Zur Aktualität der Staatsform. Die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch 9783848749621, 9783845291741


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German Pages 243 Year 2018

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Zur Aktualität der Staatsform. Die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch
 9783848749621, 9783845291741

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Tine Stein, Kiel Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 113

Ulrich Brand | Christoph Görg [Hrsg.] unter Mitarbeit von Benjamin Opratko

Zur Aktualität der Staatsform Die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch

© Titelbild: Das Titelbild bildet Joachim Hirsch ab (digital verfremdet) und stammt aus dem Jahr 2014 von dieser Veranstaltung: www.youtube.com/watch?v=GRjAU35lsq4.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4962-1 (Print) ISBN 978-3-8452-9174-1 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« immer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsverständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmittelbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Christoph Görg und Ulrich Brand Historisch-materialistische Staatstheorie und die Form des Staates: Zur Einleitung

I.

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Die Frage nach der Form des Staates

Christoph Görg Die Historisierung der Staatsform. Regulationstheorie, radikaler Reformismus und die Herausforderungen einer Großen Transformation

21

John Holloway Die Staatsableitungsdebatte. Eine erinnernde Reflexion

39

Sonja Buckel und John Kannankulam Von der Staatsableitung zur Formanalyse. Zur formanalytischen Begründung des Staates bei Joachim Hirsch – und der Notwendigkeit einer rechtsformanalytischen Erweiterung

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II.

Materialistische Staatstheorie im Kontext

Bob Jessop Joachim Hirschs Zusammenführung von materialistischer Staatstheorie und Regulationstheorie

73

Alex Demirović Materialistische Staatstheorie als kritische Gesellschaftstheorie

95

Birgit Sauer Materialistisch-feministische Staatstheorie. Kritische Perspektiven auf Gewalt gegen Frauen

115

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III.

Globale Perspektiven

Ulrich Brand Der Staat in der kapitalistischen Globalisierung. Nationaler Wettbewerbsstaat und die Internationalisierung des Staates bei Joachim Hirsch

137

Sabah Alnasseri Staatsform, periphere Staatlichkeit und Regulation

161

Adrián Piva Rezeption und Produktivität der materialistischen Staatstheorie in Lateinamerika: Der Fall Argentinien

179

IV.

Politische Relevanz

Dirk Martin und Jens Wissel Soziale Infrastruktur als sozialpolitisches Transformationskonzept

201

Roland Roth Radikaler Reformismus. Geschichte und Aktualität einer politischen Denkfigur

219

AutorInnen

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Christoph Görg und Ulrich Brand Historisch-materialistische Staatstheorie und die Form des Staates: Zur Einleitung

Kaum eine Staatstheorie hat die an sich grundlegende Frage systematisch behandelt, warum es denn überhaupt einen Staat gibt, genauer: warum politische Herrschaft in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft die spezifische Form des Staates annimmt. Die meisten Staatstheorien beschäftigen sich mit Fragen nach der Legitimität staatlicher Herrschaft oder dem Funktionieren des Staates in der Gesellschaft oder mit spezifischen Logiken und angenommenen Stärken und Schwächen gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (insbesondere dem Markt). Während hier der Staat bereits als Realität vorausgesetzt und untersucht wird, was er tut und ob dies sinnvoll oder gerechtfertigt ist, wird in der materialistischen Theorie ganz grundsätzlich die spezifische Form der politischen Herrschaft und ihr Verhältnis zu anderen Herrschaftsformen in Betrieb, Familie oder in ethnifizierenden Zuschreibungen untersucht. Dabei gehört es zu den Einsichten der Diskussionen innerhalb der materialistischen Staatstheorie seit den 1970er Jahren, dass diese Form sich nicht gleichbleibt, sondern selbst historischen Wandlungen unterliegt. Hier setzt der vorliegende Band an. Die Staatstheorie von Joachim Hirsch ist einer der international einflussreichsten Ansätze der materialistischen Staatstheorie, in der zum einen die historische Variabilität der spezifisch bürgerlich-kapitalistischen Staatsform zum Thema wird. Zum anderen wird der Staat hier nicht nur als „nationaler“ Container verstanden, sondern als Bestandteil eines globalen kapitalistischen Systems, in dem der Staat auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen existiert. Dazu kommt: Gerade das Verständnis der Form des Staates und die damit verbundenen Zeitdiagnosen haben zur kritischen Aktualisierung der Marxschen Theorie und ihres politischen Gehalts einen erheblichen Beitrag geleistet. Dieser politische Gehalt der Staatstheorie von Joachim Hirsch verdichtet sich im Begriff des radikalen Reformismus. Der vorliegende Sammelband beleuchtet wichtige Aspekte dieser Theorie und fragt nach aktuellen Ansatzpunkten zur Aktualisierung dieses Ansatzes und ihrer Bedeutung für heutige Theoriediskussionen.

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1. Varianten der materialistischen Staatstheorie Bekanntlich hat Karl Marx keine einheitliche Staatstheorie hinterlassen, sondern sich mindestens in drei Kontexten mit dem Staat beschäftigt: als philosophische Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie,1 als politische Analyse der politischen und sozialen Kämpfe seiner Zeit2 sowie im Kontext seiner Kritik der politischen Ökonomie.3 Der Zusammenhang bzw. die Differenzen zwischen diesen verschiedenen Ausgangspunkten ist eines der am meisten diskutierten Themen der Marxinterpretation.4 Im Kontext der II. Sozialistischen Internationale nach dem Tod von Marx wurden diese offenen Fragen allerdings nicht weiterverfolgt, sondern zugunsten eines eher instrumentalistischen Verständnisses des Staates aufgegeben, das auch von der III. Internationale – der von Russland bzw. der Sowjetunion dominierten „kommunistischen“ - übernommen wurde. Fortan wurde die Eroberung der Staatsmacht, sei es bei der Sozialdemokratie auf dem Wege demokratischer Wahlen, sei es im Gefolge von Lenin und der Bolschewistischen Partei als mehr oder weniger gewaltsame Revolution, zum zentralen Ausgangspunkt des Politik- und Staatsverständnisses beider Flügel der organisierten ArbeiterInnenklasse. Damit ergab sich eine theoretische Leerstelle, die analytisch und politisch-strategisch folgenreich war. Es fehlte nämlich eine Staatstheorie, die in der Lage gewesen wäre, sowohl die Stabilität bürgerlicher Herrschaft als auch ihre historischen Veränderungen unter der kritischen Perspektive der Überwindung von eben dieser Herrschaft zu thematisieren. Dieses Defizit wurde einerseits 1918 nach den in Ansätzen stecken gebliebenen oder ganz ausgebliebenen Revolutionen in Westeuropa zum Thema. In diesem Kontext entstand einer der bis heute wichtigsten Ansätze einer materialistischen Staatstheorie, der Ansatz von Antonio Gramsci, der aber erst Jahrzehnte später aufgegriffen werden konnte.5 Andererseits zeigte der aufkommende Faschismus und Nationalsozialismus die Gefahr einer Transformation und autoritären Zuspitzung bürgerlicher Herrschaft, wie es in der Kritischen Theorie Max Horkheimers und Franz Neumanns als Autoritärer Staat sowie als Staatskapitalismus analysiert wurde.6 In beiden Fällen erwies es sich als notwendig, über die Marx´schen Analysen hinauszugehen und sowohl die Form der staatlichen Herrschaft in den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften als auch ihre historischen Veränderungen besser zu verstehen.

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Marx, MEW 1, S. 378-391. Marx, MEW 8, S. 115-2017; MEW 7, S. 9-107, MEW 17, 313-365. Marx, MEW 13, MEW 23 Hirsch/Kannankulam/Wissel 2015; Jessop 2007. Gramsci 1991ff; vgl. Buci-Glucksmann 1981; Buckel/Fischer-Lescano 2007; Opratko 2012. Für einen Überblick zur Rezeptionsgeschichte der Gramsci’schen Hegemonietheorie vgl. Anderson 2017. 6 Horkheimer 1987 [1940]; Neumann 1967 [1937]; vgl. Ruschig/Schiller 2014.

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In beiden Fällen wird zudem staatliche Herrschaft in einem breiteren Ansatz thematisiert und in ihren sozialen, kulturellen und psychischen Voraussetzungen und Implikationen analysiert. Der Hintergrund ist aber auch die Diagnose eines veränderten Verhältnisses von Ökonomie, Politik und Kultur, die Gramsci unter dem Stichwort Fordismus und die Kritische Theorie als Kulturindustrie beschreibt. In Westeuropa unterbrachen Krieg und Nachkriegszeit, das „Wirtschaftswunder“ verbunden mit Blockkonfrontation und Antikommunismus, aber auch die Erosion der kulturellen Traditionen durch Ermordung oder Emigration kritischer Intellektueller, die Beschäftigung mit der materialistischen Staatstheorie. Doch das nur für kurze Zeit, bevor in den 1960er Jahren die Diskussionen umso intensiver wiederaufgenommen wurden. In der Folge entstanden sehr unterschiedliche und in ihren Kernelementen mitunter gegensätzliche Diagnosen, wie diese neue Phase des Kapitalismus einzuschätzen sei: als Spätkapitalismus, in dem aufgrund staatlicher Interventionen die Ökonomie ihre Krisenhaftigkeit hinter sich gelassen – oder zumindest „ihren naturwüchsigen Charakter verloren“7 – habe, gerade deshalb aber der Staat durch neue Legitimationsprobleme gekennzeichnet sei. Oder als eine Transformation der Demokratie, in der eine „Involution“, eine Rückentwicklung der Demokratie zu beobachten sei.8 Um nur die wichtigsten Eckpunkte einer breiten Diskussion zu benennen. Innerhalb des „westlichen Marxismus“9 kam es zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Staat. Auch hier standen sich politisch orientierte Theorien, solche in der Tradition des Hegelmarxismus sowie strukturale Lesarten wie jene von Louis Althusser oder – mit Fokus auf die Marx´sche Kritik der politischen Ökonomie – der Neuen Marx-Lektüre gegenüber.10 Spätestens mit den Krisen der 1970er Jahre und dem Ende des „kurzen Traums immerwährender Prosperität“11 wurde auch der Glaube an eine Überwindung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus tiefgehend erschüttert. Damit stellte sich mit Blick auf den Staat und die in ihm verkörperte Form der Herrschaft immer dringender die Frage, wie diese Form selbst einzuschätzen sei und welche emanzipativen Spielräume sie ermögliche. Nicht erst seit dem propagierten „Marsch durch die Institutionen“ und den ersten Wahlerfolgen der Grünen wurde der Grad der Wandlungsfähigkeit staatlicher Institutionen zum Thema: Ohne Zweifel ermöglicht die spezifische Form der Herrschaft im bürgerlichen Staat bis zu einem gewissen Grad

7 8 9 10

Habermas 1973, S. 129. Agnoli 1968. Anderson 1978. Vgl. etwa Gerstenberger 2007; Hirsch/Kannankulam/Wissel 2015; Heinrich 2006. Die damit verbundenen Differenzen in der Marx Rezeption prägten auch das Verständnis des Staates nachhaltig. Es ist allerdings nicht die Absicht dieses Bandes, auf diese weit verzweigten Diskussionen intensiver einzugehen. 11 Lutz 1989.

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auch emanzipatorische Entwicklungen – die aber immer umkämpft blieben, teilweise vereinnahmt wurden oder gänzlich wieder verloren gehen können. Wer diesen Widerspruch der bürgerlichen Konstitution und seine Auswirkung auf demokratische Prozesse verstehen will, dem bietet die Frage nach der Form des Staates bis heute einen guten Ausgangspunkt.12 Theoriegeschichtlich ist dieser Ausgangspunkt allerdings mit einer Debatte verbunden, die bis heute keinen guten Leumund hat: der sogenannten Staatsableitungsdebatte.

2. Die Form des Staates Joachim Hirsch eigene Theorie wurde zunächst im Umfeld dieser Debatte zur Ableitung des Staates formuliert (vgl. dazu die Beiträge von Holloway, Jessop und Buckel/Kannankulam in diesem Band). Von Beginn an wehrte er sich dagegen, darunter die Ableitung des Staates aus den grundlegenden Kategorien der politischen Ökonomie (Wert, Geld und Kapital) zu verstehen. Dagegen hat Hirsch von Beginn an eingewendet, dass sich die Formen von Ökonomie, Politik und Recht keineswegs aus sich heraus herleiten lassen, sondern dass sie als je eigene Formen die kapitalistische Gesellschaftsorganisation charakterisieren.13 Allerdings hat Marx selbst nur die Wertform analysiert.14 Die Aufgabe bestand einerseits darin, eine der Wertformanalyse vergleichbare Analyse der Staatsform zu entwickeln, ohne in simple Analogien zu verfallen. Das war schon für sich genommen keine triviale Aufgabe, hatte doch die Analyse der Wertform schon erhebliche Verständnisprobleme mit sich gebracht, von denen einige als bis heute nicht gelöst betrachtet werden müssen.15 Andererseits stellt sich notwendig die Frage nach dem Verhältnis dieser grundlegenden Formen und den historischen Variationen kapitalistischer Vergesellschaftung – ein Thema, das die materialistische Staatstheorie bis heute begleitet. Im Kern geht die Frage nach der Form des Staates auf eine klassische Formulierung von Eugen Paschukanis zurück, warum Herrschaft im Kapitalismus nicht als Klassenherrschaft erscheint, sondern „die Form eines unpersönlichen, von der Ge12 13 14 15

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Buckel 2017. Hirsch 1974; 1976. Marx, MEW 23, 1. Kapitel. Zu nennen ist das sog. Transformationsproblem, das sich als Frage nach dem Verhältnis zwischen dem 1. und dem 3. Band des Kapitals ergibt, zwischen dem Kapital im Allgemeinen und dem Gesamtprozess der Akkumulation, als auch Fragen nach dem Verhältnis von Logischem und Historischem und der historischen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus überhaupt. Es ist jenseits des Fokus dieses Bandes, auf diese Fragen genauer einzugehen: Einmal zweifeln führende Vertreter dieser Debatte wie Hans-Georg Backhaus daran, ob sich bei Marx tatsächlich eine konsistente Lösung finden lässt; zudem hat sich die Situation nach der Publikation der historisch-kritischen Gesamtausgabe MEGA2 was die Quellenlage angeht doch erheblich geändert, ohne dass man heute schon zu einer abschließenden Beurteilung kommen könnte. Vgl. dazu Backhaus 1995; Heinrich 2017.

sellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht“ annimmt.16 Im Kern lässt sich diese Frage nach der Form als Frage nach den Gründen der Besonderung des Staates von den Herrschaftsverhältnissen in Betrieb und Familie verstehen – ein Thema, das bis auf die Hegelsche Rechtsphilosophie zurückgeht. Wie auch die Wertform steht die Staatsform für eine Versachlichung oder Fetischisierung sozialer Verhältnisse, die diese Formen als scheinbar sachliche Gegenstände und nicht mehr als soziale Verhältnisse erscheinen lassen.17 Allerdings kann diese Formulierung keineswegs so verstanden werden, dass die Handlungen der Akteure überhaupt keine Rolle spielen würden, denn dann wäre eine Transformation sozialer Verhältnisse durch soziale Konflikte hindurch nicht mehr zu verstehen – die historische Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse würde zum Epiphänomen ihrer tiefliegenden sozialen Formen (vgl. dazu den Beitrag von Görg in diesem Band). Hirsch hat die Frage der theoretischen Begründung des Staates in durchaus sehr unterschiedlichen Kontexten aufgegriffen, weiterentwickelt und für empirische Analysen fruchtbar gemacht. Zentral war dafür ein Arbeitszusammenhang am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt/Main, in dem an unterschiedlichen Themen und mit sehr verschiedenen Methoden an der Weiterentwicklung der Kritischen Theorie gearbeitet wurde – von Josef Esser, Roland Roth, Heinz Steinert und Alex Demirović bis zu Jürgen Ritsert und vielen anderen (vgl. den Beitrag von Demirovic in diesem Band). Ein wichtiger Schritt in Richtung einer stärkeren Historisierung der Staatsform war die Rezeption und Weiterentwicklung der aus Frankreich kommenden Regulationstheorie (vgl. dazu die Beiträge von Jessop und Görg in diesem Band). Wie Bob Jessop (in diesem Band) betont, verhielten sich die Defizite und Stärken beider Ansätze komplementär zueinander: Fehlte der Regulationstheorie ein adäquates Verständnis des kapitalistischen Staates, dann konnte das aus der Regulationstheorie übernommene Phasenmodell gesellschaftlicher Entwicklung eine Heuristik abgeben für die Zeitdiagnose, insbesondere für die Entstehung und Krise des Fordismus der Nachkriegszeit und sein Übergang zum (neoliberalen und sich globalisierenden) Postfordismus. Über die Regulationstheorie hinaus griff Joachim Hirsch weitere Varianten der Staatstheorie auf; neben dem Ansatz von Gramsci verdanken seinen Arbeiten insbesondere dem Ansatz von Nicos Poulantzas18 entscheidende Impulse für die Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die den konkreten Ausprägungen der Staatsapparate zugrunde liegen. Dagegen gab es immer ein gewisses Spannungsverhältnis zu strukturalistischen19 und poststrukturalistischen Ansätzen.20 Wichtige Er16 Paschukanis 1966, S. 119f; vgl. dazu Buckel/Kannankulam und Holloway in diesem Band. 17 Marx, MEW 23, S. 86. 18 Poulantzas 2002 [1978]. Poulantzas weilte in den 1970er Jahren einige Zeit in Frankfurt; vgl. auch Demirović/Adolphs/Karakayali 2010. 19 Althusser 1977. 20 Dzudzek/Kunze/Wullweber 2012; Laclau/Mouffe 1991.

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weiterungen wurden von Hirsch übernommen, so etwa die Analyse von Schulen und Hochschulen als ideologische Staatsapparate.21 Wurden strukturalistische Ansätze immer mit dem Vorwurf konfrontiert, die Umkämpftheit und Offenheit historischer Entwicklung zu unterschätzen, dann standen poststrukturalistische Ansätze bei Hirsch unter dem Verdacht, die Kritik an kapitalistischen Verhältnissen abzuschwächen oder zu nivellieren. Seine Theorie wiederum gab wichtige Impulse etwa für die feministisch-materialistische Staatstheorie22 und wurde dort kritisch weiterentwickelt (vgl. den Beitrag von Sauer in diesem Band), für die Politische Ökologie und die Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse23 – oder für das Verständnis gesellschaftlicher Dynamiken in anderen Weltregionen.

3. Jenseits des methodologischen Nationalismus Das Staats- und Gesellschaftsverständnis von Joachim Hirsch hat sich immer einer isolierten Betrachtung einzelner Gesellschaftsformationen verweigert; selbst wenn (West-)Deutschland der konkrete Analysegegenstand war, analysierte er es immer im globalen Kontext. Seit den 1970er Jahren wurden die kapitalistischen Weltmarktzwänge berücksichtigt und ab 1990 die globale politische Ökonomie auch eigenständig theoretisiert (vgl. den Beitrag von Brand in diesem Band). Seine Überlegungen wurden auch für andere Weltregionen angewendet (vgl. die Beiträge von Alnasseri und Piva in diesem Band). Die politische Form ist nicht lediglich auf der nationalstaatlichen Ebene angesiedelt, sondern fächert sich multiskalar auf. Damit wendet sich Hirsch auch, gemeinsam mit anderen, gegen die vorschnelle These eines Souveränitätsverlustes der Nationalstaaten im Globalisierungsprozess. Und er hinterfragte den weitverbreiteten „methodologischen Nationalismus“, wenngleich auch er an einer gewissen Dominanz der nationalen Ebene festhielt. Dies wurde zuvorderst damit begründet, dass das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit weitgehend auf der nationalstaatlichen Ebene angesiedelt bleibt24 – wenn das auch zwischen den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich der Fall ist. Doch eben dies ist nur durch die Einbindung in ein an Konkurrenz und Kooperation orientiertes, auf (neo-)kolonialen Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnissen errichtetes internationales System verstehbar. Damit bleib Hirsch innerhalb der marxistischen Globalisierungsdiskussion durchaus kritisch gegenüber der staatstheoretisch unterbestimmten neo-gramscianischen Internationalen Politischen Ökonomie25, war skeptisch im Hinblick auf die Diagnose 21 22 23 24 25

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Althusser 1977. Ludwig/Sauer/Wöhl 2009. Wissen 2011; Brand/Görg/Wissen 2007; Görg 2003. Weber 1919, S. 4. Vgl. den Überblick bei Opratko/Prausmüller 2011.

eines diffusen globalen Netzwerks politischer Herrschaft jenseits von Nationalstaaten mit Ausnahme der USA (so Hardt/Negri mit ihrer These vom „Empire“)26, aber auch in Bezug auf den Begriff eines politisch weitgehend dominanten „American Empire“.27 Der Globalisierungsprozess, so Hirsch, verursacht einen steigenden internationalen Regulierungsbedarf, er intensiviert den „Objektivitätsüberhang“ kapitalistischer Verhältnisse und setzt auch die Nationalstaaten der Zentren unter enormen Anpassungsdruck. Seine beiden zentralen Begriffe, die sich wiederum auf die historische Variabilität kapitalistischer Entwicklung beziehen, sind jene des „nationalen Wettbewerbsstaates“ und der „Internationalisierung des Staates“ (vgl. den Beitrag von Brand).

4. Radikaler Reformismus Im Begriff des „radikalen Reformismus“ verdichtet sich der politische Gehalt der Theorie von Joachim Hirsch (vgl. die Beiträge von Görg, Martin und Wissel sowie Roth in diesem Band). Als Mitte der 80er Jahre das Konzept entwickelt wurde, standen zwei Erfahrungen emanzipativer Politik im Zentrum. Zum einen das schon damals offenkundige Scheitern und die herrschaftsförmige Verknöcherung des Realsozialismus; zum anderen die Abwendung der Sozialdemokratie von einer emanzipatorischen Politik. Beiden linken Traditionen war eines gemeinsam: eine grundlegende Transformation der kapitalistischen Gesellschaft mittels des Staates als zentralem Mechanismus erreichen zu wollen, sei es qua revolutionärer Übernahme der Staatsmacht oder qua Wahlen und einer nachfolgenden Umgestaltung der Gesellschaft. Dasselbe gilt, wenngleich weniger geschichtsmächtig, für leninistische Organisationen in den kapitalistischen Ländern. Damit war klar: eine grundlegende gesellschaftliche Transformation ist über den Staat nicht zu erreichen. Kapitalistische Herrschaft und die ihr zugrunde liegende Produktionsweise können nicht per staatlicher Politik überwunden werden, weil der Staat kein neutraler Akteur ist. Er ist selbst finanziell und legitimatorisch auf das Gedeihen der kapitalistischen Ökonomie angewiesen. Staat ist aber auch kein reines Instrument der herrschenden Klasse(n), sondern ein Terrain, auf dem höchst ungleiche gesellschaftliche Interessen sich durchzusetzen versuchen und Kompromisse bilden. Emanzipatorische Politik, so das Fazit von Hirsch, bedarf eines anderen Ansatzpunktes, der stärker in der Lebensweise verankert ist, in den Erfahrungen und Praktiken sozialer Akteure, von sozialen Bewegungen, NGOs und politischen Netzwerken, sich gleichzeitig aber auch keine Illusionen über die Grenzen emanzipatorischen Handelns unter den Bedingungen globaler ka-

26 Hardt/Negri 2011; vgl. das Gespräch mit Joachim Hirsch in: Redaktion grundrisse 2003. 27 Panitch/Gindin 2004; Hirsch 2005.

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pitalistischer Vergesellschaftung, ihre Krisen und Katastrophen macht – sie muss in diesem Sinne radikal und reformistisch sein. Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses war Hirsch immer darum bemüht, seine theoretischen und zeitdiagnostischen Analysen auf Erfahrungen, Probleme und Möglichkeiten praktischer gesellschaftlicher Kritik und emanzipatorischem Handeln zu beziehen. Und er hat diesen Zusammenhang nicht nur theoretisch begründet, sondern auch praktisch gelebt, sei es in seinem Jahrzehntelangen Engagement im Sozialistischen Büro und der Zeitschrift links, sei es in der Nachfolge der online-Zeitschrift links-netz.de oder im Vorstand von medico international. Obwohl immer wieder neu definiert und aktualisiert stellt der Begriff des radikalen Reformismus doch über mehr als 30 Jahre hinweg den Fluchtpunkt seiner politisch-theoretischen Überlegungen, den politischen Gehalt seiner Staatstheorie dar. In seinem Kern versucht er das Paradox zu operationalisieren, innerhalb der bestehenden Verhältnisse und auch unter Bedingungen des kapitalistischen Staates politisch zu agieren und dabei dessen spezifische Form politischer Herrschaft zu kritisieren. Eine Aufgabe und eine Strategie, die angesichts einer Weltlage, die durch autoritären Etatismus, kriegerische Gewalt, ökologischen Katastrophismus, globale Vertreibungen und sozialem Prekariat geprägt ist, wichtiger ist denn je.

5. Der Aufbau des Bandes In diesem „Staatsverständnisse“-Band führen wir in die Staats- und Gesellschaftstheorie von Hirsch ein. Sie wird in ihrer Genese und ihren Grundzügen vorgestellt, in ihren Bezügen auf andere Ansätze diskutiert und ihre Rezeption in anderen Debatten und Weltregionen nachgezeichnet (vgl. die Beiträge von Sauer, Alnasseri, Piva). Dabei sind durchaus unterschiedliche Lesarten des Hirsch‘schen Werks versammelt. Im ersten Teil wird zunächst die zentrale Frage nach der Form des Staates aufgeworfen: Einerseits in Bezug auf die Entwicklung der Arbeiten von Hirsch – vgl. die Beiträge von Görg, Holloway und Buckel/Kannankulam –, aber auch im Verhältnis zu verwandten Ansätzen der materialistischen Staatstheorie – vgl. die Artikel von Jessop, Demirović und Sauer. Wie gesehen, hat Hirsch seine Überlegungen immer auf die sich wandelnden internationalen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse bezogen (vgl. die Kapitel von Brand, Alnasseri und Piva). Diese wurden nach dem Epochenbruch von 1989/1991 sogar zu einem zentralen Bezugspunkt seiner Arbeiten. Martin/Wissel sowie Roth greifen in ihren abschließenden Texten den schon im Beitrag von Görg diskutierten Begriff des radikalen Reformismus auf. Solch ein Buch ist immer ein kollektives intellektuelles und organisatorisches Unterfangen. Wir danken zuvorderst den AutorInnen dieses Bandes für ihre Beiträge,

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den Übersetzern Benjamin Opratko, Gregor Seidl und Lars Stubbe sowie Christopher Beil und Stefan Stadler für die Unterstützung bei den Formatierungen. Ein besonderer Dank geht an Benjamin Opratko für die vorzügliche organisatorische und editorische Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches; ohne ihn wäre dieses nicht möglich gewesen. Beate Bernstein und Eduard Schwarzenberger vom NomosVerlag haben uns umsichtig und professionell begleitet, Sonja Buckel den Band angeregt, John Kannankulam und Jens Wissel haben ein erstes Konzept kommentiert, und der Herausgeber der „Staatsverständnisse“, Rüdiger Voigt, nahm den Band in seine Reihe auf.

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I. Die Frage nach der Form des Staates

Christoph Görg Die Historisierung der Staatsform. Regulationstheorie, radikaler Reformismus und die Herausforderungen einer Großen Transformation

1. Einleitung: Die Herausforderungen einer Großen Transformation Gesellschaftliche Transformationen haben Konjunktur, im Rahmen einer Transformation zur Nachhaltigkeit und darüber hinaus.1 Das hat seinen Grund darin, dass einmal die Nicht-Nachhaltigkeit globaler Gesellschaften immer evidenter und die Herausforderungen immer größer werden, nicht nur beim Klimawandel. Immer häufiger werden sie daher unter dem Leitbegriff einer Großen Transformation thematisiert, ohne dass allerdings klar wäre, was daran genau groß sein sollte. Denn oft werden wenig ambitionierte staatliche Maßnahmen gefordert oder auf einen angeblich bereits stattfindenden Wertewandel hin zu Nachhaltigkeit verwiesen.2 Unübersehbar sind zudem krisenvermittelte Transformationen globaler Gesellschaften. Hier spielt der Zusammenhang zwischen multiplen Krisenprozessen auf verschiedenen räumlichen Ebenen, sozialen Spaltungen, autoritären Tendenzen, steigender Gewaltförmigkeit und ökologischer Destruktivität eine immer stärkere Rolle.3 Beide Diskussionsprozesse verweisen offenkundig aufeinander und ihr Zusammenhang, die Verbindung zwischen multiskalaren Krisenprozessen und der Möglichkeit, eine lebenswerte Zukunft im globalen Maßstab zu schaffen, wird zunehmend thematisiert. Aber häufig bleibt unklar, wie denn eine Transformation zur Nachhaltigkeit gestaltet werden kann, da sie offenkundig mit den bestehenden Machtverhältnissen kollidiert.4 Eine weitere analytische Herausforderung betrifft die Frage, was dies alles mit dem kapitalistischen Charakter globaler Gesellschaften zu hat. Viele Beiträge, die die grundsätzliche Bedeutung kapitalistischer Verhältnisse für die ökologische Problematik betonen, setzen sehr abstrakt an, ohne die aktuellen Transformationsprozesse sowie damit verbundene sozial-ökologische Konflikte zu thematisieren.5 Wird umgekehrt bei einer Analyse dieser Krisen und Konflikte auf lokaler und regionaler Ebene stehengeblieben, bleibt der Bezug zu einer Großen 1 2 3 4 5

Frantzeskaki/Loorbach/Meadowcroft 2012; Leach et al. 2012. So beim WBGU 2011, der sich semantisch, aber nicht analytisch an Polanyi 1944 anlehnt. Brand 2012; Demirovic et al. 2011. Brand 2016a. Z.B. Foster 2014; Moore 2015.

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Transformation offen.6 Es mehren sich zudem die Stimmen, die mit Verweis auf sozial-ökologische Transformationen das Ende des Kapitalismus wieder denkbar machen wollen.7 Aber auch hier stellen sich Fragen, ob und wie den konkreten Krisenprozesse begegnet und vielfältige multiskalare Konflikte aufgegriffen werden können. Wichtig ist: Die Debatte um sozial-ökologische Transformationen hat also die Frage nach einer post-kapitalistischen Konstellation in aller Dringlichkeit aktualisiert. Allerdings stellt sich hier das Problem einer Gestaltung von Transformationsprozessen.8 Einmal muss zwischen analytischem und politisch-strategischem Transformationsverständnis unterschieden werden, denn ein Großteil dieser Literatur leitet unter einem analytischen Defizit bzgl. der gesellschaftlichen Krisenprozesse.9 Zudem müssen die Akteure und Prozesse einer Gestaltung kritisch analysiert werden und sowohl die Rolle des Staates als auch von multiskalaren Konflikten berücksichtigt werden. Denn in der Nachhaltigkeitsdebatte werden entweder weiterhin der Markt und Innovationen beschworen oder relativ hilflos auf den Staat oder zwischenstaatliche Abkommen wie die Klimarahmenkonvention verwiesen, ohne deren Krisen zu reflektieren.10 Dabei haben neoliberale Strategien sowohl internationale Institutionen wie auch demokratische Prozeduren auf nationalstaatlicher Ebene entscheidend transformiert und die Interessen mächtiger Akteure in sie eingeschrieben. Mit guten Grund muss man staatliche wie zwischenstaatliche Institutionen daher als Teil des Problems anzusehen, verkörpern sie doch eher das Beharrungsvermögen gesellschaftlicher Strukturen gegenüber einer grundlegenden Veränderung. Diese „strukturelle Selektivität“11 staatlicher Institutionen wird jedoch in der Transformationsforschung meist ausgeklammert. Aber die theoretische Herausforderung geht noch weiter. Denn letztlich müsste eine kritische Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung, die das analytische Defizit des Transformationsbegriffs überwinden will, sowohl die historisch konkreten Krisen und Widersprüche im globalen Maßstab analysieren als auch die Möglichkeit ihrer grundlegenden Veränderung aufzeigen können. Wo diese Defizite der aktuellen Transformationsforschung beklagt werden, da wird oft auf die Regulationstheorie als einer der erfolgreichsten Ansätze zum Verständnis gesellschaftlicher Transformationsprozesse verwiesen.12 Aber auch hier stellen sich viele Herausforderungen,13 von denen das sog. staats- bzw. institutionen6 7 8 9 10

So bei vielen Arbeiten zur Politischen Ökologie aus dem angelsächsischen Sprachraum. Tauss 2016. Brie 2014. Görg et al. 2017. Die Hoffnung auf den Markt dürfte immer noch dominieren, aber verstärkt wird, wie z.B. beim WBGU 2011, die Hoffnung auf einen gestaltenden Staat beschworen. 11 Poulantzas 2002, S. 165. 12 Reißig 2009; Görg 2016. 13 Brand/Raza 2003; Atzmüller et al. 2013.

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theoretische Defizit für unsere Fragestellung zentral ist: Wie lässt sich die historischinstitutionelle Variabilität des Kapitalismus unter Fortbestehen zentraler Strukturmerkmale wie der spezifischen Form des bürgerlichen Staates begreifen? Wie ist zu verstehen, dass der Kapitalismus zwar historisch variabel ist und durch soziale Konflikte hindurch erst seine konkrete Erscheinungsform erhält, aber gleichwohl eine starke Widerstandsfähigkeit gegenüber grundsätzlicher Kritik und radikalen Transformationsbemühungen aufweist? Und wie ließe sich dieses Beharrungsvermögen überwinden? Der zentrale Ansatzpunkt einer kritischen Gesellschaftstheorie ist damit die Staatstheorie im Sinne eines kritischen Verständnisses der umfassenden Herrschaftsverhältnisse des globalisierten Kapitalismus. Und hier ist die Staatstheorie von Joachim Hirsch einer der elaboriertesten Ansätze. Wie kaum eine andere Theorie ist seine Staatstheorie durch einen politischen Überhang gekennzeichnet, der die verschiedenen Phasen der Ausarbeitung seines Ansatzes durchdringt. Politischer Überhang meint hier, dass sich seine Theorie an den politischen Implikationen bemessen will, die ihr immanent sind, ohne dass dadurch die Theoriearbeit selbst vernachlässigt werden darf. Es ist dieses Beharren auf einer politischen Reflexion noch der abstraktesten theoretischen Ausführungen, die auch die Dynamik seiner Theorieentwicklung geprägt hat. Weder Selbstzweck noch bloßes Instrument ist die Theoriearbeit ein entscheidendes Terrain, auf dem politische wie theoretische Erfahrungen verarbeitet werden und zu ihrer Weiterentwicklung beitragen. In den Worten von Hirsch: „Kritische und materialistische Theorie bedarf der Auseinandersetzung mit realer Geschichte und mit aktuellen politischen Bewegungen. Nur wenn sie sich selbst als in diesem Sinne geschichtlich, praktisch und veränderbar begreift, kann sie im Kampf für politische Befreiung bedeutsam werden. Ohne die Anstrengung des Begriffs wird andererseits Politik leicht zum bodenlosen Geschwätz.“14

Dieser dialektische Verweisungszusammenhang von politischer Relevanz und begrifflicher Arbeit soll im Folgenden anhand der Entwicklung der Staatstheorie von Joachim Hirsch in seinen wesentlichen Zügen nachgezeichnet und abschließend in seiner Bedeutung für die heutige Situation diskutiert werden. Theoriearbeit und politische Kritik verdichten sich dabei im Begriff des radikalen Reformismus. Zusammen mit der Rezeption der Regulationstheorie und der Weiterentwicklung der Staatstheorie kommen hier Überlegungen zur Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung und der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse zur Sprache, die von kaum zu unterschätzender Aktualität für eine Große Transformation sind, wie immer diese auch konkret aussehen mag. Zunächst wird in aller Kürze der Weg seiner Staatstheorie von der Staatsableitungsdebatte zur Regulationstheorie nachgezeichnet (2), danach die Relevanz sozialer Bewegungen für die Gesellschaftstheorie und die 14 Hirsch 1990, S. 191.

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Selbstkritik materialistischer Staats- und Gesellschaftstheorie umrissen (3), dann das Konzept des radikalen Reformismus in seinen Kernelementen erläutert (4) und auf die Fragestellungen der Regulationstheorie bezogen (5). Abschließend (6) widmen sich Ausführungen zur Aktualität des Radikalen Reformismus der Frage, was denn eine Große Transformation heute bedeuten könnte und wie sich kleine und große Transformationen zusammendenken lassen.

2. Von der Staatsableitungsdebatte zur Regulationstheorie Aus der heutigen Sicht wirken manche Kontroversen zur Interpretation der Marxschen Theorie, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren vor allem in Deutschland geführt wurden, zuweilen kurios an. Verständlich werden sie aber, stellt man die Notwendigkeit in Rechnung, angesichts der Instrumentalisierung des Marxismus zur Herrschaftsideologie im sowjetischen Machtraum einerseits, der Dämonisierung der Schriften von Marx und Engels durch Faschismus und Antikommunismus andererseits, eine undogmatische und emanzipatorische Lesart überhaupt erst zu entwickeln. Diese Aufgabe wurde durch den höchst prekären Zugang zu den Originaltexten – viele waren noch nicht oder zumindest noch nicht in kritischer Edition erschienen – sowie die fatale Fehleinschätzung der politischen Lage durch Teile der damaligen sozialen Bewegungen als vermeintlich revolutionäre Situation nicht gerade erleichtert. Neben dem Verständnis der Werttheorie und der im Kapital angewandten Methode gehörte die fehlende oder zumindest lückenhaft gebliebene Staatstheorie und das Verhältnis zwischen den eher politischen Analysen von Marx einerseits (etwa in den Klassenkämpfen in Frankreich oder dem 18. Brumaire) und den Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie zu den wichtigsten Baustellen. Es kann der sogenannten Staatsableitungsdebatte zu Gute gehalten werden, dass sie die Frage nach dem systematischen Stellenwert des Staates im Kapitalismus aufgeworfen und intensiv diskutiert hat (vgl. dazu den Beitrag von Buckel/Kannankulam in diesem Band). Ausgehend von der klassischen Frage von Paschukanis,15 warum bürgerliche Herrschaft im Kapitalismus genau die Form des Staates annimmt, nämlich eine spezifische Besonderung von den Klassenverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft und den Herrschaftsverhältnissen in Betrieb und Familie, hat Hirsch sehr früh auf die Verselbständigung der Staatsform gegenüber den handelnden Akteuren verwiesen. Wie auch die Wertform steht die Staatsform für eine Verselbständigung oder Fetischisierung sozialer Verhältnisse, die sie als scheinbar sachliche und nicht mehr als soziale Verhältnisse erscheinen lassen.16 Marx gebraucht dafür bekanntlich im Kapital auch die Metapher, dass sie hinter dem Rücken der Akteure wirken. Doch ist die15 Paschukanis 1966. 16 Marx, MEW 23, S. 86.

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se Formulierung nicht so zu verstehen, dass sie den Handlungen der Akteure völlig entzogen sei. Sie steht vielmehr in einem je konkreten Widerspruch zu den Handlungskompetenzen der Akteure, der sich durch soziale Krisen hindurch aktualisiert, sich aber auch in Protest, Widerstand und evtl. in Transformationsprozessen manifestiert.17 Die „allgemeine Formbestimmung des bürgerlichen Staates“18 bleibt daher notwendig abstrakt – und zwar im doppelten Sinne: sie abstrahiert von allen konkreten Erscheinungsformen bürgerlicher Herrschaft sowie der ihr zugrundeliegenden politischen Ökonomie und ist in diesem Sinne auch nicht auf die Staaten der kapitalistischen Peripherie zu übertragen, in denen weder bürgerliche Herrschaft noch die Besonderung des Staates in gleicher Weise anzutreffen sind (vgl. den Beitrag von Alnasseri in diesem Band, anders hingegen Piva). Und sie abstrahiert ganz praktisch davon, dass soziale Akteure diese verselbstständigten Verhältnisse in ihrem Handeln reproduzieren und sie grundsätzlich auch verändern können. Die soziale Form des bürgerlichen Staates kann wie auch die Wertform der sozialen Gestaltung unterworfen werden – das wäre abstrakt gesprochen das eigentliche Ziel einer Umwälzung kapitalistischer Verhältnisse. Das Grundproblem einer Verbindung von abstrakt ansetzender Formanalyse und historisch konkreter Politikanalyse ist damit in der Staatstheorie von Hirsch von Beginn an präsent und kann als ein sich durchhaltendes Motiv in allen Phasen der Weiterentwicklung seiner Staatstheorie beobachtet werden. Sie wird immer dann – und spätestens dort – zum expliziten Gegenstand theoretischer Reflexionen, wo konkrete politische Entwicklungen und gesellschaftliche Krisenphänomene zum Gegenstand werden. Vom Sicherheitsstaat19 über das neue Gesicht des Kapitalismus20, Kapitalismus ohne Alternative?21 und dem nationalen Wettbewerbsstaat22 bis zur Internationalisierung des Staates23 gelingen Hirsch auf dieser Basis immer wieder beeindruckende Synthesen von zeitdiagnostischer Präzision und grundlegender Theoriearbeit, bei der seine Staatstheorie den neuen politischen Erfahrungen angepasst wird (vgl. den Beitrag von Jessop in diesem Band). Einige der zeitdiagnostischen Begrifflichkeiten wie etwa der Sicherheitsstaat (als spezifische Variante zur Absicherung des Modell Deutschland) oder der nationale Wettbewerbsstaat (als neoliberale Transformation des Nationalstaats) finden dabei Eingang in die praktische Gesellschaftskritik sozialer Bewegungen oder kritischer Intellektueller. Andere wie die Internationalisierung des Staates verweisen auf das theoretische Problem der räumlichen Existenz der Staatsform. Zusammen mit anderen Vertretern der materialisti17 18 19 20 21 22 23

Vgl. dazu ausführlicher Görg 1994 a; 1994b sowie Abschnitt 4 dieses Beitrags. Hirsch 1973, 1974, vgl. den Beitrag von Buckel/Kannankulam in diesem Band. Hirsch 1980. Hirsch/Roth 1986. Hirsch 1990. Hirsch 1995. Hirsch 2001.

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schen Staatstheorie24 verweist Hirsch ganz entschieden darauf, dass mit der neoliberalen Transformation des Nationalstaats dieser keineswegs verschwindet, sondern sowohl intern umgebaut als auch inter- und transnational stärker eingebunden wird (vgl. den Beitrag von Brand in diesem Band). Bei allem Fortschritten in der Staatstheorie ist aber das für unsere Frage zentrale Problem nach der Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität keineswegs gelöst: Es fehlt eine Gesellschaftstheorie, die die grundlegende Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung, wie sie die Formanalyse des Staates ebenso wie die der Wert- und Rechtsform25 darstellen, mit den historisch spezifischen Phasen kapitalistischer Vergesellschaftung vermittelt, die sich eben nicht einfach hinter dem Rücken der Akteure, sondern durch soziale Konflikte vermittelt durchsetzen. Während Hirsch in den 1970er und früher 1980er Jahren noch verstärkt vom Modell Deutschland spricht als einer besonderen, staatlich vermittelten Verbindung von Exportorientierung und Sozialintegration,26 verwendet er seit dem Sicherheitsstaat zunehmend den Begriff des Fordismus. Mit diesem terminologischen Wandel verbunden ist seine spezifische Aneignung der aus Frankreich stammenden Regulationstheorie.27 Von Beginn an wird die Rezeption der Regulationstheorie bei Hirsch mit einem eigenen Akzent verbunden, denn er betont die Bedeutung einer spezifischen Vergesellschaftungsweise (vgl. den Beitrag von Jessop in diesem Band). Weder die Varianten der Regulationstheorie, die explizit auf dem Boden der Marxschen Theorie argumentieren28 und noch viel weniger die institutionalistische Variante29 können ihn zufriedenstellen.30 Zwar werden die zentralen Begriffe Akkumulationsregime und Regulationsweise übernommen, aber der Fokus liegt bei Hirsch eindeutig auf den unterschiedlichen Varianten der Vergesellschaftung, den „Sozial- und Klassenstrukturen, (den) Lebensverhältnisse(n) und Lebensweisen“31, die mit dem Begriff des Fordismus bzw. mit dem von ihm geprägten Begriffs des Post-Fordismus gefasst werden. Insbesondere im Neuen Gesicht des Kapitalismus dehnen Hirsch und sein Ko-Autor Roland Roth die Analyse auf Felder aus, die bislang im Rahmen der Regulationstheorie kaum erfasst worden waren, von den Formen der Individualisierung und Subjektivierung, den Geschlechterverhältnissen und Lebensweisen, bis zur Rolle von Gegenbewegungen. Gerade letztere stellen immer wieder den Fluchtpunkt der Gesellschaftskritik dar: Welche Rolle spielen soziale Bewegungen in den

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Hirsch et al. 2001. Vgl. zur Wertform Brentel 1989; zur Rechtsform Buckel 2007. Hirsch 1980; Hirsch/Roth 1980. Als Überblick: Becker 2002. Aglietta 1979; Lipietz 1985, 1992. Z.B. Boyer 1990. Vgl. zu diesen Varianten Jessop 1990. Hirsch/Roth 1986, S. 53.

jeweils aktuellen Krisentendenzen, was kann man von ihnen erwarten – und was eben auch nicht?

3. Gesellschaftstheorie und neue soziale Bewegungen: Zur Selbstkritik materialistischer Staatstheorie Um die Bedeutung zu verstehen, die (neue) soziale Bewegungen für die Staatstheorie von Hirsch spielen, muss man sich die Ambivalenz vor Augen führen, mit der diese immer wieder im Schlusskapitel bzw. im politischen Ausblick seiner Bücher und Aufsätze erscheinen. Schon im Sicherheitsstaat wird die Notwendigkeit betont, bei aller Kritik am „Verdinglichungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft“ das widersprüchliche Verhältnis von Struktur und Praxis nicht undialektisch aufzulösen: „d.h. zu vernachlässigen, was an Spontaneität, Abweichung, Unregelmäßigkeit von den objektiven Strukturen zwar immer auch hervorgebracht und geformt wird, sich ihnen aber gleichwohl nicht völlig fügt und nicht in ihnen aufgeht.“ 32 Konkret heißt dies, die Kritik an der Theoriearbeit, wie sie gerade auch von den neuen sozialen Bewegungen dieser Zeit geübt wurde,33 ernst zu nehmen und die darin geäußerten Erfahrungen kritisch zu überprüfen. Hirsch problematisiert eine Theorieproduktion, die nur eine „Produktion von Wissen über gesellschaftliche Individuen“ sei und stellt dem „das praktische Wissen der Handelnden von und über sich selbst“ entgegen.34 Heute würde man in den Nachhaltigkeitswissenschaften von einer transdisziplinären Wissensproduktion bzw. einer Ko-Produktion von Wissen sprechen.35 Entscheidend ist dabei: auch das Ernstnehmen der politischen Erfahrungen und des Praxiswissens sozialer Akteure macht eine Theoriearbeit keineswegs weniger wichtig. Dies vor allem deswegen, weil sich die verselbständigten sozialen Formen eben nicht unmittelbar erfahren, sondern sich erst durch eine kritische Methode erschließen lassen. An dieser Stelle wird das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis sichtbar, das sich der Forderung nach einer simplen Anwendbarkeit von Theorie ebenso entzieht wie sich diese auch nicht mit der Abstraktion von allen praktischen Erfahrungen begnügen darf.36 Dieses dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis ist für die Einschätzung sozialer Bewegungen sehr bedeutend. In einem diesbezüglich zentralen Text von Hirsch und Roth: Modell Deutschland und neue sozialen Bewegungen, verweisen 32 Hirsch 1980, 136. 33 Hirsch zitiert an dieser Stelle ein Flugblatt der Arbeiterselbsthilfe Oberursel, einer der größten selbstverwalteten Betriebe dieser Zeit, das sich explizit gegen bestimmte Etikettierungen durch linke Theoretiker zur Wehr setzt, Hirsch 1980, S. 135. 34 Hirsch 1980, S. 136, Hervh. i.O. 35 Görg 2017. 36 Adorno 1969; Görg 2005.

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die Autoren auf die Bedeutung der neuen sozialen Bewegungen für die Desillusionierung der Gesellschaftstheorie, die Ende der 1970er Jahre unter dem Label einer Krise des Marxismus diskutiert wurde.37 Weder der Abschied vom Proletariat noch das unbeirrte Festhalten an linken Glaubenssätzen (oder gar eine „anti-theoretische tabula rasa“38) könne dieser Situation gerecht werden. Vielmehr wird eine Überprüfung der theoretischen Grundlagen der Gesellschaftskritik gefordert; denn diese Kritik habe die Themen und Problemfelder, die für die neuen sozialen Bewegungen mobilisierend waren, weder vorhergesehen noch könne sie sie adäquat erfassen (in diesem Zusammenhang wird u.a. auch auf die ökologische Problematik verwiesen).39 Mit den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, die ja damals vor allem deshalb als neue soziale Bewegungen bezeichnet wurden, weil sie sich in ihrer Gesellschaftskritik und ihrer politischen Praxis deutlich von der Arbeiterbewegung, aber auch von älteren Varianten der Frauenbewegung unterschieden (vgl. dazu den Beitrag von Sauer in diesem Band), wurde nach Hirsch ein politisches Problem sichtbar, das gleichzeitig ein Problem der Theoriebildung darstellt: wie lässt sich eine grundlegende Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen artikulieren, wenn diese einerseits an den praktischen Erfahrungen der historischen Subjekte ansetzen muss, um politisch relevant zu sein, andererseits aber verselbständigte gesellschaftliche Verhältnisse dekonstruieren muss, eben die sozialen Formen, die als Objektivitätsüberhang der theoretischen angeleiteten Kritik bedürfen. An dieser Problemstellung setzt das Konzept des radikalen Reformismus an.

4. Jenseits von Reformismus versus Revolution: das Konzept des radikalen Reformismus Das Konzept des radikalen Reformismus verweist auf einer ersten Ebene darauf, dass beide grundlegende Strategien, mit denen die organisierte Arbeiterbewegung eine Überwindung des Kapitalismus herbeizuführen gedachte, nicht mehr plausibel sind. Es geht keineswegs nur um eine Denunzierung des Revolutionskonzeptes, sondern mindestens ebenso sehr um die Feststellung, dass die reformistische Strategie der Sozialdemokratie, die das evolutionäre Herauswachsen des Sozialismus aus dem Kapitalismus propagierte, nach den Erfahrungen des 20sten Jahrhunderts ebenfalls diskreditiert ist und sukzessive zu den Akten gelegt wurde. Beide Strategien kranken nach Hirsch aber am gleichen Problem, einem unzureichenden Verständnis des Staates, bei der die Eroberung der Staatsmacht im revolutionären wie im reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung gleichermaßen als zentrales Instrument der Verände37 Hirsch/Roth 1980. 38 Hirsch/Roth 1980, S. 15. 39 Vgl. Hirsch/Roth 1980, S. 14f.

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rung gedacht wird. Darüber hinaus wird die Organisationsstrategie der Arbeiterbewegung ganz grundsätzlich einer Kritik unterzogen: „Die historischen Erfahrungen haben gelehrt, dass sich der revolutionäre Charakter einer Bewegung nicht am Grad ihrer organisatorischen Stärke und an der Radikalität ihres Programms misst, sondern daran, inwiefern sie in der Lage ist, die ökonomisch-sozialen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft konkret zu durchbrechen und dieses transzendierende Moment in sich selber, in ihren Organisations-, Lebens- und Verkehrsformen, in ihrem Umgang mit Bedürfnissen, Interessen und Erfahrungen zu realisieren. Reformismus oder nicht ist keine Frage abstrakter Programme und Forderungen (…), sondern der gesellschaftlichen Praxis – eben des Umgangs mit den bürgerlichen Formen.“40

Nicht nur muss man also der Illusion entsagen, die Eroberung der Staatsmacht sei schon ein Schritt in Richtung Sozialismus, noch darf eine soziale Bewegung in ihrer Praxis die bürgerlichen Formen einfach reproduzieren, also bspw. Transformationsstrategien verfolgen, die abwechselnd den Wert- (sprich: Marktinstrumente) oder den Staatsfetisch bedienen, sondern muss sie und ihre Verankerung in den Individuen selbst zum Gegenstand der Veränderung machen. Hier werden sowohl die Erfahrungen der bolschewistischen Organisationsform kritisch verarbeitet, die die politischen Konflikte nur unter einer militärischen Freund-Feind-Logik interpretierten,41 als auch die Umdeutung des Klassenkonflikts durch die Sozialdemokraten zu einer Umverteilungspolitik mit dem Ziel einer stärkeren Beteiligung am gesellschaftlichen Mehrprodukt.42 Diese Einsicht, dass eine Transformation der sozialen Verhältnisse im Alltag, den Bedürfnissen und den Subjektivitäten der Akteure einschließlich der Geschlechterverhältnisse verankert sein muss, ist ein Erbe der sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre und als solche kaum noch hintergehbar. Aber reicht sie auch aus? Denn das Zitat oben enthält eine Forderung, die selbst relativ abstrakt ansetzt und zudem noch begrifflich unklar bleibt: relativ allgemein ist von den ökonomisch-sozialen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft die Rede, aber weder ist so ganz klar, was denn diese Strukturen genau sind, ob und wie sie sich von den bürgerlichen Formen unterscheiden? Und wie soll das denn gehen, die Formen zu verändern, die doch durch die sozialen Konflikte hindurch immer auch reproduziert werden? Damit der radikale Reformismus mehr ist als selbst eine abstrakt ansetzende Forderung, muss er theoretisch präzisiert und historisch konkretisiert werden. Hirsch hat selbst immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass viele Praktiken der Alternativ-, Ökologie- und Frauenbewegung im gesellschaftlichen Transformationsprozess des Übergangs zum Post-Fordismus neoliberalen Strategien Vorschub geleistet haben, so in der Flexibilisierung der Arbeit, der Selbstausbeutung der Arbeitskraftunternehmer 40 Hirsch 1980, S. 164f, Hervh.i.O. 41 Figes 2017. 42 Agnoli 1968.

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und der Inwertsetzung der Reproduktionsarbeit.43 Veränderte Praxen sind nicht einfach positiv zu werten, sondern bedürfen der kritischen und selbstkritischen Analyse ihrer Funktion in den historisch-konkreten sozialen Auseinandersetzungen der Ausbildung einer neuen Phase kapitalistischer Vergesellschaftung. Das Konzept des radikalen Reformismus ist also keine Zauberformel, die umstandslos in praktischer Absicht angewendet oder gar zur politischen Mobilisierung verwendet werden kann. Es kann jedoch als Orientierungsfolie dienen, um politische Strategien im Hinblick darauf zu reflektieren, inwieweit diese Aussicht auf grundlegende Veränderungen versprechen (wie z.B. das Konzept der sozialen Infrastruktur, vgl. die Beiträge von Martin/Wissel und Roth in diesem Band). Aber um in dieser Weise anwendbar zu sein, bedarf es der genauen Analyse der historischen Umstände, der institutionellen Konstellationen einschließlich der darin eingeschriebenen Machtverhältnisse wie der sozial-ökologischen Krisenprozesse, aber auch der Erfahrungen und Strategien der politischen Akteure. Es bedarf m.a.W. einer gesellschaftstheoretischen Verankerung, die beide Dimensionen miteinander zu vermitteln vermag: die historisch-konkrete Analyse der konflikthaften (Re-)Strukturierung kapitalistischer Verhältnisse, unter Einbezug des Handlungssinns sozialer Akteure, wie auch der theoretisch angeleiteten Kritik kapitalistischer Strukturprinzipien, wie sie vor allem die sozialen Formen darstellen. Beides kann die Regulationstheorie im Prinzip leisten, aber nur dann, wenn ihre theoretischen Grundlagen geklärt und ihre zentralen Defizite überwunden werden – eine bis heute unerledigte Aufgabe.44

5. Staatstheorie und Regulationstheorie: Institutionen und Strukturprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung Bei all ihren Schwächen und Lücken ist eine der unzweifelhaften Stärken der Regulationstheorie die historische Konkretisierung der Kapitalismuskritik. Das gilt zumindest für die Stränge der Regulationstheorie, die eine solche Kritik noch anstreben. Mit ihrer Hilfe lassen sich zwei entscheidende Einsichten miteinander verbinden: die der historischen Variabilität des Kapitalismus und der Bedeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse im weiteren Sinne für die relative Stabilität bestimmter Phasen. Beides ist staatstheoretisch bedeutsam – aber beide Einsichten mussten erst langsam im (neo-)marxistischen Diskurs etabliert werden. Wenn die Existenz distinkter Phasen eine historische Fundsache45 darstellt, dann sind alle Versuche zum Scheitern verurteilt, universelle Gesetzmäßigkeiten zu formulieren, seien es Zusammenbruchs- oder Modernisierungs-/Fortschrittstheorien. Denn die relative Stabilität 43 Hirsch/Roth 1986, S. 206ff. 44 Görg 2016. 45 Lipietz 1985.

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einer Phase beruht gerade auf dem Entsprechungsverhältnis zwischen ökonomischer „Basis“ – dem je spezifischen Akkumulationsregime – und dem institutionellem „Überbau“ – der historisch konkreten Regulationsweise als der Gesamtheit der Institutionen, mit denen eine kohärente Wachstumskonstellation überhaupt erst hergestellt wird. Damit gehören einfache Basis-Überbau-Modelle – und auch schon die Begriffe selbst – wie auch der Verweis auf universelle ökonomische Gesetzmäßigkeiten der Vergangenheit an. Die Frage, die sich dann allerdings stellt, spielte für die weitere Diskussion eine zentrale Rolle: welche Bedeutung hat es denn noch, die Phasen weiterhin als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung zu bezeichnen? Diese Frage ist zentral mit der Frage nach der Staatsform und dem Unterschied zwischen Staat und (politischen, aber auch anderen gesellschaftlichen) Institutionen verbunden. Wenn sich die Stabilität einer historischen Phase einer bestimmten Konstellation von Institutionen verdankt, geht dann die Analyse der historischen Entwicklung nicht in eine Institutionenanalyse über, die auf den Kapitalismusbegriff auch verzichten kann? Was bringt der Hinweis auf die grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung Wert, Staat und Recht, wenn mit Verweis auf diese Strukturprinzipien die Ausprägung konkreter Institutionen alleine nicht erklärt werden kann? Hirsch hat daher sehr emphatisch darauf hingewiesen, dass es beim staatstheoretischen Defizit der Regulationstheorie nicht einfach um eine Ergänzung oder Erweiterung dieses Ansatzes geht, sondern das grundlegende Fragen nach dem Zusammenhang Struktur – Institution – Handeln ebenso berücksichtigt werden müssen wie das politische Defizit, keinen Ansatzpunkt für gesellschaftsveränderndes Handeln benennen zu können.46 So muss der zentrale Begriff der Regulation insofern als Kritik an der Marxschen Wert- und Krisentheorie verstanden werden, als die Analyse im Kapital, in denen Marx deren Grundlagen erarbeitet hat, systematisch von den sozialen Konflikten und allen darin zum Ausdruck kommenden Interessen und Machtverhältnissen absieht. Historisch-konkrete Akteure kommen in dieser Analyse nicht vor, genauer: sie finden nur als „Personifikation ökonomischer Kategorien“ Erwähnung.47 Wenn aber eine konkrete Wachstumskonstellation, als eine historische Fundsache, durch die sozialen Kräfteverhältnisse und ihre Institutionalisierung in einer Regulationsweise mitgestaltet wird, dann ignoriert diese „naturgeschichtliche“ (ebenda) Betrachtung von Marx genau diese sozialen Kämpfe und ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung.48 Wenn also der Begriff der Regulation eine so entscheidende Kritik an der Marxschen Wert- und Krisentheorie impliziert, wie kann dann auf seinem Boden weiterhin eine an den sozialen Formen ansetzende Kapitalismuskritik entwickelt wer-

46 Hirsch 1994, S. 158; vgl. Jessop 1990. 47 Marx, MEW 23, S. 16. 48 Hirsch 1994, S. 161ff; vgl. Görg 1994b.

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den?49 Die Antwort von Hirsch ist nicht die Verabschiedung der Kapitalismuskritik als Formanalyse, sondern deren Präzisierung: Gerade die sozialen Formen stehen für den verselbständigten Charakter zentraler Strukturprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung, die trotz aller historischen Variabilität bislang in den sozialen Konflikten auch reproduziert wurden und deren Verständnis der theoretisch angeleiteten Kritik bedarf. Denn diese Vergesellschaftungsform ist dadurch charakterisiert, dass ihre zentralen Strukturprinzipien einen Widerspruch zu den sozialen Prozessen verkörpern: „Indem sie das Handeln von Individuum und Klassen in einer von diesen nicht unmittelbar durchschaubaren Weise anleiten, machen sie grundlegende gesellschaftliche Antagonismen prozessierbar, d.h. sie gewährleisten, dass sich die Gesellschaft trotz und wegen der Widersprüche erhält und reproduziert, ohne diese damit allerdings aufzuheben.“50

Die Antwort impliziert also eine dialektische Konstellation zwischen Strukturprinzipien und sozialem Handeln (im weiteren Sinne, also inkl. kollektivem Handeln und sozialen Institutionen).51 Anders als es praxistheoretische Ansätze in der Nachfolge von Anthony Giddens nahelegen,52 wird hier weiterhin mit Strukturprinzipien argumentiert, die soziale Verhältnisse zu scheinbar sachlichen Verhältnissen fetischisieren, d.h. den Prozess der Verselbständigung gegenüber den Handlungskompetenzen der Akteure verdecken. Dies ist der Grund dafür, dass in der bürgerlichen Ökonomie Kapital zu einer Sache mystifiziert wird, obwohl es aus kritischer Perspektive als soziales Verhältnis zu verstehen ist, als Produktionsverhältnis, das aus Geld mehr Geld gewinnen muss (eben G – G‘) – bei Strafe des Untergangs. Eine Anleitung durch die sozialen Formen, wie im obigen Zitat, darf dabei allerdings nicht deterministisch verstanden werden. Akteure werden von den Formen in ihrem Handeln keineswegs determiniert, vielmehr reproduziert jeder Akteur, der den Staat zur Lösung gesellschaftlicher, z.B. sozial-ökologischer Probleme anruft, damit den Staatsfetisch (als Erscheinungsweise der Staatsform): den Glauben, der Staat sei eine von den Interessen, Macht- und Herrschaftsverhältnissen kapitalistischer Vergesellschaftung getrennte gesellschaftliche Allgemeinheit, die eben die scheinbar nur ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und ihre Krisen (oft zu Marktgesetzen trivialisiert) korrigieren könne. Diese Staatsform zu erkennen bedarf es der theoretisch angeleiteten Kritik.53 Und es ist eben keine Naturgesetzlichkeit, dass diese Formen notwendigerweise auch reproduziert werden. Der Nachsatz im obigen Zitat verweist auf diesen Sach49 Eine andere Frage ist es, inwieweit es sogar noch mehr strukturelle Formen gibt, die den gleichen theoretischen Status haben. Vgl. dazu Boyer 1990, Raza 2003 und die Kritik von Görg 2003. 50 Hirsch 1994, S. 161. 51 Vgl. Görg 1994a. 52 Vgl. Giddens 1988. 53 Und diese erstmal für die Wertform geleistet zu haben bleibt das Verdienst der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie; vgl. Brentel 1989.

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verhalt und lässt sich auch als Ausblick auf den radikalen Reformismus lesen: die sozialen Formen gewährleisten, dass sich eine Gesellschaft „trotz und wegen ihrer Widersprüche reproduziert, ohne diese (…) aufzuheben.“ Aber prinzipiell ist das denkbar und stellt das eigentliche Transformationsproblem dar: wie könnte diese Reproduktion selbst verändert werden? Zentral für die Reformulierung der Regulationstheorie durch Hirsch ist damit das Verständnis von sozialen Formen als Widerspruch zwischen kapitalistischen Strukturprinzipien und sozialen Beziehungen bzw. Praktiken, die wiederum „ein widersprüchliche(s) Verhältnis von institutionellem und strukturtransformierendem Handeln“ implizieren.54 In diesem Verhältnis findet der Begriff des radikalen Reformismus seine gesellschaftstheoretische Begründung: es wird deutlich, dass er selbst einen Widerspruch formuliert, nämlich sich zwar notwendig innerhalb der Staatsform zu bewegen, aber gleichzeitig gegen den Staat zu agieren und ihn als Herrschaftsverhältnis in Frage zu stellen.55 Auf dieser Grundlage kann eine analytische Unterscheidung gemacht werden zwischen einem institutionellen (= reformistischen), auf die konflikthafte Ausgestaltung einer Regulationsweise ausgerichteten, und einem strukturtransformierenden Handeln, das nun tatsächlich auf eine Große Transformation abzielt: auf die Überwindung sozialer Verhältnisse, die weiterhin durch die verselbständigten Formen des Kapitalismus beherrscht werden. Gleichzeitig erlaubt die Rekonstruktion der Regulationstheorie durch die materialistische Staatstheorie von Hirsch eine präzisere Analyse der jeweils konkreten institutionellen Konstellationen im Hinblick auf die darin angelegten Machtverhältnisse. Auf ihrem Boden ist es möglich, eine Unterscheidung aufzugreifen und präziser zu fassen, die auf die Staatstheorie von Nicos Poulantzas zurückgeht, der den Staat als materiale Verdichtung von Kräfteverhältnissen bezeichnet hat.56 Hier kommen die beiden Dimensionen des Widerspruchs zusammen: die sozialen Konflikte, die sich in spezifischen Kräfteverhältnissen in den Institutionen verdichten, wie auch die „spezifische materielle Struktur des Staates“, die sich nach Poulantzas nicht auf diese Kräfteverhältnisse reduzieren lässt.57 Da Poulantzas jedoch die Marxsche Formanalyse ignoriert, fehlt ihm eine Begründung für diese spezifische Materialität, die in der Verselbständigung gesellschaftlicher Verhältnisse ihren Grund hat.58 Für Hirsch ist genau dieser Widerspruch zentral zwischen Institutionen als Verdichtung von Kräfteverhältnissen, in die sich die je konkreten Interessen und Machtverhältnisse eingeschrieben haben, und der Staatsform, die diesen Kräfteverhältnissen eine eigene Form oder Materialität vorgibt.59 An dieser Unterscheidung, die natürlich nicht 54 55 56 57 58 59

Esser/Görg/Hirsch 1994, 217. Vgl. Holloway 2002 sowie den Beitrag von Roth in diesem Band. Poulantzas 2002, S. 154ff. Poulantzas 2002, S. 40. Vgl. Hirsch/Kannankulam 2006. Hirsch 1994.

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dichotomisch, sondern dialektisch gedacht werden muss, bemisst sich damit auch ein radikaler Reformismus als einer „Praxis, die sich eben dieser Formbestimmung partiell entzieht und sie dadurch tendenziell überschreitet“.60 Diese Überschreitung lässt sich damit auch nicht mehr als einmaliger, kurzfristiger Akt interpretieren, sondern verweist auf soziale Lernprozesse, in der immer wieder die Transformation (selbst-)kritisch reflektiert und konkret abgesichert werden muss. So gesehen besteht auch eine Große Transformation nicht aus einem einzigen revolutionärem Akt, sondern aus einer Vielzahl inkrementeller Veränderungen, bei denen sukzessive völlig veränderte Formen gesellschaftlicher Synthesis entstehen.

6. Von der Aktualität des Radikalen Reformismus: Wie lassen sich kleine und große Transformationen zusammendenken? Das Konzept des radikalen Reformismus ist also weder eine Zauberformel noch eine Mobilisierungsstrategie, die direkt zur politischen Arbeit verwendet werden könnte. Zumindest der Reformbegriff hat in den letzten Jahren Schaden genommen und dürfte kaum noch umstandslos zur Motivierung einer radikalen Praxis tauglich sein. Wenn nach einer langen Phase neoliberaler Hegemonie eine radikale Veränderung der Gesellschaft wieder denkbar wird, dann taucht allerdings das Problem wieder auf, für das dieser Begriff als Orientierungsfolie dienen kann: Wie lassen sich politische Initiativen und Strategien daraufhin reflektieren, sowohl historisch konkrete Krisen und Konflikte ernst zu nehmen und auf diese so zu reagieren, dass die Problemdeutungen und die sozialen Interessen der Akteure aufgegriffen werden können, ohne die grundsätzliche Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen und eine radikale Transformation der globalen Gesellschaften aus dem Auge zu verlieren? Beide Dimensionen sind wichtig – und zu einer integrativen Betrachtung und Analyse bedarf es einer Gesellschaftstheorie, die sowohl die historische Variabilität des Kapitalismus zu erfassen vermag als auch an der Erkenntnis einer Fortdauer zentraler kapitalistischer Strukturprinzipien in kritischer Absicht festhält. So verstanden betont das Konzept des radikalen Reformismus einen Erkenntnisgewinn der Regulationstheorie, nämlich die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus nicht zu unterschätzen! Bislang ist es noch immer gelungen, selbst radikale Kritik in gesellschaftliche Stabilität zu verwandeln. Daher müssen die institutionellen Konstellationen und die darin eingeschriebenen Machtverhältnisse und Gestaltungsstrategien genau analysiert werden: sie sind als Bezugspunkt für Konflikte unerlässlich. Diese Konflikte haben immer auch eine reformistische Dimension, insofern sie auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen im hier und jetzt abzielen. Wer diese Di-

60 Esser/Görg/Hirsch 1994, S. 217.

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mension – und damit die Notwendigkeit kleiner Transformationen – völlig ignoriert, dem kann mit Hirsch entgegengehalten werden, nur Wissen über gesellschaftliche Individuen zu produzieren, aber ihrer Selbstorganisation gegenüber abstrakt zu bleiben. Institutionalistische Strategien, weil reformistisch, sind deshalb nicht weniger wichtig, denn der etablierte institutionelle Rahmen ist zentral für alle weiteren Konflikte und Auseinandersetzungen auch in und zwischen den Institutionen (vgl. mit Blick auf das Lohnarbeitszeitverhältnis und das Konzept der Sozialen Infrastruktur den Beitrag von Martin und Wissel in diesem Band). Aber kleine Transformationen reproduzieren eben auch die grundsätzlichen Widersprüche des Kapitalismus und können seine interne Krisenhaftigkeit nicht beseitigen. Daher stehen sie mehr und mehr in Verdacht, die Probleme nur in Raum und Zeit zu verschieben: als Externalisierungsgesellschaft hat dies Stephan Lessenich jüngst bezeichnet.61 Sowohl die Externalisierung in andere Länder und Weltregionen wie auch für künftige Generationen ist aber in sozial-ökologischer Perspektive höchst brisant. Wenn im Kern der ökologischen Problematik heute eine imperiale Lebensweise steht, eine spezifische Produktions- und Lebensweise, die zutiefst vom globalen Kapitalismus wie den aktuellen Machtverhältnissen geprägt ist, dann sind kleine Transformationen keine ausreichende Antwort darauf.62 Denn dann muss an den tiefliegenden kapitalistischen Strukturprinzipien angesetzt werden und eine radikale Transformation anvisiert werden. Wie aktuelle Konflikte und Gegenstrategien zeigen, sind die Erfahrungen, auf deren Hintergrund heute agiert wird, höchst unterschiedlich. Während in Europa und Nordamerika die Degrowth-Bewegung große Hoffnungen auf sich bündelt63, artikuliert in Lateinamerika der Begriff des Post-Extraktivismus viel stärker die historischen Erfahrungen.64 Und in Ländern wie Deutschland sind es Bewegungen wie Ende Gelände, die eine radikale Klimapolitik (international artikuliert von Netzwerken wie Climate Justice Now!65) für einen Nationalstaat konkretisieren, der sich rhetorisch als Vorreiter des Klimaschutzes geriert ohne zentrale Bausteine einer fossilistischen Energiepolitik aufgeben zu wollen. Aber selbst wenn es gute Gründe gibt, diese Praxen als Ausdruck eines radikalen Reformismus zu interpretieren – es bleibt dem weiteren Fortgang der multiskalaren Konflikte und Kräfteverhältnisse überlassen, ob sich diese wirklich zu einer Großen Transformation verdichten, oder doch nur zu einem Grünen Kapitalismus.

61 62 63 64 65

Lessenich 2016. Brand/Wissen 2017. Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V./DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften 2017. Brand 2016b. Görg/Bedall 2014.

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John Holloway1 Die Staatsableitungsdebatte. Eine erinnernde Reflexion2

Über die Staatsableitungsdebatte zu schreiben, ist für mich unvermeidlich mit dem Erinnern verbunden, aber ebenso sehr mit der Reflexion auf die anhaltende enorme Bedeutung der Debatte.3 Gemeinsam mit Sol Picciotto stieß ich in einem bestimmten historischen Kontext zur Debatte. 1975 gab es ein Referendum über den britischen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (ein anderes Referendum mit einem anderen Ausgang verglichen mit dem Referendum von 2016) und im Rahmen der Conference of Socialist Economists (CSE)4 hatten wir ein Treffen zu dem Thema organisiert. Dort kamen wir zu der Schlussfolgerung, dass es notwendig sei, den Staat und sein Verhältnis zum Kapital zu verstehen, wenn wir die Frage der europäischen Einigung verstehen wollten. Wir bildeten eine Diskussionsgruppe über den Staat, die sich regelmäßig (manchmal monatlich) in London traf und die sich für einige Jahre zu einem wichtigen Ort der Debatten entwickelte. In diesem Zusammenhang haben Sol Picciotto und ich (er war Professor an der Universität Warwick und ich an der Universität Edinburgh) begonnen, uns auf die deutsche Debatte zu konzentrieren, in der Überzeugung, dass es sich um einen sehr viel schlüssigeren Ansatz als den anderer, damals einflussreicher Theoretiker, darunter zuvörderst Miliband5 und Poulantz-

1 Eine subversive und freudige Fußnote. Ich weiß, dass es sich hier um ein ernsthaftes Buch über den Staat handelt, für mich jedoch ist es auch ein Fest, eine Festschrift. Joachim Hirsch wird seinen achtzigsten Geburtstag feiern und dies bedeutet mir sehr viel. In meinen jungen Jahren übte Joachim einen überragenden Einfluss auf mich aus. Lange Jahre war ich von der brillanten Verständlichkeit seines Schreibens sowohl beeindruckt als auch überwältigt. Später erlangte ich das Selbstvertrauen, ihm zu widersprechen, aber ich habe ihn weiterhin mit großer Bewunderung und Zuneigung gelesen. Deswegen möchte ich in Wirklichkeit sagen: Hurra, hurra! Es ist eine Festschrift zu Joachims achtzigstem Geburtstag! Welch Freude, welch Vergnügen, welch Ehre, um einen Beitrag gebeten worden zu sein! Eine Festschrift, aber in Wahrheit ein Fest! Lasst uns feiern! 2 Eine frühere Version dieses Beitrags ist auf Spanisch erschienen in: Bonnet/Piva 2017. 3 Ich danke Lars Stubbe für die Übersetzung und die Fußnoten. 4 Nicht-sektiererische, internationale, demokratische Mitgliedsorganisation mit dem Ziel der Entwicklung einer materialistischen Kritik des Kapitalismus. Gibt seit 1977 die Zeitschrift „Capital and Class“ heraus; Anm. d. Ü. 5 Ralph Miliband (1924-1994), brit. Marxist, 1940 vor dem Faschismus aus Belgien geflohen, gehörte zum Kreis der kritischen marxistischen Linken um E.P. Thompson, Mitgründer des New Left Review, Vater der Labourpolitiker David und Edward M.; Anm. d. Ü.

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as,6 handelte.7 Diese Zusammenarbeit führte zur Veröffentlichung des „Capital, Crisis and the State“ betitelten Aufsatzes in Capital and Class,8 der Zeitschrift der CSE, und schließlich zur gemeinsamen Herausgeberschaft der deutschen Debatte, erstmalig auf Englisch: The State and Capital: A Marxist Debate.9

1. Paschukanis und zentrale Argumente der Staatsableitung Die Staatsableitungsdiskussion eröffnete uns eine andere Form, den Staat, das Kapital und die marxistische Theorie zu verstehen. Die Debatte beginnt mit einem in der Tat außerordentlichen begrifflichen Sprung von Wolfgang Müller und Christel Neusüß.10 Ausgehend von einer gründlichen Neulektüre des Kapitals, die sich in jenen Jahren (als Folge von 1968 und der Studentenbewegung) in Deutschland entwickelte, fokussierten sie sich auf die Methodologie von Marx als Prozess der Ableitung der unterschiedlichen Formen kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Im Kapital beginnt Marx mit der Ware, aus ihr leitet er den Wert ab, aus diesem den Doppelcharakter der Arbeit, aus diesem das Geld, daraus das Kapital und so weiter. Aus dieser Lesart des Kapitals folgt, dass eine ernsthafte Reflexion über das Verhältnis zwischen Kapital und Staat das Problem dahingehend stellen musste, dass der Staat als Form der Gesamtheit der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse abgeleitet wurde. Dies war ein vollständiger Bruch mit allem, was über den Staat aus marxistischer Perspektive geschrieben worden war, mit einer einzigen Ausnahme. Diese Ausnahme stellte das 1924 von Eugen Paschukanis in Moskau veröffentlichte Buch „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“ dar, ein bis dahin im Westen nur wenig bekanntes Buch. Paschukanis näherte sich dem Verständnis des Rechts und des Staats durch eine sorgfältige Analyse der Ware und kam zu dem Schluss, dass sich der Staat als Form spezifisch kapitalistischer Verhältnisse, genauso wie der Wert oder das Geld, verstehen lassen müsse. Mit dieser Argumentation geriet er mit den Anstrengungen Stalins und seiner Anhänger, die Sowjetunion als Arbeiterstaat zu konsolidieren, in Widerspruch, was letztlich 1937 zu Paschukanis Hinrichtung führte (vgl. den Beitrag von Buckel und Kannankulam in diesem Band). Paschukanis stellte die Frage: „[W]arum bleibt die Klassengesellschaft nicht das, was sie ist, d.h. die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die 6

Nicos Poulantzas (1936-1979), griechisch-französischer Politikwissenschafter, sah den Staat als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“; Anm. d. Ü. 7 Zwischen den beiden entwickelte sich ab 1969 eine lang anhaltende theoretische Kontroverse, die als „Poulantzas-Miliband-Debatte“ großen Einfluss auf die marxistische staatstheoretische Debatte hatte. Vgl. Poulantzas 1969; 1976; 1978; Miliband 1975 [1969]; 1970; 1973; Anm. d. Hrsg. 8 Holloway/Picciotto 1977. 9 Holloway/Picciotto 1978a. 10 Müller/Neusüß 1970.

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andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an […]?“11 Dies wurde zur zentralen Frage in der Debatte. Während Miliband den kapitalistischen Charakter des Staates durch die persönlichen Verbindungen zwischen Funktionären und Kapitalisten zu erklären suchte und Poulantzas eine marxistische politische Theorie zu entwickeln suchte, um die er die im Kapital entwickelte Theorie, die er als ökonomische Theorie begriff, zu ergänzen suchte, ging die deutsche Debatte von einem Verständnis des Kapitals als einer Einheit besonderer Herrschaftsformen aus und versuchte die Besonderheit des Staates in dieser Einheit zu verstehen, das heißt, sie versuchte die Besonderung der Form Staat abzuleiten. Während Poulantzas von dem Verhältnis zwischen Staat und Kapital in Begriffen der „relativen Autonomie“ des Staats sprach, ein Konzept, das die Idee eines radikalen Wandels durch die Übernahme der Staatsmacht stützte, betonte die Vorstellung der Besonderung des Staates das Verhältnis der Einheit-in-der-Trennung, Trennung-inder-Einheit zwischen dem Staat und dem Kapital, was die Unmöglichkeit der Veränderung der Gesellschaft mittels des Staates implizierte. Die Auffassung, dass der Staat eine besondere Form des Kapitals ist, hatte wichtige Konsequenzen für das Verständnis des Staates aber auch für den Begriff des Kapitals. In der strukturalistischen Tradition (und der der kommunistischen Parteien) wurde das Kapital als eine ökonomische Kategorie aufgefasst und Das Kapital war das Grundlagenwerk der marxistischen Ökonomie. Mit der Staatsableitungsdebatte kommt eine ganz andere Lesart des Kapitals auf, in der es um die Kritik der politischen Ökonomie geht und um ein Verständnis des Kapitals als Gesamtheit der Herrschaftsbeziehungen in dieser Gesellschaft und nicht als ökonomisches Phänomen. Die Ableitung des Staats vom Kapital bedeutet nicht die Ableitung des Politischen aus dem Ökonomischen, sondern die Ableitung der Besonderung des Politischen und des Ökonomischen aus der grundlegenden Struktur der Herrschaftsbeziehungen. Das heißt, der Umstand, dass die Ausbeutung durch den Kauf und Verkauf der Arbeitskraft als Ware vermittelt ist, bedeutet eine Trennung zwischen dem Ökonomischen (der Prozess der Vermarktung und Ausbeutung) und dem Politischen (die außerökonomische Instanz, die auf die Absicherung der Reproduktion der Gesamtheit der Herrschaftsbeziehungen zielt). Das Ökonomische und das Politische sind durch ihre Besonderung konstituiert und sind spezifisch kapitalistisch. Der Staat ist weder seines Handelns wegen kapitalistisch, noch aufgrund der Funktionen, die er erfüllt, sondern wegen seiner Form. Er ist schon deshalb kapitalistisch, einfach weil er eine vom Prozess der Produktion und Ausbeutung getrennte Instanz ist. Seine Trennung oder Besonderung bedeutet, dass er vom Ausbeutungsprozess abhängt, um 11 Paschukanis 1969, S. 119-120. Der Satz schließt folgendermaßen: „[…] oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwangs nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“; Anm. d. Ü.

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seine Einnahmen und damit seine materielle Existenz zu erhalten. Seine eigene Existenz hängt davon ab, dass er alles dafür tut, die notwendigen Bedingungen der Reproduktion des Kapitals sicherzustellen. Seine Funktion leitet sich von seiner Form ab. Dies bedeutet unter anderem, dass jede Regierung eines Staates, handele es sich nun um eine linke oder eine rechte Regierung, die Akkumulation des Kapitals vorantreiben muss. Es mag dafür unterschiedliche Strategien geben, aber letztlich müssen alle Staaten das Ziel der Kapitalakkumulation (das heißt, die Ausweitung der Macht des Kapitals und des Geldes) verfolgen. Wenn wir in Betracht ziehen, dass die Kapitalakkumulation ein weltweiter Prozess ist und dass der Staat in Wirklichkeit eine Vielzahl von Staaten ist (dies ist der bedeutende Beitrag Claudia von Braunmühls zur Debatte12), dann bedeutet das, dass alle Staaten im Wettbewerb zueinander stehen, um Kapital auf ihrem Territorium anzuziehen, das heißt, um die besten Akkumulationsbedingungen für das Kapital sicherzustellen (ein Thema, das von Joachim Hirsch in seinem Buch über den Wettbewerbsstaat entwickelt wurde).13 Das soll nicht heißen, dass ein enges Verhältnis zwischen dem Staat und den Kapitalisten bestehen muss, ganz im Gegenteil: Diese Verbindung besteht manchmal (wie zum Beispiel in der Zusammensetzung der gegenwärtigen US-Regierung), aber sie kann ein Hindernis für die Schaffung der bestmöglichen Bedingungen für die Kapitalakkumulation im Allgemeinen sein. Es ist ein systematischer Druck, der aus der grundlegenden Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse resultiert, nicht aus der Zusammensetzung, noch der Ideologie der Regierungen.

2. Logik und Klassenkampf In unserem Buch „State and Capital“ wurde die Debatte zum ersten Mal auf Englisch publiziert und wir drückten in unserer Einleitung auch einige Zweifel aus. Diese Zweifel hingen mit dem Verhältnis zwischen der Logik des Kapitals und dem Klassenkampf zusammen. Wir hatten von Joachim Hirschs Artikel über „The State Apparatus and Social Reproduction“14 (der für mich den mit Abstand wichtigsten Beitrag zur Debatte darstellte und der mich enorm beeinflusste, wofür ich dem Autor sehr dankbar bin) gelernt, dass Akkumulation Klassenkampf ist, aber wir waren der Auffassung, dass er vielleicht die Bedeutung dessen, was er dort sagte, selbst nicht ganz wahrgenommen hatte, dass er (und alle anderen Beteiligten der Debatte) weiterhin dazu tendierten, die Logik des Kapitals von der Logik des Klassenkampfs zu trennen. Deswegen kommentierten wir seinen Artikel folgendermaßen: 12 von Braunmühl 1974. 13 Hirsch 1995. 14 Bei diesem in „State and Capital“ aufgenommenen Artikel handelt es sich um die Übersetzung des 1. (S. 14-81) und des 5. Kapitels (S. 370-388) von Hirsch 1974.

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„Das Argument, dass die Akkumulation ein formbestimmter und krisengeschüttelter Prozess des Klassenkampfs sei (und dass folglich der Klassenkampf als auf den Kampf zur Akkumulation fokussiert und durch ihn geformt aufzufassen ist), stellt vielleicht eine kaum merkliche Verschiebung zur Behauptung dar, dass das Verhältnis zwischen Akkumulation und Staatsaktivität als durch den Klassenkampf vermittelt anzusehen ist. So wenig bemerkbar die Verschiebung auch sein mag, können die Folgen doch gravierend sein: Während die Betonung auf Ersterem zu einer Analyse der Trennung und des Wechselverhältnisses zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen im konkreten Prozess der Restrukturierung des Kapitals führen würde, ist die Betonung des Letzteren anfällig für die Vorstellung, dass es einer Analyse des ‚fehlenden (politischen) Bindegliedes‘ zwischen dem (ökonomischen) Akkumulationsprozess und dem staatlichen Handeln bedürfe; es scheint uns aussichtsreicher, den ersten Weg zu verfolgen, die Analyse der Akkumulation als Klassenkampf“.15

Und so war es auch: Joachim Hirsch hat seine Arbeit in vielen Büchern weiterentwickelt, anfangs unter Rückgriff auf von Poulantzas entnommenen Kategorien, um seine Vorstellungen zu konkretisieren. Es waren immer brillante Werke, die mich jedoch nie vollständig überzeugen konnten. Die Staats-Form16 und ihre praktischen und politischen Implikationen haben stattdessen immer meine größere Aufmerksamkeit erregt. Dabei gab es mehr oder weniger gleichzeitig Sachen. Zuerst schrieb ich gemeinsam mit anderen unter dem Kollektivnamen London Edinburgh Weekend Return Group ein kleines Buch mit dem Titel „In and Against the State“ [In-und-gegen-den-Staat].17 Damit wollten wir die Debatte viel praktischer und zugänglicher machen, mit Interviews und Fotos. Unser Dilemma als Beschäftigte im Staate, als LehrerInnen, als KrankenpflegerInnen, als SozialarbeiterInnen, als BusfahrerInnen, stellte den Ausgangspunkt dar. Wenn wir sagen, dass der Staat kapitalistisch ist und wir antikapitalistisch sind, wie können wir dann das sogenannte Penelope-Syndrom18 vermeiden: Als Beschäftigte des Staates erschaffen wir tagsüber den Staat, als Aktivisten versuchen wir, ihn nachts abzuschaffen? Unsere Antwort bestand darin, eine begriffliche Trennung zwischen dem Staatsapparat und der Staats-Form zu ziehen: Auch wenn wir innerhalb des Staatsapparates arbeiten, gibt es doch Möglichkeiten, gegen die Staats-Form anzugehen, mit dem Staat als Form gesellschaftlicher Verhältnisse zu brechen, die

15 Holloway/Picciotto 1978b, S. 28. 16 Mit Staats-Form ist hier nicht die politologische Debatte um verschiedene Formen der territorialen Machtausübung gemeint, sondern der Begriff der Form im marxistischen Sinne, also der Form, in der das widersprüchliche Kapitalverhältnis sich ausdrückt. Deswegen auch der Neologismus; Anm. d. Ü. 17 London Edinburgh Weekend Return Group, 1979. 18 In der griechischen Mythologie wartet Penelope auf ihren Mann Odysseus während seiner Irrfahrten und weist andere Männer mit dem Hinweis ab, dass sie erst zu Ende weben muss. Das am Tag Gewebte, löst sie in der Nacht wieder. Als dies aufgedeckt wird, stellt sie den Männern unlösbare Aufgaben. Wird in der Psychologie auch als Synonym für die Aufopferung der Frau verwendet, was jedoch von Feministinnen kritisiert wird; Anm. d. Ü.

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Trennung zwischen Staat und Gesellschaft in unserer Praxis aufzuheben. Dies war der erste Versuch, die Form als Prozess zu begreifen, der sich mit einer ihm entgegengesetzten Bewegung konfrontiert sieht. In dem Titel „In and Against The State“ verbirgt sich jedoch eine Doppeldeutigkeit, die erwähnt werden muss, weil sie in den jüngsten Debatten der Labour Party in Großbritannien wieder aufgekommen ist. Unser Argument zielte auf das Dilemma derjenigen von uns ab, die durch ihre Lebensaktivitäten innerhalb des Staates situiert waren und die dennoch einen Weg finden wollten, ihre alltäglichen Aktivitäten gegen das Kapital auszurichten. Wir traten ganz bestimmt nicht dafür ein, dass wir als Politiker in den Staat gehen sollten und den Staat gegen sich selbst ausrichten sollten. Aber in diesem Sinne wird es in der Labour-Linken heute verwendet. Zweitens schrieb ich mehr oder weniger zur selben Zeit einen Artikel, den ich auf einem Kongress in Puebla 1979 präsentierte und in dem ich die Vorstellung der Form als „Form-Prozess“ (ein Begriff, den ich von Sohn-Rethel übernahm19) entwickelte. „Es ist deshalb entscheidend, dass wir diese Formen nicht als statische Entitäten begreifen, sondern als ‚Form-Prozesse‘ (Sohn-Rethel), als Prozesse, in denen die sich beständig verändernden, aber immer fragmentierten Formen gesellschaftlicher Verhältnisse dem durch die Klassenunterdrückung unvermeidlich hervorgerufenen Widerstand aufzuzwingen versucht. Die bestimmten Formen des Kapitals sind nicht nur die Formen der Existenz des Kapitals, sondern die Form-Prozesse, durch die das Kapital reproduziert wird. Das Kapital wird durch die beständige Formierung gesellschaftlicher Aktivität reproduziert“.20

Den Staat als Prozess der Formierung zu begreifen, bedeutet, die Kategorie zu öffnen. Es bedeutet, den Staat als transitives Verb zu verstehen. Wenn der Staat ein Prozess der Formierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist, ist es ein Prozess der StaatsWerdung, der Kanalisierung der menschlichen Aktivität innerhalb bestimmter Muster, die mit der Reproduktion des Kapitals kompatibel sind. Den Staat als Form-Prozess zu denken, bedeutet ebenfalls, dass es eine gegenläufige Bewegung gibt, etwas, das das Objekt dieser Kanalisierung ist, das heißt, es existieren Anti-Staaten, Bewegungen oder Formen, die Sachen zu tun, die nicht mit der Reproduktion des Kapitals kompatibel sind. Innerhalb der Tradition antikapitalistischer Bewegungen existiert beispielsweise eine lange Tradition antistaatlicher Organisierung: die Versammlung 19 Sohn-Rethel 1989, S. 9. Während der Begriff „form processes“ in der von Sohn-Rethels Sohn Martin vorgenommenen Übersetzung mehrfach verwendet wird, setzt Sohn-Rethel den Begriff „Formprozess“ selbst nicht ein. In der letzten Auflage spricht er von „Formveränderung“, in der 2. Auflage spricht er eingangs von der „Formauffassung“, die die Marxsche Denkweise charakterisiere und dann davon, dass bei Hegel der „formverändernde und formgenetische Prozess (…) primär Denkprozeß“ sei. Schließlich charakterisiert er den Marxschen Zeitbegriff als „menschengeschichtliche Zeit“, was voraussehende Aussagen über die Form verunmögliche, ergo der Begriff des Form-Prozesses; Anm. d. Ü. 20 Holloway 1991, S. 239.

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oder der Rat oder der Sowjet. Es ist eine Organisationsform, die versucht, der kollektiven Selbstbestimmung zum Ausdruck zu verhelfen, wohingegen der Staat, mit seiner Trennung zwischen Beamten und Bürgern, mit seiner Anpreisung der Herrschaft des Geldes, das genaue Gegenteil davon ist, eine Organisationsform, die die Möglichkeit kollektiver Selbstbestimmung ausschließt. Wir haben die Kategorie Staat geöffnet und stießen auf einen durch die Form verdeckten Konflikt: der Konflikt zwischen der Staats-Werdung (als Moment der Durchsetzung der Herrschaft des Kapitals) einerseits und andererseits der Anti-Staats-Werdung, der Revolte gegen den Staat und dem Drang hin zu einer anderen Form, das Leben zu organisieren. Wenn der Staat als Prozess, als Verb aufgefasst werden muss, dann lässt sich dasselbe über alle kapitalistischen Formen gesellschaftlicher Verhältnisse sagen. Das Geld ist ein Prozess der Monetarisierung von Beziehungen zwischen Personen, ein sehr realer Prozess, der täglich Tausende und Abertausende Menschen tötet und der einer gegensätzlichen und beständigen Bewegung gegenübersteht, also allen Versuchen, gesellschaftliche Verhältnisse auf einer Grundlage ohne Geld zu schaffen. Die Arbeit kann auch als „Arbeits-Werdung“ der menschlichen Aktivität bezeichnet werden, eine Verwandlung der menschlichen Aktivität in Wert schaffende Arbeit. Marx hat den Begriff „Arbeits-Werdung“ im Kapital nicht verwendet (wie gut!): er spricht von der Abstraktion der Arbeit, was dieselbe Bedeutung hat. Auch von der Klasse können wir als Klassifizierung von gesellschaftlichen Verhältnissen sprechen, und wir stellen fest, dass es das ist, wovon Marx in der Diskussion der einfachen Reproduktion des Kapitals spricht: dass die Akkumulation die Menschen beständig in Proletarier und Kapitalisten klassifiziert, was uns dazu bringt, den Klassenkampf aus unserer Perspektive als einen Kampf gegen die Klassifizierung, als Anti-Klassenkampf, als Kampf gegen die Identität, zu verstehen. Die Logik des Kapitals, der Ausgangspunkt der Staatsableitungsdiskussion, ist eine Logik-Werdung (ein weiteres Wort, das Marx glücklicherweise nicht verwendet), ein beständiger Kampf zur Durchsetzung der Kohärenz der kapitalistischen Formen in den gesellschaftlichen Verhältnissen, ein Angriff, der die Welt an den Rand der finalen Vernichtung der Menschheit bringt. Doch glücklicherweise ist das kein Gesetz, sondern ein Kampf, der eine entgegengesetzte Bewegung hervorruft, ein beständiger und dringlicher Kampf, um das Fortschreiten dieser Logik aufzuhalten.

3. Und nun? - gegen die sozialen Formen! Damit bringt uns die Staatsableitungsdebatte von der Form zur Anti-Form: Die gegen die kapitalistische Aggression gerichtete Erschaffung anderer Formen des Lebens, anderer Formen, die Sachen zu machen. Was als Debatte über die Impulse und

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Grenzen des staatlichen Handelns beginnt, verwandelt sich in eine Untersuchung der antistaatlichen Formen oder der antistaatlichen Anti-Formen. Es war diese Idee, die mich in eine andere Richtung führte, weg von Joachim Hirsch, aber unsere Meinungsverschiedenheiten, die zum Beispiel in seinen Besprechungen meiner Bücher Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen und Kapitalismus aufbrechen21 und meinen Antworten zum Ausdruck kamen, waren für mich immer eine großartige Quelle der Inspiration und der Freude: Freude einfach deswegen, weil es ein großes Vergnügen ist, mit jemandem zu streiten, den man bewundert und mag.22 Und heute? Ich denke, dass die Staatsableitungsdebatte heute wichtiger denn je ist. Die Regierungen eines Landes nach dem anderen, die sich selbst als radikal oder gar revolutionär dargestellt haben, sind umgedreht und haben sich der Logik des Kapitals unterworfen: Die Syriza-Regierung ist wahrscheinlich das am meisten Übelkeit erregende Beispiel in jüngsten Jahren, aber Venezuela, Bolivien und all die anderen Regierungen der sogenannten „rosa Welle“ in Lateinamerika vor ein paar Jahren, standen dem kaum nach. Und dennoch setzen so viele Menschen all ihre Hoffnung weiterhin in Corbyn oder Sanders oder Mélenchon oder Podemos oder Die Linke, warum? Warum lesen sie nicht einfach die Staatsableitungsdebatte und insbesondere Joachim Hirschs Beiträge dazu? Dann könnten sie wenigstens ernsthaft darüber nachdenken, wie die Verhältnisse zu ändern sind. Es ist besser, über ein Problem nachzudenken, das wir nicht lösen können, als eine Antwort zu verfolgen, von der wir wissen, dass sie falsch ist. Und heute? Ich frage mich, ob es ein Fehler war, die Staatsableitungsdebatte als eine Debatte über den Staat und nicht über die Ableitung aufzufassen. Der Begriff der „Ableitung“ stellte die wirklich bemerkenswerte Neuerung in Müllers und Neusüß‘ Darstellung des Problems dar. Vielleicht waren wir zu der Zeit zu sehr nicht-hinterfragende Marxisten. Ich glaube, wir dachten, „Marx leitet seine Kategorien ab, deswegen müssen wir unsere Kategorien ableiten“, ohne wirklich darüber nachzudenken, was Ableitung eigentlich bedeutet. Möglicherweise erschwert jungen Menschen heute dieser unhinterfragte Begriff der Ableitung ein Verständnis der Bedeutung der Debatte. Damit will ich nicht sagen, dass der Ansatz zum Verständnis des Staates über den Begriff der Ableitung falsch war. Im Gegenteil, ich denke, er war richtig und ist es heute umso mehr, aber vielleicht erfolgte die Darstellung damals zu sehr in der Form einer textlichen Exegese, nach dem Motto „Marx sagt, deshalb…“. Warum denke ich, dass der Begriff der Ableitung heute sogar wichtiger ist als er es damals war? Weil ich denke, dass er auf einem Verständnis des Kapitals als einer globalen Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse gründet. Weil das Kapital eine 21 Holloway 2002; 2010. 22 Hirsch 2003; Holloway 2003.

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Form gesellschaftlicher Verhältnisse ist, die zunehmend ihre Dynamik der Ausdehnung des Werts (Profit) auf jeden Aspekt der gesellschaftlichen Existenz in der Welt ausweitet, können wir von einer Logik des Kapitals sprechen und so eine besondere Form von der anderen ableiten. Eine Logik des Kapitals existiert in dem Ausmaß, dass es eine kohärente Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse gibt. Die Existenz einer solchen Totalität ist immer eine Frage des Kampfes: Die Bewegung des Kapitals ist ein beständiger Kampf zur Totalisierung, zur Unterordnung jeden Moments gesellschaftlicher Existenz unter seine Logik der Expansion des Werts. Die Logik des Kapitals ist kein Gegebenes: Sie ist immer ein Kampf, immer eine historische Bewegung, kann niemals als gegeben vorausgesetzt werden, ist aber als riesige Kraft in unserem individuellen und gesellschaftlichen Leben immer präsent. Man kann sagen, dass diese totalisierende Kraft heute viel stärker als zu Zeiten der Staatsableitungsdebatte ist. Die Präsenz des Kapitals in jedem Moment unseres Lebens ist vielleicht stärker als sie es vor vierzig Jahren war, zum Beispiel durch Verschuldung. Dies trifft sicher zu, wenn wir an den Staat denken: Die weltweite und andauernde Expansion der Schulden, das heißt, des enormen Überhangs fiktiven Kapitals im Verhältnis zur realen Ausbeutung, hat zur Folge, dass alle Staaten mehr oder weniger direkt dem Diktat der Kapitalakkumulation unterworfen sind; erneut können wir auf das Übelkeit erregende Beispiel Griechenlands verweisen. Anders ausgedrückt, es kommt zu einem verschärften Greifen der Logik des Kapitals und die Kraft logischer Ableitung als Schlüssel zum Verständnis der Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft wird gestärkt. Selbstverständlich immer als Kampf, aber als sich intensivierendes gesellschaftliches Zusammenhängen, das uns immer deutlicher sagt, dass es keinen anderen Weg voran gibt, als den des Bruchs mit der ganzen systemischen Logik durch die Schaffung anderer Formen des Sich-Aufeinander-Beziehens. Übersetzung aus dem Englischen und Spanischen: Lars Stubbe.

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Sonja Buckel und John Kannankulam Von der Staatsableitung zur Formanalyse. Zur formanalytischen Begründung des Staates bei Joachim Hirsch – und der Notwendigkeit einer rechtsformanalytischen Erweiterung

1. Einleitung Joachim Hirschs staatstheoretische Anfänge stehen im Kontext der sogenannten westdeutschen „Staatsableitungsdebatte“. Innerhalb dieser v.a. in den 1970er Jahren geführten Debatte nimmt Hirsch eine besondere Stellung ein. Er war einer der wenigen Autoren, der die in der Debatte aufkommenden Kritiken stetig aufnahm und produktiv weiterentwickelte. Er hat sich kontinuierlich mit den in der Ableitungsdebatte aufgeworfenen staatstheoretischen Fragen bis in die Gegenwart beschäftigt. Zugespitzt lässt sich sagen, dass die hier aufgeworfenen Problemstellungen bis heute einen Kern der Hirsch’schen Staatstheorie darstellen. Historisch steht diese Debatte im Kontext der gerade vergangenen Student_innenrevolten der 60er Jahre, dem Erlass der Notstandsgesetze, der Frage nach der Verstrickung der Adenauer-Generation in die NS-Zeit und, das ist sicherlich zentral, sie steht im Zusammenhang mit der erstmaligen Beteiligung der deutschen Sozialdemokratie an der Regierung nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Die Beteiligung sozialdemokratischer oder sozialistischer Parteien an der Regierung stellte kein deutsches Einzelphänomen dar, so dass diese Zeit sogar als „Phase des sozialdemokratischen Konsenses“ bezeichnet wurde.1 Die Idee, die diese Phase grundlegend kennzeichnete, war die Vorstellung, dass der Kapitalismus über steuernde Eingriffe des Staates dazu gebracht werden könnte, krisenfrei zu verlaufen und dadurch immer mehr Menschen zu Wohlstand zu verhelfen oder gar eine sozialistische Gesellschaft herbeizuführen. Diese Vorstellung, so einer der zentralen Gegenstände der Debatte, galt es aus einer kritisch-marxistischen Perspektive grundlegend zu dekonstruieren und kritisieren.

1 Dahrendorf 1979.

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2. Varianten der Staatsableitung Systematisch betrachtet lassen sich im Anschluss an Norbert Kostede folgende Problemstellungen innerhalb der Debatte identifizieren: Die Frage „nach der Notwendigkeit des Auseinandertretens und der Besonderung von Staat und Gesellschaft“, die Frage des Verhältnisses von Rechtstaatlichkeit und Demokratie zum Klassenstaat, die Problematik der Herausbildung bestimmter Staatsfunktionen sowie die Problematik der „Entwicklung und Auflösung des falschen Bewußtseins über den Staat“.2 Auf diese Fragestellungen wiederum lassen sich vier zentrale Antwortversuche kategorisieren:3 1. Der Versuch, über das Verhältnis von Staat und kapitalistischer Akkumulation zu Antworten zu kommen, oder 2. über das Verhältnis von Staat und Konkurrenz, 3. das Verhältnis von Rechtsstaat und Warentausch, 4. oder aber darauf zu verweisen, dass in der Debatte historische Genese und logische Rekonstruktion immer wieder durcheinandergebracht werden. Im Folgenden wollen wir zunächst ausgehend von dem Artikel von Wolfgang Müller und Christel Neusüß aus dem Jahr 1970, der die Staatsableitungsdebatte eröffnet hat, exemplarisch die ersten drei der genannten Antwortversuche innerhalb der Ableitungsdebatte darstellen. Im Anschluss daran wird gezeigt, wie Hirschs Arbeiten im Kontext dieser Debatte kontinuierlich und gewinnbringend auf die aufgeworfenen Problemstellungen und Kritiken reagierten und wie sein Ansatz um eine rechtsformanalytische Argumentation produktiv erweitert werden kann.

Ausgangspunkt: Müller/Neusüß’ Aufsatz zur Sozialstaatsillusion Mit ihrem Artikel nahmen Müller und Neusüß eine ideologiekritische Dekonstruktion der damaligen staatlichen „Reform- und Planungseuphorie“ aufgrund der Regierungsbeteiligung der SPD (seit 1966) vor.4 Adressaten waren hierbei insbesondere Claus Offe und Jürgen Habermas, die gewissermaßen „organische Intellektuelle“ der keynesianischen Versuche waren, über den Staat die immer wiederkehrenden Krisen der kapitalistischen Produktionsweise in den Griff zu bekommen. Diese Position wurde dahingehend kritisiert, dass derlei Versuche letztlich nichts Anderes als „Illusionen“ bleiben müssten.

2 Kostede 1976, S. 157. 3 Kostede 1976, S. 162ff., vgl. auch Holloway/Picciotto 1978, S. 15ff.; Rudel 1981, S. 102; Kannankulam 2000, S. 7ff. 4 Müller/Neusüß 1970.

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Müller/Neusüß werfen den von ihnen als „revisionistisch“ gebrandmarkten Autoren vor, dass jene verkennten, dass das was durch den bürgerlichen Staat umverteilt werden soll, unter bestimmten Bedingungen produziert wurde. Nicht begriffen werde hierbei, dass die Distribution nur ein Moment im Kreislaufprozess des Kapitals ist; Eingriffe in die Distributionssphäre lassen zunächst einmal die Produktionssphäre unangetastet, was zudem von den "ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft" abstrahiere.5 Exemplarisch zeigen Müller/ Neusüß dies anhand Marx' Darstellung der Entstehung und Durchsetzung der Fabrikgesetzgebung im achten Kapitel des ersten Bandes des „Kapital“. Anhand dieses Beispiels wollen die Autor_innen verdeutlichen, dass es keinesfalls die überschauende Vernunftgabe des Staates war, die zu einer Beschränkung des Arbeitstages und verschiedener Arbeitsschutzgesetze geführt haben, sondern dass diese maßgeblich auf die Kämpfe und Auseinandersetzungen der Arbeiter_innenklasse zurückzuführen sind, die dabei auch auf Fraktionierungen und Spaltungen in der Kapitalistenklasse bauen konnten und mussten.6 Durch die Kämpfe und Auseinandersetzungen konstituiere sich der Staat in „einem doppelten Charakter“.7 Auf der einen Seite würden die sozialpolitischen Funktionen des Staates erst durch die Klassenkämpfe durchgesetzt, was aber zugleich bedeute, dass sich hierbei die Arbeiter_innen auch „als Klasse im Sinne eines handelnden Subjekts“ konstituierten.8 Und hierauf, so die beiden Autor_innen, reagiere „die militärische Unterdrückungsaufgabe des Staates. Wäre nicht die Arbeiter_innenklasse von Zeit zu Zeit gezwungen, für ihr Recht als Warenverkäufer zu kämpfen oder damit zu drohen; so wäre Polizei usw. überflüssig.“9 Problematisch an den Darlegungen von Müller/Neusüß ist, dass sie zwar betonen, dass die abstrakte Notwendigkeit des Staates sich durch konkrete Aktionen handelnder Subjekte – konkret durch Klassenauseinandersetzungen – hindurch vermitteln muss, zugleich aber davon ausgehen, dass die „besonderen juristischen und organisatorischen Formen des kapitalistischen Produktionsprozesses (...) nichts anderes als der notwendige Ausdruck“ ebenjener Prozesse seien.10 Auch die im Anschluss an Marx diskutierte Frage des theoretischen Status bestimmter „Notwendigkeiten“ für den Kapitalismus lässt die Autor_innen in die offenstehende ‚funktionalistische Falle’ abgleiten, aus einer abstrakten Notwendigkeit (für den Bestand des Kapitalismus) konkrete Phänomene abzuleiten. Selbst wenn konzediert werden kann, dass die aus dem Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital sich ergebende Klassenorganisation der Arbeiter_innen ex post betrachtet „die Erhaltung der kapitalistischen Produkti5 6 7 8 9 10

Müller/Neusüß 1970, S. 13. Müller/Neusüß 1970 S. 51-52. Müller/Neusüß 1970, S. 52. Müller/Neusüß 1970, S. 53. Ebd. Müller/Neusüß 1970, S. 15.

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onsweise“11 sicherstellte, führt es definitiv zu weit, diese Organisierung aus einem Erfordernis für den Bestand des Kapitalismus erklären zu wollen. Letztlich erscheint der Staat dann doch als neutrales bzw. vielmehr weises Subjekt, das die Notwendigkeiten für den Bestand kapitalistischer Gesellschaften erkennt, diese allerdings erst durch Klassenkämpfe durchsetzen kann für die Befriedung und Ausgleichung der Gesellschaft. Kritik und Weiterentwicklung dieses wichtigen, die Diskussion um die genaue theoretische Bestimmung des Staates eröffnenden Aufsatzes erfolgte in unterschiedlichen Versionen.

2.1 Staat und Akkumulation Einer derjenigen Autoren, der versuchte den Staat über Probleme und Defizite innerhalb der kapitalistischen Akkumulationsprozesse zu bestimmen, war Elmar Altvater. Ausgangspunkt der Untersuchung war die Zuwendung zu nur „einer Seite staatlicher Aktionen (...), nämlich seinen Aktionen auf die Einzelkapitale“,12 was Altvaters Gesellschaftsbegriff systematisch und bewusst auf diese beschränkt: „Entscheidend für unser Problem ist die Frage, in welcher Weise die reale Zusammenfassung der aus vielen Einzelkapitalen bestehenden Gesellschaft erfolgt und welche Bedeutung dabei dem Staat zukommt.“13 Wichtig hierbei ist nun, dass sich aus der Logik dieser Bewegung und dem darin liegenden Zwang zur Profitmaximierung nicht alle Funktionen, die für die Gesellschaft (der Einzelkapitale wohlgemerkt) nötig sind, erfüllt werden können, da sie nicht alle profitträchtig sind. Da das Kapital bestimmte Erfordernisse für seinen eigenen Bestand über die Konkurrenz und den Zwang zur Profitmaximierung nicht erbringen kann bzw. diese in einem ungünstigen Kosten-Nutzen Verhältnis stehen, „bedarf (es) auf seiner Grundlage einer besonderen Einrichtung, (...) deren Handeln also nicht von der Mehrwertproduktion bestimmt ist“, so Altvater, „die (...) den immanenten Notwendigkeiten nachkommt, die das Kapital vernachlässigt.“14 Zu kritisieren ist Altvaters Vorgehen im Hinblick darauf, sich lediglich auf die Konkurrenz der Einzelkapitale als wesentliche Begründung des Staates zu beschränken. Durch diese Beschränkung ist Altvater nicht in der Lage, den Staat aus den Strukturen der gesamten Klassengesellschaft, geschweige denn in Bezug auf andere Herrschaftsverhältnisse herauszuarbeiten. Heraus kommt ein Bild des Staates als „Ausschuss des Kapitals“. Außerdem zeichnet sich Altvaters Ansatz durch einen geradezu exemplarischen Funktionalismus in der Argumentation aus: der Staat, der so11 12 13 14

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Müller/Neusüß 1970, S. 50. Altvater 1972, S. 5. Ebd. Herv. S.B/J.K. Altvater 1972, S. 7.

wieso schon besteht, greift überall da ein, wo es den in der Konkurrenz befangenen Kapitalen nicht möglich ist, etwas zu tun, das für den Bestand der Konkurrenz aber notwendig ist.

2.2 Staat und Konkurrenz Die leitende Fragestellung für Sybille von Flatow und Freerk Huisken lautete: „Von welchem Zusammenhang aus begründet sich die Notwendigkeit der expliziten Verdopplung der Gesellschaft in Gesellschaft und Staat?“15 Die begriffliche Ebene der einfachen Warenzirkulation scheint ein naheliegender Ansatzpunkt hierfür zu sein, so die Autor_innen. Auf dieser Ebene ließe sich ein „Gleichgelten“ der Akteur_innen und ihrer Interessen ableiten, das dann im gemeinschaftlichen bzw. allgemeinen Interesse als Staat zum Ausdruck kommt, denn auf dieser Ebene müssen sich die Warenbesitzer_innen wechselseitig als Privateigentümer_innen anerkennen.16 „Die zentrale These unserer Überlegungen“, so die beiden Autor_innen, „läuft nun darauf hinaus, daß erst von den Bestimmungen der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft aus sich jene Zusammenhänge ergeben, die es erlauben, das Wesen des bürgerlichen Staates in den Griff zu bekommen“.17 Denn auf der Oberfläche erscheinen unterschiedslos Arbeit, Boden und Kapital als Quellen von Wert. Auf dieser Ebene erscheinen auch die Besitzer_innen der jeweiligen Revenuequellen als gleichrangige und unabhängige, wovon ausgehend sich auch gleichgerichtete Interessen ausmachen lassen: das Interesse an der Erhaltung, sowie an möglichst hoher Revenue als auch das Interesse an kontinuierlichem Fluß und Sicherung (sprich: am Eigentumstitel) der Revenue.18 Und aus diesen gleichgerichteten Interessen ergibt sich – bei Absehung der faktischen materiellen Ungleichheit der Revenuebesitzer_innen – dann die „Möglichkeit der Entfaltung des bürgerlichen Staates“.19 Da es aufgrund der Konkurrenzsituation für die Akteur_innen in der Verfolgung ihrer Privatinteressen jedoch unmöglich ist, die Voraussetzungen für einen einigermaßen reibungslosen Ablauf der Konkurrenz herzustellen, begründet sich nun der Staat „neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit.“20 Josef Esser kritisiert an von Flatow/Huisken, aber auch an Altvater, dass in deren Ableitungsversuchen die „folgenschwere Implikation enthalten ist, (...) dass in der anarchischen kapitalistischen Produktionsweise sich überhaupt so etwas wie (...) all15 16 17 18 19 20

von Flatow/Huisken 1973, S. 94. von Flatow/Huisken 1973, S. 95. von Flatow/Huisken 1973, S. 100. von Flatow/Huisken 1973, S. 105-107. von Flatow/Huisken 1973, S. 107. von Flatow/Huisken 1973, S. 121.

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gemeine Interessen definieren ließen.“21 Denn wenn, so Esser weiter, „es für alle Privatproduzenten gemeinsame, bewußt wahrnehmbare und formulierbare und durch den Staat herstellbare allgemeine Rahmenbedingungen bzw. allgemeine Interessen gäbe“, ist unterstellt, dass es einen Bereich innerhalb dieser Gesellschaften gibt, in dem das Wirken des Wertgesetzes außer Kraft gesetzt ist.22 Denn Merkmal des Wertgesetzes ist es ja, dass sich die gesellschaftliche Allgemeinheit nur hinter dem Rücken der Privatproduzent_innen herstellt.23 Schärfer formuliert: Es ist einigermaßen konstruiert, die Genese des Staates aus den gleichen Interessen von Akteur_innen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft begründen zu wollen. Im Anschluss an Blanke et al. lässt sich festhalten, dass bei allen bisher dargestellten Versuche, den Staat abzuleiten, als „Ableitungsresultat“ immer schon „der Staat“ als vollkommen bestimmte Form herauskommt.24 Oder anders ausgedrückt, auf die entscheidende Frage, warum politische Herrschaft unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen diese besonderte Form scheinbar annehmen muss, wird keine Antwort gegeben, „sondern es wird bei der Erklärung auf den bereits existierenden Staat zurückgegriffen, die Trennung von Politik und Ökonomie wird also bereits vorausgesetzt“.25

2.3 Rechtsstaat und Warentausch Der allgemeine Begriff des Kapitals, von dem aus Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens und Heinz Kastendiek versuchen den Staat abzuleiten, umfasst „die allgemeinen Bewegungsgesetze und Zusammenhänge einer Gesellschaftsformation“, die zum einen historisch vergänglich und zum anderen „durch ganz bestimmte, notwendige Verhältnisse charakterisiert ist, welche sie erst zu einer kapitalistischen machen.“26 Diese Verhältnisse erhalten „bestimmte Formen“. Ware, Geld, Kapital, Lohnarbeit ebenso wie Waren- oder Geldkapital oder der Lohn als „Preis der Arbeit“ stellen, so Blanke et al., derartige Formen dar.27 Die Frage, die sich den Autoren stellt ist die, weshalb bestimmte gesellschaftliche Beziehungen im Kapitalismus scheinbar nicht über die beschriebenen Formen der Vergesellschaftung reguliert werden können, weshalb also die Warenform oder die Lohnform alleine nicht imstande sind, die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften zu leisten, sondern daneben ganz spezielle Formen wie die des Rechts oder 21 22 23 24 25 26 27

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Esser 1975, S. 150. Esser 1975, S. 150. Ebd. Blanke et al. 1974, S. 88. Esser 1975, S. 150. Blanke et al. 1975, S. 417. Ebd.

der Politik entstehen müssen.28 Andersherum betrachtet heißt das, so die Argumentation, dass die Form des Rechts und der Politik zunächst einmal aus der kapitalistischen Produktionsweise zu begründen sind, anstatt sie – wie v.a. in bürgerlichen Theorien – einfach als gegeben vorauszusetzen und sie a priori mit bestimmten Fähigkeiten und funktionalen Bestimmungen zu versehen. „Der ‚Staat’ muß gewissermaßen erst einmal für die theoretische Rekonstruktion freigegeben werden.“29 Zu beantworten ist somit die von dem marxistischen Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis 1929 aufgeworfene Frage: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, die faktische Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von den letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“30

Die Beziehung der Menschen in einer Warenzirkulationsgesellschaft, so die Autoren in ihrer Antwort auf diese Fragen, ist wesentlich durch zwei Prinzipien strukturiert: Zum einen durch das Verhältnis der Dinge (Waren) zueinander; ihre jeweilige Tauschrelation, die sich von der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft her betrachtet als rein sachliche Relation darstellt. Zum anderen ist es bedeutsam, dass die Waren, wie Marx es ausdrückt, nicht selbst zu Markte gehen können, als ihre Träger fungieren konkrete Menschen mit diversen Bedürfnissen.31 Der Tauschakt setzt somit handelnde Menschen voraus, wie Blanke et al. betonen, und konstituiert hierin eine Beziehung dieser handelnden Menschen, wenn auch nur als „Zirkulationsagenten“.32 Diese Bezugnahme der Menschen aufeinander im Tauschverhältnis setzt, so die Argumentation weiter, ihr prinzipielles Gleichgelten voraus. Die Tauschenden müssen als Voraussetzung eine „gleiche gesellschaftliche und formelle Qualität annehmen“.33 Dem Tauschverhältnis als Ausformung eines Vertragsverhältnisses liegt dabei grundsätzlich eine Gleichheitsannahme zugrunde, die, so abstrakt sie auch sein mag, auch nicht dadurch hinfällig wird, das faktisch Ungleiche dieses Verhältnis miteinander eingehen.34 Aus dem Faktum, dass der Tauschakt ein Willensakt von Menschen ist, lässt sich als Voraussetzung schließen, dass dieser Akt handelnde, d.h. dazu fähige Menschen voraussetzt und in dem Akt sich zugleich eine (grundlegende) Beziehung zwischen diesen Menschen konstituiert. In dieser Beziehung der Menschen zueinander muss es, wiederum als logische Voraussetzung, einen ihnen 28 29 30 31 32 33 34

Blanke et al. 1975, S. 419. Blanke et al. 1974, S. 64. Paschukanis 1966, S. 119f. Marx, MEW 23, S. 99. Blanke et al. 1974, S. 71. Ebd. Ebd.

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allen gemeinsamen Bezugspunkt geben, von dem aus sich die Menschen aufeinander beziehen: dieser Bezugspunkt ist der Mensch als Tauschsubjekt, wie Blanke et al. herausstellen.35 Wohinter wiederum die Voraussetzung liegt, dass die Tauschenden eine gleiche gesellschaftliche Qualität – einen (freien) Willen – haben, was wechselseitig respektiert sein muss. Dies drückt sich aus in der gegenseitigen Anerkennung als Privateigentümer_innen, was bedingt, dass das Recht auf Privateigentum verbürgt ist. In der Folge, so die Argumentation, wird aus dem Tauschverhältnis zugrundeliegenden Willensverhältnis ein System von Rechtsbeziehungen; die Menschen erhalten die Form von Rechtssubjekten und die Beziehungen zwischen diesen Menschen werden, so Blanke et al. nach Paschukanis, „willensmäßige Beziehungen voneinander unabhängiger, einander gleicher Einheiten, juristischer Subjekte.“36 Das Vertragsverhältnis, das die Rechtssubjekte im Tausch miteinander eingehen, verweist schon, so die Autoren, auf die Zwangsförmigkeit, die hinter diesem Verhältnis steht – pacta sunt servanda –, wenngleich dies auch noch nicht auf eine den Subjekten fremd gegenüberstehende Macht verweisen muss. Allerdings müssen mit der Ausweitung der Tauschbeziehungen und der zunehmenden Verrechtlichung die Regeln des Tauschverkehrs auch zunehmend verallgemeinert werden, „damit die im Äquivalententausch gesetzte Notwendigkeit der Gleichheit der Tauschbedingungen hergestellt wird. Die Durchsetzung des Wertgesetzes konstituiert die Durchsetzung des Rechtsgesetzes“.37 Hieraus ergibt sich nach Blanke et al. ein erster Anhaltspunkt für eine begriffliche Ableitung der „außerökonmischen Gewalt“: die Rechtssetzungsfunktion und die Absicherung dieser Funktion, die „exekutive Funktion“, lassen sich aus den Bedingungen und Bestimmungen des Warentausches begrifflich bzw. logisch ableiten. Allerdings, und das stellt die Differenz und den Fortschritt zu den bisherigen Ableitungsansätzen dar, lässt sich aus der Bestimmung der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Zwangsgewaltfunktion noch keine konkrete Struktur Staat ableiten.38 Dennoch muss sich diese Zwangsgewalt, wie auch immer sie konkret aussieht, soll sie der Warenform adäquat sein, entsprechend dieser Formprinzipien verhalten: aus dem doppelten Aspekt kapitalistischer warentauschender Gesellschaften – Beziehung von Dingen und Beziehung von gleichen Willens- bzw. Rechtssubjekten – ergibt sich als notwendiges Komplement die generelle Norm bzw. das allgemeine Gesetz als unpersönliche, allgemeine und öffentliche Qualität für die Rechtsform als Zwangsinstanz.39 In der Logik der Gleichheit und Gleichrangigkeit des Warentausches auf sachlicher wie persönlicher Seite liegt es, dass die sanktionierende Instanz nicht auf Willkür oder Ungleichbehandlung beruhen darf. Auf Seiten der Subjekte 35 36 37 38 39

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Blanke et al. 1974, S. 71. Ebd. Blanke et al. 1974, S. 72. Blanke et al. 1974, S. 71; 1975, S. 421. Blanke et al, 1974, S. 72.

verlangt dies, so Blanke et al. erstens, dass sie sich diesem Zusammenhang gegenüber verhalten „wie einer Sache gegenüber“ und zweitens „sich die Imperative dieser Sache zu eigen machen“.40 Hierbei, so die Autoren weiter, ist der Kampf um Recht und um die außerökonomische Zwangsgewalt, die das Recht garantiert, als „Grundform der Politik“, „nicht eine bloße ‚Illusion’, sondern die Form, in der sich der im Rahmen des Staates bleibende Klassenkampf politisch ausdrücken kann.“41 Die durch die Rechtsform formal geschützten und gewährleisteten Beziehungen des Warentausches bzw. durch die rechtliche Gewährleistung des Privateigentums als Basisrecht werden jedoch zugleich die inhaltlich-strukturellen Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise abgesichert. Allerdings resultieren aus der inhaltlichen Ungleichheit im Produktionsprozess Konflikte, die sich nicht ohne weiteres durch die formale Rechtsgleichheit ausgleichen lassen.42 Der dem bürgerlichen Recht innewohnende Anspruch auf „Freiheit und Gleichheit“, lässt sich, verstanden „als Ansprüche konkreter Menschen (Menschenrechte)“ somit auch als „legitimatorische Einbruchstelle des Klassenkampfes in die ‚Politik’“ begreifen.43 Mit ihrer Ableitung haben die Autoren „das innere Verhältnis zwischen Produktionsweise und einer ihrer Funktionen, die eine Organisation ‚neben und außer’ der Parteien der Käufer und Verkäufer bedingt, angegeben.“ Allerdings hätten sie damit keinesfalls „den Staat, der nach unserem Verständnis eine Vielzahl von Verbindungen mit und Funktionen für den Reproduktionsprozess besitzt" abgeleitet.44 Die theoretische Bestimmung einer außerökonomischen Zwangsgewalt sei nicht zu verwechseln mit einer Herleitung der konkreten Institutionen und Apparate; logische und historisch-konkrete Ebene sind voneinander zu unterscheiden.

2.4. Joachim Hirschs Beitrag innerhalb der Debatte Im Kontext und Anschluss an diese Debatte entwickelte Joachim Hirsch seine staatstheoretische Argumentation. An Blanke et al. kritisiert er die Ableitung der Staatsform aus der Rechtsform, denn, nicht „die Rechtsform ‚erzeugt’ die Form des Staates, sondern die Eigentümlichkeit der kapitalistischen Reproduktion der Klassenverhältnisse erzeugt eine spezifische Formbestimmung der Klassengewalt und ihre bestimmte Form des bürgerlichen Rechts.“45 Beide Formen sind komplementär 40 41 42 43 44 45

Blanke et al, 1974, S. 73. Blanke et al. 1975, S. 422. Blanke et al. 1975, S. 425. Blanke et al. 1975, S. 426f. Blanke et al. 1974, S. 83. Hirsch 1976, S. 146, Anm. 11.

57

aufeinander bezogen, lassen sich aber keinesfalls voneinander „ableiten“, so Hirsch weiter.46 Weiterhin kritisiert Hirsch, dass das was bei Blanke et al. als Rechtsform erscheint, in Wirklichkeit nichts anderes als das bürgerliche Privatrecht meint und das dieser „Ausgangspunkt (...) zu der unhaltbaren These von einer durchgängigen Rechtsförmigkeit der staatlichen Gewaltausübung (führt)“.47 Schon zu einer frühen Phase sieht Hirsch den kategorial-abstrakten Versuch, den Staat aus dem Zusammenhang des Kapitalverhältnisses abzuleiten, als beschränkt und begrenzt an.48 Hirschs Konzeption stellt deshalb den Versuch dar, eine Verbindung zwischen logischer Formanalyse (siehe unten) und historischer Erscheinung und Bewegung des Staates herzustellen, wie sie sich in der gesellschaftlich-politischen Realität darstellt. Darüber hinaus richtet sich Hirschs Argumentation, wie auch schon die der meisten vorangegangenen Ansätze innerhalb der Ableitungsdebatte, einerseits gegen vorherrschende bürgerliche Theoreme, die a-historisch den Staat zur „Naturform“ erklären.49 Andererseits werden reformistische Ansätze kritisiert, die zwar durchaus die Beschränktheit staatlicher „Steuerungskapazität“ bemängeln, hierbei aber nicht weiter gelangen, als abstrakt von „Störpotentialen“ zu sprechen, die den ansonsten autonom und rational konstruierten Staat behindern.50 Entgegen solchen Annahmen hält Hirsch mit Marx zunächst fest, dass der bürgerliche Staat ein historisches Produkt ist, eine historisch bestimmte Form der Herrschaftsorganisation, die als solche ebenso wie Rechtsverhältnisse „weder aus sich selbst heraus zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.“51 Materielle Lebensverhältnisse zu berücksichtigen heißt aber Produktionsweisen zu betrachten, unter denen die Menschen produzieren und miteinander in Verkehr treten. Als Ausgangspunkt für eine Analyse des Staates ergeben sich somit die auf der kapitalistischen Produktionsweise „basierenden Gesetzmäßigkeiten der Reproduktion der gesamten Gesellschaftsformation, welche die besondere politische Form objektiv aus sich heraustreiben“.52 Neben der Frage nach der Basis des Staates stellt sich damit diejenige der Form, die politische Herrschaft unter diesen materiellen Lebensverhältnissen annimmt; die Form ist zu trennen von ihrem Inhalt, sprich: den konkreten Aufgaben und Funktionen. Im Anschluss an die oben zitierte Paschukanis-Frage, weshalb bürgerliche Herrschaft diese Form annimmt, betont Hirsch noch einmal mit Max Weber, dass es das „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“ ist, das den Staat der Form nach 46 47 48 49 50 51 52

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Ebd. Hirsch 1976, S. 147. Hirsch 1974a, CXXXIX. Hirsch 1973, S. 199. Hirsch 1974b, S. 14. Marx, MEW 13, S. 8; Hirsch 1974b, S. 8. Hirsch 1974b, S. 16.

grundlegend definiert und nicht der Inhalt dessen was er tut.53 Zu begründen sind also sowohl die Basis als auch die Form des Staates, wie sie sich grundlegend aus der kapitalistischen Produktionsweise ergeben. Mit Marx argumentiert Hirsch, dass das Entscheidende der kapitalistischen Produktionsweise darin liegt, dass sich ihr gesellschaftlicher Zusammenhang „notwendig hinter dem Rücken der Produzenten und ohne deren bewusste Kontrolle herstellt.“54 So wie den Individuen ihr Zusammenhang der unabhängig voneinander betriebenen Privatproduktion fremd und sachlich in Form des Geldes gegenübertreten muss, dass sie beherrscht werden anstatt dass sie es beherrschen, muss auch ihr gesellschaftliches Allgemeines eine ihnen gegenüber fremde, sachliche Gestalt annehmen. „Wie der Tauschwert, verkörpert im Geld, unabhängig vom Willen der Individuen die gesellschaftliche Einheit der Produktion herstellt, bedarf es des Staates zur Gewährleistung des außerhalb der Individuen liegenden allgemeinen Bedingungen der Produktion und Reproduktion“, so Hirsch.55 Diese historisch sich herausbildende Besonderung des Staates als illusorische und widersprüchliche Verkörperung des gesellschaftlichen Allgemeinen stellt somit die allgemeinste Formbestimmung des bürgerlichen Staates dar.56 Wichtig ist, Hirsch zufolge, dass die Argumentation ausgehend von den Erfordernissen einer warenproduzierenden Gesellschaft entfaltete kapitalistische Produktionsverhältnisse zur Voraussetzung hat. Die Widersprüche der arbeitsteiligen warenproduzierenden Gesellschaft, aus denen der Staat abgeleitet ist, sind Widersprüche der entfalteten kapitalistischen Produktionsweise. Mit dem entfalteten Begriff der kapitalistischen Produktionsweise ist grundlegend der Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital gegeben, ebenso wie Ausbeutung und Mehrwertproduktion. Kurzum: „Wird der Staat mithin als Besonderung der Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, mit der Funktion, die gemeinsamen Bedingungen der Reproduktion dieser Gesellschaftsformation zu garantieren, so ist dieser Reproduktionsprozeß als kapitalistischer, d.h. auf Mehrwertproduktion beruhender, erweiterter und damit als Akkumulationsprozeß zu untersuchen.“57

Die abstrakt-kategoriale Bestimmung und Ableitung der Notwendigkeit der Besonderung des Staates von der Gesellschaft als der Form, die das gesellschaftliche Allgemeine unter entfalteten kapitalistischen Produktionsverhältnissen annehmen muss, ist darüber hinaus zu vermitteln mit der konkreten Funktionsweise dieser Instanz für

53 54 55 56 57

Weber 1980 [1921-22], S. 822. Hirsch 1973, S. 201. Hirsch 1973, S. 202. Hirsch 1973, S. 203. Hirsch 1973, S. 203.

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den erweiterten kapitalistischen Reproduktionsprozess als Akkumulationsprozess: Zu vermitteln sind also abstrakte Form mit konkreter Funktion. Für die Frage nach der Funktion des Staates ist nun die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise zu berücksichtigen. Jene vollzieht sich durch das „stumme Wirken“ des Wertgesetzes in ihrem Kern von selbst, was bedeutet, dass sie sich „bewußter und planmäßiger, [...] politischer Beeinflussung und Veränderung entziehen.“58 Aufgrund der Trennung des Staates von der kapitalistischen Produktionsweise ist ersterer letztlich darauf verwiesen, auf die von der kapitalistischen Produktionsweise gewissermaßen vorgegebenen objektiven Bewegungen zu reagieren. Hieraus ergibt sich für eine erste grundlegende Charakterisierung der staatlichen Funktionen „äußere Bedingungen“ für den Produktions- und Reproduktionsprozess der Gesellschaft herzustellen. Für den Staat als notwendig reaktive Instanz kann der gesellschaftliche Prozess der Produktion und Reproduktion nicht unmittelbarer Gegenstand seiner Tätigkeit sein, vielmehr wird umgekehrt er „durch die Gesetzmäßigkeiten und den Verlauf des Reproduktionsprozesses bestimmt“.59 Der Staat garantiert zwar die Geld-Wert-Konvertibilität, aber er schafft nicht den im Geld ausgedrückten Wert, ebenso wie er nicht die durch die Rechtsverhältnisse geschützten Güter schafft wie bspw. das Privateigentum. Der Staat kodifiziert nur diese dem Waren- und Geldverkehr eigentümlichen Normen, so Hirsch, allerdings ist er aufgrund seines Gewaltmonopols in der Lage, die Einhaltung dieser Normen auch mit Gewalt durchzusetzen, was bedeutet, dass diese Verhältnisse letztlich auf der latenten staatlichen Gewalt beruhen.60 Dies hat schließlich zur Folge, dass der Staat, der aus den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht und notwendig bloß reaktiv agieren kann, in seinen Aktionen scheinbar inkonsistent und uneinheitlich erscheint. Darüber hinaus liegt in der staatlichen „Besonderung“ von der Gesellschaft und der Produktion bisweilen auch die Notwendigkeit begründet, dass dieser mit bestimmten Kapitalinteressen und -fraktionen kollidiert.61 Das heißt aber auch, dass „seine spezifischen Funktionsmechanismen sich im Kontext widerstreitender Interessen und gesellschaftlicher Konflikte entwickeln“.62 Konkrete staatliche Politik entspringt nicht einer abstrakten (Kapital-)Logik oder einer Geschichtsteleologie sondern entwickelt sich eben „nur unter dem Druck sich auf dieser Basis faktisch durchsetzender politischer Bewegungen und Interessen.“63 Auch die „Besonderung“ des Staates muss sich in diesem grundsätzlich widersprüchlichen und konflikthaften Prozess „immer wieder neu herstellen und bewähren“.64 Insofern ist die allgemeine 58 59 60 61 62 63 64

60

Hirsch 1974b, S. 19. Hirsch 1974b, S. 24. Ebd. Hirsch 1974b, S. 26. Hirsch 1974b, S. 26. Ebd. Ebd.

Formableitung des Staates aus der „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ auch nicht in der Lage, über diese allgemeinen Bestimmungen hinausgehende Aussagen über die konkreten Funktionen des Staates zu machen. „Insoweit“, so Hirsch, „bleibt die allgemeine ‚Formableitung’ trivial.“65 Aus der allgemeinen Formableitung des bürgerlichen Staates lassen sich dessen allgemeine Funktionen nur der „Möglichkeit und der allgemeinen Notwendigkeit nach“ ableiten.66 Dass der Staat bestimmten allgemeinen Funktionen der Möglichkeit nach nachkommen kann, bezieht sich auf die durch seine Besonderung gegenüber allen Klassen gegebene Form. Durch diese ist er, ausgestattet mit dem Gewaltmonopol, auch in der Lage, „die von den einzelnen Kapitalen nicht herstellbaren allgemeinen und äußeren Bedingungen des Reproduktionsprozesses zu garantieren und einzuschreiten“.67 Die allgemeine Notwendigkeit hierfür resultiert daraus, so Hirsch, dass der kapitalistische Reproduktionsprozess „strukturell gesellschaftliche Funktionen zur Voraussetzung hat, die von den einzelnen Kapitalen nicht erfüllt werden können.“68 Die Vermittlung zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit liegt grundlegend darin, dass sich der bürgerliche Staat selbst nur erhalten kann, wenn der Reproduktionsprozess des Kapitals und somit seine materielle Basis (Steuern) gesichert ist. Hirsch spricht in diesem Zusammenhang vom „spezifisch politisch-bürokratischen Interesse der unmittelbaren Inhaber der Staatsgewalt und ihrer Agenten an der Sicherung der Kapitalreproduktion und des Kapitalverhältnisses“.69 Um also über die logische und insofern letztlich triviale Formbestimmung des Staates hinauszugelangen und Möglichkeit und Notwendigkeit konkret zu vermitteln, bedarf es „einer Untersuchung der konkret-historischen Entwicklung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses und der sich in seinem Verlauf verändernden Bedingungen der Kapitalverwertung sowie der Klassenverhältnisse“.70

3. Der Akkumulations- und Krisenprozess des Kapitals Vermittelt über die Konkurrenz ist der individuelle Kapitalist gezwungen, „sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittels progressiver Akkumulation“, so Marx.71 In diesem über die Konkurrenz vermittelten Zwang zur permanenten progressiven Akkumulation ist nun entscheidend, dass in der hierdurch vorangetriebenen permanenten Entwicklung der Produk65 66 67 68 69 70 71

Hirsch 1974b, S. 27. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hirsch 1974b, S. 27f. Marx, MEW 23, S. 618.

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tivkräfte sich notwendig auch die Zusammensetzung der Wertbestandteile des Kapitals mit verändert: Das Verhältnis von konstantem (c) zu variablem (v) Kapital ändert sich beständig zugunsten von c, was in der Folge im tendenziellen Fall der Profitrate kulminiert.72 Für Marx, so Hirsch, ist dieses „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ das „in jeder Beziehung (...) wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste, um die schwierigen Verhältnisse zu verstehen.“73 Die Notwendigkeit zum tendenziellen Fall der Profitrate lässt sich aus den grundlegenden Klassenwidersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise ableiten, die technische Revolutionierung des Produktionsprozesses bildet einen gewichtigen Faktor in der Klassenauseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital.74 Wichtig ist, dass das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate sich nicht ungehindert durchsetzt, sondern in diesem Gesetz selbst liegen, vermittelt über die Aktionen der einzelnen Kapitale und den Klassenkampf, zugleich seine Gegentendenzen begründet.75 Ohne hier in die Details zu gehen, ist wichtig hervorzuheben, dass Paul Mattick zufolge nicht „allein der Markt, sondern die gesellschaftliche Situation mit all ihren Verästelungen“ die Kapitalakkumulation „ermöglicht und beschränkt“.76 Das heißt aber auch, dass die Krise nur dann ausbricht, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht schnell genug den Erfordernissen der Kapitalakkumulation anpassen, was sie allerdings in der Regel auch nicht tun. Staatstheoretisch – aber auch politisch – entscheidend hierbei ist, dass bei dem Versuch der Realisierung der Gegentendenzen dem Staatsapparat, vermittelt über die Auseinandersetzungen zwischen den Kapitalen und den Klassen, wachsende Bedeutung zukommt.77 In der Folge – v.a. der zunehmenden Staatsfunktionen, die Hirsch in seiner Analyse der Krisenpolitiken der 1970er Jahre ausmacht – wird es notwendig, den Begriff des Staates genauer zu bestimmen, denn offensichtlich „deckt sich das funktional auf die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaftsformation insgesamt bezogene ‚politische System’ nicht mit dem institutionellen Staatsapparat im juristischen Sinne (Parlament, Regierung und staatliche Administration, Gerichte), sondern schließt in gewisser Weise massenintegrative Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften, administrative Einheiten formal ‚privaten’ Charakters (...) ein.“78

Durch die staatlich vermittelte Krisenregulierung geschieht noch ein weiteres; nicht nur wird das Verhältnis von Basis und Überbau komplexer, wie Hirsch schreibt, sondern durch die Staatsinterventionen, deren Funktion ja ist, Gegenwirkungen gegen 72 73 74 75 76 77 78

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Hirsch 1974b, S. 30. Marx 1953, S. 634; Hirsch 1974b, S. 30. Hirsch 1974b, S. 30. Hirsch 1973, S. 217; vgl. auch Hirsch 1974b, S. 35. Mattick 1971, S. 82f.; zit. in Hirsch 1973, S. 221. Hirsch 1973, S. 224. Hirsch 1973, S. 259; vgl. auch den Beitrag von Jessop in diesem Band.

den tendenziellen Fall der Profitrate zu organisieren, wird bisweilen in den Akkumulationsprozess eingegriffen, was auf anderer Ebene Widersprüche hervorbringen oder gar die Akkumulation hemmen kann.79 Nicht nur wird also die Grenze zwischen Staat und Ökonomie/Gesellschaft zunehmend unschärfer, sondern durch die zunehmende Intervention des Staates in die Ökonomie reproduzieren sich deren Widersprüche zunehmend auch im Staatsapparat und darüber hinaus rufen diese Interventionen neue Widersprüche hervor, zu deren Lösung sie ja „angetreten“ waren. Joachim Hirsch stellte schon zu einem frühen Zeitpunkt fest, dass die kategorialabstrakte Formableitung beschränkt und letztlich trivial ist (s.o.). Aus den in der kapitalistischen Produktionsweise basierenden ‚Gesetzmäßigkeiten’ der Reproduktion der gesamten Gesellschaftsformation wird ihre besondere politische Form objektiv aus ihr heraus getrieben. Kennzeichnend für kapitalistische Produktionsverhältnisse ist, dass ihr gesellschaftliches Allgemeines, ebenso wie der Tauschwert, eine ihr gegenüber fremde Form annehmen muss. Charakteristikum dieser Produktionsweise ist somit, dass es ihr nicht anders möglich ist, ihren gesellschaftlichen Zusammenhang anders als notwendig „hinter ihrem Rücken“, ohne bewusste Kontrolle herzustellen. Im Unterschied zu Blanke et al. betont Hirsch jedoch, dass die „besonderte Form“ des Staates wie auch die des Rechts komplementär zueinander stehen und sich somit ko-konstitutiv und nicht konsekutiv aus den grundlegenden Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise begründen.80 Zudem verweist er darauf, dass die Besonderung der politischen Herrschaft sich historisch zwar vor der Herausbildung des Kapitalismus vollzieht, logisch aber ist der Staat in seiner Trennung von der Ökonomie funktionale Notwendigkeit der klassengespaltenen kapitalistischen Gesellschaft. Für die wesentliche Frage, wie sich abstrakte Formbestimmung mit konkreten staatlichen Funktionen vermitteln – eine Frage, die von den meisten Autor_innen der Ableitungsdebatte nicht weiterverfolgt wurde –, sieht Hirsch den entscheidenden Punkt im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und den zunehmend über den Staat mobilisierten Gegentendenzen. Das Gesetz stellt hierbei allerdings lediglich den kategorialen ‚Rahmen’ dar, innerhalb dessen sich die konkreten Klassenauseinandersetzungen um die Mobilisierung dieser Gegentendenzen austragen müssen. Der Staat, der aus seiner Formbestimmtheit heraus lediglich in der Lage ist, auf die immanenten Krisentendenzen des Kapitalismus zu reagieren, muss sich aus den Auseinandersetzungen in diesen Krisen immer wieder neu in seiner „besonderten“ Form herstellen und bewähren. Seine Form ist nicht per se gegeben und existiert nicht a priori, sondern ist Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die sozialen Formen, so ließe sich im Anschluss an Marx sagen, sind mit Hirsch letztlich die „Bewegungsformen“ der gesellschaftlichen Konflikte und Auseinanderset79 Hirsch 1973, S. 262ff. 80 Vgl. auch Hirsch/Kannankulam/Wissel 2015, S. 110.

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zungen.81 Die sozialen Formen haben somit als „Motor“ und „Brennstoff“ die gesellschaftlichen Konflikte und Antagonismen zur Grundlage; sie sind von ihnen nicht zu trennen.82 Entsprechend bleibt die grundlegende Notwendigkeit dieser Formen solange bestehen, wie auch die wesentlichen Strukturmerkmale, Antagonismen und Konflikte der kapitalistischen Produktionsweise bestehen bleiben. Durch die Zunahme von Staatsinterventionen im Rahmen der Mobilisierung von Gegentendenzen gegen den Fall der Profitrate, werden die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise noch einmal im politischen System selbst reproduziert, so Hirsch schon 1973. Hierdurch werden dann jedoch, wie von Nicos Poulantzas 1978 in seiner Staatstheorie hinsichtlich eines „Autoritären Etatismus“ formuliert, jene Staatsinterventionen schließlich selbst zu „Faktoren einer Krise, die dadurch mehr wird als eine bloß ökonomische Krise.“83 Mit Hirschs Versuch, den Staat aus den Erfordernissen der Reproduktion der kapitalistischen Gesamtgesellschaft abzuleiten, gelingt es in äußerst produktiver Weise auf die dargelegten Probleme und Defizite innerhalb der Debatte zu reagieren. Ähnlich wie Blanke et al. sieht Hirsch die Beschränktheit der kategorialen Ableitung des Staates aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaftsformation und versucht, mit dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate den konkreten Verknüpfungspunkt zwischen abstrakter Form und konkreter Funktion zu bestimmen. Hierbei ist er sich bewusst, dass dieses Gesetz lediglich den Kontext der konkreten Klassenauseinandersetzungen darstellt und somit die Entwicklung des Kapitalismus keinesfalls teleologisch feststeht. Wie sich diese Gesellschaftsform konkret durch ihre immanente Krisenhaftigkeit unter zunehmenden Staatsinterventionen reproduziert, lässt sich nach Hirsch keinesfalls aus abstrakten „ökonomischen Gesetzen“ bestimmen, sondern bleibt Gegenstand konkreter Handlungen und Konflikte – und damit entsprechend konkreter Analysen. Ob sich hierbei die Erfordernisse für den Bestand dieser Gesellschaftsformationen auch immer durchsetzen ist offen, auch wenn unter einmal etablierten kapitalistischen Produktionsverhältnissen sozusagen ein struktureller „Zwang der Form“ besteht.84

4. Veränderungen und Erweiterungen durch Joachim Hirsch Joachim Hirsch bleibt nicht bei den formanalytischen Fragestellungen der 1970er Jahre stehen, sondern entwickelt seinen Ansatz kontinuierlich weiter: Er kombiniert sie produktiv mit den theoretischen Erkentnissen von Antonio Gramsci, Nicos Pou81 82 83 84

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Marx, MEW 23, S. 119. Vgl. Kannankulam 2008, S. 38ff.; Brentel 1989, S. 262ff. Poulantzas 2002 [1977], S. 241; vgl. Kannankulam 2008; 2016. Hirsch 1994, S. 174.

lantzas und später der Regulationstheorie. Alle diese Ansätze ermöglichen es ihm nämlich gerade, die räumlichen und historischen Ausprägungen der politischen Form als Ergebnisse konkreter Kämpfe im Fordismus und Postfordismus sowie schließlich im Prozess der Transnationalisierung des Staates zu analysieren (vgl. dazu die anderen Beiträge in diesem Band). Auch der feministischen Kritik, die an seiner Staatstheorie zutreffender Weise geübt wird, versucht er später gerecht zu werden (vgl. den Beitrag von Sauer in diesem Band). Aber es ist die Formanalyse, so unsere These, die den Beginn seiner grundsätzlichen Überlegungen zum Staat ausmacht, und die bis in sein Spätwerk hinein, immer wieder leicht modifiziert als Grundannahme beibehalten wird. Eine Weiterentwicklung seiner Staatstheorie beginnt in den 1980er Jahren, insbesondere in der gemeinsam mit Roland Roth verfassten Schrift „Das neue Gesicht des Kapitalismus – Vom Fordismus zum Postfordismus“.85 Nachdem in der Staatsableitungsdebatte die Begründung des kapitalistischen Staates als solchem im Zentrum stand, rückt nun die raumzeitlich konkrete Materialisierung in den Blick. Historische Kämpfe, die verschiedene Ausprägungen kapitalistischer Gesellschaftsformationen zur Folge haben, werden nun explizit untersucht. Ein fruchtbarer Anschlusspunkt dafür stellte vor allem, vermittelt über die staatstheoretischen Auseinandersetzungen mit Louis Althusser und Nicos Poulantzas, die Regulationstheorie dar. 1994 schließlich, in einem gemeinsamen Forschungszusammenhang mit Josef Esser und Christoph Görg werden die institutionentheoretischen Prämissen weiter ausgearbeitet. Wesentlich in diesen Verschiebungen seit Anfang der 1980er Jahre ist dabei die Verabschiedung von der Denkfigur der „Ableitung“. Der Begriff „Staatsableitung“ sei missverständlich,86 denn, so argumentiert er mit John Holloway: „Der Versuch, den Staat aus dem Kapital abzuleiten, (...) heißt nicht, die politische Form aus der ökonomischen zu entwickeln, sondern die Trennung des Politischen und Ökonomischen (...) aus dem kapitalistischen Produktionsverhältnis heraus zu begründen.“87 Diese Verschiebung bedeutet, dass Hirsch nun immer deutlicher gesellschaftstheoretisch in der Tradition der Frankfurter Schule argumentiert. Danach ist es die Gesellschaftlichkeit selbst, welche unter der strukturellen Bestimmung wechselseitiger Konkurrenz und des antagonistischen Kampfes um das Surplusprodukt nicht direkt kollektiv und bewusst herstellbar ist. Sie äußere sich daher in fetischisierten, verdinglichten, den Individuen als Objektzusammenhänge entgegenstehenden sozialen Formen.88

85 86 87 88

Hirsch/Roth 1986. Hirsch 1994, S. 164. Holloway 1991, S. 228 f. Hirsch 1994, S. 163.

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5. Die Rechtsform Mit dem Konzept der sozialen Formen ermöglicht er auch einen Anschluss an rechtstheoretische Überlegungen. Spielte nämlich bisher die Rechtsform in der Staatsableitungsdebatte eher nur die Nebenrolle, um zum Eigentlichen: der politischen Form zu gelangen, so öffnete die Generalisierung zu den sozialen Formen den Weg einer eigenständigen Berücksichtigung des Rechtlichen.89 Soziale Formen konzipierte Joachim Hirsch unter Bezugnahme auf Brentel jetzt gesellschaftstheoretisch folgendermaßen:90 „Soziale Formen sind die verdinglichten und fetischisierten, nur durch theoretische Kritik zu entschlüsselnden Gestalten, die das wechselseitige Verhältnis der gesellschaftlichen Individuen in einer gegenüber ihrem bewußten Willen und Handeln verselbständigten Weise annimmt und die ihre unmittelbaren Wahrnehmungen und Verhaltensorientierungen prägen: Ware, Geld, Kapital, Recht, Staat.“91

Auf dieser Basis ließ sich argumentieren, dass die Rechtsform ebenso wenig aus der Wertform abzuleiten sei (wie dies bei Paschukanis noch der Fall war) wie aus der politischen Form (so die Staatsableiter_innen), sondern dass sie eine eigene Materialität, eine kontrafaktische Faktizität aufweist. Kommt in der Wertform der Waren die Gesellschaftlichkeit der arbeitsteiligen, voneinander unabhängig betriebenen Privatarbeiten zum Ausdruck und in der politischen Form die politische Gemeinschaftlichkeit,92 so in der Rechtsform die Gesellschaftlichkeit der individualisierten, fensterlosen Monaden (Adorno), an deren Herstellung die Rechtsform gleichermaßen beteiligt ist. Rechtliche Praxen verknüpfen die Subjekte zu einer äußeren Einheit. Das Schließen von Verträgen, die gerichtsförmige Austragung von Konflikten sowie Strafe und Verwaltungsakte, Regelungen zum Haftungsrecht oder der Minderjährigkeit sind die Art und Weise, in der die Subjekte ihre Gesellschaftlichkeit prozessieren.93 Die gesellschaftstheoretische Prämisse des Konzepts der sozialen Formen besagt also, dass weder Rechtsform noch politische Form sich funktional bestimmen lassen, sondern Effekte eines a priori prekären gesellschaftlichen Zusammenhangs („hinter dem Rücken“) sind. Die Betonung des verdinglichten und fetischisierten Charakters der sozialen Formen kann zugleich darüber aufklären, warum diese im klassischen Marxismus noch als bloße Überbauphänomene behandelten Momente eine eigene Materialität und Wirksamkeit aufweisen: eine „relative Autonomie“. Soziale Formen sind nichts Anderes als geronnene gesellschaftliche Verhältnisse, verdecken dies je89 90 91 92 93

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Vgl. Buckel 2015 [2007], S. 126 f. Brentel 1989. Hirsch 1994, S. 161. Hirsch 1994, S. 164. Buckel 2015, S. 229.

doch zugleich, wie Marx das exemplarisch im Fetischkapitel im Kapital an der Wertform zeigt. Insbesondere Georg Lukács hat schon frühzeitig mit der Terminologie der „Verdinglichung“ darauf aufmerksam gemacht, dass die Verhältnisse zwischen Personen den Charakter der Dinghaftigkeit und damit eine ‚gespenstige Gegenständlichkeit’ erhalten, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Wesens, nämlich Beziehung zwischen Menschen zu sein, verdeckt.94 In der Rechtsform sind es die juridischen Verfahren, welche zu einer Verselbständigung der rechtlichen Praxen führen: Die Gerichtsprozesse, die Gesetzgebungsoder Verwaltungsverfahren überlassen das Recht nicht den Alltagshandlungen der Subjekte, sondern codieren diese Praxen juridisch. Die einzelnen Akteur_innen sind nicht mehr in der Lage, auf ihre eigenen Verhältnisse zuzugreifen, wenn sie erst einmal in diese Verfahren Eingang gefunden haben. Sie exkludieren die Subalternen und sind das klassische Terrain juridischer Intellektueller im Sinne Gramscis, welche die Techniken der juristischen Argumentation beherrschen sowie juridisch diszipliniert sind. Als Ergebnisse dieser Verfahren transformieren sich die ursprünglichen sozialen Verhältnisse in Gerichtsentscheidungen, Akten, Gesetzbücher oder Straßenschilder (als spezifische Formen des Verwaltungsakts). Das auf diese Weise in den Verfahren hergestellte Rechtssubjekt erscheint in der Konsequenz so, als ginge es dem Recht voraus und würde von diesem lediglich reguliert. Seine Eigenschaften (Gleichheit, Freiheit, Autonomie, Zurechnungsfähigkeit) erscheinen als natürliche Eigenschaften.95 Zugleich, und hier kommen wir auf die relative Autonomie zurück, bedeutet diese Verselbständigung der Rechtsform – wie auch der politischen Form –, dass sie eben nicht nur der bloße Reflex der „Basis“ oder „des Kapitals“ sein kann. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass selbst die mächtigsten gesellschaftlichen Akteur_innen – im Normalzustand – keinen unmittelbaren Zugriff auf das Recht haben. Diese Autonomie ist allerdings deswegen eine relative, weil sie das historische Ergebnis der Verselbständigung sozialer Verhältnisse im Kapitalismus ist. Als solche ist sie also immer schon Moment der gesellschaftlichen Totalität. Die eigene Dichte ist es auch, die zentral ist für die Frage, ob es sich um Recht oder lediglich um bloße „Attrappen von Rechtlichkeit“ (Luhmann) handelt. Nur dann wenn die Rechtsform in ihrer relativen Autonomie vorliegt, die den unmittelbaren Zugriff selbst mächtiger gesellschaftlicher Akteur_innen verunmöglicht oder zumindest erheblich erschwert, kann in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften in Bezug auf soziale Normen von „Recht“ gesprochen werden. Erst wenn diese nicht mehr gegeben ist, wenn etwa unmittelbare Gewaltverhältnisse sie implodieren lässt, wird die „Eigengesetzlichkeit“

94 Lukács 1968, S. 257. 95 Buckel 2015, S. 240 ff.

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zerstört sie erodiert.96 Diese Verselbständigung verdeutlicht daher, warum das Recht nach der Erkenntnis von Franz Neuman eine „ethische Funktion“ hat, also „zweiseitig“ ist, auch den Schwachen wenigstens rechtliche Chancen einräumt.97 Aber auch für die Rechtsform gilt, was Joachim Hirsch bereits für die politische Form festgehalten hatte: Aus der logischen Herleitung können die Strukturprinzpien kapitalistischer Gesellschaften, die sozialen Formen, entwickelt werden, aber dies sagt noch nichts aus „über die historischen Prozesse, Kämpfe, in denen sich diese durchgesetzt ha[ben] und immer wieder neu durchsetzen“ müssen.98 Denn schließlich sind soziale Formen nichts anderes als „tobende, blutige Schlachtfelder“.99

6. Ausblick Als kritischer Theoretiker beansprucht Joachim Hirsch, die sozialen Verhältnisse nicht nur zu beschreiben und zu analysieren, sondern auch emanzipativ verändern zu wollen. Er begreift, wie Horkheimer oder Gramsci, seine eigene theoretische Praxis als politische Tätigkeit und ist damit einer der führenden Autor_innen der gesellschaftskritischen Theorie der Politik.100 Insofern ging es in seiner Auseinandersetzung mit der Formanalyse niemals nur um eine akademische Debatte. Vielmehr steht das theoriepolitische Anliegen dahinter, durch ein Verständnis aktuellen Zeitgeschehens Brüche in den kapitalistischen Verhältnissen und damit Ansatzpunkte für ihre Überwindung aufzuzeigen. Dafür war es im „golden Zeitalter“ des Fordismus, der Hochzeit sozialdemokratischer Steuerungseuphorie, zunächst notwendig, auf einer prinzipiellen theoretischen Abstraktionsebene gegen die traditionelle Sozialwissenschaft den strukturellen Zusammenhang des Staates mit der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch die Begrenztheit möglicher Reformpolitiken herauszuarbeiten. Dass diese Debatten schließlich selbst leerliefen und zu einer ahistorischen Selbstvergewisserung tendierten, kritisierte Hirsch durchaus selbst. Mit der Krise des Fordismus, die bis heute nicht überwunden ist, und sich weiter zuspitzt, gerieten dann aber die innerkapitalistischen Veränderungsprozesse in den Blick und vor allem die Frage, warum der Kapitalismus trotz und wegen seiner Widersprüche so persistent ist; warum die vielfältigen Kämpfe der Vergangenheit nach wie vor nicht zu seiner Überwindung geführt haben. Das dies gleichwohl immer möglich bleibt, ist die untergründige Botschaft seiner Texte bis heute.

96 97 98 99 100

68

Buckel 2015, S. 242. Neumann 1967 [1937], S 75. Hirsch 1994, S. 162. Holloway 2002, S. 110. Buckel/Martin 2018; vgl. die Beiträge von Görg und Roth in diesem Band.

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II. Materialistische Staatstheorie im Kontext

Bob Jessop Joachim Hirschs Zusammenführung von materialistischer Staatstheorie und Regulationstheorie

Joachim Hirsch hat einen einzigartigen Ansatz der materialistischen Staatstheorie entwickelt, den er mit dem Regulationsansatz kombinierte und in eindrucksvollen Analysen des gegenwärtigen Kapitalismus zum Einsatz brachte. Er entwickelte seine differenzierten Beiträge zur westdeutschen Staatsableitungsdebatte unter dem Einfluss von, unter anderen, Karl Marx, Eugen Paschukanis, Antonio Gramsci und Nicos Poulatzas zu einer materialistischen Staats- und Governance-Theorie weiter.1 Eine charakteristische Eigenschaft der Arbeiten Hirschs ist sein Bestehen auf der historisch spezifischen Trennung zwischen den ökonomischen und politischen Sphären als komplementäre Momente des Kapitalverhältnisses. Während die ökonomische Sphäre von der profitorientierten, marktvermittelten und auf Verwertung beruhenden Logik der Kapitalakkumulation bestimmt wird, ist die politische Sphäre – zumindest unter „normalen“ bürgerlich-demokratischen Bedingungen – von einem Verfassungsstaat geprägt, in dem soziale Kräfte um die Definition und Durchsetzung eines (illusorischen) Allgemeininteresses ringen. Die Besonderung dieser Sphären öffnet den Raum für politische und ideologische Kämpfe neben den ökonomischen. Hirsch reduziert die ökonomische Sphäre jedoch nicht fetischisierend auf den Arbeitsmarkt und die Zirkulation des Kapitals, die politische nicht auf die Staatsmacht im engen, juridisch-politischen Sinn. Er betont vielmehr konsequent sowohl die wechselseitigen Beziehungen, als auch die Widersprüche, die zwischen diesen beiden Sphären gesellschaftlicher Verhältnisse entstehen können. Hirsch greift auf zentrale Annahmen, Konzepte und Erklärungsprinzipien aus dem „Kapital“ und damit verbundenen Manuskripten zurück, um zentrale Eigenschaften des Staatsapparats und der Staatsmacht zu erklären. Und er zeigt, wie Kapitalakkumulation, Formen und Inhalte des Klassenkampfs von der spezifisch politischen Logik eines institutionell autonomisierten Staatsapparates und dessen Verbindungen mit der Zivilgesellschaft überdeterminiert sind.2 In diesem Kontext interpretiert er Staatsmacht (unterschieden von der Staatsform) mit Gramscis Konzept des integralen Staates („lo stato integrale“) als „politische Gesellschaft + zivile Gesellschaft, oder Hegemonie, gepanzert mit Zwang”.3 Ebenfalls an Gramsci anschließend 1 Vgl. Hirsch 1977; 1995; 2005. 2 Jessop 1982, S. 101-106. 3 Gramsci 1991ff., S. 783; Hirsch 1995, S. 24, 52, 59, 165.

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fasst Hirsch das Konzept des historischen Blocks als wechselseitige Beziehung zwischen Basis und Überbau und stellt fest, dass jedes Akkumulationsregime und jede Regulationsweise, im Sinne der Regulationstheorie, zur relativen Stabilisierung des historischen Blocks und dessen institutionellen und materiellen Grundlagen der hegemonialen Absicherung bedürfe.4 In seinen Arbeiten zu Fordismus und Postfordismus scheint er sich auch auf Gramscis Konzept des erweiterten Staates („lo stato allargato“) zu beziehen, d.h. auf einen Staat, der umfassend in die Zivilgesellschaft interveniert, um die kapitalistische Reproduktion zu sichern.5 Die Ursprünge von Hirschs Zugang liegen in der westdeutschen Staatsableitungsdebatte. Sie scheinen bereits in seinen Beiträgen zur „Projektgruppe Wissenschaftsplanung“ auf, in denen er den Staatsapparat und die Rolle der Technologie- und Wissenschaftspolitik in der erweiterten Reproduktion des Kapitals untersucht.6 Diese Politiken versteht er als durch das politische System geformt und durch Klassenkonflikte auf diesem Terrain vermittelt – ein antitechnokratischer, antireduktionistischer Zugang, der sich durch Hirschs gesamtes Werk zieht. Der Regulationsansatz, der im Frankreich der 1970er Jahren, kurz nach Beginn der westdeutschen Staatsableitungsdebatte, entwickelt worden war, zog ähnliche Schlüsse: Es galt, heterodoxe Politische Ökonomie mit einer Analyse sozialer Konflikte zu kombinieren. Dieser Ansatz bezog sich jedoch auf ein breiteres, über den Marxismus hinausreichendes Spektrum heterodoxer Politischer Ökonomie, und untersuchte, wie unterschiedliche ökonomische und außerökonomische strukturelle und institutionelle Formen die kapitalistische Reproduktion sicherten und soziale Kompromisse institutionalisierten (vgl. den Beitrag von Görg in diesem Band). Es gibt gute und naheliegende Gründe, den Regulationsansatz mit der materialistischen Staatstheorie zu verbinden. Beide beginnen bei der Form des Kapitalverhältnisses, um die eigentlich unwahrscheinliche erweiterte Reproduktion kapitalistischer Ausbeutung, Verwertung und politischer Herrschaft zu analysieren. Beide verstehen Krisen als dem Kapitalverhältnis selbst inhärente, abstrakte Möglichkeit – ob aufgrund der Trennung zwischen verschiedenen Momenten der Kapitalzirkulation und der Anarchie des Marktes, oder aufgrund der Trennung zwischen ökonomischen und politischen Momenten der kapitalistischen Reproduktion. In diesem Sinne erkennen beide, dass „die Form die Funktion problematisiert“, also die verschiedenen sozialen Formen, aus denen eine kapitalistische Gesellschaftsformation besteht, ihre je eigenen Kalkulationsweisen, Konfliktlinien und Handlungslogiken aufweisen, die es schwierig machen, Politiken und Strategien so zu koordinieren, dass die Reprodukti4 Hirsch 1995, S. 58. 5 Hirsch 1995, S. 53-4; 2005, S. 199, 226; Hirsch/Roth 1986, S. 52, 68, 148. Hirsch bezieht sich nie explizit auf „lo stato allargato“ und behandelt den integralen und den erweiterten Staat bisweilen als synonyme Begriffe (vgl. Hirsch 1995, S. 53-4; 2005: 92; Hirsch/Kannankulam/Wissel 2008, S. 94ff.). 6 Hirsch 1971; 1974; vgl. auch 1980, S. 19-23.

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on gesichert wird.7 Und beide schließen daraus, dass die provisorische und dynamische Regulation der Kapitalakkumulation und politischer Herrschaft analysiert werden muss, nicht deren statische, invariable Reproduktion. Hinzu kommt, dass die jeweiligen Stärken und Schwächen der beiden Ansätze komplementär zueinander liegen. Dem Pariser Regulationsansatz fehlt bis heute ein entwickeltes Verständnis des Staates und des politischen Systems. Materialistische Staatstheorie (insbesondere dort, wo sie an Einsichten Gramscis und Poulantzas’ anschließt) kann ein solches Verständnis bieten. Zudem tendierten Analysen des zeitgenössischen Kapitalismus in der Nachkriegszeit, die sich stark an Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie orientierten, zu ökonomistischen oder stufentheoretischen Erklärungen und ignorierten die Einbettung der Kapitalkreisläufe in unterschiedliche Gesellschaftsformationen. Solche Analysen konnten, erstens, von einer differenzierten Periodisierung kapitalistischer Entwicklung profitieren; zweitens von einem Verständnis der Formen generischer Krisentendenzen und der Krisentendenzen in unterschiedlichen historischen Perioden; und drittens von der Einsicht, dass Krisen durch eine Reihe von sozialen Verhältnissen, in denen die Akkumulation eigebettet ist, überdeterminiert sind. Diese drei zentralen Themen griff Hirsch aus dem Regulationsansatz heraus und verband sie, über einen langen Zeitraum hinweg, kreativ mit seinen früheren Arbeiten zum Staat. Dieser Beitrag ist in vier Teile gegliedert. Der erste bietet eine knappe Rückschau auf die westdeutsche Staatsableitungsdebatte und Hirschs spezifischen Betrag zu dieser. Teil zwei stellt den Regulationsansatz und dessen Interpretation durch Hirsch vor. Im dritten Teil werden die jeweiligen Schritte in der Aneignung und Rekontextualisierung des Regulationsansatzes durch Hirsch und seine Ko-Autoren – Josef Esser, Christoph Görg, Jürgen Häusler, John Kannankulam und Roland Roth – nachvollzogen. Der Beitrag schießt im vierten Abschnitt mit einigen allgemeinen Kommentaren zum Verhältnis von Hirschs Werk zum Regulationsansatz, und zum Potenzial dieser Verbindung für die Weiterentwicklung einer materialistischen Staatstheorie als Teil einer Kritik der politischen Ökonomie.

1. Staatstheoretischer Hintergrund Die Staatsableitungsdebatte (vgl. den Beitrag von Buckel/Wissel in diesem Band) zeichnet sich durch eine spezifisch marxistische Methode der theoretischen Forschung und Argumentation aus, in der die Konzepte der politischen Analyse systematisch aus der historisch-materialistischen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise bzw. der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden. Zwei Ansätze können

7 Hirsch 1995: 16ff.

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(mit zahlreichen Variationen) grundlegend unterschieden werden. Sie differieren in ihrer jeweiligen Lektüre von Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie, in der Konzeptualisierung von Politik und Staat und im Ausgangspunkt der Ableitung. Ein Ansatz nimmt die dem Kapitalismus inhärenten Tendenzen zum Marktversagen, zur ökonomischen Krise und zum Klassenkampf zum Ausgangspunkt, und versucht, die Form des kapitalistischen Staates aus den Aufgaben, die dieser zum Ausgleich dieser Defizite übernehmen musste, abzuleiten. Dieser Ansatz hat grundlegend funktionalistischen Charakter. Hirsch kritisiert ihn, da diese allgemeine Ableitung der Form trivial bleibe.8 Da sie über Wert und Kapital nicht hinausgehe, finde sich die Staatstheorie in der Sackgasse des ökonomischen Reduktionismus wieder, in der Politik insgesamt auf die allgemeine Dynamik des Klassenkampfs und konkrete Politiken auf die jeweils aktuellen Erfordernisse des Kapitals reduziert werde.9 Hirsch schließt daraus, dass die theoretische Erschließung des Staates über die rein ökonomischen Kategorien hinausgehen und die Gesamtheit der sozialen, politischen und nationalen Produktionsbedingungen einer Gesellschaftsformation berücksichtigen müsse. 10 In anderen Worten: Eine materialistische Staatstheorie müsse sich „der Ermittlung von Kategorien zuwenden […], die es ermöglichen, den Vermittlungszusammenhang von Klassenbewegungen, Klassenkämpfen und Prozessen im politischadministrativen System zu erfassen”.11 Seine eigene Arbeit setzt daher an der Trennung zwischen den ökonomischen und außerökonomischen Aspekten der kapitalistischen Reproduktion, bei der Form des kapitalistischen Staates und beim Wesen der kapitalistischen Vergesellschaftung an. Dieser Einstiegspunkt ist ein zentrales und durchgehendes Motiv seines Werks und verdeutlicht dessen antiökonomistischen Charakter. Der andere Ansatz der Staatsableitung entfaltet sich in zwei Stufen. Er leitet erstens die Form des kapitalistischen Staates als spezifische außerökonomische Instanz aus der Verallgemeinerung der Warenform der Arbeitskraft in der kapitalistischen Produktionsweise ab und argumentiert, dass diese „Besonderung“ notwendig sei, um die allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Reproduktion trotz der Anarchie des Marktes zu gewährleisten. Zweitens zeigt er, dass diese Besonderung eine Dynamik politischer Kämpfe sui generis und eine spezifische institutionelle Logik der Politikgestaltung zur Folge habe, die das allgemeine Interesse des Kapitals mit der Notwendigkeit, soziale Kohäsion zu generieren, in Einklang bringen muss. Daraus entsteht das Paradoxon, dass die Trennung zwischen den ökonomischen und den außerökonomischen Instanzen, die für die Absicherung der Bedingungen für die Reproduktion des Kapitals notwendig ist, es dem Staat zugleich erschwert, Politiken zu 8 9 10 11

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Hirsch 1974, S. 27. Hirsch 1980, S. 54-56; vgl. 1977, S. 161-162. Hirsch 1974, S. 66, 74-75, 82-83. Hirsch 1971, S. 161.

entwickeln, die diese Absicherung gewährleisten können, da sie nicht in der Lage sind, direkt in die „verborgne Stätte der Produktion“12 zu intervenieren. Verschärft wird dieses Paradoxon durch die Entkoppelung zwischen einem tendenziell integrierten Weltmarkt und einer fortdauernden Pluralität der Staatenwelt.13 Hirschs Beitrag zur materialistischen Staatstheorie kombiniert in einem ersten Schritt die Staatsableitung mit einer starken Betonung der Spezifika des politischen Systems als partikularisiertes Terrain des Klassenkonflikts mit einer eigenen Logik. Im zweiten Schritt führt Hirsch spezielle Kategorien zur Analyse politischer Klassenkämpfe und ideologischer Verhältnisse ein. Diese werden aus Marx’ politischen Schriften (im Gegensatz zu dessen abstrakter Kritik der politischen Ökonomie) entlehnt, aus Gramscis Analyse der „Hegemonie“ und des „historischen Blocks“ (und später aus dessen Schriften zu Amerikanismus und Fordismus),14 sowie aus Nicos Poulantzas’ Untersuchungen dazu, wie die bürgerliche Form des Staates zur Desorganisation der untergeordneten Klassen und zur Organisation eines relativ einheitlichen Machtblocks aus unterschiedlichen Fraktionen der dominanten Klasse(n) beiträgt.15 Konzepte von Gramsci und Poulantzas werden von Hirsch genutzt, um seine frühere Analysen zu erweitern, und konnten recht einfach integriert werden. Zugleich kritisiert Hirsch jedoch italienische und französische Arbeiten zum Staat, da sie die „Formproblematik“ außer Acht ließen. Dies könne zu einer Hypostasierung des Staates führen, in der die Einschränkungen, welche die Verwertungslogik dem Staatshandeln aufzwingt, unterschätzt würden.16 Hirsch führt auch neue Kategorien ein, wie den „Massenintegrationsmodus“. Dieser prozessiert Massenbedürfnisse und macht deren Befriedigung kompatibel mit der Kapitalakkumulation und politischer Herrschaft.17 „Wichtig ist“, fasst Hirsch später zusammen, „dass Regulation nicht nur auf dem Einsatz staatlicher Gewaltmittel beruht, sondern immer eines gewissen gesellschaftlichen Konsenses und einer freiwilligen Folgebereitschaft bedarf, um einigermaßen dauerhaft zu sein.“18 Zusammen genommen überwinden diese hirschianischen, gramscianischen und poulantzasianischen Konzepte die analytische Trennung von ökonomischer und politischer Herrschaft und erlauben eine detaillierte Konjunkturanalyse von Politik und politischen Kämpfen. Hirsch erkannte klarer als andere Formanalytiker die Schwierigkeiten, mit denen die Bourgeoisie konfrontiert ist, wenn sie eine bloß partikularistische Reproduktion spezifischer Interessen im Staatshandeln im Interesse des Gesamtkapitals vermeiden 12 13 14 15 16 17 18

Marx, MEW 23, S. 189. Hirsch 1995, S. 31-36. Gramsci 1967, 1991ff.; vgl. Opratko 2012. Poulantzas 1973; 1974; 1975; 1978. Hirsch 1977, S. 162. Hirsch 1976a; 1976b; 1977; 1978; 1980; 1983a; Hirsch/Roth 1986. Hirsch 2007, S. 91f.

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will. Mehr noch, er legt nahe, dass diese Interessen zumindest kontingent, wenn nicht inhärent, innere Widersprüche aufweisen und der bürgerliche Staat keinen privilegierten Zugang zum Wissen über die bürgerlichen Interessen hat. Seine Unterstützung für das Gesamtkapital kann nicht als gegeben angenommen werden. Diesem Problem begegnet Hirsch auf zumindest drei Arten. Erstens verweist er, wie schon Claus Offe und andere Theoretiker jener Zeit, auf die äußerlichen, strukturellen Restriktionen der Autonomie des Staates, auf die Zentralisation des Staatsapparates und auf die situationelle Logik der regierenden Gruppen in einem Kontext, in dem der Staat über keine direkte Kontrolle über die Produktion verfügt, auf Steuereinnahmen angewiesen und damit anfällig für Kapitalstreiks ist. Keine dieser Eigenschaften kann garantieren, dass die Ausübung von Staatsmacht den Interessen des (nationalen) Gesamtkapitals entspricht. Zweitens greift Hirsch das gramscianische Konzept der Hegemonie als politische, intellektuelle und moralische Führung auf. Seine spezifische Innovation ist es, Hegemonie mit den verschiedenen Modi der Massenintegration zu verbinden. Letztere geht konzeptionell über Gramscis „Hegemonieapparate“ oder Althussers „ideologische Staatsapparate“ hinaus. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die Einheit des Staatshandelns und die umfassende Kohäsion der Gesellschaft auf kontingenten sozialen Praxen beruhen, statt auf eingebauten strukturellen Garantien. Während er das Konzept der Massenintegration für den Westdeutschen Staat detailliert entwickelt, blieb der Begriff der Hegemonie im Verhältnis zur Erklärungskraft, die er ihm aufbürdete, aber relativ unterentwickelt. Die unterschiedliche Artikulation der Hegemonie über den Machtblock einerseits und die Massen andererseits, wie sie von Gramsci respektive Poulantzas analysiert wurden, bleibt ebenfalls weitgehend unerforscht. Das sollte sich über die nächsten 40 Jahre seines Schaffens grundlegend ändern. Die dritte Lösung betont die Bedeutung von Krisen für das Staatshandeln. Hier argumentiert Hirsch, dass tiefe wirtschaftliche und/oder politische Krisen, die die erweiterte Reproduktion des Gesamtkapitals bzw. führenden Kapitalfraktionen oder die Herrschaft der „regierende Gruppen“ bedrohen, diese Akteure dazu anregen, nach neuen, adäquateren strategische Antworten zu suchen, um die Krisen zu bewältigen sowie Verwertung und Herrschaft zu erneuern. Dieser Steuerungsmechanismus ist freilich kein Autopilot: Er ist stets durch Veränderungen im Gleichgewicht der Klassenkräfte vermittelt.19 Zudem ist diese Steuerung in erster Linie politisch. Sie operiert in den und durch die Auswirkungen ihrer Politik (z.B. Finanzkrisen) und ist mit Krisen der Massenintegration und/oder Krisen des Machtblocks verbunden. Diese Faktoren führen dazu, dass Staatsinterventionen Gegentendenzen zum tendenziellen Fall der Profitrate mobilisieren und das politische System reorganisieren.

19 Vgl. Hirsch 1973, S. 223–25, 265; 1974, S. 65, 75–6, 91–2, 103–104; 1976, S. 129–30, 143–5; 1977, S. 178–180; 1976b; 1980, S. 30-32; 1995, S. 30, 49.

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Hirsch arbeitet alle drei Argumente im Rahmen seiner Analyse der kriseninduzierten Reorganisation des sozialdemokratischen Massenintegrationsmodus im Westdeutschland der 1970er Jahre aus.20 Diese Analyse wird im dritten Abschnitt dieses Beitrags behandelt.

2. Der Regulationsansatz Folgt man dem Konzept der Regulationstheorie, ist zunächst davon auszugehen, dass die kapitalistische Gesellschaft aufgrund ihrer strukturellen Antagonismen und Konflikte grundsätzlich krisenhaft ist und deshalb in ihren sozialen, politischen und institutionellen Strukturen nur für beschränkte Zeiträume stabil sein kann. Daraus ergibt sich die Tatsache, dass die Entwicklung des Kapitalismus nicht linear und kontinuierlich verläuft. Phasen relativer Stabilität werden immer wieder durch große Krisen unterbrochen. Wie aber kommt es dazu, dass eine einmal durchgesetzte und hegemonial stabilisierte Akkumulations- und Regulationsweise zusammenbricht?21 Diese Fragen stehen im Zentrum sowohl von Hirschs ersten Auseinandersetzungen mit materialistischer Staatstheorie, als auch der bahnbrechenden Arbeiten Pariser Regulationstheoretiker wie Michel Aglietta und Alain Lipietz. Für Hirsch kann „die historische Realität des Kapitalismus nicht als bloße Existenz einer Struktur, sondern muss als Prozess verstanden werden, in dem sich diese Struktur realisiert“.22 Aglietta und Lipietz stellen auf ähnliche Weise die Frage, wie der Kapitalismus überleben konnte, obwohl das Kapitalverhältnis selbst unausweichlich Antagonismen und Krisen hervorbringt, die die fortdauernde Akkumulation tendenziell unwahrscheinlich machen.23 Um sie zu beantworten, erweitert Hirsch seine Analyse vom administrativ-politischen Apparat auf den integralen Staat im Sinne Gramscis und den erweiterten interventionistischen Nachkriegsstaat. Dies bringt seine Analyse den Anliegen des Pariser Regulationsansatzes nahe, in dem fünf strukturelle Formen der Regulationsweise identifiziert werden: Das Lohnverhältnis zwischen Kapital und Arbeit; das Konkurrenzverhältnis zwischen Unternehmen; Geld,-, Finanz- und Kreditverhältnisse; der Staat; und die Einbindung in internationale Regime.24 Ein wesentlicher Beitrag des Regulationsansatzes war die Entwicklung einer Reihe von Konzepten mittlerer Reichweite für die ökonomische und politische Analyse, die über die allgemeinen Kategorien aus dem „Kapital“ hinausgehen und erklären, wie spezifische ökonomische und soziale Konfigurationen und Normen dazu beitragen, die Akkumulation für eine bestimmte Zeitperiode zu regularisieren, bis grund20 21 22 23 24

Hirsch 1976b; 1980. Hirsch 2005, S. 108. Hirsch 1983b, S. 76, Herv.i.O. Aglietta 1979; Lipietz 1985. Boyer 1986.

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legende Krisentendenzen in kleinen oder großen ökonomischen, politischen und sozialen Krisen zum Durchbruch kommen25. Wenn bislang bewährte Methoden der Bearbeitung diese Krisen nicht lösen können, setzt ein Suchprozess nach dem Trialand-Error-Prinzip ein, in dem neue Grundlagen für ein Akkumulationsregime, neue Regulationsweisen und neue soziale Paradigmen entdeckt werden.26 Der Pariser Regulationsansatz bot eine Möglichkeit, den umkämpften und krisengetriebenen Charakter des Kapitalismus zu erklären. Institutionelle Formen, gesellschaftliche Normen und strategische Muster sind demnach zugleich Ausdruck und Bearbeitungsformen von Konflikten. In ihnen können Kämpfe reguliert werden, so lange bis die unvermeidlichen Differenzen und widerstrebenden Tendenzen innerhalb der Regulationsformen einen Krisenpunkt erreichen.27 Eine Stärke des Regulationsansatzes ist, dass er betont, dass die unwahrscheinliche Entdeckung effektiver Regulationsweisen Ergebnis sozialer und politischer Kämpfe ist, die sich stabilisieren und ein hegemoniales System bilden – Klassenbündnisse, basierend auf Konsens, gepanzert mit Zwang, die die Interessen der herrschenden und der untergeordneten Klassen dem Akkumulationsregime konform prägen.28 Schwächen des Ansatzes liegen jedoch in der Analyse des kapitalistischen Staates, der Modi der Massenintegration und der politischen Klassenherrschaft. Hier hat der westdeutsche regulationsund staatstheoretische Ansatz viel zu bieten. Hirsch selbst hat eine exzellente – und kritische – Zusammenfassung der wesentlichen Beiträge in einem Artikel zu Staatstheorie und Regulationsansatz vorgelegt.29 Sein Ziel war es, die beiden zu integrieren, um ihre heuristische Erklärungskraft wechselseitig zu stärken.30

3. Die Zusammenführung von materialistischer Staatstheorie und Regulationstheorie Hirsch begann Anfang der 1980er Jahre, den Regulationsansatz in seine staatstheoretischen Arbeiten zu integrieren – kurz nachdem dem Ansatz durch die englische Übersetzung von Michel Agliettas überarbeiteter Dissertation und die verstärkte Rezeption der Arbeiten von Alain Lipietz erste Aufmerksamkeit außerhalb Frankreichs zuteilwurde.31 Dies sind auch die regulationstheoretischen Autoren, die Hirsch am häufigsten zitiert. Diese Rezeption lässt sich im Vergleich zwischen Hirschs Werken

25 Vgl. Hirsch 1995, S. 30-31, 63ff. 26 Für einen Überblick zu den Pariser und Grenobler Regulationsansätzen, die in der deutschen Debatte am einflussreichsten waren, siehe Sum/Jessop 2005; Hübner 1989. 27 Lipietz 1987, S. 3f. 28 Lipietz 1986, S. 20; vgl. Aglietta 1976; Hirsch 2001. 29 Hirsch 2001, S. 102-5; vgl. 1995, S. 43-48; 2005, S. 103-108. 30 Hirsch 2001; 1995; 2005. 31 Aglietta 1976.

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Der Sicherheitsstaat, Das neue Gesicht des Kapitalismus und späteren Texten nachvollziehen.

3.1 Der Sicherheitsstaat (1980) In Der Sicherheitsstaat kombiniert Hirsch die formanalytischen Kategorien der Staatsableitung mit einer Theorie der historischen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die drei Hauptkonzepte sind die intensive Phase der kapitalistischen Entwicklung (bisweilen als Fordismus bezeichnet), der Modus der Massenintegration (materiell verkörpert im reformistisch-sozialdemokratischen Staatsystem des Modells Deutschland) und die Vergesellschaftungsmodi. Jeder dieser Begriffe kann auf Hirschs frühere wert- und staatstheoretischen Arbeiten zurückverfolgt werden, die nun als Teil einer breiter angelegten Theorie der Vergesellschaftung durchgearbeitet werden. Dies erlaubt ihm, von der allgemeinen (und daher notwendig abstrakten) politischen Ökonomie zur Analyse gegenwärtiger Veränderungen des Staates und der Staatsmacht fortzuschreiten. Die Krise des reformistischen, sozialdemokratischen Modus der Massenintegration im Westdeutschland der 1970er Jahre war von einem Anstieg an Streiks, Protestbewegungen und politischer Unzufriedenheit gekennzeichnet. Die sozialen Grundlagen des Staates erodierten, als Familie, Gemeinschaft und Nachbarschaft an integrativer Kraft verloren. Sie wurden durch Institutionen wie Polizei, Schule und Sozialarbeit ersetzt. Zudem versuchte der Staat, die Protestbewegungen, die außerhalb der massenintegrativen reformistischen Apparate agierten, zu unterdrücken und ihre subversiven Potenziale einzuhegen. Der fordistische Sozialstaat war auch in diesem Sinne ein Sicherheitsstaat. Er gewährleistete zugleich das materielle Überleben seiner sozialen Mitglieder als auch deren funktionale Anpassung und Regulierung, ihre soziale Konditionierung und Überwachung. Der Modus der Massenintegration wurde durch selektivere materielle Zugeständnisse auf Kosten marginaler Gruppen und die aktiveren Politiken der korporatistischen Integration verantwortungsvoller Gewerkschaften und Parteien reorganisiert. Parteien wurden zu „Volksparteien“ – bürokratische und massenintegrative Apparate mit einer losen sozialen Basis. Parlamente und Bürokratien wurden zunehmend zu Mechanismen, um makrosoziale Probleme in politische Fragestellungen zu verkleinern. Indem die Probleme fragmentiert werden, können sie einer umfassenden Auseinandersetzung entzogen werden. Dieser Transformationsprozess umfasste sowohl die Durchkapitalisierung als auch die Durchstaatlichung der Gesellschaftsformation. Die Gesellschaft wird zunehmend der Kapitallogik unterworfen und der Staat wird zur zentralen Komponente im Prozess der kapitalistischen und gesellschaftlichen Reproduktion. Die Abschottung des starken Staates ist jedoch zugleich seine Schwäche. Staatliche Akteure können Wider-

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sprüche nicht länger wahrnehmen und Konflikte nicht mehr durch Verhandlungen bearbeiten. Trotzdem konsolidiert der fordistische Sicherheitsstaat das fordistische Wachstumsmodell.32

3.2 Das neue Gesicht des Kapitalismus (1986) Der zweite Text analysiert das Entstehen eines neuen Wachtumsmodells – des Postfordismus – aus der Krise des Fordismus heraus. Er bietet zudem eine plausible Darstellung der korrespondierenden hegemonialen Struktur. Die wichtigsten Konzepte für die Analyse des Übergangs von Fordismus zu Postfordismus sind hier das fordistische Akkumulationsregime, die fordistische Regulationsweise und die hegemoniale Struktur. Obwohl hier und da auf frühe regulationstheoretische Arbeiten (meist von Aglietta und Lipietz) verwiesen wird, unterscheidet sich die Analyse nicht von anderen heterodoxen Untersuchungen der Nachkriegs-Wachstumsphase im fortgeschrittenen Kapitalismus. Das leitende Konzept ist der Fordismus, nicht die spezifischen Konzepte des Pariser Regulationsansatzes. Gleichermaßen wird Gramscizwar zitiert,33 dessen Heft zu Amerikanismus und Fordismus jedoch nicht erwähnt. Gramscis Bemerkungen spielen in der Analyse des Fordismus keine prominente Rolle, weder für das Akkumulationsregime, noch für die Regulationsweise. Wenig überraschend weisen die drei zentralen Konzepte starke Kontinuitäten zu Hirschs früheren staats- und gesellschaftstheoretischen Arbeiten auf, ebenso wie zu Roland Roths Arbeiten zu rebellischen Subjekten und neuen sozialen Bewegungen.34 Zugleich ist ein starker Einfluss (neo-)gramscianischer Hegemonieanalysen und von Poulantzas’ Analysen des Staates als gesellschaftliches Verhältnis sowie des Aufstiegs autoritärer Staatlichkeit zu erkennen. Um die Regulationstheorie und die materialistische Staatstheorie zusammenzuführen und deren Erklärungskraft zu stärken, mussten jedoch zunächst Konzepte weiter geklärt und ihre theoretischen Grundlagen reflektiert werden. Dass die Analyse von Hirsch und Roth einen Übergang markiert, lässt sich an fünf Aspekten ablesen. Erstens verweisen sie auf die Regulationstheorie in gleicher Weise wie auf andere heterodoxe Theorien, ohne sie zu privilegieren. Zweitens führen sie ihr eigenes konzeptionelles Lexikon ein, das nur indirekt an die regulationstheoretische Trinität anschließt und auch als Umformulierung früherer Begriffe von Hirsch gelesen werden kann. Drittens verwenden sie unterschiedliche Formulierungen für dieselben Konzepte und nutzen „Regulierung“ auch für andere theoretische Zwecke (etwa um Formen oder Felder der Staatsintervention zu bezeichnen). Vier32 Vgl. auch Hirsch 1976b. 33 Gramsci 1967. 34 Roth 1985.

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tens bleibt unklar, welche theoretischen Vorteile die Einführung regulationstheoretischer Konzepte in die Analyse bringt. Die Analysen in „Das neue Gesicht des Kapitalismus“ oder „Regulation und Parteien im Übergang zum ‚Post-Fordismus“ (mit Jürgen Häusler) unterscheiden sich kaum von jenen, die Hirsch vor der Rezeption der Regulationstheorie vorgelegt hatte.35 Fünftens gehen die Analysen der Triebkräfte hinter den postfordistischen Strategien und/oder Projekten nicht über Verweise auf den durch internationalen Wettbewerb verursachten „Anpassungsdruck“ für Firmen, Gewerkschaften, Parteien, staatliche Akteure und andere soziale Kräfte hinaus. Hirsch/Roth lassen weitgehend unberücksichtigt, welche Kräfte neue Strategien entwerfen, wie diese umgesetzt werden, welche Widerstände dafür überwunden werden müssen usw. Obwohl sie betonen, dass der Übergang nicht unausweichlich war, scheint es manchmal, als hätten die Kräfte des Postfordismus die Geschichte auf ihrer Seite. Und obwohl Hirsch bestreitet, dass globale Subjekte existieren, scheint der Staat mit erstaunlichen Fähigkeiten zur Koordination ausgestattet zu sein – Fähigkeiten, die Hirsch in früheren staatstheoretischen Arbeiten selbst in Frage gestellt hatte. In dieser Übergangsperiode sind Hirschs Studien von fortwährenden Verfeinerungen, Ergänzungen und Variationen geprägt. Das Akkumulationsregime, als spezifische Organisationsform von Produktion und Arbeit, basierend auf spezifischen Technologien, die die Produktion und Realisierung von Mehrwert ermöglichen, ist ein Beispiel dafür. Häusler und Hirsch identifizieren fünf strukturelle Formen des Akkumulationsregimes: Die Reproduktion des Kapitals; das Lohnverhältnis; Staatsintervention; das Verhältnis zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Sektoren; und die Integration in den Weltmarkt.36 Die Regulationsweise ist das konkrete Verhältnis zwischen diesen Formen. Sie umfasst eine vielfältige Struktur ökonomischer und sozio-politischer institutioneller Formen, Steuerungsmechanismen und normativer Orientierungen, die zusammen ein gewisses stabiles Gleichgewicht herstellen.37 Eine hegemoniale Struktur bildet schließlich die Basis eines historischen Blocks. Sie ist die historisch spezifische Verbindung zwischen einem Akkumulationsregime und einer Regulationsweise, die zusammen die langfristigen ökonomischen (Verwertung) und politisch-ideologischen (Legitimation, Zwang und Konsens) Bedingungen für die Reproduktion des Gesamtsystems unter der Dominanz der herrschenden Klasse trotz des konflikthaften Charakters kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse sichern.38 Ein historischer Block umfasst „eine Einheit aus einer bestimmten Akkumulationsstrategie, einem konkreten Ensemble von Klassenverhältnissen und sozialen Formen, und einer bestimmten hegemonialen Struktur“.39 35 36 37 38 39

Hirsch/Roth 1986; Häusler/Hirsch 1987; vgl. Jessop 1988. Häusler/Hirsch 1987, S. 652. Hirsch/Roth 1986, S. 38. Häusler/Hirsch 1987, S. 653; Hirsch/Roth 1986, S. 38f.; Hirsch 1983a, S. 163. Hirsch 1984, S. 157.

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Joachim Hirschs Werke

Der Sicherheitsstaat (Hirsch 1980)

Extensive vs. intensive Phase kapitalistischer Entwicklung

Massenintegrative Apparate und Modus der Massenintegration

Reproduktions- und Vergesellschaftungsmodus

Pariser RegulationsTheorie

Früher Ansatz (1976-85)

Akkumulationsregime und Modus des globalen Zusammenhalts

Kohärente ökonomische und soziale Regulationsweise

Gesellschaftliches Paradigma (Lipietz)

Hegemoniale Struktur und historischer Block plus Hegemonieprojekte (vgl. Gramsci)

Regulierungsmechanismus oder -zusammenhang Regulierungsmodi, -weise, -formen oder -modelle

Akkumulationsweise und Akkumulationsmodell oder -strategie

Das neue Gesicht des Kapitalismus (Hirsch/Roth 1986)

Klassen vs. Soziale Akteure

Regulationssystem vs. Regulationsweise

Akkumulationsprozess vs. Akkumulationsregime

A necessary but shaky relationship (Hirsch 1990)

Globalisierungsschub, neoliberales Gesellschaftsprojekt, zivilgesellschaftlicher Totalitarismus

Regulationsweise (Lipietz) mit wichtigen Rollen für institutionalisierten Kompromiss, Wertorientierungen, Verhaltensroutinenneben Markt und Staat

Durch Akkumulationsregime vermittelter Akkumulationsprozess (Lipietz)

Der nationale Wettbewerbstaat (Hirsch 1995)

Internationale hegemoniale Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse (Gramsci)

Regulationsweise (Lipietz) einschließlich Modus der Massenintegration

Akkumulationsregime und ungleiche Artikulation nationaler Wachstumsmodelle

Materialist state theory and regulation theory (Hirsch 2001)

Tabelle 1 stellt den Einsatz regulationstheoretischer sowie staats- und gesellschaftstheoretischer Konzepte zu unterschiedlichen Zeitpunkten dar. Sie zeigt die Kontinuitäten in Hirschs Werk ebenso wie die sukzessive und zunehmend kohärente wie effektive Integration regulationstheoretischer Arbeiten – immer in eine breiter angelegte materialistische Gesellschaftsanalyse eingearbeitet, die das Primat des Staates in der Sicherung der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaftsformationen betont.

3.3 A necessary but shaky relationship (1990) Nach Das neue Gesicht des Kapitalismus von 1986 führt Hirsch die Erkundung des Potenzials des Regulationsansatzes für die Weiterentwicklung einer marxistischen Kritik der Vergesellschaftung fort. In seinem Beitrag zur Ersten Internationalen Konferenz zur Regulationstheorie, 1988 in Barcelona abgehalten (und 1990 veröffentlicht), legt er eine vorläufige Einschätzung der theoretischen Architektur und Kompatibilität des Ansatzes im Rahmen einer breiter angelegten kritischen Gesellschaftsanalyse vor.40 In diesem Kontext kritisiert er, dass es regulationstheoretischen Konzepten an einer Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung mangle und das Kapitalverhältnis darin nur als allgemeiner analytischer Rahmen genutzt würde. Dies führe zu einer unterentwickelten Analyse der kapitalistischen Form der Institutionen sowie zu einem mangelhaften Verständnis des „gesellschaftlichen“ in der Bestimmung der gesellschaftlichen Regulationsweise. Ihre Konzepte seien von „mittlerer Reichweite“ im schlechten Sinne: Sie schlössen nicht an eine grundsätzliche Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung an und hätten keine klare Grundlage in Bezug auf das Verständnis sozialer Praxis. Dies spiegle sich in einer Überbetonung der Diskontinuitäten auf Kosten der unveränderlichen Merkmale des Kapitalverhältnisses wider. Eine weitere Konsequenz war, dass der Regulationsansatz keine Theorie der Krise habe: Er könne Krisen beschreiben, aber nicht die ihnen zugrunde liegenden Tendenzen erklären. Hirsch fasst diese umfassende Kritik so zusammen: „Regulationsweisen sind weder ‚Fundsachen’ [objets trouvés] noch funktionale Notwendigkeiten, sondern das Resultat von Konflikten zwischen antagonistischen Akteuren mit ihren jeweiligen Strategien, sozialen Bewegungen, Kapitalfraktionen, formellen und informelle Machtgruppen. Diese Konflikte entstehen zugleich in und gegen Institutionen. Wird dieser Widerspruch zwischen Institutionen und Handeln nicht berücksichtigt, bleibt die Erklärung kritischer und transformativer gesellschaftlicher Praxis zumindest unvollständig. Vor allem wird damit jedes Verständnis der Bedingungen und Möglichkeiten für kollektives Handeln, das das Potenzial besitzt, das auf dem Kapitalverhältnis basierende institutionelle System aufzubrechen, blockiert.“41

40 Hirsch 1990. 41 Hirsch 1990, S. 100.

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Hirsch schlägt vor, das Konzept der Regulation mit grundlegenden Elementen der Marx’schen Theorie zu artikulieren und besondere Aufmerksamkeit auf die politische Dimension zu legen, die in der Regulationstheorie auffallend unterentwickelt sei. Der Schlüssel lag in der Erforschung des „Verhältnisses zwischen ökonomischinstitutionellen Strukturen und gesellschaftlichen (Klassen-)Akteuren, der Relevanz des Staates im Komplex der Regulation und der Konstitutionsbedingungen sozialer Bewegungen“.42 Dafür sei es notwendig, zugleich die zentralen Konzepte für die Analyse der allgemeinen, strukturellen Eigenschaften der kapitalistischen Produktionsweise und deren historische Respezifizierung in konkreteren Begriffen theoretisch zu erarbeiten. Ohne erstere bestehe die Gefahr der voreiligen Historisierung der Analyse; ohne letztere wäre es nicht möglich, die historischen Spezifika verschiedener Existenzweisen der kapitalistischen Produktionsweise in spezifischen kapitalistischen Gesellschaftsformationen zu erklären. Eine Analyse der allgemeinen Struktureigenschaften würde auf die durch Klassenkonflikte vermittelte Balance zwischen einer instabilen, krisenhaften kapitalistischen Produktionsweise, der Akkumulationsdynamik und der Regulation fokussieren. Die historische Analyse würde konkrete Formen der Produktion und Reproduktion untersuchen, indem sie spezifische Akkumulationsregime und Regulationsweisen analysiert und erforscht, wie diese die Widersprüche in den grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung vermitteln und dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenwirken (ohne sie aufzuheben).43 Die diesen Formen, Widersprüchen und Krisentendenzen eigenen Zwänge erklären die Ambivalenzen, Grenzen und inhärenten Instabilitäten spezifischer Akkumulationsregime und Regulationsweisen. Anders als die Pariser Regulationstheorie müsse eine adäquate kritische Gesellschaftstheorie zudem die Form und Funktion des kapitalistischen Staatstypus in der Reproduktion und Regulierung viel stärker berücksichtigen.44 Die Rolle des Staates in der Regulierung werde erst durch die notwendige institutionelle Besonderung von der profitorientierten, marktvermittelten ökonomischen Sphäre kapitalistischer Gesellschaftsformationen ermöglicht – durch die Form des kapitalistischen Staates.45 Der kapitalistische Staat konstituiert somit die materielle Basis komplexer normativer Auffassungen und Orientierungen: Der Staat verkörpert das Allgemeinwohl, die pluralistische Form öffentlicher Meinungsbildung, die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten. Sie können als ideologische „Staatsillusion“ entlarvt werden. Weil der Staat kein hierarchisch abgeschlossener bürokratischer Apparat ist, sondern zahlreiche relativ unabhängige Apparate umfasst (Ministerialbürokratien, Verwaltung, Parlament, Justiz, Zentralbank), können unterschiedliche Beziehungen 42 43 44 45

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Hirsch 1990, S. 101. Hirsch 1990, S. 101-105. Hirsch 1990, S. 107-110. Hirsch 1990, S. 109.

zu in Konflikt zueinander stehenden sozialen Gruppen und Klassen institutionalisiert werden. Das führt zu permanenten Kämpfen und Konflikten innerhalb der Bürokratie. Dieser Komplex an Verhältnissen baut zu großen Teilen auf den Verbindungen zwischen Staatsapparaten und anderen regulierenden Institutionen der Gesellschaft auf (Verbände, Kirchen, Massenmedien, Familie). Politische Parteien spielen eine wichtige Rolle sowohl als Vermittlerinnen zwischen Staat und Individuen wie auch als institutionalisiertes System der Regulierung.46 Alle regulierenden Institutionen außerhalb des Staates stehen in einem Verhältnis zum Staat, das durch dessen Charakter als physischer Gewaltapparat bestimmt wird. Der Regulationsprozess ist also voll und ganz durch den Staat vermittelt, aber ohne dass der Staat dadurch zum steuernden Subjekt würde. Staatliche Entscheidungen und Maßnahmen sind nur eine – wenn auch wichtige – Komponente in einem Regulationsprozess, der durch das politische und administrative institutionelle System vermittelt ist.47 Diese Bemerkungen zum Verhältnis von Regulationstheorie und materialistischer Staatstheorie sind zentrale Motive, die Joachim Hirschs staatstheoretisches Werk schon in den zwanzig Jahren zuvor geprägt hatten. Sie stellen zudem wichtige Korrekturen zur regulationstheoretischen Vernachlässigung der Formproblematik dar und verweisen auf häufig gegen die Pariser Regulationsansätze der zweiten und dritten Generation vorgebrachte Kritik. Diesen wurde ihre reformistische Schlagseite sowie ihre Tendenz vorgeworfen, besser gestaltete Institutionen als Lösung für dem Kapitalverhältnis inhärente Widersprüche und Krisentendenzen vorzuschlagen.

3.4 Der nationale Wettbewerbsstaat (1995) An diese erste kritische Einschätzung des „notwendigen, aber brüchigen“ Verhältnisses zwischen Regulationstheorie und materialistischer Staatstheorie schloss Hirsch mit drei Frankfurter Kollegen in einem DFG-finanzierten Forschungsprojekt an, dessen Ergebnisse in „Politik, Institutionen und Staat: Zur Kritik der Regulationstheorie“ veröffentlicht wurden.48 Darin identifizieren sie im Wesentlichen die gleichen konzeptionellen und theoretischen Schwächen des Regulationsansatzes als Theorie mittlerer Reichweite und entwickeln eine komplexere formtheoretische Analyse der kapitalistischen Vergesellschaftung, der Form der Institutionen in einer Gesellschaftsformation, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht, der dem Kapitalverhältnis inhärenten Widersprüche und Krisentendenzen, und des Beitrags des Staates und des politischen Systems im weiteren Sinne zur temporären, provisorischen und instabilen Absicherung der krisenhaften Akkumulation. Abermals ist es 46 Vgl. Häusler/Hirsch 1987. 47 Hirsch 1990, S. 109; vgl. 1995, S. 51-55. 48 Esser/Görg/Hirsch 1994; Thomas Sablowski war der vierte Mitarbeiter.

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Hirsch, der die Relevanz der materialistischen Staatstheorie für diese Fragen herausarbeitet. „Der nationale Wettbewerbsstaat“ stellt gewissermaßen eine Synthese der früheren Arbeiten Hirschs dar (vgl. den Beitrag von Brand in diesem Band). Dabei bezieht sich Hirsch noch stärker und positiver auf die Regulationstheorie49, die ihm eine genauere Darstellung des Prozesses der kapitalistischen „Regulation“50 und deren Rolle in der Bearbeitung „säkularer“ Krisen und Umbrüche erlaubt. Es geht ihm explizit um den Versuch, materialistische Staatstheorie und „Regulationsschule“ zu kombinieren, um die verschiedenen Gesichter des Kapitalismus zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten des Weltmarkts zu erforschen. Die Analyse wird nun mit den Begriffen Akkumulationsregimes und Regulationsweisen durchgeführt. Die Artikulation zwischen den beiden findet hauptsächlich auf dem nationalen, vom Nationalstaat dominierten Terrain statt. Sie ist stark durch diskursive Kämpfe um die Definition von Akkumulationsstrategien, Staatsprojekten und Hegemonieprojekten vermittelt.51 Ideologische Apparate und die Zivilgesellschaft spielen eine entsprechend zentrale Rolle in der Suche nach neuen Akkumulationsregimes und Regulationsweisen. Dabei kann die artikulatorische Beziehung zwischen den beiden auch desartikuliert werden, was zu Akkumulationskrisen führt, die den Verwertungsprozess blockieren, bis eine umfassende Reorganisation des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise(n) eintritt. Das ist kein automatischer Prozess: Er wird von politischen und sozialen Kämpfen angetrieben. Im Fokus des „Nationalen Wettbewerbsstaates“ stehen der internationale Wettbewerbsdruck und die entsprechenden staatlichen Politiken. Hirsch benennt nun einen neuen Typ des kapitalistischen Staates. Als solcher unterscheidet er sich von Faschismus und Staatstotalitarismus ebenso wie von traditionellen Formen kapitalistischer Demokratie und dem fordistisch-keynesianischen, interventionistischen Staat der Nachkriegsära: Es ist ein neuer Typ kapitalistischer Herrschaft, nämlich eine zivilgesellschaftliche Form von Totalitarismus.52 Hirsch wendet die regulationstheoretischen Konzepte mittlerer Reichweite, die er als Weiterentwicklung der Marx’schen Kategorien darstellt,53 an, um diesen neuen Staatstyp zu analysieren. Akkumulationsregime und Regulationsweisen können auf verschiedene Weise konfiguriert werden und damit verschiedene „Gesichter des Kapitalismus“ hervorbringen, die wiederum unterschiedliche Formen der Kapitalverwertung, der Klassenverhältnisse, der politisch-gesellschaftlichen Prozesse und der Verflechtungen zwischen nationalen und internationalen Krisen aufweisen.54 Diese verschiedenen Konfigurationen be49 50 51 52 53 54

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Hirsch nennt sie nun auch „Regulationsschule“; Hirsch 1995, S. 9, 47. Hirsch 1995, S. 45. Hirsch zitiert hier Jessop 1982; 1985 und Mouffe 1982. Hirsch 1995, S. 9. Hirsch 1995, S. 46. Hirsch 1995, S. 45; 65-73; vgl. 2001, S. 104-113.

stimmen Klasseninteressen in spezifischen Konjunkturen und sind mit verschiedenen Mustern der Integration/Exklusion und Kohäsion/Spaltung verbunden. Mit den differierenden Bedingungen der Akkumulation und Regulation weist jede historische Gesellschaftsformation auch ihre je eigene Form der Krise auf, die sich aus dem Zusammenspiel von nationalen Formen und dem sich wandelnden Weltmarkt ergibt. Denn aus der Perspektive der Regulationstheorie ist das globale kapitalistische System ein komplexer Zusammenhang nationaler Reproduktionsverhältnisse mit ihren je eigenen Akkumulations- und Regulationsweisen, sowie ihren eigenen Formen des Wettbewerbs, des Konflikts und der Kompromisse.55 Damit geht eine zweifache Verbindung auf Ebene des Weltmarktes einher: „Die Verbindung von Akkumulations- und Regulationsweise, die ein nationales ‚Wachstumsmodell’ kennzeichnet, hängt von der Art und Weise ab, wie diese in die internationale Arbeitsteilung eingebettet sind, und letztere wird wiederum selbst von der Struktur und Entwicklung der nationalen Formationen bestimmt.“56 Hinzu kommt, dass die Unterschiede zwischen nationalen kapitalistischen Formationen eine fundamentale Voraussetzung für die globale Akkumulation darstellen und zugleich von diesem Prozess selbst permanent reproduziert werden. Daraus entsteht ein komplexes Möglichkeitsfeld für Positionen und konkurrierende Modelle, das die Grundlage für nationale Strategien im internationalen Wettbewerb bilden kann. Im Unterschied zu klassischen Theorien des Imperialismus, der Weltsystem- oder Dependenztheorie behandelt die Regulationstheorie das globale kapitalistische System nicht als räumlich und zeitlich homogenes hierarchisches Modell oder eine einfache Zentrum-PeripherieBeziehung, sondern als variables, durch ungleiche Entwicklung gekennzeichnetes Netzwerk, das durch das sich verändernde Gleichgewicht der sozialen Kräfte und politischen Kämpfe vermittelt ist und starke Ungleichheits-, Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse herstellt.57

3.5 Regulation and State Theory (2001) Spätestens ab 2001 war Hirschs positiver Bezug auf die Regulationstheorie gefestigt. In seinem Buchbeitrag „The concept of materialist state theory and regulation theory“ fasst er die zentralen Motive seines Buches zum nationalen Wettbewerbsstaat zusammen, fokussiert sie aber noch stärker auf den regulationstheoretischen Kontext.58 Konkret wirft er darin die Frage auf, ob – und wenn ja, wie – die Regulationstheorie die Unzulänglichkeiten anderer heterodoxer Ansätze zum Weltmarkt 55 56 57 58

Vgl. Mistral 1986; Robles 1994. Hirsch 1995, S. 67. Hirsch 1995: 68f. Hirsch 2001.

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(wie die Dependenz-, Imperialismus- und Weltsystemtheorie) in der Erklärung der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre überwinden könne. Er beschreibt dieses Anliegen abermals als Versuch, die marxistische Kritik der politischen Ökonomie zu erneuern.59 Als zentralen Beitrag der Regulationstheorie in diesem Sinne sieht Hirsch, dass sie den analytischen Fokus verschob: Von internationalen Beziehungen zwischen Staaten und Ökonomien, die als gegebene, abgeschlossene Einheiten angenommen wurden, zur Ebene der internalen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen.60

4. Conclusio Aus Platzgründen findet der Abriss zu Joachim Hirschs Auseinandersetzung mit dem Regulationsansatz hier ein Ende. Doch es ist auch ein angemessener Endpunkt, denn der letzte hier behandelte Text markiert zugleich den Punkt, an dem die Regulationstheorie ein permanentes und stabiles Element in seiner materialistischen Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung geworden war. Es folgten weitere Entwicklungen, doch waren diese eher inkrementeller Natur und bauten auf dem bis dahin Erreichten auf. Über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren, von der ersten ernsthaften Auseinandersetzung mit der materialistischen Staatstheorie Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre bis zur Jahrhundertwende ergänzte Joachim Hirsch seine eigenständige materialistische Staatstheorie, die ihre Grundlage in der anhaltenden Beschäftigung mit der Dynamik kapitalistischer Verwertung anstatt der Logik der Verwertung allein hatte, mit den vermittelnden Kategorien der Regulationstheorie. Sie erlaubten ihm ein breiteres und tieferes Verständnis des Verhältnisses von Struktur und Handeln, der reziproken Beziehungen zwischen Basis und Überbau, des Charakters von Klassenstrategien und Herrschaft in liberalen Demokratien und der Komplexitäten ökonomischer, politischer und ideologischer Krisen, die sich in einem differenzierten Weltmarkt und in einer Staatenwelt entfalteten, die dadurch restrukturiert wurde, dass verschiedene Akkumulationsprozesse, Regulationsweisen und Klassenkämpfe in einem Prozess ohne Subjekt interagierten und die Orte, Maßstabsebenen und Inhalte der Kapitalakkumulation veränderten. Das permanente und stabile Element seiner Analyse ist die materialistische Staatstheorie, die durch empirische Erweiterung und konzeptuelle Ausarbeitung, nicht durch radikale Brüche verändert wurde. Seine Analyse der Verwertungslogik und Ausbeutung wandelte sich durch die Auseinandersetzung mit der Regulationstheorie, was sich in meiner Lesart insbesondere im schwindenden Bezug auf den tendenziellen Fall der Profitrate als grundlegende Krisentendenz, für die politisch 59 Hirsch 2001, S. 102; vgl. 1995, S. 46. 60 Hirsch 2001, S. 103.

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vermittelte (statt technokratische) Lösungen in verschiedenen Perioden und Spielarten des Kapitalismus gefunden werden mussten, äußert. Hier stützte sich die immer weiter verfeinerte Analyse, zunächst anhand des (west-)deutschen Modells ausgearbeitet, auf die regulationstheoretischen Konzepte des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise. Sie modifizierte diese Konzepte jedoch zugleich durch die kontinuierliche Inanspruchnahme der marxistischen Formproblematik und seiner weiterentwickelten materialistischen Staatstheorie. Seine Würdigung der theoretischen Innovationen Antonio Gramscis (auch wenn er kein intimer Kenner der Gefängnishefte war) und, mehr noch, seine kritische Aneignung des parallel entwickelten theoretischen Werks von Nicos Poulantzas, bildete den Kontext, in dem er regulationstheoretische Konzepte durch schrittweises Experimentieren in sein Werk aufnehmen und dieses dadurch bereichern konnte. Hirschs positiver Bezug auf die französische Regulationstheorie lässt sich in sechs Punkten zusammenfassen. Erstens kann eine Kombination aus Regulationstheorie und materialistischer Staatstheorie zeigen, dass die Struktur und Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems durch den Widerspruch zwischen globaler Akkumulation und der politischen Form des Nationalstaats bestimmt ist, die für deren Regulation fundamental ist. Dieser Widerspruch verschärft sich mit der zunehmenden Integration des Weltmarktes und kann nicht überwunden werden, so lange die kapitalistische Produktionsweise und kapitalistische Klassenverhältnisse existieren, egal wie tief die globalen ökologischen, ökonomischen und politischen Krisen werden. Zweitens bietet die Kombination eine überzeugende Erklärung für die Entwicklung verschiedener Spielarten des Kapitalismus innerhalb des internationalen hegemonialen Regimes, sowohl in der Phase des globalen Fordismus, als auch nach dessen Krise, als neue Formen des internationalen Wettbewerbs rund um unterschiedliche postfordistische Arrangements in der kapitalistischen Triade entstehen. Drittens kann dieser Ansatz erklären, weshalb internationale hegemoniale Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse nicht über lange Zeiträume stabil bleiben können. Sie gründen auf spezifischen, tendenziell krisenhaften Akkumulationsregimen und Regulationsweisen. Jeder Versuch, die daraus resultierenden Krisen zu lösen oder zu bearbeiten, hängt von Klassenkämpfen ebenso wie von strukturellen Zwängen und konjunkturellen Möglichkeiten ab. Auf globaler Ebene schließt dies immer auch die Restrukturierung internationaler Regime und internationaler Hegemonie mit ein – wobei letztere im umfassenden gramscianischen Sinne verstanden wird. Dadurch können traditionelle Imperialismustheorien aktualisiert oder abgelöst werden. Viertens kann Hirschs neuer Ansatz zeigen, dass die Krise des globalen Fordismus eine Krise der internationalen Regulation war, die nationale Krisen verstärkt hat. Fünftens wird durch die Abwesenheit einer stabilen hegemonialen Ordnung auf internationaler Ebene nicht nur die internationale Konkurrenz verschärft, sie schränkt auch die Kapazitäten der Nationalstaaten ein, sich Wettbewerbsvorteile zu sichern und zugleich

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soziale Kohäsion zu gewährleisten. Sechstens schließlich bietet der Ansatz einen heuristischen Rahmen, um Erfolge und Scheitern verschiedener Entwicklungsstrategien in der sogenannten Dritten Welt zu untersuchen. Denn deren Resultate hängen maßgeblich von den vorherrschenden Akkumulationsregimen, Regulationsweisen und Staatskapazitäten im Verhältnis zu den Möglichkeiten innerhalb der Weltordnung ab.61 Hirschs Zusammenfassung dieser Einsichten legt nahe, dass er zunehmend auf die Grenobler Schule der Regulationstheorie, in der die Artikulation nationaler und internationaler Verhältnisse analysiert wurde, statt auf die ursprünglich auf den Nationalstaat zentrierten Untersuchungen der Pariser Schule zurückgriff.62 Für seine Synthese scheint die Regulationstheorie zudem größeren Einfluss auf Analysen der ökonomischen als der politischen Sphäre gehabt zu haben. Das spiegelt teilweise die verschiedenen Stärken der beiden Ansätze und von Hirschs staatstheoretischem Hintergrund wider. Schließlich weist dies darauf hin, dass Hirschs Thesen stark staatszentriert bleiben. Er nutzt dabei jedoch die gramscianische Analyse des Staates im integralen und erweiterten Sinne sowie eine poulantzianische Analyse des Staates als gesellschaftliches Kräfteverhältnis. Das bedeutet, dass der verbleibende Staatszentrismus in Hirschs Werk weniger problematisch ist, als eine oberflächliche Lektüre nahelegen könnte. Gramscis Bemerkung zum Staat könnte gut als Motto für Hirschs Oevre gelten: „Wenn Politische Wissenschaft die Wissenschaft vom Staat bedeutet und Staat der gesamte Komplex praktischer und theoretischer Aktivitäten ist, womit die führende Klasse ihre Herrschaft nicht nur rechtfertigt und aufrechterhält, sondern es ihr auch gelingt, den aktiven Konsens der Regierten zu erlangen, dann ist es offensichtlich, daß alle Fragen der Soziologie nichts anderes sind als Fragen der Politischen Wissenschaft.“63 In diesem Sinne ist Hirschs eigenständiger Ansatz in der Staatsableitungsdebatte, nämlich die Kombination einer Kritik der politischen Ökonomie mit einer politischen Soziologie der Klassenherrschaft, eines der essenziellen und bleibenden Charakteristika seines theoretischen und politischen Werks. Dies drückt sich nicht zuletzt in seiner anhaltenden Betonung der Rolle von sozialen Bewegungen, Kämpfen und Konflikten in der fragilen Reproduktion des Kapitalverhältnisses aus, und des Überschusses, den diese Kämpfe über Formen, Strukturen und Institutionen hinaustreiben können. Übersetzung aus dem Englischen: Benjamin Opratko.

61 Hirsch 2001, S. 114-115. 62 Vgl. Hübner 1970; Jessop/Sum 2005; Bohn 2003. 63 Gramsci 1991ff., S. 1725f.

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Alex Demirović Materialistische Staatstheorie als kritische Gesellschaftstheorie

1. Gesellschaftszentrierte Staatstheorie Entsprechend einer Unterscheidung von Theda Skocpol kann von einem staatszentrierten oder von einem gesellschaftszentrierten Zugang zur Analyse des Staates gesprochen werden.1 Die staatstheoretischen Arbeiten von Joachim Hirsch fallen sicherlich in die zweite Rubrik. Allerdings, so wird meine Argumentation deutlich machen, zeigen gerade seine Analysen, dass diese Unterscheidung nur bedingt brauchbar ist, da Hirsch immer wieder betont, dass der Staat die Gesellschaft, die ihn hervorbringt, seinerseits weitreichend durchdringt und entsprechend verändert. Eine staatszentrierte Analyse bewegt sich im Horizont einer langen abendländischen Tradition. Demnach bildet eigentlich der Staat die Gesellschaft, das Gemeinwesen wird durch einen Verfassungsgeber gestiftet, die Art und Weise, wie Herrschaft im Kreislauf der sich krisenhaft ablösenden Regierungsformen Monarchie, Aristokratie oder Demokratie ausgeübt wird, bestimmt die politische Gemeinschaft und entscheidet über das Wohlergehen der Bürger. Diese Aspekte, die Existenz des Staates und die Reichweite seiner Macht, die öffentlichen Gewaltmittel und ihr guter Gebrauch, die staatliche Verwaltung, die Gesetze und rechtlichen Instanzen, das Ethos der Regierenden oder die Krisen, die sich aufgrund schlechten Regierens, des Machtstrebens Einzelner oder der Unruhe des Volkes einstellen und jeweils von innen heraus den Staat bedrohen und zerstören können, sind so bedeutsam, dass sie im Mittelpunkt eines staatszentrierten Ansatzes stehen. Die moderne politische Philosophie und hier insbesondere das liberale staatstheoretische Denken haben demgegenüber zu einem Perspektivenwechsel beigetragen. Im vertragstheoretischen Denken steht am Anfang des Gemeinwesens nicht der Staatsgründer und Verfassungsgeber, sondern die einzelnen Bürger. Sie verständigen sich aufgrund ihrer eher negativen Erfahrungen, die sie miteinander im Alltag ihres Zusammenlebens machen (Konkurrenz und wechselseitige Beeinträchtigung ihrer Freiheit), darüber, durch Vertrag eine ihnen übergeordnete Macht zu schaffen, die den Frieden zwischen ihnen stiftet, ihre individuelle Freiheitssphäre und ihr Privateigentum vor Übergriffen anderer Bürger schützt sowie die Einhaltung der Verträge überwacht und die Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistet. Die Gründung des

1 Skocpol 1985.

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Staates durch seine Bürger ist eines der zentralen bürgerlichen Ideologeme. Staatstheoretisch ist dies bedeutungsvoll. Denn es wird eingeräumt, dass der moderne Staat sich mit Notwendigkeit aus der Gesellschaft herausbildet und diese nicht fortexistieren könnte, wenn es den Staat nicht gäbe und die Gesellschaft nicht Sorge trüge, dass der Staat fortbesteht. Entsprechend betont ein soziozentrischer Zugang die Bedeutung der gesellschaftlichen Prozesse, die einen Staat als Herrschaftsapparat erforderlich machen. Es geht demnach nicht nur darum, den Staat in die Analyse einzubringen,2 sondern vielmehr darum, darüber nachzudenken, warum es ihn überhaupt gibt, warum er in Gesellschaften erforderlich wird, welche Rolle er in der modernen Gesellschaft spielt, wie er funktioniert und welche Auswirkungen es hat, dass es den Staat gibt.3 Wenn eine Gesellschaft einen solchen Macht- und Herrschaftsapparat hervorbringt, der derart umfassend auf das Leben sozialer Gruppen und der Einzelnen einwirken kann, gibt es allen Grund, nicht nur dem Staat gegenüber eine kritische Perspektive einzunehmen, sondern auch der ihn hervorbringenden Gesellschaft selbst.4 Joachim Hirsch hat, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie fortsetzend, mit seinen zahlreichen Schriften in einem Zeitraum von mehr als vierzig Jahren wissenschaftlich und politisch beharrlich zur Ausarbeitung einer materialistischen Staatstheorie beigetragen. Konkreter noch stehen seine Arbeiten im Zusammenhang eines Forschungskontextes, der sehr allgemein geprägt war von der älteren kritischen Theorie und von Bemühungen, deren Fragestellungen und Theoreme programmatisch aufzugreifen und zu einem zeitgemäßen Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft weiter zu entwickeln. Dieser Zusammenhang wird andeutungsweise greifbar in der Zeitschrift „Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie“, deren erster Band 1974 in der edition suhrkamp erschienen ist und die als Redaktionsadresse den Fachbereich Gesellschaftslehre der Johann Wolfgang Goethe-Universität und namentlich Hirsch angeführt hat. Das gibt einen Hinweis auf einen interdisziplinären Zusammenhang, der nicht nur das frühe Programm des Instituts für Sozialforschung unter Max Horkheimer aktualisierte, sondern Impulse der Protestbewegung seit Mitte der 1960er Jahre aufnahm, die zu einer neuen, undogmatischen Lektüre der Schriften von Marx und zu einer weiteren Ausarbeitung seiner Theorie angeregte. Die Herausgeber, darunter Hans-Georg Backhaus, Gerhard Brandt, Walter Euchner, Eike Hennig, Joachim Hirsch, Ernst Theodor Mohl, Oskar Negt, Helmut Reichelt oder Alfred Schmidt, vertraten unterschiedliche Fachgebiete: Philosophie, Soziologie, politische Theoriegeschichte, Industrie- oder politische Soziologie. Als redaktionelles Ziel wurde knapp angegeben, die Marxsche Theorie an empirischen Problemen zu reorientieren. Das entsprach einer Unzufriedenheit mit dem Stand der 2 „Bringing the state back in“, so das bekannte Diktum von Skocpol 1985. 3 „Putting the state in its place“, Jessop 1990. 4 Hirsch 2015.

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kritischen Forschung: Auf der einen Seite gab es die Bemühungen um die Rekonstruktion der kategorialen Struktur des Marxschen Spätwerks, die jedoch nicht mit Empirie vermittelt war; auf der anderen Seite fanden sich materiale Analysen, die sich jedoch nicht auf Theorie bezogen. Über die Zeitschrift „Gesellschaft“ hinaus war der Zusammenhang kritischer und an Marx orientierter Forschung an der Frankfurter Universität über die sozialwissenschaftlichen Disziplinen und die Philosophie hinaus breit erfahrbar durch eine Vielzahl von Lehrenden in Fachgebieten wie Psychoanalyse oder Literatur- und Filmtheorie, feministischen Studien oder in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Es lässt sich sagen, dass die Arbeiten von Joachim Hirsch in diesem zweifachen Zusammenhang ihren Ort hatten und sich als Beiträge zur Ausarbeitung einer „historisch-materialistischen Theorie der Gegenwartsgesellschaft“ begreifen lassen.5 In diesem interdisziplinären Arbeitszusammenhang, der die Strukturtheorie der kapitalistischen Vergesellschaftung mit den empirischen Entwicklungen vermitteln und für eine Zeitdiagnose fruchtbar machen wollte, legten die Arbeiten von Hirsch einen besonderen Schwerpunkt auf die materialistische Staatstheorie. Dies gibt schließlich Anlass, auf einen weiteren Zusammenhang hinzuweisen, das Sozialistische Büro und dessen Zeitschrift „links“, der für Hirschs Arbeiten von großer Bedeutung war, weil er die Theorie nicht als akademischen Selbstzweck verstanden wissen, sondern ihr eine praktische Wendung geben wollte.6 Die ältere Kritische Theorie zeichnete sich Hirsch zufolge durch ein doppeltes Defizit aus. Sie habe die Kritik der politischen Ökonomie vernachlässigt. Um den ökonomischen Reduktionismus zu vermeiden, sei das Verhältnis von Basis und Überbau, von Ökonomie und Politik weitgehend unbearbeitet geblieben. Dem entspreche als ein zweiter Schwachpunkt eine defizitäre Staats- und Politiktheorie der an Marx orientierten Gesellschaftstheorie.7 Die materialistische Politik- und Staatstheorie basierte nach Hirschs Verständnis also auf der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, sie muss die Strukturveränderungen der kapitalistischen Gesellschaft und, daraus hervorgehend, des Staates in den Blick bekommen – und zwar so, dass sie auch eine handlungsleitende Bedeutung gewinnt. Die entscheidende Schwäche der sozialistischen Linken, dass sie in die Krise des fordistischen Kapitalismus und das Scheitern der realsozialistischen Experimente hineingezogen würde, sei Ergebnis dessen, dass sie nicht anzugeben wisse, „wie eine den Kapitalismus überwindende, befreite und emanzipierte Gesellschaft aussehen“ könnte.8 Die mit der Studentenbewegung verknüpfte Marx-Rezeption sei in deren Dogmatisierungs- und Zerfallsprozess eingebunden geblieben und zu einer akademisierten, von realer Politik weitgehend abgekoppelten Angelegenheit geraten. Hirschs Projekt muss also als 5 6 7 8

Hirsch 1990, S. 7. Vgl. ebd.; vgl. auch die Beträge von Görg und Roth in diesem Band. Hirsch 1990, S. 14. Hirsch 1990, S. 11f.

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eine gegen diverse Defizite und Fehlentwicklungen gerichtete Bemühung verstanden werden, zu einer praktisch relevanten, kritisch-emanzipatorischen Politik- und Gesellschaftstheorie auf dem Stand der neuesten kapitalistischen Gesellschaft beizutragen. Bemerkenswert ist dabei dreierlei: Erstens beschränken sich seine Arbeiten nicht auf die materialistische Staatstheorie, sondern haben die Vergesellschaftungsweise sowie die Rückwirkungen staatlicher Praktiken auf die Gesellschaft zum Gegenstand. Zweitens hat sich Hirsch über die lokale, sprich: Frankfurter Tradition der Kritischen Theorie hinweggesetzt und sich nicht damit beschieden, die Überlegungen Horkheimers, Kirchheimers oder Neumanns zu rekapitulieren, sondern hat in seine Arbeiten, die auf eine Fortentwicklung der materialistischen Staatstheorie zielen, die internationale marxistische Diskussion und Ansätze von Autoren aufgenommen, die in der bundesdeutschen Linken auf teilweise große Vorbehalte stießen: Antonio Gramsci, Nicos Poulantzas und dann die Regulationstheorie (vgl. den Beitrag von Jessop in diesem Band). Damit und mit der Offenheit für ökologische oder feministische Fragestellungen hat er früh zur Erweiterung der Staatstheorie beigetragen. Drittens zielen seine Analysen auf Zeitdiagnose, also auf eine konkrete, aktuelle Konstellation von Krisendynamiken, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und möglichen Alternativen.

2. Staatsform und Klassenkampf Obwohl Marx selbst zu Politik und zu Klassenauseinandersetzungen umfangreich geschrieben hatte, wurde sein mehrfach angedeuteter Plan, in der Darstellung des Gesamtzusammenhangs der kapitalistischen Produktionsweise unter anderem auch eine Analyse des Staates durchzuführen, von ihm nicht eingelöst.9 Dieses Defizit des Marxschen Theorieprogramms wurde von der internationalen marxistischen Diskussion der späten 1960er Jahre beklagt, das Fehlen einer marxistischen Staatstheorie galt als einer der Gründe für die Niederlagen der Linken im Westen, für den autoritären Charakter des Staatssozialismus und als eine Voraussetzung für eine angemessene sozialistische Praxis in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten. In Letzteren hatte sich ein Interventions- und Wohlfahrtsstaatsstaat entwickelt, der klassische Überlegungen als überholt erscheinen ließ, wonach der Staat – liberal verstanden – nur den allgemeinen rechtlichen Rahmen einer freien Gesellschaft gewährleistete oder – leninistisch verstanden – ein Instrument der herrschenden Klasse sei. Von einem undogmatischen, hegelmarxistischen und an die Kritische Theorie angelehnten Ansatz aus wurde mit rekonstruktiver Absicht das Ziel der Vervollständigung der

9 Vgl. Marx, MEW 13, S. 7.

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Marxschen Theorie verfolgt. Damit einher ging die Annahme, dass der Staat als Überbau in seiner Funktion für die Basis, d.h. der Prozesse des materiellen Lebens, bestimmt werden sollte. Daraus ergab sich als theoretische Überlegung, die politische Form aus den Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie abzuleiten. Joachim Hirsch knüpft mit seinen eigenen Arbeiten positiv an die westdeutsche Staatsableitungsdiskussion an (vgl. die Beträge von Buckel/Kannankulam, Holloway und Jessop in diesem Band). Er hatte ihr gegenüber allerdings auch grundsätzliche Bedenken und hielt sie für eine rein akademische Bemühung, ahistorisch begriffslogische Konstrukte zu perfektionieren und staatliche Aktivitäten kapitallogisch zu deduzieren, ohne sie intern mit den historisch-konkreten politischen Prozessen und Wandlungen innerhalb der Staatsapparate zu vermitteln.10 Als Erkenntnisgewinn betrachtete Hirsch die Analyse der Form des Staates. Dabei ging es um die Frage, warum der soziale Inhalt, nämlich Klassenherrschaft, die besondere politische Form des Staates annimmt, warum also der Zwang nicht privat von einzelnen Kapitaleigentümern ausgeübt wird, sondern warum er sich von diesen trennt und die Form einer unpersönlichen, offiziellen, von der Gesellschaft besonderten öffentlichen Macht annimmt (vgl. Hirsch 1976, S. 105). Dies geschieht, so wird argumentiert, weil sich unter kapitalistischen Bedingungen, unter denen die Produktionsmittel in der Verfügungsgewalt weniger Privateigentümer liegen, die Aneignung der Mehrarbeit von Menschen nicht mehr (wie unter feudalen Verhältnissen) durch Gewalt, sondern im gleichsam stummen Zwang „wertgesetzregulierter Selbstreproduktion der Klassenverhältnisse“11 vollzieht. Das Ausbeutungsverhältnis nimmt also die Form eines Vertragsverhältnisses zwischen formell gleichen und freien Individuen, dem Kapitaleigentümer auf der einen und dem freien Lohnarbeiter auf der anderen Seite, an. Der Zusammenhalt der Gesellschaftsmitglieder ist wesentlich über den Warentausch vermittelt.12 Aber die kapitalistische Gesellschaft erzeugt Reproduktionsstörungen, Krisen und Konflikte. In solchen Fällen greift der Staat ein. Als formell besonderte Instanz, die die Gewaltmittel konzentriert und monopolisiert, ist der Staat von den krisenhaften und konfliktreichen Prozessen der unmittelbaren Produktion getrennt und kann den Reproduktionsprozess des Kapitals absichern, indem er politische Inhalte und Strategien im Interesse des Gesamtkapitals entwickelt, Steuern erhebt, allgemeine Bedingungen der Produktion gewährleistet (Sicherheit und Ordnung, Eigentumsrechte, Gesetze, Standards, Infrastrukturen, Forschung) sowie zwischen den verschiedenen Einzelkapitalen, Kapitalfraktionen und Klassen vermittelt. Politik und Strategie der herrschenden Klasse(n) könne verbindlich nur vermittels des Staates formuliert werden.13 Da, so Hirschs Schlussfolgerung, 10 11 12 13

Hirsch 1976, S. 101f; 1980, S. 55. Ebd, S. 106. Ebd, S. 111. Ebd, S. 108.

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politische Klassenherrschaft und Verfügung über die Produktionsmittel nicht unmittelbar gekoppelt seien, sei das Verhältnis der Bourgeoisie zu „ihrem“ Staat problematisch und widersprüchlich. Denn notwendigerweise müssten die verschiedenen bürgerlichen Kräfte spezifische Kämpfe um die politische Hegemonie führen, um Benachteiligungen bei politischen Entscheidungen vermeiden und auf deren Ausrichtung Einfluss nehmen zu können. Gleichzeitig wirkt der bürgerliche Staat auf eigentümliche Weise neutral. Den in der bürgerlichen Gesellschaft konkurrierenden Individuen und feindlich gegenüberstehenden Klassen tritt ihre „politische Gemeinschaftlichkeit“ als eine äußerliche, „verobjektivierte, verdinglichte“ Gestalt,14 als ein Staat gegenüber, der die Freiheit und Gleichheit, die Rechtsstaatlichkeit, den Pluralismus und die demokratische Willensbildung aller Bürger gewährleistet sowie, mit den Mittel des Zwangs, den Zusammenhang der Gesellschaft sichert.15 Dieser Anschein von Neutralität habe, so zeigt sich, selbst einen rationalen sozialen Gehalt, denn die Bourgeoisie bringe im Rahmen des ihr zur Verfügung stehenden Spielraums, den die Entwicklung der Profitrate vorgebe, auch materielle Opfer. Es sei der formell von der herrschenden Klasse getrennte Staat, der gegen sie in strategischer Absicht und um die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft zu gewährleisten, solche „Opfer“ durchsetze. Hirsch betont zu Recht eine Konsequenz, die sich aus diesen Überlegungen ergibt, obwohl sie in der Staatsableitungsdiskussion so gar nicht gezogen wurde: Das Abgeleitete ist mehr als nur als ein Abgeleitetes. „Politik und Bewußtsein sind keine von der Ökonomie getrennten oder gar ‚ableitbaren‘ Sphären.“16 Die kapitalistische Gesellschaft und Vergesellschaftungsweise lässt sich nicht allein durch die entsprechenden Eigentums- und Produktionsverhältnisse definieren, vielmehr ist gerade die Trennung der politischen Instanz von der Ökonomie eines der entscheidenden Bestimmungsmerkmale dieser Produktionsweise. „Die politische Form oder der Staat ist selbst ein Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses. Die Eigentümlichkeit der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise liegt in der Trennung und gleichzeitigen Verbindung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘, ‚Politik‘ und ‚Ökonomie‘. Die Ökonomie ist der Politik weder strukturell noch historisch vorausgesetzt.“17 Es handelt sich beim Verhältnis von Ökonomie und Staat um einen materiellen Zusammenhang und ein Verhältnis, das mit einem expressiven Modell theoretisch nicht angemessen gefasst werden kann, demzufolge der Staat als Abgeleitetes, als „Ausdruck“ einer zugrundeliegenden Struktur existiert, des Kapitalverhältnisses, der Klassenverhältnisse, die sich dann in dem Abgeleiteten, in Politik und Staat, äu14 15 16 17

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Hirsch 2005, S. 24. Ebd. Hirsch 1990, S. 13. Hirsch 2005, S. 25.

ßern.18 Trotz dieser Einsicht bleibt Hirsch dieser Hierarchie von ableitungstheoretisch Erstem und Sekundärem nicht nur beiläufig verhaftet, sondern erhebt es sogar zum Postulat. „Die Annahme, daß ein in den fundamentalen kapitalistischen Strukturbedingungen liegendes und widersprüchliches soziales Grundverhältnis sich – vermittelt über die Dynamik des Kapitals auf Weltmarktebene und soziale Kämpfe – in zeitlich wie räumlich spezifischen historischen Formationen und ihrer krisenhaften Transformation äußert, dürfte nicht nur allgemeines Postulat bleiben, sondern müßte gesellschaftstheoretisch überzeugender eingelöst werden, als dies bisher der Fall war.“19 In der Theorie von Hirsch sind somit zwei Theorieansätze wirksam, die sich grob als ableitungs- und strukturtheoretisch auf der einen und als praxistheoretisch auf der anderen Seite bezeichnen lassen. Sie durchziehen seine Theoriebildung spannungsreich und treiben, trotz seiner Bemühungen um Vermittlung, die struktur- und handlungstheoretischen Argumente auseinander. Die Ableitung der Staatsform wirft noch ein weiteres Problem auf. Wenn Hirsch schreibt, dass der Staat den Herrschenden „Opfer“ auferlegt und damit einen Kompromiss zwischen den Klassen oben und denen unten ermöglicht sowie damit auch den Anschein seiner eigenen Neutralität herstellt, so führt dies zu einer der entscheidenden Fragen der materialistischen Staatstheorie. Wie ist diese Macht oder Rationalität bestimmt, die den verschiedenen herrschenden Klassen und Fraktionen „Opfer“ auferlegt und worin genau besteht sie? Handelt es sich bei dieser Macht um eine, die der Staat aus den herrschenden Klassen und insbesondere aus einer ihrer Fraktion bezieht, die sich und andere dazu veranlasst, jene „Opfer“ zu bringen und damit ein wie immer sozial und zeitlich begrenztes Allgemeininteresse durchsetzt – oder handelt es sich, wie die Formulierung nahelegt, um die Macht des Staates selbst? Aber woher weiß der Staat, was im allgemeinen Interesse der Herrschenden ist, und woraus resultiert seine Fähigkeit, solche „Opfer“ gegenüber den Herrschenden durchzusetzen? Die Trennung des Staates von der Ökonomie und der gleichzeitig bestehende interne Zusammenhang beider impliziert ja, dass der Zusammenhang des auf der einen Seite allgemeinen und neutralen Charakters des Staates und auf der anderen Seite sein Klassencharakter als ein intern vermitteltes Verhältnis von Ökonomie und Politik bestimmt werden muss. „Kapitalistische Verhältnisse können sich also nur dann voll herausbilden, wenn die physische Zwangsgewalt eine von allen gesellschaftlichen Klassen, auch der ökonomisch herrschenden, getrennt ist: eben in der Gestalt des Staates.“20 Wenn Hirsch nun die staatliche Form bestimmend schreibt, die physische Zwangsgewalt sei von allen Klassen getrennt, stellt sich die Frage, wie dies ge18 Hirsch 1980, S. 56; vgl. auch den Beitrag von Holloway in diesem Band. 19 Hirsch 1990, S. 29. 20 Hirsch 2005, S. 23.

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meint ist: Ist der Staat also den Klassen gegenüber neutral, hält er gleiche Distanz zu allen Interessen? Doch wie kann es zu dieser Distanz und Neutralität kommen, wenn er doch kapitalistischer Staat und demnach ein Klassenstaat ist? Eine Antwort könnte der formelle Charakter des Staates sein, der, weil er vor dem Gesetz alle als Gleiche behandelt, die Klasse der Produktionsmitteleigentümer privilegiert. Indem er im rechtsförmlichen Sinn Ziele der Reproduktion, der Bestandwahrung, des Zusammenhalts der Gesellschaft verfolgt, zwingt er auch die bürgerliche Klasse, sich an den Rechtsrahmen zu halten. Dieser Antwort steht entgegen, dass der Staat die Individuen auch in Begriffen der Klasse sehr unterschiedlich behandelt. Zudem ist die Frage nicht beantwortet, woher der Staat weiß, welche Gesetze jeweils dem Allgemeininteresse der bürgerlichen Klasse entsprächen? Es bestünde durchaus die Möglichkeit, durch entsprechende politische Strategien den formellen Legalismus des Staates zu instrumentalisieren und damit Einfluss zugunsten einer Kapitaleigentümergruppe zu nehmen. Der Staat wäre dann aber kein Klassenstaat, sondern trotz seiner spezifischen Klassenwirkungen durchaus neutral. Hirsch hält beide Vorstellungen für falsch, weder verkörpert der Staat einen allgemeinen Willen (Volkssouveränität), noch ist er das Instrument einer Klasse.21 Er vergegenständlicht vielmehr in entfremdeter und verobjektivierter Weise politische Gemeinschaftlichkeit dort, wo es real Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse gibt. Aber damit ist der Staat in seinem Klassencharakter noch nicht bestimmt, wenn darunter zu verstehen ist, dass die staatlichen Politiken angesichts der teilweise gegenläufigen Ansprüche der einzelnen Kapitale und Kapitalgruppen ein langfristiges Interesse der bürgerlichen Klasse verkörpern – Politiken und Maßnahmen, die sich im Grenzfall durchaus gegen die unmittelbaren Interessen aller Kapitale richten und ihnen „Opfer“ abverlangen können. Hirsch argumentiert weiter: „Bestandsfähig ist [der kapitalistische Staat] nur so lange, als der ökonomische Reproduktionsprozess als Kapitalverwertungsprozess gewährleistet bleibt. Insofern ist es das »Interesse des Staates an sich selbst« - oder genauer: das Eigeninteresse seiner bürokratischen und politischen Funktionäre, das ihn relativ unabhängig von direkten Einflüssen zum Garanten kapitalistischer Produktionsverhältnisse macht.“22 Der Allgemeinwille des Staates, sein kapitalistischer Charakter ist also verankert in der Exekutive des Staates, genauer im Staatspersonal. Solche Überlegungen zum Staatspersonal, dessen Bedeutung in den oftmals eher strukturtheoretisch argumentierenden Staatsanalysen aus dem Blick gerät, erscheinen mir durchaus wichtig. Denn der Staat ist kein neutraler Verwaltungsautomat, vielmehr muss es auf allen Stufen ein geschultes und kompetentes Personal geben, das die alltägliche staatliche Herrschaft vollzieht. Ausbildung, Korpsgeist und Karrieremöglichkeit sind bedeutsame Elemente der Reproduktion staatlicher Herrschaft. Es ist bedeutsam für die 21 Vgl. aber Hirsch 1976, S. 130. 22 Hirsch 2005, S. 26.

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Formen bürgerlicher Herrschaft, ob das Staatspersonal korrupt oder nepotistisch ist, der Staatsapparat also zur privaten Bereicherung ausgenutzt wird, oder ob es ein Ethos der staatlichen Allgemeinheit vertritt und den Staat auch in Fällen der Krise bereit ist zu retten und bürgerliche Herrschaft zu verteidigen und wiederherzustellen (wie das 1918 nach Ausbruch der Novemberrevolution der Fall war). Auch wenn also dem Staatspersonal auf den verschiedenen Hierarchieebenen erhebliche Bedeutung zukommt, so hängt der Bestand des Staates und das alltäglich neu hergestellte sog. Allgemeininteresse des Staates nicht unmittelbar vom Eigeninteresse dieses Personals ab. Die Staatsaufgaben, die innerstaatliche Arbeitsteilung und damit auch die Zahl der vom Staat abhängigen Erwerbspersonen sowie ihr Status und ihre Qualifikation ist von den politischen Entscheidungen der herrschenden Klassen bestimmt, die durch Steuern, Gerichte, Verbände, Zeitungen oder Wissenschaftler den Staat nicht nur kontinuierlich auf die konkreten Politiken hin beobachten, prüfen oder evaluieren, sondern auch durch die Finanzierung von Parteien, durch politische Werbung, durch mediale Öffentlichkeit oder dichte zivilgesellschaftlich-soziale und politische Netzwerke auch in die engere staatsinterne Willensbildung einbezogen sind. Die neueren Auditpraktiken des New Public Managements und die permanente Bewertung und Beratung durch Unternehmensberatungen stellen eine Art dauerhaftes neoliberales Steuerungs- und Monitoringdispositiv zur indirekten Kontrolle der staatlichen Apparate und ihres Personals dar und veranschaulichen, dass dieses nicht sich selbst überlassen bleibt. Die Ausführungen Hirschs zur „Trennung von allen Klassen“ und zum Eigeninteresse des Staates stellen meines Erachtens eine zweifache und durchaus problematische Revision früherer Überlegungen dar: Denn der Bestand des Staates, sein Klassencharakter, die Macht und der Allgemeinwille werden nun erstens doch in den Staat selbst hinein verlegt und der Ableitungszusammenhang mit den Produktionsverhältnissen aufgelöst. Zweitens wird das Eigeninteresse handlungstheoretisch an das Staatspersonal gebunden. Hirsch selbst hat in früheren Überlegungen gerade diese Formel „vom Interesse des Staates an sich selbst“ als Staatssubjektivismus zurückgewiesen und kritisiert, dass damit der spezifische Klassencharakter des bürgerlichen Staates ausgeblendet werde.23 Er warf zu Recht die Frage auf, warum im Rahmen einer solchen Theorie die „regierende Gruppe berufsmäßiger Staatsagenten“ nicht in der Lage sein sollte, staatliche Selektivitätsstrukturen, die Ansprüche von unten wegfiltern, kleinarbeiten, blockieren, mit Nicht-Entscheidung übergehen, in einer Weise dysfunktional zu steuern, also in die Bedingungen der Mehrwertproduktion derart einzugreifen, dass die bürgerliche Klassenherrschaft destabilisiert wird (wie ja auch vor allem sozialdemokratische Politiker von bürgerlicher Seite immer

23 Hirsch 1976, S. 148f.

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wieder mit dem Argwohn bedacht werden, den Staat mit Aufgaben zu überlasten, damit die Steuerlast in die Höhe zu treiben und den Staat unregierbar zu machen).24 Allerdings war er in seinen Arbeiten der 1970er Jahre der Ansicht, dass es dazu nicht kommen würde, da es im Bestandsinteresse des regierenden Personals sei, das durch die Kapitalbewegung, Konkurrenz und Kämpfe von unten permanent in Frage gestellte Kompromissgleichgewicht innerhalb des Machtblocks zu stabilisieren. Wenn dies nicht gelänge und es zu Reproduktionskrisen, hegemonialen Kämpfen, fraktionellen Störaktionen oder Deloyalisierungen kommen sollte, dann werde das leitende Personal direkt in seiner Position bedroht. Anders gesagt, die Funktionsfähigkeit des Staates für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses und der von ihm verkörperte Allgemeinwille der Herrschenden in ihrer Gesamtheit hängen von den Karriereaspirationen, den Erfolgen, dem Prestige von Politikern und Beamten und davon ab, dass sie im Eigeninteresse Konflikte im Machtblock erfolgreich moderieren, langfristige Strategien entwickeln und die strukturelle Selektivität der Staatsapparat im Sinne der kapitalistischen Reproduktion angemessen ausüben und gestalten. Meines Erachtens ist das Argument missverständlich. Denn zunächst lässt es die Strukturtheorie mittels einer Reihe von Vermittlungsschritten in Handlungstheorie übergehen: Strukturelle Selektivitäten (Grenze staatlicher Eingriffe, Steuern, die repressive und ideologische Funktionsweise des Staates sowie schließlich der bürokratische Entscheidungsprozess) werden als Determinanten für das Handeln der staatlichen Akteure bestimmt. Aber das verlagert das Problem nur, denn es bleibt die Frage, warum und auf welche Weise diese Determinanten vom politischen Personal in eine Politik übersetzt werden, die als allgemeinverbindlich gelten kann. Das Argument legt auch nahe, dass es so etwas wie ein Allgemeininteresse der bürgerliche Klasse an der Erhaltung und Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse gibt, das in einer fraktionsübergreifenden Weise formuliert wird und sich aus den eigeninteressierten Aktivitäten des politischen Leitungspersonals ergibt, das deswegen um ein solches Allgemeininteresse bemüht ist, weil es um seine eigene Stellung befürchten muss. Das scheint mir eine falsche Schlussfolgerung zu sein, die außer Betracht lässt, dass ein solches Allgemeininteresse immer nur illusorisch und eine ideologische Mystifikation ist.25 Das Gesamtinteresse, das in der Konkurrenz der Einzelkapitale und Kapitalfraktionen um die Anteile aus der Mehrwertmasse und im Konflikt mit den subalternen Klassen wenn überhaupt, dann nur zufällig zustande kommt, wird immer nur unter der Dominanz und temporär von einer Fraktion der herrschenden Klasse festgelegt und stellt einen Kompromiss dar, der auch die Zustimmung zu einer konkreten Form der Staatsapparate beinhaltet, die diesen Kompromiss ausführen. Politisches und 24 Vgl. Hirsch 1976, S. 138. 25 Vgl. auch Hirsch 1973.

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staatliches Personal sind lediglich Dienstpersonal, auch wenn die jeweiligen politischen und administrativen Spitzen in enger Verbindung mit den Kapitaleigentümern und ihren ökonomischen Vertretern in den Verbänden, Medien und Wissenschaften eine organische Funktion bei der Ausarbeitung und Ausführung von Kompromissen wahrnehmen. Obwohl Hirschs Überlegungen den Impuls zu genauerer Forschung über die Rolle des Staatspersonals, der Handlungsweisen in der Administration, der Parteien und ihrer gesellschaftlichen Aktivitäten (von den Parlamenten und Regierungen über die Wahlkämpfe bis zu den Rundfunk- oder Sozialräten) geben, lassen sie außer Betracht, dass viele Beamte aufgrund ihrer Funktion und ihrer rechtlichen Absicherung im Regelfall nur wenig oder selektiv mit den Willens- und Kompromissbildungsprozessen der bürgerlichen Klasse in Berührung kommen. „Allgemeininteresse“ stellt die Ideologie des Staatspersonals dar und entscheidet nicht über den „Bestand“ des Staates. Die Existenzgrundlage des Staatspersonals in seiner Gesamtheit hängt nicht unbedingt davon ab, dass es jenes „Allgemeininteresse“ vertritt; es ist (auch wenn prekäre Arbeitsverhältnisse teilweise zunehmen) in den Kernbereichen weitgehend abgesichert und Fehler werden nicht oder nur geringfügig sanktioniert. So war es ein Erfolg der bürgerlichen Klasse, dass selbst tiefe Krisen wie die Revolution von 1918 oder die Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 die Kontinuitäten im administrativen Führungspersonal Deutschlands nur partiell berührt haben. Auch haben das administrative und das politische Personal eigene Überzeugungen, für die sie auch Opfer bereit sind hinzunehmen. Anders gesagt, das Handeln von Personengruppen und Einzelnen wird nicht erst am Ende einer Kette von determinierenden Strukturelementen wichtig, sondern die politischen und administrativen Praktiken haben von vornherein Bedeutung: Sachfragen sind Personalfragen, Individuen und Gruppen in Verwaltung und Politik verfolgen politische Ziele und Strategien in Verbindung mit den sozialen Gruppen und Klassen, damit setzen sie sich durch, sie reproduzieren und verändern dadurch auch die Politik und die Staatsapparate. Fragen der Gliederung der Verwaltungen und ihrer Hierarchien, der internen Abstimmungs- und Entscheidungsverfahren, der Personalplanung, der Karrieremuster, der Umsetzung von Personen, des Wissens und der Organisation seiner Kontinuität und Distribution, der parteipolitischen Durchdringung der Apparate, ihres Kompetenzzuschnitts, ihres Beratungsumfeldes sind von großer Bedeutung für die formulierte Politik. Hirschs Überlegungen deuten zu Recht in diese Richtung. Aber die Annahmen einer Trennung von allen Klassen und der Verkörperung eines Allgemeininteresses durch das Personal aufgrund seiner Interessen sind nicht plausibel. Weiterführend an der Überlegung von Hirsch ist, dass er über die Grenze kapitallogischer und strukturtheoretischer Analysen hinausgeht und deutlich macht, dass die Ansprüche und Interessen der Fraktionen der bürgerlichen Klasse und die Konflikte zwischen ihnen sich – und vermittelt durch eine Reihe von bestimmbaren In-

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stanzen, Selektivitäten und Strategien – immer in Personenkonstellationen verdichten müssen. In ihnen nehmen langfristige ebenso wie kurzfristige Herrschaftsziele die Gestalt ganz individueller Handlungsgesichtspunkte an, die Entscheidungen einzelner Verantwortungsträger können aufgrund einer einmal zustande gekommenen organischen Repräsentation – das Mysterium des Ministeriums, wie es von Bourdieu beschrieben wird – große gesellschaftliche Reichweite annehmen.26 Hirsch verfolgt diesen praxistheoretischen Ansatz allerdings nicht weiter, obwohl er selbst ja die Ansicht vertritt, dass „nicht objektive Strukturen und Gesetze“ machen, sondern „Menschen, die allerdings unter vorgefundenen Bedingungen handeln“.27 Es stellt sich daher die Frage, warum er trotz dieser Einsichten, die eine Begründung dafür geben, politische Ziele, Programme, Strategien, Netzwerke, Allianzen näher in den Blick zu nehmen, in seinen Arbeiten doch vor allem strukturtheoretisch argumentiert. Den Grund dafür sehe ich in dem Anspruch, strukturlogische Begriffe mit den historisch-empirischen Kämpfen, also Struktur und Handeln zu vermitteln, beide Perspektiven sich also aneinander reiben und wechselseitig korrigieren zu lassen, nicht jedoch so sehr, sie in die eine oder andere Richtung zu einer in sich widersprüchlichen Einheit zu bringen, also den Staat wertlogisch ausschließlich in seiner Funktion für die Reproduktion des Kapitals oder aber als Ergebnis und Moment der Praxis von Klassenkämpfen zu fassen. Daraus resultiert, dass Hirsch beide Perspektiven mitführt und Vereinseitigungen zu vermeiden sucht: Staatliche Herrschaft soll sich nicht in das Handeln von funktionellen Eliten auflösen, also in Einflüsse von Kapitaleignern oder Lobbygruppen, umgekehrt jedoch auch nicht allein Ergebnis anonymer Funktionslogiken sein. Offensichtlich gibt Hirsch dem Formbegriff von Marx eine besondere Deutung. Marx zufolge ist Form die Methode, worin Widersprüche nicht aufgehoben werden, sondern sich bewegen können.28 Dies kann bedeuten, dass zwei Klassen sich in einem antagonistischen Verhältnis bewegen, also sich wechselseitig konstituieren, sich einander benötigen und gleichzeitig auseinanderstreben, ohne dass es ihnen gelingt – es sei denn, die eine Klasse, die der ArbeiterInnen, beseitigt das Verhältnis und damit den Antagonismus. Hirsch vertritt im Unterschied dazu – in einer gewissen Analogie zur Marxschen Analyse der Waren- und Geldform, der zufolge das gesellschaftliche Verhältnis sich in eine übersinnlichdingliche Gestalt verkehrt – offensichtlich die Ansicht, dass dieser Gegensatz von Struktur und Handeln einer in der Sache ist: Eine Form von Herrschaft, in der Herrschaft die Gestalt von geronnen und verdinglichten, quasi neutralen und über den Klassen stehenden Strukturen annimmt, während dem Handeln das Moment von Freiheit zukommt und eher bei den sozialen Bewegungen in Erscheinung tritt, die in die bestehenden Verhältnisse jeweils noch nicht integriert sind. Doch ließe sich mit 26 Bourdieu 2010, S. 26. 27 Hirsch 1990, S. 13. 28 vgl. Marx, MEW 23, S. 118.

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dem Marx der Deutschen Ideologie einwenden, dass der bürgerliche Staat die Form ist, in der eben die Individuen der herrschenden Klasse ihre Interessen geltend machen und in einen kollektiven Willen übersetzen – demnach handelt es sich also nicht um eine Struktur, sondern um eine Praxis aktiver Herrschaftsausübung.29

3. Akkumulation und Vergesellschaftungsweise In der materialistischen Staatstheorie geht es Joachim Hirsch zufolge darum, die politisch-administrativen Prozesse und die Klassenbewegungen als einen Vermittlungszusammenhang zu begreifen. Die Formanalyse soll es erlauben, die konfliktreichen politischen Prozesse als vermittelt durch Klassenwidersprüche und Klassenkämpfe zu dechiffrieren und die Rückwirkungen dieser politischen Vermittlung wiederum auf die Entwicklung dieser Klassenkämpfe zu bestimmen.30 Die Analyse des Staates erfordert demnach ein Verständnis des Staates als politische Form. Die politische Form ihrerseits verweist auf gesellschaftliche Kräfte. Wenn Hirsch auch an die Diskussion über Staatsableitung und an die besondere Bedeutung anschließt, die in diesem Zusammenhang dem Formbegriff gegeben wird, so ist seine eigene Herangehensweise doch spezifisch und unterscheidet sich von Ansätzen, in deren Mittelpunkt die Analyse der Warenform steht. Diese beinhaltet, dass der gesellschaftliche Zusammenhang in der Ware in verkehrter, mystifizierter Gestalt erscheint, denn die gemeinsame gesellschaftliche Arbeit nimmt die Form der Arbeit voneinander getrennter, privater Warenproduzenten an, der kooperative Zusammenhang der gesellschaftlichen Gesamtarbeit stellt sich hinter dem Rücken der Produzenten durch die abstrakte Arbeit und das Wertgesetz her. Wenn der Staat aus der Warenform abgeleitet wird, dann wird er dadurch bestimmt, dass er die allgemeinen Reproduktionsbedingungen der miteinander konkurrierenden WarenproduzentInnen sichert. Von dieser Bestimmung her gelangt die Argumentation nicht ohne weiteres zu den Klassen und zu den Kämpfen zwischen ihnen. Insofern ist es Ergebnis einer originellen theoretischen Überlegung, wenn Hirsch sich bei der Analyse von gesellschaftlicher Entwicklung und Staat nicht auf die Warenform, sondern auf den Begriff der Akkumulation bezieht. Denn der Begriff der Akkumulation erlaubt es, das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit und das antagonistische Verhältnis zwischen ihnen in den Blick zu nehmen. Die Kapitaleigentümer lassen sich als strategische Akteure verstehen, die mit ihren Kapitalanlagen und den gewinnorientierten Ausbeutungsstrategien ihren Profit steigern und Sorge tragen müssen, die Verhältnisse zu reproduzieren, unter denen sie das Ausbeutungsverhältnis aufrechterhalten können. Umgekehrt bedeutet der Akkumulationsprozess für die 29 Marx, MEW 3, S. 62. 30 Vgl. Hirsch 1976, S. 104.

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Lohnabhängigen, immer wieder von neuem und in zunehmendem Maße enteignet zu werden. Denn mit ihrer Arbeit erzeugen sie auf immer größerer Stufenleiter das Kapital, das als umfangreicher werdende tote Macht das lebendige Arbeitsvermögen einer zunehmenden Zahl von LohnarbeiterInnen aneignet. Die Bewegung der Reproduktion und Akkumulation des Kapitals muss demnach als Bewegung von Klassenkämpfen verstanden werden. „Wir müssen also davon ausgehen, daß der Klassenkampf sich nicht ‚irgendwie‘ aus dem Prozeß der Kapitalakkumulation ‚entwickelt‘ (z.B. in der Krise), sondern daß Kapitalakkumulation als erweiterte Reproduktion von Ausbeutungsverhältnissen mittels Ausbeutung Klassenkampf ist.“31 Abweichend von der neuen Marxlektüre, wie sie im Frankfurter Kontext seit den späten 1960er Jahren von Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt vertreten wurde, in der vor allem die sachlogische Perspektive des sich selbst verwertenden Werts, des automatischen Kapitalsubjekts ohne Hinzutreten handelnder Subjekte stark gemacht wird,32 liest Hirsch Marx hier offensichtlich politisch – Herrschaftsprozesse und soziale Kämpfe sind bestimmend auch für den „Kern“ des Verwertungsprozesses selbst. Entsprechend diesem Verständnis ist Akkumulation keine ökonomische Struktur, sondern eine politisch-ökonomische Praxis und vor allem ein gesellschaftsund praxistheoretischer Begriff. Gerade weil die kapitallogische Analyse der Bedeutung der Akkumulation als Praxis von Herrschaft und ihren gesellschaftlichen wie politischen Folgen nicht Rechnung tragen kann, bezieht sich Hirsch dann seit den 1980er Jahren stark auf regulationstheoretische Begriffe des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise, ohne allerdings wertformtheoretische Argumente aufzugeben. In der Regulationstheorie findet er für eine weitere Ausarbeitung der historisch-materialistischen Gesellschaftstheorie jene intermediären ökonomiekritischen Begriffe, die es ihm erlauben, die politische und ideologische Überformung des Akkumulationsprozesses und die widersprüchliche Einbettung von Klassenbeziehungen und Klassenkämpfen in ein normativ-institutionelles System näher zu bestimmen.33 Dem Anspruch, Akkumulation als Klassenkampf zu begreifen, lässt sich genauer entsprechen, wenn die Akkumulation als umstrittener Prozess zwischen Kapitalfraktionen mit jeweiligen Akkumulationsstrategien und damit verbundenen Hegemonieprojekten begriffen wird, in denen es um spezifische Kompromisse mit Teilen des Kleinbürgertums und Gruppen der ArbeiterInnenklasse geht, um eine Vorherrschaft im Machtblock zu gewinnen. Akkumulation ist ein gesellschafts- und staatstheoretischer Schlüsselbegriff in den Analysen von Hirsch. Denn der Akkumulationsprozess ist ausschlaggebend für die Modi der kapitalistischen Vergesellschaftung, da er der Motor für eine permanente Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Gesellschaftliche und 31 Hirsch 1976, S. 128, Herv. i. O. 32 Backhaus 1997; Reichelt 1970. 33 Hirsch 1990, S. 30.

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technische Produktivkräfte und damit einhergehend die betriebliche und gesellschaftliche Arbeitsteilung werden in der Konkurrenz der Einzelkapitale durch technologische und wissenschaftliche Innovationen sowie durch neue Betriebsorganisationen und Unternehmensformen ständig verändert. Für die gesellschaftstheoretischen Überlegungen zur Veränderung der Gesellschaft und der Formen und Funktionen des Staates ist dies folgenreich. Denn in den und durch die Prozesse einer stetig erweiterten Akkumulation hindurch kommt es auch zu einer intern herbeigeführten Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur selbst. Das Verhältnis von Basis und Überbau der Gesellschaft, in dem Marx zufolge die materielle Produktion des Lebens, die ökonomischen Verhältnisse die Basis, und das Bewusstsein, Recht, Staat, Moral den Überbau bilden, verändert sich.34 „Meine These ist, daß sich im Laufe der kapitalistischen Entwicklung und mit fortschreitender Durchsetzung des kapitalistischen Produktionsverhältnisses innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation die konkreten Modi der Vergesellschaftung in einem solchen Ausmaß wandeln, daß der Reproduktionszusammenhang der Gesellschaft und das Verhältnis von »Politik« und »Ökonomie«, von »Basis« und »Überbau« grundlegend tangiert werden.“35 Diese grundlegende Neugliederung der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt Hirsch durch die beiden Tendenzen der „Durchkapitalisierung“ und „Durchstaatlichung“, die von zwei Seiten her die Gesellschaft durchdringen und verändern (vgl. den Beitrag von Jessop in diesem Band). Eine der wiederkehrenden Fragen, die Hirsch in seinen Arbeiten aufwirft, ist die Frage der Kontinuität kapitalistischer Produktionsverhältnisse durch alle Veränderungen des Kapitalismus hindurch. Er argumentiert dafür, dass das Wertgesetz fortbesteht, aber auf relevante Weise aufgrund der im Akkumulationsprozesses selbst angelegten Veränderungs- und Krisendynamik und der zur Krisenbearbeitung notwendigen politischen und ideologischen Eingriffe modifiziert wurde und immer noch weiter modifiziert wird. Theoretische Überlegungen zum Spätkapitalismus wie die von Habermas und Offe hält Hirsch für irreführend, weil sie zu der Annahme führen, dass das Wertgesetz nicht mehr gelten würde und ökonomische und politische Krisen vom Wohlfahrtsstaat bewältigt werden könnten.36 Er verwirft auch eine subsumtionstheoretische Argumentation, der zufolge sich das Kapital nach der formellen Unterwerfung der Lohnarbeit diese in einem linearen Prozess auch real unterwirft im Sinne einer Landnahme von bislang dem Kapital noch nicht unterworfenen Verhältnissen. Einen solchen Prozess habe es zwar bis in die jüngere Zeit gegeben, das Kapital sei in soziale und natürliche Bedingungen hineingewachsen und habe diese benutzen und ausbeuten können. Mit der Durchkapitalisierung habe sich die 34 Vgl. Hirsch 1990, S. 13. 35 Hirsch 1980, S. 57. 36 Vgl. Hirsch 1980, S. 63; Hirsch/Roth 1986, S. 28f.

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Konstellation jedoch verändert. Das „Kapital [kann] im Zuge seiner Entfaltung immer weniger auf außerhalb seiner Sphäre produzierte materielle Produktionsbedingungen und Arbeitskräfte zurückgreifen“; die „Herstellung materieller Produktionsbedingungen und die Reproduktion der Arbeitskraft [werden] zu einem integralen Moment der Kapitalreproduktion selber“.37 Aufgrund der Akkumulationsdynamik würden sich auch die Formen der Vergesellschaftung und der Reproduktion ständig ändern. Indem das Kapital sich entfaltet, ständig die gesellschaftlichen Verhältnisse umwälzt und desintegrative Prozesse und Krisen erzeugt, gleichzeitig aber unfähig ist, sich auf der Basis von Privatproduktion und Warentausch zu reproduzieren, verändert es auch Form und Funktion des Staates. Dieser übernimmt komplementäre reproduktionssichernde Aufgaben. Aufgrund einer immer umfangreicheren staatlichen Vermittlung gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse kommt es, Hirsch zufolge, zu einer fortschreitenden Durchstaatlichung. „Die ihre eigenen Grundlagen zerstörende und gesellschaftlich desintegrierende Wirkung der Kapitalakkumulation zwingt dazu, in immer stärkerem Maße den gesamten Reproduktionszusammenhang gesellschaftlich, was unter kapitalistischen Bedingungen heißt: staatlich, zu organisieren.“38 Die kapitalistische Gesellschaft verändert demnach mit der fordistischen Vergesellschaftungsweise sehr weitreichend ihre Form, immer mehr gesellschaftliche Bereiche werden unmittelbar staatlich verwaltet, Ökonomie, Soziales, Staat durchdringen sich, Basis und Überbau sind nicht mehr zu trennen, auch typologische Unterschiede zwischen Demokratie und Ausnahmestaatsformen wie Militärdiktatur oder Faschismus lassen sich nicht mehr einfach anwenden.39 Gerade der Erfolg kapitalistischer Akkumulation führt also zu dem paradoxen Effekt, dass der Kapitalismus nach außen in die natürliche Umwelt hinein seine Lebensgrundlagen erschöpft und zerstört. Nach innen in die Gesellschaft hinein trägt die kapitalistische Ausdehnung auf alle Lebensverhältnisse und die Integration der Lohnabhängigen, die über keinerlei Subsistenzmittel verfügen, sondern vollständig von der Lohnarbeit und von warenförmigen Lebensmitteln abhängen, dazu bei, die Vergesellschaftungsweise zu verändern und die Lebensverhältnisse zu desintegrieren. Es sind gesellschaftstheoretisch betrachtet neben der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen insbesondere drei Bereiche, die Hirsch unter dem Gesichtspunkt der Akkumulation, der Desintegration und der Restabilisierung durch Durchstaatlichung ins Auge fasst. Der entscheidende Gesichtspunkt ist die Sicherstellung des Akkumulationsprozesses. Daran orientieren sich die Herrschaftspraktiken, die auf die Reproduktion der Arbeitskraft und der Familie zielen. Die Arbeitskräfte werden 37 Hirsch 1980, S. 60. 38 Hirsch 1980, S. 62. 39 Ebd., S. 62f.

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den Notwendigkeiten des Akkumulationsprozesses unterworfen und eingepasst, sie werden entsprechend qualifiziert, normalisiert und diszipliniert. Neben den Verschleiß tritt die Massenintegration durch eine konsumistische Lebensweise, durch Individualisierung und Entsolidarisierung. In den Familien können die sozialisatorischen und fürsorgerischen Tätigkeiten nicht mehr erbracht werden. Traditionelle soziale Strukturen in den Nachbarschaften, Gemeinden oder Regionen lösen sich auf, die Individuen werden individualisiert und atomisiert. Es kommt zur Bildung von Agglomerationen mit hoher Verdichtung von Wohnen (Schlafstädte), Arbeiten (Bürostädte), Verkehr, zur Verödung der Innenstädte oder der ländlichen Räume. In allen Fällen herrscht eine die Gesellschaft desintegrierende Tendenz. Der Staat greift ein und versucht, zu politischen Lösungen auf eine für ihn spezifische Weise beizutragen. Dabei handelt es sich um rechtliche Rahmenbedingungen, Repression, Disziplin und Normalisierung oder monetäre Förderung. Das paradoxe Ergebnis dieser staatlichen Bemühungen und Versuche, desintegrative Prozesse und Krisendynamiken aufzuhalten, ist eine Steigerung der Krise selbst. Denn der Staat, der Aufgaben und Kompetenzen an sich zieht, wird damit ein Moment all dieser Krisenprozesse, die er gleichzeitig nicht bewältigen und beenden kann. Er greift erneut und verstärkt auf die Mittel der Repression und der Kriminalisierung zurück. Die desintegrativen Tendenzen werden nicht abgewendet oder gestoppt, sondern reproduzieren sich nun auch durch den Staat hindurch. Das krisentheoretische Modell, das Hirsch mit den Konzepten Durchkapitalisierung, Desintegration und Durchstaatlichung entwickelt, zeigt auf, dass kapitalistische Verhältnisse nicht auf die Ökonomie im engen Sinn begrenzt sind, sondern die Lebensweise, die Individuen, ihre sozialen Zusammenhänge und Orientierungen in ihrer Gesamtheit durchdringen und die Vergesellschaftung selbst bestimmen. Alle Momente des täglichen Lebens sind von der Logik der Profiterzielung und der Erhaltung kapitalistischer Verhältnisse bestimmt. Mit der Kapitalakkumulation verändern sich auch diese Formen der Vergesellschaftung. Es ist von großer Bedeutung, dass Hirsch auf diese Dimensionen einer kapitalistisch bestimmten alltäglichen Lebensweise immer wieder ausführlich hinweist und insofern sein theoretisches Programm umsetzt, das darauf zielt, die strukturlogischen Begriffe mit den historischen Veränderungen und Kämpfen zu vermitteln. Allerdings erhalten die Analysen trotz ihres theoretischen Anspruchs einen deskriptiven Charakter, da die Kategorien Durchkapitalisierung und Durchstaatlichung eine quantitativ-lineare Dynamik bezeichnen: das Historische wird trotz einer Vielzahl instruktiver empirischer Beobachtungen theoretisch vor allem bestimmt durch quantitative Zunahmen und weitere Schübe der Durchkapitalisierung und Kommodifizierung, letztlich also einer extensiven und intensiven Ausdehnung des Kapitalverhältnisses, also einem Weniger oder Mehr an Determination durch das Kapitalverhältnis mit den Folgen der Desintegration. Gerade die spezifischen Formen der Wi-

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dersprüche und Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Klassen in den Betrieben, in den Gemeinden, in den Konsum-, Familien- oder Liebespraktiken lassen sich damit nicht angemessen in den Blick nehmen, da sie hinsichtlich ihrer Durchdringung und Anpassung an die Anfordernisse der Akkumulation bestimmt werden. Die Akkumulation erscheint nun doch als wertlogisch angetriebene Landnahme, nicht als Klassenkampf – was beinhalten würde, die Akkumulation von den Kämpfen her als Ergebnis sozialer Auseinandersetzung (eben als idealen Durchschnitt, wie Marx sagen würde) zu begreifen. Die ArbeiterInnen sind nicht nur Objekt von Ausbeutungs- und Verwaltungsstrategien, sondern – worauf Hirsch ja selbst immer wieder hinweist – widerständig, sie verweigern sich, wandern ab und verfolgen Perspektiven der Veränderung und zwingen der Kapitalseite entsprechend spezifische Praktiken auf. Auch ihre Bereitschaft, sich den alles erfassenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse einzugliedern und einzupassen, kann und sollte deswegen nicht einfach als Massenintegration, sondern als eine besondere Form des Klassenkampfes dechiffriert werden. Das Kapitalverhältnis und die kapitalistische Lebensweise muss durchgängig von beiden Seiten her gedacht werden. Das ist folgenreich auch für den krisenanalytischen Begriff der Desintegration. Bei Hirsch beinhaltet diese einen eigentümlichen kulturkritischen Akzent, denn das Integrierte erscheint als intakt, erfüllt, noch nicht zerstört, letztlich als besser als das Desintegrierte.40 Es wird dabei außer Betracht gelassen, dass die integrierten Verhältnisse selbst karg, beengend, autoritär und repressiv sind, weil Ergebnisse vorangegangener sozialer Kämpfe. Umgekehrt bedeutet das, dass das Kapitalverhältnis und die mit ihm verbundene Lebensweise Individuen ja durchaus in neuen Kooperations- und Kommunikationsverhältnissen zusammenbringen und zur Entfaltung ihrer Bedürfnisse und Freiheiten beitragen kann. Abschließend kann gesagt werden, dass Joachim Hirsch für die kritisch-materialistischen Gesellschaftstheorie zentrale Fragen aufgeworfen und diskutiert hat sowie nach Wolfgang Abendroth und Johannes Agnoli in Deutschland maßgeblich die materialistische Staatstheorie fortgesetzt und zu ihr beigetragen hat. Seine gesellschaftstheoretischen, zeitdiagnostischen und politischen Analysen haben viele bedeutsame Entwicklungen der kapitalistischen Vergesellschaftung beobachtet und erklärt sowie weitsichtig krisenbestimmte Veränderungen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation antizipiert. Die Analysen, die von Neugierde für neue Praktiken des Widerstands und der Bildung sozialer Bewegungen bestimmt waren, haben durchgängig staatliche Herrschaft kritisiert und sich für die „Formen autonomer Selbstorganisation und ‚horizontaler‘ Verbindung der Individuen“ eingesetzt, deren Realisierungsmöglichkeiten Hirsch in seinen Schriften unentwegt nachgespürt und in seinem eigenen Engagement unterstützt hat.41 40 Vgl. Demirović 2015. 41 Hirsch 1980; S. 94.

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Literatur: Backhaus, Hans-Georg, 1997: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik. Freiburg. Bourdieu, Pierre, 2010: Delegation und politischer Fetischismus. In: Ders.: Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2, Konstanz, S. 174-192. Demirović, Alex, 2015: Ordnung und Integration. Adornos Kritik am Gravitationsgesetz des Ganzen. In: Bröckling, Ulrich/ Dries, Christian/ Leanza, Matthias/Schlechtriemen, Tobias (Hrsg.): Das Andere der Ordnung. Theorien des Exzeptionellen, Weilerswist, S. 169-188. Hirsch, Joachim, 1973: Elemente einer materialistischen Staatstheorie. In: von Braunmühl, Claudia/Funken, Klaus/Cogoy, Mario/Hirsch, Joachim (Hrsg.): Probleme einer materialistischen Staatstheorie, Frankfurt/M., S. 199-266. Hirsch, Joachim, 1976: Bemerkungen zum theoretischen Ansatz einer Analyse des bürgerlichen Staates. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 8/9, S. 99-149. Hirsch, Joachim, 1980: Der Sicherheitsstaat. Das »Modell Deutschland«, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. Frankfurt am Main. Hirsch, Joachim, 1990: Kapitalismus ohne Alternative? Materialistische Gesellschaftstheorie und Möglichkeiten einer sozialistischen Politik heute. Hamburg. Hirsch, Joachim, 2005: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems. Hamburg. Hirsch, Joachim, 2015: Anmerkungen zur linken Leidenschaft für den Staat: In: Martin, Dirk/ Martin, Susanne/Wissel, Jens (Hrsg.): Perspektiven und Konstellationen kritischer Theorie. Münster, S. 104-115. Hirsch, Joachim/Roth, Roland, 1986: Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus. Hamburg. Jessop, Bob. 1990. State Theory. Putting the State in its Place. Cambridge. Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1, MEW 23. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. MEW 3. Reichelt, Helmut, 1970: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Frankfurt/M. Skocpol, Theda, 1985: Bringing the State Back In. Strategies of Analysis in Current Research. In: Evans, Peter B./Rueschemeyer, Dietrich/Skocpol, Theda (Hrsg.): Bringing the State Back In. Cambridge, S. 3-38.

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Birgit Sauer Materialistisch-feministische Staatstheorie. Kritische Perspektiven auf Gewalt gegen Frauen

1. Einleitung Während ich diesen Aufsatz schreibe, geht ein Aufschrei gegen sexuelle und sexualisierte Gewalt gegen Frauen um den Globus. Unter dem Hashtag #MeToo dokumentieren weltweit Frauen, dass sie von Männern, die ihre Machtposition ausnutzen, sexuell belästigt oder vergewaltigt wurden – Männer im Filmgeschäft, in der Politik, in der Wirtschaft. Die Kampagne zeigt, dass sexuelle Belästiger doch nicht „nur spielen“ wollen, sondern beißen und gnadenlos ihre Macht über weibliche Körper ausüben. Sexuelle Gewalt ist also nach wie vor eine zentrale Komponente im Geschlechterverhältnis; die sexuelle und körperliche Integrität von Frauen wird von Männern nicht respektiert, wie man dies in liberalen, aufgeklärten und gleichberechtigten Gesellschaften annehmen sollte. Freilich bilden auch Hierarchien zwischen Männern eine Gewaltstruktur, die unterlegene Männer verletzbar und damit zu Zielen sexualisierter maskulinistischer Gewalt macht. Lange war sexuelle Gewalt nicht nur tabuisiert, sondern sie wurde gar nicht als Gewalt wahrgenommen, attackierte Frauen wurden als hysterisch oder zu empfindlich diffamiert, da diese Übergriffe als Komplimente, als besondere Zuneigung oder Formen der Anerkennung von Frauen in einem männerdominierten Umfeld betrachtet wurden. Der erste Twitter-„Aufschrei“ gegen sexualisierte Gewalt – die Kampagne als Reaktion auf den sexuellen Übergriff des Politikers Rainer Brüderle gegen die Journalistin Laura Himmelreich im Jahr 2013 – wurde in der männlichen (Medien-)Öffentlichkeit verharmlost und lächerlich gemacht. Tenor des Diskurses um die rechtliche Sanktionierung sexueller Belästigung und Gewalt war stets, dass die lustvollen erotischen Interaktionen zwischen den Geschlechtern Schaden nähmen, wenn der Staat, wenn also sanktionierbare Regeln und Verbote ins Spiel kämen.1 Der Staat solle sich möglichst aus den libidinösen Beziehungen heraushalten, sonst laufe er Gefahr, Tugendterror zu verbreiten. Interessanterweise änderte sich diese Perspektive nach der Silvesternacht 2015/16: Was dort Frauen an sexuellen Übergriffen widerfuhr, war nach deutschem

1 Zizek 2015; Pfaller 2013.

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Recht gar nicht wirklich strafbar.2 Allerdings identifizierte die mediale Debatte die Übergriffe sehr wohl als sexuelle Gewalt, machte freilich auch rasch die wahren „Sex-Täter“ aus: Muslimische junge Männer wurden zum „Sexmob“ stilisiert und damit als „Andere“ konstruiert, die aufgrund ihrer sexuellen Aggressivität nicht in „unsere“, also die westliche Kultur passen.3 Während Donald Trump in diesem Sinne die Silvesternacht auf Twitter kommentierte, hatte er sich zuvor noch mit ebensolchen sexuellen Übergriffen gerühmt – vermutlich in der Annahme, dass dies seine Machtposition sichtbar mache, wenn nicht gar politisch verstärke. Kurzum: Sexuelle Gewalt diente in der Post-Köln-Debatte zum einen dem politischen „Othering“, also der Legitimierung exklusiv-rassistischer Politiken, zum anderen aber auch dazu, den Blick vor der eigenen sexualisierten Gewaltkultur zu verschließen. Allerdings diente das „Ereignis Köln“4 auch als Kristallisationspunkt, um die bereits auf den Weg gebrachte Reform des deutschen Sexualstrafrechts zu beschleunigen. Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen hatte in vielen westlichen Staaten einen Ausgangspunkt für die Mobilisierung der zweiten Frauenbewegungen seit den 1970er Jahren gebildet. Die frühe Frauenforschung verortete Männergewalt gegen Frauen bereits seit den 1980er Jahren in staatlichen Strukturen5 und theoretisierte die Kritik der Frauenbewegung an staatlich legitimierten Gewaltverhältnissen: Die systematische physische, aber auch ökonomische, soziale und reproduktive Unsicherheit und potenzielle Gewaltbetroffenheit von Frauen wurden als zentrale Dimensionen moderner Staaten verstanden. Das physische staatliche Gewaltmonopol wurde als „Mythos“ entlarvt, denn es garantierte Frauen im Nahraum der so genannten Privatsphäre nicht jene Sicherheit, aus der es eigentlich seine Rechtfertigung bezog.6 Im Gegenteil: Ehegesetze, Polizeihandeln und Rechtsprechung bildeten bis in die 1990er Jahre eine Gelegenheitsstruktur für Männergewalt gegen Frauen. Staatsverhältnisse wurden so als geschlechtsspezifische Gewaltverhältnisse beschreibbar. Inzwischen ist der öffentliche Sensibilisierungsgrad für Gewalt gegen Frauen gestiegen. Doch war es ein langer Weg des frauenbewegten Aktivismus in Europa, Gewalt gegen Frauen als Ausdruck ungleicher Geschlechterverhältnisse zu skandalisieren und staatliche Sanktionen durchzusetzen. Diese Kritik an Männergewalt gegen Frauen war mit einer ambivalenten Anrufung des Staates verknüpft. So wurde einerseits der patriarchale Staat mitverantwortlich gemacht für Gewalt gegen Frauen, andererseits sollten staatliche Institutionen – das Recht, die Justiz, die Polizei – Männergewalt verhindern und bestrafen, um Frauen zu schützen. Die UNO setzte schließlich im Jahr 1993, im Rahmen der Wiener Menschenrechtskonferenz, Män-

2 3 4 5 6

Hark/Villa 2017, S. 10. Dietze 2017, S. 291ff. Dietze 2017, S. 279ff. Vgl. u.a. Hagemann-White 1989. Rumpf 1995, S. 235.

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nergewalt auf die internationale Politikagenda,7 und in einigen Staaten traten „Gewaltschutzgesetze“ gegen familiäre Gewalt in Kraft, die die Wegweisung des Gewalttäters aus einer gemeinsamen Wohnung vorschreiben und somit das aktive staatliche Vorgehen gegen private (Männer-)Gewalt ermöglichen. Auch Straftatbestände wie Vergewaltigung – auch in der Ehe –, sexuelle Belästigung und Stalking fanden Eingang in Strafgesetzbücher europäischer Staaten. Dass diese Gesetze sehr zögerlich greifen, zeigen die nur schwer umzusetzenden Strafmaßnahmen im Falle von sexueller Gewalt. Phänomene der Täter-Opfer-Umkehr, des „victim blaming“, aber auch die auf von sexueller Gewalt betroffenen Frauen lastende Beweisführung machen die Lücken in den Gesetzgebungen sichtbar. In Deutschland fand eine Veränderung des Sexualstrafrechts zugunsten gewaltbetroffener Frauen nach jahrelangem Kampf erst 2016 statt. Nun gilt als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung, wenn ein Mann gegen den erkennbaren Willen der Frau sexuelle Handlungen vollzieht. Ein „Nein“ reicht aus – und muss als „Nein“ verstanden werden. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre scheinen den öffentlich-politischen Diskurs um sexualisierte Gewalt also verändert zu haben. Im Kontext der #MeTooKampagne gibt es nun auch vermehrt männliche Stimmen, die ihre Geschlechtsgenossen zum Überdenken von gewaltvollen sexuellen Praktiken auffordern, ohne gleich das Gespenst einer bürokratischen Überregulierung der Lust an die Wand zu malen.8 Haben sich also die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse gewandelt, so dass die Unantastbarkeit männlich-sexueller Hegemonie und Gewalt gegen Frauen rechtlich sanktionierbar wurde und nicht mehr augenzwinkernd akzeptiert wird? Doch es drängen sich weitere Fragen auf: Wo liegen die bereits angedeuteten Ambivalenzen der staatlichen Regulierung sexueller und geschlechtsbasierter Gewalt aus einer materialistisch-staatstheoretischen feministischen Perspektive? Warum gelingt die Ächtung sexualisierter Männergewalt gerade heute, zu diesem Zeitpunkt? Mein Text möchte vor diesem Fragenhorizont den Beitrag einer feministisch-materialistischen Staatstheorie zum Verständnis geschlechtsbasierter und sexualisierter Gewalt gegen Frauen ausloten. Deutlich machen möchte ich, dass die Verbindung einer neo-marxistischen mit einer post-strukturalistischen Staatssicht fruchtbar ist, um einen Beitrag zum Verständnis von Staatlichkeit, Geschlecht und Gewalt zu leisten. Diese ermöglicht nämlich eine Problematisierung der öffentlichen Vernachlässigung geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt ebenso wie die Kritik staatszentrierter „Lösungen“ bzw. Engführungen der Geschlechterproblematik. Denn Ziel einer feministisch-kritischen Konzeptualisierung von Staatlichkeit ist es, die Ambivalenz und Paradoxie staatlicher Interventionen in Geschlechter- und Sexualitätsarrangements analytisch zu fassen: Welchen Beitrag leistet staatliche Macht zur Restrukturierung ungleicher Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse? Welche Mög7 Wölte 2002. 8 Z.B. Weisbrod 2017.

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lichkeiten der Transzendierung von interdependenten Ungleichheitsregimen lassen sich im staatlichen Kontext ausmachen? Eine solch kritische Perspektive begreift Staatlichkeit als Arena von Geschlechterkonflikten und -auseinandersetzungen und eröffnet die Möglichkeit, Mechanismen der Konstruktion und der wechselseitigen Hervorbringung von Geschlechterverhältnissen und Identitäten, von Diskursen und staatlichen Institutionen sichtbar und analysierbar machen.9 Mein Text argumentiert dies in folgenden Schritten: Zunächst werde ich die Schnittstellen marxistischer und neo-marxistischer Debatten um Staat und Gewalt diskutieren. Ein Schwerpunkt liegt auf der feministischen Rezeption der staatstheoretischen Arbeiten von Joachim Hirsch, nicht zuletzt deshalb, weil diese für die deutsche Debatte ein zentraler Anknüpfungspunkt waren bzw. sind. Dann lege ich das Potenzial eines neo-marxistischen und dekonstruktivistischen Staatsbegriffs zur Konzeptualisierung von Geschlechtergewalt dar, da die deutschsprachige feministisch-staatstheoretische Debatte als Konsequenz der Aneignung neo-marxistischer Staatstheorien – auch jener von Joachim Hirsch und der von ihm in die deutsche Debatte eingeführten Überlegungen von Nicos Poulantzas – eine solche Verknüpfung bzw. Erweiterung aus feministischer Perspektive vorschlug. Abschließend möchte ich Geschlechtergewalt als spezifisch staatlich „tolerierte“ personalisierte Gewalt in historisch-kritischer Perspektive systematisch ausleuchten und insbesondere den Erkenntnisgewinn einer feministisch-materialistischen Sicht betonen.

2. Staat und Gewalt. Marxistische Annäherungen Die feministische Sicht auf Staatlichkeit als Gewaltverhältnis ist seit den 1970er Jahren von einer an Marx und Engels sowie der materialistischen Theorie orientierten Perspektive inspiriert. Marxistische Staatstheorie hatte deutlich gemacht, dass die Vorstellung vom Staat als universelle, ein Allgemeinwohl herstellende Institution nicht nur in Bezug auf Klassen- bzw. Produktionsverhältnisse, sondern auch auf Geschlechterverhältnisse und rassistische Konstellationen zu hinterfragen ist. Karl Marx und Friedrich Engels hatten zwar keine kohärente Staatstheorie entworfen,10 doch in Abgrenzung von Hegels Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft betonten sie die Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse, also den Zusammenhang einer spezifischen Form des Staates und je spezifischer sozialer und ökonomischer Konstellationen und Kräfteverhältnisse: Der Staat sei ein „Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe“ und der Versuch, die gesellschaftlichen Widersprüche zu „bannen“.11 Je konkrete „Staatsformen“ wurzeln somit „in den materiel9 Pringle/Watson 1992; Brown 1992; Sauer 2001. 10 Vgl. Carnoy 1984, S. 45; Demirović 1987, S. 9; Hay 2006, S. 65. 11 Engels, MEW 19, S. 191.

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len Lebensverhältnissen“, genauer: in der „politischen Ökonomie “ und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen.12 Der bürgerliche Staat entstehe also aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft und verkörpere deshalb keine universelle sittliche Idee, sondern sei vielmehr partikular und gebe als „Klassenstaat“ lediglich vor, ein Allgemeinwohl zu repräsentieren. Im „Kommunistischen Manifest“ bezeichnen Marx und Engels schließlich den bürgerlich-kapitalistischen Staat als Instrument der herrschenden Klasse mit dem Ziel der Ausbeutung der arbeitenden Klasse.13 Er sei der „Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet“.14 Engels charakterisierte den bürgerlichen Staat mit der Metapher der „wesentlich kapitalistische(n) Maschine“, als „Staat der Kapitalisten“ oder als „ideelle(n) Gesamtkapitalist(en)“.15 Kurzum: Der moderne Staat mache es überhaupt erst möglich, dass Kapitalismus, Privateigentum und die bürgerliche Gesellschaft funktionieren. Der Staat sei „die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben.“16 Diese Garantiestruktur sei gewaltbewehrt: Damit die „herrschende Klasse ihre gemeinschaftliche Herrschaft“ ausüben könne, müsse diese als „öffentliche(n) Gewalt“, also als „Staat“ erscheinen.17 Daraus folgern Marx und Engels schließlich die Gewaltförmigkeit des Staates gegenüber der Arbeiterklasse: „In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft“.18

Oder wie im „Kommunistischen Manifest“ formuliert: „Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen.“19 Gewalt ist im Denken von Marx und Engels in den Lebens-, Arbeits- und Eigentumsverhältnissen – in der Teilung der Arbeit, die die Arbeitenden von ihrer Arbeit trennt und entfremdet – begründet. Um diese Teilung zu realisieren, brauche es einer Zwangsgewalt, die wiederum von der ökonomischen Gewalt separiert sein muss – diese Gewalt ist der bürgerliche Staat mit seinem Gewaltmonopol.20 Das Marx’sche Staatsdenken enthält also zwei Gewaltbegriffe: einen physischen Gewaltbegriff der Unterdrückung und Ausbeutung und einen weiteren Gewaltbegriff 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Marx, MEW 13, S. 8. Vgl. Knuttila/Kubik 2000, S. 101. Marx/Engels, MEW 4, S. 45. Engels, MEW 19, S. 222. Marx/Engels, MEW 3, S. 62. Marx/Engels, MEW 3., S. 339. Marx, MEW 17, S. 336. Marx/Engels, MEW 4, S. 51. Vgl. auch Hirsch 1992, S. 211f.; Hirsch/Kannankulam/Wissel 2008, S. 15; Fisahn 2016, S. 114ff.

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der öffentlichen Gewalt, die die unterdrückerischen Verhältnisse organisiert. Diese Zusammenhänge werden in den beiden folgenden Abschnitten anhand der feministischen Rezeption materialistischer Staatstheorie – auch und besonders jener von Joachim Hirsch – genauer dargelegt.

3. In Richtung einer feministisch-materialistischen Gewaltperspektive Auch wenn die marxistische Debatte um staatliche Gewalt bis in die 1990er Jahre vornehmlich und nahezu ausschließlich die Klassen- sowie die Nord-Süd-Dimension thematisierte, ließ sich dennoch die feministische Kritik an Männergewalt an diese Theoretisierungen anschließen, nicht zuletzt aufgrund des strukturellen und nicht allein individualistischen Zugangs zum Phänomen der Gewalt. Vor allem aber erlaubte die (neo-)marxistische Theoretisierung von Staatlichkeit feministischen Theorien den patriarchalen Staat als eine grundlegende Struktur der Geschlechterherrschaft und -gewalt und zugleich als ein ambivalentes Gebilde zu fassen. Analog zu Klassenverhältnissen wurden Geschlechterverhältnisse und die geschlechtliche Arbeitsteilung als soziale Verhältnisse gefasst, die staatliche Institutionen, Nomen und Politiken prägen. Die feministische Staatsdebatte entzündete sich in den späten 1970er Jahren im Kontext von und durchaus in scharfer Auseinandersetzung mit (neo-)marxistischen Theorien.21 Hauptkritikpunkt war die Degradierung des Geschlechterverhältnisses zu einem Nebenwiderspruch. Die Frage der Gewalt von Staatlichkeit wurde in der frühen marxistisch-feministischen Debatte zunächst nicht explizit als physische Gewalt theoretisiert, vielmehr stand die Kritik an doppelter Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen im Zentrum dieser Überlegungen – nämlich die Ausbeutung von Frauen durch den Kapitalismus und durch das Patriarchat.22 Diese Argumentationslinie marxistischer Feministinnen sah den kapitalistischen Staat als einen (Gewalt-)Apparat in der patriarchalen Gesellschaft. Er galt als „bemannt“, und die Staats„männer“ nutzten staatliche Institutionen zur Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen. Frauen wurden in dieser frühen marxistisch-feministischen Debatte – ähnlich dem Klassenbegriff – als „Gruppe an sich“ verstanden, die aufgrund ihrer Positionierung im System geschlechtlicher Arbeitsteilung diskriminiert, ausgebeutet und unterdrückt wird.23 Ein weiterer Argumentationsstrang bezeichnete den Staat selbst als „patriarchal“. Der Staat spiegle patriarchale Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse wider, denn er habe die Funktion, kapitalistische Produktionsverhältnisse aufrechtzuerhal21 Vgl. Hartmann 1979. 22 McIntosh 1978; Barrett 1983. 23 Eisenstein 1979; Werlhof 1985.

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ten – und diese beruhten auf notwendig ungleichen Geschlechterverhältnissen. Der patriarchale Staat unterdrücke deshalb Frauen gezielt in der und durch die Familie. Die „dual system analysis“ versuchte schließlich die beiden Sichtweisen vom „kapitalistischen“ und „patriarchalen“ Staat zu kombinieren: Der Staat vermittle zwischen kapitalistischen und patriarchalen Interessen und setze zugleich beide Interessen auf Kosten von Frauen durch.24 Der patriarchale Charakter des „kapitalistischen Staates“ und insbesondere des Wohlfahrtsstaates ergebe sich aus der Notwendigkeit kapitalistischer Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, d.h. der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Familie.25 Die Familie wiederum sei der genuine Lokus patriarchaler Unterdrückung, denn dort würden beide Herrschaftsstrukturen reproduziert, sowohl die persönliche Abhängigkeit der Ehefrau vom Ehemann als auch die weibliche Reservearmee an Arbeitskräften.26 Auch in Deutschland entwickelte sich eine feministische Debatte in diesem Zeitraum, die marxistische Theoreme mit feministischen Konzepten zu verknüpfen suchte, um Diskriminierung und Ausbeutung von Frauen zu erklären.27 Diese feministisch-marxistischen Debattenstränge behandelten zwar die Bedeutung von staatlichen Politiken und Institutionen für die untergeordnete soziale und ökonomische Stellung von Frauen, doch eine explizit feministische Theoretisierung von staatlicher Gewalt in ihrem Zusammenspiel mit Männergewalt gegen Frauen, fand in dieser Phase nicht statt. Gewalt war die Gewalt von Strukturen und Verhältnisse; patriarchale Staatsgewalt wurde – zurecht, allerdings auch nur – als „entpersonalisiert“ gedacht und aus ökonomischen Verhältnissen abgeleitet. Eine explizit staatstheoretische Auseinandersetzung fand allerdings in dieser frühen feministischen Aneignung marxistischer Theorie nicht statt. So erklärt sich auch die fehlende Rezeption der Arbeiten von Joachim Hirsch. Die politiktheoretische Leerstelle wurde von Catharine MacKinnon kritisch ins Visier genommen. Sie kommentierte das Verstummen des marxistischen Feminismus am Ende der 1980er Jahre mit der Feststellung, der Feminismus habe keine Staatstheorie.28 Dies führte nach MacKinnon auch zu einer feministischen Untertheoretisierung von Gewalt. Zwar ging auch sie von einer Parallelität männlicher und staatlicher Herrschaft und Gewaltförmigkeit aus, doch eröffnete sie eine neue feministisch-marxistische Perspektive, die nun auch die Kritik an physischer Männergewalt in die Staatsdebatte zu integrieren suchte. Ja mehr noch: Männergewalt und Staatsgewalt wurden zum Dreh- und Angelpunkt von MacKinnons Theorie weiblicher Benachteiligung und Unterdrückung, wie sie am Beispiel von Pornographie ausführte. Sie fokussierte auf die explizite Gewaltförmigkeit männlich-staatlicher Herrschaft in Kombination mit physisch-gewalttätiger Männlichkeit: „Male 24 25 26 27 28

Vgl. Eisenstein 1979. Vgl. Burstyn 1985, S. 57. Vgl. z.B. McIntosh 1978. Für Viele: Werlhof 1985; Beer 1990; Neusüß 1985; Haug 1980. Vgl. MacKinnon 1989, S. 157.

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power is systemic. Coercive, legitimized, and epistemic, it is the regime“.29 Und dieses männliche Regime basiere auf der körperlichen und sexuellen Unterwerfung von Frauen, auf sexueller Gewalt: „Man fucks woman; subject verb object.”30 Im Anschluss an diese Studie setzte dann eine erneute feministische Debatte über den Staat ein, die die Verkürzungen der frühen feministisch-marxistischen Konzepte zu überwinden suchte. Letztere hatten zwar plausibel gemacht, dass sich ungleiche Geschlechterverhältnisse nicht aus den Eigentums- und Klassenverhältnissen, auch nicht aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der ungelösten Sorgefrage allein ableiten lassen. Doch die Frage, wie diese strukturellen Verhältnisse beispielsweise zu spezifischen Subjektkonstellationen führen, die nicht zuletzt in die Körper eingeschrieben sind, wie also Körper als zweigeschlechtliche entstehen und wahrgenommen werden, war ungelöst geblieben. Die Rezeption von neo-marxistischen Staatstheorien ermöglichte ein neues feministisch-materialistisches Konzept von Staatlichkeit, das neben der Struktur- auch eine Handlungsdimension zu konzipieren erlaubte, das Geschlechtergewalt als eine Dimension staatlicher Herrschaft und Organisation von Zweigeschlechtlichkeit zu denken erlaubte.

4. Die „Besonderung des Staates“: Ambivalenzen einer feministisch neomarxistischen Staatsperspektive Die Frage der jüngeren feministisch-staatstheoretischen Überlegungen seit den 1990ern war weniger, welche Rolle der Staat bzw. staatliche Gewaltsamkeit für das Leben und Arbeiten von Frauen spielte, sondern wie „Geschlecht“ als eine den Staat strukturierende, intersektionale Kategorie konturiert werden kann31: Die „alte“ Frage des Verhältnisses von Klasse und Geschlecht, Kapitalismus und Patriarchat wurde produktiv re-formuliert. Nun konnte gefragt werden, wie durch moderne Staatlichkeit Geschlecht, Klasse, Ethnie, Sexualität und Religion sich überhaupt erst als politisch bedeutsame Unterschiede herausbildeten und zu zentralen Dimension der Lebens- und „Existenzweise“ wurden.32 Im Folgenden möchte ich diese feministischstaatstheoretische Perspektive entwickeln, die Rezeption der Werke von Joachim Hirsch skizzieren, die Relevanz seiner staatstheoretischen Überlegungen sichtbar machen und schließlich herausarbeiten, welche Möglichkeiten der Konzeptualisierung von Geschlechtergewalt diese Perspektive eröffnet. 29 MacKinnon, S. 170. 30 MacKinnon, S. 124. 31 Das Konzept der Intersektionalität geht auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (1991) zurück und ist eine Metapher für die „Überkreuzung“ von Ungleichheitsstrukturen; Crenshaw 1991; Sauer/Wöhl 2008. 32 Maihofer 1995.

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Auch feministisch-staatstheoretische Konzepte des deutschsprachigen Raums setzten in den 1990er Jahren an der Geschlechtsblindheit neo-marxistischer Theorien an. Allerdings wird die „Wahlverwandtschaft“ zwischen Feminismus und Marxismus hervorgehoben, auch und gerade in der – wenngleich zaghaften – Rezeption der Werke Joachim Hirschs.33 Staatlichkeit wurde nicht in erster Linie als ein repressiver, gewaltvoller Apparat, sondern – in Rezeption von Joachim Hirsch und Nicos Poulantzas – als ein soziales Kräftefeld verstanden, in dem sich soziale und kulturelle Differenzen und Kräftekonstellationen zu konflikthaften Ungleichheitsstrukturen verknüpfen. Poulantzas hatte vorgeschlagen, in Analogie zu Marx’ Verständnis des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis, den Staat als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“ zu fassen.34 Auch Hirschs Vorschlag einer Formanalyse des Staates erlaubt es, die Diskussion von staatlicher Struktur, also politischer Formgebundenheit und Strukturadäquanz des Staates mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen und Handeln zu konzeptualisieren.35 Der Staat, so die daran anschließende feministische Lesart, besitzt eine Strukturadäquanz mit patriarchalen Geschlechterverhältnissen.36 Er ist zugleich eine Arena, in der Geschlechterverhältnisse – aber auch Klassen-, Ethnizitäts- und Sexualitätsverhältnisse – hergestellt und in gesetzliche Normen und Institutionen gegossen werden. Der bürokratische Staatsapparat wurde als die Institutionalisierung geschlechtsspezifischer bzw. intersektionaler Ungleichheitsstrukturen begriffen und Staatlichkeit als jenes Terrain verstanden, auf dem diese Differenzstrukturen intelligibel, wahrnehmbar und damit gesellschaftlich und politisch relevant werden. Ganz grundlegende Techniken hegemonialer Staats-Kompromisse sind Trennungen zwischen den gesellschaftlichen Sphären öffentlich und privat bzw. Staat, Markt und Haushaltsökonomie, die Institutionen der Zweigeschlechtlichkeit und der Heteronormativität hervorbringen. Der Staat ist also „weder öffentlich noch privat, er ist vielmehr die Bedingung jeder Unterscheidung zwischen öffentlich und privat“.37 Diese Überlegungen eröffnen sowohl Chancen für feministische Intervention, sie machen aber auch staatliche Ambivalenz und „Unberechenbarkeit“ in Bezug auf Geschlecht aus. Da jedoch die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Widersprüche – auch die historisch nicht „entpersonalisierte“ Gewalt von Männern gegenüber Frauen – in die Materialität des Staates eingeschrieben sind, weist der Staat eine „strukturelle Selektivität“ gegenüber spezifischen Interessen und Bedürfnissen auf.38 Die in die Materialität des Staates eingelagerte Maskulinität, so die feministische Argumentation unter Rückgriff auf Hirsch, erschwert Frauen nicht nur den Zugang zu be33 34 35 36 37 38

vgl. Sauer 2001; Wöhl 2007; Genetti 2010; Löffler 2011. Poulantzas 2002, S. 159; vgl. Hirsch/Jessop 2001, S. 13; Hirsch 1992. Hirsch 2005: 41f. Sauer 2001; Genetti 2010. Althusser 1969, S. 129; Hervorhebung B.S. Poulantzas 2002, S- 165; auch Hirsch 1992, 212.

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stimmten Staatsbereichen, sondern führte historisch auch dazu, dass Belange, die als weiblich konnotiert gelten, mit geringerer Priorität verhandelt werden als jene, die als männlich gelten.39 Männergewalt gegen Frauen wird von staatlichen Apparaten tendenziell vernachlässigt – ja mehr noch: Das physische Gewaltmonopol des Staates machte Halt vor der personalisierten Männergewalt im staatsfrei konzipierten Raum von Intimität, Liebe, Ehe und Familie. So entstand strukturell eine Dualität, eine Aufspaltung der staatlichen Souveränität entlang der Geschlechterlinie. Doch der patriarchale Staat ist nicht nur in einem „Feld“ struktureller, sondern auch „strategischer Selektivität“ angesiedelt.40 Im Zentrum feministischer Staatsdebatten stand daher neben der Frage der „relativen Autonomie“ (Poulantzas) bzw. der „Besonderung“ des Staates (Hirsch) von gesellschaftlichen Produktions- und Kräfteverhältnissen die Frage der sich daraus ergebenden Widersprüchlichkeiten und Handlungsoptionen. Jedenfalls ist der Staat nicht aus den hierarchischen Geschlechterverhältnissen schlicht ableitbar. Staatliche Institutionen sind vielmehr relativ autonom, sie können eigene „Interessen“ entwerfen und realisieren. Hier rezipierte die deutschsprachige feministische Staatstheorie41 neo-marxistische Debatten, z.B. Claus Offe.42 Hirsch wie auch Poulantzas dachten den Staat und seine „Apparate und Institutionen“ von sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen aus.43 Der Staat ist somit immer das Ergebnis von sozialen Auseinandersetzungen, auch von Geschlechterauseinandersetzungen, so lässt sich feministisch folgern.44 Der Staat ist daher nicht gegeben, ebenso wenig hat er ein „Wesen“, vielmehr wird er immer wieder neu in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hergestellt. Daher ist er auch kein einheitliches Gebilde, das einen kohärenten Willen verfolgt, sondern ein „strategisches Feld und strategische(r) Prozess (…), in dem sich Machtknoten und Machtnetze kreuzen, die sich sowohl verbinden als auch Widersprüche und Abstufungen zeigen.45 Diese Widersprüche erfordern immer wieder Kompromisse zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen, Gruppen und Identitäten. Der Staat ist somit keine einheitlich agierende Institution mit einer stringenten Logik. Er kann weder als der Agent einer spezifischen gesellschaftlichen Gruppe, z.B. „der“ Männer, noch mit einer einzigen zweckgerichteten Intention agieren, z.B. als Instrument zur Disziplinierung oder gewaltsamen Unterdrückung von Frauen. In der politischen Form manifestieren sich also auch demokratische Prinzipien wie Gleichheit und Freiheit.46

39 40 41 42 43 44 45 46

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Z.B. Wöhl 2007, S. 62. Hirsch 1992, S. 212; Löffler 2011, S 107ff.; so auch Sauer 2001; Wöhl 2007. Vgl. Lang 2001. Offe 1973. Poulantzas 2002, S. 141; vgl. Hirsch 1995, S. 22. Sauer 2001. Poulantzas 2002, S. 167. Hirsch 1995, S. 22f.; auch Genetti 2010, S. 49.

Der Staat ist vielmehr ein gegenüber ungleichen Geschlechterverhältnissen, auch gegenüber sexualisierten Gewaltverhältnissen, relativ autonomer Akteur, so dass sich auf dem staatlichen Terrain auch neue Kräftekonstellationen entwickeln können, die eine Veränderung ausbeuterischer oder gewaltförmiger Geschlechterverhältnisse ermöglichen. So beruht auch die Dauerhaftigkeit des modernen maskulinen Staates gerade nicht (nur) auf dem Ausschluss von Frauen, sondern auf ihrer ambivalenten Integration, also der historisch partiellen „Feminisierung“ des Staatsapparates. Beispielsweise erhielten Frauen in europäischen Wohlfahrtsstaaten bereits vor der Erlangung politischer Rechte partielle soziale Rechte – freilich stets unter erwerbszentrierter Hegemonie. Demgegenüber ist die Hegemonie männlich-physischer Gewalt historisch persistent, berührt sie doch das Konzept staatlicher Souveränität ganz unmittelbar. Insbesondere die zentrale Einsicht der Regulationstheorie, die Joachim Hirsch in die deutschsprachige Debatte einführte47, hob die Bedeutung des Staates für die Organisation der Produktionsverhältnisse, also den Zusammenhang von Akkumulation und Regulation und Staatlichkeit hervor. Die Ansicht Hirschs, dass z.B. Hausarbeit Teil des Akkumulationsregimes sei – damit also auch im Zusammenhang mit politischer Regulation steht48 – eröffnete die Möglichkeit, materialistische Staatskonzepte um Geschlecht zu erweitern, auch wenn Hirsch dies selbst nicht konsequent tat.49 Allerdings hegte die feministische Rezeption der Staatstheorie von Hirsch auch Zweifel an der Idee der „Besonderung“ des Staates, seiner „getrennten Form“ als Spezifikum des Kapitalismus.50 Die „Bemanntheit“ des Staates, aber gerade auch das Beispiel der geschlechtsspezifischen und sexuellen Gewalt zeigen, dass aus Geschlechterperspektive patriarchal-kapitalistische Staaten nicht einfach autonom „gegenüber maskulin konnotierten Handlungspraxen“ sind,51 sondern ganz unmittelbar mit Geschlecht verknüpft sind. Während die Ausbeutung der Arbeitenden in der Regel nicht durch direkte Gewaltanwendung erfolgt, sondern, wie Hirsch schreibt, über den „scheinbar äquivalenten Warentausch“,52 ist das Geschlechterverhältnis durch ein doppeltes – ein „besondertes“, aber auch durch ein direktes – Gewaltverhältnis charakterisiert. Darüber hinaus prägt „maskuline Hegemonie“, die eben nicht allein aus den Produktionsverhältnissen entsteht, die politische Form und den Staat.53

47 48 49 50 51 52 53

Hirsch 1990; 1992. Vgl. den Beitrag von Jessop in diesem Band. Hirsch 1990, S. 34; 1992, S. 220. Vgl. Sauer 2001, S. 87; Genetti 2010, S. 48, 63; Kohlmorgen 2004, S. 23, 50; Chorus 2012. Hirsch 1995, S. 22. Wöhl 2007, S. 64. Hirsch 1995, S. 19; siehe auch Genetti 2010, S. 45. Wöhl 2007: 64.

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5. Staat, Subjektivierung, Gewalt. Neo-Marxism meets deconstructivism Die neo-marxistisch-feministische Staatsdebatte identifizierte eine geschlechtertheoretisch bedeutsame Leerstelle, nämlich die Konzeptualisierung von Subjektivität. Dies führte zu einer Erweiterung der – vor allem im deutschsprachigen Raum an Joachim Hirsch und Nicos Poulantzas orientierten – materialistisch-feministischen Staatstheorie durch eine dekonstruktivistische Sicht. Im Anschluss an Poulantzas und Michel Foucault ließ sich die kategorisierende Potenz des Staates, also die Teilung und Einteilung von Menschengruppen, als „ursprüngliche Gewaltförmigkeit“ fassen. Poulantzas, der sich explizit auf Foucaults „Überwachen und Strafen“ bezieht, verbindet Disziplinierung und Normalisierung mit der kapitalistischen Produktionsweise in einer weitaus deutlicheren Form, als dies Foucault tut. Der Staat bringt über Ideologien nicht nur eine bestimmte Form der Individualisierung hervor, sondern „verteilt“ die Individuen auf Klassen: „(E)r muss die Agenten so formieren und abrichten, qualifizieren und unterwerfen, dass sie diese oder jene Klassenstelle einnehmen können, an die sie nicht von Natur oder durch Geburt gebunden sind“.54 Poulantzas begreift daher „die Durchsetzung einer körperlichen Ordnung“ (ebd., 58) als wesentliche staatliche Aufgabe. Der „Körper“ ist, so folgert er, „nicht ein einfaches biologisches Naturelement, sondern eine politische Institution“ (ebd.). Der Staat „verteilt“, so ist Poulantzas geschlechtertheoretisch zu ergänzen, die Individuen nicht nur auf Klassen, sondern auch auf Geschlechter – einer heteronormativen Logik folgend lediglich auf zwei als binär gedachte Genusgruppen. Geschlechtsspezifische Staatlichkeit kann also im Anschluss an Foucaults Konzept der Gouvernementalität als eine hegemoniale Praxis beschrieben werden, die bestimmte Identitäten präferiert bzw. hervorbringt, andere aber marginalisiert und desartikuliert – und dies stets an der Schnittstelle zu anderen Subjektpositionen wie Klasse, Ethnizität oder Sexualität.55 Diese auf Sexualität und Geschlecht bezogene „heteronormative Hegemonie“ muss als staatliche Gewalt und somit der Staat als geschlechtsspezifisches Gewaltverhältnis begriffen werden.56 Doch physische Gewalt gegen Frauen als Teil der männlichen, staatlich abgesicherten Herrschaftsstruktur wird weder von Poulantzas noch von Foucault theoretisiert. Schließlich versteht Poulantzas Subjektivität nicht als vorstaatlich, sondern begreift den Staat als wesentliche Machtform im Prozess der Subjektkonstitution. Im Anschluss daran lässt sich der Staat als ein Verhältnis zwischen Menschen sowie als Praxis von Akteur_innen denken. Herrschaftliche, staatlich kodifizierte Geschlechterverhältnisse werden in alltäglichen Praxen aufrechterhalten und reproduziert, und

54 Poulantzas 2002, S. 103. 55 Foucault 2004. 56 Ludwig 2011.

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umgekehrt sind die vergeschlechtlichten alltäglichen Praxen Voraussetzung für die Reproduktion staatlicher Herrschaft. Auch Foucault legte den Focus auf die diskursive und Praxisdimension von Staatlichkeit, auf die Frage der Aneignung staatlicher vergeschlechtlichter Strukturen durch Individuen, also auch der gewaltförmigen Subjektivierung. In diesem Lichte betrachtet, werden soziale Positionen und politische Identitäten allerdings nicht schlicht durch staatliche Normen und Institutionen verordnet, nicht nur gewaltsam oktroyiert, sondern sie müssen von den Individuen selbst entworfen und gelebt werden. „Staatspraxen“ müssen den Bürger_innen als selbstverständlich gelten, sie müssen in den Köpfen und Körpern der Menschen verankert sein. Der Staat muss „in der Gesellschaft gelebt werden“, er muss „Bestandteil der alltäglichen Lebensweise“ von Frauen und Männern werden.57 Die Aufgabe der Staatsapparate besteht somit darin, in kollektiven Praktiken gesellschaftlichen Konsens herzustellen und zu sichern, damit die Bürger_innen an die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des Staates „glauben“, sie herstellen und reproduzieren. Kurzum: In der deutschsprachigen feministischen Staatsdebatte wird die Gewaltförmigkeit des Staates zum einen in seiner Klassifikationspraxis, zum anderen in seiner Potenz, Selbstregieren anzuregen, also zur gleichsam freiwilligen Unterwerfung unter Zweigeschlechtlichkeit gesehen. Dies will der Begriff der staatlich institutionalisierten Gewaltverhältnisse zum Ausdruck bringen.58 Institutionalisierung hebt darauf ab, dass in der Organisation und Ordnung von Gesellschaft, also auch in Staat und Politik, Gewalt eingelagert und abgesichert ist. Institutionelle bzw. staatliche Gewaltverhältnisse sind dann solche Benachteiligungs-, Ausschließungs- und Marginalisierungszusammenhänge, die eine staatlich-rechtliche Absicherung erhalten haben. Freilich: Personalisierte Gewalt gilt es dabei stets als strukturelles Herrschaftsinstrument mitzudenken. Und personalisierte geschlechtsbasierte Gewalt macht somit auf eine Leerstelle einer bloß hegemonietheoretischen oder strukturtheoretischen Perspektive auf patriarchale Staatlichkeit aufmerksam: Die klassifikatorische Macht der Zweigeschlechtlichkeit, auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sind „gepanzert“ mit Zwang und körperlicher Gewalt (um Gramscis Diktum zu modifizieren).59 Die Perspektive auf Subjektivierung, die zentral für ein geschlechterkritisches Staatskonzept ist, wirft daher in Bezug auf physische geschlechtsbasierte Gewalt die Frage auf, weshalb Frauen sich der staatlichen (Normierungs-)Gewalt unterwerfen, sie sich also „freiwillig“ regieren lassen;60 weshalb sie sich staatlich tolerierten Gewaltformen unterwerfen, wie z.B. der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit oder 57 58 59 60

Demirović 1987, S. 150. Sauer 2002, S. 99. Gramsci 1991ff., S. 783. Vgl. Butler 2001.

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der ehelichen Gemeinschaft. Diese Fragen verweisen auf den komplexen vergeschlechtlichten Zusammenhang von Identität, Liebe, Sexualität und Staatlichkeit. Diese Komplexität nicht individualisierend zu reduzieren, hat sich ein feministisches Staats- und Gewaltkonzept zur Aufgabe gemacht. Dies soll im Folgenden Abschnitt resümierend dargestellt werden.

6. Der Staat als geschlechtsspezifisches Gewaltverhältnis. Ein Vorschlag aus feministisch-materialistischer Perspektive Neben der feministisch-materialistisch staatstheoretischen Debatte entstand seit den 1990er Jahren auch eine feministische Diskussion, die explizit die staatliche Souveränität, also das staatliche Gewaltmonopol als Möglichkeitsstruktur geschlechtsbasierter männlicher, personalisierter Gewalt ins Zentrum rückte. Diese feministische Debatte argumentierte zunächst historisch-kritisch. Die heutige ambivalente öffentlich-staatliche Haltung gegenüber geschlechtsbasierter Gewalt sei so alt wie der bürgerlich-kapitalistische Staat selbst, schuf doch der liberale Staat jene Sphäre, in der sich bürgerliche Männlichkeit und Weiblichkeit jenseits administrativer Eingriffe herausbilden sollten – die Privat- und Intimsphäre. Staatliche Souveränität basierte auf diesem zweigeschlechtlichen Modell, besser gesagt: Die Zweigeschlechtlichkeit stellt einerseits die staatliche Illusion von Souveränität und Sicherheit her, sie produziert aber andererseits Unsicherheit qua Geschlecht und entzog familiarisierten Personen staatlichen Schutz. Der „subjektlosen Gewalt“ des modernen Staates war also (legitimierte) personalisierte Geschlechtergewalt von Anbeginn an inhärent.61 Diese staatliche Gewaltförmigkeit nach innen korrespondierte nicht zuletzt durch die Etablierung von Nationalstaatlichkeit und der Idee nationaler Identität mit der gewaltsamen, kolonialen Unterwerfung von „Anderen“. Und der Sex wurde zum Inbegriff der Intimität zwischen Männern und Frauen – einerseits strengstens reguliert, durch Verbote in heteronormative und geschlechterhierarchische Bahnen gelenkt, andererseits aber auch tabuisiert, in jedem Fall auf diese Weise als eine zentrale Dimension bürgerlicher Gesellschaft immer wieder in seiner Wichtigkeit hervorgebracht.62 Dieses Sexualitätsdispositiv beruhte aber auch darauf, dass der Staat die Vorherrschaft des bürgerlichen Mannes in dieser Sphäre nicht nur unberührt ließ, sondern förderte. Der Staat griff also nicht gegen Männergewalt gegen Frauen in diesem Intimraum ein, sondern (private) Verfügungsgewalt von Männern über Frauen wurde konstitutives Element von Sexualität und Intimität. Zeitgleich wird nicht-heteronormatives sexuelles Begehren gewaltsam privatisiert bzw. schutzlos öffentlicher Gewalt ausgesetzt. Sexuelle, geschlechtliche Praxen 61 Gerstenberger 1990. 62 Foucault 1983.

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schufen wegen ihrer Intimisierung extrem verletzungsoffene Strukturen und bildeten die Grundlage für Gewalthandeln. Zudem wurden anhand von Geschlecht und Sexualität auch im öffentlichen Raum „Intimsphären“ geschaffen, die Gewaltenklaven blieben: Im Raum der – bzw. im Namen von – Intimität wurde geschlechtsbasierte und sexualisierte Gewalt nicht als solche benannt und erkannt. Die geschlechtsspezifische Gewaltstruktur moderner Staatlichkeit wurde in den Arrangements des Wohlfahrtsstaats des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, der die Gewaltförmigkeit in der Lohnarbeit reduzieren sollte, zwar konserviert und darüber hinaus in strukturelle Gewalt, in die Beschneidung von Entwicklungsmöglichkeiten von (Ehe-)Frauen transformiert. Die Gewaltförmigkeit sozialstaatlicher Regulierungen der kapitalistischen Ökonomie basiert noch immer auf spezifischen Formen der Privilegierung von Männern und der Benachteiligung von Frauen, waren doch Frauen lange Zeit nicht selbstverständlich in das wohlfahrtsstaatlich geschützte Segment der Erwerbsgesellschaft integriert. Vielmehr ist in sozialstaatliche Regulierungen die Trennung und Hierarchisierung von Frauen- und Männerarbeit, mithin die ökonomische Benachteiligung von Frauen sowie ihre Abhängigkeit und Verletzungsgefährdung eingelassen. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Idee der Besonderung des Staates als Bedingung kapitalistischer Vergesellschaftung, wie sie Joachim Hirsch vorschlägt, aus einer Geschlechterperspektive partiell zu revidieren ist, wird doch im Geschlechterverhältnis Gewalt nicht allein vermittelt über den „objektivierten“ Staat ausgeübt, sondern physische Gewalt ist konstitutiv für patriarchale Verhältnisse im kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhang. Diese geschlechtsspezifischen Gewaltverhältnisse sind staatlich reguliert und abgesichert. Sie umfassen darüber hinaus ökonomische Unsicherheit und Ausbeutung durch geschlechtssegregierte Arbeitsmärkte, eine internationale geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, niedrige Frauenlöhne und Benachteiligungen im System sozialer Sicherheit, die vor allem auf Frauen der unteren Klasse negative bzw. gewaltförmige Auswirkungen hat. Dazu zählt aber auch soziale Unsicherheit und Diskriminierung durch die gesellschaftliche Abwertung von Fürsorgearbeit, die z.B. in Ländern des globalen Nordens von migrierten Care-Arbeiter_innen kompensiert wird, diese aber zugleich diskriminiert und in unsicheren Arbeitsverhältnissen ausbeutet. Geschlechtergewalt umfasst auch reproduktive Unsicherheit durch Abtreibungsbeschränkungen oder Pränataldiagnostik sowie das Problem unsicherer Verträge für Leihmütter. Schließlich bilden auch politische Unsicherheit durch Ausschluss und Marginalisierung qua Nationalität, insbesondere aus der Staatsbürger_innenschaft bzw. durch Fremden- und Aufenthaltsrechte Strukturen von Geschlechtergewalt und damit Kontexte für direkte physische Gewalt.63

63 Sauer 2002.

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Allerdings erwiesen sich staatliche Gewaltverhältnisse als historisch veränderbar und abhängig von sozialen Kräfteverhältnissen und Auseinandersetzungen. Als öffentliches Patriarchat entzog nämlich der Sozialstaat den (ehe-)männlichen Gewaltoligopolen partiell die Verfügungsgewalt über Frauen und ermöglichte ihnen eine eigenständige Lebensführung.64 Die Zweiten Frauenbewegungen setzten mit ihrer Kritik an Männergewalt gegen Frauen an dieser modernen staatlichen (Gewalt-)Struktur an und forderten neben Schutzräumen für von Gewalt betroffene Frauen, also Frauenhäuser, seit den späten 1980er Jahren die aktive Transformation staatlicher Normen und Institutionen, also die Auflösung männlicher „Gewaltoligopole“ bzw. die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in der Intim- und Privatsphäre. Nach jahrzehntelanger Mobilisierung von Frauenbewegungen gegen Männergewalt etablierten westliche Staaten Regulierungen, durch die der Staat sein physisches Gewaltmonopol in der Privatheit durchsetzen kann: Diese so genannten Gewaltschutzgesetze sind gleichsam revolutionär für gewaltförmige Geschlechterverhältnisse, erklären doch westliche Staaten nun Gewalt im sozialen Nahraum oder „intimisierten“ Räumen zu einem Offizialdelikt, das staatlichen Akteur_innen das Recht gibt, Gewalttäter dieses Nahraums zu verweisen. Allerdings ist dieser Erfolg der Staatstransformation ambivalent: So trug der Diskurs um Bestrafung von Gewalt in der Privatheit zur Sekuratisierung nicht nur von Geschlechterverhältnissen, sondern generell von Privatheit bei. Zudem wurden Gewaltschutzgesetze als Schutz von Familien und Kindern umgedeutet; die anti-patriarchale Stoßrichtung wurde sukzessive negiert. Schließlich befeuerte die Gewaltschutzdebatte auch ausgrenzende und stigmatisierende Diskussionen um die besondere Gewaltförmigkeit von migrantischen Communities. Solche Debatten entzündeten sich um die staatliche Regulierung von Ehrenmorden und Genitalbeschneidung, die als „kulturbedingte“ Gewalt bezeichnet wurden. Solche post-kolonialen, epistemischen Gewaltkonstellationen zeigen sich auch in den öffentlichen Diskursen um sexualisierte Gewalt an Silvester 2015 in ihrer ganzen Komplexität: Der unabdingbare (staatliche) Schutz vor sexueller Gewalt wird im Kontext von Migration in den Schutz vor den besonders gewalttätigen „Anderen“ – im Falle von Köln migrantischen Männern – umgedeutet. Staatliche Gewalt wurde nicht transformiert und in ihrer Gewaltförmigkeit (auch z.B. der Klassifikation) fundamental in Frage gestellt, sondern lediglich auf den Bereich der Intimität ausgedehnt. Gerade die „Köln-Konstellation“ zeigt darüber hinaus auch, dass eine Verengung staatlicher Gewaltverhältnisse auf Geschlecht allein, theoretisch verkürzt und politisch falsch ist. Neben Geschlecht müssen auch Migration, Ethnizität, Religion und Klasse als Gewaltdimensionen in Betracht gezogen werden.

64 Vgl. Pateman 1989, S. 189ff.

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Kurzum: Ein feministisch-materialistisches Staatskonzept leuchtet die Komplexität von staatlich institutionalisierten Gewaltstrukturen aus und macht vor allem auf die Spezifik von geschlechtsbasierter Gewalt im Kontext sich transformierender Staatlichkeit sichtbar. Hierfür stellte die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch Begriffe und Perspektiven zur Verfügung. Staatlich institutionalisierte Zweigeschlechtlichkeit gründet in einer historischen Tradition physischer Gewaltsamkeit. Dass sich moderne Staaten – wenn auch langsam und zäh – dieses archaische Element zu beseitigen suchten und personalisierte Männergewalt in „entpersonalisierte“ Staatsgewalt überführten ist aus feministischer Perspektiv allerdings ambivalent – und sollte stets Anlass zu weiterer Staatskritik sein. Eine neuerliche Rezeption von Joachim Hirschs Vorschlägen kann hier deutlich machen, dass die Entpersonalisierung des Staates die Bedingung der Reproduktion der politischen Form in kapitalistischen, aber eben auch patriarchalen Verhältnissen ist.

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III. Globale Perspektiven

Ulrich Brand Der Staat in der kapitalistischen Globalisierung. Nationaler Wettbewerbsstaat und die Internationalisierung des Staates bei Joachim Hirsch

1. Einleitung: Zur Relevanz der Staatsform1 Die verschiedenen Krisen der neoliberalen Globalisierung seit Mitte der 1990er Jahre haben immer wieder die Frage aufgebracht, inwiefern der Prozess politisch zu steuern sei. Ein prominenter Begriff dafür war jener um Global Governance.2 Er wurde und wird bis heute in analytischer Hinsicht verwendet, um reale Veränderungen in der globalen Politik anzuzeigen, nämlich die zunehmende politische Bedeutung internationaler politischer Institutionen und privater Akteure. Verbunden mit dem Begriff waren aber auch – und nicht immer trennscharf zu analytischen Perspektiven – politisch-strategische Absichten, um unterschiedliche Akteure von der Notwendigkeit internationaler politischer Kooperation zu überzeugen, damit angesichts eines fehlenden Weltstaates und einem entsprechenden Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit verbindliche Regeln gesetzt und deren Einhaltung gesichert werden könnte. In jüngerer Zeit ist der Steuerungsoptimismus, nicht zuletzt aufgrund der Krise ab 2007/2008, etwas gewichen. Doch die im September 2015 von der UNO-Generalversammlung verabschiedeten Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) zeigen die Persistenz einer solchen politischen Orientierung: Die Regierungen der Welt sollen mittels zwischenstaatlicher Verabredungen und Kooperationen und gemeinsam mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren, insbesondere privaten Unternehmen, die drängenden Probleme der Welt angehen und – so der Titel der UN-Erklärung – das von den Regierungen formulierte ambitionierte Ziel erreichen: „Transforming our world“ in Richtung sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit.3

1 Für Hinweise danke ich Christopher Beil, Christoph Görg, John Kannankulam und Mathias Krams. 2 Frühe Überblicke und Kritiken in Behrens 2005, Brand et al. 2000, aus feministischer und staatstheoretischer Perspektive Sauer 2003, als Auseinandersetzung mit der verwandten Regimetheorie Hirsch 1995, S, 177ff. 3 United Nations General Assembly 2015.

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Aus einer marxistischen staats- und gesellschaftstheoretischen Perspektive, und insbesondere in Anlehnung an die Arbeiten von Joachim Hirsch, sind diesbezüglich Zweifel angebracht. Sie verweist nicht nur auf die vielfältigen gegenläufigen Interessen und bestehenden Machtverhältnisse (das machen andere Theorien auch), sondern auf die strukturell verankerten kapitalistischen Dynamiken, welche viele Krisen verursachen und Hindernisse im Hinblick auf eine nicht-zerstörerische Gestaltung (welt-)gesellschaftlicher Verhältnisse darstellen. Und sie bietet insbesondere mittels des theoretischen Begriffs der sozialen Formen Erklärungen für die strukturelle Verankerung des Politischen in der tendenziell expansiven, auf immer weiterer Kommodifizierung und Durchstaatlichung basierenden kapitalistischen Produktionsweise. Eine Produktionsweise, deren Dynamik aus dem widersprüchlichen Kapitalverhältnis und den in Konkurrenz stehenden Einzelkapitale besteht (die sich mitunter intensiv absprechen, wie aktuell die deutsche Automobilindustrie zeigt). Die sich immer stärker globalisierende und gleichzeitig räumlich fragmentierte kapitalistische Produktionsweise und die damit sich ausweitende Warenförmigkeit sozialer Verhältnisse ist tief in das alltägliche Handeln von Unternehmen und Menschen – Letztere als BesitzerInnen von Arbeitskraft und als KonsumentInnen - und damit neben der Produktions- auch in die Lebensweise eingeschrieben. Die sozio-ökonomischen Verhältnisse wirken unter Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung noch weniger gestaltbar, sondern als scheinbarer und realer „Sachzwang“. Und es kommt zu immer wieder aufbrechenden Konflikten und Krisen in einzelnen Regionen oder gar auf globaler Ebene. Die nationalen Staaten sind in ihrer materiellen Grundlage eng mit diesen Prozessen verbunden, von ihnen abhängig. Und mit der Orientierung an „Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit“ - sprich: Attraktion und Akkumulation von Kapitel im „eigenen“ Territorium - vertieften sie seither diese Abhängigkeit und waren um die Bearbeitung (ggf. auch Unterdrückung) von Konflikten und die Abwendung oder rasche Bearbeitung von Krisen bemüht. In diesen Prozessen transformieren sich der Staat als prozessierender Widerspruch zwischen partikularen Interessen (insbesondere einzelner Kapitalfraktionen) und allgemeinen Interessen (vor allem der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Reproduktion und einer gewissen Kohäsion), die Rolle der „relativen Autonome“ des Staates gegenüber Einzelinteressen, die Herstellung und Durchsetzung von Rechtssicherheit für die Eigentümer von Vermögen und Produktionsmitteln sowie die Formulierung und Absicherung hegemoniefähiger Projekte. Doch auch diese Politiken sind widersprüchlich, krisenhaft und von Konflikten durchzogen. Zudem bestand angesichts der zunehmenden Globalisierung und internationalen Arbeitsteilung und insbesondere der nach 1989 erfolgten Auflösung von Wirtschaftsblöcken mit eigenen hegemonialen Strukturen zunehmend die Notwendigkeit, die Reproduktionsbedingungen auch international jenseits zwischenstaatlicher Kooperation zu sichern.

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Joachim Hirsch hat mit seiner Formanalyse des Staates dazu beigetragen, die Transformationsprozesse des Staates unter Bedingungen des sich globalisierenden Kapitalismus angemessen zu begreifen. Auf einer allgemeinen Ebene versteht er den Staat zunächst unabhängig von den unterschiedlichen historischen Ausprägungen als politische Form der kapitalistischen Produktionsweise, die von der auf Mehrwertproduktion und Ausbeutung basierender Ökonomie besondert und mit dieser widersprüchlich verbunden ist. Die politische Form sichert in konfliktiven und keineswegs funktional vorgegebenen Prozessen die allgemeinen Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft. Hirschs Staatstheorie war in ihren unterschiedlichen Phasen eng damit verknüpft, je aktuelle Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zu verstehen und zu hinterfragen. Dabei waren in seinen Arbeiten schon immer internationale Zusammenhänge wichtige Bestandteile der Erklärungen gesellschaftlicher Entwicklungen. Im nächsten Abschnitt zeige ich, wie bereits in den frühen Analysen Westdeutschlands Hirsch die internationale Dimension berücksichtigte, sie ab der Epochenwende 1989 systematisierte (3. Abschnitt) und sich in seinen Forschungen auch neuen Fragen zuwandte (4. Abschnitt). Im Lichte der zunehmenden Bedeutung der internationalen Politikebene und der sozialwissenschaftlichen Konjunktur des Begriffs Global Governance hat Hirsch mit dem Begriff der „Internationalisierung des Staates“ einen wichtigen Kontrapunkt gesetzt (5. Abschnitt). Im letzten Teil skizziere ich einige jüngere Diskussionen, wie im Anschluss an Hirsch heute gearbeitet wird.4

2. Die globale Dimension in Hirschs historischen Analysen der BRD In dem Buch Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System von 1970 wurde der Zusammenhang ökonomisch-technischer Entwicklungen mit den Strukturen und Funktionsweisen der staatlichen Bürokratie bzw. der Apparate im Bereich der Wissenschafts- und Bildungspolitik untersucht. Der zeithistorische Kontext wurde dahingehend interpretiert, dass – neben dem erreichten monopolistischen Stadium der Ökonomie – die wachsenden internationalen Verflechtungen eine zentrale Dynamik darstellten. Sie führten zu zunehmender politischer Planung und Steuerung. Die Probleme des westdeutschen Kapitalismus seit Ende der 1960er Jahre wurden damit erklärt, dass es zu einer Verknappung der Arbeitskräfte und zunehmender Monopolisierung (was meinte: Oligopolisierung) der Wirtschaft kam. Dabei wurden die internationalen Bedingungen aufgrund der bereits längere Zeit andauernden technologischen Überlegenheit der US-amerikanischen Industrie für die westdeutsche Wirtschaft als ungünstig eingeschätzt. Diese äußerten sich für Hirsch etwa 4 Zu Anschlüssen und Grenzen der Übertragbarkeit der Überlegungen vgl. die Beiträge von Alnasseri und Piva in diesem Band.

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in zunehmenden US-Investitionen und Aufkäufen in Westeuropa, starken US-Exporten und der Abwanderung qualifizierter WissenschaftlerInnen. „Insgesamt wird das internationale kapitalistische System immer deutlicher von einem ökonomisch-technischen Wettlauf nationaler Kapitalismen geprägt. Für die technologisch rückständigen Länder taucht hier die Gefahr auf, Opfer eines spezifisch spätkapitalistischen ‚Kolonialismus‘ zu werden.“5

Auch wenn die deutsche Wirtschaft heute, d.h. 50 Jahre später, eher Kolonisator als kolonialisiert ist, bleibt diese Strukturbestimmung richtig. Auf einer allgemeineren Ebene wurde argumentiert: „Je mehr Absatzschwierigkeiten im Inland durch Exporte kompensiert werden müssen, desto deutlicher hängt die ökonomische Stabilität eines Landes und damit sein politischer Spielraum von der internationalen Konkurrenzfähigkeit ab, die ihrerseits wiederum in wachsendem Maße durch die relativen technischen Innovationsraten bestimmt wird.“6

Dies führte, so dann das weitere Thema des Buches, zu einer Restrukturierung der Wirtschaftspolitik weg von der Globalsteuerung hin zu spezifischeren Strukturpolitiken und damit auch zu einer veränderten Forschungs- und Wissenschaftspolitik.7 Die internationale Dimension wurde in diesem Buch jedoch nicht weiter vertieft, sondern der Fokus blieb – der Themenstellung entsprechend – auf der BRD.8 Ein Sachverhalt ist bemerkenswert: Entgegen der heute immer wieder geäußerten Kritik, dass die Staatsableitungsdebatte Anfang der 1970er Jahre abstrakt geführt worden wäre, nahm Hirsch sehr weitreichende historische Analysen vor.9 Die Herangehensweise, die Geschichte der Bundesrepublik in verschiedenen Phasen darzustellen und für die spezifischen Entwicklungen nicht-funktionalistische Erklärungen zu suchen, aber eben auch die Art und Weise der Einbettung in den Weltmarkt als

5 Hirsch 1970, S. 102. 6 Hirsch 1970, S. 100f. 7 Ausführlich dazu dann in Hirsch 1974. Als Funktionen der staatlichen Wissenschaftspolitik werden genannt: Schaffung wissenschaftlicher Infrastruktur, allgemeine Innovationsförderung, direkt Unterstützung privatwirtschaftlicher Forschung und Entwicklung und insbesondere die Forschungsplanung; vgl. Hirsch 1970, S. 109-127. 8 Einige Bemerkungen zur Verfasstheit der Politikwissenschaft in der Vorbemerkung zum Buch haben übrigens auch nach fast 50 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt. „Der bevorzugte Gegenstand dieser Disziplin ist bis heute der sich im engeren Bereich von Interessengruppen, Parteien, Parlament und Regierung vollziehende ‚politische Willensbildungsprozeß‘ geblieben. … Ökonomische und gesellschaftliche Strukturen hier in das Gewand abstrakter, der Analyse vorgängig entzogener ‚Daten‘ oder ‚Umwelten‘ (Letztere beziehen sich auf die Systemtheorie, UB).“ (Hirsch 1970, S. 8f.) Die Widersprüche zwischen formaler Demokratie und der kapitalistischen Organisation der Produktion würden durch „die Untersuchung des isoliert betrachteten politischen Institutionensystems“ (ebd., S. 10) unhinterfragt hingenommen, aufbrechende Antagonismen und Krisen als Einzelphänomene abgetan. 9 Vgl. die Beiträge von Buckel/Kannankulam und Roth in diesem Band sowie den Überblick zu den verschiedenen Debattensträngen von Gerstenberger 2007.

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wichtigen Faktor zu bestimmen, deuteten bereits an, warum sich Hirsch später der Regulationstheorie zuwandte. Auch in dem Buch Der Sicherheitsstaat. Das ‚Modell Deutschland‘, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen von 1980 wurden Fragen der Weltmarktkonkurrenz und der Position der BRD darin thematisiert, wenngleich sie nicht zentral waren. Vor allem ging es um zwei Themen: Zum einen um die Tendenz der „Durchstaatlichung“ der bürgerlichen Gesellschaft und zum anderen um die Vervielfältigung sozialer Konfliktlinien und das Aufkommen der Alternativbewegungen. Dabei formulierte Hirsch (sein Untersuchungsgegenstand war die Entwicklung Westdeutschlands ab 1966): „Offenbar ist die kapitalistische Gesellschaftsformation aufgrund ihrer eigenen Dynamik derart folgenreichen Wandlungen unterworfen, daß eine Reihe traditioneller Kategorien und Konzepte der Politik- und Staatsanalyse – auch der sich auf Marx beziehenden – revisionsbedürftig werden. Dies erfordert den Entwurf neuer, der realen gesellschaftlichen Entwicklung adäquater theoretischer Ansätze. Was hier vorgelegt wird, ist nicht viel mehr als ein Versuch in diese Richtung.“10

Entsprechend wurden erstmals in der Analyse Begriffe wie „fordistisch“11 und – mit Verweis auf Foucault und Deleuze – „radikaler Reformismus“ verwendet.12 Die Reproduktionsarbeit neben der Erwerbsarbeit spielte – entsprechend ihrer damaligen Politisierung durch die zweite Frauenbewegung – ebenfalls eine Rolle (vgl. den Beitrag von Sauer in diesem Band). Im Buch Das neue Gesicht des Kapitalismus wurde Mitte der 1980er Jahre eine sehr weitreichende Zeitdiagnose vorgenommen und ein wissenschaftlicher Vorschlag zum Verständnis der Transformation des westdeutschen Kapitalismus unterbreitet. Hirsch und sein Ko-Autor Roland Roth plädieren über die Rezeption der Regulationstheorie – damals als „Fordismus-Theorie“ bezeichnet – für einen „theoretisch-politischen Paradigmenwechsel der Linken“: Dieser sei notwendig angesichts der krisenhaften Entwicklungen der 1970er Jahre und der Probleme ihrer Erklärung, der zunehmenden Bedeutung sozialer Bewegungen, der Krise des Marxismus und der sich abzeichnenden postfordistischen Transformation.13 Auch in diesem damals breit diskutieren Buch spielten internationale Fragen noch eine untergeordnete Rolle.

10 11 12 13

Hirsch 1980, S. 7f. Hirsch 1980, S. 65ff. Hirsch 1980, S. 164ff. Hirsch/Roth 1986.

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3. Kapitalistische Globalisierung und der nationale Wettbewerbsstaat Die internationale Dimension als eigenständiger Untersuchungsgegenstand gewann in der wissenschaftlichen Arbeit von Joachim Hirsch in den 1990er Jahren an Bedeutung, in denen sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und einer sich weiter intensivierenden Restrukturierung der internationalen Arbeitsteilung, die weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Verhältnisse nochmals stark verändern. „Auftakt“ dieser Auseinandersetzung war – neben Aufsätzen in wissenschaftlichen Zeitschriften und der „links“ – das Buch Kapitalismus ohne Alternative? von 1990. Es wird heute stark als jene Publikation wahrgenommen, in der nach dem Buch von 1986 zum einen die Regulationstheorie intensiver rezipiert und für ihre staats-, institutionen- und krisentheoretischen Defizite kritisiert wurde. Zum anderen wurde das Konzept des radikalen Reformismus weiter ausgearbeitet, das bereits 1980 im „Sicherheitsstaat“ grob umrissen (vgl. dazu die Beiträge von Görg, Jessop und Roth in diesem Band). Hinzu kommen grundlegende theoretische Überlegungen – unter anderen in Anlehnung an Alain Lipietz – zur Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab und raum-zeitlichen Ungleichheiten.14 Wurde 1990 noch der Übergang vom „fordistischen zum postfordistischen Staat“ erkundet,15 verschob sich die Analyseperspektive in den 1990er Jahren deutlich. Neben der Rezeption und gesellschafts- und staatstheoretischen Vertiefung der Regulationstheorie16 war der wichtigste und breit rezipierte Beitrag Mitte der 1990er Jahre das Buch Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, das 1995 in der Edition ID-Archiv erschien. Die Grundidee wurde in zwei Aufsätzen in „Das Argument“ ausgearbeitet und dann im Buch vertieft.17 Der „Wettbewerbsstaat“ ist längst zum begrifflichen Allgemeingut der politikund allgemeinen sozialwissenschaftlichen Diskussionen geworden (leider wurde das Buch nie ins Englische übersetzt; zur Rezeption in Lateinamerika vgl. den Beitrag von Piva in diesem Band). Auch dieses Buch spiegelt die Stärke der Staatstheorie und -analyse von Joachim Hirsch, nämlich kapitalistische Strukturmuster und aktuelle Entwicklungen zu verbinden. Im Zentrum stand die Analyse des Globalisierungsprozesses, in dessen Zuge mittels neoliberaler Politiken vor allem die Geld- und Kapitalmärkte liberalisiert und dereguliert wurden. In Übereinstimmung etwa mit einer zweiten wichtigen marxisti14 Hirsch 1980, S. 91ff. 15 Hirsch 1990, S. 101ff. In diesem Buch wurde unter anderen die damals wenig geläufige, aus heutiger Perspektive aber weitsichtige These vertreten, dass die westdeutsche Gesellschaft nicht zu einer „postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft“ würde, sondern „eine erneute Welle der industriellen Durchkapitalisierung von Produktion und Reproduktion“ erlebe; Hirsch 1990, S. 105. 16 Vgl. Esser/Görg/Hirsch 1994, für die deutschsprachige Diskussion ebenfalls wichtig: Demirović/Krebs/Sablowski 1992, vgl. dazu verschiedene Beiträge in diesem Band. 17 Hirsch 1993; 1994.

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schen Globalisierungsdiagnose in dieser Zeit (Die Grenzen der Globalisierung von Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf 1996) wurden die Umbrüche als umkämpftes und konfliktives politisch-ökonomisches Projekt verstanden, und zwar zuvorderst als Wiederherstellung der Profitabilität des Kapitals durch die Schwächung der Lohnabhängigen und eine Veränderung der internationalen Arbeitsteilung. Wie schon in früheren Arbeiten war für Hirsch wichtig, das theoretische Instrumentarium für das Verständnis der Umbruchprozesse zu schärfen. Neben den bereits bisher für Hirsch – der in diesen Jahren oft in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko war und damit die sich globalisierenden Prozesse anschaulich miterlebte – zentralen Themen, dem theoretischen Zusammenhang von Staat, Kapitalismus und Demokratie, ging es in dem Buch zunächst um die Frage, warum es viele Staaten gibt und inwiefern diese funktional sind für die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise. „Einige Gründe sprechen für die Annahme, daß die Vielzahl konkurrierender Einzelstaaten ein grundlegendes Merkmal der kapitalistischen politischen Form und eine der wesentlichen Bestands- und Entwicklungsbedingungen dieser Produktionsweise darstellen.“18 Die sich im globalen Verwertungs- und Akkumulationszusammenhang gegenüberstehenden sozialen Klassen werden „durch die Existenz konkurrierender Einzelstaaten in sich selbst politisch gespalten… Dadurch vor allem entsteht auf einzelstaatlicher Ebene die Möglichkeit der Bildung klassenübergreifender Koalitionen zwecks Sicherung gemeinsamer Konkurrenzvorteile auf dem Weltmarkt.“19 Insofern werden die „Besonderung“ des Staates gegenüber den Klassen und die „Staatsillusion“ eines allgemeinen „nationalen Interesses“ durch die Vielzahl von Staaten und ihr Konkurrenzverhältnis zueinander besonders ermöglicht. Globale und nationale Akkumulationsprozesse und die damit verbundenen sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnisse existieren dabei nicht getrennt, sondern bilden eine „komplexe und widersprüchliche Einheit“ und Teile der internationalen Bourgeoisie erringen ihre Dominanz mit Hilfe „ihrer“ Staaten.20 Mit Etienne Balibar wurde zudem argumentiert, dass die Form der Nation nicht aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen „abgeleitet“ werden kann, aber historisch eng mit der Entwicklung der Weltwirtschaft zusammenhängt.21 Die „Nation-Form“ als Modus der Organisierung politischer Herrschaft setzte sich historisch konfliktreich durch und wurde nicht intentional von den jeweiligen Bourgeoisien geschaffen. Im Hinblick auf globale Ungleichheiten entwickelte Hirsch die Position, dass der vergleichsweise höhere materielle Wohlstand in den kapitalistischen Zentren eine 18 Hirsch 1995, S. 32. 19 Ebd., Herv. i. O. Diese These wird weniger Jahre später von der neo-gramscianischen IPÖ relativiert, die sehr wohl von transnationalen Bündnissen auf Kapitalseite ausgeht; vgl. Gill 2000; Opratko/Prausmüller 2011. 20 Hirsch 1995, S. 33f. 21 Balibar 1993, S. 110.

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Kombination von Werttransfer des globalen Südens in den Norden und anderen internationalen Mechanismen, aber auch von Kämpfen in den Zentren selbst ist. „Die nationalstaatliche Aufspaltung des globalen Kapitalismus schuf damit die Voraussetzungen dafür, dass in einigen Teilen der Welt bürgerlich-demokratische Verhältnisse erkämpft werden konnten, während in den übrigen Regionen alle Voraussetzungen dafür fehlten und entsprechende Entwicklungen unterbunden wurden.“22

Mit Poulantzas argumentierte Hirsch, dass die kapitalistische Produktionsweise mit ihrem Zwang zur erweiterten Reproduktion nur innerhalb konkreter Gesellschaftsformationen existieren kann, gleichzeitig sich aber über diese hinaus ausdehnt. Die Existenz von Staaten und ihr Verhältnis zueinander begründet die dem Kapitalismus immanente „ungleiche Entwicklung“.23 Es ging dabei nicht um die reale Existenz einzelner Staaten – hier veränderte sich ja gerade in den 1990er Jahren im Zuge der Auflösung der Sowjetunion oder Jugoslawiens einiges –, sondern um das „Strukturprinzip einzelstaatlicher politischer Organisation“ als Voraussetzung globaler Akkumulation und der Regulation der Klassenverhältnisse.24 Transnationale Firmen unterliefen einerseits die Struktur des Staatensystems und benötigten andererseits eben diese Einzelstaaten zur Formulierung und politischen Absicherung ihrer Interessen. Das hatte Konsequenzen für die damals beginnende und zu Beginn dieses Artikels kurz erwähnte Debatte um Global Governance oder gar einen „Weltstaat“: „Die Beseitigung des Systems konkurrierender Einzelstaaten würde grundlegende Mechanismen der Ausbalancierung von Antagonismen und Konflikten sowohl innerhalb als auch zwischen den Klassen – eben die notwendige ‚relative Autonomie‘ des Staates – verschwinden lassen, weil die dafür maßgebenden ‚nationalen‘ Klassenspaltungen entfallen würden.“25

Im Anschluss an diese theoretischen Ausführungen wurden von Hirsch die damaligen Strukturveränderungen analysiert und darin die Transformation des Staates; und zwar als integraler Bestandteil der Umbrüche und nicht zuvorderst ökonomischer Prozesse, dem sich die nationalen Staaten anzupassen hätten.26

22 23 24 25

Hirsch 1995, S. 15; Herv. UB. Poulantzas 2002 [1978], S. 125; bereits 1973/2001, vgl. auch Jessop 2017. Hirsch 1995, S. 34. Hirsch 1995, S. 36. Diese Überlegungen wurden lange vor der angelsächsischen Debatte um die Rolle einer Pluralität in Konkurrenz stehender Staaten angestellt (vgl. etwa Callinicos 2007, van der Pijl 2007). 26 Die liberalen Debatten um Global Governance (Überblick in Behrens 2005) thematisierten auch die wachsende Bedeutung der internationalen Politikebene und der dort handelnden AkteurInnen und fragten nach Bedingungen und Möglichkeiten staatlicher Kooperation. Allerdings dominierte die Annahme, internationale Politik sei notwendig, um „der Ohnmacht der Politik gegenüber der Eigendynamik der Globalisierungsprozesse entgegenwirken zu können“ (Messner 2005, S. 37; Kritik in Brand 2011).

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Die Internationalisierung des Kapitals wurde in der Krise des Fordismus politisch vorangetrieben und wirkte als vermeintlicher und realer „Sachzwang“ zurück. Dem flexibler gewordenen Kapital sollten „gute Standortbedingungen“ geschaffen werden. Diese Kriterien des Handelns wurden in alle gesellschaftlichen Bereiche „interiorisiert“. Was sich in den 90er Jahren verändert hat, sind die prioritären Kriterien politischen Handelns: Konkurrenzfähigkeit, Effizienz sowie, damit verbunden, eine jegliche Alternativen desavouierende Realpolitik. Dominierten im Fordismus die ideologischen Dispositive von Wachstum und Fortschritt, so sind es im Postfordismus für Hirsch die der Effizienz und Konkurrenz(-fähigkeit).27 Sozialer Konsens wurde damit teilweise selbst zum Wettbewerbsfaktor und die teilweise Überhöhung einer „national-staatlichen Gemeinschaft … hat jenseits aller ideologischen Überhöhungen eine harte materielle Grundlage“, eben die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.28 Gleichzeitig wurde eine gesellschaftspolitische Orientierung bestimmend, aus der heraus der Kampf gegen individuelle Benachteiligungen und schlechtere Lebenschancen zuvorderst individuell geführt werden musste. Die „freiwillige“ Unterwerfung unter diese Orientierungen war dabei essentiell. „Das auf diese Weise geschaffene, nicht unbedingt glückliche, sondern eher fatalistische und auf jeden Fall radikal antiutopische Bewußtsein, das einen wesentlichen Bestandteil des ideologischen Korsetts des Wettbewerbsstaates darstellt, setzt sich nicht als eine mit totalitären Methoden verbreitete Staatsideologie, sondern sehr viel wirksamer als Produkt der real existierenden ‚demokratischen Zivilgesellschaft‘ durch, wird produziert von konkurrierenden Medien- und Parteiapparaten, Wissenschaftsinstitutionen oder Intellektuellenzirkeln.“29

Diese Strukturveränderungen betrafen auch den Staat, wurden von ihm vorangetrieben und sicherten die skizzierten gesellschaftlichen Transformationsprozesse ab. Der „neue Typ des kapitalistischen Staates“ – und entsprechender Formen politischer Herrschaft – hatte historisch spezifische institutionellen Strukturen, Modi und Funktionen. Sozialpolitische Funktionen wurden zurückgedrängt, wettbewerbspolitische gewannen an Bedeutung. Innerhalb der Staatsapparate kam es zu einer weiteren Stärkung der Exekutiven und dabei vor allem jener Apparate, die für die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit besonders wichtig geworden sind, insbesondere die Wirtschafts- und Finanzministerien und die Zentralbanken. Aber auch in Bereichen wie Migrations-, Militär- oder Sicherheitspolitik war tendenziell eine Zunahme von Regulierung und staatlicher Aktivität zu beobachten.

27 Der Begriff Postfordismus bezeichnete „keine neue und kohärente kapitalistische Formation, sondern eher das inzwischen recht lange anhaltende Fortdauern einer globalen kapitalistischen Krise“ (Hirsch 1995, S. 178.). 28 Hirsch 1995, S. 172. 29 Hirsch 1995, S. 162f.

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Die Veränderungsprozesse implizierten für Hirsch nicht notwendigerweise die Abschaffung des Sozialstaates; dessen Transformation blieb Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen. Insbesondere die Privatisierungen vormals öffentlicher Aufgaben schränkten politisch-staatliche Spielräume und Steuerungsmöglichkeiten ein. Was in der Governance-Debatte als Öffnung des Staates hin zu zivilgesellschaftlichen (inklusive ökonomischer) Akteuren begrüßt wurde, um Probleme angemessener und legitimer bearbeiten zu können, nannte Hirsch herrschaftskritisch eine „Entstaatlichung von Politik bzw. politischer Regime“. Diese „Privatisierung von Politik“ wertete insbesondere den Einfluss privater Akteure auf und führte zur „abnehmenden Bedeutung institutionalisierter Willensbildung- und Entscheidungsmechanismen zugunsten entformalisierter Verhandlungssysteme, die mittels der herkömmlichen demokratischen Institutionen und Verfahren kaum mehr kontrollierbar sind“.30 Die formellen Staatsapparate griffen zur Sicherung ihrer Projekte und von gesellschaftlicher Hegemonie auf die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren zurück – vor allem auf Wirtschaftsverbände und das Top-Management der weltmarktorientierten Unternehmen.31 Die enge Kooperation des Staates mit der deutschen Automobilindustrie zur Bearbeitung des Dieselskandals im Jahr 2017 ist ein eindrucksvoller Beleg dieser These. Das hatte enorme politische Implikationen. Denn der Begriff des Wettbewerbsstaates besagt damit unter anderem, „daß jede staatliche Politik, die auf die Interessen des internationalen Kapitals keine Rücksicht nimmt, unter den Bedingungen eines sich globalisierenden Weltmarkts zum Scheitern verurteilt ist. Je stärker und direkter aber der Einfluß des internationalen Kapitals wird, desto mehr verselbständigt sich der Staat in bezug auf die Interessen nicht nur der Lohnabhängigen, sondern auch von Teilen der nicht in den Internationalisierungszusammenhang einbezogenen Unternehmen, kleinen Selbständigen und auch der Landwirte. Ihnen gegenüber werden die Zwänge der kapitalistischen Standortspolitik immer härter und kompromißloser durchgesetzt.“32

Die Diagnose sich herausbildender Wettbewerbsstaaten ging also nicht per se von verringerten Regulierungskompetenzen der nationalstaatlichen politischen Institutionen aus, sondern fokussierte spezifische – und weiterhin umkämpfte – Veränderungen staatlicher Politik, die zuvorderst den Interessen der Vermögenden und des weltmarktorientierten Kapitals nutzten. Für sie brachten die Produktivitätsgewinne, internationale Arbeitsteilung sowie ethnisch, klassen- und geschlechtsspezifisch segmentierte Arbeitsmärkte materielle Vorteile. Dennoch (oder gerade deswegen) trugen Staaten bzw. deren Apparate weiterhin wesentlich zur Sicherung der sozialen Kohäsion in klassengespaltenen Gesellschaften sowie zu der Aufrechterhaltung der 30 Hirsch 2001a, S. 22. 31 Heide Gerstenberger (2007, S. 193f.) und Sol Picciotto (2007) etwa wiesen darauf hin, dass insbesondere die zunehmend privaten Schiedsgerichte auch weitreichende Konsequenzen für die Rolle des Staates und seine Theoretisierung haben. 32 Hirsch 1995, S. 118.

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politischen und der ideologischen Funktion bei. Und: Die Veränderung der Klassenverhältnisse und verstärkter Ungleichheit führten zu dem „scheinbaren Paradox, dass die ‚Denationalisierung‘ zugleich mit starken nationalistischen und rassistischen Tendenzen verbunden ist.“33

4. Demokratieanalyse und neue politische Akteure Auch die Formen der repräsentativen Demokratie änderten sich weitgehend. Entsprechend wurden von Joachim Hirsch die demokratietheoretischen Überlegungen unter Bedingungen kapitalistischer Globalisierung und autoritärer Tendenzen in dieser Zeit vorangetrieben.34 Das Argument lautete, dass die grundsätzliche relative Autonomie des Staates zwar erhalten blieb, aber mit der Aushöhlung parlamentarischer Entscheidungsprozesse einher ging, also der „Refeudalisierung der Politik“35 und einer Verstärkung des „autoritären Etatismus“.36 Wenn unter Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung „der demokratische Prozess auf diese Weise materiell leer läuft, dann verlieren die politischen Systeme nicht nur ihre Fähigkeit zur gesellschaftlichen Integration, sondern auch für die Verarbeitung konfligierender Interessen.“37 Gegenüber neuen gesellschaftlichen Problemen, Interessen und Kräftekonstellationen nahm die über Parlamente demokratisch legitimierte Lern- und Reaktionsfähigkeit – die für den Bestand kapitalistischer Gesellschaften durchaus funktional ist – ab. Ein zweiter demokratiepolitischer Aspekt, der später die Überlegungen zur „imperialen Lebensweise“ beeinflusst38, bestand darin, dass Hirsch bereits früh eine Funktion der bestehenden liberalen Demokratie darin sah, dass die politischen Systeme der Länder des globalen Nordens „bei wachsenden internationalen Ungleichheiten und den daraus resultierenden Wanderungs- und Fluchtbewegungen dazu (tendieren), sich zu einer Art von Interessengemeinschaft relativ Privilegierter zurückzubilden, deren politisches Primat darin besteht, die eigene Wohlstandsfestung durch Abschottung zu erhalten sowie politi-

33 34 35 36

Hirsch 2001a, S. 21; ähnlich Jessop 1997. Vgl. etwa Hirsch 1993, S. 215ff.; 1995, Kapitel V; Görg/Hirsch 1998. Maus 1991. Mit „autoritärem Etatismus“ (Poulantzas 1978, S. 185ff.), verstanden als Ausdruck der Krise und Umgang damit, ist zum einen ein gesteigertes Eingreifen des Staates in alle Bereiche des sozio-ökonomischen Lebens gemeint, zum anderen ein Verfall der institutionalisierten politischen Demokratie und schließlich die Einschränkung sog. „formaler“ Freiheiten. Dabei handelt es sich gleichzeitig um eine Stärkung und um eine Schwächung des Staates. Diese Staatsform, darauf insistiert Poulantzas, ist keine Variante des Faschismus, sondern eine der bürgerlichen Demokratie. 37 Hirsch 2001a:, S. 35. 38 Brand/Wissen 2017.

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sche Sicherheit und ökonomische Prosperität durch militärpolizeiliche Interventionen in peripheren Not- und Krisenregionen zu gewährleisten.“39 Das Thema der Demokratie wurde ab Mitte der 1990er Jahre verbunden mit einer genaueren Untersuchung jener Akteure, denen im Globalisierungsprozess besondere demokratische – oder genauer gesagt: demokratisierende – Funktionen zugeschrieben wurden: nämlich den Nichtregierungsorganisationen (NGOs). In enger Verbindung mit den staats- und demokratietheoretischen Überlegungen wurde um Joachim Hirsch herum – und in Kooperation mit Alex Demirović am Institut für Sozialforschung – ein Arbeitszusammenhang aufgebaut, der sich mit diesem zwar nicht ganz neuen, aber zunehmend bedeutenden Phänomen der internationalen Politik befasste. Insgesamt sechs Arbeitstagungen zu verschiedenen Facetten von NGOs,40 später ein Sammelband,41 verschiedene Dissertationen42 sowie ein von der VW-Stiftung finanziertes Forschungsprojekt43 waren unter anderem Ausdruck dieser Arbeiten. Allen Teilnehmenden gut in Erinnerung wird die – aufgrund der Absurdität viel Heiterkeit erzeugende – Beschreibung Peter Wahls sein, was es bedeutet, als NGO bei der Weltbank als civil society „gehört“ zu werden und wie das stark moderierte Prinzip des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ jegliche kritische Positionierung verhinderte.44 Entgegen der sich damals dynamisch entwickelnden, empirisch und eher organisations- wie verbändetheoretisch ausgerichteten NGO-Forschung machte der Frankfurter Zusammenhang zwei Unterschiede: Zum einen wurde nach den konkreten und meist widersprüchlichen Erfahrungen der „neuen Akteure der internationalen Politik“ gefragt und ihr praktisches Wissen um Möglichkeiten und vor allem Grenzen von Veränderungsstrategien ernst genommen. Und zum anderen wurden sie in einen gesellschafts- und staatstheoretischen Zusammenhang gestellt und damit als ambivalenter Teil des sich globalisierenden Kapitalismus sowie der damit einhergehenden Transformation der Staatsform als ganz praktisch von unzähligen Akteuren reproduzierter und gleichwohl „objektiver“ Handlungszusammenhang von NGO verstanden. „Funktionen und Bedeutung der NGO lassen sich prinzipiell nicht von den einzelnen Organisation, ihrer jeweiligen Struktur und Zielsetzung her, sondern nur aus dem Kontext der postfordistischen Restrukturierungsprozesse heraus verstehen. Maßgebend sind dabei die regulatorischen und legitimatorischen Defizite, die das Staatensystem sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene aufweist.“45

39 Hirsch 2001a, S. 25. 40 Dokumentiert im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Ausgaben 3/1996, 3/1997, 4/1998, 4/1999. 41 Brand/Demirović/Görg/Hirsch 2001. 42 U.a. Brand 2000. 43 Brand/Görg/Hirsch/Wissen 2008. 44 Vgl. Wahl 2001. 45 Hirsch 2001a, S. 30.

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Zudem wurde die wachsende politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für NGOs „als Bestandteil des dominant gewordenen neoliberalen Paradigmas“ verstanden.46 Entsprechend sind NGOs zwar formell „nicht-staatlich“ und auch in ihrem Selbstverständnis Teil der Zivilgesellschaft, de facto aber „eine spezifische Form des ‚Staatswerdens‘ formell privater Organisationsformen oder eine ‚Privatisierung‘ staatlicher Strukturen“.47 Schließlich wurden NGOs auch als Ausdruck verblassender Perspektiven grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen, für welche insbesondere die neuen sozialen Bewegungen standen, gedeutet. Das bewahrte vor allzu positiven Zuschreibungen, denen zufolge NGOs „anti-globalisierende“ Bewegungen48, „professionalisierte Bestandteile der weltweiten sozialen Bewegungen“49 oder gar eine „Revolution der Barfüßigen“50 seien. Es wurde aber auch vor der Abkanzelung dieser heterogenen Akteure als Agenten eines „Coaching für Raubmörder“ (d.h. legitimierende Instanzen imperialer nördlicher politischer und Kapitalinteressen) gewarnt.51 Die Forschungsgruppe teilte die Einschätzung, dass es sich bei NGOs um die „meistüberschätzten Akteure der 90er Jahre“ handelte, die gleichwohl in ihrer Ambivalenz zu verstehen und politisch ernst zu nehmen seien.52

5. Internationalisierung des Staates Wie gesehen, gingen wichtige Überlegungen von Joachim Hirsch dahin, dass staatliche Politik sich einerseits immer mehr an den Kriterien der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausrichtete und die Staaten selbst immer stärker von erfolgreicher Wettbewerbsfähigkeit des „eigenen“ Kapitals abhängig wurden. Andererseits veränderten zwar insbesondere die mächtigen Staaten die internationalen Regeln in diese Richtung, doch Letztere alleine konnten die sich globalisierenden Reproduktionsbedingungen der dominanten kapitalistischen Produktionsweise nicht sichern, weshalb die relativ eigenständigen internationalen politischen Institutionen verstärkt in den Blick gerieten. Der Begriff der Internationalisierung des Staates wurde von Joachim Hirsch ab Ende der 1990er Jahre entwickelt.53 Und zwar in zweierlei Hinsicht. 46 47 48 49 50 51 52 53

Hirsch 2001a, S. 33. Hirsch 2001a, S. 15. Altvater/Mahnkopf 1996, S. 15. Massarrat 1995, S. 38. Schneider 1986. Schröder 1995. Wahl 1997, S. 293. Der Begriff ist Teil einer breiten marxistischen Debatte um die Politik der Globalisierung: Prominent waren Empire (Hardt/Negri 2002), American Empire (Panitch/Gindin 2004), westlichglobaler Staat (Shaw 2000), transnationaler Staat (Robinson 2004) oder Transnationalisierung des Staates (Demirović 2010).

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Zum einen unterstrich Hirsch als Implikation seiner Überlegungen zum Wettbewerbsstaat und in Anlehnung an Nicos Poulantzas‘ Aufsatz zur Internationalisierung von 1973, dass sich die Internationalisierung des Staates vor allem in den und durch die nationalen Staatsapparate vollzog und unter Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sich daher in den Staatsapparaten in sehr spezifischer Weise „materiell verdichten“. Die „institutionelle Rekonfiguration vermittelt ganz wesentlich die ‚Interiorisierung‘ transnationaler Kapitalinteressen in die einzelstaatlichen politischen Systeme.“54 An anderer Stelle spricht Hirsch von einer „inneren Internationalisierung“.55 Die Politiken entlang der Kriterien von Wettbewerbsfähigkeit wurden (häufig in enger Abstimmung mit den entsprechenden Branchenvertretern) dort formuliert. Denn die Legitimität von Regierungen und der sie tragenden Apparate wurden stärker als zuvor vom international ausgerichteten Kapital abhängig, wobei die starken Staaten weit weniger abhängig wurden als schwächere.56 Die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hängt für Hirsch wesentlich damit zusammen, dass das transnational agierende Kapital flexibler ist und die nationalen Standorte stärker als zuvor gegeneinander ausspielen kann. Die Klassenauseinandersetzungen – so Hirsch im Anschluss an Poulantzas – sind somit immer im Verhältnis zur Stellung einer Gesellschaft in der internationalen Arbeitsteilung zu verstehen. Soziale Auseinandersetzungen entwickelten sich mehr denn je auf einer weltweiten Basis. „Gleichzeitig überwiegt in ihrem Kampf, der wesentlich ein internationaler Kampf ist, die nationale Form.“57 Zum anderen kam es aber zu einer zunehmenden Internationalisierung politischer Regulierungskomplexe bzw. Policy-Regimes, um Regeln zu setzen und Probleme zu bearbeiten. Es wurde argumentiert, dass sich keine einigermaßen kohärente internationale Politik herausbildete, sondern vielmehr „ein System notdürftiger Quasi-Regulationen. Diese werden vor allem durch das von der Internationalisierung des Kapitals erzeugte und insofern gemeinsame Interesse der führenden kapitalistischen Metropolen an der Aufrechterhaltung eines einigermaßen geregelten und kalkulierbaren internationalen Waren-, Geld- und Kapitalverkehrs getragen.“58 Das internationale Institutionensystem war und ist bis heute wesentlich damit befasst, Akkumulations- und Konkurrenzprozesse politisch-institutionell abzusichern, also Regeln zu setzen. Zudem bestand für Hirsch internationale Politik sehr stark darin, die „krisenhaften Folgen eines im Kern weitgehend unregulierten globalen Ak-

54 55 56 57 58

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Hirsch 2001b, S. 122; Jessop 2017, S. 93-96. Hirsch 2001a, S. 130. Hirsch 2001b, S. 121f. Poulantzas 2001 [1973], S. 59, Herv.i.O. Hirsch 1995, S. 179.

kumulationsprozesses zu verwalten.“59 Die Rolle internationaler Staatsapparate wie die WTO oder die Weltbank, aber auch jene der „Umweltapparate“ wie die Klimarahmen- oder die Biodiversitätskonvention hängt dabei von den Strategien sozialer Kräfte, insbesondere der transnationalen Kapitalgruppen und ihrer Verbände und die mit ihnen verbundenen Regierungen, ab – von ihrer Kompromissfähigkeit und -willigkeit.60 Die Konfiguration der internationalen staatlichen Apparate ist dabei selbst „formbestimmt“, denn sie sollen zuvorderst – durch vielfältige Konflikte hindurch – die Reproduktionsbedingungen des sich globalisierenden Kapitalismus sichern.61 Doch gleichzeitig argumentierte Hirsch, dass keine eigenständige internationale politische Ebene entstehe. Insbesondere die Herstellung von Kohäsion und das Gewaltmonopol verdichteten sich weiterhin in den meisten Gesellschaften auf der nationalen Ebene. Diese Ebene blieb auch zentral für die Regulation der Klassen- und anderer sozialer Verhältnisse sowie für die Bereitstellung der allgemeinen Produktionsbedingungen.62 Die Regulierung der Arbeitsbeziehungen wurde beispielsweise in EU-Europa internationalisiert, ohne dass sie von den Nationalstaaten losgelöst würde. Der Begriff der Internationalisierung des Staates sollte also vor dem Hintergrund eines formanalytischen Verständnisses jenseits des Nationalstaats eine bislang prekäre, aber sich entwickelnde politische Materialität begrifflich erfassen, die eng auf die kapitalistische Produktionsweise, die Organisation der Ökonomie und die damit verbundenen Klassenverhältnisse bezogen bleibt (ohne per se funktional für diese zu sein). Es ging dabei nicht lediglich um eine Aufwertung internationaler Politik und internationaler politischer Institutionen. Die konkreten Formen und Funktionen dieser Materialität bilden sich für Hirsch auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen (scales) aus, die miteinander artikuliert sind; es kommt also zu einer „räumlich-soziale(n) Diversifizierung staatlicher Ebenen und Funktionen“.63 Ihre je spezifische Bedeutung variiert nach Politikfeld, aber auch räumlich und zeitlich. Gesellschaftliche Trans- und staatliche Internationalisierung findet also nicht „oberhalb“ der nationalstaatlich organisierten Gesellschaften statt. Ein derartiger kapitalismus- und klassentheoretischer Blick auf multiskalare Ensembles konstruiert kein Nullsummenspiel zwischen der nationalen und internationalen Ebene (dazu kommen lokale und translokale Ebenen), sondern fragt danach, wie dominante Klasseninteressen – und „ihre“ politischen VertreterInnen – darum 59 Hirsch 1995, S. 180. 60 In dieser Zeit hat Stephen Gill (2000) mit dem Begriff des „globalen liberalen Konstitutionalismus“ verdeutlicht, dass im Zentrum internationaler Politik nicht die „Lösung“ wie auch immer definierter Weltprobleme wie Hunger, Kriege, Umweltzerstörung oder Finanzkrisen steht, sondern die Konstitution der bürgerlichen Rechts- und Eigentumsordnung auf internationaler Ebene. Dies ist kein funktional sich vollziehender, sondern ein hochgradig umkämpfter Prozess. 61 Hirsch/Kannankulam 2009. 62 Hirsch 2001b, S. 113, 123; Hirsch/Kannankulam 2009. 63 Hirsch 2001b, S. 121; vgl. ausführlich Wissen 2011.

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ringen, am besten abgesichert zu werden. Dies erfolgt, wie gesagt, durch die Transformation der Nationalstaaten und die Bedeutungszunahme der internationalen Politikebene in jenen Bereichen, die für die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise und seine je spezifische hegemoniale Struktur besonders wichtig sind.64 Zudem handelt es sich beim Begriff der Internationalisierung des Staates im Unterschied zu institutionalistisch ausgerichteten Begriffen wie Global Governance oder internationale Regime65 um eine theoretische Perspektive, die neben institutionellen Aspekten und der Multiskalarität von Politik und Staat auch den Herrschaftscharakter und die Umkämpftheit von Verhältnissen und die sozio-politischen wie kulturellen Voraussetzungen politisch-institutioneller Strukturen und Prozesse in den Blick nimmt. Die Frage der Reproduktion sozialer Verhältnisse und der staatlich vermittelten Reproduktion der Produktionsverhältnisse wie auch sich internationalisierender Formen der Konfliktaustragung zwischen gesellschaftlichen Akteuren ist deutlich breiter als jene der Global Governance-Perspektive, derzufolge es zuvorderst um die Bearbeitung auftretender Probleme geht.

6. Weiterentwicklung und offene Fragen Seit der Krise ab 2007/2008 wird deutlich, dass zum einen der Wettbewerbsstaat weiterhin überaus wirkungsmächtig ist. Krisenpolitiken waren insgesamt an den Interessen der Vermögenden und Kapitalbesitzer und am Dogma der Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen „Wirtschaftsstandorte“ ausgerichtet; innerhalb der EU geschah dies um den Preis einer weiteren Spaltung. Gleichzeitig ist die EU nach außen selbst wettbewerbsstaatlich organisiert und unterstützt damit das weltmarktorientierte Kapital. Gleichzeitig hat sich kein stabiler internationaler Regulationszusammenhang herausgebildet, sondern es zeigt sich in Übereinstimmung mit dem Begriff der Internationalisierung des Staates: Es handelt sich in der internationalen Politik um prekäre, asymmetrische und umkämpfte Prozesse, die Elemente eines vor allem das Eigentum sichernden „globalen Konstitutionalismus“ aufweisen, aber keineswegs im Sinne einer Global Governance die vielfältigen Probleme bearbeiten. Was heben nun neuere Diskussionsbeiträge hervor? Birgit Sauer bezog sich in einem Aufsatz, in dem sie sich kritisch mit feministischen Debatten und Entwicklungen rund um (Global) Governance auseinandersetzte, auf den Begriff der Internationalisierung des Staates.66 Sie betonte entgegen der allzu positiven und herrschaftstheoretisch unterbelichteten Perspektive der 64 Zu feministischen Analysen dieser multiskalaren Konstellation im Anschluss an Hirsch, insbesondere in Bezug auf die EU vgl. Wöhl 2007 und Genetti 2010. 65 Vgl. die entsprechenden Aufsätze in Behrens 2005, Kütting 2011. 66 Sauer 2003.

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Governance-Debatte in den Blick, dass sich innerhalb der Nationalstaaten durch die kapitalistische Globalisierung auch die Geschlechterarrangements reartikulierten. Bei den sich verändernden materiellen Grundlagen fokussierte sie die Transformation der internationalen wie innergesellschaftlichen Arbeitsteilung, was etwa zu verstärkter Prekarisierung, Informalisierung und der Privatisierung staatlicher Aufgaben und, bei Absenkung des Lohnniveaus, tendenziell zu einer Feminisierung der Erwerbsarbeit führe. Sauer spricht von der Entstehung einer Art „Weltmännlichkeit“67, weshalb die Hoffnungen vieler Feministinnen, dass die Globalisierung alte maskulinistische Muster auf nationalstaatlicher Ebene aufbrechen könnte, wohl unberechtigt seien. Der Maskulinismus bleibe ein hegemonialer Diskurs und schreibe sich auch in die Apparate der „neoliberalen Supranationalisierung“ ein: „Auch die supranationale Staatlichkeit arbeitet mit tradierten männlichen Praxen.“68 Veränderungsmöglichkeiten sieht Sauer, wie auch Hirsch in vielen seiner Arbeiten, in alltäglichen zivilgesellschaftlichen Initiativen, mittels derer jene gesellschaftlichen Verhältnisse transformiert werden, auf denen letztlich auch die sich internationalisierende Staatlichkeit beruht. Und Sauer weist stellvertretend für andere Ansätze auch darauf hin, dass die Macht von Diskursen, Selbstverständlichkeiten und Praxen stärker berücksichtigt werden sollte; es also nicht nur um gesellschaftliche Kräfte, ihr Verhältnis zueinander und explizite Kämpfe gehe. Alex Demirović argumentierte, dass es eher zu einer Transnationalisierung denn zu einer Internationalisierung des Staates komme.69 Im Unterschied zum Begriff des internationalisierten Staates möchte Demirović stärker betonen, dass sich die Machtblöcke auch transnational organisieren und es „zur Formierung transnationaler politischer Herrschaft und von Elementen eines transnationalen Staatsapparats kommt.“70 Das bedeutet nicht einfach eine Aufwertung formeller zwischenstaatlicher und privater Organisationen und auch kein „eigener Suprastaat“, sondern es sind eher vielfältige politische Einheiten wie formelle Apparate, Abteilungen, Gremien; diese sind insbesondere nationalstaatlich organisieren. Diese sind „fragmentiert und projektartig ausgerichtet, aus privaten Organisationen und öffentlichstaatlichen Organisationen kombiniert, sie verknüpfen lokale, nationale und internationale staatliche Einrichtungen und Organisationen. Sie organisieren einen neuen Modus der Willensbildung und Entscheidungsfindung, der es ermöglicht, sich von den eingespielten nationalen wohlfahrtsstaatlichen Kompromissen zu befreien.“71

Die Funktionen des „transnationale Netzwerkstaates“ liegen in der Organisierung der transnationalen Kapitalfaktionen (insbesondere der finanzkapitalistischen). Da67 68 69 70 71

Sauer 2003, S. 632. Sauer 2003., S. 633; ähnlich Wichterich 2009. Demirović 2010; ähnlich Wissel 2015. Demirović 2010, S. 71. Demirović 2010, S. 73f.

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bei würden Politiken ausgelotet, die den transnationalen Akkumulationsprozess im Interesse dieser Akteure sichern und durch die hohe Flexibilität über einen strategischen Vorsprung in der Interessenformierung und -durchsetzung verfügen.72 Die Frankfurter Forschungsgruppe um Sonja Buckel, John Kannankulam und Jens Wissel schließlich haben für die Analyse der EU den Begriff des „Staatsapparate-Ensembles“ vorgeschlagen, um auf die Heterogenität der politischen Apparatur zu verweisen.73 Damit soll – empirisch im Feld der europäischen Migrationspolitik – gezeigt werden, dass verschiedene Akteurskonstellationen ihre Partikularinteressen mittels des Staatsapparate-Ensembles versuchen zu verallgemeinern, wobei dieses transnationale Ensemble eng mit lokalen und nationalstaatlichen Apparaten zusammenarbeitet und es sich dabei um je spezifische Verdichtungen materieller Kräfteverhältnisse handelt. „Allerdings besitzen insbesondere die supranationalen EU-Apparate, da die EU eben (noch) kein Staat ist, nicht die gleiche Kohärenz und Durchsetzungsfähigkeit, wie die nationalstaatlichen Apparate“.74 Sie sind nicht nur anfälliger für die Einflussnahme mächtiger Akteure, sondern benötigen diese Akteure auch viel stärker zur erfolgreichen Organisierung politischer Prozesse.75 Das schmälert die relative Autonomie internationaler Staatsapparate gegenüber Kapitalinteressen. Soziale Konflikte und Widersprüche können tendenziell weniger gut bearbeitet werden, da sich dominante Interessen gegebenenfalls einseitig durchsetzen und auf internationaler Ebene zu dem führen können, was Poulantzas für die nationalstaatliche Ebene als „autoritären Etatismus“ bezeichnete.76 Ein weiteres, in marxistischer Tradition stehendes Staatsverständnis setzt einen stärker institutionellen Fokus für das Verständnis internationaler Organisationen und Institutionen, womit die sich darin verdichtenden Interessen, Kräfteverhältnisse und Diskursen stärker in den Blick genommen werden.77 Der Begriff der „materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnisse zweiter Ordnung“ oder „zweiten Grades“ trägt zur Analyse dessen bei, wie politische Kräfte - insbesondere die Exekutiven von Nationalstaaten - und soziale Kräfte wie Unternehmensverbände, NGOs u.a. zur Strukturierung der internationalen Terrains und der konkreten Politiken beitragen. Damit wird die Analyse internationaler bzw. multiskalarer Politik an sozio-ökonomische Reproduktionsprozesse und soziale – nicht nur politische – Kämpfe und Konstellationen zurückgebunden. Eigentumsverhältnisse im Sinne des Gill‘schen „globalen Konstitutionalismus“ werden vielfältig gesichert, über bi- und multilaterale Handelsund Investitionsabkommen, die WTO, aber auch die Konvention über die biologische Vielfalt, wenngleich sich in diesen Institutionen je unterschiedliche Kräftever72 73 74 75 76 77

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Demirović 2010, S. 72. Buckel/Georgi/Kannankulam/Wissel 2014. Kannankulam 2017, S. 20; vgl. auch Buckel et al. 2014, S. 37ff. Wissel 2017. Hirsch 2001b, S. 123; Oberndorfer 2012; Kannankulam 2017. Brand/Görg/Wissen 2007.

hältnisse materiell verdichten. Innerhalb der internationalen Institutionen agiert unterschiedliches Personal, es bestehen spezifische Selektivitäten, Prioritätendetermination und Filtrierung von Maßnahmen. Zudem wird damit deutlich, dass auch die internationalen Staatsapparate formbestimmt und zuvorderst (nicht ausschließlich) auf die Reproduktion sich globalisierender kapitalistischer Produktionsverhältnisse ausgerichtet sind.78 Sie können diese Reproduktion aufgrund ihrer eigenen Struktur kaum grundsätzlich infrage stellen, obwohl etwa die internationalen Umwelt- und Nachhaltigkeitsinstitutionen das postulieren.79 Die Stärke der theoretischen und empirischen Forschungen zum Wettbewerbsstaat und zur Internationalisierung des Staates liegt in ihrer historisch-materialistischen Perspektive. Denn dadurch erfolgt die Verknüpfung gesellschafts- und kapitalismustheoretischer Überlegungen mit den historisch spezifischen sozio-ökonomischen (einschließlich kulturellen) Dynamiken und Reproduktionserfordernisse konkreter Gesellschaften, Branchen, Felder in ihrem globalen Zusammenhang sowie der Rolle von sozialen Kräften, Kräfteverhältnissen und Politik darin. Eine spannende Frage ist dabei, ob der Begriff der „Internationalisierung des Staates“ zuvorderst in Zusammenhang mit der jüngsten kapitalistischen Globalisierung verstanden wird oder – in seiner formanalytischen, kapitalismustheoretischen und multiskalaren Ausrichtung – als Strukturmerkmal des Kapitalismus, d.h. als Konstellation seit seiner Entstehung. Letzteres wiederum würde historische Studien induzieren. Leo Panitch wies vor 20 Jahren in einem Joachim Hirsch gewidmeten Band darauf hin, dass angesichts der neoliberalen Konterrevolution viele Intellektuelle – entgegen ihrer Einsichten – sich auf eine Verteidigung des Staates eingelassen hätten, anstatt das Projekt einer zeitgemäßen Gesellschaftstheorie und -kritik voranzutreiben.80 Joachim Hirsch ging eben diesen Weg einer weiterzuentwickelnden und gesellschaftstheoretisch orientierten Staatstheorie und -kritik, um die dynamischen und krisenhaften Entwicklungen zu begreifen. Dabei sind die komplex ausformulierten Begriffe des „nationalen Wettbewerbsstaates“ und der „Internationalisierung des Staates“ bis heute wichtige Elemente solchen theoriegeleiteten Verstehens und von Kritik. Sie sind damit auch analytische Grundlage dessen, was eine Reformulierung des radikalen Reformismus auf europäischer und dann internationaler Ebene, und zwar insbesondere unter Einbeziehung transnationaler Kämpfe, bedeuten würde.

78 Vgl. auch Kannankulam 2017. 79 Vgl. die Debatte um „große Transformation“ im Beitrag von Görg oder die hier anfangs erwähnten Sustainable Development Goals. 80 Panitch 1998.

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Sabah Alnasseri Staatsform, periphere Staatlichkeit und Regulation

1. Einleitung Für ein theoretisches Begreifen der peripheren Staatlichkeit sind Bezüge zur Theorie von Joachim Hirsch sowie zu jenen von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas produktiv. Ich argumentiere, dass die Theorien vor allem vor dem Hintergrund des bürgerlich-kapitalistischen Staates entstanden und wir für die Diskussion des peripheren Staates – als einer spezifischen Form des kapitalistischen Staates – weitere analytische Momente benötigen. Um dies zu gewährleisten, werde ich einen allgemeinen theoretischen Rahmen skizzieren, innerhalb dessen die Spezifität und der Unterschied des peripheren Staates gegenüber dem bürgerlichen Staat herausgearbeitet werden können. Akkumulation, Regulation und Artikulation fungieren als die drei Hauptkonzepte der Analyse der peripheren Staatsform. Das Kapitel ist wie folgt strukturiert: Zuerst werde ich Hirschs formanalytischen Ansatz darstellen und die Frage der Weltmarkteinbindung und spezifischen Bedeutung der „ursprünglichen Akkumulation“ für periphere Gesellschaften diskutieren. Im Anschluss daran stelle ich Überlegungen zur in marxistischen Staatstheorien häufig unterschätzen Rolle der Gewalt an und daran anschließend –in Anlehnung an Poulantzas – die besonderen Modi der sich im peripheren Staat verdichtenden Kräfteverhältnisse. Abschließend werde ich die strukturellen Unterschiede zwischen dem westlichen und dem peripheren Staat skizzenhaft zusammenfassen.

2. Joachim Hirschs Beitrag zu Formanalyse des Staates Nach Joachim Hirsch stellen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse eine gesellschaftliche Totalität (Vergesellschaftungsmodus) dar und sind nicht bloß ökonomische Verhältnisse.1 Dabei müssen die den gesellschaftlichen Zusammenhang artikulierenden, die Denk- und Handlungsweisen der Akteure bestimmenden sozialen Formen (Ware, Geld, Kapital, Recht, Staat) sowie die in diesem Vergesellschaftungsmodus begründete, formbestimmte Trennung und Verbindung von Politik und Ökonomie herausgearbeitet werden.2 Die sozialen Formen als abstrakte Regulations1 Hirsch 1990. 2 Hirsch 1990, S. 204f.

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formen schaffen mittels ihrer handlungsorientierenden Funktion die Möglichkeit, „grundlegende gesellschaftliche Antagonismen ‚prozessierbar‘ zu machen, d.h. sie gewährleisten, dass sich die Gesellschaft trotz und wegen ihrer Widersprüche erhält und reproduziert, ohne diese damit allerdings aufzuheben.3 D.h. analog (und „gleichzeitig“) zur Wertform muss die politische Form ergründet werden. Die politische Form ist jedoch nicht mit einem konkreten „Staat“ zu verwechseln – „das Herausarbeiten der politischen Form kann sich nur auf die allgemeinen Strukturmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft beziehen und erklärt noch keineswegs historisch konkrete Staaten, ihre Funktionen und ihre Entwicklung“.4 Die theoretische Begründung für diese von der Ökonomie und der Gesellschaft getrennte politische Form ist im kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhang zu suchen, in der sich wertgesetzlich, klassenspezifisch und widersprüchlich vollziehenden Akkumulation bzw. im qua Tausch vermittelten Zwang der Aneignung von Mehrarbeit. Doch dieser Reproduktionszusammenhang bleibt prekär und droht auseinanderzufallen. Darüber hinaus ist die kapitalistische Produktionsweise nicht die einzige, sondern nur die dominante Produktionsweise. Die Reproduktion der über den kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus hinausgehenden klassen- und nichtklassenspezifisch, waren- und nicht-warenförmig organisierten Herrschaftsverhältnisse, die der kapitalistischen Produktionsweise untergeordnet sind, stellen zwar einen „äußeren Raum“ für die Akkumulation dar und sind für die kapitalistische Produktionsweise lebensnotwendig,5 aber ihre Reproduktion kann nicht sichergestellt werden. Dieser Punkt ist von grundlegender Bedeutung für die Bestimmung der Formen peripherer Staatlichkeit (s. u.) Die spezifisch kapitalistische Trennung und Verbindung zwischen Politik und Ökonomie sowie zwischen Staat und Gesellschaft führt zur Besonderheit einer spezifischen Instanz in der Form des Allgemeinen, die, analog zur Wertform, selbst von Widersprüchen durchzogen ist und somit zwar notwendig für die Reproduktion der Gesellschaft, jedoch nicht hinreichend ist. Hinzu kommt die ideologische Praxis oder das, was Gramsci „Hegemonie“ nennt, die die Basis für spezifische Artikulationen von Politik und Ökonomie, Staat und Zivilgesellschaft oder – in Gramscis Begriff – für konkrete „historische Blöcke“ darstellt.6 Somit lässt sich die Gesellschaftsformation als eine widersprüchliche Einheit fassen, die kapitalistische und 3 Hirsch 1990, S. 205. 4 Hirsch 1990, S. 206; vgl. auch die Beiträge von Buckel/Kannankulam und Jessop in diesem Band. 5 Vgl. Hirsch 1992, S. 208f. 6 Nach Marx (MEW 25, S. 799f., Marx 1974, S. 9f.) bedingt eine bestimmte Form der Produktionsverhältnisse bestimmte Herrschafts- und Ausbeutungsformen, d.h. politische und ideologische Verhältnisse (vgl. auch Althusser/Balibar 1972, S. 237). Das bedeutet, „bestimmte Produktionsverhältnisse“ setzen „als Existenzbedingung eine juristisch-politische und ideologische Suprastruktur“ voraus; dabei ist „diese Suprastruktur notwendigerweise eine spezifische Suprastruktur“ (Althusser/Balibar 1972, S. 238). Die Produktionsverhältnisse beziehen sich dabei nur

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nichtkapitalistische Vergesellschaftungsmodi umfasst und die nur als ein politisch, ökonomisch und ideologisch artikulierter Zusammenhang zu begreifen ist. Die Theorie von Hirsch betont einen weiteren Aspekt in Anschluss an Marx: Konkurrenz und Klassenantagonismen, deren Basis im kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus liegen, stellen die Existenzbedingung des kapitalistischen Staates dar – nicht nur in seinem engeren, funktionalen, sondern auch in seinem erweiterten Sinne als integraler Staat.7 Dies führt dazu, dass der politische Zusammenhang „sich in einer von ihr [der Gesellschaft; S.A.] getrennten und ihr äußerlich gegenübertretenden Instanz“ manifestiert: dem Staat.8 Von der Seite der Reproduktion/Regulation der kapitalistischen Gesellschaftsformation kann indes konstatiert werden: „Wertgesetzliche und politische Regulation sind die beiden grundlegenden, verselbständigt-verobjektivierten Formen, in denen sich der Zusammenhang und die Reproduktion der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ausdrückt und vollzieht, und sie sind selbst auf widersprüchliche Weise aufeinander bezogen. [...] Ein theoretisch konsistenter Regulationsbegriff muß von dieser widersprüchlichen Einheit ausgehen.“9

Die Trennung und Verbindung der grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse (Politik/Ökonomie, Staat/Gesellschaft) vollzieht sich stets durch Klassenkämpfe und soziale Auseinandersetzungen, was bedeutet, dass die Grenzen fließend und stets verschoben sind. „Der Staat ist also notwendig immer ‚Interventionsstaat‘ im weitesten Sinne, ohne aber mit der Gesellschaft verschmelzen zu können“.10 Der Hauptwiderspruch der politischen Form liegt für Hirsch in der Trennung und Verbindung zwischen „Markt“- und „Klassen“-Vergesellschaftung. „Die Individuen der kapitalistischen Gesellschaft sind daher entsprechend ihrer Position im Prozeß der Produktion und Zirkulation des Kapitals Klassenangehörige und zugleich formell freie und gleiche staatsbürgerliche Rechtssubjekte und Vertragspartner. Es ist eben dieser Widerspruch, der die sozialen Prozesse und Konflikte antreibt, mittels derer sich die >Form< des Staates durchsetzt und erhält“.11 In diesem Widerspruch liegen der

7

8 9 10 11

auf Formen, nicht aber auf konkrete Konfigurationen von Verhältnissen: „Die Produktionsverhältnisse verweisen auf die Formen der Suprastruktur als auf die eigentlichen Bedingungen ihrer Existenz. Man kann demnach den Begriff der Produktionsverhältnisse nicht denken, indem man von ihren spezifischen suprastrukturalen Existenzbedingungen abstrahiert.“ (ebd.) Das Politische und das Ideologische sind im Produktionsverhältnis schon immer und auf spezifische Weise anwesend. Die Differenzierung Gramscis zwischen der „politischen Gesellschaft“, als Staatsinstitutionen im engeren Sinn, und der „Zivilgesellschaft“, einem Terrain der ideologischen Machtverhältnisse, ist von ideologiekritischer Bedeutung (Gramsci 1991ff, S. 783: vgl. auch S. 815f., 823f). Der Staat umfasst nach seinem Verständnis beides. Gramsci überwindet somit die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich. Dieser integrale Staatsbegriff eröffnet die Möglichkeit, Ideologie und Kultur als für Macht und Herrschaft lebenswichtige politische Felder zu denken. Hirsch 1990, S. 208. Hirsch 1990, S. 209, Herv. S.A. Hirsch 1990, S. 210. Hirsch 1990, S. 210f.

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Klassencharakter, Ausbeutung und Unterdrückung einerseits und der freie, gleiche und demokratische Charakter des Staates andererseits begründet. „Der Staat als Ausdruck der politischen Form der kapitalistischen Gesellschaft ist also weder das (bewußt geschaffene) Instrument der herrschenden Klasse(n) noch selbständig handelndes Subjekt, sondern der verobjektivierte Ausdruck eines sozialen Verhältnisses, eine verselbständigte Gestalt der Beziehungen zwischen den Individuen, Gruppen, Klassen und Klassen‚fraktionen‘ der kapitalistischen Gesellschaft im Weltmaßstab, das Terrain, auf dem sich diese Beziehungen in spezifischer, nämlich ‚formbestimmter‘ Weise materialisieren und verdichten.“12

Um den immer prekären Vergesellschaftungsmodus bzw. das kapitalistische Produktionsverhältnis als wie von selbst ablaufend auffassen zu können, kann man ihn nicht als rein wert- oder marktgesetzlichen Prozess begreifen, sondern gleichzeitig als institutionalisierten und stets hegemonial artikulierten Prozess. Hirsch zufolge muss – mit Bezug auf Jessop – daran festgehalten werden, dass „die Einheit und der Zusammenhang der gesellschaftlichen Reproduktion“ über das „institutionelle Netzwerk der Regulation“ hinaus strategischer Handlungen und „hegemonialer Projekte“ bedarf.13 Das abstrakte kapitalistische Produktionsverhältnis – oder der Vergesellschaftungsmodus – ist also immer schon komplex zu fassen, ökonomisch wie politisch und ideologisch. Die Komplexität steigert sich durch die nichtkapitalistischen Vergesellschaftungsformen – sowie die konkrete Einbindung in den Weltmarkt (s.u.). Um der Komplexität dieser Frage Rechnung zu tragen, muss man von der engeren Bestimmung des Staates zum „integralen Staat“ im Sinne Gramscis übergehen. Da jedoch der Staat nicht Subjekt, sondern Zentrum, Garant und gleichzeitig Gegenstand der Regulation ist14 und da der integrale Staat zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung der Reproduktion/Regulation der Gesellschaft darstellt, stellt sich die grundsätzliche Frage, „wie über alle institutionellen Gegensätze und Konflikte hinweg die relative Kohärenz der Staatsapparate und die Verbindung von ‚Staat‘ und ‚ziviler Gesellschaft‘ wie auch die Folgebereitschaft der in vielfältige Antagonismen und Interessengegensätze verstrickten Individuen gewährleistet bleibt.“15 Dies ist der notwendige Übergang zu Gramscis Hegemonietheorie, denn es bedarf eines „verallgemeinerbaren Konsenses“. „Historische Formationen des Kapi12 Hirsch 1990, S. 211. 13 Hirsch 1992, S. 218. Gramsci argumentiert ähnlich und versteht die Formierung von konkreten Klassen und Klassenfraktionen als einen überdeterminierten Prozess: „Bei der Entwicklung einer nationalen Klasse muß neben dem Prozeß ihrer Formierung auf ökonomischem Gebiet auch die parallele Entwicklung auf ideologischem, rechtlichem, religiösem, intellektuellem, philosophischem usw. Gebiet berücksichtigt werden: man muß sogar sagen, daß es keine Entwicklung auf ökonomischem Gebiet gibt ohne diese anderen parallelen Entwicklungen.“ (Gramsci 1991ff., S. 848f.). 14 Vgl. Jessop 1990. 15 Hirsch 1992, S. 225.

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talismus gründen daher auf ‚hegemonialen Projekten‘ […], die sie zu einem integralen ‚historischen Block‘ (Gramsci) zusammenfügen“.16 Denn die Konstitution, Kohärenz und Homogenität jeder herrschenden Klasse ist nicht vorgegeben, sie erfordert vielmehr ein Projekt politischer Hegemonie innerhalb des Machtblocks, in dem der Staat errichtet, reproduziert und garantiert wird. Das Fehlen einer solchen Hegemonie zeugt von Konflikten zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse, die alle gesellschaftlichen Ebenen durchdringen, bis der Staatsapparat selbst ein Instrument, Mittel und Gegenstand der Konflikte wird und nicht mehr ein Mittel der Befriedung.17 Doch diese Projekte und ihr hegemonialer Charakter muss in Bezug auf den peripher-kapitalistischen Staat insbesondere seine Einbindung in den Weltmarkt und die damit verbundenen spezifischen Modi der Akkumulation berücksichtigen.

3. Kapitalistisches Weltsystem, „ursprüngliche Akkumulation“ und Artikulation Aufgrund der Konkurrenz um die Aneignung global produzierten Mehrwerts18 ist die politische Fraktionierung dem kapitalistischen Weltsystem immanent, das einer „Verwandlung der Weltwirtschaft in ein Weltreich“19 oder in einen „Weltstaat“ strukturell zuwiderläuft (vgl. den Beitrag von Brand in diesem Band). Allenfalls werden Stabilitätsphasen dieses historischen Systems durch die „relative Dominanz“ oder „Hegemonie“ eines starken Staates gehegt.20 Hirsch schließt sich hier einer Position an, derzufolge der historische Kapitalismus als Weltsystem durch langfristige, an eine Hegemonialmacht gekoppelte „systemische Akkumulationszyklen“ charakterisiert.21 Eben weil die Dynamik der Akkumulation im Weltmaßstab qualitativ verschieden ist von jener innerhalb des Nationalstaates, stellt die analytische Einheit das Staatensystem dar. Als „Akkumulationsregime im Weltmaßstab“ werden nun „jene Strategien und Strukturen“ definiert, wodurch die „führenden Akteure der Restrukturierung die kapitalistische Weltökonomie gefördert, organisiert und gesteuert haben“.22 Dieses weltweite Akkumulationsregime impliziert vor allem in seinen Finanz-, Kredit- und Schuldenformen im Sinne von Marx „eine der Quellen der ursprüngli16 Ebd.; vgl. auch Jessop 1990; Poulantzas 1978. 17 Gewalt – darauf wird noch einzugehen sein - ist nicht nur im internationalen Kontext von Interesse, sondern auch für regionale wie nationale Verhältnisse insofern, als nicht nur das Gewaltmonopol des Staates entscheidend bei hegemonialen Kämpfen und Krisensituationen wirkt, sondern auch, wenn es um privat organisierte Bürgermilizen und Terrorgruppen in der Zivilgesellschaft geht (vgl. Gramsci 1991ff., S. 1179f). 18 Vgl. Hirsch 1993, S. 201. 19 Wallerstein 1989, S. 49. 20 Wallerstein 1989: 49f. 21 Arrighi/Moore 2001, S. 43f. 22 Arrighi/Moore 2001, S. 43, 45.

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chen Akkumulation“.23 Der Begriff des Akkumulationsregimes wird hier im Sinne einer bestimmten Konfiguration der institutionellen Form der Regulation im Weltmaßstab verstanden. Dies bedeutet, dass nicht von einzelnen Staaten, sondern stets von einem „Block“ von politischen wie ökonomischen Akteuren auszugehen ist, die die materielle Expansion in Gang setzen.24 Analog zu den idealtypischen Konstruktionen von extensiven und intensiven Akkumulationsregime in der Regulationstheorie sprechen Arrighi/Moore von „extensiven“ und „intensiven“ Akkumulationsregimen im Weltmaßstab: Extensiv ist hier im Sinne eines „kosmopolitisch-imperialen“, d.h. expansiven Regimes und intensiv im Sinne eines „korporativ-nationalen“, also zu Konsolidierung und Vertiefung der Expansion tendierenden Regimes zu verstehen. „Die Entwicklung des historischen Kapitalismus als Weltsystem basierte auf der Formation von stets machtvolleren Blöcken kosmopolitisch-imperialer (oder korporativ-nationaler) Wirtschafts- und Regierungsorganisationen, die dazu in der Lage waren, den funktionalen und räumlichen Umfang des kapitalistischen Weltsystems auszuweiten oder zu vertiefen.“25 Somit ist die Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise nicht nur auf der Ebene des Weltmarkts, sondern auch innergesellschaftlich auf der Ebene der Gesellschaftsformation zu sehen. Sie nimmt jedoch qua Artikulation stets verschiedene Formen an.26 Dieses Artikulationsverhältnis zwischen der kapitalistischen und nicht-kapitalistischen Produktionsweise habe ich in meinen Arbeiten – anknüpfend an die Bestimmung der „ursprünglichen Akkumulation“ und anknüpfend an Arbeiten von Joachim Hirsch – analytisch als eine institutionelle bzw. strukturelle Form im Sinne der Regulationstheorie bestimmt. 27 23 24 25 26

Marx, MEW 23, S. 783f.; vgl. Arrighi/Moore 2001: 48f. Arrighi/Moore 2001, S. 46. Arrighi/Moore 2001, S. 53. Die „Hybridität“ der Produktionsweisen ergibt sich aufgrund bestimmter Artikulationsformen. Konkret nimmt die Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise in der Peripherie entsprechend des Entwicklungsstandes der Gesellschaftsformationen, d.h. der Klassenverhältnisse und Kämpfe (und über die Klassen hinaus), stets spezifische Formen an. Andererseits nahm und nimmt bis heute die Kapitalisierung der Peripherie qua direkter oder indirekter Kolonialisierung je nach Form und Typus des Kolonialismus verschiedene Gesichter an. Dies geschieht nicht nur im Hinblick auf die herrschenden ökonomischen Formen (Handels-, Waren- oder Finanzkapital), sondern auch bezüglich der herrschenden, kolonialen Klassen und deren spezifische Verhältnisse (spanische, französische, englische, russische etc.), die zum Teil ihr eigenes „Bild“ (Marx), d.h. ihre eigenen innergesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse auf die Peripherie überstülpen, die dann wiederum qua Artikulation mit den jeweiligen internen Ausbeutungsverhältnissen „hybride“ Formen annehmen (patriarchalisch, nomadisch, neofeudal, sklavenhalterisch etc., vgl. Stavenhagen 1981). Dies betraf/betrifft auch die Nachzügler im Zentrum selbst, z.B. den französischen Feudalismus in England, den englischen Kapitalismus in Irland oder Deutschland im Vorfordismus oder den amerikanischen Kapitalismus im Fordismus. 27 Vgl. Alnasseri 2004. Auf die Darstellung der Begrifflichkeiten und Konzepte der Regulationstheorie werde ich verzichten, da dies in anderen Buchbeiträgen geleistet wird.

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Den Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ bestimme ich als ein räumliches wie politökonomisches Grenzverhältnis, welches (historisch wie theoretisch) das tendenzielle Artikulationsverhältnis der kapitalistischen mit nicht-kapitalistischen Produktionsweise vermittelt. Da der Begriff jedoch tendenziell das Artikulationsverhältnis nur von der Seite der dominanten kapitalistischen Produktionsweise her bestimmt, müssen – um das Verhältnis als eine widersprüchliche Einheit analysieren zu können – methodisch wie analytisch auch die dominierten Produktionsweisen analysiert werden. Die nicht-kapitalistischen Produktionsweisen konstituieren das, was Marx das „auswärtige Departement“ bzw. das „erweiterte Ausbeutungsfeld“ und den erweiterten „Exploitationsgrad“ des Kapitals nennt.28 Hierin ist die billige, formell und informell durch sichtbare und „unsichtbare Fäden“ regulierte und vom Kapital in Bewegung freigesetzte Arbeit zu verorten.29 Durch diese Zerstreuung der Arbeit außerhalb und an der Grenze der bürgerlichen Rechtssphäre (unbezahlte Frauen-, Kinder-, Sklaven-, Zwangsarbeit etc.) wird die auf der Basis der freien Lohnarbeit ausgebeutete Arbeitskraft entwertet, d.h. neben der formellen, vertragsrechtlichen Arbeit ist hier von der Revolutionierung der formellen „Vermittlung des Kapitalverhältnisses“ die Rede, wodurch selbst der „Schein“ der Vertragsfreiheit formell gleicher Eigentümer entblößt wird.30 Dieser Widerspruch, der im Kapitalverhältnis und dessen Expansionsdrang selbst begründet ist, ist somit „ursprünglich“ und stets in seiner Wechselwirkung und in seinen freien wie Zwangsformen zu fassen. Letzteres stellt eine Existenzbedingung der Reproduktion/Regulation des Kapitalverhältnisses in diesem erweiterten Sinne dar. Dieses Grenzverhältnis kann konkret auf unterschiedlichen Ebenen (innerhalb der Gesellschaftsformationen und zwischen ihnen) und in verschiedenen Formen analysiert werden.31 In den Imperialismustheorien32 wurden verschiedene ökonomische, politische, ideologische, räumliche und andere Mechanismen der Artikulation dieses Verhältnisses herausgearbeitet, vor allem in seiner Zwangsform: Migration, 28 29 30 31 32

Marx, MEW 23, S. 417, 485f. Marx, MEW 23, S. 485f. Marx, MEW 23, S. 417, 419. Vgl. zur Illustration Marx, MEW 23, Kap. 13, 23, 24. „Insofern ‚ursprüngliche‘ Akkumulation sich auf Akkumulation auf der Grundlage von Produktion mit nicht-kapitalistischen Produktionsverhältnissen bezieht, muss sie der kapitalistischen Produktion und Akkumulation nicht vorausgehen, sondern kann sehr wohl gleichzeitig mit ihr vor sich gehen.“ (Frank 1979, S. 70, vgl. auch Meillassoux 1976, Marini 1981; im Kontext der postkolonialen Produktionsweise, vgl. Hauck 1996, S. 143f.) Frank bezeichnet die auf der Basis nicht-kapitalistischer Produktion beruhende Akkumulation als primäre Akkumulation und stellt die Frage nach der Bedeutung von nichtkapitalistischen Produktionsverhältnissen für die kapitalistische Produktionsweise. Wichtig ist hierbei, dass auch die nicht-kapitalistischen Produktionsverhältnisse neu geschaffen werden und eben keine Residuale sind (vgl. Frank 1979, S. 71ff.). In diesem Sinne stellt dieser Prozess für Meillassoux (1976, S. 113-115) ein „immanenter“ Mechanismus der Reproduktion des Kapitals und eines der Mittel der Perpetuierung der „ursprünglichen Akkumulation“ dar.

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ungleicher Tausch, Landnahme, Gewalt, Plünderung, Raub, Monopolisierung und Patentierung von Produktionsmitteln/Lebensmitteln/Wissen u.a. Diese Verhältnisse erscheinen selten in ihrer reinen Form, sondern stets ethnisch, national, genderspezifisch, generationsspezifisch, kulturell, religiös etc. überdeterminiert.

4. Peripherer Staat und Gewalt Analog zur ursprünglichen Akkumulation bei Marx – nicht irgendwelche „idyllischen Zustände“, sondern Gewalt ist die Geburtsstunde des Kapitals –, bestimmt Althusser in Anlehnung an Machiavelli und Gramsci die politische ursprüngliche Akkumulation als einen durch Macht, Gewalt und Kämpfe vollzogenen „Geburtsakt des Staates“.33 Gewalt ist demnach eine Existenzbedingung des kapitalistischen Herrschaftsverhältnisses selbst. Als Schnittpunkt imperialistischer Durchdringung, gewalttätiger Hegemonialansprüche von Regionalmächten und lokaler Kämpfe um politische Macht nehmen soziale Auseinandersetzungen zwangsläufig gebrochene und spezifische Formen an – nämlich als Auseinandersetzungen entlang von Religion, „Rasse“ und Ethnizität. Sie sind nicht die Ursache von Gewalt, sondern die erstgenannten drei Gewaltformen um Hegemonie produzieren sie und setzen letztere als ideologische Zentrifugen in Bewegung. Die tendenzielle Prekarität der peripheren Formen des Staates und der staatlichen Strukturen ergibt sich also aus internen und globalen ungleichgewichtigen Machtund Gewaltverhältnissen. In diesem Sinn offenbart der periphere Staat multiple Formen von Gewalt, organische (notwendig für seine Konstitution) und beiläufige (seine Entwicklung begleitend). Daher ist das Ergebnis einer solchen Verdichtung die gebrochene innere Dynamik des Staates und fehlende internationale Autonomie. Das Territorium – Geographie, Land und Ressourcen – von peripheren Staaten ist immer noch Objekt der Enteignung, ihnen fehlt eine einigermaßen kohärente Souveränität und sie verfügen nur über funktionale Legitimität, die sich aus ihrer Stellung in der imperialistischen Geographie ergibt. Legitimität entspringt nicht zuvorderst aus der Gesellschaft selbst. Die Geographie des Imperialismus und der imperialistischen Institutionen, die den peripheren Staat geschaffen haben, sind einer der Gründe, warum der Staat nicht zusammenbricht. Gleichzeitig ist, trotz seiner langen Geschichte seit der formellen Entkolonialisierung, der Staat nicht in der Lage, seine Autorität institutionell, ökonomisch und territorial selbst zu erzeugen. Somit sind periphere Staaten viel stärker von mit Gewalt einhergehenden Auflösungsprozessen (ethnisch, sektiererisch, religiös, territorial, militärisch, wirtschaft-

33 Althusser 1987, S. 24f.

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lich etc.) betroffen als die Metropolen. Gewaltsame Erscheinungen sind also struktureller Natur und stellen keine kulturellen Besonderheiten dar. Um diesen Punkt theoretisch zu fassen, möchte ich in Anlehnung an Ibn Khalduns Begriff der „Asabbiyah“ die soziale Form der ursprünglichen politischen Akkumulation des Staatsaufbaus verstehen.34 Das Konzept der Asabbiyah wird allgemein als eine Form von Gruppensolidarität, sozialen Netzwerken oder einer Hegemoniebeziehung zwischen Gruppen zum Zweck der politischen Machteroberung und der Staatsgründung verstanden. Durch die Relektüre und kritische Aneignung des Konzepts im Lichte historisch-materialistischer Epistemologie möchte ich argumentieren, dass es ontologisch politische Macht in ihrer ursprünglichen Form bezeichnet, die die Grundlage einer politisch organisierten und legal monopolisierten Praxis der sozialen Kontrolle bildet. In ihrer dominanten oder hegemonialen Form und ihrer politischen Organisation ist sie der Kern institutionalisierter staatlicher Gewalt. Ihre Form wird stark von der Art ihres Akkumulationsprozesses bestimmt. Die organische Form ihrer Konstitution – die konkrete, gruppen- oder gemeinschaftsbasierte Zustimmung zur Autorität – wird zu einer imaginären verschoben, sobald die politische Macht territorialisiert und in die Gesellschaft eingeschrieben wird. Die Art ihrer Reproduktion hängt von den Kräfteverhältnissen innerhalb und außerhalb des Staates ab und nimmt verschiedene Formen an – physisch, institutionell und strukturell. Nun darf man dieses „ursprünglich“ nicht im zeitlich zurückliegenden Sinn verstehen, sondern strukturell: Jede historische kapitalistische Formation schafft ihre eigenen ursprünglichen Ausgangsbedingungen, die sich im Allgemeinen gewaltförmig entfalten. Es handelt sich um ein historisches Zwangsverhältnis, das dem Kapital und dem kapitalistischen Staat eigen ist. Jeder Versuch, politische Gewalt in religiöser, rassistischer oder ethnischer Hinsicht einzuhegen, wird von vornherein zum Scheitern verurteilt sein, da er sich meistens damit begnügt, die Symptome und Manifestationen von Gewalt zu behandeln, anstatt seine konstitutiven politischen, ökonomischen und kulturellen Momente grundlegend zu verändern. Krieg und Gewalt – und vor allem das Bild sinnloser Gewalt – nicht in seinen Ursachen darzustellen, heißt apologetisch zu vertuschen, was im Grunde ein Klassenkonflikt ist, vor allem zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse und ihren politischen Vertretern. Dieses Klassenszenario ruft nach seinem Sicherheitsstaat, seiner Ordnung und der Monopolisierung von Gewalt, d.h. nach einem hierarchischen klassenbasierten Staat. Ontologisch ist also der Gewaltakt nicht nur eine Geburtsstunde (Marx) des Staates, kapitalistisch oder nicht, sondern ein wesentlich konstitutives Element des Staates in seiner kapitalistischen Gesamtgeschichte. Nur die Form der Gewalt ändert sich historisch und räumlich. Deshalb wird die ursprüngliche politische Akkumulation 34 Ibn Khaldoun war arabischer Historiker, politischer Berater und Richter des 14. Jahrhunderts; Ibn Khaldoun 2015.

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(Althusser) und ihre spezifische soziale Form, Asabiyyah, als Monopol auf den legitimen Gebrauch von Gewalt im Sine von Max Weber konserviert und reproduziert, aber die Ursachen werden de-thematisiert.

5. Periphere Staatlichkeit und die materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen Auch das Konzept der Verdichtung muss anders formuliert werden, wenn es um das theoretische Begreifen peripherer Staatlichkeit geht. Bei Poulantzas und im Anschluss daran Hirsch und vielen anderen wird der Staat als „materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse“ mit seiner eigenen institutionellen Materialität begriffen und zwar nicht in Bezug auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, Eigentumsverhältnisse und Produktionsverhältnisse.35 Der Staat sorgt mit seiner relativen Autonomie und institutionellen Selektivität für eine relative Stabilität der Gesellschaft jenseits der Konflikte und Widersprüche. Letztere sind der Grund dafür, dass der Staat mit seinem Gewaltmonopol eine relative Autonomie annimmt. Gewalt ist nicht nur physisch, sondern aufgrund der Natur von Klassenherrschaft und Hegemonie auch strukturell und institutionell. Mit dem Konzept des Staates als „materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse“ versucht Poulantzas, instrumentale Verständnisse des Staates zu vermeiden und nähert sich diesem als ein strategisches Feld des sozialen und Klassenkampfes an. Der Staat ist ein soziales Verhältnis, wenn auch ein spezifisches, das davon abhängt, wie verschiedene Kräfte und ihre Beziehung zueinander zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand „verdichtet“ werden. Für Poulantzas sind alle gesellschaftlichen Kräfte im Staat vertreten, aber nur in einer asymmetrischen Form, abhängig von den Machtungleichgewichten zwischen Klassen und Geschlechtern. Es bildet sich eine „strukturelle Selektivität des Staates“ aus, die sich aus der Materialisierung ungleicher Machtverhältnisse innerhalb des Staates ergibt. In seiner hegemonialen Form dominiert ein historischer Block den Staat, bestehend aus verschiedenen Klassenfraktionen, die aus diesen Kämpfen hervorgehen. Die institutionelle Materialität des peripheren Staates ist ein historisch-kumulativer Prozess von (früheren) Kämpfen zwischen und unter den Klassen bzw. Klassenfraktionen, Geschlechtern und anderen sozialen Verhältnissen auf nationaler und internationaler Ebene. Mit der Krise des Staates und der Auseinandersetzung über die Umwandlung ihrer Materialität verlieren nicht alle erstarrten Beziehungen und verdichteten Kräfte ihre Wirksamkeit. Einige bleiben lange nach der Krise wirksam, was sich auf die Form der relativen Autonomie und die strukturelle Selektivität des

35 Poulantzas 2002 [1978], S. 159.

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Staates auswirken wird, denn letztere sind nichts anders als institutionalisierte Ergebnisse von sozialen und Klassenkämpfen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Verdichtung und Überdeterminierung. Ökonomische Krisen verwandeln sich nicht automatisch in politische Krisen oder umgekehrt: Eine Wirtschaftskrise ist eine notwendige, aber keine ausreichende Erklärungsvariable für politische Krisen. Eine globale Wirtschaftskrise ist als Moment des Drucks zu verstehen, der Risse in der Struktur der Staatsmacht als Klassenmacht hervorruft. Staatliche Krisen sind komplexe, überdeterminierte Formationen, die einer angeblich offensichtlichen Erklärung und einem kausalen Zusammenhang entgehen, der fast immer auf der Ebene der einfachen Bestimmung arbeitet. Die gewaltsamen Konflikte wiederum sind Indikatoren für fehlende Kompromissgleichgewichte, für Kompromisslosigkeit und den Kampf um dominante oder hegemoniale Positionen innerhalb der jeweiligen Apparate unter den beteiligten Akteuren. Mit anderen Worten, sie drücken einen Mangel an Dominanz oder Hegemonie innerhalb des Machtblocks aus. Verdichtung umfasst rassistische, ethnische, kulturelle, geschlechterspezifische und religiöse, kurz, institutionalisierte ideologische Einstellungen und Praktiken. D. h. Verdichtung schließt Ausgrenzung ein, die die spezifische Form der institutionellen Selektivität des Staates stabilisiert. Dies beschränkt die Möglichkeiten für Veränderung und bestimmt, wie die Krise gehandhabt wird. Die Verdichtung hat auch eine räumliche Dimension. Versteht man den Staat jenseits seiner Institutionen auch als eine territoriale Beziehung, dann wird klar, dass die Machtverhältnisse eine spezifische räumliche Verteilung aufweisen. Die Verdichtung impliziert also institutionalisierte Machtverhältnisse historischer Schichten. Neue Kräfteverhältnisse innerhalb des Staates ersetzen nicht vollständig die früheren Verdichtungen. Die neuen Kräfte müssen mit älteren konkurrieren, um den Staat nach ihrem Bild zu reorganisieren. Politisch bedeutet dies, dass die Verdichtung von in das jeweilige Produktionsverhältnis verwickelten Klassen, Schichten und Gruppen im Staat diesen als kapitalistisch charakterisieren, weil die kapitalistische Produktionsweise dominiert, diese Charakterisierung aber zugleich unzureichend ist: Der kapitalistische Staat ist stets nichtkapitalistisch strukturiert.36 Letzteres wird durch die Tatsache verkompliziert, dass die Operationen des regionalen und internationalen Kapitals, der internationalen Institutionen und der imperialistischen Staaten eine interne Wirkung durch die Verknüpfung mit den jeweiligen Verbündeten innerhalb der verschiedenen Apparate, para-staatlichen Institutionen und Netzwerke des peripheren Staates erzeugen. Darüber hinaus spielen geostrategische und geopolitische Kalküle eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Formen institutioneller Kompromisse, Entscheidungs-

36 Vgl. Poulantzas 1974: 166f.

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findung, Planung und Konfliktbearbeitung. Infolgedessen haben nicht nur die beteiligten staatlichen, wirtschaftlichen und politischen Akteure, sondern auch internationale Institutionen, die imperialistischen Staaten und ihre jeweiligen Hauptstädte Einfluss (u. a. Marginalisierung der internen Opposition) auf die nationale Machtordnung. Diese Agenda ist ohne die Internalisierung der Kräfte und die Zusammenarbeit nationaler Verbündeter nicht denkbar. Im Hinblick auf periphere Staatlichkeit ist folgendes indes weder ein Paradox, noch stellt es einen Widerspruch in sich dar: Gerade weil periphere Entwicklung schon immer international getrieben wurde, stellen die internationalen Momente ein verinnerlichtes nationales Verhältnis dar. Die Rolle der ursprünglichen Akkumulation und die Artikulation von Produktionsweisen als eine strukturelle Form ist eine wichtige Erweiterung der Regulationstheorie und bringt diesen Zusammenhang zum Ausdruck.37

6. Differencia specifica Folglich sollte methodisch wie analytisch zweierlei hervorgehoben werden: Zum einen lassen sich über das enge (fordistische) Verständnis von Regulation hinaus die Konzepte Akkumulationsregime, Regulationsweise, Staat etc. weder ohne das internationale bzw. globale Moment einerseits, noch ohne das Artikulationsverhältnis von Produktionsweisen andererseits bestimmen.38 Diese Verhältnisse sind den Konzepten nicht äußerlich, gleichsam in die Analyse im Nachhinein addierte Ingredienzen. Zum anderen müssen die kolonialistischen und imperialistischen Verhältnisse vor allem in die Analyse peripherer Gesellschaftsformationen einbezogen werden. Sie sind weder historische Residuen, noch empirisch vernachlässigbar. Dies begründet überhaupt die differentia specifica der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung in den Zentren wie in den Peripherien.39 Dieses Verhältnis ist wohlgemerkt weder räumlich noch zeitlich fixiert, sondern nimmt stets konkrete Formen an. In seinem globalen, kapitalistischen Zusammenhang bleibt es jedoch bestehen. Folglich

37 Vgl. Alnasseri 2004; 2003. 38 Vgl. Hirsch 2001, S. 173f. 39 Ich zitiere hier nochmals Balibar, weil er dieses grundlegende Verhältnis so elegant formulierte: „Das Ereignis des Zusammentreffens dieser Gesellschaften mit den ‚westlichen‘ Gesellschaften im Übergang zum Kapitalismus (im Zuge der Eroberungen, Kolonialisierung oder verschiedener Formen von Handelsbeziehungen) gehört offensichtlich zur Diachronie und nicht zur Dynamik dieser Gesellschaften, weil es eine abrupte oder allmähliche Transformation ihrer Produktionsweise hervorruft. Dieses Ereignis ihrer Geschichte entsteht in der Zeit ihrer Diachronie, ohne sich in der Zeit ihrer Dynamik niederzuschlagen – ein Grenzfall, der die begriffliche Differenz der beiden Zeiten und die Notwendigkeit, ihre Gliederung zu denken, deutlich macht.“ (Althusser/Balibar 1972, S. 404f.).

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kann man theoretisch den peripheren Staat als eine bestimmte Form des kapitalistischen, nicht jedoch bürgerlichen Staates verstehen. Ich betonte drei strukturelle Unterschiede zu den so genannten metropolitanen Staaten: Erstens ist die Bourgeoisie nicht oder nicht notwendigerweise die hegemoniale Kraft in der Peripherie. Die peripheren Staaten sind kapitalistisch, aber nicht bürgerlich in dem Sinne, dass die Bourgeoisie im Machtblock hegemonial wäre. Hegemonie bezieht sich auf Herrschaft-durch-Zustimmung. Hegemonie bedeutet, dass die herrschenden Klassen in der Lage sein müssen, ihr besonderes politisches Projekt wie im Interesse aller zu präsentieren. In peripheren Staaten ist die hegemoniale Kraft nicht die Bourgeoisie, sondern andere gesellschaftliche Kräfte (beispielsweise das Militär oder der Staatsapparat). Zweitens entwickelten sich die Metropolenstaaten nicht unter dem Korsett des Imperialismus. Nach André Gunder Frank waren die Metropolen niemals „unterentwickelt“, wie die Peripherie heutzutage, sondern nur „noch nicht entwickelt“.40 Die europäischen Staaten entwickelten sich im Wettbewerb und kämpften miteinander, aber sie wurden nicht auf globaler Ebene zurückgehalten. Dies ermöglichte die kapitalistische Entwicklung der Metropolen durch die Ausbeutung und Besiedlung großer Teile des Restes der Welt. Dies ist die Basis des modernen kapitalistischen Weltsystems, der ungleichmäßigen und ungleichzeitigen Entwicklung und der Grund dafür, warum der Globale Norden bis heute die „Spielregeln“ auf internationaler Ebene festlegen kann. Historisch entwickelte sich die Peripherie in einer Abhängigkeitsbeziehung zum Zentrum der Akkumulation. Daraus folgt die Notwendigkeit, den peripheren Staat im Kontext des Imperialismus zu studieren. Was das post-fordistische imperialistische Stadium von vorherigen unterscheidet ist, dass die abhängigen Gesellschaftsformationen nicht mehr „äußerlich“ an die Metropolen gebunden werden: Sie werden von nun an von „innen“ her beherrscht, indem sich die Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise auch in diesen Gesellschaftsformationen durchsetzt: „Darüber hinaus ist diese Phase dadurch charakterisiert, daß diese von der kapitalistischen Produktionsweise induzierte Reproduktion entscheidend innerhalb dieser Formationen auf den Bereich ihrer Staatsapparate und ihrer ideologischen Formen übergreift.“41 Drittens: Die Metropolenstaaten sind nicht nur intern relativ autonom, sondern auch auf internationaler Ebene starke Staaten. Im Gegensatz dazu können die peripheren Staaten nicht unabhängig eine autonome Politik innerhalb der internationalen politischen Arena verfolgen. Vielmehr sind sie in ihren Handlungen durch verschiedene Formen der Abhängigkeit gebunden.

40 Frank 1975. 41 Poulantzas 1975, S. 43.

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In Anlehnung an Gramsci erklärt sich dieses Verhältnis, also das globale Machtgefälle und die zwischenstaatliche Hierarchie, dadurch, dass die starken Nationalstaaten nicht nur unabhängig, sondern auch „international autonom“ sind, insofern, als das expansive Moment ihrer Konstituierung maßgeblich ihre nationale Exklusivität akzentuiert.42 Für die Nationalstaaten in der Peripherie, d.h. für den historisch verzögerten Prozess der Nationalstaatsbildung nach der Entkolonialisierung, kann davon keine Rede sein, da es hierbei lediglich darum ging, „irgendeinen Einheitsstaat zusammenzustückeln“,43 d.h. um die politische, ökonomische, kulturelle wie territoriale Erschließung des zuvor kolonialisierten Raums. Insofern sind die peripheren Staaten zwar international konstituiert, jedoch nicht international autonom, sondern befinden sich in einem globalen vorstrukturierten Raum: Die internationale Abhängigkeit bedingt eine nationale Zerstückelung und umgekehrt. Dies hindert sie jedoch nicht daran, sich die strategischen Spielräume zu Nutze zu machen bzw. „aus dem Gleichgewicht der internationalen Kräfte Nutzen ziehen zu können“.44 Angesichts dieser Unterschiede müssen die Schlüsselbegriffe für den peripheren Kontext neu bewertet oder neu formuliert werden. Um die peripheren Besonderheiten in Prozessen der Inter-Nationalisierung des Kapitals auszuarbeiten, schlug ich den Begriff „neo-nationale Bourgeoisie“ vor.45 Die innere Bourgeoisie ist für Poulantzas selbst ein Produkt der Internationalisierung des Kapitals im Kontext des Atlantischen Imperialismus.46 Obwohl auch in Zeiten der Globalisierung der Staat der Form nach ein Nationalstaat bleibt, werden auch die Interessen des internationalisierten Kapitals vom Staat berücksichtigt bzw. verdichten sich dort. Dies ist durch eine Fraktion der Bourgeoisie verkörpert, die weder national noch als Kompradorenbourgeoisie vollständig abhängig vom ausländischen Kapitel ist, sondern in einer widersprüchlichen Abhängigkeit vom internationalen Kapital steht. Ein Prozess der Verinnerlichung induziert und reproduziert intern imperialistische Kapitalbeziehungen. Daraus entstand eine Form des Imperialismus niederer Ordnung, in der die neonationale Bourgeoisie eine relative Autonomie erreichte und ihre eigene Entwicklungsstrategie in widersprüchlichen Konflikt- und Kooperationsbeziehungen zu den globalen Zentren schaffen konnte. Die neo-nationale Bourgeoisie muss auch im Kontext der Krise der neoliberalen Akkumulationsprojekte gesehen werden, die ihnen ihre politische und ideologische Anziehungskraft mit dem Untergang anderer Klassenfraktionen verlieh.

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Gramsci 1991ff., S. 784f. Ebd. Ebd. Alnasseri: 2016; 2011; Alnasseri et al. 2011. Poulantzas 2001 [1973].

7. Fazit Soziale Formen sind im marxistischen Sinne reale Abstraktionen. Aber diese abstrakt-reale Darstellung entsteht de facto doch vor dem Hintergrund einer spezifischen Gesellschaftsformation, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen und in ihrer globalen Reichweite imperialistischen Formation. Die Wirkungsweise der kapitalistischen sozialen Formen zeigt in peripheren Räumen eine gebrochen-vermittelte Bewegungsform, die durch die Artikulation verschiedener Vergesellschaftungsweisen und herrschaftlicher globaler Rahmenbedingungen bedingt ist. Ausdruck dieser Konstellation sind eine sehr eingeschränkte innere und fehlende äußere relative Autonomie des Staates und eine Art der Reproduktion, die den Begriff der Souveränität absurd erscheinen lassen. Mit anderen Worten: Um die historische Entfaltung der peripheren Staaten zu verstehen, müssen wir nicht nur ihre strukturellen und institutionellen Besonderheiten identifizieren, sondern wir müssen die äußeren, kolonialistisch-imperialistischen Momente in ihrer Entstehung berücksichtigen, denn in ihrer gesamten Geschichte sind diese Momente wirksam in ihrer Herstellung und Wiederherstellung des peripheren Staates. Diese Momente sind also nicht nur eine Nebenwirkung. Der Widerspruch, in dem sich der periphere Staat momentan befindet, liegt an der Überschneidung multiskalar Prozesse, die den Handlungs- und Bewegungsspeiraum und seine weitere Entfaltung überdeterminieren. Die Verschmelzung dieser multiskalaren Prozesse, die durch die Verschiebung und Verdichtung peripherer Momente in den metropolitanen Formationen und umgekehrt verursacht wird, verlangt nach einer viel differenzierteren theoretischen und methodologischen Auseinandersetzung.

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Adrián Piva Rezeption und Produktivität der materialistischen Staatstheorie in Lateinamerika: Der Fall Argentinien

1. Einleitung Die Verbreitung des Werks von Joachim Hirsch in Lateinamerika hat unter ähnlichen Schwierigkeiten und Einschränkungen gelitten wie die Verbreitung der deutschen Staatsableitungsdebatte. Teilweise lässt sich das durch sprachliche Schwierigkeiten erklären. Es ist kein Zufall, dass die ersten Texte von Hirsch, die in unseren Kreisen zirkulierten und Bekanntheit erlangten, aus englischen und französischen Übersetzungen seiner Arbeiten stammten. Ein Umstand, der genauso auf andere AutorInnen wie Elmar Altvater, Margaret Wirth oder Heide Gerstenberger zutraf, um nur einige zu nennen. Ein wichtiger Faktor war freilich auch der starke Einfluss des strukturalistischen Marxismus im Anschluss an Louis Althusser, der in den 1970er Jahren und sogar bis in die 1980er Jahre zweifellos die dominante Marx-Lektüre in Lateinamerika war. Die erste Übersetzung eines Werkes von Hirsch, die in Lateinamerika verbreitet wurde, war sein Beitrag zur deutschen Staatsableitungsdebatte („Elementos para una teoría materialista del Estado“) in der mexikanischen Zeitschrift Críticas de la economía política in Jahr 1979.1 Críticas de la economía política stand in Verbindung mit der trotzkistischen französischen Zeitschrift Critiques de l´economie politique, die im Jahr 1975 einen Sammelband veröffentlicht hatte, der Beiträge zur deutschsprachigen Debatte von Hirsch, Altvater und Wirth enthielt.2 Die mexikanische Zeitschrift übersetzte die Beiträge von Hirsch und Wirth3 aus dem Französischen. Die Verbreitung dieses Bandes in Lateinamerika wurde zusätzlich durch die Militärdiktaturen einschränkt, die einen großen Teil der Länder der Region regierten. Die Debatte hatte insgesamt jedoch einen gewissen Einfluss auf wichtige Intellektuelle dieser Epoche, wie Guillermo O`Donnell und Norbert Lechner.4 In den 1980er Jahren

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Hirsch 1979. Vincent 1975. Wirth 1979. O´Donnell 1977; Lechner 1977.

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wurde sie unter anderem auch von Victor Moncayo und Fernando Rojas in Kolumbien sowie von Ruy Fausto in Brasilien wiederaufgenommen.5 In den 1990er Jahren begannen die Arbeiten von Joachim Hirsch, ausgehend von der Lektüre und Publikation durch kleine marxistische Gruppen, vor allem in Argentinien und Mexiko größere Verbreitung zu finden. Der Ursprung des Interesses lag in den Prozessen der kapitalistischen Restrukturierung, mit der die Region im Kontext des neoliberalen Angriffs auf die ArbeiterInnen konfrontiert war. Die Frage des Staates stand aufgrund der tiefgreifenden Transformation seiner Apparate und seiner Form im Zentrum der theoretischen und politischen Debatten. Das war auch deshalb der Fall, weil die Antworten der ArbeiterInnen und der Linken auf die Prozesse der Privatisierung und der Deregulierung der Märkte, die die Region durchzogen und besonders in Argentinien drastische Ausmaße annahmen, die Form einer Verteidigung des Staates annahmen. Die Debatten, die Joachim Hirsch, Bob Jessop, Werner Bonefeld, John Holloway und Simon Clarke in den 1980er Jahren hinsichtlich der Restrukturierung des Kapitals und des Staats im Kontext der thatcheristischen Offensive im Vereinigten Königreich führten, gewannen enorme Aktualität und waren von großem politischen Interesse. Besonders deshalb, weil diese Analysen eine Perspektive anboten, die es erlaubte, mit der Konzeption eines Nullsummenspiels zwischen Staat und Markt zu brechen und sich den kapitalistischen Restrukturierungsprozessen als gleichzeitigen Prozess der Neuzusammensetzung sowohl der Akkumulation als auch des Staates anzunähern.6 Dies stand im Gegensatz zur dominanten Kritik innerhalb der Linken, die die Schwächung und den Abbau des Staates betonte. Sehr wichtig für die Verbreitung dieser Arbeiten in Argentinien war die Publikation verschiedener Aufsätze in der Zeitschrift Cuadernos del sur und in Buchform, in der Serie „Thematische Stellungnahmen“ (Fichas temáticas), die von den HerausgeberInnen derselben Zeitschrift editiert wurde,7 sowie die Veröffentlichung des Buches ¿Un nuevo Estado? Debate sobre la reestructuración del Estado y el capital in Mexiko, das die vollständigste Sammlung der Debatte auf Spanisch darstellt.8 Die Diskussion über den Umbau des Staates entfachte auch erneutes Interesse an der deutschen Staatsableitungsdebatte, die schon seit 1978 durch einen von John Holloway und Sol Picciotto herausgegebenen englischen Band in Lateinamerika bekannt war .9 Hirschs Beitrag darin trägt den Titel „The state apparatus and social reproduction: elements of a theory of the bourgeois state“10 und besteht aus dem ersten

5

Vgl. u.a. Moncayo/Rojas 1980; Archila 1980; Sánchez Susarrey, 1986; Fausto 1987; Nakatami 1987. Die einzige systematische Arbeit über die gesamte Debatte, die uns bekannt ist, stammt hingegen aus einer späteren Zeit: Caldas 2015. 6 Bonnet 2011. 7 Hirsch et al. 1992. 8 Holloway/Bonefeld 1994. 9 Holloway/Picciotto 1978. 10 Hirsch 1978.

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und dem fünften Kapitel seines Buches „Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals“.11 In ihrer Einführung bezeichnen Holloway und Picciotto den Beitrag von Hirsch als den wichtigsten der gesamten Debatte. Obwohl das Buch vielen KennerInnen als wichtigste Zusammenfassung der Ergebnisse der Staatsableitungsdebatte gilt, wurde es erst kürzlich auf Spanisch übersetzt.12 Das Buch, aus dem die beiden Kapitel von Hirsch entnommen wurden, ist bis heute nicht auf Spanisch verfügbar. Ab Mitte der 1990er Jahre weckte die Diskussion über die Prozesse der Internationalisierung des Kapitals und die Verortung des Staates in diesen Prozessen erneutes Interesse. Die Arbeiten von Joachim Hirsch boten eine neue Perspektive für die marxistische Diskussion der Globalisierungstheorien, die zwischen einer Unterschätzung der Rolle der Staaten für die Internationalisierung des Kapitals einerseits und einer national zentrierten Kritik andererseits oszillierten, die „Globalisierung“ noch immer als kaum maskierte Form der nordamerikanischen Herrschaft über Lateinamerika verstand. Neuerlich war es die Zeitschrift Cuadernos del sur im Rahmen der Fichas temáticas, die die aktuellen Diskussionen über Geld und Globalisierung verbreitete.13 In diesem Zusammenhang wurde auch „Interpretaciones de la interrelación entre capital, Estado y mercado mundial desde la teoría de la regulación“ abgedruckt.14 In dieser Phase wurden vor allem in Mexiko, dank der Arbeit von Gerardo Ávalos Tenorio, einige der wichtigsten Werke von Joachim Hirsch ins Spanische übersetzt. Hier erschienen auch zum ersten Mal komplette Bücher und nicht nur Fragmente oder einzelne Artikel. Im Jahr 1996 erschien „Globalización, capital y Estado“,15 2001 folgte „El Estado nacional de competencia. Estado, democracia y política en el capitalismo global“, die Übersetzung von „Der nationale Wettbewerbsstaat“.16 Auch die späteren und jüngsten Arbeiten von Hirsch zur Internationalisierung des Staats trafen auf fruchtbares Terrain und legen weiterhin neue Spuren, um einige der Transformationen der lateinamerikanischen Staaten in den letzten dreißig Jahren zu verstehen.17 Das Interesse, das die Arbeit von Hirsch innerhalb marxistischer Intellektuellengruppen in Lateinamerika weckte, stand immer in Zusammenhang mit der Rekonfiguration der kapitalistischen Verhältnisse in der Region. Im Folgenden wird versucht, anhand des argentinischen Falls die Produktivität der materialistischen Staatstheorie für das Verständnis dieser Prozesse zu zeigen, und gleichzeitig auf einige He-

11 12 13 14 15

Hirsch 1974. Bonnet/Piva 2017. Holloway et. al. 1995. Hirsch 1995a. Hirsch 1996. Das Buch versammelt mehrere Aufsätze sowie Vorträge, die Hirsch im Dezember 1995 an der UAM-Xochimilco in Mexiko-Stadt gehalten hat. 16 Hirsch 2001; 1995b. 17 Hirsch 2003, Hirsch/Kannankulam 2011.

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rausforderungen hinzuweisen, die mit der Entwicklung dieser Theorie verbunden sind.

2. Joachim Hirschs Analysen in Argentinien Ist es möglich, die Transformationen des Staates in Lateinamerika in den letzten vierzig Jahren ausgehend von den Kategorien der materialistischen Staatstheorie von Joachim Hirsch zu verstehen? Oder wird diese Theorie unvermeidlich durch die Merkmale der Entstehung und Transformation der Staaten in Europa strukturiert? Im Folgenden will ich zeigen, dass die materialistische Staatstheorie und die Beiträge, die in ihrem Rahmen entwickelt wurden, wertvolle Ausgangspunkte für die Interpretation der Transformationen in Lateinamerika anbieten.

2.1 1976 – 1989 In Argentinien begann der Prozess der kapitalistischen Restrukturierung mit dem Militärputsch von 1976 und der blutigen Militärdiktatur, die das Land in den folgenden sieben Jahren regierte. Die vorherrschenden Interpretationen im heterodoxen und linken Denken tendierten dazu, diese Restrukturierung als intentionalen Prozess zu verstehen, in dem Subjekte (die „grupos económicos“18 in Allianz mit den Streitkräften und einem Teil der politischen Elite), die Fähigkeit hätten, langfristige Strategien auszuarbeiten und durchzusetzen. Gleichzeitig wurde die Aufgabe des Modells der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) als abrupte und bewusste Unterbrechung eines Prozesses dargestellt, der zum Zeitpunkt der Durchführung des Staatsstreichs, im Begriff war, seine Schranken zu überwinden und der industriellen Entwicklung in Argentinien neue Impulse zu geben. Diese Interpretationen neigten dazu, auf den Konflikt zwischen verschiedenen kapitalistischen Entwicklungsprojekten zu fokussieren (Industrialisierungsprojekte, die auf den Binnenmarkt orientiert waren gegen Projekte der Reprimarisierung, die auf den Export von Primärgütern und die „finanzielle Verwertung“19 orientiert waren) und damit auch auf den 18 Der Begriff „grupos económicos“ (ökonomische Gruppen) hat eine präzise Bedeutung innerhalb einer Strömung von ÖkonomInnen, SoziologInnen und HistorikerInnen, die den Kern der „Grupo de Economía y Tecnología“ (Gruppe Wirtschaft und Technologie) an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) bilden. Er bezieht sich auf Kapitalien nationalen Ursprungs, die vertikal und horizontal diversifiziert und integriert sind. 19 „Valorización financiera“ im Spanischen bedeutet nicht Finanzialisierung, sondern bezeichnet, in Anlehnung an den argentinischen Ökonomen Eduardo Basualdo, einen Mechanismus zunehmender Auslandsverschuldung und daran anschließender privater Kapitalflucht aufgrund der Unterschiede zwischen internationalen Zinsen und Zinsen in Argentinien (wobei die Auslandsschulden beim Staat bleiben); Anm. d. Ü.

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Streit zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie. Der Restrukturierungsprozess wurde also als Prozess der Deindustrialisierung verstanden, dessen bewusstes Ziel die Zerstörung der strukturellen Machtbasis einer durch die politische Identität des Peronismus homogenisierten ArbeiterInnenklasse war. Letztere bildete zugleich die Massenbasis einer nationalistischen, auf Industrialisierung abzielende politische Koalition in Argentinien.20 Eine solche Sichtweise weist mehrere Probleme auf. Den Restrukturierungsprozess auf das Resultat eines intentionalen, zielgerichteten Willens zu reduzieren, verlangt erstens sehr starke Annahmen bezüglich der Rationalität und der Informiertheit der Akteure. Dieser Punkt wird üblicherweise just von jenen heterodoxen Strömungen ignoriert, die sonst die anspruchsvollen Annahmen der Rationalität und der vollständigen Information in neo-klassischen ökonomischen und politikwissenschaftlichen Rational-Choice-Modelle kritisieren. Zudem setzt man einen hohen Grad an Konzentration und Zentralisation der ökonomischen und politischen Macht voraus. Selbst wenn man diesen auf nationaler Ebene annimmt, löst man die nationalen Prozesse dadurch völlig abstrakt vom globalen Kontext, dessen Teil sie doch sind. Dieses Problem ist mit einem zweiten verknüpft, nämlich mit der nationalen Orientierung, die all diesen Analysen zu eigen ist und die die globale Dimension des kapitalistischen Reproduktionsprozesses unterschätzt oder leugnet. Nur auf diese Weise ist es möglich, von einer intentionalen Unterbrechung der ISI zu sprechen – anstatt von ihrer Erschöpfung oder ihrer definitiven Krise – ohne Berücksichtigung der globalen Bedingungen, die sie möglich machten und ohne Berücksichtigung der Krise des Nachkriegs-Kapitalismus, deren Teil sie war. Drittens ist es charakteristisch für diese Art der Betrachtung, dass der Staat als eine der Akkumulation äußerlich gegenüberstehende Macht verstanden wird, die in der Lage ist, ihre eigenen Tendenzen zu regulieren und einen Entwicklungsprozess bewusst zu steuern. Dies hat viele dieser Ansätze dazu geführt, neo-institutionalistische Positionen einzunehmen. Zuletzt führt die aufgesplitterte Sichtweise auf Konflikte dazu, dem Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit bloß eine sekundäre Rolle in der Analyse zuzugestehen oder ihn überhaupt auszuschließen. Letzteres ist aus einer marxistischen Perspektive klarerweise problematisch. Joachim Hirsch bot uns eine analytische Perspektive, die diese Beschränkungen überwand. Hirsch bezieht das Verhältnis von Staat und Akkumulation auf die Problematik, wie die Trennung zwischen Ökonomie und Staat erzeugt wird.21 Aus einer solchen Perspektive ist die Trennung zwischen Staat und Akkumulation eine notwendige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals, die aber selbst (re-)produ20 Hier werden einige gemeinsame Grundannahmen schematisch präsentiert, die in verschiedenen heterodoxen Annäherungen an den in Argentinien vollzogenen kapitalistischen Restrukturierungsprozess seit den 1970er Jahren präsent sind (vgl. Basualdo 2006; Schvarzer 2000). 21 Hirsch 1992; 2017; vgl. auch die Beiträge von Buckel/Kannankulam und Holloway in diesem Band.

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ziert werden muss. Folglich wird diese Trennung als spezifische Momente der Reproduktion des Kapitalverhältnisses problematisiert und nicht einfach vorausgesetzt. Das bedeutet, dass Fragen nach dem Charakter der Akkumulation und nach deren Verhältnis zur Produktion von Hegemonie aus der Perspektive einer Totalität formuliert werden. Sie erhalten ihre Bedeutung erst im Rahmen der verschiedenen Produktionsweisen und der ihnen je eigenen, spezifischen Trennung zwischen Ökonomie und Politik. Aus diesem Grund kann der Begriff des „Akkumulationsregimes“ nur im Zusammenhang mit jenem der „hegemonialen Struktur“ angemessen verstanden werden.22 Für Hirsch ist die Objektivität des Akkumulationsprozesses nichts anderes als der Effekt des Fetischcharakters der kapitalistischen Verhältnisse. Die inhärente Krisentendenz der Kapitalakkumulation ist dagegen das Resultat und das Terrain des Handelns von Individuen, Gruppen und Klassen. Erst vor diesem Hintergrund können besagte Formen des Handelns als Strategien bezeichnet werden. Der gesamte Prozess präsentiert sich als „Prozess ohne steuerndes Subjekt“ – und zwingt sich dem Individuum als solcher auf. Aber seine Bewegung ist nur die Entfaltung der antagonistischen Verhältnisse, wenn auch größtenteils unbewusst, die in einer offenen Konfrontation der Klassen enden kann oder auch nicht. Aus dieser Perspektive ist die Trennung von Staat und Akkumulation immer ein historischer Modus der Reproduktion der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit, der niemals gesichert ist. Zudem verhindert diese Trennung, dass diese widersprüchliche, krisenträchtige Bewegung sich in eine offene Klassenauseinandersetzung transformiert. Sie funktioniert einerseits über die Einrichtung bestimmter Varianten des Wettbewerbs, die Druck auf ArbeiterInnen und einzelne Kapitalien vermitteln, und über den Despotismus des Unternehmers am Arbeitsplatz. Dies setzt voraus, dass die Produktions- und Zirkulationssphäre als autonomer „ökonomischer“ Raum erhalten bleibt. Das Gegenstück dazu ist, andererseits, die Konfiguration einer Staatsform, die die politische Herrschaft artikuliert und das legitime Gewaltmonopol über ein Staatsgebiet zentralisiert. In dem Maße wie die Konfiguration einer Staatsform – und ihr Verhältnis zur Akkumulation innerhalb eines bestimmten Territoriums – ein „Innen“ und ein „Außen“ definiert, definiert sie auch ein Verhältnis zwischen nationalem Markt und Weltmarkt.23 Diese letzte Dimension ist besonders wichtig, weil die Prozesse der kapitalistischen Restrukturierung als Prozesse der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen auf globaler Maßstabsebene operieren. Das heißt, sie re-konfigurieren, gleichzeitig aufbrechend und vereinheitlichend, den Akkumulationsraum auf globaler Ebene und das internationale Staatensystem. Aus dieser Perspektive stellt die Krise der ISI und die nachfolgende kapitalistische Restrukturierung einen sehr viel komplexeren Prozess dar, als in den in der Heterodoxie do22 Hirsch 1992. 23 Hirsch 1995a.

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minierenden Sichtweisen. Wenn die Krise von 1975 (der sogenannte „rodrigazo“)24 also nicht bloß eine weitere Krise eines Stop-Go-Zyklus25 war, bedeutete das, dass die ISI deshalb in die Krise geriet, weil sie gleichzeitig die Anhäufung von Ungleichgewichten und Widersprüchen der lokalen Akkumulation und die Krise der kapitalistischen Nachkriegsordnung verdichtete. Aus diesem Grund gab der Militärputsch von 1976 Anstoß zu einem langen Prozess der kapitalistischen Offensive und der Restrukturierung, die ihm den Charakter einer Übergangsphase verliehen (die Periode zwischen 1976 und 1981), und zu Perioden des Widerstandes, die diese Vorstöße beschränkten oder unmittelbar blockierten (die Phase vom Ende der Diktatur bis zur Hyperinflation von 1989).26 Die Krise der Hyperinflation von 1989 verdichtete ihrerseits die eigenen Widersprüche des lokalen Restrukturierungsprozesses und die Krisentendenzen in der gesamten Peripherie und in Osteuropa, die eine Umformung der kapitalistischen Weltordnung markierten. Für Argentinien lässt sich ein Nebeneinander zwischen doppelter Transition einerseits (demokratische Transition und neoliberale Offensive), und der Schuldenkrise 1981/82 andererseits konstatieren.27 Auf diese Weise brachen sich die Widersprüche der Restrukturierung in Argentinien wiederum im kapitalistischen Rekonfigurationsprozess auf globaler Ebene. Die Zunahme der externen Verschuldung während der Diktatur war Teil eines Prozesses, der die gesamte Peripherie und Teile Osteuropas umfasste. Sie bildete das Gegenstück zum Kapitalüberfluss in dem in der Krise befindlichen kapitalistischen Zentrum. Die Krise der Verschuldung und der externen Kreditrestriktion in der Peripherie war das Resultat der Beschleunigung und des Triumphs der neoliberalen Offensive im Zentrum. Die kapitalistische Offensive in den Ländern des Zentrums endete mit der Neuausrichtung der Akkumulation, sie leitete die Kapitalströme zurück zu den Zentren (anfänglich durch den Anstieg der Zinssätze, später durch die zunehmende wirtschaftliche Wiederbelebung) und erhöhte auf diese Weise den Druck zur neoliberalen Restrukturierung in der krisengeschüttelten Peripherie.28

24 Im Juni 1975 ereignete sich eine außerordentliche Währungsabwertung, die den Startschuss zu einem Anstieg der Preise und Löhne bildete. Diese Krise wurde nach dem damals amtierenden Wirtschaftsminister Celestino Rodrigo als „Rodrigazo“ bezeichnet. 25 Der Begriff Stop-Go wurde von Marcelo Diamand geprägt, um die ökonomischen Zyklen des Nachkriegskapitalismus in Argentinien zu beschreiben, die zunächst durch eine expansive Phase charakterisiert waren, in denen sich Ungleichgewichte im externen Sektor anhäuften („Go“). Auf diese folgte eine Phase der Abwertung und Rezession („Stop“), die die Außenhandelsüberschüsse und die Bedingungen einer neuerlichen Ankurbelung der Akkumulation wiederherstellte; Diamand 1972. 26 Während des ersten Halbjahres 1989 kam es in Argentinien zu einem Prozess der Hyperinflation, die mit dem vorzeitigen Abgang der Regierung von Raúl Alfonsín, dem Aufstieg des Peronisten Carlos Menem und der Einleitung eines tiefen und beschleunigten kapitalistischen Restrukturierungsprozesses endete. 27 Massano 2016. 28 Salama/Valier 1992; Ianni 2011.

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Die Durchsetzung der neoliberalen Reformen, vor allem die Restrukturierung des produktiven Kapitals, stieß jedoch auf den Widerstand der gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnenklasse, die mit den auf den Binnenmarkt orientierten Fraktionen der Bourgeoisie verbündet war. Diese „defensive Allianz“29 hatte trotz ihrer Schwächung durch die Repression der Diktatur genügend Kraft, um die bereits angelaufene Restrukturierung zu blockieren. Die Strategie konzentrierte sich auf die Verteidigung des relativen Schutzes der nationalen Ökonomie vor den Mechanismen des Wertgesetzes auf globaler Ebene, was das Fundament der national zentrierten Akkumulationsstrategien der Nachkriegszeit bildete. Aber die Krise, die Argentinien durchlebte, war eine auf lokale Ebene heruntergebrochene Krise der Restrukturierung des globalen ökonomischen Raums, die durch die Internationalisierung des Handels-, Finanz- und Produktionskapitals gekennzeichnet war. Wie Hirsch in den 1990er Jahren argumentierte, war die Restrukturierung des Kapitals und des Staates in Argentinien die lokale Episode eines globalen Übergangs vom nationalen Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat.30 Kern dieser Transformation war der Wettbewerbsdruck, dem die Staaten über die Mechanismen des Wertgesetzes auf globaler Maßstabsebene ausgesetzt waren. Wenn die zunehmende Verschlechterung der Zahlungsbilanz und die Hyperinflation der lokalen Währung ihren Ursprung in der relativen Entkoppelung des nationalen und des internationalen Verwertungsraums hatten, konnten die defensiven Strategien der Blockade nur zu einer weiteren Vertiefung der Akkumulationskrise führen. Der Prozess der Hyperinflation zeigte eine beschleunigte Geldkrise an, aus der – in einer Gesellschaft, die ihre Beziehungen über den Tausch vermittelt – eine Auflösung der sozialen Verhältnisse folgte. In diesem Kontext gewann ein Ausweg aus der Krise hegemoniale Kraft, nämlich die erweiterte Einbindung in den Weltmarkt, die von den am stärksten konzentrierten lokalen Kapitalfraktionen betrieben wurde. In dem Maße, wie sie als die Bedingung der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs erschien, war sie auch die Bedingung der Möglichkeit einer Universalisierung der Interessen der ökonomisch dominanten Kapitalfraktionen. Auf diese Weise bildete die Hyperinflation das Terrain, auf dem sich eine beschleunigte und radikale Transformation der sozialen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit entwickelte. Einerseits kam es zu einer Fragmentierung und Desorganisierung der Handlungsfähigkeit der ArbeiterInnenklasse und zu einer Vereinigung aller Fraktionen des GroßbürgerInnentums rund um das neoliberale Programm. Andererseits artikulierte sich auf dieser Basis ein breiter Konsens um, der die Grundlage für eine Hegemonie bildete, die bis 2001 anhalten sollte und deren verbindende Achse

29 O´Donnell 1977. 30 Hirsch 2001; vgl. die Beiträge von Brand und Jessop in diesem Band.

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die einseitige, strikte Bindung des argentinischen Peso an den US-Dollar (currency board), sein sollte.31

2.2 1989 – 2001 Die materialistische Staatstheorie erlaubt es, den Krisen- und Umstrukturierungsprozess zu verstehen, der ab Mitte der 1970er Jahre zum Kampfplatz avancierte, auf dem die Handlungen von Individuen, Gruppen und Klassen strategische Wirkung entfalteten. Die Gesamtheit des Prozesses kann tendenziell als Offensivbewegung des Kapitals gegen die Arbeit verstanden werden, bei der die Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen Staat und Akkumulation auf dem Spiel stand. Allerdings waren bis Ende der 1980er Jahre die Ergebnisse der Restrukturierung der Produktion und des Staates sehr beschränkt. Während diese Beschränkung unter der Diktatur mit der Priorität erklärt werden kann, die der systematischen Repression der ArbeiterInnen-Organisationen und popularen Bewegungen zugestanden wurde, war in der demokratischen Transition bis zur Hyperinflationskrise von 1989 die Blockade der ArbeiterInnenklasse gegen die Restrukturierungspläne zentral, vor allem in Gestalt des gewerkschaftlichen Dachverbandes der Confederación General del Trabajo (CGT). Die Beharrlichkeit dieser Blockade manifestierte sich im Konjunkturstillstand und schließlich in der offenen Krise. Die heterodoxen wissenschaftlichen Ansätze tendieren dazu, die Akkumulationskrise von der Krise des Staates zu unterscheiden, indem sie die „Kolonisierung“ des Staates durch die Unternehmen hervorheben. Das Problem bestand aus dieser Sicht in der unzureichenden Autonomie des Staates gegenüber den Interessenvertretungen und dem Druck verschiedener Fraktionen der herrschenden Klasse. Dagegen kann die Krise des Staates aus einer materialistischen Perspektive als ein Aspekt der Gesamtheit der kapitalistischen Verhältnisse verstanden werden. Die Blockade der Restrukturierung seitens der Arbeiter*innenklasse verursachte eine Krise, die auf spezifische Entwicklungsweisen in der Akkumulation und im Staat traf. Aus diesem Grund bildete die volle Entfaltung des kapitalistischen Restrukturierungsprozesses in den 1990er Jahren einen gleichlaufenden Prozess der Neuzusammensetzung der Akkumulation und der Staatlichkeit. Wie erwähnt, sahen viele heterodoxe Analysen und ein guter Teil der Linken in der Restrukturierung des Staates nur seine Schwächung. Begriffe wie „Verkleinerung“, „Minimierung“ oder „Ausschlachtung“ des Staates waren geläufig. Was diese Perspektiven unsichtbar machten, war die Stärkung der institutionellen Kapazitäten des Staates. Diese offenbarte sich in der politischen Artikulation des Restrukturierungsprozesses, in der Stärkung

31 Bonnet 2008; Piva 2012.

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des Staates gegenüber bestimmten Fraktionen der herrschenden Klasse – vor allem den auf den Binnenmarkt orientierten – und gegenüber der Gesamtheit der KapitalistInnen, die dem Wettbewerbsdruck und seinen Anpassungszwängen unterworfen waren. Vor allem aber zeigte sich diese Stärkung im staatlichen Vorgehen gegenüber der ArbeiterInnenklasse. Zum ersten Mal seit der Krise von 1930 gelang es dem argentinischen Staat, mit demokratischen Mitteln seine institutionellen Maßnahmen zur Unterwerfung der ArbeiterInnenklasse zu legitimieren. Der gesamte Prozess lässt sich im Anschluss an die Arbeiten von Joachim Hirsch angemessener als ein Prozess der Metamorphose des Staates interpretieren, in dessen Verlauf einige seiner Funktionen geschwächt und andere gestärkt bzw. neu geschaffen wurden.32 Die Transformation der Staatsform beinhaltete eine Reduktion bzw. Zerstörung von Teilen des Staatsapparats (Privatisierungsprozesse von Staatsunternehmen, Unterdrückung von Marktregulierungsorganen im Rahmen der Wettbewerbsderegulierung etc.), aber auch die Schaffung neuer Apparate, wie Kontrollorgane für die privatisierten öffentlichen Dienstleistungsunternehmen. Während einige Teile des Staates geschwächt wurden – etwa die Aufsichtsfunktionen des Arbeitsministeriums – wurden andere gestärkt, etwa durch die Modernisierung des Wirtschaftsministeriums und der Zentralbank. Im Jahr 2001 hatte sich nach Jahren neoliberaler Politik der Staat deutlich vergrößert, in Bezug auf die Staatsausgaben (absolut und relativ zum BIP) ebenso wie in Bezug auf das Staatspersonal.33 Diese Metamorphose des Staates war hauptsächlich geprägt von der Machtverschiebung von der Legislative zur Exekutive; von der Unterordnung politischer Abteilungen des Staats unter ökonomische (einschließlich der Unabhängigkeit der Zentralbank, die in Argentinien die Herausnahme der Währungspolitik aus dem Klassenkampf und eine faktische Unterstellung der Zentralbank unter das Wirtschaftsministerium bedeutete); und von der Zentralisierung der repressiven Staatsfunktionen und der Dezentralisierung der Sozialhilfe.34 Insgesamt verdichtete sie den Wandel der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen während der Krise der Hyperinflation und tendierte zur Bildung einer neuen Hegemonie. Während der Hyperinflationskrise sammelten sich die Unternehmen des argentinischen Großkapitals (national und ausländisch) rund um das neoliberale Reformprogramm. Dieser Zusammenschluss umfasste die Kerne des Agrarkapitals, die Industrie, den Handel und die Finanzwirtschaft. Gleichzeitig fragmentierte und desorganisierte sich die Handlungsfähigkeit der gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnenklasse im Kontext einer der Inflationsbeschleunigung geschuldeten Aushöhlung der Lohnkämpfe. Dieser Prozess der Desorganisierung erreichte mit der Plünderung von Geschäften zwischen Mai und Juni 1989 ihren Höhepunkt. Insgesamt 32 Hirsch 1992, Hirsch 1996, Bonnet 2008. 33 Bonnet/Piva 2013. 34 Bonnet 2008; Piva 2012.

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trug dies zum Scheitern der Verteidigungsstrategie eines nationalen Verwertungsraums gegenüber dem Weltmarkt bei, wodurch die Grundlage der defensiven Allianz zwischen dem binnenmarktorientierten nationalen Kapital und der ArbeiterInnenklasse aufgelöst wurde. In diesem Kontext war es der Peronismus unter Carlos Menem, der die Strategie auf politischer Ebene formulierte und sich an die Spitze der neoliberalen Offensive gegen die Arbeit stellte. Der Peronismus band das Großkapital in seine politische Koalition ein, setzte eine funktionale Wiederanbindung der Gewerkschaften an den Staat über eine pseudo-partizipative Strategie ein – die sich als zentral für die Unterwerfung der ArbeiterInnenklasse erweisen sollte und damit die Implementierung der Reformen erst ermöglichte – und entwickelte eine Strategie der territorialen Kontrolle, die den Einschluss der am stärksten verarmten und prekarisierten Sektoren einer im wachsenden Maße zweigeteilten ArbeiterInnenklasse gestattete. Auf diese Weise artikulierte der Peronismus, über den Staat, die gesamte Bourgeoisie als herrschende Klasse. Dies geschah rund um eine Strategie, die zunehmend die Position des exportorientierten, lokalen industriellen Großbürgertums stärkte (das sich hinsichtlich seiner Eigentümerstrukturen immer weiter internationalisierte). In einem langwierigen Prozess wurde im Laufe von zwei Jahren (zwischen Juli 1989 und April 1991, mit dem Beginn des Regimes der strikten Währungsbindung an den US-Dollar) diese hegemoniale Herrschaft gegen nicht allzu starken Widerstand aufgebaut. Die Bourgeoisie formulierte paradoxerweise eine Klassenstrategie durch den Peronismus, und es gelang ihr zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert, die Blockade bei der Umsetzung eines Hegemonieprojekts zu durchbrechen. Hegemonie, so wie sie Hirsch definiert, ist „ein Modus zur Unterdrückung der Arbeiterklasse und der Institutionalisierung der Klassenverhältnisse“.35 In der fordistischen Periode war diese Institutionalisierung durch die politische Integration der ArbeiterInnenklasse geprägt, auf Basis der Ausweitung der Arbeitsplätze und einer intensiven Kapitalakkumulation, die die Vereinbarkeit von ansteigenden Reallöhnen und Mehrwertrate erlaubte. Zudem war sie gekennzeichnet durch die bürokratische Regulierung des Staates, die Entwicklung von Massenparteien und die Eingliederung der bürokratisierten bzw. zentralisierten gewerkschaftlichen Apparate in die staatlichen Mechanismen, um den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu kanalisieren.36 In Argentinien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg dieser Mechanismus durch eine extensive Kapitalakkumulation blockiert. Diese erzielte spärliche Produktivitätsanstiege zu einer Zeit, als eine mächtige ArbeiterInnenklasse sich in gewerkschaftlichen Organisationen sammelte, die enttäuscht von ihrer Orientierung auf die staatliche Integration waren und deren Peronismus seit 1955 bei Wahlen verboten war. So kam es zu einer tendenziellen Zuspitzung der Klassenkämpfe. 35 Hirsch 1992, S. 18. 36 Hirsch 1992.

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Die ab 1989 entstandene Hegemonie führte zu einer Lösung des historischen Problems, dass sich die ArbeiterInnen nicht durch eine Disziplinierungsstrategie unterwerfen ließen, die auf der Ausweitung und Verschärfung des Wettbewerbs beruhte. Diese wiederum war gestützt auf eine Kombination aus ökonomischer Öffnung und restriktiver Geldpolitik (dies implizierte die volle Wirkung des globalen Wertgesetzes im nationalen Raum). Daher haben wir von einer „schwachen Hegemonie“37 gesprochen, um sie von Hegemonieprozessen zu unterscheiden, die stärker auf Zugeständnissen basieren.38 Entscheidend für dieses Konzept der „schwachen Hegemonie“ ist aber der Übergang vom „Sicherheitsstaat“ hin zum „nationalen Wettbewerbsstaat“.39 Hinter der in Argentinien seit 1989 entwickelten neoliberalen Strategie der sozialen Disziplinierung findet ein Prozess der Internationalisierung des Kapitals statt, der zur Krise der fordistischen Regulation im Nachkriegseuropa, im „industrialisierenden Populismus“ in Argentinien in der Nachkriegszeit und in anderen mäßig industrialisierten Ländern in Lateinamerika beitrug. Unter den neuen Voraussetzungen war die Beschränkung des Handlungsspielraums des argentinischen Staates in der Regulation der Akkumulationsbedingungen und der politischen Integration der gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnenklasse zugleich die Grundlage für die Disziplinierung der ArbeiterInnenklasse mittels der Ausdehnung und Verschärfung der Konkurrenz. Auf diese Weise wurde der Wettbewerbsdruck, dem der Nationalstaat unterworfen war, in die Funktionsweise des nationalen Marktes eingepflanzt. Aus der Not eine Tugend machend, übersetzte sich die regulatorische Schwäche des Staats in eine Stärkung des Staats gegenüber der ArbeiterInnenklasse in Form der Deregulierung. Die Bedingung dafür war die Niederlage einer Widerstandsstrategie, die das Modell der Importsubstitution und des populistischen Staates gegen die Kapitalrestrukturierung verteidigen wollte. Diese Strategie musste im neuen globalen Kontext unweigerlich scheitern. Die heterodoxen Strömungen, die bis heute von einer Unterbrechung der ISI erzählen und ihre Krise zurückweisen, nähren die Illusion einer Rückkehr des populistischen Staats und seines importsubstituierenden Industrialisierungsprojekts, das auf einer Expansion des Binnenmarktes aufbaut. Die Stärke dieser Illusion, die zum konstitutiven Mythos der Einigung und Eingliederung der argentinischen ArbeiterInnenklasse im Zeichen des Peronismus wurde, konnte man seit der Krise von 2001 und während der kirchneristischen Periode beobachten.

37 „Schwache Hegemonie“ bezieht sich hier nicht auf die Kraft der Hegemonie, sondern sie steht im Kontrast zur Hegemonie im starken Sinn, die durch die Internalisierung des Antagonismus der ArbeiterInnenschaft in Gestalt einer reformistischen Logik von Zugeständnissen charakterisiert ist (Piva 2012). 38 Piva 2012. 39 Hirsch 1995b; 2001.

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2.3 2001 - 2015 Die „schwache Hegemonie“ behauptete sich, solange die Furcht vor einer Rückkehr der Hyperinflation andauerte; die Hyperarbeitslosigkeit40 und die Spaltung der Arbeitskämpfe bildeten effektive Zwangsmechanismen für die Reproduktion eines negativen Konsenses. Dies war in dem Maße möglich, in dem das auf der Währungskonvertibilität beruhende Disziplinierungsregime eine Aufrechterhaltung der Preisstabilität und ein Wirtschaftswachstum ermöglichte, wenn auch auf Kosten steigender Ungleichheit, Armut und informeller Arbeitsverhältnisse. Ende 1998 begann allerdings eine Depressionsphase der argentinischen Wirtschaft, die sich bis zum Ende des Jahres 2002 erstreckte. Unter dem Regime eines festen Wechselkurses und im Kontext der wirtschaftlichen Öffnung erforderte der Ausweg aus der Krise eine Reduktion des Haushaltsdefizits und eine Verringerung der nominellen Löhne und Pensionen. Aber die deflationäre Offensive gegen die Arbeit traf auf eine Schranke in Form eines massiven Mobilisierungsprozesses. Am 19. Dezember 2001 begann ein Aufstand der Bevölkerung, der bis zum Abend des 20. Dezember andauerte und im Rücktritt der Regierung gipfelte. Die Deflationskrise produzierte massive Verarmungs- und Enteignungsprozesse, die die Zwangsmechanismen der Konsensproduktion ineffektiv werden ließen. Es handelte sich aber nicht um einen mechanischen Prozess. Vielmehr zeigten diese Tage im Dezember die Lebendigkeit der Massenmobilisierung in Argentinien. Zugleich offenbarte die Mobilisierung aber auch den Erfolg der Desorganisierung und Spaltung der ArbeiterInnenklasse. Im Gegensatz zu den 1970er und sogar den 1980er Jahren wurde die gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenklasse bei den Aufständen im Dezember 2001 durch Organisationen der Arbeitslosen und durch die individualisierten Beschäftigten in den Schatten gestellt, die in nicht unterscheidbaren Massen von „Armen“, „BürgerInnen“, „NachbarInnen“ oder einfach „Leuten“ („la gente“) an den Kochtopf-Protesten (cacerolazos) am 19. Dezember teilnahmen.41 Auf diese Weise gelangten die Krise und der Aufstand von 2001 zu einem instabilen Kräfteverhältnis: Eine Neuzusammensetzung der Klassenkämpfe, die zwar in der Lage war, die deflationistische Offensive zu blockieren und die restriktive Geldpolitik scheitern zu lassen, aber die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre durchgesetzte Restrukturierung nicht radikal zurückdrehen konnte. Die Neuzusammensetzung von Akkumulationsprozess und Staatsmacht in der Periode zwischen 2002 und 2003 musste sich auf Basis dieser tiefgreifend veränderten Kräfteverhältnisse entwickeln.

40 Die Arbeitslosigkeit zwischen 1992 und 2001 erreichte ihr höchstes Niveau bei 18% und hatte ihren Tiefpunkt bei 12% (Instituto Nacional de Estadística y Censos). 41 Dies bezieht sich auf verschiedene Formen der Selbstbezeichnung von TeilnehmerInnen der Proteste bzw. auf Bezeichnungen durch die Medien.

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Dies erklärt, warum der Kirchnerismus – eine neopopulistische Variante des Peronismus – eine Wiederaufbaustrategie der politischen Herrschaft auf Basis der graduellen Einbeziehung von Forderungen der ArbeiterInnen und der Bevölkerung entwickelte. Diese Strategie trat bald in Widerspruch zu einem Akkumulationsregime, dessen wesentliche Aspekte im Vergleich zu den 1990er Jahren unverändert blieben. Die erste und grundlegende Kontinuität ist die exportbezogene Umorientierung des industriellen und agroindustriellen Großbürgertums, das auf den Export von Industriewaren relativ niedriger Wertschöpfung und von agroindustriellen Gütern spezialisiert war. Da dieser Sektor der dynamischste ist und sich seine Bedeutung verfestigte, war die Wirtschaft sogar noch stärker von der externen Nachfrage abhängig. Diese Sektoren sind nicht nur die wettbewerbsfähigsten und die einzigen, die Devisen erwirtschaften, sie sind hinsichtlich ihrer Eigentumsverhältnisse und Akkumulationsstrategien auch stark internationalisiert. Sie artikulieren ihrerseits die produktive und die auf Finanzmechanismen basierende Akkumulation. Dies stellt einen Hebel zur Kapitalkonzentration dar und schafft eine gewisse Stabilität des Akkumulationsprozesses der argentinischen Wirtschaft in den Perioden der Produktionsausweitung; gleichzeitig handelt es sich um einen Hebel zur Zentralisierung von Kapital in Krisenphasen. In diesem Sinne veränderte der beschränkte Prozess der importsubstituierenden Industrialisierung während der Periode des Kirchnerismus das Akkumulationsregime der argentinischen Wirtschaft nicht strukturell. Ja mehr noch: Er tendierte dazu, dessen strukturelle Heterogenität zu verschärfen. Unter diesen Umständen war die Stabilisierung dieses instabilen Kräfteverhältnisses – d.h. die Vereinbarkeit der Kontinuität einer schrittweisen Einbeziehung von Forderungen der ArbeiterInnenschaft und der Bevölkerung mit der Kontinuität eines Akkumulationsprozesses, der einem Anstieg der Reallöhne und der formalen Beschäftigungsverhältnisse enge Grenzen setzte – nur durch die Neukonfiguration der Akkumulationsbedingungen auf globaler Ebene möglich. Der grundlegende Faktor war ab 2002 die Umkehrung der tendenziellen Verschlechterung der Terms of Trade zwischen den Produkten der Peripherie und der Zentren im globalen System.42 Der Impuls in der Nachfrage nach Rohstoffen, der vor allem dem chinesischen Wirtschaftsaufstieg geschuldet war, führte zu einem starken Anstieg der Rohstoffpreise und seiner Derivate. Der Preisindex für Rohstoffe der argentinischen Zentralbank weist zwischen dem 31. Dezember 2001 und dem letzten Tag des Jahres 2012 einen

42 Der Begriff der realen Austauschverhältnisse (terms of trade) besagt, dass Länder mit großer Abhängigkeit vom Export nur weniger Primärgüter den internationalen Preis- und Mengenschwankungen stark unterworfen sind und dies immer wieder zu Instabilität führt. Zudem führt eine steigende Produktivität bei der Produkton von Primärgütern tendenziell zu sinkenden Preisen, bei Industriegütern bzw. in Industrieländern äußern sie sich auch in steigenden Löhnen. Der Rohstoff(preis)boom ab 2003/2003 schien die These der strukturellen Benachteiligung der Exporteure von Primärgütern zu wiederlegen; Anm. d. Hrsg.

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Zuwachs von 214% auf.43 So öffnete sich eine Periode starker Handelsüberschüsse für die Exportländer von Rohstoffen. In diesem Kontext, auch als Resultat des wachsenden Handels innerhalb des Mercosur und der größeren Abhängigkeit von China, reduzierte sich die Abhängigkeit vom Handel mit den USA und der Europäischen Union drastisch. Insgesamt bedeutete dies einen größeren Handlungsspielraum für den argentinischen Staat. Es ist dieser Handlungsspielraum, der es erlaubt, die Neubestimmung der Trennung zwischen Staat und Akkumulation begrifflich als ein Verhältnis der Nicht-Korrespondenz zu verstehen. Denn ab dem Jahr 2005 begann der Widerspruch zwischen Akkumulation und Legitimation aufzutauchen. Die Strategie der Regierung, die Politik der schrittweisen Einbindung von Forderungen der ArbeiterInnenschaft und der Bevölkerung fortzusetzen, verursachte Spannungen zwischen der Wirtschaftspolitik und den Erfordernissen der Kapitalakkumulation.44 Dies drückte sich vor allem in der Fortdauer einer Politik aus, die auf einer über wachsende Staatsausgaben organisierten Nachfrageexpansion, auf steigenden Reallöhnen und auf direkten Einkommenstransfers für die ärmsten Sektoren der ArbeiterInnenklasse beruhte. Diese Kontinuität führte jedoch tendenziell zur Beschleunigung der Inflation und zu einem stufenweisen, aber anhaltenden Rückgang des Haushaltsüberschusses, des Handelsüberschusses und einer Verschlechterung des realen Wechselkurses. Das bedeutet, dass die Spannungen zwischen Staat und Akkumulation tendenziell eine Akkumulation der Ungleichgewichte produzierten, deren Ausgleich nur durch die außergewöhnlichen Umstände infolge der Verbesserung der Terms of Trade möglich war, welche Steuermehreinnahmen, Überschüsse im Handel und in der Leistungsbilanz erlaubte. Das bedeutet auch, dass die objektiv-illusorische Autonomie des Staates und seine Nicht-Korrespondenz mit den Anforderungen des Akkumulationsprozesses nur durch die Entspannung des Wettbewerbsdrucks auf die peripheren Staaten – besonders auf den argentinischen – ermöglicht wurde, die eine beschränkte Neuauflage von bestimmten Integrationsmechanismen des populistischen Staats erlaubte. Dieser Prozess kann daher ausgehend von den Bestimmungsmerkmalen des Konzepts des nationalen Wettbewerbsstaats viel angemessener begriffen werden, in diesem Fall in Gestalt der vorübergehenden Abschwächung dieser Bestimmungsmerkmale. Allerdings war der Handlungsspielraum des argentinischen Staates in einer durch die Internationalisierung des Kapitals in den vorangegangenen dreißig Jahren geprägten kapitalistischen Welt sehr viel beschränkter als nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies manifestierte sich in der Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess an seine Grenzen stieß. Die globale Krise von 2008 verlangsamte das Wachstum der Weltwirtschaft. Trotz der geringeren Abhängigkeit von den USA und der Europäischen 43 IPMP – BCRA o.J. 44 Piva 2015.

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Union, welche die unmittelbaren Effekte der Krise abmilderte, begann ein Prozess der Verlangsamung des Wachstums und eine Tendenz wachsender Ungleichgewichte im exportorientierten Sektor und im Staatshaushalt. Zum Steuerdefizit und zum Außenhandelsdefizit, die 2011 entstanden waren, kam 2013 die Wirkung des Preisverfalls der Rohstoffe hinzu. Die Rückkehr des Wettbewerbsdrucks löste ab 2014 beginnende Versuche einer graduellen Anpassung und ab Ende 2015 eine neue Periode der kapitalistischen Offensive durch die neue Rechtsregierung unter Mauricio Macri aus. Der Erfolg dieser Offensive, die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags noch andauert, hängt davon ab, ob der Staat in der Lage ist, der ArbeiterInnenklasse – die zwar schwächer als in den 1970er und 1980er Jahren, aber immer noch eine der stärksten der Region ist – eine erneute Niederlage zuzufügen. Die Auswirkung der Internationalisierung des Kapitals auf die Staatsform in Argentinien manifestierte sich auch in der kontinuierlichen Serie von Internationalisierungsprozessen der Staatsfunktionen seit 2002, die von Hirsch in jüngster Zeit hervorgehoben wurden.45 Erstens unterbrach die Lockerung des Wettbewerbsdrucks auf die Staaten Südamerikas das Projekt einer Freihandelszone in den Amerikas (ALCA), aber sie führte nicht zu ausschließlich national zentrierten Regulierungen, sondern zur Artikulation und Vertiefung regionaler Mechanismen wirtschaftlicher Integration (MERCOSUR) und regionaler Mechanismen politischer Koordination, die eine relevante Rolle bei der Lösung einiger der wichtigsten politischen Krisen in Südamerika spielten: Die 2008 gegründete Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) und in geringerem Ausmaß die 2010 gegründete Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC).46 Das zeigte sich auch an der anhaltend großen Bedeutung der bilateralen Investitionsschutzabkommen und des zur Weltbank gehörenden Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) als Mechanismen der Konfliktbeilegung zwischen Nationalstaaten und transnationalen Unternehmen.47 Die Internationalisierung des Staates zeigt sich auch an der regionalen und internationalen Homogenisierung der Funktionen und Abteilungen von Staatsapparaten, ausgehend von den Aktivitäten supranationaler Organismen, wie der Interamerikanischen Bank für Entwicklung, der Weltbank oder des Währungsfonds, mittels einer Kombination von Druck und Finanzierung. Kürzlich erschienene Studien haben diesen Prozess in so unterschiedlichen Bereichen wie der Bergbaupolitik,48 dem Öl- und Gas-Sektor49 und der Sozial- und Infrastrukturpolitik50 nachgewiesen.

45 46 47 48 49 50

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Hirsch 2003; Hirsch/Kannankulam 2011; Wissel/Wolff 2016; Brand 2011. Pascual 2016. Pascual/Ghiotto 2008. Álvarez Huwiler 2014. Pérez Roig 2016. Ciolli 2016.

3. Schlussfolgerungen Weist die Entwicklung des Kapitalismus in Lateinamerika Besonderheiten auf, welche die materialistische Staatstheorie für diese Region nicht anwendbar machen? Einige AutorInnen bejahen diese Frage nicht nur; sie gehen sogar noch weiter und behaupten, dass die spezifische Geschichte der Staatlichkeit in Lateinamerika und ihre irreduziblen Besonderheiten die Unmöglichkeit belege, überhaupt eine bis zu einem gewissen Grad generelle marxistische Staatstheorie zu entwickeln.51 In diesem Beitrag sollte, ausgehend vom argentinischen Fall, gezeigt werden, dass die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch es gestattet, die Prozesse der Restrukturierung und Krise in den letzten vierzig Jahren in Lateinamerika aus einer Perspektive zu interpretieren, die nationale und globale Akkumulationsprozesse als komplexe und widersprüchliche Einheit konzipiert. Diese Einheit legt nahe, dass die Restrukturierungsprozesse der Nationalstaaten Teil einer Neubestimmung im Verhältnis zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen auf globaler Maßstabsebene sind. In diesem Sinne können die Importsubstitution und die populistischen Staaten, die sich in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern im Laufe der 1950er und 1960er Jahre entwickelt haben, nicht außerhalb der weltweiten Reorganisation des Nachkriegskapitalismus verstanden werden, der den nationalen Märkten Vorrang als Zielräume der Produktion einräumte und Nationalstaaten eine höhere Regulationsfähigkeit verlieh. Genauso wenig lässt sich die Krise der späteren Restrukturierungsprozesse ohne deren Einschreibung in die Reorganisierung des globalen Kapitalismus begreifen, die eine Folge der Internationalisierung des Produktions-, Handels- und Finanzkapitals war. Auch die tiefgreifenden Veränderungen der nationalen Bedingungen des Klassenkampfes und die Schranken seiner Institutionalisierung können nicht verstanden werden, ohne sie auf den Wettbewerbsdruck zu beziehen, der auf die Nationalstaaten ausgeübt wurde. Die Konzepte mittlerer Reichweite, die hier herangezogen wurden – wie „nationaler Sicherheitsstaat“ oder „nationaler Wettbewerbsstaat“ – setzen ihrerseits eine Konzeption des Staates als politische Form des Kapitals voraus, und damit eine Konzeption der Besonderung des Staats, d.h. der Trennung zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen, als notwendige Bedingung der kapitalistischen Verhältnisse. Notwendig nicht im Sinne eines unvermeidlichen Schicksals, sondern im Sinne einer Anforderung an die Form, die die kapitalistische Ausbeutung strukturiert. Sowohl diese generelle Konzeption des Staats als auch der analytische Ausgangspunkt eines globalen Kapitalverhältnisses und, folglich, eines Verhältnisses zwischen dem Ökonomischen und Politischen auf globaler Ebene, das durch das Muster einer Spaltung und Vereinheitlichung des weltweiten Akkumulationsraums und des internationalen Staatensystems definiert

51 Zavaleta Mercado 1989.

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wird, besitzen eine generelle Gültigkeit jenseits der Besonderheiten der kapitalistischen Entwicklung in jeder einzelnen Region. Das heißt freilich nicht, dass die materialistische Staatstheorie nicht Veränderungen oder zusätzlicher Bestimmungen bedarf, wenn sie mit der Analyse der lateinamerikanischen Realität konfrontiert wird. Das betrifft insbesondere einen Aspekt, der hier beiseitegelassen wurde, der aber ein ums andere Mal im lateinamerikanischen Fall auftaucht: Der Aspekt der Abhängigkeit. Die Dependenztheorie hat sich ebenso wie die klassische Imperialismus-Theorie als unzureichend erwiesen, um dieses Phänomen zu erfassen. Allerdings scheint Abhängigkeit doch mehr zu sein als das kontingente Resultat kapitalistischer Expansion. Sie scheint das Ergebnis einer starken Strukturierung der kapitalistischen Verhältnisse zu sein, ausgehend von einem bestimmten historischen Moment. Etwas Ähnliches scheint die These der „ungleichen und kombinierten Entwicklung“ aufwerfen zu wollen.52 Auch die von Prebisch stammende Theorie des Zentrum-Peripherie-Verhältnisses zielt darauf ab.53 Die erstgenannte These bleibt jedoch nicht mehr als eine gute Idee, die zweite nicht mehr als die Feststellung bestimmter empirischer Tatsachen, verbunden mit einer inadäquaten Erklärung. Wenn aber das Zentrum-Peripherie-Verhältnis grundlegende Bestimmungen der Strukturen kapitalistischer Verhältnisse offenlegt, dann kann eine Perspektive, die den globalen Charakter des Kapitalverhältnisses ebenso hervorhebt wie das Verhältnis national/global als komplexe und widersprüchliche Einheit, diesbezüglich nicht ohne Modifikationen bleiben. Genau aus diesem Grund ist die materialistische Staatstheorie der beste Ausgangspunkt, um diese Aufgabe anzugehen. Übersetzung aus dem Spanischen: Gregor Seidl.

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52 Trotzki 1967. 53 Prebisch 1981.

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IV. Politische Relevanz

Dirk Martin und Jens Wissel Soziale Infrastruktur als sozialpolitisches Transformationskonzept

Einleitung Drei zentrale Schlussfolgerungen lassen sich aus der materialistischen Staatstheorie von Joachim Hirsch in Bezug auf emanzipatorische gesellschaftliche Veränderungen ziehen: Erstens wird der Staat nicht als eine außerhalb der Gesellschaft stehende Institution betrachtet. Die politischen Kämpfe, die sich im Staat manifestieren, werden vielmehr als verstaatlichte, also in die politische Form überführte, gesellschaftliche Kämpfe gesehen. Gesellschaftliche Kämpfe wirken im Staat, und zwar keineswegs nur indem sich Akteure dieser Kämpfe selbst an den Staat wenden oder Teil des Staates sind, sondern auch über eine allgemeine Verschiebung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Hieraus folgt die zweite wichtige Erkenntnis, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht vom Staat aus gedacht werden können. Der Fokus liegt vielmehr auf sozialen Bewegungen und ihrer Eigenständigkeit sowie auf der Gefahr, dass diese ihr emanzipatorisches Potenzial zu verlieren drohen, wenn sie Teil der politischen Form werden. Denn damit steigt der Druck, sich an die spezifische Interessenselektivität und die Logik des Staates anzupassen. Eine dritte wichtige Erkenntnis der staatstheoretischen Debatten der 1970er Jahre für emanzipatorische Transformationen ergibt sich daraus, dass mit einer abstrakten theoretischen Bestimmung des kapitalistischen Staates noch wenig über seine konkrete Form gesagt ist. Um diese Herrschaftsform verstehen zu können, muss also auch der historisch konkrete Staat begriffen werden. Kapitalistische Gesellschaften und in der Folge auch kapitalistische Staaten unterscheiden sich historisch und räumlich erheblich voneinander. Für eine Perspektive, die kapitalistische Verhältnisse überwinden will, ist dieser vielleicht banal klingende Befund wichtig, weil sich in den unterschiedlichen Gesellschaftsformationen Herrschaft und damit auch die Bedingungen für gesellschaftliche Transformation und politische Kämpfe erheblich voneinander unterscheiden. Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus. Joachim Hirsch fasst diese Erkenntnisse in seinen Überlegungen zum radikalen Reformismus zusammen: Weder geht es um Kämpfe, die durch ein ‚Ereignis‘ den revolutionären Umschlag aller Verhältnisse herbeiführen wollen, noch geht es darum, allein auf graduelle Verschiebungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen

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zu setzen, ohne die zugrundeliegenden Lebensformen, Alltagspraktiken und institutionellen Formen in Frage zu stellen.1 Wir möchten im Folgenden einige grundlegende Momente dieser emanzipationstheoretischen Überlegungen darstellen, um hiervon ausgehend mit einem Konzept für eine alternative Sozialpolitik einen Entwurf zu diskutieren, der auf eine nichtetatistische Transformation des Staates zielt und zugleich versucht, die Spielräume für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu erweitern. Es geht um den Versuch einer politischen Intervention, bei der gesellschaftliche Veränderungen nicht auf einen fiktiven Punkt in der Zukunft projiziert werden, sondern schon im Jetzt mit der konkreten Veränderung von sozialen Praktiken beginnen, in dem aber zugleich die Perspektive einer grundsätzlichen Überwindung des Kapitalismus aufgehoben bleibt. Dementsprechend ist das Ziel nicht vorrangig die Ausweitung vermeintlich herrschaftsfreier Räume in kapitalistischen Gesellschaften, sondern Veränderungen, die auch politisch-rechtlich abgesichert und dadurch für alle zugänglich gemacht werden – und zwar unabhängig von individuellen oder klassenspezifischen Ressourcen. Dies wollen wir auch unter Bezugnahme auf andere transformatorische Konzepte im Folgenden diskutieren. Nach einer Erläuterung des Begriffs Radikaler Reformismus (1) wenden wir uns der Krise des lohnarbeitszentrierten Sozialstaats und der Notwendigkeit einer alternativen Sozialpolitik zu (2). Soziale Infrastruktur als radikal-reformistisches Transformationskonzept ist die Ausformulierung eines solchen sozialpolitischen Ansatzes, den wir zunächst in seinen Grundzügen darstellen (3.1), in seinem spezifischen Verhältnis zum bedingungslosen Grundeinkommen diskutieren (3.2), im Hinblick auf die Notwendigkeit anderer gesellschaftlicher Arbeitsverhältnisse in den Blick nehmen (3.3) und schließlich in seinen Konsequenzen für die Transformation und grundlegende Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse explizieren (3.4).

1. Radikaler Reformismus Wenn man den Kapitalismus als einen Prozess „ohne steuerndes Subjekt“ begreift, lässt sich politische Emanzipation auch nicht mehr von einem privilegierten Akteur (der Arbeiterklasse) aus denken. Zugleich muss auf die „Vorstellung eines zentralen Angelpunktes und Hebels gesellschaftlicher Veränderung verzichtet werden“.2 Das heißt auch, dass der Staat kein privilegierter Ort der Transformation ist. Wer den Staat als Hebel für gesellschaftliche Veränderungen begreift, sitzt vielmehr „genau der Trennung von ‚Politik’ und ‚Ökonomie’ auf, die das zentrale Struktur- und 1 Eine vergleichbare Strategie verfolgt Erik Olin Wright in seinem Buch Reale Utopien, auf den wir in Abschnitt 3.4 Bezug nehmen werden (Wright 2017). 2 Esser/Görg/Hirsch 1994, S. 221.

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Reproduktionsmerkmal kapitalistischer Gesellschaften kennzeichnet“.3 Die beiden großen sozialen Bewegungen des Kommunismus und der Sozialdemokratie sind unter anderem daran gescheitert, dass sie nicht erkannt haben, dass der Staat kein neutraler Akteur ist. Für sie war der Staat ein Instrument, mit dem der Kapitalismus zivilisiert oder gar abgeschafft werden sollte. In der Folge wurden gesellschaftliche Veränderungen immer mehr als Veränderungen gedacht, die durch den Staat herbeigeführt werden sollen. Verkannt wurde damit, dass der Staat in „seiner Form wie Funktionsweise die institutionelle Verfestigung grundlegender gesellschaftlicher Machtbeziehungen, d.h. von spezifischen, nicht zuletzt klassen- und geschlechterförmigen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen“ ist.4 Politisches Handeln, das dies nicht reflektiert und ausschließlich „auf die institutionell eingespielten Konfigurationen der kapitalistischen Gesellschaft“ zielt, steht in der Gefahr, „von eben diesen Spaltungs-, Ausbeutungs- und Verselbständigungsmechanismen deformiert zu werden“.5 Es wird selbst zu einem wichtigen Moment der Reproduktion dieser gesellschaftlichen Antagonismen. Insofern geht es aus der Perspektive des radikalen Reformismus zunächst darum zu reflektieren, warum und woran bisherige Emanzipationsbewegungen gescheitert, bzw. an welche Grenzen sie gestoßen sind. Gerade aus einer staatstheoretischen Perspektive darf die Analyse nicht bei der in der bürgerlichen Gesellschaft etablierten formalen Trennung von Politik und Ökonomie stehen bleiben. Vielmehr muss die formale Trennung zugleich als eine spezifische Relationierung bzw. Verbindung von Politik und Ökonomie in den Blick genommen werden, um die Immanenz der kapitalistischen Formen theoretisch bewältigen wie praktisch überwinden zu können.6 Komplementär dazu lässt sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit bestimmen, wie insbesondere die feministische Debatte herausgearbeitet hat.7 Gegenüber den verselbständigten Handlungsformen kapitalistischer Vergesellschaftung geht es um eine Erweiterung selbstbestimmter Handlungsmöglichkeiten. Es geht darum, die gesellschaftliche Konstellation so zu verschieben, dass die Spielräume für emanzipatorische Veränderungen vergrößert und damit andere soziale, ökonomische und politische Praktiken möglich werden. „‚Radikal’ meint, dass emanzipatorische Politik, auch wenn sie als schrittweiser und langwieriger Prozess begriffen wird, von Anfang an auf die Überwindung der herrschenden gesellschaftlichen Formen und ihre institutionellen Ausprägungen abzielen muss und die praktische Kritik an diesen als ihr Grundprinzip erkennt“.8 Ein radikaler Reformismus 3 4 5 6 7 8

Ebd. Hirsch 2012, S. 234. Esser/Görg/Hirsch 1994, S. 221. Vgl. Hirsch 2005b, S. 25. Vgl. Sauer 2015, S. 76f. Esser/Görg/Hirsch 1994, S. 227.

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muss also auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogen sein und darf nicht nur auf Veränderungen im politischen Bereich zielen. Es geht um die Veränderung der gesamten Gesellschaft, die Veränderung der Produktionsweise und der Arbeitsteilung, der Trennung von Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit, der Geschlechterverhältnisse, der Alltagspraktiken, der Konsumnormen und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Soziale Bewegungen, die exemplarisch für solche gesellschaftlichen Transformationen stehen können, sind die Frauen- sowie die Student_innen- und Ökologiebewegung. Sie haben es gleichermaßen geschafft, gegen die staatliche Herrschaftsapparatur Bewusstseins- und Verhaltensweisen und den Staat selbst zu verändern. Sie nahmen also die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick, die von den sozialen Bewegungen als Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse kritisiert wurden, wie auch die Bewusstseinsformen und die alltäglichen Verhaltensweisen, die die Herrschaft reproduzieren. Mit ihren Erfolgen orientierten sie sich allerdings in einem zunehmenden Maße auf den Staat, sodass sie einen großen Teil ihres emanzipatorischen Potenzials verloren haben.9 Zwar ist die staatliche Absicherung einmal erkämpfter sozialer Rechte wichtig, um die Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und die erkämpften Rechte festzuschreiben und damit allen zugänglich zu machen. Zugleich dürfen die staatlich-institutionellen Erfolge von sozialen Bewegungen aber nicht zu einer Etatisierung der Bewegungen führen, weil dadurch gesellschaftlich-emanzipatorische Transformationen wieder auf staatliche Transformationen reduziert würden. Begreift man den Staat mit Poulantzas als materielle Verdichtung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen,10 so wird deutlich, dass der Staat als ein Terrain begriffen werden muss, das von emanzipatorischen Bewegungen zwar nicht ignoriert werden kann. Hieraus ergibt sich aber keineswegs ein vorrangiger Bezug auf staatsförmige Politik. Im Gegenteil: Wenn man die Erkenntnisse aus den Diskussionen um die politische Form berücksichtigt, dann muss darüber nachgedacht werden, inwiefern „parteiförmige und gewerkschaftliche Politik immer schon in den Grenzen der herrschenden politischen Form gefangen und damit für radikale Emanzipation untauglich ist“.11 Die Auseinandersetzungen müssen also im und gegen den Staat zugleich geführt werden. Vorrangig geht es dabei nicht um staatliche Transformation, sondern um die Veränderung unserer Lebensweisen und Alltagspraktiken, in denen sich die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse reproduzieren. Sowenig es einen privilegierten Ort oder einen zentralen Hebel für emanzipatorische Veränderung gibt, gibt es eine „Blaupause“, die als Anleitung für emanzipatorische Transformationen dienen könnte. Eine solche Perspektive wäre nicht nur in 9 Vgl. Hirsch 2012, S. 235. 10 Vgl. Poulantzas 2001, S. 154ff. 11 Hirsch 2015, S. 110.

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ihren Konsequenzen autoritär, sie würde die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit einfach reproduzieren, wo es darauf ankäme, diese zu überwinden. Es geht folglich darum, in die Kämpfe um Hegemonie einzugreifen, die Kräfteverhältnisse zu verschieben, neue Spielräume für emanzipatorische Transformationen zu schaffen und zugleich das Ziel der Abschaffung von Hegemonie als Form bürgerlicher Herrschaft nicht aus den Augen zu verlieren.

2. Lohnarbeitszentrierter Sozialstaat: Selbstmord aus Angst vor dem Tod Vor dem Hintergrund des hier skizzierten und durch gesellschafts- und staatstheoretische Überlegungen geschärften Emanzipationsverständnisses entwickelte sich in der Redaktion von links-netz Ende der 2000er Jahre eine Diskussion über den massiven neoliberalen Angriff auf den fordistischen Sozialstaat.12 Spätestens Anfang der 2000er Jahre wurde deutlich, dass das Rot-Grüne Projekt nicht die von manchen erhoffte Wende in der Umverteilungspolitik von unten nach oben einleiten würde. Im Gegenteil: Mit der Regierung Schröder/Fischer hatte die neoliberale Dreifaltigkeit von Deregulierung, Privatisierung, Ökonomisierung erst ihren eigentlichen Durchbruch in der Bundesrepublik. Diese Entwicklungen führten zu einer allgemeinen Verschiebung der sozialpolitischen Koordinaten. Die Vorstellung davon, was Sozialpolitik leisten soll und wie entsprechende Ziele erreicht werden könnten, veränderte sich grundlegend. „Inklusion in den Arbeitsmarkt beziehungsweise eine Politik der ‚Rekommodifizierung‘ wird hier zur überragenden Aufgabe, während in der Tradition des Europäischen Sozialmodells gerade die Abschwächung des marktvermittelten Drucks, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, ein bestimmendes Moment war“.13 Insbesondere in den Hartz-Gesetzen 2003, mit denen ein massiver Sozialabbau verbunden war, materialisierten sich diese Veränderungen. Die FAZ sprach von der „größten Kürzung von Sozialleistungen seit 1949“.14 Deklariertes Ziel dieser Politik war die Wiederherstellung von Vollbeschäftigung. „Sozialdemokratische Politik tut so, als müsse man in den Systemen der sozialen Sicherung nur quantitativ die Bereiche der Leistungen ein wenig verschieben und könne ansonsten auf den nächsten Wirtschaftsaufschwung warten, der wieder Vollbeschäftigung herstellen wird“.15 Der von Tony Blair und Gerhard Schröder postulierte Dritte Weg versuchte so an den sozialdemokratischen Wunsch nach Vollbeschäftigung anzuknüpfen und verband damit eine Verantwortungsverschiebung: Massenarbeitslosigkeit wurde nicht mehr 12 13 14 15

Siehe AG links netz 2013. Aust/Leitner/Lessenich 2002, S. 291. Zitiert nach Lessenich 2008, 89. Steinert 2013, S. 21.

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vorwiegend auf makroökonomische Entwicklungen zurückgeführt, sondern zunehmend auf individuelle Passivität, die den von Arbeitslosigkeit betroffenen zudem als moralisches Versagen zugerechnet wurde. Der dritte Weg lancierte einen Begriff des ‚Gemeinwohls‘, dessen Fluchtpunkt „die regulative und normative Diskreditierung von Nicht-Erwerbsfähigkeit“ ist.16 Auf der Gegenseite und in den Teilen der SPD, die sich gegen die Agenda-Politik gestellt haben, war ein „linker Traditionalismus“ zu beobachten. Dieser ging davon aus, dass „die gute, alte, allseitig abgesicherte Lohnarbeit für alle“ wieder hergestellt werden könne. In dieser Vorstellung „wäre [dann] auch die gute, alte Sozialpolitik, die sich aus dieser lebenslangen, regelmäßigen und ununterbrochenen Lohnarbeit ergibt, wieder in Ordnung“.17 In den Diskussionen der AG links-netz wurde ein derartiger Traditionalismus nicht nur deshalb abgelehnt, weil hier die Kritik am autoritär-patriarchalen Sozialstaat einem retrospektiv verklärenden Blick auf den fordistischen Wohlfahrtsstaat gewichen war. Vielmehr ging man davon aus, dass sich diese Argumentation auf einem Terrain bewegt, auf dem nichts mehr zu gewinnen ist. Historisch waren Zeiten, in denen Vollbeschäftigung vorherrschte, ohnehin die Ausnahme im Kapitalismus. Mit der Erosion des im fordistischen Klassenkompromiss begründeten Normalarbeitsverhältnis erwies sich auch die „Möglichkeit einer dauerhaften Vollbeschäftigung (…) als Illusion“.18 Die verstärkte Durchkapitalisierung der Gesellschaften, der Ausbau der globalen Standortkonkurrenz, der zunehmende Unternehmenswettbewerb sowie die politisch vorangetriebene Schwächung der fordistischen Regulationsinstanzen führten zu einem ökonomischen Konzentrations- und Monopolisierungsprozess, dem subalterne Kräfte wenig entgegenzusetzen hatten.19 Der fordistisch-keynesianische National-Sozialstaat transformierte sich zum nationalen Wettbewerbsstaat. Damit ist die Veränderung der Formen des Lohnarbeitsverhältnisses und der Arbeitsorganisation in einem hochgradig finanzgetriebenen Akkumulationsmodus verbunden, der zugleich einen vertieften Schub der Kommodifizierung und Durchkapitalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse bedeutet.20 Unter diesen Bedingungen gerät das für den fordistischen Wohlfahrtsstaat als Kristallisationspunkt fungierende Normalarbeitsverhältnis unter erheblichen Druck, weil immer weniger Arbeitsverhältnisse kollektivvertraglich geregelt und in Form von Vollzeitbeschäftigung ausgeübt werden.21 Damit gehen die Verlängerung und Flexibilisierung von Arbeitszeiten, befristete Ar16 17 18 19 20 21

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Lessenich 2008, S. 94. Steinert 2013, S. 27. Hirsch 2005a, S. 36. Vgl. Hirsch 2005b, S. 155. Vgl. Hirsch 2002, S. 101; siehe auch Jessop 2002. Im Jahr 2013 lag die Tarifbindung der Beschäftigungsverhältnisse knapp über 50%, während sie Mitte der 1990er Jahre noch 70% betragen hat (vgl. Huckenbeck/Gehrig 2013, S. 36).

beitsverträge, Leiharbeit, Werkverträge, geringfügige Beschäftigung usw. einher.22 Die neu entstandenen Arbeitsverhältnisse werden mit implizitem Verweis auf das paradigmatische Modell des Normalarbeitsverhältnisses als atypisch bezeichnet. Entsprachen auf dem Höhepunkt des Fordismus in der BRD nahezu 90% der Stellen dem Normalarbeitsverhältnis, ging ihr Anteil bis 1991 auf 79% zurück und liegt im Jahr 2014 bei 68,3%, wobei inzwischen in diesen Anteil auch unbefristete Teilzeitbeschäftigungen mit mehr als 21 Stunden Wochenarbeitszeit eingerechnet werden.23 Der lohnarbeitszentrierte Sozialstaat zeichnet sich insbesondere in seiner sozialversicherungsbasierten deutschen Variante dadurch aus, dass er gerade in dem Moment, in dem der Versicherungsfall in einem größeren Maße eintritt, in die Krise gerät: also genau dann, wenn er am meisten gebraucht wird.24 Dauerhafte Massen-Arbeitslosigkeit führt mit anderen Worten in die Dauerkrise des lohnarbeitszentrierten Sozialstaates. Aus dem Versuch, die ökonomischen Bedingungen zur Schaffung von Vollbeschäftigung wieder herzustellen, folgt eine Strategie, die seit nunmehr dreißig Jahren scheitert. Um der „Wirtschaft“ Bedingungen herzustellen, in der sie genügend Arbeitsplätze schaffen kann, müssen die Steuern gesenkt und die sozialpolitischen Leistungen gekürzt werden, weil diese, so „die Wirtschaft“, die Lohnarbeit verteuern. „Das ist ein verrückter Zirkel, der genau herbeiführt, was wir eigentlich verhindern wollen: Selbstmord aus Angst vor dem Sterben.“25 Es ging und geht also darum, eine neue sozialpolitische Perspektive zu entwickeln, um das Terrain der hegemonialen Auseinandersetzung zu verschieben. Nicht nur die AG links-netz kam Anfang der 2000er Jahre zu dem Schluss, dass die im Fordismus realisierten sozialen Rechte nicht mehr auf der Ebene des lohnarbeitszentrierten Sozialstaates verteidigt werden können.26 Hinzu kommt, dass es eine berechtigte Kritik an seiner patriarchalen, selektiven und autoritären Struktur gegeben hat, hinter die man nicht zurückfallen wollte.

3. Soziale Infrastruktur als radikal-reformistisches sozialpolitisches Transformationskonzept Der Ausgangspunkt der Diskussion für eine neue Sozialpolitik war also eine Konstellation, in der der alte fordistische Sozialstaat massiven Angriffen ausgesetzt war und sich zugleich eine soziale Bewegung zu formieren begann, die versuchte diese 22 Vgl. Kohlmorgen 2004, S. 203f.; siehe auch Holst 2012. 23 Vgl. Nachtwey 2016, S. 137f.; zum Verhältnis von fordistischem und postfordistischem Wohlfahrtsstaat vgl. Martin/Wissel i.E. 24 Vgl. Resch/Steinert 2011, S. 291f. 25 Steinert 2013, 27. 26 Vgl. z.B. Krebs/Rein 2000; Kunstreich 1999; Grottian/Narr/Roth 2003.

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Entwicklung zu stoppen. Hierzu zählten eine Reihe von Initiativen wie die Montagsdemonstrationen in vielen deutschen Städten, verschiedene öffentliche Appelle, aber auch die Formierung der Wahlplattform WASG, die später in der Linkspartei aufging.27 Diese Auseinandersetzungen waren im Wesentlichen defensiv ausgerichtet, was durchaus der konkreten Situation und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen entsprach. Perspektivisch musste deshalb über eine andere Form des Sozialstaates nachgedacht werden, wollte die Linke aus dieser Defensive herausfinden.

3.1 Sozialpolitik als Soziale Infrastruktur gedacht Ein wichtiger Sachverhalt für die Diskussionen in der AG links netz war, dass insbesondere durch die Hartz-Gesetzgebung der Zwang zur Aufnahme von Lohnarbeit erheblich verschärft wurde und das in Zeiten, in denen es offensichtlich nicht mehr genug Arbeit für alle gibt. Eine neue Sozialpolitik, die dieser Entwicklung entgegentritt, muss deshalb versuchen, den Zwang zur Lohnarbeit wieder zu lockern und den Sozialstaat von seiner Bindung an diese lösen. Um sozialstaatliche Sicherungen zu universalisieren und für alle unabhängig von Lohnarbeit zugänglich zu machen, muss als erstes die zentrale Stellung des Versicherungsprinzips überwunden werden. Wenn Dekommodifizierung das wesentliche Kriterium ist, um den Umfang und die Qualität sozialstaatlicher Sicherungssysteme zu beurteilen, dann kann es nur darum gehen, die Dekommodifizierungseffekte in einem neuen sozialpolitischen Projekt radikal zu erweitern.28 Das von der AG link-netz entwickelte Konzept der Sozialen Infrastruktur geht davon aus, dass die Produktivkraftentwicklung zumindest in den Ländern des globalen Nordens dazu geführt hat, dass „die zur Erzeugung der notwendigen Güter und Dienstleistungen erforderliche Arbeit erheblich vermindert“ wurde (Hirsch 2005a, 38). Die aktuelle Konstellation, in der auf der einen Seite immer mehr Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse oder in die Arbeitslosigkeit abgedrängt werden, während auf der anderen Seite in den produktiven Kernsektoren eine ungemeine Arbeitsverdichtung zu beobachten ist, beruht auf einer extrem ungleichen Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit. Es entsteht die bemerkenswerte, aber für den Kapitalismus charakteristische Konstellation, dass immer mehr Waren und Dienstleistungen von immer weniger Arbeitskräften erzeugt werden können und dies zu einem existenzgefährdenden Problem für viele Menschen wird. „Das führt dazu, dass mit wachsendem Reichtum der Gesellschaft zugleich die Armut zunimmt, noch dadurch ver-

27 Zu den unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen siehe Völker 2005. 28 Vgl. Esping-Andersen 1998, S. 36.

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stärkt, dass der Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen prinzipiell an das Normalarbeitsverhältnis gebunden bleibt.“29 Eigentlich hat sich die „kapitalistische Markt- und Konkurrenzgesellschaft historisch überlebt. Die gesellschaftlichen Möglichkeiten lassen es zu, eine Soziale Infrastruktur zu entwickeln, die allen ein auskömmliches Leben ohne Arbeitszwang sichert.“30 und durch eine „Auflösung der Lebenslaufdisziplin“ andere Lebensweisen und Alltagspraktiken erlaubt.31 Zwei wesentliche Schritte sind nötig, um dies in Angriff zu nehmen. Erstens muss eine Entkopplung von Arbeit und existenzsicherndem Einkommen eingeleitet werden und zweitens muss eine Soziale Infrastruktur erhalten und aufgebaut werden, die prinzipiell kostenlos oder für geringes Entgelt von allen genutzt werden kann. Soziale Infrastruktur meint „die Einrichtungen, die gewährleisten, dass wichtige Grundbedürfnisse allen Menschen in rechtsverbindlich abgesicherter Weise kostenlos oder zumindest kostengünstig zur Verfügung stehen. Dies betrifft vor allem die Bereiche Gesundheit, Bildung und Kultur, Verkehr und Wohnen.“32 Teile dieser Infrastruktur gibt es schon lange, z.B. in Form öffentlicher Bildungseinrichtungen und vor einiger Zeit gab es auch einen öffentlich geförderten Wohnungsbau.33 In Großbritannien gibt es bereits seit der Nachkriegszeit ein öffentlich finanziertes und allen zugängliches Gesundheitssystem.34 Entscheidend in Bezug auf den Zugang zur Nutzung der Sozialen Infrastruktur ist also, dass diese in der Form allgemein verbindlicher Rechtsansprüche durchgesetzt wird und der gesamten Bevölkerung unabhängig von der Staatsbürgerschaft zur Verfügung steht. Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass die Ausgestaltung Sozialer Infrastruktur dezentral und demokratisch erfolgen muss (siehe hierzu Abschnitt 3.4). Mit der Etablierung einer Sozialen Infrastruktur wäre weder das Kapitalverhältnis aufgehoben, noch würde die Lohnarbeit verschwinden. Allerdings wäre eine grundlegende Veränderung der Funktion von Lohnarbeit erreicht, weil sie nicht mehr zur Erzielung existenzsichernder Einkommen betrieben werden müsste. Sie diente zur Erzielung von Einkommen zur Befriedigung besonderer Bedürfnisse. Dadurch könnte „sie […] vernünftigere und menschlichere Formen annehmen“.35 Dass die Lohnarbeit auf diese spezifische Funktion reduziert werden kann, wird im Konzept Sozialer Infrastruktur dadurch sichergestellt, dass für individuelle Bedürfnisse, die 29 30 31 32 33 34

Hirsch 2005a, 38. AG links-netz 2013b, S. 12. Vgl. Steinert 2005, S. 64. AG links netz 2013b, S. 12. Ebd. Der National Health Service (NHS) ist in den letzten Jahrzehnten finanziell zunehmend ausgetrocknet worden und befindet sich aktuell im Zentrum der gesellschaftlichen Kämpfe gegen Austerität in Großbritannien. Einen Frontalangriff auf diesen Kern des britischen Wohlfahrtsstaats hat aber nicht einmal Thatcher gewagt; vgl. Kaufmann 2003, S. 150ff. 35 AG links-netz 2013b, 12.

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über die Güter und Dienstleistungen der Sozialen Infrastruktur hinausgehen, ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) gewährleistet wird. Während die Soziale Infrastruktur in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Kultur, Verkehr und Wohnen grundsätzlich kollektive Nutzungsmöglichkeiten eröffnet, besteht die Funktion des BGE darin, auf individueller Ebene Bedürfnisse „abzudecken, die nur warenförmig, d.h. nicht über die ausgebaute Soziale Infrastruktur befriedigt werden“ können.36 Erst für die darüber hinausgehenden warenförmigen Dienstleistungen und Güter müsste ein Einkommen aus Lohnarbeit erzielt werden.

3.2 Zum Verhältnis von sozialer Infrastruktur und BGE Von zentraler Bedeutung für das Konzept Sozialer Infrastruktur ist, dass dem BGE eine spezifische Funktion zukommt und es keineswegs den zentralen Inhalt oder Bezugspunkt des Ansatzes darstellt. Dies zu betonen ist deshalb wichtig, weil neoliberale und konservative Varianten eines Grundeinkommens dieses als einzigen Ersatz an die Stelle weitgehend bis völlig entfallender sozialpolitischer Sicherungssysteme und Institutionen treten lassen wollen. Zentrales Ziel dieser Ansätze ist es, die Regulierungen des Arbeitsmarktes, die im Sinne der Beschäftigten sind, abzuschaffen, „die Ausgaben für soziale Leistungen zu senken und den Niedriglohnsektor zu fördern“.37 Im Kontext einer Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik ist demgegenüber das Grundeinkommen eine ergänzende Maßnahme, die den Individuen den Erwerb warenförmiger Güter und Dienstleistungen ermöglichen und sie zugleich zur gesellschaftlichen Teilhabe und Nutzung Sozialer Infrastruktur befähigen soll, unabhängig von familiären und anderen Gruppenbildungen. Die Höhe des Geldbetrags, der den Individuen bedingungslos zur Verfügung gestellt wird, ist abhängig vom Umfang des Ausbaus der Sozialen Infrastruktur.38 Von hier aus ergeben sich Übereinstimmungen mit emanzipatorischen Modellen eines Grundeinkommens. Diese vom Konzept des Grundeinkommens ausgehenden Modelle betonen in Komplementarität zum Ansatz Sozialer Infrastruktur die Notwendigkeit des Ausbaus öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen.39 Von der strategischen Zugangsweise ist die Nähe zu der von Gabriele Winker vertretenen feministischen Care-Perspektive auf das BGE besonders weitreichend. In der Perspektive einer „Care Revolution“ (Winker 2015) ist das BGE ein Element in einer Transformationsstrategie, die auf die grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Arbeitsteilung und damit verbundener Geschlechterarrangements abzielt. Die Gewäh36 37 38 39

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Hirsch 2005a, S. 40. Blaschke 2017, S. 106. Vgl. AG links-netz 2013a, S. 61. Vgl. Blaschke 2017, S. 107.

rung eines BGE erfordert in dieser Perspektive den komplementären und deutlichen Ausbau „staatlich, genossenschaftlich oder gemeinwirtschaftlich angebotener personennaher Dienstleistungen in den Bereichen Kinderbetreuung und Bildungsangebote, Gesundheitsversorgung und Altenpflege […] Diese Angebote müssen steuerfinanziert ohne Gebühren zur Verfügung gestellt werden und dürfen auf keinen Fall nachrangig behandelt werden“.40 Entscheidend für die emanzipatorische Ausgestaltung eines BGE ist demzufolge, dass es als Bestandteil oder komplementäres Element einer steuerfinanzierten und prinzipiell kostenfrei zur Verfügung gestellten Sozialen Infrastruktur konzipiert wird. Demgegenüber läuft eine sozialpolitische Strategie mit „Beschränkung auf das Grundeinkommen […] auf jeden Fall Gefahr, dem Neoliberalismus in die Hände zu spielen“.41 Die sozialpolitische Strategie, die das BGE als Element von Sozialer Infrastruktur begreift, intendiert eine doppelte Dekommodifizierung: Durch ein ausreichendes BGE wird die Arbeitskraft in weitreichendem Umfang dekommodifiziert, ohne dass dafür die Menschen repressive und stigmatisierende Antragstellungen und Bedürftigkeitsüberprüfungen wie im fordistischen und erst recht im neoliberalen Wohlfahrtsstaat über sich ergehen lassen müssen. Der Warenform entzogen werden aber zudem auch die Güter und Dienstleistungen, die als Soziale Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden und zum Bestreiten des eigenen Lebens erforderlich sind. Damit werden Voraussetzungen für die Neugestaltung und -verteilung gesellschaftlich notwendiger Arbeit und die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse im Kapitalismus und über ihn hinaus geschaffen.

3.3 Ausweitung des Arbeitsbegriffs und Neugestaltung gesellschaftlicher Arbeitsverhältnisse Die Krise der Lohnarbeit als Grundlage sozialer Sicherungssysteme darf nicht als These über das ‚Ende der Arbeit‘ missverstanden werden. Vielmehr ist es so, dass die Dominanz der Lohnarbeit einen geschlechtsspezifischen Herrschafts- und einen sozialen Invisibilisierungseffekt hat. Männliche Lohnarbeit dient dem Kommando über weiblich konnotierte nicht entlohnte Reproduktionsarbeit und die Abwertung letzterer ist zugleich „Abwertung der gesellschaftlichen Stellung der Frau“.42 Zudem macht die Dominanz der Lohnarbeit unsichtbar, dass diese nur ein Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit ist und selbst in quantitativer Hinsicht keineswegs der wichtigste: „In der Bundesrepublik ist […] nicht entlohnte Reproduktionsarbeit in

40 Winker 2016, S. 27f. 41 Hirsch 2017. 42 Federici 2012, 48.

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Familie und Ehrenamt zeitlich um das 1,7-fache größer als die Erwerbsarbeit.“43 Deshalb ist es erforderlich, die „einseitige Fixierung auf Lohnarbeit als privilegierte und einzig anerkannte Form von Arbeit“ zu beenden.44 Dadurch lässt sich der Begriff der Arbeit neu bestimmen, weil im Kapitalismus alle anderen Formen gesellschaftlicher Arbeit abgewertet oder dethematisiert werden. Freiwillige, ehrenamtliche, familiäre Arbeit, Pflegearbeit und alle anderen Formen von gesellschaftlichen Tätigkeiten zur Reproduktion der Gesellschaft bedürfen einer nicht lohnförmigen eigenständigen materiellen Absicherung. „Es gilt, dafür zu sorgen, dass sich Tätigkeiten besser entfalten können, die vom Markt nicht honoriert werden, aber nützlich und weniger entfremdet sind und die die – nicht zuletzt natürlichen – Lebensbedingungen nicht weiter ruinieren“.45 Wichtig ist dabei, dass Soziale Infrastruktur als emanzipatorisches Projekt auf inhärente Weise mit feministischen und auch lohnarbeitsbezogenen Kämpfen verbunden bleibt. Der Vorschlag zur Etablierung einer Sozialen Infrastruktur ist ein Element im Versuch die Hegemonie androzentrischer Arbeitsteilung zu überwinden, die für den Kapitalismus bestimmend ist. Neben der angestrebten weitreichenden Dekommodifizierung soll sie auch zur Umwertung der Werte beitragen und geht, wie Gabriele Winker in der Perspektive einer feministischen Diskussion des BGE formuliert, „von der grundlegenden Bedürftigkeit jedes Menschen aus ebenso wie von der grundsätzlichen Bereitschaft, gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit zu leisten“.46 Zugleich lässt sich der Kampf um den Aufbau einer Sozialen Infrastruktur mit der Forderung nach gesellschaftlicher Aufwertung und deutlich höherer Entlohnung von Care-Arbeit verbinden.47 Die starke Zurücknahme des Zwangs zur Aufnahme von Lohnarbeit durch Soziale Infrastruktur und BGE kann zugleich die Ausgangsbedingungen für gewerkschaftliche Kämpfe um Mindestlöhne und Arbeitszeit verbessern. Entscheidend ist für das Konzept Soziale Infrastruktur aber, dass diese lohnarbeitsbezogenen Kämpfe für ein die Existenz der Menschen angst- und repressionsfrei sicherndes Leben nicht den Primat haben können. Unter der Bedingung der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses profitiert von Arbeitszeitverkürzungen allenfalls, wenn von im Anschluss häufig durchgesetzten Arbeitsverdichtungen abgesehen wird, eine kontinuierlich schrumpfende Gruppe von Erwerbstätigen, nicht aber die Prekären und Erwerbslosen.48 Auch die Etablierung einer Sozialen Infrastruktur würde sich unter dem Fortbestehen des Kapitalverhältnisses vollziehen. Daraus folgt aber nicht, dass ein in radikal-reformistischer Absicht betriebenes sozialpolitisches

43 44 45 46 47 48

212

Winker 2016, 16. AG links-netz 2013a, S. 66. AG links-netz 2013b, S. 12. Winker 2016, S. 19. Vgl. Winker 2015, 163. Vgl. Blaschke 2017, S. 109; Gorz 2000, S. 135.

Transformationsprojekt die Lohnarbeit zum zentralen Bezugspunkt machen müsste oder sollte.

3.4 Demokratische Gestaltung Sozialer Infrastruktur und radikal-reformistische Transformationsperspektive Von zentraler Bedeutung für die Ausgestaltung Sozialer Infrastruktur ist, dass sie „dezentral und demokratisch verwaltet sein muss“.49 Das ist zunächst einmal bedeutsam für die Qualität und Bedarfsgerechtigkeit der Güter und Dienstleistungen, die durch Soziale Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden. Diese müssen durch unmittelbare Beeinflussung und Kontrolle ihrer Nutzer_innen bestimmt und dürfen nicht durch expertokratische und administrative Gesichtspunkte präformiert werden. Ansonsten würde lediglich die paternalistische Ausprägung herkömmlicher Sozialstaatlichkeit reproduziert. Zugleich und damit einhergehend ist die demokratische Gestaltung Sozialer Infrastruktur eine Bedingung für die „grundlegende Transformation der Institutionen und der herrschenden Form bürokratisch-etatistischer Vergesellschaftung“, wie Hirsch unter Verweis auf Kunstreich betont.50 In Anlehnung an Poulantzas ließe sich formulieren: Die mit dem Konzept der Sozialen Infrastruktur verfolgte Sozialpolitik wird entweder demokratisch sein oder gar nicht.51 Dekommodifizierungsstrategie und demokratische Gestaltung sind die beiden zentralen Elemente Sozialer Infrastruktur, die für die radikal-reformistische Transformationsperspektive dieses sozialpolitischen Konzeptes stehen. Eine vergleichbare Perspektive verfolgt Wright mit seinem Modell Realer Utopien, wenn er davon ausgeht, dass sowohl Revolution als auch Reform als Transformationsstrategien gescheitert sind. Der Kapitalismus lässt sich weder durch Reformen von oben dauerhaft zähmen noch durch einen revolutionären Bruch zerschlagen.52 Vielmehr kommt es darauf an, ihn dadurch zu erodieren, „dass in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut werden und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume gekämpft wird“.53 Das ist nur möglich, wenn die Durchsetzung solcher Alternativen, etwa in der hier diskutierten Form Sozialer Infrastruktur, als Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse betrieben wird. Die bürgerliche Gesellschaft bleibt zumindest prinzipiell auf Demokratie angewiesen und versucht sie zugleich auf die Sphäre der Politik zu beschränken. Die zentralen Mechanismen des Kapitalismus verhindern aber „die Be-

49 50 51 52 53

Hirsch 2005a, S. 42. Hirsch 2005a, S. 40. „Der Sozialismus wird demokratisch sein oder gar nicht“, Poulantzas 2002, S. 294. Wright 2017, S. 10f. Wright 2017, S. 11.

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dingungen menschlicher Entfaltung sowie einer Vertiefung der Demokratie“.54 Demokratie und Kapitalismus sind widersprüchlich und entfalten eine eigene Dialektik, in der die Demokratie in Abhängigkeit von ökonomischen Krisen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen immer wieder vom Übergang in autoritäre Ausnahmestaatlichkeit bedroht ist.55 Diese Dialektik lässt sich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht aufheben. Soziale Infrastruktur ist nicht nur intrinsisch auf demokratische Ausgestaltung angewiesen, sondern sie ist zugleich ein Element radikal-reformistischer Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, weil sie sonst weder durchgesetzt noch stabilisiert werden kann. Radikale Demokratisierung zielt darauf ab, „die Grenzlinien, die von mächtigen Interessen zwischen Wirtschaft und Politik immer wieder errichtet werden, selbst in einer reflexiven Anwendung der Demokratie auf ihre eigenen politischen Grenzen zum Gegenstand kollektiver Selbstbestimmung zu machen“.56 Dass es sich hierbei unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen um ein gegenhegemoniales Projekt handelt, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

4. Ausblick Auf den Sozialismus trifft gegenwärtig zu, was Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen mit Bezug auf die Theologie formuliert hat. Für den Sozialismus gilt demzufolge, dass er „heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen“.57 Damit wird auf eine hegemoniale Konstellation verwiesen, in die das Transformationsprojekt Soziale Infrastruktur in der Perspektive eines demokratischen Sozialismus zu intervenieren versucht. Leitender Gesichtspunkt ist dabei nicht das Problem der ‚Realisierbarkeit‘ eines entsprechenden sozialpolitischen Konzeptes, da dies eine Frage der politischen Praxis bleibt.58 Sehr wohl geht es in einer radikal-reformistischen Perspektive aber darum, die „möglichen Dimensionen einer anderen, demokratischeren und vernünftigeren Form des gesellschaftlichen Lebens konkreter auszuleuchten“.59 Das ist entscheidend, weil nur dadurch der Raum des Vorstell- und Denkbaren wieder erweitert werden kann. Die vergangenen Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie haben die Möglichkeiten auch nur der Vorstellung anderer gesellschaftlicher Zustände zutiefst beschädigt. In einem Fredric Jameson und Slavoj Žižek zugeschriebenen Satz kommt dies prägnant zum Ausdruck: „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des 54 55 56 57 58 59

214

Wright 2017, S. 487. Vgl. Buckel 2017. Demirović 2013, S. 214. Benjamin 1974 [1940], S. 693. Vgl. AG links netz 2013a, S. 51. Ebd.

Kapitalismus“.60 Umso dringlicher ist es für gegenhegemoniale Strategien konkretisierte Konzepte zu entwickeln, die auf die Lebenssituation vieler Menschen Bezug zu nehmen vermögen, was in besonderer Weise auf die Krise und den weitreichenden Abbau von Leistungen lohnarbeitszentrierter Sozialstaatlichkeit zutrifft. Soziale Infrastruktur als sozialpolitisches Konzept ist eine darauf bezogene Intervention, die versucht, die hegemonialen Denkblockaden zum Tanzen zu bringen und zum Mittanzen einlädt.61

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Roland Roth Radikaler Reformismus. Geschichte und Aktualität einer politischen Denkfigur

„Spätestens seit 1989 ist offensichtlich, dass die beiden großen, auf Gesellschaftsveränderung zielenden Projekte des 20. Jahrhunderts, nämlich die kommunistische Revolution ebenso wie der sozialdemokratische Versuch einer allmählichen »Zivilisierung« oder gar Überwindung des Kapitalismus durch staatliche Reformpolitik gescheitert sind.“1

1. Umrisse einer Strategie des „radikalen Reformismus“ Die Idee eines „radikalen Reformismus“ ist untrennbar mit der Nachkriegsgeschichte der Neuen Linken verbunden. Sie belebte dabei Traditionen eines westlichen Marxismus, der bereits in der Zwischenkriegszeit eine Blüte erlebt hatte und sich zudem auf „unorthoxe“ Lesarten von Klassikern wie Rosa Luxemburg oder Karl Marx selbst berufen konnte.2 Stets geht es dabei um die Überwindung des klassischen Dualismus von Reform und Revolution, der nicht nur die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegungen und ihrer Spaltungen, inklusive ihrer politischen und ökonomischen Organisationen geprägt hatte. Radikaler Reformismus will stattdessen beides zugleich sein: radikal und reformistisch. Radikaler Reformismus existiert in zahlreichen historischen und aktuellen Spielarten und begrifflichen Variationen. Einige Konzepte konnten internationale Resonanz erzielen und anhaltende Debatten auslösen. Erinnert sei z.B. an die bereits in den westeuropäischen Protesten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einflussreiche Schrift von André Gorz „Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus“, in der er für „revolutionäre“, „für nichtreformistische, für antikapitalistische Reformen“ plädiert.3 Gorz hat seine Leitideen in den Folgejahren immer wieder nachjustiert und radikalökologisch erweitert. Schon 1975 formuliert er eine fiktive Regierungserklärung des französischen Präsidenten, die zentrale wachstumskritische Motive aufgreift und in konkrete Maßnahmen übersetzt.4 Seine Wege ins Paradies, die u.a. durch ein garantiertes Grundeinkommen, eine drastische Arbeitszeitreduzie-

1 2 3 4

Hirsch 2007, S. 182. Anderson 1978; Jacoby 2002. Gorz 1967, S. 11f. Gorz 1975.

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rung und selbstverwaltete lokale Gemeinschaften ausgeschildert sind, sollen in eine nachkapitalistische Gesellschaft führen.5 Dass dabei staatlicher Reformpolitik die Rolle eines Geburtshelfers zukommen soll, kennzeichnet das reformistische Element der Gorz‘schen Utopie. Anhaltende internationale Resonanz erzielte auch die Variante des radikalen Reformismus von Jürgen Habermas, die er in seiner ebenso umstrittenen wie prominenten Kritik an den Protestbewegungen der späten 1960er Jahre skizzierte. In Protestbewegung und Hochschulreform kritisiert er nicht nur das „alerte Schaugeschäft der Revolutionsdarsteller“ jener Tage, sondern er plädiert im letzten Abschnitt seines Pamphlets für eine alternative Strategie der Veränderung jenseits von Reform und Revolution.6 „Der einzige Weg zur bewussten strukturellen Veränderung eines autoritär wohlfahrtsstaatlich organisierten Gesellschaftssystems, den ich sehe, ist radikaler Reformismus“.7 Er grenzt sich dabei gegen einen Reformismus ab, der lediglich verspreche, den Status quo zu erhalten. Stattdessen gelte es, an der notwendigen Radikalität „kritisch-revolutionärer Tätigkeit“ (so Habermas mit Rekurs auf Marx) festzuhalten. Nur so könnten die Befreiungsmotive der Protestierenden produktiv werden. Dazu sei eine Demokratisierung der Entscheidungsprozesse in allen gesellschaftlichen Bereichen vordringlich. Aber es geht Habermas um mehr: „Politische Veränderungen ändern nämlich nichts, wenn nicht mit den Kategorien des greifbaren Unheils, dem sie wehren sollen, auch die subtileren Befreiungen, Beglückungen, Befriedungen auf dem Spiel stehen“.8 Trotz dieser Erinnerung an klassische Topoi der Kritischen Theorie („Unheil“, „Befreiung“ und „Glück“) ging der zentrale Impuls sicherlich in die Richtung einer sozialdemokratischen Linken und ihrer Konzeption „systemüberwindender Reformen“, wenn Habermas formuliert: „Wir müssen Reformen um klarer und öffentlich diskutierter Ziele willen betreiben, auch und erst recht, wenn deren Nebenfolgen mit der Produktionsweise des bestehenden Systems unvereinbar sind“.9 Bereits diese Formulierung macht auf einen deutlichen politischen Unterschied zwischen den Lesarten des „radikalen Reformismus“ bei Gorz und Habermas aufmerksam. Während für Gorz staatliche Reformen dabei helfen sollen, den Weg ins Reich der Freiheit ebnen, wird bei Habermas der antikapitalistische Impuls zu einem – möglichen – Nebenprodukt radikaler Reformen (etwa des Bildungswesens). Im Unterschied zu Gorz, der beharrlich an seinem Veränderungsprojekt gearbeitet, es immer wieder erweitert und neu justiert hat, verlieren sich bei Habermas die Spuren des radikalen Reformismus in seinen späteren Arbeiten.10 5 6 7 8 9 10

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Gorz 1983. Habermas 1981 [1969]. Habermas 1981, S. 302. Habermas 1981, S. 303. Habermas 1981, S. 302. Vgl. Johnson 2004; Scheuerman 2012.

Aktuell finden sich die stärksten Rückgriffe auf einen „radikalen Reformismus“ in den ökologischen, globalisierungskritischen und entwicklungspolitischen Debatten.11 Angesichts der geforderten Veränderungstiefe einer nachfossilen Gesellschaft bedarf es – darin besteht bei allen Unterschieden im einzelnen weitgehende Einigkeit – einerseits veränderter Werthaltungen, Lebensweisen, sowie bewegter und praktischer Impulse der Vielen. Aber ohne förderliche politische Regulierungen und staatliche Rahmensetzungen werden sie schwerlich jene dauerhaften und tiefgreifenden Wirkungen erzielen können, die für diesen Transformationsprozess notwendig sind. Trotz aller konzeptionellen und inhaltlichen Unterschiede kennzeichnet den radikalen Reformismus eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Im Zentrum stehen dabei vor allem negative Abgrenzungen, aus denen sich gleichzeitig die Konturen eines spezifischen Politikverständnisses formen lassen: Radikaler Reformismus steht erstens für die Absage an ein Revolutionsverständnis (und an die daraus entstandenen Regime), für das der „Rote Oktober“ in Russland oder Maos „Langer Marsch“ stehen. Erst durch den Bruch mit diesen revolutionären Vorbildern und ihrer politischen Prägekraft in diversen „Internationalen“ konnten ein Denkraum und ein Experimentierfeld der nicht zuletzt deshalb „Neuen“ Linken entstehen. Dass diese Ablösung ein widersprüchlicher, schmerzhafter und opferreicher Prozess war, lässt sich mit wachsendem Abstand von 1989 und dem Ende des Ostblocks immer weniger nachvollziehen. Im 50-jährigen Gedenken an das Symboljahr „68“ werden die Querelen und Verstrickungen der „proletarischen Wende“ von Teilen der „Außerparlamentarischen Opposition“, die in vielen Spielarten zu einer identifikatorischen Politik mit „realexistierenden“ Vorbildern zurückkehrte, wenn überhaupt dann als peinliche Farce erinnert. Eine zweite Abkehr gilt der „reformistischen“ Tradition der sozialdemokratischen Internationale, die umso leichter fiel, je mehr sich sozialdemokratische Parteien selbst – wie die SPD mit ihrem Godesberger Programm von 1959 – von kapitalismuskritischen Positionen und der Idee systemüberwindender Reformen verabschiedeten. Es gehört zu den Ironien der ApO, die sich nicht zuletzt gegen den politischen Anpassungskurs der Sozialdemokratie (Notstandsgesetze, Große Koalition von 1966 etc.) formierte, dass 1969 mit der SPD/FDP-Regierung von Willy Brandt und Walter Scheel eine „Politik der inneren Reformen“ mit dem Versprechen „mehr Demokratie zu wagen“ in Aussicht gestellt wurde, die für kurze Zeit „reformistische“ Hoffnungen beflügeln konnte. Die mit „New Labour“ und der „neuen“ Sozialdemokratie der Hartz-Gesetzgebung verbundenen politischen Reformen haben seit den 1990er Jahren nicht nur zu deren Verzwergung beigetragen, sondern die Idee einer progressiven 11 So z.B. Brand 2005; Orsato/Clegg 2005; Leahy 2017; Gottschlich 2017; Görg et al. 2017; Brand/Wissen 2017, Kapitel 8; vgl. auch die Beiträge von Görg und Martin/Wissel in diesem Band.

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Verknüpfung von Reformen und verbesserten Lebensbedingungen nachhaltig beschädigt. Sein radikales Profil gewinnt das Konzept des „radikalen Reformismus“ drittens durch die Absage an den Produktivkraft- und Technologieoptimismus der sozialdemokratischen wie der kommunistischen Tradition, dem bereits Lenin 1920 mit seiner Parole „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ ein Denkmal setzte. Von Otto Bauer bis Antonio Gramsci bestand Einigkeit darüber, dass die „Große Industrie“ der Zwischenkriegszeit, die besonders in der Variante des „Amerikanismus und Fordismus“12 die Zeitgenossen faszinierte, trotz aller Ambivalenzen jene Produktivkräfte freisetzt. Sind diese erst einmal von den kapitalistischen Verunreinigungen und Fehlrationalisierungen gesäubert, stellen sie die notwendigen materiellen Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft zur Verfügung. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit Weltkriegen, Faschismus und Holocaust haben der Neuen Linken ein fortschrittskritisches Erbe hinterlassen13, das bereits Walter Benjamin in seinem Essay „Über den Begriff der Geschichte“ mit seiner scharfen Kritik an den „Götzen“ der Arbeiterbewegung, nämlich Arbeit und Fortschritt eindrucksvoll begründet hat.14 Dieser Glaube „will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben“.15 Mit Blick auf den Faschismus kommt Benjamin zu dem Ergebnis: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom“.16 Und fragend regt er an, unsere Vorstellung von Revolution zu überdenken: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“.17 Eng damit verbunden ist eine vierte Dimension des radikalen Reformismus, die auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Lebensweisen zielt. So wenig, wie eine befreite Gesellschaft auf der Basis scheinbar neutraler Produktivkräfte und Arbeitsverhältnisse errichtet werden kann, so wenig ist sie ohne eine radikale Veränderung gesellschaftlicher Lebensweisen und Beziehungsverhältnisse denkbar. Im „fordistischen Jahrhundert“ hat sich eine Durchkapitalisierung immer weiterer Lebensbereiche – zuletzt die der zwischenmenschlichen Kommunikation durch Internet und soziale Medien – vollzogen, die auch weite Teile des Alltagslebens in einen dichten

12 Gramsci 1967 [1931]. 13 Zum ambivalenten Umgang mit dem fortschrittskritischen Erbe in der Neuen Linken vgl. Mayer 2009. 14 Benjamin 1974 [1940]. 15 Benjamin 1974, S. 699. 16 Benjamin 1974, S. 698. 17 Benjamin 1974, S. 1232.

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kapitalistischen Verwertungszusammenhang integriert hat.18 Moderner Kapitalismus kann nicht länger als mehr oder weniger dominante Produktionsweise angesehen, sondern muss vielmehr als Gesellschaftsformation analysiert werden, die in der Tendenz alle Lebensbereiche prägt. Daraus ergeben sich weitreichende Veränderungsanforderungen, wenn eine progressive Überwindung kapitalistischer Verhältnisse gelingen soll. Weder die Übernahme der politischen Macht noch die kollektive Kontrolle der Produktion allein können genügen. „Die komplexen gesellschaftlichen Strukturen müssen umgewälzt werden, aus denen die Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse hervorgehen. Das sind die Formen der Arbeitsteilung, die Produktionsbeziehungen, die Familien-, Natur- und Geschlechterverhältnisse, Bewusstseinsinhalte und Wertvorstellungen bis hin zu den Konsumstilen, d.h. die Lebensweise insgesamt. Ihre Veränderung ist eine Angelegenheit der Menschen selbst, von konkreter Praxis, die im unmittelbaren Lebenszusammenhang ansetzen muss“.19 Diese radikale Kritik, die auf das gesellschaftliche Ganze zielt, hält Anschluss an Traditionen des westlichen Marxismus und vor allem der ersten Generation der „Frankfurter Schule“, die solche herrschaftlichen Abstraktionen bis in die Verästelungen der Kulturindustrie und Wissenschaftsproduktion aufgespürt hat. Jenseits von Reform und Revolution stellt sich fünftens die Frage nach den Akteuren der Veränderung und ihrer Emanzipationspraxis neu. Die Gewissheiten einer Klassentheorie, die aus gesellschaftlichen Lagen und der jeweiligen Einbindung in Produktionsverhältnisse auf Veränderungspotentiale und -bereitschaften schließt, sind lange obsolet geworden. Kritische Potentiale und oppositionelle Kräfte haben keinen festen gesellschaftlichen Ort mehr, sie können überall aufbrechen. Dies ist nicht zuletzt eine zentrale Botschaft der in sich sehr heterogenen Proteste und Oppositionsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre, die mit Herbert Marcuse auf den gemeinsamen Nenner einer „rebellischen Subjektivität“ gebracht werden können.20 Mit dem privilegierten Ort verschwinden auch die oppositionellen Gewissheiten. Proteste und soziale Bewegungen sind und bleiben in ihrem Widerspruch und ihrer Veränderungspraxis in die bestehenden Gesellschaftsstrukturen eingebunden. Es gibt keinen sicheren Ort „außerhalb“. Dies macht die besondere Fragilität von Protest und Widerspruch aus und verweist auf die Notwendigkeit, eigene Organisationsformen zu finden, die in der Lage sind, Protest auf Dauer zu stellen. „Die Selbstveränderung der Menschen, ihrer Verhaltens- und Bewusstseinsformen, ist ein komplizierter und schwieriger Prozess mit offenem Ausgang“.21 Auch wenn zahlreiche und in den letzten Jahrzehnten durchaus zunehmende Aufbrüche in Protesten, neuen sozia18 19 20 21

von Saldern/Hachtmann 2009. Hirsch 2007, S. 182. Roth 1985. Hirsch 2007, S. 183; vgl. auch Novy 2012.

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len Bewegungen und globalisierungskritischen Mobilisierungen diese Lesart eines radikalen Reformismus bestärken, kommt es immer wieder zu Abbrüchen und Rückentwicklungen. Selbst in der gerne zitierten deutschen Version des zapatistischen Mottos „Fragend schreiten wir voran“ (preguntando caminamos) steckt noch die Zuversicht eines Voranschreitens, für das es keine historische Gewissheit gibt. Schließlich gewinnt sechstens der radikale Reformismus sein spezifisches Profil durch ein besonderes Staats- und Politikverständnis. Der völlige Verzicht, staatliche Politik in radikalen Veränderungsstrategien mitzudenken, wie er in den verschiedenen Traditionen von „autonomia“ und „multitude“ immer wieder beschworen wird22, erscheint aus dem Blickwinkel eines radikalen Reformismus ebenso illusionär wie die Erwartung, staatliche Reformpolitik allein könne genügen, um den Weg für eine nachkapitalistische Gesellschaft freizumachen. Dafür lassen sich eine Reihe unterschiedlicher Begründungen finden: a) Die Hoffnung auf ein dauerhaftes Außerhalb kapitalistischer Vergesellschaftung ist in dem Maße illusionär geworden, wie die Zangenbewegung von Durchstaatlichung und Durchkapitalisierung im globalen Norden voranschreitet.23 Spätestens mit dem Fordismus ist diese Situation in der „westlichen Welt“ gegeben. Damit ist keine Geringschätzung spontaner Aufbrüche oder radikaler Experimente – von selbstverwalteten Betrieben und besetzten Häusern bis zur Versammlungsdemokratie auf öffentlichen Plätzen – verbunden, aber auch die sich als „autonom“ begreifenden zivilgesellschaftlichen Initiativen und ihre Akteure sind den Zwängen dieser Zangenbewegung ausgesetzt. Aus Sicht der Staatsmacht wird die Zivilgesellschaft zum „erweiterten Staat“ (Gramsci), aus ökonomischer Perspektive zur Innovationsquelle für neue Produkte und Dienstleistungen. Oppositionsbewegungen stehen deshalb vor der permanenten Herausforderung, ihren radikalen, teils staatskritischen, teils alternativökonomischen Eigensinn zu bewahren. b) Der lange Weg in eine nachkapitalistische Gesellschaft kommt deshalb ohne institutionelle Zugeständnisse und Absicherungen einmal erreichter Errungenschaften auf Dauer nicht aus. Spätestens hier kommt – zumindest in den reichen Ländern des Nordens - staatliche Reformpolitik ins Spiel. Eine offene Frage ist dabei, ob solche Reformen so angelegt sind oder zumindest sein können, dass sie ihre rebellischen Veränderungsquellen nicht austrocknen. „Radikal“ sind sie erst dann, wenn sie entweder dazu beitragen, gesellschaftliche Reproduktionsbedingungen zu dekommodifizieren und sie damit ökonomischen Imperativen wenigstens teilweise zu entziehen oder möglichst staatsfernere und herrschaftsarme Räume der Selbsttätigkeit und Selbstorganisation zu erhalten und zu erweitern. Analytisch ausgemacht ist da-

22 Vgl. hierzu die Kontroversen zwischen John Holloway und Joachim Hirsch sowie dessen Kritik an Hardt und Negri, Holloway 1997; Hirsch 2003b. 23 Vgl. Hirsch 1980.

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bei, dass dies nur graduell und in permanenten Auseinandersetzungen gelingen kann. c) Radikaler Reformismus geht von der kapitalistischen Formbestimmtheit des Staates aus und kritisiert damit jenes „neutrale“ Staatsverständnis von einem beliebig einsetzbaren Machtapparat, das den klassischen Vorstellungen von Reform und Revolution meist zugrunde liegt und eine Quelle ihres Scheiterns darstellt (vgl. die Beiträge von Jessop und Buckel/Kannankulam in diesem Band). d) Die kapitalistische Formbestimmtheit des Staates stellt oppositionelle Bewegungen vor eine doppelte Herausforderung. Einerseits geht es darum, alternative, staatsferne und emanzipatorische Formen von Politik zu erfinden und zu praktizieren, die einen Weg aus der herrschaftlichen Einbindung bieten „und einen Politikbegriff zu praktizieren, der das »Politische« am »Privaten« zu seinem Gegenstand macht“.24 Andererseits kann und sollte emanzipatorische Politik nicht die Möglichkeiten staatlicher Politik außer Acht lassen, „weil auf dieser Ebene nicht nur Bedingungen gesetzt, sondern auch erkämpfte soziale Rechte und Kompromisse verbindlich festgeschrieben werden können. Sie ist aber nicht der Kern und der Hauptansatzpunkt emanzipatorischen Handelns“.25 Hier liegt auch die Differenz zur zitierten Lesart des radikalen Reformismus von Jürgen Habermas, der den Akzent vor allem auf staatliche Reformtätigkeit setzt.

2. Radikaler Reformismus bei Joachim Hirsch Joachim Hirsch hat die in Umrissen skizzierte politische Leitidee eines radikalen Reformismus seit den 1970er Jahren in zahlreichen Schriften und Debattenbeiträgen auf eine originelle und einflussreiche Weise geprägt. Es fehlt bislang eine umfassende und resümierende Darstellung dieser vielfältigen öffentlichen Interventionen. Das sicherlich lohnende Unternehmen, dies auch nur in Ansätzen zu versuchen, müsste den Rahmen eines kurzen Buchbeitrags notwendig sprengen. Auch in der Summe ergäbe sich daraus, so meine Vermutung, aber kein konsistentes und umfassendes Konzept der Gesellschaftsveränderung oder gar eine aussichtsreiche Strategie mittlerer Reichweite – wenn es sie überhaupt geben kann. Stattdessen möchte ich als langjähriger Weggefährte, Freund und Mitstreiter einige Merkmale seiner kritischen wissenschaftlichen und politischen Praxis hervorheben, die aus meiner Sicht das besondere Profil und die politische Produktivität seiner Interventionen ausmachen. Sie lassen sich zugleich als Merkposten für eine kritische intellektuelle Praxis verstehen, die aktueller und notwendiger denn je ist.

24 Hirsch 2007, S. 183. 25 Ebd.

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2.1 Analyse und Kritik des Staates als Daueraufgabe „Veränderungen der staatlichen Politik und der staatlichen Apparate sind immer die Folge sozialer Bewegungen, hegemonialer Kämpfe und einer Transformation gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Es geht um eine Politik innerhalb und gegen den Staat.“26

Die materialistische Staatsdebatte der 1960er und 1970er Jahre hat keinen guten Ruf. Dies gilt vor allem für die Varianten des „Ableitungsmarxismus“, der von vielen als steril, scholastisch und substanzarm angesehen wird (vgl. den Beitrag von Buckel/Kannankulam in diesem Band). In der Tat ist die Wieder- oder Neulektüre der Texte aus jener Zeit mühevoll. Dies gilt auch für einige Debattenbeiträge von Joachim Hirsch aus den 1970er Jahren, die ihn als einen der Protagonisten der deutschen Staatsableitungsdebatte ausweisen.27 Aber auch in diesen eher sperrigen Texten macht Hirsch immer wieder deutlich, dass es nicht genügt, aus Marxschen Denkfiguren – eine Staatstheorie hat Marx bekanntlich nicht hinterlassen28 – die kapitalistische Formbestimmtheit des Staates zu deduzieren. Als Politikwissenschaftler hatte er sich bereits zuvor intensiv mit der aktuellen staatlichen Praxis in der öffentlichen Verwaltung, den Ansätzen zur zentralen Planung und Steuerung auf Bundesebene, den Budgetprozessen im Parlament sowie der Wissenschafts- und Bildungspolitik befasst.29 Noch bevor er dies in dieser Begrifflichkeit gefasst hat, ist er auf den widersprüchlichen, krisenhaften und kapitalistisch formbestimmten Charakter staatlicher Politik aufmerksam geworden und hat sie in verschiedenen Politikfeldern analysiert. Dieses Interesse an der konkreten Staatstätigkeit und ihren Veränderungen durchzieht auch seine späteren Arbeiten. Dabei fällt auf, dass er sich wenig um begriffliche Kontinuitäten oder ein einheitliches Theoriegebäude geschert hat. Die Abfolge solcher Begriffe und Konzepte wie Spätkapitalismus,30 staatsmonopolistischer Kapitalismus,31 politisches System,32 bürgerlicher Staat,33 autoritärer Staat bzw. fordistischer Sicherheitsstaat34 und nationaler Wettbewerbsstaat35 sind Ausdruck von intellektuellen Suchbewegungen, in denen es nicht um die Bewahrung und Ausschmückung von einmal formulierten Theoriegebäuden geht, sondern das Interesse dominiert, aktuellen Transformationsprozessen staatlicher Politik zeitdiagnostisch auf der 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

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Hirsch 2013, S. 107. Hirsch 1973; 1974; 1976. Vgl. Hirsch/Kannankulam/Wissel 2015. U.a. Hirsch 1968;1970; Hirsch/Leibfried 1971. Hirsch 1970. Hirsch/Leibfried 1971. Hirsch 1974. Hirsch 1976. Hirsch 1980. Hirsch 1994.

Spur zu bleiben – nicht zuletzt, um deren jeweilige Ergebnisse zeitnah und möglichst konkret in die aktuelle politische Debatte einzubringen. Wie dringlich diese empirische Neugierde und Offenheit ist, haben Entwicklungen nach dem Ende des Fordismus als prägender Gesellschaftsformation eindrucksvoll bestätigt. Zwar lässt sich ein stabiler herrschaftlicher Kern staatlichen Handelns ausmachen, wobei sich viele Veränderungen, auch jene staatlicher Politik, pfadabhängig bewegen.36 Politischen Kämpfen und Kräftekonstellationen kommt offensichtlich einiges Gewicht bei der Suche und Ausgestaltung der jeweiligen nationalen Varianten staatlicher Politik zu.37 Zudem sind gerade auf kommunaler Ebene Elemente veränderter Staatlichkeit auszumachen, die zivilgesellschaftliche Initiativen, bürgerschaftliches Engagement und Proteste einbindet. „Governance“, „Bürgerkommune“ oder „vielfältige Demokratie“ sind einige Stichworte in der Debatte über diese Formveränderungen, die aus Hirschs staatskritischer Perspektive nicht überraschen kann. Denn auch die Zivilgesellschaft wird nicht zuletzt „von der politischen Form des Staates geprägt … Es ist deshalb falsch, eine einfache Entgegensetzung von „Staat“ und „Zivilgesellschaft“ anzunehmen, wie es sowohl in der herrschenden politischen Theorie als auch im Feuilleton oft getan wird“.38 Der zeitnahen und möglichst detaillierten Analyse und Kritik staatlicher Politik und ihrer zivilgesellschaftlichen Erweiterungen kommt deshalb, darauf hat Hirsch stets aufmerksam gemacht, zentrale Bedeutung zu, wenn es um die Möglichkeiten und praktischen Perspektiven eines radikalen Reformismus geht.

2.2 Auf die konkreten gesellschaftlichen Kontexte kommt es an Es gehört zu den besonderen Herausforderungen des radikalen Reformismus, dass er ohne eine gesellschaftsanalytische Fundierung nicht auskommt, weil er auf mehr zielt als die Eroberung politischer Macht und ein auf diesem Wege realisierbares Programm staatlicher Reformen. Gesellschaftliche Konfliktlinien und Widersprüche spielen eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Veränderungspotentiale auszuloten und die beteiligten Akteure zu ermutigen und vor herrschaftlichen Rückbildungen zu warnen. Mehr als in einzelnen Texten und Zitaten nachzulesen, dürfte für Joachim Hirsch das Erbe der Kritischen Theorie für wichtige Impulse gesorgt haben. Auch das besondere intellektuelle Milieu in Frankfurt am Main und die vielfältigen Kooperationsbeziehungen mit Lehrenden und Studierenden an dem interdisziplinär aufgestellten Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe 36 Vgl. zur Debatte um „Spielarten des Kapitalismus“ Boyer 2015; 2016; Peck/Theodore 2007; Jessop 2014. 37 Vgl. zu diesen „varieties of state experience“ Hall 2015; 2018. 38 Hirsch 2013, S. 98.

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Universität wirkten prägend. Grundlegend ist ein emphatischer Begriff von Gesellschaft („Sie ist wesentlich Prozess“ – Adorno),39 d.h. die Überzeugung eines formationsspezifischen und zugleich prozesshaften gesellschaftlichen Zusammenhangs, von Formen der kapitalistischen Vergesellschaftung, die in allen Lebensäußerungen spürbar sind. Vor allem mit zwei sich ergänzenden Konzepten hat Hirsch dieses anspruchsvolle Analyseprogramm für die Gesellschaft der Bundesrepublik konkretisiert. Bezugspunkt war zunächst die Debatte über das „Modell Deutschland“,40 die sich – ausgehend von einem politischen Propaganda-Begriff - intensiv mit den Besonderheiten und sozialen wie politischen Folgen eines exportorientierten Wachstumsmodells und seinen Krisen befasste. Eine deutliche historische und systematische Erweiterung dieser Untersuchungsperspektive war mit der Rezeption und Weiterentwicklung der Arbeiten aus der französischen Regulationsschule verbunden (vgl. die Beiträge von Görg und Jessop in diesem Band). Dabei geht es erstens darum, die krisenhafte Entwicklungsdynamik kapitalistischer Formationen historisch und systematisch zu erfassen, aktuellen Krisen- und Konfliktpotentiale sichtbar zu machen und mögliche alternative Wege aus der Krise zu diskutieren. Im analytischen Zentrum steht vor allem die prägende Kapitalismusformation der Nachkriegszeit, der Fordismus, dessen Krisenpotentiale seit den 1970er Jahren unübersehbar geworden waren. Regulationstheoretisch betrachtet geht es seit der Fordismuskrise um das Neue Gesicht des Kapitalismus.41 Dieser historisierende Blick auf den tiefgreifenden Formwandel kapitalistischer Vergesellschaftung in den letzten beiden Jahrhunderten bewahrt nicht nur vor Attentismus und Krisenspekulationen, die auf ein rasches Ende des Kapitalismus setzen, wo es doch eher um einen Abschied vom „Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ geht.42 Er eröffnet auch die Perspektive auf alternative Gestaltungsmöglichkeiten im Kapitalismus und – mit Einschränkungen - auch darüber hinaus. Mindestens ebenso wichtig ist ein zweites Versprechen des Regulationsansatzes, nämlich die systematische konzeptionelle Verknüpfung von ökonomischer Kapitalismusdynamik und der dazu gehörenden Gesellschaftsformation. Mit dem Begriffspaar „Akkumulationsregime“ und „Regulationsweisen“ und seinen Differenzierungen wird ein Instrumentarium angeboten, das die Verknüpfungen und Kohärenz von bestimmten Lohnformen, Arbeitsprozessen, Lebensweisen oder Konsummustern mit einem spezifischen Akkumulationsregime diskutierbar macht und damit sozialwissenschaftlich erweitert. Ein erwünschter Nebeneffekt ist sicherlich die Aufwertung von Protestbewegungen und Widerständen, die sich gegen bestimmte Reprodukti39 40 41 42

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Adorno 1966, S. 636. Hirsch 1980. Hirsch/Roth 1986; Hirsch 1990; 2001. Gibson-Graham 2006; Altvater 2009.

onsformen wenden (vom Naturverhältnis über Geschlechterhierarchien bis zum städtebaulichen Funktionalismus), ohne sich selbst als „antikapitalistisch“ zu verstehen. Bis heute gibt es eine Fülle von Unsicherheiten, wie weit der Regulationsansatz wirklich trägt.43 Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die kompakte Beschreibung des historischen Fordismus eine geeignete Folie für die Analyse postfordistischer Verhältnisse abgeben kann und die mit dem Regulationsansatz verbundenen Erwartungen an Kohärenz und Artikulation eher eine Ausnahme als die Regel kapitalistischer Entwicklungsdynamik darstellen. Joachim Hirsch hat in den letzten Jahrzehnten einige dieser Kritiken aufgegriffen und den Versuch unternommen, sichtbare Lücken des Regulationsansatzes z.B. durch staatstheoretische und akteursbezogene Überlegungen zu füllen. Wichtiger sind vermutlich seine Impulse, die Konturen eines Postfordismus im Kontext von ökonomischer Globalisierung und einer Internationalisierung staatlicher Strukturen und Regulationen genauer zu erfassen.44 Aktuell gibt es eine Fülle von Baustellen, an denen zu arbeiten ist, um zu einer verlässlichen Einschätzung der kapitalistischen Entwicklungsdynamiken und der durch sie geprägten Gesellschaftsstrukturen zu gelangen. Einige wenige Hinweise sollen genügen: Gewiss scheinen gegenwärtig lediglich beschleunigte Veränderungsprozesse, ohne dass sich klare Konturen einer neuen dominanten und für eine Zeit stabilen Gesellschaftsformation herausgebildet hätten. Dies beginnt mit der Unsicherheit, ob es bereits so etwas wie ein hegemoniales postfordistisches Wachstumsmodell (oder mehrere davon) gibt. Befinden wir uns mit Blick auf Trump und Brexit bereits am Ende einer Phase der Globalisierung?45 Sind der Aufschwung extrem nationalistischer und rechtspopulistischer Kräfte und damit verbunden die autoritären Rückentwicklungen in zahlreichen „liberalen“ Demokratien ein konstitutiver Ausdruck dieses Prozesses? Wie werden die nationalen Gesellschaften nach ihrer protektionistischen Schließung aussehen? Quer dazu stellt sich die Frage nach dem „technologischen Fix“ und der kapitalistischen Formbestimmtheit der Produktivkraftentwicklung mit dem Siegeszug der neuen Kommunikationstechnologien und der Ausbreitung der Digitalisierung in allen Lebensbereichen erneut mit aller Schärfe. Zieht man den Marketinghype von 2.0 bis 4.0 ab, dann werden Auseinandersetzungen um neue Formen der Vergesellschaftung sichtbar, die kaum einen Lebensbereich unverändert lassen. Wie schon in der Debatte über den historischen Fordismus, die Fließbandproduktion und sein emblematisches „Modell T“ koexistieren aktuell hoffnungsvolle Projektionen eines heraufziehenden digitalen „Postkapitalismus“ und sein befreiendes „Internet der Din43 Esser/Görg/Hirsch 1994. 44 Hirsch 1994; 1997; 2005; Hirsch/Wissel 2011; vgl. auch den Beitrag von Brand in diesem Band. 45 King 2017; Schirm 2017.

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ge“46 neben düstersten Gesellschaftsprognosen, gegen die sich Orwells „1984“ wie ein Idyll ausnimmt.47 Dabei wird in den aktuellen Debatten gerne übersehen, dass auch Taylorismus und Fordismus in ihrer Frühzeit als postkapitalistische und ökologische Projekte beworben wurden.48 Dass ausgerechnet in Staaten wie China, die einst linke Hoffnungen gebunden haben, internetgestützte totalitäre Kontrollpraktiken aktuell die stärkste Ausbreitung erfahren, sollte Visionen einer grundsätzlich befreienden Wirkung der neuen Kommunikationstechnologien zusätzlich dämpfen. Unstrittig scheint jedenfalls, dass sich im „digitalen Kapitalismus“ Formen der politischen Mobilisierung und Repräsentation in einer Weise ändern, die den Abschied von den klassischen Parteien- und Verbandssystemen beschleunigen49.

2.3 Proteste und soziale Bewegungen als Hoffnungsträger und Lernchance „Statt auf staatliche Macht zu setzen, kommt es also vorrangig darauf an, die Gesellschaft ‚praktisch zu revolutionieren', wie Marx das ausgedrückt hat. Man kann dies als ‚radikalen Reformismus' bezeichnen, ‚radikal' deshalb, weil auf die Wurzel der gesellschaftlichen Verhältnisse gezielt wird, ‚reformistisch', weil dies ein langwieriger und konflikthafter Prozess ist. Es ginge um eine Selbstrevolutionierung der Gesellschaft. Um einen derartigen Prozess voranzutreiben, bedürfte es politisch-sozialer Bewegungen und in deren Zusammenhang der Entwicklung von Formen politisch-sozialer Selbstorganisation unabhängig von den bestehenden Herrschaftsapparaten.“50

Radikaler Reformismus im Sinne von Joachim Hirsch ist ohne den Bezug auf die zeitgenössischen Proteste und soziale Bewegungen, ihre Motive und Oppositionspraxis nicht denkbar. Sie signalisieren nicht nur den Wunsch und die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft, sondern schreiben auch das Skript für notwendige Veränderungen und die dabei zu gehenden Wege. Diese empirische Haltung unterscheidet sich deutlich von Zugängen, die in erster Linie auf eine staatliche Reformpraxis und ihre tragenden kollektiven Akteure setzt. Für Hirsch nehmen Proteste und soziale

46 Srnicek/Williams 2015; Mason 2016. 47 So Evgeny Morozov in zahlreichen Publikationen, z.B. Morozov 2011. 48 Vgl. Ford 1923; 1926; zum historischen Kontext vgl. Lacey 1986. Wie sehr die gepriesenen Vorzüge der virtuellen und digitalen Welten auf unzulässigen Abstraktionen und Verheißungen aus einer Konsumentenperspektive beruhen, zeigt Nicole M. Aschoff in einem eindrucksvollen Essay über die „Smartphone Gesellschaft“, in der sie von dem Gedankenexperiment ausgeht, dass Smartphones unser Leben und Arbeiten in ähnlicher Weise prägen könnten wie das Automobil im 20. Jahrhundert (Aschoff 2015) – zum Ressourcenbedarf von 4.0 vgl. Groneweg u.a. 2017. 49 Dafür steht nicht nur der twitternde Trump, sondern die Karriere von politischen Formationen, die sich selbst als „vernetzte Bewegung“ definieren, wie zum Beispiel das italienische „Movimento Cinque Stelle“, das bei den nationalen Wahlen 2013 aus dem Stand ein Viertel der Stimmen gewinnen konnte. 50 Hirsch 2008, S. 3.

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Bewegungen die erste Stelle in Befreiungsprozessen ein. Staatliche Initiativen und Reformansätze haben im besten und gelungenen Falle unterstützende Funktion. Diese Gewichtung ist keineswegs selbstverständlich. Ein wichtiger Ausgangspunkt in der Debatte über radikalen Reformismus waren die Ansätze zu einer radikalen Praxis in den akademischen Humandienstleistungsberufen (besonders in der Sozialen Arbeit, im Gesundheitswesen, in Schulen und Hochschulen) in den 1970er Jahren. In Deutschland war es vor allem das „Sozialistische Büro“, in dem sich die Akteure kritischer Berufspraxis zusammenfanden, die nicht „Berufsrevolutionäre“, sondern „Revolutionäre im Beruf“ sein wollten – um eine damals populäre Forderungen aufzugreifen. Ob und wie weit dies in staatlichen Institutionen mit ihren herrschaftlichen Funktionen und Absicherungen überhaupt möglich ist, galt es praktisch auszuloten. In der Bundesrepublik wurden diese Versuche bereits zu Beginn der 1970er Jahre von Berufsverboten und repressiven Überwachungspraktiken überschattet, ohne jedoch völlig zu verschwinden. Im Kontext des radikalen Professionalismus entstand auch eine, die Debatte über den radikalen Reformismus prägende Denkfigur „In and against the state“.51 Die in sich sehr heterogenen Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre, Bürgerinitiativen, Hausbesetzungen, die Projekte der Alternativbewegung und vor allem die neuen sozialen Bewegungen bilden einen nächsten Wachstumsring für die Konturen eines radikalen Reformismus, der nun deutlich weniger auf die Möglichkeiten kritischer Berufspraxis im Staatsdienst setzt, sondern stärker zivilgesellschaftliche Selbstorganisation, präfigurative Praxis und kulturelle Selbstveränderung betont.52 Auch in der Folgezeit bleibt Hirsch der Bewegungspraxis auf der Spur, setzt sich intensiver mit international tätigen Nichtregierungsorganisationen, globalisierungskritischen Protesten von Seattle bis „Occupy“ und den revolutionären Aufbrüchen in Lateinamerika auseinander, ohne seinen Grundansatz zu verändern. Allerdings fallen seine Zwischenbilanzen zunehmend skeptisch aus. „Ob und inwieweit im Kontext der neueren globalisierungskritischen Bewegung der Falle der Staatsfixierung entgangen werden wird und sich stattdessen Praxis- und Erfahrungszusammenhänge für eine unmittelbare Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln, ist vorerst noch offen“.53

Ein halbes Jahrzehnt später schreibt Hirsch diesen Text mit einem skeptischen Unterton fort: „Auch die im Zuge der neuesten ‚Finanz’-Krise entstandene ‚Occupy’Bewegung scheint sich zunächst darin zu erschöpfen, Forderungen an Staaten zu

51 London Edinburgh Weekend Return Group 1979; vgl. den Beitrag von Holloway in diesem Band. 52 Hirsch 1980a. 53 Hirsch 2007, S. 183.

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stellen. Vorstellungen zu konkreten gesellschaftlichen Alternativen sind derzeit kaum noch sichtbar“.54 Es kann hier offenbleiben, ob Hirsch mit seinen Einschätzungen der vielfältigen und global gestreuten politischen Emanzipationsbestrebungen gegen einen „autoritären Neoliberalismus“ in den letzten Jahrzehnten immer richtig gelegen hat. Es lohnt sicherlich ein genauerer Blick auf die in Deutschland zwar schwachen, aber in der europäischen und globalen Peripherie durchaus einflussreichen Proteste, Bewegungen und neuen Parteien, die nach der Finanzkrise von 2008 und gegen eine von Austerität geprägte Krisenpolitik aufbegehrt haben.55 Instruktiv ist in jedem Fall Hirschs Grundhaltung gegenüber Protesten und sozialen Bewegungen. Er schreibt in der Regel weder als Aktivist, der unmittelbar Einfluss nehmen will, noch als Prophet, der inspirierende Zukunftsvisionen verkündet. Vielmehr versucht er einerseits nüchtern den möglichen Sinn und die möglichen Ziele der Protestbewegungen positiv herauszuarbeiten. Andererseits hält er kritische Distanz, indem er auf die Gefahren einer Verstaatlichung der Alternativen oder ihre mögliche Funktionalisierung als kapitalistische Innovationsquelle aufmerksam macht.

2.4 Politisches Engagement, Distanz zum akademischen Betrieb und Alternativen denken Zum Profil und zur besonderen Glaubwürdigkeit von Joachim Hirsch als Impulsgeber für einen radikalen Reformismus gehört sein dauerhaftes politisches Engagement in Initiativen, Gruppen, Redaktionen und Organisationen, die sich für eine radikale Gesellschaftsveränderung einsetzen. Die jüngste Wiederentdeckung einer „public sociology“,56 einer engagierten und progressiven Politik- und Sozialwissenschaft, die sich in öffentliche Debatten einmischt, ist für Joachim Hirsch eine biografische Selbstverständlichkeit. Zu seinen Etappen gehören das Sozialistisches Büro und die links-Redaktion und in der Nachfolge das links-Netz. Es folgen das Engagement im Komitee für Grundrechte und Demokratie und bei medico international, um nur einige seiner dauerhaften politischen Aktionsfelder jenseits der Beteiligung an zahlreichen lokalen Protesten und sozialen Bewegungen zu nennen. Es ist diese besondere Nähe zur Veränderungspraxis, die seine Lesart des radikalen Reformismus in Form und Inhalt geprägt hat. Um es salopp zu formulieren: er weiß, wovon er redet. „In and against“ hat auch seine Praxis als Hochschullehrer bestimmt. Von seinen Seminaren sind immer wieder politische Impulse ausgegangen. Viele seiner Bücher 54 Hirsch 2012, S. 235. 55 Vgl. della Porta 2015; 2017. 56 Burawoy 2015.

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haben einen langen Vorlauf im Hochschulalltag. Auf die Möglichkeiten und Freiräume, die sich einem Hochschullehrer bieten, wollte er nicht verzichten. Gleichzeitig ging er nach eher konventionellen Anfängen auf wachsende Distanz zum Fach – oft sehr zum Leidwesen seiner MitarbeiterInnen, die bei ihren Karrieren keinen Bonus durch den akademischen Betrieb erwarten konnten. Die Distanz zum akademischen Betrieb ist jedoch nicht nur Ergebnis einer individuellen Haltung, sondern auch durch die regressive Entwicklung der Politikwissenschaft nach den Provokationen von 1968 befördert worden. In ihrem Selbstverständnis als separate Disziplin infrage gestellt, hat der Mainstream des Faches mit seiner Selbstakademisierung reagiert. Ihre Restbestände politischer Praxis bewegen sich zwischen einer paradoxen Volkserziehung, die unablässig jene demokratischen Normen predigt, die im Alltag sträflich verletzt werden, und einem selbstbegrenzten Machiavellismus, der in erster Linie das Ohr der Herrschenden sucht, anstatt zur politisch-gesellschaftlichen Selbstaufklärung einer breiten Öffentlichkeit beizutragen. Bestätigung und Ermutigung für sein Festhalten an einer herrschaftskritischen akademischen Praxis kamen aus anderen Quellen. Dazu gehören sicherlich auch seine zahlreichen internationalen Kontakte und Vernetzungen – von der britischen CSE (Conference of Socialist Economists) in den 1970er Jahren und französischen Gruppen um Poulantzas und die Regulationsschule bis hin zu den zahlreichen Kontakten und Aufenthalten in den beiden Amerikas, um nur einige geografische Orte zu nennen. Diese gelebte Internationalität hat nicht nur den intellektuellen Horizont seiner Analysen und Vorschläge erweitert, sondern auch zu ihrer internationalen Resonanz beigetragen (vgl. den Beitrag von Piva in diesem Band). Schließlich sei noch auf ein weiteres produktives Element des radikalen Reformismus von Joachim Hirsch verwiesen. Dass sich PolitikwissenschaftlerInnen an der Debatte über Zukunftsentwürfe und gesellschaftliche Alternativen mit eigenen Vorschlägen beteiligen, ist eher ungewöhnlich. Zu Joachim Hirschs Verständnis von radikalem Reformismus gehört diese riskante Version intellektueller Praxis, die sich leicht an der Wirklichkeit blamieren kann. Reale Utopien sind für ihn „keine Blaupause für eine andere Gesellschaft, sondern soll(en) ein Vorschlag sein, einmal ganz anders über die Gesellschaft, über die Entwicklung neuer Formen der Vergesellschaftung und über veränderte gesellschaftliche Institutionen nachzudenken. Wenn dieses Nachdenken schrittweise praktisch würde, wenn es gelänge, dem herrschenden Bewusstsein andere Dimensionen zu verleihen, wäre dies zweifellos folgenreich“.57

Mit seinen Impulsen für eine „soziale Infrastruktur“ hat er sich nachdrücklich für die Erhaltung und den egalitären Ausbau herrschaftsarmer und dekommodifizierter öffentlicher Einrichtungen (von den Schulen über den öffentlichen Nahverkehr bis hin zur unentgeltlichen Gesundheitsversorgung) eingesetzt (vgl. den Beitrag von Martin/ 57 Hirsch 2003a.

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Wissel in diesem Band). Ein weiteres Beispiel sind seine Debattenbeiträge für ein bedingungsloses garantiertes Grundeinkommen.58 Auf solche „realen Utopien“ sollte ein radikaler Reformismus nicht verzichten, denn sie können wichtige Orientierungsmarken für mögliche Reformen anbieten und das Denken in gesellschaftlichen Alternativen stärken.59 Gerade mit Blick auf ausgegrenzte Gruppen sind sozialpolitische Alternativen unabdingbar. Gleichzeitig können „reale Utopien“ den Anschluss an notwendige ökologische Transformationsdebatten herstellen.60

3. Eine kurze Zwischenbilanz „Die künftige Geschichte bürgerlicher Herrschaft hängt nicht vorrangig von dem blinden Wirken objektiver Gesetzmäßigkeiten ab, sondern wird letztlich durch den Verlauf der politischen Kämpfe bestimmt.“61

Nach vier Jahrzehnten „radikalen Reformismus“ soll eine knappe Zwischenbilanz mit offenen Fragen diesen Beitrag abschließen. a) Wesentliche Annahmen dieses Konzept haben sich bewährt. In den Ländern des Westens ist es in dieser Zeit nicht zu Revolutionen gekommen. Revolutionäre Bewegungen waren allenfalls lokal und zeitlich begrenzt in der Peripherie des Weltsystems erfolgreich – wie etwa mit großer internationaler Resonanz die Zapatistas in Chiapas.62 Das Versprechen, staatliche Reformpolitik allein könne in den westlichen Demokratien progressive gesellschaftliche Veränderung hervorbringen, ist ebenfalls uneingelöst geblieben. Eine reformpolitische Bilanz der letzten Jahrzehnte fällt eher deprimierend aus.63 Die Reformpraxis von Regierungen der politischen Linken, wie z.B. den Agenda-Reformen der Schröder-Regierung oder die Politik von New Labour unter Tony Blair haben das Projekt eines linken Reformismus (wie den Reformbegriff insgesamt) nachhaltig beschädigt. Erst mit Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ist diese Idee wieder zurück in der politischen Debatte.64 Proteste, zivilgesellschaftliche Initiativen und soziale Bewegungen haben seither eine enorme politische Produktivität entfaltet. Die rebellischen Elemente der Proteste in den 1960er Jahren haben sich verallgemeinert. Auch der globale Süden hat in der Zwischenzeit zahlreiche neue Impulse beigesteuert – von der Praxis der Sozialforen bis zu den Bürgerhaushalten. Auch aktuelle globalisierungskritische und öko58 59 60 61 62 63

Hirsch 2015; 2017. Wright 2010. Vgl. Görg et al. 2017; Görg in diesem Band; Brie 2015; Acosta/Brand 2018. Hirsch 1974, S. 131. Brand/Hirsch 2004. Zur Reformdynamik in den 1970er Jahren in den Niederlanden und der Bundesrepublik vgl. Hellema et al. 2012. 64 Vgl. Coates 2017.

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logische Proteste zeichnen sich erneut oder noch immer durch jenes Spannungsverhältnis von Reform und Revolution aus, das dem radikalen Reformismus inne wohnt.65 b) Trotzdem verbietet sich eine schlichte Erfolgsbilanz. Mit dem Ende des Fordismus und der dichten Folge von globalen Protesten und sozialen Bewegungen ist nicht nur die Tiefe und Vielfalt der gesellschaftlichen Krisen offensichtlich geworden, sondern auch der enorme gesellschaftliche Veränderungsbedarf national wie transnational. Richtete sich der radikale Reformismus in den 1960er und 1970er Jahren noch gegen ein vergleichsweise geschlossenes, fordistisch geprägtes Modell der Vergesellschaftung, so geht es heute um disparate Entwicklungen, in denen sich Zerfall und Neuformierung verschmelzen. Nach und mit dem Neoliberalismus verdüstern zudem autoritäre Regime, rechtspopulistische Bewegungen und Regierungen die Aussicht auf eine befreiende Veränderungsperspektive.66 Viele der oppositionellen Vernetzungs- und Aktionspraktiken, wie z.B. die Sozialforen oder die OccupyBewegung, waren eine Weile erfolgreich, konnten aber keine dauerhaften Gegenstrukturen ausbilden. Wer an der Idee einer menschenrechtlich begründeten, ökologisch nachhaltigen und herrschaftsfreien nachkapitalistischen Gesellschaft festhält, wird auch an der Strategie des radikalen Reformismus festhalten müssen. Aber der Blick fällt dabei auf ein Patchwork an Möglichkeiten, nicht auf eine Strategie von benennbaren und konkret kooperierenden Akteuren. Weniger denn je genügt ein Sammelsurium an oppositionellen Haltungen und punktuellen Protesten, denn für die Erwartung, sie könnten spontan zu einer Bewegung mit einer gemeinsamen Agenda verschmelzen, gibt es keine empirischen Anhaltspunkte. Mit der massiven Wiederkehr der „alten“ sozialen Fragen in Gestalt von Prekarisierung, sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, Raubbau und blutiger Ausbeutung scheinen aber dauerhafte Strategien und Netzwerke dringender denn je, die traditionelle Organisationsaufgaben und -ansätze der Arbeiterbewegung mit den neuen Themen und Formen des Protests verknüpfen.67 c) Auch die staats- und gesellschaftstheoretischen Herausforderungen sind in den letzten Jahren enorm angewachsen. Das Bild der nachfordistischen Gesellschaft und eines neuen Akkumulationsregimes existiert allenfalls in groben Umrissen. Welchen Reim können wir uns mit regulationstheoretischen Mitteln auf die aktuellen Renationalisierungstendenzen machen, die lange vor „America First“ den politischen Raum 65 Vgl. Zajak u.a. 2017. 66 Zum systematischen Zusammenhang von Neoliberalismus und autoritärer Staatlichkeit vgl. Roberts 2010. 67 „Successful emancipatory politics are premised on the transnationalization of the dominated classes, which are, however, faced with deep divisions even stronger than those of the ruling classes. As a result, potential changes in power relations depend on the question of how far it is possible to establish new, transnational forms of movement and organization, which include both the established, unionized sectors of wage labour and less state-centred actors with corresponding strategies.“ (Hirsch/Wissel 2011, S. 29). Vgl. Davis 2017.

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erobert haben?68 Migrationsbewegungen geben zusätzlich Anlass zur Frage „Den Staat neu denken?“ – unter diesem Titel hatte im November 2017 die Eidgenössische Migrationskommission zu einer Tagung eingeladen, auf der über die Bedeutung von staatlichen Grenzen und Staatlichkeit unter den Bedingungen von weltweiten Migrationsbewegungen diskutiert wurde. Die Liste der Desiderate lässt sich unschwer verlängern. d) Schließlich ist deutlich geworden, dass die Frage nach den angemessenen politischen Formen des radikalen Reformismus heute mehr Aufmerksamkeit erfordert. Sie lassen sich nicht allein durch die maximale Distanz zum Staat und dem darauf bezogenen Vermittlungssystem von politischen Parteien und Verbänden gewinnen. In den Protesten und sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte ist ein erweitertes radikaldemokratisches Demokratieverständnis zum Ausdruck gekommen, das immer wieder zu neuen Mobilisierungs-, Aktions- und Organisationsformen inspiriert hat.69 So wurde z.B. in den Anti-Austeritätsprotesten nach der Finanzkrise von 2008 in vielen Ländern Süd- und Mitteleuropas die alte Idee der Versammlungsdemokratie neu belebt. Die klassischen politischen Parteien des fordistischen Zeitalters sind in vielen Ländern auf dem Rückzug oder weitgehend verschwunden. Die Kluft zwischen demokratischen Ansprüchen und der Praxis in postliberalen Demokratien hat sich dramatisch vergrößert und ist zur Einfallsschneise für einen autoritären Populismus geworden. Demokratische Alternativen sind dringlicher denn je. Ohne die Konturen, Methoden und Organisationsformen im Detail zu kennen, ist davon ausgehen, dass die Praxis eines radikalen Reformismus heute nur noch radikaldemokratisch oder gar nicht denkbar ist.

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AutorInnen

Sabah Alnasseri, geb. in Basra/Irak, promovierte an der Johann-Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main zu Regulationstheorie und Arabischem Raum. Er lehrt Nahost-Politik am Department of Politics der York University, Toronto. Seine Forschungsthemen umfassen politische Ökonomie, marxistische Staatstheorie in der Tradition von Gramsci, Poulantzas, Hirsch und Althusser, Theorie der Regulation, soziale Bewegungen und Demokratisierung, sowie politische Ökonomie des Nahen Ostens und Nordafrikas. Er war in den 1990er Jahren Mitglied der „links“-Redaktion, ist Mitbegründer von „links-netz.de“ und Mitglied der Redaktion von „Global Discourse Online“. Ulrich Brand, geb. 1967, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien mit Arbeitsschwerpunkten neoliberale Globalisierung und ihre Krise, Post-Neoliberalismus und Grüner Kapitalismus, internationale Umwelt- und Ressourcenpolitik, Lateinamerika und „imperiale Lebensweise“; theoretisch arbeitet er zur Regulationsund Hegemonietheorie, kritischer Staatstheorie und Politischer Ökologie. Er studierte und promovierte in den 1990er Jahren bei Joachim Hirsch, war Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt und wechselte 2001 in den Bereich „Globalisierung und Politik“ nach Kassel. In den 1990er Jahren war er Mitglied der „links“-Redaktion, ist Mitbegründer von „links-netz.de“, der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung und seit vielen Jahren Mitglied von „medico international“. Sonja Buckel, geb. 1969, Professorin für Politische Theorie an der Universität Kassel mit den Arbeitsschwerpunkten Staats- und Rechtstheorie, kritische Europaforschung. Sie studierte in den 1990er Jahren Jura und Politikwissenschaft in Frankfurt am Main, u.a. bei Joachim Hirsch, war acht Jahre lang Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, wechselte dann an das Frankfurter Institut für Sozialforschung und untersuchte in einem Forschungsprojekt die europäische Migrationspolitik. Sie ist, wie Joachim Hirsch, Gründungsmitglied der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, deren Vorsitz sie zurzeit innehat. Alex Demirović, geb. 1952, Apl. Prof. an der Goethe-Universität Frankfurt, Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte sind Gesellschafts-, Staats-, Demokratietheorie. Aufgrund seines Interesses an materialistischer Staatstheorie nahm er rege an den Kolloquien von Joachim Hirsch teil, stand distanziertkritisch dem Sozialistischen Büro nahe, war mehrere Jahre lang Mitglied der

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„links“-Redaktion sowie Mitbegründer von „links-netz.de“ und der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, Mitglied der Zeitschriftenredaktionen „Prokla“ und „LuXemburg“. Christoph Görg, geb. 1958, Professor für Soziale Ökologie am Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur in Wien. Arbeitsschwerpunkte sind sozialökologische Transformationen, Theorien gesellschaftlicher Naturverhältnisse, Interund Transdisziplinäre Forschungsansätze sowie allgemeine Themen der Umweltpolitik, insbesondere bezogen auf Landnutzung und Ressourcennutzung. Er studierte in den 1980er Jahren in Frankfurt/Main Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie und war nach seiner Promotion von 1990 bis 2002 bei Joachim Hirsch beschäftigt, zunächst in einem Forschungsprojekt zum staatstheoretischen Defizit der Regulationstheorie, danach als wissenschaftlicher Assistent; in dieser Zeit verschiedene gemeinsame Forschungsprojekte und Habilitation zur Regulation der Naturverhältnisse. In den 1990er Jahren Mitglied der „links“-Redaktion und Mitbegründer von „links-netz.de“ sowie der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. John Holloway, Professor für Soziologie am Instituto de Ciencias Sociales y Humanidades an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko und Honorary Visiting Professor an der University of Rhodes in Südafrika sowie an der University of Lincoln in England. Er hat umfangreich zu marxistischer Theorie, zur Bewegung der Zapatistas und zu neuen Formen antikapitalistischer Kämpfe publiziert. Seine Bücher „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ und „Kapitalismus aufbrechen“ haben internationale Debatten angestoßen und wurden in elf Sprachen übersetzt. Seine Arbeit zur Staatsableitungsdebatte („State and Capital“, herausgegeben mit Sol Picciotto) hat ihn in den 1970er Jahren nach Frankfurt, zu Joachim Hirsch und beide zu einer langen, inspirierenden Verbindung geführt. Bob Jessop, geb. 1946, Distinguished Professor für Soziologie an der Universität Lancaster in England. Arbeitsschwerpunkte sind Staatstheorie, Regulationsansatz, kulturelle politische Ökonomie und Krisenanalyse. In den 1980er Jahren diskutierte er intensiv mit Joachim Hirsch über materialistische Staatstheorie und, später, Regulationstheorie. 2001 veröffentlichten beide zusammen den Band „Die Zukunft des Staates: Denationalisierung, Internationalisierung, und Renationalisierung“, mit einem Beitrag von Nicos Poulantzas; und, zusammen mit Alex Demirović, eine neue Ausgabe von Poulantzas’ Staatstheorie (2002). John Kannankulam, geb. 1972, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Marburg mit Arbeitsschwerpunkten zur politischen Ökonomie der BRD sowie der Europäischen Integration, zu materialistischer Staats- und Gesellschaftstheorie

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und den Konflikten um Europäische Migrationspolitik. Er studierte und promovierte in den 1990er und 2000er Jahren bei Joachim Hirsch, war dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter, leitete gemeinsam mit Sonja Buckel und Jens Wissel das DFG-geförderte Forschungsprojekt mit dem Kurztitel „Staatsprojekt Europa“. Er war Mitglied der „links-netz.de“-Redaktion und ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Dirk Martin, geb. 1964, Professor für Sozialpolitik an der Frankfurt University of Applied Sciences. Er hat Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Frankfurt am Main studiert und mit einer Kritik an der Systemtheorie Niklas Luhmanns promoviert. Danach arbeitete er an den Universitäten Frankfurt, Gießen und Kassel und ist Mitglied der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialpolitik, Demokratietheorie und kritische Gesellschaftstheorie. Adrián Piva, geb. 1972, Professor für Soziologie für Historiker an der Universität Buenos Aires, Professor für Geschichte des ökonomischen Denkens an der Nationalen Universität Quilmes und Forscher beim Nationalen Rat für wissenschaftliche und technologische Forschung (CONICET) in Argentinien. Er hat Soziologie an der Universität Buenos Aires studiert und in Sozialwissenschaften an der Nationalen Universität Quilmes promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Verhältnis von Kapitalakkumulation und politischer Herrschaft in Argentinien sowie Klassen-, Staats- und Hegemonietheorie. Joachim Hirsch hat entscheidenden Einfluss auf seine Arbeiten genommen; zwischen 2011 und 2012 konnte er m Rahmen eines Forschungsaufenthalts an der Goethe-Universität Frankfurt unter Hirschs Leitung forschen. Roland Roth, geb. 1949, bis 2014 Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Arbeitsschwerpunkte: Proteste und soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft, Demokratie und Menschrechte, Migration und Integration. Mitbegründer des „Instituts für Protest- und Bewegungsforschung“. Gemeinsames wissenschaftliches und politisches Engagement mit Joachim Hirsch u.a. im Sozialistischen Büro, speziell der „links“-Redaktion, am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt/M., in der Zeitschrift „Gesellschaft – Beiträge zur Marxschen Theorie“ und im „Komitee für Grundrechte und Demokratie“. Birgit Sauer, Universitätsprofessorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie war Mitbegründring des Arbeitskreises „Politik und Geschlecht“ in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft und Sprecherin des Forschungsverbundes „Geschlecht und Handlungsmacht“ an der Universität Wien. Ihre For-

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schungsschwerpunkte sind Staats-, Demokratie und Institutionentheorien sowie Affekte, Emotionen und Politik. Publikationen zur Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben sowie Gouvernementalität und Geschlecht. Sie ist Mitglied der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Jens Wissel, geb. 1968, Professor für Sozialpolitik an der Frankfurt University of Applied Sciences mit den Arbeitsschwerpunkten kritische Staatstheorie, Europäische Union in der Krise, europäische Sozialpolitik, Konzepte und Modelle einer postneoliberalen Sozialpolitik. Er war von 2002 bis 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Promovend bei Joachim Hirsch. In den Jahren 2009-2013 arbeite er gemeinsam mit Sonja Buckel, John Kannankulam und Fabian Georgi in einem Forschungsprojekt zur europäischen Migrationspolitik („Staatsprojekt Europa“). Er ist Gründungsmitglied der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung und in der Redaktion von „links-netz.de“.

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