Wie können wir in der westlichen Welt, die die Unverletzbarkeit

1 Ernst Lohmeyer an Anton Fridrichsen, Oktober 1943. - Zit. nach Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, 49.

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Barbarossa

moralischen Bewusstseins und die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte anerkennt, verstehen, was Lohmeyer, der an beides glaubte, empfand, als er in einem Krieg gezwungen wurde, der Moral und Menschenrechte konsequent missachtete? Wie können wir völlig zu Recht die Schandtaten der deutschen Wehrmacht an der Ostfront verdammen, ohne ungerechtfertigt einzelne Personen zu verdammen, die in derselben Wehrmacht versuchten, solchen Schandtaten entgegenzuwirken? Wie sollen wir über den Blutzoll in astronomischer Höhe nachdenken, ohne die gestorbenen Menschen zu Material für statistische Analysen herabzuwürdigen? Ich habe mich bemüht, nicht impulsiv zu urteilen. Ich habe mich bemüht, darauf zu achten, dass die Erzählung Lohmeyers Erzählung bleibt, statt sie in ein Gerüst zu zwängen, das mir lieber ist. Vor allem aber versuche ich zu vermitteln, in welch heiklem und quälendem Zwiespalt ein Mann des Glaubens und der Moral wie Ernst Lohmeyer steckte – und es gab viele solcher Männer in der Wehrmacht –, ein Mann, der in einen militärischen Feldzug gezwungen wurde, welcher gegen praktisch alle Regeln der menschlichen Moral verstieß.

Das Massaker von Bromberg Am 27. August 1939 wurde Ernst Lohmeyer als Leutnant zur Wehrmacht einberufen. Fünf Tage später fand der Überfall Deutschlands auf Polen statt. 1939 sprach man noch nicht von einem „totalen Krieg“, diese Phrase sollte Goebbels erst im Februar 1943 in seiner wütenden Tirade nach der katastrophalen Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad verwenden. Dass ein neunundvierzigjähriger Universitätsprofessor eingezogen wurde, verweist trotzdem unzweideutig auf die eiserne Entschlossenheit, mit der das deutsche Oberkommando den Krieg eröffnet hatte. Zuerst übernahm Lohmeyer Verantwortung als Zugführer des nach Polen verlegten 14. Wachbataillons. Am 8. September traf das Bataillon in Bydgoszcz ein und wurde kurz darauf (am 10. September) nach Inowrocław verlegt, dann am 12. September weiter nach Serius, um am 14. September nach Bydgoszcz zurückzukehren und für den restlichen Herbst 1939 dort zu verbleiben. Diese Route durch Ortschaften mit schwer auszusprechenden Namen wäre unwichtig, wenn sie nicht bei seiner Verhaftung Anfang 1946 eine Rolle gespielt hätte. Im Zuge der deutschen Invasion Polens ermordete das 14. Wachbataillon in Bydgoszcz eine große Anzahl polnischer Bürger, der deutsche Ortsname lautete Bromberg. Da Lohmeyer dem 14. Bataillon angehörte, wurde sein Name mit dem Bromberg-Massaker (auch: Bromberger Blutsonntag) in Verbindung gebracht. Der Vorlauf des Massakers ereignete sich am Sonntag, 3. September, drei Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen, als NS-Parteigänger auf eine polnische Bürgerwehr feuerten, die durch Bromberg marschierte. Es folgte ein

Das Massaker von Bromberg

Scharmützel, bei dem die aus Soldaten und Zivilisten bestehende polnische Bürgerwehr 170 NS-Parteigänger ermordete und 700 gefangen nahm. Der Erfolg des Scharmützels rief weitere polnische Widerstandsgruppen zum Angriff auf deutsche Bürger auf den Plan, von denen viele nach dem Abschluss des Versailler Vertrags nach Polen eingewandert waren. Die genaue Anzahl der bei Vergeltungsmaßnahmen getöteten Deutschen ist nicht bekannt, sie mag bei 5.000 gelegen haben. Die NS-Propagandamühle nutzte die Repressalien als Vorwand für erbarmungslose Vergeltungsmaßnahmen gegen Polen. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels verkündete, dass Polen 58.000 Deutsche erschlagen hätten. Die Zahl war mindestens zehnfach übertrieben, lieferte aber trotzdem den Vorwand für brutale Vergeltungsmaßnahmen. In den fünf Tagen vom 5. bis 10. September glich sich die Zahl der Polen, die von Gestapo, SS-Truppen, von der SD-Einsatzgruppe IV und der NSPolizei massakriert wurden, der von Goebbels behaupteten Zahl an oder übertraf sie sogar. Dieses grauenhafte Ereignis lieferte gegen Ende des Krieges den Vorwand für russische Vergeltungsmaßnahmen an Deutschen. Als im Mai 1945 sowjetische Truppen in Greifswald einmarschierten, stand die Bestrafung von Greifswalder Angehörigen des 14. Wachbataillons ganz oben auf der Liste. Innerhalb der ersten Woche der russischen Besatzung von Greifwald wurden mehrere Angehörige des 14. Wachbataillons aus der Stadt festgenommen.2 Es gibt keinen Beleg dafür, dass Lohmeyer sich vor dem 10. September, als das Massaker endete, in Bromberg aufgehalten hat. Sowohl Melie als auch Gudrun sagten aus, dass seine Einheit des 14. Wachbataillons zum Zeitpunkt der grausamen Vorfälle Greifswald noch nicht verlassen hatte. Das russische Prozessprotokoll von 1946 bestätigt ihre Angaben, denn das Bromberg-Massaker, das an sich ein Grund für Lohmeyers Hinrichtung gewesen wäre, wurde im Protokoll nie erwähnt. Es wurde nicht angeführt, weil den russischen Staatsanwälten klar war, dass Lohmeyer sich zum Zeitpunkt des Massakers nachweislich nicht in Bromberg befunden hatte.3 Über die Gräueltaten der deutschen Armee bei der Invasion Polens wusste Lohmeyer natürlich Bescheid. Bereits im November 1939, als er noch in Polen war, beklagte er sich in einem Brief an Rudolf Bultmann über das barbarische Verhalten der deutschen Invasoren, das nicht auf den Bromberger Blutsonntag beschränkt

2 Die genaue Anzahl der Toten auf beiden Seiten infolge des Bromberg-Massakers wird schwankend angegeben, wie beispielsweise auch die genaue Anzahl der Toten durch den alliierten Bombenangriff auf Dresden am 14. Februar 1945 je nach Seriosität der Quelle schwankt und definitive Aussagen zur Sache schwierig macht. Meine Zahlen bezüglich des Massakers sind folgender Darstellung entnommen: Deutschland im Zweiten Weltkrieg Bd. 1, Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941 (Leitung: Gerhart Hass, Berlin, 1974), 178 ff.; Heinz Neumeyer: Westpreußen: Geschichte und Wandel. München: Universitas, 1993, 202 ff. 3 Zu dieser Ungeheuerlichkeit siehe James Edwards. Ernst Lohmeyer – ein Schlußkapitel, in: EvT 56, 1996, 323n8.

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Barbarossa

war. „Es ist so viel Unmögliches und Unsagbares in den besetzten Gebieten geschehen, dass es tausend Mal besser gewesen wäre, nicht anzufangen. […] Nein, moralisch haben wir alles verloren in diesen Gebieten.“4

Belgien und Niederlande Anfang Januar 1940 wurde Lohmeyers Bataillon von Polen zur Vorbereitung des Einmarsches in die Niederlande im Mai an die deutsch-niederländische Grenze verlegt. Während der Verlegung genoss er eine Urlaubswoche in Greifswald. Der fünfmonatige Aufenthalt an der Westfront in der ersten Hälfte des Jahres 1940 verschaffte ihm weitere Entlastung vom Krieg. Er war in der Lage, Melie in Greifswald zu besuchen, bei einem anderen Urlaub mit ihr in Berlin in die Oper zu gehen und im April bei noch einem weiteren Urlaub mit ihr die Familie in Vlotho zu sehen.5 Vom 27. Februar bis 7. März reiste er nach Schweden und hielt auf Einladung der theologischen Fakultät in Uppsala Vorträge. Sein Thema war „Kultus und Evangelium“, später erschien eine Monografie dazu.6 Seine Vorlesungen wurden sowohl von Studenten als auch vom Lehrkörper besucht, die Zuhörerschaft wuchs von Tag zu Tag an. Erzbischof Erling Eidem hatte ihn empfangen, und er genoss einen warmherzigen, kollegialen Dialog mit Anton Fridrichsen, Bischof Gustav Aulen und Hugo Odeberg. Damals war Odeberg der führende Gelehrte im Fach altorientalische Sprachen; Lohmeyer einigte sich mit Ruprecht, das Werk Odebergs auf Deutsch herauszubringen. Bei seinem letzten Seminar in Uppsala überreichte Fridrichsen ihm eine „Pfeife des Friedens und der Freundschaft“, eine frohe und zugleich feierliche Geste, mit der die Fakultät versicherte, dass sie trotz der potenziellen militärischen Bedrohung Schwedens durch Deutschland mit ihm verbunden bleiben wolle.7 Im April 1940 marschierte die deutsche Wehrmacht in Dänemark und Norwegen ein, am Freitag, 10. Mai, in die Niederlande. Lohmeyer kam mit den Invasionskräften in die Niederlande und wurde als Kommandeur in der Stadt Emmen und Umgebung stationiert, ein Gebiet mit ca. achtundvierzig Dörfern. Anfang Juni 1940 wurde er kurz zum Kommandeur eines Kriegsgefangenenlagers im belgischen Lokeren, östlich von Gent, ernannt.

4 Günter Haufe: „Ein Gerechter unter den Völkern“. Rede an der Universität Greifswald anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Hinrichtung Lohmeyers, 19. September 1996, 3. 5 Lohmeyers Bewegungen und Begegnungen Anfang 1940 sind seinem Feldtagebuch entnommen. GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 171. 6 Ernst Lohmeyer: Kultus und Evangelium wurde ins Englische übersetzt und unter folgendem Titel veröffentlicht: Lord of the Temple: A Study of the Relation between Cult and Gospel. 7 Zu Lohmeyers Schweden-Reise siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 106–107.

Belgien und Niederlande

Im Jahr 1940 hatte Lohmeyer mehrfach Urlaub, der ihm Besuche bei Melie in Greifswald und andernorts in Norddeutschland erlaubte. In dieser Zeit schrieb er ihr keine Briefe, sicher die längste Unterbrechung des Briefwechsels bei Trennungen während ihres Ehelebens. Im selben Zeitraum schrieb Melie ihm nur drei Briefe, in denen sie Höhen, Tiefen und Zwischentöne ihres Alltags in Greifswald schilderte. In ihrem ersten Brief ging es um die Tiefen: Ärger zu Hause während Ernsts Abwesenheit. Im Januar hatte sie sich zwei Freundinnen zum Kaffee eingeladen, und ihr ältester Sohn Helge hatte das Radio so laut gestellt, dass sie sich nicht unterhalten konnten. Melie forderte ihn auf, die Musik leiser zu drehen. Er weigerte sich, es gab Streit, Schläge konnten gerade noch abgewendet werden. Melies Zittern war noch zu spüren, als sie berichtete, dass sie befürchte, Helge würde sie schlagen.8 Im April-Brief war ihre Stimmung besser geworden, obwohl der verspätete Frühling eine melancholische Saite in ihr angestimmt hatte. Sie schickte vier selbst verfasste Gedichte, hübsch aufgeschrieben, jeweils bestehend aus vier Vierzeilern mit einem abab-Reimschema. In einem Gedicht mit dem Titel „Frühling 1940“ kontrastierte Melie den willkommenen Frühlingsbeginn mit ihrer Sorge, dass Ernst in den Krieg zieht: Die Erde trinkt. Es keimt im Grund. In’s Blaue blinkt Der Kätzchen Bund. Die Woge bricht Vom Eis befreit. Das Land im Licht Liegt froh bereit. Vom Herzen dringt Ein süßes Wort. Die Amsel singt Und Du bist fort.9

Der dritte Brief von Ende November klang um einige Oktaven höher. Ein kleines Orchester hatte Bach, Mozart, Brahms und Schubert in der St. Marien-Kirche in

8 Melie an Ernst Lohmeyer, 23. Januar 1940. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 132. 9 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 132.

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Greifswald aufgeführt. Melie legte einen Programmzettel in den Brief ein. Ganz oben auf der Liste stand der Name der Musiker: „Melie Lohmeyer. Gesang.“10 Am 10. Juni 1940 wurde Lohmeyer vom 14. Wachbataillon zur Infanteriedivision 708, versetzt, die im belgischen Aalst stationiert war. Dort diente er als Adjutant und war für eine Zivilbevölkerung von etwa dreihunderttausend Belgiern zuständig. In Aalst wurde er zum Oberleutnant befördert, fast zwei Jahre sollte er auf seinem Posten bleiben, bis April 1942; es war sein längster Einzeleinsatz im Krieg. Häufiger Urlaub von Aalst versorgte Lohmeyer mit erfreulichen Gelegenheiten, in das zivile Leben und in seine Wissenschaft einzutauchen. Sein Taschenkalender des Jahres 1940 enthält Hinweise auf Breslau, das Sommerhaus in Glasegrund, auf Berlin und Greifswald sowie auf Begegnungen mit Kollegen, Freunden und der Familie an verschiedenen Orten. Was vielleicht am meisten erstaunt, ist, dass die theologische Fakultät Urlaub für Lohmeyer anforderte, damit der seinen Unterricht an der Universität Greifswald wieder aufnehmen konnte. Der Antrag wurde positiv beschieden. Für das Wintersemester, also Januar bis März 1941, war Lohmeyer zurück in Greifswald, las an der Universität und bereitete seine in Schweden gehaltenen Vorträge für die Publikation vor; Vandenhoeck & Ruprecht gab sie 1942 heraus. In Kultus und Evangelium vertrat Lohmeyer die These, der er sich bereits in seinem Brief an Martin Buber angenähert hatte. Die Gemeinschaft, aus der sowohl die Jesus-Bewegung als auch die Frühkirche hervorgegangen waren, stand unter dem prägenden Einfluss von Priesterschaft, Tempeldienst und Opferkult und hatte somit ein viel stärker jüdisches als pagan-griechisches Profil. Für diese These, so selbstverständlich sie heute klingt, musste zu Lohmeyers Zeiten gestritten werden. Liberale akademische Gelehrte am Ende des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts führten, zumindest in Deutschland, die Anfänge des Frühchristentums normalerweise auf hellenistische statt auf jüdische Wurzeln zurück. Mit seiner intellektuellen Eigenständigkeit schwamm Lohmeyer mutig gegen diesen Strom. Lohmeyer war um den Auftrag in Aalst zu beneiden, aber auch dort nicht ohne Sorge. Ende Januar 1942 erhielt er die wohl traurigste Nachricht, die ein Vater erhalten kann. Ernst-Helge, sein ältester Sohn, der nur zwei Wochen zuvor zwanzig Jahre alt geworden war, wurde in der Schlacht um Leningrad als vermisst gemeldet. Lohmeyer schrieb an Fridrichsen, den Freund, dem er sich während des Krieges oft und offen anvertraut hatte: Wir sind in schwerer Sorge um unseren ältesten Jungen, von dem wir seit dem 23. Jan. aus dem Osten nichts mehr gehört haben, und leben von Tag zu Tag in Erwartung einer frohen oder schlimmen Nachricht. Darüber vergeht die Möglichkeit zu schreiben, und

10 Zu Melies Korrespondenz siehe GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 132.

Russland

mir kommt es fast vermessen vor, in solchen Tagen noch ein Buch herauszugeben. Ich tue es nur mit schwerem Herzen.11

Er schloss den Brief mit einer Paraphrase aus dem ersten Johannesbrief auf Griechisch: „die ganze Welt steht unter der Macht des Bösen.“ (1 Joh 5,19) Nie wieder war ein Wort von oder über Helge zu hören. Routine und Beständigkeit des Lebens in Aalst und der Verlust von Helge regten die Korrespondenz zwischen Ernst und Melie an. Er schrieb ihr fast täglich, und sie antwortete fast genauso oft. In ihrer Korrespondenz spiegeln sich ausgedehnte Zeiträume von Untätigkeit und Langeweile. Er habe ihr schon zwei Tage früher schreiben wollen, berichtete er einmal, sich aber eine Erkältung eingefangen, die sich um ein Haar zu einer Grippe entwickelt hätte. Was dann aber doch nicht geschah. Ein anderer Brief gipfelte in einem Anflug von leichtem Humor: Bei einem Wirt am Bahnhof habe er Bier und Schnaps bestellt, der Wirt hatte allerdings zwei Biere serviert. Als Lohmeyer nach dem Schnaps fragte, antwortete der Wirt, dass nach 23 Uhr kein harter Alkohol mehr ausgeschenkt würde, also habe er das zweite Bier als Ersatz gebracht. In einem weiteren Brief beschwerte Lohmeyer sich, dass er mit einem langsamen Zug mit verschmutzten Fenstern und ohne Licht fahren müsse, was ihn wertvolle Lesezeit gekostet habe. Angesichts der entsetzlichen Tragödie dieses Krieges waren solche Banalitäten sicherlich berichtenswert.12

Russland Der Frühling in Aalst fand für Lohmeyer mit der Verlegung der Infanteriedivision 708 an die Ostfront im Juni 1942 ein abruptes Ende. Bis April 1943 sollte er in Russland bleiben, der brutalsten Kriegsbühne in dem europäischen Krieg. Am 23. Juni hatte Melie Geburtstag, er schickte ihr eine Postkarte. In Hunderten Briefen zuvor hatte er als Grußformel immer geschrieben „Mein liebes Herz“. Nun wurde daraus ein schlichtes „L.H.“ D.H. „Nun sind wir wirklich in Rußland; noch ist die Landschaft arm und sandig, viel Wald und Holz.“13 Im Frühsommer zog seine Einheit in kurzen Intervallen durch mehrere ukrainische Städte, die unmittelbar nördlich am Schwarzen Meer lagen. An einem Tag wurde er um fünf Uhr morgens geweckt –von einer Truppe, die eine fremde Sprache sprach –, ohne dass er wusste, wo genau er sich befand. Aus seinem Fenster sah er Kriegsgefangene, die mit dem Zug eintrafen, breite, braune Gesichter, manche mit orientalischem Aussehen, aus

11 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 109–110. 12 Zur Korrespondenz von Ernst und Melie siehe GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 132. 13 Postkarte vom 23. Juni 1942. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 143.

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Georgien, Aserbaidschan und noch weiter östlich aus Turkmenistan. Die Truppe sei so weit und so schnell vorgedrungen, hieß es in einem Brief Ende Juni, weniger als einen Monat nach seiner Abreise aus Aalst, dass man sich gar nicht mehr daran erinnern könne, wie es war, an einem Ort zu bleiben. Zeitweilig wurde Lohmeyer das Kommando über mehrere ukrainische Städte übertragen: zwei Wochen in Kremenchug, drei Tage in Stalino (heute: Donetsk), eine Woche in Woroschilowgrad (heute: Lugansk), eine weitere Woche im benachbarten Asow, südwestlich von Rostow, an der nordöstlichen Spitze des Asowschen Meeres. An jedem Ort versuchte er, mit den Bewohnern von Mensch zu Mensch zu interagieren, statt sie wie niedergeworfene Untertanen zu behandeln. Er schrieb an Melie, dass die Russen leidenschaftlich und voller Erwartung seien. „Die Bevölkerung“, schrieb er, „ist uns hier fast freundlicher als in Flanders.“14 Exakt ein Jahr nach Beginn der Operation Barbarossa, der größten militärischen Invasion in der menschlichen Geschichte, traf Lohmeyer in Russland ein. Am 22. Juni 1941 bot Deutschland zweihundert Divisionen mit insgesamt drei Millionen Soldaten an einer knapp 2.900 Kilometer langen Front gegen die Sowjetunion auf. Die Front erstreckte sich von der Arktis bis zum Schwarzen Meer. Barbarossa vereinte alle Merkmale des Terrors auf sich, die schon den Einmarsch in Polen 1939 geprägt hatten. Dennoch war die Invasion in Russland noch grausamer, sofern das überhaupt möglich ist: ein Vernichtungskrieg. Verglichen mit der sogenannten Herrenrasse wurden Polen und Russen in der NS-Ideologie als „slawische Untermenschen“ bezeichnet, deren einzige Daseinsberechtigung künftig darin bestehe, deutschen Interessen zu dienen. An keinem Punkt in den nationalsozialistischen Kriegsanstrengungen war die militärische Vernichtung des Feindes stärker mit der Vernichtung der Juden verschränkt als in dem Krieg um die Errichtung eines „Ostreiches“ in Russland. Die deutsche Wehrmacht hatte nicht geplant, die Sowjetunion lediglich zu erobern, sondern sie durch den absichtlichen Bruch des internationalen Rechts zu terrorisieren und zu zerstören. Das Kernziel, das durch den Einsatz jedweder Mittel erreicht werden sollte, war die Vernichtung des Sowjetstaates, die skrupellose Ausbeutung seiner Ökonomie und die vollkommene Unterwerfung Russlands unter Deutschland, dessen größte Schande in der Ermordung von vierzehn Millionen Zivilisten in den deutsch besetzten russischen Gebieten bestand.15 Es war Lohmeyers Schicksal, und um diesen Lebensabschnitt ist er wahrlich nicht zu beneiden, an diesem Feldzug der Schande teilnehmen zu müssen und dabei den Kurs einzuschlagen, den er immer einzuschlagen versuchte: das Übel zu verringern und zu lindern, auch wenn er praktisch nichts ausrichten konnte.

14 Ernst Lohmeyer an Melie, 27. Juni 1942. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 143. 15 Alle Angaben und Zahlen sind weitgehend wortgetreu vom Museum Topographie des Terrors, Berlin, November 1993, übernommen.

Russland

Als die Rote Armee Gebiete an die Wehrmacht abtreten musste, die mit ihren Panzerdivisionen auf endlos langen, staubigen Feldwegen in das russische Inland vorrückte, übernahmen deutsche Besatzungskräfte die Aufgabe, die eroberten Gebiete zu sichern. An dieser zweiten Phase des Dramas in Russland, der Besatzung, war Lohmeyer beteiligt. Die ausgedehnte Korrespondenz mit Melie setzte sich auch im Sommer 1942 ununterbrochen fort, fast immer vier oder fünf Sendungen pro Woche, darunter ein paar Postkarten, meist aber Briefe, die nicht weniger als vier Seiten umfassten. In Lohmeyers Korrespondenz werden die Kommandoeinheit 708 und deren Gefecht gegen die Rote Armee nicht erwähnt. In seinen Berichten an Melie gibt es keine Schilderungen einer feindseligen Bevölkerung. Die Bevölkerung habe sie sogar oft willkommen geheißen, woraus eine Schnittstelle zwischen Eroberten und Eroberern entstand. An dieser Schnittstelle lief alles so reibungslos, dass Lohmeyer sich wider alle Erwartung in seiner Besatzungsaufsicht unterbeschäftigt sah. Normalerweise dauerte es ein bis zwei Wochen, bis Melies Antworten auf seine Briefe bei Lohmeyer eintrafen. Das zwischenzeitliche Schweigen war ihm unerträglich. „Es ist doch schwer, auf Worten hinaus jeden Tag zu schreiben, ohne Aussicht auf Antwort und Echo“, protestierte er.16 Es ist leicht einzusehen, dass Lohmeyer wegen dieser Verzögerung beunruhigt war. Und doch bleibt es bemerkenswert, dass das deutsche Postsystem einen Brief innerhalb weniger Tage über eine Strecke von 2.800 Kilometern zustellen konnte – durch Kriegsgebiet und fast immer auf dem Landweg. Die deutsche Artillerie hatte die Gebiete, für die Lohmeyer das Kommando übertragen worden war, in unterschiedlichem Ausmaß zerstört. Anfang Juli berichtete Lohmeyer an Melie, dass Woroschilowgrad massiv zerstört worden sei, einigermaßen heil geblieben seien kleinere Wohnhäuser, aber auch diese seien halb zerstört.17 Die kommunistische Parteiführung in den russischen Ortschaften war vor den anrückenden Deutschen geflohen und hatte die Menschen sich selbst überlassen. Zu diesen Menschen fühlte Lohmeyer sich stark hingezogen. Er war beeindruckt von ihrer Freundlichkeit und ihrer Tapferkeit und schaute auf sie, als wären sie Schafe ohne Hirten. Die Ukraine war ethnisch und religiös vielfältig – natürlich Ukrainer, aber auch Russen, Tataren, Armenier, Georgier, Christen und Juden – allen gemeinsam war die Armut, und sie waren dem Ansturm der Wehrmacht verteidigungslos ausgeliefert. Lohmeyer war berührt von ihrer Bescheidenheit und der Fähigkeit, in einfachen Erleichterungen des Alltagslebens Zufriedenheit zu

16 Ernst Lohmeyer an Melie, 28. Juni 1942. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 143. 17 Ernst Lohmeyer an Melie, 1. Juli 1942. - GStA PK, VI. HA, NI Lohmeyer, E., No. 143.

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finden. Jungen und Mädchen mischten sich gerne unter Lohmeyers Truppen, die Mädchen schmückten sich das Haar mit Blumen.18 Lohmeyer linderte die Not, so gut er konnte. Am 26. Juli schrieb er Melie, das eine Gruppe seiner Soldaten bei der Suche nach Brot eine Anzahl Soldaten entdeckt habe, die von Ukrainern aufgegeben worden waren und sich in einem Treibstofflager versteckt hatten. Über die Soldaten im Versteck hat Lohmeyer nichts Besonderes mitgeteilt, vielleicht um den Vorwurf der Feindbegünstigung zu vermeiden, falls der Brief abgefangen würde. Lohmeyers Soldaten wollten keine Konkurrenz um die knappen Lebensmittelvorräte und drängten ihn als Kommandeur, die Eindringlinge zu vertreiben. Lohmeyer dachte anders. Er verschaffte einem Bäcker vor Ort drei Zentner Mehl, um Brot für beide Einheiten zu backen. Alle Soldaten, hieß es im Brief an Melie, hätten sich auf das Brot gestürzt „wie Fliegen auf Honig.“19 Im November 1939, unmittelbar nach seinem Einsatz in Polen, hatte Lohmeyer an seinen Verleger Günther Ruprecht geschrieben, dass sich die Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg wiederholen würde: „Denn ich bin seit Anfang September draußen, wie vor 25 Jahren, und bin aus aller Arbeit herausgerissen.“ Daher sei er nicht in der Lage, den Entwurf des geplanten Kommentars zum Matthäusevangelium vollständig vorzulegen.20 Doch nun, im Spätherbst 1943, hatte sich eine vormals katastrophale Situation in einen glücklichen Umstand verwandelt. Er nahm seine wissenschaftlichen Aktivitäten dankbar und mit Elan wieder auf und berichtete Melie, dass ihm nach der Lektüre der Passionsgeschichte viele neue Gedanken gekommen seien, besonders über den Verrat des Judas und den Prozess des Pontius Pilatus gegen Jesus.

Topografie des Terrors Dieses Kapitel habe ich geschrieben, als ich im Herbst 2016 in Berlin war. Mein Enkel und sein Freund studierten beide im Herbstsemester an Universitäten in Europa und hatten meine Frau und mich für ein Wochenende in Berlin besucht. Sie baten darum, dass wir uns zusammen die Ausstellung ansehen, die ich für die beste Einzelausstellung über den Zweiten Weltkrieg hielt. Ich ging mit ihnen in die Dauerausstellung der Stiftung Topographie des Terrors, die sich dort befindet, wo im Dritten Reich die Wilhelmstraße und die Prinz-Albrecht-Straße aufeinanderstießen. An jener Kreuzung hatten die brutalsten und berüchtigsten NS-Terrororganisationen ihr Hauptquartier – SS, Gestapo, Sicherheitsdienst (SD)

18 Ernst Lohmeyer an Melie, 1. Juli 1942. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 143. 19 Ernst Lohmeyer an Melie, 26. Juli 1942. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 143. 20 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 104.

Topografie des Terrors

der SS und während des Krieges das Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Die Hauptquartiere wurden beim Kampf um Berlin im Jahr 1945 fast vollständig zerstört. Das Gelände stand überwiegend leer, bis 2010 die erste Dauerausstellung „Topographie des Terrors“ eröffnet wurde, die eine vollständige Übersicht über den Terror der NS-Herrschaft bieten soll. Die Ausstellung informiert über zwölf Jahre NS-Herrschaft, die geografische Ausdehnung der NS-Aggression und die Gräuel, begangen nicht nur an Juden, sondern auch an Polen, Russen und Bürgern in den verschiedenen Ländern, die das Deutsche Reich besetzt hatte, außerdem an Roma und Sinti, den Zeugen Jehovas, an politischen Gegnern, Katholiken und Protestanten, Homosexuellen, Alten, Behinderten, Vulnerablen und Ungeschützten in den Besatzungsgebieten. Topographie des Terrors zeigt das Epos des NS-Erbes in vollem Umfang – all die Jahre, all die Orte, all die Völker, all die Verbrechen; es erzählt im historischen Kontext und mit Originalfotografien, sowohl still als auch bewegt. Die Ausstellung ist bemüht, das Epos nicht nur in Form einer nüchternen Statistik zu präsentieren, sondern versucht, das Gesicht eines jeden Opfers und eines jeden Täters mit Namen und Datum zu versehen, wann immer möglich. Das Verschweigen von Identität ist ein erster Schritt zur Duldung von Gräueltaten. Die Ausstellung „Topographie des Terrors“ wird ihrem Namen gerecht: Sie ist grauenhaft. Aber sie versucht, mehr zu sein, und es gelingt ihr auch: Die Ausstellung kann auch hilfreich sein. Was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden, die Toten werden nicht wieder lebendig. Aber wir können dafür sorgen, dass weder Opfer noch Täter dieses Grauens vergessen werden. Es ist ein Ort der Erinnerung, und Erinnern ist nicht nur ein Weg, die Toten zu ehren, sondern auch ein wichtiger Schutz gegen die Wiederkehr des Bösen. Am Tag unseres Besuchs gab es eine Sonderausstellung zur Operation Barbarossa. Thema der Ausstellung war jedoch nicht die militärische Invasion, sondern die Einsatzgruppen, die den Überfall auf die Sowjetunion begleiteten – Einheiten von SS und/oder Gestapo und ausgewählte Einheiten deutscher Soldaten, deren einziger Auftrag darin bestand, schutzlosen Opfern die „Sonderbehandlung“ zukommen zu lassen, immer und überall zuerst den Juden, aber auch vielen anderen Nichtkombattanten. „Sonderbehandlung“ war ein NS-Euphemismus für die Ermordung der Opfer, die sich am Rand einer offenen Grube in einer Linie aufzustellen hatten; ihnen wurde in den Rücken geschossen und die Leichen anschließend in Massengräbern verscharrt. Die Ausstellung zeigte 573 Ortschaften, an denen die erwähnten Einsatzgruppen zwischen 1941 und 1944 fünfhundert oder mehr jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen haben, außerdem kommunistische Funktionäre, Roma, Psychiatrie-Patienten, Widerständler und Unerwünschte aller Art. Nicht alle Massentötungen durch die Nationalsozialisten fanden im Verborgenen statt. Viele Fotos zeigen beachtliche Gruppen von russischen Ortsanwohnern, die die Erschießungen beobachteten und manchmal auch eindeutig Gefallen daran fanden.

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Bei diesen Erschießungsaktionen wurden insgesamt 1,52 Millionen Menschen ermordet. Diese Zahl liegt noch weit unter der Anzahl der tatsächlich ermordeten Personen, denn Erschießungen von weniger als fünfhundert Personen wurden auf der Karte nicht verzeichnet. Man kann nur mutmaßen, wie viele Hunderte oder, was wahrscheinlicher ist, Tausende Menschen bei Massakern mit weniger als fünfhundert Personen den Tod fanden. Diese erschütternden Zahlen werden von Fotografien von Orten und Menschen begleitet, deren Namen eindeutig ermittelt werden konnten. Die Sonderausstellung über die Ostfront war nicht so stark besucht wie die Dauerausstellung. Vereinzelte Besucher gingen durch die Ausstellung, allein, schweigend, sprachlos angesichts der Gräueltaten, die gezeigt wurden. Sie bewegten sich, als ob ihr Herzschlag ausgesetzt hätte. Mein Herz hatte natürlich nicht aufgehört zu schlagen, aber es schlug unruhig. Die südlichen Gebiete auf der Karte zeigten die Regionen, in denen Lohmeyer stationiert war. Beim Anschauen der Ausstellung quälte mich ein einziger Gedanke: Was, wenn sein Name auf einer Liste auftaucht? Was, wenn ich sein Gesicht auf einer Fotografie entdecke? Deutsche Verbrechen und deutsche Täter gab es überall an der Ostfront, Menschen mit einem Fünkchen Rechtschaffenheit waren offenbar selten. Was bedeutete es, als integere Persönlichkeit an einem solchen Feldzug der Verderbnis beteiligt zu sein? Ich bin nicht auf Lohmeyers Namen gestoßen. Im Innern war mir klar, dass ich nicht auf ihn stoßen würde. Aber selbst wenn Lohmeyer persönlich von Schuld freigesprochen werden musste, korporativ war er nicht unschuldig. In seinen eigenen Worten an den Kollegen Anton Friderichsen in Schweden: „,Schwerer ist noch, daß man in dies fürchterliche Chaos von Grauen und Schuld mit verflochten ist.‘“21 Jeder, der die flackernden Bilder von Juden sieht, die mit einem Schuss in den Rücken ermordet werden, sieht für einen Moment das grausame Durcheinander, das Lohmeyer geschildert hat.

Abstieg in die Finsternis Ende August 1942, also genau drei Jahre nach seinem Einzug zur Wehrmacht, wurde Lohmeyer mit der Einheit 708 nach Süden zur Landbrücke zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer verlegt. Das Kaukasusgebirge erstreckt sich etwa auf einer Ost-West-Achse zwischen den beiden Meeren. Dort sollten Lohmeyer und seine Truppen bis zum Frühjahr des Jahres bleiben, als sie zusammen mit der gesamten deutschen Wehrmacht massiv aus Russland Richtung Westen getrieben

21 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an den Vater, in: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 49.

Abstieg in die Finsternis

wurden. Melie schnitt die Landkarte der Gegend aus der Zeitung aus, markierte die Städte, in denen Ernst stationiert war, rot, und bewahrte die Ausschnitte mit seinen eingehenden Briefen als Beleg auf. Das Gebiet, für das Lohmeyer verantwortlich war, war größer als das Land Pommern, zu dem Greifswald gehörte. Die Region hieß „Kuban“, nach dem Fluss gleichen Namens, der nordwärts vom Berg Elbrus im Kaukasusgebirge und dann westwärts zur Enge des Schwarzen Meeres und dem Asowschen Meer floss. Dort, in der Region südlich von Krasnodar, wurde Lohmeyer das Kommando über das niedere Kuban-Flusstal übertragen, insbesondere über die Städte Kurtschanskaja und Slawjansk. Seiner gestiegenen Verantwortung entsprechend wurde Lohmeyer zum Hauptmann befördert. Im Norden vom Kuban lag die wichtige Stadt Stalingrad. Dort fand im Januar und Februar 1943 die schicksalhafteste und verlustreichste Schlacht im europäischen Theater des Zweiten Weltkriegs statt, eine Schlacht, die Deutschland faktisch den Sieg kostete und das Land seinerseits dem Vergeltungsansturm der Roten Armee auslieferte. Bis März 1943 sollte Lohmeyer im Kuban südlich von Stalingrad ausharren. Zu diesem Zeitpunkt war die 6. Armee von General Paulus bei Stalingrad bereits zerrieben worden, und deutsche Truppen hatten in westlicher Richtung aus Russland herausgefunden, auf welchem Weg auch immer es möglich war. Der Briefwechsel mit Melie, der den ganzen Sommer hindurch so rege fortbestanden hatte, brach abrupt und vollständig ab. Lohmeyers Leben in den letzten sechs Monaten in Russland kann nicht mehr im Detail rekonstruiert werden, lediglich ein paar Informationsschnipsel und einzelne Bilder sind noch vorhanden. Einer dieser Schnipsel spricht Bände. In einem Brief vom November 1942 an Anton Fridrichsen, seinen Freund und neutestamentlichen Kollegen in Schweden, brachte Lohmeyer die ungeheure Belastung seiner Erfahrungen und Erlebnisse einen Moment lang zum Ausdruck: „Die Meinen sind daheim und in verhältnismäßiger Sicherheit – auf mich kommt es ja nicht so sehr an. Der Dienst ist hier in allem unendlich schwerer und aufreibender. Ich bin mager und hager geworden, nur noch Haut und Knochen und sehr grau – was Menschen für ein Inferno bereiten können, habe ich erfahren.“22 Dies schrieb Lohmeyer an Fridrichsen vor der Schlacht von Stalingrad. Für das Geschehen in Stalingrad gibt es keinen Vergleich, es ist praktisch unvorstellbar. Hitler und das Oberkommando hatten das Maximum an verfügbaren Kräften aufgeboten, um sich über Stalingrad Zugang zu den für die Kriegsführung notwendigen Ressourcen zu verschaffen – russisches Öl, Getreide, Stahl und Gummi. Im Herbst 1942 trafen insgesamt 235.000 deutsche Truppen auf Stalingrad. Russische Truppen befestigten die innere Stadt, griffen die Wehrmacht, die sich an der Westseite der Stadt zusammengezogen hatte, aber nicht entscheidend an. Deutsche Truppen

22 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 110.

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gruben sich ein für den Winter, suchten Zuflucht in Gräben, Höhlen, Erdhütten – überall dort, wo sie vor Schnee und Kälte Schutz finden konnten, wenn das Thermometer bis 40 °C unter null sank. Trotz kompletter Zerstörung der Stadt war es den Deutschen nicht gelungen, sie auch einzunehmen – dennoch waren Russen nicht zu einer ernsten Gegenoffensive übergegangen. Der russische Feind blieb schwer fassbar, schien abwesend. Er war aber nicht abwesend. Heimlich und systematisch wurde die 6. Armee des Generals Paulus von der Roten Armee eingekesselt. Im Januar war die Einkesselung mit einer Million aufgebotener Soldaten abgeschlossen. Eine Viertelmillion frierende, hungernde und erschöpfte deutsche Soldaten waren dem Untergang preisgegeben, mit einem Ende, das für Deutschland verheerend war. In der Schlacht von Stalingrad starben 125.000 deutsche Soldaten – davon 100.000 in den letzten drei Wochen des Januar. Einhundertundzehntausend deutsche Soldaten ergaben sich im Zuge der Niederlage der Roten Armee und marschierten im Winter zu Fuß fast tausend Kilometer nördlich nach Moskau zur Siegesparade. Von Moskau wurden sie in die Gulags verschleppt. Von den ungefähr 235.000 deutschen Soldaten in Stalingrad kehrten lediglich 5.000 lebend nach Deutschland zurück. Das heißt, von fünfundvierzig deutschen Soldaten, die nach Stalingrad geschickt wurden, überlebte nur einer – ein einziger deutscher Soldat!23 Lohmeyer war nicht in Stalingrad, aber die Folgen hatte er in seinen zehn Monaten im Kuban zu ertragen. Er wurde hager, bekam graue Haare. Es fehlte alles Überlebensnotwendige: Nahrungsvorräte waren knapp, auch für seine Soldaten, genauso wie Medikamente, Treibstoff, Kleidung und Unterkünfte. Die örtliche Bevölkerung, die vor der deutschen Besatzung eigentlich Angst hatte, vertraute Lohmeyer. Sie kamen und bettelten, oft in Scharen, um Dinge, die er er ihnen gegeben hätte, wenn es denn möglich gewesen wäre. Jahre später, im September 1989, schrieb Margarete Tschirley, eine Studentin Lohmeyers in Breslau, an Grudrun und schilderte eine Begegnung mit Lohmeyer im Jahr 1943 nach seiner Heimkehr aus Russland: Fast hatte ich ihn nicht wiedererkannt. Das war nicht mehr der jugendliche, schon durch sein ansprechendes Äußeres seine Hörer gewinnende Dozent, als den ich ihn gekannt hatte. Er hatte die Zähne verloren, das Gesicht war eingefallen, u. er wirkte sehr gealtert. Nur wenn er sprach, wirkete er wie früher: überlegt und überlegen. ‚Du erschrickst über mein Aussehen. Verlust der Zähne. Skorbut. Ernährungsmangel. Keine Vitamine.‘ In Verbindung damit erzählte er, daß in seinem Verwaltungsgebiet eine Quadratkilometer große Apfelplantage gelegen hatte. Die dazu gehörenden Konservenfabriken waren zerstört. Sein Vorgänger hatte bei strengster Strafe verboten, daß jemand von der Bevölkerung

23 Siehe John Keegan: The Second World War. New York: Penguin Books, 1989, 227–237.

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Äpfel pflückte. Er habe in einem Anschlag bekanntgegeben, daß, wer Äpfel pflückte und eine bestimmte Menge abliefere, mit nach Hause nehmen dürfe, soviel er tragen könne. ‚Es ist kein Apfel am Baum geblieben, die Soldaten hatten Äpfel und die Bevölkerung auch.‘ In diesem Zusammenhang fiel der Satz, der sich mir unvergeßlich eingeprägt hat: ‚Ich bin auf nichts stolz in meinem Leben‘ (im Zusammenhang war deutlich, daß er eine Universitätslaufbahn u. seine Bücher meinte); aber auf eins bin ich stolz: daß ich an dieser Stelle ohne Todesurteil ausgekommen bin. Du ahnst nicht, wie leichtfertig damit umgegangen wird‘.24

In den frühen 1980ern dachte Gudrun darüber nach, woran es lag, dass ihr Vater solch hoffnungslose Situationen durchstehen konnte: „Es mag heute schwer begreifbar sein, daß ein Mann, der in führender Position schon die Bedrängnis der NS-Zeit an sich selbst erfahren, der Einsicht durch seine Funktion als Besatzungsoffizier in Verfahrensweisen der Bolschewisten gewonnen hatte, daß ein Mann von so hoher Intelligenz und tief verwurzelter Menschlichkeit sich für dieses Amt zur Verfügung stellte.“25 In zwei Eigenschaften ihres Vaters fand Gudrun Antwort auf ihre Fragen. Erstens glaubte sie, „zwei Gründe sind da zunächst zu nennen: Mein Vater entzog sich nie einer Verantwortung, wenn sie ihm notwendig erschien. Er hatte die merkwürdige Gabe, sich für Menschen und Dinge einsetzen zu können, ohne die Gefahr für die eigene Person in Erwägung zu ziehen.“26 Und zweitens habe er sich nicht von den Enttäuschungen der Gegenwart niederdrücken lassen, sondern setzte auf die Zukunft: „Hoffentlich bleibt mir noch etwas Zeit. Ich habe noch so viel zu sagen.“27 Seine akademische und theologische Arbeit, die Bücher, die er schreiben wollte, bevor er starb – und die Bücher, die er geschrieben hatte: Kultus und Evangelium, Gottesknecht und Davidsohn, Das Vaterunser, den Kommentar zum Markusevangelium – alle diese Projekte und Vorhaben wirkten dem Sog der Gegenwartsprobleme entgegen. Angesichts des ungeheuerlichen Erbes der Wehrmacht und des zugehörigen Terrorapparates an der Ostfront ist es schwer vorstellbar und kaum glaubhaft, dass es auch deutsche Soldaten gab, die ihren unwürdigen Auftrag würdevoll erledigt haben. Und doch, es gab sie. Im Januar 1994 hat Israel den an der Ostfront eingesetzten Wehrmachtsoffizier Max Liedtke in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechten unter den Völkern“ geehrt: „Liedtke wurde für die Rettung zahlreicher Juden in der polnischen Stadt Przemysl gewürdigt [mit dem Titel ‚Gerechter unter den Völkern‘].“ „Die Auszeichnung … ‚Gerechter unter den Völkern‘“ ist die höchste

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Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 152–182. Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 360. Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 360. Zit. nach Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 360.

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Auszeichnung, mit der Israel Nichtjuden ehrt, die Juden während des Holocaust geholfen haben.28 Fritz Kleemann Jr., Lohmeyers Rechnungsführer und drei Jahre lang sein unzertrennlicher Gefährte, äußert sich ähnlich: Ende Mai 1940 wurde er [Lohmeyer] zu unserer Einheit versetzt und damit lebte ich mit ihm bis zum April 1943 tagtäglich zusammen. Lohmeyer hatte innerhalb der Truppe wohl keinen Feind. Seine hohen menschlichen Qualitäten, sein vornehme Güte, seine humanitäre Art, alle Dinge zu regeln, ließen in ihm nie den Offizier, aber stets den Seelsorger sehen. Jedermann (selbst der Russe der mit ihm zu tun hatte), hatte Vertrauen, daß sein Anliegen gerecht behandelt und gelöst wird. Er war nie Nationalsozialist und übte häufig genug rücksichtslose Kritik an den Machenschaften der damaligen deutschen Machthaber. Niemand anders als er konnte das ungestraft tun, weil die Achtung von seinem Streben nach absoluter Wahrheit und von seinem seltenen Menschlichkeitssinn jeden Verrat vor Scham unmöglich gemacht hat. Das rein Menschliche überwog bei allen seinen Entscheidungen. Er war Humanist in idealster Form. In jedem Einsatzorte sorgte er zu allererst dafür, daß die russische Bevölkerung die oft zu Tausenden versprengt war, wieder in ihre Heimat kam. Als er einmal 3000 Gefangene zu übernehmen hatte, rief er die russische Bevölkerung auf, diesen mit Verpflegung zu helfen, weil seine Vorrate hiezu nicht ausreichend gewesen sind. Noch am ersten Tage wurde festgestellt, daß es sich zum weitaus größten Teil der Gefangenen um Zivilisten handelt, und kurzentschlossen hat Lohmeyer für diese Pässe ausgestellt, damit sie ungehindert in die Heimat reisen konnten. Am anderen Morgen waren alle bis auf 300 Mann wirkliche russische Soldaten aus der Gefangenschaft entlassen. Alles, was in der Küche übrig blieb, mußte an die russische Bevölkerung verteilt werden. Unerbittlich war Lohmeyer bei Mißhandlung von Russen. So bestrafte er einen Stabsfeldwebel zu 3 Tagen Mittelar[rest], weil dieser im Streit um in Paar Handschuhe einem Russen eine Ohrfeige gegeben hatte. (Übrigens die einzige Strafe, die ich mir ersinnen kann, die Lohmeyer gegeben hat.) Einmal mußte ein gefangener russischer Oberst einen Tag und eine Nacht bewacht werden. Diese Aufgabe löste Lohmeyer in der Form, daß der Herr Oberst bei bester Unterhaltung im Casino sein Gast war, am gleichen Tisch wie wir übrigen Off. Platz zu nehmen hatte, dasselbe Essen, dasselbe Trinken und dasselbe Rauchen vorgesetzt bekam. Dem Herrn Oberst wurde ein Zimmer mit zwei Betten (eines davon für einen deutschen Off.) zur Verfügung gestellt. Lohmeyer versuchte stets aus jeder Not eine Tugend zu machen.29

Kleemanns Aussage ist beides, erstaunlich und auch wieder nicht erstaunlich. Einerseits ist erstaunlich, dass jemand in Lohmeyers Situation durchgehend so

28 Ehemaliger Wehrmachtsoffizier in Israel geehrt, in: Der Tagesspiegel, 6. Januar 1994, 4. 29 Zu Fritz Kleemanns Zeugnis für Lohmeyer siehe GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 18.

Die Heimkehr

bewundernswert handelt, wie Kleemann es beschreibt. Und andererseits ist es mit Blick auf Lohmeyers Lebenslauf auch wieder nicht erstaunlich, denn in Kriegszeiten bewies er genau die Charakterstärke, die er schon sein ganzes Leben lang bewiesen hatte. Er war zwar im Krieg gefangen, hat sich ihm aber nicht gleichgemacht. Lohmeyer ist denselben Weg gegangen, den andere auch gehen mussten, aber ihm gelang es, eine ganz andere Reise daraus zu machen.

Die Heimkehr Im November 1942, drei Monate nach Übernahme der Befehlsgewalt im Kuban, fingen seine Truppe und er an, sich mit allen Mitteln gegen den langen und harten Winter zu wappnen. Direkt im Norden und ohne dass die riesige deutsche Truppenansammlung es ahnte, war die Pattsituation in der Schlacht von Stalingrad nurmehr eine kurze Atempause vor der vollständigen Vernichtung der 6. Armee Ende Januar 1943. In dieser Ruhe vor dem Sturm, um genau zu sein, am 6. November, starb Dr. Kurt Deißner, Professor für Neues Testament an der Universität Greifswald. Drei Tage nach Deißners Tod schrieb der Dekan der theologischen Fakultät in Greifswald an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin und forderte die Rückverlegung Lohmeyers von der russischen Front, da er einen Nachfolger für den verstorbenen Deißner brauchte. Ohne Lohmeyer, schrieb Dekan Walther Glawe, müsse die Universität die Position mit Interimsberufungen von Fremden aus Schweden, Ungarn oder Finnland besetzen. Weiter hieß es, dass Lohmeyer jetzt zweiundfünfzig Jahre alt sei und seine einzigen beiden Söhne bereits Kriegsopfer. Ernst-Helge, der Ältere, war vermisst und vermutlich tot, Hermann-Hartmut, der Jüngere, erholte sich von einer schlimmen Kopfverletzung. Lohmeyers wissenschaftliche Qualifikationen würden, neben seinem Alter und den widrigen familiären Umständen, die Abberufung aus dem Militärdienst mehr als rechtfertigen. Am 1. Februar 1943, als die Wehrmacht im schlimmsten Strudel der Vernichtung in Stalingrad steckte, antwortete Lohmeyer auf die Anfrage der Universitätsverwaltung, nach Greifswald auf den Lehrstuhl für Neues Testament zurückzukehren. „Denn die Briefe trafen in eine sehr schwierige und angespannte Zeit“, schrieb er. „Alles ist in Bewegung, Verbindungen, die bisher bestanden, sind zerrissen.“30 Das letzte Wort in der Sache hatte sein kommandierender General, doch Lohmeyer war zuversichtlich, dass er der Anfrage entsprechen würde. Trotzdem erinnerte er die Verwaltung an die logistischen Hürden seiner Heimkehr: das strenge Winterwetter, die erschwerte oder unterbrochene Nachrichtenübermittlung über Land, Luftpost

30 UAG PA 347, Bd. 2, 126.

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ging nur sporadisch. Antwortverzögerung war unvermeidlich. Lohmeyer bat den Dekan um Nachsicht, dass er ihm seine Antwort über Melie zukommen ließ, und erklärte, dass er seine letzten Luftpost-Briefmarken aufsparen müsse.31 Nach der Niederlage von Stalingrad waren die Divisionen der Wehrmacht im Frühjahr 1943 an der gesamten, fast 2.400 Kilometer langen Ostfront auf dem Rückzug nach Westen, von Leningrad im Norden bis an die Grenze zur Türkei im Süden. Zu dem Zeitpunkt war die russische Gegenoffensive voll entbrannt, und die Russen fügten den deutschen Truppen und Zivilisten genau das Leid zu, das umgekehrt die deutschen Truppen ihnen zugefügt hatten. Für Lohmeyer und seine Truppen war der Krieg nicht mehr zu gewinnen. Sie konnten nur noch verlieren – und versuchen, am Leben zu bleiben. Die deutschen Truppen begannen den furchtbaren Rückzug aus Russland mit dem Lastwagen oder Waggon, mit der Karre oder zu Fuß und gaben alles, um nicht dem Feind in die Hände zu fallen. Während des Rückzugs führte Lohmeyer zwei Tagebücher. Das erste, geschrieben in einem richtigen Tagebuch von 12x17 cm mit wattiertem Einband, erstreckte sich vom 24. März bis zum 6. April. Auf den letzten Eintrag folgte eine Lücke von zwei Wochen unbeschriebenen Papiers; offenbar hatte er vor, das fehlende Intervall später nachzutragen, aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Auf das erste Tagebuch folgte das zweite, ein kleinerer Band ungefähr so groß wie ein Taschenkalender. Es enthielt lediglich drei Einträge – vom 22., 23. und 24. April, die Zeit unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Greifswald. Beide Tagebücher wurden mit Bleistift geschrieben, das erste in verkrampfter, brüchiger und kaum lesbarer Schrift, das zweite in seiner wohlgeformten Handschrift. Die beiden Dokumente liefern ein gebrochenes Narrativ der ungefähr tausend Kilometer langen Rückkehr vom Kuban nach Greifswald. Der Treck Richtung Westen brach jeden Morgen sehr früh auf, zwischen drei und vier Uhr, mit kurzen Erholungspausen an der Strecke. Einen Tag schaffte er fünfundzwanzig Kilometer. Sorgfältig verzeichnete Lohmeyer die Angaben in seinem Tagebuch. Genannt werden zum Beispiel gute Unterkünfte, die schlechten aber ausgespart, ebenso fehlen praktisch alle Hinweise auf andere Belastungen und Entbehrungen. Bei seiner Rückkehr aus Russland hatte Lohmeyer viel schlimmere Zustände erlebt, als er in seinen zwei Tagebüchern aufzeichnete. Es kann als gesichert gelten, dass er nichts Abwertendes über Russland oder die Russen festhalten wollte, für den Fall, dass die Rote Armee ihn gefangen nahm. Lohmeyers Beachtung des Kirchenjahres wirkt in dem überstürzten Abzug nach Westen etwas deplatziert; dazu gehören Tagebucheinträge wie „Karfreitag“, „Ostermontag“ oder „Sonntag“. Einen Sonntag besuchte er den einzig erreichbaren Gottesdienst, einen römisch-katholischen. Er bemerkte das Tuch, mit dem Frauen ihren Kopf bedecken, und die Frömmigkeit der

31 UAG PA 347, Bd. 2, 120, 126.

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Gläubigen, kniend und inbrünstig ins Gebet vertieft. Die Eucharistie bot Anlass für einen halbseitigen Eintrag zur Lehre der Transsubstantiation, das heißt über den Glauben, dass die Einsetzungsworte Brot und Wein in den wahren Leib und das Blut Christi verwandeln. An jenem Sonntag war ihm die unzweifelhafte Aufrichtigkeit der Gläubigen wichtiger als die Komplexität der theologischen Doktrin. In seinem Leben hat Lohmeyer eine ganze Reihe Tagebücher zu schreiben begonnen, aber fast keines zu Ende geführt. Seine Tagebücher sind nicht besonders offen oder aufschlussreich. Wer Lohmeyers Herzschlag spüren will, wird ihn nicht in den Tagebüchern finden. Man muss seine Briefe lesen. In den Briefen kann man die Hand an sein Herz legen und dessen starken, gleichmäßigen Schlag spüren; der Geist wird belebt von der Vitalität seines Geistes, seiner Persönlichkeit und seiner Seele. Tagebuch schrieb er nur sporadisch, aber Briefe flossen immerzu durch sein Leben, in alle Richtungen und an alle Bestimmungsorte. Darin liegt eine wichtige Einsicht in seinen Charakter. An einer Schreibtätigkeit, die in erster Linie dazu dient, Gedanken zu verarbeiten, war er nicht interessiert, auch nicht am Sprechen über sich oder mit sich selbst. Für Lohmeyer war Schreiben kein Spiegel. Es war eine Röhre für Beziehungen mit Melie und Hönigswald und Fridrichsen und den zahlreichen Empfängern, Wissenschaftlern und Freunden gleichermaßen. Der Umfang und die Qualität seiner Korrespondenz zeigen ihn als Mann, der von Natur aus dem Stamm eines Buber angehört – „Ich und Du“. Zwei ergreifende Vignetten von Lohmeyers Weg nach Westen steuert Melie in einem späteren Bericht bei. Deutsche Soldaten auf dem Rückzug vor der Roten Armee passierten Dörfer mit verhungernden und oftmals lebensbedrohlich erkrankten Bewohnern: „es waren absolut keine Möglichkeiten, diese Menschen unterzubringen oder ihnen zu helfen.“ Lohmeyer berichtete Melie, dass es ihm in einem Fall jedoch gelungen war, mit Typhus oder anderen Krankheiten infizierte Russen in behelfsmäßigen Kasernen unterzubringen, obwohl es dort nicht einmal frisches Stroh zum Liegen gab. Und an den Verkehrsknotenpunkten in Richtung Westen nutzte Lohmeyer seine Autorität als deutscher Kommandeur, um für Juden, die sonst von der SS erschossen worden wären, sowie für russische Bürgermeister und leitende Zivilpersonen Transportmöglichkeiten per Zug oder Flugzeug zu organisieren.32 Am 24. April 1943 klopfte es an der Tür der Lohmeyers in der Arndtstraße 3 in Greifswald. Melie hatte die Tür verschlossen gehalten, alle Männer waren im Krieg, sie war mit Gudrun allein im Haus und erwartete niemanden. Vielleicht war es ein Bettler? Der Anblick sollte sie unvorbereitet treffen. Bis dahin war ihr nicht

32 Für das Zitat „es waren absolut keine Möglichkeiten, diese Menschen unterzubringen oder ihnen zu helfen“ und dem Bericht über den Flug in Richtung Westen siehe Melie Lohmeyer: Väterchens Ende. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 147, p. 2.

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bewusst, welchen Tribut sie zu zahlen hatte: ein Sohn gefallen an der Ostfront, ein weiterer Sohn lebensgefährlich verwundet an der Ostfront, und ein Ehemann, der an der Ostfront Befehlsgewalt innehatte. Melie öffnete die Tür und sah einen gealterten, erschöpften Mann. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Der Mann, der vor ihr stand, war Ernst. Dreißig Jahre später erinnerte sie sich an ihre Reaktion auf Ernst in jenem Moment. Nichts in ihrem Leben habe sie jemals so tief bedauert: „Und nun kommt das Traurigste, was ich zu sagen habe. Hätte ich ihn damals mit beiden Armen geöffnet mit warmem lebendigen Herzen empfangen können, das ganze Unglück später wäre nicht geschehen. Aber ich war erstarrt, erstarrt durch Helges grauenhaftes Ende, erstarrt in der Einsamkeit eines gänzlich überzogenen Herzens, denn er hatte mich schon seit Jahren innerlich alleine gelassen. Ich war wie aus Holz und er wahrscheinlich in tiefster Seele erwart[g]ungs- und hoffnungsvoll, war es auch.“33

33 Melie Lohmeyer berichtet über Heimkehr ihres Mannes vom April 1943 in: „Väterchens Ende“.

Kapitel 13. Neuanfänge

„So wandern wir durch die Jahre und alles Wandern ist nur ein Stille-Stehen vor Gott. So tragen wir unser Leben in zitternden Händen und alles Erzittern ist unverbrüchliche Festigkeit. So mühen wir uns und freuen uns an unseren Kräften. Und alle Mühsal und Freude ist nur ein schwacher Abglanz eines hellen Scheines. Denn wohin wir fahren und was wir erfahren, in Finsternis und Helle, in Ohnmacht und Macht, in Bösem und Gutem, in allem widerfährt uns Gott. Denn Gott ist das Licht und Finsternis ist nicht in ihm; die Finsternis vergehet und das Licht scheinet jetzt.“1 Ernst Lohmeyer in Breslau, Juli 1931

Heimkehr nach Greifswald Lohmeyer hatte nicht damit gerechnet, die Ostfront zu überleben. Gudrun schrieb später: „Mein Vater hatte geglaubt, aus Rußland nicht mehr heimzukehren. Nun war es doch geschehen, aber die Schatten umgaben ihn auch zu Haus.“2 Verständlich, dass er froh war, den Krieg überstanden zu haben. Wir müssen uns nur die Worte von Margarete Tschirley ins Gedächtnis rufen: „[…] auf eins bin ich stolz: daß ich an dieser Stelle ohne Todesurteil ausgekommen bin. Du ahnst nicht, wie leichtfertig damit umgegangen wird.“3 Aber er musste auch lernen, mit diesen „Schatten“ zu leben, die ihn begleiteten. Er war von der Ruhr befallen, der Teint gelb, und das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, abgemagert und verändert: „Der zunehmende Druck des ihm von jeher verhaßten Naziregimes empörte und beschattete sein ganzes Dasein“, sagte Melie.4 Die Katastrophe, die Deutschland noch bevorstand, hatte seine eigene Familie schon erreicht. Sein ältester Sohn Helge war im Januar 1942 in der „Hölle von Demjansk“ vermisst gemeldet und sollte niemals zurückkehren. Hartmut, sein zweiter Sohn, hatte überlebt, war aber schwer verwundet. Er, der zum Gelehrten berufen war, hatte vier Jahre verloren, und es

1 Ernst Lohmeyer in einer Predigt in Breslau, 19. Juli 1931. – Zit. nach Hutter: Theologie als Wissenschaft, 147. 2 Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 360. 3 Siehe oben, S. 206–207. 4 Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 186, p. 1.

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war durchaus möglich, dass es nicht bei diesen vier Jahren bleiben würde. Lohmeyers Rückruf von der Ostfront war nicht gleich bedeutend mit seiner offiziellen Entlassung aus dem Militärdienst, bis dahin sollte es noch über ein halbes Jahr dauern. Bei seiner Heimkehr zu Melie war beides zu finden, Freude und Schatten. „Liebes Herz“, so nannte er sie, aber die Nähe schenkte ihnen kein wärmendes und heilendes Miteinander mehr. „Meiner Frau und mir ist es ein fremdes, wenn auch täglich empfundenes Glück, daß wir wieder zusammen leben können“, schrieb er zwei Monate nach seiner Heimkehr an Anton Fridrichsen, „Vielleicht würden wir es schneller lernen, wäre nicht die Zeit so ernst und drohend.“5 Es war ein enormer Vorteil, dass Lohmeyer nach seiner Rückkehr bis zum Herbst von den Lehrverpflichtungen befreit war. Sechs Monate waren ihm zur Erholung vergönnt, und jeden Tag holte er das Beste für sich heraus, auf die einzige Art und Weise, die ihm vertraut war: Er las. Besonders Literatur von bleibender kultureller Bedeutung: Charles Dickens, Wilhelm Raabe, C. F. Meyer, Gottfried Keller, Hugo Hofmannsthal und immer wieder und vor allem anderen Friedrich Hölderlin. Und er schrieb. Innerhalb von acht Wochen bereitete er eine fünfhundertseitige Ausgabe von Martin Luthers Kommentar über den Römerbrief vor, den er nie veröffentlichte.6 Luthers Vorlesungen über den Römerbrief von 1515 und 1516 galten als verschollen, bis sie 1908 von Johannes Ficker, Professor für Kirchengeschichte in Straßburg, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem entdeckt wurden, zufällig im selben Archiv, in dem ich im Jahr 2016 den Großteil dieser Biografie schrieb. Es ist anzunehmen, dass Lohmeyer das gar nicht lange zuvor von Ficker entdeckte Manuskript edierte.7 Im Herbst 1943 wurde der Universitätsbetrieb wieder aufgenommen, und Lohmeyer beendete seine sechsmonatige Rekonvaleszenz. Die Wiederaufnahme der Lehrverpflichtungen brachte ihre eigenen Segnungen mit sich. Im November wurde er offiziell aus der Truppe entlassen, konnte also nicht mehr im Krieg eingesetzt werden.8 Seine Wiedereingliederung in den Lehrbetrieb an der theologischen Fakultät sorgte dafür, dass er wieder auflebte. Natürlich konnte der Universitätsbetrieb nicht auf vollen Touren laufen. Es fehlte praktisch an allem, das Notwendige war knapp oder rationiert, einschließlich Heizöl, Elektrizität, Papier, Medikamente, Lebensmittel und Materialien aller Art. Die große Mehrheit der männlichen Studenten befand sich im Kriegseinsatz, eingeschlossen etliche Mitglieder des Lehrkörpers. Entsprechend musste die Universität ihre Zeitpläne und Seminarangebote reduzieren. Trotz

5 Zit. nach Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 360. 6 Siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 112, und Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 360. 7 Zur Entdeckung von Luthers Vorlesungen über den Römerbrief durch Johannes Ficker siehe Luther: Lectures on Romans, xii; Martin Luther, Commentary on the Epistle to the Romans, 5. 8 UAG, PA 347/III, 1.

„Theologie glauben“

dieser Not nahm die theologische Fakultät in Greifswald in den Jahren 1943 und 1944 an Bedeutung und Umfang zu. Die Universitäten Köln, Kiel, Rostock, Königsberg, Leipzig, Berlin und Breslau waren ausgebombt und die Theologiestudenten gezwungen, ihr Studium woanders fortzusetzen. Die Universitäten Tübingen und Greifswald, die nicht bombardiert worden waren, waren noch geöffnet. Die vielen verwaisten Theologiestudenten hatten sich zum Abschluss ihres Studiums auf die Standorte verteilt. Lohmeyer stürzte sich in das volle Lehrdeputat. Im Wintersemester 1943/44 lehrte er zum Johannesevangelium und über den Apostel Paulus. Im Sommersemester 1944 las er zur Theologie des Neuen Testaments und zur Bergpredigt, im Wintersemester 1944/45 las er wieder zum Neuen Testament und zum Vaterunser. Zusätzlich unterrichtete er das Kolloquium Neues Testament in den genannten Semestern.9 Selten waren seine Lehrverpflichtungen so umfangreich!

„Theologie glauben“ 1941 schrieb Rudolf Bultmann den Aufsatz Neues Testament und Mythologie, in dem er behauptete, dass die neutestamentliche Weltanschauung im Kern mythologisch sei. Bultmann vertrat die Auffassung, dass diese mythische Anschauung – ihr dreistöckiges Universum aus Himmel, Erde und Hölle und den damit verbundenen Glauben an Wunder, Engel und Dämonen – im Zeitalter der modernen Naturwissenschaft obsolet und modernen Gläubigen daher nicht mehr zu vermitteln sei. Er glaubte jedoch auch, dass in dieser veralteten mythischen Weltanschauung das Herzstück des Evangeliums liege, das er kerygma nannte – das griechische Wort für die frühchristliche Verkündigung des Evangeliums. Dieser unverlierbare Kern, so Bultmann, sei noch gültig. Er schlug vor, dieses kerygma durch eine „Entmythologisierung“ aus seiner obsoleten Zwangsjacke zu befreien. Aufgabe der Theologie sei es, dem kerygma die veraltete Anschauung des Neuen Testaments abzustreifen, wie man den Spelz von einem Maiskolben abstreift. Auf diese Weise solle das Evangelium für moderne naturwissenschaftliche Gläubige wieder glaubwürdig werden.10 Sowohl Terminologie als auch Begrifflichkeit von Bultmanns Entmythologisierungsprojekt erinnern im Ergebnis stark an die Existenzphilosophie des menschlichen Daseins, die Martin Heidegger in Sein und Zeit dargelegt hat. Am 9. Januar 1944 reiste Lohmeyer mit der Bahn von Greifswald nach Breslau, vermutlich auf Anfrage der Bekennenden Kirche, um über Entmythologisierung zu diskutieren.11 9 Für eine vollständige Liste von Lohmeyers Vorträgen und Seminaren siehe Hutter: Theologie als Wissenschaft, 148–153. 10 Siehe Bultmann: Kerygma and Myth, 1–44. 11 Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 112.

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Statt das Projekt der Entmythologisierung für eine beispiellose Kampfansage an das kirchliche Verständnis der Schrift einzustufen, hielt Lohmeyer es für einen weiteren Versuch des Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts: „Dem Zeitalter der Aufklärung galt es, aus der geschichtlichen Überlieferung als einem verhüllenden Gewande die ewigen Ideen der Vernunft in ihrer reinen Wahrheit zu befreien und alles mythische Wesen – oder vielmehr von ihrem Standpunkt aus: Unwesen –abzutun.“12 „Entmythologisierung“ als solche sei von der Aufklärung zwar nicht explizit gemeint, aber doch Teil des Projekts, sozusagen ein neuer Waggon, der an den längst etablierten Zug des aufklärerischen Denkens angekoppelt werde. Es sollte uns also nicht merkwürdig vorkommen, dass Lohmeyers ästhetisches Empfinden sich gegen Bultmanns Ausweidung der Bildwelt des Evangeliums wehrte. Bultmann wollte das Evangelium natürlich nicht verändern, sondern es aus seinem Ohnmachtsgefängnis befreien. Lohmeyer argumentierte dagegen, dass Bultmann es faktisch verändert hatte – zurechtgestutzt auf eine Lebensphilosophie. „Mir will scheinen“, heißt es über das Entmythologisierungsprogramm, „als ob die Existenzphilosophie nichts als eine säkularisierte Theologie sei […].“13 Für Lohmeyer war der Existenzialismus zu eng, konnte die gesamte Bandbreite der Theologie nicht erfassen, denn mit seiner Beschränkung auf menschliche Dasein erhob er den Menschen zum Zentrum des Universums, während Theologie und Mythos es mit Gott und spirituellen Wirklichkeiten zu tun hatten. Lohmeyer hielt die Analogie, Maiskörner aus dem Spelz zu schälen, für falsch – aus dem einfachen Grund, dass der Spelz für das Maiskorn nicht wesentlich sei, die Gestalt des Evangeliums für dessen Bedeutung hingegen sehr wohl. Entmythologisierung „vergeht sich doch hier wie bei jeglicher Überlieferung an der inneren und unzerbrechbaren Einheit, zu welcher der bleibende Sinn und die geschichtliche Form sich auch im Mythos verbinden.“.14 Die Streichung des Wortes „Fleisch“ aus der Darstellung des Johannes mache die Inkarnation zunichte; sich gegen „Vater“ und „Himmel“ in „Vater unser, der du bist im Himmel“ auszusprechen bedeute, dass Gott nicht mit dem Lebendigen identifiziert werden könne; die Tilgung von „es war aber Nacht“ in Joh 13,30 bedeute die Tilgung der Hauptmetapher für das Übel im vierten Evangelium. Das Problem der Entmythologisierung war für Lohmeyer ihr Dualismus, das heißt die Auftrennung der Wirklichkeit in zwei Sphären, in Wesen und Form. Letzteres sei zu verwerfen, um Ersteres zu „emanzipieren“ und zu bewahren. Bultmann

12 Ernst Lohmeyer: Die rechte Interpretation des Mythologischen, zit. nach: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 18. 13 Ernst Lohmeyer: Die rechte Interpretation des Mythologischen, zit. nach: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 34. 14 Ernst Lohmeyer: Die rechte Interpretation des Mythologischen, zit. nach: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 125 und 127.

Das Vater-unser

war ganz und gar dem Kerygma verpflichtet, der Verkündigung des Evangeliums, aber sein Programm der Verkündigung erforderte die Verwerfung geschichtlicher Realitäten, die für das „Christusereignis“ wesentlich sind. Lohmeyer wies diese Aufspaltung zurück. Er sah sie in der Inkarnation überwunden, zu der sich der christliche Glaube bekennt. „Gott fordert den Glauben – ein fast tautologischer Satz, aber er schließt sich in die Forderung der gläubigen Theologie, d. h. Theologie, die auf Grund der gläubigen Setzung deren Gehalt in ein gläubiges Wissen erhebt und zu einem System theologischer Aussagen entfaltet. Es gibt kein Wort des Glaubens und deshalb auch kein Wort der im Glauben gesehenen Offenbarung, das nicht danach drängt, in einer gläubigen Theologie seine legitime Stelle zu finden […].“15 Lohmeyer schloss seine Erwiderung auf die Entmythologisierung mit einer Variation auf das berühmte Axiom in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Lohmeyers Antwort auf die Entmythologisierung – und auf alle Bibeltheologie – lautet wie folgt: „Alle wissenschaftliche Theologie ohne gläubige Theologie ist leer, alle gläubige Theologie ohne wissenschaftliche Theologie ist blind.“16

Das Vater-unser Das letzte vollständige Werk im theologischen Nachlass Lohmeyers ist seine Erläuterung des Vaterunser in Matthäus 6 und Lukas 11.17 Das Vater-unser könnte als Krönung seiner Forschungen angesehen werden, denn mehr als andere Arbeiten vereinte es seine ausgeprägten exegetischen Fähigkeiten und seine Fähigkeiten als theologischer Impulsgeber in einer Schrift über das Gebet, die für Gelehrte und Laien gleichermaßen lohnend ist. Nur zwei von Lohmeyers Büchern sind ins Englische übersetzt worden. Das Vater-unser gehört glücklicherweise dazu, es bietet der englischsprachen Welt ein hervorragendes und verblüffend vollwertiges Bild von Lohmeyers Arbeit.18 Wie auch schon bei mehreren früheren Büchern legte er zunächst einen vorbereitenden Aufsatz vor, der den Titel „Das Vater-unser als Ganzheit“ trug und schon 1938 in Theologische Blätter erschienen war.19 In den Jahren darauf arbeitete Lohmeyer immer wieder an Das Vater-unser, sogar in Russland, wie mehrere Bezugnahmen in Briefen an Melie zwischen 1942 und

15 Ernst Lohmeyer: Die rechte Interpretation des Mythologischen, zit. nach: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 31. 16 Ernst Lohmeyer: Die rechte Interpretation des Mythologischen, zit. nach: Freiheit in der Gebundenheit, hg. Wolfgang Otto, 32. 17 Ernst Lohmeyer: Das Vater-unser. 18 Ernst Lohmeyer: The Lord’s Prayer, London: SPCK, 1965. 19 Ernst Lohmeyer: Das Vater-unser als Ganzheit, 217–227.

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1943 belegen; nach seiner Heimkehr nach Greifswald 1943 schloss er die Studie ab. Das Werk berührte eine tiefe Saite im spirituellen Leben Lohmeyers. Bei heutiger Vermarktung würde es unter der Rubrik „Spirituelle Unterweisung“ verkauft. Lohmeyer war klar, dass das politisch abgeschottete Ostdeutschland an einem Buch über das Vaterunser kaum interessiert sein würde, weshalb er seinen Sohn Hartmut und nach seiner Festnahme auch Melie bat, dafür zu sorgen, dass der Band bei Günther Ruprecht im Westen erscheint. Lohmeyer begann mit einer aufschlussreichen Betrachtung. Im Vaterunser kommen nur zwei personale Substantive vor – Gott und das Pronomen „wir/unser“, erste Person Plural. „Ich“, das Pronomen erste Person Singular, taucht in dem Gebet nicht auf. Nur als „wir“ treten wir vor Gott und stehen vor ihm. Gott macht menschliche Gemeinschaft in dieser Welt möglich, und Gemeinschaft mit Gott ist nicht einfach nur mein persönliches Schicksal, sondern unsere gemeinsame, endgültige Bestimmung. „Unser“ schließt Christen und Juden und alle Menschen ein. Das Vaterunser ist weder das Gebet einer speziellen Person noch das Gebet einer Gruppe von Menschen oder Nation oder Religion. Es ist bar jeder spezifischen religiösen Doktrin; es gibt keine explizite Referenz auf Schöpfung, Exodus, Gesetz, Prophetentum, Königtum, Israel oder Kirche und nicht einmal auf „den Herrn“ (d.i. Jesus) an sich. Es ist schlicht und einfach ein Gebet, „mit dem ‚wir‘ als Kinder vor dem Vater stehen.“20 „Vater“, das zweite Wort in dem Gebet, identifiziert Gott. Im Aramäischen, Jesu Muttersprache, lautet das Wort „Vater“ abba. In Vater-Abba ist all das klar und nah und vertraut, was Moses in Gottes Selbstoffenbarung als YHWH verborgen und obskur und unnahbar bleibt. Das ganze Geheimnis von YHWH ist aufgelöst und zusammengefasst in Gott als „Vater“, Abba. „Gott ist da – da als Vater – für alle, die fragen.“ In diesem Alltagswort und einer Beziehung, die der gesamten Menschheit vertraut ist, in Gott als Abba, sind das Mysterium und das Geheimnis von YHWH erfüllt und ersetzt.21 Wir haben mehrmals über Lohmeyers theologische Erkenntnisse gesprochen, die in der späteren neutestamentlichen Wissenschaft Früchte trugen. Seine Einsichten hinsichtlich Abba im Vaterunser gehört zu den bemerkenswertesten, denn Joachim Jeremias (Lohmeyers Vorgänger in Greifswald) entwickelte Lohmeyers Erkenntnis über Abba zu einer Studie weiter, mit der er, Jeremias, unter den Wissenschaftlern des Neuen Testaments besonders hervortrat. Zwanzig Jahre nach Lohmeyers Vater-unser unterbreitete Jeremias einen Vorschlag, der seither zum gesicherten Konsens in der neutestamentlichen Wissenschaft zählt – dass nämlich Abba eine der wahrhaftigsten und zuverlässigsten Attribute von Jesu Lehre ist, nicht nur über Gott, sondern implizit auch über sich selbst als Gottes

20 Ernst Lohmeyer: Das Vater-unser, 202–207. Hier S. 207. 21 Ernst Lohmeyer: Das Vater-unser, 27.

Rektor Lohmeyer

Sohn.22 Leider hat Jeremias Lohmeyer für diese scharfsinnige Erkenntnis in Bezug auf Abba keine Anerkennung gezollt. Alle sieben Bitten im Vaterunser fasste Lohmeyer im Lichte Gottes als Abba auf. Im Vaterunser lehrte Jesus seine Jünger, wie man sich an Gott wendet und seine Bitte vorträgt, und in seinem eigenen Leben und Wirken demonstrierte er, wie man sich entsprechend verhält. Eine besonders schwierige Bitte ist „wie im Himmel, so auf Erden“, die vermutlich auf jede der ersten drei Bitten folgen sollte – dass Gottes Name geheiligt werde, dass sein Reich komme und dass sein Wille geschehe. Lohmeyer warnte davor, sich einzubilden, dass Gläubige die restlose Verwirklichung des Gottesreiches in dieser Welt zu erwarten hätten, warnte aber zugleich vor der Schlussfolgerung, dass die ausbleibende Erfüllung in dieser Welt den Glauben wertlos mache. Der Mensch gewordene Jesus lebte in der gleichen Anspannung von drückenden Bedürfnissen und unerfüllten Hoffnungen. Lohmeyer betrachtete Jesu Gebet im Garten von Gethsemane „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir“ (Mk 14,36) als Kommentar und auch als Vorbild für die dritte Bitte im Gebet. Lohmeyer folgte Tertullian, dem Kirchenvater des zweiten Jahrhunderts, in seiner Einschätzung des Vaterunsers als breviarium totius evangelii – als Kurzfassung oder Kompendium des gesamten Evangeliums! Lohmeyer deutete das Gebet nicht einfach als Summe der Lehre Jesu oder gar der vier Evangelien, sondern als Summe des Evangeliums an sich. Mit breviarium totius evangelii hatte Lohmeyer nicht an ein Kompendium der biblischen Weisheit gedacht, denn wie er anmerkte: „Aber der Unterschied ist dann auch nicht zu übersehen: Von all den vielfältigen Gaben und Aufgaben, deren das jüdische Volk als das erwählte sich rühmt, ist hier nicht eine genannt.“23 Im Vaterunser habe Jesus den Glauben vielmehr zu seiner reinsten Essenz destilliert – der Beziehung eines Kindes zu seinem Vater. Diese Essenz hing einzig von Jesus ab. „An der Gestalt des Meisters hängt diese Bürgschaft, welcher das Kommen des Gottesreiches verkündet, aus diesem Gottesreich heraus wirkt und seinen Jüngern dies Gebet schenkt.“24

Rektor Lohmeyer Im Frühjahr 1945 überrannten die Sowjets bei ihrem Vormarsch Richtung Westen die zusammenbrechende Verteidigung der Wehrmacht im Osten. Die Rote Armee

22 Jeremias: The Prayers of Jesus, 11–57. - Zu Jeremias‘ Anleihen bei Lohmeyer bzgl. Abba siehe auch Theissen: Die Bibel als Begründungsanfang der evangelischen Theologie, 271–274. 23 Ernst Lohmeyer: Das Vater-unser, 205. 24 Ernst Lohmeyer: Das Vater-unser, 206.

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hatte die Oder erreicht, und Deutschland sah sich der vollständigen Niederlage unmittelbar gegenüber. Trotz Hitlers Dekret der Verbrannten Erde – dass Deutschland sich wie Walhalla in Wagners Götterdämmerung der Zerstörung anheimstellen solle – erkannten die Stadtväter die Vergeblichkeit der Verteidigung der Stadt sowie die Unausweichlichkeit ihrer Zerstörung im Falle eines bloßen Versuchs der Verteidigung. Ein militärischer Überfall auf die Russen würde zu einem sinnlosen Gemetzel um Greifswald führen. Die Anzahl der Einwohner belief sich eigentlich auf 40.000, hatte sich aber durch den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Osten nahezu verdoppelt. Lohmeyer überzeugte den Rektor der Universität Dr. Carl Engel von der Sinnlosigkeit eines letzten Gefechts. In der Nacht auf den 29. April fuhren Engel, der Kommandeur des Greifswalder militärischen Abwehrkampfes, zwei Professoren der medizinischen Fakultät, zwei Fahrer und zwei Dolmetscher vierzig Kilometer südwestlich nach Anklam, das in Flammen stand, um sich mit Generalmajor Borstschow von der Roten Armee zu treffen und ihm die Kapitulation von Greifswald anzubieten. Das Angebot wurde angenommen. Der geplante Angriff der Artillerie auf Greifswald wurde abgeblasen, und mittags am 30. April 1945 übergaben ein Dutzend Amtsträger und führende Persönlichkeiten Greifswalds, darunter auch Lohmeyer, die Stadt friedlich an die sowjetischen Kräfte. Die Sowjets forderten die Greifswalder auf, jeglichen militärischen Widerstand einzustellen, die Waffen im Rathaus abzuliefern und Plünderungen zu unterlassen. Die Rote Armee ihrerseits erklärte sich bereit, keine militärischen Kräfte im eigentlichen Stadtgebiet zu stationieren, und garantierte, dass im Geschäftsleben, im Bildungswesen, an der Universität weiter gearbeitet werden dürfe, kurz: „Das gesamte Leben geht weiter wie bisher unter deutscher Verwaltung.“25 Die friedliche Übergabe Greifswalds demonstrierte Mut und Weitsicht angesichts des fanatischen Befehls von Hitler, dass die Deutschen sich selbst auslöschen sollten. Das Ergebnis war nicht nur die Unversehrtheit von Greifswald (eine der wenigen Städte in der russischen Zone, die nicht zerstört wurde), sondern auch der Unversehrtheit der Universität, die als Einzige östlich der Elbe nicht in Trümmern lag.26 Drei Tage nach der Besetzung der Stadt nahm die Universität ihren Betrieb mit Einschränkungen wieder auf. Innerhalb zwei Wochen wurde der Rektor Carl Engel von den Sowjets verhaftet. Engel hatte Licht- und Schattenseiten, die sich auf eigentümliche Weise zeigten. Was die Schattenseite betrifft, so war Engel seit 1933 begeis-

25 Bekanntmachung über die kampflose Übergabe der Stadt Greifswald vom 30. April 1945, zit. nach: Uwe Kiel: Die kampflose Übergabe und die umkämpfte Erinnerung, in: in Die unbekannten Retter Greifswalds. Beiträge zur kampflosen Übergabe der Stadt an die Rote Armee im April 1945. Redaktion: Uwe Kiel. Kiel: Verlag Ludwig, 2020, 15. 26 Zur friedlichen Übergabe von Greifswald siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 114–115; von Altenbockum: Die Greifswalder kennen die Geschichten, die Geschichte kannten sie lange Zeit nicht, 6; Greifswalder Physikalische Hefte, 8, 12.

Rektor Lohmeyer

tertes Mitglied der NSDAP – und bereute nichts. Auf der anderen Seite war Licht – er war kein Feigling. Denn anders als die große Mehrheit der Parteimitglieder im russischen Sektor, die vor den anrückenden Sowjettruppen nach Westdeutschland flohen, blieb Engel, der einen Wagen besaß und hätte fliehen können, in Greifswald auf seinem Posten. Anfang Mai 1945 wurde er bei einer sowjetischen Verhaftungswelle aufgegriffen und in dem früheren NS-Konzentrationslager in Fünfeichen (bei Neubrandenburg) eingesperrt, das die Rote Armee in ein sowjetischen Konzentrationslager umgewandelt hatte. Dort starb Engel, wie auch sechstausend weitere Deutsche, die zwischen 1945 und 1948 von den Sowjets gefangen genommen worden waren. Nach Engels Festnahme wurde Lohmeyer am 15. Mai von der sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD) zum Rektor der Universität ernannt. Im Gegensatz zum deutschen Hochschulgesetz wurde Lohmeyer nicht de jure vom Senat zum Rektor gewählt, sondern de facto von der Sowjetadministration als Rektor eingesetzt. Diese Einsetzung ist sicher eines der größeren Paradoxa der Nachkriegsära – ein Wehrmachtsoffizier, der an der russischen Front gedient hatte, wird von den gleichen Russen zum Rektor einer deutschen Universität im sowjetisch besetzten Ostdeutschland ernannt.27 Die Frage, warum die Sowjets einen Mann wie Lohmeyer eingesetzt haben, führt in die Irre. Die richtige Frage ist, warum sie Lohmeyer eingesetzt haben. Es gab mehrere, unter gegebenen Umständen nicht zu unterschätzende Gründe, die für ihn sprachen. Sein persönliches Engagement gegen den Nationalsozialismus entlastete ihn von dem Verdacht, NS-Sympathisant zu sein. Mit seinen Verdiensten als Rektor der Universität Breslau und als Besatzungskommandeur eines großen Gebietes in Russland konnte er seine erfolgreiche Leitungstätigkeit belegen. Und Lohmeyers Bilanz als Kommandeur an der Ostfront empfahl ihn als Mann, dem die Sowjets vertrauen konnten. Lohmeyers Ernennung zum Rektor war gut für die Universität, aber nicht für seine Beziehung zu Melie. Im Gegenteil, die Ernennung hat seine Ehe mit ziemlicher Sicherheit verschlechtert. Er hatte Melie nichts von dem Vorgang erzählt, der zu seiner Ernennung führte. Das mag, zumindest teilweise, seiner Zurückhaltung in Bezug auf persönlichen Leistungen geschuldet sein, aber größtenteils lag es wohl daran, dass die Kommunikation zwischen ihnen zusammengebrochen war. Melie wollte es Ernst ersparen, noch einmal einen Tribut zahlen zu müssen, wie er ihn damals Anfang der 30er-Jahren für das Rektorat in Breslau gezahlt hatte. „So war ich völlig ahnungslos“, schrieb sie später, „als er mir im Frühjahr 46 auf einmal erzählte, er sei zum kommenden Rektor der Universität gewählt worden und er habe auch

27 Siehe auch Haufe: Ein Gerechter unter den Völkern. Gedenken an Ernst Lohmeyer. Rede an der Universität Greifswald anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Hinrichtung Lohmeyers, 19. September 1996.

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angenommen. Ich hatte keine Ahnung gehabt. Alle Besprechungen waren außerhalb des Hauses gewesen und er selbst ging ein und aus wie ein fremder stummer Gast.“28 Bei der Datierung des Eintrags unterlief Melie ein Fehler (Lohmeyer war im Frühjahr 1945 zum Rektor ernannt worden, nicht 1946), doch mit der Schilderung ihrer Beziehung lag sie leider richtig. In ihren späteren, an die Kinder gerichteten Aufzeichnungen, die ich Ende des letzten Kapitels zitiert habe, sah Melie den Grund für das spätere eheliche Unglück in der Kälte und der Teilnahmslosigkeit, mit der sie Lohmeyer bei dessen Rückkehr aus Russland empfangen hatte.29 Wir können nicht ermessen, welche Auswirkungen ihre „Lähmung“, wie sie es nannte, auf Ernst hatte, aber angesichts des grauenhaften Rückzugs aus dem Osten und dem verheerenden Zustand, in dem er sich bei seiner Ankunft befunden hatte, muss ihre Begrüßung ihn zutiefst verletzt haben. Doch im selben Zitat deutet Melie an, dass sie nicht nur wegen des schrecklichen Verlusts von Helge in der Schlacht um Leningrad und Ernsts beklagenswertem Zustand dergestalt auf ihn reagierte, sondern aus noch anderem Grund: „denn er hatte mich schon seit Jahren innerlich alleine gelassen.“30 Es ist ebenso schwer zu ermessen, wie es sich auf Melie auswirkte, dass Lohmeyer sie emotional im Stich gelassen hatte. Seine eifrige Kameraderie mit akademischen Kollegen wie Hönigswald; die unerschöpfliche geistige Energie, die sich in wissenschaftlichen Publikationen in den 1920ern und 1930ern zeigt; seine Unermüdlichkeit in der Universitätspolitik – all das spielte sich auf Kosten der Beziehung zu Melie ab. Wenn wir uns an Lohmeyers Ode an die Produktivität in seiner ersten Predigt erinnern31 , fällt es uns nicht schwer zu glauben, dass Melie sich innerlich einsam fühlte. Dass Lohmeyer das Rektorat der Universität Greifswald annahm, ohne sich mit seiner Frau zu besprechen, war ein weiterer Schritt in die innere Migration, weg von Melie, und ein weiterer Grund für ihre Vereinsamung. Zudem war die emotionale Distanz nicht der einzige Streitpunkt zwischen ihnen. Lohmeyers Kooperation mit der russischen Besatzung im Zuge der Wiedereröffnung der Universität hatte zu hartnäckigen Differenzen zwischen Ernst und Melie geführt. Sein Dienst an der Ostfront hatte ihm die russische Bevölkerung sympathisch werden lassen, besonders die Bauern, zu denen er viel Kontakt hatte. Diese Sympathie hat ihn offenbar bewogen, der russischen Besatzung im Zweifelsfall mehr zu glauben – und ihr manchmal sogar vorbehaltlos zuzustimmen. Melie teilte weder seinen Optimismus noch sein Vertrauen in die russische Besatzung und auch nicht in die Menschen, die mit ihr zu tun hatten. Ihre diesbezüglichen Warnungen schienen bei Ernst auf taube Ohren zu stoßen, und seine aus ihrer Sicht unkritische 28 29 30 31

Melie Lohmeyer: Väterchens Ende. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 147, p. 4. Siehe Ende Kapitel 12. 230. Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 3. Siehe Ende Kapitel 4.

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Zusammenarbeit mit der russischen Besatzung wurde zum ständigen Zankapfel zwischen den beiden. „Zwischen uns beiden blieb es das gleiche“, sagte sie, „wir waren beide kalt und tot.“32

Das neue Regime Wenn wir an einen entfernten Ort reisen, müssen wir die Uhr manchmal auf eine neue Zeitzone einstellen. Im Frühjahr 1945 erging es Lohmeyer umgekehrt: Die russische Besatzung brachte eine neue „Zeitzone“ nach Greifswald, und genau wie alle anderen Deutschen im sowjetschen Sektor war Lohmeyer gezwungen, seine Uhr entsprechend umzustellen. Die Vorfälle, die im Jahr 1945 unaufhaltsam und in schneller Folge auf Lohmeyer einstürzten, lassen die Frage aufkommen, ob er seine Uhr – das heißt, sein Verständnis und den modus operandi, die russische Besatzung betreffend – auch richtig gestellt hatte. Es sind schlichte Tatsachen, die diese Frage aufwerfen, und sie lauten wie folgt: Lohmeyer hatte zwölf Jahre Drittes Reich überlebt, dabei den Nationalsozialismus grundsätzlich abgelehnt und seine Ablehnung gelegentlich in konkreten Protestaktionen deutlich gemacht. Allerdings hatte man ihn nie festgenommen oder inhaftiert. Und doch wurde er innerhalb eines Dreivierteljahres nach der kommunistischen Übernahme Greifswalds festgenommen, inhaftiert und acht Monate später hingerichtet, ohne dass er gegen kommunistische Reglements ähnlich Widerstand geleistet hatte wie gegen die NS-Reglements. Was war geschehen? Warum war es geschehen? Hätte Lohmeyer all dies durch anderes Handeln verhindern können? Ganz sicher gab es in Deutschland nur wenige Professoren, die in der Hitler-Zeit so klar, so beständig und so erfolgreich opponiert hatten wie Lohmeyer (wenn man Überleben als Erfolg zählt). Fehlte ihm dieser Scharfsinn beim Umgang mit den Sowjets in Greifswald? Brachte seine Sympathie für die russische Bevölkerung als Kommandeur an der Ostfront ihn dazu, die russische Besatzung von Greifswald falsch einzuschätzen? Melie hätte diese Fragen mit einem uneingeschränkten Ja beantwortet. Die weiteren Ereignisse scheinen Melies Urteil zu bestätigen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass Lohmeyer die zwei Jahre an der Ostfront nicht überlebt hat, weil er ähnliche Vorfälle falsch einschätzte oder weil er dumm und naiv war. Soll das etwa heißen, dass Lohmeyer bei den Nazis schlau war wie ein Fuchs und bei den Kommunisten dumm wie ein Huhn? Wir müssen in Erwägung ziehen, dass die sowjetische Besatzung einfach heimtückischer und rücksichtsloser war als der Nationalsozialismus in Deutschland. Josef Stalins erbarmungslose Vernichtung der Bauernschaft in den frühen

32 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 4.

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1930ern; die Ermordung von sechs Millionen Kulaken, wie er sie verächtlich nannte; die Ermordung von Russlands Landarbeitern, die zu einer Hungersnot führte, durch die weitere zwei oder drei Millionen Russen verhungerten – all das waren Belege für die knüppelharte Unterjochung der Bevölkerung durch die Sowjets. Die Gesamtzahl der Russen, die in den 1920ern und 1930ern durch die Hand von Stalin verschwanden, beläuft sich auf annäherungsweise zehn Millionen Menschen – das übersteigt die Größe jeder einzelnen Bevölkerungsgruppe, die je von den Nationalsozialisten ermordet wurde.33 Die sowjetischen Gulags ähnelten in ihrer Größe dem System der NS-Konzentrationslager. Schilderungen des sowjetischen Gefängnissystems in Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn oder in Victor Hermans Coming Out of the Ice sind, so traurig es ist, nicht weniger furchtbar als die der Überlebenden der NS-Konzentrationslager. Mit dem Vergleich von zwei Übeln – Nationalsozialismus oder Kommunismus – ist nichts gewonnen. Aber vielleicht können wir etwas gewinnen, wenn wir bestimmen, welches Übel invasiver war. Das Verständnis dieses Punktes wirft vielleicht ein Licht auf Lohmeyers Situation von 1945 bis 1946. An dieser Stelle möchte ich ein persönliches Erlebnis teilen, die mich dazu gebracht hat, seine Lage in Greifswald so andauernd nachfühlen zu können. 1971 hielt ich mich in Berlin auf, um dort meinen ersten Trip mit Berlin Fellowship nach Ostdeutschland vorzubereiten. 1970 war ich am Princeton Seminary graduiert worden und hatte gerade ein Jahr neutestamentliche Studien an der Universität Zürich abgeschlossen. Der Pastor, der die verschiedenen Teams und Reisen von Westberlin nach Ostdeutschland zusammenstellte, hieß Reverend Ted Schapp. Ted war mein Interesse an theologischen Fragestellungen bekannt, und deshalb fragte er, ob ich mich in Ostberlin mit einem marxistischen Theologen treffen wolle. Das war ein seltenes und reizvolles Angebot, ich konnte es nicht ausschlagen. An einem milden Frühlingsabend parkte Ted seinen Wagen in der Kochstraße in Westberlin. Wir passierten den Checkpoint Charlie und betraten eines dieser modernen Hochhäuser im Einheitsbau, die für Ostberlin typisch waren. Nachdem wir ein paar Treppen hinaufgestiegen waren, entdeckten wir den Namen Fink an einer Wohnungstür. Wir wurden empfangen von Dr. Heinrich Fink, Professor für Pastoraltheologie an der Humboldt Universität zu Berlin. Die Wohnung war im klassischen DDR-Stil eingerichtet: weicher Linoleumboden, pastellfarbene Wandtapeten, ein Wohnzimmer, von dem zwei Schlafzimmer abgehen, alles durchsetzt mit dem schwachen,

33 Siehe Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Bern u. a.: Scherz 1974. – Solschenizyn schreibt auf S. 64: „Die ganze russische Geschichte hat nichts auch nur annähernd Vergleichbares anzubieten.“ (63) Und weiter: „(Es war das erste Experiment dieser Art, zumindest in der neueren Geschichte. Später wird es Hitler mit den Juden wiederholen, dann wiederum Stalin mit den treulosen und verdächtigen Nationen.)“

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beißenden Geruch von Braunkohle, der Hauptheizquelle in Ostdeutschland. Anlässlich unseres Besuchs hatten die Finks einen Kaffeetisch mit Bier, Wein und Brezeln vorbereitet. Das einzig Untypische in dieser Wohnung waren die Bücherregale an den Wänden im Wohnzimmer, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Die Finks waren begeisterte Leser, er als Professor für Theologie an der Universität, seine Ehefrau als Pastorin. Finks marxistische Überzeugungen waren weithin bekannt. Mit Berlin Fellowship hatte er nichts zu tun, und Ted und ich waren auch nicht zu Besuch gekommen, um mit ihm über die Organisation zu sprechen. Wir interessierten uns vielmehr dafür, wie Fink seine marxistischen Überzeugungen mit seinem christlichen Glauben in Einklang brachte. Seine Doktorarbeit hatte er über Karl Barth geschrieben, und er erinnerte uns daran, dass Barth, der scharf gegen den Nationalsozialismus eingestellt war, dem Kommunismus durchaus wohlwollender entgegentrat. In beiden Punkten hatte er recht. Die Tochter der Finks litt an einer Behinderung, ich kann mich nicht mehr erinnern, woran genau. Aber diese Behinderung wäre ihr, wie er und seine Frau uns versicherten, in NS-Deutschland zum Verhängnis geworden. Auch das ist wahr. Im sozialistischen Ostdeutschland hingegen erhielte ihre Tochter eine spezielle medizinische Versorgung und Bildungsangebote. Neben der staatlichen Gesundheitsfürsorge zählten die Finks auch das Verbot von Pornografie und Waffenbesitz, die geringe Obdachlosigkeit, geringe Kriminalität und hohe Sozialleistungen zu den Errungenschaften Ostdeutschlands. Unsere Unterhaltung plätscherte dahin, rascher bei manchen Punkten, langsamer bei anderen. Größtenteils sprachen wir über moderne Theologie einschließlich Befreiungstheologie, über die damals populäre „Theologie der Hoffnung“, die Kirche in den Staaten und – besonders mit Blick auf Vietnam und Bürgerrechte – über die Kirche in Ostdeutschland. Die Perspektive der Finks auf Politik und Theologie und das Versprechen für das Gemeinwohl unterschied sich verständlicherweise sehr davon, wie Ted und ich die Dinge sahen. Die Finks waren ausgesprochen geschickte Apologeten des Kommunismus. Ted und ich waren Skeptiker – auch wenn wir uns bemühten, gnädige Skeptiker zu sein. Uns allen war vorn vornherein klar, dass wir Differenzen hatten; deshalb war es uns möglich, einander zuzuhören, ohne dass wir uns gezwungen fühlten, auch gleich zuzustimmen. Beide Seiten brachten ihre Argumente mit Überzeugung und Höflichkeit vor. Dieses Gespräch war im Rückblick eines der ungewöhnlichsten und interessantesten meines Lebens. Kurz vor Mitternacht brachen Ted und ich auf, stiegen die Treppe hinunter und gingen zurück zum ostdeutschen Fertigbau-Checkpoint in der Friedrichstraße gegenüber dem Checkpoint Charlie. Nach einem kurzen Moment am Schalter stempelte der Grenzsoldat Teds Pass. Ted verließ das Gebäude und ging ungefähr dreißig Meter zum Checkpoint Charlie nach Westberlin. Wir waren übereingekommen, uns in der Kochstraße zu treffen, wo wir den Wagen geparkt hatten. Der Wachmann drängte mich vorwärts. Ich hatte damit gerechnet, dass der Vorgang

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sich wiederholen würde – ein flüchtiger Blick in meinen Pass, ein paar Seiten umblättern und dann ein dumpfer Stempelschlag auf die ostdeutschen Zollmarken, die eine ganze Seite im Pass füllten. Doch statt einen dumpfen Schlag in den Pass zu hauen, forderte der Beamte mich auf, ihm durch einen Korridor in einen kahlen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen zu folgen. Sobald wir Platz genommen hatten, wurde mir befohlen, den Inhalt meiner Taschen komplett auf den Tisch zu leeren. Unter meiner Habe befand sich ein Kalender, den der Beamte systematisch durchforstete; er verlangte Erläuterungen zu mehreren Einträgen. Eine Salve von Fragen wurde auf mich abgefeuert – warum hielt ich mich in Berlin auf? Woher kam ich? An welcher Stelle war ich nach Ostberlin eingereist, was hatte ich dort unternommen? Mit wem hatte ich gesprochen? Worüber hatten wir gesprochen? Diese Fragen wurden mehrfach wiederholt und nochmals neu formuliert und weitere hinzugefügt, mit der Unerbittlichkeit eines Maschinengewehrs. Beantworte die Fragen, ohne Verdacht zu erregen, mahnte ich mich. Die Regel für Verhöre bei Grenzübertritten lautete, Fragen so zu beantworten, dass der Verhörende zufrieden war, aber nicht so umfassend, dass Personen im Osten belastet würden. Diese Regel schien mir ausgesprochen vernünftig, als ich sie zum ersten Mal hörte. Doch am ostdeutschen Kontrollpunkt brachte ich es nicht fertig, mich daran zu halten. Ich hatte den Faktor ‚Angst‘ nicht bedacht, und in diesem Augenblick war die Angst beachtlich. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich nichts falsch gemacht hatte. Ich hatte nichts geschmuggelt, ich hatte nicht illegal Geld getauscht, und meine Verbindung zu Berlin Fellowship, die problematisch hätte sein können, war glücklicherweise nicht bekannt und wurde auch nicht abgefragt. Auch Tatsachen und Argumente konnten die Angst nicht vertreiben. Im Jahr 1971 unterhielten die Vereinigten Staaten keine diplomatischen Beziehungen zum kommunistischen Ostdeutschland. Die ostdeutschen Behörden konnten also mit mir anstellen, was sie wollten, egal ob ich schuldig war oder unschuldig. Ich hatte keine rechtliche Handhabe. Direkt hinter dem Beamten, der mich verhörte, befand sich ein kleines Fenster. Durch das Fenster konnte ich das erleuchtete Wachhaus am Checkpoint Charlie in der Mitte der Friedrichstraße erkennen. Die Männer drinnen mussten USSoldaten sein – Amerikaner. Die Sicherheit, die ich immer für selbstverständlich gehalten hatte und nach der ich mich jetzt sehnte, befand sich da drüben am Checkpoint Charlie. Aber ich war nicht dort, war nicht in Sicherheit. Denn ungefähr dreißig Meter trennten die erste von der zweiten Welt. Diese beiden Kontrollpunkte schienen buchstäblich Welten voneinander entfernt. Nach ungefähr einer Stunde wurde das Verhör so umstandslos beendet, wie es begonnen hatte. Der Beamte scheuchte mich zurück durch den Korridor, stempelte meinen Pass und ließ mich gehen. Auf dem Weg zum Checkpoint Charlie fingen meine Beine zu schmerzen an, und ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu be-

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kommen – genau die psychosomatische Reaktion, die das Verhör hatte auslösen sollen. In den folgenden Jahrzehnten habe ich den Checkpoint viele Male passiert, ohne dass es einen annähernd ähnlichen Vorfall gab. Mit der Zeit hielt ich das Vorkommnis für einen Ausrutscher, eine Anormalität, wie sie in Ostdeutschland hin und wieder mal vorkam. Ich dachte nicht länger darüber nach. Neunzehn Jahre später, um genau zu sein, im Juni 1990, war ich wieder in Europa. Sechs Monate zuvor war die Berliner Mauer gefallen, und ich reiste durch Ostdeutschland und die Tschechoslowakei, um den historischen Wandel vom Kommunismus zur Demokratie aus erster Hand zu erleben. In Ostdeutschland testete ich das politische Tauwetter mit einem Gang in die Humboldt Universität, was in der kommunistischen Ära streng verboten war. Im Atrium gab es ein Verzeichnis mit den Namen der Professoren. Ich überflog das Verzeichnis und las „Dr. Heinrich Fink“, der zwei Monate zuvor zum Rektor der Humboldt Universität ernannt worden war. Neunzehn Jahre lag meine Begegnung mit Heinrich Fink zurück, und ich beschloss, ihm einen Besuch abzustatten. Ich stellte mich vor, indem ich an Teds und meinen Besuch in seiner Wohnung 1971 erinnerte. Er bat mich in sein Büro, wo wir uns eine halbe Stunde lag freundlich unterhielten. Er lud mich zu einem schnellen Abendessen ein und zu einem Vortrag über Befreiungstheologie an der Universität. Als der Abend zu Ende ging, trennten wir uns herzlich. Kurz nach meiner Rückkehr in die Staaten im Sommer 1990 blätterte ich in einem Nachrichten-Magazin mit einem Artikel über hochrangige Spitzel in Ostdeutschland. Einer dieser Spitzel hieß Heinrich Fink; zweinundzwanzig Jahre lang war er als Stasi-Agent tätig gewesen. Als Ted Schapp und ich ihn 1971 besuchten, hatte er bereits seit drei Jahren im Dienst der Stasi gestanden. Damals hatten wir natürlich keine Ahnung, dass wir uns mit einem hochrangigen Stasi-Agenten unterhielten. Das ist nicht verwunderlich, denn als Amerikaner hatten wir keinen ausgesprägten „sechsten Sinn“ für Spitzel. Erstaunlich ist vielmehr, dass auch die Ostdeutschen, deren „sechster Sinn“ für solche Tätigkeiten ziemlich ausgeprägt war, von der lang andauernden Stasi-Tätigkeit Finks nichts mitbekommen hatten. „Die deutsche Wissenschaft war erschüttert“, schrieb John Koehler, als klar wurde, dass der Mann, der zum Rektor der Humboldt Universität befördert worden war, zwei Jahrzehnte lang als Hauptamtlicher für die Stasi gearbeitet hatte.34

34 „Die deutsche Wissenschaft war erschüttert, als sie erfuhr, daß Heinrich Fink, Theologieprofessor und Rektor der Ostberliner Humboldt Universität, seit 1968 für die Stasi tätig war. Nachdem Finks Stasi-Verbindungen ans Licht kamen, wurde er fristlos entlassen.“ - Siehe John O. Koehler: Stasi: The Untold Story of the East German Secret Police. Boulder, CO: Westview, 1999, 9.

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Lektionen, die nur ein Spion erteilen kann Aus meinen Überlegungen zu Heinrich Fink und den Enthüllungen habe ich zwei Schlussfolgerungen gezogen. Eine war persönlicher Natur. Das harte Verhör am Checkpoint Charlie im Jahr 1971 war offensichtlich kein Ausrutscher, die Schikane des Grenzschutzes wahrscheinlich auf einen Anruf von Fink hin erfolgt. Die Enthüllungen um Fink bieten auch eine plausible Erklärung für meine Stasi-Akte, die ich 1993 von Joachim Gauck anforderte, Bundespräsident von 2012 bis 2017. Obwohl ich in den 1970ern und 1980ern oft in Ostdeutschland war, und manche Besuche waren durchaus fragwürdiger als mein erster im Jahr 1971, enthielt die Stasi-Akte lediglich eine einzige Information, nämlich den Besuch 1971. Ein weiterer Hinweis auf Fink. Die zweite und wichtigere Schlussfolgerung hat zu tun mit der Invasivität und Allgegenwärtigkeit der Überwachung, die die russische Besatzung Ostdeutschlands 1945 mit sich brachte, und sie erklärt mein andauerndes Mitgefühl mit Lohmeyer in Betracht der Vorgänge, mit denen er es bei der Wiedereröffnung der Universität Greifswald zu tun hatte. Was die Allgegenwärtigkeit betrifft, so unterschied sich die ostdeutsche Stasi von allen anderen bekannten Spitzelorganisationen. Zu Vergleichszwecken: Englands berühmte M16 behauptet offiziell, weltweit etwa 4.000 Spione zu beschäftigen. Die Erdbevölkerung zählt etwa 7,5 Milliarden Menschen. Das bedeutet etwa 1 MI6-Agent auf ungefähr 2 Millionen Menschen. Nicht sonderlich invasiv. Zeitlich näher an Lohmeyer und daher wichtiger für unsere Belange: In den zwölf Jahren ihrer furchtbaren Herrschaft beschäftigten die Nazis etwa 40.000 Gestapo-Agenten. In den Kriegsjahren lebten in Deutschland etwa 80.000 Millionen Menschen; das beläuft sich auf etwa 1 Gestapo-Agenten auf 2.000 deutsche Bürger. Viel invasiver. Keines dieser Spitzelnetzwerke war jedoch so fein geknüpft wie das der Stasi. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, lebten in Ostdeutschland 17 Millionen Menschen; zu Höchstzeiten gab es 100.000 hauptamtliche Stasi-Angehörige und 175.000 inoffizielle Teilzeit-Informanten. Das Stasi-Labyrinth umfasste etwa 275.000 Paare von sehenden Augen, fleißigen Händen und willigen Füßen. Das beläuft sich auf etwa 1 Stasi-Agent auf 50 oder 60 Ostdeutsche. Völlig invasiv. Wenn Ostdeutsche morgens ihre Wohnung verließen und zur nächsten Querstraße gingen, wurden sie von einem Stasi-Agenten beobachtet. Eigentlich brauchten sie nicht mal ihre Wohnung zu verlassen, denn die allermeisten Informanten waren Familienangehörige. Der Mensch, der in Ostdeutschland Vertrauliches preisgab, war höchstwahrscheinlich das Kind in seinem Zimmer oder der Ehepartner, der neben dir schlief.35

35 Joachim Gauck: Die Stasi Akten. Das unheimliche Erbe der DDR. Hamburg: Rowohlt, 1991. - Das Werk ist eine erstrangige Informationsquelle zu Stasi-Akten.

Lektionen, die nur ein Spion erteilen kann

Zu Lohmeyers Zeit hat es die Stasi im eigentlichen Sinne noch nicht gegeben – sie sollte erst mit der Gründung der DDR im Jahr 1949 offiziell aufgestellt werden. Doch die sowjetische Paranoia, die hinter der heimtückischen Tscheka in Russland steckte und später hinter der Stasi in Ostdeutschland, war wie ein Virus, das die Rote Armee infizierte, und die Rote Armee infizierte Greifswald im Frühjahr 1945. Zweifellos wusste Lohmeyer über das sowjetische Geheimdienst-Netzwerk Bescheid, doch zu einem so frühen Zeitpunkt war es schwierig für ihn zu erkennen, wie ausgeklügelt und durchdringend und letztlich tödlich es war. Wie oben bemerkt, überschritt das Ausmaß an Überwachung bei Weitem die Vorstellungen, die er und alle anderen Deutschen mit der Gestapo verbanden. Als Lohmeyer sich 1945 für die Wiedereröffnung der Universität Greifswald einsetzte, sollte er die bittere Wahrheit erfahren. Bei den vielfältigen Verpflichtungen rund um die Wiedereröffnung war er auf den Rat und der Unterstützung anderer angewiesen. Unter diesen Unterstützern und Beratern befanden sich leider gut vernetzte Akteure, die vorgaben zu helfen, aber die Absicht hatten, zu vernichten.

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Kapitel 14. Einer gegen viele

„Der Weg ist nicht leicht, nicht ohne Not und Anstrengung, aber wenn die Ziele klar sind und die Kräfte gerüstet, die Nacht und Macht der Zerstörung und Bedrückung zu überwinden, dann wird es mit dem anhebenden neuen Semester gehen wie mit dem anbrechenden Morgen: ,Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!‘“1 Ernst Lohmeyer, 1946

Einsatz für die Wiedereröffnung der Universität Die Aussicht auf die Wiedereröffnung der Universität trug Lohmeyer vorwärts auf einer Welle neuer Möglichkeiten. Das Zuhause der Lohmeyers in der Arndtstraße 3 wurde zu einem Zentrum der Begegnung – Menschen kamen und gingen, ständig klingelte das Telefon. Von morgens bis abends war Lohmeyer unterwegs, zu Besprechungen an der Universität und überall in der Stadt. Und weiter draußen. Die Termine mit Funktionären der kommunistischen Partei betreffs der Wiedereröffnung der Universität fanden normalerweise 160 Kilometer westlich in Schwerin statt und 240 Kilometer südlich in Berlin. Die Notwendigkeit, sich jede Bahnfahrt durch einen Greifswalder Major schriftlich genehmigen zu lassen, erschwerte Lohmeyers Pendeldiplomatie erheblich, und auch der Major benötigte die Zustimmung der russischen Besatzung für jede Bahnfahrt aus Greifswald hinaus. Melie beklagte die Belastungen für ihren Mann und die Unruhe, die das Vorhaben in den Haushalt brachte, doch Ernst war gestärkt. Planungen, Verpflichtungen und Sitzungen waren nicht zu vermeiden, wurden aber erträglich durch die Vision, im sowjetisch besetzten Deutschland eine Universität der freien Künste in der Tradition des Wilhelm Humboldt wieder zu errichten, frei von den Dogmen und der politischen Linie, mit denen die Nationalsozialisten die Universitäten beschädigt hatten. Der Neuanfang in Greifswald war ein Kairos-Moment, wie es bei den Griechen heißen würde, und Lohmeyer warf sich mit ungebrochenem Tatendrang in diesen Moment. Sogar Melies Zweifel wurden durch das Versprechen zerstreut, das in der Stunde des Neuanfangs lag. „Seine Pläne und Maßnahmen wurden damals in den Verhandlungen mit den russischen Professoren durchaus gebilligt“, schrieb sie

1 Ernst Lohmeyer: Ansprache anläßlich der Wiedereröffnung der Universität Greifswald, 15. Februar 1946. - Zit. nach Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 361.

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später.2 Gudrun schätzte die Lage ähnlich ein. Sie schrieb über das Engagement ihres Vaters für die Wiedereröffnung der Universität 1945: „Mein Vater entzog sich nie einer Verantwortung, wenn sie ihm notwendig erschien.“3 Auch die öffentliche Meinung und die Universität begeisterten sich für Lohmeyer und feierten ihn als Mann der Zukunft. Ein „neues Weimar“ schien anzubrechen: „In Greifswald selbst […] hatte sich eine richtige Welle von Bewunderung, Anerkennung und Bejahung gebildet. Wir haben ‚Klein Weimar‘, ‚so etwas von Rektor haben wir seit langen Zeiten nicht gehabt‘, ‚ein Mann der Zukunft‘ und so weiter.“4 Dieser Enthusiasmus, wenn es denn einer war, sollte jedoch kurzlebig sein. „Niemand von uns durchschaute in diesen ersten Geburtswehen der neuen Ära, daß die kommenden Universitäten in der Besatzungszone mehr oder weniger als rein politische Instrumente gedacht sind“, schrieb Melie.5

Ein Nazi-Gegner wird als Nazi-Protektor verdammt Die Wiedereröffnung der Universität kostete Lohmeyer Energie und stellt seine Ideale auf eine harte Probe. Es gab unzählige Probleme. Lebensmittel und Kohle waren knapp, Lehrkörper und Studentenschaft kriegsbedingt dezimiert, viele waren gefallen, andere in Kriegsgefangenschaft. Eine Verhaftungswelle schwappte durch Greifswald, es endete damit, dass drei Mitglieder der Delegation, die die bedingungslose Übergabe von Greifswald an die Russen verhandelt hatten, in das NKWD-Gefängnis Fünfeichen überstellt wurden, darunter Rektor Engel. Die russische Besatzung verlangte von Studenten und Lehrkörper, einen Treueeid auf den Sowjetsozialismus zu schwören. Das Medizinstudium hatte mit materiellen und moralischen Widrigkeiten zu kämpfen; es fehlte an Medikamenten und Verbrauchsmaterialien. Die Achillesferse, mit der Lohmeyer es zu tun hatte, war jedoch die „Entnazifizierung“. Deutschland vom NS-Krebs zu befreien, der mehr als 100 Millionen Menschen im schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte das Leben gekostet hatte, stand ganz oben auf der Liste der siegreichen Alliierten, eingeschlossen die Sowjets. Das war allerdings leichter gesagt als getan, wie so vieles in der Politik. Es war nicht einfach zu ermitteln, in welchem Ausmaß einzelne Deutschen sich dem Nationalsozialismus hingegeben hatten; auch der Punkt, an dem diese Ergebenheit strafrechtlich relevant wurde, war schwer zu bestimmen. Die meisten Deutschen hatten sich durch Passivität gegenüber dem NS schuldig gemacht; in 2 3 4 5

Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 186, pp. 2–3. Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 360. Melie Lohmeyer: Väterchens Ende. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 147, p. 5. Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer, 2–3.

Ein Nazi-Gegner wird als Nazi-Protektor verdammt

einem totalitären Staat ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung oder bürgerrechtliche Opposition war es schwierig, nicht passiv mitzutun. Andere Deutsche waren aktive Mittäter geworden, hatten zum Beispiel Informationen über Nachbarn weitergegeben oder Juden denunziert – und wenn nicht denunziert, so doch sich am Besitz der aus ihren Häusern und Wohnungen vertriebenen Menschen bereichert. Die Entnazifizierung entwickelte sich zu einem komplexen Verfahren: War die Durchführung zu lasch, würden Schuldige freigesprochen, war sie zu scharf, würden Unschuldige bestraft. Die goldene Mitte zwischen den beiden Polen war so schwierig zu bestimmen wie zu praktizieren. Und dringliche praktische Arbeiten machten es noch schwieriger, denn nach dieser Krebsoperation konnte der Patient tot sein. Das heißt, durch eine konsequente Entnazifizierung (sofern sie denn möglich wäre) würden genau diejenigen Personen aus der deutschen Führungsschicht entfernt, die für den Aufbau eines gesunden, neuen Deutschlands unerlässlich waren. Die Entnazifizierung war eine Strafmaßnahme, musste aber mit den Werten der Versöhnung und der Zusammenarbeit in Spannung gehalten werden, wenn die Demokratie in Deutschland erfolgreich sein sollte. Die alliierte Besatzung reagierte mit einer grundsätzlichen und pragmatischen Politik der nachweisbaren Schuld auf diese Flut von Unwägbarkeiten. Auf der Dreimächtekonferenz bei Berlin, an der Russland, England und Amerika teilnahmen, versuchte man, eine etwaige Schuld zwischen den Polen „nominell“ und „mitschuldig“ festzumachen. Mitglieder der NSDAP, die keine Verbrechen begangen hatten, wurden als „nominell“ eingestuft und nicht bestraft. Parteimitglieder, die „schuldig“ waren, mussten ihren Verbrechen entsprechend bestraft werden. Diesen Grundsatz übernahm Lohmeyer für die Universität. Während der NS-Diktatur hatte er an deutschen Universitäten gelehrt. Er kannte den Druck, den die Parteimitgliedschaft auf die Fakultät ausgeübt hatte, besonders auf die jüngeren Lehrkräfte, die noch am Anfang ihrer Karriere standen. Für viele Professoren war die Parteimitgliedschaft nichts anderes als die Mitgliedschaft einer Gewerkschaft, um es mit einem modernen Phänomen zu vergleichen – ein Weg, sich anzupassen, ohne sich zwangsläufig schuldig zu machen. Professoren, die ihre Parteizugehörigkeit nicht missbraucht und weder ihren Berufsstand noch die Universität oder die Studentenschaft geschädigt hatten, sollten, so Lohmeyers Plan, gehalten werden; wer diese Kriterien nicht erfüllte, sollte entlassen werden.6 Diese Politik, die vernünftig, pragmatisch und gerecht erschien und von der Dreimächtekonferenz gebilligt worden war, entwickelte sich zu einem ständigen Streitpunkt zwischen den kommunistischen Verbänden in Greifswald und Schwe-

6 Zum Dreimächteabkommen siehe Bezirksleitung Schwerin der SED, Bezirksparteiarchiv, Landesleitung der KPD Mecklenburg, Kreisleitung der KPD Greifswald 1945–1946, 1. Mappe, I/11, p. 216. Siehe auch Matthiesen: Eine tödliche Intrige, 10.

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rin. Es muss daran erinnert werden, dass Kommunismus an sich nicht in Russland begründet worden war, sondern von deutschen Ideologen, von Karl Marx (†1883) und Friedrich Engels (†1895), die 1848 gemeinsam das Kommunistische Manifest verfasst hatten. Der Vater des russischen Kommunismus war natürlich Wladimir Lenin, aber der von ihm in Russland eingeführte Kommunismus war vermittelt durch die Lektüre der Werke von Marx und die Debatten um die marxistische Ideologie in Cafés während seines Exils in Zürich. In Deutschland schlug der marxistische Sozialismus tiefe Wurzeln, wurde, wie in Kapitel 8 ausgeführt, der wichtigste politische Gegner des Nationalsozialismus in den 1920ern und 1930ern. Die Vergeltungsaktionen der Nationalsozialisten gegen deutsche Kommunisten waren erbarmungslos. Verständlich, dass viele nach Russland geflohen waren, wo sie in russischem Kommunismus geschult und darauf vorbereitet wurden, nach dem Sieg des stalinistischen Kommunismus über den NS und Hitler in Deutschland zu dienen. Diese moskautreuen Kommunisten saßen nun auf ihren ersten Posten in Schwerin und Greifswald und legten den Feuereifer von frisch und gründlich indoktrinierten Funktionären an den Tag. Was die Entnazifizierung betraf, so hielten sie NSDAP-Mitglieder ungeachtet ihrer Taten per se für schuldig. Wer sich vor 1937 der Partei angeschlossen, sich den Beitritt also ausgesucht hatte, war konsequent zu entlassen, während andere mit späterem Beitrittsdatum vielleicht eher aus Zwang Mitglied geworden waren. Diese Leute waren aus allen Führungspositionen zu entfernen, durften aber weiterhin in der Lehre tätig sein.7 Dieses Vorgehen traf Greifswald besonders hart. In seinen Bestreben, den gesamten öffentlichen Dienst unter dem Nationalsozialismus zu vereinen, hatte das Dritte Reich versucht, alle Staatsbediensteten in die NSDAP aufzunehmen – und zu den Staatsdienern gehörten auch Universitätsprofessoren. Die friedliche Übergabe von Greifswald hatte eine große Anzahl Professoren mit unterstellter oder tatsächlicher Verbindung zu den Nationalsozialisten veranlasst, in der Stadt zu bleiben, statt in den Westen zu fliehen. Als Greifswald im Mai 1945 kapitulierte, war die Hälfte der Professoren an der Universität formell Mitglied der NSDAP. Es ging also nicht einfach nur darum, dass eine rigide Entnazifizierung den Lehrkörper um die Hälfte reduzieren würde – obwohl diese katastrophale Situation eingetreten wäre. Es ging um ernsthaftere Dinge. Die Uniklinik war die einzige funktionierende Klinik in Greifswald, und sie war belegt mit Opfern aus dem verheerenden Krieg – verwundete Soldaten und Zivilisten, mangelernährte Kinder und Menschen, die an allen möglichen Krankheiten und Epidemien litten, insbesondere Typhus. Bis auf vier Personen hatte der gesamte Lehrkörper der medizinischen Fakultät der

7 Zu den genauen Modalitäten der Entnazifizierung siehe Dirk Alvermann/Karl-Heinz Spieß (Hgg.): Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald, 1456–2006. Hinstorff: Rostock, 2006. Bd. 1, 101.

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NSDAP angehört. Die Durchsetzung der harten Entnazifizierung hätte über Nacht das gesamte Gesundheitswesen lahmgelegt. Die harte Entnazifizierungspolitik konfligierte mit der Linie, die Marschall Georgi Schukow und die russische Militäradministration auf der Dreimächtekonferenz in Berlin-Karlshorst befürwortet hatten (die russische Militäradministration hatte dem Dreimächteabkommen zugestimmt). Die Schikanen, mit denen der Greifswalder kommunistische Verband seine doktrinäre Politik vorantrieb, mag faktisch ein Ausgleich für seine Schwäche gewesen sein. Denn die kommunistische Partei Greifswalds hatte zu dem Zeitpunkt nur 450 Mitglieder, ungefähr 4.000 in ganz Norddeutschland – höchstens. Die Greifswalder Partei war klein, ihre Führung schwach und dürftig organisiert. Die Unnachgiebigkeit in Sachen Entnazifizierung könnte also ein Trick gewesen sein, mit dem sie ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen wollte. Deutschlands Niederlage 1945 hatte den Nationalsozialismus diskreditiert und die Menschen desillusioniert zurückgelassen, aber zwölf Jahre antikommunistische Propaganda während des Dritten Reiches hatte die Bevölkerung nicht kaltgelassen. Die Propaganda der kommunistischen Funktionäre nach der russischen Okkupation 1945 im Verbund mit der Beschlagnahme ihrer Besitztümer, die Enteignung des Bauernlandes und nachfolgenden Festnahmen – oft von unschuldigen Menschen! – hatten die von den Nazis geschürten Ängste vor dem Kommunismus eher verstärkt als gemildert. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bestanden die Kommuniqués der kommunistischen Partei aus langen Tiraden gegen den Nationalsozialismus, aber nur knappen Äußerungen zu konstruktiven Lösungen für den Wiederaufbau Deutschlands. Hätte der große Bruder in Moskau der grünschnabeligen kommunistischen Partei Deutschlands nicht den Rücken gestärkt, ist fraglich, ob sie die Lage hätte überstehen können.8 Die Universität Greifswald schien den Kommunisten in Greifswald und Schwerin wie eine Insel der Intellektuellen, die sich an der Brust der alten Ordnung labten, nicht willens, sich der eisernen Herrin des Sozialismus russischer Prägung in die Arme zu werfen. Man beachte die doktrinäre Überheblichkeit des kommunistischen Verbandes in Schwerin Anfang Februar 1946: „Im übrigen sind wir in keiner Weise daran interessiert, dem mehr oder weniger faschistischen Unternehmertum Kartelle zu schaffen, die sie in die Lage versetzen ihren faschistischen Kundenkreis noch mehr zu bevorzugen.“9 Die Entnazifizierungspolitik Lohmeyers, so vernünftig sie uns heute vorkommt, konnte sich nicht so tief einwurzeln, wie es für einen Erfolg nötig gewesen wäre, und ihr Scheitern drängte ihn zunehmend in die Opposition. Bei den

8 Zur frühen Rolle der KPD Greifswald siehe Bezirksleitung Schwerin der SED, 1. Mappe, I/11, pp. 46–47, 98–9 9. 9 Bezirksleitung Schwerin der SED, Bezirksparteiarchiv, Landesleitung der KPD Mecklenburg, Kreisleitung der KPD Greifswald 2. Mappe, 1945–1946, I/11a, p. 121.

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Schweriner und Greifswalder Kommunisten provozierte seine Mäßigung Widerwillen, der sich zu Misstrauen verhärtete. Mitte Mai 1945 wurden zehn von dreizehn Mitgliedern der medizinischen Fakultät wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Nazis entlassen.10 Am Ende des Monats schloss der Besatzungskommandeur in Stettin die Universität, bis der Lehrkörper von Personen mit mutmaßlichen NaziVerbindungen „gesäubert“ war.11 Der Versuch, die Sache im Sommer 1945 zu klären, scheiterte. Lohmeyer war wie ein Leichtathlet im Wettkampf gegen andere Athleten, von denen einige, darunter auch Marschall Schukow, dasselbe Spiel mit denselben Regeln spielten wie er. Andere Athleten hingegen hatten die Regeln verändert oder spielten sogar ein komplett anderes Spiel. Ende August wurde Lohmeyer zu einem Treffen mit sieben russischen Generälen gerufen, die verlangten, dass alle ehemaligen NSDAP-Mitglieder aus der Universität entlassen werden sollten, und zwar ungeachtet etwaiger mildernder Umstände. Lohmeyer warf ein, dass die Implementierung der Resolution, die den Lehrkörper bereits von 150 auf 90 Mitglieder reduziert hatte, die Universität betriebsunfähig machen würde. Achtzig Prozent der Lehrkräfte an der juristischen Fakultät waren bereits entlassen, an der medizinischen Fakultät würden lediglich vier Lehrkräfte weiterarbeiten können, lediglich das theologische Institut wäre unbeschadet davongekommen. Lohmeyers Einwände wurden nicht gehört, die Entschließung angenommen.12 Im Sommer und Herbst 1945 setzte Lohmeyer seine Pendeldiplomatie zwischen Schwerin und Berlin fort, um die Entnazifizierungsbombe zu entschärfen. Seine Besuche in Berlin-Karlshorst bei Marschall Schukow ermutigten ihn, doch insbesondere die Verhandlungen mit Schwerin ließen ihn ausgelaugt und erschöpft zurück. Melie ihrerseits fand keinen Trost in Schukows vermeintlicher Fürsprache. Sie erinnerte ihren abgekämpften Ehemann daran, dass weder die Worte noch die Taten des Generals sich bisher als wirksame Unterstützung für ihn oder für die Universität erwiesen hatten. Darüber hinaus warnte sie ihn, dass Schukow ihm nicht zu Hilfe kommen würde, falls der kommunistische Verband vor Ort ihn matt setzte. Lohmeyer blieb kaum etwas anderes übrig, als Kurs zu halten. Im September lehnte Greifswald die Politik der Dreimächtekonferenz ab: „Der Block der antifaschistischen Parteien zu Greifswald fordert grundsätzlich die Entlassung jedes Hochschullehrers, der der NSDAP als Pg. oder ihren Kampfverbänden sowie dem NS Dozentenbund als Mitglied angehört hat, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Eintritts oder die Dauer der Mitgliedschaft.“13 In einem Zusatz zum oben erwähnten Kommuniqué wurde erklärt, dass der Rektor eine Position im Staat 10 11 12 13

Greifswalder Physikalische Hefte, 8, 12–13. UAG R 580/7, 6–7. Bezirksleitung Schwerin der SED, 2. Mappe, 1945–1946, I/11a, pp. 112–113. Bezirksleitung Schwerin der SED, 1. Mappe, I/11, p. 216.

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innehabe, die sowohl pädagogisch als auch politisch wichtig und symbolbehaftet sei. Daher hätten ehemalige NSDAP-Mitglieder im neuen sozialistischen Deutschland ihr Recht auf Lehre verwirkt, und zwar ungeachtet der genaueren Umstände ihrer Mitgliedschaft; darüber hinaus seien „politisch unzuverlässige Kräfte so schnell wie möglich zu ersetzen.“14 Diese Regelung lieferte die Universitätsangehörigen einer Hexenjagd aus, denn wie sollte es möglich sein, politische Zuverlässigkeit zu beweisen? Wie sollte man sich gegen den Vorwurf der politischen Unzuverlässigkeit wirksam verteidigen können? Die bloße Anschuldigung, Nazi zu sein, war nun verhängnisvoll. Das Szenario, das zehn Jahre zuvor in Breslau so verheerende Auswirkungen auf Lohmeyer hatte, rückte in Greifswald erneut auf die Tagesordnung. Im Herbst 1945 kam es zu aufreibenden Schriftwechseln. Der Greifswalder Lehrkörper hatte Dossiers, Akten und Empfehlungsschreiben einzureichen, was jeweils mühsame Überprüfung, Beratung und Besprechungen seitens Lohmeyer erforderlich machte. Im November verlangte Schwerin die Entlassung von vierundvierzig Verwaltungsangestellten wegen Mitgliedschaft in der NSDAP.15 Die Bemühungen der Universität, die Auswirkungen solcher Forderungen durch partielle oder alternative Maßnahmen abzumildern, stufte der an Stärke gewinnende Verband in Schwerin als Trotzreaktion ein.16 Lohmeyer verabscheute Machtkämpfe, glaubte, Differenzen könnten durch Vernunft und Dialog ausgeräumt werden. Doch die Kluft zwischen der Politik der Schweriner und Greifswalder Kommunisten und seiner Vorgehensweise ließ sich nicht durch einen vernünftigen Diskurs überbrücken. Er wurde mit Vorwürfen überhäuft und als „Naziprotektor“ beschimpft: „In Schwerin als auch bei den kommunistischen Kreisen Greifswalds wurde er sehr falsch ausgelegt, und man hieß ihn einen ‚Naziprotektor‘.“17

Lohmeyer als Politiker Die Entnazifizierung im Frühjahr 1945 brachte der Universität eine Verkühlung ein, die sich bis zum Herbst des Jahres zu einer Grippe entwickelte. Doch auch im Krankheitsfall finden Menschen Möglichkeiten zum Weitermachen. Siehe Lohmeyer. Schon im Juli 1945 taucht er mit Namen, Tätigkeit und Anschrift als fünfundzwanzigstes Mitglied der jungen „Demokratischen Partei“ auf, die im Herbst des Jahres zur Mitte-rechts gerichteten Christlich Demokratischen Union (CDU) werden sollte. Die CDU zählt bis heute zu den wichtigsten politischen Parteien 14 15 16 17

Bezirksleitung Schwerin der SED, 1. Mappe, I/11, pp. 216–217. UAG R 580/1, 47. UAG R 580/1, 67. Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer, 3.

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in Deutschland. Dass Lohmeyer sich neben der Entnazifizierung noch auf andere Dinge konzentrieren konnte, beweist, dass er in der Lage war, auch in der Krise den Überblick zu behalten. Seine Mitgliedschaft in der Demokratischen Partei bestätigt nicht nur seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, sondern belegt zudem sein Engagement für ein auf Partizipation ausgerichtetes demokratisches Spektrum – im Gegensatz zum Totalitarismus sowjetischer Spielart, der in Ostdeutschland Wurzeln schlug. Ende August bat er in einer Rede vor dem „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ in Schwerin um Nachsicht für diese fragile und bedrohte Freiheit. Gegen Ende 1945 musste man es sich in Ostdeutschland gut überlegen, ob man einer solchen Einladung folgte und eine Rede über Freiheit hielt. Das mag der Grund sein, weshalb der ursprünglich vorgesehene Redner die Einladung ausgeschlagen hatte. Lohmeyer war als Ersatzredner angefragt. Er lehnte nicht ab, sondern sprach über die Notwendigkeit von Freiheit in einer wahrhaft demokratischen Kultur. Er zitierte die großen Fürsprecher einer solchen Kultur – Bach, Goethe, Hölderlin, Herder, Dickens, Tolstoi, Plato – und schloss seine Rede mit Jesus als dem größten Fürsprecher unter ihnen: „Das alte Wort, die Wahrheit wird euch freimachen, […] gilt auch in der unmittelbaren Gegenwart, gilt von der kleinen Arbeit des Tages wie von der Arbeit auf große Ziele und auf ferne Zeiten. Sie werden mich aber fragen, wieso wird auf diese Weise Kultur begründet: Und ich antworte mit dem Satz, von dem ich ausging: Kultur ist damit begründet, daß wir frei geworden sind. Denn allerinnerster Kern der Kultur ist der Gedanke der Freiheit.“18 Bei den anwesenden KPD-Mitgliedern war diese Botschaft nicht willkommen, einer schrieb: „Leider hat Prof. Lohmeyer nicht restlos in der Ideologie gesprochen, die wir gewünscht hätten. Er hat sich als ein philosophischer Idealist und sogar etwas als Mystiker gezeigt, mit einer sogar mehr als angedeuteten Reserve gegenüber Sowjetrußland und der Roten Armee.“19

Lohmeyer als Pastor Neben der Hochschul- und Landespolitik verlor Lohmeyer auch die Kirche nicht aus dem Blick. Während der NS-Herrschaft hatte die deutsche evangelische Kirche in Wartestellung ausgeharrt. Ihre letzte Plenartagung hatte 1933 stattgefunden, dem Jahr von Hitlers Machtantritt. Der Machtkampf zwischen der deutsch-christlichen Bewegung und der Bekennenden Kirche hatte während des gesamten Dritten Reiches angedauert. Die deutsch-christliche Bewegung hatte immer die Mehrheit

18 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 121. 19 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 121.

Lohmeyer als Pastor

gestellt und in etwa ihre Größe beibehalten, während die Bekennende Kirche, praktisch wehrlos gegenüber der NS-Politik und der Verfolgung, auf einen kleinen, aber treuen Rest zusammengeschrumpft war. Bis auf eine nicht zu vernachlässigende „gemäßigte Mitte“ blieben beide Seiten während des gesamten Dritten Reichs gespalten. Die Schmach, die mit der Niederlage Deutschlands im Jahr 1945 über den Nationalsozialismus hereinbrach, brachte auch die ihm ergebene deutschchristliche Bewegung in Verruf. Im Gegensatz dazu stieg die Bekennende Kirche wie Phönix aus der Asche auf, anerkannt und so geachtet, wie sie es im Dritten Reich niemals war. Durch die Notwendigkeit, die Überreste des Protestantismus in Deutschland zu reformieren, wurden ihre Schwäche und ihre Geringschätzung plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Die Barmer Erklärung und die Bekennende Kirche, die beide aus der Notwendigkeit einer Reaktion auf den Nationalsozialismus entstanden waren, erlebten ihre Sternstunde nun paradoxerweise in der Reform des deutschen Protestantismus – was selbst ihre Gründer nicht hatten vorhersehen können. Die Aufgabe der offiziellen Rekonstituierung der deutschen lutherischen Kirche fiel Dr. Otto Dibelius zu, Bischof von Berlin-Brandenburg und Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). Dibelius war ein Haudegen. Die nächsten zehn Jahr und länger griff er als Mitglied des Rates der EKD auf die Stärken der Bekennenden Kirche zurück, deren Mitglied er gewesen war, und zog auch Lehren aus ihrem Scheitern. Es gab viel zu tun. Bis sich die Kirche ihrer Mitschuld am Holocaust bewusst wurde, verging mehr als ein ganzes Jahrzehnt. Der christlich-jüdische Dialog, der 1961 mit einer Arbeitsgruppe auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag begann, hatte noch einen langen Weg vor sich. Die frühen Kommuniqués der Nachkriegskirche äußerten sich außerdem zu den drängenden Problemen der Stunde, dazu gehörten auch die Flut von Flüchtlingen und die displaced persons, die Suche nach Familienangehörigen und verschollenen Verwandten sowie die Instandsetzung von zerstörten Kirchen und Besitztümern in ganz Deutschland. Nach der Kapitulation im Mai 1945 war es zu einer sozialen Katastrophe gekommen, und die protestantischen Kirchen waren aufgerufen, bestmöglich darauf zu reagieren. Und Vertreter aus den deutschen Ländern sollten an einer kirchlichen Plenartagung am 2. Oktober 1945 in Berlin teilnehmen; auch Superintendent Karl von Scheven und „Professor Dr. Lohmeyer“ gehörten dazu. Leider hinderte die Verwicklung in die Entnazifizierungsfrage Lohmeyer daran, an der für den 19. September anberaumten Sitzung zur Vorbereitung der Plenartagung und an der Tagung selbst im Oktober in Berlin teilzunehmen, wo das Stuttgarter Schuldbekenntnis angenommen und die Evangelische Kirche Deutschlands formell neu konstituiert wurde. Im Herbst 1945 teilte Dr. Oskar Söhngen, Direktor des Kirchenkonsistoriums von Berlin Charlottenburg, Bischof Dibelius mit, dass es mehr zu tun gebe als die

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kirchliche Bürokratie zu reformieren und sozial tätig zu sein. Die dringlichere Notwendigkeit lag laut Söhngen in der Reformierung des kirchlichen Lebens – ihrer Hingabe an die Evangelien und die Glaubensgemeinschaft. Er schlug die Bildung einer „protestantischen Akademie“ vor, an der Gläubige eine wissenschaftliche Unterweisung und geistliche Ausbildung erhalten konnten. Dibelius verwies Söhngen an Lohmeyer, dessen theologische Expertise und kirchliche Einsatzbereitschaft er hoch schätzte. Lohmeyer, so versicherte Dibelius, sei die beste Kraft für die Errichtung einer solchen protestantischen Akademie. Söhngen war der Ansicht, dass sich die Kirche von ihrer christlichen Vergangenheit verabschiedet hatte, was den Verlust der Unterscheidung von Kultur und in Kultur mit sich brachte. Laut Söhngen waren die Zeiten vorbei, in denen die Kirche als Seelsorgerin der Gesellschaft oder als Vermittlerin spiritueller kultureller Werte auftreten konnte. Die Kirche brauche ebenso dringend eine Reform wie die Gesellschaft. In seinem dreiseitigen Brief formulierte Söhngen die grundlegende Kluft zwischen christlichem Glauben und der modernen Kultur; das, was wir heute als „post-christlich“ bezeichnen, ist diese Kluft. Söhngens Bedenken und das Verständnis, mit dem er sie äußerte, waren vorausschauend, sogar prophetisch. Wenn Lohmeyer doch nur in der Lage gewesen wäre, die protestantische Akademie aufzubauen, die Söhngen vorschwebte! Aber gegen Ende 1945 waren Kräfte am Werk, die ihn hindern sollten, dem Ersuchen nachzukommen, jetzt und in Zukunft.

Vorbereitung auf die Inauguration Trotz der zahlreichen Probleme im Jahr 1945 hatte Lohmeyer viel für die Universität erreicht. Seine Schaffenskraft war unermüdlich. Er hatte eine Reihe neuer Forschungsprojekte angestoßen – eines in Präventivmedizin, ein weiteres für Wasseraufbereitung, ein drittes Forschungsprojekt zur Gasgewinnung an der medizinischen Fakultät und ein viertes für Aufforstung in der Landwirtschaft. Die Funktionäre, die seine Entnazifizierungsbemühungen torpediert hatten, sahen sich gezwungen, sein „schönes Beispiel“20 zu loben. Ebenso gepriesen wurde sein Ausbau von Industriebetrieben, die an die Universität angegliedert waren; sie produzierten Serum, Medikamente, Pharmazeutika und sogar Kosmetik.21 Solche Güter wurden in Westdeutschland hergestellt und waren im russischen Sektor

20 Bezirksleitung Schwerin der SED, 1. Mappe, I/11, p. 227. 21 Dieser dreiseitige erfreuliche Bericht wurde am 10. Februar 1946, vier Tage vor Lohmeyers Verhaftung, in Schwerin verfasst. - Vgl. Bezirksleitung Schwerin der SED, 1. Mappe, I/11, pp. 227–229.

Vorbereitung auf die Inauguration

nicht erhältlich. Lohmeyers diesbezügliche Initiative sollte die Lebensfähigkeit der medizinischen Fakultät sichern. Vor allem aber gab Marschall Schukow, Oberbefehlshaber der sowjetischen Militäradministration im russischen Sektor, grünes Licht für die formelle Wiedereröffnung der Universität am 15. Februar 1946. Den Termin hatte Schukow vorgeschlagen, unabhängig von den Kommunisten in Schwerin und Greifswald und gegen deren Wunsch. Die Autorität von General Schukow im russischen Sektor entsprach der Autorität von General Dwight D. Eisenhower oder General George Marshall im amerikanischen Sektor. Lohmeyer vertraute darauf – wer hätte das nicht getan? –, dass Schukows Gewicht mehr als ausreichend sein würde, um den Widerstand der kommunistischen Blöcke in Schwerin oder Greifswald auszuhebeln. Zwei Anekdoten geben Einblicke in den Charakter, den Lohmeyer in der angespannten Zeit vor der der Amtseinführung bewies. Die erste betrifft Melie und ihn. Bei einem Vortrag Lohmeyers über das Vaterunser in Greifswald bemerkte Melie einen Soldaten mit einem Arm, der neben einem Mädchen stand, das ungefähr im Teenager-Alter von Gudrun war. „Ihr zwei müßt meine Tochter kennenlernen“, sagte Melie und lud sie für den folgenden Abend zum Essen ein. Der Soldat Hans Pflugbeil litt wegen eines kriegsbedingten Armverlusts an schweren Depression. Er war ein sehr guter Organist, wegen des fehlenden Arms aber gezwungen, das Orgelspiel aufzugeben. Lohmeyer kannte sich in Musik gut aus und wusste auch über Pflugbeils Talent Bescheid. Er ermutigte ihn, das Orgelspiel mit seinen Füßen, dem verbleibenden Arm und der Hand wieder aufzunehmen. Außerdem bat er Pflugbeil um Unterstützung bei der Wiederbelebung des Instituts der Kirchenmusik und der Musikwissenschaft in Greifswald. Die Wiedereröffnung des Instituts sollte Lohmeyer nicht mehr erleben: seine Gefangenschaft und die durch den Kommunismus stagnierende Entwicklung Ostdeutschlands sollte die Einrichtung um mehrere Jahrzehnte verzögern. Aber Lohmeyers Vision starb nicht. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Greifswald im Jahr 1989 wurde das Institut endlich eingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt war Pflugbeil längst verstorben, doch seine Rückkehr an die Orgel im Jahr 1946 und seine Stiftung der jährlichen Bachwoche in Greifswald, die bis heute stattfindet, hatten der Neugründung des Instituts für Kirchenmusik und Musikwissenschaft in Greifswald den Weg bereitet.22 Ein zweiter Einblick stammt aus einem Neujahrsgruß an Lohmeyer von einem ungenannten Studenten am 1. Januar 1946. Ein gefaltetes Blatt Papier mit einer

22 Siehe „,Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht. …‘ Kriegsende und Wiederaufbau Kirchenmusik, ein Interview mit Annelise Pflugbeil von Irmfried Garbe, in: Zeitgeschichte regional, Juli 2005, 108. – Diese Anekdote verdanke ich einem Gespräch mit Pastor Wolfgang Nixdorf in Schwerin, 10. Dezember 2016.

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Schwarzweiß-Fotografie der Universität links enthielt die folgende Botschaft, fehlerfrei getippt auf der rechten Seite: Euer Magnifizenz! Mit bewundernder Hochachtung grüßen wir Sie am Neujahrsmorgen./ Wir alle wissen, wie Sie in unermüdlichem Streben um die Erhaltung und das Leben der Universität Greifswald kämpfen./ Viel, sehr viel haben Sie bisher schon erreicht und gerettet./ Aber auch schwere Schläge hat die Universität erleiden müssen trotz Ihres nie erlahmenden Bemühens./ Vielleicht nur wenige wissen, wie Sie persönlich darunter leiden./ Das Jahr 1946 steht vor uns. Möchte es Ihnen schließlich doch den endgültigen Erfolg bringen! Möchte die Universität mit Ihnen an der Spitze wieder aufleben!/ Ein Student/ Ihrer alma mater für alle23

Diese Anerkennung konnte die vielen Gegner nicht aufhalten, die sich gegen Lohmeyer versammelt hatten. Doch die Versicherung „wir alle wissen …“ gab ihm zu verstehen, dass er nicht allein war.

Das „Geschenk“ von Gottfried Grünberg Das englische Wort „gift“ und das deutsche Wort „Gift“ haben eine sehr unterschiedliche Bedeutung. Das englische Wort „gift“ bedeutet auf Deutsch „Geschenk“, das deutsche Wort „Gift“ bedeutet auf Englisch „poison“. Beide Wortbedeutungen, die eine dem Anschein nach, die andere tatsächlich, treffen auf Gottfried Grünberg zu, einer letzten Schlüsselfigur im Drama um die Wiedereröffnung der Universität. Im Dezember 1945 und im Januar 1946 liefen die Vorbereitungen zur Wiedereröffnung der Universität auf Hochtouren. In Melies Worten: „Die Vorbereitungen für die Wiedereröffnung wurden fieberhaft betrieben.“24 Die Einheitsfront der Entnazifizierung, mit der Lohmeyer es bis dahin zu tun hatte, splittete sich auf, und aus allen Richtungen wurde ihm zugesetzt. Im Dezember hatte der NKWD mehrere Angehörige des Greifswalder Bataillons wegen des Verdachts der Mittäterschaft am Bromberger Blutsonntag festgenommen. Melie befürchtete, dass auch Ernst verhaftet werden könnte, aber er blieb gelassen und beharrte darauf, dass er unschuldig und mit seiner offenen Art sehr gut gegen politische Intrigen gewappnet sei. „Die Russen haben einen viel zu guten Nachrichtendienst, als daß sie nicht wüßten, daß das mich nichts angeht“, beruhigte er Melie.25 Sie war aber nicht beruhigt. Stattdessen schimpfte sie mit ihm, dass er es schließlich mit den

23 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 17, p. 118. 24 Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer, 3–4. 25 Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer, 2.

Das „Geschenk“ von Gottfried Grünberg

Russen zu tun habe und sein reines Gewissen in politischen Angelegenheiten kein Garant für Straflosigkeit sei. Lohmeyer verfolgte seinen Kurs der Nichteinmischung mit der gewohnten Entschlossenheit. Dass er an diesem Kurs festhielt, war im Spätsommer 1945 praktisch gesehen sinnvoll, taktisch aber gefährlich. Anfang Dezember stellte Dr. Gottfried Grünberg, Provinzialvizepräsident und Landesminister für Volksbildung und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern, eine Falle, die Lohmeyer nicht bemerkte. Grünberg war früher Bergarbeiter gewesen und in Russland während des Krieges in Marxismus-Leninismus geschult worden. Melie hatte nicht das geringste Vertrauen in ihn; vielmehr hielt sie ihn für einen Emporkömmling in einer durch puren Zufall erreichten Position, die er weder verdient hatte noch charakterlich rechtfertigen konnte. Sie schrieb: „Dieser Grünberg wurde, wie ich später hörte, auch in echt kommunistischen Kreisen als ein sehr schwacher Mensch geschildert, den man gerne vorschob, wenn etwas Unangenehmes zu machen war.“26 Bei Lohmeyer zu Hause schlug Grünberg in Gegenwart mehrerer Professoren vor, dass Lohmeyer in Führungsangelegenheiten dem russischen Vorbild folgen solle. Insbesondere empfahl er, den Kurator (als den Leiter der Universitätsverwaltung) zu entlassen und dessen Aufgaben nach russischem Vorbild dem Rektor zu übertragen. Außerdem versicherte Grünberg, dass die Universität durch diesen Schachzug zügiger eröffnet werden könne. Später schilderte Melie die Situation wie folgt: „Er lächelte dabei und sagte, ‚also ein König in seinem kleinen Königreich!‘“27 Melie warnte Ernst: „Ich sagte nachher zu Väterchen: ,Das ist aber eine riskante Sache, da hast Du ja die ganze Sache alleine auf dem Hals!‘“28 Doch Lohmeyer mochte Grünberg, bewunderte ihn regelrecht und stimmte dem Plan zu. „[Er] ist mir ja auch viel lieber, da kann mir keiner reinfunken“, sagte er.29 Die Ereignisse sollten Melie schon bald Recht geben – und auch Gudrun, die später erklärte, dass Grünberg einen Sündenbock gesucht und in Lohmeyer gefunden habe. Lohmeyer hielt sich an Grünbergs Rat. Unklar bleibt, warum er sich dafür entschied, trotz Melies Warnung und vielleicht sogar gegen Gudruns Empfehlung. Intrigen waren ihm durchaus nicht fremd, das galt natürlich auch für Grünbergs Intrige, die recht plump war, wenn wir Melies Schilderung trauen dürfen. Angesichts des hartnäckigen Widerstands der kommunistischen Blöcke von Schwerin und Greifswald gegen seine Entnazifizierungsstrategie und gegen die Wiedereröffnung der Universität dürfen wir uns allerdings nicht wundern, dass Lohmeyer für einen Plan stimmte, der beide Hindernisse auszuräumen versprach. Manchmal scheint 26 27 28 29

Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 7. Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 7. Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 7–8. Melie zufolge lauteten Lohmeyers genaue Worte in Bezug auf Grünberg wie folgt: „Ich liebe und verehre diesen Mann.“ - Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 7–8.

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ein schlechter Plan immer noch besser als gar kein Plan. Grünbergs Prognose sollte sich bewahrheiten: Die Entscheidung verschaffte Lohmeyer sofortige Notbefugnis in einer kritischen Phase des Bestehens der Universität. Doch auch Melies Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Das Spiel war hochriskant, denn im Falle des Scheiterns würde Lohmeyer die alleinige Verantwortung zugeschoben. Im Herbst 1945 wurde der Plan umgesetzt. Und er passierte den Senat. Doch bei der Senatssitzung Mitte Januar 1946 brachen heftige Meinungsverschiedenheiten aus; Lohmeyer war gezwungen, die Abschaffung des Kurators zu rechtfertigen. Auch Dr. Hans Manthey, Ministerialdirektor aus der Abteilung für Kultur und Volksbildung von Mecklenburg-Vorpommern, war anwesend und sprach sich gegen Lohmeyer aus. Der Widerstand aus Schwerin war nun gewaltig. Im Januar 1946 wurde Lohmeyer mitgeteilt, dass „neue Direktiven aus Berlin“ eine harte Entnazifizierungslinie vorsahen. Das bedeutete, dass Lohmeyer ein Schwergewicht in seiner Ecke verloren hatte – Marschall Georgi Schukow, den Oberbefehlshaber der sowjetischen Militärkräfte im russischen Sektor Deutschlands. Wir wissen nicht genau, warum Berlin-Karlshorst seine Meinung änderte, und können daher nur Vermutungen anstellen. Im März 1946, also kurze Zeit später, wurde Schukow vom Kommando der sowjetischen Militäradministration in Berlin-Karlshorst abberufen; die „neuen Direktiven“ nahmen wahrscheinlich die Politik der nachfolgenden Administration vorweg. Diese Vermutung wird durch die Tatsache untermauert, dass weitere politische Maßnahmen des kommunistischen Verbands in Schwerin ebenfalls von der Nachfolgeverwaltung in Karlshorst gestützt wurden. Lohmeyers Ideal einer intellektuell freien preußischen Universität war dem permanenten Anpassungsdruck an die Politik der sowjetischen Besatzungsmächte nicht gewachsen. Mitte November 1946 wurde er von Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone beauftragt, eine Kommission zu bilden, die Richtlinien für den neuen Geschichtsunterricht erstellen sollte, darunter auch Handbücher für Lehrer, Lehrbücher für Schüler, Flugschriften von anerkannten Quellen und Beispiele von gelungenen Studienergebnissen. In Greifswald wurde eine Quotierung eingeführt, die die Immatrikulation von neunhundert Studenten mit anerkannter sozialistischer Haltung vorsah. Ende November erinnerte Lohmeyer als Rektor die medizinische Fakultät daran, dass die neuen Direktiven zur Durchführung von Abtreibungen unter bestimmten Umständen den früheren, von der medizinischen Kommission der Universität angenommenen Vorschriften widerspreche. Er bat sechs anwesende Medizin-Professoren um eine Stellungnahme, ob „es angezeigt sei, gegen diese Verfügung vorstellig zu werden.“30 Mitte Dezember 1945 schrieb Lohmeyer einen klaren und unmissverständlichen Brief

30 UAG R 458/VII, 56.

Das „Geschenk“ von Gottfried Grünberg

nach Schwerin, in dem er angesichts der verschärften Einmischungs- und Lenkungsversuche von außen auf das universitäre Recht auf Selbstverwaltung pochte.31 Nur zwei Wochen zuvor hatte Professor Johannes Stroux, Rektor an der Humboldt Universität zu Berlin, dazu aufgerufen, im sowjetischen Sektor „den ererbten Charakter einer deutschen Universität dadurch fester zu bewahren, daß wir das Moment der Forschung deutlicher in den Vordergrund schieben.“32 Grünbergs Gift rauschte nun mit tödlicher Wirkung durch die Blutgefäße der Universität. Melies Prognose sollte schon bald Wirklichkeit werden: Die Universität Greifswald war ein „mehr oder weniger rein politisches Instrument.“33 Zwei Wochen nach der Bekanntmachung der „neuen Direktiven“ schrieb Lohmeyer nach Schwerin und protestierte beim Minister für Kultur und Volksbildung gegen die Entmachtung der Universitätsverwaltung, die bisher der Jurisdiktion des Rektors unterstanden hatten.34 Grünbergs Ansprache anlässlich der Wiedereröffnungsfeier am 15. Februar – dem Tag, an dem Lohmeyer verhaftet wurde –, war wie ein Todesschuss für die Hoffnungen, Träume und auch die Opfer, die Lohmeyer für Universität erbracht hatte. „Nie wieder Abgeschlossenheit der Universität, sondern engstes Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit dem ganzen Volk. Die Universität kann nur stark und fruchtbar sein als Tochter des werktätigen Volkes.“35 Das Camelot, das Lohmeyer sich ausgemalt und für das er tapfer gekämpft hatte, lag in Trümmern. Vielleicht hatte er zu viel erreichen wollen oder zu viel in zu kurzer Zeit. Vielleicht war es ihm nicht gelungen, sich vorzustellen, zu welchen anderen Konsequenzen seine Entscheidung führen konnte. Wir, die wir nicht wie Lohmeyer solch ungeheurem Druck ausgesetzt sind, sollten uns mit einem Urteil zurückhalten. Seine Möglichkeiten waren genauso begrenzt wie die Mittel, die ihm zur Verfügung standen – umgekehrt blies ihm aber ein scharfer Wind ins Gesicht.

31 „Die in den gegenwärtigen Verhältnissen gesteigerten Aufgaben der äußeren Verwaltung und Bewirtschaftung haben die Universität genötigt, den Gedanken der Selbstverwaltung stärker auszuprägen.“ - UAG R 458/VII, 37. 32 Im Brief vom 30. November 1945 von Ernst Lohmeyer an Rektor Stroux an der Humboldt heißt es: „Angesichts der damit drohenden Gefahren fühlen wir uns verpflichtet, den ererbten Charakter einer deutschen Universität dadurch fester zu bewahren, daß wir das Moment der Forschung deutlicher in den Vordergrund schieben.“ - UAG R 458/VII, 51. 33 Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer, 2–3. 34 UAG R 458/VII, 37. 35 UAG R 580/2, 25.

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Einer gegen viele

Nacht der Heimlichkeiten Die Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung waren auf Freitag, 15. Februar 1946 um 11 Uhr im Barocksaal der Universität angesetzt. Die Zeremonie sollte ein Zeugnis für Lohmeyers Bestrebungen ablegen, für seine unermüdliche Energie, seinen Einsatz für die menschliche Vernunft und für seine Charakterfestigkeit angesichts manifester Unterdrückung. Der Lehrkörper sollte in akademischen Regalia einziehen, Einzug zu Haydn und Auszug zu Beethoven. Für Reden waren der Oberbürgermeister von Greifswald, Minister Solotuchin von der russischen Besatzung und Dr. Gottfried Grünberg vorgesehen. Lohmeyers Antrittsrede sollte die Krönung der Feier sein, gefolgt von seiner Einsetzung als rector magnificus durch Wilhelm Höcker, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern. Die Antrittsrede sollte er jedoch nie halten können. Tatsächlich ist der größte Teil verloren gegangen und wurde nie entdeckt. Lediglich die folgenden Worte, die offenbar Lohmeyers Schlussworte sein sollten, hat einer seiner Studenten bewahrt. Gudrun hat später daraus zitiert: So ist dieser Wiederbeginn mehr als ein Fortsetzen dessen, was eine Zeitlang unterbrochen war, es ist ein Aufbrechen zu neuen und doch alten Zielen auf neuen und doch alten Wegen mit neuen und doch alten Kräften. Neu ist dies alles, weil nach dem erlittenen Zusammenbruch nichts mehr dort begonnen werden kann, wo es bisher stand, und dennoch ist dies alles auch alt, weil auch die brutalste Gewalt und die schlimmste Willkür auf die Dauer nicht das Antlitz der wahren Dinge und Probleme entstellen können. Der Weg ist nicht leicht, nicht ohne Not und Anstrengung, aber wenn die Ziele klar sind und die Kräfte gerüstet, die Nacht und Macht der Zerstörung und Bedrückung zu überwinden, dann wird es mit dem anhebenden neuen Semester gehen wie mit dem anbrechenden Morgen: ‚Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!‘36

Doch Lohmeyers Vision einer Universität der wahrhaft freien Künste im sowjetisch beherrschten Ostdeutschland sollte nicht Wirklichkeit werden. Melie berichtet abschließend: Es kam nun der 15. Februar 1946, der Tag der Wiedereröffnung, heran. Mein Mann war den ganzen Abend außer Haus – kam auch nicht zum Abendessen, telefonierte bloß, er käme später. Ich wartete bedrückt. Da schellte es gegen 11 Uhr, und es kamen 3 mir der

36 Zur Erhaltung des Auszugs durch Lohmeyers Studenten Werner Schmauch siehe Böttrich: Ernst Lohmeyer zum 19. September 2006, in: Ernst Lohmeyers Zeugnis im Kirchenkampf, hg. Andreas Köhn, 9n1. - Das Zitat selbst stammt aus Gudrun [Lohmeyer] Otto: Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: DP 81, 1981, 361.

Nacht der Heimlichkeiten

Uniform nach wohlbekannte Männer der NKWD die Treppe herauf und fragten hastig nach meinem Mann. Ich sagte, er sei in der Universität und wusste Bescheid. Es war so weit. – Ich telefonierte sofort, erfuhr aber nur, mein Mann sei mit einem Kollegen zur Kreiskommandantur gegangen. Mittlerweile kam dann mein Mann nach Hause, sehr erschöpft und eigentlich in einer Verfassung, als ginge es ihn selber nicht wesentlich an, oder als nähme er es nicht ganz für ernst. Er erzählte, Dr. Müller sei inzwischen in der Universität gewesen in schwer angetrunkenem Zustand, habe dauernd auf den Tisch geschlagen und geschrien: ;Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang‘ und habe ihn im Namen der Schweriner Regierung abgesetzt. Die Eröffnung finde aber morgen trotzdem statt. Ich sagte meinem Mann, es seien inzwischen die Männer der NKWD dagewesen, ihn zu verhaften. ‚Ach Unsinn‘, sagte er, ‚die Russen wissen schon über mich Bescheid, sonst hatten sie mich längst geholt. Vielleicht soll ich noch die und die vor morgen rausschmeißen. Die Russen laufen ja gern nachts herum.‘ Gegen halb eins nachts etwa kamen die Russen jedoch wieder und verhafteten ihn. Sie machten 2 Stunden Haussuchung, bei der sie einen Stoß wer[t]voller Gelehrtenbriefe aus aller Welt, einige Photographien meines Mannes und unser Radio mitnahmen. Sie benahmen sich übrigens durchaus anständ[ig]. Ich hatte so das Gefühl, daß sie selber merkten, bei wem sie war[en]. Mein Mann stand während dieser Zeit meist am Ofen, sah entsetzlich elend aus und gab ruhig auf alle Fragen Antwort. Was in ihm vor[ging] weiß ich nicht. Er sagte nichts Persönliches. Er was wohl ganz erstarrt, oder aber er hielt es nur für eine vorübergehende Maßnahme. Er sagte dem Hauptmann nur in fast kindlichem Tonfall: ‚Sie wollen mich verhaften? Aber ich habe doch nichts gemacht.‘ Ich wec[kte] als die Zeit vorgeschritten war, unsere Tochter, die sich weinen[d] an den Vater drängte, aber auch mit ihr sprach er nicht. Er sah aus wie aus Holz geschnitzt – unbeweglich und auch mit einem erstarrten Gesichtsausdruck. Gegen Ende der Haussuchung forderte mich der Hauptmann auf, Wäsche, Toilettesachen, Eßgeschirr und Besteck zusa[mmen]zupacken. Mein Mann zog sich an, nahm den Rucksack um, und dann gingen sie. Meine Tochter brachte ihn bis zur Haustüre. Auch ihr hat er nichts mehr gesagt – er blieb erstarrt und stumm, und so g[ing] er37

Als die Soldaten die Wohnung verließen, rannte Melie zum Fenster. „Vom Balkon aus rief ich, als die drei Männer davongingen, meinen Mann in der Mitte: ‚Auf Wiedersehen.“ Melie verrät nicht, was er erwiderte. Sie sagt nur: „und ich hörte zum letzten Male seine Stimme.“38

37 Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer, 4. 38 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 10.

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Kapitel 15. Jahre der Stille

„Ich habe diese Niederschrift nicht nur für Euch als Väterchens Fleisch und Blut verfaßt. Ich denke, es ist gut, daß ein Mann von seiner geistigen Bedeutung, von seiner Arbeit für die Wissenschaft der christlichen Religion nicht nur in den amtlichen Annalen als tot in russischen Gewahrsam gebucht wird. Es muß gewußt werden, auf welche Weise dieses wertvolle Leben schuldlos zu Grunde gerichtet wurde. Es kommt sicher der Tag, an dem Ihr danach gefragt werdet. Auch aus diesem Grund habe ich geschrieben.“1 Melie Lohmeyer, 1965

Aufruhr in der Universität Am Morgen des 15. Februar 1946 herrschte große Verwirrung in der Universität. Provinzialvizepräsident Grünberg, der für die Feierlichkeiten zuständig war, berief hastig eine Senatssitzung ein. Auch Dr. Franz Wohlgemuth, früher Student der römisch-katholischen Theologie, inzwischen aber Sekretär der Kommunistischen Partei an der Universität, nahm teil. Dr. Wohlgemuth war ein deutscher Hardliner, ausgebildet während der Kriegsjahre in Russland. Seit seiner Rückkehr nach Deutschland war er, zusammen mit Grünberg, oft bei Lohmeyer zu Hause gewesen und hatte sich für die Wiedereröffnung der Universität stark gemacht.2 Allerdings stand Wohlgemuth nicht an Lohmeyers Seite, genauso wenig wie Grünberg. Die wahre Agenda der beiden kam sechs Wochen nach Lohmeyers Verhaftung ans Licht, als Grünberg Wohlgemuth zum Kurator der Universität ernannte – derselbe Grünberg, daran muss erinnert werden, der Lohmeyer sechs Monate zuvor angeraten hatte, den Kurator zu entlassen und dessen Verwaltungsaufgaben dem Rektor zu unterstellen. Ungefähr zwanzig Lehrkräfte waren bei der Dringlichkeitssitzung am Samstagmorgen anwesend, niemand war bereit, den Rektoratsposten an Lohmeyers Stelle zu übernehmen. Die Anwesenden blieben hartnäckig: „,Für uns ist Professor Lohmeyer Rektor. Er ist nicht gestorben, also soll er von denen,

1 Melie Lohmeyer an ihre beiden Kinder, 2. Mai 1965, in: Melie Lohmeyer: Väterchens Ende. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 147, p. 27. 2 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 5–6.

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die ihn an der Ausübung seines Amtes hindern, freigegeben werden.‘“3 Die Sitzung wurde ergebnislos abgebrochen, Grünberg vertagte sie wegen der Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung. Die Stimmung bei der Inaugurationsfeier war unbehaglich und angespannt. Ministerpräsident Wilhelm Höcker war von Grünberg und Generalmajor Skocyrew, Kommandeur des SMAD in Schwerin, überredet worden, ein paar improvisierte Worte zu sprechen. Auf dem Podium neben Höcker stand der leere Stuhl des Rektors, behängt mit Mantel und Amtskette, die für Lohmeyers Amtseinsetzung vorgesehen waren. Grünberg befahl Dr. Müller, der Lohmeyer Stunden zuvor betrunken und wütend als erbärmlichen kleinen Mönch verunglimpft hatte, die Insignien des Rektors zu entfernen. Die Ansprachen wurden zeitlich gehalten wie geplant, aber in den Vormittagsreden wurden alle Referenzen auf Lohmeyer getilgt. Die Auslöschung seiner Person hatte begonnen. Es oblag Wohlgemuth, nicht die untadeligste Figur auf der Bühne, zu verkünden, dass „seine Magnifizenz besonderer Umstände halber nicht an der Eröffnung teilnehmen könne.“4 Der Einsatz der Lehrkräfte am Samstagmorgen zugunsten von Lohmeyer verdient Anerkennung. Fortgesetzte Unterstützung hätte sich womöglich günstig auf Lohmeyers Entlassung ausgewirkt, doch ob es tatsächlich so gekommen wäre, werden wir nie erfahren. Rudolf Hermann, ein Professoren-Kollege, der in Breslau und Greifswald mit Lohmeyer gelehrt hatte, blieb auch in den Jahren nach der Verhaftung in Kontakt mit Melie und intervenierte 1948 zwei Mal schriftlich für Lohmeyer.5 Doch insgesamt kamen die Bemühungen seitens der Kirche zu spät, und es waren zu wenige. Besonders an der Universität, wo das Dossier einer jeden Lehrkraft auf politische Korrektheit geprüft wurde, war die Angst sehr groß, die immer härter agierende politische Autokratie im russischen Sektor zu verärgern. Das wirkte sich natürlich auf den Einsatz für Lohmeyer aus. Vier Jahre später sollte Otto Dibelius, Bischof von Berlin-Brandenburg, von der „Zurückhaltung“ sprechen, mit der die Kirche auf Zehntausende Menschen reagiert hatte, die in Deutschland während der russischen Besatzung verschwanden. Ernst Lohmeyer gehörte dazu. Dibelius stellte fest: „Was andere Völker in 6 Kriegsjahren erlitten haben, hatte die Kirche nicht die innere Freiheit, Anklage nach außen zu erheben.“6 Der einzige

3 Gottfried Grünberg: Kumpel, Kämpfer, Kommunist. Berlin: Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, 1977, 294. 4 Der Bericht über Senatssitzung und Eröffnungsfeier stammt von Gottfried Grünberg: Kumpel, Kämpfer, Kommunist. Berlin: Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, 1977, 293–295. Grünberg ist kein unvoreingenommener Zeuge, und die Fehler in seinem Bericht reichen bis zur falschen Schreibweise der Namen „Lohmeyer“ und „Skocyrew“. In der obigen Schilderung habe ich mich nur dann an Grünberg gehalten, wenn sein Bericht durch andere Quellen bestätigt wurde. 5 Weibel: Der Fall L. in Greifswald, Schwerin und Berlin, 29–34. 6 Otto Dibelius, zit. nach Rautenberg: Der Tod und die SED, 26–27.

Brief aus Zelle 19

formale Protestbrief aus der Greifswalder Fakultät gegen die Inhaftierung, der im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz liegt, stammt von Professor Seliger, der nach Lohmeyers Festnahme gegen seinen Wunsch zum kommissarischen Rektor ernannt worden war.7 In einer Plenarsitzung des Senats drei Tage nach der Verhaftung sprachen sich lediglich zwei Professoren für Lohmeyer aus – ein Pharmakologe und ein Chemiker. Was die anschließenden Feierlichkeiten zur Amtseinführung am 15. Februar betrifft, so hätten – wenn man von einigen verfahrenstechnischen Schwierigkeiten auf der Bühne am Vormittag absieht – Gäste von außerhalb an der Veranstaltung teilnehmen können, ohne zu ahnen, was dem Rektor widerfahren war. Dies gilt ganz besonders für das nachmittägliche Bankett mit seinen kulinarischen Köstlichkeiten. Melie war zu den Feierlichkeiten natürlich nicht geladen. Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, dass die Ehefrau eines Opfers kommunistischer Unterdrückung schon als bloße Angehörige mitschuldig war. Die Befürchtungen, die die Greifswalder am Einsatz für Ernst Lohmeyer gehindert hatten, hinderten sie auch am Einsatz für Melie. Später schrieb Melie an Hartmut und Gudrun: „In der ganzen Universität, die damals in dumpfer Angst und Bedrückung lebte, war ein Gerücht über Väterchen so quasi eine Beruhigung, denn man sprach und flüsterte von einer ‚dunklen militärischen Sache‘, und da konnte man ja weiter gar nichts machen.“8 Weil sie befürchteten, wegen ihrer politischen Einstellungen ähnlich angreifbar zu sein, flüchteten acht Greifswalder Professoren und einige ihrer Assistenten in der Woche nach Lohmeyers Verhaftung in den Westen.

Brief aus Zelle 19 Nach seiner Festnahme wurde Lohmeyer in das Strafjustizgebäude in der Domstraße 6/7 gebracht, zwei Türen von der Universität entfernt. In dem vormaligen Gestapo-Gefängnis, das im Mai 1945 in ein NKWD-Gefängnis umgewidmet worden war, herrschten schlimme Zustände – die Zellen überfüllt und unhygienisch, Gefangene unterschiedslos eingesperrt, junge und alte Leute, Kriminelle und politische Opfer durcheinander.9 „Es begann nun für mich der Kampf um Väterchens Schicksal“, schrieb Melie später ihren Kindern.10 Schon sehr bald hatte sie erfahren, dass ihr Mann in einer Außenzelle mit Blick auf die Stadtmauer einsaß. Lohmeyer

7 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 18. 8 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 13. 9 Über die katastrophalen Haftbedingungen wird berichtet in: Bezirksleitung Schwerin der SED, Bezirksparteiarchiv, Landesleitung der KPD Mecklenburg, Kreisleitung der KPD Greifswald 2. Mappe, 1945–1946, I/11a, p. 37 10 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 13

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winkte aus seiner Zelle, sodass Melie und Gudrun ihn erkennen konnten, und sie winkten zurück. Täglich zwischen 13 und 17 Uhr spazierten Mutter und Tochter an der Stadtmauer entlang und hofften darauf, ihn zu sehen, um „ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit zu uns zu geben“, wie Melie später schrieb.11 Der einzige Brief, den Lohmeyer während seiner siebenmonatigen Haft nach draußen zu Melie schmuggeln konnte, begann mit „Zelle 19, angefangen am 31.3. 46.“ Er dankte ihr für das Päckchen, das sie ihm geschickt hatte (es enthielt ein Glas Marmelade), bat aber auch darum, seinetwegen auf nichts zu verzichten, und beharrte darauf, dass sie die Lebensmittel nötiger hätte als er. Seine Eigendarstellung im Brief aus dem Gefängnis, er sei „ein Stück weggeworfenes altes Eisen“12 , scheint ein Echo auf Psalm 31,12 zu sein. Seit sechs Wochen saß er nun schon im Gefängnis und wusste noch immer nicht, warum. Der „kleine“13 Hauptmann Iwanow hatte ihn verhört, derselbe Offizier, der ihn in der Nacht vom 14. Februar verhaftet hatte. Eine Woche zuvor taucht ein „Professor Iwanow“ erstmals in den Greifswalder Akten auf: „Herr Professor Iwanow wäre aus Berlin gekommen, der sie sofort sprechen möchte.“14 Lohmeyer hatte den Eindruck, dass Iwanow lediglich als Sprachrohr für die Fragen seines Vorgesetzten Oberst Lurykow beim NKWD diente. Er war wegen seines militärischen Einsatzes in Polen, Belgien und Russland verhört worden, hatte aber, wie er Melie schrieb, den Eindruck, „als suchten sie erst nach Dingen, bei denen sie einhaken und mich fassen konnten, und als ob diese Fragen nur die wahren Motive verschleiern sollen, die auf politischem Gebiet liegen und der hiesigen NKWD selbst nicht bekannt sind.“15 Lohmeyer brachte die bisherigen Anschuldigungen gegen ihn offen auf den Punkt: „Ich halte das ganze immer noch für eine Schweriner Intrige, bei der die KPD nicht ganz unschuldig ist.“16 Mit anderen Worten, die kommunistische Partei in Schwerin bestimmte die Spielregeln in diesem Fall, nicht die Sowjets oder der NKWD. „So tappe auch ich eigentlich im Dunkeln“, schloss er, „und hoffe nur, daß ebenso plötzlich wie meine Haft begann, sie auch enden wird, wenn es sicher lange dauern wird.“17 Jahre später berichtete Melie, dass ihr Mann die Haft nicht ganz ernst zu nehmen schien: „Ich glaube, er war der Überzeugung, daß man ihn durch Berlin-Karlshorst schon wieder herausholen

11 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 12 12 „Zum Spott geworden bin ich all meinen Feinden, ein Hohn den Nachbarn, ein Schrecken den Freunden; wer mich auf der Straße sieht, flieht vor mir“ (Ps 31,12). - Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis der GPU in Greifswald. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 146, p. 1. 13 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 1. 14 UAG, R 580/1, 68. 15 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 2. 16 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 2. 17 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 2.

Brief aus Zelle 19

könnte:“18 Mit „Berlin-Karlshorst“ war natürlich Marschall Schukow gemeint, auf dessen Fürsprache Lohmeyer hoffte. Zudem war Melie besorgt, weil ihr Mann auf seine Unschuld vertraute. „Es war ihm nicht klar, daß bei totalitärer Politik Recht oder Unrecht gar keine Rolle spielen.“19 Die Gräueltaten der Wehrmacht an der Ostfront machten es problemlos möglich, deutsche Soldaten, die dort gedient hatten, gerichtlich zu belangen. Lohmeyer war leichte Beute. Noch bis November 1949, einen Monat nach Gründung der DDR, hielt der Minister für auswärtige Angelegenheiten an den Vorwürfen fest: „Seitens der Regierung wurde am 16.2.46 mitgeteilt, daß diese Verhaftung nicht politische, sondern militärische Gründe habe.“20 Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass eine Denunziation von Franz Wohlgemuth wahrscheinlich den Anstoß zu dieser Behauptung lieferte. Es genügt zu sagen, dass die Russen Lohmeyers Ernennung zum Rektor im Mai 1945 niemals zugestimmt hätten, wenn seine militärischen Aktivitäten suspekt gewesen wären. Der maßgebliche und praktisch einzige Grund für Lohmeyers Verhaftung, der in den unmittelbar anschließenden Aufzeichnungen belegt ist, ist politischer, nicht militärischer Natur. In der Senatssitzung vom 16. Februar, also nach Lohmeyers Verhaftung, die unter dem Vorsitz von Ministerialdirektor Manthey, Oberregierungsrat Dr. Müller und Generalmajor Skocyrew von der sowjetischen Militäradministration in Berlin stattfand, wurde eine Flut von Anschuldigungen gegen Lohmeyer vorgetragen, die allesamt nicht militärisch begründet waren. Er habe sich nicht an die „Richtlinien“ aus Berlin gehalten, sein Rektorat gründe in einem „Vertrauensbruch“, und der Lehrkörper, allen voran der medizinische, sei „während des Nationalsozialismus erbärmlich gewesen“, aber nur unzureichend gesäubert worden. Ministerialdirektor Manthey verkündete, dass die „Personalpolitik des Rektors offenbar falsch“ sei und dass „in diesem Unternehmen gewisse Kräfte untergebracht werden sollten, für die im demokratischen Staat eigentlich kein Platz“ sei. All das, so der Bericht, liege in Lohmeyers Verantwortungsbereich, und er habe sich nicht an die Direktiven der kommunistischen Partei gehalten: „Die Eröffnung der Universität sei sabotiert worden.“21 Wie Lohmeyer in seinem Brief aus Zelle 19 mitgeteilt hatte, waren die Gründe für seine Festnahme politisch, oft mit Verweis auf die Entnazifizierung. Manthey trieb die politische Vorwürfe gegen Lohmeyer so weit, dass er die Befugnisse der russischen Besatzung in Deutschland missachtete: „Min. Dir. Manthey erklärt weiter, daß [Lohmeyers]

18 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 11. 19 Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 11. 20 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik, in: UAG PA 347, Band 4, ohne Seitenangabe). 21 Diese Anschuldigungen sind im Protokoll der Senatssitzung vom Samstag, 16. Februar 1946, dokumentiert. - Meckl. Landeshauptarchiv Schwerin, Landesregierung Mecklenburg, Ministerium für Volksbildung, Signatur 2464, 179–184.

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direkte Vereinbarungen mit der Zentralverwaltung in Berlin keine Gültigkeit haben.“22 Melie hatte Ernst schon lange gewarnt, dass Marschall Schukow ihn bei Angriffen seitens der kommunistischen Funktionäre vor Ort nicht unterstützen würde. Mantheys Erklärung ließ ihre Befürchtung wahr werden. Lohmeyers Stellungnahme zu den Vorwürfen war zurückhaltend. Bald ging er auf die Haftbedingungen an sich ein. Das Gefängnisleben sei „erträglich“, bemerkte er lakonisch.23 Körperliche Arbeit verrichtete er nicht, daher war die Kartoffelsuppe mit Wurzeln morgens und abends ausreichend. Ende März wurde seine Ration erhöht, er bekam jetzt ein Pfund Brot, neuerdings sogar einen Teelöffel Zucker und ein wenig Butter. Um 5.30 Uhr wurden die Gefangenen geweckt, sie mussten den Abfalleimer leeren. Fünf Minuten wurden ihnen gewährt, um sich am Wasserhahn zu waschen, danach hatten sie die Zelle mit Lappen zu reinigen. Im eintönigen Gefängnisleben gab es manchmal kleine, aber erfreuliche Vorkommnisse, zum Beispiel unerwartetes Lachen und Unbeschwertheit unter den Gefangenen. Doch der Alltag war bedrückend: nichts tun, auf der Pritsche liegen, an die Decke starren. Lohmeyers Schilderung des Greifswalder Gefängnisses war weniger schrecklich als die Schilderungen derselben Zustände von anderen Insassen. Das war sicherlich dem Wunsch geschuldet, Melie so gut wie möglich die Angst zu nehmen. Aber seine eigenen Ängste konnte er damit nicht verschleiern. Ob die viertausend Mark auf ihrem Bankkonto wohl zum Leben ausreichten?, wollte er wissen. Seine einzige persönliche Bitte an Melie war, die Publikation seines Buchs Das Vater-unser in die Wege zu leiten. Sie solle Vandenhoeck & Ruprecht kontaktieren, seinen langjährigen Verlag. Vielleicht könnte Joachim Jeremias in Göttingen oder Rudolf Bultmann in Marburg für die letzte Durchsicht gewonnen werden? Kurz stellte er sich vor, weit weg von Greifswald zu lehren, vielleicht in Tübingen. Schlimmste Gewissensbisse hatte er wegen der Härten, die seine Haft für Melie bedeutete, und in gleichem Maß, weil er wusste, dass Gudrun ihren Studienplatz in Greifswald wegen seiner Haft verlieren würde. „Wenn mich eine menschliche Schmählichkeit noch erbittern konnte, so ist es dieses!“, gestand er ein.24

Schweigen befeuert die Gerüchteküche Der Brief aus Zelle 19 war die letzte persönliche Nachricht von Ernst an Melie. Im Frühjahr 1946, einige Zeit nach dem Brief, wurde Lohmeyer aus der Einzelzelle 19 in die Gemeinschaftszelle 27 im oberen Flur verlegt, gegenüber dem Hof 22 Auch diese Anschuldigungen sind im Protokoll der Fakultätssitzung von Samstag, 16. Februar 1946, dokumentiert 23 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 2. 24 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 4.

Schweigen befeuert die Gerüchteküche

der Universität. Zelle 27 war von der Stadtmauer aus nicht zu sehen, daher war die Kommunikation durch Winken unterbunden. Es herrschte Schweigen. Wenn ein Fasanenjäger auf einem Feld stehen bleibt und sich einen Moment lang vollkommen still verhält, ist das für die Vögel oft ein Anlass zur Flucht. Die Stille im Strafjustizgebäude hatte eine ähnliche Wirkung auf Greifswald: Sie ließ die Gerüchteküche brodeln. Melie wusste, dass Ernst irgendwann im Mai oder Juni von den Russen abgeurteilt werden sollte. Dass der Prozess von den Russen geführt wurde, könnte dafür gesorgt haben, dass in Lohmeyer tatsächlich eine schwache Hoffnung aufkeimte. Er wusste ja, dass er keine Kriegsverbrechen begangen hatte, und er wusste auch oder glaubte zu wissen, dass die Russen dies wussten. Zusammen mit seiner relativ zuversichtlichen Einschätzung der russischen Führung im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland könnte dies der Grund für seine Andeutung im Brief aus Zelle 19 gewesen sein, dass er auf Freilassung hoffe, wenn auch nicht unbedingt bald. Wir dürfen als gesichert annehmen, dass er auch auf die Fürsprache von und Verteidigung durch Marschall Schukow in Karlshorst hoffte. Wie wir gesehen haben, war Melie alles andere als optimistisch in Bezug auf das, was die Russen für Deutschland planten. Wiederholt erinnerte sie Ernst daran, dass das russische Verständnis von „Gerechtigkeit“ mit tatsächlicher Schuld oder Unschuld nichts zu tun hatte. Was Schukow betraf, so konnte Lohmeyer nicht wissen, dass die sowjetische Militärverwaltung ihn im März 1946 aus Deutschland abgezogen hatte – genau in dem Monat, in dem Lohmeyer den Brief aus Zelle 19 schrieb. Damit verlor er sein vermeintliches Ass – den einzigen Trumpf, den Lohmeyer bei seinem riskanten politischen Pokerspiel gegen die Russen im Ärmel hatte. Doch offenbar gab es noch andere Menschen, die seinen verhaltenen Optimismus teilten, denn im Frühsommer 1946 wurde Melie von drei verschiedenen Seiten informiert (darunter von einem ehemaligen Bürgermeister und Gefängnisdolmetscher), dass ihr Mann bald entlassen würde. Der Dolmetscher kannte sich im Gefängnis aus, sein Bericht schien am glaubwürdigsten von den dreien. Melie war so klug, nicht gleich in Jubelgeschrei auszubrechen. Der Juni kam und ging, dann der Juli – ohne Entlassung, ohne ein Wort von Ernst. Später schrieb Melie ihren Kindern: „Man muß den Schluß ziehen, als sei seine Freilassung unerwünscht gewesen.“25 Nicht nur Lohmeyer war seit seiner Festnahme im Februar in dem stalinistischen Gespinst von Verdächtigungen und Schuldzuweisung gefangen, sondern auch Melie und die Kinder. Lohmeyers Gehalt wurde am Tag seiner Festnahme gestrichen, die Familie stand ohne Einkommen da. Am selben Tag wurde die Warmwasserbereitung abgestellt, am nächsten Tag das Telefon abgeklemmt. In den Wochen und Monaten danach gingen die Russen nach Belieben bei den Lohmeyers ein und aus, durchwühlten deren Sachen und nahmen mit, was ihnen in den Kram passte.

25 Melie Lohmeyer: Der Fall Lohmeyer. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 186, p. 5.

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Die Möbel wurden beschlagnahmt. Gudrun, die auf ein Medizinstudium gehofft hatte, wurde der Studienplatz entzogen. Glücklicherweise hatte sie bereits die Zulassungsprüfung zur Kirchenmusikerin bestanden. Im Herbst 1947 zog Melie mit der Familie nach Berlin; sie nahm an, dass ihre Kinder die ihnen noch verbliebenen beruflichen Chancen dort besser nutzen konnten.

Fürsprache und Unterstützung Bereits am 1. März schrieb Rudolf Bultmann an Melie und drückte seine Verärgerung über Lohmeyers Verhaftung zwei Wochen zuvor aus. Am 20. April schrieb er noch einmal; Melie hatte angefragt, ob er Das Vater-unser für die Veröffentlichung durchsehen würde. Bereitwillig sagte er zu. Im Frühjahr und Sommer 1946 trafen vereinzelt Briefe des Mitgefühls und der Unterstützung ein, mehr noch im Herbst, als das Schweigen die erhoffte Entlassung Lohmeyers zu vereiteln schien. Die Meldungen kamen von verschiedenen Seiten, darunter waren persönliche Bekanntschaften, Wissenschaftler, Kirchenführer und frühere Studenten aus ganz Europa. Und später, 1951, sogar aus Amerika. Melie erhielt persönliche Briefe mit Betroffenheitsbekundungen sowie die Zusage von Unterstützung und Fürbitte. Wissenschaftler und kirchliche Amtsträger traten in der Regel berufsbezogen auf und versuchten, die Tatvorwürfe durch Beglaubigung seines untadeligen Charakters, seines herausragenden und aussichtsreichen wissenschaftlichen Rangs sowie seiner persönlichen Unschuld zu entkräften. Der wichtigste Faktor, der in allen Fürsprache-Briefen auftaucht, ist seine entschiedene Opposition gegen den Nationalsozialismus.26 Bemerkenswert viele Briefe wurden von jüdischen Wissenschaftlern geschrieben: Martin Buber, Israel Heinemann, Richard Koebner, Ernst Joseph Cohn, Richard Hönigswald, Eugen Rosenstock-Huessy. Mit Ausnahme von Melie kannte niemand Lohmeyer besser oder hatte länger mit ihm korrespondiert als Richard Hönigswald, sein engster Kollege in Breslau. Das Geheime Staatsarchiv in Dahlem bewahrt mehr als zweihundert Briefe von Hönigswald an Lohmeyer auf; viele sind in einen Band mit ihrem Briefwechsel eingeflossen.27 Hönigswald steht für praktisch alle Leumundszeugnisse: „Lohmeyer war ein Mann von humanster Gesinnung, […]. Ich halte ihn einer unehrenhaften Handlung oder auch nur der kleinsten Inhumanität für absolut unfähig. Ich kenne Professor Lohmeyer als bedingungslosen Gegner der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und als unversöhnlichen Feind jeder antisemitischen Tendenz, wie sich denn zu allen Zeiten in seinem engsten

26 Die Leumundszeugnisse für Lohmeyer sind erhalten in: GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 18. 27 Wolfgang Otto (Hg.): Aus der Einsamkeit.

Fürsprache und Unterstützung

Freundeskreis Juden befanden, und er sich niemals, auch nicht auf der Höhe der nationalsozialistischen Herrschaft, gescheut hat, sich offen und rückhaltlos zu seinen jüdischen Freunden zu bekennen.“28 Ernst Joseph Cohn, der jüdische Professor in Breslau, der nach England geflohen war, schrieb 1946 in leicht missverständlichem Englisch über Lohmeyer: „Bei einer Gelegenheit, als Professor Lohmeyer mich persönlich bedroht glaubte, versuchte er mich mit seiner eigenen Person gegen die mich angreifenden Studenten zu schützen.“29 Martin Buber, Israel Heinemann und Richard Koebner schrieben von der Hebräischen Universität in Jerusalem und bescheinigten ebenfalls Lohmeyers Opposition gegen den Nationalsozialismus: „Herr Professor Lohmeyer ist von jeher ein leidenschaftlicher Gegner des Nationalsozialismus; er ist einer der sehr wenigen Deutschen, die ihre Gesinnung offen bekannt haben.“ Dass drei prominente jüdische Intellektuelle dem Offizier einer Streitkraft, die systematisch Juden ermordete, einen untadeligen Charakter bescheinigten, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die drei Professoren von der Hebräischen Universität bezeugten nicht nur Lohmeyers Unschuld, sondern auch, dass er mit seinem Leben und seiner Wissenschaft eine Brücke zur jüdischen Gemeinschaft gebaut hatte. Cohns Brief, ebenfalls auf Englisch verfasst, bestätigte diesen Brückenbau – und die absolute Einzigartigkeit des Bauwerks. „Lohmeyer gehört zu jenen überzeugten und aufrechten Christen, von denen ich als praktizierender Jude nur mit tiefer Bewunderung und Dankbarkeit für all das sprechen kann, was sie für mich und meine Religionsgenossen getan haben und für alle andere, die unter der Nazi-Verfolgung litten.“ Andere Briefe kamen von führenden Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche, darunter Martin Niemöller, Gottfried Fitzer, Hanna Sommer, Katharina Staritz und später auch Hans Lilje, Otto Dibelius sowie Heinz Zahrnt. Im Oktober 1946 formulierte Niemöller praktisch gleichlautend mit Fitzer, dass Lohmeyer einen hohen persönlichen Preis für seine öffentliche Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gezahlt habe, schließlich sei er entlassen und nach Greifswald strafversetzt worden. Niemöller bezeugte, dass „Professor D. Ernst Lohmeyer […] sich im Kampf der Bekennenden Kirche gegen Anmaßung und Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus treu auf die Seite der Bekennenden Kirche gestellt“30 habe. Der Großteil der Referenzen stammt von protestantischen Professoren und früheren Studenten, darunter Rudolf Bultmann, Hans von Campenhausen, Martin Dibelius, Julius Schniewind, Rudolf Seeliger, Fritz Lieb und Anton Fridrichsen. 28 Wolfgang Otto (Hg.): Aus der Einsamkeit, 119. - Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Referenzschreiben im Abschnitt „Fürspache und Unterstützung“ aus folgender Quelle: von GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 18. 29 Zit. nach Böttrich (Hg.): Ernst Lohmeyer, 243. 30 Martin Niemöller: Bescheinigung.

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Aus der Schweiz schrieb Fritz Lieb an Wilhelm Pieck, damals KPD-Vorsitzender in Schwerin, und bat um Lohmeyers Freilassung.31 Bultmann schrieb aus Marburg, dass Lohmeyers Charakter am besten durch ihn selbst bezeugt würde, und zwar in einem Brief, den er während des Krieges an Bultmann geschrieben habe: „Das Beste, was er in dem besetzten Gebiete tun könne (er stand damals in Polen), sei, daß er die Einwohner vor den Grausamkeiten der ‚Braunen und Schwarzen‘ (der SA und SS) schützte.“32 Bultmann schloss sein Leumundszeugnis mit folgender Bemerkung: „Menschen wie Prof. Lohmeyer sind für den Aufbau Deutschlands in einem neuen Geiste dringend notwendig.“ Andere reagierten mit kaum unterdrückter Wut auf die Anklage Lohmeyers. Hans von Campenhausen schloss sich der großen Zahl derjenigen an, die für Lohmeyer ausgesagt hatten: „Gegner der politischen Ideen und Methoden des Nationalsozialismus und trotz der Benachteiligung, die er schon erfahren hatte, fest entschlossen, keinerlei Konzessionen zu machen.“33 Ebenso empathisch äußerte sich Katharina Strauß, die Ehefrau von Otto Strauß. Letzterer, 1940 im niederländischen Exil gestorben, war Professor für Sanskrit und indoeuropäische Sprachen in Breslau und Mitglied im „Lohmeyer-Kreis“. „Seine fanatische Ablehnung des Nationalsozialismus brachte ihn häufig in allergrößte Gefahr. Er ist der einzig mir bekannt gewordene Dozent, der sich mannhaft der Beschlagnahme ‚jüdisch-marxistischer‘ Bücher aus seiner Bibliothek widersetzte, indem er dem Abholungskommando entgegenhielt, daß sie dann auch die Bibel als ein von Juden verfaßtes Buch mitnehmen müßten.“ Der einzige offizielle Brief zugunsten Lohmeyers aus dem kommunistischen Sektor Deutschlands stammte von Professor Rudolf Seeliger, der nach Lohmeyers Festnahme zum geschäftsführenden Rektor der Universität Greifswald gewählt worden war. Zu jener Zeit und unter gegebenen Umständen war Seeligers Fürsprache für einen „Staatsfeind“ fraglos mutig – und gefährlich. Alle anderen Briefe kamen aus dem „Westen“. Aus Monaten wurden Jahre, und der anfangs stete Strom von Briefen verkümmerte zu einem Rinnsal. Die Herzen, die im Frühjahr und Sommer 1946 laut und kräftig für Lohmeyer geschlagen hatten, schlugen gegen Ende des Jahres langsamer und ruhiger. Die Briefe, die hin und wieder in Melies Briefkasten landeten, drückten unbeirrbar Solidarität aus, verwiesen aber unvermeidlich und unwillentlich auch auf ihre Einsamkeit und Isolierung. Die verstrichene Zeit und das Schweigen über Lohmeyer wirkten wie eine träge, trotz allem mächtige Gegenströmung, die die Aussicht auf Rettung in immer weitere Ferne schob. In anderen Teilen Deutschlands und bei Lohmeyers Freunden und Kollegen kehrte das Leben langsam aber sicher zu den Vorkriegszuständen zurück. Bultmann

31 Zum Brief von Fritz Lieb siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 139. 32 Rudolf Bultmann: Gutachten über Herrn Professor D. Ernst Lohmeyer, 18. Oktober 1946. 33 Hans von Campenhausen, 18. Oktober 1946. - GStA PK, VI. HA, NI Lohmeyer, E., No. 18.

Fürsprache und Unterstützung

berichtete, dass sein Haus in Marburg im Krieg glücklicherweise unbeschädigt geblieben war. Die amerikanische Besatzung hatte es nicht beschlagnahmt, und nun arbeite er eifrig am Wiedereinstieg in seine wissenschaftliche Karriere. Wie bitter nahm Lohmeyers Schicksal sich dagegen aus – und das von Melie. Nirgendwo waren ihr Los und ihre Isolation besser auf den Punkt gebracht als in einem Brief von Hönigswald vom 15. April. Nachdem er Melie die unglücklichen Vorfälle nach dem Wegzug aus Breslau geschildert hatte (siehe Kapitel 8), schrieb Hönigswald nun aus New York, wo er dankenswerterweise wieder eine erfolgreiche akademische Karriere einschlagen konnte und seine Frau eine ebenso erfolgreiche Karriere in der Wirtschaft. Die erwähnte Korrespondenz bestand aus einem Brief oder in seltenen Ausnahmefällen aus zweien oder dreien, die an Melie persönlich oder, bezüglich Lohmeyers Entlassung, an die Behörden gerichtet waren. Ein Korrespondent ging jedoch über Beileidsbekundungen hinaus und läutete ein Jahrzehnt des Trostes ein. Diesen Trost spendete Günther Ruprecht, Herausgeber der bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienenen theologischen Kommentare und Bücher Lohmeyers. Melie hatte Ruprecht wegen der Publikation von Das Vater-unser kontaktiert, in der Hoffnung, dass die Veröffentlichung die Entlassung ihres Mannes aus dem Gefängnis befördern könnte. Ruprecht brachte das Buch im November 1946 in der Rekordzeit von drei Monaten heraus. Zu diesem Zeitpunkt war Lohmeyer schon tot, doch weder Ruprecht noch Melie noch die Menschen, die sich für seine Freilassung engagiert hatten, wussten davon. Ruprechts Erfolg bei der beschleunigten Veröffentlichung von Das Vater-unser wurde durch seine persönliche Wertschätzung für Melie begleitet. Hinter der Fassade des akademischen Unterfangens, mit dem sie an ihn herangetreten war, erkannte er das ganze Ausmaß ihres Verlusts und ihrer Verlassenheit. „Zu unserer großen Bestürzung hörten wir vor wenigen Tagen, daß Ihr Mann Mitte Februar verhaftet worden sei“, schrieb Ruprecht am 20. März.34 In weiteren Briefen an sie versicherte er, dass er in den vergangenen Wochen und Monaten tief besorgt gewesen sei. Melie öffnete sich seiner Anteilnahme. Erst Gerüchte über Lohmeyers Inhaftierung, dann sein Transport, dann die Hoffnung auf seine bevorstehende Entlassung – all das war aufgeflammt und wieder erloschen wie kleine Grasbrände, was Melies Angst noch verstärkte. Einerseits vertraute sie in Gottes Führung, andererseits war sie der Verzweiflung nahe. Als aus Wochen Monate und aus Monaten Jahre wurden, teilte sie Ruprecht mit, was sich ihrer Meinung nach abgespielt hatte. Er hörte ihr klug zu, ohne falsche Hoffnungen zu wecken oder sich in selbstgerechter Entrüstung zu verlieren. Auch überließ er Melie nicht der wachsenden Wahrscheinlichkeit, dass

34 Günther Ruprecht an Melie Lohmeyer, 20. März 1946. - Zit. nach: Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 138.

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Lohmeyers Verschwinden nie aufgeklärt würde. Ende 1950 schrieb er wieder, sein vielleicht einfühlsamstes Hirtenwort: Und gegenüber all diesem Wenn und Aber hat Gott nun einen unwiderruflichen Schlußstrich gesetzt. Damit fertig zu werden und nicht zu hadern ist nicht leicht. Und ich verstehe jetzt, welche Note Ihnen besonders das letzte Vierteljahr gebracht hat. – Und doch wollen wir dankbar sein, daß wir selbst in solcher äußersten Not, die bisweilen zur Verzweiflung werden kann, fest daran glauben dürfen, daß Gott uns in Gnade und Liebe führt, und zwar uns ganz persönlich, auch wenn wir es manchmal nicht verstehen. Dies im Dunkel sich an der Vaterhand festhalten dürfen ist mehr als alles ‚Gotterleben‘ und alles mystische Versenken. Es ist die schlichte und tröstende Wahrheit, die uns erst wahrhaft zu Menschen macht und für die wir immer wieder, wenn auch unter Tränen, danken müssen.35

Beseitigung einer falschen Spur Oben habe ich das DAAD-Stipendium erwähnt, das ich 1993 erhielt, um Lohmeyers mysteriöses Verschwinden und die Umstände seines Todes zu untersuchen. 1993 wurde allgemein angenommen, dass Lohmeyer irgendwann aus dem Strafjustizgebäude in Greifswald in das sowjetische Konzentrationslager bei Fünfeichen überstellt worden war, wo sein Vorgänger im Rektorat Carl Engel einsaß, zusammen mit vielen anderen Deutschen, die, aus welchen Gründen auch immer, für „Staatsfeinde“ gehalten wurden. Für die „Fünfeichen-Hypothese“ konnten halbwegs gute Belege angeführt werden – jedenfalls aus Sicht der Menschen, die mit der Lösung des Rätsels um Lohmeyer befasst waren. Die Belege stützten sich auf die persönliche Erinnerung einer Frau namens Erika Harmel, deren Vater, der Richter Karl Hagemann, in Fünfeichen inhaftiert war und später freigelassen wurde. Frau Harmel berichtete Günter Haufe, Professor für Neues Testament an der Universität Greifswald und seit Langem mit Recherchen zu Lohmeyer befasst, dass „ihr Vater, Landesgerichtsrat Karl Hagemann, 1946 im Lager von Neubrandenburg/ Fünfeichen als Mithäftling mit Ernst Lohmeyer Schach gespielt hat.“36 Bei meiner Reise nach Deutschland im Jahr 1993 recherchierte ich in den nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geöffneten Archiven, um Frau Harmels Bericht zu verifizieren. In den vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft gab es nichts, was sorgsamer bewacht wurde als das Militär, die Stasi und die Sozialistische

35 Günther Ruprecht an Melie Lohmeyer, 20. Oktober 1950. - Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 147. - Zum gesamten Briefwechsel zwischen Melie Lohmeyer und Günther Ruprecht siehe Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 137–156. 36 Haufe: Gedenkvortrag zum 100. Geburtstag Ernst Lohmeyers, 59.

Beseitigung einer falschen Spur

Einheitspartei Deutschlands (SED); keine Einrichtung oder Unternehmung bestrafte das unerlaubte Betreten des Geländes stärker als die SED. Das SED-Hauptquartier in Schwerin war ein hübsches, mehrstöckiges Gebäude im Stadtzentrum. In der kommunistischen Ära stand nicht nur das Hauptquartier der Partei unter scharfer Bewachung, sondern zusätzlich ein ganzer Stadtbezirk um das Gebäude herum. In mehreren Besuchen in Schwerin in den 1970ern und 1980ern machte ich, wie alle anderen auch, bei Gängen durch die Stadt einen großen Bogen um das Hauptquartier. 1993 jedoch waren die beiden Deutschlands wiedervereint, und kaum drei Jahr später war es normalen Bürgern wieder gestattet, ein Gebäude wie das frühere Hauptquartier der SED zu betreten. Genau wie die Nationalsozialisten führten auch die Kommunisten akribisch Protokoll über alle möglichen Vorgänge. Sämtliche Fünfeichen-Akten lagerten in Schwerins früherer SED-Zentrale. Hier musste es möglich sein, die Berichte über Lohmeyers Haft zu bestätigen oder zu widerlegen. Die innere Unruhe, die ich verspürte, als ich mich der ehemaligen SED-Zentrale in Schwerin näherte, fühlte sich so ähnlich an wie damals in England, als ich mit dem Auto auf einer zweispurigen Straße über eine Hügelkuppe fuhr. Mein ganzes Leben lang war ich in den Staaten Auto gefahren, und ich musste alle Konzentrations- und Willenskraft aufbieten, um den Wagen nicht auf die rechte Spur zu lenken. Ähnliche Selbstdisziplin war nötig, als ich mich der früheren Zentrale der kommunistischen Partei näherte. Die unschöne Begegnung im Checkpoint Charlie im Jahr 1971 spulte sich in meiner Erinnerung ab. Mein Termin im früheren Hauptquartier war auf 9.00 Uhr angesetzt. Ich rechnete mit einem frostigen Empfang, Ausweiskontrollen, in verschiedene Büros geschickt zu werden und hoffentlich irgendwann Zugang zu den richtigen Akten zu erhalten, wenn auch nur widerstrebend. Diesmal waren die Befürchtungen unnötig! Ich stellte mich am Empfang vor und wurde sofort begrüßt, als gehörte ich zu den Honoratioren der Stadt. Herr Schlombs und Herr Funk, zwei Mitglieder des Teams, kamen die Treppe herunter und nahmen mich in Empfang. Ich weiß nicht mehr, wie die beiden Männer aussahen, aber ich habe noch genau vor Augen, wie eilfertig sie mir entgegenkamen. Sie begleiteten mich in einen Konferenzraum im ersten Stock, wo bequeme Stühle, Kaffee und Kuchen auf uns warteten. Auf einem Tisch stapelten sich mehrere Akten, die speziell für meine Recherche zusammengestellt worden waren. Ihr Vorgesetzter, ein Dr. Radow, war auch dabei und wirkte nicht minder eilfertig als Funk und Schlombs. Insgeheim hatte ich auf einen Rundgang durch das Gebäude gehofft, ich wollte mir anschauen, wie es im ehemalige SED-Hauptquartier aussah. Aber dafür war keine Zeit. Schlombs und Funk wollten über meine Recherche informiert werden und teilten mir die Faktenlage mit, soweit sie ihnen bekannt war; die Angaben waren erstaunlich vollständig. Sie fingen an, mir Akten auf den Tisch zu stapeln, zeigten auf dies und das, zeigten mir den für mich reservierten Arbeitsplatz, wo ich alles kostenlos kopieren durfte, was für mich interessant war.

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Sie versicherten, den ganzen Vormittag über ansprechbar zu sein, aber auch ein diensthabender Angestellter würde meine Fragen gerne beantworten. Ich wurde ihm vorgestellt. Eine berühmte Persönlichkeit, vielleicht ein Politiker, hätte mit der Begrüßung rechnen können, die mir von diesem aufmerksamen Angestellten zuteilwurde, aber ich als Wissenschaftler, der die ehemalige SED-Zentrale noch dazu mit Befürchtungen betreten hatte, war völlig überrascht. Die Lohmeyer-Agenda spielte einen Moment lang keine Rolle mehr, jedenfalls nicht für mich. Denn ich hatte mit unschönen Begegnungen in der Zentrale gerechnet, im besten Fall mit Widerwillen, im schlimmsten Fall sogar mit Feindseligkeit. Aber kaum dass ich einen Fuß in das Gebäude gesetzt hatte, wurde ich auch schon willkommen geheißen. Die Herzlichkeit traf mich so überraschend, dass sich alle Befürchtungen augenblicklich in Luft auflösten. Ich hielt inne und nahm Blickkontakt mit allen drei Männern auf. Nicht ganz sicher, worauf sie sich einstellen sollten, nahmen sie erst einmal Platz. „Vor drei Jahren wäre dieses Treffen unmöglich gewesen“, begann ich, „unsere Länder waren erbitterte Feinde. Und doch sitze ich heute in einem Gebäude, dem ich mich damals nicht einmal hätte nähern dürfen. Und Sie behandeln mich mit einer Freundlichkeit, von der ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Kann mir das mal jemand erklären?“ In der DDR hatte man gelernt, seine persönliche Meinung nicht öffentlich zu äußern, und bedenkt man Ort und Zeit, hat meine Frage sicherlich gegen die Etikette verstoßen. Aber dieses Treffen war besonders, es schien zu historisch, um sich an Umgangsformen zu erinnern. In genau diesem Augenblick und in genau diesem Zimmer erlebten wir den Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kalten Krieges. Die erste und die zweite Welt sperrten sich nicht länger in konfligierenden politischen Ideologien und Militärstrategien gegeneinander ab. Wir waren offen für Begegnungen und für Gespräche, wir mussten einander nicht länger so gegenübertreten, als wären wir die leibhaftige Verkörperung des Stereotyps unseres jeweiligen Staates und unserer Regierung – wir waren frei, uns als die einzigartigen Persönlichkeiten zu erleben, die wir waren. Was uns gerade widerfuhr, war das genaue Gegenteil dessen, was Lohmeyer fast fünfzig Jahre zuvor widerfahren war. 1945 hatte sich das politische Klima rasch und auf unerklärliche Weise von freundlich zu antagonistisch verändert. 1993 erlebten wir die glückliche Wende, ein politisches Tauwetter, aus Langzeit-Gegnern wurden jetzt Freunde. Ich genoss das kurzzeitige höfliche Einverständnis, das sich nach meiner Frage ausbreitete. Doch schon bald kümmerten meine eilfertigen Gastgeber sich wieder um den Auftrag, den ihr Gast ihnen erteilt hatte. Die nächsten drei Stunden verbrachte ich damit, die Namen von mehreren tausend Gefangenen in den Fünfeichen-Protokollen durchzugehen. Der Name Lohmeyer war nicht darunter. Es konnte fast als gesichert gelten, dass Lohmeyer dort nicht inhaftiert war. Während der Durchsicht dämmerte es mir, wie dieser Irrtum wohl entstanden war. Lohmey-

Zwei Soldaten und ein dröhnender Motor

ers Name war zwar nicht verzeichnet, aber der seines Vorgängers Professor Engel. Zurück in Greifswald, berichtete ich Professor Haufe von meinem Fund. Wir riefen Frau Harmel an und fragten, ob sie möglicherweise die Namen Lohmeyer und Engel verwechselt hatte? Frau Harmel schwieg kurz. „Das kann sein“, antwortete sie schließlich. „Damals war ich ein junges Mädchen. Mir ist im Gedächtnis geblieben, daß mein Vater mit einem Professor Schach gespielt hat. Das muß Engel gewesen sein, nicht Lohmeyer.“ Lohmeyer war nicht nach Fünfeichen verlegt worden. Seine Haft endete dort, wo sie begonnen hatte – im Strafjustizgebäude in Greifswald.

Zwei Soldaten und ein dröhnender Motor Für die Gefangenen war der Austausch von Informationen so wichtig wie der Austausch von Zigaretten oder Nahrungsmitteln. In den Nachkriegsjahren ging es nicht mehr nur um Informationen über den Zweiten Weltkrieg, obwohl der Krieg noch immer ein Thema war. Im sowjetisch besetzten Nachkriegseuropa gehörten das Verschwinden und der Tod von Menschen wie Lohmeyer zum Alltag. Die Menschen verschwanden rätselhaft auf dem Weg zur Arbeit oder während eines Spazierganges oder während sie zu Hause saßen. Manche wurden nachts aus dem Bett geholt. Von vielen hat man nie wieder etwas gehört; sie wurden hingerichtet oder verhungerten oder starben durch Zwangsarbeit in einem ostdeutschen Konzentrationslager. Über ihrem Tod lag der gleiche Mantel des Schweigens, der auch schon ihr Verschwinden eingehüllt hatte. Etliche wurden in ostdeutsche Konzentrationslager verschleppt – in dieselben Lager, die von Nationalsozialisten errichtet worden waren. Ungefähr 120.000 Menschen waren zwischen 1945 und 1949 im sowjetisch besetzten Nachkriegsdeutschland in elf „Speziallagern“ des NKWD inhaftiert.37 Viele dieser Lager waren vormals NS-Konzentrationslager, darunter Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück und Fünfeichen. Bleiernes Schweigen lag über den Lagern, über dem Schicksal der Gefangenen und der Toten. Nichts drang nach draußen. Daher war der Austausch von Nachrichten über Häftlinge ein wichtiger Teil des Lagerlebens. Im Jahr 1950 rissen die dunklen Wolken, die seit vier Jahren über dem Verschwinden Ernst Lohmeyers hingen, kurz auf. Es war das Jahr, in dem das berüchtigte Konzentrationslager Sachsenhausen im Norden von Berlin von den Russen geschlossen wurde. Gefangene, die vorher in Neubrandenburg eingesessen hatten, befanden sich nun in Sachsenhausen; sie tauschten sich über Lohmeyer aus. Nach

37 Markus Wehner: Propaganda der Tat. Neue Quellen zur Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. November 1995.

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ihrer Entlassung schrieben sie am 17. Juni 1950 an Melie: „Wir haben die traurige Pflicht, Ihnen heute mitteilen zu müssen, daß der von Ihnen gesuchte Ernst Lohmeyer nach Aussagen eines ehemaligen Häftlings im Herbst 46 im Gefängnis Greifswald verstorben ist.“38 Der Brief war in Berlin abgesandt worden, und Melie machte sich auf den Weg zu der Adresse, die als Absender angegeben war, nur um zu erfahren, dass der Absender Karl-Heinz Schröder war – und der war drei Wochen zuvor nach Schweden abgereist. Sie schrieb an Schröder in Schweden und bat um weitere Informationen über ihren Mann. Am 29. Juni erhielt sie einen Brief, in dem Schröder berichtete, dass er im August 1946 mit Lohmeyer im Gefängnis Greifswald inaftiert war. Laut Schröders Bericht war Lohmeyer zunächst wegen des Bromberg-Massakers im September 1939 in Polen angeklagt worden, die „Anklage erwies sich aber als haltlos.“39 Schröder schrieb weiter, dass Lohmeyer anschließend wegen Verbrechen bestraft worden sei, die deutsche Wehrmachtstruppen angeblich unter seiner Befehlsgewalt als Hauptmann in Russland verübt hätten. Auf Grundlage dieser Anschuldigungen habe das russische Militärtribunal Lohmeyer Ende August 1946 zum Tode verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt wurde Lohmeyer aus der Zelle geholt, die er mit Karl-Heinz Schröder geteilt hatte, und in die Eckzelle im Erdgeschoss verlegt, die für zum Tode verurteilte Gefangene reserviert war. Einer der Gefangenen in dieser Todeszelle war ein Namensgenosse, ein gewisser Manfred Schröder, dessen Todesurteil später in zehn Jahre Zwangsarbeit umgewandelt wurde. Karl-Heinz und Manfred, die beiden Schröders, wurden beide nach Sachsenhausen verlegt, wo sie sich 1949 in der Krankenabteilung trafen und sich Neuigkeiten mitteilten. Karl-Heinz Schröder bestätigte gegenüber Melie, dass der folgende Bericht aus dem Mund von Manfred Schröder stammte, der ihm geschworen hatte, ihn wahrheitsgemäß an Lohmeyers Ehefrau weiterzugeben: Am selben Tage im, ich glaube es war im September 1946, wo Ihr Gatte Sie mit Ihrem Frl. Tochter zum letzten Mal auf dem Wall sah, spielte sich folgendes ab: Ein russischer Offizier betrat die Zelle und rief seinen Namen. Ihr Gatte lag auf seiner Pritsche mit Hemd, Hose, und Strümpfen bekleidet, er erhob sich und wollte seine Sachen zusammenpacken und sich ankleiden, worauf der Offizier sagte, es sei nicht nötig. Im selben Moment betraten zwei russische Soldaten die Zelle, rissen seine Hände auf dem Rücken und banden ihn. Sie führten ihn aus der Zelle, worauf kurze Zeit später das Motorengeräusch der bereitstehenden Wagen ertönte.40

38 Zit. nach Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 19. 39 Karl-Heinz Schröder an Melie Lohmeyer, 29. Juni 1950 (verfasst in Skogsby, Schweden). - Gudrun Otto hat mir den Brief persönlich zugänglich gemacht. - Siehe auch Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 21. 40 Zit. nach Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 21–22.

Zwei Soldaten und ein dröhnender Motor

Karl-Heinz Schröder schloss seinen Brief an Melie wie folgt: „Für Schröder stand fest, daß er denselben Weg gegangen ist wie viele andere vor ihm. Beim Herausführen aus der Zelle hat er dem Schröder noch Grüße an Sie aufgegeben.“41 Und weiter: „Auch für mich stand nach dieser Schilderung fest, daß das Urteil vollstreckt wurde und ich hielt es für meine Pflicht es der Kampfgruppe zu melden. […]“42 Er unterschrieb wie folgt: „Hochachtungsvoll, Karl-Heinz Schröder.“ Melie erwiderte seinen Brief mit einem Dankschreiben und teilte ihm mit, dass diese Angaben mit denen eines gewissen Hans Tobis übereinstimmten, den sie kürzlich besucht hatte. Die Berichte, die Schröder und Tobis unabhängig voneinander gegeben hatten, bestätigten sich wechselseitig. „Vorher hatte ich diesen Tobis besucht und sah in dem hellen Entsetzen seines Gesichts, daß er genau Bescheid wußte und mir bestätigte, daß Väterchen erschossen worden wäre“, berichtete Melie.43 Tobis fügte hinzu, dass er während seiner dreimonatigen Haft in Greifswald von dreiundzwanzig Männern wusste, die erschossen worden waren. In seinem letzten Brief an Melie übermittelte Karl-Heinz Schröder ein Detail, das, so unbedeutend es für ihn auch gewesen sein mochte, für Melie eine kleine Freude inmitten einer Flut von Trauer war. Melie hatte sich danach erkundigt, ob ihr Mann im Gefängnis irgendeiner wissenschaftlichen Arbeit nachgegangen war. Schröder hatte seine Zweifel, denn als „einzige hat man ihm das Neue Testament gelassen.“44 Das griechische Neue Testament Lohmeyers, das er in Krieg und Frieden stets in seiner Tasche mit herumgetragen hatte, war bis zum Ende bei ihm geblieben. Der unermüdliche Einsatz Melies zur Aufklärung von Ernsts Schicksal hatte ein Ende gefunden. Im September 1946 war ihr Mann vom NKWD erschossen worden. Natürlich kursierten weiterhin Gerüchte, mit den Jahren aber immer weniger. Eine Kirchenzeitung berichtete, dass Lohmeyer mutmaßlich in Polen in Haft sei, andere Quellen behaupteten, er sei in Russland, einige wenige glaubten zu wissen, er habe sich sogar nach Westdeutschland absetzen können. Melie bildete sich ein, dass er irgendwie, irgendwann und gegen alle Wahrscheinlichkeit vor ihrer Haustür stehen würde. Anfang der 1950er-Jahre wurden gefangene Männer gelegentlich von den Russen entlassen oder Totgeglaubte standen plötzlich vor der Tür. Melie hatte Lohmeyers Schicksal so lange nachgeforscht, dass ihr die Illusionen inzwischen vergangen waren. Für sie war es keine Überraschung, sondern gehörte vielleicht sogar zu jenen bitteren Gnadenerweisen, deren einziger Vorzug darin besteht, dass die schlimme Nachricht allen trügerischen Hoffnungen ein Ende setzt. Für sie war es also keine Überraschung, was das russische Rote Kreuz der Familie am 6. Dezember 1957, fast zwölf Jahre nach Ernsts Verhaftung, als grausam kurze 41 42 43 44

Zit. nach Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 22. Zit. nach Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 22. Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 22. Melie Lohmeyer: Väterchens Ende, 24.

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Nachricht zukommen ließ: „Lohmeyer, Ernst, geb. 1890 Dorsten. Gestorben am 19. September 1946 im Lager.“ Mit der Bestätigung seines Todes im Jahr 1957 hörte Melies Einsatz für ihn nicht auf, sondern verlegte sich darauf, die Erinnerung an ihn zu bewahren – und vor allem darauf, sein Angedenken zu ehren. Melie starb 1971. Auch ihre Kinder Hartmut und Gudrun sorgten dafür, dass die Flamme seines Angedenkens nicht erlosch. Professor Günter Haufe, der seit 1971 den vormals von Ernst Lohmeyer besetzten neutestamentlichen Lehrstuhl an der Universität Greifswald innehatte, griff dieses Ansinnen auf. Obwohl der Name Lohmeyer im kommunistischen Ostdeutschland getilgt werden sollte, bemühte Haufe sich darum, Einzelheiten über Lohmeyers Verschwinden und Tod ans Tageslicht zu befördern. 1974 stieß ich zum ersten Mal auf den Namen Ernst Lohmeyer, und zwar in dem rätselhaften Hinweis in seinem Kommentar zum Markusevangelium. Und auch ich schloss mich der kleinen Gruppe von Menschen an, die daran arbeiteten, an Ernst Lohmeyer zu erinnern, sein Leben wiederzuentdecken und zu dokumentieren.

Kapitel 16. Rückkehr zur posthumen Inauguration

„Wir alle müssen sterben. Das ist nicht tragisch. Tragisch es ist, unehrenhaft zu sterben.“ Gudrun Lohmeyer Otto, 1996

Weissagung in einem verrauchten Büro Professor Haufe kam zum Ende seiner Laudatio bei der posthumen Inauguration von Ernst Lohmeyer. Das Klavier-Quartett spielte Bachs Präludium f-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier. Meine Gedanken kehrten von den Jahren, die mich zu diesem Tag geführt hatten, zu den Ereignissen dieses Tages zurück. Donnerstag, 19. September 1996. Begonnen hatte der Tag mit einem Besuch bei Manfred Herling im Universitätsarchiv Greifswald. Herling und seine Assistentin Barbara Peters hatten mich auf vielerlei Weise bei meinen Nachforschungen zu Lohmeyers mysteriösem Verschwinden und Tod unterstützt. Als ich eintraf, war Peters nicht im Archiv, aber Herling saß in seinem verrauchten Büro zwischen Papieren, Akten, Büchern und Unterlagen, die sich auf jedem freien Platz stapelten. Das Wirrwarr aus Gelehrsamkeit und Chaos regte meine Fantasie an wie ein überbordendes Buffet einen hungrigen Menschen. Die Porträts an den Wänden, deren dunkle Farben von jahrzehntelangem Rauch und Ruß noch zusätzlich verschattet waren, und die schweren Möbel aus dem neunzehnten Jahrhundert sahen 1996 wahrscheinlich noch genauso aus wie hundert Jahre zuvor. Herling empfing mich überschwänglich. Er sprühte nur so vor Ideen und Leidenschaft. Je leidenschaftlicher er wurde, desto eloquenter sprach er. Drei Rektoren der Universität Greifswald seien ermordet worden, erzählte er betroffen. „Der Gründer Heinrich Rubenow, Carl Engel und Lohmeyer selbst. Ganz sicher ein Rekord an deutschen Universitäten“, polterte er. „Nehmen Sie mal Engel“, fuhr er fort und ließ den Arm schwungvoll auf den Tisch sausen, „er war Nazi, er bereute nichts … und machte keinen Hehl daraus! Als die Russen in Greifswald einmarschierten, hatte er ein Auto und hätte in den Westen entkommen können, wie so viele andere. Aber er tat es nicht! Er blieb in Greifswald und leistete Widerstand gegen die kommunistischen Eindringlinge.“ Herling ging über zu Engels düsterem und unabwendbaren Ende. „Engel wurde natürlich verhaftet, innerhalb einer Woche nach dem Eintreffen der Roten Armee. Und wegen seiner Verhaftung wurde Lohmeyer zum Rektor der Universität berufen.“ Engel war nach Fünfeichen eingeliefert worden, ein früheres NS-Konzentrationslager,

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das nach dem Krieg in ein kommunistisches Konzentrationslager umgewandelt worden war. „Dort starb er – er ist verhungert.“ Herling beugte sich vor und schaute mich eindringlich an. „Auch Menschen, von denen man es nicht erwartet, können Charakter haben“, erklärte er mit feierlicher Miene. Ihm kam ein neuer Gedanke, den er noch leidenschaftlicher vortrug. Die damaligen Bewohner der Arndtstraße 3, wo die Lohmeyers gewohnt hatten, weigerten sich, eine Lohmeyer-Plakette an dem Gebäude anbringen zu lassen. „Sie haben Angst, dass die Russen zurückkehren und sie dann als Kollaborateure des Imperialismus in den Gulag gesteckt werden“, wetterte er. Sein Zorn war begleitet von geistreichen, bisweilen auch grenzwertigen Pöbeleien. Herling und seine Frau hatten beide den Vater im Zweiten Weltkrieg verloren. Es gelang ihm nicht, seine Abneigung gegen Totalitarismus und Utopismus zu zügeln; beides führe, wie er in einem gewaltigen Crescendo erklärte, zu schlimmster Unmenschlichkeit und Barbarei. Und Feigheit war ihm verhasst! „Welche Hoffnung kann es für das Christentum und die Zivilisation geben, wenn Menschen sich aus Angst vor Kleinigkeiten nicht trauen, sich zu ihrem Glauben zu bekennen?“, donnerte er.

Ein detektivischer Professor Zögernd verabschiedete ich mich von diesem Propheten in seinem verrauchten Archiv und stieg zwei Treppen hoch zum Büro von Martin Onnasch, Professor für Kirchengeschichte. Kaum hatte ich das Büro betreten, drückte Onnasch mir zwei Akten in die Hand. Bei der ersten handelte es sich um die deutsche Übersetzung des russischen Verfahrensprotokolls gegen Lohmeyer in voller Länge, bei der zweiten um die offizielle Aufhebung des Urteils gegen Lohmeyer durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation. Diese beiden Dokumente, lang ersehnt und ungeduldig erwartet, hielt ich jetzt in der Hand. Während meines DAAD-Sabbaticals in den Jahren 1993 und 1994 hatte ich die deutschen Archive nach Lohmeyers Verfahrensprotokoll durchkämmt. Vergeblich. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass sie in Deutschland nicht auffindbar waren Falls die Unterlagen also überhaupt noch existierten, mussten sie irgendwo in Russland sein. Ich sollte Recht behalten, aber nicht ich war es, der sie aufspürte, sondern passenderweise Gudrun … jedenfalls sorgte sie dafür, dass sie aufgespürt wurden. Eine Bekanntschaft von Gudrun stellte die Verbindung zu Dr. Hans Coppi her. Obwohl er sie nicht persönlich kannte, wollte er für sie tätig werden. Hans Coppi war der Sohn von Hans und Hilde Coppi, die beide von den Nazis im Gefängnis BerlinPlötzensee für ihre Beteiligung an der Roten Kapelle grausam hingerichtet worden waren. Die kommunistische Widerstandsbewegung Rote Kapelle hatte Stalin mit Geheimtelegrammen vor der Operation Barbarossa gewarnt, dem bevorstehenden deutschen Überfall auf Russland im Juni 1941. Ihre Angaben hätten nicht genauer

Ein detektivischer Professor

sein können … und Stalin hätte sie nicht umfassender ignorieren können! Hans Sr. wurde 1942 von den Nazis in Plötzensee ermordet. Hilde war bei ihrem Aufenthalt in Plötzensee mit Hans schwanger. Drei Monate nach seiner Geburt 1943 wurde Hilde ebenfalls erschossen. Der junge Hans wuchs im kommunistischen Ostdeutschland auf, wo er im politischen Apparat verschiedene Führungspositionen innehatte. Als Kind von Eltern, die von Nazis gefoltert worden waren, war man, wie er versicherte, in Ostdeutschland zu einer Führungsrolle nahezu verdammt. Der Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 war ein Kairos-Moment bei den Ermittlungen zu Lohmeyers Schicksal. Gudrun und Hans Coppi hatten etwas gemeinsam: Es war etwas an ihnen, was der jeweils andere brauchte. Gudrun brauchte Coppis exzellente Kenntnisse der russischen Archive. Wenn Lohmeyers Verfahrensprotokoll tatsächlich in Russland war, wusste jemand wie Coppi, wo es sich befinden musste und wie man es sich beschaffen konnte. Und umgekehrt brauchte Coppi auch Gudrun. Nach dem Fall der Mauer 1989 wurde Coppi angefeindet, wie alle Mitglieder des Führungsapparats; er war praktisch ein Ausgestoßener im wiedervereinten Deutschland. Die Unterstützung, die er Gudrun zukommen ließ, war einzigartig und von unschätzbarem Wert, sowohl für Gudrun als auch für die Wiederherstellung seiner eigenen Reputation. Das Bündnis von Gudrun und Coppi wirkte Wunder. Binnen zehn Tagen nach der Anfrage hatte Coppi Lohmeyers Verfahrensprotokoll aus einem früheren, nur ihm bekannten und nur ihm zugänglichen russischen Archiv herangeschafft – es war noch auf Russisch geschrieben. Es war das russische Verfahrensprotokoll von Ernst Lohmeyer, das Professor Onnasch mir in die Hände legte. Zusammen mit dem Protokoll überreichte Onnasch mir ein Gnadengesuch Lohmeyers an Josef Stalin. Das Protokoll war im Original auf Russisch, das Gnadengesuch auf Deutsch. Weder Protokoll noch Gnadengesuch waren bis Sommer 1996 in die jeweils andere Sprache übersetzt worden. Der Fachbereich Slawistik der Universität Greifswald hatte das Verfahrensprotokoll ins Deutsche übersetzt und Lohmeyers handschriftliches Gnadengesuch nur wenige Tage, bevor Onnasch es mir übergab, in ein deutsches Typoskript übertragen. Das zweite Dokument von Onnasch war die offizielle russische Rehabilitierung Lohmeyers im August 1996, fünfzig Jahre nach seiner Exekution. Onnasch machte sie mir mit der Auflage zugänglich, sie nicht vor Ablauf von sechs Monaten zu veröffentlichen. Er schloss die Tür zu seinem Büro, bat mich, Platz zu nehmen, und erklärte, warum. Das Rehabilitierungsverfahren dauerte normalerweise Monate und manchmal sogar Jahre bis zum Abschluss, aber in Lohmeyers Fall war es schneller gegangen. Er erläuterte den Grund. Bevor er nach Greifswald gekommen war, hatte Onnasch das Hannah-Arendt-Institut in Dresden geleitet. Dort hatten er und das Arendt-Institut das russische Büro, das politisch begründete Rehabilitierungsfälle bearbeitete, mit Geld und Material versorgt, darunter Papier, Tinte, Fotokopierer, Kopierflüssigkeiten, Ersatzteile und so weiter. Diese Technik

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und das Material, die für die administrative Seite der Rehabilitierung unerlässlich sind, waren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre entweder gar nicht mehr oder nur noch schwer zu beschaffen. Der Leiter der russischen Abteilung für Revisionsverfahren war Leonid P. Kopalin. Er war Oberst der Justiz und als Abteilungsleiter zuständig für die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung bei der Haupt-Militärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation. Kopalin war persönlich mit Onnasch befreundet. Das Rehabilitierungsverfahren für Lohmeyer unter Kopalin war in Rekordzeit durchgeführt worden, die Urkunde wurde am 15. August 1996 in Moskau ausgefertigt und am 18. August an Onnaschs Ehefrau in Greifswald eigenhändig zugestellt. Onnasch hoffte, dass eine sechsmonatige Sperrfrist Kopalin vor etwaigen Korruptions- und Bestechungsvorwürfen bei der Rehabilitierung Lohmeyers verschonen würde. Onnasch schloss mit zwei Ratschlägen. Erstens sei die Geschichte, wie Greifswald die Rehabilitierung Lohmeyers so schnell habe erwirken können, damit noch nicht abgeschlossen, aber den Rest zu erzählen sei Sache eines Arztes namens Dr. Horst Hennig. Onnasch teilte mir mit, dass Hennig mich bei dem Abendessen nach der posthumen Amtseinführung kontaktieren würde. Und zweitens erfuhr ich von Onnasch, dass das Protokoll nicht den tatsächlichen Ablauf des Gerichtsverfahrens wiedergab; es spiegelte lediglich den Schein wider, den die Sowjets in Bezug auf die Prozessführung gewahrt wissen wollten. Zweck des Protokolls war also nicht die Dokumentation einer unvoreingenommenen Beweisführung, sondern umgekehrt: Es sollten Beweise präsentiert werden, die ein bereits gefasstes Urteil über Lohmeyers Schuld stützen konnten.

Ärztlicher Spürsinn Der Begegnungen mit Herling und Onnasch waren die Hauptereignisse, die schließlich in die Abendveranstaltung mündeten. Meine Gedanken kehrten zurück zur feierlichen Amtseinführung. Auf das Präludium von Bach folgte ein Gebet, und die posthume Inauguration endete mit Bachs Fuge f-Moll, ebenfalls aus dem Wohltemperierten Klavier. Nach der Veranstaltung wurden vor dem Festsaal Fotos aufgenommen; danach zogen die Familie, die Honoratioren und die geladenen Gäste sich zum Abendessen in das Hotel am Dom in der Langestraße zurück. Leider konnte Gudrun an der posthumen Inauguration nicht teilnehmen. Zu der Zeit unterzog sie sich einer Krebsbehandlung, die ihr das Leben bis 2004 verlängern sollte, sie an jenen Tagen aber daran hinderte, die Veranstaltungen anlässlich der Rehabilitierung ihres Vaters zu besuchen – ein Anliegen, für das sie sich so beharrlich eingesetzt hatte. Ihr Ehemann Klaus war allerdings dabei, genau wie ihre sechsunddreißigjährige Tochter Julia, die als Tierärztin in der Nähe von Frankfurt

Ärztlicher Spürsinn

praktizierte. Beim Abendessen saß ich neben Julia und unterhielt mich mit ihr und mehreren Professoren. Als ich nach dem Essen den Speisesaal verließ, wurde ich von einem Mann angehalten, der sich hastig als Dr. Horst Hennig vorstellte, und mich um ein Treffen im Restaurant bat, um 22 Uhr. Wie vereinbart tauchte ich auf, Hennig führte mich an einen ruhigen Tisch und überreichte mir ein Bündel von Materialien. Wir sprachen bis fast Mitternacht. Im Jahr 1950 war Hennig vierundzwanzig Jahre alt und hatte an der Universität Halle an der Saale Medizin studiert. Er war besorgt wegen der wachsenden Unterdrückung im russischen Sektor und engagierte sich in verschiedenen demokratischen Reformbewegungen. Zusammen mit anderen Studenten wurde er festgenommen und inhaftiert. Drei Monate lang saß er in Einzelhaft, ohne Licht, wurde verprügelt und litt Hunger. Anschließend wurde er zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in Workuta verurteilt, einem der unzähligen Lager in Russlands berüchtigtem Archipel Gulag. Workuta lag nördlich des Polarkreises, wo die Temperaturen im Winter auf 40 bis 50 Grad minus sanken. Fünfundzwanzig Jahre Strafe in solch einem Lager war ein Todesurteil. 1953, zwei Jahre nach seiner Ankunft in Workuta, demonstrierten die Häftlinge dort für eine humanere Behandlung. Die Sowjets reagierten auf die Demonstrationen mit Gewehrfeuer. Dreiundfünfzig Menschen wurden getötet und weitere einhundertdreiundzwanzig lebensgefährlich verwundet. 1955 gelang Hennig die Entlassung aus dem Gulag und die Heimkehr nach Deutschland. Er entschied sich jedoch dafür, das Erlebte nicht „hinter sich zu lassen“. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus 1990 nutzte Hennig seine Russischkenntnisse und das Wissen über das sowjetische Strafvollzugssystem, um sich für die posthume Rehabilitierung der deutschen Häftlinge einzusetzen, die anders als er selbst nicht das Glück hatten, lebend aus dem Gulag zurückzukehren. Den größten Teil seines Erwachsenenlebens war er vom Sowjetkommunismus gejagt, diffamiert und verfolgt worden. Die Anspielungen und verschlüsselten Allgemeinplätze, mit denen er seine Geschichte im Hotel am Dom spickte, gaben zu erkennen, dass ihm seine Vergangenheit noch immer präsent war … und wahrscheinlich immer präsent sein würde.1 Es war Horst Hennig, der dafür sorgte, dass das Lohmeyers Rehabilitierung endlich Fahrt aufnahm. Der Arzt Hennig hatte sich auf seltene Krankheiten spezialisiert. Leonid Kopalins Tochter litt an einer Erkrankung, die Hennig erfolgreich behandelt hatte. Hennig wusste aus persönlicher Erfahrung, wie das sowjetische

1 Neben fotokopierten Artikeln aus verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften über seine Erlebnisse gab Horst Hennig mir einen Band über Workuta, den er drei Monate zuvor herausgegeben hatte. - Siehe Horst Hennig: Erfahrung aus den Diktaturen – Folgerungen für Gegenwart und Zukunft. Vortrag auf dem Halle-Forum III, 18.-20.05.1996 (LagGern Workuta/GULag in der Union der Opferverbande kommunistischer Gewaltherrschaft – UOKG).

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Rechtssystem funktionierte. Er wusste, dass Lohmeyer ein unschuldiges Opfer des Systems war und dass der fünfzigste Jahrestag seiner Ermordung näherrückte. Im Namen von Ernst Lohmeyer wandte er sich an Leonid Kopalin. Kopalin reagierte mit der beschleunigten Überprüfung von Lohmeyers Fall. Die Dokumente in meinen Händen erlaubten es mir nun, die verbleibenden Teile des Puzzles zusammenzusetzen, um ein möglichst vollständiges Bild von Lohmeyers Prozess und Verurteilung zu erhalten.2

Verhaftung Unmittelbar nach seiner Verhaftung in der Nacht vom 14. auf den 15. Februar 1946 wurde Lohmeyer ins Strafjustizgebäude in der Domstraße 6/7 gebracht, das der NKWD als Gefängnis nutzte. In den folgenden Monaten wurde er auf diversen Geschossen und in verschiedenen Zellen untergebracht, verblieb aber bis zu seiner Hinrichtung durch Erschießen am 19. September 1946 innerhalb des Gebäudes. Die Gründe für seine Festnahme waren primär sein starker und unabhängiger Charakter und sein Einsatz, ja, seine Berufung, die Universität Greifswald entsprechend den geschichtsträchtigen Idealen der deutschen Universität wiederzueröffnen, frei von der dogmatischen Einmischung durch die russische Besatzung. Der vorgeschobene Grund für seine Festnahme war, dass er den Forderungen der kommunistischen Blöcke Schwerin und Greifswald nicht entsprochen hatte, alle Universitätsprofessoren zu entlassen, die der NSDAP angehört hatten. Lohmeyer hatte sich dieser Forderung widersetzt, weil die Universität bei Entlassung aller ehemaligen NSDAPMitglieder hätte geschlossen werden müssen, auch die medizinische Fakultät, die zu der Zeit die Kriegsverwundeten versorgte. Seine Entscheidung stand in vollem Einklang mit dem Dreimächteabkommen, unterzeichnet von Russland, Amerika und Großbritannien, das besagte, dass schuldige und skrupellose NSDAP-Mitglieder zu entlassen seien, während Parteileute, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hatten, zu halten waren. Der Bericht von Dr. Naas, Vertreter der Zentralverwaltung für Volksbildung, am Tag der Festnahme von Lohmeyer, dass die „,Tätigkeit Professor Lohmeyers für die Universität nicht gut gewesen‘“3 sei, bekräftigte diesen Punkt. Ein zweiter Grund für Lohmeyers Verhaftung war sein Einsatz für die Wiedereröffnung der Universität am 15. Februar 1946. Auch hier agierte Lohmeyer

2 Das gesamte Material in diesem Abschnitt, das sich auf die posthume Amtseinführung und die Treffen mit Manfred Herling, Martin Onnasch und Horst Hennig bezieht, stammt aus persönlichen Notizen, die innerhalb weniger Stunden nach den geschilderten Ereignissen angefertigt wurden. 3 Zit. nach Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer, 133.

Verhaftung

in Übereinstimmung mit den leitenden Behörden, denn die russische Militärverwaltung in Berlin, die die Wiedereröffnung zum obigen Datum unterstützte, beaufsichtigte die Führung der kommunistischen Blöcke in Schwerin und Greifswald, die sich dem widersetzten. Zwei weitere Gründe mögen eine Rolle gespielt haben, aber ob und in welchem Ausmaß, ist nicht gänzlich geklärt. Erstens ist die Verhaftung einer starken und unabhängigen Führungspersönlichkeit wie Lohmeyer strategisch nützlich, denn sie diente als Warnsignal für andere Universitäten und Rektoren im russischen Sektor, nicht unabhängig von den sowjetischen Behörden zu agieren. Die Verhaftung Lohmeyers stellte unmissverständlich klar, dass das Ideal einer politisch unabhängig von den Sowjetbehörden handelnden Bildungseinrichtung nicht toleriert würde. Zweitens könnten die kommunistischen Behörden Lohmeyers Beitritt zur Demokratischen Partei im Juni 1945 (aus der im Herbst des Jahres die CDU wurde), als Signal seines Engagements für eine „bürgerliche“ statt für eine „proletarische“ Politik deuten; das gilt für sowohl für seine politischen Aktivitäten als auch für das Rektorat der Universität Greifswald. Jedoch sind die genauen Gründe für Lohmeyers Verhaftung letztlich nicht vollständig geklärt und können wohl auch nie vollständig geklärt werden. Schon am Morgen des 15. Februar 1946 waren die Informationen bezüglich seiner Verhaftung ein wirres Durcheinander gegensätzlicher Begründungen und Beweise. Um nur eine der erwähnten Begründungen herauszugreifen: In Lohmeyers russischer Prozessakte wird seine Mitgliedschaft in der CDU acht Mal missbilligend erwähnt; dies belegt die Rolle seiner CDU-Mitgliedschaft als Haftgrund. Andererseits nennt ein angeblich von der KPD erstellter und auf den 16. Februar datierter Bericht – also einen Tag nach seiner Verhaftung – Lohmeyer an erster Stelle auf einer Liste von fünf Lehrkräften an der theologischen Fakultät, die unbelastet seien – kommunistischer Jargon für „politisch sauber“. Die Datierung ist entscheidend, sie belegt ausdrücklich, dass Lohmeyer nicht aus politischen Gründen verhaftet wurde.4 Lohmeyer wurde vom NKWD verhaftet, der sowjetischen Militärpolizei. Diese Tatsache verweist darauf, dass militärische Gründe eine Rolle spielen. Für solche Anschuldigungen brauchte man eine militärische Begründung, zum Beispiel eine auf das Militärische bezogene Anzeige. Genau solch eine Anzeige lieferte ein Memorandum von Dr. Franz Wohlgemuth, KPD-Leitung von Schwerin-Greifswald, der Lohmeyer beschuldigte, 1939 am Bromberg-Massaker in Polen beteiligt gewesen zu sein. Ferner stellte Wohlgemuth fest, dass Lohmeyer mit der Wehrmacht in der Ukraine im Einsatz war. Das war eine Anspielung darauf, dass er weitere Schuld auf sich geladen hatte. Auch hier ist die Datierung entscheidend – 14. Februar 1946! Das Memo trägt die Unterschrift „Franz Wohlgemuth, Leitung der

4 Die fünf unbelasteten Mitglieder der theologischen Fakultät waren Lohmeyer, Koepp, Hermann, Haendler und Prost (bitte beachten Sie, dass der Name Lohmeyer die Liste anführt).

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kommunistischen Partei Deutschlands“.5 Einen Tag vor Lohmeyers Verhaftung versorgte Wohlgemuth den NKWD mit einer militärischen Anzeige, die eine Anhörung Lohmeyers durch die sowjetische Militärjustiz erforderlich machte.6 Wir haben es hier also mit merkwürdigen und widersprüchlichen Umständen zu tun: In zwei getrennten Vermerken entlastet und verurteilt ein und dieselbe kommunistische Partei Lohmeyer nacheinander – in nur vierundzwanzig Stunden. Dass das Bromberg-Massaker als falscher Vorwand für die Festnahme diente, wird durch den Fakt belegt, dass es im russischen Verfahrensprotokoll unerwähnt bleibt, denn damals wussten die Russen schon, dass Lohmeyer sich zur Zeit des Massakers nicht in Polen aufgehalten hatte. Wohlgemuth, das darf nicht vergessen werden, war sechs Wochen nach der Verhaftung von Gottfried Grünberg zum Kurator ernannt worden. Wohlgemuth verhielt sich wie ein Gewohnheitsverbrecher, er war nicht zimperlich, wenn es darum ging, die Karriere eines anderen zu zerstören –oder, wie im Fall von Lohmeyer, das Leben eines anderen, wenn er dadurch seine eigene Karriere forcieren konnte. Dass er Lohmeyers Absetzung als Rektor nutzte, um dessen Position zu erlangen, und ihn denunzierte, um seine Ziele zu erreichen, scheint praktisch über jeden Zweifel erhaben.

Gerichtsverfahren Im Frühjahr 1946 kommunizierte Lohmeyer aus seiner Gefängniszelle winkend mit Melie und Gudrun, die auf der Promenade an der alten Stadtmauer standen. Mehrmals war es Melie gelungen, ihm Lebensmittelpakete zu schicken. Immer wieder wurde Lohmeyer von Hauptmann Iwanow verhört, demselben Offizier, der bei der Festnahme dabei gewesen war. Lohmeyer wurden keine Gründe für die Festnahme genannt. Auch Iwanow schien nicht mehr Klarheit zu haben als Lohmeyer selbst. In einem letzten Brief an Melie vom März schob Lohmeyer die Verhaftung einer „Schweriner Intrige“7 zu, ein Täuschungsmanöver der kommunistischen Verbände. Er rechnete mit einer längeren Haft, nährte aber auch Hoffnungen auf eine eventuelle Entlassung. Er fantasierte von einem Umzug nach Tübingen oder an einen anderen Ort, an dem Melie und er neu anfangen konnten.

5 Diese Denunziation wurde von Matthiesen aufgedeckt:-Siehe Helge Matthiesen: Eine tödliche Intrige, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 1996, 10. - Das Original liegt ihm Vorpommerschen Landesarchiv in Greifswald, Akte IV/4/02/46/16/Blatt 64 des Bestandes „Kreisleitung Greifswald“. 6 Zur Anklage wegen Kriegsverbrechen, die die sowjetischen Militärbehörden unterstellten, siehe Mathias Rautenberg: Der Tod und die SED. Zum 65. Todestag Ernst Lohmeyers. in: Zeitgeschichte Regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 15, No. 2, 2011, 23. 7 Eine Schweriner Intrige. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis der GPU in Greifswald. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 146, p. 2.

Gerichtsverfahren

Die schwammige Unklarheit rund um seine Festnahme und die Haft dauerte dreieinhalb Monate. Am 30. Mai begann sein Prozess vor den Russen, am 6. Juni wurde die Anklage verlesen. In dem fast fünfzig Seiten umfassenden Verfahrensprotokoll wird eine wahre Salve von Anschuldigungen auf ihn abgefeuert. Lohmeyer wurde bezichtigt, als Kommandeur in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion die Interessen des faschistischen Staates vertreten zu haben. Die Anklage fuhr fort, dass „die deutschen faschistischen Eroberer“8 daran beteiligt waren, 550 unschuldige russische Bürger verhaftet und getötet zu haben. Außerdem wurde Lohmeyer beschuldigt, siebzig sowjetische Staatsbürger festgenommen zu haben, von denen zwanzig vor Gericht gestellt wurden. Es folgten weitere, noch unspezifischere Anschuldigungen: Lohmeyer habe eine „eine Hetzjagd auf sowjetische Bürger“9 getrieben, Sowjetbürger Zwangsarbeit ohne Entlohnung verrichten lassen sowie andere verhaftet, eingesperrt und erschossen. Diese willkürlichen Gewalttaten hätten laut Verfahrensprotokoll ohne Lohmeyers Wissen und Beteiligung als Kommandeur nicht verübt werden können. Lohmeyers Mitgliedschaft in der CDU wurde, wie oben erwähnt, acht Mal als strafbewehrte Handlung genannt. Lediglich eine einzige Anschuldigung in dem fast buchlangen Verfahrensprotokoll ist mit Namen, Datum und Ort versehen: Lohmeyer sei für die Hinrichtung eines Partisanen namens Iwan Nozka verantwortlich gewesen. Diese Anschuldigungen sind auf dem Hintergrund folgender Punkte zu würdigen. Der Prozess wurde auf Russisch geführt, eine Sprache, die Lohmeyer nicht beherrschte. Er war die ganze Zeit abhängig von einem Dolmetscher. Er durfte nur sprechen, wenn er gefragt wurde, und wenn er gefragt wurde, durfte er nicht schweigen. Ein Anwalt oder Rechtsbeistand gleich welcher Art waren nicht zugelassen. Vor allem aber war es ihm nicht erlaubt, Beweise oder Zeugen bezüglich Schuld oder Unschuld beizubringen. Dass fünfzig führende Intellektuelle und Kulturschaffende Deutschlands Lohmeyer einen untadeligen Charakter bescheinigten, dass jüdische Stimmen wie Ernst Cohn, Martin Buber, Jochen Klepper sowie jüdische Kollegen in Breslau erklärten, Lohmeyer würde niemals auf unschuldige Zivilisten schießen, und dass ein Mann, der sich dem Nationalsozialismus so mutig, so beharrlich und aufopferungsvoll widersetzt hatte, sich kaum an abscheulichsten Verbrechen beteiligen würde – nichts davon wurde zur Entlastung zugelassen. Im Prozess ging es nicht um glaubhafte Beweise, sondern um Anschuldigungen, die alle bis auf eine sehr allgemein gehalten waren. Für die etwa siebzig Sowjetbürger, die Lohmeyer angeblich verhaftet und vor Gericht gestellt haben soll, und für die 550 angeblich gemetzelten Personen fehlten Namen, Zeugen, Daten und Orte, an denen die Verbrechen begangen worden sein sollen. Kein seriöses Gericht würde

8 Untersuchungsakte No. 2313, GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 25, p. 20. 9 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 25, pp. 3–4.

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solche Anschuldigungen ohne entsprechende Nachweise zur Verhandlung zulassen. Wie soll man widerlegen, dass man 550 nicht genannte Personen an einem nicht genannten Ort zu einem nicht genannten Zeitpunkt ermordet haben soll? Rein logisch mag es so aussehen, dass es für eine Anschuldigung, für die es keine Entlastungsbeweise gibt, auch keine Belastungsbeweise und keine Verurteilung geben kann. Doch genau das war natürlich der springende Punkt, denn die Verurteilung Lohmeyers stützte sich nicht auf Beweise, sondern einzig und allein auf Anschuldigungen. Die von der deutschen Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 in Russland verübten Gräueltaten führten zu einem nachvollziehbaren Verlangen nach Vergeltung. Für jede geschundene Region musste als Zeichen der Sühne eine Quote von Schuldigen ermittelt werden. Anschuldigungen allein reichten aus, um ein Verfahren einzuleiten und das Verlangen nach Vergeltung zu befriedigen. Die Forderung nach Beweisen konnte als Versuch gedeutet werden, den Beschuldigten entlasten zu wollen, „den Feind zu privilegieren“ und „den Klassenkampf zu verraten“. Lohmeyer war eines jener Opfer, das während der chaotischen Zustände der Nachkriegszeit unter Generalverdacht geriet und für fremde Vergehen zur Verantwortung gezogen wurde.10 Wenn es gestattet war, äußerte Lohmeyer sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Mehr als einmal wies er die Anschuldigung zurück, die Bevölkerung zu Zwangsarbeit genötigt zu haben: „Die Bevölkerung wurde nicht gezwungen.“ Auf einen anderen Tatvorwurf erwiderte er: „Das erachte ich nicht als Verbrechen.“ Häufiger hieß es: „ich bekenne mich der Anklage nicht schuldig.“ Und am Ende: „Ich bin ein gläubiger Mensch und kann daher keine Greueltaten vollbringen.“ Nachdrücklich bestritt er, Verbrechen wie Plünderungen, Zwangsarbeit, willkürliche Verhaftungen und vor allem Erschießungen von Zivilisten angeordnet zu haben. Er gab zu, dass die Wehrmacht, die vor seinem Kommando den Kuban besetzt hatte, Gräueltaten verübt hatte, vor allem auch durch den Rückzug der deutschen Truppen nach seinem Kommando. Doch unter seinem Befehl habe es keine Gräueltaten und kein Unrecht gegeben. „Die Gendarmerie, die mir unterstand, hat keine Erschießungen von sowjetischen Bürgern durchgeführt.“ An der Front in Russland ging es unfassbar brutal zu, aber Lohmeyer sagte mehrfach aus, dass er seine Macht und die wenigen Möglichkeiten genutzt habe, um Gutes zu tun, auch wenn es viel zu wenig war. Lediglich einen einzigen Tatvorwurf bestätigte Lohmeyer in dem langen Verfahrensprotokoll, den einzigen Vorfall, der mit Namen und Datum im Detail nachgewiesen werden konnte. Im November 1942 war ein Partisan namens Ivan Nozka

10 Zum historischen Kontext der russischen Prozesse dieser Zeit siehe Rautenberg: Der Tod und die SED. Zum 65. Todestag Ernst Lohmeyers, 20 und 28.

Der Verteidiger

verhaftet worden, weil er Telefonleitungen durchtrennt hatte, und das wiederum brachte seine Soldaten in Gefahr. Lohmeyer gab zu, dass er es zugelassen hatte, Nozka für diese Tat zu erhängen. Bei der Hinrichtung war Lohmeyer nicht anwesend, aber er wies darauf hin, dass die Strafe durch Erhängen für eine solche Tat kein Verbrechen war.11

Der Verteidiger Der Rechtsbeistand, der Lohmeyer im Sommer 1946 verweigert worden war, wurde ihm fünfzig Jahre später mit Leonid Kopalin genehmigt. Laut Kopalin enthielten die sowjetischen Archive in den 1990er-Jahren mehr als 200.000 Dossiers über deutsche Staatsbürger, die von den Sowjets in der Nachkriegszeit entweder inhaftiert oder hingerichtet worden waren. Davon gehörten 30.000 Dossiers zu deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, weitere 40.000 Dossiers zu Deutschen, die von sowjetischen Militärtribunals in Ostdeutschland verurteilt worden waren, und fast 130.000 Dossiers über eingesperrte und zu Zwangsarbeit in ostdeutschen Internierungslagern verurteilte Deutsche. Als Kopalin 1996 seinen Bericht vorlegte, hatten er und sein Büro seit 1993, also drei Jahre lang, die Dossiers geprüft. Von 6.000 in diesem Zeitraum überprüften Dossiers wurden nur 6 Prozent der Angeklagten (360 Personen) der ihnen vorgeworfenen Verbrechen für schuldig befunden. Das heißt, dass in Kopalins ersten drei Jahren als Oberst der Justiz und Leiter der Abteilung für die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung bei der Haupt-Militärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation 94 Prozent der nach dem Zweiten Weltkrieg vom NKWD verhafteten, angeklagten und bestraften Deutschen unter Verletzung des geltenden Rechts verurteilt worden waren. Solche Dossiers wie das von Lohmeyer sind prall gefüllt mit erzwungenen Geständnissen, Denunziationen, unbegründeten Anschuldigungen sowie gefälschten Tatvorwürfen und Beweisen.12 Diese erschütternden Zahlen können uns dazu verleiten, eine Sache in Kopalins Bericht aus den Augen zu verlieren. Es ist selten, dass Länder die an anderen Ländern und Völkern verübten Verbrechen eingestehen. Kopalins Rehabilitierungsstatistik zeigt jedoch, dass Russland sich in den 1990er-Jahren klar und öffentlich zu seiner Schuld in der Nachkriegszeit bekannt hat. Die Entlastung von Ernst Lohmeyer und Tausenden anderen unschuldigen Opfern, die während der fünfundsiebzig

11 Das vollständige Verfahrensprotokoll (russisches Original und deutsche Übersetzung) findet sich in GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 25. 12 Siehe Leonid P. Kopalins Rede im Halle Forum, 18. bis 20. Mai 1996. - Wiedergegeben in Hennig: Erfahrung aus den Diktaturen, 39–60.

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Jahre davor unmöglich war, wurde durch den Zusammenbruch des Sowjetkommunismus in Russland endlich erreicht – und mit dem Schwenk Russlands zurück in die Autokratie unter Wladimir Putin in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts erneut unmöglich gemacht. Nur in dem kleinen Zeitfenster, das Boris Jelzin in der letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts aufgestoßen hatte, war die Rehabilitation Lohmeyers durch Leonid Kopalin möglich. In seinem Rehabilitationsantrag brachte Kopalin die Entlastungsbeweise und Argumente vor, die in Lohmeyers Verhandlung nicht zugelassen waren. Lohmeyer, so Kopalin, habe die Landwirtschaft und Industrie Russlands nicht für das Dritte Reich ausgebeutet, sondern beides zur Unterstützung der russischen Bevölkerung genutzt. Er habe Zivilisten vor Verhaftungen, Deportationen und Bestrafungen geschützt, Erschießungen von Zivilpersonen weder angeordnet noch daran teilgenommen. Im Gegenteil, die Besatzung unter seiner Führung sei mild und human gewesen. Er habe dreihundert gefangenen kommunistischen und jüdischen Nichtkombattanten und einem kommunistischen Funktionär namens Lasutkin die Rückkehr nach Hause erlaubt. Kopalin fand keine Beweise für verbrecherische Taten im Kuban unter Lohmeyers Zuständigkeit; er beharrte darauf, dass Lohmeyer nicht für Kriegsverbrechen schuldig gesprochen werden könne, die vor und nach seinem Kommando im Kuban begangen worden waren. Lohmeyers Inhaftierung und der Prozess seien laut Kopalin ein lang sich hinziehender Verstoß gegen das Recht auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren gewesen. Kopalin schloss: An Erschießungen sowjetischer Bürger sowie an anderen Strafaktionen nahm er persönlich nie teil und erteilte niemals derartige Befehle oder Weisungen. Als Kommandant des Kreises Slawjansk im Zeitraum 27. August 1942–18. März 1943 (etwa ein halbes Jahr) bemühte er sich, die Folgen des Krieges für die gesamte Zivilbevölkerung zu mildern. […] Unter diesen Umständen muß man zu der Schlußfolgerung gelangen, daß Ernst Lohmeyer ohne ausreichende Gründe und nur aus politischen Motiven heraus verhaftet und verurteilt wurde. Deshalb gilt Ernst Lohmeyer gemäß Paragraph 3 des Gesetzes der Russischen Föderation ‚Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen‘ vom 18. Oktober 1991 vollständig rehabilitiert und alle seine Rechte wiederhergestellt (posthum).13

Die Entlastung ist unterzeichnet mit „L. P. Kopalin“ und datiert auf den 15. August 1996.

13 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 19.

Urteil

Urteil Kopalin stützte sein Urteil auf Beweise, nicht auf Anschuldigungen, was in Lohmeyers Fall zweifellos einen Freispruch nach sich ziehen musste. Der Prozess im Sommer 1946 diente einfach nur der Augenwischerei, der Ausgang stand bereits fest. Am 18. Juni 1946 hatte das Gericht Lohmeyer in allen Anklagepunkten für schuldig befunden. Der Name, der den Schuldspruch bestätigte, lautete „N. Iwanow“ – derselbe Iwanow, der Lohmeyer sechs Monate zuvor in dessen Haus verhaftet und ihn das ganze Frühjahr über verhörte hatte, stellte nun die endgültige Schuld des Angeklagten fest. Erinnern wir uns, dass den ganzen Sommer 1946 ein Bericht nach dem anderen über Lohmeyers unmittelbar bevorstehende Entlassung aus dem Gefängnis den Weg zu Melie gefunden hatte. Die Prozessakten belegen, dass es sich bei diesen Berichten nurmehr um Gerüchte handelte, um schwerwiegende Falschmeldungen. Iwanows Schuldspruch im Juni war nicht mit einer Strafzumessung verbunden. Auf Letztere musste Lohmeyer weitere zwei Monate in seiner Gefängniszelle warten. Am 28. August um 18 Uhr trat das gesamtrussische Militärtriumvirat, bestehend aus einem Major, einem Feldwebel und einem Stabsfeldwebel, zur Urteilsverkündigung zusammen. Zeugen waren nicht zugelassen. Zwei Stunden wurden Lohmeyer gewährt, um sich zu verteidigen. Mit den letzten Worten seiner Ausführungen fasste er sein Leben zusammen: Ich bin ein gläubiger Mensch und kann daher keine Greueltaten vollbringen. Als Professor bin ich in der ganzen Welt bekannt. Ich habe nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern wie Amerika, Belgien oder Schweden Vorträge gehalten. Ich bin Ehrenmitglied der theologischen Gesellschaft Amerikas. Ich habe viele Freunde unter Antifaschisten in der ganzen Welt. Ich könnte eine derartige Anzahl an Verbrechen nicht begehen. Ich bin unter dem Druck der Faschisten in die Armee eingetreten. Ich habe immer gesagt, daß Krieg ein Verbrechen ist.14

Um 20 Uhr zog sich das Tribunal für zwei Stunden zurück. Um 22 Uhr trat es wieder zusammen, und Major Jakovčenko verkündete das Urteil. Lohmeyer musste in seiner Zelle bleiben, wie vorher auch. Er wurde in allen Punkten schuldig gesprochen. Er habe an der „Errichtung der faschistischen Ordnung“ in Russland mitgewirkt, „außerdem hat Lomeyer [sic] um sich herum einen Kreis von Vaterlandsverrätern versammelt“ und sei der „Verbrechen der deutschen-faschistischen

14 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 25.

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Eroberer“15 schuldig. Es erging der Befehl, ihn zu erschießen und seine gesamte Habe einzuziehen. Berufung wurde nicht zugelassen. Um 22.30 Uhr ließ der Richter den Hammer fallen und beendete das Verfahren. Am nächsten Tag griff Lohmeyer zum letzten Mal nach dem Stift und schrieb ein Gnadengesuch an Josef Stalin. Seine Hand war fest, er brachte die Worte fehlerfrei zu Papier. Auf zweieinhalb Seiten nahm er nur zwei kleine Verbesserungen vor. „Ich bin Professor der evangelischen Theologie und ein treues Mitglied der christlichen Kirche“, begann er. Dann ließ er sein Engagement für Theologie und Wissenschaft an sich vorüberziehen, seine wissenschaftlichen Beiträge in Form von Büchern und Vorträgen, das Ansehen seiner Person sowie seine Kontakte zu Professoren in Schweden, Holland, Frankreich, Amerika, England und der Schweiz. Er bekräftigte seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus – und den hohen Preis, den er deshalb für seine Karriere zu zahlen hatte. Er hatte nicht aus freiem Willen in dem Krieg gekämpft – den hatte er von Anfang an für ein Verbrechen gehalten –, sondern weil er dazu gezwungen worden war. An dieser Stelle wechselte Lohmeyer unvermittelt den Tonfall und schwenkte von seinen Errungenschaften und seinem Ansehen um zu einem wesentlicheren Punkt – zu dem Problem, in einer Welt der Gewalt und des Chaos ein Mensch zu bleiben, der seine Moral nicht verliert. „Ich habe deshalb wo ich nur konnte, versucht, gerade in den besetzten Ländern die Grundsätze der Menschlichkeit hochzuhalten. […] Ich versichere nochmals, daß ich an keiner Erschießung von Sowjetbürgern je teilgenommen oder gar sie veranlaßt habe, ich habe im Gegenteil auch hier für die Sowjetbevölkerung die Leiden des Krieges zu mildern gesucht, und habe dabei keinen Unterschied zwischen Mitarbeitern der deutschen Wehrmacht und kommunistischen Sowjetbürgern gemacht.“16 Er schloss damit, dass er als Kommandeur mildere Strafen als gefordert verhängt habe, auch bei kleineren Verstößen. Mehr noch: Als der Krieg zu Ende war, sei er nicht in den Westen geflohen, sondern im russischen Sektor geblieben und habe bei der Leitung der Universität Greifswald den höchsten humanistischen Idealen entsprechend gehandelt. Und schließlich war da noch seine Familie. Ein Sohn sei im Krieg gefallen, der zweite schwer verwundet; seine sechzig Jahre alte Frau sei krank; seine junge Tochter sehne sich nach einer Ausbildung. „Daher bitte ich nochmals um Begnadigung.“17 Kein Selbstmitleid, keine hohlen Selbstrechtfertigungen, keine Erfindungen, keine Heldentaten. Es ist ein schlichtes Zeugnis dafür, was es heißt, in einer Welt, in der Moral und Menschlichkeit keine Rolle mehr spielen, ein moralischer Mensch zu bleiben. Lohmeyer blieb aufrecht, ein aufrechter Mensch, und er erhoffte sich 15 Die obigen Zitate stammen aus: Protokoll der Gerichtsverhandlung, 28. August 1946. - GStA PK, VI. HA NI, Lohmeyer, E., No. 25, p. 42. 16 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 25. 17 GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 25.

Erschießung

dasselbe von Josef Stalin. Der deutsche Ausdruck für „appeal of clemency“ ist Gnadengesuch18 , wörtlich: „appeal of grace“. Wir haben keine Kenntnis davon, dass Stalin jemals Gnade walten ließ. Und ob er in diesem Fall anders entschieden hätte, werden wir nie erfahren, denn der Brief, den Hans Coppi aus Russland mitbrachte, war nie ins Russische übersetzt worden. Stalin hat Lohmeyers Gnadengesuch nie gesehen.

Erschießung Ende August wurde Lohmeyer in die Todeszelle verlegt. Er war mit Manfred Schröder inhaftiert, der bei ihm blieb, bis er abgeholt wurde. Ihm verdanken wir den letzten Bericht über Lohmeyer. Am Donnerstag, 19. September 1946, betraten NKWD-Agenten die Gefängniszelle, fesselten Lohmeyer die Hände und führten ihn ab. Danach herrschte Schweigen, fast fünfzig Jahre lang. Bei meinen Nachforschungen zu Lohmeyers Tod wurde als Ort der Hinrichtung meist das nahe gelegene Hanshagen angegeben. Melie glaubte, ihr Mann sei außerhalb von Greifswald getötet worden, vielleicht in Hanshagen oder anderswo. Sie erklärte, dass der NKWD seine Opfer nicht in der Haftanstalt getötet habe, sondern an abgelegenen Orten außerhalb des Gefängnisses. Das ist nach wie vor Mehrheitsmeinung, und sie mag sogar richtig sein. Aus dem Bericht von Hans Tobis, dem jungen Mann, der seine Haft im NKWD-Gefängnis zur Zeit von Lohmeyers Inhaftierung überlebte, wissen wir, dass etwa dreiundzwanzig Gefangene im Strafjustizgebäude in Greifswald im Frühjahr 1946 hingerichtet wurden.19 Das würde auf einen Tötungsort außerhalb des Gefängnisses hindeuten. Aber ein solcher Ort, wenn es ihn denn je gab, müsste eigentlich bekannt sein. Exekutionen, insbesondere Massenhinrichtungen über mehrere Jahre hinweg, waren vor Dorfbewohnern, Bauern, Jägern, Schäfern und Einheimischen, die in der Region lebten und arbeiteten, kaum zu verbergen. Allerdings gibt es keine aus Massengräbern geborgenen Knochen. In der Umgebung von Greifswald wurde kein Hinrichtungsplatz ausfindig gemacht. Wegen fehlender Belege ist es schwierig zu entscheiden, ob es sich bei der Hanshagen-Hypothese um eine belastbare mündliche Überlieferung oder um ein unbegründetes Gerücht handelt. All dies kann die fragliche Hypothese nicht widerlegen, mahnt aber davor, sie als Tatsache zu akzeptieren. Ich tendiere zu der Annahme, dass Lohmeyer auf dem Parkplatz des Strafjustizgebäudes in der Domstraße 6/7 erschossen wurde. Der Suchdienst München,

18 Deutsch und kursiv im Original. 19 Siehe oben, Ende Kapitel 15.

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eine Abteilung des Deutschen Roten Kreuzes, die sich während der russischen Besetzung Ostdeutschlands mit verschwundenen Deutschen befasste, berichtet, dass „nie ein Sterbeort und nie die Todesursache mitgeteilt“20 wurden. Anders dagegen gelegentliche Berichte, er sei auf „dem Territorium der UdSSR verstorben“21 – womit Ostdeutschland gemeint sein könnte. In der frühesten Version der Anzeige des Todes von Lohmeyer, die durch das Russische Rote Kreuz erfolgte, ist der Sterbeort jedoch angegeben: „Lohmeyer, Ernst, geboren 1890 in Dorsten. Gestorben am 19. September 1946 im Lager.“22 „Im Lager“23 – wörtlich: in the camp – heißt: am Ort der Gefangenschaft. Auch das russische Verfahrensprotokoll verweist darauf, dass Lohmeyer „im Lager“ einsaß, womit offenbar das Strafjustizgebäude in der Domstraße 6/7 gemeint ist. Das Deutsche Rote Kreuz kam zu folgendem Schluss: „Nach Aussagen mehrerer Gewährspersonen wurde er [Ernst Lohmeyer] im Herbst 1946 im MWD-Gefängnis Greifswald erschossen.“24 Diese Einschätzung beruht auf „weit über 90 000 Blatt Papier mit Listen der Verstorbenen, Entlassenen etc“25 – NKWD-Akten über das Schicksal von Deutschen, die in russischen Lagern in Ostdeutschland inhaftiert waren.26 Eine solch breite Informationsbasis verdient ernsthafte Betrachtung. Der wichtigste Beweis stammt jedoch von den Russen selbst. Auf der achtundvierzigsten und letzten Seite des russischen Verfahrensprotokolls heißt es: „Das Urteil […] zum Tode durch Erschießen verurteilten Ernst Lohmeyer, geb. 1890 in Dorsten, wurde am 19. September 1946 in Greifswald vollstreckt.“ In seinen Erläuterungen zur Rehabilitierung Lohmeyers räumt Kopalin ein, aus dieser letzten Seite gehe hervor, dass die Russen Lohmeyer „in Greifswald“ ermordet haben, wenngleich nicht angegeben wird, wohin der Leichnam verbracht wurde. Das Gelände in der Domstraße 6/7 war relativ geschützt und für Hinrichtungen praktisch. Eine umlaufende Mauer verdeckte den inneren Zufahrtsweg und den Parkplatz vor den Blicken derer, die sich außerhalb des Geländes aufhielten. Das Dröhnen von Lkw-Motoren, das Manfred Schröder kurz nach der Abholung Lohmeyers aus der Gefängniszelle gehört hatte, dämpfte den Klang eines einzigen

20 Persönlicher Brief vom Deutschen Rotes Kreuz Suchdienst, Infanteriestraße 7a, München, datiert auf den 19. Januar 1994. 21 Persönlicher Brief vom Deutschen Rotes Kreuz Suchdienst, 19. Januar 1994. 22 Die Todesanzeige ist datiert auf den 6. Dezember 1957. - Die Richtigkeit der Übersetzung des russischen Originals (von Lea Beinroth) bezeugt das Exekutivkomitee der UdSSR der Allianz der Gesellschaften des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. 23 Deutsch und kursiv im Original. 24 Persönlicher Brief vom Deutschen Roten Kreuz Suchdienst, Infanteriestraße 7a, München, 10. Januar 1994. 25 Persönlicher Brief vom Deutschen Roten Kreuz Suchdienst, Infanteriestraße 7a, München, 10. Januar 1994. 26 Persönlicher Brief vom Deutschen Roten Kreuz Suchdienst, Infanteriestraße 7a, München, 10. Januar 1994.

Ehre

Pistolenschusses in den Kopf. Lohmeyers Leichnam wurde auf die Ladefläche des Lastwagens geworfen, aus der Stadt geschafft und vergraben. Nichts zu hören, nichts zu sehen, keine Spuren. Wie bei so vielen Mordopfern des NKWD sollte es sein, als ob er nie existierte27 , „as though he never existed.“ Und so war es auch – beinahe.

Ehre Bevor ich nach der posthumen Amtseinführung im September 1996 aus Greifswald abreiste, kehrte ich zu einem letzten Besuch in die Universität zurück. Der barocke Festsaal lag leer und still. Seine zinnoberroten Wände und die weißen Säulen leuchteten in der fahlen Nachmittagssonne. Vorne im Saal befanden sich die Gedenktafel und die Lohmeyer-Fotografie von der Feier am Abend zuvor. Die Büste war noch nicht wieder an ihren Platz im Rektoratsbüro zurückgekehrt, sie stand auf dem schwarzen August-Förster-Flügel. Rechts neben dem Klavier befand sich der leere Stuhl des Rektors. Still nahm ich Platz. Meine Zufallsbegegnung mit diesem Mann zwanzig Jahre zuvor hatte ihren Abschluss gefunden. Ein halbes Jahrhundert lang hatte sein Schicksal im Dunkel gelegen, doch nun war das Rätsel seines „mysteriösen Verschwindens und Todes“, wie es bei Gerhard Saß geheißen hatte, gelöst – zumindest soweit, wie wir mit unseren menschlichen Möglichkeiten solche Rätsel auflösen können. Lohmeyer schien mich von seinem Bild aus anzuschauen. Es war ein unbeschreiblicher Moment. Ein liturgisches Grundelement in Lohmeyers geistlichem Leben waren die täglichen Bibellesungen der Herrnhuter Brüdergemeinde in Deutschland. Die Lesung für den 19. September 1946, seinen Todestag, war Markus 7,37: „Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, daß alle Tauben hören und die Stummen sprechen.“ Lohmeyer fand diese Worte besonders gehaltvoll und aussagekräftig. In seinem Markuskommentar schreibt er zu Vers 37, dass in Jesus zu eschatologischer Vollendung kommt, was in einer langen dunklen Geschichte der Gottesgemeinde vom ersten Anfang an angelegt war. Hier ist Erfüllung at.licher eschatologischer Prophetie geschehen.“28 „[Jesus] hat alles gut gemacht.“ Lohmeyers Tod war die Einlösung der gleichen Hoffnung. Auf dem Rückflug in die USA las ich noch einmal die fünfzig Seiten des russischen Verfahrensprotokolls. Selbst wenn man die Inszenierung des Verfahrens berücksichtigt und unterstellt, dass das Urteil wohl schon im Vorhinein feststand, erschüttert diese Lektüre. Wie es

27 Deutsch und kursiv im Original. 28 Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, 151.

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für Lohmeyer war, alles allein zu ertragen, können wir uns nur vorstellen. Oder vielleicht können wir es uns auch gerade nicht vorstellen. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr nach Hause erhielt ich einen Anruf aus Deutschland. Gudrun war am Apparat. Genau wie ihr Vater bevorzugte Gudrun die Kommunikation mit Papier und Stift (obwohl sie ihre Briefe gnädigerweise auf der Schreibmaschine tippte). Noch nie hatte ich einen Anruf von ihr erhalten. Sie dankte mir für meinen Einsatz bei der Rehabilitierung ihres Vaters. Wieder einmal war ich bewegt von der Sanftmut dieser Frau, von ihrer Besonnenheit und ihrer Aufrichtigkeit, ihrem Einverständnis mit mir – einem Außenstehenden in einer Angelegenheit, die mich unweigerlich in das von Außenstehenden so zerstückelte Leben ihrer Familie hineingezogen hatte. Ich dankte ihr für ihre Freundlichkeit. „Ich wünschte nur, es hätte ihn ins Leben zurückgebracht“, sagte ich. „Ach“, meinte sie milde, „darum ist es doch nie gegangen. Mein Vater wäre sowieso schon längst gestorben. Wir alle müssen sterben. Das ist nicht tragisch. Tragisch es ist, unehrenhaft zu sterben. Du hast geholfen, seine Ehre wiederherzustellen.“

Kapitel 17. Der letzte Brief

„Die Schule des Lebens hat einige schwierige Klassen. Aber man lernt in diesen Klassen am meisten. Am schwersten war es für mich, als mich die vier Wände meiner Zelle umgaben, einer Zelle sechs Schritte lang, zwei Schritte breit, mit einer Tür, die nur von außen zu öffnen war. Nachher waren es vier elektrisch geladene Stacheldrahtzäune und ein Tor, das Männer mit Maschinenpistolen bewachten.“1 Corrie ten Boom, 1969

Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Im Jahr 2016 lud mich die Universität Greifswald ein, im Rahmen eines Symposiums zum siebzigsten Todestag Ernst Lohmeyers einen Vortrag zu halten. Das Thema des von der theologischen Fakultät ausgerichteten Symposiums lautete „Hoffnungsvoller Anfang, gewaltsames Ende“. Ein halbes Dutzend weitere Wissenschaftler aus Deutschland, Italien und England waren ebenfalls zu Vorträgen angereist. Die Veranstaltung ließ das Licht des Gedenkens an Lohmeyer leuchten und widmete sich seiner anhaltenden Bedeutung als Theologe. Ich sprach zu Lohmeyers Verständnis des Martyriums; das Subjekt hatte in dreien der Werke, die er als Professor in Breslau in den späten 1920er-Jahren verfasst hatte, eine herausragende Rolle gespielt. Ich schloss mit Versen aus Philipper 3,10, die für Lohmeyers Auffassung vom christlichen Leben wesentlich waren. „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen.“ Nach dem Vortrag fuhren meine Frau und ich nach Berlin, wo ich die Recherchen über Lohmeyer für dieses Buch fortsetzte. Im schönen Dahlem mieteten wir uns für drei Monate in ein einladendes Loft in der zweiten Etage ein. Jeden Morgen spazierte ich fünfundzwanzig Minuten an baumgesäumten Straßen und beeindruckenden Villen entlang zu dem Archiv, in dem ich recherchierte. Auf dem Weg dorthin kam ich an dem Haus vorbei, in dem Albert Einstein gelebt hatte, bis er 1933 nach Amerika emigrierte. Drei Straßen weiter passierte ich das ehemalige Kaiser-Wilhelm-Institut mit seinem markantem Rundturm und dem schwarzem

1 Corrie ten Boom: In ihm Geborgen. Meine Lebensgeschichte. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag, 1969, 5.

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Der letzte Brief

Schieferdach, das mit einer auffälligen, an einen germanischen Helm erinnernden Spitze gekrönt war. In diesem Gebäude führte Einstein seine physikalischen Experimente durch, hier spalteten Otto Hahn, Fritz Straßmann, Lise Meitner und Max Delbrück 1938 erstmals das Atom. Noch weiter ging es an der Jesus-ChristusKirche vorbei; hier gründete Pastor Martin Niemöller 1933 den Pfarrernotbund, aus dem ein Jahr später in die Bekennende Kirche hervorgehen sollte. In der Nähe des Archivs lag das weitläufige Gebäude der Freien Universität, die in den 1950er-Jahren mit großer finanzieller Unterstützung der Ford Foundation und dem Marshallplan in Amerika gegründet wurde. Mit der Freien Universität sollte in Berlin eine Universität geschaffen werden, die, anders als die Humboldt Universität in Ostberlin, nicht kommunistisch kontrolliert war. Mein Spaziergang führte mich zum Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einem stattlichen zweistöckigen Gebäude im Neobarock mit zwei symmetrischen Flügeln, die die Besucher würdig willkommen hießen. Im Jahr 2000 vermachten Gudrun und Klaus Otto die von Melie geerbten, zunächst noch bei ihnen verbliebenen Briefe und den Nachlass Lohmeyers dem Geheimen Staatsarchiv. Dort lagerten schon etwa fünfzehn Kartons mit LohmeyerMaterialien, jeder Karton ungefähr so groß wie ein kleiner Koffer. Mit dem Legat von Gudrun und Klaus wuchs der Bestand auf fünfunddreißig Kartons an, zur vollständigsten Sammlung an Lohmeyer-Materialien. Im Vorfeld meiner Recherche hatte ich mich an die stellvertretende Archivleitung Frau Dr. Schnelling-Reinicke gewandt. Frau Dr. Schnelling-Reinicke überließ mir die Materialien aller fünfunddreißig Kartons zur Nutzung, nummeriert und nacheinander auf zwei Rollwagen im Akquisitionsraum gestapelt. Zudem hatte sie persönlich ein siebenundvierzigseitiges Verzeichnis der enthaltenen Materialien angefertigt. Diese Katalogisierung, die mir bei meinen Nachforschungen eine unschätzbare Hilfe war, glich einer Herkulesaufgabe. Der geräumige Lesesaal im ersten Stock war für wissenschaftliches Arbeiten optimal eingerichtet: bequeme Arbeitsstühle, schöne Schreibtische und gute Beleuchtung in einem klassischen Lesesaal mit großen Fenstern zum Innenhof, dazu Bücherregale, die mit lateinischen Sprüchen und Marmorbüsten verziert waren. Alles, was ablenken konnte, war untersagt – Gespräche unter Studenten, Telefonate oder Fotografieren mit dem Smartphone, WiFi für E-Mails, Rucksäcke und das Mitbringen privater Materialien. Kopierdienste gab es in nur minimalem Umfang. Notebooks waren natürlich erlaubt. Organisatorisch und konzeptionell bot das Archiv den bestmöglichen Zugang zu den Originalquellen, während die unersetzlichen Materialien umgekehrt vor Diebstahl, Missbrauch und Verfall geschützt wurden. In den drei Monaten, die ich dort verbrachte, konnte ich für dieses Buch mehr recherchieren und schreiben, als es mir bei vergleichbaren Projekten in meinem Leben jemals möglich war.

Akte 146

Akte 146 Mein erster Tag im Archiv war der 28. Oktober 2016, mein Geburtstag. Der Lesesaal war voll mit Wissenschaftlern, gebeugt über alte, handgeschriebene Dokumente mit verblasster Farbe, die den schwachen und verlockenden Geruch von Altertümlichkeit verströmten. Ich blätterte das wichtige Verzeichnis von Dr. Schnelling-Reinicke durch. Am Ende des Katalogs fiel mein Blick auf Akte 146, es handelte sich um einen Brief von Ernst an Melie, datiert auf den 31. März bis 4. April 1946. Sechs Wochen waren seit seiner Verhaftung Mitte Februar 1946 vergangen, und Lohmeyer schrieb Melie auf Seidenpackpapier, das sie irgendwie zu ihm ins Gefängnis hatte schmuggeln können. Einen Ausschnitt daraus hatte ich schon öfter gelesen, aber nicht den Brief ganzer Länge. Die Akte enthielt einen 12,5 x 15,2 cm großen Umschlag, umrandet von einer Patina, die sich in den vergangenen siebzig Jahren gebildet hatte. „Letzter Brief von Ernst! Daß er nicht verlorengeht“, hatte Melie auf dem Umschlag notiert. Oben auf dem Umschlag war ein Kreuz gezeichnet, nicht mit zwei Strichen, einer senkrecht und einer waagerecht, sondern gestrichelt mit wiederholten waagerechten und senkrechten Strichen, den Stift fest gegen den Umschlag gedrückt, sodass ein dunkel eingraviertes Kreuz entstanden war. Im Innern des ersten Umschlags befand sich ein zweiter, darauf die schlichten Worte: „Letzter Brief.“ Dieser zweite Umschlag enthielt wiederum zwei gefaltete Briefe. Der größere war in Melies runder, aufrechter Handschrift verfasst. In ihrem Brief lag zusammengefaltet ein zweiter Brief, geschrieben mit Bleistift in Lohmeyers schmaler Handschrift auf dem dünnen Packpapier, das Melie ins Gefängnis geschmuggelt hatte. Dieser Brief war acht Seiten lang, die Schrift so winzig und so haargenau zwischen die Ränder des Papiers gequetscht, dass Melie das Schreiben um seiner Lesbarkeit willen transkribieren musste. Lohmeyer hatte seinen ursprünglichen Brief quadratisch auf fünf Zentimeter gefaltet und zusammengepresst, sodass er kaum dicker war als ein paar Streichhölzer, klein genug, um in der Sohle eines Stiefels aus dem Gefängnis geschmuggelt zu werden, in einem aufgekrempelten Ärmel oder in einer Hutkrempe. Ein vage Andeutung im Brief gab zu verstehen, dass er einen Aufseher gebeten hatte, das Schreiben aus dem Gefängnis zu schleusen und Melie zu übergeben. Die beiden handgeschriebenen Papiere waren daher gleichen Inhalts – es handelte sich um Ernsts ursprünglichen Brief aus dem Gefängnis und um Melies größere, besser lesbare Abschrift. Irgendwann hatte Melie das Schreiben in ein doppelseitiges maschinenschriftliches Typoskript transferiert, dreizehn Seiten, die ebenfalls in Akte 146 enthalten waren. Während seiner siebenmonatigen Haft in Greifswald war es Lohmeyer nur ein einziges Mal gelungen, eine schriftliche Mitteilung an Melie nach draußen zu schaffen. Das war alles.

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Der letzte Brief

Das Geschehen Der Brief war überschrieben mit „Zelle 19“, mit einem Datum, „Zelle 19, begonnen am 31.3.“; er enthielt einen Nachtrag, datiert auf den 4. April. Die Niederschrift des Briefes kostete Lohmeyer fünf Tage. Den ersten Teil mit der Schilderung der Haftbedingungen hatte ich schon oft gelesen.2 Aber er hatte nicht geschrieben, weil er Melie über die Zustände im Gefängnis berichten wollte und wie es ihm ergangen war; das mochte zwar wichtig sein, blieb in der Typoskript-Version aber auf vier Seiten beschränkt. Also noch neun Seiten. Auf Seite 5 fing er an zu erzählen, was ihm wirklich auf der Seele brannte. „Gott sei Dank … wenn ich frei komme“, fügte er eindringlich hinzu, denn was er sagen wollte, war nicht mehr gesteuert von der Hoffnung auf Entlassung – „wenn ich entlassen werde“. Ja, mein Liebes, es ist wohl etwas mit mir und in mir geschehen, ein Ruck, der mich von vielem frei gemacht, ein Windstoß, der mich auf einen anderen Boden versetzt hat, und an diesem Geschehen habe ich noch immer zu arbeiten. In der Nacht, da ich verhaftet wurde, kamst Du einmal mit leichtem, schwingendem Schritt auf mich zu – es war in meinem Zimmer in Gegenwart des Dolmetschers – und küßtest mich warm und fest auf den Mund – da war es wie ein plötzliches Erkennen von Dingen, die ich bisher nicht gesehen hatte, und mir waren fast die Augen übergegangen. Und als dann Püppi hinzukam, von einem dunklen Fühlen getrieben – oder was war es?! – da wurde mir vollends fast leicht ums Herz: die Einheit der Herzen war da, sie war wieder gefunden, und es war alles offen und nichts mehr zu verschließen. So, so sollte es kommen, so mußte es geschehen und in dem allen war Gottes Finger deutlich zu merken.3

Lohmeyer hat das Erlebte nicht genauer geschildert, nicht als Traum oder Vision oder Heimsuchung ausgegeben, sondern lediglich als Geschehen.4 Es war nichts, was er gedacht oder empfunden hatte, nichts, was er sich ausgemalt oder eingebildet hatte, sondern es war geschehen. Er schilderte nur, dass es ihm in der Nacht seiner Festnahme zugestoßen war. Es ist durchaus möglich, dass Lohmeyer selbst nicht ganz begriffen hatte, was genau ihm widerfahren war und wann und wo, denn weitere Einzelheiten verschweigt er. Aber daran, dass sich etwas Tiefgreifendes ereignet hatte, lässt er keinen Zweifel. Sein deutscher Bericht von 160 Wörtern hat Stream-of-Consciousness-Qualitäten – lose aneinandergefügte Sätze mit Bindestrichen, Semikola und Fragezeichen, lediglich drei Mal ein Punkt am Satzende. Für

2 Siehe oben, Kapitel 15, Abschnitt „Brief aus Zelle 19“, 275. 3 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis der GPU in Greifswald. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 146, p. 5. 4 Hier und nachfolgend: Deutsch und kursiv im Original.

Selbst

Lohmeyer war das Verfahren vollkommen ungewöhnlich, ähnelt aber Abschnitten in Augustinus’ Bekenntnissen, noch stärker dem Erlebnis des Paulus auf dem Weg nach Damaskus und am stärksten Blaise Pascals überwältigender Gottesbegegnung im Medium des Feuers! Es weist Merkmale eines Einbruchs des Göttlichen auf, in dem die Koordinaten von Zeit, Raum und Sprache sich verwandeln. Lohmeyer schrieb weiter, nun aber in der für ihn typischen Diktion. In den ersten Tagen und Wochen seines Gefängnisaufenthalts hatte er Rückschau auf sein Leben gehalten – und gezittert angesichts dessen, was er erkannt hatte. Er hatte sich in seiner Arbeit verheddert, in diesem ihn umschlingenden Geflecht aus Wurzeln und Ranken, und es war ihm nicht gelungen, sich daraus zu befreien. Es ging um die gleiche Arbeit, die er in seiner Ordinationspredigt von 1912 als göttliche Berufung gefeiert hatte, aber irgendwie hatte die Arbeit diese Berufung usurpiert und war zu seinem einzigen Lebensinhalt mutiert. Doch auch Trost und Frieden waren in dieser verstörenden Selbstinventur zu entdecken. Das Pendel seines Lebens war zwischen dem Gespenst des Todes und der Hoffnung auf Leben hin und her geschwungen. An keinem der beiden Pole war es stehen geblieben, weder an dem, was ihm widerfahren war, noch bei seinen Versäumnissen. Erst an einem anderen, festeren Ort kam es zur Ruhe – bei dem, wer er war. Im weiteren Verlauf des Briefes ließ Lohmeyer Melie an seinen Erkenntnissen über sich selbst teilhaben, schrieb ehrlich und verletzlich, vor allem aber hoffnungsvoll.

Selbst „Nun will mir scheinen, daß ich seit mehr als 20 Jahren einen falschen Weg eingeschlagen habe“, begann er.5 Dieser Irrweg hatte sich, anders als bei vielen Menschen üblich, nicht über eine lange Zeitspanne entwickelt, überdeckt von Verpflichtungen, beruflichem Druck und der Familie. Es hatte mit einer Entscheidung im Sommer 1925 angefangen, an die er sich noch deutlich erinnern konnte. Melie hatte ein weiteres Kind gewollt, später kam Gudrun zur Welt, seine ihm nahe und geliebte Tochter. Ernst hatte Melies Wunsch nur zögerlich zugestimmt: „Damals, als ich Deinem Wunsche nach noch einem Kinde nachgab, beschloß ich, mich ganz meiner Arbeit hinzugeben.“6 Trotz seines späteren Bedauerns konnte er für seine Entscheidung zunächst gute Gründe vorbringen. Er war ein begnadeter Denker, der glaubte, von Gott zur wissenschaftlichen Arbeit berufen zu sein. Seine akademische Karriere hatte kräftig Wurzeln geschlagen und wuchs von Jahr zu Jahr. Weitere Faktoren kamen ins Spiel, darunter die Freundschaft zu Hönigswald mit

5 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 5. 6 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 6.

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ihren starken Einflüssen. „… vielleicht auch verlockt von dem verführerischen und imponierenden Beispiel Hönigswalds“, räumte er ein.7 Die Entscheidung, seine Arbeit mit solcher Entschlossenheit fortzusetzen, war natürlich nicht neu und an sich auch nicht falsch, wie Lohmeyer selbst feststellte. Der Irrtum habe vielmehr darin bestanden, seine Arbeit so zu gestalten, „… daß es so ausschließlich geschah und damit alle Dinge unserer Liebe in die zweite Linie rückte, das war das Grundverkehrte.“8 Ihre Liebe, die Lohmeyers wissenschaftliche Arbeit bis dahin so bereichert hatte, wurde schlicht zu einem unter vielen Faktoren in seinem Leben degradiert. Der Erfolgsdruck schürte Lohmeyers Egoismus und blies ihn über alle Maßen auf: „Ich wollte wohl auch dann ‚mein Ich‘ auslöschen und die Dinge reden lassen.“9 Doch je größer der Erfolg wurde, besonders in theologischer Hinsicht und in göttlichen Angelegenheiten, desto fester glaubte er daran, den richtigen Kurs eingeschlagen zu haben. Der Absturz vom Gipfel seines Erfolgs in Breslau als Rektor und als Professor samt Versetzung an die weniger prestigeträchtige Universität Greifswald hätte der Weckruf sein können, der ihm seinen Irrweg vor Augen führte. Aber noch etwas war geschehen, Schlimmeres: Seine Selbstsucht machte sich immer stärker bemerkbar. Es fällt uns sicherlich nicht schwer zu verstehen, woran das lag: Die Kräfte, die in Breslau so skrupellos gegen ihn agiert hatten, hatten ihm eine Lektion erteilt, nämlich auf nichts anderes zu bauen und sich auf niemand anders zu verlassen als ganz allein auf sich selbst: „Es hat mich auf meine eigentliche Arbeit zurückgeworfen und die habe ich mit einer steinernen Erbitterung getrieben.“10 Es ging nicht nur darum, dass Arbeit nun an erster Stelle in seinem Leben stand; vielmehr entwickelte sie sich zum praktisch einzigen Lebensinhalt und trennte ihn von anderen Dingen und Menschen ab, auch von Melie. Der Krieg mit all seinen Gräueln hatte auf seltsame Weise die Beschäftigung Lohmeyers mit sich selbst verstärkt, denn die Anerkennung, die ihm als Wehrmachtsoffizier gezollt wurde, und seine Befehlsgewalt halfen ihm, die Ehre wiederherzustellen, die ihm in Breslau zu Unrecht genommen worden war. Lohmeyer nutzte seine militärische Autorität, um die Kriegslasten für andere zu lindern, aber sogar in diesem Gutwill steckte noch, wie er eingestand, die „Sucht nach Erfüllung meines Lebens, meiner Bedürfnisse.“11 Und weiter: „[Ich] glaubte auch immer, aus eigenen Kräften alles leisten zu können, und achtete das nicht, daß uns das Letzte und das Beste geschenkt werden soll und muß – es war herz- und lieblos, und Du hast das immer gespürt, und ich selbst wußte und sah es nicht mit dem 7 8 9 10 11

Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 6. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 6. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 6. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 7. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 7.

Selbst

ehrlichsten Willen.“12 Das Wunder von Melies warmem, liebevollem Kuss erinnerte Lohmeyer daran, dass ihm das, was Gott ihm im Leben gewährte, mit und durch Melie zuteilwurde. „Ich sah […] wie sehr diese geschenkte Erfüllung meines Lebens an der gleichen Erfüllung Deines Lebens hing, wie beides nicht mehr geschieden, sondern wie aus doppelter Wurzel zu dem einen Baume unseres Lebens verwachsen war oder doch verwachsen sollte.“13 Aber, fuhr er fort, und wieder erinnert die Passage stark an die Bekenntnisse des Augustinus, das „Leben drang nicht in die Liebe und die Liebe zu wenig in das Leben; so blieb auch das Herz nicht erfüllt und war für viele Träume und manche Realitäten offen.“14 Dass auch Melie erschöpft und ausgelaugt war, vielleicht in gleichem Maße wie er, sah er nicht – oder die Versunkenheit in seine Arbeit ließ nicht zu, dass er es sah. Der Krieg kam, und ihr voneinander getrenntes Leben, das sie bis dahin doch in einem gemeinsamen Raum und unter gemeinsamen Umstände geführt hatten, wurde auseinandergerissen und spielte sich fortan in jeweils ganz anderen Räumen unter jeweils ganz anderen Umständen ab. Lohmeyer wurde in eine Welt voller Gewalt gestoßen, und was sich in dieser Welt abspielte, hat Melie später sehr treffend wiedergegeben. Ihre Worte waren an Hartmut und Gudrun gerichtet, sie nannte Ernst „euer Väterchen“: Väterchen hatte damals in dieser Hölle eine Freundin gewonnen, seine Dolmetscherin. Eine ältere Frau mit 14-jährigem Sohn und einem alten Mann, für die Väterchen so weit sorgte, als es ihm möglich war. Die Frau hing ihr ganzes Herz an Väterchen, ließ Mann und Sohn alleine in den Westen fahren und blieb bei ihm, um, wie Väterchen später sagte, mit ihm unterzugehen. So war damals die Situation. Er fuhr dann mit X zusammen zurück und setzte sie vor Lodz ab, wo X hoffte, bei früheren Bekannten unterzukommen. Es war wahrscheinlich ein schwerer Abschied. Gemeinschaft in einer Hölle verbindet.15

Dass Ernst Melie schon vor seinem letzten Brief von seinem „Irrweg“ erzählt hatte, erschließt sich aus der Art und Weise, wie er sich darauf bezieht, und auch aus Melies obiger Schilderung, die vollständiger ist als die von Ernst in dessen letztem Brief. Ich möchte hinzufügen, dass aus Melies Worten auch größeres Verständnis spricht als aus Ernsts Selbstbekenntnis. Bei ihm heißt es: „Aber daß solche Geschehnisse und Erlebnisse möglich waren, das zeigt genug, wie fern das alles von der Gemeinsamkeit unseres Lebens stand, wie es ihm widersprach und nur noch – und wie dürftig! – 12 13 14 15

Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 7–8. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 8. Ernst Lohmeyer; Brief aus dem Gefängnis, 8. Melie Lohmeyer: Väterchens Ende. - GStA PK, VI. HA, NI, Lohmeyer, E., No. 147, pp. 2–3. - Ich habe den Namen der Frau unkenntlich gemacht und sie im Zitat von Melie sowie in meiner englischen Übersetzung als X bezeichnet.

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mein armes Ich bestätigte. Ich will es noch einmal sagen, mein Liebstes: verzeih mir diesen Frevel an Deinem Herzen, den ich gesehen und doch nicht gesehen, gespürt und doch nicht erkannt habe, verzeih mir dies alles, um der Liebe willen, die Du zu mir hast und die ich trotz allem zu Dir habe.“16 Lohmeyers Beziehung zu seiner Dolmetscherin entblößte seine Leere vor Gott; sie führte, in seinen Worten, zum „inneren Zusammenbruch“.17 Der Zusammenbruch war so ernst, dass er sich veranlasst sah, zu Melie zurückzukehren und bis dahin als Form der Sühne sexuell enthaltsam zu bleiben. Doch das Geschehen bei seiner Verhaftung hatte Lohmeyer zu der Erkenntnis gebracht, oder besser: gezwungen, dass sein „letzter und tiefster Mangel meines Lebens“18 sich nicht gegen menschliche, sondern gegen göttliche Liebe richtete. Ganz besonders für Lohmeyer galt, dass die Missachtung göttlicher Liebe mit der Missachtung menschlicher Liebe zu Melie so eng verwoben war, dass beides kaum getrennt werden konnte. „Ich habe in diesen langen Jahren oft nach Gott gefragt, aber es war eine Frage neben anderen, nicht die eine und einzige; ich habe auch bisweilen geglaubt, ihm nahe zu sein, aber ich habe ihn nicht gefühlt und gefunden. Wie sollte ich’s auch? Ich habe ihn an vielen Orten gesucht und zu finden geglaubt, wo er nicht war, und an dem einzigen Ort, wo er für mich vorhanden war und vorhanden sein sollte, daß ich ihn hätte greifen können, da habe ich ihn nicht mehr gefunden, in unserer Liebe.“19

Der Finger Gottes Das Geschehen, das ihn erlöste, ereignete sich an dem Punkt einer unwiderruflichen Trennung ohne die geringste Möglichkeit, einander zu berühren, und praktisch ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen. Um dieses Geschehen ging es am Ende des Briefes: Und so wären wir wohl geschieden geblieben, wäre nicht diese Haft und dieser warme Kuß – und beides gehört zusammen, und ich kann es nicht trennen – geschehen. Gott hat leise mit dem Finger gewinkt, und schon barsten die Mauern und sprudelten die verschütteten Quellen. Ich ging von Dir und Püppi ganz leicht und wie befreit fort; diese Haft konnte die wiedergeschenkte Gemeinschaft der Herzen nicht mehr rauben. Und hier, in diesen langen Tagen und Nächten ist mir dann aufgegangen, wie haargenau und richtig, wie gnädig und weise dieses Gottesurteil ist – ein Urteil, das ebenso Gericht wie Geschenk

16 17 18 19

Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 9. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 10. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 9. Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 9–10.

Der Finger Gottes

ist. Er riß mich aus allen Bindungen, die mir bisher Gefahr und Schaden gewesen waren, aus allen Geschäften und aller Arbeit und stellte mich ganz allein dem Nichtstun, das heißt: mir selbst Gegenüber. Er zerschnitt all das künstliche Geflecht, in das ich mein Irren und Fehlen gehüllt hatte, und hüllte mich doch zugleich in den Mantel Deiner und seiner Liebe. Er nahm mir, der ich bisher alles aus eigenen Kräften hatte leisten wollen, die Freiheit und nötigte mich, mich dem Gebot, auch dem unsinnigen und unverstandenen, zu beugen. Er machte mich zu einem Gebundenen, um mich an sich und Dich zu binden, und schenkte mir darin die innere Freiheit, von aller toten Last meines Lebens. Und er tat das alles, so daß ich nach außen der unschuldig Leidende, der Märtyrer einer guten Sache bin, und nur er und Du wissen, daß er mich darin wahrhaft gerichtet, wahrhaft getröstet hat. Nun bin ich ein Häftling und habe darin alles, was ich suchte. […] Ich bin doch in alledem frei und innerlich gewiß, nicht mehr durch mich, sondern durch das Band der Einheit, das mich mit Gott und Dir verbindet.20

Hier bestätigte Lohmeyer das Offensichtliche: Weder war er apotheotisiert noch in einen Zustand transzendentaler Immunität eingetreten, sondern wie immer hinund hergerissen zwischen Zweifel und Zuversicht, Klage und Trost, Angst und Frieden. Das Bach-Lamento, das Melie oft gesungen hatte, fiel ihm ein: „Ach, daß ich Wassers genug hätte, zu beweinen meine Sünden, daß meine Augen Tränenbäche wären.“21 Jetzt begriff Lohmeyer das Lamento so tief wie nie zuvor. Allerdings warnte er Melie, sich allzu großer Hoffnung hinzugeben, dass sie mit ihren Bemühungen seine Freilassung erwirken könne: „Die Menschen sind Sand, auf die man nicht bauen kann.“22 Er stellte eine Frage, die ich so ergreifend finde, dass sie mir fast schon vorkommt wie ein Gebet: „Hätte mir Gott dies alles nur geschenkt, um es hinter Gefängnismauern zu vergraben?“23 War das Geschehen, was auch immer sich dahinter verbarg, nicht der Vorbote der Wiedervereinigung ihrer Familie? Hatte Gott nicht Melie zu ihm geschickt, damit Gott ihn zu Melie schicken konnte? Diese Fragen … diese Fragen waren alles, was im Leben zählte. Und zusammen mit diesen Fragen das kostbare Wort der Heiligen Schrift: „Nur in Umkehr und Ruhe liegt eure Rettung, nur Stille und Vertrauen verleihen euch Kraft.“ (Jes 30,15) Sein letzter Satz erinnerte an die beinahe wundersame, doch auch schmerzhafte Heimkehr von der Ostfront, als Melie und er endlich wieder vereint waren, sie ihn

20 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 9–10. 21 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 12. - Das „Lamento“ stammt nicht von Johann Sebastian Bach, sondern von seinem Großonkel Johann Christoph Bach, komponiert aus Jer 9,1, Ps 38,5 und Passagen aus den Klageliedern. Ich danke Frau Dr. Julia Otto und Herrn Stefan Rettner, den Enkelkindern von Ernst und Melie Lohmeyer, für einen Brief vom 19. Oktober 2017 mit dem Hinweis auf Johann Christoph Bach (1652–1703) und die Urheberschaft des „Lamento“. 22 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 12. 23 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 12.

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aber nicht in die Arme geschlossen hatte: „Ach, mein Herz, wenn Du mich nur lieb behalten willst, wenn ich Deiner Liebe gewiß sein kann? Ist es denn noch möglich, daß Du mich in die Arme schließen willst!“24 Es ist unmöglich zu entscheiden, ob das letzte Satzzeichen in Lohmeyers handschriftlichem Originalbrief ein Fragezeichen oder ein Ausrufezeichen ist. Die Interpunktion im Typoskript stammt von Melies Hand, und dort steht eindeutig ein Ausrufezeichen – Melie erfüllt ganz klar seine Hoffnung!

All dies nur, um es hinter Gefängnismauern zu vergraben? Dass wir Biografien lesen und schreiben, hat mit einem historischen Magnetismus zu tun, den eine Person auf uns ausübt. Doch nicht alle Eigenschaften der Person sind für uns gleichermaßen attraktiv. Manches empfinden wir als regelrecht abstoßend, wie wenn die gleichen Pole zweier Magneten eng aneinandergehalten werden. Solche Abstoßungen sind nicht zu vermeiden. Biografien handeln vom Leben, und im Leben vermischt sich stets das Edle mit dem Gewöhnlichen und Schändlichen. Wenn wir so aufrichtig wären wie Lohmeyer, müssten wir uns auch und sogar ganz besonders in einer Autobiografie den klaffenden Gegensätzen stellen, die in uns stecken und die Lohmeyer über sich selbst preisgibt. Wichtiger als die Verfehlungen, die Lohmeyer in seinem letzten Brief eingestanden hat, war für mich die Art und Weise, mit ihnen umzugehen. Ich vermute, dass die meisten von uns zu gewissen Zugeständnissen bereit wären, jedenfalls bei einem Mann, der in Breslau den Nationalsozialismus, in Greifswald den Kommunismus und ganz besonders die Zustände an der Ostfront hatte aushalten müssen. Im letzten Brief bittet Lohmeyer nicht um Zugeständnisse. Keine Lügen, keine Dementis, keine Entschuldigungen oder Bitten um Mitleid, keine Ablehnung oder Versuche von „Schadenbegrenzung“ wurden vorgebracht, nichts, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Der Weg war nicht einfach, aber nie berief er sich auf Schwierigkeiten als Ausrede für seine Verfehlungen. Er bedauerte sie, er bedauerte die Folgen, und er versuchte, sie auf die einzig mögliche Weise zu bewältigen, die für einen Mann mit Moral, Charakter und christlichem Glauben möglich ist: durch Bekenntnis. Er bat um Vergebung und bemühte sich um Wiedergutmachung. Das nennt man Charakter. Es war der Charakter, den ich immer in Lohmeyer gesehen hatte, aber jetzt, am Ende meiner Nachforschungen, erblickte ich in seinem letzten Brief den wahrhaftigsten Ausdruck dieses Charakters. Lohmeyer hat nie danach gestrebt oder erwartet oder sich angemaßt, ein Held zu sein. Ob er ein Held war oder nicht, bleibt der Entscheidung des Lesers überlassen. Wonach er strebte, war,

24 Ernst Lohmeyer: Brief aus dem Gefängnis, 13.

All dies nur, um es hinter Gefängnismauern zu vergraben?

ein Mann des Glaubens und des Charakters zu sein. Die Beichte machte es ihm möglich, ein Mann des Glaubens und des Charakters zu bleiben, ja sogar zu einem Mann zu werden, der in beidem wuchs. Für mich persönlich war Lohmeyers Brief aus Zelle 19 nicht einfach sein letzter Brief. Es war sein ultimativer Brief. Beim Schreiben dieser Biografie kam ich mir vor wie ein Elektriker, der in einem Gebäude ohne Strom Kabel und Drähte verlegt. Es war mir gelungen, das „Haus Lohmeyer“ gewissermaßen zu verdrahten – den Gelehrten, den Theologe, den Pfarrer, Humanisten, Ästheten, Literaten, den unabhängigen Denker, das Vorbild für Zivilcourage. All dies war vorhanden, und die Drähte schienen miteinander verbunden zu sein. Aber in seinem letzten Brief fing es in diesen Verkabelungen und Verdrahtungen, die ich ohne großes Nachdenken zustandegebracht hatte, auf einmal an zu summen und zu brummen. Plötzlich standen sie unter Strom. Ich sprach nicht mehr über Lohmeyer. Er sprach jetzt zu mir – sogar für mich. Nicht seine Schwächen, sondern seine Stärken hatten sich als die größeren Verlockungen und möglichen Fehlschläge in seinem Leben erwiesen. Dieser außergewöhnliche und vielseitige Theologe benennt die vielleicht größte Gefahr, der alle, die ihr Leben dem Studium der Theologie widmen, unweigerlich ausgesetzt sind – nämlich Gott vom Subjekt des eigenen Lebens zum Objekt der Forschung und von dort zu einer bloßen Idee zu machen. Nicht die Kleinigkeiten in seinem Leben, sondern der göttliche Ruf zur produktiven Arbeit – genau das, was Ernst Lohmeyer in hervorragender Weise gelungen war –, wurde so stark in den Vordergrund gerückt, dass es den Einen und Einzigen zu verdrängen drohte, der ihm diese Gabe geschenkt hatte. Die „übermäßige Beschäftigung mit sich selbst“, die sich daran stört, dass uns die in unseren Augen verdiente Anerkennung und Ehre versagt wird, scheint zu rechtfertigen, dass wir sie anderweitig zu erlangen versuchen. Unsere heiligsten Aufgaben – wie leicht nehmen wir sie für gegeben hin und lassen sie erkalten. Und verkümmern. In den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens war Lohmeyers Kelch mit Leid gefüllt. Wie furchtbar schwierig ist es, Prüfungen und Leiden dem „Finger Gottes“ zu überlassen, den Erlösungsabsichten Gottes, die wir jetzt nicht sehen und verstehen können. Der letzte Brief ist nicht nur ein Geständnis, er ist eine Litanei. Er benennt Sünden, die wir lieber vergessen oder ableugnen würden. Aber indem wir sie benennen und bekennen, werden wir, genau wie Lohmeyer, zur wahren Selbsterkenntnis gebracht und zu der Möglichkeit einer tiefen und dauerhaften Erneuerung des Lebens. Was bei dem Abschied von Melie und Gudrun geschah, dieser „Ruck“ riss Lohmeyer aus dem Trott seiner erfüllten, aber erschöpften Existenz und verpflanzte ihn an einen Ort der Freiheit und des neuen Lebens. Er wollte nicht mehr das gleiche Leben verlängern, er wollte ein neues Leben leben. Als freier und unschuldiger Mann war er zum schuldigen Gefangenen gemacht worden, aber als Gefangener war er zum freien Mann geworden. Und indem er seine Schuld bekannte – nicht die falsche Schuld, die ihm von einem Verbrecherregime auferlegt worden war,

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sondern die wahre Schuld, die sein Richter ihm aufgedeckt hatte –, wurde ihm Vergebung und Unschuld zuteil. Seine Freiheit hoffte und flehte um die Liebe, die er verloren hatte, und seine Freiheit freute sich über die Liebe, die er gefunden hatte. Die Verhaftung und Inhaftierung Lohmeyers im Jahr 1946 wurde zur großen Gnade und Barmherzigkeit Gottes, die die Flamme einer schönen und starken Ehe neu entfachte, die weder Ernst noch Melie neu hatten entfachen können. Der Brief aus Zelle 19 war Lohmeyers mutigster Versuch, diese Ehe zu retten. Melies Liebe wiederzuerlangen war wichtiger als die Schilderung der Haftbedingungen oder seine Überlebenschancen, denn mit ihrer Liebe konnte er sich allem stellen, was ihm bevorstand. Seine Haltung im Prozess, der Brief an Stalin, der Bericht von Manfred Schröder über ihn im Gefängnis, all das zeugt von Bodenständigkeit, Vertrauen, vielleicht sogar Frieden, als er dem Ende entgegensah. Melies Gefängnisbesuche und ihre Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten, ihre unablässigen Briefe und ihr Einsatz für sein Leben bezeugen dasselbe für sie. Als aus Jahren Jahrzehnte wurden, als alle Hoffnung auf seine Heimkehr geschwunden war, lernte sie, ihn auf neue Weise in die Arme zu schließen, indem sie sich unermüdlich für sein Angedenken einsetzte. In Zelle 19 kam Lohmeyer „zu sich selbst“, wie Jesus über den jüngeren Sohn sagt, der Heimat und Vater für ein fernes Land verlassen hatte. Indem er „zu sich selbst kam“, kehrte der Sohn zum Vater zurück, um zu empfangen, was der Vater schon so lange Zeit immer zu geben gewünscht hatte. Lohmeyer hoffte, dass Gott die persönliche Erneuerung, die er, Lohmeyer, in Zelle 19 erlebt hatte, dazu nutzen würde, ihn als neuen und besseren Ehemann und Vater zu seiner Familie zurückkehren zu lassen, zu seinen Studien als neuen und besseren Gelehrter, zu seinem Glauben als treueren Jünger. Gott nutzte die Erneuerung in Zelle 19, um ihn auf etwas vorzubereiten, was Lohmeyer nicht wollte – aber annehmen würde, wenn es Gottes Wille war. Am 19. September 1946 erfüllte er ein Gelübde, das er bereits 1926 abgelegt hatte: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen.“ (Phil 3,10)

Abkürzungen

ASNU BHT DP DT EvT FRLANT GStA PK HNT JBL KEK NTT RAC RGG SHAW STK TBl TRu ThWNT UAG WUNT ZNW ZST

Acta Seminarii Neotestamentici Upsaliensis Beitrage zur historischen Theologie Deutsches Pfarrerblatt Deutsche Theologie Evangelische Theologie Forschung zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Handbuch zum Neuen Testament Journal of Biblical Literature Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament (Meyer-Kommentar) Norsk Teologisk Tidsskrift Reallexikon für Antike und Christentum Religion in Geschichte und Gegenwart Sitzungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Svensk teologisk kvartalskrift Theologische Blätter Theologische Rundschau Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Universitätsarchiv Greifswald Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche Zeitschrift für systematische Theologie

Bibliografie

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