Zur Methode der Rechtsfindung: Aus dem Schwedischen und Englischen übertragen von Joachim Heilmann [1 ed.] 9783428435821, 9783428035823


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German Pages 234 Year 1976

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Zur Methode der Rechtsfindung: Aus dem Schwedischen und Englischen übertragen von Joachim Heilmann [1 ed.]
 9783428435821, 9783428035823

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FOLKE

SCHMIDT

Zur Methode der Rechtsfindung

Schriften zur

Rechtetheorie

Heft 48

Z u r Methode der Rechtsfindung

Von

Prof. Dr. Folke Schmidt Aus dem Schwedischen und Englischen übertragen von Dr. Joachim Heilmann

DUNCKER &

HUMBLOT/BERLIN

Gedruckt mit Unterstützung des Schwedischen Staatlichen Rates für Sozialforschung, Stockholm

Alle Redite vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03582 8

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

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Richter und Rechtsanwendung

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Regelfall, Parteiwille und Verschulden. Drei Richtlinien zur Vertragsauslegung

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Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht. Überlegungen zum System des Bürgerlichen Gesetzbuchs 86 Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen

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Die R A T I O D E C I D E N D I . Ein Vergleich dreier höchstrichterlicher Entscheidungen aus Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und den USA 158 Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme: Drei Methoden der Entscheidungstätigkeit in Arbeitsstreitigkeiten 195 Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft

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Vorwort zur deutschen Auegabe Die i n diesem Band vorgelegten Aufsätze und Beiträge aus den Jahren 1955 bis 1972 haben einen gemeinsamen Nenner, der ihre Zusammenfassung und Neu Veröffentlichung rechtfertigen mag: sie alle beschäftigen sich — wenn auch i n mehr oder minder vermittelter Form — m i t der richterlichen Entscheidungs- und Begründungstätigkeit. M i t einer Ausnahme sind alle Beiträge i n Englisch und fünf von ihnen überdies i n Schwedisch erschienen, allerdings i n für den deutschen Leser nur schwer zugänglichen Zeitschriften oder Sammelbänden, so daß auch dieser technische Umstand — abgesehen vom sprachlichen — eine Sammlung und Ubersetzung nahelegte. Das Hauptmotiv für eine deutsche Ausgabe liefert indessen ein inhaltlicher Aspekt. Seit meiner Studienzeit Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre i n Uppsala habe ich das deutsche Recht, seine Quellen, die Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung, mit Interesse verfolgt und auch, zumindest rechtsvergleichend, darüber gearbeitet. Seine überragende Rolle und sein starker Einfluß, vor allem der Pandektisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des BGB, auf die kontinentaleuropäischen und i n besonderem Maße auch die skandinavischen Rechtsordnungen, waren und sind i n vieler Weise spürbar. Es ist kaum zu bezweifeln, daß die deutsche Jurisprudenz der Jahrhundertwende erhebliche Bedeutung für die Rechtsentwicklung i n den „Zivilrechts"-Ländern hatte, d. h. dort, wo das Recht erst i n kodifizierter Form seine klassischen Wirkungen entfaltet. I n durchaus zwiespältiger Weise, nahezu mit einer A r t „Haßliebe" reagiere ich auf den noch heute fast unangefochten vorherrschenden begriffsjuristisch-dogmatischen Grundzug des deutschen Rechtsdenkens, dem ein gut Teil der folgenden Bemerkungen gewidmet sind. Der allein vom Rechtsbegriff deduzierenden Methode stelle ich eine sozialpositivistische Denk- und Arbeitsweise entgegen, die sich anhand historischer und gesellschaftlicher Fakten i m weitesten Sinne u m die Analyse von Regelungen bemüht, deren Besonderheiten keineswegs ausschließlich von Gerechtigkeitsidealen oder „reinen" rechtspolitischen Zielen ableitbar sind. M i r scheint eine differenzierte Erfassung der weitverzweigten Ursachenreihen von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen oder wissenschaftlichen Äußerungen von unschätzbarem Wert zu sein, selbst wenn dabei noch immer von einigen Kollegen der V o r w u r f unwissenschaftlicher A b schweifung riskiert wird. Ein farbstarkes Beispiel für die oft genug

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

nichtjuristischen Hintergründe von Rechtsschöpfung liefern m. E. die internationalen Anstrengungen für gemeinsame Gesetzgebungsakte; hier stellen sich nationale, ökonomische und politische Sonderinteressen, Prestigefragen und allgemeine Wertungsunterschiede i n besonders sinnfälliger Weise vor. Die eigenen Veröffentlichungen i n eine bestimmte Linie zu bringen oder den eigenen Standort kurz zu umreißen, ist wie jede Selbsteinschätzung kaum möglich, jedenfalls aber problematisch. N u r soviel läßt sich vielleicht sagen, daß m i r die Hauptthese der Uppsalienser Schule, nach der die früheren, von den Mystizismen sog. primitiver K u l t u r e n ausgehenden Rechtslehren für die Lösung moderner Gesellschaftsprobleme vollständig irrelevant seien, allzu glatt und unspezifiziert erscheint. Größere Sympathie hege ich für die Auffassung, daß die traditionellen Rechtsbegriffe wie „Rechte" oder „Obligationen" neu interpretiert und den Erfordernissen unserer Zeit angepaßt werden sollten. Obgleich seit dem erstmaligen Erscheinen der Aufsätze viel Zeit vergangen ist und demzufolge manche der angeschnittenen Fragen neu zu stellen bzw. zu beantworten wäre, wurde die ursprüngliche Fassung durchgehend beibehalten. Die nach den Entstehungsdaten geordneten Beiträge sind i n ihrem historischen Kontext als Produkte ihrer Zeit zu sehen und sollen ansatzweise eine Entwicklung aufzeigen, die nicht nur diejenige des Verfassers gewesen ist. M i t dieser Ausgabe verbindet sich die Hoffnung, daß der deutsche Leser i n den vorgelegten Stellungnahmen und Vorschlägen die zugleich anerkennenden und kritischen Gedanken auch gegenüber dem deutschen Recht i n seinen drei auffälligsten Erscheinungsformen: Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, erkennen und günstigstenfalls teilen kann. Stockholm 1975

Folke Schmidt

Richter und Rechtsanwendung* „Vor allem wäre es eine Aufgabe der Rechtswissenschaft, uns durch eine sorgfältige Analyse . . . der richterlichen Entscheidungstätigkeit von heute eine genauere Vorstellung vom officium judicis zu vermitteln, als es das juristische Schrifttum bisher vermochte." Richter Wilhelm Sjörgen, Tidsskrift för Rettsvitenkap (TfR) 1916, S.335.

I. I n den letzten Jahren gab es i n den skandinavischen Ländern eine lebhafte Diskussion u m die Methoden der Rechtsanwendung. Agge, Ekelöf, Huit , Malmström, Strahl, Thornstedt und Welamson — u m nur einige der Schweden zu nennen — haben dazu wertvolle Beiträge geliefert und so eine Grundlage zur weiteren Auseinandersetzung geschaffen. Alle Teilnehmer an der Diskussion sind bisher davon ausgegangen, daß der Rechtsfindungsprozeß nicht als mechanischer Vorgang betrachtet werden sollte. Vielmehr haben sie einhellig der — früher fast unangefochtenen — Theorie, daß Gesetzesauslegung eine logische Anwendung bestimmter, dem positiven Recht innewohnender allgemeiner Begriffe sei, eine Absage erteilt. Ebensowenig sehen sie das Hauptproblem darin, den wirklichen Willen des historischen Gesetzgebers herauszufinden. Als einer der aktivsten Teilnehmer an der Debatte hat Ekelöf betont, daß es i n erster Linie darum gehe, den Zweck der gesetzlichen Vorschrift zu ermitteln. Seine Methode nannte er die der „teleologischen Auslegung", eine inzwischen von anderen Autoren aufgegriffene Bezeichnung. Der Verfasser dieses Beitrags hat i m wesentlichen dieselbe Auffassung wie die meisten seiner skandinavischen Zeitgenossen, verweigert aber dem Etikett „teleologische Auslegung" seine Zustimmung. Dies sollte nicht mißverstanden werden. Ich möchte nicht bestreiten, daß jeder Vorschrift ein vernünftiges Ziel zugrunde gelegt werden kann. Doch bedeutet es m. E. eine zu starke Vereinfachung, sich damit zu begnügen, i n der Rechtsfindung nicht mehr als die Beantwortung der Frage zu * Schwedisch in Festschrift für Nils Herlitz, Stockholm 1955, S. 263-298; englisch in Scandinavian Studies in Law 1957, S. 155 -198.

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Richter und Rechtsanwendung

sehen, was denn der wirkliche Gesetzeszweck sei. Es ist erfolgversprechender, nach der Funktion der Gerichte i n unserer modernen Gesellschaft und nach den Prinzipien des Rechtsprechungsprozesses zu fragen. Eingangs soll die richterliche Entscheidungstätigkeit i m heutigen Schweden beschrieben werden, wobei der Untersuchungsgegenstand nur i n dem Maße ausgedehnt wird, wie es zur Einschätzung der schwedischen Richterschaft m i t ihren Vorzügen und Fehlern notwendig erscheint. Die folgenden Bemerkungen sind als erster Versuch zu verstehen, sich zu einem vielschichtigen und fast undurchdringlichen Problemkomplex zu äußern. Auch ist die Materialgrundlage noch recht dürftig. Es wäre sicher angemessener, wenn sich ein Mitglied des Obersten Gerichtshofes (HD = Högsta Domstolen) dieses Themas annähme; er könnte unmittelbar seine eigenen Beobachtungen berichten, während der Verfasser als Außenstehender hauptsächlich auf gedrucktes Rechtsfallmaterial, vor allem die Rechtsprechungssammlungen, angewiesen war. Ich habe mich bemüht, meine Annahmen i m Rahmen von persönlichen Gesprächen m i t Richtern zu überprüfen. Doch geschah dies nicht systematisch, w e i l meine Kollegen von der Richterbank m i t höchster Wahrscheinlichkeit jede Zusammenarbeit verweigert hätten, wenn ich förmliche Interviews erbeten hätte. Eine weitere Schwäche dieses Beitrags mag darin liegen, daß das Blickfeld nicht über die Grenzen meines eigenen Fachgebietes, des Zivilrechts, hinausreicht, so daß auch die Beispielsfälle ausschließlich diesem Bereich entstammen. II. Wenn ein Richter einen Fall zu entscheiden hat, so stelle ich mir seine erste Frage etwa folgendermaßen vor: „Welche Entscheidungshilfen stehen mir zur Verfügung?" Die Formulierung dieser Frage sollte sorgsam beachtet werden. Denn unsere Richter fragen nicht, was einem naheliegender vorkommen könnte: „Was sagt das geltende Recht?" Unter einem m i r wesentlich erscheinenden Gesichtspunkt, auf den noch genauer einzugehen sein wird, decken sich diese beiden Fragestellungen nicht. Gleichwohl werden w i r nach den Antworten auf beide Fragen suchen: „Was sagt das geltende Recht?" und „Welche Entscheidungshilfen habe ich (der Richter)?" Beide sind für unser Thema der richterlichen Entscheidungstätigkeit erheblich. Wenn der Richter an die Beantwortung seiner Frage „Welche Entscheidungshilfen habe ich?" geht, w i r d er sich mehrerer unterschiedlicher Informationsquellen bedienen. Innerhalb des gesetzten Rechts ist natürlich der Gesetzestext selbst die wichtigste Grundlage. Ferner

Richter und Rechtsanwendung mag er früher entschiedene Parallelfälle (Präjudizien) und die Gesetzgebungsmaterialien zu den einschlägigen Vorschriften heranziehen. Außerdem kann er die rechtswissenschaftliche Literatur konsultieren. Die schwedischen Richter betrachten hierbei vor allem eine A r t von Literatur als besonders wertvoll. Wenn ein Gesetz vom Parlament angenommen und vom König erlassen wird, geschieht es oft, daß einige der Verfasser der Gesetzesvorlage einen Kommentar dazu veröffentlichen. Es sind also Mitglieder der von der Regierung eingesetzten Expertenkommission zur Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs, die i n einer handlichen Ausgabe das gesetzgeberische Material vorlegen. Manche dieser Kommentatoren fügen Fallbeispiele ein oder formulieren eigene Interpretationsvorschläge, wenn sie meinen, daß eine unklare Gesetzesstelle Anleitungen für den Richter erfordere. Nicht immer geht aus diesen Veröffentlichungen deutlich hervor, wo die Grenze zwischen Gesetzesmaterialien und persönlichen Beiträgen verläuft. Darüber hinaus stehen dem Richter weitere Erkenntnisquellen zur Verfügung. I n vielen Rechtsgebieten werden Sitte und Brauch eine rechtsbildende K r a f t zugesprochen; aber auch allgemeine Anschauungen i n der Bevölkerung über Recht und Unrecht können von Bedeutung sein. Solche Entscheidungshilfen des Richters bleiben indessen i m Rahmen dieses Aufsatzes außer Betracht. Stellt sich nach dem Studium des Gesetzestextes, der Rechtsprechung, der Gesetzgebungsmaterialien, der Literatur und der weiteren Erkenntnisquellen heraus, daß alle Elemente nur i n eine Entscheidungsrichtung weisen, so ist die Aufgabe des Richters vergleichsweise einfach: dann muß er die entsprechende Gesetzesvorschrift benennen, den Sachverhalt feststellen, diesen unter das Gesetz subsumieren und i n Ubereinstimmung mit der gesetzlichen Rechtsfolge die gerichtliche Entscheidung entwerfen, ζ. B. Klageabweisung, Auflagenbeschluß o. ä. Diese Materie ist jedem Juristen vertraut; dennoch mag sie durch ein Beispiel illustriert werden. Kap. 11 § 1 des schwedischen Ehegesetzes von 1920 lautet: „Sind die Eheleute der Ansicht, daß ein weiteres gedeihliches Zusammenleben infolge tiefgreifender und dauernder Zerrüttung nicht möglich ist, haben sie das Recht, getrennt zu leben, sofern beide damit einverstanden sind*."

I n Kap. 11 desselben Gesetzes w i r d ferner bestimmt, daß das Gericht nicht auf Trennung der Ehe i. S. von Kap. 11 § 1 erkennen darf, solange die Eheleute keinen Versöhnungsversuch unternommen haben. Nehmen * Die Vorschrift ist durch Gesetz vom 13.12.1968 mit Wirkung ab 1. 7.1969 geändert worden (Anm. d.Ü.) .

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Richter und Rechtsanwendung

w i r an, daß dem Richter ein gemeinsamer Antrag der Eheleute vorliegt, i n welchem sie vortragen, daß ihnen eine Fortsetzung des Zusammenlebens „infolge tiefgreifender und dauernder Zerrüttung" unmöglich ist, und daß die Eheleute auch einen Versöhnungsversuch glaubhaft gemacht haben, so muß das Gericht die beantragte Trennung gewähren. Unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt ist die Situation unverändert, wenn die unmittelbar dem Gesetzestext entnommene Entscheidung zusätzlich von früheren Entscheidungen, den Gesetzgebungsmaterialien oder anderen offiziellen Stellungnahmen gestützt wird. I n anderen Fällen setzt das Urteil voraus, daß der Richter auf dem Wege dorthin eine oder mehrere Wahlentscheidungen getroffen hat. Stets enthält die Begründung der Schlußentscheidung mehrere gedankliche Schritte, wobei manche das Ergebnis einer Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten sind. Oft hat bereits der Gesetzgeber klargestellt, daß der Richter eine Wahl zu treffen hat. Dies ist beispielsweise i n all den Fällen offensichtlich, i n denen der Richter die Höhe einer Schadenersatzsumme bei unerlaubter Handlung, eine Geldbuße an den Verletzten oder sonst den Umfang einer Rechtsfolge innerhalb eines gesetzlich vorgegebenen Rahmens festlegen muß. Der schwedische Arbeitsgerichtshof befindet sich i n einer vergleichbaren Lage, wenn er den Schaden infolge eines Tarifvertragsbruchs beziffern muß; denn § 8 des Kollektivvertragsgesetzes von 1928 ermächtigt das Gericht ausdrücklich dazu, bei geringem Verschulden des Schädigers und unter Berücksichtigung seiner Finanzlage den Schaden geringer anzusetzen, also einen Ausgleich zu seinen Gunsten vorzunehmen. Selbst solche Regeln, auf die es fallentscheidend ankommt — nach denen z.B. die Frage beantwortet wird, ob eine Handlung vertragsbrüchig oder schadenersatzbegründend, ob ein Rechtsgeschäft u n w i r k sam oder sonst fehlerhaft ist und dergleichen mehr —, können dem Richter Wahlmöglichkeiten eröffnen. Dies gilt — zumindest auf den ersten Blick — auch für alle Ermessensvorschriften. Als Beispiel mag § 8 des schwedischen Gesetzes über Schuldverschreibungen von 1936 dienen, wonach solche Bedingungen der Schuldverschreibung außer Betracht bleiben können, welche i m Falle ihrer Berücksichtigung „offensichtlich gegen guten Handelsbrauch" verstießen oder sonst „zu unzumutbaren Härten" für den Schuldner führten. Der Gesetzgeber bevollmächtigt damit den Richter zu der Entscheidung, ob die umstrittene Bedingung Bestand haben soll oder nicht. Doch ist der Richter nicht nur dann gehalten, Wahlentscheidungen zu treffen, wenn sich dies bereits offen aus dem Gesetzestext ergibt. I n welchen sonstigen Fällen Wahlsituationen gegeben sind, soll i m folgenden genauer untersucht werden (vor allem unter V., V I I I . c und IX.).

Richter und Rechtsanwendung Nehmen w i r einmal an, daß eine Vorschrift für ein bestimmtes Vergehen eine Geldbuße von 10 bis 1 000 D M festlegt oder daß die Bestimmung der Geldbuße innerhalb eines vorgegebenen Rahmens ganz in das Ermessen des Gerichts gestellt wird. Hält sich das Urteil innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Grenzen, ist es unabhängig vom konkreten Ergebnis i n dem Sinne richtig, daß es die zu zahlende Buße nicht unter 10 D M und nicht über 1 000 D M ansetzt. Zur Vereinfachung habe ich hier von möglicherweise vorliegenden Spezialregelungen abgesehen, nach denen etwa eine bestimmte A r t von Vergehen nur mit einer enger eingegrenzten Bußsumme, ζ. B. aus dem unteren Teil des Gesamtrahmens, belegt werden darf. Meine Absicht war lediglich hervorzuheben, daß der Richter bei der Entscheidung eines Falles zwischen mehreren Alternativen wählen kann und daß sein Ergebnis m i t dem geltenden Recht übereinstimmt, welche der Möglichkeiten aus dem vom Gesetzgeber vorgezeichneten Rahmen er auch wählen mag. Dieselbe Situation liegt oft auch dann vor, wenn die richterliche Aufgabe darin besteht, einen Sachverhalt unter einen gesetzlichen Tatbestand (ζ. B. Verlobung, Vormundschaft, Schenkung) zu subsumieren. Nun ist es offensichtlich nicht so, daß alle Entscheidungen, die aufgrund einer gesetzlichen Wahlmöglichkeit getroffen werden, mit dem geltenden Recht übereinstimmen. Schematisierend könnte man die Lage so beschreiben, daß der Richter die i n Betracht kommenden Vorschriften i n einer ersten Ubersicht vorzufiltern, d. h. solche Lösungen auszusondern hat, die nicht zulässig sind. I m oben erwähnten Beispiel wäre also die Verhängung einer Geldbuße i n Höhe von 1 100 D M unzulässig. I n einer vorläufigen Antwort auf die Frage „Was sagt das geltende Recht?" wäre also festzuhalten, daß die Rechtsfindung in der Grenzziehung zwischen zulässigen und unzulässigen Lösungen besteht Angenommen, ein Mitglied des Gerichts zählt während der Beratung eines Falles eine Reihe von möglichen Entscheidungen auf und fragt sodann seine Kollegen, welche dieser erwähnten Lösungen i n den Rahmen des geltenden Rechts fallen, so würden die Gefragten sicherlich meinen, daß dies eine höchst merkwürdige A r t der Fallbehandlung sei. Denn für den Richter ist es wesentlich, die Entscheidung zu finden, die er als die richtige ansieht. Gewöhnlich erscheint es i h m wenig sinnvoll, überhaupt eine Grenze zwischen dem Zulässigen und dem Unzulässigen zu ziehen, weil die Entscheidungsalternativen, auf welche er seine Aufmerksamkeit konzentriert, deutlich i m Bereich des gesetzlich Zulässigen liegen. Wenn ich hier von einem ersten Arbeitsschritt des Richters spreche, mit Hilfe dessen er offenbar falsche Lösungen aussiebt, so geschieht das i n der Absicht, die „Frage nach dem gelten-

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den Recht" theoretisch näher zu durchleuchten. Ich behaupte nicht, daß diese Station i n der täglichen Praxis bewußt durchlaufen wird. Nur i n Ausnahmefällen w i r d ein Entscheidungsvorschlag so nahe an der Grenzlinie liegen, daß sich der Richter verpflichtet sieht, seine gesetzliche Befugnis, gerade so zu entscheiden, zu überprüfen. A u f einen Punkt sei nachdrücklich verwiesen: Die Frage nach dem Zulässigen bzw. Nichtzulässigen bezeichnet ein vorläufiges Stadium der Überlegungen. Wie eingangs erwähnt, beginnt der Richter indessen seine Fallbearbeitung m i t der Frage: „Welche Entscheidungshilfen stehen m i r zur Verfügung?" Diese Fragestellung kann jetzt folgendermaßen modifiziert werden: „Wie, nach welchen Kriterien wähle ich zwischen mehreren Entscheidungsmöglichkeiten?" Meistens w i r d die Wahl insofern frei sein, als alle Alternativen i m Rahmen des gesetzlich Zulässigen liegen und demnach m i t dem geltenden Recht — so, wie es vorläufig definiert wurde — übereinstimmen. III. A n dieser Stelle wollen w i r den Gedankengang unterbrechen und unsere Aufmerksamkeit darauf richten, welche Bedeutung die Frage nach dem geltenden Recht für Angehörige anderer juristischer Berufe hat. Der seinen Klienten beratende Rechtsanwalt hat zunächst dessen Chancen einzuschätzen, einen Prozeß zu gewinnen, und insoweit eine Vorhersage über die gerichtliche Entscheidung abzugeben. Nach der Ermittlung des Sachverhalts und der Beweislage muß der Rechtsanwalt das Gesetz, die Gesetzesmaterialien, die Rechtsprechung und andere erreichbare Erkenntnisquellen studieren, u m zu einer haltbaren Prognose zu gelangen. Ein guter A n w a l t w i r d sich dabei nicht nur eine Auffassung über das geltende Recht bilden, d. h. darüber, welche Entscheidungsalternativen denkbar bzw. ausgeschlossen sind, sondern zugleich versuchen abzuschätzen, welche der i n den gesetzlichen Rahmen fallenden Möglichkeiten das Gericht wählen wird. M i t Eröffnung des dem Mandanten empfohlenen Prozesses ändern sich Rolle und Aufgaben des Anwalts. Er muß das Gericht davon überzeugen, daß sein Mandant recht hat. Gewöhnlich behauptet er, daß das Gesetz keine andere Entscheidung zuläßt als diejenige, die sein Mandant begehrt, ohne sich vielleicht bewußt zu sein, daß er selbst vor kurzem noch eine Wahl zwischen mehreren denkbaren und zulässigen Entscheidungsmöglichkeiten getroffen hat. Auch der Rechtswissenschaftler gibt seine Meinung zum geltenden Recht wieder. Amerikanische Wissenschaftler beschränken sich zuweilen darauf, Rechtsprechung und Gesetzgebungsmaterialien darzustellen, wobei sie Vorhersagen oder Forderungen sorgfältig vermei-

Richter und Rechtsanwendung den. Demgegenüber fühlen sich die meisten schwedischen Rechtswissenschaftler — nach alter europäischer Tradition — verpflichtet, außer der Aufarbeitung von juristischem Material Leitlinien und Entscheidungsprognosen für die Gerichte vorzulegen. Einige versetzen sich dabei i n die Lage eines Richters, indem sie Lösungen erarbeiten, die, falls der entsprechende Fall praktisch entschieden werden müßte, vom Obersten Gerichtshof übernommen werden sollten. Ist ein Wissenschaftler m i t den Grundeinstellungen der Gerichtsmitglieder hinreichend vertraut, kann er vorausschauend einen bestimmten Grad an Verläßlichkeit seiner Prognosen erreichen. Die Mehrheit der jüngeren schwedischen Wissenschaftlergeneration empfindet es aber nicht als ihre Aufgabe, solche Vorhersagen zu treffen, sondern erachtet die erarbeiteten Lösungen eher als einen Beitrag zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Es w i r d sodann den Richtern überlassen, die vorgebrachten Meinungen und Argumente abzuwägen, zu übernehmen oder unberücksichtigt zu lassen. Die angewandten Arbeitsmethoden hängen i n starkem Maße von der Person des Wissenschaftlers und seiner Auffassung von der richterlichen Entscheidungstätigkeit ab. Ist der eine i n seiner Grundhaltung konservativ und bevorzugt Sicherheit und Stabilität gegenüber jedweder Veränderung, so übernimmt der andere die Rolle eines Sozialingenieurs und wendet sich technischen Verbesserungsvorschlägen zu, während der dritte von der Voraussetzung ausgeht, daß die Gesellschaft ein Schmelztiegel widerstreitender Interessen und das Recht Ergebnis von Kämpfen zwischen Klassen und pressure groups ist. Sogar die Darstellungsweise und die Formulierung der Schlußfolgerungen variieren i n der Literatur. Wurde es früher als richtig und angemessen erachtet, daß der Wissenschaftler seine Lösungsvorschläge i n die Form autoritativer Interpretationen des geltenden Rechts kleidete, so läßt sich heute i m allgemeinen eine größere Bescheidenheit beobachten. Die jüngeren Wissenschaftler begnügen sich i n der Regel damit, Diskussionsbeiträge zu liefern und Empfehlungen an die Richter zu formulieren. Die Rechtswissenschaft hat eine durchgehende Besonderheit darin, daß sie sich m i t der Aufstellung von Regeln beschäftigt, d. h. solcher Lösungsmuster, die für die Beurteilung einer Mehrzahl gleichartiger Fälle geeignet sind, während Äußerungen i n reinen Ermessensfragen oder zu solchen Fallkonstellationen, die vorerst nur eine Lösung in casu zulassen, weitgehend vermieden werden. IV. Ich wende mich wieder der Ausgangsfrage nach der Entscheidungstätigkeit des schwedischen Richters zu. Für einen Richter, vor allem einen Richter der ersten Instanz, liegt es nahe, solche Zivilrechtsfälle,

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die sich nicht nach einem Standardmodell lösen lassen, als einmalige Erscheinungen zu betrachten. Diese Fälle entscheidet er oft ad hoc mithilfe seines richterlichen Ermessens nach einer sog. „Billigkeitsprüfung". Eine bestimmte Gruppe solcher „Billigkeitsfälle" w i r d jedoch gründlicher behandelt. Der Richter w i r d sich vor allem von der Tatsache beeinflußt fühlen, daß ein Rechtsstreit wahrscheinlich alle Instanzen durchlaufen wird. I n aller Regel verfährt der Oberste Gerichtshof genauer als die Untergerichte. Denn eine seiner Hauptaufgaben ist es gemäß der schwedischen Allgemeinen Prozeßordnung von 1942, bei der Entscheidung über eine Revision zugleich die Einheitlichkeit von Rechtsauslegung und -anwendung zu wahren. I n seinem 1916 erschienenen Aufsatz „Richtermacht und Rechtsentwicklung" 1 befaßt sich Richter Wilhelm Sjögren m i t dem Problem, inwieweit ein Gericht das Interesse an einheitlicher Rechtsprechung außer Acht lassen und Fälle ad hoc entscheiden darf. I n diesem Zusammenhang meint er, daß die in schwedischen Urteilsbegründungen häufig auftauchende Floskel: „ i m Hinblick auf die Umstände des Falles" auf ad-hoc-Entscheidungen m i t vorwiegend angestellten B i l l i g keitserwägungen hinweise 2 . Mitglieder des Obersten Gerichtshofs (HD) erklärten mir, daß diese Formel heutzutage nur noch i n der Beweiswürdigung, nicht aber mehr i n Erläuterungen zur Rechtslage verwandt wird. Ich bin nicht davon überzeugt, daß dies ständige Praxis ist 3 , doch möchte ich darauf nicht näher eingehen. Ohne Zweifel sind „Billigkeitsentscheidungen" keine Seltenheit. Aus der schlichten Tatsache, daß ein Gericht sich dort, wo der Leser die Bezugnahme auf eine konkrete Rechtsvorschrift erwartet, „auf die besonderen Umstände des Einzelfalles" beruft, kann indessen nicht schon geschlossen werden, daß das Gericht den Fall auch rechtlich mithilfe dieser Floskel entschieden hat. Denn oft fallen die Begründungen so allgemein aus, daß man daraus keine klare Stellungnahme zu einer bestimmten Rechtsfrage entnehmen kann. Zuweilen drückt sich das Gericht deswegen so undeutlich aus, um auf der Suche nach neuen Rechtsgrundsätzen nicht vorzeitig festgelegt werden zu können. Dann testet das Gericht — sozusagen i m Verborgenen — eine neue Regel i n einer Reihe von Fällen, bevor es die Zeit für gekommen hält, sie ausdrücklich offenzulegen. ι TfR 1916, S. 325 ff. 2 Ebd., S. 337. 3 Vgl. etwa die Begründung des HD im Signe-Landgren-Uvteïl, N J A (Nytt Juridiskt Arkiv = Entscheidungssammlung des schwedischen HD) 1954, S. 341.

Richter und Rechtsanwendung Ob, wann und i n welcher Weise ein Gericht Präjudizien schaffen sollte, ist umstritten. Wilhelm Sjögren kritisierte vor allem die Nachteile einer Rechtsprechung, die sich von Fall zu F a l l an Billigkeitserwägungen orientiert: „Es ist unmöglich, das Ergebnis vorherzusagen. Die Rechtssicherheit muß darunter leiden, wenn es keine festen Regeln gibt, nach denen die Menschen sich selbst und ihre Rechtsbeziehungen einrichten können 4 ." Es ist weder leicht noch meine A b sicht herauszufinden, welche Rechtsprechungspolitik der HD i m Augenblick verfolgt. Höchstwahrscheinlich plädiert die Mehrheit seiner Mitglieder dafür, daß sich das Gericht langsam und vorsichtig vorwärtsbewegen und Präjudizien erst dann aussprechen sollte, wenn deren Konsequenzen genauestens abgeschätzt werden können. Soweit ich es überblicken kann, folgt das Gericht seit jeher dieser Linie. Richter Sjögren war auch zu seiner Zeit i n einer Minderheitsposition. Diejenige Gerichtsentscheidung, die m i t der Absicht ergeht, ein Präjudiz zu schaffen, unterscheidet sich i n Zustandekommen und Wirkung teilweise von derjenigen, die einen Rechtsstreit nur nach dessen besonderen Umständen als Einzelfall beendet. I n beiden Fällen w i r d die aktuelle Streitfrage zwischen den Parteien entschieden, soweit es das Gericht vermag. W i l l das Gericht aber zugleich eine grundsätzliche Leit-Entscheidung formulieren, so übt es über seine streitentscheidende Funktion hinaus auch eine gleichsam gesetzgeberische aus, obwohl der konkrete Gerichtsspruch keine weiteren Rechtsfragen als diejenigen behandelt, die der jeweilige Parteienstreit aufgeworfen hat. M i t einem Präjudiz w i r d das geltende Recht nicht nur präzisiert, sondern auch ausgebaut. Die Methode derartiger richterlicher Rechtsetzung könnte man m i t der Markierung einer Seewasserstraße durch Bojen vergleichen, wobei aber die Fahrrinne nicht — wie bei der Gesetzgebung — i n einem einzigen Arbeitsgang ausgesteckt wird. Vielmehr setzt das Anbringen einer Boje nicht nur voraus, daß ein Schiff auf Grund gelaufen ist, sondern auch die genaue Kenntnis (beim Gericht) von Lage und Ausmaß der Untiefe. I n aller Regel befaßt sich das Gericht seiner Meinung nach nur m i t den traditionellen Aufgaben der Rechtsprechung. I m Unterschied zu den soeben genannten Funktionen geht es davon aus, daß die angewandten Rechtssätze schon vorher zum geltenden Recht gehörten und daß die Entscheidung lediglich Ergebnis einer logischen Operation ist, die zu keiner anderen Lösung hätte führen können. Als junger Berufungsrichter schrieb der spätere Justizminister Louis de Geer 1853 i n seiner interessanten Studie „Über den juristischen S t i l " 6 : „Das Gericht sollte i n seiner Begründung nur diejenigen Argumente auf4 TfR 1916, S. 337. Reprint der Schwedischen Juristenzeitung (SvJT), 1953, S. 12.

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greifen, welche die Entscheidung tragen, und alle Gründe und Gesichtspunkte ausklammern, die für ein gegenteiliges Ergebnis sprechen." Ältere Richtergenerationen dürften sich über die damit angesprochene Besonderheit des Rechtsprechungsprozesses kaum größere Gedanken gemacht haben. Ihre Rolle als Repräsentanten des geltenden Rechts gab ihnen die Gewißheit, m i t hervorragenden Kenntnissen des Rechts ausgestattet zu sein, vergleichbar etwa den visionären Kräften eines Religionspropheten. Wilhelm Sjögren war vor seiner Richtertätigkeit auch Rechtsprofessor und ein scharfer Beobachter. Der i n den Lehrbüchern verbreitete Grundsatz, daß ein Gericht niemals Recht setzt, sondern ausschließlich schon geltendes Recht wiedergibt, verursachte i h m manche Kopfschmerzen. Er bezeichnete diese Ansicht als ein Dogma, das „der Richter kraft seines Amtes zu verinnerlichen hat" 6 . I n der heutigen aufgeschlosseneren Richterschaft t r i f f t man nur noch selten jemanden, der bestreitet, daß die überkommene Rechtsprechungsdoktrin auf einer Fiktion aufbaut, daß das Gericht oft eine Wahl zwischen mehreren, jeweils in sich richtigen Entscheidungsmöglichkeiten t r i f f t und daß dabei auch neue Rechtsregeln gesetzt werden. Ein Richter mag die Übernahme der alten Doktrin vielleicht m i t dem Hinweis darauf rechtfertigen, daß sie am ehesten seine Unparteilichkeit dokumentiert, doch wäre dies ein zweifelhaftes Argument. Es kann ebensogut eine gegenteilige Wirkung entfalten, denn der moderne Mensch hat leicht den Verdacht, daß etwas i m Hintergrund verborgen wird, wenn er den Eindruck hat, daß das Gericht einen Teil seiner Gründe nicht aufdecken möchte. Dann stellt er sich möglicherweise vor, daß die Entscheidung von anderen als den angegebenen Gesichtspunkten diktiert wurde. Es ist u m vieles vorteilhafter, i n Anerkennung dieser Tatsachen klar und offen mitzuteilen, i n welchen Fällen das Gericht bisher geltendes Recht überschritten und zum Ausgleich von Interessenkonflikten neue bestimmte Rechtsgrundsätze entwickelt hat. V. Oben (zu II.) wurde erwähnt, daß sich das geltende Recht durch eine Grenzziehung zwischen dem Zulässigen und dem Nichtzulässigen ermitteln läßt. Die schwedische Prozeßordnung von 1942 benennt als einen der Wiederaufnahmegründe einen entscheidenden Rechtsirrtum des Prozeßgerichts. Der Gesetzgeber hatte solche Fälle vor Augen, i n denen das Gericht eine Vorschrift übersah, sich auf eine aufgehobene « Sjögren, TfR 1916, S. 339.

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oder sonst unanwendbar gewordene Vorschrift stützte oder auf ähnliche Weise das geltende Recht verfehlte. Entsprechend unserer oben angenommenen Definition könnte man also sagen, daß sich der Richter solange i m Rahmen des geltenden Rechts bewegt, wie kein Wiederaufnahmegrund gegeben ist. Doch ist auch diese Begriffsbestimmung nur formal richtig und keineswegs erschöpfend. Wie i n allen anderen Ländern mit formeller Gesetzgebungstradition hat auch i n Schweden kein Richter der Theorie angehangen, daß gesetzlich verfaßte Vorschriften als Ausnahmen des Allgemeinen Rechts (common law) zu betrachten seien. Wenn die Regel exceptio est strictissimae interpretationis angewandt wird, so geschieht dies nur i n bestimmten Ausnahmefällen. Demgegenüber gilt als oberster Grundsatz, daß die gesetzliche Vorschrift auch dann bindet, wenn ihr Wortlaut unklar oder mehrdeutig ist. Der Richter hat sich stets zu bemühen, den wahren Inhalt zu ermitteln. Ansatzweise wurde schon beschrieben, wie der Richter an die Vorbereitung seiner Entscheidung geht. I n einfachen Routinefällen w i r d es genügen, den Gesetzestext zu studieren. Sobald sich aber Zweifel anmelden, so greift der Richter zu weiteren Hilfsmitteln i n Gestalt etwa einschlägiger Rechtsprechung, von Gesetzgebungsmaterialien oder sonstiger Literatur. Unter diesen Quellen nehmen Rechtsprechung und Gesetzgebungsmaterial eine besonders wichtige Stellung ein, w e i l sie den Gesetzestext ergänzende Direktiven enthalten und insofern die Funktion haben, das Gericht anzuleiten. Zwar besitzen sie nicht dieselbe bindende K r a f t wie das Gesetz selbst, doch sind sie ohne weiteres als Rechtsquellen und Direktiven zweiter Ordnung anzusehen. Daß Rechtsprechung und Gesetzgebungsmaterial als „Direktiven" bezeichnet werden, ist vielleicht für manchen Leser kaum annehmbar. M i t dem Wort Direktive verknüpft man am ehesten die Vorstellung, daß eine Person deutlich ihren Willen ausdrückt, u m auf das Verhalten einer anderen Person einzuwirken. Der Befehl als die typische Form einer Direktive ist eine solche Willenserklärung. N u n gibt es aber immer zwei Blickwinkel i n einer „Befehlssituation", denjenigen des Befehlenden und denjenigen des Befehlsempfängers. Beide stimmen keineswegs immer überein. Wörter oder andere Willensäußerungen, die als Direktive gemeint sind, können zuweilen durchaus anders vom Adressaten verstanden werden. Andererseits kommt es vor, daß als Direktive aufgefaßt wird, was nicht m i t entsprechender Absicht geäußert wurde. Wenn hier Rechtsprechung und Gesetzgebungsmaterialien als Quellen für Direktiven eingeordnet wurden, so geschah dies aus dem Blickwinkel des Richters heraus. Damit sollte umschrieben werden, wie i m Rahmen der schwedischen Entscheidungspraxis Präjudizien und Gesetzesmaterialien gleichsam als richtungsweisende Direktiven be2*

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handelt werden, unabhängig davon, ob diese Wirkung von den jeweiligen Urhebern überhaupt beabsichtigt war oder nicht. W i r können jetzt wieder zurückkehren zu unserer Definition des geltenden Rechts als der Gesamtheit all der Vorschriften, die innerhalb des vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmens liegen. Dabei müssen w i r bedenken, daß sich der Richter u m die Ermittlung des wahren Inhalts des Gesetzes bemühen muß und daß es i h m versagt ist, eine Vorschrift einfach deshalb außer Acht zu lassen, weil ihr Wortlaut vielleicht unscharf oder vieldeutig ist. Ferner sind auch die Direktiven zweiter Ordnung i n Betracht zu ziehen, insoweit sie sich aus Präjudizien und Gesetzesmaterialien herleiten. Das Filterverfahren, i n welchem der Richter nicht anwendbare Gesetzesvorschriften aussondert, muß demnach zu einem Prozeß erweitert werden, i m Laufe dessen auch die nachrangigen Direktivquellen i n Gestalt der präjudiziellen Rechtsprechung und des Gesetzgebungsmaterials herangezogen werden. Danach wäre es zutreffender zu sagen, daß die Entscheidung des Gerichts nur in den Fällen das Ergebnis einer Wahl ist, in denen der erkennende Richter in keiner der drei genannten Quellen eine eindeutige Antwort auf die gestellte Rechtsfrage finden konnte. Die gerichtliche Entscheidung kann aus vielen verschiedenen Gründen das Ergebnis einer Wahl sein. Es wurden bereits die Fälle erwähnt, i n denen der Gesetzgeber dem Richter ausdrücklich die Befugnis einräumte, eine Frage nach freiem Ermessen zu entscheiden. Eine weitere, wenn auch seltenere Wahlmöglichkeit ist dann gegeben, wenn keine der drei Direktivquellen die vorliegende Streitfrage berührt. Häufiger geschieht es, daß die aus Gesetz, Präjudizien oder Gesetzesmaterialien hergeleiteten Regeln miteinander unvereinbar sind, so daß einige A n gaben für eine Lösung und andere für ein abweichendes Ergebnis sprechen. Eine Einschränkung muß die gerade aufgestellte These, daß eine Wahlsituation erst dann vorliegt, wenn keine der drei Direktivquellen eine eindeutige A n t w o r t auf die gestellte Rechtsfrage liefert, jedoch erfahren. W i r müssen auch m i t der Möglichkeit rechnen, daß selbst eindeutige und widerspruchsfreie Direktiven unter bestimmten Voraussetzungen nicht zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Diese Ausnahmesituation w i r d später (zu IX.) näher behandelt werden. A u f einen weiteren Umstand ist schon hier hinzuweisen. Eingangs ließ ich den Richter fragen: „Welche Entscheidungshilfen habe ich?" und bemerkte dazu, daß sich diese Fragestellung nicht m i t der Frage „Was sagt das geltende Recht?" deckt. Es wurde auch gesagt (II. am Ende), daß die erste Frage einen weiteren Bereich erfaßt als die zweite. Die Vermutung, daß der Unterschied zwischen beiden Fragestellungen durch die Beschreibung der drei wichtigsten Erkenntnis- und Direktivquellen

Richter und Rechtsanwendung hinreichend geklärt sei, t r i f f t jedoch nicht zu. Denn die richterliche Wahlentscheidung ist selbst i n den als echten Wahlsituationen bezeichneten Fällen nicht ganz frei. Die endgültige Wahl für eine der Möglichkeiten richtet sich vielmehr nach bestimmten Normen. Auch zur Erläuterung dieser Bemerkung muß ich auf das Folgende (unten zu X.) verweisen. VI. I n diesem Beitrag werde ich mich darauf konzentrieren, die Rolle des Gesetzestextes und des Gesetzgebungsmaterials als Motivationsfaktoren bei der richterlichen Entscheidungstätigkeit zu untersuchen. Eine vollständige Erfassung des Rechtsprechungsprozesses müßte ebenso Wirkung und Einfluß von Präjudizien einbeziehen. Denn dank der autoritativen K r a f t eines oberstgerichtlichen Urteils verändert sich die Rechtslandschaft i n dem Augenblick, i n dem ein F a l l letztinstanzlich entschieden wurde. Doch würden solche Studien den für diesen Aufsatz abgesteckten Rahmen sprengen. Hierzu soll der Hinweis genügen, daß die Entscheidungen des HD als strenge Richtlinien angesehen werden. Obwohl die Erkenntnisse des H D weder diesen selbst noch die Untergerichte binden, tut sich der HD sehr schwer, eigene Entscheidungen zu überprüfen oder seine Rechtsprechung zu ändern, während die Untergerichte die Rechtsansichten des H D als verbindliche Interpretationen des geltenden Rechts betrachten. Der Instanzrichter w i r d nur dann seinen eigenen Weg gehen, wenn er davon überzeugt ist, daß i h m sehr starke Argumente gegen die Übernahme einer HD-Regel zur Seite stehen. I m folgenden w i r d das Zustandekommen der Gesetzesmaterialien i n Grundzügen beschrieben, und anschließend (unten zu VII.) soll auf das Verhältnis zwischen dem fertigen Gesetz und seinen verschiedenen Materialien eingegangen werden. Nach den Gesetzgebungsgrundsätzen der schwedischen Verfassung ist die legislative Gewalt zwischen dem Thronrat 7 und dem Parlament (Reichstag) aufgeteilt. Z i v i l - und strafrechtliche Gesetze müssen von König und Reichstag gemeinschaftlich verabschiedet werden. Die Steuergesetzgebungskompetenz liegt jedoch ausschließlich beim Parlament. Andererseits ist der Thronrat (die Regierung) für die Wirtschafts- und Verwaltungsgesetzgebung zuständig. I m parlamentarischen System Schwedens w i r d die politische, d. h. die Regierungsgewalt einem Kabinett anvertraut, das das Vertrauen der Parlamentsmehrheit genießt. Verfassungsfragen werden heutzutage nicht mehr so behandelt, 7 Der schwedische König muß die ihm verfassungsgemäß zustehenden Entscheidungen „im Rat" treffen, d.h. nach Beratung mit seinen Ministern.

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wie es zu der Zeit geschah, als der König seine Minister noch i n eigener Verantwortung auswählte. Die konstitutionelle Tradition erklärt jedoch, warum das Kabinett noch immer — aus praktischen Erwägungen — die Gesetzesinitiative besitzt. Das gewöhnliche Gesetzgebungsverfahren läuft folgendermaßen ab. Das Kabinett setzt eine Kommission m i t dem Auftrag ein, einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten. Die Kommission kann ausschließlich aus Fachleuten, aber auch aus Politikern und Fachleuten zusammengesetzt sein. Es gibt mehrere ständige Kommissionen, die den Auftrag haben, ein Teilgebiet nach dem anderen innerhalb eines bestimmten Gesamtrahmens, z.B. Strafrecht, für die Gesetzgebung aufzuarbeiten. Eine i m Jahre 1902 eingesetzte Zivilrechtskommission besteht noch heute. Die Kommission erstellt eine Vorlage, die außer einem vollständigen Gesetzestext auch einen Kommentarteil enthält. I m nächsten Schritt w i r d diese Kommissionsvorlage verschiedenen Regierungsstellen und privaten Organisationen, z.B. der schwedischen Arbeitgebervereinigung, dem schwedischen Gewerkschaftsbund, dem Industrieverband, den Handwerks- und Handelskammern usw., zur Beratung zugeleitet. A u f der Grundlage der hiernach eingehenden Stellungnahmen und Vorschläge hat der sachlich zuständige Fachminister einen endgültigen Gesetzestext auszuarbeiten. I m Einvernehmen m i t den sachlich m i t beteiligten Kabinettskollegen legt der Minister den Entwurf sodann dem königlichen Rat vor und empfiehlt, das Gesetz dem Parlament zu unterbreiten. Z i v i l - oder strafrechtliche Gesetzentwürfe müssen allerdings vor ihrer Einführung ins Parlament noch dem sog. Gesetzgebungsrat zur Beratung und Stellungnahme vorgelegt werden; diesem Gremium gehören 3 Mitglieder des HD und ein Richter des Obersten Verwaltungsgerichts an. Die Äußerungen des Gesetzgebungsrats sowie die dazu ergehenden Stellungnahmen des zuständigen Ministers sind Bestandteil der dem Gesetz beigefügten Materialien. Nach der Einführung der Gesetzesvorlage i n die parlamentarische Arbeit w i r d sie einem der gemeinsamen Ausschüsse m i t Mitgliedern beider Häuser überwiesen. Die Parlamentsmitglieder haben das Recht. Änderungen oder Zusätze vorzuschlagen, doch werden solche Anträge gemeinsam m i t der Vorlage an den entsprechenden Ausschuß überwiesen. Ist das Gesetz von beiden Häusern ohne Änderung angenommen worden, so setzt der König es i n Kraft. Hat aber die ministerielle Vorlage Änderungen erfahren, so w i r d der neue Text als Gesetzesvorschlag des Parlaments an den König betrachtet. A u f den Rat seiner Minister und des Gesetzgebungsrates kann der König dieser geänderten Vorlage entweder zustimmen oder seine Zustimmung verweigern. I n der Praxis hat der König stets zugestimmt.

Richter und Rechtsanwendung Die Vorarbeiten zu einem Gesetz geben die einzelnen Stationen einer fortlaufenden Sachdiskussion zwischen den beteiligten Gremien wieder. Wenn die Sachverständigenkommission ihren Gesetzesentwurf ausgearbeitet hat, beginnt sie mit der Zusammenstellung eines Kommentarteils, i n welchem der allgemeine Zweck des Gesetzes vorangestellt und die einzelnen Vorschriften erläutert werden. Die Kommission versucht dabei, den Minister und all diejenigen, die noch Stellung zu nehmen haben, davon zu überzeugen, daß ihre Vorschläge gut begründet sind. I n Schweden werden Gesetzestexte oft sehr abstrakt formuliert. Die Verfasser können daher nicht erwarten, daß jeder Leser genügend Vorstellungskraft besitzt, u m alle Hintergründe und Zusammenhänge des „reinen" Textes ohne erklärende Kommentierung zu erkennen. Zur Erläuterung der Vorschriften w i r d die Kommission nicht nur verschiedene technische Alternativen diskutieren, sondern auch Fallbeispiele liefern, die den Anwendungsbereich präzisieren sollen: Fälle, die das neue Gesetz erfaßt, und Fälle, die nicht geregelt werden. I n den Augen vieler Kommissionsmitglieder ist dies eine ausgezeichnete Gelegenheit, zum späteren Nutzen der Gerichte richtungweisende Kommentierungen abzugeben, falls — wie sie hoffen — ihr Entwurf Gesetz wird. Eine Kommission m i t hochangesehenen Fachleuten oder einflußreichen Politikern kann vollkommen zu recht davon ausgehen, daß sie i n ihren Äußerungen auch gegenüber den Mitgliedern der rechtsprechenden Gewalt eine hohe faktische Autorität besitzen. Der mit der Ausarbeitung der endgültigen Vorlage befaßte Minister sieht sich veranlaßt, besonders zu den Punkten ausführlich Stellung zu nehmen, die bislang von der Kommission und den Organisationen kontrovers diskutiert wurden. Nicht selten gibt er dabei seine detaillierte Ansicht zur Auslegung bestimmter Vorschriften wieder. Der Gesetzgebungsrat ist das nächste Forum. Dessen Äußerungen werden erneut vom Minister zustimmend oder ablehnend kommentiert. A u f parlamentarischer Ebene schließlich erstellt der zuständige gemeinsame Ausschuß seinen abschließenden Bericht. Schlägt der Ausschuß selbst Änderungen vor, müssen diese eingehend begründet und erläutert werden. Kommen Änderungsanträge aus den Reihen des Parlaments, kann der Ausschuß auch die Ansicht vertreten, daß der ursprüngliche Text der Vorlage durchaus dem Antrag Rechnung trägt. I n solchen Fällen etwa nimmt der Ausschuß die Gelegenheit wahr, seine Auffassung über die richtige Auslegung und Anwendung der betreffenden Vorschrift darzulegen. Von dieser Möglichkeit w i r d i m übrigen fleißig Gebrauch gemacht. Die Reihe der Stellungnahmen, die bei der Rechtsanwendung bedeutsam werden können, endet m i t dem Schlußbericht des Parlamentsausschusses. Die allgemeine Reichstagsdebatte über die Gesetzesvor-

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läge hat i n aller Regel nicht dasselbe Gewicht, wenn es später u m Auslegung und Anwendung der Vorschriften geht. Die Teilnehmer an der Parlamentsdebatte sind sich selbst der so gezogenen Grenzen der W i r k samkeit ihrer Diskussionsbeiträge bewußt. Dies geht u. a. daraus hervor, daß ein Minister, der sich i n der Debatte zu einer bestimmten Interpretation äußern w i l l , gewöhnlich nur auf seine schriftliche K o m mentierung der Vorlage verweist, oder daß ein Mitglied des gemeinsamen Ausschusses lediglich aus dem Schlußbericht zitiert. Mehrere Gründe sprechen dafür, die Sammlung der relevanten Gesetzesmaterialien m i t dem Ausschußbericht abzuschließen. Politische Debatten sind selten geeignete Quellen für Informationen über technische Einzelheiten. I n solchen Auseinandersetzungen werden die Worte nicht so sorgfältig abgewogen wie es etwa i n dem schriftlichen Votum des Ministers geschieht. Die Diskussionsbeiträge i m Parlament gelten dem Augenblick und berücksichtigen kaum das Gewicht aller beteiligten Interessen. Ferner ist es wichtig, das Material i n überschaubaren Grenzen zu halten. I n Schweden gibt es eine private Zeitschrift, die von Mitgliedern des HD herausgegeben wird, das Neue Juristische Archiv (Nytt Juridiskt Arkiv = Ν JA). I n einer Sonderreihe (II. A b teilung) veröffentlicht das NJA die Materialien zu neuen Gesetzen. Die Herausgeber nehmen dabei keine Auszüge aus der Parlamentsdebatte auf. Sehr wenige Richter werden sich später die Mühe machen, die Reichstagsprotokolle nach einer Äußerung zu einer bestimmten Frage zu durchsuchen. Wenn die Vorlage Gesetz geworden ist, gibt es — über den Gesetzestext hinaus — eine Serie von Stellungnahmen und Kommentaren dazu. I n einem Punkt haben z.B. alle Gremien den Kommissionsentwurf kommentarlos passieren lassen, i n einem anderen wurde der Vorschlag der Kommission abgeändert oder verworfen, i n einem dritten schweigt zwar der Ausschußbericht, doch findet sich dazu eine Erklärung des Ministers oder des Gesetzgebungsrats usw. Die verschiedenen Stellungnahmen haben i n ihrer Eigenschaft als Informationsquellen unterschiedliches Gewicht. I m Laufe des Gesetzgebungsverfahrens t r i t t ein Gremium nach dem anderen i n Aktion, und jedes hat Gelegenheit, seine Auffassung jeweils zu den Vorschlägen zu dokumentieren, die bis dahin Niederschlag gefunden haben. Soll eine Meinungsäußerung überhaupt einen gewissen Informationswert erhalten, setzt dies voraus, daß die nachfolgenden Gremien sie unwidersprochen hinnehmen. Demzufolge hat jedes Gremium die Möglichkeit, die jeweils voraufgegangenen Kommentierungen aus den Gesetzesmaterialien praktisch auszusondern. Andererseits kann die Bedeutung einer früheren Stellungnahme aber auch dadurch verstärkt werden, daß sie ausdrücklich bestätigt und unterstrichen wird. Generell

Richter und Rechtsanwendung kann man also sagen, daß das letzte Gremium die besten Chancen hat, seinen Einfluß geltend zu machen. Die genannten Gesetzgebungsgremien unterscheiden sich ihrem Charakter und ihrer Autorität nach, sowohl auf der fachlichen als auch auf der politischen Ebene. Der Minister hat dabei den Vorteil, zugleich Fachmann (jedenfalls i n dem Sinne, daß i h m eigene Experten zur Verfügung stehen) und führender Politiker zu sein. Das politische Schwergewicht liegt beim Parlament. Dies w i r d besonders deutlich bei der Steuergesetzgebung 8 . Doch w i l l m i r scheinen, daß — abgesehen von Steuergesetzen — die Mitglieder der Richterschaft den Meinungsäußerungen parlamentarischer Gremien weit weniger Wert beimessen als den Stellungnahmen der zuständigen Minister oder gar einstimmigen Beschlüssen des Gesetzgebungsrats, vorausgesetzt, daß diese Beiträge i m weiteren Verlauf unwidersprochen geblieben sind. Der Grund dafür mag i n der Neigung der Richter liegen, dem Rat des Fachkollegen unbedingten Vorrang zu geben, wobei es allerdings richtig ist, daß die Ausschußberichte der Parlamentarier m i t juristischen Augen gesehen i n der Tat weniger aufschlußreich sind. Da der Schlußbericht des gemeinsamen Ausschusses der letzte Beitrag zu den Materialien ist, könnte man ferner annehmen, daß er nicht i n gleich gründlicher Weise kritisch überprüft wurde wie die vorangegangenen, allein deshalb, w e i l die Irrtums- und Fehlerkontrolle i n Gestalt nachfolgender Gremien fehlt. VII. Früher, als die Gesetzesmaterialien nicht i m Druck erschienen oder jedenfalls nur schwieriger zugänglich waren als heute, muß te der Gesetzgeber alle Vorschriften und Direktiven an die Dritte Gewalt unmittelbar i n den Gesetzestext aufnehmen. Die Verfasser hatten von dem Grundsatz auszugehen, daß alles, was „der Gesetzgeber" zum Ausdruck bringen wollte, direkt dem Wortlaut der Normen zu entnehmen sein mußte. Auch heute w i r d noch die Auffassung vertreten, daß man an diesem Grundsatz festhalten sollte. Die Hauptargumente zugunsten der überkommenen Methode stellten Herlitz und J. W. Pettersson zusammen. Die m i t dem Entwurf eines Kommunalverwaltungsgesetzes (1948) beauftragte Kommission hatte vorgeschlagen, daß der Umfang der Gemeindeselbstverwaltung i m Gesetz nur i n weiten, abstrakten Be8 Vgl. Welinder, Zur Bedeutung der Motive für die Gesetzesauslegung (in schwedisch), SvJT 1953, S.78ff., bes. S. 83; und die Stellungnahme Richter Klackenbergs in dem i m Jahrbuch des Obersten Verwaltungsgerichts (R) 1953, S. 27, abgedruckten Fall.

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g r i f f e n beschrieben w e r d e n sollte. D e n I n h a l t der D e f i n i t i o n i l l u s t r i e r t e d i e K o m m i s s i o n i n i h r e m B e r i c h t d u r c h eine R e i h e v o n B e i s p i e l e n . Herlitz 9 u n d Pettersson w i d e r s p r a c h e n d e m u n d setzten sich i n i h r e m M i n d e r h e i t s b e r i c h t 1 0 d a f ü r ein, d i e S e l b s t v e r w a l t u n g s b e f u g n i s s e e n u m e r a t i v i m Gesetz selbst a u f z u z ä h l e n . „Es ist außerordentlich wichtig, daß der gesetzgeberische Wille i m Gesetz selbst ausgedrückt wird, und zwar aus dem einfachen Grunde, damit alle am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten genau wissen, was sie beschließen. Demgegenüber erscheint es fast unmöglich, aus einem Bericht, einer Stellungnahme oder sonstigen Äußerungen der Kommission, des Ministeriums oder der Parlamentsausschüsse herauszulesen und zu verstehen, was schließlich dazu ausersehen werden soll, in den Willen des Gesetzgebers aufgenommen zu werden." Z u s ä t z l i c h z u d e m A r g u m e n t , daß die f ü r d i e Schlußentscheidung V e r a n t w o r t l i c h e n d e n I n h a l t u n d die K o n s e q u e n z e n des Gesetzes g e n a u k e n n e n sollten, v e r w e i s e n Herlitz u n d Pettersson auf die Schwierigkeiten, d e n e n d i e Rechtsprechung begegnet. „Aber in der unangenehmsten Lage befinden sich alle, die das Gesetz anzuwenden haben. Bürger und Behörden haben einen berechtigten A n spruch auf klare und leicht zugängliche Auskunft über die Regeln, nach denen sie sich richten sollen. Diese Forderung ist vor allem dann legitim, wenn sich der Gesetzgeber anschickt, unmittelbar den einzelnen Bürger anzusprechen, und damit anstrebt, daß die Vorschriften allgemein bekannt werden. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, dem Einzelnen statt der Lektüre des Gesetzbuches den Weg durch das Labyrinth der Reichstagsdrucksachen zu empfehlen. Noch aussichtloser wird es für den Bürger, wenn das Parlament der Kommissionsvorlage nicht in allen Punkten zugestimmt hat. Dann nämlich muß er drei getrennte Dokumentensammlungen zusammentragen und in seinem Gedächtnis speichern: Bericht und Entwurf der Kommission, die Gesetzesvorlage und den Schlußbericht des Parlamentsausschusses." Zwischen den Zeilen der obigen Zitate w i r d ein weiterer G r u n d d a f ü r angedeutet, w a r u m „ d e r W o r t l a u t des Gesetzes d i e feste G r u n d lage f ü r d i e E n t s c h e i d u n g e n des G e r i c h t s " 1 1 sein sollte. I c h m e i n e das Interesse a n Rechtssicherheit. Es ist j e d o c h f r a g l i c h , ob dieser Gesichtsp u n k t h i e r eine R o l l e spielt. Das R e c h t s s i c h e r h e i t s a r g u m e n t g e h t v o n d e r s t i l l s c h w e i g e n d e n A n n a h m e aus, daß R i c h t e r u n d andere Rechtsa n w e n d e r n i c h t f ä h i g w ä r e n , aus d e n G e s e t z e s m a t e r i a l i e n die entscheid e n d e n P u n k t e herauszulesen. Ü b e r d i e s erscheint es l e i c h t e r , E n t s c h e i d u n g s p r o g n o s e n anzustellen, w e n n d e r R i c h t e r außer d e m Gesetz auch » Herlitz war zu dieser Zeit Mitglied des Reichstages und Professor für Verwaltungsrecht an der juristischen Fakultät der Universität Stockholm. *o Siehe „Statens offentliga utredningar" (SOU) („Staatliche Berichte über öffentliche Untersuchungen"), 1947, Nr. 53, S. 163. 11 Diese Worte gebrauchte Hjalmar Sundberg, Dekan der juristischen Fakultät der Universität Uppsala, in der formellen Einladung zu einer Doktorprüfung am 31. 5.1954.

Richter und Rechtsanwendung dessen Materialien als ergänzende Entscheidungshilfen heranzieht, als dann, wenn er sich ausschließlich an dem Gesetzestext orientieren kann. Die angeführten Argumente mögen hier auf sich beruhen. Keinesfalls kann der Beobachter der schwedischen Verhältnisse umhin festzustellen, daß die Gesetzgebungsmaterialien de facto den Status von Entscheidungshilfen haben, welche den reinen Gesetzestext ergänzen 12 . Als praktische Aufgabe verbleibt indessen der Versuch, Grundsätze zu benennen, deren das schwedische System bedarf, um zufriedenstellend zu funktionieren. a) Nach allgemeiner Auffassung haben die in den Gesetzesmaterialien enthaltenen Direktiven nicht einen gleichermaßen absoluten Charakter wie die im Gesetzestext selbst mitgeteilten. Die Gerichte können jederzeit von den den Materialien entnommenen Richtlinien abweichen, wenn erhebliche Gründe für eine andere als die vorgeschlagene Lösung sprechen. Wie oben bereits erwähnt, sind die aus den Gesetzesmaterialien abgeleiteten Direktiven i n ihrer Rangordnung den Präjudizien vergleichbar. Dadurch, daß sie wie diese zweitrangig sind und geringere Autorität entfalten als der Gesetzeswortlaut, erhält das System m. E. einen wesentlichen Vorteil. Dem „Gesetzgeber" stehen Instrumente zur Verfügung, mithilfe deren er die weitere Entwicklung beeinflussen kann, wobei er es dennoch den Gerichten überlassen kann, i m Rahmen ihrer Entscheidungstätigkeit neuen Situationen und Erfordernissen flexibel zu begegnen. I n diesem Zusammenhang erinnere ich an die weiter oben getroffene Feststellung, daß die verschiedenen Stellungnahmen i n den Materialien, etwa zu Ziel und Zweck des Gesetzes oder zu Aufbau und Funktion einer einzelnen Bestimmung, durchaus unterschiedlichen Gewichts sind. Unter anderem muß man berücksichtigen, von welchem Gremium sie stammen. Verschiedentlich ist gesagt worden, daß i m Falle der ausschließlich dem Parlament obliegenden Steuergesetzgebung und ihrer Anwendung ein anderer Grundsatz zu gelten hätte. I n einem Rechtsstreit vor dem Obersten Verwaltungsgericht bezog sich Richter Klackenberg n auf das Verfassungsprinzip des einzig dem Parlament zustehenden Besteuerungsrechts und meinte dazu, „daß den Ausschußstellungnahmen und parlamentarischen Anträgen zur Präzisierung steuerlicher Vorschriften besonders starkes Gewicht beizumessen ist. Diese Materialien sollten gleichsam als Bestandteil des Gesetzes betrachtet werden." Klackenberg wendet sich damit gegen eine allgemeine Tendenz seines Gerichts und w i l l Steuergesetze wortgetreuer als andere Gesetzesvorschriften angewendet wissen und i n Zweifelsfällen zugunsten des 12

Das bestreiten auch Herlitz und Pettersson nicht. 13 Siehe R 1953, S. 27.

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Steuerzahlers entscheiden. Doch läßt sich sein Ziel, die Steuerflut einzudämmen, mit anderen M i t t e l n besser erreichen. Die Einführung einer besonderen Theorie für das Steuerrecht, nach der die parlamentarischen Gesetzesmaterialien quasi Gesetzesstatus erhalten, würde nur Verw i r r u n g stiften. Folgte man Klackenbergs Vorschlag, so gäbe man den Hauptvorzug des gegenwärtigen Systems auf, daß nämlich die beiden Gruppen von Direktiven ungleiches Gewicht haben. b) N i m m t man einmal an, daß die überkommene Gesetzgebungsmethode noch praktiziert würde und sich alle Direktiven des „Gesetzgebers" unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ermitteln ließen, so könnte sich die Kommission i n den Motiven und der Begründung ihres Entwurfs auf eine kurze Zusammenfassung und wenige Querverweisungen beschränken. Doch sieht die Arbeitsweise unserer Kommission anders aus. Der Wortlaut moderner schwedischer Gesetze enthält oft abstrakte Formeln; das hat gewiß den Vorteil der Flexibilität, indem es den Gerichten überlassen wird, den endgültigen Geltungsbereich der Norm in Übereinstimmung mit praktischen Erfordernissen festzulegen. Demgegenüber ist der Inhalt einer abstrakten Formel kaum aus sich heraus zu ermitteln. Vielmehr bleibt der Gesetzestext dem Leser unverständlich, wenn er nicht gleichzeitig die einzelnen Erläuterungen und Motive der Kommission zur Kenntnis nimmt. Als eine Grundregel für die Abfassung moderner Gesetze könnte man anführen, daß der Gesetzeswortlaut alle mit dem Gesetz beabsichtigten Vorschriften und Direktiven decken muß, wie genau auch immer der Ausdruck im einzelnen sein mag. So bescheiden diese Regel ist, so sollte sie doch als absolute Mindestforderung gelten. Daß ein Kommissionsmitglied nicht eine Lösung i m Gesetzestext und eine andere i n seiner Kommentierung vorschlägt, ist etwas, was spätestens beim Rechtsstudium hätte gelernt werden müssen. Ein weiterer Punkt sollte hervorgehoben werden. Die Aufnahme eines konkreten Fallbeispiels w i r k t , wenn dieses den Status einer Direktive für die spätere Anwendung des Gesetzes erhält, wie ein Einzelfallgesetz. W i r d das Beispiel nicht vom Gesetzeswortlaut erfaßt, so führt diese Methode zu einem Konflikt m i t dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Einem Gericht, das einer derartigen Direktive gefolgt ist, ist es i n Zukunft versagt, die gleiche Regel auf andere Fälle anzuwenden, die der „Gesetzgeber" nicht vorausgesehen hat. Während des Gesetzgebungsverfahrens werden an die Gremien die verschiedensten Wünsche herangetragen: von Regierung und Behörden, von Interessenverbänden oder von einzelnen Parlamentsabgeordneten, wobei sich jeder u m Auskunft darüber bemüht, ob denn der Entwurf dem jeweiligen Wunsch auch entsprechen werde. Einige A n t worten über die erwartete Absicht „des Gesetzgebers" mögen ihnen

Richter und Rechtsanwendung vorteilhaft erscheinen. Doch muß sich dann die angekündigte Auslegung der entsprechenden Vorschriften i n voller Ubereinstimmung m i t dem fertigen Gesetzestext befinden. Stets sollten die Autoren bei der Abfassung des Gesetzes allgemein bekannte Wörter i n ihrer klaren und alltäglichen Bedeutung sowie juristische Fachausdrücke i n ihrem gebräuchlichen Sinne verwenden. Entdecken sie beispielsweise, daß der Wortlaut zu eng geraten ist, u m eine m i t dem Entwurf angestrebte Lösung zu ermöglichen, so müssen sie den Text neu fassen. Daß gegen diese elementare Forderung zuweilen verstoßen wird, ist wohlbekannt 1 4 . Die Gesetzgebungsgremien können einfach deswegen Fehler machen, weil sie i n Eile oder bequem sind, oder auch w e i l sie befürchten, daß eine Neufassung unabsehbare Konsequenzen hätte. c) Es kommt auch vor, daß „der Gesetzgeber" versucht, mithilfe der Materialien und darin untergebrachter Direktiven die Anwendung von Vorschriften benachbarter Rechtsgebiete zu beeinflussen. Diese Praxis ist von Welinder 15 scharf kritisiert worden. Ich stimme seiner Ansicht zu, daß solche Änderungsversuche schon deshalb gefährlich sind, w e i l sie eher einer augenblicklichen Eingebung als einem klar durchdachten Konzept entspringen. Darüber hinaus ist diese Methode ineffektiv i n dem Sinne, daß solch abgelegene Direktiven bei der Rechtsanwendung schlicht übersehen werden, w e i l niemand sie i n den Materialien zu einem anderen Gesetz erwarten kann. Als eine dritte These schlage ich daher vor, daß es „der Gesetzgeber" vermeidet, in die Materialien solche Direktiven aufzunehmen, die nicht in den unmittelbaren Zusammenhang des mit dem Gesetz zu regelnden Gebietes gehören. Hierbei lassen sich aber gewisse Einschränkungen nicht umgehen. Ist z.B. eine Expertenkommission beauftragt worden, einen weiten Regelungsbereich wie etwa Familien-, Handels- oder Strafrecht aufzuarbeiten, und erstellt sie dazu mehrere Entwürfe und Berichte, so ist doch das Ergebnis i n Gestalt einer zusammenhängenden Reihe verschiedener Gesetze oder Gesetzesnovellen als eine gesetzgeberische Einheit zu betrachten. Dabei kann eine i n den Materialien zu einem bereits verabschiedeten Gesetz zum Ausdruck gebrachte Direktive ihre Bedeutung für einen später vorgelegten Entwurf durchaus behalten. Die Kommissionsberichte und ministeriellen Stellungnahmen geben regelmäßig eine Übersicht über das i m jeweiligen Gebiet geltende Recht. Dabei w i r d näher bezeichnet, welche Bereiche durch das neue Gesetz geändert werden sollen und welche unberührt bleiben. M i t derlei zusammenfassenden Ubersichten werden indessen keine konkreten Richtlinien für die Rechtsanwendung verbunden; sie haben vielmehr " Vgl. Welinder, iß Ebd., S. 86 ff.

SvJT 1953, S. 83.

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denselben Charakter und Einfluß wie entsprechende Darstellungen i n rechtswissenschaftlichen Kommentarausgaben oder Zeitschriftenbeiträgen. Manchmal zeigt die Geschichte einer einzelnen Gesetzesbestimmung an, daß „der Gesetzgeber" eine genaue Vorstellung vom geltenden Recht hatte und dieses grundsätzlich beibehalten, i n einem Punkt aber abändern wollte, um einen aufgetretenen Mißstand zu beseitigen. Stellt sich dann heraus, daß die Grundannahme über den Zweck des gesamten Gesetzes verfehlt war oder daß die Rechtsprechung über dieses geltende Recht hinwegschreitet, so hängt die betreffende Einzelvorschrift gleichsam i n der Luft. Dieser Fall mag an einem Beispiel erläutert werden. Die Schuldrechtskommission, die einen Entwurf für ein Gesetz über den Abzahlungskauf (1914) vorlegte, vertrat die A n sicht, daß der sog. Kopplungsvorbehalt i n der Weise dingliche Wirkung haben sollte, daß der Verkäufer i m Falle zweier oder mehrerer miteinander verbundener Abzahlungskäufe i m Verhältnis zu Dritten solange als Eigentümer aller verkauften Sachen galt, bis die letzte Rate auf den letzten Vertrag beglichen war. § 8 des Abzahlungsgesetzes gab dem Käufer eine Einrede für den Fall, daß die noch ausstehenden Zahlungen einen gewissen Betrag nicht überschritten. Diese Vorschrift würde nur eine auf die Parteien begrenzte Wirkung entfalten, wenn auch der Kopplungsvorbehalt nur das Innenverhältnis beträfe. I n einer solchermaßen offenen Frage muß man die i n den Motiven geäußerte Ansicht über das geltende Recht zu Rate ziehen. Als das Problem der dinglichen Wirkung von Kopplungsvorbehalten den H D 1 6 beschäftigte, Schloß sich die Mehrheit des Gerichts der Auffassung an, welche die Schuldrechtskommission i n den Motiven vertreten hatte, m i t der Folge, daß nicht nur der vereinbarte Vorbehalt, sondern auch die Einrede gegenüber Dritten durchgreifen sollte. Doch muß betont werden, daß der wesentliche Entscheidungsfaktor i n einem Fall der erwähnten A r t die vorgefundene gesetzliche Vorschrift ist, auch wenn diese — i m obigen Beispiel — ihrem Wortlaut nach nur eine i m Innenverhältnis wirkende Einrede normierte. Aus diesem Grunde ist der gewählte Fall kein lupenreines Beispiel für aus Motiven gewonnene Direktiven, die sich auf ein anderes als das vom Gesetz zu regelnde Gebiet beziehen. d) I n eine rechtliche Auseinandersetzung gehen oft allgemeine I n teressen ein, die als Stütze für die Individualinteressen der Parteien gebraucht werden. Der Kleinbauer A t r i f f t mit der Firma Β eine Ubereinkunft, nach der er es unternimmt, Holz zu fällen und dieses m i t eigenem Pferd und Wagen von den Wäldern der Firma abzutranspor16

Siehe Cronvik gegen Malmquist-Nachf.,

NJA 1944, S. 184.

Richter und Rechtsanwendung tieren, wobei i h m sein Knecht zur Hand geht. I h m bleibt es unbenommen, gleichlautende Verträge m i t anderen Firmen abzuschließen. A behauptet nun, Angestellter der Firma Β zu sein und demzufolge, wie andere Arbeitnehmer auch, einen Anspruch auf bezahlten Urlaub nach dem Urlaubsgesetz von 1945 zu haben. Die Firma verweigert die Zahlung mit der Begründung, daß A als selbständiger Unternehmer zu betrachten sei. W i r gehen hier davon aus, daß die zugrundeliegende Rechtsfrage noch ungeklärt ist. Die Entscheidung des H D 1 7 mußte die Interessen und Ansichten vieler indirekt Beteiligter berühren. Nach einer Überprüfung des Ubereinkommens zwischen A und Β und der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Klägers kam der HD zu der Uberzeugung, daß A als selbständiger Unternehmer anzusehen sei, und wies daher die Klage ab. 1950 schlug ein Reichstagsabgeordneter i n einem Einzelantrag vor, das Urlaubsgesetz so abzuändern, daß künftig auch Holzfuhrleute erfaßt würden. Der daraufhin eingesetzte Parlamentsausschuß berichtete, daß es beachtliche Gründe gebe, die Fuhrleute als Arbeitnehmer einzuordnen. Der Ausschuß fügte hinzu, daß das Urteil des H D i n Sachen Huit u. a. gegen Säters Dampf sägewerk-AG keinen „Anlaß zu allzu weitreichenden Schlußfolgerungen" gebe und daß man die weitere Entwicklung abwarten solle. Der Antrag wurde nicht unterstützt. 1953 brachte die Regierung einen Gesetzesentwurf zur Allgemeinen Krankenversicherung ein. A l l e n Lohn- und Einkommensempfängern sollte als Ausgleich für Verdienstausfall ein zusätzliches Krankengeld gewährt werden. Der Sozialminister erklärte i n seiner Begründung, daß der Begriff „Arbeitnehmer" i n dem vorgeschlagenen Gesetz denselben Inhalt haben sollte wie i m Urlaubsgesetz. Später sprach er sich jedoch dafür aus, daß Holzfuhrleute grundsätzlich als Arbeitnehmer zu behandeln seien. I n der allgemeinen Debatte über das neue Gesetz kritisierte ein A b geordneter die letztgenannte Empfehlung des Ministers und wies darauf hin, daß sie aller Voraussicht nach wirkungslos sei. Stattdessen sollte der Gesetzestext i n dem geäußerten Sinne geändert werden, dam i t sich der gesetzgeberische Wille klar und eindeutig aus der Norm selbst ergebe. Meiner Ansicht nach vertrat dieser Abgeordnete einen richtigen Standpunkt. Der Minister mag entweder nur die gerichtliche und administrative Anwendung des Gesetzes über die Allgemeine K r a n kenversicherung gemeint haben, er konnte aber auch seine Ansicht zum Anwendungsbereich des Urlaubsgesetzes ausdrücken wollen. I m ersten Fall hat er sich selbst widersprochen, weil er zuvor erklärt hatte, Huit u. a. gegen Säters Dampf sägewerk-AG,

NJA 1949, S. 768.

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daß der Begriff „Arbeitnehmer" i m neuen Gesetz denselben Inhalt haben sollte wie i m Urlaubsgesetz. I m zweiten Fall hat er ein Beispiel dafür geliefert, i n welchen Situationen die Methode, Direktiven i n die Gesetzesmaterialien zu verlegen, verfehlt ist. Wenn „der Gesetzgeber" seinen Einfluß auf die Rechtsprechung dahingehend geltend machen möchte, daß die Gerichte eine frühere Entscheidung revidieren, so sollte er dies nicht m i t Direktiven i n Gesetzesmaterialien tun, weil auf diese Weise leicht einander widersprechende Direktiven geschaffen werden. Wie oben schon gesagt, sind auch Präjudizien als entscheidungsleitende Direktiven zu betrachten, so daß sie i n dieser Hinsicht den Gesetzesmaterialien gleichstehen. Die Gerichte sind an gesetzliche Regeln auch insoweit gebunden, als sie dadurch eine abweichende frühere Rechtsprechung aufgeben müssen, aber es spricht nichts für die Vermutung, daß Direktiven aus den Vorarbeiten und Motiven zu einem Gesetz der Vorrang vor präjudiziellen Direktiven eingeräumt wird. Daraus folgt als vierte These, daß „der Gesetzgeber" nicht versuchen sollte, die Gerichte anders als mit eindeutigen gesetzlichen Vorschriften zur Aufgabe einer früheren Rechtsprechung zu veranlassen. Eine Situation wie die soeben beschriebene könnte leicht zu einem Verfassungskonflikt führen, wenngleich der konkrete Anlaß i m obigen Fall kaum dazu ausgereicht hätte. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß der H D lediglich aus Prestigegründen das Huit- Urteil zu einer Grundsatzentscheidung hochstilisieren wird, u m daran festhalten zu können. Die Frage, wer als „Arbeitnehmer" zu betrachten ist, hat den schwedischen Gerichten und Behörden schon viel Kummer bereitet. Einige Vorschriften werden einer überwiegend privatrechtlichen Konzeption zugerechnet, andere erscheinen i m Zusammenhang einer breiteren sozialen Orientierung. Der HD selbst ist i n seiner Rechtsprechung keineswegs einheitlich vorgegangen. Es ist i n der Tat unbefriedigend, daß die Angehörigen bestimmter Sozialgruppen i n einer Beziehung „Arbeitnehmer" sind, aber nicht i n einer anderen. Besser wäre es, eine für alle Fälle geltende Begriffsdefinition zu schaffen, u m so eine einheitliche Anwendung aller betreffenden Vorschriften zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund muß die jüngste Entscheidung des H D 1 8 zu der Frage, ob Holzfuhrleute „Arbeitnehmer" oder „selbständige Unternehmer" sind, beurteilt werden. Die Grana-AG, von deren Wäldern Eriksson Holz abtransportiert hatte, ging i n Konkurs. Nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches sind die Forderungen der „Arbeitnehmer" i m Konkurs privilegiert. Der Konkursverwalter muß die ausstehenden Lohnforderungen i n voller Höhe aus dem Arbeitgebervermögen begleichen, bevor andere Gläubiger befriedigt werden dürfen. I n drei Fällen aus den Jahren 1923 und 1924 sprach der H D Holzfuhr18

Eriksson gegen Grana-AG-Konkursverwalter, N J A 1955, S. 345.

Richter und Rechtsanwendung leuten das Recht zu, ihre Forderungen als derart privilegierte geltend zu machen. I n der Entscheidung des Eriksson-Grana-AG-Falles blieb das Gericht einstimmig bei dieser Regel. Lediglich Richter Lind, der dem Ergebnis zustimmte, gab eine von der Mehrheit abweichende Begründung, i n der er auf die Notwendigkeit verwies, gleiche Begriffe i n verschiedenen Gesetzen einheitlich zu verwenden. VIII. I m letzten Abschnitt sind einige Grundsätze herausgearbeitet worden, denen „der Gesetzgeber" folgen sollte, wenn er den Wortlaut des Gesetzes durch die Materialien ergänzen w i l l . I m folgenden w i r d die Frage diskutiert, welchen Einfluß das Gesetz und die Gesetzesmaterialien auf die Rechtsprechung haben. I n Schweden t r i f f t man auf einen traditionell starken Gehorsam gegenüber dem Gesetzeswortlaut. Dies ist vermutlich i n allen Ländern der Fall, i n denen die Auffassung vorherrscht, daß das Recht i n der Form von Kodifizierungen erscheinen soll. Dazu ist erwähnenswert, daß es i n früherer Zeit für den gewöhnlichen Juristen und Rechtswissenschaftler nicht leicht war, Zugang zu den Ergebnissen der Rechtsprechung zu erhalten, was heute kein Problem mehr ist. Die ersten jährlichen Entscheidungssammlungen erschienen ab 1830, also vergleichsweise spät. Die gegenwärtige Rechtsprechungssammlung, das Nytt Juridiskt Arkiv, erhielt ihren halboffiziellen Charakter erst i m Jahre 1910, als Mitglieder des H D die Herausgabe übernahmen. Man ist versucht anzunehmen, daß der Ursprung der Methode, sich des Gesetzgebungsmaterials als Erkenntnisquelle zu bedienen, i n der Vorstellung liegt, daß der frühere Richter bei seinen Entscheidungen der Frage nachzugehen hatte, was denn der eigentliche Wille seines Souveräns war. Die schwedischen Verfassungsprinzipien können jedoch eine solche Vermutung nicht begünstigt haben. Der König hat die Gesetzgebungsgewalt stets m i t dem Parlament geteilt. Richter und Behörden waren gehalten, das Recht i n eigener Verantwortung anzuwenden und keine Weisungen vom König entgegenzunehmen. Daß die Gesetzesmaterialien als Informationsquellen angesehen und benutzt werden, ist eine vergleichsweise moderne Erscheinung. Soweit ich die schwedische Entwicklung übersehe, bediente man sich dieser Methode erstmals zu Beginn dieses Jahrhunderts. A l l e Gesetze und Verordnungen, die besonders für die Gerichtspraxis von Bedeutung sind, werden jährlich von einem Privatverlag zusammengestellt und i n einem festen Band veröffentlicht; Herausgeber ist ein Mitglied des HD. I n die Ausgabe werden auch Fälle und Entscheidungen aufgenommen. Als das Wechselgesetz von 1880 noch i n K r a f t war, nahm der Herausgeber i n 3

Schmidt

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der Fußnote zu einem der Paragraphen Bezug auf den Bericht eines Parlamentsausschusses von 1905, i n dem zum Anwendungsbereich der Vorschrift Stellung genommen wurde. Offensichtlich wurde solches Material seinerzeit als erheblich für die richterliche Entscheidungstätigkeit betrachtet. I n diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, daß die Mitglieder des H D mit der Gesetzgebungsarbeit eng vertraut sind. Einige von ihnen haben bei der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen viel Erfahrung und Können gesammelt. Eher aufgrund dieser Fähigkeiten als aufgrund ihrer richterlichen Erfahrungen sind viele M i t glieder des H D ernannt worden. Es ist keine leichte Aufgabe, i m einzelnen aufzuweisen, wie stark i m Unterschied zum Gesetzestext der Einfluß der Gesetzesmaterialien und demgegenüber derjenige der Rechtsprechung auf die Gerichte ist. Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren von unterschiedlichem Gewicht. I n der Regel hat der Richter keine Veranlassung, besonders anzumerken, wenn er sich vom Wortlaut des Gesetzes i m Stich gelassen fühlt und die Grenze zu anderen Erkenntnisquellen überschreitet. Tatsächlich existiert eine solche Grenze nur i n der Theorie. Die Analyse des Gesetzes und die Befragung der Materialien bilden gewöhnlich gleichzeitige Arbeitsgänge, so daß das Ergebnis, das der Richter aus dem Wortlaut der Vorschrift gewinnt, von der den Materialien entnommenen A n t w o r t gestützt wird. Zahlreiche Fallen sind zu beachten, wenn man die Rechtsprechungssammlungen studiert. Früher fielen die Entscheidungsgründe äußerst knapp aus. Wie z.B. auch die französischen stellten die schwedischen Gerichte autoritativ bestimmte Regeln auf und präsentierten die Entscheidung als Ergebnis rein logischer Deduktion. Oftmals erwähnte das Gericht noch nicht einmal die zugrundegelegte Regel, sondern führte nur die erheblichen Tatsachen auf. I n solchen Fällen muß der Leser versuchen herauszufinden, warum bestimmte Umstände als erheblich eingestuft werden, u m auf diese Weise die vom Gericht angewandte Rechtsregel ans Tageslicht zu fördern — eine Aufgabe, die Vorstellungskraft und Erfahrung zugleich erfordert. Und dies ist nur der erste Schritt. A u f die Frage, warum das Gericht die betreffende Vorschrift oder Regel zur Grundlage der Entscheidung gemacht hat, erhält man i m allgemeinen überhaupt keine Antwort. Heutzutage sind die Gerichte bereitwilliger, ihre Gründe vollständig darzulegen, doch begegnet dem Leser jüngerer Entscheidungen eine neue Schwierigkeit. I n den Begründungen erscheinen die einzelnen Gesichtspunkte schlicht aneinandergereiht, ohne daß sie i n ihrer relativen Bedeutung gewichtet und geordnet sind. Es bleibt unklar, ob schon einer der Gründe allein die Entscheidung tragen würde, oder ob erst zwei oder mehr zum Ergebnis geführt haben.

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R i c h t e r b e t r a c h t e n i h r e A r b e i t i n u n t e r s c h i e d l i c h e r Weise. M a n c h e s i n d k o n s e r v a t i v u n d m e i n e n , daß d e r Gesetzgeber i m m e r d a n n , w e n n d e r R i c h t e r m i t h i l f e der t r a d i t i o n e l l e n R e c h t s f i n d u n g s m e t h o d e n k e i n e L ö s u n g finden k a n n , das P r o b l e m a u f z u g r e i f e n u n d d u r c h entsprechende V o r s c h r i f t e n z u r e g e l n habe. A n d e r e s i n d f o r t s c h r i t t l i c h e r u n d v e r t r e t e n d i e A n s i c h t , daß d e r Oberste G e r i c h t s h o f n i c h t v o m W o r t l a u t der Gesetze e i n g e s c h n ü r t sein, s o n d e r n d i e F r e i h e i t h a b e n sollte, neues Recht z u schaffen. V o n d e r r e c h t s f o r t b i l d e n d e n T ä t i g k e i t s o l l t e n aber a l l e i m p o l i t i s c h e n S t r e i t b e f i n d l i c h e n F r a g e n a u s g e n o m m e n sein. M a n k ö n n t e f e r n e r z u r B e d i n g u n g machen, daß d i e r i c h t e r l i c h gesetzten R e g e l n eine b r e i t e Z u s t i m m u n g e r w a r t e n lassen. W i e s t a r k d i e A u f fassungen v o n d e r r i c h t e r l i c h e n F r e i h e i t v o n e i n a n d e r abweichen, i l l u s t r i e r t die folgende Fallschilderung. Heilsarmee gegen Brita Lundberg, NJA 1954, S. 325. Das schwedische Ehegesetz von 1920 geht von dem Grundsatz aus, daß das Eigentum beider Eheleute eheliches Eigentum ist. Jeder Ehegatte verfügt selbständig über seinen Anteil, bei der Auflösung der Ehe aber wird das eheliche Eigentum zu gleichen Teilen zwischen Mann und Frau (oder deren Erben) aufgeteilt. I n einer Güterstandsvereinbarung können sich die Eheleute für Gütertrennung entscheiden. Dies hat zur Folge, daß jedem Ehegatten bei Auflösung der Ehe sein eingebrachtes oder i m Verlauf der Ehe hinzuerworbenes Eigentum wieder zufällt. I n aller Regel werden solche Güterstandsabreden vor der Eheschließung getroffen. Die Vereinbarung muß in das Güterstandsregister bei dem für den Mann zuständigen Gericht aufgenommen werden. Zuständig ist nach der Prozeßordnung das Gericht, in dessen Bezirk der Mann seinen regelmäßigen Aufenthaltsort hat. I m M a i 1921 schlossen die Verlobten Henning und Brita eine Güterstandsvereinbarung der oben bezeichneten Art. Sie wurde bei dem Gericht registriert, in dessen Bezirk der eheliche Wohnsitz begründet werden sollte, nicht aber bei dem für Henning zur Zeit der Vereinbarung zuständigen Gericht. Der Fehler erklärt sich aus einer kurz zuvor erfolgten Gesetzesänderung. Bis 1920 konnte die Vereinbarung auch bei dem für den künftigen ehelichen Wohnsitz zuständigen Gericht registriert werden. 1933 errichtete Henning ein Testament, demzufolge er sein Vermögen der Heilsarmee und einigen anderen Institutionen vermachte. Nach dem Tode Hennings i m Jahre 1950 verweigerte Brita die Herausgabe ihres Anteils am Nachlaß, den sie zum ehelichen Eigentum zählte. Die Heilsarmee klagte gegen Brita auf Herausgabe des gesamten Nachlasses und begehrte vom Gericht die Feststellung, daß die Güterstandsvereinbarung unabhängig von der Tatsache wirksam war, daß sie nicht bei dem Gericht registriert worden war, in dessen Bezirk Henning zur Zeit des Abschlusses der Vereinbarung seinen Aufenthaltsort hatte. Brita meinte, daß die Güterstandsabrede von Anfang an unwirksam gewesen sei. Daß Stadt(=Amtsgericht Schloß sich der Auffassung der Beklagten an und wies die Klage ab. Die Entscheidung wurde sowohl vom Berufungsgericht als auch vom H D bestätigt. Zwei Mitglieder des erkennenden H D Senats entschieden abweichend. Richter Walin hob in seinem abweichenden Votum hervor, daß eine wortgetreue Anwendung des Gesetzes keinem vernünftigen Zweck dienen würde, *

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sondern stattdessen zu unvorhersehbaren Konsequenzen für die Betroffenen führte. Als die Verlobten die Vereinbarung registrieren ließen, hätten sie die Absicht gehabt, dies vorschriftsgemäß zu tun. Überdies sei zweifelhaft, ob das Gericht bei der Zulassung der Registrierung überhaupt i m Irrtum gewesen sei. Es würde jedenfalls zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen, wenn dessen Entscheidung später einfach deshalb wieder beseitigt würde, weil sie nicht mit der bestmöglichen oder einzig richtigen Auslegung der Vorschrift übereingestimmt habe, mit der konkreten Folge, daß die Vereinbarung umsonst gewesen wäre und sich alle daraufhin getroffenen Verfügungen als wirkungslos herausstellen würden. Es sei ungerecht, einem Ehegatten, der eine Güterstandsvereinbarung eingegangen sei und deren Registrierung zugestimmt habe, nach langer Zeit die Berufung auf deren Nichtigkeit zu gestatten; dies gelte jedenfalls dann, wenn Gläubigerinteressen nicht betroffen seien. Zur

plastischeren

Darstellung

der

Verfahrensweise

schwedischer

G e r i c h t e h a b e i c h eine R e i h e z i v i l r e c h t l i c h e r H D - E n t s c h e i d u n g e n

der

letzten Jahre ausgewählt u n d i m folgenden i n drei Gruppen zusammengestellt: a) F ä l l e , i n d e n e n B e d e u t u n g u n d E i n f l u ß des G e s e t z e s w o r t l a u t s eine R o l l e spielen, b) F ä l l e , d i e das G e w i c h t d e r G e s e t z e s m a t e r i a l i e n d e m o n s t r i e r e n , u n d c) F ä l l e , i n d e n e n d e r H D k l a r e V o r s c h r i f t e n des „Gesetzgebers" n i c h t beachtet h a t . a) U n t e r V I I . b) w u r d e als eines d e r G e s e t z g e b u n g s p r i n z i p i e n angegeben, daß d e r G e s e t z e s w o r t l a u t — w i e v o l l s t ä n d i g oder präzise er auch i m m e r a u s f a l l e n m a g — stets a l l e D i r e k t i v e n decken m u ß , d i e i n d e r e i n e n oder a n d e r e n F o r m m i t g e t e i l t w e r d e n sollen. D e r f o l g e n d e F a l l zeigt, daß d e r HD n i c h t g e n e i g t ist, ü b e r d e n W o r t l a u t des Gesetzes h i n a u s z u g e h e n , w e n n dieser k l a r u n d e i n d e u t i g ist, u n d dies selbst d a n n n i c h t , w e n n d e r Gesetzeszweck, a l l g e m e i n e R e g e l n oder sonstige Ü b e r legungen zugunsten einer weiteren, freieren Auslegung der Vorschrift sprechen. Frisk gegen Wein- und Spirituosenzentrale AG, N J A 1951, S. 440. Nach dem schwedischen Urlaubsgesetz von 1945 hat ein Arbeitnehmer für jeden Arbeitsmonat Anspruch auf eine bestimmte Anzahl bezahlter Urlaubstage. Er hat seinen Urlaub i m laufenden Kalenderjahr zu nehmen. Wird ein A r beitsverhältnis beendet, so steht dem Arbeitnehmer eine Urlaubsabgeltung in der Höhe zu, die der Bezahlung für die bis dahin verdienten Urlaubstage entspricht. Angenommen, ein Arbeitsverhältnis beginnt am 1. Juli und endet am 31. Dezember und die auf einen Monat entfallende Urlaubszeit beträgt anderthalb Tage, so hat der Arbeitnehmer bei seinem Ausscheiden Anspruch auf Bezahlung von 9 Urlaubstagen. Auf der Grundlage dieser Vorschriften würde ein in den Ruhestand tretender Arbeitnehmer, dem ein betriebliches Ruhegeld (Pension) zusteht, in der ersten Zeit nach Ende des Arbeitsverhältnisses doppelte Bezahlung verlangen können: Pension und Urlaubsabgeltung. §20 Urlaubsgesetz sieht für diesen Fall folgendes vor: „Steht

Richter und Rechtsanwendung dem Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Pension zu, so ist der Arbeitgeber berechtigt, von der Höhe der Urlaubsabgeltung die Pensionsleistungen für die Dauer der abzugeltenden Urlaubstage abzuziehen." Herr Frisk war bei der Wein- und Spirituosenzentrale A G angestellt und trat in den Ruhestand. Zu diesem Zeitpunkt hatte er eine Urlaubsabgeltung für 22 Werktage verdient. Die Gesellschaft reduzierte diese Summe um einen Betrag, der der Pension für 22 Werktage entsprach. Frisk hatte indessen, wie alle anderen Arbeitnehmer der A G auch, regelmäßig ca. 8 °/o Pensionsprämien selbst bezahlt. Er stellte sich nun auf den Standpunkt, daß die A G kein Recht habe, mehr von seiner Urlaubsabgeltung abzuziehen, als dem Arbeitgeberanteil an den Pensionsprämien entspreche. Daher forderte er die Rückzahlung des darüberhinaus einbehaltenen Betrages. I m Urteil des Stadtgerichts wurden die von den Parteien vorgebrachten Argumente gegeneinander abgewogen. Frisk berief sich auf eine Anmerkung in dem Kommentar zum Urlaubsgesetz von Hesseigren und Samuelsson, wonach von der Urlaubsabgeltung nur der Teil der Pension abgezogen werden dürfe, der dem Prämienanteil des Arbeitgebers entspreche. Diese Auffassung sei „unbedingt maßgebend, weil beide Kommentatoren an den Vorarbeiten zum Urlaubsgesetz beteiligt gewesen seien" 19 . Die A G betonte demgegenüber, daß die Vorschrift keinerlei Ausnahme von der aufgestellten Regel enthalte. Die Meinung von Hesseigren und Samuelsson habe sich „nicht in den Gesetzesmaterialien" niedergeschlagen 20. Offensichtlich schätzte die A G die Auffassung der Kommentatoren keineswegs gewichtiger ein als diejenige anderer, „gewöhnlicher" Autoren. Das Stadtgericht wies die Klage ab, weil „die Argumente des Klägers nicht hinreichten, um die Vorschrift in einem Sinne anzuwenden, der ihr einen anderen als den vom Wortlaut vorgezeichneten Inhalt geben würde". Nach der Zurückweisung der Berufung durch das Berufungsgericht bestätigte der HD die Entscheidung der Untergerichte, wobei vier der fünf Senatsmitglieder i m Ergebnis übereinstimmten. Zur Mehrheit gehörten auch die Richter Sjöwall und Santesson, die das Ergebnis jedoch in einem abweichenden Votum anders begründet wissen wollten. Sjöwall schrieb: „Unter Berücksichtigung der Geschichte des Urlaubsgesetzes, seiner Vorarbeiten und Motive, sowie der vom Stadtgericht aufgeführten Gesichtspunkte sehe ich keine ausreichenden Gründe, bei der Auslegung von § 20 Urlaubsgesetz vom Wortlaut der Vorschrift abzuweichen . . . "

Richter Sjöwalls Votum ist insoweit besonders interessant, als es das allgemeine Auslegungsprinzip offenbart. Der Text des Gesetzes ist zwar ein wichtiger, zentraler Anhaltspunkt, doch kann das Gericht über ihn hinausgehen, wenn besonders starke Gründe für eine vom Wortlaut abweichende Lösung sprechen. Vielfach w i r d gesagt, daß bei der Auslegung eines Gesetzestextes der allgemeine oder der juristische Sprachgebrauch zugrunde zu legen 10 Hesseigren war Vorsitzender und Samuelsson Sekretär der Kommission. Die oben wiedergegebene Ansicht Hesseigrens und Samuelssons ist in dem Kommissionsbericht nicht auffindbar. 20

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ist. G e h t m a n v o n d e r V o r s t e l l u n g aus, daß d e r W o r t l a u t des Gesetzes das M i t t e l des Gesetzgebers ist, seinen W i l l e n auszudrücken, so m ü ß t e n w i r danach fragen, w e l c h e B e d e u t u n g d i e v e r w a n d t e n B e g r i f f e z u d e r Z e i t h a t t e n , als d i e V o r s c h r i f t Gesetz w u r d e . Spätere Ä n d e r u n g e n i m Sprachgebrauch d ü r f t e n n i c h t b e r ü c k s i c h t i g t w e r d e n . E i n d e r a r t s u b j e k t i v e r A u s l e g u n g s g r u n d s a t z w i r d j e d o c h v o m HD n i c h t z u m P r i n z i p erhoben. Ski-Förderung gegen Areskoug, NJA 1946, S. 767. Die schwedische Vereinigung zur Förderung des Skisports ist ein alter und bekannter Privatverein von Freunden des Skilaufs. Er verbreitet Informationen durch Filme und Vorführungen, organisiert örtliche Skiklubs und bildet Wintersportlehrer aus. I n vielen schwedischen Wintersportgebieten unterhält der Verein Hotels und Hütten. Z u seinen Aktivitäten gehört auch die Qualitätsprüfung von Skiern und anderen Sportartikeln wie ζ. B. Skilack und Skiwachs. Nach erfolgreichem Test wird den Herstellern gestattet, das Zeichen und den Namen „Ski-Förderung" gleichsam als Gütezeichen auf ihren Waren anzubringen. Der Verein ist dazu allgemein durch einen königlichen Erlaß ermächtigt. Herr Areskoug, ein Hersteller von Skiwachs und Skilack, hatte für seine Produkte das Zeichen „Ski-Förderung" ohne Erlaubnis des Vereins in das schwedische Warenzeichenregister aufnehmen lassen. I n dem folgenden Rechtsstreit ging es um die Frage, ob der Ski-Förderungsverein gegen solchen Mißbrauch seines Emblems geschützt war. Nach § 4 Abs. 2 des Warenzeichengesetzes von 1884 darf ohne besondere Erlaubnis des Betroffenen kein Warenzeichen registriert werden, welches den Namen oder die Firma einer anderen Person enthält. Jeder, der durch eine unzulässige Registereintragung in seinen Rechten verletzt wird, kann die Löschung der Eintragung auf dem Rechtswege beantragen. Zur Zeit des Inkrafttretens des Warenzeichengesetzes zielte der Gesetzgeber nur auf solche Namen und Zeichen ab, die zu Personen gehörten, die sich in Handel oder Industrie wirtschaftlich betätigten. Diese Begrenzung ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut von § 1 des Gesetzes. Der „Gesetzgeber" hatte die Rechtswirkungen sonstiger Standardisierungszeichen nicht berücksichtigt. Der HD entschied einstimmig, daß der Ski-Förderungsverein den Schutz des Warenzeichengesetzes genieße. Drei der fünf Senatsmitglieder formulierten die Gründe des Gerichts: „Zwar stellt die Qualitätsprüfung von Skiern und anderen Sportartikeln, wie sie der Ski-Förderungsverein unternimmt, kein Gewerbe i. S. von § 1 Warenzeichengesetz dar, doch hat es das Gericht für gerechtfertigt gehalten, § 4 Abs. 2 — obwohl dessen Anwendungsbereich ursprünglich enger begrenzt war — in Ubereinstimmung mit seinem Wortlaut und nach herrschender Rechtsauffassung billigerweise so auszulegen, daß an seinem Schutz auch Namen und Zeichen solcher Personen teilhaben, die kein Gewerbe i. S. des § 1 ausüben." W ä h r e n d d e r l e t z t e n 20 J a h r e h a b e n d i e schwedischen G e r i c h t e das Unternehmensrecht einer gründlichen P r ü f u n g unterzogen. Der S k i F ö r d e r u n g s - F a l l h a t z u e i n e r d e r ausschlaggebenden E n t s c h e i d u n g e n g e f ü h r t . Es w ü r d e u n s z u w e i t v o m T h e m a a b b r i n g e n , dieser F r a g e i m

Richter und Rechtsanwendung e i n z e l n e n nachzugehen. F ü r d e n h i e r v e r f o l g t e n Z w e c k s o l l d i e F e s t s t e l l u n g genügen, daß d e r HD d e n u r s p r ü n g l i c h e n gesetzgeberischen W i l l e n vernachlässigte, g l e i c h w o h l aber a u f d e m W o r t l a u t d e r V o r s c h r i f t a u f b a u t e u n d diesen nach g e g e n w ä r t i g e m S p r a c h g e b r a u c h u n d R e c h t s g e f ü h l als H a u p t a r g u m e n t f ü r eine E n t s c h e i d u n g b e n u t z t e , die aus a n d e r e n G r ü n d e n w ü n s c h e n s w e r t erschien. A u c h d e r nächste F a l l d r e h t sich u m d e n Sprachgebrauch, w e n n auch aus e t w a s a n d e r e m B l i c k w i n k e l . E r zeigt d e u t l i c h , w i e d e r I n h a l t eines Gesetzes m i t h i l f e sprachlicher Ü b e r l e g u n g e n v e r ä n d e r t w e r d e n k a n n , vorausgesetzt a l l e r d i n g s , daß das E r g e b n i s dieser n e u e n A u s l e g u n g aus a n d e r e n E r w ä g u n g e n heraus a n g e s t r e b t w u r d e . Smäland-Bank gegen Τ eira- Industrie-AG Konkursverwalter, N J A 1952, S. 195. Kredite mit wechselnden Sicherheiten sind dem schwedischen Recht seit langem geläufig. Ein Industrieunternehmen kann seinen Maschinenpark, seine Rohstoffe und seinen Lagerbestand als Kreditsicherheiten anbieten. Das Industriekreditsicherungsgesetz von 1883 schreibt für den Kreditsicherungsvertrag eine bestimmte Form und dessen Registrierung vor. Seit dem Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes für die Sicherung landwirtschaftlicher Kredite im Jahre 1932 kann sich der Kreditgeber im landwirtschaftlichen Sektor gleichartige Sicherheiten verschaffen. Der so gesicherte Kreditgeber hat jedoch i m Konkurs des Kreditschuldners kein unmittelbares Zugriffsrecht auf die sichernden Gegenstände, vielmehr ist der Schuldner verpflichtet, die Forderung des Kreditgebers in voller Höhe zu befriedigen — und zwar aus der Konkursmasse —, es sei denn, daß diese unzureichend ist oder andere Konkursforderungen vorrangig sind. Die Smäland-Bank hatte sich einen Kredit an die Telra-AG in der beschriebenen Weise sichern lassen. Die Telra-AG hatte einige ihrer Maschinen auf Abzahlung und unter Eigentumsvorbehalt gekauft. Als die A G in Konkurs ging, waren die Maschinen bis auf einen kleinen Restbetrag bezahlt. Der Konkursverwalter beglich die Restforderung des Verkäufers und verkaufte die Maschinen sodann frei Hand. Die Smäland-Bank als gesicherte Kreditgläubigerin verlangte die Rückabwicklung dieses Geschäfts bzw. den Zugriff auf den Erlös. Bei einem Abzahlungskauf hat der Käufer das Recht, die gekauften Waren durch Bezahlung des Restkaufpreises zu erwerben. Stehen nur noch wenige Raten aus, stellt dieses Recht einen beträchtlichen wirtschaftlichen Wert dar. Die Gerichte hatten nun die Frage zu klären, ob dieses Recht des Abzahlungskäufers Bestandteil „des Eigentums des Schuldners" war mit der Folge, daß es auch an der Kreditsicherung teilnahm. Als das Gesetz 1883 in Kraft trat, war der Ratenkauf von Industriemaschinen unter Eigentumsvorbehalt in Schweden unbekannt. Demgegenüber wurde diese Frage bei den Vorarbeiten zum Gesetz von 1932 berücksichtigt. I n seinem Bericht zur Entwurfsvorlage führte der Minister aus, daß „sich die Kreditsicherung nur auf solches Inventar beschränkt, das i m Eigentum des Schuldners steht. Demzufolge erfaßt sie nicht auf Abzahlung gekaufte Inventarteile". Dieselbe Ansicht vertrat der Parlamentsausschuß: „Die Sicherheit umfaßt nicht solches Inventar, das unter Eigentumsvorbehalt auf Raten gekauft wurde oder aus anderen Gründen nicht dem Schuldner gehört."

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Das Stadtgericht berief sich auf diese Stellungnahmen in den Materialien und wies die Klage der Bank ab, weil sich die Kreditsicherung i m Zeitpunkt des Konkurses nicht auf die Maschinen erstreckte. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der H D gab (mit drei gegen zwei Stimmen) der Revision aus folgenden Gründen statt: „Daß der Verkäufer das Eigentum an solchen Gegenständen behält, die unter Eigentumsvorbehalt verkauft sind, schließt nicht aus, daß auch der Käufer Eigentumsrechte hat, selbst wenn diese durch die Bezahlung des Restkaufpreises aufschiebend bedingt sind. Unter Eigentumsvorbehalt gekaufte Gegenstände werden daher von der Kreditsicherung erfaßt, sofern dadurch Rechte des Verkäufers nicht beeinträchtigt werden."

I m Unterschied zum „Ski-Förderungs-Fall" hatten die Gerichte i m „Smaland-Bank-Fall" eine eher technische Frage zu klären. Ob der Käufer von Gegenständen, die i h m unter Eigentumsvorbehalt übergeben worden sind, als Eigentümer zu betrachten ist oder nicht, ist eines der Probleme, die Rechtsgelehrte der alten Schule m i t Vorliebe diskutieren. Früher überwog die Auffassung, daß der Verkäufer alleiniger Eigentümer bleibe. Der moderne Jurist vertritt einen anderen Standpunkt. Er versucht, die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten so zu beschreiben, wie sie sind, wobei er die gesetzliche Regelung i m Auge behält. Die Terminologie erscheint als zweitrangige Frage. Sowohl der Verkäufer als auch der Käufer haben eine Rechtsposition inne, die i n jeweils bestimmten Beziehungen der eines Eigentümers gleicht. Deshalb wurde der Begriff „Eigentümer" für beide angewandt. I m „Smaland-Bank-Urteil" dienten die neuen, von der Rechtswissenschaft eingeführten Bezeichnungen dem Zweck, eine Rechtsänderung zu begründen. b) Oben (zu VI.) wurde erwähnt, daß sich das Gewicht der i n den Gesetzesmaterialien mitgeteilten Stellungnahmen und Auffassungen danach richtet, welche politische oder fachliche Autorität das jeweilige Gremium repräsentierte, auf welcher Stufe des Gesetzgebungsverfahrens es tätig wurde etc. Die folgenden Fälle berühren einen anderen Aspekt. Die Bestandteile der Materialien unterscheiden sich auch inhaltlich voneinander, insoweit sie verschiedene Maßstäbe anlegen. Das Gesetzgebungsmaterial ist eine ergiebige Quelle für Informationen über den allgemeinen — politischen oder sozialen — Zweck des Gesetzes, über die Nachteile der früheren Rechtslage und über die vom „Gesetzgeber" nun vorgelegten Abhilfen und Verbesserungen. I n Sachen Anna Sterribrink, N J A 1953, S. 120. Während des zweiten Weltkrieges wurde auch in Schweden der Wohnraum knapp. U m die Mieten auf ihrer damaligen Höhe einzufrieren, führte man ein Kontrollsystem ein. Diesem Zweck diente das Mietkontrollgesetz von 1942, das zugleich den Mieter vor einem infolge des Wohnungsmangels drohenden Wohnungsverlust schützte. Die Mietpreiskontrolle hatte die Tendenz, den Wohnraum-

Richter und Rechtsanwendung mangel zu verewigen, und verursachte eine der schwersten sozialen Krisen i m heutigen Schweden. I m allgemeinen werden Mietverträge auf ein Jahr geschlossen. Sie sind kündbar durch eine schriftliche Mitteilung, die drei Monate vor Ablauf des Jahres zugegangen sein muß. Erhält der Mieter ein Kündigungsschreiben seines Vermieters, so kann er beim örtlichen Miet-Amt beantragen, daß die Kündigung für unwirksam erklärt wird. Entscheidet das Amt zu seinen Gunsten, läuft der Mietvertrag weiter. Gemäß § 7 des Gesetzes spricht das Amt die Unwirksamkeit der Kündigung aus, „wenn die Beendigung des Vertrages gegen die guten Sitten in Mietverhältnissen verstoßen oder sonst unbillig sein würde". Die Witwe Anna Sternbrink lebte allein in einer Wohnung mit 5 Zimmern und Küche. I m selben Haus bewohnte ein Oberst mit seiner Frau und 2 K i n dern eine kleinere Wohnung mit zwei Zimmern und Küche. Der Vermieter ging davon aus, daß die vierköpfige Familie die größere Wohnung eher benötigte als die Witwe. Er kündigte ihr und bot ihr gleichzeitig die 2-Zimmerwohnung als Ersatz an. Das örtliche Miet-Amt billigte dieses Vorgehen und wies daher den Antrag der Witwe auf Unwirksamkeitserklärung der Kündigung zurück. Auf die Beschwerde der Witwe bestätigte das Zentrale Miet-Amt diese Entscheidung. Dem Grundsatz nach sind die Entscheidungen des Zentralen Miet-Amts endgültig. I m Wege eines Wiederaufnahmeantrages gelangte der Fall dennoch zum HD. Nach der Prozeßordnung von 1942 kann der HD die Wiederaufnahme eines Verfahrens anordnen, wenn einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde offensichtlich schwerwiegende Rechtsirrtümer unterlaufen sind. Obwohl der H D den Rechtsfehler der Miet-Ämter nicht als so schwerwiegend einstufte, daß die sehr strengen Wiederaufnahmevoraussetzungen erfüllt waren, nahm er die Gelegenheit wahr, sich zur Rechtslage wie folgt zu äußern: „Der Zweck des Mietkontrollgesetzes von 1942 ist der Schutz des Mieters sowohl vor allgemeinen Mietzinserhöhungen infolge der wirtschaftlichen Krise als auch vor der Gefahr, seine Wohnung aufgrund des herrschenden Wohnraummangels zu verlieren. Andererseits hat das Gesetz auch dem Umstand Rechnung getragen, daß der Vermieter vernünftige und billigenswerte Gründe für das Verlangen nach freier Verfügung über die Wohnung haben kann. § 7 räumt dem Miet-Amt die Möglichkeit ein, eine Kündigung für unwirksam zu erklären, wenn die Beendigung des Vertrages gegen die guten Sitten in Mietverhältnissen verstoßen oder sonst unbillig sein würde. Die Vorschrift überläßt dabei dem A m t die Ausübung seines Ermessens. Aus den Vorarbeiten zum Gesetz geht hervor, daß bei der Prüfung die berechtigten Interessen beider Parteien, des Mieters und des Vermieters, zu beachten sind. Gründe für die Ablehnung eines Antrages auf Unwirksamkeitserklärung einer Kündigung können u. a. darin liegen, daß der Vermieter Eigenbedarf für sich selbst oder ihm Nahestehende geltend macht oder daß die Räumung der Wohnung in sonstiger Weise allgemein anerkannten Zwecken dient. Soweit dem Gericht bekannt ist, gibt es keinen Hinweis in den gesetzgeberischen Materialien — weder zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes noch später —, der die Ansicht stützen könnte, daß das Amt, wie im vorliegenden Falle geschehen, sein Ermessen dahingehend ausüben kann, den konkreten Bedarf verschiedener Mietparteien zu prüfen und einen Mieter von der einen Wohnung in die andere umzusetzen. Eine derartige Begrenzung des Wohnungsschutzes, den das Gesetz dem Mieter gewährt, lag nicht in der Absicht des Gesetzgebers."

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Der Text des Mietkontrollgesetzes überläßt dem A m t die Entscheidung darüber, welchem der Parteieninteressen i m Einzelfall der Vorzug zu geben ist. Doch hat das A m t außer dem reinen Wortlaut des Gesetzes auch die Direktiven zu beachten, die sich aus den Vorarbeiten und sonstigen Materialien ergeben. Die Mietbehörden hatten i m obigen Fall einer Familie mit Kindern zu einer angemesseneren Wohnung auf Kosten der Interessen einer alleinstehenden Witwe verhelfen wollen. Was sie damit unternahmen, war also die Zuteilung vorhandenen Wohnraumes aufgrund einer Bedarfsprüfung. Die Rationierung von Wohnungen war jedoch nicht der eigentliche Gesetzeszweck. Nach Ansicht des H D waren entsprechende sozialpolitische Erwägungen der Mietbehörden demnach unzulässig. Gewöhnlich besteht der Bericht der Kommission, die zur Ausarbeitung eines Gesetzes eingesetzt wurde, aus zwei Teilen, einem ersten m i t einem allgemeinen Uberblick über die gegenwärtige Rechtslage, der Darlegung der Reformbedürftigkeit und der Aufzählung möglicher Verbesserungen, sowie einem zweiten, i n welchem jede Vorschrift des Gesetzentwurfs i m einzelnen kommentiert wird. Wie schon gesagt, erläutert der Kommentator die Bedeutung einer Vorschrift mithilfe von Beispielen. Dieser A r t von Illustrationen messen die Politiker großes Gewicht bei. Für einen Nicht-Juristen ist es leichter, Sinn und Folgen der neuen Bestimmungen anhand von Beispielsfällen abzuschätzen als durch die Lektüre des abstrakt formulierten Gesetzestextes. Auch die Gerichte beachten diese Fallbeispiele. Bei meiner Befragung von Richtern habe ich den Eindruck gewonnen, daß viele von ihnen die i n den Materialien aufgeführten Beispiele für ebenso wichtig halten wie Präjudizien aus der Rechtsprechung. Der folgende Fall bestätigt meine Beobachtung. Der HD stellt i n seiner Begründung das Beispiel aus den Motiven Seite an Seite mit seiner eigenen gefestigten Rechtsprechung. Schwestern Nilsson gegen Johan Karlsson und Anverwandte, N J A 1950, S. 483. Nach dem schwedischen Erbgesetz von 1928 erhält der überlebende Ehegatte bei gesetzlicher Erbfolge den gesamten Nachlaß, sofern keine Nachkommen vorhanden sind, doch wird bei dessen Ableben der Nachlaß zwischen den Verwandten des Ehemannes und den Verwandten der Ehefrau geteilt. Es ist alter Brauch in Schweden, daß die Eheleute — wenn sie keine eigenen Kinder haben — ein gemeinschaftliches Testament machen, in welchem sie sich gegenseitig zu Erben einsetzen. Dies beruht zum Teil auf der Tatsache, daß vor 1920 der überlebende Ehegatte bei gesetzlicher Erbfolge nichts vom Nachlaß erhielt. Die Kommission zur Ausarbeitung eines Erbgesetzentwurfes äußerte sich u. a. zu den Folgen, welche die neue Gesetzesregel für das gemeinschaftliche Testament hatte. Der Kommission zufolge war die Annahme berechtigt, daß ein Ehegatte, der den anderen testamentarisch zum Erben eingesetzt hat, zugleich gewollt habe, daß diesem auch das Recht zustehen solle, über den gesamten Nachlaß nun seinerseits un-

Richter und Rechtsanwendung beschränkt letztwillig zu verfügen. Verstirbt der überlebende Ehegatte ohne Testament, so sollte der Nachlaß ausschließlich an dessen gesetzliche Erben und nicht auch an die des Erstverstorbenen übergehen, sofern der Erstverstorbene für diesen Fall keine besonderen Verfügungen getroffen hat. Es ist schwer zu sagen, ob diese Vermutung mit dem übereinstimmt, was sich die Bevölkerung im allgemeinen unter den Wirkungen eines gemeinschaftlichen Testaments vorstellt, in dem sich Eheleute gegenseitig zu Erben einsetzen. I n einer Reihe von Fällen ist die Ansicht vertreten worden, daß die im Erbgesetz von 1928 aufgestellte Regel lediglich die schon vorher übliche Testiergewohnheit zur Norm erhoben habe und daß demzufolge nach dem Tode beider Eheleute auch die gesetzlichen Erben des Erstverstorbenen ihren Nachlaßanteil zu recht beanspruchen könnten. I n dem von den Schwestern Nilsson angestrengten Rechtsstreit stellt der HD eine Auslegungsregel auf, nach der die Verwandten des Erstverstorbenen von der Erbfolge ausgeschlossen sein sollen. I n der Begründung beruft sich das Gericht 1. auf die eigene ständige Rechtsprechung, 2. auf die inhaltlich übereinstimmende Empfehlung in den Gesetzesmotiven und 3. darauf, daß in der Rechtswirklichkeit eine Anpassung an diese Regel erfolgt sei. Die hierzu zentrale Passage des Urteils lautet: „Was die Auslegung eines Testaments angeht, in dem der überlebende Ehegatte zum unbeschränkten Erben eingesetzt wird und keine Verfügungen zur Nacherbfolge getroffen werden, so ist solchen letztwilligen Verfügungen von diesem Gericht stets die Bedeutung beigemessen worden, daß der Verfügende die gesetzliche Erbfolge ausschließen wollte, so daß die gesetzlichen Erben des Erstverstorbenen keinen Nachlaßanteil erhalten sollten. Die Motive zum Erbgesetz von 1928 sprechen klar aus, daß die Vorschrift, nach der die Verwandten des Erstverstorbenen Erben des überlebenden Ehegatten werden, in diesem Falle als unanwendbar zu betrachten ist. I m übrigen ist anzunehmen, daß diese Auffassung bereits soweit in der Bevölkerung verwurzelt ist, daß die Rechtsprechung nicht darüber hinweggehen sollte."

c) I n der dritten Gruppe erscheinen Fälle, i n denen der H D einen klaren Gesetzestext unberücksichtigt gelassen hat. Die Fälle der baltischen Flüchtlinge. I m Gefolge des zweiten Weltkrieges wurde Schweden ein Einwanderungsland, das Flüchtlingsströme aus verschiedenen Teilen der Welt aufnahm. Eine große Gruppe bildeten die Balten, die in Schweden Asyl suchten, als Rußland i m Jahre 1944 die baltischen Staaten erneut besetzte und annektierte. Nach den Grundsätzen des internationalen Rechts waren die baltischen Flüchtlinge sowjetrussische Staatsangehörige, was eine Reihe von Problemen verursachte. Das Nationalitätsprinzip ist die Hauptregel des schwedischen internationalen Privatrechts. Durch Gesetz von 1904 ratifizierte und übernahm Schweden die Haager Konvention über die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten i m Hinblick auf Eheschließung und -Scheidung, Getrenntleben von Ehegatten und Vormundschaft. Eine Anwendung dieser Vorschriften auf einen baltischen Flüchtling würde etwa bedeuten, daß sein Recht auf Eingehung der Ehe nach russischem Recht zu prüfen wäre. Demzufolge könnten z.B. Baltenflüchtlinge mit schwedischen Staatsangehörigen keine Ehe schließen, weil das russische Recht Ehen zwischen sowjetischen Staatsbürgern und Ausländern verbietet. Unter besonderer Berücksichtigung der Situation der baltischen Flüchtlinge wurde das Gesetz von 1904 im Jahre 1947 geändert.

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Die Änderungen zielten darauf ab, die Lage der Einwanderer wenigstens teilweise zu erleichtern. Sie ermöglichten es dem ausländischen Flüchtling, zu den für schwedische Staatsangehörige geltenden Bedingungen zu heiraten, wenn er einen schwedischen Wohnsitz hatte und sich seit mindestens zwei Jahren in Schweden aufhielt. Doch blieben andere Probleme bestehen, etwa i m Hinblick auf das Scheidungsrecht oder die Möglichkeit, die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft zu erwirken. Da die Flüchtlinge Ausländer blieben, war die schwedische Gerichtsbarkeit nur dann zuständig, wenn sich beide Parteien in Schweden aufhielten; das bedeutete, daß nach dem Gesetz von 1904/1947 keine Rechtsfolgen ausgesprochen werden konnten, wenn nur einer der Ehegatten in Schweden Zuflucht gesucht hatte. Darüberhinaus konnte auf Trennung oder Scheidung einer Ausländerehe — selbst wenn die schwedische Gerichtsbarkeit gegeben war — erst erkannt werden, wenn die tatsächliche Trennung durchführbar und angezeigt war und wenn Rechtsgründe dafür sowohl nach dem Heimatrecht der Eheleute als auch nach schwedischem Recht vorlagen. Bevor jedoch auch in dieser Hinsicht Gesetzesänderungen durchgeführt waren, wurde das Problem des Rechtsstatus' der baltischen Flüchtlinge in zwei HD-Entscheidungen behandelt, die einen neuen Abschnitt der schwedischen Rechtsprechung einleiteten. I n dem Rechtsstreit Elmar Lohk gegen Ilse Lohk, N J A 1948, S. 805, beschäftigte sich das Gericht mit der Frage der schwedischen Gerichtsbarkeit. Elmar Lohk aus Estland hatte die Trennung seiner Ehe nach Kap. 11 § 6 des schwedischen Ehegesetzes von 1920 beantragt, wonach eine Ehe aufgelöst werden kann, wenn der beklagte Ehegatte seit drei Jahren verschollen ist. Der Laurine- Fall, NJA 1949, S. 82, bezog sich auf ein von beiden in Schweden wohnenden Ehegatten eingereichtes Scheidungsbegehren. Die Untergerichte waren in beiden Fällen davon ausgegangen, daß nach dem Gesetz von 1904 das Heimatrecht der Parteien anzuwenden sei. Demgegenüber vertrat der H D einen anderen Standpunkt. Er meinte, daß die baltischen Flüchtlinge trotz ihrer sowjetrussischen Staatsangehörigkeit solchen Personen gleichzuerachten seien, die keine Staatsbürgerschaft besitzen. Da Staatenlose nach schwedischem Recht in ihren persönlichen Angelegenheiten dem Recht ihres Aufenthaltsortes unterliegen, müßte also die schwedische Gerichtsbarkeit zuständig sein, wonach die Fälle nach schwedischem Recht zu entscheiden seien. Das erste Urteil erging mit einer Mehrheit von vier Stimmen gegen eine Stimme. I m zweiten Fall kam der erkennende HDSenat zu einer einstimmigen Entscheidung. Die Begründung des Lohk-Urteils ist recht kurz. Das Gericht hielt das Gesetz von 1904 für unanwendbar in solch speziellen Fällen, in denen die Betroffenen „keine Staatsangehörigkeit besaßen oder, wenn dies doch der Fall war, keinerlei Schutz durch ihr Heimatland genossen". I m LaurineUrteil gaben drei von den fünf Richtern ein gemeinsames Votum ab, in welchem sie ihre Entscheidungsgründe näher präzisierten. I m Anschluß an die Feststellung, daß die Parteien politische Flüchtlinge waren, die den staatlichen Schutz der Sowjetunion nicht mehr besaßen und auch keine Rückkehr in ihre Heimat beabsichtigten, gaben die Richter ihrer Überzeugung Ausdruck, daß die sowjetische Staatsangehörigkeit nur noch „rein formeller Natur" sei. Obwohl die gesetzlichen Regelungen vorschrieben, daß sich die persönlichen Rechtsbeziehungen nach dem Recht des Heimatlandes zu richten hätten, „würde es i m vorliegenden Falle doch mit Sinn und Zweck dieser Vorschriften unvereinbar sein, an die hier angetroffene besondere Form der Staatsangehörigkeit all diejenigen tiefgreifenden Konse-

Richter und Rechtsanwendung quenzen zu knüpfen, die aus diesen Regeln folgen. Vielmehr müssen die Gesichtspunkte, die zu der Auffassung geführt haben, daß Staatenlose in persönlichen Angelegenheiten dem Recht ihres Aufenthaltsortes unterliegen, in entscheidenden Punkten auch für solche Ausländer maßgebend sein, welche den beschriebenen Sonderstatus einnehmen und dementsprechend keine reale Beziehung zu ihrem Heimatland besitzen." D e r W o r t l a u t des Gesetzes v o n 1904 ü b e r i n t e r n a t i o n a l e Rechtsverh ä l t n i s s e i n Ehesachen s p r i c h t k l a r u n d d e u t l i c h aus, daß e i n Scheid u n g s - oder T r e n n u n g s b e g e h r e n nach d e m H e i m a t r e c h t d e r E h e l e u t e z u b e u r t e i l e n ist. D i e entsprechende V o r s c h r i f t l ä ß t k e i n e n R a u m f ü r irgendwelche Ausnahmen. I n den referierten Fällen der baltischen F l ü c h t l i n g e w u r d e sie g l e i c h w o h l f ü r u n a n w e n d b a r e r k l ä r t . D e r HD sah sich n i c h t g e h i n d e r t , u n t e r A u ß e r a c h t l a s s u n g g e l t e n d e r Gesetzesb e s t i m m u n g e n neues Recht z u schaffen, w e i l d e r Gesetzgeber „ o f f e n s i c h t l i c h n i c h t m i t d e r E n t s t e h u n g (solcher S i t u a t i o n e n ) gerechnet h a t t e " , die dem Gericht zur Entscheidung vorlagen 21. Marian C. gegen Juan Α., NJA 1951, S. 265. A n Marian war aufgrund medizinischer Indikation eine Schwangerschaft unterbrochen worden. Später forderte sie von Juan, mit dem sie in der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr gehabt hatte, die Bezahlung der Hälfte der durch die Schwangerschaft und deren Abbruch entstandenen Kosten. Früher galt Abtreibung in Schweden generell als strafbar, wenngleich sie tatsächlich straffrei blieb, wenn der Eingriff von einem Arzt aus medizinischen Gründen vorgenommen worden war. Das Gesetz von 1938 über die Schwangerschaftsunterbrechung legalisierte die Abtreibung unter bestimmten Voraussetzungen. Soweit das Gesetz die medizinischen Indikationen regelt, ist es allerdings etwas enger als der vorherige faktische Rechtszustand. Nach § 1 lit. a) kann die Schwangerschaft abgebrochen werden, wenn Leben oder Gesundheit der Mutter aufgrund einer Krankheit, körperlicher Mängel oder Schwäche infolge des Austragens des Kindes ernstlich gefährdet würden. Eine Änderung von 1946 erweiterte das Gesetz auf Fälle sog. gemischter sozialer und medizinischer Indikation. Treten zu den medizinischen Gründen bestimmte soziale Indikationen hinzu, so brauchen jene nicht so schwerwiegend wie die in § 1 lit. a) des Gesetzes aufgeführten zu sein. Nach Kap. 7 § 10 des schwedischen Elterngesetzbuches von 1949 hat der Vater eines außerehelichen Kindes auch die Mutter innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor und nach der Niederkunft finanziell zu unterstützen. Vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergab sich dieselbe Regelung aus einem Gesetz von 1917 über nicht ehelich geborene Kinder. Demzufolge bestand die Unterhaltsverpflichtung des nicht ehelichen Vaters schon zu einer Zeit, als prinzipiell noch jede Abtreibung illegal war. I m Marian-Fall traten die Untergerichte der Auffassung Juans bei, der seine Unterhaltsverpflichtung nach dem Elterngesetzbuch bestritt, weil es wegen der Schwangerschaftsunterbrechung zu keiner Niederkunft gekommen sei. Sie wiesen die Klage daher ab. Der H D kam mit einer Mehrheit 2i Der Verf. hat die Fälle der baltischen Flüchtlinge und deren allgemeine Bedeutung näher behandelt in dem Aufsatz „Nationality and domicile in Swedish private international law", in The International L a w Quarterly 1951, S. 39 ff.

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von drei gegen zwei Stimmen zum gegenteiligen Ergebnis. Die Richter Alsén und Ericsson formulierten die Urteilsgründe des Gerichts. „Nach Sinn und Zweck von Kap. 7 § 10 des Elterngesetzbuches ist Juan verpflichtet, einen Beitrag zu den Kosten und dem Verdienstausfall zu leisten, die Marian infolge der Schwangerschaft und deren Abbruchs entstanden sind." Diese Entscheidung basierte also auf einer analogen Anwendung der zitierten Vorschrift. Richter Regner, der diesem Ergebnis zustimmte, gab eine eigene, abweichende Begründung, in der er sich im wesentlichen auf die Gesetzgebungsgeschichte berief. Wie schon erwähnt, erschien die Vorschrift, daß der Mann zum Unterhalt der Mutter beizutragen hatte, erstmals in einem Gesetz von 1917. I n den Motiven dieses Gesetzes wurde die Ansicht wiedergegeben, daß die Unterhaltsverpflichtung auch dann bestehe, wenn das Kind tot geboren werde. Diese Pflicht des Mannes könne nicht davon abhängig gemacht werden, daß die Entbindung spontan oder überhaupt i m letzten Teil der Schwangerschaftsperiode stattfinde. Regner zieht daraus den Schluß, daß der Mann auch dann einen Unterhaltsbeitrag leisten müsse, wenn die Schwangerschaft zu einem früheren Zeitpunkt geendet habe, wobei dieser Fall vorliegend dadurch eingetreten sei, daß ein Arzt die Schwangerschaft vorzeitig aus solchen medizinischen Gründen abgebrochen habe, die auch schon vor dem Gesetz von 1938 über die Schwangerschaftsunterbrechung als legale Abtreibungsgründe anerkannt gewesen seien. Durch das Gesetz von 1938 sei die Unterhaltsverpflichtung des nicht ehelichen Vaters zumindest auf diejenigen Fälle von Schwangerschaftsunterbrechung erweitert worden, die in § 1 lit. a) aufgeführt seien. Vermutlich gingen die Ansichten Alséns und Ericssons einerseits und Regners andererseits in folgendem Punkt auseinander. Die ersteren nehmen offenbar an, daß der Gesetzgeber Abtreibung und Totgeburt nicht gleichgesetzt habe. Grundsätzlich bedeute Abtreibung, daß der menschliche Fötus in noch nicht lebensfähigem Zustand entfernt werde. Das Gesetz von 1938 schreibt vor, daß eine Schwangerschaft möglichst nicht nach der 20. Woche abgebrochen werden soll, und gibt damit zu erkennen, daß nach diesem Zeitpunkt menschliches Leben abgetrieben würde. I m Gegensatz zur legalen Schwangerschaftsunterbrechung habe aber die Mutter bei einer Totgeburt ein im Prinzip lebensfähiges Kind geboren. Es ist nun interessant, die Begründung der Gerichtsmehrheit mit dem Votum des dissentierenden Richters Söderlund zu vergleichen. I n seiner Begründung hebt Söderlund den bereits geschilderten Unterschied zwischen Schwangerschaftsunterbrechung und Totgeburt hervor. Ferner erklärt er — im Gegensatz zu Regners Ansicht —, daß die gesetzgeberischen Materialien keine Entscheidungshilfen enthielten. Daß der Mann die Mutter auch im Falle einer Totgeburt zu unterstützen hätte, sei eine klare Folge aus der Konstruktion der Unterhaltsregel. Die Unterhaltspflicht sollte sich nämlich auch auf eine Zeitspanne vor der Niederkunft erstrecken, und der einmal erworbene Ersatzanspruch könne nicht dadurch wieder entfallen, daß das Kind tot geboren werde. Söderlund fährt fort: „Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Gesetzgeber es erst später für notwendig erachtet hat, den Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen zu gestatten, könnte das Gericht der Mutter an und für sich einen Unterhaltsanspruch zusprechen, wenn es die Bestimmungen des Kap. 7 § 10 des Elterngesetzbuches sehr weit auslegte." Doch sei es zur Klärung dieser Fragen besser, daß der Gesetz-

Richter und Rechtsanwendung geber die Vorschriften entsprechend ändere; das hier anstehende Problem sollte jedenfalls nicht i m Wege der richterlichen Rechtsfortbildung gelöst werden.

Die Richter Alsén und Ericsson, die die Mehrheitsbegründung verfaßt hatten, waren offensichtlich der Meinung, daß Kap. 7 § 10 des Elterngesetzbuches von 1949 keine Unterhaltspflicht des Mannes i m Falle einer Schwangerschaftsunterbrechung statuierte. Gleichwohl führten sie aus, daß eine solche Pflicht zumindest dann bestehe, wenn der Schwangerschaftsabbruch medizinisch indiziert sei. Der Hauptgrund für diese Analogie scheint i n dem Wandel der gesellschaftlichen Einschätzung der Abtreibungsfrage seit 1917 gelegen zu haben, seit der Zeit also, in der die Unterhaltsverpfiichtung des nicht ehelichen Vaters erstmals normiert wurde. Nähert man sich dem Problem i n der Weise, wie es Söderlund getan hat, so fällt besonders auf, daß der eingetretene soziale Wandel offiziell i n dem Gesetz über die Schwangerschaftsunterbrechung von 1938 Ausdruck und Anerkennung fand. IX. I n juristischen Lehrbüchern w i r d oft das Problem angeschnitten, ob eine Gesetzesvorschrift praktisch dadurch außer K r a f t treten kann, daß sie über eine längere Zeit hinweg nicht angewandt wird. Für das schwedische Recht belegt Wilhelm Sjögren diese Erscheinung i n dem Aufsatz „Richtermacht und Rechtsentwicklung" 22 . Daß eine Vorschrift ohne formelle Aufhebung unanwendbar wird, gehört i n einem Land wie Schweden zu den seltenen Ausnahmen, w e i l der Gesetzgebungsprozeß kontinuierlich hat ablaufen können und die Materie fast aller Rechtsgebiete i n gewissen Zeitabständen einer Revision unterzieht. Demgegenüber w i r d kaum der Umstand besonders erwähnt, daß alle gesetzlichen Bestimmungen i m Laufe der Entwicklung eine allmähliche Veränderung erfahren. Doch verdient diese ständige graduelle Inhaltsveränderung mehr Aufmerksamkeit als die Lehre vom faktischen Außerkrafttreten solcher Vorschriften, die infolge konstanter Nichtbeachtung i n Vergessenheit geraten. Aus nahezu allen Rechtsgebieten lassen sich Beispiele dafür nennen, wie ein Gesetzestext sukzessive mit neuem Inhalt gefüllt wird. Die Anwendung einer Vorschrift durch die Rechtsprechung w i r k t gleichsam wie eine Bestätigung ihrer materiellen Bestimmungen. Doch enthält diese A r t der Bekräftigung zugleich eine Neufassung der Regel und die — zumindest teilweise — Aufnahme neuer Elemente. Daß Bestimmungen m i t Zeitablauf an K r a f t verlieren, w i r d von der Tatsache bestätigt, daß die Gerichte dem Wortlaut eines alten Gesetzes nicht dasselbe Gewicht beimessen wie 22 TfR 1916, S. 349.

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demjenigen eines gerade erst verabschiedeten Gesetzes. Wenn man Vorschriften m i t sichtbaren Alterserscheinungen finden w i l l , braucht man nicht nur Gesetze zu untersuchen, die vor langer Zeit i n Kraft getreten sind. Die Urteile i m „Ski-Förderungs"- und i m „SmalandBank-Fall" 2 3 mögen als Beispiele dienen. Hierbei verlieh das Gericht Bestimmungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen neuen Inhalt. I n diesem Zusammenhang ist auch auf diejenigen Fälle hinzuweisen, i n denen das Gericht gesetzliche Vorschriften vollständig mißachtet hat. Stets waren betagte Gesetze betroffen. I n den Fällen der baltischen Flüchtlinge 2 4 stammte die übergangene Bestimmung aus dem Jahre 1904, während der „ M a r i a n - F a l l " 2 5 die Auslegung einer Regel betraf, die 1917 eingeführt worden war. A l l e r Wahrscheinlichkeit nach haben Direktiven, die i n Gesetzesmaterialien und Präjudizien niedergelegt wurden, noch weniger Widerstandskraft gegen den Verwitterungsprozeß als gesetzliche Anweisungen. Der Zeitfaktor ist indessen nicht ausschlaggebend. I n den Fällen der baltischen Flüchtlinge setzte sich das Gericht über ein Gesetz aus dem Jahre 1904 hinweg, obwohl dessen Wortlaut eindeutig seine Anwendung indizierte. I m „Laurine-Fall" geschah dies nach Ansicht des Gerichts deswegen, w e i l der „Gesetzgeber offensichtlich nicht an einen solchen Sachverhalt gedacht" habe, wie er dem Gericht jetzt zur Entscheidung vorlag. I m „Anna-Sternbrink-Fall" stützte sich das Minderheitsvotum des Zentralen Miet-Amtes auf denselben Gedanken, wobei es sich hier u m die Rechtsanwendung durch eine Verwaltungsbehörde handelte: „Es kann sich als notwendig erweisen, eine Vorschrift weiter auszulegen, als es ihr Wortlaut oder die Gesetzesmaterialien streng genommen zulassen, doch ist dies nur dann gerechtfertigt, wenn die Anwendung der Vorschrift auf nicht vorausgesehene Sachverhalte ermöglicht werden soll."

Indessen bin ich nicht davon überzeugt, daß der H D oder die Minderheit des Zentralen Miet-Amtes den entscheidenden Punkt erfaßt haben. Was die Mitglieder der Gremien während des Gesetzgebungsverfahrens beabsichtigt oder sich vorgestellt haben, berührt nur einen Aspekt eines vielschichtigen Problems. Bei der Beurteilung einer Gesetzesvorschrift sollte stets berücksichtigt werden, daß jedes Gesetz das Ergebnis menschlicher Zielvorstellungen und Ausdruck einer bestimmten sozialen Wertordnung ist. Ein Grund, einem Gesetz den Gehorsam zu verweigern, liegt für den Richter i n der Uberzeugung, daß die Bevölkerung nicht mehr die Wertungen anerkennt, welche dem Gesetz zugrundegelegt worden sind. I m allgemeinen werden sowohl das unerwartete 23 s. o. S. 38 f f . o. S. 43 f f . 25 S. o. S . 45 f f .

24 S.

Richter und Rechtsanwendung Aufkommen neuer Sachverhalte als auch gewandelte Anschauungen und Wertsetzungen Gründe für eine Rechtsfortbildung abgeben. I n extremen Fällen der Rechtserneuerung muß sich der Richter allerdings auf die letztgenannte Gruppe von Gründen allein stützen. Keinesfalls aber sollte der Richter seine privaten Auffassungen von Richtig und Falsch zum Maßstab dafür erheben, ob die das Gesetz tragenden sozialen Wertungen noch als verbindlich angesehen werden oder nicht. Die entscheidende Frage müßte lauten, ob die Wertungen des historischen „Gesetzgebers" noch von den Personen und Gremien, die den heutigen „Gesetzgeber" ausmachen, geteilt werden. X. Noch einmal soll an die Frage des Richters: „Welche Entscheidungshilfen stehen m i r zur Verfügung?" angeknüpft werden. Wenn der Richter i m Rahmen seiner Entscheidungstätigkeit neues Recht schöpft, hat seine Arbeit nicht den Charakter freischwebender Konstruktionen. Es wäre ein I r r t u m anzunehmen, daß der Richter vollkommen frei zwischen allen theoretisch denkbaren Lösungsmöglichkeiten wählen kann und sich dabei lediglich von seinen eigenen A n schauungen über das jeweils sozial Erforderliche oder Wünschenswerte leiten läßt. Andererseits ist es ebenso eine Fiktion, davon auszugehen, daß die Gerichte nur geltendes Recht anwendeten und daß jede Entscheidung nicht mehr als das Ergebnis einer streng logischen Operation wäre. Eine Auseinandersetzung m i t allen Problemen der richterlichen Entscheidungswahl würde weitere Untersuchungen voraussetzen und hier zu weit führen. N u r einige kurze Anmerkungen sollen an dieser Stelle angeschlossen werden. Als Ausgangspunkt wähle ich die klassischen Methoden der juristischen Argumentation. Soweit ersichtlich bedienten sich die Richter der alten Schule vor allem zweier Gegensatzpaare, wobei die Annahme der jeweils einen Alternative diejenige der anderen ausschloß. Das erste Paar besteht aus restriktiver und extensiver Auslegung, das zweite aus dem argumentum e contrario und der Analogie. Die klassische Argumentationstechnik soll mithilfe eines konkreten Beispiels illustriert werden. I m „ M a r i a n - F a l l " 2 e gingen die beiden Richter, welche die Begründung des Gerichts verfaßten, vermutlich auf folgendem Wege vor, u m zur Lösung zu gelangen. Kann der Sachverhalt, soweit er Marians Unterhaltsforderung zugrundeliegt, unter Kap. 7 § 10 des Elterngesetzbuches subsumiert werden? Fest steht zwar, daß die Bestimmung auch den Fall der Totgeburt erfaßt, doch ist i n den Augen des Gesetzgebers 2« N J A 1951, S. 265; s.o. S.45ff. 4 Schmidt

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die Schwangerschaftsunterbrechung der Totgeburt nicht gleichgestellt. Daher muß die Frage m i t Nein beantwortet werden. War so die Möglichkeit einer extensiven Auslegung des Gesetzes ausgeschlossen, folgte i m nächsten Schritt die Prüfung des anderen Gegensatzpaares: argumentum e contrario oder Analogie? Sollten die beiden Richter — was ich für unwahrscheinlich halte — einen e contrario-Schluß versucht haben, würde dies etwa so ausgesehen haben. Behandelt die Vorschrift erschöpfend alle Fallkonstellationen, i n denen eine Unterhaltspflicht entstehen kann? Wenn diese Annahme richtig ist, so entfällt ein Unterhaltsanspruch dann, wenn die Schwangerschaft durch Abtreibung beendet wurde. Die Entscheidung des H D stützte sich vielmehr auf Analogie. Bei einem Analogieschluß w i r d eine Vorschrift auf einen Fall angewandt, der zwar nicht unmittelbar vom Gesetzeswortlaut erfaßt wird, jedoch einige wesentliche Elemente m i t dem Sachverhalt gemeinsam hat, auf den das Gesetz abzielt. Mithilfe der Analogie erweitert der Richter die Vorschrift zu neuem Recht, indem er sich auf den „Geist" der Vorschrift — die ratio juris i m Sprachgebrauch der Römer — beruft 2 7 . Es ist offensichtlich, daß diese klassische Argumentationstechnik nur wenig mit Logik zu tun hat. Denn streng logische Operationen setzten u. a. voraus, daß klar definierte Kriterien für ihre Anwendung vorliegen, z. B. also Kriterien für die extensive Auslegung oder die analoge Anwendung einer Gesetzesvorschrift. Man müßte m. a. W. zuerst bestimmten Fragen nachgehen, wie z. B. „Wann ist die Anwendung einer Vorschrift auf einen Sachverhalt zulässig, der i n einigen Teilen von den Fällen abweicht, die der »Gesetzgeber4 i m Auge hatte?" oder „ I n welchen Tatbestandselementen einer Vorschrift kommen deren ,Sinn und Zweck* zum Ausdruck?" und, zweitens, „Sind diese Elemente auch Bestandteil des vorliegenden Falles?". Doch solche Kriterien gibt es nicht. Der dänische Rechtswissenschaftler Ross28 hat die klassische Methode einer scharfen K r i t i k unterzogen. Seiner Ansicht nach dienten die überlieferten Techniken dazu, „das Ergebnis, welches der Jurist nach seinen persönlichen Überzeugungen von Richtig und Falsch für gerecht oder sozial erwünscht hält, nachträglich rechtlich zu begründen. M i t wenigen Ausnahmen sind diese Methoden so vorausschauend und weise angelegt, daß sie nie angewandt werden müssen, sondern nur i m Bedarfsfall herangezogen werden können."

27 Basiert die Entscheidung auf Analogie, so verwenden die schwedischen Gerichte stets die Formel, daß von „Sinn und Zweck" der herangezogenen Vorschrift ausgegangen wurde. Vgl. das „Marian-Urteil" des HD, oben S. 46. 28 „Über Recht und Gerechtigkeit", Kopenhagen 1953, S. 181.

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M. E. geht Ross zu weit m i t seiner K r i t i k , wenn er die klassischen Argumentationsmuster als Werkzeuge einer Winkeljurisprudenz einordnet. Von den überkommenen Methoden kann immerhin gesagt werden, daß sie bestimmte Fragestellungen ermöglichen, die an und für sich bereits von Wert sind. Denn schon die Fragestellung selbst kann einen Hinweis auf den für die Lösung einzuschlagenden Weg enthalten. Die klassische Argumentationsweise enthält immer ein Gegensatzpaar: es geht u m die Frage, ob eine bestimmte Regel anzuwenden ist oder nicht. Der Ausgangspunkt ist demnach eine bereits geltende Rechtsregel, deren Anwendungsbereich näher geprüft und debattiert wird. Die überlieferte Technik geht von dem Grundprinzip aus, daß der Richter niemals insgesamt neue Normen schaffen sollte, sondern sich vielmehr stets an solche Rechtsgrundsätze anzulehnen hat, die schon i n anderem Zusammenhang anerkannt wurden. Die Analogiemethode enthält ein weiteres Moment. Hier liegt das Schwergewicht auf der Ermittlung von Übereinstimmungen. Daß Gleiches gleich zu behandeln ist, ist vermutlich die i n den westlichen Demokratien am stärksten eingewurzelte Grundnorm. Oft begegnen dem Richter auf seinem Weg zur Entscheidung zwei u m Anwendung streitende, einander entgegengesetzte Rechtsregeln. Dies geschah beispielsweise i n den Fällen der baltischen Flüchtlinge, w e i l sowohl das Nationalitätsprinzip als auch das Prinzip des A u f enthaltsortes i m schwedischen internationalen Privatrecht verankert ist und Gründe zugunsten der Anwendung beider Grundsätze vorlagen 29 . Nach welchen Kriterien beantwortet der Richter die Frage, welchem der offenstehenden Wege er folgen soll? Vor allem früher legten die Gerichte zu starkes Gewicht auf äußerliche Übereinstimmungen bzw. Unterschiede. Doch was sollte an dessen Stelle treten, wenn w i r eine reine Ermessensjustiz vermeiden wollen? I n diesem Punkt kann ich nur meine persönliche Meinung wiedergeben. Wertungen und Grundsätze, die i n modernen Gesetzen verankert sind, sollten stärkeren Einfluß ausüben als der Inhalt älterer Gesetze. Folgen die Gerichte einem solchen Standard, werden sich die älteren Gesetze ändern und den modernen anpassen. Die Gerichte sollten es sich bei ihrer rechtsfortbildenden Tätigkeit zur ständigen Aufgabe und zum Leitprinzip machen, alte Gesetze nach dem Muster der neuen fortlaufend inhaltlich zu verjüngen.

29 Vgl. oben S. 43 ff.

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I m Voranstehenden habe ich die richterlichen Bindungen an die Motivationsfaktoren: Gesetzestext, Materialien und Präjudizien hervorgehoben. Der schwedische H D ist nicht, wie der Supreme Court der Vereinigten Staaten, ein Zentrum politischer Macht. Andererseits ist er aber auch nicht der ergebene Diener des Gesetzgebers, sondern eher dessen selbständig arbeitender „unabhängiger Vertragspartner". Die schwedischen Richter beanspruchen auch keine Teilhabe an der politischen Macht: das Gegenteil ist der Fall. 1936 formulierte der Gesetzgebungsrat 30 ausdrücklich diesen Standpunkt. Dem Parlament lag ein Gesetzentwurf zum kollektiven Arbeitsrecht über das Vereinigungsund Verhandlungsrecht vor. Alle politischen Parteien standen positiv zu dem Vorschlag, eine gesetzliche Handhabe gegen die Verletzung des gewerkschaftlichen Vereinigungsrechts (der Koalitionsfreiheit 3 1 ) zu schaffen; beträchtliche Uneinigkeit bestand aber darüber, ob und inwieweit das Gesetz auch zu Behinderungen des Rechts, einer Gewerkschaft nicht beizutreten (negative Koalitionsfreiheit 3 1 ), Stellung beziehen sollte. U m die Verabschiedung des Gesetzes nicht zu gefährden, wurde jede Definition des Vereinigungsrechts aus dem Gesetzestext herausgenommen, so daß zu diesem Punkt nur noch geregelt war, daß „das Vereinigungsrecht nicht verletzt werden darf". I n seiner Stellungnahme warf der Gesetzgebungsrat die Frage auf, ob nicht der Gesetzgeber damit dem Arbeitsgericht eine Rechtsetzungsmacht verliehen habe, die einem Gericht nicht zukommen sollte. Nach schwedischer Tradition ist die Gesetzgebung die Hauptquelle neuen Rechts. Sjögren unterstreicht diese Tatsache m i t besonderem Nachdruck i n seiner mehrfach zitierten Schrift 3 2 . A l l e i n gesetztes Recht, so schreibt er, kann das Bedürfnis nach Rechtssicherheit befriedigen. „Selbst ein schlechtes Gesetz ist der Unsicherheit vorzuziehen, die untrennbar m i t einer Ermessensjustiz verbunden ist. Notfalls muß der Einzelne seine Privatrechtsbeziehungen — und nur solche werden hier betrachtet — nach den Vorschriften eines schlechten Gesetzes einrichten; gegenüber der Allmacht des Richters jedoch ist das Individuum schutzlos." Sjögrens drastische Beschreibung eines Präjudizien-Systems muß vor dem Hintergrund seiner heftigen K r i t i k an der Praxis schwedischer so Der Gesetzgebungsrat ist, wie oben schon ausgeführt, ein Gremium aus vier Mitgliedern: drei Richtern am H D und einem Richter am Obersten Verwaltungsgericht. Gesetzesvorlagen zum Zivil- und Strafrecht sind von diesem Rat zu begutachten, bevor sie in die parlamentarische Bearbeitung gehen. Gesetzesänderungen und -zusätze durch das Parlament sind vor der Inkraftsetzung ebenfalls dem Rat zur Stellungnahme vorzulegen. Anm. d. Ü. m TfR 1916, S. 338.

Richter und Rechtsanwendung Gerichte, Fälle „nach den Umständen des Einzelfalls" zu entscheiden 33 , gesehen werden. Doch selbst derjenige, der m i t Sjögren i n diesem Punkt nicht übereinstimmt, muß zugeben, daß sich die Methode richterlicher Rechtsetzung vor allem dann als schwerfällig und kaum effektiv erweist, wenn rechtliches Neuland betreten wird. Es kann sehr lange dauern, bis eine umstrittene Rechtsfrage vor den H D gelangt, und zuweilen hängt es von Zufälligkeiten ab, ob dies überhaupt geschieht. So konnte etwa die Frage, inwieweit Tarifverträge rechtsverbindlich und gerichtlich durchsetzbar waren, erst i m Jahre 1914 geklärt werden, nachdem einige Rechtsstreitigkeiten i m Gefolge des Generalstreiks von 1909 die Instanzen durchlaufen hatten. Demgegenüber war der Tarifvertrag zu dieser Zeit ein von den Parteien i n weitem Umfang seit dreißig und mehr Jahren anerkanntes Regelungsinstrument. Ein weiterer Nachteil der Rechtsetzung durch Rechtsprechung liegt darin, daß die Gerichte an die durch die Parteienanträge gezogenen Grenzen gebunden sind. Ferner liefern viele Prozeßfälle nicht genügend Material für eine Grundsatzentscheidung. Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß Rechtsänderungen durch Richterrecht, also durch Abgehen von früheren Entscheidungen, quasi rückwirkenden Charakter haben; denn i n der Theorie existiert der Richter nur als Sprachrohr des geltenden Rechts, womit der aufgegebene frühere Rechtsprechungsgrundsatz als niemals vorhanden zu gelten hat. Andererseits bleibt ein aufgehobenes Gesetz regelmäßig für diejenigen Rechtsverhältnisse und Fälle i n Kraft, die vor der Aufhebung entstanden sind. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß der H D seine überalterte Theorie verlassen und einen realistischeren Standpunkt einnehmen w i l l . Bei kurzfristigen Rechtsbeziehungen, wie etwa regelmäßig i m Bereich wirtschaftlicher Transaktionen, mag die Rückwirkung des Richterrechts nicht oder nur wenig schädlich sein, während das Problem ζ. B. i m Bereich des Immobilienrechts wesentlich ernster ist. I n diesem Zusammenhang erscheint es auch zweifelhaft, ob einige der von der HD-Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze zum Eigentum an Grund und Boden hätten überleben können, wenn das Gericht nicht so ängstlich darum bemüht gewesen wäre, die rückwirkenden Konsequenzen einer grundsätzlich neuen Entscheidung zu vermeiden. Es war nicht meine Absicht, den Rechtsetzungsprozeß als solchen umfassend zu diskutieren. Die Schlußbemerkungen dienen lediglich dem Zweck, noch einmal auf den notwendigen Vorrang der Gesetzgebung als Quelle von Rechtsvorschriften aufmerksam zu machen. Indessen w i r d aber auch ein Rechtssystem wie das schwedische erst dann zufriedenstellend funktionieren, wenn die Gesetzgebung zu einem 33 Vgl. oben S. 17 f.

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offenen und fortlaufenden Prozeß gestaltet wird, wozu eine Gruppe von hochqualifizierten Experten zur Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen allein nicht ausreicht. Gleichermaßen bedarf es der Fähigkeit der Regierungs- und Parlamentspolitiker, Kompromisse zu schließen und sich auf die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu einigen. I n dem Maße, wie dieser ständige politische Auftrag mißlingt, werden die Gerichte notwendigerweise mit der Aufgabe konfrontiert, Auseinandersetzungen zwischen konfligierenden gesellschaftlichen Gruppen und Kräften zu schlichten und die Verantwortung für den richterlich formulierten Interessenausgleich zu übernehmen.

Regelfall, Parteiwille u n d Verschulden* Drei Richtlinien zur Vertragsauslegung „ . . . das moderne Vertragsrecht ist i m wesentlichen eine Schöpfung der Juristen des 19. Jahrhunderts, und dieses Recht haben nun ihre Nachfolger anzuwenden . . . " (Cheshire und Fifoot, Vertragsrecht)

I. M i t Vertragsauslegung meine ich den juristischen Arbeitsgang, durch den anhand der Wörter oder anderer Symbole, die den Vertrag ausmachen, dessen Inhalt ermittelt w i r d 1 . * Schwedisch in Svensk Juristtidning 1959, S. 497-520; englisch in Scandinavian Studies in L a w 1960, S. 177 - 207. 1 Die amerikanische Vertragsverordnung gibt folgende Definition: „Die Auslegung von Wörtern oder anderen Verkörperungen von Willenserklärungen, die eine Übereinkunft bilden oder sich auf das Zustandekommen einer Übereinkunft beziehen, ist die Feststellung des Inhalts, der solchen Wörtern oder Verkörperungen innewohnt." Die Definition des Verfassers weicht davon in einigen Punkten ab. Danach betrifft Auslegung nicht, wie in der amerikanischen Verordnung, „Willenserklärungen". Das Eingehen einer Vereinbarung kann mit der Bedienung einer Maschine verglichen werden. Die Parteien A und Β drücken verschiedene Knöpfe und wählen unter verschiedenen Arbeitsprogrammen. Die Wirkung dieses Vorgehens kann mit Hilfe einer Reihe von Regeln vorausbestimmt werden; eine der Grundregeln ist dabei, daß die Absicht der Parteien über den maschinellen Arbeitsgang entscheiden soll. I n einem Rechtsstreit hat das Gericht zu untersuchen, was die Parteien getan haben, und auf die so ermittelten Handlungen die zutreffenden Vorschriften anzuwenden. Die Wörter und Symbole, welche die Übereinkunft bilden, werden nur dann eine gemeinsame Willenserklärung der Parteien sein, wenn beide zum selben Ziel gelangen wollten und die Maschine bedient haben. Dies muß jedoch keineswegs immer der Fall sein. Die Regel, daß der Parteiwille den maschinellen Vorgang steuern soll, ist nur eine von mehreren anwendbaren Regeln, und die Maschine wird manchmal selbst dann arbeiten, wenn die Parteien sie falsch bedient haben, und Wörtern oder anderen Symbolen unabhängig vom Willen der Parteien W i r kung verleihen. Vertragsauslegung wird hier beschrieben als eine juristische Arbeitsweise, um zu verdeutlichen, daß ihr praktischer Zweck darin liegt, die Grundlage für die Bestimmung der Vertragswirkungen zu schaffen. Die Aufgabe des Juristen unterscheidet sich von derjenigen des Historikers oder Sozialwissenschaftlers. Ich teile daher nicht den Ansatz des italienischen Rechtswissenschaftlers Emilio Betti , der versucht, eine für alle Wissenschaften gültige allgemeine Auslegungstheorie zu entwerfen. (Vgl. Betti , Zur Grund-

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I n den „Zivilrechtsländern" w i r d — oder wurde zumindest i n früherer Zeit — Vertragsauslegung i n engem Zusammenhang m i t der Frage gesehen, welche rechtlichen Umstände einem Vertrag bindende K r a f t verleihen. Die Probleme der Vertragsauslegung müssen daher vor dem Hintergrund der allgemeinen Lehren über das Zustandekommen und die Unwirksamkeit von Verträgen erörtert werden. Die übereinstimmenden skandinavischen Vertragsgesetze, die i n Schweden, Dänemark und Norwegen zwischen 1915 und 1918 und i n Finnland und Island später i n K r a f t traten, gehen von folgendem theoretischen Schema aus. A gibt eine Willenserklärung ab und übermittelt sie als Angebot an B. Durch eine entsprechende Erklärung an A n i m m t Β das Angebot an. So gibt es zwei Willenserklärungen, das Angebot und die Annahme, die ihren Urheber binden, sofern sie nicht vor oder spätestens gleichzeitig m i t Zugang bei dem anderen Teil widerrufen werden. Dabei w i r d allgemein — ohne daß das Gesetz dies ausspricht — vorausgesetzt, daß die Vertragspartner m i t freiem Willen und ohne Zwang gehandelt haben. Der Austausch zweier Willenserklärungen bildet demnach den Vertrag, sofern sich die Erklärungen decken und den freien W i l l e n der Erklärenden ausdrücken. Als logische Folge würde man erwarten, daß das Fehlen eines der genannten Elemente das Zustandekommen eines Vertrages ausschlösse. Dies ist jedoch nicht stets der Fall. Kap. 3 des Vertragsgesetzes behandelt nichtige und anfechtbare Willenserklärungen. Lediglich grobe Willensfehler, etwa infolge Zwangs durch Anwendung körperlicher Gewalt oder Drohung m i t Gewalt, geben dem Erklärenden das Recht, sich gegenüber jedermann auf die Nichtigkeit des Vertrages zu berufen. I n Fällen weniger schwerwiegender Beeinflussung wie Täuschung, unzulässiger Einmischung oder I r r t u m muß die beeinträchtigte Partei beweisen, daß der andere Teil den Willensfehler verschuldet hat, legung einer allgemeinen Auslegungslehre, in Festschrift für Ernst Rabel, Bd. 2, 1954, S. 79 ff.; siehe auch ders., Jurisprudenz und Rechtsgeschichte vor dem Problem der Auslegung, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 40 [1952/53], S. 354 ff.). Hervorzuheben ist, daß der Begriff „Auslegung" hier in einem vergleichsweise weiten Sinne gebraucht wird. Zumindest teilweise deckt er auch das, was von vielen „Vertragsgestaltung" genannt wird. I n seinem vorzüglichen Werk „Über Verträge" trifft Corbin die folgende Unterscheidung (Bd. 3, 1951, §534): „Unter »Sprachauslegung1 verstehen w i r das Aufsuchen der Vorstellungen, welche die Sprache bei anderen Personen weckt. M i t /Vertragsgestaltung' bezeichnen w i r die rechtliche Konstruktion des Vertrages — seine Wirkung auf die Arbeit von Gerichten und Verwaltungsbehörden." So realistisch diese Unterscheidung als solche auch ist, hat sie sich für meine Untersuchung als nicht brauchbar erwiesen. Der Gesamtvorgang der Bestimmung eines Vertragsinhalts enthält so eng ineinandergreifende Rechtsbegriffe, daß es nicht sinnvoll erscheint, einen Sektor „Sprachauslegung" für eine spezielle Behandlung abzutrennen. (Vgl. Corbin, § 535 a. E.) Gegenstand juristischer Forschung ist nämlich das Studium von Rechtsregeln und nicht das Abhandeln semantischer Probleme.

egelfall, Parteiwille und Verschulden i h n kannte oder doch kennen mußte. Willenserklärungen von Minderjährigen, Personen unter Vormundschaft und Geistesschwachen werden i n anderen Vorschriften behandelt. Hierbei kommt es dem Grundsatz nach auf die Kenntnis des Erklärungsempfängers vom Zustand oder Status des Erklärenden nicht an. Eine allgemeine Regel geht dahin, daß solche Verträge nur anfechtbar sind und daß der gesetzliche Vertreter befugt ist, Verträge des Vertretenen durch Bestätigung wirksam werden zu lassen. I n dieser Hinsicht ist das skandinavische Recht i n einem wichtigen Punkt unklar. Vermutlich würde das Gericht von einer Partei, die einen Vertrag wegen Willensfehlern anficht, den Beweis fordern, daß ihr I r r t u m ausschlaggebend war oder daß sie m. a. W. den Abschluß des Vertrages i n seiner vorliegenden Gestalt abgelehnt hätte, wenn ihr die wahren Umstände bewußt gewesen wären. Wegen dieser Schranken des Anfechtungsrechts entspricht unser Idealbild des Vertrages keineswegs der Wirklichkeit. Umgekehrt ist es eine alltägliche Erscheinung, daß Verträge Bestand haben und durchgesetzt werden, obwohl sie nicht die Grundvoraussetzungen erfüllen, nämlich zwei übereinstimmende Willenserklärungen zu enthalten und den freien Willen der Parteien auszudrücken. I n allen Ländern begegnet man etwa den gleichen Beschränkungen des Anfechtungsrechts. Unterschiedlich sind nur einzelne Details, wie etwa die Festlegung der Willensbeeinträchtigungen, die einen Vertrag anfechtbar machen, oder die Forderung, daß der Willensfehler dem Erklärungsempfänger bekannt gewesen sein muß. Die eingangs formulierte Bestimmung des Begriffs Auslegung ging davon aus, daß ein gültiger Vertrag Bestand hat. Wie w i r jetzt gesehen haben, werden w i r uns nicht nur m i t solchen Verträgen zu beschäftigen haben, die durch zwei übereinstimmende und freie Willenserklärungen zustande gekommen sind, sondern auch mit solchen, die trotz Fehlerhaftigkeit der einen oder anderen A r t bestandskräftig und damit durchsetzbar sind. II. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts übten deutsches Recht und Rechtsdenken einen starken Einfluß auf das skandinavische Recht aus. Fast jeder schwedische Rechtslehrer hatte ein Jahr oder länger an einer deutschen Universität studiert, und die deutschen Rechtsprofessoren des 19. Jahrhunderts genossen i n den skandinavischen Ländern ein hohes Ansehen. I m Zeitraum vor der Jahrhundertwende, als das Zivilrecht i m BGB kodifiziert wurde, leitete sich das deutsche Gemeine Recht vom klassischen römischen Recht her. Nach herrschender Auffassung baute das Vertragsrecht des Gemeinen Rechts

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auf der Willenstheorie auf. Der Erklärende war insoweit an seine Erklärung gebunden, als sie seinen wirklichen Willen wiedergab. Einige K r i t i k e r meinten demgegenüber, daß ein gutgläubiger Erklärungsempfänger auch dann auf den Bestand einer Erklärung vertrauen dürfe, wenn sie nicht vom Willen des Erklärenden getragen sei. Windscheid verteidigte die herrschende Willenstheorie i n seiner berühmten, 1880 erschienenen Schrift „Wille und Willenserklärung" 2 . Die römischrechtlichen Quellentexte lieferten keine Stütze für die These, daß ein gutgläubiger Erklärungsempfänger berechtigt sein sollte, irgendeine Forderung an eine Willenserklärung zu knüpfen, die nicht den wirklichen Willen des Erklärenden ausdrückte. Die kritischen Stimmen hatten i m Unterschied dazu auf die Notwendigkeit verwiesen, den Gutglaubensschutz i n Handel und Wirtschaft auszudehnen. Doch war diese Forderung ein zweischneidiges Schwert: eine Seite errang Vorteile auf Kosten der anderen. Doch selbst wenn wirtschaftliche Bedürfnisse für einen stärkeren Schutz des gutgläubigen Erklärungsempfängers sprächen, so wäre dies noch kein Argument für eine Rechtsänderung, weil soziale Erfordernisse als solche noch keine Rechtsquelle seien. Doch kam Windscheid seinen Gegnern i n einem Punkt entgegen. Nach römischem Recht kann der Erklärende auch ohne oder gegen seinen wirklichen Willen an seine Erklärung gebunden werden, vorausgesetzt, daß er das Mißverständnis beim Erklärungsempfänger schuldhaft verursacht hat 3 . Windscheid diskutiert sodann die Frage, wie das Verschulden des Erklärenden beschaffen sein muß. Die Bindung t r i t t nach seinem Ergebnis ein bei Vorsatz (dolus) und bei grober Fahrlässigkeit (culpa lata). So sollte es etwa jemandem, der ein Schriftstück unterschreibt, verwehrt sein, sich gegen die Bindung mit dem Hinweis darauf zu verteidigen, er habe den Inhalt nicht zur Kenntnis genommen. I n diesem Fall werde der Erklärende verpflichtet, einer Willenserklärung Folge zu leisten, die er nie abgegeben habe 4 . Soweit auch leichte Fahrlässigkeit zur Bindung führen soll, befindet man sich nach Windscheid jenseits des geltenden Rechts. Man könne sich zwar gut vorstellen, daß der Gesetzgeber eine solche Regel einführen könnte, nach der der Erklärende auch i n diesen Fällen gebunden werde, doch sei dies keineswegs die einzig denkbare Lösung. Jedenfalls 2 Windscheid, Wille und Willenserklärung, AcP Bd. 63 (1880), S.72ff.; wiederabgedruckt in ders., Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904. Die Seitenverweise im folgenden beziehen sich auf den Wiederabdruck. 3 Windscheid faßt das Ergebnis seiner Quellenstudien folgendermaßen zusammen: „Der Umstand allein, daß der Empfänger einer Willenserklärung, welcher der wirkliche Wille nicht entspricht, in gutem Glauben angenommen hat, daß sie der Ausdruck des wirklichen Willens sei, reicht nicht hin, um ihm das Recht zu geben, die Wülenserklärung als gültig zu behandeln; es muß hinzukommen, daß den Urheber der Willenserklärung eine Schuld treffe." Ebd., S. 362. 4 Ebd., S. 365.

egelfall, Parteiwille und Verschulden gebe es nach positivem Recht nur die Möglichkeit, über die Vorschriften zum Ausgleich des negativen Vertragsinteresses Abhilfe zu schaffen 5. I n der Frage, i n welchem Ausmaß das Recht dem gutgläubigen Erklärungsempfänger entgegenkommen sollte, gingen die Meinungen weit auseinander. Schließlich behielt die konservativere Gruppe die Oberhand. Nach § 119 BGB ist eine Willenserklärung selbst dann wegen Irrtums anfechtbar, wenn der Erklärende grob fahrlässig gehandelt hat. Dieselbe Lösung wurde auch i n den skandinavischen Ländern diskutiert. Der norwegische Rechtslehrer Platon 6, der prominenteste Vertreter der Willenstheorie i n Skandinavien, nahm einen anderen Standpunkt ein. Der Erklärende sollte bei jeder, auch bei leichter Fahrlässigkeit an den Inhalt seiner Erklärung gebunden sein. Lediglich der „entschuldbare I r r t u m " sollte einen Anfechtungsgrund abgeben können. Die meisten Verfechter der klassischen Willenstheorie sahen es als selbstverständlich an, daß dieselbe Theorie, welche die Bestandskraft von Vertragserklärungen beschrieb, auch für die Vertragsauslegung anzuwenden sei. Windscheid führt i n seinem „Lehrbuch des Pandektenrechts" 7 aus, daß die Wirkung von Willenserklärungen „durch den Inhalt des i n ihnen erklärten Willens" bestimmt werde, und fügt hinzu: „Es ist die Aufgabe der Auslegung, diesen Inhalt festzustellen 8 ." Wichtig erscheint i n diesem Zusammenhang auch die Forderung Platous 9, daß sein Grundsatz, demzufolge nur ein „entschuldbarer I r r t u m " zur Anfechtung gegenüber dem gutgläubigen Kontrahenten berechtige, gleichfalls für die Auslegung gültig sei. III. Als Gegenpol zur Willenstheorie wurde die These aufgestellt, daß es für den Umfang der Bindung an eine Willenserklärung entscheidend darauf ankomme, wie diese vom Erklärungsempfänger aufgefaßt 5 Vgl. ebd., S. 367. „Vorlesungen über ausgewählte Gebiete des Allgemeinen Privatrechts", Kristiania 1912 - 1914, bes. S. 175 ff., 213 ff. 7 Bd. I, § 84; zitiert aus der 4. Aufl. 1875. 8 Der folgende Hinweis soll Windscheids Argumentationsweise mit Hilfe der Logik illustrieren. I n früheren Auflagen seines „Pandektenrechts" greift er eine Äußerung Jherings auf und schreibt: „Jeder Kontrahent hat ein Recht auf die Erklärung des anderen Kontrahenten in demjenigen Sinne, in welchem er sie auffassen mußte." Nach dem Vorwurf, er komme damit seinen Gegnern zu weit entgegen, korrigiert er sich ausdrücklich in der Schrift „Wille und Willenserklärung", indem er das obige Zitat ergänzt: „Seine Auffassung des Sinnes der gegnerischen Erklärung entscheidet darüber, worauf er, aber nicht darüber, worauf der Gegner gebunden sei." Dieselbe Korrektur nimmt Windscheid in den späteren Auflagen des „Lehrbuchs" vor. 9 S. 175, 221. 6

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worden sei. Diese Regel ergab sich notwendig aus dem Wunsch, i n Handel und Wirtschaft einen sicheren Rechtsverkehr zu gewährleisten. Der dänische Rechtsgelehrte Lassen legte die Gesichtspunkte und Argumente zugunsten dieser Auffassung ausführlich dar i n seiner 1905 veröffentlichten Abhandlung „Wille und Erklärung". Es ist kaum zu übersehen, daß der Titel m i t Hinblick auf Windscheids Schrift gewählt wurde, zumal Lassen auch vor allem die dort geäußerten Ansichten widerlegen wollte. Die angedeutete Gegen-Theorie hatte i n Deutschland viele wechselnde Bezeichnungen; Lassen prägte den Namen „Vertrauenstheorie", die sich seitdem i n Skandinavien eingebürgert hat. Noch vor seinem Tode erlebte Lassen den großen Erfolg, daß seine Vertrauenstheorie vom dänischen, schwedischen und später auch vom finnischen Gesetzgeber zur Grundlage der Vertragsgesetze gemacht wurde. § 32 Abs. 1 dieser (übereinstimmenden) Gesetze enthält folgende Bestimmung: „Wer eine Willenserklärung abgibt, welche infolge eines Schreibfehlers oder sonstigen Irrtums nicht den von ihm beabsichtigten Inhalt erhalten hat, ist an diesen Inhalt nicht gebunden, falls der Erklärungsempfänger den Irrtum kannte oder hätte kennen müssen."

Aus der Gesetzgebungsgeschichte ergibt sich klar, daß diese Vorschrift einen Umkehrschluß bereitstellen sollte. Ein I r r t u m ist i m Regelfall keine Entschuldigung, wenn der Kontrahent diesen weder kennt noch kennen mußte 1 0 . Lassen und andere Anhänger der Vertrauenstheorie wiesen nachdrücklich darauf hin, daß sich ihre Theorie grundsätzlich von der älteren Willenstheorie unterscheide. Dies t r i f f t jedoch kaum zu. Beide Theorien gehen von demselben Prinzip aus, daß nämlich der Wille des Erklärenden m i t rechtsbildender K r a f t ausgestattet sei. Daher müßte die neue Theorie eher als eine Ergänzung der Willenstheorie denn als ihre Ersetzung bezeichnet werden. A u f den ersten Blick behandelt die Vertrauenstheorie ausschließlich die besondere Situation, i n der eine fehlerhafte Willenserklärung nicht den wirklichen Willen des Erklärenden ausdrückt. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die Anhänger der neuen Theorie — jedenfalls i n Skandinavien — nur Kauf, Darlehen und andere wirtschaftliche Transaktionen oder i n einem weiteren Sinne solche Geschäfte vor Augen hatten, bei denen Waren oder gleichwertige Leistungen ausgetauscht wurden, während die Anwendung auf Schenkung und ähnliche Rechtsgeschäfte bislang nicht diskutiert wurde. 10 Hier gilt jedoch eine Ausnahme: Obwohl das norwegische Vertragsgesetz i m übrigen mit den Vertragsgesetzen der anderen skandinavischen Länder übereinstimmt, fehlt ihm eine § 32 Abs. 1 entsprechende Vorschrift, weil man sich dort nicht auf die Vertrauenstheorie festlegen wollte. Vgl. Arnholm, Allg. Vertragsrecht, Oslo 1949, S. 55 f.

Hegelfall, Parteiwille und Verschulden IV. Lassen übernahm wie auch die Mehrzahl der Anhänger der Vertrauenstheorie unkritisch den Gedanken Windscheids, daß derselbe Rechtsgrundsatz, der die rechtsbildende K r a f t der Willenserklärung und damit des Vertrages bestimmte, auch für die Auslegungslehre verbindlich sein sollte. Der abweichende Ausgangspunkt führte aber folgerichtig auch zu einem anderen Ergebnis. Das oben angeführte WindscheidZitat sollte m i t der folgenden Passage aus Lassens „Handbuch" 1 1 verglichen werden: „Der Gegenstand der Auslegung von Willenserklärungen ist es herauszufinden, was der Erklärungsempfänger aufgrund der Erklärung und der Umstände, unter denen sie abgegeben wurde, vernünftigerweise für den Willen des Erklärenden halten konnte."

I n Schweden wurde die Anwendung der Vertrauenstheorie auch zur Auslegung belastender Rechtsgeschäfte innerhalb des Vermögensund Handelsrechts empfohlen. Besonderes Gewicht soll dabei der Frage zukommen, welchen Inhalt ein vernünftiger Erklärungsempfänger der Willenserklärung beimißt. Die Kommission zur Ausarbeitung eines Testamentsgesetzentwurfs (1929) hat die Vertrauenstheorie als Auslegungsprinzip m i t all ihrer Autorität unterstützt. Die Kommission vergleicht das Testament mit „Rechtsgeschäften unter Lebenden" und führt aus: „Die letzteren sind Teil der täglichen Verkehrsgeschäfte, und zur Gewährleistung von Vertrauensschutz und dem Gefühl von Verkehrssicherheit in Handel und Wirtschaft ist es erforderlich, bei der Bestimmung der Wirkung von Willenserklärungen an den Inhalt anzuknüpfen, den der andere Teil mit Fug und Recht der Erklärung entnehmen konnte. Demnach kommt es im wesentlichen nicht darauf an zu entscheiden, was der Erklärende w i r k lich gewollt hat, sondern darauf, wie der Inhalt der Erklärung vernünftigerweise aufgefaßt werden konnte 12 ."

V. Ein neuer Gedanke wurde entwickelt: ausschlaggebend sollte allein der objektive Charakter der Willenserklärung sein. Einige Wissenschaftler traten dafür ein, daß diese objektive Theorie das gesamte Vertragsrecht beherrschen sollte, während andere ihre Aufmerksamkeit u Lassen, Handbuch des Obligationenrechts, Allgemeiner Teil, 1892, S. 245. i 2 Kommissionsvorschlag für ein Testamentsgesetz, SOU 1929: 22, S. 204. Siehe auch Björling-Malmström, Lehrbuch des Zivilrechts, 15. Aufl. 1958, S. 179. I n den früheren Auflagen dieses Standardwerkes, das erstmals 1910 erschien und seitdem von allen Studienanfängern benutzt wird, fand sich keine klare Stellungnahme zugunsten der Vertrauenstheorie als Auslegungsprinzip. Für Björling, den ursprünglichen Verfasser, war dies aber offenbar eine Selbstverständlichkeit. Vgl. als jüngsten Ausdruck dieser Ansicht Conradi, SvJT 1959, S. 33 f.

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lediglich auf Auslegungsfragen richteten. I n Deutschland ergab sich — am Anfang dieses Jahrhunderts — folgendes Bild: die Willenstheorie wurde unverändert beibehalten, soweit es u m die Lehre von der bindenden Kraft der Willenserklärung und u m das Zustandekommen von Verträgen ging, mußte aber i m Hinblick auf die Auslegung der objektiven Theorie weichen 13 . I n den skandinavischen Ländern sind die Auslegungsfragen nicht i n gleicher Weise von der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre gelöst worden. Der seinerzeit bekannteste deutsche Rechtslehrer, der sich mit den Problemen der Auslegung beschäftigte, war Banz, aus dessen Abhandlung über „Die Auslegung der Rechtsgeschäfte" (1. Aufl. 1897, 3. Aufl. 1911) noch heute eifrig zitiert wird. Nach Banz ist die Willenstheorie als eine Lehre über die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften wirklichkeitsfremd. Ein Vertrag bleibe oft allein deshalb gültig, obwohl er nicht mit dem Willen des (oder der) Erklärenden übereinstimme, weil es der Betroffene unterlasse, den Vertrag anzufechten 14 . Der Vertrag erhalte seine rechtsverbindliche Kraft nicht durch den Willen der Parteien, sondern durch seinen eigenen, nach objektiven Normen festgelegten Inhalt. Haben die Parteien unterschiedliche Auffassungen vom Vertragsinhalt, solle der Richter nicht versuchen, sich unter Zuhilfenahme äußerer Tatsachen zur Erkenntnis des „inneren Willens" der Erklärenden vorzuarbeiten, „sondern er (der Richter) setzt anstelle der Parteien zwei verständige Menschen und fragt, wie diese das Verhalten, welches die Willenserklärung bildet, aufgefaßt, gedeutet hätten; was diese i m gleichen Fall geleistet hätten" 1 5 . Die Vertreter der objektiven Theorie haben wie auch diejenigen der Vertrauenstheorie rechtspolitisch-soziologischen Überlegungen Raum gegeben. Auch für sie war die Rechtssicherheit i m wirtschaftlichen Verkehr von zentraler Bedeutung. A u f den wichtigsten Punkt der objektiven Theorie weist Leonhard 16 folgendermaßen hin: Der leitende Gedanke der „Eindruckstheorie" ist es, vom Empfängerhorizont auszugehen; doch sei dieser Standpunkt genauso einseitig wie derjenige der Willenstheorie, die sich ausschließlich am Willen des Erklärenden 13 Das BGB behandelt die Auslegung in zwei Vorschriften: in §133, der Rechtsgeschäfte im allgemeinen, und in § 157, der Verträge im besonderen betrifft. Der Gesetzgeber hat keine Entscheidung darüber getroffen, welche Theorie der Auslegung zugrunde zu legen ist. Die beiden Vorschriften lauten: § 133 : „Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften." § 157 : „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern." Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, 3. Aufl. 1911, S. 24 f. is Ebd., S. 78 f. 16

Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, AcP 120 (1922), S. 100 f.

egelfall, Parteiwille und Verschulden orientiere. „Zwischen beiden kann nur die Mittelansicht, daß die Erklärung selbst entscheidet, die richtige Grenze bilden." Der bekannteste Anhänger der objektiven Theorie i n Skandinavien, Stang, wendet sich mehrmals der Frage zu, welchen Einfluß der I r r t u m auf eine Willenserklärung habe 17 . Er war sich der Unterschiede zwischen seiner Lehre und der Vertrauenstheorie wohl bewußt, doch ging er anfangs nicht auf sie ein. I n beiden Lagern sei man sich über wesentliche Punkte einig, die Abweichungen lägen bloß i n der Ausdrucksweise. Der dänische Wissenschaftler Lassen betrachtete seinerseits Stang als Verbündeten. Doch schuf Stang i n seiner „Einführung i n das Vermögensrecht" (1935) insofern Klarheit, als er behauptete, daß die Vertrauenstheorie solange von Nutzen gewesen sei, wie man sie zur Abwehr des Grundsatzes von der rechtsbildenden Kraft des Erklärungswillens benötigt habe; nun aber habe sie ausgedient und sollte vergessen werden 1 8 . I m Interesse des Erklärenden sei die Willenserklärung i n keinem anderen als dem von i h m selbst gewollten Sinne auszulegen. Demgegenüber müsse man auch das Interesse des Erklärungsempfängers an Berücksichtigung seiner Erwartungen i n Betracht ziehen. Stang greift Leonhards Gedankengang auf. Die Rechtsordnung habe zwischen beiden widerstreitenden Interessen abzuwägen. Es sollte keinen Grundsatz geben, daß der Streit zugunsten der einen oder der anderen Seite entschieden werde. Die Willenserklärung selbst sollte den festen Ausgangspunkt liefern. Von den skandinavischen Autoren, die Stangs Auffassung folgten, seien namentlich Knoph 19 und Fr. Vinding Kruse 20 erwähnt 2 1 . 17 Vgl. bes. Stang, „Über den Irrtum", 1897; „Das Willensdogma", TfR 1905 (wiederabgedruckt in „Aus verstreuten Rechtsgebieten" I, 1916); „Wort und Rücksicht", Norwegische Rechtszeitung 1911, S. 657 ff.; „Norwegisches Vermögensrecht", 1911, 3. Aufl. unter dem Titel „Einführung in das Vermögensrecht", 1935. is Stang, Einführung in das Vermögensrecht, 3. Aufl. 1935, S. 256. ι» Norwegisches Erbrecht, 1. Aufl. 1930, S. 172 f. 20 Vgl. vor allem „Rechtslehre", Bd. 1, 1. Aufl. 1943, S. 250 ff. 21 Der Däne Ussing hat ein bekanntes Buch über „Die Verträge" (1. Aufl. 1931) geschrieben. Seine Auffassung zur Auslegungsfrage ist nur schwer zu ermitteln. Gewiß verwirft er die Willenstheorie sowohl als Lehre von der Bindungswirkung einer rechtsgeschäftlichen Erklärung als auch als zusammenfassende Beschreibung des dänischen Rechts. Er spricht sich dafür aus, daß Auslegung objektiv zu erfolgen habe. (Vgl. „Verträge", 1. Aufl. 1931, S. 11.) Doch macht Ussing in der zweiten Auflage seines Buches in anderem Zusammenhang eine Bemerkung, die auf eine Annäherung an die Willenstheorie hindeutet. Entscheidend solle nämlich der Wille des Erklärenden sein: „Was erklärt wurde, hängt von dem Inhalt der abgegebenen Erklärung ab. Und dieser Inhalt besteht vermutlich genau daraus, was eine vernünftige Person zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung in diese hineingelegt hätte." (2. Aufl. 1945, S. 157; unverändert in der 3. Aufl. 1950.) Der norwegische Rechtswissenschaftler Arnholm hat gleichfalls für das Prinzip objektiver Auslegung Stellung bezogen. Dennoch kann er nicht zu

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Auch die objektive Theorie geht von derselben Grundlage aus wie die Willenstheorie. Ebenso wie die Vertrauenstheorie ist sie kein Ersatz, sondern eine Ergänzung der Willenstheorie. Ihre Vertreter anerkennen ebenfalls den Grundsatz: falsa demonstratio non nocet Liegt ein übereinstimmender Parteiwille vor, so ist dieser unabhängig davon ausschlaggebend, ob er abweichend vom gewöhnlichen Sprachgebrauch ausgedrückt wurde. Danz konzentriert sich ausschließlich auf die Situation, i n der die Parteien dem Vertrag einen unterschiedlichen Inhalt beimessen. Gleichwohl wäre es verfehlt, die objektive Theorie i n dem Sinne m i t der Vertrauenstheorie gleichzustellen, daß sie sich lediglich m i t solchen Willenserklärungen beschäftigte, welche nicht den ursprünglich gewollten Inhalt verkörpern. Die Hauptidee scheint eher zu sein, das Erforschen des wirklichen Willens zu vernachlässigen und dafür mehr auf konkreten Tatsachen aufzubauen. Unter den skandinavischen Autoren hat Stang diesen Gegenstand am gründlichsten untersucht. Ein näheres Studium seiner Schriften ergibt, daß seine objektive Theorie auf folgenden Grunderwägungen beruht. Der Wortlaut hat für sich genommen eine objektiv zu erfassende Bedeutung. Denn die Sprache ist „ein anerkanntes System von Symbolen, innerhalb dessen jedes Symbol für jeden, der die Sprache beherrscht, einen festumrissenen Bedeutungsinhalt hat. Es ist diese gemeinsame Basis, die Sprache erst ausmacht. Individuelle Abweichungen von dem, was allgemein anerkannt ist, nehmen nicht teil an der Sprache — Teil der Sprache werden sie vielmehr erst dann, wenn sie von vielen übernommen werden 2 2 ." Darüber hinaus scheint Stang unterschiedliche Rechtsnormen vor Augen gehabt zu haben, nämlich einerseits eine Anzahl praktischer Auslegungsregeln, von denen einige bis auf das römische Recht zurückgehen, und andererseits verschiedene Grundsätze und Wertungen für die einzelnen Vertragstypen. Zur ersten Gruppe gehört beispielsweise die Regel, daß ein Vertrag zuungunsten desjenigen auszulegen sei, der sich deutlicher hätte ausdrücken müssen. Nach Stang schließt dieses Prinzip ein, daß ein Vertrag i m Zweifel gegen denjenigen ausgelegt werden müsse, der ihn abgefaßt habe.

den Anhängern der objektiven Theorie gezählt werden, weil sich seine wissenschaftstheoretischen Methoden klar von denen Stangs und anderer Autoren der klassischen objektiven Schule abheben. Viele der Gesichtspunkte, die im folgenden gegen die traditionellen Theorien angeführt werden, sind bei Arnholm bereits erwähnt oder wenigstens angedeutet. (Vgl. Arnholm , Allgemeines Vertragsrecht, 1949, besonders S. 52 ff.) 22 Siehe vor allem Stang, Einführung in das Vermögensrecht, 3. Aufl. 1935, S. 250 f., 445 ff.

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VI. I m folgenden werde ich die verschiedenen Theorien den Rechtsregeln gegenüberstellen, die sie zu beschreiben oder zu erklären versuchen. Dies w i r d i n zwei Abschnitten geschehen, wobei i m ersten die Situation vorausgesetzt wird, daß ein übereinstimmender Parteiwille vorliegt oder angenommen wird, und i m zweiten von der umgekehrten, spezielleren Lage oder, wie es § 32 des schwedischen Vertragsgesetzes formuliert, von einer „Willenserklärung, welche infolge eines Schreibfehlers oder sonstigen Irrtums nicht den vom Erklärenden beabsichtigten Inhalt erhalten hat", auszugehen ist. Schon an dieser Stelle sei vorausgeschickt, daß die Fragestellung für die spezielleren Fälle der zweiten Kategorie umformuliert wird, u m der Wirklichkeit besser zu entsprechen, als es den Beschreibungen i m juristischen Schrifttum und i m Gesetzestext bisher gelungen ist. I m ersten Abschnitt scheinen sich keinerlei Schwierigkeiten zu ergeben, nachdem über einen sehr wesentlichen Punkt Einigkeit herrscht: daß nämlich dasjenige, was beide Parteien gewollt haben, auch den Inhalt der Ubereinkunft bestimmt. W i r müssen uns solche Situationen aber genauer anschauen. Wenn ein Richter nach Maßgabe des Vertragsgesetzes feststellen soll, was zwei Partner gemeinsam beabsichtigt haben, so hat er zunächst jede einzelne Willenserklärung gesondert zu untersuchen. Er folgt also zunächst einer Spur und dann einer anderen, u m abschließend zu ermitteln, ob beide Spuren zusammenfallen oder divergieren. Die Auslegungsmethode, die auf ein einseitiges Rechtsgeschäft wie etwa ein Testament angewandt wird, ist demnach ebenfalls bei Verträgen anzuwenden, soweit es sich u m den ersten Schritt der Untersuchung handelt. N u n bedeutet — nach Ansicht der schwedischen Testamentsgesetz-Kommission 23 — Testamentsauslegung vor allem die Suche nach „dem Willen des Testators, wie er sich i m Wortlaut des Testamentes selbst niedergeschlagen hat". Als Ausgangspunkt sollen zwei hypothetische letztwillige Verfügungen untersucht werden: I. Als meinen letzten Willen Vermögen meiner Ehefrau I I . Als meinen letzten Willen Vermögen meiner Ehefrau

erkläre ich, daß nach meinem Tod mein zufallen soll. erkläre ich, daß nach meinem Tod mein zu ihren Lebzeiten zufallen soll.

Äußerlich betrachtet ist der einzige Unterschied zwischen den beiden Testamenten der Zusatz „zu ihren Lebzeiten" i n Nr. I I . W i r nehmen weiterhin an, daß über den Willen des Testators nichts weiter bekannt ist als das, was sich unmittelbar dem Wortlaut des Testaments entnehmen läßt. 2» SOU 1929: 22, S. 205. 5 Schmidt

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Ein Studium des Testamentsgesetzes, seiner Vorarbeiten und Motive, der gerichtlichen Praxis vor und nach Erlaß des Gesetzes sowie der einschlägigen Literatur zeigt, daß die Rechtsposition des Erben i m allgemeinen einer der folgenden Gruppen zugeordnet werden kann: a) unbeschränktes Eigentum, b) freies Verfügungsrecht, c) Fideikommiß, d) Nutzungsrecht oder e) Nießbrauchsrecht. I m Fall a) steht dem Erben das Recht zu, über den Nachlaß unbegrenzt zu Lebzeiten und von Todes wegen zu verfügen. Nach dem Tod des Erben fällt der Nachlaß unter gleichen Voraussetzungen wie das übrige Eigentum dessen Erben zu, wobei die Familie des ursprünglichen Erblassers keinerlei Forderungen hat. I m Falle b) ist der Erbe berechtigt, zu Lebzeiten unbegrenzt über den Nachlaß zu verfügen, nicht aber von Todes wegen. Die Rechtslage entspricht dann derjenigen, wie sie i n Kap. 3 des Erbgesetzbuches über das Erbrecht des überlebenden Ehegatten beschrieben wird. Bei gesetzlicher Erbfolge übernimmt der überlebende Teil eines kinderlosen Ehepaares den gesamten Nachlaß m i t unbeschränktem Verfügungsrecht unter Lebenden. Bei seinem Ableben erhalten jedoch die gesetzlichen Erben des Erstverstorbenen einen bestimmten Nachlaßanteil. I n den Fällen c), d) und e) sind dem Erben weitergehende Verfügungsbeschränkungen auferlegt. Die Gerichte versuchen nun, ein i m Streit stehendes Testament i n eine der genannten fünf Gruppen einzuordnen. Eine bestimmte Formulierung oder Ausdrucksweise i n dem zu prüfenden Testament w i r d dabei genauso gedeutet wie gleiche oder ähnliche Wendungen i n letztwilligen Verfügungen, über die früher entschieden wurde. I n den beiden Beispielsfällen sähen die Lösungen vermutlich so aus, daß Testament I zur Gruppe a) und Testament I I zur Gruppe b) gerechnet würde. Zur Untermauerung des Ergebnisses, daß Testament I zur Gruppe a) gehört und somit das unbeschränkte Eigentumsrecht überträgt, lassen sich eine Reihe von Entscheidungen des H D 2 4 anführen, i n denen dem überlebenden Ehegatten das volle Eigentum am Nachlaß zugesprochen wurde. Der Testator hatte etwa erklärt, daß der überlebende Ehegatte das gemeinsame Gut der Eheleute „wie sein Eigentum behalten", „das gesamte Eigentum der Eheleute besitzen und darüber verfügen" oder das eheliche Gut „ m i t uneingeschränktem Verfügungsrecht behalten und besitzen" sollte, ohne daß das Testament etwas darüber bestimmte, was m i t dem Nachlaß nach dem Tod des überlebenden Ehegatten geschehen sollte. Es kann zweifelhaft sein, ob der Ausdruck „zufallen" i n Testament I vollkommen den soeben zitierten Wendungen „wie sein Eigentum behalten" etc. entspricht. 24 NJA 1936, S. 201; 1939, S.270; 1951, S. 705. Vgl. auch HD, NJA 1930, S. 197; 1945, S. 176.

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Nach den Urteilsbegründungen hat es jedoch erhebliche Bedeutung, wenn i n dem Testament keine Verfügungen für den Todesfall des überlebenden Ehegatten getroffen werden. I n diesem Punkt liegt also eine volle Übereinstimmung zwischen Testament I und den vom H D untersuchten Testamenten vor. Zur Stützung des Vorschlages, Testament I I der Gruppe b) „freies Verfügungsrecht" zuzuordnen, wäre eine weitere Serie von HDUrteilen2 5 heranzuziehen. Hierbei handelte es sich u m Testamente, nach denen der Uberlebende „uneingeschränktes Verfügungsrecht" haben oder „vollständiger Eigentümer" des Nachlasses sein sollte m i t der weiteren Bestimmung, daß dies „zu seinen Lebzeiten" („für die Dauer seines Lebens") gelten sollte. Offenbar ist der H D davon ausgegangen, daß eine Verfügung zugunsten der gesetzlichen Erben des Testators schon darin liege, daß dem überlebenden Ehegatten Nachlaßrechte nur für dessen Lebzeiten eingeräumt wurden. Die Auslegung rechtserheblicher Schriftstücke läßt sich m i t der Sortierung einer Obsternte vergleichen. Der Sortierer hat A r t und Qualität jedes Stückes zu bestimmen, und dabei bedient er sich vorher festgelegter und anerkannter Kategorien als Muster. Zur Beleuchtung dieses Vorgangs wurden zwei einfache Beispiele gewählt. Es wurde vorausgesetzt, daß über den Wortlaut der Testamente I und I I hinaus nichts vom Willen des Testators bekannt war. Die Einordnung eines bestimmten Rechtsgeschäfts erschöpft sich indessen nicht schon i n einem Vergleich seines Wortlautes m i t dem Text gleicher oder ähnlicher Rechtsgeschäfte, die früher beurteilt worden sind. Hat ein Rechtsgeschäft schriftlichen Niederschlag gefunden, so ist das Dokument selbst die wichtigste Informationsquelle. Dies gilt besonders dann, wenn — wie beim Testament — die Einhaltung der Schriftform eine gesetzliche Wirksamkeitsvoraussetzung ist. Auch andere Umstände können sich als erheblich erweisen, doch kommen diese gegenüber dem Wortlaut erst i n zweiter Hand. Als Regel könnte man sagen, daß derjenige, der behauptet, der Testator habe etwas anderes gewollt als das, was sich aus der gewöhnlichen Bedeutung des Wortlautes ergibt, auch die Beweislast für die Richtigkeit seiner Behauptung trägt. Zahl und Inhalt der unterschiedlichen Muster- oder Regelfälle sind keineswegs für alle Zeiten festgelegt. Vielmehr werden neue Modelle geschaffen und alte verändert oder vergessen. Nils Beckman, Richter am HD, vertritt eine von der Gerichtsmehrheit abweichende Meinung zu der Frage, welchen Inhalt die Verfügung hat, nach welcher der überlebende Ehegatte den Nachlaß zu „unbeschränktem Eigentum" 2δ NJA 1897, S. 267; 1901, S.329; 1910, S. 115; 1933, S. 289.



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(Gruppe a) erhalten soll 2 6 . Beckman stimmt mit der Mehrheit des HD darin überein, daß i n diesen Fällen der zum Erben eingesetzte Ehegatte das Recht haben solle, über den Nachlaß seinerseits letztwillig zu verfügen. Verstirbt der überlebende Ehegatte aber ohne Testament, wäre es verfehlt, ausschließlich seinen gesetzlichen Erben den Nachlaß zuzusprechen, sondern richtig sei dann die Verteilung des Nachlasses zwischen den gesetzlich Erbberechtigten beider Ehegatten, vergleichbar dem Fall, daß der überlebende Ehegatte nur das „freie Verfügungsrecht" über den Nachlaß erhalten hat (Gruppe b). Man könnte sich gut vorstellen, daß die Meinungsunterschiede i n dieser Frage dazu führen, die Gruppe a) i n zwei Untergruppen ai) und a2) aufzuspalten. Z u m Regelfall ai) gehörte dann nach wie vor die Lösung der HD-Mehrheit, d. h. der Nachlaß würde ausschließlich an die Erben des überlebenden Ehegatten gehen, während Beckmans Lösung, nach der der Nachlaß zwischen den Erben beider Ehegatten zu teilen ist, falls der überlebende Teil kein Testament hinterlassen hat, zur Fallgruppe ag) zu rechnen wäre. I n Schweden ist es üblich, daß Eheleute ein gemeinschaftliches Testament errichten, i n dem sie sich gegenseitig zu Erben einsetzen. N u n könnte man Testamente, die vom Verstorbenen allein aufgesetzt wurden, zur Gruppe ai) und gemeinschaftliche Testamente zur Gruppe a2) zählen, denn es mag eine Vermutung dafür sprechen, daß ein Ehegatte seinen Nachlaß den Erben seines überlebenden Partners zukommen lassen w i l l , wenn er ein einseitiges Testament zu dessen Gunsten macht, ohne also eine letztwillige Begünstigung für sich selbst von seinem Ehegatten zu verlangen, während umgekehrt gelten könnte, daß ein Ehepartner, der ein gemeinschaftliches Testament miterrichtet, weniger geneigt ist, seine eigenen (gesetzlichen) Erben beim Tode des überlebenden Partners vom Nachlaß auszuschließen 27 . Weitere Beispiele für das Entwickeln neuer Regelfälle und Modelle könnten unschwer zusammengetragen werden. Jeder Jurist kann aus seinem Erfahrungsbereich Beispiele nennen, bei denen etwa eine Vertragsklausel, die ursprünglich nur auf die besonderen Umstände eines einzelnen Falles abzielte, später als Modell für die Inhaltsbestimmung oder Zuordnung anderer Verträge diente. Nun bedeutet ja Vertragsfreiheit, daß die Parteien nach eigenem Gutdünken neue Vertragsmuster für ihre gegenseitigen Verpflichtungen entwerfen können, wenn ihnen die herkömmlichen und bekannten nicht auszu26 Beckman hat seine Ansicht auch in verschiedenen anderen Zusammenhängen publiziert, vgl. vor allem seine Schwedische Familienrechtspraxis, 1954, S. 169 ff. 27 Es war nicht meine Absicht, eine eigene Auffassung zu dieser Frage darzustellen oder die künftige Entwicklung vorherzusagen. M i r ging es vielmehr nur darum, eine der denkbaren Möglichkeiten aufzuzeigen.

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reichen scheinen. Lediglich auf einigen Gebieten, wie etwa dem Wechsel- und Scheckrecht, bietet sich ein anderes Bild: Ursprünglich waren auch die hier anzutreffenden Vertragsmodelle als private Vereinbarungen entstanden, während sie heute einen i m Prinzip gesetzlich abschließend aufgezählten Typenkatalog darstellen. VII. Sollte die richterliche Auslegung anhand der soeben beschriebenen Stationen zu dem Ergebnis führen, daß die Parteien zum Zeitpunkt der Ubereinkunft ihren Erklärungen einen unterschiedlichen Inhalt beigemessen haben oder über die Lösung der jetzt i m Streit stehenden Frage überhaupt keine Vorstellungen gehabt haben, so beginnt die zweite Stufe der Auslegungsarbeit. Die Grenze zwischen den beiden Stufen ist allerdings mehr oder minder fließend. Die Beweiswürdigung gehört dabei zur ersten Stufe. Wie schon i m Zusammenhang m i t dem Testamentsrecht erwähnt, obliegt die Beweislast der Partei, die einem Wortlaut einen vom gewöhnlichen abweichenden Inhalt geben w i l l . Ferner ist angenommen worden, daß ein Rechtsgeschäft, das einem früher beurteilten gleicht oder wenigstens i n den entscheidenden Punkten gleichkommt, genauso wie dieses einzuordnen und zu bewerten ist. Stehen sich nun Behauptung und Behauptung gegenüber, so hat der Richter zwei Möglichkeiten: er kann glauben, daß eine Partei die Wahrheit gesagt hat und die Behauptung der anderen unwahr oder zumindest weniger glaubhaft ist, er kann aber auch davon ausgehen, daß beide Behauptungen i n dem Sinne richtig sind, daß die Parteien schon bei Abschluß der Vereinbarung unterschiedliche Auffassungen über den umstrittenen Punkt hatten oder daß sie sich dazu gar keine Vorstellung gebildet hatten. Es ist verständlich, daß der Richter das Auslegungsproblem gern schon m i t den Methoden der ersten Stufe gelöst wissen möchte, u m dann i m folgenden von einem übereinstimmenden Parteiwillen ausgehen zu können. Schließlich ist die Ansicht nicht selten, daß Auslegung i n erster Linie darauf aus ist, den wirklichen Willen zu erforschen. Von diesem Standpunkt aus erweist sich das Problem nur noch als die Aufgabe, eine verborgene psychologische Wirklichkeit zu ermitteln, und nicht mehr als die Anwendung bestimmter rechtlicher Grundsätze. Dazu kommt, daß es ein sichereres Gefühl gibt, einen gemeinsamen Parteiwillen gefunden zu haben, als m i t unterschiedlichen Parteiauffassungen konfrontiert zu sein. I m ersten Fall hat der Richter seine Aufgabe gelöst und ist aller Sorgen ledig. I m zweiten Fall muß die Auslegungsarbeit fortgesetzt werden, und zwar jetzt auf schwankendem Boden. Die Rechtswissenschaftler sind sich nicht

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einig, sondern bieten mehrere Lösungen an, die sich allem Anschein nach gegenseitig ausschließen. Die Situation ist noch unangenehmer. Wie noch zu zeigen sein wird, kommt es auch vor, daß die jeweiligen Theorien überhaupt keine Lösung des anstehenden Problems bereithalten, so daß dem Richter mitnichten etwa dadurch geholfen ist, daß er sich der einen oder anderen Lehre anschließt. Nicht selten w i r d ein Richter bei seinen Entscheidungen davon ausgehen, daß ein gemeinsamer Parteiwille vorgelegen hat, obwohl er sich sagen muß, daß bei Abschluß der Ubereinkunft unterschiedliche Vorstellungen herrschten oder der strittige Punkt überhaupt nicht bedacht worden war. Eine solche Fiktion kann u. U. die Tatsache verschleiern, daß die Entscheidung nach freiem Ermessen ergangen ist. Doch baut sie möglicherweise auch auf bestimmten Auslegungsregeln auf. Wie dem auch sei, diese Methode sollte in jedem Falle vermieden werden. Der Richter muß offenlegen, auf welchen Gründen seine Entscheidung beruht; die Parteien haben ein berechtigtes Interesse daran. VIII. I m folgenden w i r d näher untersucht, wie die Willens- und die Vertrauenstheorie i m Falle des Dissenses funktionieren und sich bewähren. Unter Dissens ist die Situation zu verstehen, i n der die Parteien abweichende Auffassungen vom Inhalt ihrer Vereinbarung haben. Die Ausgangsfrage lautet: Welchen Einfluß hat die Tatsache, daß die eine Partei A eine Willenserklärung abgegeben hat, die nicht ihren wirklichen Willen widerspiegelt? Gewöhnlich legt man den Fall zugrunde, daß eine Partei sich an und für sich klar und deutlich ausgedrückt hat, aber etwas anderes gemeint hat. A schreibt i n einem Brief 10 Kronen, meint aber 11 Kronen. Hierbei handelt es sich u m die rechtsgeschäftliche Erklärung nur einer Seite, bei der einzelne Wörter oder Ausdruckssymbole infolge Verschreibens oder Versprechens i n offenbar unrichtiger Weise verwandt worden sind. Der Ausgangspunkt ist somit individualistisch, denn man hat nur eine von zwei Willenserklärungen vor Augen, die den Vertrag oder die Vereinbarung bilden. Der Grund für diese Ein-Seitigkeit liegt vermutlich darin, daß beide Theorien ursprünglich von den Unwirksamkeitsregeln ausgegangen sind, die ihrerseits die Beurteilung von Willensfehlern bei einem der beiden Partner betreffen. Ferner ist daran zu erinnern, daß der Willenserklärung als solcher ein bestimmter Inhalt zuerkannt wird, so daß ihre Wörter oder Symbole für einen unbeteiligten Dritten eine objektive, angebbare Bedeutung haben. Abstrakt läßt sich die Situation so schildern: A meinte p, sagte aber χ; ρ und χ sind unterschiedliche Größen.

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I n aller Regel t r i f f t man aber bei der Vertragsauslegung auf eine andere Situation. Die Parteien A und Β schließen einen schriftlichen Vertrag ab. Beide Seiten haben dasselbe erklärt und haben auch jeweils das gemeint und gewollt, was sie erklärt haben, doch deuten sie den Inhalt des Erklärten unterschiedlich. Ein anschauliches Beispiel ist der Fall, welcher der Entscheidung des schwedischen Arbeitsgerichtshofes (AD) 1934 Nr. 7 zugrundelag. Ein Kollektivvertrag enthielt die Klausel, daß für die „Innenreinigung" von Dampfkesseln u. ä. ein Lohnzuschlag zu zahlen sei. Der Arbeitgeber wollte die Zulage nur dann zahlen, wenn sich der Arbeiter während der Reinigung i m Inneren des Kessels befand, wohingegen die Gewerkschaft den Zuschlag für die Arbeiter auch dann forderte, wenn die Innenreinigung von außen möglich war. Die Situation sieht also folgendermaßen aus: A und Β haben χ gesagt. A meint ρ, Β meint q. Besonders soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß das Symbol χ keinerlei herkömmliche Bedeutung hat oder sonst als bekannt vorausgesetzt werden kann. Die rechtliche Gleichung zielt auf die Beantwortung der Frage ab, ob χ gleich ρ oder gleich q ist (oder eventuell einer dritten Größe). Bevor nun die Theorien anhand der gegebenen Situation überprüft werden, muß noch die Willenstheorie i n einem Punkt geklärt werden. Nach Windscheid und Platon 28 w i r d der Erklärende an seine Erklärung trotz mangelnder Ubereinstimmung m i t seinem wirklichen Willen dann gebunden, wenn ihn ein Verschulden an dieser Fehlerhaftigkeit trifft. Die beiden Verfasser weichen aber voneinander ab bei der Festlegung des Schuldgrades, der die Bindung nach sich ziehen soll. Ich schließe mich der Ansicht Platous an, nach welcher der Erklärende schon bei leichter Fahrlässigkeit das Recht einbüßt, sich auf seinen Willensfehler erfolgreich zu berufen. Gegenüberstellung. Fall 1 Eine der Parteien, A, hat sich ordnungsgemäß und vernünftig verhalten, die andere Partei, B, hat fahrlässig gehandelt. W i l l e n s t h e o r i e : Der Blick richtet sich auf die Partei, welche die Willenserklärung abgegeben hat. A meint, χ bedeute p. Er hat keine Veranlassung anzunehmen, daß Β meint, χ bedeute q. « S. o. unter II., S. 57 ff.

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Zwar meint Β, χ bedeute q, doch hat Β Grund zu der Annahme, daß A m i t χ tatsächlich ρ meint. I n diesem Fall verhält sich Β fahrlässig, wenn er χ benutzt, u m q auszudrücken; er kann sich daher nicht erfolgreich auf seinen Willensfehler berufen. Lösung: Der Vertrag hat den Inhalt p. Übertragung: Das Verschulden des Β hat die Wirkung, daß die Version des A Bestand hat. V e r t r a u e n s t h e o r i e : Entscheidend ist, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung vernünftigerweise auffaßt. M. a. W. w i r d die Willenserklärung dem Adressaten zur Betrachtung vorgelegt. Sind die Beobachtungen des Erklärungsempfängers wohlbegründet, so bestimmen sie Inhalt und Rechtsfolgen des Vertrages. Sind sie dies nicht, kann auf die Willenstheorie verwiesen werden. A meint, daß Β m i t χ ρ hat ausdrücken wollen. A hat keinen Anlaß anzunehmen, daß Β i n Wirklichkeit q gemeint habe. A meint selbst, daß χ ρ bedeute. Β meint zwar, daß χ q bedeute, hat aber Veranlassung zu glauben, daß A m i t χ eigentlich ρ meinte. Demnach hat sich Β fahrlässig verhalten, und er kann sich nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen. Lösung: Der Vertrag hat den Inhalt p. Übertragung: Bestand hat.

Das Verschulden des Β bewirkt, daß die Version des A

Schlußfolgerung: Hat sich die eine Partei untadelig verhalten, während die andere fahrlässig handelte, so ergibt sich nach beiden Theorien die Lösung, daß die untadelige Partei den Streit gewinnt und ihr (wirklicher) Wille den Vertragsinhalt bestimmt. Fall 2 Beide Parteien, A und B, haben sich ordnungsgemäß verhalten. W i l l e n s t h e o r i e : A meint, χ bedeute p. Er hat keinen Grund anzunehmen, daß Β meint, χ bedeute q. Β meint, χ bedeute q, und hat keine Veranlassung zu glauben, daß A m i t χ eigentlich ρ meinte. A w i r d an den Erklärungsinhalt gebunden, den er auszudrücken glaubte, und Β an den Inhalt, den er seiner Erklärung beimißt. Lösung: Legt man den Erklärungswillen des A zugrunde, w i r d ρ Vertragsinhalt, legt man B's wirklichen Willen zugrunde, w i r d q Vertragsinhalt. A u f die Frage, welchen der beiden Versionen der Vorzug zu geben ist, erhält man keine Antwort.

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V e r t r a u e n s t h e o r i e : A ist der Auffassung, daß Β ρ gemeint habe, und hat keinen Grund zu der Annahme, daß Β q gemeint haben könnte. A meint selbst, daß χ ρ bedeute. Β glaubt, A habe q gemeint. Er hat keine Veranlassung anzunehmen, daß Α ρ gemeint haben könnte. Β meint selbst, daß χ q bedeute. Lösung: A kann sich darauf berufen, daß er Grund zu der Annahme gehabt habe, daß B's Erklärung den Inhalt ρ habe, während umgekehrt Β sich darauf berufen kann, daß er Veranlassung gehabt habe zu glauben, daß der Inhalt der Erklärung von A q gewesen sei. A u f die Frage, welche der beiden Versionen Bestand haben soll, erfolgt keine Antwort. Schlußfolgerung:

Beide Theorien versagen ihren Dienst.

Fall 3 Beide Parteien, A und B, handeln fahrlässig. W i l l e n s t h e o r i e : Zwar meint A m i t χ ρ, doch hat er Grund zu der Annahme, daß Β q gemeint hat. Zwar meint Β mit χ q, doch hat er Grund zu der Annahme, daß Α ρ gemeint hat. Lösung: Wahrscheinlich würde man A an den Inhalt binden, den er seiner Erklärung beigibt, und entsprechend Β an den von i h m gewollten Inhalt. Auch i n diesem Fall bleibt es eine offene Frage, welche Version den Vertragsinhalt bestimmen soll. V e r t r a u e n s t h e o r i e : Keine der Parteien verhält sich ordnungsgemäß. Beiden ist daher die Berufung auf den Vertrauensschutz verwehrt. Schlußfolgerung:

Beide Theorien versagen ihren Dienst.

Für die Fälle 2 und 3 läßt sich der Einwand erwarten, daß sie deshalb untauglich seien, w e i l gar kein Vertrag zustande gekommen sei. Als Entgegnung verweise ich auf die eingangs mitgeteilte Beobachtung, daß man i n den meisten Rechtsordnungen auf fehlerhafte oder unwirksame Verträge trifft, bei denen das Ideal deckungsgleicher Willenserklärungen also nicht gegeben ist, die aber gleichwohl als beständig und durchsetzbar behandelt werden und somit Auslegungsobjekte werden können 2 9 . 29 Für den Fall 3 erklärt Platou, ein Vertrag liege nicht vor, doch er widerspricht sich teilweise selbst, wenn er i m gleichen Atemzug hervorhebt, daß ein Willensfehler (Irrtum) die Gültigkeit des Vertrages nur dann beeinträchtige, wenn er einen wichtigen Punkt betreffe und nicht auf Fahrlässigkeit beruhe. Siehe Platou, „Allgemeines Privatrecht", S. 221 f.

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Auch m i t folgendem Vorschlag als einem weiteren Einwand muß gerechnet werden: trotz des Grundsatzes, daß ein Vertrag aus zwei Willenserklärungen bestehe, genüge es hier, nur eine Erklärung zugrunde zu legen. I n diesem Fall würde die Argumentation etwa wie folgt verlaufen. Bei der Analyse des Zustandekommens eines Vertrages geht man regelmäßig vom Angebot aus. Nach der Willenstheorie sollte der Vertragsinhalt nach dem Willen des Anbieters bestimmt werden, und nach der Vertrauenstheorie wäre die Auffassung des Angebotsempfängers maßgebend. Von derartigen Lösungsvorschlägen würde ich dringend abraten. Zu oft hinge das Ergebnis von Zufälligkeiten ab. Die Parteien legen kaum Gewicht auf den Umstand, wer denn nun eigentlich das Angebot abgegeben hat. Die sozial stärkere Partei hat es i n der Hand, über das Verhältnis von Angebot und Annahme zu entscheiden. Wohl jeder Laie würde z.B. erwarten, daß bei Versicherungsverträgen die Versicherungsgesellschaft als A n bieter anzusehen sei; dies ist i n Schweden jedoch nicht der Fall, w e i l der Versicherungsnehmer auf einem von der Gesellschaft aufgesetzten und verteilten Antragsformular den Abschluß eines Vertrages „anbietet". Soweit m i r bekannt ist, beruht diese Regelung allein auf praktischen Erwägungen und nicht etwa darauf, daß i n Schweden die Vertrauenstheorie herrschte und damit dem Angebotsempfänger eine günstigere Position eingeräumt wäre. Ferner ist es oft nicht mehr auszumachen, wer der Antragende und wer der Antragsempfänger war, beispielsweise dann, wenn die Parteien eine Zeitlang verhandelt, verschiedene Vorschläge, Angebote und Gegenangebote unterbreitet und schließlich eine sukzessiv ausgearbeitete Vereinbarung schriftlich niedergelegt und gleichzeitig unterzeichnet haben. Als kurze Zusammenfassung der Gegenüberstellung der Theorien läßt sich folgendes festhalten. Willens- und Vertrauenstheorie führen zu demselben Ergebnis, wenn die eine Partei ordnungsgemäß und die andere fahrlässig gehandelt hat; dann bestimmt die Version der ersteren den Vertragsinhalt (Fall 1). Haben sich beide Parteien untadelig (Fall 2) bzw. nachlässig (Fall 3) verhalten, verhilft weder die Willens- noch die Vertrauenstheorie zu einer Lösung, und die Frage, welche der Versionen Vorrang haben soll, bleibt offen. I n diesen Zusammenhang gehören noch einige Worte zu dem eingangs dieses Abschnittes erwähnten Beispiel für die traditionelle Betrachtungsweise. I n der juristischen Literatur w i r d ein I r r t u m regelmäßig so beschrieben, daß eine Partei eine Erklärung m i t an und für sich klarem Inhalt abgegeben, aber etwas anderes gemeint und gewollt hat. Mein Beispiel lautete, daß eine Partei 10 Kronen schrieb, aber 11 Kronen schreiben wollte. Auch diese Situation läßt sich m i t Hilfe des oben aufgestellten Schemas erfassen: „ A und Β erklären χ. A meint

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p, und Β meint q." Damit liegt Fall 1 vor, d.h. eine Partei verhielt sich ordnungsgemäß, die andere fahrlässig. Denn derjenige, der sich (durch den Gebrauch falscher Symbole) entgegen klaren sprachlichen Konventionen ausdrückt, handelt nachlässig. Somit bemißt sich der Vertragsinhalt nach der Lesart (dem Willen) der achtsamen Partei. IX. Nun ist zu fragen, ob die objektive Theorie i n Dissensfällen besser zu helfen weiß. Nach Danz soll der Richter an die Stelle der Parteien zwei vernünftige Personen setzen und deren Verhalten i n einem vergleichbaren Fall sowie deren Auffassung von den gewechselten Erklärungen zur Richtschnur der Entscheidung machen. Dieses hypothetische Prüfverfahren ergibt, soweit ich es übersehe, dieselben Ergebnisse, wie sie Willens- und Vertrauenstheorie erbracht haben. Setzt man eine verständige Person an die Stelle des A, welche die Fehlauffassung des Β vom Vertragsinhalt erkannt hat, so würde sie versuchen, das Mißverständnis auszuräumen. Die unvernünftig bzw. unverständig handelnde Partei muß es sich gefallen lassen, daß der Vertrag so zu deuten ist, wie es eine verständige Person auf der Partnerseite getan hätte. I m übrigen verweisen die Anhänger der objektiven Theorie auf den Wortlaut der Erklärungen oder auf verschiedene Rechtsregeln, seien es allgemeine Auslegungsvorschriften oder Normen, die nur speziell für bestimmte Vertragstypen gelten. Weiter unten (zu XII.) komme ich auf die Bedeutung dieser Beschreibung des Auslegungsprozesses zurück. X. Windscheid und seine Zeitgenossen sahen es sicherlich als ein wesentliches Kennzeichen einer guten Theorie an, daß sie angeben konnte, warum eine bestimmte Regel Bestandteil der Rechtsordnung war und wie sie sich aus den Rechtsquellen herleitete. Die deutschen Pandektisten hatten sich die Aufgabe gestellt, anhand der römischrechtlichen Quellentexte den Inhalt des geltenden „Gemeinen Rechts" darzustellen und damit auch festzulegen. I n Schweden dürften die Rechtswissenschaftler niemals eine ähnliche Schlüsselstellung innegehabt haben, die es ihnen ζ. B. ermöglicht hätte, über den Fortbestand einer Rechtsregel durch ihre Bestätigung zu entscheiden. Ein solcher, dem der Rechtsprechung vergleichbarer Einfluß der Rechtswissenschaft als Rechtsquelle wurde früher auch i n Skandinavien gefordert, so ζ. B. um die Jahrhundertwende von Lassen, Danz und Stang. Doch sind sich jedenfalls heute unsere Rechtswissenschaftler darüber i m klaren, daß sie keine Autorität zur Bildung oder Fest-

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Setzung von Recht besitzen. Es bleibt der Gesetzgebung und den Gerichten überlassen, die Entscheidung zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten zu treffen. Der Wissenschaftler beschränkt seine Rolle auf die eines Ratgebers. Man könnte auch daran denken, von juristischen Theorien sozialpsychologische Erklärungen dazu zu erwarten, w a r u m eine gewisse Rechtsregel entstanden ist und i n welcher Weise sie von den verschiedensten Faktoren geprägt wurde. Dies würde indessen Forschungsarbeiten voraussetzen, die sich auf anderen als den traditionellen Bahnen zu bewegen hätten. Die sozialen Zusammenhänge sind i. d. R. derart kompliziert, daß die Frage berechtigt erscheint, ob die Rechtswissenschaft jemals i n der Lage sein wird, Erklärungen zu liefern, die an Exaktheit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. XI. Die drei diskutierten Theorien enthalten wesentliche rechtspolitische Elemente. Die Willenstheorie stellt i n den Vordergrund, daß der einzelne selbst darüber zu befinden habe, i n welchem Umfang er sich einer vertraglichen Verpflichtung unterwerfe. Die Vertrauenstheorie geht von dem Grundsatz aus, daß man „auf die Sicherheit i m Handelsund Wirtschaftsverkehr Rücksicht nehmen muß, die dadurch bedingt ist, daß man sich auf eigentums- und vermögensrechtliche Willenserklärungen verlassen kann" 3 0 . Die Sicherheit des Rechtsverkehrs ist auch für die objektive Theorie von vorrangiger Bedeutung, doch gibt sie sich — wie der Name andeutet — zugleich den Anschein, den Schlüssel zur objektiven, von den Parteiinteressen unbeeinflußten Gerechtigkeit zu haben. Daß rechtswissenschaftliche Theorien einen rechtspolitischen Einschlag haben, braucht m. E. nicht notwendigerweise ein Fehler zu sein. Doch jede der drei genannten Theorien vereinfacht i n dieser Hinsicht das Problem auf unzulässige Weise 31 . Die jeweils angeführten rechtspolitischen Zielsetzungen stimmen gewiß m i t unseren allgemeinen sozialen Wertungen überein. Das zu lösende Problem liegt indessen nicht i n der Entscheidung darüber, ob man der individuellen Freiheit oder der Rechtssicherheit den Vorrang einräumt, sondern darin, wie man beide Gesichtspunkte miteinander i n Einklang bringt. Welche Beschränkungen muß der einzelne i m Interesse der Sicherheit des Rechtsverkehrs hinnehmen? I n der skandinavischen Literatur findet man häufig die Ansicht, daß das Interesse an einem sicheren Rechtsverkehr von ausschlaggebender 30 Lassen, Wille und Erklärung, S. 28. 31 Arnholm, Allgemeines Vertragsrecht, S. 54 f.

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Bedeutung sei, wenn es u m gewöhnliche vermögensrechtliche Ubertragungsgeschäfte gehe, daß dieses aber i n den Hintergrund treten sollte, wenn Rechtsgeschäfte wie Schenkung oder Testament zur Behandlung anstünden. Ich b i n nun keineswegs davon überzeugt, daß der Ausgleich zwischen den sich gegenüberstehenden Gesichtspunkten nach einer so schlichten Formel vorgenommen werden kann. Beispielsweise ist der Boden des wirtschaftlich bedeutsamen Vermögensrechts nicht überall gleich beschaffen. Daß der Wechsel ein streng typisiertes Rechtsgeschäft darstellt, beruht darauf, daß die Rechtssicherheit beim Wechsel eine wesentlich größere Rolle spielt als etwa bei einer einfachen Schuldverschreibung. Außerdem lassen sich solche wirtschaftsund handelsrechtlichen Instrumente nicht mit grundlegenden schuldrechtlichen Verpflichtungen, ζ. B. der Kaufpreiszahlungspflicht des Käufers, vergleichen. Allgemeine rechtspolitische Zielsetzungen bieten i m übrigen keinerlei Hilfestellung bei der Erörterung von Detailfragen 32 . Wichtiger erscheint die Frage, m i t welchen Mitteln Rechtssicherheit i n Handel und Wirtschaft zu erreichen ist. Die Vertrauenstheorie nimmt ihren Ausgang von der Grundeinschätzung, daß die Menschen sich auf eine Willenserklärung verlassen, sobald ihr nur die Rechtsordnung Bestandskraft m i t dem Inhalt verleiht, den ihr ein vernünftiger Empfänger geben würde. Dabei läge es näher, i n den Mittelpunkt eines rechtspolitischen Konzepts die Forderung zu stellen, daß derjenige, der den Vertragsmechanismus i n Gang setzt, m i t Vor- und Umsicht zu Werke geht. Der Vertrauensschutz erschiene dann als Reflex des Gebots, sich dem Partner gegenüber achtsam und rücksichtsvoll zu verhalten. Der Vertrauensgrundsatz würde demzufolge gegen ein Gebot der Rücksichtnahme auszutauschen sein. Ein wichtiger rechtspolitischer Aspekt wurde bisher vollkommen vernachlässigt. Eine wesentliche Bedingung für ein friedliches Zusammenleben und einen geordneten Wirtschaftsablauf ist es, daß die einzelnen Individuen ihre Verpflichtungen freiwillig erfüllen. Erziehung und andere soziale Einflüsse außerrechtlicher A r t sind hierfür von erheblicher Bedeutung. Vermutlich spielen freiwillige Befolgung und außerrechtliche Sanktionen eine wesentlich größere Rolle bei der Einhaltung rechtlicher Verpflichtungen als der Wunsch des einzelnen, das Unbehagen i n Gestalt rechtlicher Sanktionen zu vermeiden. Bei der Ausgestaltung von Auslegungsregeln sollte daher besonderes Gewicht darauf gelegt werden, daß die Normen geeignet sind, von den einzelnen Teilnehmern am Rechtsverkehr freiwillig eingehalten zu werden. Vgl. Hellner, Rechtsphilosophie in der Analyse von Deliktsproblemen (engl.), in Scandinavian Studies in Law, Bd. 2 (1958), bes. S. 154.

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Eine rechtswissenschaftliche Theorie sollte bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Vor allem muß sie Stand und System des behandelten Rechtsgebietes beschreiben. Wenn sie schon nicht alle betreffenden Normen aufnimmt, so sollten doch wenigstens die wichtigsten bezeichnet werden. Jedenfalls aber muß sie angeben, auf welche Fragen sie antworten w i l l . Vorteilhaft ist es andererseits, wenn die Theorie offen ist i n dem Sinne, daß sie ohne Umformulierung auf viele, wechselnde Erscheinungen und Regeln anwendbar ist. Wie bereits erwähnt, erfolgt die Vertragsauslegung auf zwei Stufen. A u f der ersten hat der Richter den Inhalt der beiden Willenserklärungen zu ermitteln, und auf der zweiten ist über die Punkte zu entscheiden, i n denen die Auffassungen der Parteien voneinander abweichen, sei es wegen inhaltlicher Unterschiede, sei es wegen des Fehlens einer entsprechenden Vereinbarung überhaupt. I m Hinblick auf die erste Stufe verweist die Willenstheorie auf die Tatsache, daß es den Parteien i m Prinzip vollkommen freigestellt ist, ihre Angelegenheiten und Verpflichtungen zu gestalten; sie können sich dabei eines anerkannten Regelfalls als Vertragsmuster bedienen, sie können aber auch ein vollständig neues Vertragsmodell entwickeln. Die entstehende Rechtslage w i r d indessen einseitig vom Blickwinkel des rechtlich Handelnden, also des Erklärenden, aus betrachtet. Die Theorie deutet i n keiner Weise an, daß die richterliche Auslegungsarbeit normalerweise m i t einem Vergleich des vorliegenden Vertrages mit gleichen oder ähnlichen, früher beurteilten Verträgen zu beginnen hat. A u f der zweiten Stufe kommt es — wie oben dargelegt — darauf an herauszufinden, welche der Parteien vernünftig und welche fahrlässig gehandelt hat. I n dieser Hinsicht erweist sich die Willenstheorie als ein äußerst dürftiges Instrument zur Erfassung der Rechtslage. Der entscheidende Lösungsvorschlag, daß eine nachlässig auftretende Partei selbst dann an ihre Willenserklärung gebunden wird, wenn diese nicht ihren wirklichen Willen wiedergibt, erscheint als krasse, von praktischen Momenten diktierte Ausnahme von der theoretischen Grundannahme. Für die Dissensfälle, i n denen beide Parteien entweder sorgfältiges oder fahrlässiges Verhalten gezeigt haben, bietet die Willenstheorie gar keine Lösung an. Noch weniger als die Willenstheorie erfüllt die Vertrauenstheorie die Forderung, die Rechtslage zu beschreiben. Sie befaßt sich nicht ausdrücklich m i t der ersten Auslegungsstufe, doch wäre es w o h l zuviel gesagt, wenn man sie als vollkommen bedeutungslos bezeichnete. Sie bringt immerhin zum Ausdruck, daß man bei der Beurteilung eines

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Rechtsgeschäfts auch die Betrachtungsweise eines außenstehenden D r i t ten berücksichtigen sollte. Die Theorie könnte i n dem Maße sinnvoll sein, wie man weitestgehend m i t klar herausgearbeiteten Regelfällen arbeitet. Hinsichtlich der zweiten Stufe des Auslegungsvorgangs weist die Vertrauenstheorie einen Vorzug gegenüber der Willenstheorie auf, weil sie den bedeutsamen Umstand hervorhebt, daß sich jede Partei sorgfältig und einwandfrei verhalten soll. Andererseits aber krankt die Vertrauenstheorie an komplizierten und verwirrenden Gedankengängen. I m Abschnitt V I I I . wurden die beiden Theorien auf abgewandelte Dissensfälle angewandt. Das Verhalten der einen Partei, A, wurde jeweils dem der anderen, B, gegenübergestellt; es wurden also beide Blickwinkel eingenommen. Wie ich oben schon angedeutet habe, zielte dies auf die Umformulierung der Ausgangsfrage ab. Der Ansatz der Verfechter der Willens- und der Vertrauenstheorie war demgegenüber individualistischer. Beiden Theorien ist gemeinsam, daß bei der Beurteilung eines Vertragsinhalts nur von dem Verhalten einer Partei ausgegangen wird, ohne dasjenige der anderen zu berücksichtigen. Die Willenstheorie konzentriert sich auf den Erklärenden, die Vertrauenstheorie auf den Adressaten. Ein illustratives Beispiel für die Denk- und Arbeitsweise nach der Vertrauenstheorie gibt der H D i n seinem Urteil N J A 1957, S. 69. Persson war Eigentümer zweier Wald- und Weidengrundstücke, die auf der Vermessungskarte die Bezeichnungen „Litt.Ga" und „ L i t t . F b " trugen. Ein schwerer Sturm hatte den Holzbestand dieses Gebietes erheblich beschädigt. Persson war ein alter Mann und zu schwach, u m die entlegeneren Teile seines Besitztums zu inspizieren, so daß er auf Informationen seiner Nachbarn über die Ausmaße der Schäden angewiesen war. Einige Händler machten sich an Ort und Stelle ein B i l d und hofften, einen guten Kauf machen zu können. Als gerade zwei Holzhändler bei Persson verhandelten, erschien Olsson und bot einen Preis. I n einer mündlichen Abmachung, die später schriftlich bestätigt wurde, verkaufte Persson an Olsson „sturmgeschädigten Wald auf Waldgrundstück einschließlich geknickter Bäume zum Preis von (35 Tausend Kronen) fünfunddreißigtausend Kronen". Persson behauptete, daß er nur das Holz auf dem Grundstück Litt.Ga verkauft habe, während Olsson meinte, auch das Holz vom Grundstück Litt.Fb gekauft zu haben. Die Mehrheit des H D entschied sich i m Urteil dafür, daß Perssons Ansicht die richtige und damit Vertragsinhalt geworden sei. I n den Gründen setzt sich das Gericht ausführlich mit dem Verhalten Perssons auseinander, u m zu ermitteln, ob dieser den Dissens kannte oder kennen mußte. Die entscheidende Urteilspassage lautet: Zwar ist es wahrscheinlich, daß Olsson seinerseits der vertraglichen Abrede einen anderen, weiteren Inhalt beimaß, doch spricht nichts dafür, daß

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Persson diesen Irrtum Olssons kannte. Vor allem mit Rücksicht auf die Umstände, unter denen die Abmachung zustande kam, kann es Persson auch nicht zur Last gelegt werden, daß er nicht genug Aufmerksamkeit darauf verwandte zu erkennen, wie Olsson den Vertragsinhalt auffaßte und ihn demzufolge nicht über den betreffenden Irrtum aufklärte.

Insoweit stellt der H D also fest, daß Persson keinerlei Vorwurf zu machen ist. Demgegenüber w i r d die Frage nicht einmal berührt, ob nicht Olssons Auffassung vom Vertragsinhalt ebenso wohlbegründet war wie die Perssons. Natürlich muß das Verhalten Olssons — ob es nun untadelig oder fahrlässig war — m i t derselben Sorgfalt geprüft werden wie dasjenige Perssons. Es ist als ernsthafter Mangel einer Theorie anzusehen, wenn eine derartige Frage vollständig außerhalb ihrer Argumentation bleibt. Unter einem weiteren Aspekt sind sich Willens- und Vertrauenstheorie ähnlich. Die Beschreibung der Rechtsfolgen geschieht bei beiden stereotyp. Das Gericht gründet seine Entscheidung entweder auf die Version der einen oder die der anderen Partei; alle Zwischenlösungen liegen außerhalb des gedanklichen Schemas. Der Fall Olsson gegen Persson kann auch zur Schilderung dieser Tatsache herangezogen werden. Persson meinte, nur den sturmgeschädigten Wald auf Litt.Ga für 35 Tausend Kronen verkauft zu haben, während Olsson glaubte, der Kauf erfaßte auch den Bestand auf L i t t . Fb, der 6 Tausend Kronen wert war. Ob man nun der Willenstheorie oder der Vertrauenstheorie folgt, steht die Möglichkeit eines Kompromisses außerhalb der Diskussion, einer Lösung etwa, bei der jede Partei einen Teil des Verlustes zu tragen hätte. Als Alternative sollte es jedoch i n Betracht kommen, daß das Gericht Persson verpflichtete, die Hälfte der Einbuße Olssons, also 3 000 Kronen, zu übernehmen. Zwar mag die deutsche Lehre vom Ersatz des negativen Vertragsinteresses 33 i n manchen solcher Fälle den richtigen Lösungsweg eröffnen, doch ist dieses Modell i n den skandinavischen Ländern nie ernsthaft diskutiert worden. Die Beurteilung der objektiven Theorie w i r d zu einem etwas milderen Ergebnis führen. Danz kommt das Verdienst zu, die Erforschung des Auslegungsvorgangs von den Lehren über das Zustandekommen und die Unwirksamkeit bzw. Anfechtbarkeit von Verträgen gelöst zu haben. W i r befinden uns aber auf einem falschen Weg, wenn w i r mit Stangò unter Sprache „ein anerkanntes System von Symbolen, innerhalb dessen jedes Symbol für jeden, der die Sprache beherrscht, einen festumrissenen Bedeutungsinhalt hat", verstehen. Diese Annahme ist nur insoweit richtig, als arithmetische Zeichen, Zeit- oder Maßeinheiten oder ähnliche Konventionen betroffen sind. Gewiß kann man zuweilen as Vgl. oben S. 59. 34 Vgl. oben S. 64.

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auch von einem allgemeinen Sprachgebrauch ausgehen oder von einem gemeinsamen Sprachgebrauch der sozialen Gruppe, der beide Parteien angehören. Doch bleibt festzuhalten, daß einzelne Wörter i m allgemeinen einen vagen, unbestimmten Inhalt haben und erst i n ihrem Zusammenhang eine nähere Präzisierung erfahren. Der Gebrauch der Sprache wechselt von Gruppe zu Gruppe. Darüber hinaus ist zu beachten, daß die Forderungen, die i n sprachlicher Hinsicht an den Verfasser einer Urkunde gestellt werden mögen, nicht notwendigerweise m i t denjenigen zusammenfallen, deren Einhaltung vom Leser erwartet werden kann. Verkäufer und Käufer, Reeder und Frachtunternehmer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Vermieter und Mieter haben gegensätzliche Interessen, und oft hat die eine Seite gute Gründe dafür, den Wortlaut eines Vertrages anders als die Gegenseite zu verstehen 35 . Die objektive Theorie hat den Vorteil größerer Offenheit, sobald die zweite Stufe des Auslegungsprozesses erreicht wird. Das hypothetische Einsetzen zweier verständiger Vertragspartner nach Danz verweist auf den wichtigen Umstand, daß das Gericht die Frage nach schuldhaftem Verhalten einer oder beider der Parteien zu beantworten hat. Der Begriff „verständige (vernünftige) Parteien" bedeutet konkret, daß derjenige, der den damit gesetzten Anforderungen nicht genügt, schuldhaft gehandelt hat. Ebenso erscheint es verdienstvoll, daß die Vertreter der objektiven Theorie die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Rechtsregeln gelenkt haben, die entweder die Auslegung allgemein oder die Auslegung bestimmter Vertragstypen betreffen. Ein Begriff wie „verständige Partei" bzw. i m Spiegelbild „Verschulden" erhält einen genaueren Inhalt erst dann, wenn das Parteiverhalten m i t dem i n einer Rechtsnorm enthaltenen Handlungsmuster verglichen wird. Der Willens- und auch der Vertrauenstheorie wurde oben vorgeworfen, i n der Beschreibung der Rechtsfolgen stereotyp i n der Weise zu sein, daß dem Gericht ausschließlich die Wahl zwischen einer der beiden Parteiauffassungen offensteht. Die objektive Theorie ist auch i n diesem Punkt flexibler. Eingangs dieses Aufsatzes erwähnte ich Leonhards Gründe gegen die Willens- und Vertrauenstheorie: beide seien zu eng und einseitig, w e i l sie nur das Interesse jeweils einer Partei berücksichtigten. Die objektive Theorie sollte einen Mittelweg zwischen beiden Extremen anbieten, indem sie dem Wortlaut als solchem Bestandskraft verlieh. Dieselbe Argumentation kehrt bei Stang wieder. Der Vorschlag mag den Zugang zu neuen Lösungsmöglichkeiten erleichtert haben, doch fällt auf, daß die Anhänger der objektiven Theorie offensichtlich noch weitgehend an die gedanklichen as Vgl. Glanville Williams, Sprache und Recht, The L a w Quarterly Review, Bd. 61 (1945), bes. S. 384 ff. β Schmidt

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Standards der älteren Theorien gebunden sind. Bisher hat noch niemand ernstlich die Alternative diskutiert, daß i n bestimmten Fällen ein wirtschaftlicher Kompromiß zwischen den Parteien die angemessene Lösung eines Auslegungsproblems sein kann. XIII. Die gegenwärtige Situation kann etwa wie folgt beschrieben werden. Die Willenstheorie zielte i n der von Windscheid ausgearbeiteten Gestalt darauf ab anzugeben, welche Regeln als Teil der Rechtsordnung anzusehen seien, m. a. W. die Existenz bestimmter Rechtsregeln zu legitimieren. Auch die Vertreter der Vertrauens- und der objektiven Theorie meinten, m i t ihren Erörterungen geltendes Recht darzustellen und dessen Verhältnis zu den Rechtsquellen offenzulegen. Doch rückte ein anderes Moment, und zwar ein rechtspolitisches, i n den Vordergrund. I m Interesse der Rechtssicherheit des Wirtschaftsverkehrs w u r den Regelungen vorgeschlagen, die teilweise von den früheren theoretischen Grundannahmen abwichen. Dazu trat als dritte Funktion der Theorien stets die Beschreibung des Rechtszustandes. Ist man der Ansicht, daß eine rechtswissenschaftliche Theorie weder akzeptable Lösungen anbieten kann noch von überzeugenden rechtspolitischen Argumenten getragen wird, verbleibt ihr nur die beschreibende Funktion. Der Verfasser meint, die Schwächen der geläufigen Theorien hinreichend dargelegt und insbesondere ihre Dürftigkeit i m Hinblick auf die Erfassung geltender Vertragsauslegungsvorschriften erwiesen zu haben. Dies gilt i n besonderem Maße für die Vertrauenstheorie, die i n Schweden als herrschende Lehre betrachtet wird. Die Zeit erscheint m i r reif, dieser Theorie jedenfalls insoweit abzuschwören, als sie Auslegungstheorie sein w i l l . Wer eine alte Konstruktion einreißt, sollte sich bemühen, Material zum Neuaufbau zusammenzutragen. Dabei muß man jedoch von der Voraussetzung ausgehen, daß w i r es m i t einem festgefügten Regelsystem zu t u n haben oder doch wenigstens mit einer Untersuchungsmethode, die der Auslegung insgesamt gemeinsam ist. Sollte Auslegung lediglich die Anwendung jeweils spezieller Regeln auf einzelne Vertragstypen meinen, so wäre eine Auslegungstheorie überflüssig; dann genügte die Feststellung, daß die herkömmlichen Auslegungstheorien unzweckmäßig sind. M. E. bezeichnet Auslegung aber eine Verfahrensweise, für die eine Reihe gemeinsamer Regeln Geltung beansprucht. Bestimmte Fragestellungen sind außerdem nicht nur für Verträge, sondern für Rechtsgeschäfte überhaupt maßgebend. Bei der Erläuterung der ersten Stufe der richterlichen Auslegungsarbeit erwies sich das Beispiel aus dem

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Testamentsrecht als fruchtbar, obwohl sich das Testament i n vieler Hinsicht von anderen Rechtsgeschäften unterscheidet. Einige Auslegungsregeln werden für alle Vertragstypen anwendbar sein, andere etwa nur für vermögensrechtliche Verträge und dritte möglicherweise ausschließlich für Verträge m i t standardisierten Bedingungen ( „ A l l gemeine Geschäftsbedingungen"). Der Verfasser kann keine Theorie anbieten, die i n gleicher Weise wie die klassischen Theorien den Anspruch erhebt, alles Wesentliche i n eine schlichte Formel zu gießen. Eher geht es m i r darum, einige der zuvor genannten Ansätze weiterzuentwickeln i n der Hoffnung, daß andere sie als Diskussionsgegenstand aufgreifen werden. Einer dieser Aspekte ist die Ausgestaltung und Anerkennung von Regelfällen durch die Rechtsordnung. Wichtig ist dabei das Studium des Entstehungsprozesses solcher Regelfälle. Ferner sollte die Rechtsfindungsmethode nicht vergessen werden. W i r machten die einfache Beobachtung, daß das Gericht i n einer Auslegungsfrage nach anerkannten Regelfällen sucht und dann prüft, ob nicht einer von ihnen dem vorliegenden Rechtsstreit entspricht oder ob es sich u m ein von den Parteien neu gewähltes Vertragsmodell handelt. Welche Regelfälle der Rechtsprechung zur Verfügung stehen, ist keine geeignete Ausgangsfrage für eine allgemeine Erörterung der Vertragsauslegung, weil die Zuordnungskategorien von einer Fallsituation zur anderen wechseln. Dasselbe gilt für Forderungen, die man an das Verhalten solcher Vertragspartner stellen müßte, welche die eingefahrenen Wege der Vertragsgestaltung verlassen und eigene Muster prägen wollen. Die unterschiedlichsten Gesichtspunkte werden maßgebend sein, je nach dem, ob es sich u m einen gewöhnlichen Spezieskauf, u m einen Liefervertrag über vertretbare Sachen zwischen Kaufleuten, u m einen Grundstückskauf, u m Fracht, Konnossement, Tarifvertrag, Wechsel oder Scheck handelt. Möglicherweise kann man nicht einmal stets m i t denselben Kriterien bei demselben Vertragstyp rechnen, z.B. müßte zwischen gewöhnlichen einmaligen und Formular- und Massenverträgen unterschieden werden. A l l e n Gebieten ist indessen gemeinsam, daß die Parteien frei unter den bereits anerkannten Regelfällen wählen können. Die hier aufgeführten Aspekte mögen unter den Begriffen Regelfall und Parteiwille zusammengefaßt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Fälle, i n denen die Parteien dem Vertrag einen unterschiedlichen Inhalt zuschreiben. Hier sollte wie i m Schadenersatzrecht eine allgemeine Verschuldens-Regel maßgebend sein. Es wurde versucht nachzuweisen, daß sowohl die Willens- als auch die Vertrauenstheorie i n eine einheitliche Regel münden, daß nämlich bei Fahrlässigkeit einer Partei das Verständnis der anderen den Vertragsinhalt bestimmen solle. Auch die objektive Theoô·

egelfall, Parteiwille und Verschulden rie läuft i n gewisser Weise auf eine Verschuldensregelung hinaus. Die vorgeschlagene Lösung, daß man bei der Vertragsauslegung den Verschuldensgrundsatz m i t heranziehen sollte, hat nicht nur den Vorteil, einfach zu sein. Gegenüber den tradierten Theorien w i r d darüber hinaus das Blickfeld dadurch erweitert, daß das Verhalten beider Parteien i n die Prüfung einbezogen wird. Überdies berücksichtigt der Vorschlag einer Verschuldenstheorie die Tatsache, daß man auch mit Fällen rechnen muß, i n denen beide Seiten schuldhaft gehandelt haben. Da diese Theorie auch lediglich beschreibende Funktion beansprucht, erübrigt sich eine Argumentation für die eine oder andere Rechtsfolgeregel, die als die geeignetste erscheinen könnte. Es soll bei der Feststellung bewenden, daß der Fall beiderseitigen Verschuldens bislang kaum berücksichtigt wurde. Die schwedische Rechtsprechung scheint zumeist von dem Grundsatz ausgegangen zu sein, daß die Vertragsversion der am vernünftigsten (d.h. am wenigsten fahrlässig) aufgetretenen Partei für die „richtige" erklärt wurde. Ist es aber dann nicht naheliegender, an eine Verteilungsregel zu denken, wie sie aus dem Schadenersatzrecht bekannt ist? Jede Partei etwa wäre zu dem Maß an Zugeständnissen zu verpflichten, das Grad und Umfang ihres Verschuldens entspricht. Hervorzuheben ist, daß der Begriff Verschulden i n der Auslegungslehre dieselbe Funktion haben sollte wie i m Schadenersatzrecht. Er diente vor allem als genereller Bezugspunkt zu all den Vorschriften, die innerhalb der einzelnen Vertragskategorien und Fallgestaltungen bestimmte Verhaltensanforderungen normieren. Für die Rechtswissenschaft ist es eine wichtige Aufgabe, die Handlungsnormen anzugeben, die einer Partei beim Ingangsetzen eines Vertragsmechanismus als Richtschnur dienen sollen. Beachtliche Schritte auf diesem Wege sind von den Amerikanern WUliston und Corbin 36 und dem Deutschen L. Raiser 37 unternommen worden — u m nur einige Namen zu erwähnen —, doch bleibt noch viel zu tun 3 8 . «« Williston, Über Verträge, überarbeitete Ausgabe, Bd. 3, 1936, bes. S. 601 ff.; Corbin, Über Verträge, Bd. 3, 1951, bes. S. 532-560. 37 Siehe L. Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, Hamburg 1935. 38 Die besondere Problemstellung bei den Formularverträgen ist von dem Finnen Curt Olsson sorgfältig analysiert worden in seinem Vortrag „Wirkung von Vertragsklauseln in Standardformularen", abgedruckt in: Verhandlungen der 21. Nordischen Juristenkonferenz, 1957. Abgesehen davon ist die skandinavische Literatur auf diesem Gebiet recht dürftig. Einige Autoren, wie etwa Hellner und der Verf., haben das Auslegungsproblem in Arbeiten über das Versicherungs-, das Fracht- und das Tarifvertragsrecht berührt. Vgl. dazu Hellner, Versicherungsrecht, 1959, S. 66 ff., und von den Arbeiten des Verf. Arbeitsrecht I (kollektives Arbeitsrecht), 1973, S. 149 ff. (deutsche Übersetzung einer Vorauflage: Das kollektive Arbeitsrecht Schwedens, Stuttgart 1968, S. 69 ff.).

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Der Verfasser hat demgegenüber keine Formel zur Hand für den Fall, daß die Parteienerklärungen aneinander vorbeigehen, ohne daß eine der beiden Seiten schuldhaft dazu beigetragen hat. Man müßte der Frage nachgehen, ob für diese Fälle überhaupt gemeinsame Regeln und Lösungsmöglichkeiten zu finden sind. Z u dieser Konstellation ist vorerst nicht mehr zu sagen, als daß sie möglicherweise nur m i t besonderen Vorschriften für spezifische Vertragsinstitute befriedigend abgewickelt werden kann. Zusammenfassend läßt sich das Verfahren der Vertragsauslegung beschreiben als die Zuordnung des Vertrages zu anerkannten Regelfällen bzw. das Entwerfen neuer Modelle unter Berücksichtigung von Parteiw i l l e n und Parteiverschulden.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht* Überlegungen zum System des Bürgerlichen Gesetzbuchs I. Für den außenstehenden Beobachter mag das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1896 als die eindrucksvollste Kodifikation moderner Zeit überhaupt erscheinen. Es ist nicht nur die Verkörperung der neugeschaffenen Rechtseinheit einer politischen Großmacht, sondern zugleich Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsmühen einiger der besten und bekanntesten Rechtswissenschaftler der Welt. I m wesentlichen ist es von den sozialen Veränderungen und Revolutionen seit seiner Inkraftsetzung unberührt geblieben. Nipperdey 1 gibt i n seinem „Allgemeinen Teil", einem der heute führenden Lehrbücher, folgende allgemeine Charakteristik: „Das BGB enthält abstrakt gefaßte allgemeine Normen, was eine Absage an die Methoden der kasuistischen Fälleregelung bedeutet. Es zeichnet sich durch einen logisch klaren Aufbau und scharfe Begriffsbildung aus."

Bei dem Versuch, m i r eine genauere Vorstellung von dem zu machen, worauf Nipperdeys Beschreibung abzielt, kam ich zu folgendem Schluß. Die Verfasser des Gesetzes beabsichtigten, so weit wie möglich Begriffe zu verwenden, die bei allgemeinster Anwendbarkeit bestimmte Rechtsverhältnisse bezeichnen. Obwohl sich diese Begriffe i n der Regel auf Rechtsfolgen beziehen, enthalten sie zumeist eine oder mehrere Tatsachenvoraussetzungen, von deren Vorliegen die Anwendung der Vorschrift abhängt. Nicht jeder dieser Begriffe ist genauer definiert. So enthält das BGB keine Definitionen etwa solch grundlegender Begriffe wie „Rechtsgeschäft" oder „Willenserklärung". Die Begriffe dienen indessen als Grundlage für die Systematisierung der Rechtsvorschriften und sind nach bestimmten Prinzipien zueinander i n Beziehung gesetzt und geordnet. Etwas anders ausgedrückt kann man das Nipperdey- Zitat so deuten, daß die Gesetzesregeln i n einer grundsätzlich festgelegten Ordnungsfolge erscheinen, so daß die verschiedenen Begriffe * Schwedisch in Festschrift für Hjalmar Karlgren, Stockholm 1964, S. 279 bis 304; englisch in Scandinavian Studies in L a w 1965, S. 131 -158. ι Enneccerus / Nipperdey, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts Bd. 1, Allgemeiner Teil, 1. Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 71 f.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht i n bestimmten Beziehungen zueinander stehen, die ihnen eine klarere Bedeutung verleihen, als wenn dies nicht der Fall wäre. Dieser A r t i k e l verfolgt die Absicht, i n einem Erklärungsversuch darzustellen, wie sich der Gedanke einer Systematisierung des Privatrechts i n Deutschland entwickelte, und die Grundstrukturen dieses Systems zu beschreiben. Insoweit kann die Studie dazu beitragen, das Verständnis einiger allgemeiner Grundzüge des deutschen Zivilrechts zu erleichtern, das dem Außenstehenden, wie dem Verfasser, auf den ersten Blick fremd und künstlich und daher schwer zugänglich erscheint. Ferner w i r d der Versuch unternommen, die Systematik des BGB kritisch einzuschätzen, vor allem durch einen Vergleich ihrer Vor- und Nachteile m i t anderen Alternativen, wie sie vorwiegend den Lösungen innerhalb der skandinavischen Rechtsordnung entnommen werden. I m Schlußteil des Aufsatzes sollen einige Spekulationen darüber angestellt werden, i n welchem Maße die abstrakte Systematisierung des gesetzlichen Materials möglicherweise die Methoden der Rechtsanwendung beeinflußt. Dieser Beitrag erschien erstmals 1964 i n Schwedisch 2 . Bei seiner englischen Fassung 3 stand die Überlegung i m Vordergrund, wie die Eigenheiten des deutschen Rechts dem anglo-amerikanischen Juristen am besten zugänglich zu machen sind. Als Skandinavier stehe ich etwa i n der Mitte zwischen dem kontinentalen und dem anglo-amerikanischen Rechtskreis — der erste eher dogmatisch, der zweite eher pragmatisch orientiert —, eine wohl geeignete Position, u m sich der Aufgabe zu widmen, einige Kenntnisse des deutschen Rechts einem fremden Forum zu vermitteln. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß ich keine formale Ausbildung i m deutschen Recht absolviert habe, wenngleich m i r der Gegenstand der Untersuchung nach zahlreichen Studienaufenthalten i n Deutschland hinreichend vertraut erscheint 4 . Schon einleitend sollte klargestellt werden, daß das sehr allgemein gehaltene Thema nur schwierig i n den Griff zu bekommen ist, insbesondere für einen Ausländer, der sich mit dem deutschen Recht gleichsam nur als Gast beschäftigt. Auch die Auswahl der herangezogenen Beleg-Literatur ist notwendigerweise dadurch bestimmt, daß ich nur i n einer begrenzten Zeit das m i r wesentlich erscheinende Material zusammenstellen konnte. Schließlich mag ich i n dem einen oder anderen Punkt geirrt haben, weil ich doch nicht genug i m deut2 Tysk abstrakt metod, in Festschrift für Hjalmar Karlgren, Stockholm 1964, S. 279-304. 3 The German Abstract Approach to Law, in Scandinavian Studies in Law, 1965, S. 133 - 158. 4 Die vorliegende deutsche Fassung fußt zugleich auf dem schwedischen und dem englischen Text. (Anm. d. Ü.)

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sehen Recht belesen b i n oder einfach deswegen, weil ich nicht jeden Gedankengang hinreichend gründlich überprüft habe 5 . II. Das BGB besteht bekanntlich aus fünf Büchern: 1. Allgemeiner Teil, 2. Recht der Schuldverhältnisse, 3. Sachenrecht, 4. Familienrecht und 5. Erbrecht. I m Folgenden werde ich mich auf den Versuch beschränken, die Gründe für die Kodifizierung eines „Allgemeinen Teils" und dessen Abgrenzung zu den anderen vier Büchern aufzuzeigen, sowie die Trennungslinie zwischen Schuld- und Sachenrecht zu verdeutlichen. Die beiden letzten Bücher als gesonderte Konstruktionen des Familienund Erbrechts bleiben außerhalb der Betrachtung. Der „Allgemeine Teil" enthält Regeln, die gemeinsam für die i n den folgenden Büchern abgehandelte Materie gelten. So ist jede Vorschrift des ersten Buches grundsätzlich anwendbar bei einem Kauf oder einem Darlehen, bei einer Eigentumsübertragung, einer Eheschließung, einem Testament oder bei jedem anderen Rechtsverhältnis. Ein kurzer Blick auf frühere Kodifikationen i m deutschsprachigen Raum aus der Zeit u m 1800 lehrt, daß die Voranstellung eines allgemeinen Teils neu war. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 enthält zwar i m Anschluß an einige generelle Charakterisierungen von Gesetzen i n einem ersten Teil u. a. einen Abschnitt „ V o n Personen und deren Rechten überhaupt", gefolgt von einem Abschnitt „ V o n Sachen und deren Rechten überhaupt", doch gilt die Mehrzahl der aufgestellten Regeln nicht gemeinsam für alle Bestimmungen, die Personen oder Sachen betreffen, und die wenigsten sind für das ganze Gesetzeswerk verbindlich. Einige sind vielmehr äußerst speziell, wie etwa eine lange Reihe von Definitionen i m Abschnitt „Von Sachen", z.B. daß man unter einer Equipage „Pferde, Wagen und dazugehöriges Geschirr, welche dazu bestimmt sind, der Bequemlichkeit des Eigentümers zu dienen", zu verstehen habe. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für das Kaiserthum Oesterreich von 1811 erinnert i n seiner Konzeption stark an den französischen Code Civil von 1804; i n einem ersten Teil handelt es von Personen einschließlich familienrechtlicher Bestimmungen zur Ehe und zum Eltern-Kind-Verhältnis®. δ Savigny leitet sein „Recht des Besitzes" (1. Aufl. 1803) mit dem Hinweis ein, daß Untersuchungen zum Besitzrecht gewöhnlicherweise mit Klagen über die Schwierigkeiten des Gegenstandes begonnen werden. I n den meisten Fällen sei dies „nur eine vorläufige Lobrede auf ihr Werk". Dies war jedoch nicht meine Absicht bei den oben angedeuteten Bedenken. 6 Das österreichische Zivilgesetzbuch fügt an Teil I : „Personenrecht" und Teil I I : „Sachenrecht" in einem letzten Teil I I I allgemeine Vorschriften an: „Von den gemeinschaftlichen Bestimmungen der Personen- und Sachenrechte." Der Inhalt dieses Teils stimmt aber keineswegs mit dem „Allgemei-

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht Der Methode, i n einem ersten Teil Grundregeln zu sammeln, die für das gesamte Privatrecht gelten, begegnen w i r demgegenüber i m Bürgerlichen Gesetzbuch für das Königreich Sachsen von 1863. Aufbau und Anlage dieser Kodifikation entsprechen i n großen Zügen dem Konzept des ersten offiziellen BGB-Entwurfs von 1888. Wie das BGB hat auch das sächsische Gesetzbuch fünf Bücher. I n Übereinstimmung m i t der wissenschaftlichen Tradition des 19. Jahrhunderts steht indessen das „Sachenrecht" vor dem „Recht der Forderungen". Der erste Teil „Allgemeine Bestimmungen" stimmt inhaltlich i n wesentlichen Punkten mit dem BGB-Entwurf von 1888 überein. Diese Anmerkungen zu deutschsprachigen Kodifikationen aus dem Jahrhundert vor der Entstehung des BGB mögen durch eine Untersuchung der seinerzeit führenden rechtswissenschaftlichen Lehrbücher vervollständigt werden. Die Betrachtung dieser Arbeiten soll zeigen, wie man sich u m die Zusammenstellung einer Anzahl von Regeln bemühte, die dem gesamten Privatrecht gemeinsam waren. Für das „moderne deutsche Pandektensystem" war dieser Gedanke konstitutiv. Für unseren Zweck erscheint es ausreichend, eine begrenzte Anzahl wohlbekannter Lehrbücher heranzuziehen; es kommt hier auch nicht darauf an, die einzelnen Autoren einer der beiden Schulen zuzuordnen — der Historischen oder der positivistischen —, der sie angehört haben mögen. Studiert man Gustav Hugo (1764 - 1844), Heise (1778 - 1851), Savigny (1779- 1861), Puchta (1798-1846), Vangerow (1808-1870), Windscheid (1817 - 1892) und Dernburg (1829 - 1907)7, so ist unschwer zu beobachten, wie der Rechtsstoff Stück für Stück nach strengen Prinzipien geordnet wurde. Windscheids Lehrbuch des Pandektenrechts bildet den Abschluß nen Teil" des BGB überein. I m 3. Teil des ABGB geht es vielmehr um solche Fragen, wie Rechte, ζ. B. durch Bürgen oder Pfand, gesichert werden können, wie man ein Recht, z.B. durch Neubegründung oder Zusatzabrede, inhaltlich verändern kann, wie eine Forderung, ζ. B. durch Bezahlung, untergeht oder auch, wie ein Recht infolge Verjährung oder Ersitzung erlischt. 7 Dem Verfasser waren folgende Arbeiten zugänglich: Gustav Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, in verschiedenen (1. - 7.) Aufl., 1818-1824. Heise, Grundriß eines Systems des gemeinen Civilrechts, 2. Aufl. 1816. Savigny, Das Recht des Besitzes, 4. Aufl. 1822; System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1 - 3, 1840, Bd. 4 u. 5, 1841, Bd. 6, 1846, 1847, Bd. 7, 1848, Bd. 8, 1849; Das Obligationenrecht, Bd. 1, 1851, Bd. 2, 1853. Puchta, Vorlesungen über das heutige römische Recht, postum herausgegeben 1852. Vangerow, Leitfaden für Pandektenvorlesungen, Bd. 1 - 3 , 3. Aufl. 1845 bis 1847. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1 u. 2, 4. Aufl. 1875. Dernburg, Lehrbuch des Preußischen Privatrechts, Bd. 1 - 3 , wechselnde Aufl. 1878- 1880; Pandekten, Bd. 1 u. 2, 1. Aufl. 1884-1886.

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dieser Entwicklung. Die dort gewählte Systematik ist derjenigen des BGB-Entwurfs von 1888 sehr ähnlich. Dazu muß erwähnt werden, daß Windscheid zum Kreis der elf hervorragenden Juristen aus Praxis und Theorie gehörte, der 1874 vom Bundesrat den Auftrag erhielt, einen Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich — unter Ausschluß des Handelsrechts und seiner Nebengebiete — auszuarbeiten. Der 88er Entwurf wurde zuweilen auch „der kleine Windscheid" genannt. Nach Andreas Schwarz 8 geht das moderne Pandektensystem zurück auf Heises „Grundriß eines Systems des gemeinen Civilrechts", 1. Aufl. 18079. Dieser Weg war indessen schon von Gustav Hugo i n einer frühen Arbeit von 1789 eingeschlagen, später aber wieder aufgegeben worden. Für uns ist jedoch Savigny der interessanteste Autor. Während Heises „Grundriß" lediglich ein äußeres Gerippe liefert, diskutiert Savigny seine wissenschaftliche Methode und dabei auch die Prinzipien für die Systematisierung des Rechtsstoffes. Sehr wahrscheinlich war es auch Savigny, der die wissenschaftliche Nachwelt stärker als jeder andere zeitgenössische Rechtslehrer geformt hat. Die Vermutung, daß Savigny den nachdrücklichsten Einfluß auf die Systematik des BGB ausgeübt hat, mag paradox erscheinen, denn gerade er hatte den Gedanken einer Kodifikation besonders heftig angegriffen. Nun richteten sich aber seine Argumente eher auf die Tatsache, daß die Zeit für eine solche Gesetzgebung noch nicht reif sei, als darauf, daß eine Kodifikation schlechthin verfehlt erscheine. Von der Aufklärung — der Geburtsstunde der modernen Naturwissenschaften — übernahm Savigny die Vorstellung, daß die Natur bestimmten allgemeinen Gesetzen, wie etwa dem der Schwerkraft, unterliege und daß diese durch Tatsachenbeobachtung und -erforschung zu entdecken wären. Gewiß wurde dem menschlichen Willen — i n Ubereinstimmung mit den Grundeinschätzungen des Liberalismus — die Eigenschaft eines schöpferischen Elements beigemessen 10 , doch hob dies Savignys Überzeugung nicht auf, daß gesellschaftliche Vorgänge und die Gegenstände der Naturwissenschaften i n einer tieferen Einheit verbunden seien. Als Beobachter einer Vielzahl von Erscheinungen näherte sich Savigny der Lösung seiner Aufgabe i n einer Weise, die an 8 Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, Zeitschr. der SavignyStiftung 1921, S. 581 f.; vgl. auch Siegmund Schloßmann, Willenserklärung und Rechtsgeschäft, in Festgabe der Kieler Juristen-Fakultät ihrem hochverehrten Senior Dr. Albert Hänel dargebracht zum 50jährigen Doktorjubiläum am 28. Dezember 1907, 1907, S. 59 ff. 9 Vgl. Coing , Bemerkungen zum überkommenen Zivilrechtssystem, in: Vom deutschen zum europäischen Recht, Festschrift für Hans Dölle, Tübingen 1964. 10 Siehe hierzu besonders Coing , ebd. S. 26 f.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht das Streben des Naturwissenschaftlers nach der Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten erinnert. Sein Forschungsgegenstand waren jedoch nicht Erscheinungen der sinnlich wahrnehmbaren Welt und ihre sozialen Bezüge, sondern die ungeordnete Zitatenmenge aus Gesetzen und all den rechtsgelehrten Schriften, die unter der Bezeichnung Pandekten den zweiten Teil des Corpus juris ausmachten. Hierbei sollte man sich vergegenwärtigen, daß nach der Rezeption des römischen Rechts i n Deutschland die Pandekten den Status von Rechtsquellen hatten und daß das römische Recht insgesamt m i t gewissen Einschränkungen subsidiäres Recht darstellte. Savigny 11 unterstreicht, daß man überall i n Deutschland ein zweischichtiges positives Recht vorfand, nämlich partikulares Recht einerseits und rezeptiertes „gemeines Recht" andererseits. Die formale Auflösung des Heiligen Römischen Reiches i m Jahre 1806 hatte keinen Einfluß auf diesen vorgefundenen Rechtszustand. I n seiner Monographie „Das Recht des Besitzes" 12 stellt sich Savigny die Aufgabe, den Begriff des Besitzes exakt zu definieren. Der Forscher hatte zu diesem Zweck zunächst Stellung und Bedeutung des Rechtsverhältnisses Besitz innerhalb des römischen Privatrechts zu bestimmen. Savignys Ziel war es, hierdurch einen einheitlichen Besitz-Begriff zu ermitteln, der allen Besitzregeln zugrunde zu legen war 1®. I n Band 1 seines Systems des heutigen Römischen Rechts 14 diskutiert Savigny eine vorläufige Einteilung des Rechtsstoffes nach seinem organischen Zusammenhang i n Sachenrecht, Obligationenrecht, Familienrecht und Erbrecht. Sodann w i r d hervorgehoben, daß viele Probleme i n allen Rechtsinstituten wieder auftauchen. Statt ständiger Wiederholungen oder Verweisungen erschien es angebracht, das jeweils Gemeinsame herauszudestillieren und dem System der besonderen Rechtsinstitute voranzustellen. I n der Vorrede zum 8. Band m i t der berühmten Darstellung von der Herrschaft des Rechts i n Raum und Zeit erklärt Savigny, daß die vorliegenden acht Bände eine vollständige Bearbeitung des allgemeinen Teils bilden, worauf weitere Arbeiten zu den Gebieten Sachenrecht, Obligationenrecht, Familienrecht und Erbrecht folgen sollten. Dem Titel der acht erschienenen Bände müßte demnach als Untertitel „Allgemeiner Teil" beigefügt werden, also die Überschrift des ersten Buches des späteren BGB. Savigny konnte seinen groß angelegten Plan nur teilweise v e r w i r k lichen. Das „Obligationenrecht" veröffentlichte er als einen ersten Teil 11

System, Bd. 1, Buch 1, § 2. 12 § l, am Ende. 13 Siehe Erik Wolf, Große Rechtsdenker, 1963, S.485. 14 Bd. 1, Buch 2, § 58.

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des besonderen Privatrechts. Hier stellt sich nach Savigny 15 erneut die Frage, ob es nicht auch innerhalb des Schuldrechts gelte, einen allgemeinen — schuldrechtlichen — Teil auszuarbeiten und den besonderen Regeln voranzustellen. I n seinem Obligationenrecht kam Savigny nur noch zur Behandlung zweier von den vier Kapiteln des allgemeinen Schuldrechts, und zwar Kapitel 1: „Natur der Obligationen" und Kapitel 2: „Entstehung der Obligationen" (Bände 1 und 2). III. I m Vorangegangenen wurde als Erläuterung der Methode des „ A l l gemeinen Teils" angegeben, daß sich die Rechtsgelehrten i n Übereinstimmung mit den Naturwissenschaftlern u m das Auffinden des Gemeinsamen bemühten. Das erste Buch des BGB ist also das Ergebnis von Versuchen, die Rechtsvorschriften so zu strukturieren, daß sich eine Anzahl allgemeiner Regeln aufstellen ließ, die allen Rechtsverhältnissen oder doch wenigstens ihren wichtigsten Kategorien gemeinsam waren. Es gab aber auch andere Erklärungen für diese Methode. Andreas Schwarz verweist auf die Tatsache, daß die pandektenrechtliche Systematik ihre Wurzeln i m Naturrecht hatte. Für denjenigen, der sich naturrechtlicher Methoden bediente, mußte es nach Schwarz „ i n besonderem Maße naheliegen, vor allem die allgemeinen Grundsätze zu entwickeln: denn der Anlehnung an positive Quellen entbehrend, läßt ein rationalistisches Gebäude sich nur aus oberen Prinzipien ableiten" 1 6 . Nun ist der Einfluß naturrechtlicher Ideen gewiß unbestreitbar, doch ist dies noch keine Erklärung für die Besonderheit, warum man i n Deutschland eine Systematik betrieb, die i n ihrer strengen Logik ohne historisches Gegenstück blieb. Wie Schwarz selbst bemerkt, stammt die moderne deutsche Pandektensystematik erst von Hugo und Heise, die — wie auch Savigny — die Historische Schule vertraten, d. h. die Richtung, die das Naturrecht der Aufklärungszeit ablöste. Nach meiner Meinung kommt Fritz von Hippel dem entscheidenden Punkt näher. Wie der Verfasser unterstreicht auch er den bestimmenden Einfluß der Naturwissenschaften. Das Wesentliche der dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts beschreibt von Hippel 17 so, daß das Material unter quasi-naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten geordnet wurde. Wie die Naturwissenschaftler annehmen, daß Dinge bestimmte Eigenschaften haben, so stellen sich die Rechtswissenschaftler vor, daß „das Recht" bestimmten Tatsachen !5 Das Obligationenrecht, Bd. 1, S. 2. Zeitschr. der Savigny-Stiftung 1921, S. 588. Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930, S. 25 f.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht eine rechtliche Qualität verleiht und an diese — soweit die einzelnen Voraussetzungen gegeben sind — bestimmte Rechtsfolgen knüpft. Von Hippel hält diese Vorstellung von der rechtlichen Qualität bestimmter rechtserheblicher Tatsachen m i t daraus sich ergebenden Rechtsfolgen für zentral 1 8 . Meines Erachtens ist diese Charakteristik indessen zu allgemein und t r i f f t noch nicht den Kern der Sache. Privatrechtsbegriffe sind Vermittler von Tatsachen und Rechtsfolgen. Dieser Funktion können sie i n zweierlei Weise dienen. Ist ein solcher Begriff Teil einer gesetzlichen Vorschrift, kann er einen speziellen Sachverhalt umschreiben, der vorliegen muß, u m die Vorschrift anwenden zu können. I n anderen Fällen beschreibt der Begriff eine bestimmte Rechtsfolge, auf die die Vorschrift abzielt. Der überwiegende Teil der Begriffe, die i m „Allgemeinen Teil" des BGB verwendet werden, gehört zur ersten Kategorie, knüpft also an rechtserhebliche Tatsachen an. Dies ist beispielsweise der Fall bei den Begriffen „Rechtsgeschäft", „Willenserklärung" und „Vertrag". Innerhalb des Sachenrechts hingegen dominieren die auf Rechtsfolgen abstellenden Begriffe. So w i r d der Begriff des Rechts an einer Sache (in rem) m i t dem Inhalt bestimmter, charakteristischer Rechtsfolgen konzipiert: es gilt gegenüber jedermann 1 9 . Es genügt, die berühmte Definition des Eigentums in § 903 BGB zu erwähnen: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen."

IV. Wie bereits angeführt, war es ein Hauptprinzip bei Savigny, das Allgemeine vom Besonderen zu trennen. Dieses methodische Prinzip war auch bestimmend bei der Ausarbeitung des Allgemeinen Teils (§§ 1 - 240), der eine Anzahl genereller Regeln vereinigt, die grundsätzlich für alle Gebiete des Privatrechts gelten. Demgegenüber haben die Vorschriften der vier folgenden Bücher des BGB spezielleren Charakter. Innerhalb der Bücher 1, 2 und 3 begegnet man wiederum Unterteilungen, die dem Prinzip folgen, daß das Allgemeine dem Besonderen voranzustellen ist 2 0 . is Fritz von Hippels Auffassung, daß Sachverhalte Rechtswirkungen hervorriefen, wird von Coing als die „Theorie der juristischen Kausalität" beschrieben, siehe Coing in Festschrift für Dölle, 1964, S. 29, Fußn. 9. i» Vgl. Savigny, System, Bd. 1, §58. 20 Vgl. dazu auch Rheinstein, The Approach to German Law, Indiana Law Journal 1959, S. 550 u. 552. Rheinstein beschreibt das Grundmuster des B G B Systems als „den Aufbau des Materials vom Besonderen zum Allgemeineren bis hin zur höchstmöglichen Verallgemeinerung". Es handelt sich um „einen ständig steigenden Abstraktionsgrad".

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Ein anderes Systematisierungsprinzip war für die Abgrenzung von Schuldrecht und Sachenrecht maßgebend. I m Verhältnis zur Trennung vom Allgemeinen und Besonderen ist dieser Einteilungsgrundsatz weniger bedeutsam. I m wesentlichen bestimmt er die Stoffverteilung zwischen dem 2. und dem 3. Buch. Die Anordnung der verschiedenen Vorschriften des BGB geht i n Grundzügen aus Tabelle 1 hervor.

Tabelle 1: Grundzüge der BGB-Systematik

Allgemeiner Teil

„Personen" 1-89

„Sachen" 90 - 1 0 3

„Rechtsgeschäfte" 104 - 1 8 5 „Recht der Schuldverhältnisse" 241 - 853

f

L

-

„Schuldverhältnisse aus „Verträgen" 305 - 361

„Kauf. Tausch" 433 - 515

Allgem. Bestimmungen unterschiedlichen Inhalts 186-240 „Sachenrecht"

„Familienrecht«

„Erbrecht"

854-1296

1297 -1921

1922 - 2385

„Ungerechtfertigte Bereicherung" 812 - 822

„Unerlaubte Handlungen"

„Schenkung"

„Miete. Pacht" 535 - 597

516 - 5 34

823 - 853

Ί etc.

A u f einen gewöhnlichen Kauf einer beweglichen Sache können zahlreiche Regeln des „Allgemeinen Teils", des Schuld- und des Sachenrechts anzuwenden sein. Diese befinden sich auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen und stehen auf der einen oder anderen Seite der Trennungslinie zwischen Schuld- und Sachenrecht. Dazu gibt Tabelle 2 eine Ubersicht.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht Tabelle 2: Kauf einer beweglichen Sache Anwendbare Bestimmungen auf verschiedenen Abstraktionsebenen Abgrenzung: Schuldrecht — Sachenrecht Allgemeiner Teil „Personen" ζ. B. „Rechtsfähigkeit" 1 - 8 9 Rechtsgeschäfte. Geschäftsfähigkeit 104-115 Willenserklärung, ζ. B. Auslegungsgrundsätze 116 - 144

Sachen, ζ. B. Unterschied zwischen vertretbaren und nicht vertretbaren Sachen, 90 -103

Vertrag. Allgemeine Regeln, ζ. B. die bindende Wirkung eines Antrags oder Grundsätze der Vertragsauslegung, 145 -157 Recht der Schuldverhältnisse

Sachenrecht

Inhalt der Schuldverhältnisse, ζ. B. Verpflichtung zur Leistung, 241 - 304

Eigentum, z.B. die Befugnisse des Eigentümers 903 - 924

Schuldverhältnisse aus Verträgen, ζ. B. Wirkungen des Verzuges, 305- 361 Kauf. Tausch, ζ. B. die Verpflichtung, dem Käufer das Eigentum zu verschaffen, 433 - 515

Erwerb und Verlust des Eigentums an beweglichen Sachen, 929 - 984

V. Das Prinzip, das Allgemeine vom Besonderen abzuheben, zeigt sich i n der Anordnung der Vorschriften über das „Rechtsgeschäft", die „Willenserklärung" und den „Vertrag", die i n den §§ 104 ff. eine bestimmte Abfolge von Unterabschnitten bilden. „Rechtsgeschäft" ist der allgemeinste Begriff, demzufolge erscheint er als Sammelüberschrift des Abschnitts, der m i t § 104 beginnt. I m Gegensatz zum Rechtsgeschäft stehen Handlungen, die unabhängig von einem entsprechenden Willen (per se) Rechtsfolgen hervorbringen. Dieses Gegensatzpaar ist offenbar das moderne Gegenstück zu Gaius' These, daß Forderungsrechte von zweierlei A r t sind, w e i l jede Forderung entweder auf Vertrag oder auf Delikt beruhe 21 . „Rechtsgeschäft" ist umfassender als „Vertrag" und bezeichnet auch mehr als „Willenserklärung". Die Notwendigkeit eines solchen Begriffs erklärt Nipperdey 22 damit, daß eine Willenserklärung nicht unter allen Umständen bindend ist, sondern zuweilen weiterer Wirksamkeitselemente bedarf. I n diesen Fällen ist 21 Gaius, Institutiones, 3, 88: „omnis enim obligatio vel ex contractu nascitur vel ex delicto." 22 Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil, 2. Halbband, 15. Aufl. 1960, S. 895.

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die Willenserklärung nur ein Teil des Tatbestandes, der „Rechtsgeschäft" genannt wird. Daher versteht man i m deutschen Recht unter „Rechtsgeschäft" entweder eine Willenserklärung, ζ. B. eine Schuldverschreibung, die für sich allein bindend ist, oder einen zusammengesetzten „Tatbestand", der aus mehreren Willenserklärungen, aber auch aus einer oder mehreren Willenserklärungen und weiteren Elementen bestehen kann 2 3 . Als Beispiel mag die Eigentumsübertragung erwähnt werden. Hierzu bedarf es nicht nur einer Einigung der Parteien, sondern zusätzlich der Verschaffung des Besitzes, wobei die körperliche Übergabe durch die Vereinbarung eines Besitzkonstituts ersetzt werden kann. Der Begriff „Willenserklärung", wie er u. a. i n den Überschriften zu den §§116-144 gebraucht wird, ist nicht, wie man sich vielleicht vorstellen könnte, identisch mit einem der Komponenten eines Vertrages, also ein Oberbegriff für Angebot („Antrag") und Annahme, vergleichbar dem i n Skandinavien gebräuchlichen „Versprechen" (löfte). Daß dies nicht der Fall ist, geht u. a. aus der Tatsache hervor, daß die bindende Wirkung des Angebots erst i m Abschnitt über den Vertrag (§§ 145 -157) geregelt wird. Nach deutscher Auffassung ist das Angebot ein Bestandteil des Vertrages. Zwar besteht der überwiegende Teil aller Willenserklärungen aus Angebots- und Annahmeerklärungen, doch deckt der Begriff Willenserklärung darüber hinaus beispielsweise auch „Widerruf" und — in entsprechender Anwendung — „Mahnung" 2 4 . Vergleicht man die Abschnitte der §§ 104 -115, 116 - 144 und 145 bis 157 miteinander, enthüllt sich ihre logische Abfolge. I n den erstgenannten Abschnitt wurden Bestimmungen über die Geschäftsfähigkeit aufgenommen, weil sie auf alle Rechtsgeschäfte anwendbar sind 2 *, und i n den letztgenannten nur solche Vorschriften, die für den Vertrag oder das Angebot gelten. Die mittlere Gruppe (§§ 116 -144) unter der Überschrift „Willenserklärung" steht auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe als die erste, beansprucht jedoch Vorrang vor den Regeln über Vertrag und Angebot, die am Schluß stehen. Dies folgt daraus, daß der Vertrag (das Angebot) m i t engerem Anwendungsbereich auf einer tieferen Abstraktionsebene als die Willenserklärung geregelt wurde. 23 Siehe auch Titze, Artikel „Rechtsgeschäft" im Rechtsvergleichenden Handwörterbuch, Bd. V, 1936, S. 790 f. 24 Die „Mahnung" ist z.B. bedeutsam für das Eintreten der Verzugswirkungen; siehe u. a. § 284 BGB. (Die Mahnung ist nach heute immer noch herrschender Meinung keine Willenserklärung; dies bleibt jedoch folgenlos, weil die Vorschriften über die Willenserklärung auf die Mahnung entsprechend anzuwenden sind.) 25 Es handelt sich jedoch nicht um alle Regeln für das Rechtsgeschäft im allgemeinen; auch nach dem Abschnitt über den Vertrag erscheinen Vorschriften, die für „Rechtsgeschäfte" von Bedeutung sind.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen R e t VI. I n den beiden Tabellen erscheint das Prinzip, das Allgemeine vom Besonderen zu trennen, i n Gestalt einer Anzahl horizontaler Linien auf verschiedenen Ebenen. Das andere Systematisierungsprinzip, das die Abgrenzung von Schuld- und Sachenrecht betrifft, kann i m Vergleich dazu als eine vertikale Linie betrachtet werden. Der Gedanke, Schuldund Sachenrecht voneinander abzuheben und gesondert zu behandeln, hat seinen Ursprung i m Römischen Recht und ist insoweit allen westeuropäischen Rechtsordnungen gemeinsam. Die vertikale Linie ist, wie sogleidi zu zeigen sein wird, eine charakteristische Eigenart des deutschen Rechts. Auch hierbei kam es zu einer Abstraktion, die sich aber von derjenigen, welche die horizontalen Systemlinien bestimmt, unterscheidet. Das erste Prinzip resultierte aus den Bemühungen, für immer weitere Regelungsbereiche und tendenziell für das ganze Rechtssystem gemeinsame Grundsätze aufzustellen. Jemand begann damit, Kauf und andere Vertragstypen vergleichend zu studieren und stellte sich die Frage, was allen Verträgen gemeinsam war. Später dehnte er das Untersuchungsfeld aus, u m festzustellen, ob nicht einige der Beobachtungen auch für Willenserklärungen i m allgemeinen gültig waren. Wenn auf diese Weise jeder Vorschrift entsprechend ihrem Abstraktionsniveau ein Platz i m Gesetz zugewiesen wurde, so bedeutete dies doch nicht, daß die an vorderer Stelle erscheinende, also allgemeinere Regel ein materielles Ubergewicht gegenüber den nachfolgenden Vorschriften besaß. Vielmehr beruht die Reihenfolge i n erster Linie auf formalen Gesichtspunkten. Die Absicht der BGB-Verfasser ging dahin, daß die Vorschriften inhaltlich einander ergänzen sollten. So kann eine Bestimmung auf niedrigerer Abstraktionsstufe die A u f gabe haben, Lücken zu schließen, die eine allgemeinere, „höhere" Vorschrift offen gelassen hat. Eine nachgestellte Regel kann aber auch die Ausnahme einer voraufgehenden enthalten und geht dieser dann vor. Das Sachenrecht des BGB weist eine Eigenheit auf, die das deutsche Privatrecht von anderen Rechtsordnungen unterscheidet, nicht nur vom anglo-amerikanischen Rechtskreis, sondern auch vom römischen oder vom skandinavischen System 26 . Das 3. Buch des BGB enthält nicht, wie man nach anglo-amerikanischer Auffassung meinen könnte, das Recht des Eigentums an beweglichen und unbeweglichen Sachen i m allgemeinen. Ebensowenig w i r d das Sachenrecht, wie etwa i n Skandinavien, als eine Sammlung von Vorschriften begriffen, welche die besonderen Wirkungen von Kauf-, Tausch- oder ähnlichen Verträgen gegenüber Dritten, vor allem gegenüber Gläubigern des Vertragspart2β Vgl. E. J. Cohn, Manual of German Law, Bd. 1, London 1950, S. 112 f. 7 Schmidt

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Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht

ners, betreffen. I m deutschen Recht vollzieht sich der Eigentumsübergang oder etwa die Begründung eines Pfandrechts nicht als Teil eines Kauf- oder anderen schuldrechtlichen Vertrages, sondern als ein unabhängiger, gewissermaßen rechtlich freischwebender Vorgang. I n den Motiven zum B G B 2 7 w i r d „das dingliche Rechtsgeschäft" als „ein von dem Verpflichtungsgrunde losgelöstes, selbständiges Geschäft" beschrieben. M i t anderen Worten bedeutet Abstraktion i n diesem Falle, daß das dingliche Rechtsgeschäft (d. h. bei der Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache die Einigung über den Eigentumsübergang und die Übergabe der Sache28) bestimmte Rechtsfolgen hat, die unabhängig von Zustandekommen und Inhalt des schuldrechtlichen Vertrages (also etwa des Kaufvertrages) eintreten. Die Verselbständigung des Rechtsgeschäfts „Eigentumsübertragung" ist der technische Kunstgriff, u m den Eigentümer gegenüber Dritten zu schützen. Was Juristen i n anderen Ländern als einen einheitlichen Vertrag betrachten, teilen die Deutschen auf i n zwei, nämlich — beim Kauf — i n den schuldrechtlich geregelten Kaufvertrag und die dem Sachenrecht zugehörende Eigentumsübertragung. Der schuldrechtliche Teil mag untergehen, so hat doch der sachenrechtliche Bestand. Demzufolge kann es zu einer wirksamen Eigentumsübertragung kommen, ohne daß dem ein gültiger Kaufvertrag zugrundeliegt, und dies selbst dann, wenn Rechte Dritter nicht berührt werden. Der Verkäufer, der die Sache geliefert hat, ist an den Eigentumsübergang gebunden und w i r d bei Fehlerhaftigkeit des Kaufvertrages auf andere Heilmittel als die gewöhnlichen Rückabwicklungsansprüche verwiesen, ζ. B. auf die Vorschriften über die „ungerechtfertigte Bereicherung" 29 . Wenn die deutschen Juristen von der Eigentumsübertragung als einem abstrakten Rechtsgeschäft sprechen, so bedeutet „abstrakt" i n diesem Zusammenhang, daß man von den schuldrechtlichen Beziehungen zwischen den Parteien (dem Kaufvertrag) absehen muß, wenn die Wirkungen des dinglichen Rechtsgeschäfts (der Übertragung des Eigentums) beurteilt werden. VII. Nach diesem Überblick über die historischen Wurzeln der abstrakten Systematisierungsmethode und deren Niederschlag i m BGB stellt sich die Aufgabe einer kritischen Einschätzung, vor allem i m Wege des Vergleichs m i t anderen Rechtssystemen. 27 28 2» Zur

Entwurf 1888, Bd. I, S. 127. § 929 BGB. Siehe E. J. Cohn, Manual of German Law, Bd. 1, S. 119 f., und ders., Lehre vom Wesen der abstrakten Geschäfte, AcP 1932, S. 67 ff.

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Die Zweckmäßigkeit des Abstraktionsprinzips wurde bereits i n der Entstehungszeit des BGB lebhaft diskutiert. Otto Gierke 30 richtete heftige Angriffe gegen den ersten offiziellen Entwurf von 1888 als ein Werk gelehrter Männer ausschließlich für gelehrte Männer. Es sei ungeeignet für das deutsche Volk und erreiche weder seine Ohren noch i m entferntesten seine Herzen. Das Gesetzbuch opfere das reiche deutsche Erbe an Rechtsideen und organischen Institutionen zugunsten leerer Abstraktionen und eines starren Formalismus. I m Grunde genommen hätten sich die Verfasser des Entwurfs damit begnügt, den „usus modernus pandectarum" i n Gesetzesform zu gießen, wobei das „bekannte Pandektensystem" m i t einem einleitenden „Allgemeinen Teil", gefolgt von vier weiteren Büchern, Pate gestanden habe. Gleichermaßen hätte man bei der Verteilung des Stoffes auf die einzelnen Bücher an „die gebräuchlichen Pandektenkompendien" angeknüpft. Z u allen Zeiten gaben sich die großen Gesetzgeber der Vorstellung hin, den gewöhnlichen, einfachen Bürger ansprechen zu können — den Bauern, den Handwerker oder den Kaufmann. Gewiß bemühten sich auch die Verfasser des BGB u m eine einfache und leichtfaßliche Sprache. Der Umgang m i t abstrakten, klar voneinander abgegrenzten Fachbegriffen setzt jedoch die Kenntnis des gesamten Systems voraus, dessen Bestandteil sie sind; die Begriffswelt ist daher für den Laien unverständlich. Insoweit war Gierkes K r i t i k sicher gerechtfertigt. Trotz der vergleichsweise einfachen Gesetzessprache bleibt der Einblick i n die Konzeption und die Gedankenwelt des BGB allein dem juristischen Fachmann vorbehalten. Spezielle Rechtsbegriffe sind indessen keine Besonderheit allein des deutschen Rechts, sondern wohl unerläßlicher Bestandteil des Rechtssystems jeder fortgeschrittenen Gesellschaft m i t hoch entwickelter Arbeitsteilung. Bei der Beurteilung eines Gesetzeswerks sollte eher die rationale Qualität der Begriffe der entscheidende Gesichtspunkt sein. Verglichen mit dem englischen Recht erscheint dem ausländischen Beobachter das deutsche Recht i n einem günstigeren Licht. Hier ist man bestrebt, mit rationalen Methoden zu arbeiten. Das deutsche Recht hat sich nicht so stark i n überkommene Traditionen eingebunden wie das englische. Für die Anwendung eines bestimmten Rechtsbegriffs sollte es eigentlich bedeutungslos sein, wieviel altehrwürdige Patina er angesetzt hat. Otto Gierkes K r i t i k muß jedoch auch als nationale Reaktion auf das betrachtet werden, was er als die unerwünschte Überfremdung der deutsch-rechtlichen Traditionen bezeichnete. Gierke lebte i n einer 30 Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, 1889, S. 3, 80.

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Epoche starker nationaler Gefühle, und viele von Gierkes schwedischen Zeitgenossen teilten gewiß seine Grundauffassung, daß man vor allem die germanischen Rechtselemente wieder stärker hätte beleben müssen. Der Verfasser dieses Aufsatzes schätzt diese Frage anders ein. Für ihn erscheint es eher als ein Verdienst des BGB, einen lebendigen Kontakt zum römischen Recht aufrechtzuerhalten, das seinerseits ein gemeinsames europäisches Kulturerbe darstellt. VIII. Der Gebrauch von Abstraktionen und einer strengen Systematik zielt natürlich i n erster Linie darauf ab, einen umfassenden Rechtsstoff zu ordnen und überschaubar zu machen. Unter dem Gesichtspunkt der Zeitersparnis ist es für den Leser bedeutsam, ob sich der Gesetzgeber knapp und präzise auszudrücken vermochte. I n dieser Hinsicht muß man den Verfassern des BGB zweifellos höchstes Lob zollen. Das Gesetz hat insgesamt 2 385 Paragraphen. I n Anbetracht des umfangreichen Rechtsmaterials, das detailliert geregelt wurde, ist diese Zahl gewiß nicht groß. Die Beurteilung kann aber auch von der Frage ausgehen, ob das gewählte System zur Entlastung des Gedächtnisses beiträgt. Rheinstein 31 stellt dazu fest, daß das deutsche Abstraktionsprinzip zu einer bedeutenden gedanklichen Ökonomie („a great economy of thought") führt. Der Jurist braucht nicht verschiedene Regeln über die Wirkung von Willensmängeln bei Kauf, Miete, Versicherungsvertrag, Leihe, Abtretung oder Pfand i m einzelnen zu lernen und i n seinem Gedächtnis zu speichern. Es genügt vielmehr, die Vorschriften über die Willensmängel i m allgemeinen zu studieren und sich dabei zu merken, daß sie für alle Rechtsgeschäfte gelten, m i t Ausnahme einiger besonderer Fälle, wie Eheschließung, Testamentserrichtung oder Zeichnung einer Aktie. Andererseits, so hebt Rheinstein weiterhin hervor, erfordert die BGB-Systematik zu ihrer Anwendung eine gründliche und zeitraubende Ausbildung. Berücksichtigt man die i n die juristische Ausbildung investierte Zeit als einen Kostenfaktor, so ist es kaum zu entscheiden, ob sich noch eine positive Bilanz zugunsten des deutschen Systems ergibt. Uberhaupt fällt es schwer, einen allgemeinen Beurteilungsmaßstab für die Zeit- und Gedankenarbeit sparenden Qualitäten einer Rechtsordnung aufzustellen. Möglicherweise könnte man die Dauer der Juristenausbildung i n verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Dies würde aber nicht sehr aussagekräftig sein, wenn man nicht auch den vielschichtigen gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung trägt und zugleich die „fertigen Produkte" einander gegenüberstellt. ei Indiana Law Journal 1959, S. 552.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht Ausschlaggebend scheint m i r jedoch die allgemeine Beschaffenheit eines Rechtssystems zu sein, ob es nämlich seinem Benutzer die Beherrschung des Gesamtmaterials soweit ermöglicht, daß er i m Zusammenhang ein großes Gebiet überblicken kann. Es ist noch heikler, hierfür einen Maßstab zu finden. Als Ausgangspunkt könnte man sich den Ausbildungs- und Qualifikationsstand der deutschen Juristen vorstellen. Mein Eindruck, vor allem nach Lektüre von rechtswissenschaftlichen Schriften und von Entscheidungen, ist auch hier, daß eine Bewertung günstige Resultate ergäbe, doch kann dies ebensogut auf anderen Faktoren beruhen, wie etwa einem zahlreichen und gut ausgebildeten Nachwuchs, festen und anerkannten Lehrtraditionen usw. Nun ergeben aber solch vage Annahmen nicht viel mehr als unverbindliche Mutmaßungen. Eine kritische Beurteilung muß sich demgegenüber an spezifischen, konkreten Punkten orientieren. IX. Der außenstehende Beobachter fragt sich zunächst, ob all die horizontalen und vertikalen Trennungslinien, die Abgrenzung unterschiedlicher Abstraktionsebenen i m BGB w i r k l i c h notwendig und zweckmäßig sind. Kann ein Gesetzgeber nicht m i t einer geringeren Anzahl von Begriffen auskommen, um den Stoff zu ordnen und Grundregeln aufzustellen? Ist es beispielsweise erforderlich, zwischen „Rechtsgeschäft", „Willenserklärung" und „Vertrag" m i t dem „Antrag" als gesondertem Teil des Vertrages zu unterscheiden? Daß an und für sich eine weniger farbige Begriffspalette ausreichte, zeigt ein Vergleich m i t dem anglo-amerikanischen Recht. Dort begnügt man sich — i n diesem Zusammenhang — i m wesentlichen m i t zwei Begriffen: Vertrag (contract) und Versprechen (promise). I m skandinavischen Recht besteht die Tendenz, sich auf die Verwendung des Begriffs „Willenserklärung" als des zentralen wissenschaftlichen Werkzeugs zu beschränken, obgleich das schwedische Vertragsgesetz von 1915 sich desselben begrifflichen Instrumentariums zu bedienen scheint wie das B G B 3 2 . M. E. würde die anglo-amerikanische Terminologie ebensogut i n die skandinavische Rechtsordnung passen; die Gesetzgeber der Vertragsgesetze hätten auch m i t den beiden einfachen, zentralen Begriffen „Vertrag" und „Versprechen" die Hauptregeln aufstellen können. Dazu wären allerdings einige Änderungen und Zusätze notwendig gewesen, ζ. B. der Hinweis i m schwedischen Gesetz, daß die Unwirksamkeitsvorschriften des 3. Kapitels auch für andere Bereiche wie Kündigung, Widerruf oder Anzeige gelten. 32 Die entsprechenden Gesetze in Dänemark und Norwegen, die mit dem schwedischen Vertragsgesetz in den Grundzügen übereinstimmen, geben dem Begriff Willenserklärung („viljeserklaering") einen abweichenden Inhalt.

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Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht X.

I m folgenden soll einmal davon ausgegangen werden, daß ein Begriffsapparat wie der deutsche geeignet und nützlich ist. Daraus folgt indessen noch nicht notwendig, daß man bei der Zusammenstellung der Vorschriften an die Reihenfolge: Rechtsgeschäft — Willenserklärung — Vertrag gebunden ist. Auch i m schwedischen Vertragsrecht erscheinen diese drei Regelungsbereiche unter entsprechenden Begriffen. Ebenso gibt es verschiedene Bestimmungen über Angebot und Annahme eines Vertrages. Das Gesetz ist i n drei Hauptabschnitte unterteilt: 1. Vertragsschluß, 2. Stellvertretung, Vollmacht und 3. U n w i r k samkeit bestimmter „Rechtshandlungen". Der Leitgedanke dieses A u f baus besteht darin, erst den Normalverlauf eines Vertragsschlusses unter Abwesenden bzw. durch Stellvertreter zu regeln, bevor auf mögliche Fehlerquellen i n Gestalt etwa des Zwangs, der Täuschung oder des Irrtums usw. eingegangen wird. Der deutsche Gesetzgeber richtet sich demgegenüber danach, welche dieser Vorschriften den größten Anwendungsbereich haben, d. h. welche Vorschriften für Rechtsgeschäfte i m allgemeinen gelten. Das BGB wählt daher folgenden A u f bau: 1. Fehlerhaftigkeit von Willenserklärungen (§§116 ff.), 2. Vertragsschluß (§§ 145 ff.) und 3. Stellvertretung (§§ 164 ff.). Es zeigt sich, daß die Wahl dieses Ordnungsprinzips (das Allgemeine vor das Besondere zu stellen) nur eine von mehreren Möglichkeiten ist. Welchen A u f bau — den „schwedischen" oder den „deutschen" — man vorzieht, hängt von dem Wert ab, den man der Auffassung des schwedischen Gesetzgebers beimißt, daß zuerst der Normalfall und dann erst der seltenere Ausnahmefall geregelt werden sollte. XI. Einem Ausländer erscheint das deutsche System künstlicher als notwendig. Dies gilt vor allem der scharfen Trennung von Schuld- und Sachenrecht, die ζ. B. einen gewöhnlichen Kauf i n zwei parallele Rechtsgeschäfte verwandelt 3 3 . Wie oben unter V I . angedeutet, ist dies ein technischer Kunstgriff, u m bestimmte standardisierte Rechtswirkungen an den Eigentumsübergang knüpfen zu können. Diese Regelung enthält eine Abstraktion i n dem Sinne, daß vom Bestand der schuldrechtlichen Vertragsbeziehungen zwischen Käufer und Verkäufer grundsätzlich abgesehen wird. Dem Käufer werden damit i n seiner Eigenschaft als Eigentümer i m wirtschaftlichen Verkehrsinteresse und bis zu einem gewissen Grade auch zum Schutz seiner Gläubiger bestimmte Vorrechte eingeräumt. Wie aber aus einem Vergleich m i t anderen Rechtsordnungen — etwa der skandinavischen — hervorgeht, 33 Vgl. Enneccerus / Wolff

/ Raiser, Sachenrecht, 10. Aufl., 1957, S. 237 f.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht lassen sich gutgläubige Dritte (Erwerber oder Gläubiger) mindestens ebenso wirksam wie nach deutschem Recht schützen, ohne die Eigentumsübertragung als abstraktes Rechtsgeschäft auszugestalten. Auch i n Deutschland selbst ist diese Konstruktion lebhaft umstritten. Ludwig Raiser meint dazu, daß der Gesetzgeber eine natürliche Einheit i n zwei Teile zerrissen und damit eine Reihe überflüssiger „Zuwendungsgeschäfte" notwendig gemacht habe, die sich nachträglich zur Rückabwicklung des mißlungenen Grundgeschäfts auf Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung stützen müßten* 4 . Der Verfasser enthält sich einer Meinungsäußerung darüber, ob die deutsche Abstraktionsmethode der Technik i m schwedischen Sachenrecht überlegen ist. Dies würde nämlich eine detaillierte Durchsicht aller sachenrechtlichen Vorschriften voraussetzen. Meine Grundeinstellung zur Konstruktion abstrakter Rechtsgeschäfte überhaupt ist indessen durchaus kritisch. Unsere Erfahrungen m i t der Anwendung von Wertpapier-Grundsätzen auf das Konossement, die w i r gleichermaßen vom deutschen Recht entliehen haben, deuten kaum auf damit gewonnene nennenswerte Vorteile hin 3 6 . XII. Es gibt weitere Aspekte, u m die deutsche Methode, das Gesetz nach einer strengen Systematik m i t Hilfe abstrakt-logischer Normbegriffe aufzubauen, kritisch zu beleuchten. Entscheidende Bedeutung sollte der Frage zukommen, ob dem Gesetzgeber i n jedem Regelungsbereich die Erfassung all derjenigen Vorschriften gelang, die systematisch i n den jeweiligen Zusammenhang gehören. Nach diesem Maßstab sollte man ein streng logisches System vorfinden, innerhalb dessen die Vorschriften eines Abschnittes zu einem bestimmten Gebiet alle Sachverhalte erfassen, die dem entsprechenden Gebiet zuzuordnen sind. Unter solchen Voraussetzungen dürfte man auf niedrigeren Abstraktionsebenen nur Bestimmungen antreffen, die ausschließlich solche Sachfragen regeln, die nicht bereits i n den Regelungsbereich der höheren Abstraktionsstufe gehören. Haben nun die Verfasser des BGB dieses Ziel erreicht und alle Vorschriften an die richtige Stelle gesetzt? Es wäre verfehlt, dem BGB einen derart idealen Charakter zuzuschreiben. Oft enthält eine Regel auf niedrigerer Abstraktionsebene weitreichende Ausnahmen von Grundsätzen, die auf höherer Ebene erscheinen. Ein Vergleich der allgemeinen Auslegungsprinzipien i n den 34 Ebd., S. 4; vgl. auch Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil, 2. Halbband, S. 916 f., und E. J. Cohn, Manuel of German Law, Bd. 1, S. 120. 35 Vgl. dazu Wilkens, Grundzüge des schwedischen Frachtrechts, 2. Aufl. 1962, S. 112 ff.

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§§ 133 und 157 mag diese Tatsache illustrieren. § 133 steht i m Abschnitt über Willenserklärungen und sieht vor, daß „bei der Auslegung einer Willenserklärung . . . der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften (ist)". § 157 erscheint auf einer tieferen Abstraktionsstufe i m Abschnitt über Verträge und bestimmt: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben m i t Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern." Während die erstgenannte Vorschrift einen subjektiven Auslegungsmaßstab anlegt, stellt die letztere objektive Auslegungskriterien auf. Beide Prinzipien sind nicht stets miteinander zu vereinbaren, und oft hängt das Ergebnis einer Fallentscheidung davon ab, welcher der beiden Grundsätze anzuwenden ist. Das BGB bedient sich einer klaren und präzisen Sprache. Daher könnte man erwarten, daß § 133 ausschließlich auf solche Willenserklärungen anwendbar ist, die nicht Bestandteil eines Vertrages sind. Eine derartige Abgrenzung, die i m übrigen keine große praktische Bedeutung hätte, scheint indessen nicht zu existieren; vielmehr w i r d § 157 derselbe Anwendungsbereich zugewiesen3®. Demzufolge haben die Gerichte freie Hand bei der Wahl zwischen zwei sich teilweise widersprechenden Grundsätzen. Ohne Anleitung durch den Gesetzgeber muß sich der Richter dafür entscheiden, welches der beiden Prinzipien i m Einzelfall „das richtige" ist. Ein anderes Beispiel liefert die oben diskutierte Aufspaltung von schuld- und sachenrechtlichen Rechtsgeschäften. Mithilfe des dinglichen Rechtsgeschäfts w i r d das Eigentum übertragen, während sich die Rechtslage i m übrigen nach den schuldrechtlichen Beziehungen, dem Kaufvertrag, richtet. Erweist sich der Kauf als fehlerhaft bzw. u n w i r k sam, w i r d seine Rückabwicklung nach bestimmten schuldrechtlichen Vorschriften geregelt. Gegen die — unabhängigen — Wirkungen des dinglichen Geschäfts besitzt die benachteiligte Partei andere Heilmittel, u.a. die Forderung nach Herausgabe der ungerechtfertigten Bereicherung. Jan Hellner vergleicht i n seiner Schrift „ O m obehörig v i n s t " 8 7 i m einzelnen die sachenrechtlichen m i t den schuldrechtlichen Rückabwicklungsmöglichkeiten nach deutschem Recht. Er kommt zu dem Schluß, daß der tatsächliche Unterschied i m Hinblick auf das Innenverhältnis der Parteien gering ist. Insoweit werden die abstrakt sachenrechtlich bedingten Rechtsfolgen fast vollständig durch eine Reihe von Ausnahmebestimmungen wieder beseitigt. I m deutschen Zivilrecht gibt es darüber hinaus Vorschriften, die es dem Gericht i n weitem Umfang ermöglichen, durch freien Ermessens36 Siehe Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. I, 11. Aufl. 1957, zu § 133. 37 „Uber ungerechtfertigte Bereicherung", 1950, S. 47 ff.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht gebrauch strengen Gesetzesbefehlen zu entgehen. Besondere Bedeutung kommt § 242 zu, der das „Allgemeine Schuldrecht" einleitet. Dort heißt es, daß der Schuldner die Leistung so zu erbringen hat, „ w i e Treu und Glauben m i t Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern". Andere Beispiele sind die Vorschriften über das Schikaneverbot i n § 226 oder die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung i n § 826. Man hat gesagt, daß deutsche Gerichte mehr und mehr zu solch allgemeinen Ausnahmeregeln und Ermessensnormen griffen mit der Folge, daß sich Gesetzesaufweichung und Rechtsunsicherheit breitmachten 38 . XIII. Schon ein kurzer rechtsvergleichender Blick zeigt, daß es zahlreiche Methoden zur Ordnung des Gesetzesmaterials gibt. I n Schweden etwa t r i f f t man ein aus dem Mittelalter überkommenes funktionales System an. Das Allgemeine Landrecht aus dem 14. Jahrhundert regelte i n seinen fünf ersten Teilen die königliche Macht, das Recht der Familie, der Erbfolge, des Grund und Bodens, der Dorfgemeinschaft, des Handels und der Wirtschaft usw., wobei jeder zusammengehörende Bereich ein abgeschlossenes Buch (balk) bildete. Hätte das Landrecht — wie ursprünglich beabsichtigt — auch noch ein Buch über das Kirchenrecht enthalten, so wäre diese Gesetzessammlung ein vollständiger Spiegel der sozialen Struktur der mittelalterlichen Bauerngesellschaft gewesen. Das Allgemeine Gesetz von 1734 hatte zwar einen begrenzten Anwendungsbereich, baute aber auf denselben Strukturprinzipien auf; einige seiner Bücher (balkar) übernahmen Uberschrift und inhaltliche A b grenzung von den entsprechenden Abschnitten des mittelalterlichen Landrechts. Die Tradition funktionaler Einteilung w i r d noch heute fortgesetzt. So wurden ζ. B. 1949 eine Reihe neuer Vorschriften über das Eltern-Kind-Verhältnis, eheliche und uneheliche Kinder sowie über Vormundschaft funktional zu einem „Elternrechtsbuch" zusammengefaßt. Auch die — insoweit von Überlieferungen ungestörten — Amerikaner bevorzugen eine funktionale Methode. Das „Gesetzbuch der Vereinigten Staaten" (United States Code), das die Bundesgesetzgebung enthält, gliedert sich i n zumeist funktional abgegrenzte Abschnitte, wie ζ. B. „Banken und Bankgeschäfte", „Wirtschaft und Handel", „ A r b e i t " oder „Schiffahrt". I n der Absicht, sachlich einheitliche Gesetze zu schaffen, wählte man naheliegenderweise funktionelle Bezüge als Einteilungskriterien. Das wichtigste Teilstück der gemeinsamen Gesetzgebung, das Handelsgesetzbuch (Commercial Code), ist solch eine typische, funktionale Einheit. «β Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 66 ff.; siehe ferner Staudingers Kommentar zum BGB, Bd. I I , 11. Aufl. 1961, Anm. A 2) zu §242.

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Für die Verteilung des Gesetzgebungsmaterials auf die einzelnen Bücher des BGB waren unterschiedliche Ordnungskriterien maßgebend. Die beiden letzten Bücher, Familienrecht und Erbrecht, bilden funktionale Einheiten. Die drei ersten Bücher haben jedoch einen anderen Charakter. Es wurde bereits erwähnt, daß als wichtigste Einteilungsprinzipien einerseits die Abhebung des Allgemeinen vom Besonderen und andererseits die Trennung von Schuld- und Sachenrecht dienten. Doch haben i n zweiter Linie auch funktionale Gesichtspunkte eine Rolle gespielt. So finden w i r am Ende des „Schuldrechts" einen umfangreichen Abschnitt, der sich mit unterschiedlichen Vertragstypen i m einzelnen beschäftigt, ζ. B. mit Kauf und Tausch, Schenkung, Miete und Pacht, Darlehen usw. Ebenso sind i m „Sachenrecht" bis zu einem gewissen Grad funktionale Aspekte berücksichtigt worden. Daß Gerechtigkeit geübt wird, ist kein Selbstzweck. Recht-Sprechung steht i m Dienste menschlicher Ziele; sie soll etwa dazu beitragen, Frieden zu sichern, einander widerstreitende Interessen abzugleichen, wirtschaftliche Betätigung zu regeln und zu fördern, oder auch soziale Errungenschaften zu schützen. Das Ziel unserer Bestrebungen wechselt von Gebiet zu Gebiet, sogar innerhalb derselben Zeitspanne, und die Verwirklichung des einen Zwecks ist oft unvereinbar m i t der V e r w i r k lichung des anderen. I n jedem Konfliktfall muß der Gesetzgeber einem der beteiligten Interessen den Vorrang geben oder aber einen Kompromiß finden. I n weiten Teilen des Privatrechts dominieren zwei grundsätzliche Zielvorstellungen: daß nämlich der Vertrag zu einem wirksamen M i t t e l ausgeformt wird, u m den Willen der Parteien so genau wie möglich zu verwirklichen, und daß man andererseits i n gutem Glauben darauf vertrauen kann, daß die eingetretenen Folgen rechtmäßig zustande gekommener Rechtsgeschäfte Bestand haben. I m deutschen Recht ist der Konflikt zwischen diesen beiden teilweise entgegengesetzten Grundsätzen i n der Weise gelöst, daß der überwiegende Teil der Vorschriften in den Büchern 1 und 2 des BGB auf dem Prinzip aufbauen, daß der Erklärende nicht gegen seinen wirklichen Willen gebunden werden soll, während i m 3. Buch eine begrenzte Anzahl von Rechtsgeschäften, u. a. die Einigung über den Eigentumsübergang, i n dem Sinne abstrakt ausgestaltet wird, daß deren Rechtsfolgen von jedem Zusammenhang m i t dem vertraglichen Grundverhältnis zwischen den Parteien befreit sind. Zu den Vor- und Nachteilen dieser Lösung soll nicht mehr als das bereits oben i n X I I . Erwähnte gesagt werden. M i t den hier gemachten Bemerkungen wollte ich nur darauf hinweisen, daß die Unterteilung in Schuld- und Sachenrecht auch einen funktionalen Aspekt hat. Zur Beschreibung des Gesamtbildes BGB gehört auch die Feststellung, daß seine Verfasser dem Bedarf einer modernen Gesellschaft an

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht sozial betonteren Regelungen nicht Rechnung getragen haben: die w i r t schaftliche und soziale Ungleichheit der Parteien w i r d nirgends berücksichtigt. Bezeichnend ist auch, daß eine neue rechtstatsächliche Erscheinung i n Gestalt des gerade aufgekommenen Abzahlungskaufs nicht i m BGB, sondern i n einem besonderen Gesetz (Gesetz betr. die Abzahlungsgeschäfte vom 16. 5.1894) geregelt wurde, obwohl zu dieser Zeit die Vorarbeiten zum BGB i n vollem Gang waren. Ebensowenig wurden die Vorschriften des Reichshaftpflichtgesetzes von 1871 i n das BGB eingearbeitet; dieses Gesetz begründete eine strenge Unternehmerhaftung für Schäden bei Eisenbahnunglücken. Otto Gierkes temperamentvolle K r i t i k am ersten Entwurf von 1888 richtete sich u. a. gegen das Unvermögen der Kommission, soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Gierke fragt voller Ironie, ob nicht doch irgendeine soziale Tendenz i n diesem Entwurf schlummere? Und seine A n t w o r t lautet, daß es sich solchenfalls u m die individualistischen und kapitalistischen Inhalte der reinsten Manchester-Lehre handelte 39 . Gierke ironisierte auch den Stolz der Kommission über ihr „Verdienst", das Schadenersatzrecht ausschließlich auf dem Prinzip der Verschuldenshaftung aufgebaut zu haben 40 . Seiner Ansicht nach war es ein verhängnisvoller I r r t u m anzunehmen, daß man die sozialen Aufgaben vollständig der Spezialgesetzgebung überlassen könne, u m das allgemeine Privatrecht nach rein individualistischen Grundsätzen zu gestalten, nachdem man es durch schlichte Nichtbeachtung sozialer Erfordernisse von eben diesen „befreit" habe 41 . Es ist nicht meine Absicht, mich mit dem sozialen Ideal des BGB auseinanderzusetzen. Gierkes K r i t i k wurde bei den weiteren Vorarbeiten zum BGB immerhin teilweise aufgenommen. I n diesem Zusammenhang sollte jedoch ein Gesichtspunkt hervorgehoben werden. I m Verlaufe des 19. Jahrhunderts hat auch i m deutschen Recht der funktionale Aspekt immer mehr an Bedeutung gewonnen. Neue Rechtsgebiete wie Versicherungs-, See-, Arbeits-, Urheber- oder Unternehmensrecht entwickelten sich zu selbständigen Einheiten und zogen das Interesse von Spezialisten auf sich. Zum Teil handelt es sich dabei um Komplexe, die i m Handelsgesetzbuch, das gleichzeitig m i t dem BGB am 1. Januar 1900 i n K r a f t trat, geregelt sind. Andere Gebiete wie das Arbeitsrecht sind i m wesentlichen Neuschöpfungen 42 . Es ist heutzutage 39 Otto Gierke , Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, 1889, S. 3. 40 Ebd. S. 259. 41 Otto Gierke , Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, S. 16; Neuausgabe 1948, S. 12 f. 42 Die knappen BGB-Bestimmungen über den Dienstvertrag, §§ 611 - 630, sind heute weitestgehend bedeutungslos.

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Mode zu sagen, daß das Privatrecht zugunsten des öffentlichen Rechts immer mehr an Boden verliere. Über die Richtigkeit dieser Annahme kann man geteilter Ansicht sein; m. E. ist bei solchen Pauschaleinschätzungen Vorsicht geboten. Man steht aber auf festerem Grund bei der Feststellung, daß der vom BGB erfaßte Regelungsbereich heute nicht mehr die vorherrschende Bedeutung hat wie zur Zeit der Jahrhundertwende. XIV. Die Jahrzehnte unmittelbar vor und nach Inkrafttreten des BGB nennt man gewöhnlich die Periode der Begriffsjurisprudenz. M i r scheinen gewisse Einflüsse aus jener Zeit noch heute i n Deutschland wirksam zu sein. I n diesem Abschnitt w i r d der Frage nachgegangen, ob die abstrakte Systematik des BGB einen Beitrag bzw. eine Erklärung dafür abgibt, daß sich begriffsjuristische Elemente i n Rechtswissenschaft und Rechtspraxis erhalten haben. Es sollte betont werden, daß w i r nun zu einem neuen Gegenstand übergehen. Die folgenden Bemerkungen gelten nicht mehr der gesetzgeberischen Technik als solcher, sondern vielmehr der Frage, inwieweit eine bestimmte Gesetzessystematik die Arbeitsmethoden des Rechtswissenschaftlers oder des Richters beeinflussen kann. Laband beschreibt die begriffsjuristische Methode i m Vorwort zur 2. Auflage seines „Staatsrechts des deutschen Reiches" (1887). Als Entgegnung auf die K r i t i k von verschiedenster Seite unterstreicht Laband, daß er sich des erheblichen Wertes, den Geschichte, Ökonomie, Politikwissenschaft und Philosophie für das Verständnis der Rechtsordnung haben, bewußt ist, und fährt dann fort: „Die Dogmatik ist nicht die einzige Seite der Rechtswissenschaft, aber sie ist doch eine derselben. Die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts liegt aber in der Konstruktion der Rechtsinstitute, i n der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits i n der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen 43 ." Für den hier verfolgten Zweck mag es genügen, sich zu vergegenwärtigen, daß die Herleitung rechtlicher Folgerungen aus aufgestellten Begriffen eine charakteristische Besonderheit der begriffsjuristischen Methode ist. Es wurde bereits oben (zu II.) geschildert, wie das BGB als Produkt der rechtswissenschaftlichen Arbeiten des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Zwar herrschte i m allgemeinen eine gleichsam naturwissenschaftliche Einstellung vor, doch bestand der Untersuchungsgegenstand nicht 43 Das Zitat ist dem wiederabgedruckten Vorwort zur 2. Aufl. — im Vorwort zur 5. Aufl. 1911 —, S. I V , entnommen. Hervorhebungen i m Original.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen echt aus sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen, sondern aus der unübersichtlichen, ungeordneten Menge von Zitaten aus Gesetzen und klassischen Juristentexten, welche unter der Bezeichnung Pandekten den zweiten Teil des Corpus juris bildeten. Man griff zu einer abstrakten Methode i n dem Sinne, daß für verschiedene Sachverhalte, Fälle und Tatsachen gemeinsame Qualitäten gesucht und statuiert wurden. Als Werkzeuge dienten hierbei abstrakte Begriffe wie Rechtsgeschäft, Willenserklärung oder Vertrag. Abstrakt bezeichnete also insoweit den Gegensatz zu dem, was i n Sonderheit nur für spezielle Rechtsfälle galt. Die Erforschung von Gemeinsamkeiten war indessen nicht die einzige Aufgabe, die sich die Rechtswissenschaftler stellten. Hatte man einmal solche Gemeinsamkeiten gefunden, sah man sich verpflichtet, sie i n die Form allgemeiner Rechtssätze bzw. dogmatischer Figuren zu gießen. Ein Vergleich von Gaius' Institutionen m i t Windscheids Lehrbuch des Pandektenrechts zeigt eine fortschreitende Entwicklung m i t dem Ziel, immer weitere Gebiete der Rechtsordnung durch das Aufstellen neuer Rechtssätze zu erfassen. Es ist ein charakteristischer Zug der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts und damit auch des BGB, daß die Denk- und Arbeitsmethode zur Auffindung der allgemeinen Rechtssätze i n dem Augenblick aufgegeben wurde, als man sich anschickte, diese Regeln i n eine systematische Ordnung zu bringen. Bei der Suche nach den Rechtssätzen hatte der Wissenschaftler den Weg vom Speziellen zum Generellen gewählt; bei deren Zusammenstellung zum Zwecke der Gesetzgebung folgte man dem umgekehrten Weg vom Allgemeineren zum Besonderen. A l l e m Anschein nach stand hinter diesem Vorgehen auch eine pädagogische Absicht. Wie schon erwähnt (oben zu II.), hatten die Verfasser des BGB die führenden Lehrbücher des Pandektenrechts vor Augen. Die Übernahme des Lehrbuchmodells i n die neue Kodifikation i m p l i zierte eine Empfehlung an den Rechtsanwender: den Rechtsanwalt und den Richter. Bei der Analyse von Rechtsproblemen, die seine Fälle aufwarfen, sollte er sich vom Allgemeineren zum mehr Besonderen vorarbeiten. Der Praktiker wurde also bei der Rechtsanwendung auf dieselben methodischen Schritte verwiesen wie der Student beim Studium des Rechts. Man ist versucht, etwas eingehender über Hintergrund und Bedeutung der formal-logischen Strukturierung des BGB nachzudenken. Daß man i n dem Bestreben, Sachverhalte zu analysieren und zu erklären, von abstrakten Begriffen ausgeht, kann an und für sich nicht verfehlt sein. Diese Methode ist i n allen Wissenschaften anerkannt. Sie kann sich ebenso i m Rahmen der Rechtsanwendung als zweckmäßig erweisen. Auch sehe ich keine zwingenden Gründe, die dagegen sprechen, daß man m i t den allgemeineren Begriffen beginnt und dann zu

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den besonderen übergeht, auch wenn ich i n dieser Hinsicht starke Zweifel hege 44 . Ich bin auch bereit, das Herleiten rechtlicher Schlußfolgerungen aus Begriffen als nützlich anzuerkennen, zumal dies nicht mehr bedeuten muß als eine zulässige logische Operation: Können w i r i n einem bestimmten Rechtsfall das Vorliegen derjenigen Tatsachen feststellen, auf die der i n Frage kommende Begriff Bezug nimmt, so treten die Rechtsfolgen ein, die für diesen Fall normiert sind. Dies ist die klassische Subsumtion. Vermutlich liegt der Grund für den schlechten Ruf, i n den die Begriff sjurisprudenz gekommen ist, nicht nur i n dem, was Laband unter Dogmatik verstanden wissen wollte. I m BGB werden die allgemeinen Rechtssätze m i t erheblichem Nachdruck vorgestellt. M i t hoher Wahrscheinlichkeit verhilft dies dem Rechtspraktiker zu der Neigung, dem Allgemeinen ein stärkeres Gewicht zu verleihen als dem Besonderen. Die Rechtsanwendung w i r d förmlich („dogmatisch") i n dem Sinne, daß sie sich weniger an den besonderen Umständen des Einzelfalles orientiert, als dies etwa i n anderen Ländern der Fall ist. Dieser Deutungsversuch über das Wesen der Begriff s jurisprudenz beansprucht ebensowenig Verbindlichkeit wie andere allgemeine Deutungen von K u l t u r erscheinungen. Der hypothetische Charakter solcher Thesen folgt notwendig aus der Tatsache, daß sie — wenn überhaupt — nur i n bescheidenstem Umfang überprüfbar sind. I n diesem Zusammenhang soll noch eine etwas weniger angreifbare Bemerkung angefügt werden. Wenn ein Rechtsgeschäft als „abstrakt" bezeichnet wird, zeigt das, wie schon erwähnt, an, daß es nach seinem äußeren Erscheinungsbild beurteilt und mit bestimmten Standardrechtsfolgen versehen wird, wobei der konkrete Parteiwille insoweit außer Betracht bleibt. Die Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache durch Einigung und Besitzverschaffung wurde als Beispiel angeführt. Die gesetzgeberische Technik, eine Anzahl von Rechtsgeschäften als abstrakte zu normieren, bedeutet, daß man insofern vom Besonderen abzusehen hat. I n diesen Fällen ist das Allgemeine ganz erheblich dem Besonderen vorgezogen worden. XV. Die Arbeit eines Naturwissenschaftlers stelle ich m i r so vor, daß er bei der Untersuchung eines neuen Forschungsgegenstandes von einer Anzahl Beobachtungen der Wirklichkeit ausgeht. Sodann sucht er nach einer möglichen Erklärung für seine Feststellungen und entwickelt ein Konzept, eine A r t allgemeine Theorie. I m nächsten Schritt geht der 44 Für die schwedische Juristenausbildung etwa würde ich diese Methode nicht empfehlen wollen.

Das Abstraktionsprinzip im deutschen Recht Wissenschaftler wieder zur empirischen Arbeit zurück, u m durch weitere Beobachtungen die Richtigkeit der aufgestellten Theorie zu überprüfen. Sollten die neuen Ergebnisse seiner Theorie insgesamt oder teilweise widersprechen oder nicht von i h r erklärbar sein, muß er die Theorie ändern oder durch eine neue ersetzen. Möglicherweise ist diese Beschreibung des Wissenschaftsprozesses etwas zu oberflächlich und i n den Details ungenau. Doch kann man grundsätzlich davon ausgehen, daß der Naturwissenschaftler ständig zwischen der Beobachtung der Natur und dem Aufstellen von Theorien bzw. Erklärungsversuchen wechselt. Der Jurist arbeitet oft i n gleicher Weise. Ein Rechtswissenschaftler studiert beispielsweise das vorhandene Fallmaterial zum Schadenersatzrecht und durchsucht es nach Gesetzmäßigkeiten. Mehrmals i n diesem Aufsatz habe ich betont, daß sich die deutschen Juristen i m 19. Jahrhundert vor allem der Pandekten des Corpus juris als ihrem wichtigsten Quellen- und Studienmaterial bedienten. Zahlreiche Begriffe des BGB sind Arbeitsprodukte dieser Pandektenjurisprudenz. W i r d ein Begriff von einem Lehrbuch i n einen Gesetzestext übernommen, so ändert er — wenigstens tendenziell — seinen Charakter. War er vorher Hilfsmittel des Wissenschaftlers zur Beschreibung seiner Beobachtungen, so erhält der Begriff jetzt — m i t seiner Verwendung als Element von Rechtsvorschriften — einen normativen I n h a l t 4 5 . Die Mehrheit der BGB-Begriffe bezieht sich auf rechtserhebliche Tatsachen. Demzufolge kann man von folgender Situation ausgehen: Werden die einzelnen Begriffselemente definiert, so w i r d damit zugleich angegeben, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Rechtsfolgen eintreten sollen. Eine verfehlte Lehrbuchdefinition kann daher als Bestandteil eines Gesetzes weitreichende Konsequenzen haben. Die Verfasser des BGB waren sich dieser Tatsache vollständig bewußt, und daher vermieden sie es auch weitestgehend, Definitionen i n das Gesetz selbst aufzunehmen. I n den Motiven zum ersten E n t w u r f von 1888 steht ζ. B., daß zwar das sächsische BGB von 1863 den Begriff „Rechtsgeschäft" definiert hat 4 6 , daß aber die praktischen Erfahrungen m i t dieser Begriffsbestimmung keineswegs zur Nachahmung ermunterten. Vielmehr berge eine Definition selbst dann die Gefahr der Irreleitung, wenn sie sehr sorgfältig und vollständig ausfalle. Die Kommission schätzte diese Gefahr u m vieles größer ein als die i m umgekehrten Fall auftretende, daß sich nämlich i n der Rechtsanwendung dadurch Unsicherheiten 45 Siegmund Schloßmann, Willenserklärung und Rechtsgeschäft, in Festschrift Hänel, 1907, S. 5 ff., bes. S. 80 f., kritisiert das BGB-System mit Hilfe ähnlicher Grundannahmen. 46 §88 sächs. BGB: „Geht bei einer Handlung der Wille darauf, in Übereinstimmung mit den Gesetzen ein Rechtsverhältnis zu begründen, aufzuheben oder zu ändern, so ist die Handlung ein Rechtsgeschäft."

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ergäben, daß man etwa die für „Rechtsgeschäfte" aufgestellten Regeln auch auf Handlungen anwandte, die keine „Rechtsgeschäfte" ausmachten, oder dadurch, daß nicht genau geklärt wurde, was denn ein „Rechtsgeschäft" eigentlich sei 47 . Bei diesen Erwägungen übersahen die Verfasser gleichwohl einen wichtigen Punkt: indem sie nämlich einem Begriff einen festen Platz i m System zuwiesen, gaben sie i h m zugleich eine inhaltliche Bestimmung. Wenn ζ. B. der Begriff „Rechtsgeschäft" vor dem Begriff „Willenserklärung" erscheint, heißt das, daß der erstere auf höherer Abstraktionsebene angesiedelt ist und demzufolge einen weiteren A n wendungsbereich hat als der letztere. So erweist sich, daß das gleichsam hierarchische Systematisierungsprinzip, nach dem das Allgemeine vor das Besondere gezogen wird, zumindest teilweise die gleiche Wirkung entfaltet wie eine ausdrückliche Definition. Innerhalb der naturwissenschaftlichen Disziplinen hält man es ohne Zweifel für gefährlich, Begriffe zu verwenden, deren Beobachtungshintergrund und ursprünglicher Zweck nicht ständig mitreflektiert werden. Derselbe Grundsatz sollte auch für die Rechtswissenschaft gelten. I m Hinblick auf Gesetzesbegriffe stehen w i r jedoch vor einer anderen, heikleren Situation. Diese Begriffe sind Teil eines Normensystems und können wie dieses selbst mit gerade dem Inhalt gefüllt sein, den der Gesetzgeber nach Gebrauch seines Ermessens für richtig gehalten hat. M i t dem Ubergang von Rechtsbegriffen aus der Wissenschaft i n das Gesetz sind bestimmte Nachteile verbunden, ζ. B. derjenige, daß der gesetzliche Begriffsapparat starr und inhaltlich fixiert wird. Der Rechtswissenschaftler verliert i n gewisser Weise sein früheres Interesse, zum Quellenmaterial zurückzukehren, u m zu prüfen, ob ein Begriff nicht — entsprechend etwa veränderter Wirklichkeit — abzuändern oder ganz zu ersetzen sei. Was vorher Ergebnis von Untersuchungen und offenen Auseinandersetzungen war, vollbringt nun die strenge Autorität einer gesetzlichen Norm. Nach meiner Vorstellung ist es ein Charakteristikum des deutschen Rechts, daß i n weit größerem Umfang als i n anderen Ländern rechtswissenschaftliche Begriffe bei der Normsetzung übernommen und damit Teil der gesetzlichen Regeln wurden. Hierin mag eine Erklärung dafür zu finden sein, warum die wissenschaftliche Arbeit i n Deutschland wesentlich stärker von der Dogmatik als von anderen, vielleicht wichtigeren Zweigen juristischer Forschung angezogen zu sein scheint. Möglicherweise hat dies auch dazu beigetragen, daß man der Erforschung des Verhältnisses von Zweck und M i t t e l nicht immer die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt hat. 47 Vgl. dazu Motive, Bd. 1, 1888, S. 126.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen* I. Einleitung A u f der Diplomatischen Konferenz i n Den Haag vom 2. bis 25. A p r i l 1964 wurde eine Konvention betreffend ein „Einheitliches Gesetz über das Eingehen von Verträgen über den internationalen Kauf beweglicher Sachen" (Internationales Vertragsgesetz) angenommen. Gleichzeitig beschloß die Konferenz die Konvention über ein „Einheitliches Gesetz betreffend den internationalen Kauf beweglicher Sachen" (Internationales Kaufgesetz). Wie die Überschriften andeuten, sind die Konventionen über die beiden Gesetze inhaltlich eng miteinander verknüpft. Das internationale Vertragsgesetz ist als Ergänzung zum internationalen Kaufgesetz gedacht, kann aber auch für sich allein genommen i n die nationale Gesetzgebung eines Unterzeichnerstaates übernommen werden. Das internationale Vertragsgesetz enthält einerseits eine Reihe allgemeiner Bestimmungen, die i m wesentlichen m i t entsprechenden Vorschriften des internationalen Kaufgesetzes übereinstimmen (Art. 1: Anwendungsbereich, A r t . 13: Handelsbrauch, Inhalt und Auslegung allgemein üblicher Ausdrücke der Handelssprache), und andererseits Regeln, die sich i m besonderen auf die Vertragseingehung beziehen (Art. 2 - 12). Diese Untersuchung beschäftigt sich m i t der letztgenannten Gruppe, u m einige der Quellen zu den wichtigsten Vorschriften anzugeben und vor diesem Hintergrund den Gesetzesinhalt zu erklären. Z u m Abschluß w i r d noch eine gesetzestechnische Frage aufgegriffen: Warum traf das internationale Vertragsgesetz i m Gegensatz zu früheren Entwürfen keine Bestimmung über den Zeitpunkt des Zustandekommens eines Vertrages? Das internationale Vertragsgesetz hat eine lange Vorgeschichte. 1930 setzte das Römische Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts eine Kommission m i t dem Auftrag ein, einen Entwurf für ein einheitliches Kaufgesetz auszuarbeiten 1 . Die Idee, ein gesondertes internationales Vertragsgesetz zu schaffen, läßt sich bis auf diese * Englisch in The American Journal of Comparative L a w 1965, S. 1 - 3 7 ; schwedisch in Tidsskrift for Rettsvitenskap 1966, S. 417 - 465. 1 Zur Geschichte des internationalen Vertragsgesetzes vgl. Ernst v. Caemmerer, Die Haager Konferenz über die internationale Vereinheitlichung des Kaufrechts vom 2. bis 25. April 1964, Rabeis Zeitschrift 1965, S. 101 ff. 8

Schmidt

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Kommission zurückführen. Eines solchen Gesetzes bedurfte es nicht nur i m Hinblick auf die Bedeutung des Regelungsgegenstandes selbst, sondern auch aus anderen Gründen. Der Entwurf eines internationalen Kaufgesetzes bediente sich nämlich der Technik, i n verschiedenen Vorschriften Rechtsfolgen an Zeit oder Ort des Vertragsschlusses zu knüpfen. Es erschien also notwendig, Bestimmungen darüber zu treffen, was m i t Vertragsschluß gemeint war. Die Kaufgesetz-Kommission stieß indessen auf Schwierigkeiten, als sie die hierzu vertretenen unterschiedlichen Auffassungen miteinander vereinbaren wollte. 1934 setzte das Römische Institut eine besondere Kommission ein, die nicht nur diese spezielle Streitfrage klären, sondern die Voraussetzungen für ein Gesetz über den Abschluß eines Vertrages zwischen Abwesenden überhaupt prüfen sollte. Die Kaufgesetz-Kommission hatte bereits vor dem Zusammentreten der Vertragsgesetz-Kommission einen Entwurf für ein Gesetz über die Eingehung eines Vertrages ausgearbeitet, der i n den A r t . 1 - 4 das Angebot und i n den A r t . 5 - 1 0 die Annahme des Vertrages regelte, aber zur Frage nach Ort und Zeitpunkt des Vertragsschlusses nichts aussagte. Der Entwurf der Kaufgesetz-Kommission (Entiourf 1935 2) wurde der neu eingesetzten VertragsgesetzKommission zugeleitet. Diese beendete ihre Arbeit 1936 m i t dem Entwurf eines „Einheitlichen Gesetzes über internationale Korrespondenzverträge" (Entwurf 1936). Neben einer Anzahl Vorschriften über die Wirkungen von Angebot und Annahme enthielt der Entwurf 1936 einen A r t . 8, der Ort und Zeit des Vertragsschlusses regelte. Je nach den Umständen sollte der Vertrag an dem Ort und zu dem Zeitpunkt als abgeschlossen gelten, da entweder die Annahmeerklärung dem Anbietenden zur Kenntnis gelangt war, da sie i h m zugegangen war oder schließlich, da sie abgeschickt wurde. Dieser Vorschlag der Kommission weckte keine größere Begeisterung, und das Römische Institut leitete den Entwurf nicht weiter. Das Problem der Ausarbeitung eines internationalen Vertragsgesetzes kam erneut auf die Tagesordnung, als sich die Haager Konferenz 1951 m i t dem internationalen Kaufrecht befaßte. Auch bei dieser Gelegenheit richtete sich die Aufmerksamkeit besonders auf die schon erwähnte Tatsache, daß das internationale Kaufgesetz i n mehreren Bestimmungen auf Ort und Zeit des Vertragsschlusses Bezug nahm. Die Konferenz brachte den Wunsch zum Ausdruck, i n einem neuen Anlauf eine international einheitliche Regelung zustandezubringen. Das Römische Institut setzte 1956 wiederum eine VertragsgesetzKommission ein, die zweimal zusammentrat, und zwar 1956 und 1958. I m Jahre 1959 veröffentlichte sie den Entwurf eines Einheitlichen 2 Veröffentlicht bei Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. 1, 1936, S. 116.

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Gesetzes über die Eingehung von Verträgen bei internationalem Kauf beweglicher Sachen, der i m folgenden Entwurf 1958 genannt w i r d 3 . Auch der Entwurf 1958 enthielt außer Regeln über Angebot und Annahme eine Vorschrift darüber, wann ein Vertrag als abgeschlossen zu gelten habe. Trotz äußerlicher Ähnlichkeiten unterschied er sich aber erheblich von dem Entwurf 1936. Während dieser nur Korrespondenzverträge betraf, regelte der Entwurf 1958 auch den mündlichen Vertragsschluß. Andererseits hatte der Entwurf 1958 insofern einen engeren Anwendungsbereich, als er sich nicht allgemein auf Verträge, sondern ausschließlich auf internationale Kaufverträge bezog. Auch materiell wichen die Vorschriften voneinander ab; beispielsweise erschienen die Bestimmungen über das Zustandekommen des Vertrages jetzt wesentlich vereinfacht gegenüber den Alternativregeln des Entwurfs 1936. Der Entwurf 1958 wurde den interessierten Regierungen und der Internationalen Handelskammer i n Paris zur Stellungnahme zugeleitet. 16 Regierungen und die Handelskammer äußerten sich; dazu kam eine Kommentierung der Stellungnahmen durch Prof. A. Tunc, Paris. Dieses Material wurde 1964 der Haager Konferenz übergeben, die den Entw u r f und die verschiedenen Äußerungen dazu i n einem besonderen Vertrags-Ausschuß behandelte. Der Text des Entwurfs 1958 erfuhr fast bis ins kleinste Detail grundlegende Änderungen. I n einem Punkt sind die Abweichungen besonders auffallend. Das internationale Vertragsgesetz berührt an keiner Stelle die Frage, zu welchem Zeitpunkt der Vertrag zustandekommt, obwohl dieses Problem zuvor i m Mittelpunkt der Diskussion gestanden hatte. Der wichtigste Anlaß für die Erarbeitung eines solchen Gesetzes war schließlich der Bedarf an einer Regelung gerade dieser Frage 4 . a „L'Unification du Droit Privé" (U.D.P.) 1958 — Projet V. 4 Dem Verfasser war bei der Abfassung dieses Beitrages folgendes M a terial zugänglich: Eine Reihe von Unterlagen und Dokumenten, die das Internationale Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts (Unidroit) den Mitgliedern der 1934 eingesetzten Kommission überließ, um die Möglichkeiten für ein Gesetz über den internationalen Vertragsschluß zwischen Abwesenden zu prüfen. Die Unterlagen tragen die Bezeichnung U.D.P. = 1935 = Études X V I = Doc. 1, 2, 3, 5, 5bis, 6 - 1 4 (hektographiert). Der Entwurf 1935 findet sich in Doc. 5bis, und ist auch abgedruckt bei Rabel (Fußn. 2). Unidroit, „Allgemeiner Uberblick über die Arbeiten zur Vereinheitlichung des Privatrechts (Entwürfe und Konventionen)", Rom 1948, 1. Bd. Darin sind enthalten: Eduard Maurits Meijers, „Übersicht über die Prinzipien des Entwurfs, betreffend den Abschluß von Korrespondenzverträgen"; „Vorentwurf eines Einheitlichen Gesetzes über den Abschluß internationaler Korrespondenzverträge" (Entwurf 1936). Unidroit, „Entwurf eines Einheitlichen Gesetzes über den Abschluß von internationalen Kaufverträgen über bewegliche Sachen und Bericht", Rom 1959, Doc./F/Prep./l (Entwurf 1958).

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Das internationale Vertragsgesetz i m Kontext seiner Vorlagen

M a n k a n n d a v o n ausgehen, daß die B e s t i m m u n g e n einer i n t e r n a t i o n a l e n K o n v e n t i o n eher d e n C h a r a k t e r v o n L e i h g a b e n aus verschiedenen Rechtssystemen als d e n j e n i g e n neuer, selbständiger R e c h t s n o r m e n haben. D e r E i n f l u ß e i n i g e r b e s t i m m t e r Rechtssysteme i s t d a b e i s t ä r k e r gewesen als der anderer. N a t ü r l i c h h a t m a n v o r a l l e m solche L ä n d e r z u berücksichtigen, die i n d e m entsprechenden G e b i e t eine e i n i g e r m a ß e n m o d e r n e Gesetzgebung a u f z u w e i s e n haben. E n g l a n d , das eine Gesetzgebung i n unserem Sinne überhaupt nicht kennt, u n d Frankreich, das a u f die a l t e r t ü m e l n d e n R e g e l n des Code civil z u r ü c k g r e i f e n m u ß , scheiden aus der B e t r a c h t u n g aus. V o m deutschen Recht d a r f d e m gegenüber a n g e n o m m e n w e r d e n , daß es eine bedeutsame R o l l e gespielt h a t . V e r t r a g s r e g e l n e n t h ä l t das BGB (1896) i n d e n § § 1 4 5 - 1 5 1 . Es l ä ß t sich auch u n s c h w e r feststellen, daß verschiedene B e s t i m m u n g e n des i n t e r n a t i o n a l e n Vertragsgesetzes i m BGB i h r V o r b i l d hatten. G l e i c h f a l l s ist der E i n f l u ß b e k a n n t , d e n die deutschen V e r t r e t e r w ä h r e n d „Stellungnahmen der Regierungen und der Internationalen Handelskammer (CCI) zu dem Entwurf eines Einheitlichen Gesetzes über den Abschluß von internationalen Kaufverträgen über bewegliche Sachen", Den Haag 1963, Doc./F/Prep./2. TJnidroit, „Bemerkungen zu den Stellungnahmen verschiedener Regierungen und der CCI", in Zusammenarbeit mit Prof. A. Tunc . Anhang: Stellungnahme von A. Bagge, Den Haag 1963, Doc./F/Prep./3. „Stellungnahmen und Zusätze der Regierung der Bundesrepublik Deutschland", Doc./V/Prep./15. „Bericht der Donaldson-Kommission (Stellungnahmen der Regierung des Vereinigten Königreichs)" (hektographiert). Hjalmar Karlgren, Erinnerungen anläßlich des „Entwurfs eines Einheitlichen Gesetzes über den Abschluß von internationalen Kaufverträgen" etc., Nov. 1963 (in schwedischer Sprache, hektographiert). Schwedische Delegation auf der Diplomatischen Konferenz 1964, „Entwurf eines Einheitlichen Gesetzes über den Abschluß von internationalen Kaufverträgen über bewegliche Sachen", 3. März 1964 (hektographiert). Protokoll vom 10. März 1964: Überlegungen innerhalb der Schwedischen Delegation (hektographiert). Diplomatische Konferenz in Den Haag 1964, „Vorläufiger Bericht der Kommission »Einheitliches Vertragsgesetz 1 ", Conf./CR/Com. F / l , 3 - 1 3 (französischer Text), F / l - 11 (englischer Text) (hektographiert). Jan Hellner, P M „Das Einheitliche Gesetz über den Abschluß von internationalen Kaufverträgen über bewegliche Sachen", 18. Dez. 1964 (hektographiert). Unidroit, „Entwurf eines internationalen Gesetzes über den Kauf beweglicher Sachen", Rom 1935, L.O.N. 1935 — U.P.L. — Entwurf 1. Unidroit, „Entwurf eines Einheitlichen Gesetzes über internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen und Bericht, Zweite Überarbeitung", Rom Dez. 1938, S.d.N. 1938 — U.D.P. — Entwurf I (1). „Entwurf eines Einheitlichen Gesetzes über internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen. Neu ausgearbeiteter Text und Bericht der Kommission", Den Haag 1956, Doc./V/Prep./l. „Entwurf eines Einheitlichen Gesetzes über internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen. Nach den Vorschlägen der Sonderkommission in den Jahren 1962/1963 abgeänderter Gesetzestext", Den Haag 1963, Doc./V/ Prep./4.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen der Vorarbeiten ausübten. I n diesem Zusammenhang mag hervorgehoben werden, daß Rabel i n seinem Berliner Institut für Rechtsvergleichung umfassende Vergleichsstudien anfertigte, u m der K o m mission Arbeitsunterlagen zur Verfügung zu stellen. Bei der Haager Konferenz von 1964 war die deutsche Delegation, der u. a. Prof. Ernst von Caemmerer angehörte, sehr aktiv. Eine weitere Quelle des internationalen Vertragsgesetzes ist i m skandinavischen Recht zu suchen. Die äußeren Ubereinstimmungen zwischen dem internationalen Vertragsgesetz und den einheitlichen skandinavischen Vertragsgesetzen sind auffallend 5 . Man kann auch persönliche Einflußmomente benennen. Der schwedische Richter Algot Bagge war Mitglied der Kommission, die den Entwurf 1936 vorlegte, und Vorsitzender der Kommission, die den Entwurf 1958 ausarbeitete. Schließlich war er schwedischer Delegationschef und Mitglied der Vertrags-Kommission auf der Konferenz von 1964. Die skandinavischen Delegationen hatten sich m i t besonderen Vorüberlegungen auf die Konferenz vorbereitet, und so konnten die schwedischen Vertreter schon bei Konferenzbeginn genauestens ausgeführte Änderungsvorschläge vorlegen. Ein schwedischer Einfluß erfolgte außerdem über den schwedischen Gerichtspräsidenten Gunnar Lagergren, der i n seiner Eigenschaft als Repräsentant der Internationalen Handelskammer i n der Vertrags-Kommission saß. Den Protokollen zufolge war Lagergren einer der aktivsten aller Konferenzteilnehmer. Auch die Vertreter von Finnland und Norwegen, Professor Godenhielm und Rechtsanwalt am Obersten Gerichtshof Os, machten ihre Stimme auf der Haager Konferenz geltend. Professor Jan Hellner, Mitglied der schwedischen Delegation i n Den Haag 6 , überreichte dem Justizministerium am 18.12.1964 eine Schrift über das internationale Vertragsgesetz, u m die schwedischen Behörden und einzelne Interessierte genauer zu informieren. Darin betont er den skandinavischen Einfluß: „Schon der erste Entwurf (von 1958) lehnte sich vergleichsweise eng an die skandinavischen Vertragsgesetze an, und spätere Änderungen führten das einheitliche Vertragsgesetz noch näher an das skandinavische Vertragsrecht heran." Hellner unterstreicht, wie bedeutsam es gewesen sei, daß die schwedische Delegation schon zu Konferenzbeginn klare Änderungsvorschläge unterbreiten konnte, und fährt fort: „Man kann kaum hoffen, daß sich, wenn dieses Gesetz s Vgl. die Vertragsgesetze Schwedens (1915), Dänemarks (1917), Norwegens (1918) und Finnlands (1929), bes. deren Kap. 1, (§§ 1 - 9 ) „Über den Abschluß von Verträgen". Eine englische Ubersetzung des schwedischen Vertragsgesetzes enthält die Sammlung „Das einheitliche Recht der skandinavischen Länder", hrsg. von Unidroit, Rom 1962. 6 Professor Hellner gehörte der Kaufgesetz-Kommission, nicht aber der Vertragsgesetz-Kommission an.

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Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen

nicht i n K r a f t treten sollte, ein späteres einheitliches Gesetz ebenso weitgehend dem skandinavischen Vertragsrecht anschließen w i r d wie dieses." Als eine dritte Vorlage, wahrscheinlich als die wichtigste, läßt sich leicht das amerikanische Handelsgesetzbuch ermitteln. Wie bekannt, wurde es gemeinschaftlich von der „Nationalkonferenz der Ständigen Kommission für das einheitliche Bundesrecht" und dem „Amerikanischen Rechtsinstitut" 7 ausgearbeitet. Das Handelsgesetzbuch wurde 1952 veröffentlicht, d. h. i n der Zeit zwischen den beiden früheren Entwürfen und dem Entwurf 1958. Es wurde 1957 revidiert und ab 1958 sukzessive von den Bundesstaaten angenommen. Seinen w i r k lichen Durchbruch erhielt das Handelsgesetzbuch allerdings erst 1962, als es i m Staate New York Gesetz wurde. Ende 1963, also kurz vor Eröffnung der Haager Konferenz, hatten 31 Bundesstaaten das Gesetz angenommen. Ein direkter Einfluß auf den Entwurf 1958 ist zwar nicht leicht festzustellen, doch kann man m i t Sicherheit sagen, daß viele der 1964 auf der Haager Konferenz beschlossenen Einzelheiten das amerikanische Handelsgesetzbuch zum Vorbild hatten. Ferner sind weitere Quellen für das internationale Vertragsgesetz denkbar. Naheliegend ist etwa der Hinweis auf das schweizerische Obligationenrecht von 1911, das als 5. Buch i n das ZGB der Schweiz inkorporiert ist. Trotz seines Entstehungszeitpunktes ist dieses Gesetz nicht ebenso modern wie das deutsche BGB, w e i l es i n wichtigen Bereichen auf das ältere Obligationenrecht von 1881 zurückgreift. I n den Vorarbeiten findet sich nichts, was auf einen stärkeren schweizerischen Einfluß schließen läßt, womit w i r diesen Aspekt vernachlässigen könnten; doch muß ich zugeben, daß ich keinen ernsthaften Versuch unternommen habe, m i r darüber Gewißheit zu verschaffen. Auch das italienische Zivilgesetz von 1942 könnte als Vorlage i n Betracht kommen. Ein überschlägiger Vergleich der Gesetzestexte gibt Anlaß zu der Vermutung, daß auch dieser Kodifikation keine größere Bedeutung als Rechtsquelle zukommt. Da ich aber kein Italienisch beherrsche und somit die Originalliteratur nicht nach möglichen Spuren des Einflusses durchsuchen konnte, bleibt diese Frage offen. M i t größter Wahrscheinlichkeit dürften indessen das BGB, die skandinavischen Vertragsgesetze und das amerikanische Handelsgesetzbuch als die bedeutsamsten Vorlagen gedient haben. 7 Die erstgenannte Institution zeichnet für einheitliche Bundesgesetze verantwortlich, z.B. das „Bundes-Schlichtungsgesetz" oder das „Bundes-Kaufgesetz"; die letztgenannte beschäftigt sich mit der Zusammenstellung der Rechtsgrundsätze verschiedener Gebiete in sog. „Neuordnungen", z.B. die „Neuordnung des Vertragsrechts".

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I I . Wann liegt ein Angebot vor? Art. 4 Abs. 1 des internationalen Angebot wie folgt:

Vertragsgesetzes

definiert

das

„Eine Mitteilung, die jemand an eine oder mehrere bestimmte andere Personen i n der Absicht richtet, einen Kaufvertrag abzuschließen, ist erst dann ein Angebot, wenn sie soweit vollständig ist, daß der Vertrag durch Annahme zustande kommen kann, und wenn sie den Bindungsw i l l e n des Anbietenden hinreichend zum Ausdruck bringt." Zwei der Definitionselemente sind von besonderem Interesse, und zwar einmal, daß die Mitteilung „an eine oder mehrere bestimmte andere Personen" zu richten ist, und zum anderen, daß das Angebot soweit vollständig sein muß, „daß der Vertrag durch Annahme zustande kommen kann". Das erste Element bezieht sich darauf, wie ein Angebot an die Allgemeinheit („offre publique") zu werten ist. A u f den ersten Blick scheint der Inhalt der Vorschrift klar zu sein. A r t . 4 Abs. 1 bezweckt die Definition des Begriffs „Angebot"; danach steht fest, daß sich das Angebot an bestimmte Personen zu richten hat. I m Umkehrschluß gelangt man zu dem Ergebnis, daß eine Mitteilung, der dieses Merkmal fehlt, kein Angebot ist. I n seinem Bericht vom 18.12.1964 hat Hellner die Vorschrift i n diesem Sinne interpretiert. Eine Zeitungsanzeige oder i m Schaufenster ausgestellte Waren enthielten demnach kein Angebot. Demgegenüber vertritt v. Caemmerer, deutsches Konferenzmitglied und Teilnehmer an den Beratungen der Vertragsgesetz-Kommission, i n einem Aufsatz von 19648 eine andere Auffassung. Die Kommission habe sich nicht darüber einigen können, welche Wirkung die „Offerte an das Publikum" haben solle. Das Gremium habe vielmehr beschlossen, diese Frage i m Gesetz nicht zu regeln, womit die Entscheidung i m Einzelfall dem Richter überlassen bleibe. Hellners Auslegung dürfte mit schwedischen Rechtsprinzipien i n Einklang stehen 9 . Bei einem Studium der dänischen und norwegischen Motive (zu den Vertragsgesetzen) gelangt man zu der Ansicht, daß die „offre publique" nicht als Angebot i. S. der Vertragsgesetze zu betrachten ist 1 0 . Doch haben sich sowohl Ussing als auch Arnholm i n eine andere Richtung ausgesprochen 11. Das schwedische Vertragsrecht ist nicht das einzige, das einem Angebot an die Allgemeinheit die A n 8 v. Caemmerer, RabelsZ 1965, S. 118 f. Schwedische Motive zum Vertragsgesetz, S. 60 f. 10 Dänische Motive, S. 32 f.; Norwegische Motive, S. 38 f. u Ussing, Verträge, 3. Aufl. 1950, S. 51 f.; Arnholm, Privatrecht I I , 1964, S. 52. 9

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Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen

erkennung versagt. Das Obligationenrecht der Schweiz enthält eine Vorschrift, nach der das Versenden von Tarifen, Preislisten u. ä. kein Angebot darstellt 1 2 . I m deutschen Allgemeinen Handelsgesetzbuch von 1861 fand sich eine entsprechende Regel, während das BGB von 1896 und das H G B von 1897, welches das A H G B von 1861 ablöste, diese Frage offenließen. Das heute geltende deutsche Recht gibt eine flexiblere A n t w o r t . Der Handelsbrauch entscheidet darüber, ob ein Angebot an die Allgemeinheit bindend sein soll oder nicht 1 8 . Die Vorstellung, daß sich ein Angebot an eine oder mehrere bestimmte Personen richten muß, ist dem englischen Recht fremd. Z u m Beleg pflegt man den unterhaltsamen Fall Carlill gegen Carbolic Smoke Ball Co.14 anzuführen. Die Carbolic-Gesellschaft hatte i n einer Zeitungsanzeige jedem 100 Pfund versprochen, der sich eine Grippe oder eine Erkältung zuzog, obwohl er zwei Wochen lang dreimal täglich die von der Gesellschaft hergestellten Tabletten eingenommen hatte. Die Klägerin, Frau Carlill, hatte sich auf die Annonce verlassen, war den Anweisungen genau gefolgt und hatte schließlich eine Erkältung bekommen. Sie begehrte den versprochenen Geldbetrag und gewann. Für Richter Bow en gab es keinen vernünftigen Grund, w a r u m nicht ein Angebot „an die ganze Welt . . . zu einem Vertrag heranreifen" sollte, und zwar m i t jedem beliebigen Partner, der hervortritt und die aufgestellten Bedingungen erfüllt 1 5 » 1 6 . Die Frage der Beurteilung von Offerten an das Publikum war Gegenstand der Beratungen während der Vorarbeiten zu den Entwürfen 1935 und 1936. A r t . 1 des Entwurfs 1935 enthielt eine ausdrückliche Regelung: „Aufforderungen, die sich an einen unbestimmten Personenkreis richten (Zeitungsanzeigen, Reklame, Anschläge usw.) sind nicht als Angebote i. S. der folgenden A r t i k e l zu betrachten." Die Kommission, die den E n t w u r f 1936 ausarbeitete, griff die Frage erneut auf und beschloß, keine Bestimmung darüber aufzunehmen. Auch der Entwurf 1958 klärte das Problem nicht.

Art. 7 Abs. 2 OR; eine andere Regel gilt demgegenüber für das Ausstellen preisausgezeichneter Waren (Art. 7 Abs. 3 OR). Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teü des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1960, S. 988 (zit.: Nipperdey). 14 Court of Appeal (1893) I, Q.B. 256. 15 Vgl. Bericht der Delegation des Vereinigten Königreichs an die Diplomatische Konferenz . . . , 1964, wiederabgedruckt in ICLQ, Ergänzungsband 9 (1964), S. 58. Auch das französische Recht kennt das Angebot an die Allgemeinheit (offres faites au public), ζ. Β. Waren im Schaufenster oder Anzeigen für eine Theatervorstellung. Solche Offerten binden den Anbieter gegenüber jedermann, der die Annahme erklärt. Siehe Marty / Raynaud, Droit civil, Bd. 2, 1962, Nr. 100.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen Die sog. Donaldson-Kommission, welche die britischen Gesichtspunkte und Vorstellungen zum Entwurf 1958 formulierte, bemerkte, daß der Entwurf zwar unklar sei, daß man aber dennoch annehmen könne, es sei nicht beabsichtigt gewesen, dem Angebot an mehrere oder „an die ganze Welt" die Gültigkeit abzusprechen. Die Kommission schlug gleichwohl einen verdeutlichenden Zusatz vor. Den gegenteiligen Standpunkt vertrat die Internationale Handelskammer; sie plädierte für die Aufnahme einer Vorschrift, nach der die Offerte an das Publikum ausdrücklich nur den Charakter einer invitatio ad offerendum haben sollte. Prof. Tunc teilte i n seinen Kommentierungen die Ansicht der Handelskammer, meinte jedoch, daß der Entwurf 1958 die Frage bereits dadurch regele, daß er das Angebot als „eine Mitteilung von einer Person an eine andere Person . . . " definiere 17 . Während der Haager Konferenz 1964 diskutierte die VertragsgesetzKommission auf mehreren Sitzungen das Angebot an die Allgemeinheit. Ein schwedischer Vorschlag zur Ergänzung des Entwurfs ging dahin, daß ein „Angebot an die Allgemeinheit nicht mehr als die Aufforderung, Angebote abzugeben", sei; i n der Abstimmung fand sich aber keine Mehrheit zugunsten dieses Zusatzes. Gleichzeitig entschied sich die Kommission dafür, i n das internationale Vertragsgesetz keine Regelung des Angebots an die Allgemeinheit aufzunehmen. Eingangs der folgenden Sitzung kam die Kommission zu demselben Ergebnis. A u f Vorschlag eines Arbeitsausschusses unter dem Vorsitz v. Caemmerers wurde der endgültige Text des A r t . 4 Abs. 1 auf der 8. und 11. Sitzung angenommen. Danach ist das Angebot eine Mitteilung an „eine oder mehrere bestimmte andere Personen" ("one or more specific persons") 18 . Dieser Ausdruck ersetzte die allgemeinere Formulierung i m Entwurf 1958. Der Verfasser hat nicht die Absicht, an dieser Stelle i n eine Diskussion über die Methoden der Auslegung von Gesetzen, die sich auf internationale Konventionen gründen, einzutreten. Hellners Interpretation kann sich auf den Wortlaut des A r t . 4 berufen, der augenscheinlich darauf hindeutet, daß ein „Angebot an die Allgemeinheit" nicht die Rechtswirkungen eines Angebots haben soll. Andererseits stützt v. Caemmerer seine Auslegung auf die Tatsache, daß die K o m mission sich zweimal dafür entschied, die „Offerte an das Publikum" nicht i m internationalen Vertragsgesetz zu regeln, nachdem der schweif Art. 3 des Entwurfs 1958 lautet im Original: „La communication qu'une personne adresse à une autre en vue de la conclusion d'un contrat ne constitue une offre au sens de la présente loi que si les éléments du contrat sont suffisamment précisés pour en permettre la conclusion par l'acceptation et si la personne qui fait la communication doit être considérée comme ayant la volonté de s'engager."

Vor der Schlußredaktion lautete die Passage: "one or more determined persons."

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dische Vorschlag zur Präzisierung des Gesetzesinhalts abgelehnt worden war. Doch führt selbst die Ermittlung des Willens der an der Entscheidung Beteiligten nicht zu einem unbestreitbaren Ergebnis 19 . M. E. erscheint die Annahme realistisch, daß man i n diesem Punkt keine Einigkeit erwarten kann. Wahrscheinlich w i r d sich die Auslegung dieser Stelle des internationalen Vertragsgesetzes von Land zu Land unterscheiden. Für ein skandinavisches Gericht w i r d es naheliegend sein, Hellners Interpretationsvorschlag zu übernehmen, der m i t dem Recht der skandinavischen Länder übereinstimmt 2 0 , während ζ. B. ein deutsches Gericht eher v. Caemmerers Ansicht folgen wird. Daraus läßt sich schließen, daß das internationale Vertragsgesetz i n der Frage des Angebots an das Publikum nicht die angestrebte Einheitlichkeit erzielt hat. Zum zweiten Definitionselement i n A r t . 4 Abs. 1, wonach das Angebot so vollständig sein muß, „daß der Vertrag durch Annahme zustande kommen kann", ist nicht viel zu bemerken. Für skandinavische Juristen ist es sehr vertraut. I n den Motiven zum schwedischen Vertragsgesetz (S. 59) heißt es, daß es i m „Begriff Angebot selbst (liegt), daß durch seine Annahme ein Vertrag zustande kommen kann, ohne daß es weiterer Willenserklärungen des Anbietenden bedarf". Die schwedische Literatur vermittelt allerdings einen teilweise gegensätzlichen Eindruck. Dies hängt damit zusammen, daß eigentlich die umstrittenere Frage diskutiert wird, ob man ein weiteres K r i t e r i u m für das Angebot aufstellen sollte, demzufolge es absolut bindend für den Anbietenden wäre 2 1 . Unabhängig von dieser Debatte ist es indessen auch für denjenigen, der ein solch zusätzliches K r i t e r i u m aufstellen w i l l , selbstverständlich, daß ein Angebot erst dann vorliegt, wenn es keiner weitergehenden A k t i v i t ä t des Anbietenden bedarf. I n der jetzt angeschnittenen Frage herrscht i n Skandinavien i m großen und ganzen Einigkeit. Die Ansicht, daß das Angebot endgültig zu sein habe, w i r d praktisch i n jedem deutschen BGB-Kommentar und -Lehrbuch vertreten 2 2 . Dasselbe Prinzip gilt auch i m anglo-amerika19 Auch v.Caemmerer, RabelsZ 1965, S. 119, Fußn. 73, räumt ein: „Die gefaßten Beschlüsse sind nicht sehr klar und ihre Tragweite nicht ganz zweifelsfrei." 20 Dies ist nicht unangefochten, wie eine Stellungnahme der Stockholmer Handelskammer, der Schwedischen Bankenvereinigung, des Allgemeinen Schwedischen Exportverbandes, der Versicherungsgesellschaften, des Schwedischen Industrieverbandes u. a. vom 14. Sept. 1965 zeigt. Hiernach sei es denkbar, daß „öffentliche Angebote nicht vom internationalen Vertragsgesetz erfaßt werden". 21 Vgl. Karlgren, Studien zum allgemeinen Vertragsrecht, Lund 1935, bes. S. 151 f., Fußn. 4; und Vahlén in: Theorie und Praxis, Stockholm 1964, S. 360 f. 22 Siehe z.B. Planck, Bürgerliches Gesetzbuch, 3. Aufl. 1903, zu §145; Nipperdey, Allgemeiner Teil, 1960, S. 987.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen nischen Hecht. Cheshire unterscheidet insoweit zwischen dem Angebot und der Aufforderung, Angebote abzugeben ("invitation to treat"). „Der Anbietende muß seinen Anteil am Vertragsschluß so vollständig ausgeführt haben, daß dem Empfänger des Angebots nur noch die Wahl zwischen Annahme oder Ablehnung obliegt 2 3 ." Das hier behandelte Definitionselement i n A r t . 4 Abs. 1 des internationalen Vertragsgesetzes ist eng m i t dem Grundsatz verknüpft, daß ein Vertrag durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, oder nach dem Sprachgebrauch i m englischen Recht durch „the meeting of the minds" zustande kommt. I I I . Die Rechtswirkung des Angebots Die Bestimmungen i n A r t . 5 des internationalen Vertragsgesetzes über die Rechtswirkungen des Angebots sind äußerst widersprüchlich. Einerseits w i r d statuiert, daß ein Angebot selbst dann noch widerrufen werden kann, wenn es dem Empfänger zugegangen ist, andererseits w i r d der Widerruf i n einer Reihe von Situationen für unzulässig erklärt. Der Gesetzestext stellt insoweit eine Anzahl weitgehender Ausnahmen von der Grundregel auf, nach der das Angebot widerruflich ist. Art. 5 Abs. 2 lautet: „Ist ein Angebot demjenigen, an den es sich richtet, zugegangen, kann es widerrufen werden, es sei denn, der Widerruf verstieße gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Verkehrssitten, oder das Angebot enthielte eine bestimmte Annahmefrist oder anderweitige Erklärungen darüber, daß es feststehend oder unwiderruflich sei." Die Vorschrift stellt einen Kompromiß zwischen höchst gegensätzlichen Standpunkten dar. Es erscheint gerechtfertigt, eine kurze Zusammenfassung der Ausgangslage zu geben, obwohl die Rechtsvergleichung sie schon oft geschildert hat. Nach den überlieferten römischen Rechtsquellen bedurfte es einer gegenseitigen Übereinstimmung, u m einem formlosen Vertrag bindende Wirkung zu verleihen. Das Angebot allein entfaltete daher keine Rechtswirkung. Das preußische A L R von 1794 und das österreichische BGB von 1811 nahmen Bestimmungen auf, nach denen das Angebot bindend war. I m übrigen Deutschland galt das Gemeine Recht, das auf dem römischrechtlichen Prinzip aufbaute; als das Vorbild, das dem heutigen deutschen Recht am nächsten gekommen ist, benennt man gewöhnlich das A H G B von 1861. Ein Angebot zwischen Abwesenden war danach für den Anbietenden für denjenigen Zeitraum bindend, „ i n welchem er bei ordnungsmäßiger, rechtzeitiger Absendung 23 Cheshire und Fifoot, The Law of Contract, 6. Aufl. 1964, S. 26.

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der A n t w o r t den Eingang der letzteren erwarten darf" (§319). I n einer allgemeiner formulierten Regel erscheint derselbe Grundsatz von der Bindung an das Angebot i m BGB von 1896. Gleiches gilt i n den skandinavischen Ländern, i n der Schweiz und i n einer großen Anzahl weiterer Staaten 24 . Das skandinavische, das deutsche und das schweizerische Recht repräsentieren unterschiedliche Stadien der Loslösung vom römischrechtlichen Einfluß. I m deutschen und schweizerischen Recht betrachtet man den Vertrag nach wie vor als das grundlegende Rechtsinstitut, während i n Skandinavien das Angebot i n den Vordergrund getreten ist. Die erstgenannten Rechtsordnungen folgen dem pandektenrechtlichen Muster, wonach sich Forderungen aus Vertrag, ungerechtfertigter Bereicherung und Delikt ergeben. M i t dieser Dreiteilung vor Augen hat der BGB-Gesetzgeber die Bestimmungen über die bindende W i r kung des Angebots i n den Abschnitt über den „Vertrag" i m Allgemeinen Teil (§§ 145 - 157) aufgenommen. I n der Schweiz ist der Einfluß des römischen Rechts noch auffallender. Der erste Teil des Obligationenrechts m i t den Vorschriften über die Bindungswirkung des Vertrages trägt die Überschrift „Die Entstehung der Obligationen" und überschreibt den „Ersten Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag". Danach liegt — sowohl nach dem BGB als auch nach dem OR — der Grundsatz von der bindenden Wirkung des Angebots gleichsam außerhalb des Lehrgebäudes; er erscheint eher als ein Zugeständnis an die Erfordernisse des Geschäftsverkehrs. I m skandinavischen Recht ist der Vertrag i n seine beiden Komponenten: Angebot und Annahme zerlegt worden. Die schwedischen Motive heben dazu hervor, daß das Angebot „ein einseitiges Rechtsgeschäft (ausmacht), das den Anbietenden unter der Bedingung bindet, daß i h m die A n t w o r t des Empfängers innerhalb der ausbedungenen oder einer angemessenen Frist zugeht . . . Nach dieser Auffassung besteht der Vertrag nicht aus einer, sondern i n der Tat aus zwei Rechtsgeschäften 25 ." Das anglo-amerikanische stimmt m i t dem skandinavischen Recht insofern überein, als es seine Aufmerksamkeit dem einseitigen Rechtsgeschäft, dem „Versprechen" (promise), zuwendet und den Vertrag nicht als ein Rechtsgeschäft, sondern als ein Produkt zweier oder mehrerer Versprechen betrachtet. Wie i n den Rechtssystemen, die vom römischen Recht ausgehen, hat das Angebot auch nach anglo-amerikanischen Rechtsvorstellungen keine bindende Wirkung, doch beruht dies auf vollkommen anderen Grundannahmen. Der Kläger muß beweisen, daß die Willenserklärung des Beklagten, auf die er seine Klage stützt, 24 Siehe Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. 1, 1936, S. 78. 25 Schwedische Motive (zum Vertragsgesetz), S. 116.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen Teil eines „Aushandelns" (bargain), war, zu dem er selbst beigetragen hat 2 6 . Das Vorhandensein eines solchen Aushandelns ist der eigentliche K e r n der umstrittenen „Lehre vom angemessenen Preis" (doctrine of consideration). Das anglo-amerikanische Recht unterscheidet gegenseitige und einseitige Verträge (bilateral und unilateral contracts). Der gegenseitige Vertrag scheint sich m i t dem römischrechtlichen Konsensualvertrag zu decken. Die Erklärung des Klägers beinhaltet i n diesem Fall den „angemessenen Preis" (consideration) 27 . Das Angebot w i r d daher erst m i t erfolgter Annahme bindend. Beim einseitigen Vertrag liegen die Verhältnisse anders. Ein einseitiger Vertrag liegt u. a. dann vor, wenn der Anbietende sich verpflichtet, einen bestimmten Betrag i n Geld zu zahlen, und von dem anderen Teil verlangt, eine bestimmte Handlung auszuführen 28 . Nach der strengen Common-lawTheorie kann der Angebotsempfänger i n dieser Situation erst dann aus dem Versprechen einen Rechtsanspruch herleiten, wenn er die begehrte Handlung vollständig ausgeführt hat; eine teilweise Ausführung ist unzureichend 29 . Das Schulbeispiel für die Lehre vom einseitigen Vertrag ist der sog. Flaggenstangen-Fall. Der Professor verspricht demjenigen Studenten einen bestimmten Geldbetrag, der die Flaggenstange auf dem Campus emporklettert und den höchsten Punkt erreicht. Kurz bevor ein Student die Spitze erklettert hat, widerruft der Professor sein Versprechen. Die beiden ersten Entwürfe eines internationalen Vertragsgesetzes boten Kompromißlösungen an. I m Entwurf 1935 trennte man zwischen Angeboten m i t einer festgesetzten Annahmefrist und anderen Angeboten. Die ersteren waren bindend bis zum Ablauf der Annahmefrist, die letzteren konnten jederzeit widerrufen werden, vorausgesetzt, daß der Widerruf dem Angebotsempfänger zuging, bevor dieser seine Annahmeerklärung abgesandt hatte 3 0 . Der Entwurf 1936 folgte derselben Linie 3 1 . Ε. M. Meijers, Mitglied der Kommission, die den Entwurf 1936 erstellte, hat einen Bericht über die Grundprinzipien dieses Entwurfs vorgelegt 32 . Nach Meijers bringt der Entwurf eine Auffassung zum Ausdruck, die den römischrechtlichen Traditionen und dem angloamerikanischen Rechtssystem gemeinsam ist; der Entwurf wollte sich nicht allzu weit vom System der Länder entfernen, i n denen der 26 Cheshire , The L a w of Contract, S. 58. 27 Vgl. Cheshire , ebd. S. 59 f. "The typical modern contract is the bargain struck by the exchange of promises." 28 Corbin, On Contracts, Ausgabe in einem Band, 1952, §70. 29 University of Pennsylvania L a w Review 1957, S. 840. so Art. 2 und 3. si Art. 3. 32 Veröffentlicht vom Römischen Institut, 1948; vgl. oben Fußn. 3.

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Grundsatz der Widerruflichkeit des Angebots vorherrschte. Diese Betonung der Übereinstimmung zwischen dem anglo-amerikanischen Recht und den römischrechtlichen Systemen orientiert sich jedoch an der nur äußerlich beobachteten Tatsache, daß das Angebot jeweils für widerruflich gehalten wird. Wie soeben gezeigt wurde, sind die Unterschiede demgegenüber so wesentlich, daß die Ubereinstimmung eher als ein zufälliges Zusammentreffen bezeichnet werden muß. Die Verfasser des Entwurfs 1958 wählten einen anderen Weg und schlugen eine Regelung vor, die dem deutschen und skandinavischen Recht sehr ähnlich war. „ E i n zugegangenes Angebot kann nicht widerrufen werden, sofern sich nicht der Anbietende das Widerrufsrecht i m Angebot selbst vorbehalten hat" (Art. 4 Abs. 2). A u f der Haager Konferenz von 1964 kamen die Gegensätze zwischen dem deutschen und skandinavischen Recht einerseits und dem angloamerikanischen Recht andererseits deutlich zum Ausdruck. Selbst die Delegierten solcher Länder, die wie Frankreich, Holland und Belgien ihr Rechtssystem vom Römischen Recht ableiteten, sprachen sich gegen die vorgeschlagene Regelung i m Entwurf 1958 aus. Änderungsanträge, die für die Widerruflichkeit des Angebots plädierten, kamen von England, Holland, Belgien und Frankreich 3 3 . Auf beiden Seiten glaubte man, seinen Standpunkt auch m i t guten rechtspolitischen Gründen stützen zu können. Bei der Diskussion in der Vertragsgesetz-Kommission sagte der englische Delegierte Reid, man solle doch die praktische Seite i m Auge behalten. Der Kaufmann, der nicht wenigstens hin und wieder ein Angebot widerrufen w i l l , existiere einfach nicht 3 4 . Der ungarische Delegierte Eörsi entgegnete: „Erhält jemand ein Angebot, so braucht er eine gewisse Bedenkzeit. Besteht aber das Risiko des Widerrufs, so w i r d er gezwungen, i n Hast und Eile anzunehmen 35 ." Die Delegierte der Vereinigten Staaten, Mentschikoff, schlug einen Kompromiß vor, der auf einer späteren Sitzung schriftlich vorgelegt wurde. Ihre Lösung glich fast ausnahmslos der Regelung i m Entwurf 1936. Ein Angebot, das eine bestimmte Annahmefrist enthalte, sollte bindend, alle übrigen Angebote sollten widerruflich sein 36 . Den end33 Vgl. v. Caemmerer, RabelsZ 1965, S. 120. 34 Doc. Conf./CR/Com. F. 4. 35 Ebd. 36 Der Kompromißvorschlag lautet im Original: "An offer which contains an express time within which it may be accepted or which otherwise indicates that it is firm for a fixed period cannot be revoked within the time fixed unless the revocation arrives at the address of the person to whom the offer has been sent prior to or at the time as the offer. A l l other offers are open to acceptance for a reasonable time but may be revoked by arrival of a revocation at the address of the offeree prior to his dispatch of an

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen gültigen Text der Vorschrift formulierte eine Arbeitsgruppe, die aus Delegierten aus USA, Holland, Westdeutschland und dem schwedischen Vertreter der Internationalen Handelskammer, Lagergren, bestand. Welche Bedeutung hat nun der i n A r t . 5 Abs. 2 niedergelegte Kompromiß, und welche Konzessionen sind i m Interesse der internationalen Einheitlichkeit gemacht worden? Als Grundprinzip erscheint der angloamerikanische Grundsatz der Widerruflichkeit des Angebots. Welche Ausnahmen sind zugunsten des entgegengesetzten Prinzips aufgestellt worden? Wie Hellner i n seinem Bericht vom 18.12.1964 betont, sei die englische Regelung, daß das Angebot bei gegenseitigen Verträgen zurückgenommen werden kann, zwingendes Recht geworden. Eine Erklärung des Angebotsempfängers, daß er sich selbst als gebunden betrachte, würde demnach ohne rechtliche Wirkung sein. Das amerikanische Handelsgesetzbuch, 2-205, kennt zwar die Möglichkeit eines verpflichtenden Angebots, stellt hierfür aber bestimmte Bedingungen auf. Das Angebot muß sich auf den Verkauf beweglicher Sachen beziehen und i n einem unterzeichneten Schriftstück enthalten sein, welches das Angebot außerdem als unwiderruflich bezeichnet. Diese Regelung versteht sich als Ausnahme von dem unausgesprochenen Prinzip, daß ein Angebot widerrufen werden kann. Zwischen Art. 5 des internationalen Vertragsgesetzes und der Vorschrift i n 2-205 des amerikanischen Handelsgesetzbuches besteht m i t h i n ein erheblicher Unterschied. Das Vertragsgesetz schreibt für das Angebot keine besondere Form vor. Nicht einmal eine ausdrückliche Erklärung über die Unwiderruflichkeit ist erforderlich; diese kann sich vielmehr schon aus den sonstigen Umständen der Situation ergeben. (Nach dem Gesetzeswortlaut genügt es, daß das Angebot „anderweitig" seine Bindungswirkung zu erkennen gibt. I m übrigen kann gem. A r t . 5. Abs. 3 die Unwiderruflichkeit des Angebots aus „den Umständen, den vorbereitenden Verhandlungen, einer zwischen den Parteien üblich gewordenen Praxis oder aus Handelsbrauch" hervorgehen.) Die Vorschrift i n A r t . 5 Abs. 2 ist unklar, soweit es u m Angebote geht, deren bindender Charakter nicht feststeht. Solche Offerten können dem Grundsatz nach widerrufen werden, aber nur unter der Voraussetzung, daß ein Widerruf nicht gegen Treu und Glauben oder die guten Verkehrssitten verstößt ("unless the revocation is not made i n good faith or i n conformity w i t h fair dealing ,, ). Es ist schwer herauszufinden, was mit dieser Treu-und-Glauben-Formel eigentlich beabsichtigt war. Mentschikoffs ursprünglicher Vorschlag greift diese acceptance or his performance of an act constituting an acceptance under article 5." (Conf./CR/Com. F/6)

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Ausnahmeregel nicht auf. Ebensowenig diente der Entwurf 1936 als Vorbild. Die Kommissionsverhandlungen zeigen große Unterschiede i n den Auffassungen der einzelnen Mitglieder. So forderte ζ. B. nach der Verlesung der Vorlage des Arbeitsausschusses der ungarische Delegierte Eörsi folgenden Zusatz: „ E i n Angebot kann nur i n solchen Fällen widerrufen werden, i n denen aufgrund von Umständen, die erst nach Abgabe des Angebots eingetreten sind, der Zweck des Vertrages i n gleicher Weise gefährdet ist, wie er gefährdet wäre, wenn dieselben Umstände erst nach Vertragsschluß einträten 3 7 ." Die amerikanische Delegierte protestierte und erklärte, daß diese Formel keinen Kompromiß bedeutete. Der Vertreter der Internationalen Handelskammer, Lagergren, wies darauf hin, daß der Anbietende i n solchen Fällen stets i n gutem Glauben sein Angebot widerrufen könnte 3 8 . Der amerikanische Einwand gegen Eörsis Vorschlag leuchtet ein, w e i l dieser darauf abzielt, die Unwiderruflichkeit des Angebots zum Hauptprinzip zu erheben. Gleichzeitig erinnern Eörsis Antrag und Lagergrens K o m mentar dazu an die englische „Frustrations-Lehre", derzufolge der A n bietende sein Verkaufsangebot immer dann i n gutem Glauben widerruft, wenn die Ware nach Abgabe des Angebots untergegangen ist oder eine vergleichbare Situation vorliegt 3 9 . Meiner Ansicht nach führt diese Spur jedoch i n die falsche Richtung. Das internationale Vertragsgesetz stellt als Hauptregel die Widerruflichkeit auf. Die Ausnahme betrifft solche Fälle, bei denen die Rücknahme „gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Verkehrssitten" verstößt. Die Treu-und-Glauben-Klausel schreibt m. a. W. die Prüfung des bösen Glaubens vor: die Zurücknahme ist unzulässig, wenn sie i m bösen Glauben geschieht 40 . Die Suche nach Fallkonstellationen, i n denen der Anbietende gegen Treu und Glauben verstößt, wenn er sein Angebot widerruft, fällt aber nicht m i t der Frage zusammen, i n welchen Situationen die Rücknahme eines Angebots offensichtlich zulässig ist. Es erscheint sehr wahrscheinlich, daß den Verfassern des A r t . 5 verschiedene Bestimmungen des BGB vorschwebten, die dem Richter einen Ermessensspielraum einräumen. Besonders naheliegend ist der Verweis auf § 242, der i m einleitenden Teil des „Rechts der Schuld37 Conf./CR/Com. F / l l . 38 Ebd. 3» Zur „Frustrations"-Lehre vgl. Cheshire, The Law of Contract, S. 478 f. 40 Die französische Delegation wollte den englischen Text: „unless the revocation is not made in good faith" ersetzen durch die positiv gewendete Formulierung: „unless the revocation is made in bad faith" („à moins que la révocation ne soit faite de mauvaise foi"). Siehe Conf./CR/Com. F/11.

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Verhältnisse" steht: „Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben m i t Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern." Auch die Vorschrift des §826 über die Haftung für vorsätzliche, sittenwidrige Schädigung ist zu erwähnen. Ebenso liegt i n der französischen Theorie vom Rechtsmißbrauch („Pabus du droit") eine gewisse Parallele 4 1 . Regeln solcher A r t , die i n allgemeinen Wendungen dem Gericht die Entscheidung überlassen, enthalten indessen ein erhebliches Unsicherheitsmoment. Es w i r d sich kaum verhindern lassen, daß die Anwendung derartiger Vorschriften von Land zu Land variiert. Ganz allgemein kann man davon ausgehen, daß englische und amerikanische Gerichte eher geneigt sind, Generalklauseln relativ eng auszulegen; dies gilt auch für die schwedische Gerichtspraxis. I n Deutschland hat demgegenüber die allgemeine Regel des § 242 BGB eine sehr weitgestreckte Anwendung erfahren. Daher ist es möglich, daß sich hinter der Treu-und-Glauben-Klausel i n A r t . 5 Abs. 2 des internationalen Vertragsgesetzes nicht viel mehr verbirgt als internationale Uneinigkeit. I V . Die verschiedenen Arten der Annahme A r t . 6 erläutert, was eine Annahme ist bzw. welchen Handlungen eine Annahmeerklärung innewohnt. Er lautet: „1. Die Annahme besteht aus einer Erklärung, welche dem A n bietenden, auf welche A r t und Weise auch immer, zugeht. 2. Die Annahme kann auch bestehen aus dem Absenden oder des Kaufpreises oder jeder anderen Handlung, die einer i. S. des Abs. 1 aufgrund der besonderen Eigenart des einer zwischen den Parteien gebräuchlichen Verkehrsform Handelsbrauch gleichzuerachten ist."

der Ware Erklärung Angebots, oder nach

Einem amerikanischen Juristen müssen beide Absätze dieses A r t . 6 wohlbekannt vorkommen. Sie entsprechen weitgehend den Vorschriften i n 2-206-1 (a) und (b) des Handelsgesetzbuches der U S A 4 2 . Für einen deutschen oder skandinavischen Juristen drückt Abs. 1 lediglich eine 41 Siehe Marty / Raynaud, Droit civil, Bd. 2, Nr. 103. 42 Uniform Commercial Code, 2-206-1: "Unless otherwise unambiguously indicated by the language or circumstances (a) an offer to make a contract shall be construed as inviting acceptance in any manner and by any medium reasonable in the circumstances; (b) an order or other offer to buy goods for prompt or current shipment shall be construed as inviting acceptance either by a prompt promise to ship or by the prompt or current shipment of conforming or non-conforming goods, but such a shipment of non-conforming goods does not constitute an acceptance if the seller seasonably notifies the buyer that the shipment is offered only as an accomodation to the buyer."

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Schmidt

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selbstverständliche Regel aus, die für alle Willenserklärungen gilt. Abs. 2 hat eine gewisse Entsprechung i n § 151 Abs. 1 BGB 4 3 . Zwar ist die geregelte Materie gleich, doch unterscheiden sich, wie aus dem folgenden hervorgeht, die Lösungswege. Das anglo-amerikanische Recht differenziert, wie bereits angeführt, gegenseitige und einseitige Verträge, wobei die ersteren die gewöhnlichsten sind und die letzteren nur i n besonderen Situationen A n wendung finden. Beim zweiseitigen Vertrag liegt i n der Willenserklärung der Gegenseite der „angemessene Preis" (consideration), womit sich zwei Willenserklärungen gegenüberstehen. I m Falle des einseitigen Vertrages w i r d die Bestimmung des „angemessenen Preises" etwas anderem als der Abgabe einer Willenserklärung entnommen, gewöhnlicherweise der Vornahme einer Handlung. Dann gibt es nur einen durchsetzbaren Anspruch, auf den eine Klage gestützt werden kann, nämlich das Versprechen des Anbietenden. Das Recht, aus diesem Angebot zu klagen, setzt jedoch voraus, daß der Kläger die ausbedungene Handlung als Gegenleistung (den „angemessenen Preis") ausgeführt hat 4 4 . Der Charakter der Annahme hängt also nach anglo-amerikanischem Recht davon ab, ob es sich u m einen gegenseitigen oder u m einen einseitigen Vertrag handelt. I m ersten Falle besteht die Annahme aus der Abgabe einer Willenserklärung und i m zweiten aus der Ausführung der vom Anbietenden vorausgesetzten Handlung. Für einen englischen oder amerikanischen Juristen erscheint es klar, daß A r t . 6 Abs. 1 den gegenseitigen und Abs. 2 den einseitigen Vertrag behandelt. Hintergrund der Vorschrift i n Abs. 1, daß die Annahme dem A n bietenden „auf welche A r t und Weise auch immer" zugehen kann, ist die Tatsache, daß der Anbietende nach anglo-amerikanischer Rechtsauffassung befugt ist, die Form der Annahme bindend vorzuschreiben. Ist eine solche Bestimmung getroffen worden, daß ζ. B. die A n t w o r t ausschließlich per Post zu erfolgen hat, muß sie befolgt werden. Der Anbietende kann es dem Angebotsempfänger aber auch freistellen, A r t und Weise der Annahmeerklärung selbst zu wählen. Vor diesem Hintergrund liest sich A r t . 6 Abs. 1 des internationalen Vertragsgesetzes als Auslegungsregel. Die Form der Annahme stimmt mit der des Angebots unabhängig davon überein, i n welcher Weise die Annahme dem Anbietenden mitgeteilt wurde (mündlich, schriftlich oder durch Telex). Der offizielle Kommentar zum amerikanischen Handelsgesetz43

„Der Vertrag kommt durch die Annahme des Antrages zustande, ohne daß die Annahme dem Antragenden gegenüber erklärt zu werden braucht, wenn eine solche Erklärung nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten ist oder der Antragende auf sie verzichtet hat." 44 Vgl. Corbin, On Contracts, 1952, §§70, 77, 82; und Williston, On Contracts, Bd. 1, 1936, § 13.

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buch gibt an, daß „jede vernünftige Übermittlungsart für die Annahme als zulässig zu betrachten ist, es sei denn, der Anbietende hat sie klar und deutlich für unannehmbar erklärt" 4 5 . I n den Augen eines deutschen oder skandinavischen Juristen w i r k t es unrealistisch, dem Anbietenden die Befugnis einzuräumen, die Form der Annahme vorzuschreiben. Abgesehen von Verträgen, bei denen gesetzliche Formvorschriften eingehalten werden müssen, hat noch niemand die vollständige Wahlfreiheit des Angebotsempfängers bezweifelt, sofern nur die Regeln über Annahmefristen eingehalten werden. A r t . 6 Abs. 1 erscheint uns daher wegen seines selbstverständlichen Inhalts als überflüssig. Es ist wichtig festzuhalten, welche Absicht hinter der Regelung des A r t . 6 Abs. 1 stand. Die Verfasser der Konvention wollten die Vorschrift i n 2-206-1 (a) des amerikanischen Handelsgesetzbuches exakt übernehmen. Bei gegenseitigen Verträgen soll das Angebot als eine Aufforderung an den anderen Teil ausgelegt werden, die Annahme „auf welche A r t und Weise auch immer" zu erklären. Wie i m folgenden Abschnitt (V.) genauer darzulegen sein wird, ist von zwei bekannten Rechtswissenschaftlern die Ansicht vertreten worden, daß A r t . 6 Abs. 1 für eine andere Frage von Bedeutung sei; er soll die Forderung aufstellen, daß die Annahme dem Anbietenden zugeht. Es sei vorausgeschickt, daß diese Auslegung nach Meinung des Verfassers auf einem Mißverständnis beruht. Daß A r t . 6 Abs. 2 für den amerikanischen Juristen eine Selbstverständlichkeit ausdrückt, wurde bereits angedeutet. Bei einseitigen Verträgen liegt die Annahme i n der Vornahme einer Handlung. Das Absenden von Waren ist ein typisches Beispiel für eine derartige Annahme. Für den kontinentalen Juristen enthält Abs. 2 allerdings eine Neuheit. Der Rechtshistoriker mag Ähnlichkeiten zwischen dem einseitigen Vertrag und dem römischrechtlichen Realvertrag feststellen, doch ist nach heutiger Auffassung der Kaufvertrag das moderne Gegenstück zum römischen Konsensualvertrag „emptio-venditio", demzufolge die Annahme grundsätzlich die Gestalt einer Willenserklärung haben muß. Der Wille des Angebotsempfängers muß dem Anbietenden erkennbar mitgeteilt werden. Die Verfasser des deutschen BGB waren davon überzeugt, daß es zu den Fundamenten des Bürgerlichen Rechts gehörte, den Kaufvertrag als Konsensualvertrag einzuordnen. Aus der Praxis waren gleichwohl Beispiele dafür bekannt, daß die Annahme 4 5 Kommentar, hrsg. von der National Conference of Commissioners on Uniform State Laws und dem American Law Institute. I m Original lautet das Zitat: " . . . any reasonable manner of acceptance is intended to be regarded as available unless the offerer has made quite clear that it w i l l not be acceptable".

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auch i n einer Realhandlung liegen konnte, doch war dies die Ausnahme. Als Aufgabe des Gesetzgebers wurde es nun angesehen, A r t und Umfang der Ausnahmen näher zu bestimmen. I n diesem Sinne muß § 151 Abs. 1 BGB gelesen werden 4®. Der kontinentale Jurist sieht demzufolge i n A r t . 6 Abs. 2 des internationalen Vertragsgesetzes eine Ausnahme von der Regelkonzeption des Vertragsschlusses, die sich aus den Erfordernissen des internationalen Handels ableitet. Diese Einschätzung liegt auch den Motiven zum Entwurf 1958 zugrunde 47 . Das anglo-amerikanische common law und das europäisch-kontinentale Recht haben das Prinzip gemeinsam, daß ein Vertrag erst vorliegt, wenn Angebot und Annahme deckungsgleich sind. Möglicherweise ist das amerikanische Recht i m Hinblick auf die einseitigen Verträge weniger strikt. Der Leser des A r t . 6 Abs. 2 fragt sich jedenfalls, wie der Fall zu beurteilen ist, daß abgeschickte Waren nicht „vertragsgemäß" sind, d. h. nicht dem Angebot entsprechen. Nach amerikanischer Vorstellung ist eine Realhandlung auch dann als Annahme zu werten, wenn sie nicht m i t dem Angebot übereinstimmt. Denn dem Anbietenden soll die Befugnis zustehen, nachträglich als Annahme zu akzeptieren, was abweichend vom ursprünglichen Angebot geliefert wurde. Das Handelsgesetzbuch der USA enthält immerhin eine Regel mit diesem Inhalt; nach 2-206-1 (b) soll ein Angebot als die Aufforderung zu betrachten sein, vertragsgemäße oder nicht-vertragsgemäße Waren zu liefern. Die Lieferung nicht-vertragsgemäßer Ware ist jedoch dann nicht als Annahme anzusehen, wenn der Verkäufer dem Käufer rechtzeitig mitteilt, daß die Lieferung als „Kundendienst" (accomodation) aufzufassen sei 48 . Nach europäischer Vorstellung w i r d eine Realhandlung des Angebotsempfängers anhand folgender Fragestellung beurteilt: Hat sich der Empfänger des Angebotes i n Übereinstimmung mit dessen Bedingungen vertragsgemäß binden wollen? Die Ansichten dazu sind jedoch geteilt. Der deutsche Jurist w i r d sich dem Schema der Willenstheorie anschließen und nach dem wirklichen Willen des Angebotsempfängers fragen, während es i n Skandinavien näher liegt, i n Anknüpfung an die Vertrauenstheorie jede Handlung als Annahme zu bezeichnen, welche sich einem vernünftigen Anbietenden als solche darstellt 4 9 . 4β Siehe Fußn. 43; vgl. dazu auch Nipperdey, Allgemeiner Teil, 1960, S. 994; in der Literatur zu § 151 BGB wird i m übrigen einheitlich herausgestellt, daß diese Vorschrift einen der wenigen Fälle betrifft, in denen eine Willenserklärung auch ohne Zugang rechtswirksam wird. 4 7 Kommentar zu Art. 5 des Entwurfs 1958. 48 Vgl. den Originaltext, oben Fußn. 42, und Andersons Uniform Commercial Code, Bd. 1, 1961, S. 124. 4« Vgl. Folke Schmidt, Regelfall, Parteiwille und Verschulden, in diesem Band, S. 55 ff., S. 57 ff.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen Die Diskussion auf der Haager Konferenz 1964 wurde geprägt von den unterschiedlichen nationalen Auffassungen zu der Ausgangsfrage, m i t welcher Wirkung die Annahme i n Gestalt der Absendung nichtvertragsgemäßer Waren auszustatten sei. Nach A r t . 6 Abs. 2 ist das Abschicken der Ware oder eine andere Realhandlung „aufgrund der besonderen Eigenart des Angebots, einer zwischen den Parteien gebräuchlichen Verkehrsform oder nach Handelsbrauch" der Annahmeerklärung gleichzuerachten. I m Entwurf 1958 hatte die entsprechende Bestimmung einen deutlicheren Wortlaut. Damit eine Realhandlung als Annahme betrachtet werden könne, müsse sie „zu den Bedingungen des Angebots" (aux conditions de l'offre) ausgeführt worden sein. Diese Worte wurden gegen den Protest vieler Teilnehmer an der Konferenz gestrichen 50 . Zum Teil ging dies auf eine Intervention der amerikanischen Delegierten Mentschikoff zurück, nach deren Ansicht auch das Absenden nicht-vertragsgemäßer Waren als Annahme zu betrachten sei, m i t der Folge, daß der geschädigten Partei eine Ausgleichsforderung nach den Vorschriften des Kaufrechts zustehe 51 . Das internationale Vertragsgesetz klärte diesen Punkt nicht vollständig. Nach v. Caemmerer 52, Mitglied der Vertragsgesetz—Kommission, hatte die Wendung „zu den Bedingungen des Angebots" i m Entwurf 1958 die Funktion klarzustellen, daß die Realhandlung des Angebotsempfängers deutlich zum Ausdruck bringen müsse, daß dieser den Vertrag erfüllen wolle. Durch die Streichung wollte man sicherstellen, daß der Verkäufer auch bei nicht-vertragsgemäßer Lieferung zu vertragsrechtlichen Sanktionen sollte greifen können; i h m sollte nicht der Einwand entgegengehalten werden können, daß ein Vertrag überhaupt nicht zustande gekommen sei. Die Protokolle der Kommissionsverhandlungen geben ihrerseits keine genaue Auskunft über den Grund, warum die zitierten Worte gestrichen wurden, doch kommt der Leser zu dem Schluß, daß v. Caemmerer die entscheidenden Gesichtspunkte zutreffend wiedergegeben hat5®. Nach alledem erscheint es schwierig anzugeben, wie die richtige Auslegung von A r t . 6 Abs. 2 auszusehen hat. I m Hinblick auf die Lieferung nicht-vertragsgemäßer Waren vertritt der Verfasser folgende A u f fassung zu Abs. 2. Hat der Käufer Grund zu der Annahme, daß der Verkäufer m i t dem Willen zur Vertragserfüllung handelte — sei es nun wegen des Glaubens des Verkäufers, die gelieferte Ware stimmte so Die Änderung wurde auf der 6. und 8. Sitzung diskutiert. Siehe Conf./ CR/Com. F/6 und Conf./CR/Com. F/8. ßi Conf./CR/Com. F/6. 52 RabelsZ 1965, S. 124. β» Diese Frage wurde am Anfang der 6. Sitzung und am Ende der 8. Sitzung in der Kommission diskutiert. Siehe Conf./CR/Com. F/6, 8.

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m i t dem Angebot überein, oder sei es wegen seiner Annahme, der Fehler oder Mangel sei nicht wesentlich —, so ist der Käufer zu der Erklärung berechtigt, daß die Ware auf der Grundlage des Angebots geliefert wurde, wonach er sich auf die normalen Rechtsinstitute des Kauf rechts berufen kann. Es ist jedoch zuzugestehen, daß diese Auslegung auf schwankendem Boden steht, nicht zuletzt deswegen, weil sie m i t den mutmaßlichen Absichten der Verfasser des internationalen Vertragsgesetzes arbeitet. Immerhin gibt es aber noch ein Argument zu ihren Gunsten. Wie i m Abschnitt V I I . noch näher auszuführen sein wird, verleiht das internationale Vertragsgesetz dem Anbietenden i n einer anderen Situation die Befugnis, den Angebotsempfänger an den Inhalt einer Erklärung zu binden, die dieser als Annahme abgegeben hat. V. Das Zugangsprinzip und sein Anwendungsbereich Gemäß den skandinavischen Vertragsgesetzen kann derjenige, der ein Angebot oder eine A n t w o r t hierauf abgibt, seine Willenserklärung solange widerrufen, wie diese dem anderen Teil noch nicht zugegangen ist oder spätestens zugleich m i t dem Zugang. Das BGB verwendet ein ähnliches Prinzip, allerdings m i t dem Unterschied, daß die Widerrufsmöglichkeit schon m i t dem Augenblick des Zugangs abgeschnitten wird. Es ist daher ohne Einfluß, wann der Empfänger von der M i t teilung tatsächlich Kenntnis nimmt (§ 130 BGB), v. Caemmerer 54 und Hellner 55 vertreten die Auffassung, daß A r t . 6 Abs. 1 für die Frage von Bedeutung ist, ob der Angebotsempfänger das Risiko dafür tragen sollte, daß seine Annahmeerklärung dem Anbietenden auch w i r k l i c h zugeht, v. Caemmerer beschränkt sich auf die allgemeine Aussage, daß das Zugangsprinzip auch für die Annahme gelte, während Hellner weiter ins Detail geht. Der Ausdruck „zugeht" (communicated to the offeror) i n A r t . 6 Abs. 1 heißt nach A r t . 12, daß eine Mitteilung dem Empfänger an dessen Adresse abgegeben wird 5 ®. Hieraus geht nach Hellner hervor, „daß die Übermittlung der Annahme auf Risiko des Absenders geschieht, so daß der Anbietende nicht gebunden wird, wenn die Annahme nicht bei i h m eintrifft. Damit hat man klar von den englischen und amerikanischen Rechtsgrundsätzen Abstand genommen, nach denen i n vielen Fällen — vor allem, wenn die Annahme per Post abgeschickt w i r d — schon die Absendung als solche genügt, u m den Anbietenden zu binden." 54 RabelsZ 1965, S. 123. w Bericht vom 18.12.1964. 5θ Art. 12 Abs. 1 des internationalen Vertragsgesetzes lautet: »„Zugehen' i m Sinne dieses Gesetzes heißt Ablieferung bei der Adresse der Person, an welche die Mitteilung gerichtet ist."

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen Es soll nicht bestritten werden, daß das internationale Vertragsgesetz auf dem Zugangsprinzip aufbaut. Schon der Hinweis auf die Definition des A r t . 12 würde genügen, doch kommt das Zugangsprinzip auch i n Art. 8 Abs. 1, der die Dauer der Annahmefrist behandelt, und i n A r t . 10 zum Ausdruck, demzufolge eine Annahmeerklärung nicht zurückgenommen werden kann, sofern der Widerruf dem Anbietenden nicht vor oder gleichzeitig mit der Annahme zugeht. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf den Anwendungsbereich des genannten Prinzips. Gibt es Ausnahmen vom Zugangsprinzip? Zunächst ist zu erwähnen, daß das Zugangsprinzip nicht auf solche Annahmen anwendbar ist, wie sie i n A r t . 6 Abs. 2 beschrieben werden. Nach anglo-amerikanischem Recht hat das Zugangserfordernis ohneh i n keine Bewandtnis für einseitige Verträge. Wie Williston 57 bemerkt, hat der Anbietende, der von der Annahme Kenntnis erlangen möchte, dies ausdrücklich zur Bedingung seines Angebots zu machen. Anderenfalls obliegt es i h m selbst zu ermitteln, ob der andere Teil die begehrte Handlung ausgeführt hat. Das internationale Vertragsgesetz übernimmt diese Regelung 68 . Diese Ausnahme vom Zugangsprinzip erwähnt auch Hellner i n seiner Kommentierung zu A r t . 6 Abs. 2. Es gibt indessen eine weitere Ausnahme. Der Verfasser geht davon aus, daß man zwischen feststehenden (unwiderruflichen) und widerruflichen Angeboten unterscheiden sollte. I n dem Fall, daß das A n gebot zurückgenommen werden kann, ist m. E. das Zugangsprinzip für die Mitteilung über die Annahme unanwendbar. Für diese These spricht eine Anzahl von Argumenten. Die bereits behandelte Kompromißformel des A r t . 5 Abs. 2 stellt den Grundsatz auf, daß das Angebot widerruflich ist. I n diesem Zusammenhang muß man die Vorschrift des A r t . 5 Abs. 4 sehen, nach der ein Widerruf nur dann wirksam wird, wenn er dem Empfänger des Angebots zugeht, bevor dieser die Annahme abgesandt hat. Der Anbietende ist also schon von dem Zeitpunkt an gebunden, zu welchem die A n t w o r t abgeschickt wird. Eine Anwendung des Zugangsprinzips würde für diesen Fall (Art. 5 Abs. 4) bedeuten, daß man als weiteres K r i t e r i u m forderte, daß die Mitteilung über die Annahme innerhalb der von A r t . 8 vorgeschriebenen Annahmefrist nicht nur abgeschickt wurde, sondern dem Anbietenden auch zugegangen ist. Insoweit könnte man also vom Prinzip der zwei Kriterien sprechen. Legt man Hellners „Zwei-Kriterien-Prinzip" zugrunde, wäre die praktische Bedeutung von A r t . 5 Abs. 4 verschwindend gering. Soweit ersichtlich, 57 On Contracts, §68. 58 V g l . Art. 8, bes. Abs. 3.

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lag eine solche Auslegung nicht i m Interesse der Verfasser des internationalen Vertragsgesetzes, jedenfalls nicht der anglo-amerikanischen Delegierten. Die unterschiedlichen Standpunkte zu dieser Frage mögen anhand des folgenden Falles veranschaulicht werden. A i n Los Angeles sendet am 1. Febr. per Luftpost ein Angebot an Β i n Stockholm. Das Angebot ist widerruflich. W i r d die Laufzeit des Briefes m i t drei Tagen angenommen, so errechnet sich die Annahmefrist gemäß A r t . 8 Abs. 1 folgendermaßen: 1 . - 3 . Febr. (Briefbeförderung Los Angeles — Stockholm), 4 . - 5 . Febr. (Bedenkzeit für B), 6 . - 8 . Febr. (Briefbeförderung Stockholm — Los Angeles). Nach A r t . 5 Abs. 4 endet das Widerrufsrecht des A i n dem Augenblick, da Β seinen Antwortbrief abschickt. Nehmen w i r einmal an, daß Β dies am selben Tag tut, an dem er das Angebot erhält — am 4. Febr. —, und daß der Postsack irgendwo unterwegs gestohlen wird, so daß die A n t w o r t nie ankommt. A m 5. Febr. telegrafiert A einen Widerruf an B, und das Telegramm t r i f f t noch am selben Tag bei Β ein. Β antwortet am 6. Febr., indem er eine Durchschrift seines Annahmebriefes vom 4. Febr. übersendet. Dieses Schreiben erreicht A am 9. Febr. bzw. am Tage nach Auslaufen der A n nahmefrist. Nach meiner Ansicht ist A gebunden, nach Hellners jedoch nicht 5 9 . Das Zugangsprinzip herrscht i m deutschen und skandinavischen Recht als eine generelle, auf alle Willenserklärungen anwendbare Grundregel. Die größte Bedeutung erlangt es i m Zusammenhang mit der Regelung der Bindung an das Angebot. Als Grundprinzip w i r d es bereits i n § 130 des deutschen BGB formuliert, während es ansonsten zu dem System gehört, welches die Unwiderruflichkeit des Angebots ausdrücklich gesetzlich festlegt. I n der rechtsvergleichenden Literatur ist das Zugangsprinzip bislang als Alternative zur anglo-amerikanischen Lehre dargestellt worden, die i m Fall Adams gegen Lindsell dahingehend entwickelt wurde, daß das Angebot widerruflich sei, die Widerruflichkeit aber m i t Erklärung der Annahme ende. Die Bindungsw i r k u n g trete bei dem Anbietenden bereits mit Abgabe des Annahmebriefes bei der Post ein, und dies selbst dann, wenn Störungen bei der Beförderung auftreten und der Brief verspätet eintrifft. Insoweit w i r d das Zugangsprinzip also stets verknüpft m i t der Frage nach der B i n dung an das Angebot 6 0 . Daher hat man sich nicht vorstellen können, 5» Hellners Standpunkt wird offenbar von Lagergren geteilt; siehe Lagergren in: The Journal of Business Law 1966, S. 24. Siehe auch Michael Aubry, The International L a w Quarterly 1965, S. 1018 f., dessen Auffassung allerdings nicht klar zu ermitteln ist. 60 Vgl. Rabel, Das Recht des Warenkaufs, 1936, S. 89; Cheshire , The L a w of Contract, S. 42; und Nussbaum, Comparative Aspects of the AngloAmerican Offer-and-Acceptance Doctrine, Columbia L a w Review 1936, Nr. 36, S. 920.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen daß dieses Prinzip auch für widerrufliche Angebote gelten könnte. Den Vorarbeiten zum internationalen Vertragsgesetz läßt sich entnehmen, daß es auch für solche Angebote zutreffen sollte, die nach A r t . 5 Abs. 2 als widerruflich anzusehen sind. Der Entwurf 1958 ging, wie bereits erwähnt, von dem deutsch-skandinavischen Grundsatz aus, daß das Angebot unwiderruflich ist 8 1 . Der Anbietende kann sich allerdings i m Angebot selbst den Widerruf vorbehalten. I m Hinblick auf diesen Fall wurde i n A r t . 4 Abs. 4 eine Vorschrift aufgenommen, die A r t . 5 Abs. 4 entspricht. Ein Widerruf sollte demnach unwirksam sein, wenn er nicht dem Angebotsempfänger zugegangen ist, „bevor dieser die Annahme abgesandt hat" (avant que celui-ci ait expédié son acceptation). Nichts deutet darauf hin, daß die Verfasser das weitere K r i t e r i u m (im Sinne Hellners) aufstellen w o l l ten, daß die Annahme dem Anbietenden auch zugegangen sein müsse. Ein Hinweis i n den Motiven des Entwurfs 1958 deutet eher auf das Gegenteil hin. Die Regelung des Abs. 4 w i r d dort als eine „leichte Modifikation des Zugangsprinzips" bezeichnet 62 . Die belgische Regierung faßte den Entwurf 1958 i n ihrer Stellungnahme i n der soeben angegebenen Weise auf. Dies geht aus der Tatsache hervor, daß man die Verwendung des Wortes „expédié" für mißglückt hielt 6 3 , weil man daraus den irrtümlichen Schluß ziehen könnte, daß der Entwurf den Grundsatz übernommen habe, es komme entscheidend auf den Absendezeitpunkt an. Tunc erklärte diese K r i t i k für eigentlich unberechtigt, empfahl aber doch, das Wort „expédié" zur Vermeidung von Mißverständnissen zu streichen. Sein Formulierungsvorschlag ging dahin, dem Widerruf eines Angebots die Wirksamkeit zu versagen, wenn er nicht dem Angebotsempfänger „vor der Annahme" (avant acceptation) zugegangen sei 64 . Tuncs Vorschlag ist inhaltlich unklar. Begreift man nämlich „ A n nahme" so, daß sie das Zugangserfordernis bereits enthält, so würde der Vorschlag darauf hinauslaufen, vollständig vom Absendezeitpunkt der Annahme abzusehen, und dies wäre etwas ganz anderes als Hellners „Zwei-Kriterien-Prinzip". Eine gründliche Lektüre der Gesetzesvorarbeiten führt zu der Überzeugung, daß Tuncs Alternative nur wenig begründet war. Der Antrag des belgischen Vertreters auf der Haager Konferenz, die Vertragsgesetz-Kommission möge den Textvorschlag Tuncs annehmen, fand keine Mehrheit 6 5 . « 62 63 64 65

Siehe oben S. 126. Entwurf 1958, S. 19. Doc./F/Prep./2, S. 6. Doc./F/Prep./3, S. 7. Doc./CR/Com. F/5.

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Auch die folgende Begebenheit auf der Haager Konferenz stützt die Ansicht des Verfassers, daß das Zugangsprinzip nicht auf die Annahmeerklärung i m Anschluß an ein widerrufliches Angebot anwendbar ist und daß der Anbietende i n diesem Fall vom Zeitpunkt der Absendung der Annahme an gebunden ist, selbst wenn diese Mitteilung ihn nicht vor Ablauf der i n Art. 8 vorgeschriebenen Annahmefrist erreichen sollte. Als die Vorlage zu A r t . 5 Abs. 4 auf der 11. Sitzung diskutiert wurde, lag der Kommission folgender Formulierungsvorschlag vor: „Der Widerruf eines Angebots w i r d nur dann wirksam, wenn er zugegangen ist, bevor er (der Angebotsempfänger) seine Annahme abgeschickt hat . . . " ("The revocation of an of fer shall only have effect if i t has been communicated before he has sent off his acceptance . . . " ) . Das Protokoll vermerkt, daß diese Formulierung Anlaß zu einer sprachlichen Auseinandersetzung gab: „Der Ausdruck »abgeschickt4 wurde i m englischen Text beibehalten, weil einige Delegationen meinten, daß der Gebrauch des Wortes ,geschickt' allein die unglückliche Frage nach der A n k u n f t der Annahme aufgeworfen hätte." ("The expression ,sent off' was retained i n the English text, for certain delegations considered that the word ,sent' alone raised the unfortunate question of the arrival of the acceptance.") Ein weiteres Argument spricht für die hier vertretene Auffassung. Wie unten zu V I I . noch auszuführen ist, hat der Anbietende das Recht, eine verspätete Annahme als rechtzeitig zugegangen zu betrachten, vorausgesetzt, er teilt dies dem Annehmenden unverzüglich mit. Während der Kommissionsverhandlungen hob die amerikanische Delegierte Mentschikoff zu recht hervor, daß i n solchen Fällen der Vertrag m i t dem Absenden dieser Mitteilung des Anbietenden an den Angebotsempfänger zustande kommt* 6 . Es erscheint ausgeschlossen, für diese Fallkonstellation das zusätzliche Erfordernis aufzustellen, daß diese Mitteilung auch zugegangen sein müsse. Es ist aber zuzugeben, daß das letztgenannte Argument nicht sonderlich schwer wiegt. Immerh i n beleuchtet es die Tatsache, daß das internationale Vertragsgesetz ein Konglomerat von Regeln verschiedensten Ursprungs ist, bei dessen Auslegung nicht dasselbe Maß an Folgerichtigkeit und konsequentem Aufbau vorausgesetzt werden kann wie etwa bei gewöhnlichen nationalen Gesetzen. Aus dem Voranstehenden ergibt sich, daß das internationale Vertagsgesetz m. E. auf folgende Weise auszulegen ist. Ist das Angebot feststehend, gilt das Zugangsprinzip. Der Angebotsempfänger trägt die Gefahr des Zugangs seiner Annahmeerklärung innerhalb der vereinbarten Frist. Enthält das Angebot keine Annahmefrist, soll aber gleichwohl als unwiderruflich behandelt werden, so gilt dasselbe Prinzip, 66 Conf./CR/Com. F/7.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen d. h. die Annahmeerklärung muß dem Anbietenden dann „innerhalb einer angemessenen Frist" ( „ w i t h i n a reasonable time", A r t . 8 Abs. 1) zugehen. Geht es um widerrufliche Angebote, gilt etwas anderes. Der Anbietende w i r d durch das Absenden der Annahme-Mitteilung gebunden. Unerheblich ist dabei, ob diese Mitteilung aus Gründen, die der Absender nicht zu vertreten hat, verspätet zugeht. Geht die Mitteilung über die Annahme unterwegs verloren, hat der Angebotsempfänger die Möglichkeit, eine zweite Mitteilung zu schicken oder die Annahme in anderer Weise kundzutun 6 7 .

VI. Bedingte Annahme A r t . 7 des internationalen Vertragsgesetzes lautet: „1. Eine Annahme, die Zusätze, Einschränkungen oder sonstige Veränderungen enthält, gilt als Ablehnung verbunden m i t einem neuen Angebot. 2. Eine insgesamt als Annahme erscheinende Antwort, die solche Zusätze oder abweichenden Bestimmungen enthält, welche die Bedingungen des Angebots nicht wesentlich ändern, gilt jedoch als Annahme, sofern der Anbietende die Abweichungen nicht unverzüglich rügt; ergeht keine Rüge, gelten die Vertragsbedingungen des Angebots mit den i n der A n t w o r t enthaltenen Änderungen. Abs. 1 knüpft an die Grundregel an, daß der Vertrag zwei übereinstimmende Willenserklärungen voraussetzt. Eine vom Angebot abweichende Annahme ist daher grundsätzlich als Ablehnung zu betrachten. Der Gesetzgeber hat die Parteien aber durch die Zusatzregelung, daß die bedingte Annahme zugleich neues Angebot sein soll, vor dem Abbruch der Verhandlungen geschützt; diese Ergänzung ist allgemein anerkannt. Sie findet sich in § 150 Abs. 2 BGB, i n § 60 des amerikanischen Restatement of the L a w of Contracts und i n § 6 Abs. 2 der einheitlichen skandinavischen Vertragsgesetze. 67 Nicht berücksichtigt wird die Behandlung des Falles, in dem die A n nahme-Mitteilung verlorengeht, der Anbietende davon aber erst nach langer Zeit erfährt. Situationen wie die im Fall Household Fire Insurance Co. gegen Grant (1879) 4 Ex. D 216, werden bei internationalen Kaufverträgen kaum auftreten. (Der Bekl. hatte in einem Schreiben an die A G eine Anzahl Aktien gezeichnet und zugleich einen Betrag hinterlegt, dessen Höhe 1 Schilling per Aktie entsprach. Die Gesellschaft schrieb zurück, daß dem Bekl. genau bezeichnete Aktien zugeteilt worden waren, doch kam dieser Brief nie bei dem Bekl. an. Die A G ging später in Liquidation, und der Bekl. wurde verurteilt, den Teil des Aktienkapitals einzuzahlen, für den er gezeichnet hatte.)

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Mehr Aufmerksamkeit verdient Abs. 2. Die Vorschrift behandelt die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine bedingte Annahme einen Vertragsschluß herbeiführt, und zeigt insoweit Parallelen zu A r t . 6 Abs. 2. Doch sind die Unterschiede zwischen diesen beiden Vorschriften bedeutend. Z u den elementaren Prinzipien des Vertragsrechts gehört die Regel, daß die Annahme dem Angebot genau zu entsprechen hat. I m wesentlichen gilt dies sowohl für das anglo-amerikanische als auch für das skandinavisch-kontinentale Recht. Der Vertrag entfaltet seine rechtliche Wirkung aufgrund des übereinstimmenden Willens der Parteien. Zuweilen w i r d dieser Grundsatz auch m i t dem Interesse an Rechts- und Verkehrssicherheit motiviert 6 8 . Dieses Argument ist indessen kaum haltbar. Sollte diese Regel i n erster Linie Sicherheit gewährleisten, so handelte es sich u m die Sicherheit des ursprünglich A n bietenden auf Kosten der anderen Partei. Vielmehr muß der Widerstand gegen die Anerkennung von Ausnahmen von dieser Grundregel damit erklärt werden, daß dem Parteiwillen als Quelle rechtlicher Verpflichtungen stärkstes Gewicht beigemessen wird. Die Vorschrift, nach der eine bedingte Annahme als eine m i t einem neuen Angebot verbundene Ablehnung aufzufassen ist, führt leicht zu merkwürdigen Konsequenzen. Wenn die Parteien i m Lauf der Verhandlungen nach und nach neue Vorschläge unterbreiten, so wechseln sie ständig die Positionen. Der mutmaßliche Verkäufer ist i n einem Augenblick Anbieter, i m nächsten Angebotsempfänger, darauf wieder Anbieter usw. A u f jeder Verhandlungsstufe beginnt jede Partei wieder von neuem: es gibt ein Angebot m i t der Aufforderung, dieses anzunehmen. Die Gefahr von Mißverständnissen ist dann besonders groß, wenn eine Partei meint, ein Vertrag sei zustande gekommen, obwohl die Annahme objektiv nicht m i t dem Angebot übereinstimmt. Dies ist ζ. B. der Fall, wenn der mutmaßliche Käufer auf seine Bestellung h i n ein Bestätigungsschreiben erhält, das auf die allgemeinen Geschäftsbedingungen der Branche Bezug nimmt. Prinzipiell sind folgende Methoden zur Lösung dieser Schwierigkeiten denkbar: (1) Der Gesetzgeber gibt dem ursprünglich Anbietenden die Befugnis, Zusätze und Änderungen i n der Annahmeerklärung zum Vertragsinhalt zu erheben. Es ist darauf hinzuweisen, daß dies nicht dasselbe ist wie der Grundsatz, nach dem eine bedingte Annahme ein neues Angebot enthält. Der hier angegebenen Lösungsmöglichkeit nach steht dem Anbietenden keinerlei Annahmefrist zu, während der er sich die A n nahme bzw. die Ablehnung der Zusätze oder Änderungen überlegen «e University of Pennsylvania Law Review, Bd. 105 (1957), S. 853.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen könnte. Er ist vielmehr zu der unverzüglichen Mitteilung verpflichtet, daß die Zusätze bzw. Änderungen Vertragsinhalt werden. Andererseits könnte i n diesem Fall auch an die Regel für Willensübermittlungen i m allgemeinen gedacht werden, daß nämlich der Empfänger das Risiko für die Übermittlung trägt. (2) Der Gesetzgeber schreibt vor, daß Zusätze oder Änderungen aufgrund des Schweigens des ursprünglichen Anbieters Vertragsinhalt werden. Das bedeutet auf der anderen Seite, daß der Anbietende von diesen Modifikationen durch Reklamation Abstand nehmen kann. I n halt und Folgen der Reklamation können unterschiedlich konzipiert werden. Die skandinavischen Vertragsgesetze etwa gehen davon aus, daß die Reklamation eine Ablehnung bezweckt. (3) Doch kann der Gesetzgeber die Frage auch dergestalt lösen, daß er dem ursprünglich Anbietenden eine Wahlmöglichkeit einräumt, wonach er sich zwischen Ablehnung überhaupt oder der Gegenerklärung entscheiden kann, derzufolge ein Vertrag m i t der von Zusätzen bzw. Änderungen gereinigten Annahme zustande kommt. Der Entwurf 1958 bediente sich der erstgenannten Methode. Der Anbietende wurde ermächtigt, Zusätze und Änderungen i n der A n nahmeerklärung durch eine Mitteilung, i n der er sein Einverständnis ausdrückte, zum Vertragsinhalt werden zu lassen®9. I n den Motiven w i r d diese Regel als eine flexible Umschreibung der allgemein anerkannten Zielsetzung gekennzeichnet, nach welcher dem Anbietenden der Vertragsschluß ermöglicht werden soll 7 0 . Das einheitliche skandinavische Vertragsgesetz wendet die zweite Methode an. Voraussetzung für die Anerkennung des Schweigens als Vertragsschluß ist jedoch, daß der Angebotsempfänger seine A n t w o r t für übereinstimmend m i t dem Angebot hält und daß der Anbietende eingesehen hat, daß sein Angebot i n der gegebenen Weise mißverstanden wurde. Der ursprüngliche Anbieter ist dann verpflichtet, „ohne grundloses Zögern" zu reklamieren, ansonsten der Vertrag zu den i n der A n t w o r t des Annehmenden enthaltenen Bedingungen zustande kommt. Diese Vorschrift, die man die Regel vom doppelten subjektiven Test nennen könnte, wurde von den Gesetzesverfassern folgendermaßen begründet. Derselbe Grund, der hinter der Rügepflicht bei verspäteter Annahme steht, würde auch i n einem Fall zur Geltung kommen, da die mangelnde Ubereinstimmung der A n t w o r t m i t dem Angebot dem Absender nicht klar gewesen sei. Es sollte eingeflochten werden, daß die Rügepflicht bei einer verspäteten Annahme, die der «β Art. 6 (zweiter Teil). Die beiden vorangegangenen Entwürfe enthielten keine direkte Entsprechung zu Art. 6 (zweiter Teil) des Entwurfs 1958.

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Absender aber m i t guten Gründen für noch rechtzeitig hält, eingeführt wurde, u m ungerechtfertigte Spekulationen des ursprünglichen A n bieters auf Kosten des Angebotsempfängers zu verhindern. Für diese Regelung hatte man Vorbilder u. a. i m deutschen und i m schweizerischen Recht, während die Vorschriften über die bedingte Annahme neu waren und nach Ansicht der Verfasser des Vertragsgesetzes, „soweit bekannt, keine Entsprechung i n einer anderen Rechtsordnung" hatten 7 1 . Das amerikanische Handelsgesetzbuch greift i n 2-207 den Fall auf, daß eine Partei eine „klare und geeignete Annahmeerklärung oder eine schriftliche Bestätigung innerhalb einer angemessenen Frist abgesandt hat", wobei die Annahme aber „zusätzliche oder abweichende Bedingungen, gemessen an den angebotenen oder bereits vereinbarten", enthält. Es geht also u m eine Antwort, die fristgemäß abgegeben sein und als endgültige Annahme erscheinen muß. Für den nicht-amerikanischen Leser ist es nicht leicht, die Bedeutung der Vorschriften i n 2-207 i m einzelnen zu ermitteln, doch kann i m Rahmen dieses Beitrags darauf verzichtet werden. Abs. 2 schreibt für das Verhältnis zwischen Kaufleuten vor, daß Zusätze oder Änderungen Vertragsinhalt werden, sofern sie den Vertrag nicht materiell ändern, daß sich aber der Anbietende durch Reklamation davon befreien kann. Nach 2-207 Abs. 1 soll „eine klare und geeignete Erklärung der Annahme" auch als Annahme gelten. Liest man alle Vorschriften i n 2-207 des Handelsgesetzbuches der USA, erkennt man, daß der Anbietende folgende Wahlmöglichkeiten hat. Es steht ihm frei, nicht zu reklamieren. Zusätze oder Änderungen werden dann Vertragsinhalt, sofern die Parteien Kaufleute sind. Er kann auch reklamieren. Die Reklamation richtet sich entweder auf die Ablehnung des Vertragsschlusses überhaupt, oder sie bezweckt das Zustandekommen des Vertrages ohne die Zusätze bzw. Änderungen. A r t . 7 Abs. 2 des internationalen Vertragsgesetzes ist allem Anschein nach der amerikanischen Lösung nachgebildet. Einschränkend w i r d allerdings die Rüge des Anbietenden auf das Ziel der Vertragsablehnung begrenzt; es besteht also nicht auch — wie nach dem amerikanischen Gesetz — die Möglichkeit, die A n t w o r t als eine von allen Zusätzen und Änderungen gereinigte Annahme zu akzeptieren. A r t . 7 Abs. 2 wurde aufgrund einer Initiative der Internationalen Handelskammer aufgenommen. Die Kammer kritisierte i n ihrer Stellungnahme zum Entwurf 1958 diesen Punkt und schlug mit Hinweis auf die Bedürfnisse der Geschäftswelt eine Regelung vor, wie sie dann auf Antrag der schwedischen Delegation von der Konferenz angenommen wurde 7 2 . 7* Schwedische Motive, S. 50, vgl. auch S. 47. 72 C o n f . / C R / C o m . F / 6 .

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen Dem kontinentalen Juristen erscheint A r t . 7 Abs. 2 als eine brauchbare Lösung eines praktisch häufig auftretenden Problems. M. E. ist die Regelung i m internationalen Vertragsgesetz und demnach auch die i n 2-207 des amerikanischen Handelsgesetzbuches derjenigen i n § 6 Abs. 2 der skandinavischen Vertragsgesetze vorzuziehen. Jene liefert objektive Kriterien und vermeidet Lösungen, die — wie i n Skandinavien — auf einer doppelten subjektiven Prüfung beruhen. Dennoch könnte man meinen, daß die Verfasser des internationalen Vertragsgesetzes unnötigerweise zu vorsichtig gewesen sind. Es wäre vorteilhafter gewesen, auch den Fall zu regeln, daß der Anbietende die Zusätze oder Änderungen i n der Annahme nicht akzeptieren w i l l . Wie nach amerikanischem Recht sollte i h m dann die Möglichkeit offenstehen, nach entsprechender Rüge die Annahme ohne die Abweichungen zum Vertragsschluß anzunehmen. Doch erschien der Gedanke an eine solche Vorschrift nicht einmal i n der Diskussion. Der Beobachter fragt sich, ob dies m i t der Tatsache zusammenhängt, daß weder das skandinavische noch das deutsche Recht entsprechende Regeln kennen. Man könnte abschließend vielleicht sagen, daß Art. 7 Abs. 2 eher ein Gegenstück zum einheitlichen skandinavischen Vertragsgesetz ist als eine Ausleihe vom amerikanischen Handelsgesetzbuch.

V I I . Verspätete Annahme A r t . 9 des internationalen Vertragsgesetzes hat folgenden Wortlaut: „1. Erfolgt die Annahme verspätet, so kann der Anbietende sie gleichwohl als rechtzeitig betrachten, sofern er den Annehmenden hiervon schnellstmöglich mündlich oder durch Absenden einer M i t teilung unterrichtet. 2. Eine verspätet zugegangene Annahme gilt als fristgemäß zugegangen, wenn sich aus dem Brief oder sonstigen Schriftstück, das die Annahme enthält, ergibt, daß es unter solchen Umständen abgesandt wurde, die bei normalen Beförderungsbedingungen den fristgemäßen Zugang gewährleistet hätten. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Anbietende dem Annehmenden gegenüber schnellstmöglich mündlich oder durch Absenden einer Mitteilung den Verfall seines Angebots erklärt." A r t . 9 ist eine der wenigen Bestimmungen, die praktisch unverändert aus dem Entwurf 1958 übernommen wurden. Nach Abs. 1 ist der Anbietende berechtigt, eine verspätete Annahme für eine fristgemäße zu erklären, wenn er dies dem anderen Teil unverzüglich kundtut. Der Entwurf 1958 enthält i n diesem Punkt eine Neuheit. Nach den früheren Entwürfen sollte die verspätete Annahme

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stets als Ablehnung, verbunden m i t einem neuen Angebot, gewertet werden, wobei als Vorbilder § 150 Abs. 1 BGB und § 4 Abs. 1 der skandinavischen Vertragsgesetze gedient haben. Dieselbe Regel erscheint auch i n § 73 des amerikanischen Restatement of the Law of Contracts, während sie i m Handelsgesetzbuch der USA fehlt. Dem Verfasser ist es nicht gelungen, den Ursprung der Vorschrift des Art. 9 Abs. 1 zu ermitteln. Naheliegend erscheint ein Hinweis auf die Ähnlichkeit m i t der Regelung der bedingten Annahme i m Entwurf 1958. Wie erwähnt sollte danach der Anbietende das Recht haben, bei unverzüglicher Anzeige die i n der A n t w o r t angeführten Änderungen zum Vertragsinhalt zu machen. Es ist nun denkbar, daß sowohl die Bestimmung des A r t . 9 Abs. 1 als auch die Entwurfsregelung der bedingten Annahme von 1958 von einer allgemeinen Vorstellung aus dem amerikanischen Recht beeinflußt wurden, derzufolge der Anbietende befugt ist, eine bedingte oder verspätete Annahme als dem Angebot entsprechend zu behandeln. A u f der Haager Konferenz 1964 beantragte die schwedische Delegation eine Regelung, nach der die verspätete Annahme einer Ablehnung, verbunden m i t einem neuen Angebot, gleichzuerachten sein sollte. Der schwedische Vorschlag wurde von der deutschen Delegation unterstützt. Bei der Abstimmung ergaben sich 9 Stimmen dafür und 9 Stimmen dagegen, was nach der Geschäfts- und Verfahrensordnung die A b lehnung bedeutete 73 . Bei der Diskussion i n der Vertragsgesetz-Kommission sprachen sich Lagergren als Vertreter der Internationalen Handelskammer und von Caemmerer von der deutschen Delegation dahingehend aus, daß der Unterschied zwischen dem Entwurf 1958 und dem schwedischen A n trag zwar unbedeutend, der schwedische Vorschlag wegen seiner größeren Klarheit aber vorzuziehen sei. Gegenargumente, die den schließlich angenommenen Text stützten, wurden u. a. von dem israelischen Delegierten Doron vorgebracht. Der Anbietende sei Herr über sein Angebot, und er sei deshalb auch frei, eine verspätete Annahme als rechtzeitige und gültige zu akzeptieren. Es sei notwendig, einen fortlaufenden Wechsel von Briefen und Antwortbriefen, von Erklärungen und Gegenerklärungen zu vermeiden. Der Unterschied zwischen der deutsch-skandinavischen Regelung und derjenigen des internationalen Vertragsgesetzes wurde an früherer Stelle bereits hervorgehoben 74 . Beide stimmen insoweit überein, daß dem ursprünglichen Anbieter das Recht zusteht, über Annahme oder 73 Conf./CR/Com. F/7. 74 Vgl. oben S. 126 ff.

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Ablehnung der A n t w o r t zu entscheiden. Der Unterschied besteht darin, daß nach deutsch-skandinavischem Recht die Parteien gleichsam von neuem beginnen müssen. Die A n t w o r t des Angebotsempfängers hat i n ihrer Eigenschaft als neues Angebot Bindungswirkung innerhalb einer angemessenen Annahmefrist, kann aber unter denselben Voraussetzungen wie ein Angebot i m allgemeinen widerrufen werden. Die anschließende Mitteilung des ursprünglichen Anbieters gilt als Annahme, die wiederum den generellen Vorschriften über die Annahme unterliegt. Demgegenüber ist die verspätete Annahme nach dem internationalen Vertragsgesetz stets als Annahme zu werten, was bedeutet, daß dem ursprünglich Anbietenden keinerlei Annahmefrist eingeräumt wird, u m die neue Situation zu überdenken; vielmehr muß er seine Erwiderung unverzüglich absenden 75 . Lag er gr en und v. Caemmerer mögen recht haben m i t dem Hinweis, die deutsch-skandinavische Regelung hätte den Vorzug der inhaltlich größeren Klarheit, zumal das internationale Vertragsgesetz besonderer Bestimmungen über die Rüge (Reklamation) überhaupt ermangelt. Doch erscheint der Einwand an dieser Stelle nicht überzeugend, w e i l er sich auch gegen die übrigen Vorschriften des internationalen Vertragsgesetzes über die Rüge richten läßt 7 6 . Der Verfasser stimmt der i m internationalen Vertragsgesetz getroffenen Regelung zu, weil sie den Vorteil hat, daß die Parteien ihre anfänglichen Positionen als Anbietender und Angebotsempfänger behalten. Der — u. U. mehrfache — Tausch der Positionen führt leicht zu Verwirrung. Wichtiger ist möglicherweise der materielle Gesichtspunkt, daß nicht einzusehen ist, warum dem ursprünglichen Anbieter nur deshalb eine Annahmefrist zugestanden werden sollte, w e i l eine bestimmte Kalenderfrist verstrichen ist. Interessant ist auch ein Vergleich der Absätze 1 und 2 von A r t . 9, Unter bestimmten Voraussetzungen — aus dem Antwortschreiben muß hervorgehen, daß es unter solchen Umständen abgesandt wurde, die bei normalen Beförderungsbedingungen den fristgemäßen Zugang gewährleistet hätten — w i r d der Anbietende an den Inhalt der verspätet zugegangenen Annahmeerklärung gebunden, sofern er dem anderen Teil nicht unverzüglich den Verfall des Angebots mitteilt. Abs. 2 entspricht § 4 Abs. 2 der skandinavischen Vertragsgesetze und ähnelt § 149 BGB, womit einleuchtet, daß er keinen Einwendungen von skandinavischer oder deutscher Seite begegnete. Der hinter § 4 Abs. 2 des skandinavischen Vertragsgesetzes stehende rechtspolitische Zweck scheint i n dessen auch A r t . 9 Abs. 1 des internationalen Vertragsgesetzes zu™ Vgl. ν . Caemmerer, RabelsZ 1965, S. 130. 7β Art. 7 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2. 10

Schmidt

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grundezuliegen, doch hielten die kontinentalen Delegierten diesen nicht für stichhaltig. Der Anbietende sollte zur unverzüglichen Rüge verpflichtet sein, damit er nicht auf Kosten der anderen Partei zu ungebührlichen Spekulationen greifen konnte 7 7 .

V I I I . Warum sagt das internationale Vertragsgesetz nichts zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses? Daß das Gesetz zu dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses keine Bestimmungen enthält, ist u m so verwunderlicher, als diese Frage während der ausgedehnten Kommissionsarbeiten, die der Haager Konferenz von 1964 vorausgingen, i m Mittelpunkt des Interesses stand. Die erste Kommission zur Ausarbeitung eines Vertragsgesetzentwurfs wurde 1934 gerade i m Hinblick auf eine Lösung dieser Frage eingesetzt. Eingangs dieses Aufsatzes sind die Vorschriften des Entwurfs 1936 erwähnt worden 7 8 . I m Entwurf 1958 regelte Art. 12 den Zeitpunkt des Zustandekommens eines Vertrages. Diese Vorschrift unterscheidet zwischen Fällen, i n denen die Annahme aus einer Willenserklärung besteht, und solchen Fällen, da andere Handlungen die Annahme verkörpern. I m folgenden w i r d nur die wichtigste Fallgruppe behandelt: die Annahme besteht aus einer Willenserklärung. A r t . 12 lautet i m Entw u r f 1958: „Besteht die Annahme aus einer Willenserklärung, kommt der Vertrag zustande, wenn die Annahme dem Anbietenden unter den i n diesem Gesetz bezeichneten Bedingungen zugeht." Die Verfasser der Motive und des Entwurfs 1958 unterstreichen die Notwendigkeit, i m Gesetz den Zeitpunkt des Vertragsschlusses festzulegen. Auch w i r d erläutert, warum man den Zeitpunkt des Zugangs der Annahmeerklärung beim Anbietenden für entscheidend gehalten hat: „Die Regeln i n den vorangegangenen Artikeln, die als solche für die Bindung der Partner an ihre jeweiligen Erklärungen maßgebend sind, liefern zugleich die Grundlage für die Konstruktion des A r t . 12; der Vertrag gilt dann als geschlossen, wenn die Partner an die Erklärungen, welche den Vertrag bilden, unwiderruflich gebunden sind 7 9 ." A u f der Haager Konferenz 1964 beantragte die schwedische Delegation die Streichung von A r t . 12. Dies fand die Unterstützung der übrigen skandinavischen Delegationen, der amerikanischen Delegierten und des Vertreters der Internationalen Handelskammer. Auch von deutscher Seite meinte man, daß auf A r t . 12 verzichtet werden könnte. Dagegen wandten sich Belgien, Frankreich, die Niederlande und 77 Schwedische Motive, S. 47. 78 Vgl. oben S.114f. 79 Entwurf 1958, S. 26.

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Österreich. Der französische Delegierte Malaurie erklärte, die Befolgung der schwedischen Anregung würde den Gesamtcharakter des Gesetzes verändern 8 0 . Die Kommission behandelte A r t . 12 auf der 9., 10. und 13. Sitzung. Uber den schwedischen Antrag wurde auf der 10. Sitzung abgestimmt, wobei 8 positiven Stimmen 10 negative gegenüberstanden, die für die Beibehaltung von A r t . 12 votierten. Gleichwohl ging die Diskussion weiter, und als der Streichungsantrag auf der 13. Sitzung erneut zur Abstimmung gestellt wurde, ergaben sich zu seinen Gunsten 9 Stimmen bei nur 5 Gegenstimmen. Der außenstehende Beobachter ist geneigt anzunehmen, daß die Delegierten bei dieser Frage jeweils von ihren eigenen Erfahrungen ausgegangen sind. Die skandinavischen Vertragsgesetze bestimmen nichts über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses, was bislang nicht als Mangel empfunden wurde. Das deutsche A H G B von 1861 enthielt demgegenüber eine entsprechende Vorschrift; ebenso noch der erste offizielle BGB-Entwurf. I m endgültigen Text des BGB allerdings verschwand diese Vorschrift. Nach v. Caemmerer 81 hat die Rechtsprechung dies nicht als Nachteil vermerkt. Das amerikanische Handelsgesetzbuch wendet sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, daß man den Augenblick des Vertragsschlusses festlegen soll. Gemäß 2-204-2 „liegt eine Übereinkunft i. S. eines Kaufvertrages auch dann vor, wenn der Zeitpunkt ihres Zustandekommens unbestimmt ist". Die Hauptargumente für den Wegfall von A r t . 12 faßte der Vertreter der Internationalen Handelskammer, Lag er gr en, zusammen: a) A r t . 12 enthielte ausschließlich eine Wiederholung dessen, was sich bereits aus den voraufgehenden A r t . ergäbe, und b) wäre es möglich, daß die Festlegung eines Zeitpunktes für den Vertragsschluß m i t der Arbeit der Kaufgesetz-Kommission kollidierte 8 2 . v. Caemmerer gibt i n seinem bereits zitierten Aufsatz i n Rabeis Zeitschrift die Argumentation gegen Art. 12 detailliert wieder 8 3 : I n einer großen Anzahl Situationen ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses von maßgeblicher Bedeutung. Viele Rechtssysteme knüpfen an diesen Zeitpunkt etwa den Eigentums- oder den Gefahrübergang oder halten i h n für bedeutsam für Fälle der Rechenschaftslegung und für das Steuer- und Konkursrecht. Ebenso ist er innerhalb des internationalen Privatrechts von Wichtigkeit, und auch i m internationalen Kaufgesetz spielt er i n verschiedenen Zusammenhängen eine Rolle, v. Caemmerer verweist u. a. auf A r t . 1 (zur Frage, wann ein Vertrag einen interso ei 82 83 10*

Vgl. Protokoll der 9. Sitzung, Conf./CR/Com. F/9. RabelsZ 1965, S. 138. Conf./CR/Com. F/9. RabelsZ 1965, S. 136 f.

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nationalen Kauf darstellt), A r t . 22, 23, 57 (Lieferungsort und -zeit und Festsetzung des Kaufpreises) und A r t . 36 (zur Relevanz des Zeitpunktes, i n dem der Käufer Kenntnis von der Fehlerhaftigkeit der Ware erhält). Bei der Bestimmung des Zeitpunktes, i n dem ein Vertrag zustande kommt, muß darauf Rücksicht genommen werden, daß eine solche Regel die unterschiedlichsten Funktionen zu erfüllen hat. Es ist undenkbar, daß ein Gesetzgeber mit einer Vorschrift arbeitet, die für alle i n Betracht kommenden Fälle und Zusammenhänge den Vertragsschluß auf den Zeitpunkt festsetzt, i n welchem die Annahme dem Anbietenden zugeht. Daher hätte A r t . 12 des Entwurfs 1958 auf die ausschließliche Gültigkeit für das internationale Vertragsgesetz begrenzt werden müssen, und dies wiederum wäre einer überflüssigen Wiederholung von Bestimmungen i n vorangegangenen A r t i k e l n desselben Gesetzes gleichgekommen. Der Verfasser teilt v. Caemmerers Ansicht, daß die Streichung von A r t . 12 gerechtfertigt war, begründet dies aber anders. Die Väter des Entwurfs 1958 gingen von der Voraussetzung aus, daß das internationale Vertragsgesetz zur Unterstützung des wesentlich umfangreicheren und wichtigeren internationalen Kaufgesetzes ergehen sollte. Demzufolge wurde seine Anwendbarkeit auf internationale Kaufverträge zugeschnitten, obgleich die einzelnen Vorschriften des Vertragsgesetzes dann eine derart abstrakte Fassung erhielten, daß sie für nahezu alle Vertragstypen zu gelten scheinen, v. Caemmerers Hinweis, daß der Zeitpunkt des Vertragsschlusses i n zahlreichen Zusammenhängen bedeutsam sein kann, wie ζ. B. i n bestimmten Rechtsordnungen beim Eigentums- oder Gefahrübergang, beim Konkurs usw., zeigt, wie die Regelungen des Zustandekommens von Verträgen über das Kaufrecht hinausgehen. Gewiß gibt es Gründe anzunehmen, daß sich Gerichte i n vielen Ländern bei unterschiedlichen Anlässen am internationalen Vertragsgesetz zu orientieren versuchen, sowohl bei nationalen als auch bei internationalen Streitfällen. Doch reicht dies m. E. nicht aus, i m internationalen Vertragsgesetz eine Bestimmung zu fordern, die unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte den Zeitpunkt des Vertragsschlusses verbindlich festlegte. Von einer solchen Vorschrift könnte man keinesfalls mehr erwarten, als ihr ursprünglich i m Gesamtkonzept zugedacht war, nämlich eine Ergänzungsregel zum internationalen Kaufgesetz zu sein. Richtig ist, daß A r t . 12 des Entwurfs 1958 eine Wiederholung voraufgehender Vorschriften darstellt. Dies impliziert aber an und für sich noch nicht seine Überflüssigkeit. Wiederholung heißt i n diesem Zusammenhang, daß die Situation, die m i t dem Begriff „Zeitpunkt des Vertragsschlusses" umschrieben wird, ebensogut auch auf andere Weise beschrieben werden kann. Der Terminus „Zeitpunkt des Vertrags-

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen schlusses" stimmt — für den Hauptfall, daß die Annahme eine Willenserklärung ist — m i t der Wendung „Zeitpunkt, i n dem die Annahme dem Anbietenden zugeht", überein. Nun könnte man meinen, die Verfasser des Entwurfs 1958 hätten aus stilistischen Gründen für A r t . 12 die letztgenannte Version wählen sollen, doch gibt es sachlich keinen Grund, ihnen vorzuwerfen, daß sie stattdessen vom „Zeitpunkt des Vertragsschlusses" sprachen ("the time for the conclusion of the contract", "lors de la conclusion du contrat"). Der zweite Einwand hat stärkeres Gewicht. Die Aufnahme einer Definition des „Zeitpunktes des Vertragsschlusses" i n das internationale Vertragsgesetz erwiese sich als zwecklos, wenn nicht derselben Wendung i m internationalen Kaufgesetz überall dort, wo sie benutzt wird, dieselbe inhaltliche Bedeutung zukäme 84 . Von den Verteidigern des Standpunktes, daß A r t . 12 beibehalten werden sollte, hätte man das Argument erwarten können, daß das Prinzip selbst unangreifbar sei und nur i n anderer Weise hätte formuliert werden müssen. Untersucht man aber die Vorschriften des internationalen Kaufgesetzes, die auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses Bezug nehmen, genauer, so ergibt sich, daß diese Aufgabe schon deshalb unlösbar ist, w e i l die Verfasser des Entwurfs 1958 eine verfehlte Gesetzgebungstechnik angewandt haben. I n seiner K r i t i k des vorgeschlagenen A r t . 12 bemerkt v. Caemmerer, daß der „Zeitpunkt des Vertragsschlusses" bei der Anwendung von A r t . 36 des internationalen Kaufgesetzes der Zeitpunkt ist, i n welchem der Käufer endgültig gebunden wird 65. — A r t . 36 hat Bedeutung für die Frage, ob der Käufer bei Vertragsschluß Mängel der gekauften Ware kannte oder kennen mußte. — Es ist unmöglich, diesen Zeitpunkt mithilfe der Vorschrift des A r t . 12 zu bestimmen, derzufolge der Vertrag i n dem Augenblick zustande kommt, i n dem die Annahme dem Anbietenden zugeht. Ebenso wenig würde eine Vorschrift helfen, die den Vertragsschluß auf irgendeinen Zeitpunkt festlegte. Die beiden internationalen Gesetze bewegen sich nämlich auf verschiedenen Abstraktionsebenen. Während das Kaufgesetz von Käufer und Verkäufer handelt, regelt das Vertragsgesetz das Verhältnis zwischen Anbietendem und Angebotsempfänger. Mein Einwand läßt sich dahingehend präzisieren: I m internationalen Vertragsgesetz bedienen sich die Gesetzgeber der Begriffe Angebot und A n nahme als rechtstechnischer Hilfsmittel. Anhand dieser Begriffe ist es möglich festzulegen, wann der Anbietende gebunden wird, wann der Angebotsempfänger gebunden wird, und wann beide Parteien an den 84

I m internationalen Kaufgesetz wird in folgenden Bestimmungen auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses verwiesen: Art. 1, 10, 22, 23, 36, 38, 46, 57, 73, 74, 82, 86, 99. es v. Caemmerer, RabelsZ 1965, S. 137.

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Vertrag gebunden werden. Demgegenüber kann nicht eindeutig angegeben werden, wann der Käufer gebunden wird. Denn Käufer kann bei dem einen Kaufvertrag der Anbietende und bei dem anderen der Angebotsempfänger sein, je nachdem, welcher der Partner das Angebot abgegeben hat, das zur Annahme geführt hat. Der Zeitpunkt, i n welchem der Käufer endgültig gebunden wird, fällt nur i m letzten Fall m i t dem „Zeitpunkt des Vertragsschlusses" zusammen, dann nämlich, wenn der Käufer Angebotsempfänger ist. Ein näherer Blick auf das internationale Kaufgesetz zeigt, daß 13 A r t i k e l den Terminus „Zeitpunkt des Vertragsschlusses" („the time of the conclusion of the contract") verwenden. Von diesen beziehen sich 7 auf den „Käufer" und die übrigen 6 auf den „einen", den „anderen" oder „beide Partner" 8 ®. Die obige K r i t i k gilt zumindest i m Hinblick auf alle A r t i k e l der ersten Gruppe. Heißt diese kritische Einschätzung der Gesetzgebungstechnik nun zugleich, daß die genannten 7 A r t i k e l des internationalen Kaufgesetzes überhaupt nichts über den entscheidenden Zeitpunkt aussagen? Gewiß nicht. Dem Verfasser wurde folgendes aus den internen Beratungen der schwedischen Delegation i n Den Haag berichtet. Hellner wies darauf hin, daß die verschiedenen Bestimmungen, welche sich auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses beziehen, doch wenigstens einen gewissen Zeitraum abgrenzten, und zwar die Periode zwischen dem Tag, an dem das Angebot abgesandt wurde, und dem Zeitpunkt, da beide Partner endgültig gebunden sind. Dieser Zeitraum ist etwas anderes als ζ. B. die Beförderungsdauer. W i r d i m Januar ein Vertrag über die Lieferung i m J u l i geschlossen, so reicht es i m allgemeinen aus zu wissen, daß die Parteien ihre Willenserklärungen zwischen dem 10. Januar, dem Absenden des Angebots, und dem 15. Januar, dem Zugang der Annahme beim Anbietenden, gewechselt haben und somit der Vertrag zwischen dem 10. und dem 15. Januar zustande gekommen ist. N u r selten w i r d der Richter den Zeitpunkt auf einen bestimmten Tag innerhalb der erwähnten Periode festlegen müssen. I n solchen Fällen muß er dann allerdings den Zweck der gerade anzuwendenden Vorschrift sehr genau ermitteln. Möglicherweise kommen dabei die Gerichte verschiedener Länder zu unterschiedlichen Ergebnissen, doch liegt i n einem derartigen Punkt der Uneinheitlichkeit keine größere Gefahr, weil die zeitlichen Grenzen zwischen dem Absenden des A n gebots und dem Zugang der Annahme i n aller Regel sehr eng gezogen sind.

se Zur ersten Gruppe gehören Art. 22, 23, 36, 38, 46, 57 und 99; zur zweiten Art. 1, 10, 73, 74, 82 und 86.

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Zusammenfassung und Schlußfolgerungen A u f fast allen Gebieten muß man immer wieder feststellen, daß konfligierende nationale Interessen, wirkliche oder eingebildete, den Abschluß internationaler Ubereinkünfte behindern. Insoweit kann man sich etwa vorstellen, daß einer der Teilnehmerstaaten an der Diplomatischen Konferenz i n Den Haag 1964 die Konvention über das internationale Kaufgesetz nach dem K r i t e r i u m beurteilen wird, welche Vorschriften den Verkäufer und welche den Käufer begünstigen. Sollten die Beurteilungs- und Entscheidungsgremien ζ. B. der Ansicht sein, daß i h r Land i n erster Linie vom Import abhängt, so ist es gut vorstellbar, daß sie einem i n der Konvention vorgeschlagenen Gesetz dann die Zustimmung versagen, wenn die größeren Vorteile dem Verkäufer eingeräumt werden. N u n gibt es i n dieser Hinsicht einen wesentlichen Unterschied zwischen dem internationalen Kaufgesetz und dem internationalen Vertragsgesetz. Je nach den konkreten Umständen ist der Verkäufer einmal Anbietender und ein andermal Angebotsempfänger. Es ist kaum anzunehmen, daß sich irgendeine Interessen- oder W i r t schaftsgruppe mit einer der beiden Kategorien Anbieter oder Angebotsempfänger identifizieren könnte. Vom Interessenstandpunkt her dürfte man das internationale Vertragsgesetz als vollkommen neutral bezeichnen können, wonach die Entscheidung über seine Annahme eigentlich nur von rein juristisch-technischen Beurteilungskriterien abhängig gemacht werden sollte. Gleichwohl ist auch dieser Regelungsbereich nicht frei von nationalen Gegensätzen. Der unbefangene Beobachter könnte meinen, daß zwei unterschiedliche Lösungen gleichermaßen dienlich sein können. Der Jurist sieht das indessen anders. Die Regelung, die i n seinem eigenen Land gilt, hat für i h n einen besonderen Wert. Er weiß, daß sie sich, u. U. über einen langen Zeitraum hinweg, als praktikabel erwiesen hat und daß frühere Änderungsversuche gescheitert sind. Er wagt nicht zu glauben, daß sich eine andere Regelung als ebenso haltbar herausstellen kann, vielmehr liegt es näher, der eigenen einen ganz besonderen Vorrang einzuräumen. Oben wurde der Disput zwischen dem Engländer Reid und dem Ungarn Eörsi zum Problem der bindenden Wirkung des Angebots geschildert 87 . „Der Kaufmann, der nicht wenigstens h i n und wieder ein Angebot widerrufen w i l l , existiert einfach nicht." „Erhält jemand ein Angebot, so braucht er eine gewisse Bedenkzeit." Keiner der beiden kam auf den Gedanken, daß der Durchschnittskaufmann vielleicht beides wünschte, und zwar je nach den Umständen des Falles, daß es demgegenüber aber eine gesetzgeberische Aufgabe war, eine Wahl zwischen dem widerruflichen und dem unwiderruflichen Ange87 Siehe oben S. 126.

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Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen

bot zu treffen, sofern sich die Parteien nicht selbst vertraglich darüber einigten. Juristische Theorien sind Metaphern, die den weiteren Rahmen für eine anstehende Regelung abstecken; seltener nur geben sie eine exakte Beschreibung ihres Anwendungsbereichs. Wer ein fremdes Rechtssystem studiert, kann mit dem nicht Rechtgläubigen verglichen werden. Es ist schwierig, sich i n die „wahren" Gründe für einen bestimmten Standpunkt hineinzudenken. Das widerrufliche Angebot i m anglo-amerikanischen Recht mag zur Beleuchtung dieser These angeführt werden. Die Lehre vom „angemessenen Preis" (doctrine of consideration), die bekanntlich der Konstruktion des widerruflichen A n gebots zugrunde liegt, w i r d i n Skandinavien und Deutschland gewöhnlich als überaltert angesehen. Unser Grundsatz, daß die alleinstehende Willenserklärung bindet, repräsentiere ein höheres Stadium der Entwicklung als die Regeln des römischrechtlichen Konsensualvertrages. Ein anschauliches Beispiel ist auch eine Bemerkung v. Caemmerers i n dem zitierten Aufsatz. Während der Verhandlungen i n der Kommission schienen sich die römischrechtliche und anglo-amerikanische Auffassung einerseits und die deutsch-skandinavische Auffassung andererseits unversöhnlich gegenüberzustehen. Die Staaten, deren Rechtsordnungen das Prinzip der bindenden Wirkung des Angebots kennen, wollten die ganze Zeit an ihrem eigenen Grundsatz festhalten, w e i l sie diesen als die „fortschrittlichere Regel" betrachteten 88 . Bei der Beurteilung des internationalen Vertragsgesetzes ist andererseits auch zu bedenken, daß einige grundlegende Rechtssätze i n allen Ländern gleichermaßen gelten. Begriffe wie Angebot und A n nahme oder das Erfordernis der Willensübereinstimmung gehören ζ. B. zu einem gemeinsamen Kulturerbe der westlichen Welt. Würde es die Idee eines übergreifenden Vertragsrechts nicht gegeben haben und wären an Stelle dessen die Rechtsregeln für jede spezielle Situation jeweils an die Stellung des Verkäufers bzw. Käufers geknüpft worden, so hätte die Basis für die Schaffung eines internationalen Vertragsgesetzes überhaupt gefehlt. Dennoch sind die Auffassungsunterschiede beträchtlich. I m anglo-amerikanischen Recht ist „das Versprechen" (the promise) der zentrale Begriff; ein weiteres Charakteristikum ist dort die Trennungslinie zwischen gegenseitigen und einseitigen Verträgen. A u f der anderen Seite fehlt diesem Rechtskreis ein dem kontinentalen Konsensualvertrag genau entsprechendes Institut. Das i m deutschen und skandinavischen Recht herrschende Prinzip, daß das Angebot als solches Bindungswirkung entfaltet, läßt sich nur vor dem Hintergrund des Konsensualvertrages verstehen. 88 ν . Caemmerer, RabelsZ 1965, S. 120.

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen I m Vertragsrecht gibt es eine allgemeine, i n allen Ländern zu beobachtende Tendenz, ganz unabhängig von den traditionsbedingten Unterschiedlichkeiten. Unter dem Druck der Erfordernisse des Handels- und Wirtschaftsverkehrs wurde Schritt für Schritt der Grundsatz eingeschränkt, daß zwischen den zwei die Vertragsgrundlage bildenden Willenserklärungen vollständige Deckungsgleichheit vorliegen muß. Hat die eine Seite Grund zu der Annahme, daß ein Vertrag zustande gekommen sei oder daß die andere Seite eine Zusatzbedingung wie eine routinemäßige Vertragsergänzung betrachten werde, so kann man sich vorstellen, daß der Gesetzgeber für diesen Fall eine Vorschrift erläßt, die den möglichen Mangel an Willensübereinstimmung heilt. I n dieser Hinsicht ist es interessant, das deutsche BGB, i n dem die Ausnahmen vom Konsensualprinzip nur sehr beschränkten Umfang haben, m i t den skandinavischen Vertragsgesetzen (1915 -1929), welche weitergehende Abweichungen von der Hauptregel zulassen, und dem amerikanischen Handelsgesetzbuch von 1952 i n der novellierten Fassung von 1957 zu vergleichen, wobei die letztgenannte Kodifikation den ersten Versuch darstellt, die sich aus den gebräuchlich gewordenen allgemeinen Geschäftsbedingungen, Formularverträgen, Einheitsbedingungen i n Auftragsbestätigungen u. ä. ergebenden Probleme zusammenhängend zu lösen. Die Lektüre eines abstrakten Gesetzestextes macht besonders dann Schwierigkeiten, wenn das Gesetz Elemente einer fremden Rechtsordnung enthält. Die aus dem eigenen System gewohnten Gedankengänge leiten den Leser leicht i n eine falsche Richtung. I m I I . Abschnitt sind die rechtlichen Wirkungen eines an die Allgemeinheit gerichteten A n gebots behandelt worden. Aus den Materialien zum internationalen Vertagsgesetz geht hervor, daß m i t der Formel i n A r t . 4 Abs. 1: „eine Mitteilung an eine oder mehrere bestimmte andere Personen" nicht auch bezweckt war, Zeitungsanzeigen oder preisausgezeichneten, ausgestellten Waren den Charakter von Angeboten abzusprechen. Wenn Hellner diese Vorschrift gleichwohl i n diesem Sinne interpretiert, so kann nicht ausgeschlossen werden, daß sein Standpunkt vom eigenen skandinavischen Denkschema beeinflußt wurde. I m IV. Abschnitt wurde versucht, A r t . 6 des internationalen Vertragsgesetzes zu analysieren. M. E. stimmt diese Vorschrift mit einer entsprechenden Regelung i m amerikanischen Handelsgesetzbuch überein. A r t . 6 verleiht der grundlegenden Unterscheidung zwischen gegenseitigen Verträgen, die durch den Austausch einer Willenserklärung gegen eine andere gekennzeichnet sind, und einseitigen Verträgen, bei denen die Willenserklärung des anderen Teils durch eine Realhandlung ersetzt wird, Ausdruck.

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Es t r i f f t zwar zu, daß das internationale Vertragsgesetz auf dem Zugangsprinzip aufbaut, doch ist Art. 6 Abs. 1 nicht — wie ich meine, gezeigt zu haben — eine reine Verkörperung dieses Prinzips. Daher teile ich nicht v. Caemmerers und Hellners Ansicht, daß man i n A r t . 6 Abs. 1 ein allgemeines Zugangserfordernis hineinzulesen habe. Vielmehr sollte zwischen dem bindenden und dem widerruflichen Angebot unterschieden werden. Hinsichtlich des letzteren wäre es verfehlt, i m Gesetz die zusätzliche Bedingung unterzubringen, daß die Annahme dem Anbietenden noch vor Ablauf der Annahmefrist zugegangen sein muß. Es sei aber bereitwillig zugestanden, daß Hellners gegenteilige Auffassung i n vollem Einklang mit deutschem und skandinavischem Rechtsdenken steht. Das internationale Vertragsgesetz ist das Resultat zahlreicher Kompromisse. Der Beobachter fragt sich, ob das Ergebnis nicht ein Flickwerk geworden ist, dessen Einzelstücke als Leihgaben verschiedener Rechtsordnungen schlicht zusammengefügt wurden, ohne daß auf das entstehende Gesamtmuster geachtet wurde. I n diesem Beitrag wurden A r t . 4 Abs. 1 (zur Frage, wann ein Angebot vorliegt), A r t . 5 (zu den Rechtswirkungen des Angebots), Art. 6 (welche Handlungen beinhalten eine Annahme?), A r t . 7 (bedingte Annahme) und A r t . 9 (verspätete A n nahme) untersucht. W i r haben beobachtet, daß es das internationale Vertragsgesetz vermeidet, i n A r t . 4 zu der Streitfrage Stellung zu beziehen, welche Behandlung das sog. Angebot an die Allgemeinheit erfahren soll. Die Forderung i n Art. 4, das Angebot müsse soweit vollständig sein, „daß der Vertrag durch Annahme zustande kommen kann", ist nichts Neues, sondern ein allenthalben anerkannter Grundsatz. A u f den Inhalt der Kompromißformel des A r t . 5 Abs. 2 über die Bindungsw i r k u n g des Angebots werde ich noch zurückkommen. A r t . 6 m i t der Abgrenzung von Annahme durch Willenserklärung und Annahme durch Ausführung einer Realhandlung erscheint nahezu als Abschrift der entsprechenden Vorschrift i m amerikanischen Handelsgesetzbuch. Die Vorschrift des A r t . 7 Abs. 1, nach der die bedingte Annahme als Ablehnung i n Verbindung m i t einem neuen Angebot gelten soll, gehört wie A r t . 4 zum rechtlichen Allgemeingut. A r t . 7 Abs. 2 wurde wiederum dem amerikanischen Handelsgesetzbuch entnommen. Es ist nicht gelungen, eine Vorlage für die Regelung i n A r t . 9 Abs. 1 zu entdecken, wonach eine verspätete Annahme als fristgemäße zu betrachten ist, wenn der Anbietende dem Partner unverzüglich eine entsprechende Nachricht übermittelt. Möglicherweise liegt auch der Ursprung dieser Norm i m amerikanischen Recht, doch ist es auch denkbar, vielleicht sogar wahrscheinlicher, daß es sich u m eine Neuschöpfung handelt. Die Regeln über den Widerruf eines Angebots verdienen besondere Aufmerksamkeit. A r t . 5 Abs. 2 wurde als ein Kompromiß zwischen

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen diametral entgegengesetzen Standpunkten beschrieben. Aus angloamerikanischem Blickwinkel liegt das Zugeständnis vor allem darin, daß die Widerruflichkeit nicht wie i m eigenen Recht zwingend normiert ist. Wie schon hervorgehoben wurde, ist es schwierig, die Einschränkung, daß ein Widerruf nicht gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Verkehrssitten verstoßen dürfe, inhaltlich i n den Griff zu bekommen. Es wäre vermessen zu hoffen, daß die gerichtliche Praxis mit dieser Generalklausel i n allen Ländern zu gleichen Ergebnissen führte. W i r können die gestellte Frage jetzt beantworten. Die Mehrheit der Bestimmungen des internationalen Vertragsgesetzes ist i m Wege der Übernahme aus verschiedenen nationalen Rechtssystemen entstanden, während gesetzgeberische Neuheiten zu den Ausnahmen zählen. Dies wäre für sich allein genommen noch kein Zeichen für mangelnde Qualität. Der großzüge Gebrauch von heterogenen Vorlagen ist nur i n den Fällen zu kritisieren, i n denen Vorschriften Seite an Seite gestellt werden, die wegen unterschiedlicher oder gar entgegengesetzter rechtspolitischer Hintergründe miteinander i m Streit liegen müssen. Soweit der Verfasser es beurteilen kann, harmonisieren die einzelnen Bestimmungen des internationalen Vertragsgesetzes miteinander. K r i t i k wurde aber vor allem i n einem Punkt geübt: Zwischen A r t . 7 Abs. 1 als Ausdruck für die ältere Ansicht, daß der Vertrag eine Willensübereinstimmung i n allen Einzelheiten voraussetzt, und A r t . 7 Abs. 2 als Verkörperung der moderneren Vorstellung, derzufolge der Gesetzgeber M i t t e l zur Heilung von Fehlern bei Vertragsabschluß anzubieten hat, besteht ein unaufgelöstes Spannungsverhältnis. I n diesem Zusammenhang sei auch nochmals auf die Tatsache hingewiesen, daß der endgültige Gesetzestext keine Bestimmung über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses enthält. Äußerlich betrachtet mag dies deswegen überraschen, weil das Bedürfnis an Regeln über den Zeitpunkt des Zustandekommens eines Vertrages schließlich der Hauptgrund dafür war, die Vorschriften über den Abschluß eines Kaufvertrages i n einem gesonderten Gesetz zusammenzufassen. Die amerikanischen, skandinavischen und deutschen Konferenzteilnehmer ließen sich i n ihrer Argumentation von ihren Erfahrungen m i t dem jeweils eigenen Recht leiten. I h r Standpunkt basierte auf dem Umstand, daß die eigenen „Vertragsgesetze" keine Regeln über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses aufgenommen hatten. Vielfältige Gesichtspunkte wurden angeführt, warum das internationale Vertragsgesetz zu diesem Problem schweigen sollte, allen voran das Argument, daß sonst die Harmonie m i t dem internationalen Kaufgesetz gestört würde. Der Verfasser hat diese K r i t i k weitergeführt und gezeigt, daß die Gesetzgebungstechnik insgesamt Schwächen

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aufweist. M i t dem zur Verfügung stehenden Begriffsapparat ist es unmöglich, den entscheidenden Zeitpunkt (des Vertragsschlusses) festzulegen. Ein Gesetz, das wie das internationale Vertragsgesetz die W i r kung von Angebot und Annahme regelt, kann nicht zur Ausfüllung einer Lücke i n einer Vorschrift herangezogen werden, welche sich m i t der Stellung von Verkäufer bzw. Käufer befaßt. Ist die hierzu geführte K r i t i k richtig, so ist das Ergebnis der Sachauseinandersetzung kaum als unerwartet zu bezeichnen. Eher mag man über die Zähigkeit verwundert sein, m i t der von vielen Seiten an dem Gedanken festgehalten wurde, daß eine gesetzliche Regel über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses erforderlich sei. Tatsächlich scheiterte der Antrag, eine entsprechende Vorschrift des Entwurfs zu streichen, i m ersten Anlauf; bei der endgültigen Abstimmung fand er jedoch eine Mehrheit von 9 gegen 5 Stimmen. M. E. illustriert dieser Vorgang deutlich, wie stark das Denken von dem Gewicht der traditionellen Lehrgebäude geprägt und i m Griff gehalten wird. Aus dem römischen Recht stammt die A u f fassung, daß der Vertrag i n einem bestimmten Augenblick zustande kommt und daß sich an diesen Zeitpunkt verschiedene Rechtsfolgen knüpfen. Wer nun meint, daß dies aus praktischen Gründen nicht zu normieren sei, w i r d mit der Beweislast für seine Behauptung beschwert. Wahrscheinlich wechselt die Beurteilung der Vor- und Nachteile des internationalen Vertragsgesetzes von Land zu Land. Dabei ist naheliegend, daß das Urteil auch davon beeinflußt wird, i n welchem Ausmaß es der jeweils eigenen Rechtsordnung gelungen ist, dem Gesetz ein „heimisches" Gepräge zu geben. I n seinem Bericht vom 18.12.1964 betont Hellner, daß sich das internationale Vertragsgesetz weitgehend den skandinavischen Vertragsgesetzen anschließt. Offensichtlich waren die Skandinavier einschließlich Lagergrens als Vertreter der Internationalen Handelskammer sehr aktiv auf der Diplomatischen Konferenz von 1964. Mehrere Beschlüsse gingen aus schwedischen Anträgen hervor (die endgültige Fassung von A r t . 7, die Verhinderung von Bestimmungen über den Zeitpunkt des Vertragsschlusses). Der Verfasser gelangt indessen zu einer Schlußfolgerung, die teilweise von derjenigen Hellners abweicht. Ganz allgemein formuliert, war der skandinavische Einfluß nicht sehr wesentlich, kaum, daß er erkennbare Spuren i m schließlichen Inhalt hinterlassen hat. Soweit das internationale Vertragsgesetz dem skandinavischen Recht gleicht, handelt es sich u m Bestimmungen, die dem skandinavischen und dem deutschen Recht oder einer noch größeren Gruppe von Rechtsordnungen gemeinsam sind. M i t größerem Recht kann einer anderen Quelle ein wesentlich nachhaltigerer Einfluß zugemessen werden — und hier treffen sich vermutlich Hellners und meine Einschätzung — nämlich dem amerikanischen Handelsgesetzbuch. Diese Kodifikation hat der Kompromißvorschrift

Das internationale Vertragsgesetz im Kontext seiner Vorlagen des A r t . 5 den Stempel aufgedrückt. Ebenso haben mehrere andere Regeln ihre Vorlage i m amerikanischen Recht. Man könnte erwarten, daß das internationale Vertragsgesetz nun seinerseits verschiedenen nationalen Gesetzen zum Vorbild dienen wird. I m Hinblick auf eine Neufassung der skandinavischen Vertragsgesetze sollen zwei wichtige Gesichtspunkte hervorgehoben werden. Das internationale Vertragsgesetz sieht die Probleme eher m i t den Augen des Geschäftsmannes als m i t denen des gelehrten Theoretikers, wie etwa unsere Vertragsgesetze es tun. Die Vorschrift des A r t . 6 Abs. 2 über die i n Realhandlungen liegende Annahme w i r d der Bedeutung des tatsächlichen Verhaltens der Handels- und Vertragspartner gerecht. I h r liegt die amerikanische Theorie des einseitigen Vertrages zugrunde. Daß diese Regel einen (amerikanischen) quasi „begriffsjuristischen" Hintergrund hat, hindert nicht, daß sie eine Auffrischung für das europäisch-kontinentale Recht bedeuten kann. Die Bestimmungen i n A r t . 7 Abs. 2 und A r t . 9 Abs. 2 leiten sich aus dem Grundsatz her, daß man von geringfügigen Abweichungen i m Parteiwillen abzusehen hat. A r t . 9 Abs. 1 berechtigt den Anbietenden, eine verspätete Annahme als rechtzeitige zu akzeptieren. Die letztgenannten Regeln beruhen auf demselben Gedanken, daß nämlich der Gesetzgeber Mängel beim Vertragsschluß nach Möglichkeit heilen sollte. Bei der Betrachtung von A r t . 7 Abs. 1 war jedoch festzustellen, daß das internationale Vertragsgesetz dieses Interesse nicht stets berücksichtigt. Sollte das internationale Vertragsgesetz einmal novelliert werden, müßte überlegt werden, m i t welchen zusätzlichen M i t t e l n es der Gesetzgeber ermöglichen kann, Fehler und Mängel bei der Eingehung eines Vertrages wieder zu heilen.

Die R A T I O D E C I D E N D I * E i n Vergleich dreier höchstrichterlicher Entscheidungen aus Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland u n d den U S A

Die Anregung zu diesem Aufsatz erhielt der Verfasser i m Frühjahr 1963 während einer Gastprofessur für Rechtsvergleichung an der University of Pennsylvania L a w School. Ein Manuskriptentwurf wurde an folgende Kollegen geschickt: Herrn Douglas Ayer, New Haven, Connecticut, Professor Xavier Blanc-Jouvan, Universität Aix-Marseille, Professor Otto KahnFreund, Universität Oxford, Professor Wolfram Müller-Freienfels, Universität Freiburg i. Br., und Dr. Stig Strömholm, Universität Uppsala. Der Verfasser ist ihnen allen für die zahlreichen informativen und kritischen H i n weise verbunden. Für den Inhalt dieser Schrift sind sie selbstverständlich nicht verantwortlich. I. G e g e n s t a n d d e r f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n ist d e r V e r g l e i c h des f r a n zösischen, deutschen u n d a m e r i k a n i s c h e n Rechts i n e i n e r v e r g l e i c h s weise speziellen H i n s i c h t : d e r A b f a s s u n g v o n Gerichtsentscheidungen. V o r allem w i r d untersucht, welche A r g u m e n t e zur B e g r ü n d u n g herangezogen u n d w i e sie e n t w i c k e l t w e r d e n . D e r Verfasser ist sich d e r T a t sache b e w u ß t , daß v e r b i n d l i c h e A u s s a g e n ü b e r d i e a l l g e m e i n e u n d spezifische S i t u a t i o n i n d e n d r e i L ä n d e r n u m f a n g r e i c h e systematische B e o b a c h t u n g e n voraussetzten. Dieser B e i t r a g v e r s t e h t sich d a h e r bestenfalls als Versuch, e i n e n n e u e n A n s a t z z u r D a r s t e l l u n g eines f ü r d i e Rechts v e r g l e i c h u n g w i c h t i g e n Gebiets a u f zu w e i s e n 1 . D e r A n h a n g e n t h ä l t d r e i h ö c h s t r i c h t e r l i c h e E n t s c h e i d u n g e n ; d i e erste s t a m m t v o m französischen Cour de Cassation aus d e m J a h r e 1957 * Englisch in Acta instituti Upsaliensis iurisprudentiae comparativae, hrsg. von Ake Malmström, Bd. V I , Uppsala 1965. 1 Eine Analyse gerichtlicher Urteilsbegründungen kann verschiedene Ausgangspunkte wählen. G. Wetter stellt in seiner Monographie The Style of Appelate Judicial Opinions, 1960, eine repräsentative Reihe von Gerichtsentscheidungen aus Schweden, der BRD, den USA, England, Kanada und Frankreich zusammen. Vor dem Hintergrund der Llewellynschen Zunft- und Zunft-Traditions-Theorien werden die Begründungen anhand beruflicher Standards eingeordnet. z.B. werden Merkmale wie Klarheit und Kürze richterlicher Erkenntnisse kontrastiert mit solchen wie Unbestimmtheit und überflüssiger Länge. Wetter untersucht die richterlichen Sprachmuster von einer Warte aus, wie sie etwa ein Handwerker einnimmt, der unter ästhetischen Gesichtspunkten ein Werkzeug, ein Möbelstück oder ein Musikinstrument beurteilt.

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(Litzinger u. α. gegen Kintzler und Thiriet gegen Kintzler u. a.)f die zweite vom Bundesgerichtshof (BGH) der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1960 (S.E. — Bekl. — gegen Sch. — K l . —, V I . Zivilsenat 7/60), und als drittes Beispiel folgt aus der amerikanischen Rechtsprechung ein Urteil des Supreme Court of Michigan aus dem Jahre 1961 (Maddux gegen Donaldson). Die zusammenfassenden Leitsätze sind mitabgedruckt worden. Nach Ansicht des Verfassers sind die drei Urteile typische Ergebnisse der Tradition des jeweiligen Landes. Damit w i r d nicht gesagt, daß das Oberste Gericht eines Landes stets denselben Lösungsweg nimmt, sondern nur, daß die angezeigte Entscheidungsmethode i n vergleichbaren Fällen wiederkehrt. Das amerikanische System weist indessen eine solche Vielfalt auf, daß man sich auf die Feststellung zu beschränken hat, daß es nicht schwierig wäre, weitere Gerichtsentscheidungen zu finden, die dem Muster des ausgewählten Urteils entsprechen. Obwohl die Sachverhalte i m einzelnen voneinander abweichen, behandeln alle drei Entscheidungen vergleichbare Deliktsfälle, i n denen das viel diskutierte Problem der anonymen Schadensverursachung eine Rolle spielt. Das Verhalten mehrerer Personen wirkte i m Geschehensablauf zusammen, und es war nicht mehr genau zu ermitteln, welchen A n t e i l am Gesamtschaden jeder einzelne von zwei oder mehreren potentiellen Schädigern verursacht hatte. Die streitentscheidenden Obersätze der Gerichte sind für den hier verfolgten Zweck unbedeutend. Die Auswahl des Problembereichs orientierte sich ausschließlich daran, dort Unterschiede i n der Urteilspraxis aufzuzeigen, wo die Gerichte etwa vergleichbaren Fallsituationen gegenüberstanden. I n Frankreich sind die Vorschriften des Deliktsrechts i m Code civil von 1804 niedergelegt und i n Deutschland i m BGB von 1896. Das französische Gesetzbuch enthält i n den §§ 1382 - 1386 nur wenige, knappe Deliktsregeln. Der französische Kläger stützte seine Klage auf die §§ 1382 und 1384 Abs. 1, wobei die erstgenannte Vorschrift die allgemeine Haftungsregel aufstellt: § 1382: Jedes Verhalten einer Person, das einer anderen Person Schaden zufügt, verpflichtet den Schädiger zum Ersatz des entstandenen Schadens.

I n der zweiten Vorschrift erscheint die besondere französische Regelung der Verantwortlichkeit von Personen für Sachen, die sich i n ihrer Obhut befinden. § 1384 Abs. 1: Eine Person haftet nicht nur für den Schaden, den sie selbst verursacht, sondern auch für denjenigen, den eine andere Person, für deren Verhalten sie einstehen muß, oder eine Sache, die in ihrer Obhut steht, verursacht.

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Der Wortlaut dieser Vorschriften ist sehr weit gefaßt und gibt kaum Hinweise darauf, welche Regel in dem zur Entscheidung vorliegenden Fall anzuwenden ist. Das BGB ist weitaus vollständiger als der Code civil; der Abschnitt über unerlaubte Handlungen umfaßt 31 Paragraphen (§§823-853). § 830 Abs. 1 S. 2 behandelt unsere Fallkonstellation und schreibt folgendes vor: Haben mehrere Personen gemeinschaftlich einen Schaden verursacht, ist jeder von ihnen für den Schaden verantwortlich. Dasselbe gilt, wenn nicht ermittelt werden kann, welcher der Beteiligten den Schaden verursacht hat. Anstifter und Gehilfen werden wie Mittäter behandelt.

Der Bundesstaat Michigan besitzt zu dieser Frage kein verfaßtes Recht, so daß sich der Oberste Gerichtshof ausschließlich auf das stützen muß, was er für das Common law des Landes hält. Wie sich später noch zeigen wird, sind diese Unterschiede i n der Ausgangslage von erheblicher Bedeutung; sie verweisen auf eine typische Differenzierung, die i n keiner rechtsvergleichenden Betrachtung vernachlässigt werden darf. I n den „Zivilrechts"-Ländern herrscht die Auffassung vor, daß das Gesetzbuch das Recht verkörpere. Nach dieser Konzeption gibt es grundsätzlich kein vom Gesetzgeber unbestelltes Feld. Betrachtet man den weitgefaßten Wortlaut des Code civil und seine extreme Knappheit, so scheint das französische Rechtsfeld weniger sorgfältig bearbeitet zu sein als das deutsche. Es gibt eine weitere charakteristische Unterscheidung, die allerdings seltener angesprochen wird. Während i n den anglo-amerikanischen Ländern das Votum jedes einzelnen Richters veröffentlicht wird, stellen sich die französischen und deutschen Gerichte i n Übereinstimmung m i t einer allgemeinen kontinental-europäischen Tradition der Öffentlichkeit als Kollegien anonymer Vertreter der Staatsgewalt dar. Ein Senat des französischen Cour de Cassation hat etwa 15 Mitglieder, von denen 8 - 1 0 Richter an jeder Sitzung teilnehmen. Jedem Senat gehört ferner ein Vertreter der Öffentlichkeit an, der „procureur général", oder sein Mitarbeiter, der „avocat général". Dieser vermittelt dem Gericht seine Meinung zu den aufgeworfenen Fragen, hat aber bei der Entscheidung selbst kein Stimmrecht. Die Gerichtsentscheidung basiert auf dem Bericht eines der Senatsmitglieder. I n den zwei wichtigsten von den Praktikern benutzten Entscheidungssammlungen, dem Recueil Dalloz und dem Recueil Sirey, werden die Urteile und Beschlüsse m i t den Namen des Präsidenten, des Berichterstatters und des „procureur général" abgedruckt, während jeder Hinweis auf möglicherweise abweichende Meinungen fehlt. Wenn sich aber gelegentlich die wiedergegebene Auffassung des Berichterstatters oder des „procureur général"

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von der des Gerichts unterscheidet, so bleibt es dem Leser überlassen, daraus eigene Schlüsse zu ziehen 2 . Ein BGH-Senat hat fünf Mitglieder. Ein dem „procureur général" entsprechender Vertreter der Öffentlichkeit fehlt. Die Anonymität w i r d noch strenger gewahrt als i n Frankreich. Die Rechtsprechungssammlung „Entscheidungen des Bundesgerichtshofes i n Zivilsachen" erwähnt i m Gegensatz zu den französischen Sammlungen weder den Namen des Berichterstatters noch den des Senatspräsidenten. Selbst die Namen der Parteien bleiben regelmäßig verschlüsselt. Eine weitere Bemerkung sollte vorausgeschickt werden. Für Untergerichte sind Tatsachen- und Beweisprobleme oft von ausschlaggebender Bedeutung. Dies ist — wie i n Frankreich und Deutschland — besonders dann der Fall, wenn die Untergerichte stets über Tatsachenund Rechtsfragen zu entscheiden haben. Für ein Appellationsgericht letzter Instanz stellt sich das Problem anders. Der französische Cour de Cassation hat eine streng begrenzte Rechtsprechungsgewalt; seine Hauptfunktion besteht darin zu überwachen, daß die Berufungsgerichte das geltende Recht nicht verletzen. Hinsichtlich der Tatsachenfeststellung und -Würdigung entscheiden die Berufungsgerichte endgültig. A u f der Grundlage dieser Tatsachenfeststellungen prüft der Cour de Cassation, ob i m vorliegenden Fall die betreffenden gesetzlichen Vorschriften rechtsirrtumsfrei angewandt wurden. I m Falle einer Verletzung des geltenden Rechts w i r d die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und einem anderen Gericht derselben Instanz zur erneuten Verhandlung und Entscheidung überwiesen. Werden aber keine Rechtsfehler festgestellt, so w i r d die Revision („pourvoi") zurückgewiesen 3 . Wie der Cour de Cassation entscheidet auch der B G H lediglich über Rechtsfragen; auch er ist an die Tatsachenfeststellungen der Untergerichte gebunden. Doch gibt es einen wichtigen Unterschied. W i r d die mit dem Rechtsmittel angegriffene Entscheidung aufgehoben, so kann der B G H zwischen zwei Alternativen wählen. Für den Fall, daß eine nochmalige Durchführung des gesamten Verfahrens für notwendig erachtet wird, verweist der B G H den Rechtsstreit an dasselbe Gericht 2 Erwähnenswert ist, daß die Stellungnahmen des Berichterstatters und des „procureur général" zwar allgemein zugänglich sind, ihr Inhalt aber nicht in den Entscheidungssammlungen zum Ausdruck gebracht wird. Der Herausgeber der Sammlung versieht vielmehr jede Entscheidung mit einer Anmerkung, die in der Regel anonym bleibt. Lediglich bei Grundsatz- oder Leitentscheidungen bittet der Herausgeber einen Professor, bekannten Richter oder anderen Rechtsgelehrten um eine Anmerkung, die dann mit dem Namen des Verfassers abgedruckt wird. * Siehe ζ. B. René Morel, Traité élémentaire de procédure civile, 2. Aufl. Paris 1949, S. 103 ff.; und Cornu ! Foyer, Procédure civile, 1958, S. 190 ff. 11

Schmidt

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zurück, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Doch hat er auch die Möglichkeit, selbst abschließend den Fall zu entscheiden 4 . II. Die Gerichtshöfe kamen i n den drei Fällen zu demselben Ergebnis. Der entstandene Schaden sollte ersetzt werden, obwohl es unmöglich war, die schädigende Handlung einem individuell bestimmbaren Schädiger zuzuordnen. Die Entscheidungsgründe (rationes decidendi) weichen aber augenscheinlich voneinander ab. Die folgende Aufstellung gibt einen tabellarischen Überblick über die eingeschlagenen Lösungswege mit den einzelnen Stationen: III. Die Anzahl der Punkte auf den drei Listen unterscheidet sich beträchtlich; auf der französischen stehen 7, auf der deutschen 17 und auf der amerikanischen 21 oder, wenn die Zusatzbemerkungen des einen Mitglieds der Richtermehrheit hinzugezählt werden, 26. I n der Frage, welche und wieviele Gründe zur Entscheidung herangezogen werden, verläuft die Haupttrennungslinie zwischen dem französischen Urteil einerseits und dem deutschen und amerikanischen Urteil andererseits. Die Annahme scheint gerechtfertigt zu sein, daß die Entscheidung des jeweiligen obersten Revisionsgerichts eines Landes i n einem Schadenersatzfall bestimmte Grundelemente der Lösungsmethode enthält und daß diese auch i n dem französischen Urteil zu finden sind. Diese Bausteine würden, unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen Abfolge, etwa folgendermaßen zu bezeichnen sein: a) Klageantrag der verletzten Partei b) die Entscheidung der unteren Instanz c) die Revisionsbegründung d) Sachverhalt e) die anzuwendende gesetzliche Regel f) Ergebnis Auf der französischen Liste finden sich die Punkte a) (Nr. 2), b) (Nr. 3), d) (Nr. 1) und f) (Nr. 7). Man vermißt c), und es erscheint zweifelhaft, ob der Cour de Cassation i n seinen Gründen die anzuwendende Rechtsregel (e) klar benannt hat. 4 § 565 ZPO. Siehe auch Leo Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., München und Berlin 1961, S. 714 ff.

Die RATIO DECIDENDI

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Anatomie der Entscheidungen Deutscher Bundesgerichtshof (2000 Wörter)

1. Sachverhalt

1. Sachverhalt

1. Problemstellung

2. Klageantrag der verletzten Partei

2. Klageantrag der verletzten Partei

2. Sachverhalt

3. Entscheidung des Appellationsgerichts 4. Die vom Appellationsgericht festgestellten Tatsachen in Gegenüberstellung mit der angewandten Theorie 5. Bestätigung und Abgrenzung der sich aus den Feststellungen des Appellationsgerichts ableitenden Theorie 6. Bezeichnung und Mißbilligung nicht ausschlaggebender Rechtsirrtümer in den Gründen der Berufungsentscheidung 7. Schlußfolgerung und Ergebnis: Verwerfung der Revision („pourvoi")

3. Entscheidungen der Instanzgerichte 4. Gründe der angefochtenen Vorentscheidung 5. Revisionsbegründung 6. Kritische Anmerkungen zur Revisionsbegründung 7. Frühere Entscheidungen desselben Gerichts (und seines Vorgängers, des Reichsgerichts) 8. Verfehlte Auffassung i m juristischen Schrifttum 9. Die Gesetzgebungsgeschichte i m Gegensatz zu dieser Auffassung 10. Eine die Ansicht des Gerichts stützende Literaturmeinung 11. Frühere Entscheidung, die die Ansicht des Gerichts stützt

1

Michigan Supreme Court; Mehrheitsvotum (3400 Wörter)

Französischer Cour de Cassation (500 Wörter)

1

3. Entscheidungen der Untergerichte 4. Mitwirkendes Verschulden des Klägers als mögliche Einwendung 5. Zweite Formulierung des Problems, einschließlich des Hinweises auf frühere abweichende Meinungen von Mitgliedern des Gerichts 6. Ein Fall aus dem Staate Vermont von 1829 7. Die Unterschiede des vorliegenden Falles zu dem zitierten Präjudiz 8. Wie auch ein Autor in der juristischen Literatur hervorgehoben hat, stimmt die rechtspolitische Linie des Urteils von 1829 nicht mit derjenigen früherer Entscheidungen, welche auf einen englischen Fall von 1613 zurückgehen, überein 9. Ein zeitgenössischer Richter darf nicht weniger empfindlich auf Ungerechtigkeit reagieren als ein Richter von früher (Verweis auf Literatur) 10. Beschreibung der Verletzungen eines der Kläger und Argumente für deren Unteilbarkeit 11. Die übereinstimmende Meinung Richter Blacks in einem kürzlich vom selben Gericht entschiedenen Fall; Black billigt in diesem Fall das Ergebnis des Gerichts, gibt aber eine abweichende Begründung

164 Französischer Cour de Cassation (500 Wörter)

Die RATIO DECIDENDI Deutscher Bundesgerichtshof (2000 Wörter)

Michigan Supreme Court; Mehrheitsvotum (3400 Wörter)

12. Vorläufige Schlußfolgerung

12. Abgrenzung von Fällen, in denen die Verletzungen (Schäden) klar teilbar sind, Bezugnahme auf Literaturäußerungen

13. Zweck der betreff enden gesetzlichen Vorschrift, mit Verweisen auf frühere Rechtsprechung und Literatur zu dieser Frage 14. Schlußfolgerungen aus dem Gesetzeszweck 15. Entwicklung der vorgeschlagenen Theorie mit Bezug auf eine frühere Entscheidung 16. Abschließende Bestimmung des relevanten Rechtssatzes und dessen Verhältnis zur früheren Rechtsprechung 17. Anwendung der Theorie auf den vorliegenden Fall

13. Dritte Formulierung des Problems 14. Zum zweitenmal die Unterschiede des vorliegenden Falles zum Fall von 1829 15. Vierte Formulierung des Problems, Verweis auf das Schrifttum und das Restatement of Torts (Neufassung des Deliktsreòhts) 16. Fünfte Formulierung des Problems 17. Weitere Analyse des Begriffs „unteilbar" mit Bezug auf den englischen Fall von 1613 18. Verweise auf das englische Schrifttum und amerikanische Präjudizien 19. Entkräftung eines auf verfassungsrechtlichen Erwägungen beruhenden Gegenarguments (Verweis auf frühere Entscheidungen) 20. Sechste Formulierung des Problems 21. Zusammenfassende Verwerfung der zugunsten des Bekl. vorgebrachten Argumente. Zurückverweisung und Anordnung eines neuen Verfahrens Ein Minderheitsvotum mit 4320 Wörtern von Richter Carr und 2 weiteren mit diesem übereinstimmenden Richtern (im A n hang nicht abgedruckt)

Die RATIO DECIDENDI Französischer Cour de Cassation (500 Wörter)

Deutscher Bundesgerichtshof (2000 Wörter)

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Michigan Supreme Court; Mehrheitsvotum (3400 Wörter) Zusätzliche Bemerkungen von Richter Black, einem Mitglied der Gerichtsmehrheit 1. Problemstellung 2. Die Unterschiede des vorliegenden Falles zu früheren Entscheidungen desselben Gerichts, auf welche die Mehrheit Bezug nimmt (Punkte 5. und 11.) 3. Die Auffassung eines juristischen Autors 4. Die früher von diesem Gericht angewandte Theorie, gestützt von „Reihen-Zitaten" aus früheren Urteilen 5. Die im vorliegenden Fall von der Mehrheit vorgenommenen Abwandlungen dieser Theorie

Das Fehlen des Elements c) (Revisionsbegründung) mag nicht ganz zufällig sein. Unter formalen Gesichtspunkten ist nach französischem Recht die Revision („pourvoi") i m Unterschied zur amerikanischen Berufung („appeal") kein den Parteien anheimgegebenes Hilfsmittel. Wie oben angedeutet, ist die Entscheidung des Cour de Cassation der verbindliche Spruch einer mit höchster Autorität ausgestatteten Instanz, welche darüber zu wachen hat, daß die Berufungsgerichte die vom Gesetzgeber zu der umstrittenen Frage aufgestellten Vorschriften richtig anwenden und nicht verletzen. Wenn diese oberste Instanz zu dem untergeordneten Gericht spricht, ist es zweitrangig, ob dabei auch die Fragen vollständig beantwortet werden, die eine Prozeßpartei i n ihrer Argumentation aufgeworfen hat. Demgegenüber verdient es mehr Aufmerksamkeit zu ermitteln, inwieweit das französische Gericht die anzuwendende Gesetzesregel offenlegt. A r t . 17 des Gesetzes über die Errichtung des Cour de Cassation vom 17.11.1790 schreibt vor, daß der abschließende Teil der Entscheidungen dieses Gerichts auf den Gesetzeswortlaut Bezug nehmen soll, auf dem die Entscheidung beruht 5 . Der Leser der franzö* Vgl. Glasson, Morel und Tissier, Traité théorique et pratique d'organisation judiciaire, de compétence et de procédure civile, Bd. 3, Paris 1929,

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Die RATIO DECIDENDI

sischen Entscheidungssammlungen gewinnt den Eindruck, daß sich der Cour de Cassation i m Falle der Aufhebung einer Berufungsentscheidung sorgfältig bemüht, die i m betreffenden Fall verletzten Gesetzes- oder Verordnungsvorschriften genau zu benennen. I n unserem Fall verfährt das Gericht weniger exakt. Der Leser muß erst die Nr. 2 des Urteils m i t dem Hinweis auf den Klageantrag der geschädigten Partei und Nr. 6, i n welchem das Gericht rechtsirrige Auffassungen in den vom Untergericht gelieferten Gründen zurückweist, studieren, u m herauszufinden, daß sich die Entscheidung des Cour de Cassation, nachdem die Anwendbarkeit von § 1384 Abs. 1 verneint wurde, ausschließlich auf § 1382 stützt. Das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf den Code civil erklärt sich aus der Eigenart des hier betroffenen Rechtsgebietes. Die Vorschriften des Code civil zum Schadenersatz bei unerlaubten Handlungen sind derart vage und unbestimmt, daß ein Verweis auf die Generalklausel i n § 1382 nur wenig Informationswert besäße. Das Gericht muß demnach eine spezifischere Regel über die gemeinschaftliche Schadensverursachung angewandt haben. Untersucht man die Gründe darauf hin, so findet man die relevante Aussage dazu i m zweiten Teil der Nr. 5: „ . . . mehrere Personen, die sich zu einer gemeinschaftlichen Handlung verabreden oder bei gegenseitiger Aufmunterung spontan gemeinschaftlich handeln, können derart an den Folgen ihres Verhaltens beteiligt werden, daß jeder von ihnen für den dabei entstehenden Schaden zu haften hat." Der Wortlaut dieser Passage ist auch noch recht unbestimmt. Während der Sachverhalt — sieben Jäger feuern eine Salutsalve ab — i n Nr. 1 mit großer Präzision dargestellt wird, deutet das Gericht i n Nr. 5 die anzuwendende Regel nur an. Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Haftungsgrund vorliegen, und i m zu entscheidenden Fall lag er auch vor. Keine A n t w o r t aber erfolgte auf die Frage, ob dieselbe Regel für alle Situationen gilt, i n denen Personen „bei gegenseitiger Aufmunterung spontan gemeinschaftlich handeln". Tatsächlich arbeitet der Cour de Cassation m i t einer Rechtsregel, deren Formulierung offen ist. Für die Rechtsprechung selbst mag diese Methode gewisse Vorteile haben. Dies t r i f f t vor allem zu auf einem Gebiet wie dem der unerlaubten Handlungen, wo das Gesetz dem Rechtsanwender nur bescheidene Entscheidungshilfen zur Verfügung stellt. Das Gericht ist dann i n der Lage, sich i n verschiedene Richtungen hin frei zu bewegen, ohne m i t früheren Entscheidungen zu kollidieren. Die Aufrechterhaltung einer formal einheitlichen RechtNr. 950. R. Rodière hat eine Reihe französischer höchstrichterlicher Entscheidungen zusammengestellt und deren Elemente i m einzelnen analysiert, siehe Rodière , Travaux pratiques. Droit civil. 2e année, 2. Aufl. 1961, S. 20 ff.

Die RATIO DECIDENDI

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sprechung w i r d so lange keine Schwierigkeiten bereiten, wie die herangezogene Rechtsregel nicht ausdrücklich und verbindlich offenbart w i r d ; eine solche Lage scheint selbst i n Frankreich als wertvoll betrachtet zu werden, einem Land, dessen Rechtssystem den Richter nicht an die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung bindet und Präjudizien bestenfalls Uberzeugungswirkung entfalten. Die Abneigung, die Untergerichte zu dirigieren, erklärt — wie unten noch zu zeigen sein w i r d 6 — teilweise die vorgefundene A r t und Weise der Urteilsbegründung. Das deutsche und das amerikanische Gericht sind stärker darum bemüht, die Konturen der angewandten gesetzlichen Vorschriften nachzuzeichnen. I n der BGH-Entscheidung endet die Aufschlüsselung der Gründe m i t einer zusammenfassenden Darstellung der benutzten Haftungsregel (Nr. 16). Während die Mehrheitsbegründung des Michigan-Urteils ziemlich verschwommen ausfällt und selbst grundlegend andere Ansätze i n früher von demselben Gericht aufgestellten Regeln abdecken würde, erklärt einer der Richter der Gerichtsmehrheit i n einem Zusatzvotum detailliert, welche Modifikationen die ursprüngliche Regel jetzt erfahren hat 7 . IV. Von zentraler Bedeutung ist die Frage nach den Argumenten für oder gegen die Rechtsregel, deren Anwendbarkeit geprüft wird. I n der französischen Entscheidung fehlen solche Argumente ganz, so daß w i r dieses Urteil bis zu den abschließenden Bemerkungen unter V. außer Betracht zu lassen haben. Die für bzw. gegen die anzuwendende Regel sprechenden Gründe, die i n der deutschen und i n der amerikanischen Entscheidung zahlreich enthalten sind, lassen sich in zwei Kategorien unterscheiden, und zwar i n formale und rechtspolitische Argumente. M i t formalen Argumenten sind solche gemeint, die i n sich selbst ruhen, ζ. B. der Gesetzestext, die Gesetzesmaterialien oder die ältere Rechtsprechung. Formale Argumente beanspruchen unabhängig davon Geltung, ob gleichzeitig » Siehe unten S. 172. Den ausgewählten Fall darf man nicht zur Grundlage von Verallgemeinerungen machen. Eine Entscheidung i m Kauf- oder Erbrecht würde anders ausgefallen sein, ζ. B. wäre die „anzuwendende Rechtsregel" exakter angegeben worden. 7 Es wurde angedeutet, daß der Leser der Entscheidung den Eindruck bekommt, daß Richter Black in seiner Zusatzbegründung das Mehrheitsvotum für allzu unbestimmt hält und in präziseren Formulierungen beschreibt, worauf sich die Mehrheit geeinigt hat. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, daß es Meinungsunterschiede auch innerhalb der Gerichtsmehrheit gab, so daß Richter Black verdeutlichen wollte, in welchem Umfang er mit den übrigen Mitgliedern der Mehrheit übereinstimmte.

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Die RATIO DECIDENDI

ein Wunsch nach Bekräftigung oder Durchsetzung allgemeiner Grundsätze besteht, wie etwa den der Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf Stand, Religion oder Hautfarbe, oder ob individuelle oder gesellschaftliche Ziele wie der Ersatz entstandenen Schadens oder Vorbeugung vor strafbaren oder fahrlässigen Handlungen erfüllt werden sollen. A u f dem Gebiet des gesetzten Rechts ist der B G H i n der Lage, zum Zwecke der Untermauerung eines wichtigen Argumentationspunktes die Gesetzesmaterialien zu zitieren (Nr. 9): der Wortlaut des Gesetzes sollte nicht zu eng ausgelegt werden. Auch solche Personen, die nicht tatsächlich gemeinschaftlich gehandelt haben, könnten als „Mitbeteiligte" betrachtet werden, die jeder für sich für den Schaden einzustehen hätten 8 . Sowohl das deutsche als auch das amerikanische Gericht messen der präjudikativen Rechtsprechung großes Gewicht bei. Der B G H bezieht sich auf frühere Entscheidungen i n Nr. 7, 11, 13 und 15, und der Michigan Supreme Court i n Nr. 5, 6, 7, 8, 11 und 14. Eine Diskussion der Frage nach Einfluß und Bedeutung von Präjudikaten sowie diesbezüglichen Unterschieden zwischen deutschem und amerikanischem Recht würde uns allerdings auf ein neues Untersuchungsfeld führen. Hier soll nur eine Bemerkung dazu gemacht werden. Alle vom B G H zitierten Entscheidungen entstammen der deutschen Rechtsprechung, einige der eigenen und einige der des Reichsgerichts, seines Vorgängers 9 . I n der amerikanischen Urteilsbegründung werden Fälle aus verschiedenen Rechtsprechungsgebieten zitiert, aus England und aus den USA, sowie eigene frühere Entscheidungen. Die umfassende Fallsammlung der Common-law-Rechtsprechungen scheint fast unterschiedslos benutzt worden zu sein. Ein Vergleich unserer beiden Entscheidungen macht deutlich, daß auch i m deutschen Recht ältere Urteile eine Rolle spielen, obwohl dabei andere Differenzierungen stattfinden als die amerikanische Unterscheidung zwischen bindenden Präjudikaten und solchen, die eher einen empfehlenden Charakter haben. Beide Gerichte bedienen sich auch rechtspolitischer Argumente. Der B G H bezeichnet als den Zweck des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB die Überwindung von Beweisschwierigkeiten des Geschädigten hinsichtlich der Schadensverursachung i n bestimmten Situationen (Nr. 13). A n schließend w i r d dieser Gedanke weiterentwickelt. Der Fall, daß die Schädiger gemeinschaftlich und gleichzeitig handeln, w i r d dem Fall, 8 Eine von deutschen Wissenschaftlern mitgeteilte Information sollte hierzu aber beachtet werden: in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts waren Bezugnahmen auf die Gesetzesmaterialien wesentlich häufiger als heute, ca. 70 Jahre nach dem Inkrafttreten des BGB. » Das Reichsgericht wurde 1879 eingerichtet und arbeitete bis zur deutschen Kapitulation 1945.

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daß sie i n zeitlicher Aufeinanderfolge tätig werden, gleichgestellt. Schließlich w i r d der Gesetzeszweck dahingehend definiert, daß Zweifel über die Verursachungsabfolge und die Beweislast „den rechtswidrig und schuldhaft handelnden Gefährdungstätern" überbürdet werden sollen (Nr. 14). Verglichen damit ist das rechtspolitische Argument des Michigan Supreme Court ausgesprochen weitläufig. Die schlichte Tatsache, daß es heute ebenso wie früher Situationen gibt, i n denen die genaue Verursachung eines Schadens nicht mehr beweisbar ist, w i r d als Begründung vorangestellt. Das amerikanische Gericht wollte nicht weniger empfindsam auf die Schädigung des Klägers reagieren als das Königliche Obergericht (King's Bench) i m Heydon-Fall i m Jahre 1613 (Nr. 9 und 17). Zu diesem Punkt beschränke ich mich auf eine Anmerkung. Zwischen den rechtspolitischen und den formalen Argumenten besteht ein Bindeglied. Beide Gerichte bemühen sich u m den Nachweis, daß ihre rechtspolitischen Erwägungen keine eigenen Erfindungen sind, sondern sich aus früheren Entscheidungen herleiten. I n dieser Weise zitiert der B G H aus den Begründungen des Reichsgerichts 10 . Der Michigan Supreme Court legt das Schwergewicht auf die Gründe des Heydon-Urteils. Diese Abhängigkeit von formalen Grundlagen ist ein Charakteristikum juristischer Argumentationsweise überhaupt. Sollte eine solche Verankerung wirklich als Maßstab für das Gewicht eines Arguments i n Frage kommen, so befindet sich i n unseren Fällen der B G H i n der stärkeren Position. I n der deutschen Entscheidung ist die Verbindung zur formalen Rechtsquelle eng und relativ genau bezeichnet, während das Argument des amerikanischen Gerichts weit ausholt. Die Forderung, der Richter müsse empfindsam gegenüber den vom Kläger erlittenen Schäden sein, scheint für nahezu alle Fälle zu gelten, i n denen es einen möglichen Schädiger gibt. N i m m t man diese Erwägung ernst, so würde sie das Recht der unerlaubten Handlungen weit über seine traditionellen Grenzen hinaus ausdehnen 11 . A n mehreren Stellen nehmen beide Urteilsbegründungen auch Bezug auf das juristische Schrifttum. Der B G H scheint dabei zwei Gründe für solche Zitate zu haben. Literaturmeinungen werden einmal dazu herangezogen, u m die Auffassung des Gerichts als richtig zu bekräfUnter Nr. 13 bezieht sich der B G H auf die Entscheidung R G Z 121, 400 ff., in welcher das R G ausführlich die Entstehungsgeschichte des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB darlegt sowie ältere deutsche Gesetzesvorschriften zur Haftung mehrerer Schädiger erläutert. 11 I m Heydon-Fall gehörten die drei Beklagten zur selben Partei während des schadenstiftenden Streits. Der Michigan Supreme Court übergeht die Frage, ob nicht solche Fälle, in denen sich die Beklagten absichtlich zu einem gefährdenden Unternehmen zusammengetan haben, von dem vorliegenden Fall abzuheben seien.

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tigen. So erscheinen i n den Nr. 10 und 13 Literaturfundstellen, welche die Aussagen über die Gesetzgebungsgeschichte und den Zweck des § 830 Abs. 1 BGB über die gemeinschaftliche Haftung stützen. Demgegenüber hat die Literaturangabe i n Nr. 8 einen anderen Charakter. Das Gericht gibt die Meinung eines bekannten BGB-Kommentators, Staudinger, und die damit übereinstimmende Auffassung i n dem von Mitgliedern des eigenen Gerichts mitverfaßten BGB-Kommentar wieder. Sodann w i r d diese Ansicht als irrtümlich verworfen. Es ist kennzeichnend für den BGH, daß er die Frage nicht gleichsam autoritat i v entscheidet, sondern alle denkbaren Gegenargumente aufzufinden und abzuhandeln versucht (Nr. 9 - 1 2 ) . Das Gericht arbeitet mehr oder weniger wie ein Wissenschaftler, der sich m i t der abweichenden Meinung anderer auseinandersetzt. Der Michigan Supreme Court bezieht sich häufig auf Äußerungen i m juristischen Schrifttum (Nr. 8, 9, 12, 15 und 18). Längere Passagen werden wörtlich zitiert. Einige dieser Verweise dienen wie auch beim B G H der Unterstützung der eigenen Ausführungen, wie z. B. das Zitat i n Nr. 8. Das Gericht leitet seine Bemerkungen zur ratio decidendi bestimmter Präjudizien m i t der Floskel ein: „Überdies ist es, wie Dean Wigmore hervorgehoben hat, so . . . " Die fleißige Bezugnahme auf die juristische Literatur i n dem amerikanischen U r t e i l scheint eine weitere Funktion zu haben. I n einem breiteren Umfang als anderswo werden Äußerungen i m Schrifttum als eine A r t formaler Argumente verwandt. I n den USA, i n denen außer den Bundesgerichten rund 50 oberste Rechtsprechungsorgane fungieren, sind derart zahlreiche, z. T. auseinanderstrebende Kräfte am Werk, daß das System zerfallen würde, wenn sich die Gerichte nicht u m Einheitlichkeit bemühten. Deshalb ist es wichtig zu ermitteln, ob i n der betreffenden Frage eine Übereinstimmung der wissenschaftlichen und Lehrmeinungen festzustellen ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das Restatement (Zitat und Fundstelle unter Nr. 15) als außergewöhnlich w e r t v o l l zu betrachten. Eine Gruppe hervorragender Fachjuristen hatte eine Reihe von Regeln zusammengestellt, die sie — ohne Bezugnahme auf Kodifikationen — einhellig als das geltende Recht ansahen. Heute gehen die Meinungen über Qualität und Verwendbarkeit einiger der Restatements auseinander, und höchstwahrscheinlich ist gerade das Restatement des Deliktsrechts i n mancher Hinsicht veraltet 1 2 . Das B G H - U r t e i l enthält keine Literatur ver weise, die dem soeben genannten Zweck dienen sollen. Gleichwohl ähnelt nach Ansicht des Verfassers die Arbeitsweise der deutschen Gerichte derjenigen der amerikanischen. Der ausländische Leser der deutschen rechtswissen12

Es wurde in den Jahren 1934 - 1939 veröffentlicht.

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schaftlichen Literatur ist von deren überwältigendem Reichtum und hohen Qualität beeindruckt. Deutsche Rechtsgelehrte sind sich ihrer Position bewußt, und der Leser ihrer Schriften w i r d vielfältige H i n weise auf dieses Bewußtsein antreffen. Die angesehensten deutschen Professoren bilden eine eigene, abgeschlossene Gruppe, welche i n umstrittenen Fragen die herrschende Meinung formuliert. Nipperdey 13, selbst Professor und Richter, äußert sich zu dieser Situation i n dem Standard-„Lehrbuch des bürgerlichen Rechts" 14 . Er verwirft dort den Gedanken, daß eine communis doctorum opinio eine dem Gewohnheitsrecht vergleichbare Rechtsquelle sei, räumt jedoch ein, daß ein Richter nicht leichten Herzens über Auffassungen hinweggehen sollte, die Rechtswissenschaftler als richtig erachten 15 » 16 . V. Wie jede andere praktisch orientierte Beurteilung muß auch die K r i t i k an der Abfassung einer gerichtlichen Entscheidung das Verhältnis von Zielsetzung und M i t t e l n i n Betracht ziehen. Dem Richter w i r d die Rechtsanwendung nicht zu dem Zwecke übertragen, damit er Entscheidungen treffen kann, die sich auf seine eigenen persönlichen Anschauungen gründen. Sein Handlungsrahmen ist vielmehr eng begrenzt; und die Auffassung ist noch weit verbreitet, daß der Richter das Recht nur i n dem Rahmen zu ermitteln und anzuwenden hat, der bereits vorher festgelegt war. M i t Sicherheit ist diese Ansicht zu extrem. Jeder Realist muß anerkennen, daß der Richter oft als GesetzNipperdey war lange Zeit Rechtsprofessor an der Universität Köln und gleichzeitig Präsident des Bundesarbeitsgerichts. 14 Gewöhnlich nach den Namen der drei ursprünglichen Verfasser „Enneccerus / Kipp / Wolff" zitiert. Von der 13. Aufl. ab wurde der 1. Teil des Lehrbuchs, „Allgemeiner Teil", von Nipperdey verfaßt. Die 13. Aufl. erschien 1931 und die 15. Aufl. als die jüngste in den Jahren 1959/1960. Vgl. zum Einfluß des juristischen Schrifttums Esser, Grundsatz und Norm, Tübingen 1956, S. 306 ff. 15 Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., S. 276 f. Vgl. zu dem Gedanken der communis doctorum opinio Art. 38 Abs. 1 lit. d) der Statuten des Internationalen Gerichtshofs. 16 I m Hinblick auf das englische und schottische Recht wurden Rolle und Einfluß der in der wissenschaftlichen Literatur vertretenen Meinungen von Lord Buckmaster im Fall Donoghue (oder McAlister gegen Stevenson — 1932 — All. E. Rep. 1) dargestellt: „Das common law muß in den Büchern angesehener juristischer Autoren und in den Erkenntnissen der Richter, die mit der Anwendung des common law betraut sind, gesucht werden." Doch ist es ausschließlich zulässig, die Schriften verstorbener Personen zu zitieren, weil „die Werke lebender Autoren trotz einer zu recht hocheingeschätzten Bedeutung nicht als Rechtszeugnisse benutzt werden dürfen, obgleich die in ihnen ausgedrückten Ansichten Beachtung verdienen". Grundsätzlich hat sich an dieser Ausklammerung des zeitgenössischen Schrifttums durch englische und schottische Gerichte nichts geändert, doch lassen sich hier allmähliche Auflockerungserscheinungen beobachten.

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geber handelt, wenn er neu auftretende Probleme lösen muß. Doch ist die überkommene Meinung, der Richter wende lediglich das Recht so an, wie es schon bestand, i n ihrem Kern nicht falsch. Unter der Voraussetzung, daß der Richter eine Wahl zu treffen hat, ist es ein prinzipielles Gebot, daß die i h m zur Verfügung stehenden Alternativen innerhalb des Rahmens der gesetzlichen Bestimmungen, der Rechtsprechung sowie eigener früherer Entscheidungen liegen. Vorrangiges Ziel einer gerichtlichen Entscheidungsbegründung sollte es sein darzulegen, daß die rechtsprechende Gewalt nicht mißbräuchlich, sondern innerhalb des zulässigen und richtigen Rahmens ausgeübt wurde. Und dieses Ziel scheint dem Cour de Cassation bewußt gewesen zu sein, als er die Zurückweisung der Revision bzw. die Aufhebung der berufungsgerichtlichen Entscheidung begründete. I n den Gründen beschreibt das Gericht den vom Untergericht festgestellten Sachverhalt i m Lichte einer angedeuteten allgemeinen Theorie, die nur insoweit entschleiert wird, wie es zu einer Aussage über die zu prüfende Rechtsverletzung durch das Untergericht erforderlich ist. Berücksichtigt man, daß der Gerichtshof nicht die Aufgabe hat, Recht anzuwenden, sondern die Tätigkeit der unteren Instanzgerichte überprüfen soll, so scheint der vom Cour de Cassation gewählte Stil adäquat zu sein. Nach der Aufhebung einer Entscheidung hat das nunmehr m i t dem Fall befaßte Berufungsgericht 17 vollkommen unabhängig zu verfahren und seine Entscheidung auf eigene Gründe zu stellen 18 . Der deutsche B G H wurde, wie schon sein Vorgänger, das RG, m i t dem Zweck eingerichtet, die Entscheidungen der unteren Gerichte i n rechtlicher Hinsicht zu überwachen. Das Revisionsverfahren zielt i n erster Linie auf die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ab. Unter diesem Gesichtspunkt liegt es nahe, daß der Nennung und K l ä rung der angewandten Rechtsregel stärkstes Gewicht beigemessen wird. Dies scheint auch der Grund dafür zu sein, daß die formal begründeten Argumente wie Gesetzesmaterialien und frühere Entscheidungen als besonders wesentlich eingeschätzt werden. Wetter beschreibt den BGH-Stil i n zugespitzter Form: die Erkenntnisse „sind augenscheinlich an andere Richter adressiert und ähneln sehr Randbemerkungen oder Anweisungen, die von einem Lehrer oder Vorgesetzten i n förmlicher 17 Der Rechtsstreit wird stets an ein anderes Berufungsgericht als das, welches die erste (aufgehobene) Entscheidung erlassen hat, zurückverwiesen. Lediglich dann, wenn aufgrund einer neuerlichen Revision der Prozeß wiederum vor den Cour de Cassation gelangt und zum zweitenmal aufgehoben und zurückverwiesen wird, sind die oberstgerichtlichen Instruktionen bindend. 18 Der Stil des Cour de Cassation ist in der Tat etwas eigen, während die französischen Untergerichte im Hinblick auf die Offenlegung ihrer Argumente weniger restriktiv sind.

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Weise Schülern oder Untergebenen übermittelt werden" 1 9 . M. E. verhält sich der B G H aber eher als Professor denn als Vorgesetzter. Die professorale Einstellung kommt deutlich i n der Abfassung der Leitsätze für die Entscheidungssammlungen zum Ausdruck. Der Leitsatz — der i m Unterschied zu den Leitsätzen amerikanischer Urteile vom Gericht selbst stammt — soll ausschließlich das Thema des behandelten Falles angeben, und die veröffentlichte Entscheidung ist darauf angelegt, vollständig gelesen zu werden. Oft w i r d der Leitsatz auch i n die Form einer Frage gekleidet 20 . I m hier abgedruckten Urteil wurde der Leitsatz negativ formuliert; für den Begriff der „Beteiligung" w i r d auf die Voraussetzungen „innere Beziehung" zwischen den Schädigern und „Gleichzeitigkeit" des Handelns verzichtet. Die vollständige Definition und Bedeutung des Begriffs „Beteiligung" w i r d jedoch nur derjenige verstehen, der sich der Mühe unterzieht, das ganze Urteil zu lesen 21 . Das BGH-Urteil ist eine ausgefeilte, wissenschaftliche Studie, die sowohl Rücksicht auf Vollständigkeit als auch auf Sparsamkeit nimmt. Das erhebliche Tatsachen- und Rechtsmaterial w i r d i n klarer Abfolge und gestraffter Form dargestellt. Die durch Verweise auf frühere Entscheidungen erreichte Beschränkung ist ebenfalls Teil der angewandten Ökonomie. Wie schon erwähnt, stammen alle i n Bezug genommenen Entscheidungen vom B G H selbst oder vom RG. Der Rechtsprechung anderer Gerichte w i r d keine Aufmerksamkeit gewidmet 2 2 . Wer die Urteile des B G H und des Michigan Supreme Court einander gegenüberhält, ist von dem großen Längenunterschied verblüfft. Das amerikanische Gericht benötigt 3 400, bzw. einschließlich der 500 Wörter des Zusatzvotums von Richter Black, fast 4 000 Wörter, während die Begründung des deutschen Gerichts nur rund 2 000 Wörter ausmacht. Der stärkere Umfang des Michigan-Urteils beruht teilweise auf zwei zusätzlich abzuhandelnden Problemstellungen, die i m BGH-Fall nicht enthalten sind. Z u m einen wurde von der Beklagten-Seite geltend gemacht, den Verletzten treffe ein mitwirkendes Verschulden (Nr. 4), und zum anderen mußte das Gericht einen verfassungsrechtlich bedingten Einwand entkräften (Nr. 19). Der Hauptgrund für den Längenunterschied liegt aber i n der Eigenart der amerikanischen Rechtis Wetter, 20

The Style of Appelate Judicial Opinions, 1960, S. 71.

Vgl. den Leitsatz zur ersten der von Wetter, ebd., S. 105, ausgewählten Entscheidungen. 21 I n den Gründen behandelt das Gericht alle Voraussetzungen des Begriffs „Beteiligung" unter Nr. 16. 22 I n dieser Hinsicht ist unser Urteü, welches keinen Verweis auf Entscheidungen der unteren Gerichte enthält, allerdings nicht repräsentativ. Oft untersucht der B G H sorgfältig die Entscheidungspraxis der seiner Rechtsprechung unterstehenden Oberlandesgerichte, wobei die Erkenntnisse des „Bayerischen Obersten Landesgerichts" und des „Kammergerichts" für außerordentlich wertvoll gehalten werden.

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sprechung, das Ausgangsproblem mehrfach wieder aufzugreifen und umzuformulieren, sowie i n den umfangreichen Zitaten aus der Literatur. Diese Neigung zu überflüssiger Länge ist schon oft kritisiert worden 2 3 . Der Stil des Michigan-Urteils entspricht dem einer Rede — wenn auch mit gelehrten Fußnoten versehen —, die von einem einzelnen Richter gehalten wird. Die Langatmigkeit mag auch mit dem Umstand zusammenhängen, daß die amerikanische Urteilsbegründung als die Leistung einer Person erscheint, die der Öffentlichkeit als Individuum gegenübertritt. Hingegen ist es Teil deutscher Tradition, daß das Gericht als Kollegium anonymer Rechtsprechungsbeamter jeden Satz seiner Urteilsbegründung als notwendiges Glied einer logischen Kette präsentiert 24 . Nun sind aber Wiederholungen und ausführliche Zitate noch nicht notwendig von Nachteil. Die Schwäche des Michigan-Urteils muß eher i n der Häufung von Argumenten ohne Rücksicht auf die Frage, welches Ziel sie i m einzelnen verfolgen, gesehen werden. Die vielfachen Verweise auf Entscheidungen aus abgelegenen Rechtsprechungen scheinen m i r eine durchgehend abwegige Methode zu sein. Es ist zwar zuzugeben, daß es gute Gründe für die Inanspruchnahme von Präjudizien geben mag, um Informationen über die angewandten Rechtsregeln zu geben, wobei die Einheitlichkeit der gesamten Common-law-Rechtsprechung als oberstes Ziel einmal akzeptiert wird. Und ebenso kann ein solches Präjudiz auch wertvolle rechtspolitische Hinweise enthalten. Doch sollte ein Fall nicht allein deshalb zitiert werden, weil er von einem Gericht der Common-law-Länder entschieden wurde. So sind der Fall aus Vermont von 1829 (zitiert unter Nr. 6) und der englische Fall von 1613 (unter Nr. 8) zwar farbenprächtige Illustrationen, doch haben sie starke Ähnlichkeit mit den Geschichten, die der Präsident beim Kaffee zum besten gibt. U m über das Recht i n anderen Rechtsprechungsgebieten zu informieren, erscheint es angemessener, entsprechende Auskünfte in Handbüchern und Abhandlungen zu Rate zu ziehen. Die große Zahl aneinandergereihter Rechtsprechungsverweise und Literaturzitate, die keinen unmittelbaren Bezug zu den eigentlichen Problemen des Falles haben, vermittelt einen falschen Eindruck von Überzeugungskraft und Stringenz. Sie könnte vielmehr von dem Fehlen anderer, relevanter Urteilselemente ablenken. I m Unterschied zu seinen englischen Kollegen ist der amerikanische Richter nicht streng an Präjudikate gebunden, und seine Möglichkeiten, neues Recht zu setzen, sind besonders groß auf den Gebieten, die der Gesetzgeber noch nicht 23 Siehe Wetter, The Style of Appelate Judicial Opinions, 1960, S. 41, m. w. Nachw. aus dem amerikanischen Schrifttum. 24 Möglicherweise erklärt sich der erdrückende Umfang amerikanischer Urteile auch aus purem Zeitmangel. Der Richter ist auf das Vorbringen der Parteien angewiesen; welche Zeit bleibt ihm für größere Untersuchungen?

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geregelt hat. I m vorliegenden Fall, der mit einer Mehrheit von fünf gegen drei Richterstimmen entschieden wurde, hat man Grund zu der Annahme, daß rechtspolitische Erwägungen eine erhebliche Rolle gespielt haben. Aber gerade zu diesen Fragen sagt das Gericht nur wenig, ausgenommen die rhetorische Wendung, daß der Richter von heute nicht weniger empfindsam gegenüber der Gerechtigkeit sein dürfe als ein englischer Richter i m 17. Jahrhundert. M. E. ist das Ausbleiben einer eingehenden rechtspolitischen Diskussion der schwächste Punkt des Michigan-Urteils. Die Forderung scheint gerechtfertigt, daß sich der Richter auch i n den Gründen auf die entscheidungserheblichen Argumente konzentriert. Anhang 1 Recueil Dalloz 1957, S. 493 Cour de Cassation (Chambre civile , 2. Zivilsenat, 5. Juni 1957) Private Haftung, Fahrlässigkeit, gemeinschaftliches Handeln einer Gruppe, Schaden, Haftung mehrerer (gemeinschaftliche Haftung), Jäger, Salutschüsse. Nehmen mehrere Personen aufgrund einer Verabredung oder durch spontanes Vorgehen unter gegenseitiger Aufmunterung an einer gemeinschaftlichen Aktion teil, so haftet jeder von ihnen für den dabei entstehenden Schaden, unabhängig davon, ob der Schaden durch eine einzelne Handlung, an der sich alle beteiligt haben, oder durch eine nach Anlage und Durchführung so eng miteinander verknüpfte Reihe von Handlungen verursacht wurde, daß diese nicht mehr getrennt werden können (1); Dies ist der Fall, wenn eines abends sieben Mitglieder einer Jagdgesellschaft beschließen, die Jagd durch das Abfeuern einer Salutsalve zu beenden, und das achte Mitglied, das sich von der Jagd zurückgezogen hat, durch einen Salutschuß verletzt wird. Auf die Klage des Verletzten sind die Schützen zu recht verpflichtet worden, den Schaden in gesamtschuldnerischer Haftung zu ersetzen, wobei die Entscheidung davon ausgeht, daß „die wahre Ursache des Unfalls in dem verabredeten Verhalten der sieben Jäger lag, nämlich in dem gemeinsamen Schießen, das nicht mehr zur eigentlichen Jagd gehörte und unter solchen Umständen durchgeführt wurde, die Fahrlässigkeit und mangelnde Sorgfalt jedes einzelnen von ihnen offenbaren" (2). (Litzinger

u. a. gegen Kintzler,

und Thiriet

gegen Kintzler

u. α.).

Entscheidung (nach mündlicher Verhandlung vor dem Senat). Das Gericht: — Verbindung der Revisionen Nr. 1034 Civ. 54 und Nr. 1143 Civ. 54 aufgrund ihres Zusammenhangs.

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Die RATIO DECIDENDI

Zur gemeinsamen Begründung für alle Parteien beider Revisionen: — 1. Wie aus den Feststellungen des angefochtenen untergerichtlichen Urteils (Dijon, 3. März 1954), das hiermit bestätigt wird, hervorgeht, befanden sich am 6. Januar 1952 Nicolas, Roger, Cudel, Litzinger, Chauffant Paul, Chauffaut Jean und Thiriet auf Wildjagd. Kintzler war Mitglied der Jagdgesellschaft. Gegen 16 Uhr wurde die Jagd eingestellt. Während sich Kintzler von der Jagd zurückgezogen hatte, u m sich nach Hause zu begeben, beschlossen die übrigen sieben Jäger, zum Abschluß der Jagd eine Salutsalve abzuschießen. Der noch i n der Nähe befindliche Kintzler wurde durch einen Schuß i n sein rechtes Auge derart verletzt, daß er dessen Sehkraft fast vollständig einbüßte. Nach Aussage eines der Schützen hatten die sieben Jäger gleichzeitig geschossen, nach Aussagen eines anderen fielen die Schüsse „wie die Salve eines 2. Maschinengewehrs". — Auf die auf den doppelten Rechtsgrund der A r t . 1382 und A r t . 1384 Abs. 1 Code civil gestützte Klage des 3. Verletzten gegen die sieben Jäger hin stellte das Berufungsgericht 4. die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten fest und führte aus, daß „die wahre Ursache des Unfalls i n dem verabredeten Verhalten der sieben Jäger lag, nämlich i n dem gemeinsamen Schießen, das nicht mehr zur eigentlichen Jagd gehörte und unter solchen Umständen durchgeführt wurde, die Fahrlässigkeit und mangelnde Sorgfalt jedes einzelnen von ihnen offenbaren". — 5. Hiermit ist die gesamtschuldnerische Haftung der sieben Beklagten hinreichend und zutreffend begründet worden, so daß es nicht notwendig ist, zum Zwecke der Aufklärung des Geschehensablaufs den Urheber des Schusses, der die Verletzung hervorgerufen hat, zu ermitteln. Denn fest steht, daß mehrere Personen, die sich zu einer gemeinschaftlichen Handlung verabreden oder bei gegenseitiger Aufmunterung spontan gemeinschaftlich handeln, derart an den Folgen ihres Verhaltens beteiligt werden können, daß jeder von ihnen für den dabei entstehenden Schaden zu haften hat, wobei es nicht auf die Feststellung ankommt, ob der Schaden durch eine einzelne Handlung, an der sich alle beteiligt haben, oder durch eine nach Anlage und Durchführung so eng miteinander verknüpfte Reihe von Handlungen verursacht wurde, daß diese 6. nicht mehr getrennt werden können. — Demnach ist es unerheblich, daß die weiteren Urteilsgründe, die sich auf eine angeblich vorliegende gesetzliche Haftung einer Person für eine i n ihrer Obhut befindliche Sache stützen, Rechtsirrtümer enthalten und berechtigte K r i t i k von Seiten der Revision ausgelöst haben, weil sie überflüssig sind. Denn die angefochtene Entscheidung ist gleichviel rechtlich zutreffend begründet.

Die RATIO DECIDENDI

177

7, Aus diesen Gründen waren die Revisionen zurückzuweisen. Camboulives, Senatspräsident — Vidal, Berichterstatter — Lemoine, avocat général — Morillot, Alcock und Brouchot, Beisitzer. Anhang 2 Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen BGHZ 33 (1961), S. 286 ff. Der Begriff der „Beteiligung" in §830 Abs. 1 Satz 2 BGB setzt weder eine innere Beziehung zwischen den mehreren rechtswidrig und schuldhaft Handelnden noch die Gleichzeitigkeit ihrer Gefährdungshandlungen voraus. BGB § 830 Abs. 1 Satz 2 V I . Zivilsenat. Urt. v. 15. November 1960 i. S. E. (Bekl.) w. Sch. (Kl.). V I ZR 7/60. I. Landgericht Bamberg I I . Oberlandesgericht Bamberg

1. Der Kläger wurde i n der Nacht vom 11. zum 12. Dezember 1956 auf einer Bundesstraße von einem Kraftfahrzeug, das er anhalten wollte, erfaßt und auf die Fahrbahn geschleudert, wo er liegen blieb. Hier wurde er gegen 1 Uhr vom Beklagten, der seinen amerikanischen Personenkraftwagen steuerte, überfahren und verletzt. Ob er außerdem noch von anderen Fahrzeugen überfahren worden ist, insbesondere von einem Personenwagen, der kurz hinter dem Beklagten herfuhr, steht nicht fest. Als schwere äußere Verletzung trug der Kläger eine Zertrümmerung des rechten Beines unterhalb des Knies davon; der Unterschenkel mußte abgenommen werden. 2. Der Kläger nimmt den Beklagten unter Anrechnung eines M i t verschuldens von einem Viertel auf Ersatz von Sachschaden, Verdienstausfall, Arzt- und Krankenhauskosten sowie auf Schmerzensgeld und eine Unterhaltsrente i n Anspruch. 3. Das Landgericht hat die Klageansprüche, soweit sie nicht auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen sind, i n der geltend gemachten Höhe von 75°/o des Schadens für gerechtfertigt erklärt. Die Berufung des Beklagten blieb erfolglos, ebenso seine Revision. Aus

den

Gründen:

4. 1. Das angefochtene Urteil führt i m wesentlichen aus: Da der Beklagte auf jeden Fall den Kläger fahrlässigerweise überfahren und verletzt habe, habe er diesem den Schaden auch dann zu 12

Schmidt

178

Die RATIO DECIDENDI ersetzen, wenn der Kläger außerdem noch von einem oder mehreren Kraftfahrzeugen überhaupt und sogar am Bein überfahren worden sein sollte. Denn der Beklagte habe den gesamten Schaden zum mindesten schuldhaft mitverursacht, da er ebenfalls über das rechte Bein gefahren sei, dessen völlige Zertrümmerung die einzige schwere äußere Verletzung des Klägers darstelle. Wenn er nicht allein, sondern m i t einem oder mehreren anderen zusammen den Kläger am rechten Bein überfahren hätte, hafte der Beklagte nach §830 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Fassung dieser Vorschrift umschließe nach den Motiven den Fall, daß sich der Beitragsanteil des einzelnen an dem Schaden quotenmäßig nicht ermitteln lasse. Deshalb komme es nicht mehr darauf an, ob der Beklagte allein dem Kläger die schwere Beinverletzung beigebracht habe.

5. 2. Die Revision hat i n der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, eine Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB komme hier nicht i n Betracht, weil diese Bestimmung die G l e i c h z e i t i g k e i t der mehreren Gefährdungshandlungen voraussetze; denn nur bei gleichzeitiger Gefährdung ergebe sich die objektive Ungewißheit, wessen Handlung den Schadenserfolg herbeigeführt habe, während bei zeitlicher Aufeinanderfolge die später Handelnden möglicherweise gar nicht mehr gefährdet hätten, w e i l der Schaden bereits durch eine frühere Handlung verursacht gewesen sei. 6. Diese Auffassung verkennt Sinn und Tragweite des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB. Allerdings ist ihr zuzugeben, daß den meisten zur Entscheidung gelangten Fällen gleichzeitig oder doch unmittelbar nacheinander vorgenommene Gefährdungshandlungen mehrerer Täter zugründe liegen. Das beruht indessen auf dem zufälligen tatsächlichen Umstand, daß i m allgemeinen bei zeitlichen Zwischenräumen zwischen den Gefährdungshandlungen kein Zweifel darüber aufkommt, wessen Handlung den eingetretenen Schaden verursacht hat. Es ereignen sich indessen auch Fälle, i n denen trotz solchen zeitlichen Zwischenraums Ungewißheit über die Kausalverknüpfung entsteht, und daß dann das Nacheinander der Gefährdungshandlungen mehrerer die Vorschrift des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht außer Anwendung setzt, sei an zwei Beispielen 7. aus der neueren Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs aufgezeigt. a) Ein Gallenanfall des Verletzten ist durch Aufregung ausgelöst worden. Dieser hat sich i m Verlauf der fraglichen Nacht dreimal erregt: einmal über die fernmündliche Mitteilung der Schriftleitung einer Zeitung, es liege die (objektiv unwahre) Nachricht vor, er sei i n Zahlungsschwierigkeiten geraten. Sodann späterhin

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bei der Mitteilung der Schriftleitung einer anderen Zeitung, sie bringe diese Meldung i n der Morgenausgabe; und schließlich über das Verhalten des geschäftsführenden Gesellschafters dieses Blattes, der zunächst nicht zu bewegen war, etwas zur Beseitigung des unrichtigen Zeitungsvermerks zu unternehmen. Jeder dieser drei Erregungen konnte den Gallenanfall zur Folge gehabt haben. Es ließ sich aber nicht feststellen, welche dieser Aufregungen nun gerade es gewesen ist, die die Erkrankung verursachte. Das Reichsgericht erachtet hier die Vorschrift des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB für anwendbar, deren Tatbestand gerade dann gegeben sei, wenn jede einzelne der von mehreren begangenen Handlungen i m allgemeinen nach den Regeln des ursächlichen Zusammenhangs den Schadenserfolg herbeizuführen geeignet war und eine dieser Handlungen den Erfolg herbeigeführt hat, aber nicht ermittelt werden kann, wer von den Handelnden der w i r k liche Urheber ist (RGZ 148, 154, 166 m i t Nachweisungen). b) Der Einsturz eines Hauses beruhte auf Mängeln der Dachdecke, an deren Herstellung zwei Unternehmer beteiligt waren. Der eine Unternehmer hat mangelhafte Betonbalken angefertigt und an die Baustelle geschafft. Der zweite Unternehmer hat diese Balken späterhin mangelhaft eingebaut. Es war nicht aufzuklären, auf wessen mangelhafter Leistung der Einsturz des Hauses beruhte. Der Bundesgerichtshof erachtete beide Unternehmer nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB für haftbar, w e i l Lieferung und Einbau als ein einheitlicher, nicht zerlegbarer Vorgang zu werten sei, an dem beide Unternehmer „beteiligt" waren ( V I I ZR 268/56 v. 14. März 1957 = L M BGB § 830 Nr. 4). 8. 3. I n der Kommentarliteratur (Staudinger, Anm. 3, 4 und i h m folgend BGB-RGRK Anm. 9 zu § 830) w i r d noch die Auffassung vertreten, eine „Beteiligung" i m Sinne von § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB liege zwar vor, wenn jemand durch einen von mehreren Wagen einer zusammengehörigen Wagenkolonne (etwa einer Hochzeitsgesellschaft) überfahren wird, nicht aber dann, wenn der Unfall durch eines von mehreren unabhängig voneinander dieselbe Straße befahrenden Kraftfahrzeugen verursacht worden sei; denn dann handele es sich nicht u m eine gemeinsame Gefährdung, sondern u m ein zufälliges Nebeneinander, so daß sämtliche als Täter i n Betracht kommende Personen frei seien, falls sich der tatsächliche Verletzer nicht ermitteln lasse. 9. Gegen das hier aufgestellte Erfordernis einer Gemeinschaftlichkeit der Gefährdung i n dem subjektiven Sinn des Miteinander-Handelns und Voneinander-Wissens spricht schon die eindeutige Entstehungsgeschichte des §830 Abs. 1 Satz 2 BGB. Der I. Entwurf bestimmt ir

180

Die RATIO DECIDENDI i n § 714 Gesamthaftung, „wenn i m Falle eines von mehreren verschuldeten Schadens von den mehreren nicht gemeinsam gehandelt wurde, der Anteil des einzelnen an dem Schaden aber nicht zu ermitteln ist". M i t dieser Vorschrift wollte man gerade den Fall treffen, daß es ungewiß ist, welche Handlung den Schaden verursacht hat (Motive I I 738). Nur u m dies klarzustellen und nicht u m einer sachlichen Änderung willen (Protokolle I I 606), wurde § 753 des II. Entwurfs wie folgt gefaßt: „Das gleiche (nämlich Gesamthaftung) gilt, wenn mehrere nicht gemeinschaftlich gehandelt haben und sich nicht ermitteln läßt, wessen Handlung den Schaden verursacht hat." Die endgültige Fassung blieb der Prüfung durch die Redaktionskommission vorbehalten und erst hier, wo es lediglich u m Formulierungsfragen ging, ist offensichtlich die ausdrückliche Erklärung, es bedürfe eines gemeinschaft-

10. liehen Handelns nicht, gestrichen worden (Bydlinski, Haftung bei alternativer Kausalität, Juristische Blätter, Wien 1959, S. 12). Dem11. entsprechend hat das Reichsgericht schon früh darauf hingewiesen, daß die „Beteiligung" durch die gegenseitige Kenntnis vom T u n des anderen nahezu bis zum gemeinschaftlichen Handeln (§ 830 Abs. 1 Satz 1 BGB) gesteigert werde und auch ohne solche Wissenschaft naher räumlicher und zeitlicher Zusammenhang des Tuns bestehen könne (RG WarnRspr 1912 Nr. 387). 12. 4. So finden denn auch die Postulate, daß die rechtswidrigen und schuldhaften Gefährdungshandlungen mehrerer gleichzeitig und i n innerer Beziehung zueinander verwirklicht sein müßten, u m eine Haftung nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB zu begründen, weder i n den durch diese Bestimmung geordneten Interessen noch i n der Rechtsprechung des erkennenden Senats eine Stütze. 13. a) Die Vorschrift des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB hat die Uberwindung einer Beweisschwierigkeit des Geschädigten hinsichtlich der Verursachung des Schadenserfolgs zum Ziel, wenn ungewiß geblieben ist, wer von mehreren als Urheber i n Betracht kommenden, rechtsw i d r i g und schuldhaft handelnden Täter den Schaden verursacht hat, oder wenn bei mehreren nicht gemeinschaftlich handelnden Schadensurhebern der Anteil des einzelnen an der Schadensverursachung nicht zu ermitteln ist (RGZ 121, 400, 402 f.). Zu diesem Zweck w i r d zugunsten des Verletzten eine Vermutung der Ursächlichkeit geschaffen (vgl. Wussow, Unfallhaftpflichtrecht, 6. Aufl., TZ 299; Bydlinski, a.a.O., S. 13). I h r liegt der Gedanke zugrunde, der Ersatzanspruch des durch einen von mehreren beteiligten Tätern Geschädigten solle nicht daran scheitern, daß die Person des eigentlichen Schädigers nicht m i t voller Sicherheit ermittelt werden kann (RG WarnRspr 1912 Nr. 387). Denn die Beweisschwierigkeit

Die RATIO DECIDENDI

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des Geschädigten ist erst durch das rechtswidrige und schuldhafte Handeln eines jeden der beteiligten Täter geschaffen worden, für das ein jeder von ihnen einzustehen hat. 14. Dieser Beweisnotstand des Verletzten kann i n gleicher Weise entstehen und ist i n gleicher Weise schutzwürdig, wenn die mehreren Täter i n zeitlicher Aufeinanderfolge, wie wenn sie gleichzeitig handeln (vgl. die oben zu 2 a und b aufgeführten Beispiele). Allerdings kann der später Handelnde nur dann noch gefährden, wenn der Schaden durch eine frühere Handlung nicht bereits verursacht war. Eben dies aber bleibt zweifelhaft und gerade die Aufklärung solcher Ungewißheit dem rechtswidrig und schuldhaft handelnden Gefährdungstäter zu überbürden, ist Sinn und Inhalt des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB. 15. Voraussetzung ist zwar, daß die mehreren, sei es auch zeitlich aufeinanderfolgenden Gefährdungshandlungen sachlich, räumlich und zeitlich untereinander und m i t der alternativ verursachten Schädigung einen tatsächlich zusammenhängenden einheitlichen Vorgang bilden, so daß die einzelne Gefährdungshandlung als dessen T e i l erscheint; denn nur dann kann von einer „Beteiligung" des einzelnen Gefährdungstäters an dem Schadensereignis gesprochen werden. Wann dies der Fall ist, bestimmt sich nach der praktischen Anschauung des täglichen Lebens, für die die Gleichartigkeit der Gefährdung von besonderer Bedeutung ist, und kann stets nur auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden (RG WarnRspr 1908 Nr. 633). Unerheblich ist für einen solchen äußeren Zusammenhang i n gleicher Weise wie auch für das geschützte Beweisinteresse des Verletzten, ob die mehreren rechtswidrig und schuldhaft handelnden Gefährdungstäter — etwa als Jagdteilnehmer oder Kolonnenfahrer — durch ein inneres Band miteinander verknüpft sind oder nicht. Denn eine solche subjektive Verbundenheit oder ihr Fehlen berührt weder auf Seiten der Handelnden die Rechtswidrigkeit, die Schuld oder die Gefährdung, noch ist sie für den Verletzten i m mindesten von Belang. Denn er ist nur durch das nach außen wirkende Verhalten eines einzelnen geschädigt worden und sein Beweisnotstand w i r d nicht dadurch gemildert, daß die mehreren Gefährdungstäter ein jeder für sich handelten und nichts voneinander wußten. 16. b) Demgemäß ist vom erkennenden Senat für den Begriff der „Beteiligung" i m Sinne von § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB weder Gleichzeitigkeit der Gefährdungshandlungen noch ein subjektiver Zusammenhang zwischen den mehreren Gefährdungstätern gefordert

182

D

RATIO DECIDENDI

worden. Der Begriff der „Beteiligung" erschöpft sich nach seiner Rechtsprechung vielmehr darin, daß mehrere — ein jeder selbständig — eine unerlaubte Handlung begangen haben, die den eingetretenen Erfolg verursachen konnte, daß eine dieser Handlungen den Schaden wirklich verursacht hat, die Handlung eines jeden den Schaden hätte verursachen können, der wirkliche Urheber des Schadens aber nicht ermittelt werden kann. Vorausgesetzt w i r d somit lediglich ein tatsächlich einheitlicher, örtlich und zeitlich zusammenhängender Vorgang, der sich aus mehreren selbständigen Handlungen zusammensetzt und i n dessen Bereich der rechtswidrige Schadenserfolg fällt (BGHZ 25, 274 m i t Nachweisungen). Wenn die Revision demgegenüber auf die Entscheidung des erkennenden Senats BGHZ 30, 203 verweist, so übersieht sie, daß dort die Beteiligung der mehreren an der Schadensverursachung ermittelt war und daher eine Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB überhaupt nicht zur Erörterung stand. Vielmehr hat der Senat bereits i n seiner Entscheidung vom 19. Februar I960 — V I ZR 55/59 — NJW 1960, 862 Nr. 4 = VersR 1960, 367 — m i t eingehender Begründung die einschränkende Auslegung zurückgewiesen, eine Anwendung des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB setze voraus, daß zwischen den mehreren Beteiligten eine innere Gemeinschaft bestand. 17. 5. Nach alledem unterliegt es keinem rechtlichen Bedenken, daß das Berufungsgericht die u m Mitternacht auf der Fahrbahn erlittene Körperverletzung des Klägers i n Verbindung m i t den Kraftwagen, die ihn angefahren haben, als einen tatsächlich einheitlicheny zeitlich und örtlich zusammenhängenden Vorgang wertet, an dem zum mindesten der Beklagte als festgestellter Verletzer beteiligt ist. I h m oblag daher gemäß § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB der Nachweis, inwieweit seine verkehrswidrige Fahrweise den Verlust des Unterschenkels nicht verursacht haben könne. Denn zutreffend führt das Berufungsgericht aus, die gesamtschuldnerische Haftung nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB erstrecke sich auch auf den Fall, daß sich der Anteil des einzelnen an dem Schaden nicht ermitteln lasse. Da der Beklagte diesen Beweis nicht zu führen vermochte, hat das Berufungsgericht i h n ohne Rechtsirrtum, sofern er nicht als Alleintäter bereits nach § 823 BGB haftet, zum mindesten gemäß § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB hinsichtlich des gesamten Schadens für ersatzpflichtig erachtet.

133

Die JRATICTDEeiDENDI Anhang

3

Michigan Reports 1961, S. 425 ff. Maddux gegen Donaldson 1. Automobile — plötzliche Gefahrenlage Führen von Kraftfahrzeugen.

— Anforderungen

an das

Das Verhalten eines Verkehrsteilnehmers in einer plötzlichen Gefahrenlage, die nicht von ihm selbst schuldhaft herbeigeführt wurde, darf nicht in einer ex-post-Analyse bewertet werden, denn das Recht gestattet einen gewissen Mangel an ruhig-überlegtem Handeln und ein Fehlverhalten, das sich im Nachhinein und bei gründlichem Überdenken als die schlechtere Alternative erweisen kann. 2. Dasselbe folgender

— mitwirkendes

Verschulden

— herannahender

Wagen



Wagen.

Die Frage des mitwirkenden Verschuldens des ostwärts fahrenden Klägers stellte sich der Jury deswegen, weil der Kläger bei einer Geschwindigkeit von 5 0 - 6 0 km/h auf der Fahrbahn verblieb, anstatt auf das Bankett auszuweichen, als der in westlicher Richtung mit ca. 120 bis 150 km/h fahrende Beklagte in einer Entfernung von etwa 500 m seitlich ins Rutschen kam und schließlich mit dem Wagen des Klägers zusammenstieß, der daraufhin von dem ebenfalls ostwärts hinter dem Kläger auf nasser Fahrbahn herfahrenden weiteren Beklagten angefahren wurde. 3. Unerlaubte Handlungen — einzelne, unteilbare ursacht von zwei Personen — gesamtschuldnerische

Verletzung, Haftung.

ver-

Zwei Personen, die bei der Verursachung einer einzelnen, unteilbaren Verletzung zusammenwirken, haften der verletzteri Person gesamtschuldnerisch, obwohl weder ein gemeinsamer Verpflichtungsgrund ge-* geben ist, noch eine gemeinsam geplante oder verabredete Handlung vorlag. 4. Automobile

— Kette

von

Zusammenstößen—gesamtschuldnerische

Haftung. Den Klägern, deren ostwärts fahrender Wagen zunächst von einem entgegenkommenden und fast gleichzeitig von einem nachfolgenden, wie auch die Kläger ostwärts fahrenden Wagen eines Beklagten angefahren wurde, ist eine Schaderiérsatzf orderung gegen deil letzteren nicht deswegen zu verwehren, weil es unmöglich ist nachzuweisen, welcher . Zusammenstoß für welche Verletzungen ursächlich war. Dies beruht darauf, daß die Schädiger als Gesamtschuldner für den erwiesenen Gesamtschaden, der im einzelnen nicht aufgeteilt und zugeordnet werden kann, haften. 5. Unerlaubte Handlungen — Zusammenwirken letzungen aufgrund sukzessiver Einwirkungen.

— unteilbare

Ver-

Der Begriff „Zusammenwirken" ist nicht, soweit er auf Schädiger angewandt wird, deren schuldhaftes Verhalten beim Kläger solche Verletzungen verursacht hat, die dem Gericht die Feststellung unmöglich machen, welche Schäden von den einzelnen Schädigern herbeigeführt

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Die RATIO DECIDENDI wurden, auf gleichzeitiges schuldhaftes Verhalten beschränkt, sondern schließt sukzessiv aufeinanderfolgende Verletzungshandlungen mit ein.

6. Dasselbe — unteilbare Verletzung — mitwirkendes ordnungsgemäßer Prozeß.

Verschulden —

Die Belastung von zusammenwirkenden, schuldhaft handelnden Schädigern mit der gesamtschuldnerischen Haftung für alle Schäden, die der schuldlose Kläger in Gestalt von unteilbaren Verletzungen erlitten hat und zu deren Entstehen jeder der Beklagten beigetragen hat, verstößt nicht gegen den Grundsatz eines ordnungsgemäßen Prozesses (US-Verf., 14. Zus.-art.; Verf. von Michigan, Art. 2 §16).

Gegen die Stimmen von Detilmers, C. J., Carr, J. und Kelly, J. Berufung von Oakland; Beer (William John), J. Vorgelegt am 7. Okt. 1960. (Register-Nr. 44 - 46, Tagebuch-Nr. 48, 474 - 48, 476.) Entschieden am 28. Februar 1961. Wiederaufnahme abgelehnt am 26. A p r i l 1961. Rechtsfall der Cheryl Lee Maddux und ihres nächsten Angehörigen Fred Maddux gegen William Donaldson und Paul Bryie wegen erlittenen Personenschadens bei PKW-Kettenzusammenstoß. Gleichartige Klagen von Velda Maddux und Fred Maddux wegen Personenschadens, A r z t - und Heilungskosten sowie Eigentumsschadens. Fälle zum Prozeß und zur Berufung verbunden. Klagen gegen Beklagten Donaldson von den Klägern nicht weiterverfolgt. Eingeholte Gutachten und Antrag auf Klageabweisung m i t Entscheidungsergebnis: kein Klageanspruch gegen Beklagten Bryie. Berufung der Kläger. A u f hebung und Zurückverweisung zu neuer Verhandlung. Für Kläger: Riseman, Lemke & Piotrowski Verhandlung). Für Beklagten Bryie: Howlett,

(Harry

Riseman i n der

Hartman & Beter.

1. Smith, J. W i r beschäftigen uns erneut 1 m i t dem Problem von Schädigung aufgrund eines Unfalls, bei dem der Wagen, i n welchem die Kläger fahren, zunächst von einem und anschließend, fast gleichzeitig, von einem weiteren P K W angefahren wird. 2. Die Kläger sind Fred Maddux, seine Frau und deren i m Kindesalter stehende Tochter. Sie fuhren i n einem „Ford-Pickup" auf der US-112 i n östlicher Richtung bei Clinton, Michigan. Es hatte geregnet, und die Fahrbahn war naß. Paul Bryie fuhr hinter ihnen, beide Wagen hielten eine Geschwindigkeit von ca. 50 - 60 k m / h ein. Als sich die Fahrzeuge einer Straßenkurve näherten, sah Herr Maddux i n ca. 500 m Entfernung einen Wagen, der m i t hoher Geschwindigkeit auf i h n zuschleuderte; der Wagen bewegte sich seitwärts „schlingernd und bogenförmig". Herr Maddux versuchte, 1 Siehe Meier gegen Holt, 347 Mich 430. (Diese und die folgenden Fußnoten sind solche des Gerichts.)

Die RATIO DECIDENDI

185

über einen bestimmten Punkt der Straße hinauszugelangen, bevor der schleudernde Wagen diesen erreicht hatte, doch dies mißlang. Die beiden Fahrzeuge stießen zusammen und wurden schwer beschädigt. Als der Wagen der Kläger zum Stehen kam — die Insassen hatten Verletzungen erlitten — wurde er nochmals, fast gleichzeitig, angefahren, diesmal von dem nachfolgenden PKW. Wiederum entstand schwerer Schaden; Herr Bryie hielt seinen Wagen für total beschädigt. 3. Die Klagen gegen den Fahrer des schleudernden PKW, W i l l i a m Donaldson, wurden von den Klägern nicht weiterverfolgt. Das Gericht wies sodann die Klagen von Frau Maddux und ihrer Tochter gegen Herrn Bryie, den Fahrer des nachfolgenden Wagens, m i t der Begründung ab, daß „nach Ansicht dieses Gerichts keine Anhaltspunkte vorliegen, aus denen irgendwelche Schlußfolgerungen i m Hinblick auf die Verantwortlichkeit von Paul Bryie gezogen werden können". Die Klage von Herrn Maddux wurde kraft Gesetzes abgewiesen, w e i l diesen ein mitwirkendes Verschulden treffe. W i r wollen diesen Teil des Falles zuerst untersuchen. 4. Als Herr Maddux den Wagen seitlich schleudernd auf sich zukommen sah, war dieser etwa 500 m weit entfernt und bewegte sich i n der Krümmung einer Kurve seitwärts i n einer Geschwindigkeit von ca. 120 -150 km/h. Der Kläger versuchte, einen Zusammenstoß zu vermeiden, indem er, wie er sich ausdrückte, „jenseits des Tangentialpunktes i m Radius" der Krümmung, auf den der entgegenkommende P K W zufuhr, gelangen wollte. Zu diesem Zweck blieb er auf der Fahrbahn. Zwar hätte er auf das Bankett fahren können, obwohl sich dort ein 4 m breiter Straßengraben befand, und so, wie sich herausstellte, die Kollision vermieden. I n dem Augenblick aber, i n dem der Kläger seine Entscheidung traf, gab es keine Gewißheit dafür, daß nicht auch der schleudernde P K W die Straße verließ. I m Nachhinein (ex post) beurteilt, wäre es besser gewesen, nicht auf der Fahrbahn zu bleiben. Doch darf Herrn Maddux' Verhalten nicht ex post gewertet werden. Er war plötzlich durch eine nicht von i h m herbeigeführte Gefahrensituation gefährdet. I n dieser Situation gestattet das Recht, wie w i r schon oft betont haben, einen gewissen Mangel an ruhig-überlegtem Handeln und ein Fehl verhalten, „das sich i m Nachhinein und bei gründlichem Überdenken als die schlechtere Alternative erweisen kann" 2 . Die Frage, inwieweit Herrn Maddux durch die i n der Gefahrenlage getroffenen Maßnahmen ein mitwirkendes Verschulden traf, wurde nach ordnungsgemäßer Aufklärung der Jury gestellt. * Socony Vacuum Oil Co. gegen Marvin,

313 Mich 528, 546.

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Die RATIO DECIDENDI

5, Wir kommen jetzt zu dem Problem der Verletzungen des Klägers, die zwar aus sukzessiven Vorfällen resultieren, praktisch gesehen aber gleichzeitig entstanden. Hier liegt eine der heikelsten Fragen unseres geltenden Rechts3, kritisch vor allem wegen des starken Verkehrs auf den Schnellstraßen, auf denen zahlreiche Kraftfahrzeuge i n hoher Geschwindigkeit und m i t geringem Abstand zueinander fahren. I n der Behandlung des oben genannten Problems befinden sich die Gerichte i n einem ernsten Konflikt, wobei die 6 Richter unseres Gerichts allein 3 Lösungswege vorgeschlagen haben, als dasselbe Problem beim letzten gleichartigen Fall diskutiert wurde 4 . Die Schwierigkeit besteht darin, daß w i r es nicht m i t einer „gemeinschaftlichen" unerlaubten Handlung i m gewöhnlichen Sinne zu t u n haben, woraus gefolgert, wird, daß es auch keine gesamtschuldnerische Haftung geben könne 5 . Es lag keine Pflichtverletzung i m Sinne eines „gemeinsamen" Delikts vor, auf welche die Kläger Ansprüche gegen die zwei Autofahrer, deren P K W nacheinander m i t dem klägerischen Wagen zusammenstießen, stützen könnten, Offensichtlich handelten die Schädiger nicht nach einem gemeinschaftlichen Plan oder sonst aufgrund einer Verabredung. Ebensowenig kann die Theorie vom gemeinsamen gefährdenden Unternehmen angewandt werden, und es handelt sich schließlich auch nicht u m eine Meister-Lehrling- oder Geschäftsherr-Vertreter-Beziehung. Was w i r demgegenüber zu beurteilen haben, ist eine Verletzung der Kläger, die von den unabhängigen Delikten zweier Schädiger verursacht Wörden sind. 6. Es ist anerkannt, daß der Kläger i n solchen Fällen seine Verletzungen in der Weise trennen muß, daß er einen Teil dem einen Schädiger und den verbleibenden Teil dem anderen zurechnet, genauso wie eine Hausfrau vor der Wäsche die bunten von den weißen Stücken trennt. Nach dieser Auffassung kann der Kläger von keinem der beiden Schädiger Ersatz verlangen, wenn i h m eine solche Teilung und Zuordnung der Verletzungsfolgen nicht 3 Die Literatur zu diesem Problem ist sehr reichhaltig und gibt viele Hilfen. Sieh e Jackson, Joint Torts and Several Liability, 17 TexLRev 399; Wigmore, 17 IllLReV 458; Prösser, Joint Torts and Several Liability, 25 CalifLRev 413. Vgl. auch 27 ColLRev 754 und 19 CalifLRev 630. Anmerkungen sind abgedruckt in 9 A L R 939; 35 A L R 409; 91 A L R 759. Textmaterial in 65 CJS, „Negligence", §102, S. 639- 645; 62 CJ, „Torts", §§ 44, 45, S. 1130 bis 1135; 38 AmJur, „Negligence", § 257, S. 946-948; 52 AmJur, „Torts", §§110 -112, S. 448-454. 4 Meier gegen Holt, 347 Mich 430. 5 Der klägerische Anwalt macht hierzu geltend, daß zumindest er von dem Bestehen einer gesamtschuldnerischen Haftung überzeugt sei. I m Hinblick auf den Fall der Ehefrau und der Tochter führt er aus: „Im Falle der Cheryl und Velda Maddux bin ich mir so sicher, daß ich die Frage der gesamtschuldnerischen Haftung der Jury gestellt wissen möchte."

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gelingt. Dièses Entscheidungsmuster w i r d i m Urteil Adams gegen Hall (1829), 2 V t 9 (19 AmDec 690), gut illustriert. Der Eigentümer einer Schafherde erlitt dadurch Verluste, daß zwei Hunde einige Stücke aus seiner Herde rissen. Er verklagte die Eigentümer der Hunde gemeinsam auf Schadenersatz. I m Prozeß erwies sich jedoch, daß diese keine Gesamteigentümer waren. Zusätzlich ließ sich nicht nachweisen, welcher Hund welche Schafe getötet hatte. Die Klageabweisung wurde damit begründet, daß keiner der Hundeeigentümer für die Schäden haftete, die der Hund des anderen angerichtet hatte; dies ergäbe sich schon daraus, daß die Hunde „den Schaden i n Gemeinschaft herbeigeführt" hätten. 7. Wie vertretbar ein solches Ergebnis i n diesem und ähnlichen Fällen auch immer i n der agrarischen Gesellschaft kurz nach der amerikanischen Revolution gewesen sein mochte (und selbst dies ist fragwürdig), so wenig sehen w i r darin ein Präjudiz für das Problem der Haftung von PKW-Eigentümern bei sog. „KettenUnfällen" auf den heutigen Verkehrsstraßen. Es erscheint kaum notwendig, die Unterschiede i n der sozialen Situation und den rechtspolitischen Erwägungen herauszuarbeiten, die sich bei der Lösung des Problems damals und heute ergeben müssen. Wenn w i r von einem verletzten Kläger den Nachweis darüber verlangen, welche Einwirkung bei einem Kettenunfall welchen Schaden hervorgerufen hat, so bringen w i r damit eine rechtspolitische Überlegung zum Ausdruck, derzufolge es besser ist, daß ein ohne eigenes Verschulden verletzter Kläger nichts bekommt, als daß ein Schädiger mehr als seinen theoretischen Anteil ein einem Schaden zu ersetzen hat, der i n einem unübersichtlichen Geschehensablauf entstanden ist, den er schuldhaft mitverursacht hat®. Bereits die Andeutung einer solchen Lösung stellt klar, wie verfehlt sie wäre. Sie stünde zumindest mit den Rechtsprechungsforschritten der letzten hundert Jahre i m Widerspruch. 8. Überdies wäre sie, wie Dean Wigmore 7 hervorgehoben hat, unvereinbar m i t der ratio decidendi von Präjudikaten, die wenigstens auf das Jahr 16138 zurückgehen. Schon damals wurde die gesamtschuldnerische Haftung von der Voraussetzung befreit, daß der von drei Personen Überfallene Kläger zu beweisen hatte, welcher der Übeltäter welche Verletzung i m einzelnen herbeigeführt hatte. Der Hintergrund dieser Regel lag i n der Unmöglichkeit der Beweisführung, m i t welcher der Kläger eine gesonderte Zuordnung seiner Verletzungen zu den Schädigern hätte vornehmen können. Liegt β Landers gegen East Texas Salt Water Disposal Company, 151 Tex 251 (248 SW 2 d 731). 7 Wigmore , Joint Tort-feasors and Severance of Damages, 17 IllRev 458. » Hey don* s Case (KB 1613), 11 CoRep 5 a (77 EngRep 1150).

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9. dieselbe Unmöglichkeit heute vor, sollte unsere Empfindsamkeit gegenüber den klägerischen Verletzungen nicht geringer sein als diejenige des königlichen Gerichtshofs gegenüber dem damaligen Kläger, dessen „Verletzungen (die i n der Tat i n grausamer und barbarischer Weise zugefügt wurden) i n Fakenham i n Norfolk" zur gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten hätten führen müssen. Es würde eindeutig verfehlt sein, „der verletzten Partei die unmöglich zu erfüllende Beweisführungspflicht darüber aufzubürden, welchen spezifischen Verletzungsanteil jeder der Schädiger verursacht hat. N u r die gefühllose Abgestumpftheit des Rechts könnte solche Ergebnisse für einen schuldlos Verletzten herbeiführen. Man sollte annehmen, daß die offensichtliche Ungerechtigkeit, i n solchen Fällen die Schädiger frei ausgehen zu lassen, den Gerichten zum doppelten Nachdenken und zu dem Verdacht A n laß gibt, daß ihre Rechtsregel fehlerhaft ist 9 ." 10. Die angesprochene Fehlerhaftigkeit setzt an dem Wort „teilbar" an. I m vorliegenden F a l l ergaben die zwei Schadenseinwirkungen, daß Frau Maddux Frakturen des rechten Oberschenkels, der linken Kniescheibe und des rechten Unterarms und zusätzlich zahlreiche Schnittwunden i m Gesicht erlitt. Sie hatte B l u t i m Urin, erlitt eine Augenverletzung, und zu alledem kamen noch psychische Komplikationen, vermutlich „auf einer organisch-toxischen Basis". Sind solche Verletzungen teilbar? Theoretisch können sie es sein, und eventuell auch praktisch. Es mag Situationen geben, i n denen Unfallteilnehmer unverletzt bleiben und den genauen Ablauf beobachten, oder bei denen K r a f t und Richtung der Fremdeinwirkungen so klar zu unterscheiden sind, daß eine zweifelsfreie Zuordnung der entstandenen Schäden zu ihnen jeweils möglich erscheint. Solche Fälle bieten indessen keine Schwierigkeit. U m stritten ist vielmehr der vor uns liegende Fall, bei dem zwei starke Zusammenstöße vielfältige Verletzungen hervorgerufen haben und eine Jury i n Anbetracht der Unfallfolgen zu dem wohlbegründeten Schluß kommen könnte, daß die Ursachenreihen der verschiedenen Verletzungen des Klägers nicht mehr auf ihren Ursprung zurückgeführt werden können. Ferner wäre es ausgesprochen w i r k l i c h keitsfremd vorauszusetzen, daß der Kläger tatsächlich eine Reihe von Verletzungen oder Wunden erlitten hat, die entweder rechtlich oder medizinisch unterscheidbar sind. I n Wirklichkeit kann dem Kläger auch eine zusammengesetzte Verletzung zugefügt worden sein, deren Bestandteile nicht i m einzelnen aus ihren Ursachen herleitbar und auch i n der Behandlung nicht voneinander trennbar 9

459.

Wigmore , Joint Tort-feasors and Severance of Damages, 17 IllLRev 458,

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sind. So ist etwa i n unserem Fall die Frage nicht mehr zu beantworten, ob das B l u t i m U r i n die Folge des ersten oder des zweiten Zusammenstoßes war. Oder beruht die Notwendigkeit der psychiatrischen Behandlung auf der Oberschenkelfraktur, auf den Gesichtsverletzungen m i t ihren „tief eingeschnittenen Wunden und Narben" oder auf dem Gesamtzustand nach dem Unfall? M i t 11. Rücksicht auf die Untersuchung, die Richter Black i n seinem Votum zum o. a. Fall Meier gegen Holt angestellt hat, ist es überflüssig, die verschiedenen Seiten des hier auftretenden Problems näher zu 12. beleuchten. W i r gehen i n den Fällen, i n denen ausreichende Beweise — entweder vom Kläger oder vom Beklagten — dafür beigebracht werden, daß die Verletzungen tatsächlich und medizinisch trennbar sind und daß die Verursachung dieser Verletzungen und Schäden ganz oder teilweise m i t hinreichender Sicherheit den einzelnen Zusammenstößen zugeordnet werden kann, davon aus, daß die Jury dementsprechend instruiert w i r d ; bloße Durchführungsschwierigkeiten werden dabei die Jurymitglieder nicht von ihrer Entscheidungspflicht entlasten 10 . Dies folgt schon aus der allgemeinen Regel, nach der „die Gerichte die Schädiger grundsätzlich dann nicht als Gesamtschuldner verpflichten, wenn die unabhängig voneinander zusammentreffenden Handlungen dem Kläger bestimmte, unterscheidbare Verletzungen zugefügt haben, oder wenn überzeugende Gründe für die A u f - oder Zuteilung der einzelnen Schäden vorliegen" 1 1 . 13. Wenn aber auf der anderen Seite die Beurteilung der Tatsachen zu dem Ergebnis führt, daß eine Aufteilung der Verantwortlichkeit auf die verschiedenen Schädiger vernünftigerweise nicht möglich 14. ist, trennen sich die bisher eingeschlagenen Lösungswege. Eine veraltete und kaum noch verbindliche Auffassung würde den Fall i n dieser Lage für abgeschlossen halten und den Kläger leer ausgehen lassen. Doch halten auch heute noch einige Gerichte dafür, daß dieser Fall insgesamt dem der wildernden Hunde vergleichbar sei, wobei die Teilnehmer am modernen Straßenverkehr m i t geht fehl. Präjudikate dieser A r t sind ungeeignet. Kommt die den hilflosen Schafen verglichen werden. Diese Schlußfolgerung geht fehl. Präjudikate dieser A r t sind ungeeignet. K o m m t die io „Dies bedeutet nicht, daß es sich stets um reine Tatsachenfragen handeln muß. Man kann sich auch leicht den Fall eines Reihen-Auffahr-Unfalles vorstellen, bei dem der letzte oder vorletzte fahrlässig handelnde Kraftfahrer aus Rechtsgründen so behandelt wird, als hätte er dem vorausfahrenden verletzten Kläger keinen Schaden zugefügt." Meier gegen Holt, 347 Mich 430, 441 (Black, J., im Ergebnis zustimmend), n 1 Harper und James, Torts, § 10.1, S. 694.

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Die R A T I O D E C I D E N D I

15. J u r y b e i d e r T a t s a c h e n b e u r t e i l ü n g z u der E r k e n n t n i s , daß sie eine A u f t e i l u n g d e r V e r l e t z u n g e n n i c h t v o r n e h m e n k a n n , so h a b e n w i r es a u f g r u n d dieses Beschlusses m i t e i n e m F a l l e i n e r u n t e i l b a r e n V e r l e t z u n g z u t u n . U n d dieser F a l l i s t naçh d e n P r ä j u d i k a t e n ü b e r u n t e i l b a r e V e r l e t z u n g e n z u entscheiden. Diese w u r d e n v o n Cooley -, f o l g e n d e r m a ß e n t r e f f e n d z u s a m m e n g e f a ß t : „ V e r u r s a c h t das schuldh a f t e V e r h a l t e n z w e i e r oder m e h r e r e r P e r s o n e n eine einzige, u n t e i l b a r e V e r l e t z u n g , so h a f t e n diese Personen gesamtschuldnerisch, selbst w e n n k e i n g e m e i n s a m e r V e r p f l i c h t u n g s g r u n d , k e i n g e m e i n samer P l a n oder k e i n gemeinschaftliches H a n d e l n v o r l i e g t 1 2 . " Das R e s t a t e m e n t s t i m m t d a m i t ü b e r e i n ; § 879 l a u t e t : „Zusammentreffende oder aufemanderfolgende unabhängige Handlungen. Mit Ausnahme der Regelung des § 881 (der sich auf die Schadensverteilung in Schadensfällen bezieht) ist jede von zwei Personen, die sich jeweüs unabhängig von der anderen eines schädigenden Verhaltens schuldig gemacht hat, das einen wesentlichen Beitrag zur Schädigung eines Dritteh darstellt, für den Gesamtschäden haftbar, sofern keine übergeordnete, diese beiden Faktoren verdrängende Ursache vorhanden ist». 41 Die K o m m e n t i e r u n g hierzu vèr deutlicht den I n h a l t w i e folgt: „Eine Person, deren unerlaubte Handlung eine der rechtlichen Ursachen für einen Verletzungserfolg ist, wird nicht dadurch von der Haftung für den Gesamtschaden entlastet, daß die unerlaubte Handlung einer anderen verantwortlich handelnden Person ebenfalls zu dem Erfolg beigetragen hat. Ebensowenig wird dadurch die Schadenshöhe gemindert. Dies trifft zu, wenn beide Personen gleichzeitig schuldhaft handeln (siehe Beispiel l 1 4 ) , aber auch dann, wenn die Handlung der einen nach derjenigen der anderen Person entweder stattfindet oder ihre schädigende Wirkung entfaltet (siehe Beispiel 2 1 5 ). Dabei ist unerheblich, ob im Innenverhältnis der Schädiger der eine die Verletzungsursache zuerst gesetzt hat oder der andere nach Leistung vollen Schadenersatzes einen Ausgleichsanspruch gegen den ersten geltend machen könnte. Auch ist es ohne Belang, ob das Verhalten des einen einen schwereren Verschulis ι Cooley, Torts, 3. Aufl., S. 247. Siehe auch Prosser, Torts, 2. Aufl., S. 226: „Wenn zwei oder mehr Ursachen zusammentreffen und eine einzige Folge in der Weise herbeiführen, daß eine logische Trennung unmöglich ist, so kann jede für sich der entscheidende Faktor für den Schadenserfolg sein und mit diesem insgesamt belastet werden. Die Gesamthaftung beruht auf der offenbaren Tatsache, daß jede der Ursachen zu dem einzigen Erfolg béigetragen hat und daß eine vernünftige Trennung ausgeschlossen ist." » 4 Restatement, Torts, §879. 14 „1. A und Β stoßen schuldhaft zusammen, wobei sie C verletzen, der sich an der Unfallstelle aufhält. C kann entweder von A oder von Β oder von beiden gemeinsam vollen Schadenersatz verlangen." 15 „2. A schlägt Β schuldhaft nieder, so daß dieser auf die Straße fällt; dabei wird Β nicht ernsthaft verletzt. Bevor Β wieder aufstehen kann, wird er von C schuldhaft überfahren und dabei schwer verletzt. C handelt im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses als Gehilfe des D. Β kann nun von A, C, D oder von allen gemeinsam vollen Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen."

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densgrad als das des anderen auf weist oder ob gar der eine ohne Verschulden haftet. Schließlich kommt es auch nicht darauf an, ob die Haftung des einen auf Commpn-law-Regeln und die des anderen auf Gesetz beruht."

16. Unter Bezugnahme auf diesen Abschnitt des Restatement w i r d nun argumentiert, daß dieser nicht anwendbar sei, „wenn einer der Schädiger einen Schaden verursacht und der zweite einen anderen, bestimmten Schaden herbeiführt". Dem stimmen w i r zu. Unser Fall liegt jedoch anders. Wie w i r bisher deutlich zu machen versucht haben, ist es tatsächlich so, daß dann, wenn die Jury klar abgrenzen kann, daß ein Teil „einen Schaden" und ein anderer „einen anderen bestimmten Schaden" verursacht hat, jeder Schädiger allein für den Schaden einzustehen hat, den die Jury als von i h m herbeigeführt feststellen konnte. Das uns vorliegende Problem entsteht also nicht, wenn w i r es mit „bestimmten Schäden" zu t u n haben, sondern erst dann, wenn die Jury die eingetretenen Schäden nicht unterscheiden und voneinander abgrenzen kann. 17. Es wurde auch darauf hingewiesen, daß der eine Zusammenstoß ca. 30 Sekunden nadh dem ersten stattfand. Die Tatsache, daß ein Fehlverhalten einige Sekunden nach dem anderen eintrifft, ist ohne rechtliche Bedeutung. Erheblich ist demgegenüber die Unteilbarkeit der Verletzung. Die i m Heydon's Case (s. ο.) maßgeblichen Schläge der Strolche müssen nicht notwendigerweise i m selben Augenblick das Opfer getroffen haben, und zweifellos war dies auch nicht der Fall. Der Grund für die Annahme einer gesamtschuldnerischen Schadenersatzhaftung war die Unteilbarkeit der Verletzungen und nicht etwa die zeitliche Abstimmung der 18. Schläge. I n der Tat hat auch eine anerkannte englische Autorität ausgeführt, daß sich i m Recht der unerlaubten Handlung Konkurrenzfragen nicht an dem Zeitfaktor orientieren, vorausgesetzt, daß beide Handlungen vor dem Schadenserfolg stattgefunden haben 16 . Sorgfältig begründete amerikanische Entscheidungen stützen diese Auffassung ohne Einschränkung 17 . Das Ergebnis scheint damit unausweichlich klar zu sein, sofern w i r nicht die Meinung vertreten, daß „Zusammenwirken" auch „Gleichzeitigkeit" voraussetze, eine Meinung, die bislang niemand ernsthaft und wohlbegründet verfochten hat. 19. Verfassungsrechtliche Schranken für die Auferlegung einer gesamtschuldnerischen Haftung bei zusammenwirkenden Schädigern liegen nicht vor. Zwar ist das Argument nicht von der Hand zu ιβ Williams, Joint Torts and Contributory Negligence (1951), S. 2. « Vgl. z.B. Hill gegen Peres, 136 CalApp 132 (28 P2d 946).

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weisen, daß niemand i n seinem Leben, seiner Freiheit oder seinem Eigentum ohne einen ordnungsgemäßen Prozeß beeinträchtigt werden darf 1 8 . Doch ist ungeklärt, wie sich dieser Grundsatz auswirken soll, wenn einem Kläger, der ohne eigenes Verschulden vielfältige Rechtsverletzungen an sich erlitten hat, jeder Ersatzanspruch gegen die zwei Schädiger, die i h n verletzt haben, versagt wird. Immerhin bewirkt dieser Einwand, daß die Ausgangsprobleme klar und deutlich i m Blickfeld erscheinen. Ist es richtig, wie w i r die Frage bisher gestellt haben, daß ein Kläger, der ohne eigenes Verschulden verletzt wurde, nichts erhält, oder ist es besser, wenn ein Schädiger nicht mehr zu ersetzen hat als seinen theoretischen A n t e i l an dem Gesamtschaden, zu dessen Entstehung er i n einem unübersichtlichen Geschehensablauf schuldhaft beigetragen hat? I n Fällen der Eigentumsverletzung, beispielsweise dann, wenn ein Beklagter Sachen i m Eigentum eines anderen m i t seinen eigenen vermischt hat, ist die Auffassung mittlerweile längst unhaltbar geworden, daß der Beklagte zu beweisen hätte, welche Sachen i n seinem Eigentum standen, andernfalls alle vermischten Sachen dem Kläger zustünden 19 . Sollten w i r dieser Erwägung gegenüber nur deshalb weniger aufgeschlossen sein, weil die von den Beklagten heraufbeschworene „Vermischung" auf eine Personenverletzung hinauslief? Vor vielen Jahren ist ein Richter dieses Gerichts einer bedeutungsvollen Frage nachgegangen. I n einem Fall, in welchem die Feststellung einer gesamtschuldnerischen Haftung wegen unerlaubter Handlung begehrt wurde, fragte er, ob dem Kläger, „der i n dieser Weise unter dem Fehlverhalten zu leiden hatte", nicht ein Ersatzanspruch zustünde, oder ob „die Schwierigkeiten und Gefahren (für die Folgen) nicht eher denjenigen aufzubürden sind, welche wahrscheinlich unrecht haben, als ihm, der keinen Fehler begangen hat". Er fuhr fort: „Wenn i n beiden Fällen Ungerechtigkeit geschehen muß, sollte dann nicht das Risiko von den Beklagten übernommen oder ihnen auferlegt werden? Bedeutet es aber dann überhaupt noch eine Ungerechtigkeit, wenn sie gemeinschaftlich haftbar gemacht werden? Meines Erachtens nicht 2 0 ." Unseres Erachtens auch nicht. 20. A n dieser Stelle nun liegt der Kern des Problems — welche A l t e r native führt die größere Wahrscheinlichkeit von Ungerechtigkeit mit sich? W i r meinen, daß dies dann der F a l l ist, wenn dem schuldlosen Opfer eines Ketten-Verkehrsunfalles jeder Ersatz18 Siehe US-Verf., 14. Zus.-art.; Verf. von Michigan, 1908, Art. 2 §16. — (Berichterstatter) ι» Vgl. z.B. Stone gegen Marshall Oil Company, 208 PaSt 85 (57 A 183, 65 L R A 218, 101 A M St Rep 904). 20 Cuddy gegen Horn (1881), 46 Mich 596, 603 (41 AmRep 178).

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anspruch überhaupt versagt wird. W i r sehen keinen Grund, warum seine Schädiger nur deshalb von der Haftung befreit werden sollten, w e i l sich die von ihnen schuldhaft herbeigeführte Verletzung als sehr komplex herausstellt. 21. Weitere Gesichtspunkte, die zusätzlich zu prüfen wären, sind nicht geltend gemacht worden. Die Entscheidung w i r d aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Die Kosten tragen die Beschwerdeführer. Black, Edwards, Kavanagh

und Souris, JJ., i n Übereinstimmung m i t

Smith, J. Carr, J. (abweichend).. . 2 1 Dethmers, C. J., und Kelly, J., i n Übereinstimmung m i t Carr, J. 1. Black, J. (übereinstimmend). M i t dem Aufkommen des modernen motorisierten Transport- und Verkehrswesens werden die Gerichte der Staaten regelmäßig m i t einem neuen und fortschreitend komplizierter werdenden Problem konfrontiert, nämlich der ordentlichen Anleitung der Jurys i n den Fällen, i n denen ein erwiesenermaßen schuldloser Kläger Verletzungen erlitten hat, die auf einen mehrfachen oder Kettenverkehrsunfall, den zwei oder mehrere schuldhaft handelnde Verkehrsteilnehmer verursacht haben, zurückzuführen sind. 2. I m Unterschied zum Fall Meier gegen Holt, 347 Mich 430, sieht der vorliegende Fall tatsächlich (siehe Fußnote auf S. 440, 441 der Meier-Entscheidung) so aus, daß nicht „ m i t Sicherheit" gesagt werden kann, daß die von jedem Kläger erlittenen Verletzungen eingetreten wären, wenn das Zusammenwirken der nacheinander schuldhaft handelnden Donaldson und Bryie nicht vorgelegen hätte. 3. Ein solcher Sachverhalt spielt i n Richter Cooleys Zusammenfassung von den Umständen hinein, welchen die Richter Smith und Carr nicht m i t der gewohnten Sehschärfe ins Auge sehen. Ich beziehe mich auf die folgende Passage (zitiert i n Meier, S. 438, 439): „Obgleich dies nicht stets deutlich zum Ausdruck gebracht wird, scheint sich die Regel allgemein durchgesetzt zu haben, daß die Schädiger trotz Fehlens einer gemeinsamen Handlung immer dann gesamtschuldnerisch aus Delikt zur Haftung herangezogen werden, wenn die kumulative Wirkung ihrer Handlungen zu einer einzigen, unteilbaren Verletzung führt, von der nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sie ohne das Zusammenwirken der betreffenden Handlungen eingetreten wären; folglich kann demgegenüber, falls sowohl die Ergebnisse als auch die Handlungen teilbar sind, von jeder Handlung gesagt werden, 21 Vom Abdruck des Votums von Richter Carr (Anm. d. Verf.) 1

3

c h t

wurde hier abgesehen.

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Die RATIO DECIDENDI daß sie zu einer Verletzung geführt hätte, wie schwierig im einzelnen die genaue Zuweisung der je verursachten Verletzungsfolgen auch sein mag, woraus sich ergibt, ,daß dann jeder Schädiger nur für den Anteil an den Verletzungen haftbar gemacht werden kann, der durch seine Handlung verursacht wurde'. 1 Cooley, Torts (4. Aufl.) § 86, S. 279, 280 22 ."

4. Zugleich m i t meiner Unterschrift unter Richter Smith's Votum möchte ich offen aussprechen, was war und was sein sollte. Bis heute hat sich die Michigan-Regel durchgesetzt. Verursachten zwei oder mehrere Schädiger getrennt voneinander je einen unbekannten oder ungewissen Teil der beim Kläger entstandenen Verletzungen, so war — bisher — jeder von ihnen dem Kläger nur für den Schaden ersatzpflichtig, den sein Verhalten herbeigeführt hatte, wie schwierig die Festsetzung des Schadensanteils i m einzelnen auch immer gewesen sein mochte. Albrecht gegen St. Hedwig' s Roman Catholic Benevolent Society, 205 Mich 395; Fry e gegen City of Detroit, 256 Mich 466; De Witt gegen Gerard, 274 Mich 299; De Witt gegen Gerard, 281 Mich 676; Meier gegen Holt, 347 Mich 430. 5. I n der Vergangenheit sind unsere Auffassungen nicht i n bezug auf die Regel selbst, sondern hinsichtlich ihrer zugestandenermaßen schwierigen Anwendung voneinander abgewichen. Siehe Meier, S. 439. Jetzt stellen w i r fest, daß dort, wo die Sachverhaltsprüfung ergibt, daß der von jedem Schädiger angerichtete Schadensanteil nicht genau ermittelt werden kann, die Jury zu ermächtigen ist, den Ersatz des gesamten klägerischen Schadens jedem einzelnen oder allen Schädigern aufzuerlegen, vorausgesetzt, daß die letzteren — rechtlich — an der Verursachung „einer einzigen, unteilbaren Verletzung" teilgenommen haben. M i r scheint, daß dies der einzige Weg ist, die Schwächen unserer gegenwärtigen Regel zu vermeiden. Diese Ausführungen haben die ausschließliche Funktion, interessierten Juristen zu verdeutlichen, daß die frühere Regel nun definit i v modifiziert wurde, und zwar ausdrücklich nur i n dem Umfang, den w i r i m Mehrheitsvotum festgelegt haben. I m übrigen behält die frühere Regelung unbeschränkte Gültigkeit.

22 Dieser Abschnitt folgt fast unmittelbar dem von Smith ihren Voten berücksichtigten Cooley-Zitat.

und Carr

in

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme: Drei Methoden der Entecheidungstätigkeit in Arbeitsstreitigkeiten* I n den Vereinigten Staaten steht die Behandlung von Arbeitsverhältnissen unter der Grundvoraussetzung, daß die Parteien — Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Gewerkschaft oder die Vereinigungen beider Seiten — i n allen Auseinandersetzungen über Löhne oder andere Arbeitsbedingungen zu einer Einigung gelangen. Aus verschiedenen Gründen jedoch wurde eine Reihe von Gremien eingerichtet, die den Parteien helfen oder die Entscheidung für die Parteien treffen sollen, wenn der vorausgesetzte Einigungsmechanismus nicht funktioniert. Es gibt einen „Bundesvermittlungs- und Schlichtungsdienst" (Federal Mediation and Conciliation Service), der „vollständige und angemessene Verwaltungseinrichtungen für Vergleich, Vermittlung und freiwillige Schlichtung" zur Verfügung stellen soll. Zahlreiche hochqualifizierte Persönlichkeiten werden regelmäßig als private Schlichter zur Beilegung von Streitigkeiten aus kollektiven Vereinbarungen herangezogen. Die „Nationale Arbeitsbehörde" (National Labor Relations Board, NLRB) hat die ausschließliche Entscheidungsbefugnis bei Auseinandersetzungen über den Umfang der „zweckmäßigen Verhandlungspunkte", über die Auswahl von Teilnehmern an Kollektivverhandlungen und über „unzulässige Praktiken i n Arbeitsverhältnissen". Bei Streitigkeiten i n nationalen Krisensituationen kann der Präsident eine Untersuchungskommission einsetzen. Von Zeit zu Zeit und zunehmend i n den letzten Jahren haben Präsidenten ad hoc-Kommissionen mit der Aufklärung von Tatsachenhintergründen beauftragt — eine derartige Kommission hat ihre Ergebnisse und Empfehlungen i n einem Bericht dem Präsidenten vorzulegen. Bei einer Aufzählung der Entscheidungsgremien sollten auch die Zivilgerichte, vor allem die Bundesgerichte, erwähnt werden. Die Landgerichte entscheiden auf Antrag des N L R B über die Gewährung notwendiger Verbesserungen i n solchen Fällen, i n denen spezifische, gesetzlich beschriebene unzulässige Praktiken i n Arbeitsverhältnissen festgestellt wurden. Die * Englisch in Dispute Settlement Procedures in Five Western European Countries, hrsg. von Benjamin Aaron, California Press 1969, S. 45 - 64.

18*

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Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme

Bundesberufungsgerichte auf Bezirksebene sind m i t der Durchsetzung der Entscheidungen der N L R B betraut. Klagen, die sich auf die Verletzung von Kollektivvereinbarungen stützen, können direkt bei den Bundesgerichten oder Staatsgerichtshöfen anhängig gemacht werden; doch w i r d von dieser Möglichkeit i m Vergleich zur Schlichtung nur selten Gebrauch gemacht. I n allen Ländern, i n denen das Prinzip der Vertragsfreiheit herrscht, sind Institutionen m i t etwa gleichen Funktionen eingerichtet worden. Fast überall findet man ein staatliches Regelungs- und Schlichtungssystem vor. I n Frankreich, Westdeutschland und Schweden gibt es eine besondere Arbeitsgerichtsbarkeit. I n Großbritannien werden die A r beitsverhältnisse i m allgemeinen und Koalitionsfragen i m besonderen als Angelegenheiten betrachtet, die weitestgehend nicht der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterliegen sollten. Deshalb t r i f f t man hier auf eine relativ größere Vielfalt spezieller Gremien, die sich m i t Arbeitsstreitigkeiten befassen. Wie so oft i m internationalen Maßstab bedeuten auch auf dem Gebiet der Arbeitsverhältnisse Fachbegriffe nicht i n jedem Land dasselbe. So hat etwa der Ausdruck Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten i n Großbritannien einen anderen Inhalt als i n den Vereinigten Staaten. I n Frankreich w i r d eine scharfe Trennungslinie zwischen „Vermittlung" und „Interessenausgleich" gezogen, während beide Begriffe anderswo mehr oder weniger synonym verwandt werden können. Abweichungen i m Hinblick auf den formalen Aufbau der verschiedenen Institutionen sind keine hinreichende Erklärung für die anzutreffenden Unterschiede. Es ist notwendig, i n einem weiteren Schritt den Versuch zu machen herauszufinden, wie das betreffende Gremium zu seiner Entscheidung gelangt. Welches Prinzip w i r d zugrunde gelegt, wenn es anhand eines Falles sein Votum über die Beilegung des Streits abgibt? I m folgenden soll versucht werden, die verschiedenen Entscheidungsmethoden und -ansätze zu analysieren. Man w i r d davon ausgehen können, daß eine enge Verbindung zwischen den für zulässig erachteten Argumenten seitens der fordernden oder klagenden Partei und den Elementen der Entscheidungsfindung und -begründung seitens des befaßten Gremiums besteht. Die Versicherung einer Partei, daß i h r ökonomische M i t t e l zur Verfügung stehen — etwa die Bemerkung eines Gewerkschaftsfunktionärs, daß seine Organisation über eine gut gefüllte Kasse verfüge und daß alle Arbeiter des Unternehmens oder Industriezweigs vollzählig organisiert seien —, mag für das eine Gremium ein vorteilhaftes Argument sein, kann sich aber für das andere als verfehlt herausstellen. Daher sollte man einen Einblick i n die jeweils angewandten Entscheidungsmethoden gewinnen, selbst wenn das betreffende Gre-

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme m i u m die seiner Entscheidung zugrundeliegenden Erwägungen nicht offen darstellt. I n der Regel bedienen sich Entscheidungsgremien, die über Arbeitsstreitigkeiten zu befinden haben, dreier Methoden: diese sind V e r m i t t lung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme. Die beiden ersten Begriffe sind annähernd präzise, während der Ausdruck Verwaltungsmaßnahme u m vieles zu weit gefaßt ist und nur aus Mangel an einem exakteren Begriff gewählt wurde. Was damit umschrieben werden soll, sind Entscheidungsstandards der A r t , wie sie etwa von Verwaltungsbehörden bei der Sachaufklärung angewandt werden, d . h . also nicht die Berufung auf eigentliche Gesetzesvorschriften, sondern sonstige anerkannte Entscheidungsmuster 1 . I. Vermittlung i n Gestalt etwa der Tätigkeit einer Bundes- oder staatlichen Vermittlungsstelle betrifft meistens das Zustandekommen einer kollektiven Vereinbarung. Die Aufgabe des Vermittlers besteht darin, alles zu versuchen, damit die Parteien sich zusammensetzen und ihre Streitfragen i n einer gütlichen Übereinkunft lösen. Er muß versuchen, die Punkte zu ermitteln, i n denen Angebot und Annahme übereinstimmen. I m Unterschied zum Richter arbeitet er nicht m i t dem materiellen Inhalt einer getroffenen Vereinbarung. U m diese Methode der Entscheidungstätigkeit zu bezeichnen, wäre der Ausdruck Verhandlungshilfe geeignet. Da der Vermittler i n erster Linie auf die Erzielung eines Übereinkommens hinarbeitet, scheint es naheliegend zu sein zu erkunden, 1 M i t ähnlichen Problemen haben sich bereits viele Wissenschaftler beschäftigt. Als ich i m Oktober 1967 einen Entwurf dieses Beitrages konzipierte, hatte ich das Glück, einen unveröffentlichten Aufsatz von hon Fuller , The Forms and Limits of Adjudication, lesen zu können. Die Lektüre war sehr anregend, und ich bin Professor Fuller für deren Ermöglichung sehr verbunden. Grundsätzlich stimmt unser Ansatz überein, wenngleich w i r verschiedene Einteilungskategorien benutzen. Später stieß ich auf einen Artikel des norwegischen Wissenschaftlers Torstein Eckhoff von 1966: The Mediator, the Judge and the Administrator in Conflict-Resolution, Acta Sociologica, Bd. 10, 1966, S. 148 ff. Wie i m Titel schon angezeigt wird, wählt Eckhoff dieselben drei Methoden der Entscheidungstätigkeit, die auch der Verf. zugrunde gelegt hat. Eckhoff beschreibt allgemeine soziologische Beobachtungen und widmet den Arbeitsverhältnissen keine spezielle Aufmerksamkeit. Eine schwedische Monographie von Sten Edlund, Tvisteförhandlingar pâ arbetsmarknaden („Streitverhandlungen in den Arbeitsbeziehungen"), 1967, verdient besonderes Interesse. Edlund untersucht die Methoden, die von den Kollektivvertragsparteien bei ihren Vereinbarungen angewandt werden. Durch einen Vergleich dieser Methoden mit den Entscheidungen des schwedischen Arbeitsgerichtshofes kommt er zu aufschlußreichen Bemerkungen über traditionelle Rechtsfindungsmethoden.

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Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme

welche Partei zum Nachgeben bereit sein könnte. Wenn sich aus den Gesamtumständen nicht klar ergibt, welche Partei die stärkeren Argumente oder die besseren Forderungen hat, so w i r d er entweder einen Kompromiß zwischen zwei Vorschlägen oder den Austausch einer Forderung gegen eine andere empfehlen. Kurzfristig wie i n den Vereinigten Staaten oder längerfristig wie unlängst i n England hat die Regierung versucht, den Verhandlungspartnern eine Politik der Lohnund Preiskontrollen aufzuzwingen. M i t den daraus sich ergebenden Problemen sollte der Vermittler i n keinem Fall beschäftigt werden, denn seine Aufgabe als Helfer bei den Verhandlungen ist unvereinbar m i t der Verantwortung für die Durchsetzung von Regierungsanordnungen. Auch von nichtoffiziellen Vermittlungsinstanzen w i r d zur Schlichtung von Auseinandersetzungen zur Methode der ausgleichenden Vermittlung gegriffen. I n Frankreich unterscheidet man „kollektive" und „Individual"-Streitigkeiten. Kollektivstreitigkeiten müssen der „Vermittlung" durch die staatliche Schlichtung zugeführt werden, innerhalb derer ständige Regionalausschüsse und ein Nationalausschuß tätig sind. I m Hinblick auf Individualstreitigkeiten ist die „Vermittlung" der erste Verhandlungsabschnitt, wenn eine Arbeitsvertragspartei beim örtlichen Arbeitsgericht (conseil de prud'hommes) Klage erhebt. Zwei Mitglieder des Gerichts — ein Arbeitgeber und ein Arbeitnehmer — fungieren dann als „Vermittler" (conciliateurs). Die Zusammensetzung des Gerichts ist besonderer Aufmerksamkeit wert. Bei der vermittelnden Tätigkeit arbeitet das Gericht m i t zwei Mitgliedern; beide sind Laienrichter. Hat der conseil de prud'hommes über einen Streit zu entscheiden, der nicht durch eine Vereinbarung zwischen den Parteien beigelegt werden konnte, so setzt sich das Gericht nunmehr entweder aus vier Laienrichtern oder aus vier Laien- und einem Berufsrichter zusammen. Ebenso bildet i n Westdeutschland der Vermittlungsversuch einen Teil des Verfahrens vor den Arbeitsgerichten. Der Vorsitzende des A r beitsgerichts ist gehalten, den Parteien i n einem Vorverfahren zu einer Einigung zu verhelfen (Güteverhandlung). Zu beachten ist dabei, daß dieselbe Person, die i m vorbereitenden Verfahrensabschnitt als Vermittler fungiert, später auch den gerichtlichen Vorsitz führt. Auch i n Schweden ist die Vermittlung durch den Präsidenten des Arbeitsgerichtshofs ein fester Bestandteil des Vorverfahrens. „Vermittlung" durch einen französischen conseil de prud'hommes folgt denselben Regeln wie eine „Vermittlung" i n einer „kollektiven" Streitigkeit durch einen Regionalausschuß. Es ist unzulässig, auf die schwächere Partei Druck auszuüben. Doch sind die Vermittler weder

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme verpflichtet, die Interessen einer der Parteien besonders zu schützen, noch, den möglichen Ausgang eines Verfahrens vor dem vollbesetzten Gericht mit einem Berufsrichter an der Spitze anzukündigen. Die vom Vorsitzenden eines westdeutschen Arbeitsgerichts geführte Güteverhandlung hat einen etwas anderen Charakter. Es gehört zur deutschen Tradition, daß der Vorsitzende den Parteien Ratschläge erteilt. Er kann eine Kompromißlösung vorschlagen, er kann aber auch Hinweise auf das denkbare Ergebnis einer gerichtlichen Streitentscheidung geben. Es gibt Gründe für die Annahme, daß i m Verlauf dieses Vorverfahrens geschlossene Vereinbarungen eher einem — vorgezogenen — Richterspruch gleichen als einem zwischen den Parteien ausgehandelten Kompromiß. I n Schweden und Westdeutschland liegt die Vermittlung i n den Händen des Richters. I n der Regel leitet der Vorsitzende die Vorverhandlungen. Jedoch bewegt er sich dabei i n einem sehr eng abgesteckten Handlungsrahmen. Es gilt als unangebracht, wenn der Richter seine Ansicht zu dem Wert oder Unwert der vorgebrachten Argumente ausdrückt. Nur selten ergibt sich für ihn die Gelegenheit, den Parteien die Einigung auf einen Kompromiß vorzuschlagen. Der eigentliche Vorteil dieser Einrichtung liegt darin, daß einer Partei die Möglichkeit eröffnet wird, sich m i t der Gegenseite i n neutraler Umgebung auseinanderzusetzen. Fragen und Antworten werden stets über den Vorsitzenden vermittelt. M i t Prozeßmethode verbinden w i r die Vorstellung der Entscheidungstätigkeit ordentlicher Gerichte oder m. a. W. der Rechtsprechungsmethode. Doch sollte berücksichtigt werden, daß Gerichte sehr unterschiedliche Aufgaben haben und daß die vermutlich wichtigste — über eine einer strafbaren Handlung angeklagte Person zu richten — nicht immer auf eine Entscheidungstätigkeit i n dem hier gemeinten Sinne hinausläuft. Andererseits gibt es Gremien, die richterliche Entscheidungsfunktionen ausüben, aber nicht als Gerichte i n der gewöhnlichen Bedeutung dieses Begriffs anzusehen sind. Eines von vielen Beispielen ist die amerikanische NLRB, die aus praktischen Gründen als amerikanisches Gegenstück zu den europäischen Arbeitsgerichten betrachtet werden könnte. Klagen aus Vertrag und unerlaubter Handlung vor einem Z i v i l gericht sind typische Gegenstände für eine Prozeßentscheidung. I n solchen Fällen macht der Kläger geltend, daß i h m ein bestimmtes Recht zustehe; Entscheidung i n unserem Sinne beinhaltet demzufolge die Zuerkennung eines gegebenen Anspruchs. Die Methode der prozessualen Entscheidung über vorgegebene oder erworbene Rechte unterscheidet sich zwar von Land zu Land, ist aber

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i n wesentlichen Punkten überall gleich. Sind die Tatsachen des zugrundeliegenden Falles einmal festgestellt, so w i r d vom Richter die Anwendung einer bestehenden und i m Rechtssystem verankerten Regel erwartet. Für den hier verfolgten Zweck sollte ein Vertrag wie ein von den Parteien aufgestellter Bestandteil des Rechts behandelt werden. So bestimmt etwa A r t . 1134 Abs. 1 des französischen Code civil, daß „rechtlich ordnungsgemäß zustande gekommene Verträge für diejenigen, die sie abschließen, so gut wie Gesetzesrecht sind". I n dem Begriff Entscheidung sind auch bestimmte schöpferische Elemente enthalten. Lücken i m Recht müssen durch die Erweiterung von Lehrsätzen gefüllt werden, die anhand früherer Fälle entwickelt wurden, oder, i n Kontinentaleuropa, durch analoge Anwendung vorhandener gesetzlicher Vorschriften oder durch den Gebrauch sogenannter allgemeiner Rechtsgrundsätze. Die letzteren sind oft Abstraktionen oder Verallgemeinerungen einer anerkannten Praxis. Der Richter kann sich veranlaßt sehen, den Zweck einer gesetzlichen Regelung unter Beachtung des gesetzgeberischen Willens zu bestimmen oder die konkrete Anwendbarkeit der zur Lösung des vorliegenden Falles herangezogenen Vorschrift zu überprüfen. Das charakteristische Merkmal dieser Methode ist, daß sie sich mit vergangenen Zeiten und Vorfällen beschäftigt. Eine retrospektive Betrachtungsweise erscheint nicht nur deshalb naheliegend, w e i l sich die Entscheidung über bestehende Rechte auf die Anwendung von Regeln gründet, die als bereits existent gelten, sondern auch deswegen, weil Geschehnisse der Vergangenheit zu prüfen sind. Grundsätzlich w i r d der Beklagte wegen Verzuges i m weitesten Sinne i n Anspruch genommen, zumal sich eine Klageforderung erst nach Fristablauf durchsetzen läßt. Ferner ist der Richter dort, wo Präjudikate verbindlich oder jedenfalls richtungweisend sind, von den Erkenntnissen der voraufgegangenen Rechtsprechung abhängig. Die Verwaltungsmaßnahme als Methode der Entscheidungstätigkeit i n Arbeitsstreitigkeiten ist nur schwer zu definieren. Negativ kann sie als eine Verfahrensweise bestimmt werden, die nicht darauf abzielt, eine Lösung zustande zu bringen, welche die Parteien i m Wege der freien Vereinbarung hätten erreichen können. Insoweit unterscheidet sich die Verwaltungs- von der Vermittlungstätigkeit. Auch versucht das „verwaltende" Gremium nicht, Feststellungen über möglicherweise vorgegebene Rechte zu treffen. Annähernd zeigt der Begriff „Verwaltung" den Gebrauch eines Ermessensspielraums an, durch den die „verwaltende" Stelle gleichsam i n schiedsrichterlicher Weise über Löhne oder andere Arbeitsbedingungen entscheidet. Wenn es auch zutrifft, daß dieses Verfahren mehr als nur die schlichte Zuerkennung bestehender

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme Hechte zum Inhalt hat, so ist es doch typisch für den Verwaltungsmann, daß er bestimmte Normen anwendet. Daher könnte die Verwaltungsmaßnahme als Methode der Entscheidungstätigkeit i n Arbeitsstreitigkeiten definiert werden als die Anwendung von Normen bei Fehlen gegebener oder wohlerworbener Parteienrechte. M i t Normen sind dabei nicht Gesetzesregeln i m engeren Sinne gemeint; sie beziehen sich eher auf das, was als gerecht oder fair empfunden wird. Beispielsweise fordert eine Arbeitnehmergruppe eine lOprozentige Lohnerhöhung m i t der Begründung, daß ihnen diese zustehe, weil andere m i t gleichen Qualifikationen und Arbeitsaufgaben den höheren Lohnsatz erhielten. Vergleichbarkeit dieser A r t ist eine oft angewandte Norm. Ein gleichermaßen wichtiger Norm-Maßstab ist der Produktivitätsanstieg i m Betrieb. Diesem Argument liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Gewinne zwischen den Arbeitern und dem Management zu teilen sind. Die Forderung nach Lohnerhöhung m i t der Begründung, daß die betreffenden Arbeitnehmer untertariflich oder unter dem allgemein üblichen Lohnniveau bezahlt werden, ist wieder eine andere Norm, welche i m übrigen die Andeutung des fernen Ideals: gleicher Lohn für alle enthält oder wenigstens den Gedanken anklingen läßt, daß die Gesellschaft Unterlegenen Schutz zu gewähren hat. Preisstabilität ist ein von nahezu jeder Finanzbehörde erklärtes Ziel. Hieraus folgt das Bestreben der Regierungen, die Höhe der zukünftigen Produktion, die für den Verbrauch zur Verfügung steht, bestimmen zu können, und ebenso Lohnforderungen über eine festgelegte Höchstgrenze hinaus m i t der Begründung zu unterbinden, diese w i r k t e n inflatorisch und damit der allgemeinen Politik entgegen. Zwar haben sich die Lohn- und Preisleitlinien i n den Vereinigten Staaten als untauglich herausgestellt, doch ist es i n Anbetracht der gegenwärtigen Rolle der Lohn- und Preisstop-Politik i n Westeuropa nicht unwahrscheinlich, daß sie auch i n den USA wieder an Bedeutung gewinnt2. Manche Normen können m i t Standards identisch sein, die von einem Vermittler bei der Verhandlungshilfe herangezogen werden. So kann es das Entscheidungsgremium etwa für angemessen halten, die angemeldete Forderung aufzuteilen und der das Verfahren betreibenden Partei nur einen Teil der verlangten Verbesserung zuzugestehen. I n dieser Übersicht über mögliche Normen habe ich mich auf Forderungen nach Lohnerhöhungen bezogen, w e i l die dafür vorgebrachten Argumente allgemein bekannt sind und relativ gut von den Gründen 2 Siehe „Guidelines, Informal Controls, and the Market Place. Policy Choices in a Full Employment Economy", hrsg. und eingeleitet von George P. Schultz und Robert Z. AUber, University of Chicago Press 1966.

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unterschieden werden können, die für das Bestehen von Rechtsansprüchen geltend gemacht werden. Grundsätzlich kann von den erwähnten Normen und Argumenten auch bei anderen Arbeitsbedingungen Gebrauch gemacht werden; vor allem ist der Hinweis auf die Vergleichbarkeit (Gleichbehandlung) i n fast jedem Zusammenhang ein taugliches Argument. Ich möchte hervorheben, daß unsere Auswahl einige Normen enthält, die nicht notwendig miteinander vereinbar sind. Tatsächlich haben viele eine entgegengesetzte Zielrichtung. Das Argument, daß Arbeiter m i t Niedriglöhnen einen höheren Lohnanteil zu beanspruchen haben, i m pliziert, daß ein Teil des Gesamtvolumens sozusagen i m Voraus verwendet werden müßte. Dies wiederum bedeutet, daß anderen Gruppen weniger gegeben werden könnte, als ihnen aufgrund ihres Anteils an der Produktivitätssteigerung eigentlich zustünde. Das Entscheidungsgremium muß also unter einer Reihe von Normen eine Auswahl treffen oder auch versuchsweise erst eine und dann eine andere i n ihren Auswirkungen prüfen. Folgt ζ. B. aus der Anwendung der Norm A die Berechtigung zu einer Lohnerhöhung u m 3 °/o und aus der Anwendung der Norm Β eine solche u m 9 °/o, so w i r d die Empfehlung einen K o m promiß zum Inhalt haben, der zwischen 3 °/o und 9 °/o liegt. Das britische System der freiwilligen Schlichtung soll als Beispiel für die Methode dienen, Arbeitsstreitigkeiten durch Verwaltungsmaßnahmen zu lösen. Das „Industriegericht" (Industrial Court) ist eine ständige, offizielle Schlichtungsstelle, der ein hauptamtlicher und besoldeter Präsident vorsteht. Der Arbeitsminister (jetzt: Minister für Beschäftigung und Produktivität) kann eine Streitigkeit entweder an einen ad hoc-Einzelrichter oder an eine ad hoc-Schlichtungskommission verweisen. Die Entscheidung darüber, ob ein Streit schlichtungsfähig ist, steht i m Ermessen des Ministers. Die Parteien müssen zunächst alle Möglichkeiten der Beilegung des Konflikts ausgeschöpft haben, die sich aus Vermittlungs- oder Schlichtungsabkommen i n ihrem Industriezweig ergeben. Eine weitere Voraussetzung ist, daß die Parteien ihr Einverständnis mit der Überweisung an eine Schlichtungsstelle erklärt haben. Zur Schlichtung weitergeleitete Streitfälle mögen die Anwendung einer Kollektivvereinbarung auf einen einzelnen Arbeitsvertrag, z.B. eine Forderung i n bezug auf Akkordarbeit, betreffen, oder die Anwendung einer Kollektivvereinbarung auf eine Gruppe von Arbeitern, ζ. B. die Beschwerde, daß i n bestimmter Weise qualifizierte Arbeiter zwar i n Übereinstimmung m i t dem nationalen Lohntarif für ihre Berufsgruppe bezahlt werden, aber nicht entsprechend einer betrieblichen Lohnvereinbarung, die für andere Betriebsangehörige gilt. Andere Fälle betreffen rückwirkende oder erst in Zukunft zu realisierende Lohnerhöhungen.

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme Es ist Praxis des „Industriegerichts", seine Beschlüsse i n die Form von ordentlichen Entscheidungen zu kleiden, welche die von den Parteien vorgetragenen Argumente vollständig wiedergeben, i m einzelnen aber nicht zum Wert oder zur Stichhaltigkeit dieser Argumente Stellung nehmen. Man begegnet Argumenten, die sich auf das Bestehen eines Rechtsanspruchs gründen und z.B. die Behauptung einschließen, daß die Streitfrage zwischen den Parteien bereits aufgrund einer besonderen Vereinbarung geklärt sei oder daß beide Seiten der Kollektivvereinbarung bei deren Abschluß einen bestimmten Inhalt beigemessen hätten. Doch sind Begründungen dieser A r t vergleichsweise selten. Die überwiegende Mehrheit hat m i t angeblichen Rechtsansprüchen nichts zu tun. Dies gilt nicht nur für die große Anzahl reiner Lohnauseinandersetzungen, sondern auch für Streitigkeiten anderer A r t . Die freiwillige Schlichtung i n Großbritannien unterscheidet sich i n einigen Punkten von derjenigen i n den Vereinigten Staaten. Sie betrifft nicht die Feststellung und Zuerkennung von Rechten, die unterhalb der Vertragsebene entstanden sind, sondern Schlichtung bedeutet i n Großbritannien eher Ausgleich und Anpassung der Parteibeziehungen m i t Blick auf die Zukunft. Die britische Untersuchungs-Kommission (court of inquiry) ist ein weiteres Beispiel für ein Gremium, das sich der Verwaltungs-Methode bedient. Ihre Funktionen ähneln denen des amerikanischen ad hocAusschusses für die Tatsachenermittlung. Diese Untersuchungskommissionen dienen i n erster Linie der Information des Parlaments und der Öffentlichkeit über die Tatsachen und Hintergründe eines Arbeitskonflikts. Der Minister macht von seinem Recht, eine solche Kommission einzusetzen, nur sparsam Gebrauch. Diese Möglichkeit ist für solche Angelegenheiten vorbehalten, die wegen ihrer großen Bedeutung das öffentliche Interesse auf sich ziehen. Eine Untersuchungskommission kann, was sie auch oft tut, i m Rahmen ihrer Beschlüsse und Empfehlungen frei und wertend zu den Argumenten der streitenden Parteien Stellung beziehen. Der französische „Interessenausgleich" entspricht der britischen Schlichtung oder dem Verfahren, das eine britische Untersuchungskommission anwendet. Wie oben erwähnt, sind „kollektive" Streitigkeiten der „Vermittlung" zuzuführen. Schlägt diese fehl, kann der Präsident der Vermittlungskommission einen „Interessenausgleich" anordnen. Dieselbe Befugnis hat der Arbeitsminister. I m Falle einer solchen A n ordnung sind die Parteien verpflichtet, ihren Streit dem „Schlichter" (médiateur) vorzulegen. Der Spruch dieses Schlichters gilt als „Empfehlung" ohne bindenden Charakter. A u f Beschluß des Ministers kann der Schiedsspruch des médiateurs veröffentlicht werden, wobei der Gedanke maßgebend ist, daß schon die Möglichkeit einer Veröffentlichung

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die Parteien dazu anhalten wird, ihren Konflikt entsprechend dem Ausgleichsvorschlag selbst zu lösen. Der „Interessenausgleich" ist eine relativ junge Einrichtung des französischen Arbeitsrechts, während die Schlichtung oder die Einsetzung von Untersuchungskommissionen seit langem anerkannte Institutionen i n Großbritannien sind. Der „ I n teressenausgleich" ist i n einem Gesetz geregelt, das 1955 erlassen und 1957 ergänzt wurde. Anfänglich betrachtete man das neue System als großen Erfolg. I n den ersten beiden Jahren, 1955 und 1956, wurden jährlich etwa 50 Streitfälle behandelt. Später nahm die Bereitschaft zu dieser Regelungsmöglichkeit ab, und die Zahl der vorgelegten Fälle ging auf nur 4 i m Jahre 1964 zurück. I m übrigen wurde kein Ausgleichsspruch veröffentlicht. Eine ergänzende Information i m Hinblick auf die Situation i n Großbritannien sollte noch angefügt werden. I n den vergangenen Jahren haben Preis- und Einkommenskontrollen zunehmend an Bedeutung gewonnen. M i t verschiedenen Mitteln hat die britische Regierung versucht, Lohnerhöhungen innerhalb eines eng begrenzten Rahmens zu halten. Eine besondere Behörde, das Nationale Preis- und Lohnamt (National Board of Prices and Incomes) wurde i m Gefolge der Einigung zwischen Regierung und Industrie auf eine Preis- und Einkommenspolitik für die Periode Dezember 1964 bis März 1965 eingerichtet; es sollte zumindest bis auf weiteres bestehen bleiben. Die Preis- und Lohngesetze von 1966, 1967 und 1968 räumten dem Minister die Befugnis ein, das Inkrafttreten von Lohnerhöhungen, die sich aus K o l l e k t i v vereinbarungen oder Schiedssprüchen ergaben, hinauszuschieben. A u f grund der Preis- und L o h n - B i l l von 1968 wurde für alle am oder nach dem 20. März 1968 abgeschlossenen Lohn- und Einkommensvereinbarungen eine Höchststeigerungsgrenze von 3,5 °/o festgesetzt. Ausgenommen waren solche Übereinkünfte, deren Grundlage effektive Produktivitätssteigerungen über diese Grenze hinaus bildeten. Das britische System ist zweispurig. Kollektivverhandlungen und Schlichtung laufen unabhängig von den Regierungsdaten zur Einkommenspolitik weiter. I n dem Sachbericht des Arbeitsministeriums an die königliche Kommission für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände von 1965 kann man zwischen den Zeilen lesen, daß das Ministerium zuweilen m i t dem Problem konfrontiert war, daß das „Industriegericht" (Industrial Court) großzügiger war als es die Regierung erwartet hatte. I n Anbetracht der Tatsache, daß die m i t der Schlichtung Beauftragten sich des ökonomischen Hintergrundes bewußt sein sollten, vor dem sie ihre Entscheidungen zu treffen haben, wurden sie m i t Lohn- und Verdienststatistiken versorgt. Das Ministerium bekräftigte jedoch, daß keine Versuche stattgefunden haben, die Arbeit der Schlichter zu beschränken oder ihnen i n irgendeiner Weise vorgeschrieben zu haben,

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme wie sie i n Schiedssprüchen auf allgemeine politische Ziele Rücksicht zu nehmen hätten 8 . Es wurde schon angegeben, daß die Handhabe gegen einen Schiedsspruch, der sich nicht an die politisch gezogenen Grenzen hielt, darin bestand, das Datum seines Inkrafttretens hinauszuschieben. II. I m Vorstehenden wurden die drei grundlegenden Handlungsprinzipien beschrieben. Das erste Prinzip, die Vermittlung, oder ausführlicher, das Prinzip der Verhandlungshilfe, w i r d m i t der Tätigkeit von Bundes- oder staatlichen Schlichtungsstellen verknüpft. Das zweite Prinzip, die Prozeßentscheidung über Rechtsansprüche, w i r d von Gerichten angewandt. Das dritte Prinzip, die Verwaltungsmaßnahme, enthält wie die Prozeßentscheidung die Anwendung von Normen, berührt aber nicht gesetzliche oder vertragliche Rechtspositionen. I n England spielt die Verwaltungsmaßnahme die wichtigste Rolle bei A r beitsstreitigkeiten; der gesamte Schlichtungsmechanismus liegt i n den Händen „verwaltender" Gremien. Es sollte nochmals betont werden, daß sich der englische Schlichter demnach einer anderen Methode bedient als sein amerikanischer Kollege. I m folgenden Abschnitt werden die Vor- und Nachteile dieser drei Prinzipien diskutiert. Man ist geneigt anzunehmen, daß dem ersten Prinzip, der Vermittlung, eine bevorzugte Stellung eingeräumt wird. Es könnte keinen Konflikt komplizieren, wenn eine offizielle Stelle den Parteien bei den Verhandlungen Hilfestellung gäbe. Die Vermittlung hat vor allem deshalb Vorzüge, w e i l sie den Streit weitgehend von Prestige-Fragen löst, Mißverständnisse ausräumen und Spannungen aufgrund persönlicher Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern beider Seiten leichter abbauen kann. W i r d die Vermittlung ordnungsgemäß durchgeführt, verleiht sie jeder Partei die beruhigende Gewißheit, das relativ beste Verhandlungsergebnis — abgesehen vom wirtschaftlichen Kampf — erzielt zu haben. Da Wirtschaftskämpfe, besonders Streiks und Aussperrungen, kostspielig sind, muß der Rückgriff einer der Parteien auf eine Kampfmaßnahme als Fehlschlagen des Vermittlungsverfahrens betrachtet werden. Gegen diese Einschätzung sprechen jedoch wenigstens zwei Erwägungen: (1) Einige Streitfragen sollten nicht zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden. Dies soll der folgende Fall veranschaulichen. Das Hotel- und Gaststättengesetz eines beliebigen Staates schreibt vor, daß die wöchentliche Arbeitszeit i n diesem Gewerbe 45 Stunden » Schriftlicher Sachbericht Code Nr. 73-39-0-66).

des Arbeitsministeriums,

1965, S. 109

(S.O.

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nicht überschreiten und daß von keinem Arbeitnehmer die Ableistung von Uberstunden verlangt werden darf. Die Befolgung dieser Vorschriften w i r d vom Gewerbeaufsichtsamt durchgesetzt und überwacht. Die Gemeinde X unterhält ein Haus namens Stadtheim, i n dem Landstreicher und andere Obdachlose für ein geringes Entgelt beherbergt werden. Die Gemeindeverwaltung steht auf dem Standpunkt, daß das Hotel- und Gaststättengesetz nicht für wohltätige Einrichtungen wie das Stadtheim gilt, und bietet der Gewerkschaft den Abschluß eines Wochenlohntarifes an, der auf einer 50-Stunden-Woche basiert. Es erscheint nun selbstverständlich, daß ein staatlicher Vermittler der Gewerkschaft nicht die Annahme dieses Angebotes empfehlen sollte, wenn er auch nur den geringsten Zweifel über den Anwendungsbereich des Hotel- und Gaststättengesetzes hat. (2) Eines Hinweises bedarf auch der Umstand, daß die Parteien am Verhandlungstisch i n vielen Fällen nicht legitimiert sind, über die gestellten Forderungen zu verfügen. Angenommen, ein Arbeiter wurde ohne hinreichenden Grund entlassen oder erhielt geringeren als den i h m zustehenden Lohn, so gäbe es i n Frankreich keine Schwierigkeiten, wenn der Arbeitnehmer selbst — wie es vorgeschrieben ist — beim conseil de prud'hommes klagen würde, wobei er sich der Unterstützung durch die Gewerkschaft bedienen kann. Demgegenüber gibt es aber auch, wie i n den Vereinigten Staaten, die Regelung, daß ausschließlich die Gewerkschaft als Vertreterin aller Arbeitnehmer i m Rahmen ihrer Verhandlungstätigkeit gesetzlich anerkannt ist. Dann taucht das Problem auf, ob die Gewerkschaft berechtigt ist, i m Verhandlungswege auf die Forderung zu verzichten oder Kompromisse zu schließen. Bevor also i n solchen Fällen vermittelt werden kann, muß der Vermittler wissen, ob und inwieweit indisponible Rechtsansprüche i m Streit stehen. Betrachten w i r nun das zweite methodische Prinzip, das der Prozeßentscheidung über Rechtsansprüche. Als i m Jahre 1918 i n Deutschland das erste Gesetz über K o l l e k t i v verhandlungen erlassen wurde, bestand eines der gesetzgeberischen Motive in der Überzeugung, daß der einzelne Arbeitnehmer dem Arbeitgeber ausgeliefert wäre, wenn er allein mit i h m den Lohn und die übrigen Arbeitsbedingungen aushandeln müßte. Andererseits sah sich der Gesetzgeber außerstande, die Besonderheiten jedes Industriezweigs und jeder Berufsgruppe i m einzelnen zu berücksichtigen. Die Koalitionen beider Seiten wurden ermächtigt, ihre Beziehungen zueinander selbst zu regeln. I n Schweden hatten die Gesetzgeber andere Ziele vor Augen, als sie i m Jahre 1928 das Gesetz über Kollektivvereinbarungen verabschiede-

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme ten. Zwar wurde der Kollektivvertrag schon damals Von den Gerichten als ein die Parteien rechtlich bindender Vertrag anerkannt, doch wurde i m allgemeinen nur wenig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Vertragspartei vor Gericht wegen Verletzung einer kollektiven Abmachung zu verklagen. Wenn ein Kollektivvertrag auch vor dem Gesetz von 1928 eingehalten wurde, was regelmäßig der Fall war, so beruhte dies nicht auf der Erwartung rechtlicher Sanktionen infolge eines Vertragsbruchs. Vielmehr war aus praktischen Gründen die Ergreifung wirtschaftlicher Kampfmaßnahmen das einzig verfügbare Hilfs- und Druckmittel. Dieser Zustand wurde von den Verantwortlichen i n Staat und Regierung als unbefriedigend angesehen. Ein Zitat aus den Gesetzesmaterialien umreißt den Zweck des Gesetzes von 1928: „Rechtsstaatliche Grundsätze erfordern, daß der Ausgang von Kollekt i v Vertragsstreitigkeiten nicht von der jeweiligen Macht der kämpf enden Parteien abhängt." Deutsches und schwedisches Recht haben gemeinsam, daß bestimmte Konfliktbereiche als geeignet für eine gerichtliche Streitregelung betrachtet werden und der Prozeßentscheidung zu unterwerfen sind, sofern sich die Parteien nicht auf ein Schlichtungsverfahren geeinigt haben. Es ist zuzugeben, daß auch die amerikanische Methode der freiwilligen Schlichtung von Auseinandersetzungen i m Rahmen einer Kollektivvereinbarung auf demselben Grundgedanken aufbaut. Uberhaupt bewegen sich die Vorstellungen derjenigen, die von einem scharfen Gegensatz zwischen freiwilliger und Zwangsschlichtung ausgehen, fast immer auf derselben Linie. I m allgemeinen kommt die Idee, eine bestimmte Kategorie von Auseinandersetzungen der Prozeßentscheidung durch Gerichte zugänglich zu machen, i n der Verwendung des gegensätzlichen Begriffspaares: Rechtsstreitigkeiten und Interessenstreitigkeiten zum Ausdruck. M. E. sind diese Begriffe, die übrigens dem englischen Recht fremd sind, zu weit. Bei der Zuordnung aller entstehenden Konflikte zu einer der beiden Gruppen, also Rechts- bzw. Interessenstreitigkeiten, übersieht man leicht entscheidende Gesichtspunkte. Jedoch kann dieser Frage aus Raumgründen hier nicht weiter nachgegangen werden. I m folgenden gehe ich von der Voraussetzung aus, daß das grundlegende Prinzip i n den Rechtsordnungen Westdeutschlands, Schwedens und der Vereinigten Staaten eine solide Basis hat. Aus Kollektivvereinbarungen sich ergebende Konflikte sind Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungstätigkeit oder der privaten Schlichtung. Doch gibt es einige schwache Stellen i n der traditionell juristischen Methode, welche die Gerichte und Schlichter wohl regelmäßig anwenden. Manchmal ergibt sich ein merkwürdiger Kontrast zwischen allgemeinen Grundsätzen einer Rechtsordnung und der Anerkennung von

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Sonderstandpunkten irgendeiner Gesellschaftsgruppe. I n den meisten Ländern bewegen sich Kündigungsentscheidungen ausschließlich i m Rahmen der von Arbeitgeberseite vorgebrachten Daten. Dem Arbeitgeber ist gleichsam die Befugnis erteilt worden, einen Arbeiter aus jedem beliebigen Grunde zu entlassen, ohne zur Darlegung seiner Motive verpflichtet zu sein. Dies gilt noch immer als Grundregel i n England und den Vereinigten Staaten, obwohl es wichtige Einschränkungen gibt. Ich vermute allerdings, daß die überwiegende Mehrheit der Arbeitgeber i n solchen Ländern wie etwa Schweden Kündigungsangelegenheiten m i t großer Sorgfalt behandeln. Tatsächlich verfolgen viele Arbeitgeber eine Politik der „großzügigen Verabschiedung" (d. h. die Zahlung eines reichlichen Entlassungsgeldes), vor allem wenn es sich u m Manschettenarbeiter auf oder i n der Nähe der Managerebene handelt. Hier begegnet man einer i n vielen Rechtsgebieten bekannten Erscheinung. Die Versicherungsgesellschaft räumt sich selbst weitestgehende Rechtsvorteile und Privilegien i n den „Allgemeinen Versicherungsbedingungen" ein, ist bei deren Durchsetzung aber weniger strikt. W i r d ein gewöhnlicher Kündigungsfall einem Gericht vorgelegt, so fällt die Entscheidung gegen den Arbeitnehmer aus, w e i l bei juristischer Betrachtungsweise kein Rechtsanspruch auf den Verbleib an einem Arbeitsplatz ersichtlich ist. Die Erfahrungen m i t der Kündigungsrechtsprechung des schwedischen Arbeitsgerichtshofs i n den 30er Jahren waren ausgesprochen entmutigend. Die Gewerkschaftssekretäre konnten nicht verstehen, warum sich das Gericht weigerte, die gegebene Situation i m Betrieb, wo nämlich über Entlassungen tatsächlich verhandelt wurde, i n Rechnung zu stellen. Es war ihnen unbegreiflich, daß das Gericht von seinem Standpunkt aus lediglich geltendes Recht anwandte, wenn es zum Nachteil des gekündigten Arbeiters entschied. Diese Rechtsprechung schuf ein beträchtliches Mißtrauen gegenüber der Fähigkeit des Gerichts, sich m i t Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen — wobei andere Entscheidungen, die gewerkschaftliche Auffassungen etwas stärker berücksichtigten, zum Glück ein gewisses Gegengewicht darstellten. I n dem Rahmenabkommen von 1938, das 1964 ergänzt wurde, gelang den Gewerkschaften eine Übereinkunft m i t den Arbeitgebern über den Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen; sie zogen es vor, diese Fallgruppe der Zuständigkeit des Gerichts zu entziehen, um sie von einem rechtsprechungsunabhängigen Gremium, dem Arbetsmarknadsnämnden, entscheiden zu lassen. Auch i n einer anderen Hinsicht bietet die herkömmliche Rechtsprechungsmethode Anlaß zu Enttäuschungen. Bildlich w i r d Gerechtigkeit i n der Form zweier Waagschalen dargestellt; doch i n Wirklichkeit sind die Schalen — i m Unterschied zu der Waage, welche die bekannte Gestalt der blinden Gerechtigkeitsgöttin hält — nur selten

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genau ausbalanciert. Einer Klage w i r d entweder stattgegeben, oder sie w i r d abgewiesen. Es w i r d allgemein als gegeben hingenommen, daß dieses Entweder-Oder eine feste Grundregel i n den Wirtschafts- und Geschäftsbeziehungen darstelle, i n denen die Parteien, entsprechend unserer generellen Lebensauffassung, daran gewöhnt seien, Verluste hinzunehmen. M i t Sicherheit aber taugt diese Philosophie nicht für Arbeitsverhältnisse. Auch hier mag als Beispiel das Individualkündigungsrecht herangezogen werden. I n einem Fall w i r d dem Arbeitnehmer ein Ausgleich gewährt; i n einem anderen erhält er nichts. Die Grenzfälle, bei denen das Rechtsprechen einem Würfelspiel gleichkommt, sind verhältnismäßig häufig. Manchmal geschieht es, wie etwa durch das englische „Uberbeschäftigungs-Zahlungs-Gesetz" von 1965 (Redundancy Payments Act), daß der Gesetzgeber die Stellung des Arbeitnehmers verbessert. Nach diesem Gesetz w i r d die Kündigung i n einer Anzahl von Fällen als eine durch Überbeschäftigung hervorgerufene Kündigung behandelt (woran sich eine Ausgleichszahlungspflicht anknüpft), während normalerweise die umgekehrte Regel gilt, daß nämlich der Arbeitnehmer i n seiner Eigenschaft als Kläger die Beweislast trägt. M. E. wäre es richtiger, i n die gerichtliche Entscheidungstätigkeit Elemente des Verhandeins und des Ausgleichs aufzunehmen. Anders als beim Gebrauch des Würfels würde das Gericht dann die Gunst des Zweifels aufzuteilen und i n Grenzfällen eine anteilige Entschädigung zu gewähren haben. A n dieser Stelle sollte noch eine Frage aus der amerikanischen Praxis angeschnitten werden. I n der Regel enthalten amerikanische Kollektivverträge eine Klausel über Kündigungsgründe. K o m m t der Schlichter zu dem Ergebnis, daß der Arbeitnehmer ohne einen anerkannten Grund entlassen wurde, so muß er — m i t oder ohne Nachzahlung — wieder eingestellt werden. Wenn eine solche Klausel existiert, so hat der amerikanische Schlichter einen Vorteil gegenüber dem schwedischen Arbeitsgerichtshof. Bei Kündigungsstreitigkeiten ist er dann nicht verpflichtet, die Common-law-Regel anzuwenden, nach der alle Vorrechte beim Arbeitgeber liegen; dadurch w i r d sein Spruch auch für die Gewerkschaft leichter annehmbar sein. Meine Frage bezieht sich nun auf den zweiten kritischen Punkt, den ich der Prozeßmethode entgegenhielt. Haben sich die Parteien i n den Vereinigten Staaten selbst von der traditionellen Alles-oder-Nichts-Regel befreit und ein Verfahren entwickelt, das dem Schlichter eine Verteilung der Gunst des Zweifels gestattet? Meines Wissens ist dies i m allgemeinen nicht der Fall. Es ist nicht möglich, die „Verwaltungsmaßnahme" als eine Entscheidungsmethode i n Arbeitsstreitigkeiten i m Detail zu analysieren. Sie bedeckt ein weites Feld, und die herangezogenen Normen sind oft 14

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vage und widersprüchlich. Ich werde mich auf einen Vergleich zur Rechtsprechungsmethode beschränken. Zwischen Verwaltung und Rechtsprechung besteht ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal. Die Argumentation des entscheidenden Verwaltungsgremiums bezieht sich auf die Zukunft. Der Hauptgesichtspunkt ist die Frage, welche Lohnund Arbeitsbedingungen für bestimmte auszuführende Tätigkeiten gelten sollen. Ich w i l l nicht bestreiten, daß die Konstruktion gesicherter Ansprüche i n Vertragsverhältnissen ihre Vorteile hat. I n unseren Gesellschaften ist es eine tief verwurzelte Uberzeugung, daß jeder das erhalten soll, was i h m rechtlich zusteht. Von den Parteien w i r d erwartet, daß sie die Verpflichtungen genau einhalten, die sie sich selbst vertraglich auferlegt haben. Selbstverständlich muß die i n ihren Rechten verletzte Partei über eine gerichtliche Handhabe verfügen können, wenn der Beklagte die Erfüllung seiner Verpflichtungen vernachlässigt hat. Die Medaille hat auch eine andere Seite. Sollte ein Geschäftsmann einen anderen jemals vor Gericht verklagt haben, so bedeutet dies i n aller Regel das Ende aller Geschäftsbeziehungen zwischen ihnen. Man könnte meinen, daß solch ein Resultat keinen größeren Schaden i n einer Gesellschaft anrichten kann, die auf dem Boden des freien Wettbewerbs davon ausgeht, daß jede Partei rasch einen neuen Geschäftspartner finden wird. Doch w i r d hier der Frage nicht nachgegangen, ob das System durchsetzbarer Rechtsansprüche das Handelsund Wirtschaftsrecht beherrschen sollte. I n den Arbeitsverhältnissen stellt sich die Situation anders dar. Die Parteien eines Kollektivvertrages müssen ihre Beziehungen aufrechterhalten, wenn sie überleben wollen. Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft ist wie eine katholische Ehe: es kann nur durch den Tod aufgelöst werden. Oben gab ich zu bedenken, daß die prozessuale Methode der Entscheidung über Rechtsansprüche immanente Schwächen aufweist. Es wurde vorgeschlagen, daß einige Elemente des Verhandeins und des Ausgleichs übernommen werden sollten. Dadurch würde das Gericht i n Kündigungsfällen etwa die Möglichkeit haben, die Gunst des Zweifels aufzuteilen und der benachteiligten Partei eine anteilige Entschädigung zuzusprechen. Hieran schließt sich die weitere Bemerkung an, daß das Prinzip der Entscheidung über Rechtsansprüche, unabhängig davon, wie man es ändert oder verbessert, niemals den Gerechtigkeitserfordernissen i n Dauerbeziehungen angemessen entsprechen kann. Auch hierzu w i r d ein Beispiel gewählt. Ein 1966 für die Jahre 1966 bis 1968 abgeschlossener Kollektivvertrag schreibt vor, daß die Arbeiter entweder der Gruppe der Handarbeiter oder der Gruppe der Laboratoriumarbeiter zuzuordnen sind und daß die

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wöchentliche Arbeitszeit der ersteren 42 und die der letzteren 40 Stunden betragen soll. 1967 macht die Gewerkschaft geltend, daß eine Gruppe von Arbeitern, welche die Öfen i n den Laboratorien beheizt, als Laboratoriumarbeiter einzustufen seien. Für die betroffenen Arbeitnehmer ist die eventuelle Nachzahlung der Lohndifferenz von weniger großer Wichtigkeit. I n dieser Lage wäre es sehr unbefriedigend für ein Gericht, sich ausschließlich auf den Wortlaut einer unklaren Vertragsklausel stützen zu müssen. Es würde auch nicht viel weiterhelfen, andere Möglichkeiten zur Ermittlung des i n der ursprünglichen Vereinbarung wirklich Gewollten auszuprobieren. M i r scheint es angemessener zu sein, der Situation so zu begegnen, wie sie ist. Derjenige, der m i t der Entscheidung über kollektive Arbeitsverhältnisse beauftragt ist, sollte eine Lösung zu finden versuchen, die für die zukünftige Regelung der Beziehungen zwischen den Parteien geeignet ist. Hierin sehe ich die große Stärke des englischen Schlichtungssystems. Die Aufgabe des englischen Schlichters besteht darin, den Parteien bei der Angleichung und Neugestaltung ihrer Beziehungen zu helfen. Die Anerkennung der Vorzüge des englischen Systems schließt eine K r i t i k der deutschen und schwedischen Verfahrensweisen ein. I n diesen Ländern scheint es, als hätte der Gesetzgeber bei der Regelung der Arbeitsverhältnisse den traditionellen Methoden der gerichtlichen Entscheidungstätigkeit nicht eine derart überragende Rolle zuweisen sollen. Das herkömmliche Verfahren der prozessualen Entscheidung über Rechtsansprüche sollte teilweise anderen Methoden Platz machen, die auf die Notwendigkeit der zukünftigen Regelung der Beziehungen Rücksicht nehmen. Nochmals soll auf die Lage i n den Vereinigten Staaten zurückgegriffen werden. Die von den Schlichtern benutzten Arbeitsmethoden sind lebhaft diskutiert worden. Einige vertreten die Auffassung, der Schlichter habe „wie ein Richter zu handeln" und jeden Fall nach der traditionellen Rechtsprechungsmethode zu entscheiden. Der wichtigste Befürworter dieser Ansicht ist die „Amerikanische SchlichtungsVereinigung" (American Arbitration Association), wenngleich einige Modifikationen angestrebt werden. Von anderer Seite w i r d von dem Schlichter mehr erwartet; er soll je nach Fallgestaltung vermitteln oder ausgleichen und auf eine gemeinsame Regelung der Parteibeziehungen hinwirken. Meine, nach dem Vorausgegangenen unschwer zu erkennende A u f fassung neigt eher dazu, den Schlichter so weit von den herkömmlichen Methoden zu befreien, daß er notwendige Anpassungen i n Dauerbeziehungen vornehmen kann. 14

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Einige Einschränkungen sind allerdings erforderlich. Eine Kollektivvereinbarung schafft eine komplexe Situation. I h r Inhalt und ihre Bedingungen betreffen außer den Parteien auch Dritte. Nach deutschem Recht werden die normativen Tarifvertragsregelungen automatisch Bestandteil der Arbeitsverträge aller Mitglieder der abschließenden Gewerkschaft. Das schwedische Gesetz bestimmt, daß die Gewerkschaftsmitglieder genauso an den Kollektivvertrag gebunden sind, wie wenn sie selbst Vertragsparteien wären. Die kollektive Vereinbarung beeinflußt ferner auch die Arbeitsverhältnisse von Nichtorganisierten. Dies t r i f f t gerade i n Ländern wie Deutschland und Schweden zu, wo die Gewerkschaften nicht als einzige Vertreter der betreffenden Arbeitnehmergruppen anerkannt sind. Für den einzelnen Arbeiter und Angestellten kann eine willkürliche Entlassung wirtschaftliche Einbußen und andere schwerwiegende Schäden mit sich bringen. M. E. gibt es gute Gründe für eine rechtliche Regelung, die eine Wiedereinstellung und die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ermöglicht. Jedoch müssen auch die Befürworter einer solchen Regel zugeben, daß eine Wiedereinstellungsklage nicht notwendig die Frage nach dem wirtschaftlichen Uberleben aufwirft, zumal dann, wenn der Arbeiter woanders leicht eine Anstellung finden kann. Demnach stellt sich hier das Problem des Ausgleichs und der Anpassung an zukünftige Verhältnisse nicht mit derselben Schärfe wie bei der Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien, die wie etwa Arbeitgeber und Gewerkschaften auf die Fortsetzung ihrer Beziehungen angewiesen sind. Meiner Einschätzung nach gibt es keine grundsätzlichen Einwände gegen die Anwendung der auf Rechtsansprüche abgestimmten Entscheidungsprinzipien, wenn es um Individualforderungen geht. I n diesem Zusammenhang möchte ich an die Unterscheidung erinnern, die nach französischem Recht zwischen „individuellen" und „kollektiven" Streitigkeiten getroffen wird. Es hat den Anschein, als stützte diese Unterscheidung meine These, derzufolge teilweise voneinander abweichende Entscheidungsmethoden heranzuziehen sind, je nach dem, ob es sich u m die Beurteilung von „Ansprüchen" der Gewerkschaft oder von „Ansprüchen" des einzelnen Arbeitnehmers handelt. III. Grundsätzlich gibt es drei Behandlungsmethoden, die von öffentlichen Gremien bei der Entscheidung über Arbeitskonflikte angewandt werden: Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme. Gegenstand der Vermittlung ist die Erzielung von Vereinbarungen oder die Erledigung von Beschwerden. Der Vermittler hat den Parteien

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme bei ihren Verhandlungen zu helfen. Seine Arbeit w i r d nicht davon beeinflußt, ob die getroffene Ubereinkunft den Ausgang eines möglichen Gerichtsverfahrens berücksichtigt oder m i t der Lohnpolitik der Regierung abgestimmt ist. Läuft die Vermittlung i n den vorgesehenen Bahnen ab, so gelangt jede Partei zu der beruhigenden Erkenntnis, das ohne den Einsatz von Kampfmaßnahmen bestmögliche Verhandlungsergebnis erreicht zu haben. Vermittlung w i r d nicht nur von Bundes- oder staatlichen Schlichtungsstellen praktiziert. Sie existiert auch als Teil des arbeitsgerichtlichen Vorverfahrens i n Frankreich, Deutschland und Schweden. Erwähnenswert ist dabei, daß das französische Arbeitsgericht (conseil de prud'hommes) eine eigens für die Vermittlung eingerichtete Kammer besitzt, die aus zwei Laienrichtern besteht — einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer. Der Vermittlung sollte bei allen Arten von Auseinandersetzungen eine bevorzugte Stellung eingeräumt werden. Einige Einschränkungen sind allerdings zu beachten. Aus den Regeln über die Vertretungsmacht folgt, daß bestimmte Streitfragen nicht zum Verhandlungsgegenstand gemacht werden können. W i r d ein einzelner Arbeitnehmer von der Gewerkschaft vertreten, muß der Vermittler mögliche Interessenkonflikte zwischen dem einzelnen und der Gewerkschaft einkalkulieren. M i t der Prozeßmethode oder, wie sie zuweilen genannt wird, der richterlichen Entscheidungsmethode meint der Verfasser die Prinzipien, denen ein ordentliches Gericht bei Klagen aus Vertrag oder unerlaubter Handlung folgt. Vom Richter w i r d erwartet, daß er nach Feststellung der erheblichen Tatsachen eine Vorschrift anwendet, die i m System des geltenden Rechts verankert ist. Für den hier verfolgten Zweck sollte ein Vertrag als von den Parteien selbst gesetztes Recht betrachtet werden. Diese Methode richtet ihren Blick grundsätzlich auf die Vergangenheit. Der Prozeßmethode bedienen sich die Arbeitsgerichte i n Frankreich, Deutschland und Schweden. I m Hinblick auf Frankreich ist hervorzuheben, daß eine besondere Unterscheidung zwischen „individuellen" und „kollektiven" Streitigkeiten getroffen wird. Die Rechtsprechung des conseil de prud'hommes betrifft lediglich die erstgenannte Kategorie. I m großen und ganzen w i r d die Prozeßmethode auch von amerikanischen Schlichtern angewandt, während i n Großbritannien ein anderes Verfahren vorherrscht. I n Deutschland, Schweden und den Vereinigten Staaten w i r d zwischen Rechts- und Interessenstreitigkeiten unterschieden. Diese Differenzierung baut auf der Voraussetzung auf, daß kollektiwertragliche Aus-

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Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme

einandersetzungen (Rechtsstreitigkeiten) i n die Entscheidungszuständigkeit eines Arbeitsgerichts oder eines Schlichters gehören. Verwaltungsmaßnahmen implizieren die Anwendung von Normen, die i m allgemeinen einen verhältnismäßig vagen Charakter haben, wie z. B. der Grundsatz, daß ein Produktivitätsanstieg eine entsprechende Anhebung der Löhne rechtfertigt. Diese Normen sind nicht stets miteinander vereinbar, so daß Verwaltungsentscheidungen oft auf eine Wahl zwischen mehreren i n Frage kommenden Normen oder Standards hinauslaufen. I m Unterschied zum richterlichen Prozeßentscheid ist es für die Verwaltungsmaßnahme nicht von ausschlaggebender Bedeutung, gesetzliche oder erworbene Rechtsansprüche durchzusetzen. Sie hat vielmehr das Ziel, die zukünftigen Beziehungen zwischen den Parteien zu regeln. Von der Verwaltungsmaßnahme w i r d i n Ländern wie Deutschland, Schweden und den Vereinigten Staaten nur wenig Gebrauch gemacht, während sie i n Großbritannien das dominierende Entscheidungsmittel ist. I n England ist die Kollektivvereinbarung nicht als rechtsverbindlicher Vertrag anerkannt. Aus besonderen Gründen können Klagen gegen eine Gewerkschaft nicht bei einem Zivilgericht anhängig gemacht werden. Generell gelten Kollektivvereinbarungen zeitlich unbegrenzt, und nach entsprechender Ankündigung können Verhandlungen über Zusätze und Änderungen jederzeit aufgenommen werden. Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist es naheliegend, daß die Befugnisse des britischen Schlichters nicht auf den Wortlaut eines bestehenden Abkommens zwischen den Parteien begrenzt sind. Das „Industriegericht" (Industrial Court) wendet i n seiner Eigenschaft als ständige Schlichtungsstelle ebenso wie ad hoc eingesetzte Schlichter die Verwaltungsmethode an und sorgt i n seinen Schiedssprüchen für eine Anpassung von Löhnen und anderen Arbeitsbedingungen an neue tatsächliche Gegebenheiten.

Die Betrachtung der Vor- und Nachteile der verschiedenen Entscheidungsmethoden hat sich vorwiegend auf die Prozeßmethode konzentriert. Die Verwaltungsmethode wurde hauptsächlich auf ihre Unterschiede zu den Rechtsprechungsprinzipien i m Prozeß h i n untersucht. Der Verfasser teilt die i n seinem Lande, Schweden, und i n den Vereinigten Staaten herrschende Auffassung, daß bestimmte Arten von Rechtsstreitigkeiten der gerichtlichen Entscheidung zuzuführen seien, meint aber zugleich, daß die justizielle Methode i n ihrer traditionellen Verwendung einige Schwächen aufweist. Es können sich merkwürdige Kontraste zwischen allgemeinen Grundsätzen einer Rechtsordnung und der Anerkennung von Sonderstand-

Vermittlung, Prozeß und Verwaltungsmaßnahme punkten irgendeiner Gesellschaftsgruppe ergeben. Als Beispiel diente die beherrschende Position des Arbeitgebers i n Kündigungssachen. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip ist ein Charakteristikum der gerichtlichen Entscheidungsmethode. Einer Klage w i r d entweder als begründet stattgegeben, oder sie w i r d als unbegründet abgewiesen. Der Verfasser geht davon aus, daß Elemente des Verhandeins und des Ausgleichs i n den gerichtlichen Rechtsfindungsprozeß Eingang finden sollten. Anders als beim Gebrauch des Würfels hätte das Gericht die Gunst des Zweifels aufzuteilen und i n Grenzfällen eine anteilige Entschädigung oder andere angemessene Ausgleichsmaßnahmen festzusetzen. Es wurde vorausgesetzt, daß die justizielle Methode nicht immer i n der Lage ist, den Gerechtigkeitserfordernissen i n Dauerbeziehungen zufriedenstellend zu entsprechen. Das Gericht sollte sich u m eine Lösung bemühen, die für die zukünftige Regelung der Parteibeziehungen geeignet ist. Anhand des Beispiels der i n England üblichen Verwaltungsmethode schlägt der Verfasser vor, i m richterlichen Entscheidungsprozeß Raum für Erwägungen der sozialen Steuerung (social engineering) zu schaffen. Die i n Aussicht genommene Methode müßte flexibel sein; sie darf nicht unverändert und nicht unabhängig davon angewandt werden, ob es sich u m Streitigkeiten zwischen Organisationen, zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft oder einer Gruppe von Arbeitern, oder um Auseinandersetzungen i m Rahmen eines Einzelarbeitsverhältnisses handelt. Die zukünftige Entwicklung muß eingehender i n Betracht gezogen werden, wenn kollektive Konflikte zu behandeln sind, während sich die traditionelle Methode noch am besten für die Entscheidung über Einzelkonflikte eignet.

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft* I. I m wesentlichen bestehen die Aufgaben der rechtswissenschaftlichen Forschung darin, (1) eine Orientierung über das Bestehende zu geben, (2) Unterlagen für die m i t der Rechtsanwendung Befaßten auszuarbeiten und (3) Reformanstöße zu geben. Ein Großteil der Literatur stammt aus der Feder von Professoren und entsteht i m Rahmen von deren Lehrtätigkeit, wobei die Studenten die wichtigsten Adressaten sind. Es ist natürlich, daß die Orientierung über das Bestehende die zentrale Funktion darstellt. Der Lehrende systematisiert den Rechtsstoff, um i h n auf gut faßbare und leicht erlernbare Weise vorstellen zu können. Nach kontinentaler Tradition haben die juristischen Fakultäten vor allem Richter und Beamte auszubilden. I m Unterricht w i r d daher dem richterlichen Handeln besonderes Gewicht beigemessen. I n dieser Form w i r d also auch die zweite Hauptaufgabe der Rechtswissenschaft berücksichtigt, wenn auch vornehmlich nur aus dem Blickwinkel des Richters. Die dritte Aufgabe, Ideen und Materialien für Reformen vorzulegen, w i r d demgegenüber oft vernachlässigt. Vor diesem Hintergrund müssen w i r die Tatsache sehen, daß der Rechtswissenschaftler vorwiegend damit beschäftigt ist, das „geltende Recht" zu ermitteln. Der Wissenschaftler versucht m. a. W., die rechtlichen Normen der Jetztzeit anzugeben und näher zu bestimmen. Es läßt sich darüber streiten, wie diese Jetztzeit näher zu definieren ist. Man kann seine Aufgabe etwa darin sehen, nach Oliver Wendell Holmes berühmtem Satz eine Prognose abzugeben: „Unter Recht verstehe ich nichts Anspruchsvolleres als die Vorhersage dessen, was die Gerichte tatsächlich t u n werden 1 ." Hier i m Norden werden indessen gewöhnlicherweise Annahmen über die Absicht (das Ziel) des Gesetzgebers ausgearbeitet. A u f dem * Schwedisch in Festschrift für Per Olof Ekelöf, Stockholm 1972, S. 569 bis 585. 1 "The prophesies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law." The Path of The Law, 10 Harvard Law Review, S. 461 (1897).

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Boden solcher Prämissen tastet man sich zu Lösungen unklarer Fälle vor 2 . Wer seiner Arbeit diese Zielsetzungen voranstellt, w i r d die Rechtsordnung aufgrund der Macht der Umstände als stillstehend betrachten. Er bestimmt den Inhalt der Rechtsregel so, wie er vom Gesetzgeber festgelegt worden ist, und setzt voraus, daß die Regel solange unverändert fortbesteht, bis sie aufgehoben oder durch eine neue Gesetzgebung abgeändert wird. I m übrigen hat diese Betrachtungsweise auch einen Wert an sich. Rechtssicherheit i m Gefolge klarer Gesetzesbestimmungen und einer gefestigten Rechtsanwendungspraxis gehört zu den wesentlichen Eigenschaften einer hochentwickelten Rechtsordnung. Der Verfasser dieses Beitrages w i l l keineswegs bestreiten, daß die Bestimmung des geltenden Rechts eine wichtige Aufgabe ist — i m Hinblick auf seine eigene Stellung als Autor vielleicht sogar die wichtigste. Doch kann die Konzentration auf den status quo leicht den Blick trüben, wenn es u m die Tatsache geht, daß die Rechtsordnung ständigen Wandlungen unterworfen ist und daß dies auch für diejenigen Teile der Rechtsordnung gilt, die nicht unmittelbar von Gesetzesreformen berührt werden. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als ein Plädoyer für Arbeitsmethoden, die stärker als die herkömmlichen dem Umstand Rechnung tragen, daß die Rechtsordnung beweglich ist. Der Verfasser möchte darauf hinweisen, daß sich die Rechtsbildung i m Verlauf einer ständigen Debatte zwischen verschiedenen Gruppen und Kräftezentren i n der Gesellschaft vollzieht und daß auch der Rechtswissenschaftler aktiv an dieser Debatte teilnehmen sollte. II. Es hat sich immer mehr eingebürgert, von juristischer Argumentation zu sprechen. Richter, Rechtsanwälte und Rechtswissenschaftler arbeiten m i t einer bestimmten Argumentationstechnik. Diese Beschreibung der Tätigkeit des Juristen erscheint deswegen angemessen, w e i l auf diese Weise nicht vergessen wird, daß gewisse Argumente zugunsten und andere gegen eine i n Aussicht genommene Lösung herangezogen werden können, daß ein Argument mehr oder weniger stark sein kann und daß demzufolge die Aussage des Rechts zu einer bestimmten Frage ein mehr oder minder festes Fundament haben kann. Zwischen dem, was ich gebundene Argumente nennen möchte, und dem, wofür ich die Bezeichnung offene Argumente wähle, verläuft 2 Dies dürfte der Leitgedanke in der Lehre Ekelöfs sein. Siehe bes. Ekelöfs Arbeiten: „Ist die juristische Doktrin eine Technik oder eine Wissenschaft?" (1951; schwed.) und „Teleologische Gesetzesauslegung", in Scandinavian Studies in L a w 1958, S. 77 ff. (engl.).

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft eine Trennungslinie. M i t gebundenen Argumenten sind solche Argumente gemeint, die eine Verankerung i n den Rechtsquellen haben. I n einer Aufzählung der gebundenen Argumente würden insoweit vor allem der Gesetzestext selbst (dessen sprachlicher Inhalt), Ausführungen i n den Gesetzesmaterialien und Präjudikate erscheinen. Die gebundenen Argumente können sich auch auf die Herausbildung eines Brauchs oder einer Sitte stützen oder auf die Tatsache, daß eine bestimmte Regel über ihren ursprünglichen Anwendungsbereich hinaus gilt; und i n gewisser Weise gehört hierher auch das Argument, daß die Rechtsordnung auf bestimmten grundlegenden Wertungen aufbaut. Als offene Argumente werden auf der anderen Seite all diejenigen Argumente bezeichnet, die sich nicht aus Rechtsquellen herleiten. I n erster Linie sind dies die verschiedensten rechtspolitischen Argumente. Hinzuzufügen ist aber, daß ein rechtspolitisches oft auch ein gebundenes Argument ist. Dies ist stets dann der Fall, wenn sich „der Gesetzgeber" zum Gesetzeszweck geäußert hat. Wenn ein Argument als ein gebundenes vorgestellt wird, so bedeutet dies — nach dem Sinn, den ich hier diesem Wort gebe — nicht, daß der Rechtsanwender unbedingt gezwungen ist, den sich aus dem Argument ergebenden Anweisungen Folge zu leisten. Nicht einmal Plenarentscheidungen des Obersten Gerichtshofs (Högsta Domstolen = HD) haben nach den Worten des ersten Gesetzgebungsausschusses aus dem Jahre 1947 diesen Charakter: „Nach Ansicht des Ausschusses sollte man . . . gleichsam als allgemeines Prinzip an der Auffassung festhalten, daß lediglich die Uberzeugungskraft der Gründe, auf die sich der H D bei seinen Entscheidungen beruft, über den Einfluß des Gerichts auf die Rechtsprechung der unteren Instanzen entscheidet." Doch muß erwähnt werden, daß dieses Zitat die tatsächliche Situation nicht vollkommen richtig wiedergibt. Wie jüngst von Erenius 3 hervorgehoben wurde, steht fest, daß die Gerichte i n Wirklichkeit darum bemüht sind, i n Übereinstimmung m i t der obergerichtlichen Rechtsprechungspraxis zu entscheiden 4 . Wenn ich ein bestimmtes Argument gebunden nenne und es dem offenen gegenüberstelle, so beziehe ich mich dabei nicht auf den faktischen Gehorsam der Rechtsanwender als einem sozialen Phänomen. I n diesem Zusammenhang meine ich m i t der Bezeichnung „gebunden" den Umstand, daß dem Argument als solchem gemäß der Rechtsquellenlehre besonderes Gewicht zukommt, d.h. daß das Argument unabhängig davon bedeutsam ist, ob es dem Entscheidenden richtig oder s Gillis Erenius, „Unachtsamkeit. Strafrechtliche Studien", 1971, S. 131 (schwed.). 4 Die Frage stellt sich im übrigen etwas anders, seit die Änderungen der Prozeßordnung von 1971 darauf abzielen, dem HD die ausschließliche Funktion einer Präjudikat-Instanz zuzuweisen. Vgl. unten zu I X .

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sinnvoll erscheint. Ergibt sich das Argument aus einem früheren Urteil zu einer gleichgelagerten Rechtsfrage, so erhält es schon aufgrund dieser Tatsache — sofern es sich u m ein Urteil des H D handelt — eine Bedeutung, die über das mögliche Gewicht der i m einzelnen aufgeführten Gründe hinausgeht. III. Der Unterschied zwischen den beiden Typen von Argumenten, gebundenen und offenen, kann anhand der Frage nach der Zulässigkeit des politischen Streiks näher beleuchtet werden. I n der Schrift „Politische Streiks und gewerkschaftliche Sympathiemaßnahmen" (1969, schwed.) führte der Verfasser gegen die i n einer Studie des schwedischen Gewerkschaftsbundes (Landsorganisation = LO) geäußerte Ansicht aus, daß der politische Streik dem Grundsatz nach zulässig ist. Jedenfalls sollte dies für den kurzfristigen Demonstrationsstreik gelten. Zur Begründung berief ich mich dabei u. a. auf folgende Argumente: a) daß die Ausgangsüberlegung des Gesetzgebers bei der Verabschiedung des Kollektivvertragsgesetzes von 1928 darin bestand, daß die wirtschaftliche Kampfmaßnahme i n dem Umfang zulässig war, wie sie nicht gegen ausdrückliche Vorschriften i m Gesetz oder Vertrag verstieß; b) daß keine Hinweise i m Gesetzentwurf, i m Ausschußbericht oder in der Reichstagsdebatte zu finden waren, die i n eine andere Richtung deuteten; c) daß der Arbeitsgerichtshof i n einem Urteil von 1945 (Nr. 62, „Tagespost-Fall"), das i m Anschluß an eine politische A k t i o n erging, absichtlich eine Stellungnahme vermied und stattdessen das entscheidende Gewicht auf einen anderen Aspekt legte (das Gericht verbot permanente Kampf maßnahmen); und d) daß alle Autoren, die sich bislang zu dieser Streitfrage geäußert haben, (Konrad Persson, Svante Bergström, Erland Conradi und der Verf.) davon ausgegangen sind, daß der politische Streik nicht verboten ist. Es lag demzufolge eine Situation vor, i n der man von einer einhelligen Meinung zu sprechen pflegt. I n einer Zeitungsrezension (Dagens Nyheter vom 15.11.1969) bediente sich Sigeman neben anderen Einwänden des folgenden Gegenarguments: e) i n der A n t w o r t auf eine parlamentarische Anfrage i m Reichstag hatte sich i m Herbst 1963 Außenminister Torsten Nilsson m i t dem angenommenen Fall beschäftigt, daß sich schwedische Arbeiter weigern würden, Schiffe m i t südafrikanischen Waren zu löschen. Die A n t w o r t enthielt in allgemein gefaßten Worten den Hinweis, daß die Entwicklung i m Interesse des Arbeitsfriedens i n Richtung einer Ausweitung der Friedenspflicht verlaufe. Der Verfasser erwiderte i n einer Replik auf Sigeman (Dagens Nyheter vom 25.11.1969), daß die Äußerung Nilssons auf nichts anderes als auf permanente Maßnahmen bezogen und der kurze Demonstrationsstreik überhaupt nicht berührt worden war. I n der-

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft selben Replik führte der Verfasser ein neues Argument an: f) W i r sollten den Gerichten nicht die Befugnis einräumen, selbständig neue Verbote gegen wirtschaftliche Kampfmaßnahmen aufzustellen. Ich hob hervor, daß es m. E. entschieden gegen die richtige Verteilung der politischen Verantwortung verstieße, wenn man den Gerichten eine solche Macht gäbe. Auch vom Standpunkt der Gerichtsjuristen selbst aus gesehen wäre es vernünftig, sich gegen die Übernahme der Funktion zu wehren, neue Regeln zur Abwehr politischer Kampfmaßnahmen zu erlassen. Von den genannten Argumenten sind diejenigen zu a), b) und c) leicht einzuordnen. Alle drei nehmen ihren Ausgangspunkt i n Rechtsquellen und sind demnach gebundene Argumente. Andererseits ist es ebenso klar, daß das Argument zu f) als offenes Argument betrachtet werden muß. Denn damit äußerte ich meine Ansicht als gewöhnlicher Mitbürger. Lebte ich i n einem anderen Land, ζ. B. i n den Vereinigten Staaten, wo die Sachlage anders aussieht, würde ich möglicherweise eine andere Meinung vertreten. Welchen Charakter hat das Argument unter d)? I n Deutschland arbeitet man m i t einer herrschenden Meinung (der „herrschenden Lehre"). Die Rechtswissenschaft erhält auf diese Weise den Charakter einer Rechtsquelle. I n England kann ein Verfasser vor Gericht als eine „ A u t o r i t ä t " zitiert werden, vorausgesetzt, daß er nicht mehr lebt. Meinem Eindruck nach schätzten sich schwedische Professoren noch vor 40 Jahren i n gleicher Weise wie ihre deutschen Kollegen ein. Heute indessen dürften schwedische Rechtswissenschaftler kaum noch den Anspruch erheben, eine herrschende Meinung entwickeln zu können. Jedenfalls hier sollte der Grundsatz gelten, daß lediglich der Überzeugungskraft der Gründe, die zur Unterstützung einer bestimmten Auffassung angeführt werden, das ausschlaggebende Gewicht zukommt. Daß i n unserem Falle beispielsweise vier Autoren zur gleichen Ansicht gelangt sind, bedeutet nicht mehr, als daß vier sachkundige Personen einer Problemfrage nachgegangen sind und jede von ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Schlußfolgerung gekommen ist, daß die gebundenen Argumente zu einer klaren Lösung führen. Über die Bedeutung des Arguments zu e), daß sich Außenminister Torsten Nilsson anläßlich der A n t w o r t auf eine parlamentarische A n frage i n eine bestimmte Richtung ausgesprochen hat, kann man gewiß diskutieren. Sigeman betont selbst, daß ein Außenminister bei der Auslegung einer zivilrechtlichen Gesetzesvorschrift nicht mit besonderer Sachautorität ausgestattet ist, fügt jedoch i n seinem Dagens-NyheterA r t i k e l vom 15.11.1969 hinzu, daß Torsten Nilsson namens der Regierung sprach und vermutlich gutachterliche Stellungnahmen eingeholt

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hat — etwa von Juristen i m Umkreis des Arbeitsgerichtshofs —, bevor er sich auf arbeitsrechtliches Gebiet vorwagte. Den letzten Punkt über die Auffassung juristischer Kreise des Arbeitsgerichtshofs würde ich unbedingt streichen. Damit kann wohl nicht gemeint sein, daß der Präsident oder Vizepräsident des Gerichts oder irgendeiner der Beisitzer anonyme Erklärungen abgeben könnte, von denen dann m i t dem Anspruch besonderen sachlichen Gewichts Gebrauch zu machen wäre. Allenfalls kann dazu gesagt werden, daß ein anonymer Experte gehört worden ist und daß sich dieser kritisch gegenüber den früher veröffentlichten Ergebnissen von vier anderen Experten ausgesprochen hat. Was bedeutet es unter Rechtsquellengesichtspunkten, daß Torsten Nilsson i n seiner parlamentarischen Erklärung „namens der Regierung" sprach? Meiner Meinung nach besagt dies nichts. Anweisungen für die Rechtsanwendung müssen auf dem Gesetzgebungswege erteilt werden. Eine andere Regel verstieße gegen die Grundlagen unserer Verfassung. Ich werde auf diese Frage weiter unten zurückkommen, um meine Ansicht näher zu begründen. IV. Per Olof Bolding hat i n der Schrift „Jurisprudenz und Gesellschaftsdebatte", 1968 (schwed.)5, seine Meinung dazu entwickelt, wie ein Richter argumentieren sollte. Unter den gebundenen Argumenten trennt Bolding zwischen Zweckgesichtspunkten und übrigen, formelleren Argumenten wie Gesetzestext und Rechtsprechung. Der Richter sollte die Beurteilung des vorliegenden Falles mit einer offenen, unvoreingenommenen Diskussion der A r t beginnen, daß Soziologen und andere Gesellschaftswissenschaftler ohne Schwierigkeiten daran teilnehmen könnten 6 . I n diesem Zusammenhang sollten auch die Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte abschließend erörtert werden 7 . Der Richter soll m. a. W. die Befragung der formellen Rechtsquellen zurückstellen 8 . Demzufolge geht Bolding davon aus, daß i m ersten Arbeitsschritt bei der Prüfung einer Rechtsfrage sowohl allgemeine soziologische und gesellschaftswissenschaftliche Argumente als auch die i n den Gesetzesvorarbeiten genannten Ziel- und Zweckgesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Sobald der Richter daraufhin ein vorläufiges Ergebnis erreicht hat, muß dieses den formellen Argumenten gegenübergestellt 5

Siehe auch Bolding, Reliance on Authorities or Open Debate? Two Models of Legal Argumentation, Scandinavian Studies in Law 1969, S. 59 ff. I m folgenden wird aus „Jurisprudenz und Gesellschaftsdebatte" zitiert. 6 Jurisprudenz und Gesellschaftsdebatte, 1968, S. 86. ? Ebd. β Ebd.

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft werden, denen i m Verhältnis zu der offenen Debatte korrigierende Funktion zukommt. V. Stig Strömholm 9 hat Bolding heftig kritisiert und dessen Vorschläge als „eine sonderbare Methodenlehre" bezeichnet. Nach Strömholm ist es selbstverständlich, daß die Gesichtspunkte aus der allgemeinen Diskussion zur Sprache gebracht werden können, wenn es u m ein neues Gesetz geht, aber als ebenso selbstverständlich erscheint es ihm, daß die judizielle, d. h. die beim gerichtlichen Entscheidungsprozeß geführte Argumentation „ i n den Punkten, i n denen die Fragen nicht i m Wege der Subsumtion gelöst werden können, auf gebundenen, i m vorhinein festgelegten Wertentscheidungen aufbauen muß" 1 0 . Aus mehreren Gründen hat der Richter das Bedürfnis, seine Argumente als streng an autoritative Vorschriften gebundene vorzustellen. Strömholm weist darauf hin, daß es für die Parteien u m vieles akzeptabler sein wird, wenn sie den Eindruck haben, daß ihre Sache nach dem Gesetz entschieden wird, als dann, wenn sie annehmen müssen, daß der Ausgang des Rechtsstreits auf dem freien Abwägen des Richters zwischen verschiedenen offenen Argumenten beruht 1 1 . Strömholm fährt fort: „Historisch erweist sich die Abgrenzung der juristischen Argumentation und der richterlichen Beschlußfassung von der allgemeinen, politisch und von wirtschaftlichen Gruppeninteressen beeinflußten Diskussion gesellschaftlicher Fragen als ein so offensichtlicher und wesentlicher Fortschritt i n den westlichen Kulturländern, daß die Vorstellung einer ,offenen 4 Debatte als Verbesserung dieses Argumentations- und Entscheidungsmodells i m Sinne der genannten Angriffsposition nur als höchst erstaunlicher Rückfall bezeichnet werden kann." Gleichwohl erfährt Bolding i n einem Punkt Anerkennung. Sollte es tatsächlich unmöglich sein, mithilfe der speziellen juristischen Techniken bei Nutzung aller autoritativen Quellen zu einer Entscheidung zu gelangen, so ist nach Strömholm der Gebrauch von Argumenten aus der öffentlichen Diskussion — „begrenzt und präzisiert nach gewiß nur schwierig anwendbaren Prinzipien, die es noch zu ermitteln g i l t " — einer Verwendung rein privater Auffassungen vorzuziehen 12 . VI. I n einem Urteil des H D (NJA 1968, S. 183) werden die Entscheidungen der unteren Instanzen zu diesem Fall i n einer Weise wiedergegeben, « Stig Strömholm, Eine sonderbare Methodenlehre, SvJT 1969, S. 652 ff. (schwed.). 10 Ebd., S. 658 oben. 11 Ebd., S. 659. 12 Ebd., S. 662.

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die den Gebrauch von offenen und gebundenen Argumenten während des Beschlußfassungsprozesses beispielhaft beleuchtet. Folgender Sachverhalt bildete die Grundlage: Birgit, verheiratet m i t Leif, Hausfrau und Mutter zweier Kinder, nimmt Fahrunterricht bei dem Fahrschullehrer Gunnar und w i r d i m Zusammenhang damit schwanger. Ein Sohn namens Bo w i r d geboren. Die Ehe mit Leif w i r d wie bisher fortgesetzt. Birgit und Leif sorgen für Bo i n gleicher Weise wie für ihre eigenen Kinder. Acht Jahre später (1965) kommt es zum Prozeß u m die eheliche Geburt des Kindes. Das Gericht stellt fest, daß Bo nicht ehelich geboren ist. Nach einem weiteren Prozeß i m selben Jahr w i r d Gunnar zum Vater Bos erklärt und verpflichtet, für dessen Unterhalt m i t dem vom Hofgericht (Oberlandesgericht) festgelegten Betrag von 300 Kronen i m Monat aufzukommen. Der weitergehende Klageantrag, Gunnar auch zur Zahlung eines Unterhaltsbeitrages für die Zeit vor dem Urteil, das die nichteheliche Geburt des Kindes erklärte, zu verurteilen, w i r d indessen mit Hinweis auf den Grundsatz abgewiesen, daß für zurückliegende Zeit kein Unterhalt verlangt werden kann. I n dieser Lage verklagen Birgit und Leif gemeinsam Gunnar m i t dem Ziel, Ersatz für den Unterhalt zu bekommen, den Gunnar für Bo für die Zeit hätte aufwenden müssen, i n der Bo von Birgit und Leif i n deren Heim versorgt und unterhalten wurde. Birgits Ersatzforderung i n eigener Sache ist schon deswegen unbegründet, weil sie nichts anderes geleistet hat, als was sie als Mutter i m Verhältnis zu dem K i n d ohnehin hätte t u n müssen. Demgegenüber w i r d Leifs Klageforderung i n allen Instanzen anerkannt. Gegen die Gerichtsentscheidungen stimmen ein Mitglied des Stadtgerichts (Landgerichts) und ein Mitglied des Hofgerichts. Die abweichende Meinung i m Urteil des Hofgerichts stammt von dessen außerordentlichen Mitglied Professor Bolding. I m folgenden werde ich dieses abweichende Votum m i t dem Urteil des H D i n derselben Sache vergleichen. Erwähnenswert ist, daß auch Bolding selbst i n der Arbeit „Jurisprudenz und Gesellschaftsdebatte" sein eigenes Votum als Beispiel dafür anführt, wie sich der Richter einer offenen Argumentationsweise bedienen sollte 13 . Das Votum des außerordentlichen Richters Bolding Wortlaut:

hat folgenden

Wenn der Verdacht aufkommt oder die Gewißheit besteht, daß ein Mann nicht der Vater eines Kindes ist, das seine Ehefrau während der Ehe geboren hat, so sollte die Situation in der Art und Weise gelöst werden, die den geringstmöglichen Schaden für das Kind mit sich bringt. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich erhebliche Bedenken gegenüber einer Regel, derzu» Bolding. Jurisprudenz und Gesellschaftsdebatte, 1968, S. 110.

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft folge der Ehemann einen Regreßanspruch gegen den wirklichen Vater im Hinblick auf die Kosten für den geleisteten Unterhalt hätte. I m Zusammenleben eines Mannes und eines Kindes darf man nicht ausschließlich den Mann als den gebenden Teil ansehen, bloß deswegen, weil er für den Unterhalt des Kindes aufkommt. Schon hieraus folgt, daß eine Regreßforderung gegen den wirklichen Vater, der mit dem Kind keinerlei Umgang hatte, auf wackeligen Füßen steht. Zusätzlich ist dafür Sorge zu tragen, daß die Drohung mit einem Regreßanspruch gegen den wirklichen Vater nicht als Druckmittel ausgenutzt werden kann. Oft besteht die Gefahr, daß dergleichen geschieht. Der Ehemann kann es seiner Frau gegenüber etwa zur Bedingung für das weitere Zusammenleben machen, daß sie bei der Erhebung einer Regreßklage gegen den wirklichen Vater mitwirkt. Das kann sehr leicht auf Kosten des Kindes gehen, das vollkommen unschuldig in den Mittelpunkt von Streitigkeiten zwischen den Erwachsenen gerät. Die hiermit angedeuteten Gründe geben m. E. Anlaß zu der vorläufigen Beurteilung, daß der im vorliegenden Fall vom Manne gestellte Regreßanspruch für unbegründet zu erklären ist. Es bleibt zu prüfen, ob dieses Ergebnis nach einer Gegenüberstellung mit dem Gesetz, der Rechtsprechungspraxis und der Lehre aufrechterhalten werden kann. Wie aus den Gründen eines Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts hervorgeht, gibt das Gesetz für unseren Fall keine klaren Anweisungen. Ebensowenig ergibt die bisherige Rechtsprechung bestimmte Anhaltspunkte. Zwar gibt es einen mit dem vorliegenden übereinstimmenden Fall (SveaHofgericht, Urt. vom 22. M a i 1958, Az. D T 26/1957), in dem der Regreßklage stattgegeben wurde, doch hat dieser Fall in seiner Eigenschaft als unveröffentliche Berufungsgerichts-Entscheidung nur wenig Gewicht als Präjudikat. Überzeugende Argumente lassen sich auch nicht der Rechtsprechung zu ähnlichen Problemen oder Äußerungen in der Literatur entnehmen. Zwar wurde in dem Urteil NJA 1954 C 900 ein Vater verpflichtet, im nachhinein einen Unterhaltsbeitrag zu zahlen, doch war es in diesem Fall das Kind, das den Anspruch geltend machte, und der geforderte Unterhalt betraf die Zeit nach Beendigung des Zusammenlebens der Mutter mit dem mutmaßlichen Vater (Ehemann). Die Sachlage i m vorliegenden Fall ist aber anders. Als anspruchsberechtigt kann ausschließlich der Ehemann in Frage kommen. Es begegnet nun stärkeren Zweifeln, dem Ehemann ein Regreßrecht zuzuerkennen, als, wie dies i m Fall von 1954 geschehen war, einer Klage von Seiten des Kindes stattzugeben. I n Anbetracht der aufgeführten Gründe halte ich dafür, das untergerichtliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. I n diesem Punkt überstimmt, pflichte ich im übrigen der Mehrheit bei.

Das Urteil des H D lautet i n der hier wesentlichen Passage folgendermaßen: Die Frage, inwieweit derjenige, der nach der Feststellung der nichtehelichen Geburt eines Kindes zum Vater erklärt wurde, zur Rückzahlung dessen verpflichtet ist, was in Erfüllung der elterlichen Unterhaltspflicht für den Unterhalt des Kindes vor dem Abschluß des Verfahrens zur Klärung der Frage der ehelichen Geburt aufgewandt wurde, ist nicht gesetzlich geregelt. Das Vorliegen einer solchen RückZahlungsverpflichtung muß indessen grundsätzlich in dem Umfang angenommen werden, in dem die Aufwendungen nicht den Rahmen dessen übersteigen, was der zum Vater Erklärte

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zugunsten des Kindes hätte leisten müssen. Dies gälte auch dann, wenn es sich stattdessen um eine Unterhaltsverpflichtung gemäß §4 Kap. 7 des Familiengesetzbuches gehandelt hätte. Die Umstände des Einzelfalles können jedoch auch so gestaltet sein, daß eine Rückzahlungspflicht überhaupt entfällt oder der Höhe nach zu begrenzen ist. Irgendwelche Umstände, die geeignet wären, Gunnar von der Pflicht zu befreien, Leif für die Kosten, die dieser für Bo bis zum 1. Juni 1965 auf gewandt hat, zu entschädigen, sind i m Verfahren nicht vorgebracht worden.

Wie es scheint, führt Bolding eine Mehrzahl menschlicher und höchst einleuchtender Gründe dafür an, einen Regreßanspruch Leifs gegen Gunnar zu verneinen. Zur Probe greift er anschließend die Frage auf, ob er als Richter i n einer Wahlsituation steht, oder ob die formellen Argumente ein derartiges Gewicht haben, daß sie schon für sich genommen ausschlaggebend sind. Er kommt zu dem Schluß, daß er Wahlfreiheit hat, und sein Votum gibt das wieder, was er als Ergebnis der offenen Argumentation betrachtet. Dem stellt der HD die allgemeine Regel entgegen, daß die Eltern i m Rahmen ihrer Unterhaltspflicht das zurückzuerstatten haben, was ein Dritter für den Unterhalt des Kindes aufgewandt hat. Der H D erklärt nicht, warum diese Regel Geltung beansprucht, obwohl sie nicht gesetzlich normiert wurde. Der H D hätte jedoch auf den gesetzgeberischen Hintergrund von § 4 Kap. 7 des Familiengesetzbuches verweisen können, der die Unterhaltspflicht des einen Ehegatten gegenüber den Kindern des anderen Ehegatten regelt. Diese Vorschrift geht zurück auf das Gesetz von 1920 über die gegenseitige Unterhaltspflicht der Ehegatten. 1920 herrschte kein Zweifel darüber, daß das neue Gesetz i n keiner Weise die Beitragspflicht des wirklichen Kindsvaters berührte 1 4 . Der Stiefvater wurde insofern als Vorauszahlender betrachtet, dem gegen den w i r k lichen Vater eine Ausgleichsforderung i n Höhe seiner Aufwendungen zustand. Der H D hätte einen weiteren Grund zur Stützung der angegebenen Bechtsregel anführen können. I m Zusammenhang m i t der Verabschiedung des Familiengesetzbuches i m Jahre 1949 und späteren Änderungen, die sich auf die Stellung außerehelicher Kinder bezogen, hat der Gesetzgeber die Entscheidung getroffen, daß alle rechtlichen Wirkungen der Vaterschaft an die biologische Vatereigenschaft zu knüpfen sind. Damit hat der Gesetzgeber von dem Gedanken Abstand genommen, das Problem insofern aufzuspalten, als einerseits eine Vaterschaft gegenüber einem ehelichen oder sonst i n einer festen Verbindung geborenen K i n d m i t den vollen Rechtswirkungen ausgestattet vgl. den Vorschlag des Gesetzgebungsausschusses zur Änderung des Ehegesetzes, I V 1528, S. 457. 15

Schmitt

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft würde und andererseits eine Vaterschaft, die sich auf einen Augenblick des Spermaaustausches gründet, m i t nur begrenzten Wirkungen zu konstruieren wäre. Hieraus wiederum folgt, daß man so weit wie möglich Gewißheit darüber schaffen muß, wer der natürliche Vater des Kindes ist. Es gibt eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß ausschließlich die biologische Vaterschaft beachtlich ist. Ich denke an die Vorschrift i n § 1 Kap. 2 des Familiengesetzbuches, wonach der Ehemann seines Klagerechts verlustig geht, wenn er das K i n d als eigenes anerkennt oder innerhalb einer bestimmten Frist keine Klage erhebt. Diese Ausnahme, die sich aus älteren Moral Vorstellungen herleitet, hat jedoch ihrerseits Auflockerungen erfahren. So w i r d die Klagebefugnis des Kindes nicht beseitigt, und der Ehemann kann unter Zuhilfenahme des Jugendamtes sogar gegen den Widerspruch der Mutter eine A b stammungsklage i n Gang setzen. Das Jugendamt e r w i r k t die Beiordnung eines besonderen Vormundes zur Vertretung des Kindes, und dieser erhebt dann Klage m i t dem Antrag, das K i n d für außerehelich geboren zu erklären (NJA 1952, S. 465; 1967, S. 12 und S. 486) 15 . Meines Erachtens sollte die Tatsache, daß der Mann seine selbständigen Klagemöglichkeiten zur Klärung der Abstammungsfrage versäumt, einen Einfluß auf die Rechtslage haben. Ich nehme an, daß der H D hierauf Bezug nahm, als er äußerte, die Umstände des Einzelfalles könnten dazu führen, daß eine Rückzahlungspflicht nicht i n Betracht komme, daß solche Umstände i m vorliegenden Falle aber nicht vorgetragen worden seien. Nach Abwägung der angeführten Gründe und Argumente sowie der i n Boldings Votum erwähnten Urteile und deren Gesichtspunkte b i n ich zu der Auffassung gelangt, daß keine Wahlsituation vorlag. Das Ergebnis wurde von einer Anzahl gebundener Argumente vorgezeichnet. A u f einem anderen Blatt steht es, wenn ich bereit bin, mich Boldings K r i t i k an der jetzt bestehenden Rechtsregel anzuschließen, w e i l diese praktisch vollkommen von der Bedeutung einer Ehe oder einer anderen festen Verbindung absieht. Hier wie auch auf anderen Gebieten ist die Rechtsordnung ein Überbau aus geltenden Wertungen, die ihrerseits von praktischen Erfahrungen bedingt sind. Doch sind es keineswegs immer die heutigen, gegenwärtigen Erfahrungen, welche die Entscheidungen der politischen Instanzen bestimmen. Unsere Wertungen werden vielfach von Erfahrungen geprägt, die aus mehreren zurückliegenden Generationen stammen. Die Reaktion auf die Mißstände vor 1917, iß Siehe auch Beckman, Schwedische Familienrechtspraxis, 4. Aufl. 1968, Β I b 7 und Β V I I e 2 (schwed.).

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da sich der Vater eines nichtehelichen Kindes von Vaterschaft und Unterhaltspflicht freischwören konnte, dürfte der Einschätzung zugrunde liegen, daß der Gesetzgeber unter keinen Umständen auf den sozialen Zusammenhang Rücksicht nehmen darf. Ich möchte behaupten, daß die Gegenwart mit ihren freieren Sexualanschauungen — eine Veränderung, die m i t der fortgeschrittenen Technik der empfängnisverhütenden M i t t e l und dem erweiterten Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung zusammenhängt — zu einer Überprüfung der elternrechtlichen Regelungen Anlaß geben sollte. Dies ist jedoch ein offenes Argument, das i n dem zu entscheidenden Fall keine Bedeutung für den richterlichen Entscheidungsprozeß hatte. VII. Nach dem Vorangegangenen hat man Grund zu einer Einwendung gegen Boldings Methodenlehre, die w o h l nur rein technischer Natur ist. Es ist unangebracht, Boldings Vorschlag zu folgen und innerhalb der gebundenen Argumente zwischen formellen Argumenten wie Gesetzestext und Rechtsprechung einerseits und nichtformellen Argumenten wie Ziel- und Zweckerwägungen andererseits zu unterscheiden. Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte, die i n Rechtsquellen Niederschlag gefunden haben, sollten gleichzeitig m i t der gesetzlichen Vorschrift (dem Inhalt des Wortlautes) und denjenigen früheren Entscheidungen diskutiert werden, i n denen solche Zweckmäßigkeitserwägungen möglicherweise zum Ausdruck gekommen sind. Ansonsten kann es leicht geschehen, daß sich ein Richter eine freiere Position einräumt, als er sie i n Wirklichkeit i n Übereinstimmung m i t den für die Anwendung unserer Rechtsquellen geltenden Normen hat. I m übrigen meine ich, daß auch Bolding wahrscheinlich zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn er für die Teile seiner Argumentation eine andere Reihenfolge gewählt hätte. VIII. Bolding und Strömholm stehen i n zwei unterschiedlichen Lagern. Der erstere ist politisch radikal und hegt tiefes Mißtrauen gegenüber der traditionellen juristischen Argumentation. Der Gesetzestext ist restrikt i v auszulegen. Der Jurist sollte sich nicht auf Tricks einlassen, i n deren Gefolge der Raum für die offene Debatte eingeschränkt oder schief eingerichtet w i r d 1 6 . Bolding distanziert sich von den Exzessen i n der Dogmatik, von denen man unschwer Proben i n der allgemeinen Rechtslehre finden kann 1 7 . 16 Bolding, Jurisprudenz und Gesellschaftsdebatte, 1968, S. 61 f. 17 Ebd., S. 64.

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Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft Strömholm hat ein konservatives Gesellschaftsbild und nähert sich den Problemen von anderen Ausgangspunkten. Für ihn bedeutet das historische — vor allem das kontinentale — Rechtserbe ein Gut, das zu pflegen und weiterzuentwickeln ist. Er unterstreicht m i t Nachdruck den Wert, der i n der Anwendung einer besonderen juristischen Technik liegt. I n seiner K r i t i k an Bolding stellt Strömholm die Frage, ob es nicht gerade das System der Auslegungsprozedur als eines technischen Verfahrens ist, das „der judiziellen Entscheidungstätigkeit die Sonderstellung (vermittelt), die es dem Richter ermöglicht, sich mit kontroversen Fragen zu beschäftigen, ohne dabei subjektiven Wertungen anheimzufallen" 1 8 . Der Leser mag einwenden, daß eine solche Charakterisierung der politischen Anschauungen Boldings und Strömholms i n einer Abhandlung über die Anwendung von offenen und gebundenen Argumenten eigentlich fehl am Platze sei. Mitnichten, diese Charakterisierung ist wichtig. Es kann nämlich keineswegs ausgeschlossen werden, daß die Stellungnahme des einen oder des anderen zu Methodenproblemen von den jeweiligen politischen Wertungen beeinflußt wird. Bolding w i l l die Anzahl der gebundenen Argumente und deren Gewicht auf ein M i n i m u m reduzieren, während Strömholm diese maximal genutzt wissen möchte. IX. Wie erklären sich solche Differenzen? Die Frage, welche Argumente gebundene sind und welche nicht, entscheidet sich anhand von Normen, d. h. solchen Normen, nach denen sich etwa der Richter und andere Rechtsanwender des Gesetzestextes, der Rechtsprechung, der Gesetzesmaterialien usw. i n bestimmter Weise zu bedienen haben. Diese Meta Normen müssen nun ihrerseits mit Hilfe von Argumenten festgelegt werden, von denen ein Teil gebundene und andere offene Argumente sind. Ein Beispiel eines gebundenen Arguments für eine Meta-Norm entdecken w i r i n § 84 des Grundgesetzes: „Die Grundgesetze müssen i n jedem Einzelfall nach ihrem genauen Wortlaut angewandt werden." Diese Vorschrift wurde verschiedentlich so gedeutet, daß „die teleologische Methode, wonach die Auffassung des Gesetzesanwenders von der Zweckrichtung des Gesetzes entscheidenden Charakter hat", als unanwendbar zu gelten habe 19 . Gesetzesvorschriften m i t Meta-Normen gehören indessen zu den Ausnahmen. I n den meisten Fällen muß man gebundene Argumente für die Meta-Normen andernorts und dabei auch i m Bereich des Rechtsbrauchs suchen. is Strömholm, SvJT 1969, S. 661. ι» Robert Malmgren, Halvar Sundberg, Gustaf Petrén, Schwedens Grundgesetze, 11. Aufl. 1971, S. 108. Ole Westerberg vertritt dieselbe Meinung; siehe Westerberg, Grundgesetz, 1953, S. 157 ff., bes. S. 160.

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Es würde hier zu weit führen zu untersuchen, auf welche Argumente sich die Meta-Norm stützt, die den bindenden Charakter früherer Urteile beschreibt. I m wesentlichen handelt es sich dabei u m gebundene Argumente. Insoweit kann man die Meinung vertreten, daß bereits die Vorschrift in Kap. 3, § 4 Abs. 2 der Prozeßordnung über Plenarentscheidungen des H D auf dem Grundsatz aufbaut, daß frühere Urteile Bindungswirkung entfalten. I n noch höherem Maße gilt dies für die 1971 eingeführten Änderungen von Kap. 54 der Prozeßordnung über das Berufungs-(Revisions-)Verfahren vor dem HD, wonach der HD i m Prinzip nur noch als Präjudikat-Instanz fungieren soll 2 0 . Man kann davon ausgehen, daß die „Präjudikat-Regel" auch i m Rechtsbrauch verankert ist. Sie w i r d ζ. B. auch von einem Gericht wie dem Arbeitsgerichtshof beachtet, für das es weder i m gesetzten Recht noch i n Gesetzesvorarbeiten klare diesbezügliche Direktiven gibt. Es ist nicht leicht, die Gründe anzugeben, auf welche die Meta-Norm über die verbindliche K r a f t der Gesetzesmaterialien gestützt wird. Wie Strömholm herausgearbeitet hat, ist diese relativ junge Rechtsquelle i m Zusammenhang m i t der Gesetzgebungstechnik zu sehen 21 . Man könnte meinen, daß diese Meta-Norm ihre Wurzel i m Rechtsbrauch hat. Unsere höchsten Staatsorgane, Regierung und Reichstag, machen bewußt von ihren Stellungnahmen i n den Gesetzesvorarbeiten Gebrauch, u m Direktiven für die Rechtsanwendung zu erlassen, und unsere Gerichte halten sich für verpflichtet, vor allem den Äußerungen des federführenden Ministers und des Parlamentsausschusses Folge zu leisten, welche den Gesetzestext i m Verlauf seines Zustandekommens vervollständigen oder präzisieren. Man kann behaupten, daß auch den ansonsten für die Vorarbeiten herangezogenen Materialien ein gewisses Gewicht beigemessen w i r d 2 2 . Es ist recht natürlich, daß schwedische Gerichte i n früherer Zeit „allgemeine Rechtsgrundsätze" als besondere Rechtsquellen betrachtet haben. Die Gültigkeit dieser Meta-Norm würde ich gleichwohl i n Frage stellen. Noch bis etwa zum Jahre 1930 erfüllte das Argument „allgemeine Rechtgrundsätze" eine wichtige Funktion, doch hat das 20 Vgl. die Regierungsvorlage 1971 Nr. 45 mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Prozeßordnung u.a.; siehe bes. die Stellungnahme des Ministers, ebd., S. 88. 21 Stig Strömholm, Legislative Material and Construction of Statutes. Notes on the Continental Approach, Scandinavian Studies in L a w 1966, S. 173 ff. 22 So nach meiner Auffassung; siehe meinen Beitrag „Richter und Rechtsanwendung", oben in diesem Band, S. 9 ff. I n diesen Fragen sind die Meinungen jedoch geteüt. Strömholm, Scandinavian Studies in Law 1966, S. 217 f., nimmt an, daß die Gesetzesmaterialien nur dann verbindlich sind, wenn es um die Bestimmung der allgemeinen Zielsetzungen des Gesetzgebers geht. Die übrigen Stellungnahmen und Äußerungen sollten nur als Expertenratschläge gelten.

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft Bedürfnis nach dem Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien i m heutigen Schweden abgenommen, nicht zuletzt deswegen, w e i l der Reichtum an Gesetzesmaterialien nachgerade erdrückend ist. A u f diese Frage aber werde ich nicht näher eingehen. X. Ich möchte hervorheben, daß meine Argumentation bezüglich der Existenz einer Meta-Norm über die wegweisende Bedeutung von Gesetzesvorarbeiten einen anderen Charakter hat als meine Argumentation i m Zusammenhang m i t der Infragestellung einer Meta-Norm, die sich auf die bindende Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze bezieht. I m ersten Fall w i r d auf den Rechtsbrauch reflektiert, i m letzteren auf allgemeine Argumente. A n dieser Stelle ist eine Präzisierung dessen erforderlich, was ich m i t gebundenen bzw. offenen Argumenten hinsichtlich Meta-Normen meine. Unter einem gebundenen Argument für eine Meta-Norm verstehe ich eine Regel, die i m Gesetzestext oder i m Rechtsbrauch verankert ist. Die Meta-Norm, nach welcher der Richter Wertungen zu beachten hat, die während des Gesetzgebungsverfahrens verschiedentlich zum Ausdruck gekommen sind, würde ich als eine weitere, auf einem gebundenen Argument fußende Meta-Norm bezeichnen, die zu den übrigen Normen, daß er den Gesetzestext, die Rechtsprechung und die Gesetzesmaterialien zu berücksichtigen hat, hinzutritt. Demgegenüber würde ich all das, was unter dem Begriff allgemeine Rechtsgrundsätze Geltung beansprucht, nicht auf dem Gebiet der gebundenen Argumente ansiedeln. Die soeben vorgenommene Grenzziehung hat nahezu den Charakter eines Postulats. Z u dessen Begründung kann folgendes Argument ins Feld geführt werden. Gewisse Argumente haben die Eigenschaft, daß i h r Gewicht und ihre Uberzeugungskraft ausschließlich von demjenigen vollständig erfaßt und gewürdigt werden können, der aufgrund einer juristischen Ausbildung über besondere Kenntnisse der Rechtsquellen und der juristischen Lehren verfügt, während andere Argumente ebensogut von demjenigen beurteilt werden können, der i n Soziologie, Staatswissenschaft, Ökonomie oder einer anderen Gesellschaftswissenschaft ausgebildet ist. XI. Die Diskussion i n diesem Aufsatz wurde auf zwei Ebenen geführt. Teils berührte sie die Argumentation bei der Rechtsanwendung, die anhand der Frage der Zulässigkeit des politischen Streiks und des

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Falles N J A 1968, S. 183, über den Fahrschullehrer Gunnar näher beleuchtet wurde, und teils behandelte die Diskussion Meta-Normen oder m. a. W. Normen über die Argumente selbst, die bei der Rechtsanwendung gebraucht werden. Auf beiden Ebenen, derjenigen der Rechtsanwendung und derjenigen der Meta-Normen, habe ich eine Unterscheidung zwischen gebundenen und offenen Argumenten getroffen. Soweit ich es übersehe, t r i f f t das oben aufgestellte Postulat hinsichtlich der gebundenen Meta-Normen ebenfalls zu, wenn es u m die A r gumente bei der Rechtsanwendung geht. I m folgenden soll noch einmal an die weiter oben aufgeführten Argumente bezüglich der Bedeutung von politischen Streiks angeknüpft werden. Die Argumente, daß sich mehrere Autoren für eine bestimmte Lösung ausgesprochen haben (Argument d), daß ein Minister i n der A n t w o r t auf eine parlamentarische Anfrage eine Stellungnahme zu dem Problem abgegeben hat (Argument e) und daß w i r den Gerichten nicht die Befugnis einräumen sollten, aus eigener Machtvollkommenheit neue Verbote gegen wirtschaftliche Kampfmaßnahmen auszusprechen (Argument f), wurden als offene Argumente bezeichnet. Die hierzu namhaft gemachten Gesichtspunkte sind auch für den Nichtjuristen zugänglich und beurteilungsfähig. Bei dem Versuch, meine eigene Position i n dieser Auseinandersetzung um die juristische Methode näher zu umschreiben, würde ich meinen, eher zu Boldings als zu Strömholms Ansicht zu tendieren. Zwar bin ich der Auffassung, daß Boldings Vorschlag, zwischen formellen Argumenten und den i n Gesetzesmaterialien niedergelegten Zweckmäßigkeitserwägungen zu unterscheiden, verfehlt ist, doch pflichte ich Bolding in dem Punkt bei, daß offene Argumente durchaus geeignet sind, i n den Entscheidungsprozeß einzugehen. Solchen Argumenten sollte mehr Aufmerksamkeit als bisher gewidmet werden. Ich möchte ferner einen kritischen Gedanken zur Begründung des HD-Urteils (NJA 1968, S. 183) äußern. Es ist alte Tradition des HD, den anzuwendenden Rechtssatz ohne weitere Ableitung oder Begründung zu deklarieren. I n einem Fall wie dem vorliegenden, i n dem ein abweichendes Votum m i t einer Reihe offener Argumente vorlag, hätte der H D gleichwohl die Zweckmäßigkeitserwägungen darstellen sollen, die gegen die vorgebrachten offenen Argumente sprachen. Zusätzlich hätte der H D genauer bezeichnen müssen, i n welcher Weise sich diese Erwägungen aus den Gesetzen herleiten. Meiner Ansicht nach ist es nicht immer hinreichend, die einschlägigen gebundenen Argumente vollständig aufzuzählen. I n echten Wahlsituationen — d. h. i n solchen Fällen, i n denen die gebundenen Argumente keine eindeutige A n t w o r t geben — sollte der H D auch über die offenen Argumente Rechenschaft ablegen.

Gebundene und offene Argumente in der Rechtswissenschaft XII. Wenn ein Argument als offenes eingeordnet wird, bedeutet dies noch keineswegs, daß es w i l l k ü r l i c h ist. Ein offenes Argument muß gewisse, allgemein akzeptierte Normen erfüllen, u m i m juristischen Entscheidungsprozeß verwandt werden zu können. Das Argument hat beispielsweise objektiv oder gerecht zu sein. Daß es sich hierbei u m allgemeinere Forderungen handelt, heißt nicht, daß die Norm inhaltsleer ist. I n diesem Zusammenhang genügt es, auf Eckhoffs bedeutende Untersuchung über Gerechtigkeitsargumente hinzuweisen 23 . Über diesen zuletzt erwähnten Punkt herrscht wahrscheinlich Einigkeit. Ich möchte auf den bereits zitierten Satz Strömholms verweisen, demzufolge Argumente aus der öffentlichen Diskussion „nach gewiß nur schwierig anwendbaren Prinzipien" begrenzt und präzisiert sein müssen 24 . XIII. Der Streit zwischen Bolding und Strömholm dreht sich u m die Argumentation bei der Entscheidungstätigkeit des Richters und anderer Rechtsanwender. Hier begegnen w i r einem charakteristischen Zug i n der Rechtswissenschaft, auf den ich eingangs schon hindeutete. Der Rechtswissenschaftler nimmt bei der Behandlung von Problemen oft den Blickwinkel des Richters ein und versucht, die vom und dem Richter gestellten Fragen zu beantworten. M i t diesem Ausgangspunkt rückt natürlich das Problem i n den Vordergrund, w o r i n die gebundenen Argumente bestehen und welches Gewicht ihnen i m einzelnen zukommt. Allerdings braucht sich der Rechtswissenschaftler nicht dieselben Beschränkungen aufzuerlegen wie der Rechtsanwender. Es steht i h m frei, einen Sachverhalt m i t Hilfe offener Argumente zu beurteilen. Ich möchte auf eine Aufgabe hinweisen, deren Lösung m i r schon seit langem besonders wichtig erscheint. Gelegentlich steht ein Gericht vor wichtigen Wahlentscheidungen. Dies ist ζ. B. bei einer neuen Gesetzgebung der Fall, und i n besonders hohem Maße t r i f f t dies dann zu, wenn neue Gesetze von einem neu konstituierten Gericht angewandt werden sollen. So hatte der Arbeitsgerichtshof i n den ersten Jahren seines Bestehens mehrere Wahlentscheidungen zu treffen. Er hatte u. a. darüber zu befinden, inwieweit dem Arbeitgeber ein freies Kündigungsrecht zustand, oder i n welchem Umfang Kündigungsfragen überhaupt zum Gegenstand von (Tarif)Verhandlungen gemacht werden konnten (1932, Nr. 100); er mußte die Frage beantworten, welche verborgenen Klauseln i n einen Kol23 Torstein Eckhoff, Gerechtigkeit, Oslo 1971 (norweg.). 24 Siehe oben V., a. E.

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lektivvertrag hineininterpretiert werden können, womit das Problem zusammenhing, welche Konfliktpunkte von den Regeln über dile Friedenspflicht erfaßt und damit für den Arbeitskampf gesperrt wurden (1933, Nr. 159), und ferner war zu klären, ob der Arbeitgeber auch bei Streitigkeiten über den Inhalt eines Einzelarbeitsvertrages eine bevorzugte Stellung bei der Auslegung haben sollte (1934, Nr. 179). Es ist eine wissenschaftliche Aufgabe herauszufinden, welche historischen Faktoren die jeweils getroffene Wahl vor allem beeinflußt haben. Ist die Wahlentscheidung einmal gefallen, so entsteht eine neue Situation. Wenn sich dieselbe Frage dem Gericht erneut stellt, hat es i n Gestalt seiner eigenen Rechtsprechung bereits ein gebundenes Argument zur Hand, welches das Gewicht der für die früheren Entscheidungen bereits herangezogenen Argumente noch verstärkt. Während sich die K r i t i k an der oder den ersten Fallentscheidungen noch darauf hat beziehen können, daß der Richter die Beachtung bestimmter offener Argumente versäumt habe, muß sich die K r i t i k an den weiteren Entscheidungen naturgemäß darauf einrichten, die Voraussetzungen für eine Reform zu prüfen, die auf eine Änderung des „geltenden Rechts" abzielt.