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German Pages 265 [268] Year 2004
I Zeithorizonte in der Wissenschaft
II
Herausgegeben im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Walter de Gruyter · Berlin · New York
III
Zeithorizonte in der Wissenschaft Herausgegeben von
Dieter Simon
Walter de Gruyter · Berlin · New York
IV Redaktion: Freia Hartung Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften dankt der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften für die freundliche Unterstützung des gleichnamigen 7. Symposiums der deutschen Akademien der Wissenschaften (Berlin, 31. Oktober – 1. November 2002).
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018000-6 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Inhalt Dieter Simon Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Kurt Flasch Philosophie und Epochenbewußtsein . . . . . . . . . . .
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Jürgen Mittelstraß t for two oder: warum Zeit in Theorie und Lebenswelt nicht dasselbe ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Volker Gerhardt Wissen in der Zeit. Zehn Erwägungen zur dauernden Flüchtigkeit des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Markschies Wissen in der Zeit – Drei kurze Erwägungen zu Fortschritten, Rückschritten und Stagnationen in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Mainzer Zeit in dynamischen Systemen. Von der Urzeit zur Computerzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Henning Schmidgen Zeit der Fugen. Über Bewegungsverhältnisse im physiologischen Labor, ca. 1865 . . . . . . . . . . . . . . 101 Martin Quack Zeit und Zeitumkehrsymmetrie in der molekularen Kinetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Eva-Maria Engelen / Martin Korte Auf der Suche nach der (verlorenen) Zeit in der Biologie . 181
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Inhalt
Rainer Maria Kiesow Zeitnot des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Dieter Simon Ein besonders erfolgreiches Langzeitvorhaben . . . . . . 225 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Vorwort
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Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie in Berlin, im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bei der heutigen Veranstaltung handelt es sich um das 7. Interakademische Symposion der deutschen Akademien der Wissenschaften. Diese Veranstaltungsreihe wurde 1995 von der „Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften“ ins Leben gerufen. Inzwischen hat sich die „Konferenz“ zwar in eine „Union“ verwandelt, aber da das ohne Substanzänderung geschah, ist auch das mit den Symposien seinerzeit anvisierte Ziel unverändert geblieben. Das Ziel der in der Union zusammengeschlossenen Akademien ist es, ich zitiere nach der Website der Union, „zu aktuellen Themen, deren Reichweite über rein wissenschaftliche Diskussionen hinausreicht, fundiertes Wissen bereitzustellen“. Ob diese Bereitstellung bislang erfolgreich war, entzieht sich meiner Beurteilungsfähigkeit und meiner Kenntnis. Die letzten Interakademischen Symposien behandelten jedenfalls unter diesem Aspekt vielversprechende Themen: Beim 4. Symposion, in Stuttgart im Oktober 1999, wurde unter der Federführung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften das Thema: „Energie und Umwelt – Wo liegen optimale Lösungen?“ diskutiert. Das 5. Symposion, in München im Februar 2001, widmete sich unter der Federführung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften einer spektakulären Selbstbeobachtung: „Die deutschen Akademien der Wissenschaften: Aufgaben, Herausforderungen, Perspektiven“.
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Vorwort
Und das letzte, das 6. Symposion vom November 2001 in Göttingen unter der Federführung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen galt der aktuellen Frage: „Was nützt uns die Grüne Gentechnik?“ Das diesjährige, diesmal von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgerichtete interakademische Symposion steht unter dem Titel „Zeithorizonte in der Wissenschaft“. Womit, jedenfalls auf den ersten Blick, ein nicht gerade selten behandeltes Thema in Angriff genommen wurde. Allein im Jahre 2000 haben drei bedeutsame Tagungen stattgefunden, bei denen die Zeit im Mittelpunkt stand. Ich erinnere an die Jahrestagung der Academia Europaea in Prag mit dem Titel „Concepts of Time“, an die Tagung „Die Zeitlichkeit der Politik“, die im Hamburger Warburg-Haus stattgefunden hat und an das Symposion an der Universität Kassel über „Die Zeit im Wandel der Zeit“. Die Tagungsbände dieser Veranstaltungen liegen inzwischen vor und präsentieren zum Teil umfangreiche neueste wissenschaftliche Beiträge zum Thema „Zeit“. Damit aber keinesfalls genug, denn ich habe nicht eine einzige der fast schon zahllosen internationalen Veranstaltungen erwähnt, die im Vorfeld des Milleniums stattfanden und sich immer wieder auch mit Zeit, Zeitbegriffen und Zeiterfahrung befaßten und inzwischen in Buchform vorgelegt wurden. Und doch bildet dies alles nur den zeitnahen Schlußpunkt einer langen, bald nach dem zweiten Weltkrieg einsetzenden, immer stärker werdenden Kette von Publikationen und Veranstaltungen der verschiedensten Art bis hin zu der gerade von Berlin nach Zürich gewanderten Ausstellung über die „Ökonomien der Zeit“. Ungeachtet des Umstandes, daß dieser Befund natürlich ein Indiz für die andauernde Aktualität des Themas ist, so daß wir jedenfalls an dieser Stelle dem selbstgestellten Ziel der Union ge-
Vorwort
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recht geworden wären, hätten wir uns kaum diesem Gegenstand zugewendet, wenn nicht im Vorstand unserer Akademie aus eher nichtigem Anlaß, eine fast schon hitzige Debatte über Zeitfragen entbrannt wäre. Die Diskussion entzündete sich an der leichthin geäußerten Bemerkung eines Kollegen, man solle einer bestimmten Frage – auf die selbst es hier nicht ankommt – kurz, nämlich etwa zwei bis drei Jahre nachgehen, und dann entscheiden, ob es sich lohne, sich weiter mit der Sache zu befassen. Worauf zustimmend, aber auch einschränkend, von anderer Seite bemerkt wurde, einige Monate müßten genügen, denn schließlich müsse in einem so langen Zeitraum wie es drei Jahre seien, der gesamte Komplex hinreichend bearbeitet werden können. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen verrate, daß man nach unserer Taxonomie den Proponenten den Kulturwissenschaftlern und den Opponenten den Naturwissenschaften zuzurechnen hätte. Jedenfalls nahmen wir die Beobachtung, daß dem einen „ziemlich kurz“ erscheint, was der andere für „ziemlich lang“ hält, zum Anlaß, um uns über die Voraussetzungen, Umstände und Gründe für diese Diversität auseinanderzusetzen. Und da wir am selben Tage im Rahmen unserer Geschäftssitzung die von der Union an uns ergangene Aufforderung, ein interakademisches Symposion auszurichten, auf dem Tisch liegen hatten, war der Entschluß, das eine, nämlich unsere Debatte, zum Motiv für das andere, nämlich das Symposion, zu machen schnell gefaßt. Dementsprechend hieß es in unserer Einladung: „Zeitbegriff und Zeithorizonte in den Wissenschaften sollen in vergleichender Betrachtung reflektiert und diskutiert werden, nicht zuletzt unter dem Aspekt der jeweiligen zu erwartenden Erkenntniszuwächse und ihrer Problematik. Das Spektrum reicht von der Frage nach dem Umgang der einzelnen Disziplinen mit ihrer eigenen Geschichte, der Frage nach der zeitlichen Tiefe der laufenden Forschung bis zum Problem des Veraltens von Erkenntnissen. Die Zeitrhythmen, denen die Forschung selbst folgt,
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Vorwort
werden ebenso diskutiert wie die Frage, wann und wie die einzelnen Disziplinen ihre Zeitabläufe dem Zeithorizont von Umwelt und Gesellschaft (Politik, Medien etc.) anzupassen haben. Neben diesen generellen Aspekten soll die pragmatische Frage nach dem ‚langen Atem in der Wissenschaft‘ in Hinsicht auf langlaufende Folgeprogramme, transgenerationale Projekte, also Langzeitvorhaben erörtert und bilanziert werden.“ Ich freue mich, daß es gelungen ist, eine hinreichende Zahl von Referenten zur Beschäftigung mit dieser Aufgabe zu bewegen und vermute, daß uns zwei anregende und lehrreiche Tage bevorstehen. Dieter Simon
Philosophie und Epochenbewußtsein
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Kurt Flasch
Philosophie und Epochenbewußtsein Ein Ideenhistoriker – nehmen wir an, er sei einer und heiße nicht nur so – fischt nicht im See der Vergangenheit nach den wenigen Stücken, mit denen er sich identifizieren kann, um dann darin horizontverschmelzend baden zu gehen, sondern er jagt Unbekanntes in Archiven und Bibliotheken, Gedrucktes und Ungedrucktes. Er hat Wichtigeres zu tun als sich um die Einteilungen zu kümmern, mit denen man die Weltgeschichte sich zurechtlegt. Er kümmert sich kaum um Epochennamen. Zuweilen allerdings heult er mit den epochentheoretischen Wölfen, indem er ungläubig ihre handelsüblichen Etiketten auf seine Vorlesungen und Bücher klebt. Wenn ich Ihre und meine kostbare Zeit noch einmal darauf verschwende, mich dem Epochenbewußtsein zuzuwenden, dann habe ich dafür drei Gründe: Erstens möchte ich, mit Cartesius zu reden, „einmal im Leben“ nachsehen, was in diesem Paket steckt, also diesen Begriff präzisieren und ein paar Daten zu seiner Genesis nachtragen. Zweitens möchte ich Kriterien vorschlagen für Konsequenz beim Verzicht auf Epochenbegriffe. Dazu motiviert mich folgende Beobachtung: Gar manche Autoren versichern, sie hätten Epochenkonzepten von der Art Antike-Mittelalter-Neuzeit für immer die Tür gewiesen, aber sie lassen sie durchs Fenster wieder herein, nicht nur in pädagogischer oder verkaufstechnischer Absicht, sondern in inhaltlicher Argumentation.
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Kurt Flasch
Drittens werfe ich einen Blick auf die Theorie des „Epochenbewußtseins“ bei einigen deutschen Philosophen. Dies führt dann zu der Frage: Sollen Philosophen und Kulturwissenschaftler ihr eigenes Denken und das Denken anderer als epochal bestimmt interpretieren? Sie ahnen richtig, wenn Sie erwarten, ich wolle Gründe für ein Nein vorbringen.
I Zunächst also die Wörter „Epoche“ und „Epochenbewußtsein“. Ich nehme sie hier im prägnanten, im terminologischen Sinn. Der lockere Gebrauch des Ausdrucks „Epoche“ im Sinne von „Zeitabschnitt“ stehe nicht zur Debatte, schon gar nicht die anfängliche Bedeutung als „Innehalten, Haltepunkt im Zeitfluß, Zeitpunkt, von dem aus berechnet wird, Konstellation“. Die Frage ist also nicht, ob jemand vom Zeitalter Alexanders des Großen oder von der „Epoche“ der Karolinger zu sprechen berechtigt ist. Allerdings beobachte ich eine signifikante sprachgeschichtliche Verschiebung: Während im Französischen und Italienischen das Wort època oder époque in loser Verwendung noch im häufigen Gebrauch ist, so daß man von belle époque reden und von biographischen Abschnitten als den époques de la vie sprechen kann, zog sich das deutsche Wort „Epoche“ in diesem lockeren Gebrauch im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr aus dem alltäglichen und fachwissenschaftlichen Sprechen zurück. Das Wort wurde, scheint mir, im Deutschen durch Philosophen des 20. Jahrhunderts terminologisch eingefroren, während Goethe es 1821 für das vorgeschriebene Trauerjahr einer Witwe, aber auch für jeden Abschnitt einer individuellen Entwicklung gebrauchte. Im Französischen kann man noch sagen: époque des semailles für die Zeit der Aussaat, auch noch époque critique de la femme für: ein kritisches Stadium im Leben einer Frau. So können wir das Wort „Epoche“ nicht mehr verwenden, wir haben es geschichtsphilosophisch aufgeladen. Auch Historiker verwenden es nicht mehr so.
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Wir haben und brauchen ein Bewußtsein von Zeitzäsuren. Individuen und Institutionen setzen Zeitabschnitte; wissenschaftliche Disziplinen, künstlerische Stile und ganze Zivilisationen tun dies. Sie gewinnen oder behaupten ihre Identität durch Abgrenzung von dem räumlich und vor allem zeitlich Anderen. Es gibt Umbrüche, einschneidende Ereignisse, auf die Menschen in ihrem Selbstverständnis sich beziehen, indem sie der Zeit, die vor dem Einschnitt lag, einen Namen geben, der von der Selbstbezeichnung verschieden ist. Von „Epochenbewußtsein“ in diesem weiteren Sinn ist hier nicht die Rede, „Epochenbewußtsein“ im prägnanten Sinne liegt, meine ich, vor, wenn folgende Merkmale erfüllt sind: Erstens: Größere Abschnitte der Menschheitsgeschichte lassen sich als Einheit charakterisieren und von anderen, insbesondere der eigenen Epoche abgrenzen. Dafür einen Beispielsatz aus Dilthey: „Die Bejahung des Lebens war der Grundzug der neuen Zeit“ (Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Ges. Schriften 2, S. 416). Zu beachten ist das fast unauffällige Wort „Grundzug“. Dieselbe Idee findet sich, rhetorisch aufgebauscht, bei dem Gelehrten, der lange als der Spezialist für das Verhältnis Mittelalter-Neuzeit galt, bei Konrad Burdach: „Aus wilden Fluten, die zu menschlicher Selbstvernichtung fortrissen, hat der Humanismus, hat die Renaissance die Völker des Mittelalters gerettet. Das ist ihr ewiges geschichtliches Verdienst. Diese Umwandlung der Delirien des religiösen Gefühls aus einer lebenzerstörenden in eine lebenbejahende Kraft ist ihr Werk. In dieser Umwandlung liegt die Scheide der Epochen.“1 Zweitens: Die jeweilige epochale Grundbestimmung prägt alle Einzelerscheinungen dieser Zeit. Sie gilt durchgehend, allum1
Konrad Burdach, Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst, 2. Aufl. Berlin und Leipzig 1926, S. 112.
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fassend. Das unterscheidet sie von regionalen und sektoralen Zeiteinteilungen, die sich etwa auf die Rezeption des Römischen Rechts, auf eine Ordnung der Landwirtschaft oder auf die „Epoche“ der Capetinger beziehen. Drittens: Epochen lösen – im Unterschied zu Stilrichtungen oder philosophischen Strömungen, die nebeneinander existieren können – einander ab. Epochenzugehörigkeit gilt ausschließlich, mag es auch Übergänge und Grauzonen geben. Die zugehörige Metapher ist die der „Schwelle“: Übrigens war es nicht Hans Blumenberg, sondern Hans Freyer, der die Redeweise aufgebracht hat, Epochen seien getrennt durch eine „Schwelle“. Ein viertes Merkmal setzt sich oft, wenn auch nicht notwendigerweise an die drei genannten an, nämlich die Vorstellung, eine solche Epoche sei von einem einzelnen Staatsmann, Religionsgründer oder Philosophen geprägt worden. Wer in diesem härtesten Sinn von „Epoche“ spricht, kennt nicht nur deren durchgehenden einheitlichen Grundzug, sondern auch noch den Begründer dieser Struktur. Ich sprach vom Bedürfnis zeitlicher Abgrenzung bei Individuen, Gruppen und Zivilisationen. Dieser Distanzbedarf ist nicht in allen Jahrhunderten gleich; er nimmt sehr verschiedene Formen an; eine seiner kontingenten Formen ist die „Epoche“. Wann und unter welchen „epochalen“ Voraussetzungen ist dieses ambitionierte, dieses „harte“ Konzept von „Epoche“ entstanden? Das Schema Antike-Mittelalter-Neuzeit ist nicht älter als das 18. Jahrhundert; der große Historiker Muratori gebraucht das Wort „Altertum“ noch ganz anders; er kennt das Wort für „Mittelalter“ und setzt es in den Buchtitel seiner Antiquitates, aber er nimmt es rein chronologisch, bis 1500, und folgert nichts inhaltlich daraus; Voltaire kannte das Schema nicht; noch Ranke legte es nicht seinen Darstellungen zugrunde: Seine Geschichte der Reformation in Deutschland beginnt
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bei Karl dem Großen; seine Geschichte der Päpste beim frühen Christentum. Das deutsche Wort „Neuzeit“, für das französische les temps modernes, ist nicht vor 1838 belegt. Sehr viel älter ist das Wort für „Mittelalter“. Als Giovanni Andrea de Bussi, der Mitarbeiter des Cusanus, um 1460 die zurückliegende Epoche zum ersten Mal, auf Petrarca und Leonardo Bruni gestützt, media aetas nannte, hatte er dafür gute Gründe. Seine, die neue Zeit war anders, und sie wollte anders sein: Die Zeitgrenze, die Giovanni zog, indem er seine Zeit von der media aetas abgrenzte, entsprach einer wohlfundierten Selbsteinordnung; sie war ein reelles Bedürfnis seiner Zeit und hat sich deswegen durchgesetzt. Aber sie war keine Epochenbezeichnung im strengen Sinn. Sich von der media aetas abzusetzen, bedeutete ein literarisch-kulturelles Programm; die neue Einteilung motivierte den Rückgriff auf antike Quellen; sie zeigte die Differenz zur transalpinen Universitätswissenschaft. Sie war sektoral, nicht geschichtsphilosophisch umfassend. Die Bilder der Wiedergeburt und der Erneuerung, seit dem 14. Jahrhundert gängig, bezeichneten eine kulturpolitische Tendenz, die bis zum Ende des 15. Jahrhunderts regional, nämlich auf Ober- und Mittelitalien beschränkt war, dort ständig mächtige Widersacher hatte, sich auch dort an den Universitäten nur beschränkt und am päpstlichen Hof nur zeitweise durchsetzen konnte, dann im ersten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts nach Frankreich, England und das Reichsgebiet übergriff, aber schon in den fünfziger Jahren durch die Konfessionalisierung bedrängt und auf den noch engeren Sektor des lateinischen Stils und der Pädagogik eingeschränkt wurde. Die „Renaissance“ als Epoche war erst das Produkt von Michelet und Jacob Burckhardt, um 1860. Eine Reihe von Innovationen hat seit dem 18. Jahrhundert das bis dahin in seiner Zeitausdehnung überschaubare Universum verwandelt in einen Prozeß unabsehbarer Dauer. Das Erschrekken über Zeiträume, denen gegenüber das Generationsbewußtsein und selbst die traditionellen vier- oder fünftausend Jahre
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seit der Erschaffung der Welt zusammenschrumpften, hat das Bedürfnis nach zeitlicher Abgrenzung und Einteilung gesteigert. Der Vorgang, in Berlin einst erörtert unter dem Titel „Entstehung des Historismus“, hat viele Gründe: die Urbanisierung, die Industrialisierung, die Französische Revolution, die Restabilisierung nach dem Wiener Kongreß. Das Resultat war der Epochenbegriff im starken Sinn.
II Eine Merkwürdigkeit des Epochenkonzepts: Es wurde oft problematisiert, angefeindet, bald rasch aufgegeben, bald wieder herbeigeholt. Es wird anno 2002 immer noch in Anspruch genommen, und zwar von Philosophen und von philosophie-geneigten Historikern, mehr noch von Kunsthistorikern und Germanisten, oft auch ohne daß das Wort „Epoche“ fällt. Zuweilen erklären sie, sie nähmen Epochennamen pragmatisch, nicht substanziell, nicht essentialistisch als wüßten sie das „Wesen des Mittelalters“. Da ich sie gleichwohl schwanken sehe, möchte ich einmal Bedingungen eines klaren Abschieds formulieren. Ihr Verzicht kann als kohärent gelten, wenn: a) kein Versuch mehr stattfindet einer Gesamtcharakteristik von der Art: Das Mittelalter war eine durch Statik, Christentum oder Feudalismus durchgängig bestimmt Epoche. b) wenn sie ausnahmslos verweigern, aus solchen Charakteristiken etwas abzuleiten; c) wenn sie Zeitabgrenzungen, Epochentitel strikt beschränken auf ihre didaktische, wissenschaftstechnische oder verkaufspsychologische Funktion; d) wenn sie Namen für Zeitabschnitte in keiner Weise mehr als Wertabbreviaturen nehmen, als sei etwa das Mittelalter eine bevorzugte Lebensform gewesen oder als sei es zu überwinden, um absolut modern zu sein oder als sei es zu revitalisieren am Ende der Neuzeit;
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e) Verzicht auf historische Bildvorgaben insbesondere dann, wenn bei zweideutiger Quellenlage zu entscheiden ist, welche Deutung (Faktenunterstellung) zu wählen ist. In solchen Fällen lautet die methodische Regel: Die Unklarheit ist als solche klar zu beschreiben, statt sie mit Hilfe eines Epochenkonzepts in einer Richtung zu entscheiden. Dieser letzte Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn daß meine Historikerfreunde die Positionen a bis d geräumt haben, will ich ihnen glauben. Aber verzichten sie, wenn sie vor einer aus den Quellen selbst nicht zu klärenden Frage stehen, auf den Hinweis, das müsse man aus der Welt des Mittelalters verstehen und dann sehe man doch? Nichts sieht man dann. Das ist der Punkt. Alle Einwände gegen den Gebrauch von Epochenbildern sind seit Ranke gemacht; was fehlt, ist Konsequenz. Soviel zur Kohärenz beim Verzicht auf Epochenbegriffe. Nun zu deren Theorie.
III Als Jacob Burckhardt sein kulturgeschichtliches Kolossalgemälde der Renaissance präsentierte, mischte er unter dessen tausend Facetten folgende generalisierende Epochencharakteristik: „Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurch gesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen.“2 Erst in der Neuzeit, zuerst in Italien, habe der Mensch sich als Individuum entdeckt; erst 2
Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Gesammelte Werke, Band 2, Darmstadt 1962, S. 89.
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dann kam es, Burckhardt zufolge, zur „Entdeckung der Welt und des Menschen“. Burckhardt gebraucht hier nicht das Wort „Epoche“. Aber er setzt ein Epochenkonzept voraus. Vielleicht sollte man hier besser von „Epochenbild“ sprechen, wegen der Anschaulichkeit und Einheitlichkeit einer derartigen Charakteristik. „Epochenbewußtsein“ wäre dann die Applikation von Epochenbildern auf das eigene Dasein, auf das eigene Wissen und Bewerten. Die Anwendung von Epochenbildern auf den Sprechenden kommt seit Auguste Comte in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts in mehreren Formen vor. Nicht selten bildet sie den Nucleus der historischen Orientierung; in der hermeneutischen Tradition als Leitfaden zur konkreteren Erfassung der eigenen Geschichtlichkeit. Ich skizziere zwei Stadien seiner geschichtlichen Entfaltung, bei Paul Yorck von Wartenburg und beim mittleren Heidegger. Das nachgelassene Fragment des Yorck von Wartenburg, veröffentlicht unter dem Titel „Bewußtseinsstellung und Geschichte“, entstammt den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Es ist geschrieben in dem Bewußtsein, am Ende einer Epoche zu stehen; es versucht, gegen den drohenden historistischen Relativismus die Bewußtseinsstellung des reformatorischen Christentums wiederzugewinnen. Es ist zu lesen zusammen mit dem Briefwechsel Dilthey-Wartenburg, der seit 1923 im Druck vorliegt. Yorck von Wartenburgs Zeitalterlehre unterscheidet die Epochen nach ihrer „Bewußtseinsstellung“. Diese Richtung hatte Johann Gustav Droysen vorgezeichnet, der von einem „Ich der Menschheit“ sagte, die Epochen der Geschichte seien nicht dessen Lebensalter, sondern die „Stadien seiner Selbsterkenntnis, Welterkenntnis, Gotteserkenntnis“.3 Von Wartenburg unterscheidet: 3
Johann Gustav Droysen, Grundriß der Historik, § 83, in: Historik, hg. v. Rudolf Hübner, München – Berlin 1943, S. 357.
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Die Griechen seien charakterisiert durch den Vorrang des Sehens, durch Okularität; ihre Kultur war vor allem ein Schauen plastischer Gestalten; die Römer brachten demgegenüber den Primat des Willens, der Macht, des Rechtes und des politischen Handelns, im Christentum schließlich löse sich der Geist von allem äußeren Gegebenen, wende sich auf sich selbst. Es sei die letzte, die höchste mögliche Bewußtseinsstellung; nur auf seinem Boden, und zwar in seiner reformatorisch gereinigten Form, sei es möglich, Geschichte zu denken, hier nur erkenne die menschliche Psyche sich selbst als das, was die geschichtliche Bewegung hervorgebracht und intendiert habe. Alle Geschichte ist Seelengeschichte – in einem zu präzisierenden Sinne von „Seele“ – und differenziert sich aus nach drei „Motiven“ der Seele: Schauen – Wollen – Selbstbezug. Immer sei „Bewußtseinsstellung“ der einheitliche Grund, aus dem die verschiedenen Lebensäußerungen einer Epoche hervorgehen. „Epochen“ sind „Stellungsänderungen des Bewußtseins“, danach unterschieden, welche der grundlegenden psychischen Funktionen „das Organon der gesamten Lebendigkeit“ wird. Das Mittelalter sei die – prinzipiell unmögliche – Synthese des vorchristlichen, vorwiegend des römischen und des christlichen Bewußtseins; die Moderne, die Dilthey und Wartenburg gern um 1300 beginnen lassen möchten, sei der Durchbruch des im Christentum intendierten Selbstbezugs der Seele, die sich in der Reformation herausgewunden habe aus der Amalgamierung des christlichen Motivs mit dem natürlichen, dem außengewandten, vorstellungsmäßigen, welthaften Bewußtsein. Das geschichtliche Begreifen besteht darin, alles Denken und Handeln als Manifestation einheitlichen Lebens zu sehen; so gehe zum Beispiel die Strategie des 17. Jahrhunderts aus demselben Lebensgrund hervor wie die Physik Galileis. Der Lebensurgrund ist psychischer Natur; daher gliedern die Epochen sich nach den drei primären Funktionen der Seele.
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Dieser Seelenbegriff war zu unbestimmt, war zu deutlich eine ermäßigte Version des objektiven Geistes des ansonsten ständig kritisierten Hegel, um als Gegengewicht gegen die ungeheure Masse historischer Empirie Bestand zu haben. Eine Reform des Einheitsgrundes der Epochen stand ins Haus. Sagen wir statt: „Seele“ einmal: „Sein“. Gleich zu Beginn von Heideggers Aufsatz „Die Zeit des Weltbildes“ von 1938 erfahren wir über das Wesen der Epochen folgendes: „Die Metaphysik begründet ein Zeitalter, indem sie ihm durch eine bestimmte Auslegung des Seienden und durch eine bestimmt Auffassung der Wahrheit den Grund seiner Wesensgestalt gibt. Dieser Grund durchherrscht alle Erscheinungen, die das Zeitalter auszeichnen.“4 Das heißt: Jedes Zeitalter oder jede Epoche hat eine einheitliche „Wesensgestalt“. Heidegger spricht daher vom „Wesen der Neuzeit“, unbekümmert darum, daß „Wesensgestalt“ wesentlich der a-historischen platonisch-aristotelischen Morphe-Metaphysik angehört. Diese Wesensgestalt prägt allumfassend, ausnahmslos. Sie „durchherrscht“ alle Einzelheiten. Es wäre nicht roh, hier von einer Monarchie der Epochengestalt zu sprechen, gar von ihrer Diktatur. Jedenfalls soll die Herrschaft der Zeitgestalt durchgeführt, lückenlos sein. Und jedenfalls fällt das barsche Wort: Sie „durchherrscht“ alles. Schließlich soll diese Wesensgestalt ihren Grund haben in einer bestimmten Auslegung des Seienden und einer bestimmten Auffassung der Wahrheit. Zeitalter werden grundgelegt durch Philosophen. Die geschichtliche Besinnung macht in den einzelnen geschichtlichen Erscheinungen ihren metaphysischen Grund sichtbar, ihren konkret-geschichtlichen, nicht abstrakt-platonistischen Grund, nämlich die Auslegung des Seienden, die alles „durchherrscht“ und die Wartenburg „Bewußtseinsstellung“ genannt hatte.
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Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege. Gesamtausgabe Abt. I, Band 5, Frankfurt/M. 1977, S. 75.
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Damit erfüllt Heideggers Ansatz alle vier Kriterien für ein „hartes“ Konzept von Epochenbewußtsein. Er hat, in den Schriften der dreißiger Jahre, insbesondere in den Beiträgen, in der Einführung in die Metaphysik sowie in Die Frage nach dem Ding diese Zeitalterlehre inhaltlich gefüllt und die je einheitliche griechische, christliche und neuzeitliche Auslegung des Seienden mit je ihrem Begriff von Wahrheit und gutem Leben beschrieben.
IV Die Frage ist nun: Empfiehlt sich eine Annahme diesen Typs für die philosophische Besinnung und/oder für die kulturwissenschaftliche Forschung und Darstellung? Ich sage: diesen Typs, weil es nicht um Heidegger geht, sondern um die von ihm normativ entwickelte Art, sich denkend zur Geschichte zu verhalten, das Philosophieren selbst als geschichtlich zu verstehen, Kunst, Literatur, Staaten, Recht und Religionen, kurz: alle Kultur in ihrer epochalen Bestimmtheit zu denken. Die Frage ist nicht, ob Heidegger sich an diese Anleitung konsequent gehalten hat. In seinen frühen Vorlesungen hat er es gewiß nicht getan, aber in den dreißiger Jahren hat er dieses historistische Erbe kondensiert und in wesentlichen Zusammenhänge urgiert; viele sind ihm darin gefolgt, manchmal in abgeschwächter Form, und zwar bis heute. Ich möchte die Frage nach Pro und Contra abwägen und gebe zunächst einige Gründe, die für ein solches Selbstverständnis sprechen. Welche theoretischen Vorteile konnten Epochentheoretiker sich versprechen? 1. Indem das Philosophieren sich selbst und in Folge die kulturwissenschaftliche Arbeit epochalisiert, entgeht es der Gefahr, von der Überfülle philologischer und historischer Einzelheiten erdrückt zu werden. Diese Konzeption gibt dem Rückblick aufs Gewesene Fragen vor, insbesondere die, wie der tragende meta-
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physische Grund des jeweiligen Zeitalters in Einzelheiten der philosophischen Argumentation, des Baustils oder der Rechtsordnung sichtbar werde. Die Epochalisierung hilft, scheint es, zu vermeiden, was viele befürchten, wenn sie den sog. „Positivismus“ verwerfen, daß nämlich das philosophische Denken im Meer der historischen Fakten ertrinkt. Sie gibt der philologisch-historischen Recherche den Rahmen vor; sie bewahrt das historische Wissen von früherer Philosophie vor dem bloßen Sammeln, indem sie es zurückbezieht auf die eigene Geschichtlichkeit und auf die aus ihr entspringenden gegenwärtigen Fragen. Diese Position verbindet intern, nicht äußerlich, Historie (im weitesten Sinne aller Kulturwissenschaften) und Philosophie; sie kann sagen, warum es philosophisch relevant ist, in die Geschichte der Philosophie zurückzublicken. Sie verwandelt die traditionelle Philosophiehistorie vom Typus Brucker bis Ueberweg in ein Moment der Selbstbesinnung. Diese neue Art geschichtlicher Umsicht will nicht mehr die Erwartungen erfüllen, die man zuvor an „Philosophiehistorie“ gestellt hat und im Ausland mehr als in Deutschland heute noch stellt, sie entgeht dafür der Gefahr kriterienlosen Herumsuchens und rettet die Philosophiehistorie davor, zu einem Teil der allgemeinen Kulturgeschichte reduziert zu werden. Sie bannt die vielgefürchtete Gefahr des Relativismus, wenigstens fürs erste. 2. Zugleich hält sie in qualifizierter Weise das Bewußtsein der Nicht-Kontinuität der Geschichte, auch in der Denkgeschichte, wach. Als ihr zweiter Vorzug mag gelten, sie erschwere das Rückdatieren von Einsichten, Konzepten, Wertungen. Sie verhindert den Leichtsinn trans-epochalen Übersetzens. Sie ist das, was gegen die Gewohnheit ist, zu glauben, philosophische Grundbegriffe ließen sich nach dem Wörterbuch übersetzen, als hieße usia „Substanz“ und episteme „Wissen“; sie hält an, solche Bestimmungen jeweils in ihrem zeitlichen Netz, eben als Aspekt der Wesensgestalt einer Epoche, zu lesen. Sie hält dazu an, gerade dann, wenn Kontinuität des Terminus besteht, dessen geschichtlichen Charakter herauszuarbeiten. Sie hat die hypo-
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stasierten Blöcke aufgelöst, welche die problemgeschichtlichen Konzeptionen der Geschichte des Denkens vorausgesetzt hatten, bei Nicolai Hartmann, den Neukantianern, einigen Neuscholastikern und einigen Spezialisten für Begriffsgeschichte. Ich bin zwar hier noch am Darstellen des Pro et Contra und werde das argumentative Steuer auch bald wieder herumwerfen, doch scheint mir die Abkehr von der Problemgeschichte als definierter Gewinn: Ihre Identität des Problems war eine „leere Abstraktion“; die „Identität eines Problems im Wandel seiner geschichtlichen Lösungsversuche gibt es in Wahrheit nicht“5. Dabei wird es wohl bleiben, wenn auch die Problemgeschichte ein respektabler Versuch war, das bei Dilthey ungelöst zurückgebliebene Problem des Relativismus aufzufangen. Aber entstand nicht die Ersetzung des neukantianischen „Problems“ durch die seinsgeschichtliche „Epoche“ aus dem selben Überdruß am antiquarischen Historismus und aus der selben Relativismusangst? Damit bin ich schon in die Kritik an der Epochalisierung eingetreten. Dazu: 1. Die „harte“ Version des Epochenbewußtseins vollzieht eine weitgehende Vereinheitlichung, die sie nicht rechtfertigen kann. Sie zieht inhaltlich gefüllte Zeitgrenzen, die sie nicht neu begründet, sondern dem allgemeinen Bildungsstoff entnimmt. Das gilt besonders für die Dreiteilung von Antike, Mittelalter und Neuzeit. Entweder bleibt sie in der Angabe des Epochen-Charakteristischen so vage, daß sie nicht widerlegbar ist, oder sie präzisiert sich und riskiert ihre faktisch-historische Zurückweisung. Der Aufstand der Mediävisten gegen Jacob Burckhardt wiederholt sich dann, denn es lassen sich immer wieder Texte auffinden, die das Epochenschema, falls es inhaltlich präzisiert wird, falsifizieren. Die Epochenbilder haben den Überlieferungsstoff mitgeformt; sie haben als paradigmatisch 5
H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke 1, Tübingen 1972, S. 381.
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ausgewählt, was ihnen konform war und die Suche nach entgegenstehenden Daten verhindert; widerspenstige Texte galten als nicht editionswürdig. Sie verbannten ungeheure Textmassen als irrelevant, als nicht-charakteristisch, als vernachlässigenswert. Das gilt zum Beispiel für die Texte der Skeptiker im konventionellen Bild der antiken Philosophie und für die arabische Philosophie im konventionellen Bild des mittelalterlichen Denkens. Die strenge Epochalisierung vergißt ihre eigene Zutat im Zurechtmachen der Vergangenheit und zudem noch – bei gleichzeitigem eindrucksvollen Gestus der Radikalität – ihre Abhängigkeit von früheren Zurechtlegungen des Gewesenen, die den Charakter des Selbstverständlichen erschlichen haben und an die man nur mit Vokabeln wie zum Beispiel „Neuzeit“ glaubt erinnern zu brauchen. Sie reflektiert weder ihren Eurozentrismus noch ihre Herkunft aus nationalen Befangenheiten, Lektürekanones und kontingenten Textbeständen. Ihre „Epochen“ sind wie die „Probleme“ der Neukantianer – Projektionen. Sie bleibt zudem befangen in der Vorstellung der Priorität bildungs- und kirchengeschichtlicher Entwicklungsphasen. 2. Der Vorzug der Epochalisierung – ihre Kritik an einlinigen Kontinuitäten – geht bei näherer Betrachtung verloren, denn sie kondensiert die Kontinuität innerhalb einer Epoche, die „durchherrscht“ sein soll von ihrem metaphysischen Grund. Sie beseitigt den Erdenrest geschichtlicher Mannigfaltigkeit und epocheninterner Brüche, Konflikte, Verdrängungen. Wahr ist: In einer gegebenen geschichtlichen Situation kann nicht „alles“ gedacht und nicht alles gesagt werden. Kontroversen bewegen sich innerhalb gemeinsamer Vorgaben. Derartige „Vorgaben“ existieren aber nicht als kompakte Faktenblöcke von epochaler Einheitlichkeit, sondern Historiker tragen sie unter kontingenten Bedingungen an kontingentes Material probeweise heran, schlagen sie als Erklärungsgrund vor; im günstigen Fall rekonstruieren sie ihn aus Texten, von Jahr zu Jahr, von Ort zu Ort, von sozialer Gruppe zu Gruppe je verschieden. Ge-
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schichtliche Bedingungen wechseln nach geographischen und kulturellen Räumen; sie entwickeln sich lokal in verschiedensten Tempi, auch innerhalb eines Jahrhunderts. Was 1530 noch möglich war – Erasmus regierte in Basel, Rabelais schrieb seinen Gargantua –, war schon 1550 unmöglich: Erasmus kam auf den Index, Rabelais wurde von Calvin verurteilt. Die Konfessionen hatten sich soeben abgeschlossen, ein rasanter Prozeß von wenigen Jahrzehnten, innerhalb derselben „Neuzeit“. Wer es mit konkreten geschichtlichen Vorgängen zu tun hat, dem hilft es nichts, wenn er sich an die Epochenbilder wendet, die ihm sagen: Mittelalter denke das Seiende als göttliche Wirkursache und als göttlich Bewirktes, die Neuzeit sei geprägt durch die Selbstermächtigung der Subjektivität. Der Vorzug des Epochenbewußtseins, daß es die Schwierigkeit des Übersetzens thematisiert, hebt sich auf, weil darüber die Verständigungsschwierigkeit aus dem Blick gerät, die zwischen Zeitgenossen bestand, zum Beispiel zwischen Augustin und Julian von Eclanum, zwischen Bernhard und Abaelard, zwischen Goethe und Kleist, zwischen Carnap und Heidegger. 3. Schwer nachzuvollziehen ist drittens die Rückführung einheitlicher Epochencharaktere auf einzelne Philosophen. Ohne die weltgeschichtliche Rolle Homers, Platons, Vergils und Descartes’ zu ignorieren, scheint mir die Vorstellung, sie hätten das gesamte Altertum oder die Neuzeit konstituiert, nichts als der Übermut der Denker. Dichter und Philosophen mögen ihr Zeitalter konzeptualisieren, formulieren, stabilisieren, aber wer ihnen zuschreibt, sie hätten eine Epoche insgesamt begründet, endet in Personalisierung und Heroisierung komplexer Prozesse von gesamtgesellschaftlichem Charakter. Philosophen, die wirken, müssen an der Zeit sein, sie haben erforschbare geschichtliche Bedingungen. So war Platons Denken bedingt durch die Vorsokratiker, die Polis und ihre Bedrohtheit, durch die Sophistik; Descartes hatte die frühneuzeitliche Skepsis und den Schularistotelismus vor sich; er saß an seinem Ofen in der
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Etappe, weil die umstrittenen theologischen Ansprüche im konfessionellen Zeitalter zum Kriege geführt hatten. Die stärkste Variante der Epochalisierung definiert die Epochen nach prädominanten Seinsauslegungen und riskiert damit die Verbegrifflichung und Akademisierung der real verlaufenden Geschichte. So durchsichtig sind uns die Zeiten nicht, daß wir durch die Lektüre philosophischer Bücher zu ihrem Grund vorstoßen könnten. Immer wieder wurden neue Epochennamen gebildet: Sklavenhaltergesellschaft, Feudalgesellschaft, Epoche der Religion oder der Aufklärung, Industriezeitalter, Atomzeitalter, digitales Zeitalter. Jeder kann sehen, wie weit er mit solchen Titeln seine Erfahrung erfaßt. Solche Titel führen, ohne frei erfunden zu sein, den Blick auf bestimmte Phänomene hin und leiten von anderen ab. Ihr alltäglicher Gebrauch nimmt sie in sektoraler Einschränkung und macht sie teilweise miteinander kompatibel; er sagt von demselben Jahrzehnt, es sei das der Globalisierung, das der digitalen Kommunikation und der Dominanz der einzig verbliebenen Supermacht. Solche Bilder beanspruchen weder Exklusivität noch strikte Abfolge; für sie werden keine „Schwellen“ gesucht. Anders beim methodenbewußten Vorgehen eines an August Comte, an Dilthey-Wartenburg oder Heidegger orientierten Kulturhistorikers. Wir können ohne großes Risiko annehmen, er charakterisiere das Mittelalter als religiöses Zeitalter. Sofern er sich dieser Blickführung unterwirft, wird er z. B. im Mittelalter nicht nach Texten suchen, welche die Existenz von Skeptikern oder von Epikureern in dieser Zeit belegen. Epochenbilder führen dazu, Prozesse von längerer Dauer zu ignorieren; sie verdecken die verschieden akzellerierten Rhythmen innerhalb eines Jahrhunderts; sie ignorieren lokale Differenzen, die Konflikte der Schulen und die Unvereinbarkeiten individueller Weltentwürfe von Zeitgenossen. Wer Epocheneinheitlichkeit voraussetzt, sucht nicht mehr nach dem Gebrodel von Partikularitäten; er verhöhnt deren Aufsuchen als „Positivismus“ oder als das Zählen von Fliegenbeinchen. Wer das
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Mittelalter mehr oder minder explizit als agrarisches Zeitalter definiert, wird nicht die Bedeutung der Geldwirtschaft, des Fernhandels und der Manufaktur erforschen; er wird glauben, mittelalterliche Handschriften seien primär von frommen Mönchen geschrieben, nicht aber in großen Schreibbüros gegen Geld entstanden. Epochenbilder behindern die Forschung. Sie spiegeln eine erlogene Einheitlichkeit vor; sie ignorieren die Fortdauer älterer Kulturschichten; sie beseitigen Spannungen und Widersprüche, die innerhalb eines Jahrzehnts die Entwicklung forttreiben; sie verdecken dadurch Anfänge und Voraussetzungen späterer Entwicklungen. Ich versuche, zu einer Konklusion zu kommen, indem ich frage, was würde aus der Philosophie ohne Epochenbewußtsein? 1. Philosophische Erörterungen würden keineswegs zur Äternisierung geschichtlicher Phänomene übergehen; sie würden den Geschichtsbezug nicht verlieren, sondern modifizieren, im Grunde: multiplizieren. Darin läge zunächst auch ein Verlust an Orientierung. Denkender Umgang mit der Geschichte würde auch zur Beschreibung dieses Verlusts, unter der vielleicht noch naiven Voraussetzung, es sei besser, zu wissen, was man verloren hat. Die Folge wäre die Perspektivierung historischen Wissens und Darstellens, zugleich auch eine neue Art geschichtlichen Sehens. Wir würden darauf verzichten, mit Heidegger davon auszugehen, Sein und Seiendes seien in der Antike die alles Philosophieren prägende Grundbestimmung. Wir suchten die Gründe, weshalb dies weder bei Platon noch bei Plotin zutrifft. Philosophie ohne Epochenbewußtsein würde deren andersgearteten Ansatz zur Geltung bringen, also mit der aristotelisierenden Zurechtlegung des antiken Denkens, mit seiner Ontologisierung brechen, den platonischen Begriff der episteme vom aristotelischen scharf absetzen, die Unvereinbarkeit der Ethikentwürfe herausarbeiten, und die skeptische Tradition in ihrem sachlichen Gewicht rekonstruieren.
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Für das Mittelalter und seine Philosophie würde das bedeuten: Seine Auffassungen des Seienden verlören das vorrangige Interesse und würden nicht länger auf das auch nur quasi-thomistische Schema von causa efficiens und Bewirktem reduziert, Dionysius Areopagita, Johannes Eriugena, Thierry von Chartres, Roger Bacon, Lull, Eckhart und Cusanus wären als gleichberechtigte Autoren anerkannt; das Gesamtbild der mittelalterlichen Philosophie würde von dem nur kirchengeschichtlich bedingten Vorrang der großen Ordenstheologen befreit. Die unfruchtbare Fragestellung nach dem „Übergang“ vom Mittelalter zur Neuzeit wiche einer genauen Analyse der Sozial-Denk- und Wissenschaftsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. 2. Der Verzicht auf Epochenbilder leugnete deswegen nicht rasante Umbrüche oder tiefgreifende Neuerungen. Die Blickrichtung auf frühere Formen des Wissens änderte sich: Sie ginge, zunächst unhistorisch, auf deren argumentativen Gehalt ein, versucht, diesen rein zu gewinnen, wie es in der europäischen Philosophie vor 1800 die Regel war und auch heute noch außerhalb des Einflußbereichs des Historismus ist, ginge zweitens aber radikal historisch-empirisch vor und erforschte die konkreten geschichtlichen Bedingungen von Theorien, ihre Kommunikationsform, ihre institutionellen Vorgaben und kontingenten Bedingungen, zu denen militärische Eroberungen gehören, aber auch das Vorhanden- und Bekannt-Sein bestimmter Texte. Dafür fiele die Anstrengung weg, einen epistemischen Komplex als Epochen-Exempel vorzuführen und dessen letzten epochalen Grund zu ermitteln. Philosophische Entwürfe sind von der ungewöhnlich komplexen Bauart literarischer Kunstwerke, nicht selten sind sie Kunstwerke; sie haben sprachlich und in der Argumentationsform unabsehbar viele Prämissen, Implikationen, Assoziationen. Jeder Betrachter kann an ihnen Neues entdecken; jeder ihrer Interpreten trifft eine subjektive Auswahl, welche ihrer Verflechtungen er hervorzuheben für richtig und fruchtbar hält. Daher gibt es viele und in sich pluriforme
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Interpretationen der tradierten Formen der Philosophie. Das ist – entgegen allen unitarischen Ambitionen – der faktische Zustand: Selbst das Nachdenken über Metaphysik bleibt das Denken des Vielen durch Viele, ist nicht das Haben des Einen durch Einen im Namen einer allesprägenden „Tradition“, eines umfassenden Verfalls oder eben – einer einheitlichen Epoche.
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t for two oder: warum Zeit in Theorie und Lebenswelt nicht dasselbe ist Vorbemerkungen Zeit ist ein unendliches, wahrhaft zeitloses Thema philosophischer Reflexion, und Zeit ist vielleicht das anspruchsvollste philosophische Thema überhaupt. Nicht, weil die Philosophie sie dazu erklärte oder z. B. Heidegger auch so dachte, sondern weil Zeit allgegenwärtig und zugleich etwas Unfaßbares, Rätselhaftes ist, weil Zeit in unseren Erfahrungen nicht stets dieselbe ist – mal vergeht sie schnell, mal langsam; mal geht sie vorbei, mal verändert sie uns; mal heilt sie, mal tötet sie –, weil Zeit, vor allem in der Verbindung von Raum und Zeit, zu den Grundlagen der Naturwissenschaften und an deren Anfang führt, weil Zeit die Tür zwischen Mythos und Rationalität offenhält, weil alle Fragen nach Anfängen in der Zeit zurückführen auf die Frage nach dem Anfang der Zeit. Für den Kirchenvater Augustin ist Zeit das Unerklärbare; für die Griechen ist sie ein Gott. Zeit ist die Bewegung des Zeigers einer Uhr, der Sonnenaufgang in den Bergen, der Gang des Mondes und der Sonne, die Wirklichkeit der Fahrpläne, der Hoffnung, des Wartens und des Vergessens. Zeit ist, wie Goethe sagt, „ein Tyrann, der seine Launen hat“1; sie herrscht über Werden und Vergehen, verbindet die Erde mit dem Himmel, die Geburt mit dem Tod, das Heute mit dem Ge1
J. W. v. Goethe, Gespräche mit Eckermann, 25. 2. 1824, in: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche XXIV, hg. v. E. Beutler, Zürich 1949, S. 89.
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stern und dem Morgen. Uhren sind ihre Statthalter in der Natur und im menschlichen Leben. Sie kommen aus einer Gestaltvorstellung der Zeit – astronomische Modelle des Kosmos sind auch Uhren –, und sie führen in eine Kontinuumvorstellung oder Zeitpfeilvorstellung der Zeit. Z. B. stellt für Platon der ‚Kreis des Gleichen‘ (die Drehung des Himmels um seine Achse) die ‚reine‘ Periodizität dar (wie das Ziffernblatt einer Analoguhr), der ‚Kreis des Ungleichen‘ (die Planetenbewegungen auf der Ekliptik) einen himmlischen Kalender, der es z. B. erlaubt, Tage zu zählen.2 Wo die Zeit allgegenwärtig, rätselhaft, etwas Vertrautes und in gleicher Weise Fremdes ist, tritt sie auch auf unterschiedliche Weise in den analysierenden Blick. Unterschiedliche Erkenntnisinteressen und unterschiedliche Kontexte bestimmen unterschiedliche Fragestellungen. Fragen wie ‚existiert Zeit?‘, ‚hat Zeit Eigenschaften wie Anfang und Ende?‘, ‚hat Zeit eine Richtung?‘ zeugen von einem ontologischen Interesse und einem metaphysischen Kontext. Fragen wie ‚wie wird Zeit erlebt?‘, ‚welche Rolle spielt Zeit für das Bewußtsein?‘ zeugen von einem psychologischen Interesse und einem bewußtseinstheoretischen bzw. psychologischen und hirnphysiologischen Kontext. Fragen wie ‚welche Rolle spielt der Umgang mit Zeit in kulturellen und sozialen Zusammenhängen?‘, ‚wie hängen Zeit und Geschichte zusammen?‘ zeugen von einem sozial- und kulturwissenschaftlichen Interesse und entsprechend einem kulturellen und sozialen Kontext. Fragen wie ‚was wissen die Naturwissenschaften von Zeit?‘, ‚wie werden Standards der Zeitmessung gebildet?‘ zeugen von einem wissenschaftstheoretischen Interesse und einem sowohl erkenntnistheoretischen als auch naturwissenschaftlichen Kontext.3 Was wunder, daß schon Augustin an der Frage ‚was ist Zeit?‘ verzweifelte.4 2 3
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Tim. 37d-38e. Vgl. P. Janich, Zeit, in: J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 1996, S. 827–831. A. Augustinus, Confessiones, hg. v. J. Bernhart, München 1955, S. 628 f.
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Im Folgenden werde ich unter dem Stichwort Theorie einigen naturwissenschaftlichen und unter dem Stichwort Lebenswelt einigen anthropologischen Wegen auf der Suche nach einer verborgenen (vielleicht auch verlorenen) Zeit nachgehen, Wegen, die sich nirgendwo zu begegnen scheinen, es sei denn im Kopf eines Philosophen. Das macht sie möglicherweise auch nicht klarer, übersichtlicher, aber immerhin deutlich, daß wir in Sachen Zeit in zwei verschiedenen Welten leben: t for two, nur das kleine t hält sie zusammen. Mit anderen Worten, auch die Philosophie besitzt keine exklusiven Zugänge zum Wesen der Zeit, die an die Stelle wissenschaftlicher oder anderer Zugänge treten könnten und aus zwei Welten wieder eine machten, doch verfügt die Philosophie in Form von Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie über kritische Instrumente, die häufig dort noch greifen, wo der wissenschaftliche und der alltägliche Verstand an durch Theorie und Gewohnheit selbstgezogene Grenzen stoßen. Ich beginne mit der Physik der Zeit und ihrer Welt.5
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Die folgenden Überlegungen stellen eine Zusammenfassung früherer, zum Teil weiter ausgreifender Analysen dar: Die menschliche Zeit. Bemerkungen zur Philosophie der Lebensalter, in: Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahrbuch 1988, Berlin/New York 1989, S. 306–335; From Time to Time. Remarks on the Difference Between the Time of Nature and the Time of Man, in: J. Earman u. a. (Eds.), Philosophical Problems of the Internal and External Worlds. Essays on the Philosophy of Adolf Grünbaum, Pittsburgh/Konstanz 1993 (Pittsburgh-Konstanz Series in the Philosophy and History of Science I), S. 83–101; On the Philosophy of Time, in: European Review. Interdisciplinary Journal of the Academia Europaea 9 (2001), S. 19–29. Den Titel ‚t for Two‘ verdanke ich einer Anregung von Peter McLaughlin (früher Konstanz, jetzt Heidelberg), Rat und Belehrung in physikalischen Dingen Stephan Hartman (früher Konstanz, jetzt London).
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1. Von Zeitpfeilen und einem Parmenideischen Blockuniversum Für die Naturwissenschaften ist Zeit ein zentrales Thema. Schließlich verändern sich viele Dinge in der Natur; und Veränderung setzt Zeit voraus. Auch das Umgekehrte ist der Fall: Die Zeiten ändern sich. Dennoch gibt es, gegen alle Erfahrung, auf die sich auch das naturwissenschaftliche Wissen bezieht, die Vorstellung, daß sich im Grunde in der Wirklichkeit, in der Realität nichts ändert, Veränderung, Wechsel nicht stattfindet. Die wahre Welt ist zeitlos. Werden und Vergehen wären bloße Illusionen des irregeleiteten menschlichen Geistes; sie hätten kein Fundament in der Natur. Dazu ein Beispiel6: Veränderungen werden durch Gleichungen und Erhaltungssätze ausgedrückt. Die Chemie z. B., wenn sie den Prozeß einer chemischen Reaktion mit den dabei auftretenden Qualitätsveränderungen der beteiligten Stoffe beschreibt, bedient sich des Mittels der Reaktionsgleichung. Bei einer solchen Gleichung erscheint auf beiden Seiten dieselbe Größe, nur in anderer Ausdrucksform. Durch die chemische Reaktion scheint daher weder etwas geschaffen zu werden, noch etwas verlorenzugehen. Werden und Vergehen verlieren in Form wissenschaftlicher Erklärungen ihren begrifflichen Sinn: „Im Ganzen, soweit unsere Erklärung reicht, ist nichts geschehen. Und da Geschehen nur Veränderung ist, ergibt sich, daß, insofern wir es erklärt haben, wir es zum Verschwinden gebracht haben. Jeder erklärte Aspekt eines Geschehens ist ein bestrittener Aspekt; erklären heißt wegerklären.“7 Tatsächlich läuft die Entwicklung fundamentaler Theorien in der Physik darauf hinaus, die Zeit zu beseitigen. Zeit wird zu 6
7
Vgl. E. Meyerson, The Elimination of Time in Classical Science, in: M. Cˇapek (Ed.), The Concepts of Space and Time. Their Structure and Their Development, Dordrecht/Boston 1976 (Boston Studies in the Philosophy of Science XXII), S. 255–264. Ebd., S. 261.
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einer Illusion – wie optische Illusionen, die sich in (wissenschaftlichen) Erklärungen auflösen. Wissenschaft drängt uns ein statisches Weltbild auf und zwingt uns zu andauernden Déjà-vu-Erlebnissen. Wir scheinen in einem entsetzlich langweiligen Parmenideischen Blockuniversum gefangen zu sein, in dem nichts passiert. Schon der alte Parmenides schrieb: Die Göttin des Rechts hat „weder zum Werden noch zum Vergehen (…) das Sein freigegeben, es in den Fesseln lockernd“.8 Eine solche Vorstellung ist – aus lebensweltlicher Perspektive – ein Alptraum, der allerdings, wenn auch in moderater Form, auch von Philosophen geträumt wird.9 Worauf es, um hier weiterzukommen und Erfahrung und Realität wieder miteinander in Einklang zu bringen, ankommt, ist, etwa folgende Fragen zu beantworten: Was ist die physikalische Basis für die Anisotropie der Zeit, d. h. die Basis dafür, daß in der Zeit nicht, wie im Raum, alle Punkte der Mannigfaltigkeit erreichbar sind, die Ereignisse vielmehr (zeitlich) geordnet sind? Welche Gründe sprechen für die Nicht-Existenz eines Zeitpfeils, d. h. eines gerichteten einsinnigen Verlaufs der Zeit? Lebensweltlich formuliert: Reiten wir wirklich gleichsam auf einem Zeitpfeil die Zeit entlang, wie Münchhausen auf der Kugel, wobei unser jeweiliger Ort in der Zeit die Gegenwart ist? Eine Klärung dieser Fragen erfordert eine sorgfältige Analyse der hier relevanten physikalischen Theorien.10 Das sei hier kurz dargestellt. 8
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10
VS 28 B 8 (H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker I, Berlin 61951, S. 236). Vgl. J. J. C. Smart, Philosophy and Scientific Realism, London 1966; H. Price, Time’s Arrow & Archimedes’ Point. New Directions for the Physics of Time, Oxford 1996. Dieses von H. Reichenbach (Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin/Leipzig 1928) und A. Grünbaum (Philosophical Problems of Space and Time, Dordrecht 21973 [Boston Studies in the Philosophy of Science XII]; The Exclusion of Becoming from the Physical World, in: M. Cˇapek [Ed.], The Concepts of Space and Time [vgl. Anm. 6], S. 471–500) begründete Projekt wird heute von Physikern und Philosophen wie H. Price (vgl. Anm. 9), L. Schulman (Time’s Arrows and Quantum Measurement, Cambridge 1997) und D. Zeh (The Physical Basis of the Direction of Time, Berlin 31999) fortgeführt.
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Seit Aristoteles wird die Basis einer physikalischen Zeit in physikalischen Prozessen aufgesucht. Derartige Prozesse scheinen irreversibel zu sein, d. h., sie sind zeitlich gerichtet, ihre zeitliche Umkehrung tritt nicht auf. Doch ist das wirklich so? Bemerkenswerterweise sind (fast) alle bekannten physikalischen Gesetze reversibel, also zeitumkehrbar. Gemeint ist: Wenn ein bestimmter Prozeßverlauf von den Naturgesetzen zugelassen wird, dann ist auch der rückwärts ablaufende Prozeß mit den Naturgesetzen verträglich. Bei einfachen Vorgängen leuchtet das sofort ein. Wenn ein Ball gegen eine Wand prallt und zurückgestoßen wird, oder wenn ein Lichtstrahl durch ein brechendes Medium, z. B. eine Linse, tritt, dann ist auch die Umkehrung der Bahn oder des Lichtstrahls physikalisch möglich. Weniger klar ist dies bei einer anderen Klasse von Phänomenen, nämlich bei Mischungen oder beim Ausgleich von Temperaturunterschieden. Gießt man Milch in eine Tasse Kaffee, verteilt sich diese; beide Flüssigkeiten mischen sich homogen. Der umgekehrte Vorgang ist nie beobachtet worden. Ebenso gleicht sich die unterschiedliche Temperatur an beiden Enden eines Metallstabs stets aus; eine spontane Entstehung von Temperaturdifferenzen kommt offenbar in der Natur nicht vor. Das wiederum hieße, daß natürliche Systeme offenbar ein Verhalten zeigen, das eine bestimmte Zeitrichtung auszeichnet. Sie laufen stets in einem Sinne ab; ihre Umkehrung tritt nicht auf. Mit anderen Worten, diese Prozesse verlaufen tatsächlich irreversibel. Solche irreversiblen Prozesse werden durch den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik beschrieben. Danach läßt sich eine Größe, nämlich die Entropie einführen, die bei derartigen Prozessen ständig ansteigt oder im Falle eines Gleichgewichtszustandes des Systems unverändert bleibt. Damit scheint es aber eine physikalische Grundlage dafür zu geben, eine bestimmte Zeitrichtung auszuzeichnen. Der Zweite Hauptsatz, so die naheliegende Vermutung, definiert den physikalischen Zeitpfeil. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall. Es zeigt sich nämlich, daß die den erwähnten Gleichverteilungs- und Ausgleichsphänomenen zugrundeliegenden molekularen Vorgänge
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von zeitumkehrbaren Gesetzen beherrscht werden. Die mikrophysikalische Grundlage der dem Augenschein nach unumkehrbaren Abläufe besteht also aus reversiblen Prozessen. Die Auszeichnung einer bestimmten Zeitrichtung stützt sich dann darauf, daß bestimmte Umstände faktisch verwirklicht sind; und sie beruht darauf, daß bestimmte Konfigurationen der molekularen Bewegungen wahrscheinlicher sind als andere. Entsprechend wird das Auftreten eines gerichteten Zeitverhaltens nicht vom Zweiten Hauptsatz allein garantiert; es setzt vielmehr zusätzlich das Vorliegen besonderer Randbedingungen voraus. Die mit dem Zweiten Hauptsatz erfolgte Begründung der Anisotropie der Zeit ist also von besonderer Art. Sie bedeutet, daß diese Anisotropie nicht nomologisch ist: Der Zweite Hauptsatz allein schließt nicht aus, daß die Umkehrung irgendeines Prozesses auftritt. Dagegen gilt sie faktisch: Bei bestimmten Prozeßtypen kommen die für eine Umkehrung erforderlichen mikrophysikalischen Randbedingungen tatsächlich nicht vor. Will man demnach den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wirklich als physikalische Grundlage des Zeitpfeils ansehen, so ist diese Begründung schwach; sie macht die Zeit und ihre Richtung zu einem ephemeren Phänomen. Die Anisotropie der Zeit und der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft beruhten nicht darauf, daß die Naturgesetze so sind, wie sie sind, sondern darauf, daß die Tatsachen und Umstände im Universum (vielleicht zufälligerweise) so sind, wie sie sind. Der Zweite Hauptsatz verlöre seinen fundamentalen Status; das gleiche gälte von der Anisotropie der Zeit, die sich auf ihn bezieht. Seit der Entwicklung des Lasers und der an diese Entwicklung anschließenden interdisziplinären Forschungsprogramme wie der Synergetik, der Chaostheorie und der irreversiblen Thermodynamik haben sich Phänomene, die sich jenseits des thermodynamischen Gleichgewichts ereignen, als von besonderem wissenschaftlichen Interesse erwiesen. Konkret hat sich herausgestellt, daß geordnete Strukturen oft nur weit entfernt
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vom thermodynamischen Gleichgewicht entstehen können. Die klassische (Gleichgewichts-)Thermodynamik erweist sich insofern als nicht besonders hilfreich, wenn es darum geht, das Entstehen von Ordnung zu verstehen. Diese Ordnung besteht darin, daß bei geeigneten Systemen unter Bedingungen fern vom thermischen Gleichgewicht Verzweigungen, so genannte Bifurkationen des Systemzustands auftreten. Das bedeutet: Wenn die einschlägigen Systemparameter bestimmte kritische Werte erreichen, hat das System gleichsam die Wahl zwischen zwei oder mehr Zuständen; und unter solchen Umständen sind es kleine Schwankungen des Systemzustands, die die weitere Entwicklung festlegen. Im Gegensatz zur klassischen Thermodynamik gleichen sich hier kleine Schwankungen also nicht im Mittel aus; sie werden vielmehr makroskopisch bedeutsam. Dies erfolgt durch quasi-evolutive Mechanismen, durch die bestimmte Schwankungen auf Kosten anderer verstärkt werden und damit das makroskopische Verhalten bestimmen. Die sich so herausbildenden Ordnungsstrukturen beruhen demnach auf kleinen Schwankungen; sie sind nicht schon durch den Anfangszustand des Systems vorgegeben. In diesem Sinne entstehen in solchen Prozessen neuartige Strukturen. Der Schluß liegt nahe, daß durch die NichtGleichgewichtsthermodynamik das Werden Einzug in die Natur hält: „Das Konzept der Ordnung durch Schwankungen verwirft das statische Universum der Dynamik zugunsten einer offenen Welt, in der durch Aktivität Neues entsteht, in der Entwicklung Innovation, Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Tod bedeutet.“11 Werden und Vergehen erhielten demnach nun doch auch innerhalb der physikalischen Theoriebildung einen zentralen Platz in der Natur. Doch auch hier besteht Grund zum Zweifel. Trotz aller wichtigen und beeindruckenden theoretischen und experimentellen Fortschritte der Nicht-Gleichgewichtsthermodyna11
I. Prigogine/I. Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München/Zürich 21981, S. 204.
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mik in den letzten beiden Jahrzehnten hat diese an der philosophischen Deutung der Zeit nichts zu verändern vermocht. Im Gegenteil, auch im synergetischen Zeitalter stellen sich die Dinge noch genau so dar wie etwa in Reichenbachs Analyse der klassischen Thermodynamik. Hier wie dort stützt sich die Analyse auf irreversible Prozesse unter Bedingungen des Nicht-Gleichgewichts. Und für die philosophische Interpretation der Irreversibilität ist es ohne Bedeutung, ob sich diese Prozesse fern vom Gleichgewicht (wie in der Synergetik) oder nahe beim Gleichgewicht (wie in der klassischen Thermodynamik) abspielen. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, daß auch in der Nicht-Gleichgewichtsthermodynamik die Anisotropie der Zeit und die Asymmetrie von Vergangenheit und Zukunft nicht in den Naturgesetzen verankert sind, sondern auf besonderen Randbedingungen, auf faktisch realisierten Umständen beruhen. Im übrigen hat sich herausgestellt, daß der thermodynamische Zeitpfeil nicht der einzige ist. So wurde auf fünf weitere zeitasymmetrische Prozesse in der Natur hingewiesen, deren nomologische Beziehung zum thermodynamischen Zeitpfeil noch immer kontrovers ist.12 Diese seien kurz vorgestellt: 1. Eine von einer Quelle emittierte Strahlung bewegt sich immer in die zukünftige Zeitrichtung. Dabei handelt es sich um ein bekanntes Wellenphänomen. Beispiel: ein Stein, der in einen See geworfen wird. Dabei treten konzentrische divergierende Wellen auf der Oberfläche des Sees auf, niemals Wellen, die sich auf einen einzigen Punkt hin bewegen. Diese Situation ist vom Standpunkt eines theoretischen Physikers aus gesehen überraschend, da die grundlegenden Gleichungen der hier relevanten Maxwellschen Theorie sowohl die gewöhnlichen ‚retardierten‘ Lösungen als auch in der Zeit ‚avancierte‘ Lösungen 12
Zum Folgenden R. Penrose, Singularities and Time-Asymmetry, in: S. W. Hawking/W. Israel (Eds.), General Relativity. An Einstein Centenary Survey, Cambridge 1979, S. 581–638.
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erlauben. Da keine weiteren Gesetze vorliegen, würde man erwarten, daß die Anfangs- und Randbedingungen des Universums – genau wie beim thermodynamischen Zeitpfeil – für den radiativen Zeitpfeil verantwortlich sind. 2. Ausgehend von den besten, auf Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie basierenden Modellen expandiert unser Universum. Diese Expansion definiert den kosmologischen Zeitpfeil. Interessante Fragen treten auf, wenn man versucht, diesen Zeitpfeil mit dem thermodynamischen Zeitpfeil in Verbindung zu bringen. So hat der Kosmologe Thomas Gold, einer der Begründer der Steady-State-Theorie, die Frage aufgeworfen, ob die Entropie steigt oder fällt, wenn das Universum in einem sogenannten ‚big crunch‘ kollabiert, wie es einige Modelle vorsehen. Ausgehend vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik sollte die Entropie natürlich steigen, sogar dann, wenn das Universum in seinen Anfangszustand zurückkehrt. Von diesem Anfangszustand wird jedoch angenommen, daß es sich um einen Zustand von sehr niedriger Entropie gehandelt hat. Ein solcher Zustand kann nur dann wieder erreicht werden, wenn die Entropie nach Überschreiten eines Wendepunktes wieder abfällt. Um dieses Rätsel zu lösen, wurden geniale Argumente vorgebracht; eine wirkliche Lösung steht noch immer aus. 3. Die Allgemeine Relativitätstheorie sagt den Graviatationskollaps eines hinreichend massereichen Sternes in ein schwarzes Loch voraus. Nach dem Kollaps bleibt das schwarze Loch unverändert bis zum Ende der Zeit. Die Allgemeine Relativitätstheorie erlaubt aber auch den dazu zeitgespiegelten Prozeß. Dabei handelt es sich um eine Singularität, weißes Loch genannt, die sich eine unbestimmte Zeit nach dem Beginn des Universums in einer Explosion von gewöhnlicher Materie entlädt. Bedenkt man, daß wir inzwischen sicher von der Existenz schwarzer Löcher ausgehen – sie befinden sich sogar im Zentrum unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße – und es keiner-
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lei Evidenz für weiße Löcher gibt, spricht dies für einen gravitativen Zeitpfeil, der wiederum, so wird vermutet, mit dem kosmologischen Zeitpfeil zusammenhängt. 4. Auch die Mikrophysik scheint ihren Zeitpfeil zu haben. Im quantenmechanischen Meßprozeß kollabiert ein gegebener Zustand, den man in einer Basis aus so genannten Eigenzuständen des zu messenden Operators, d. h. Zuständen, die eindeutigen Meßwerten entsprechen, konstruieren kann, instantan mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in einen dieser Eigenzustände. Die entsprechende Wahrscheinlichkeit kann aus den Gesetzen der Quantenmechanik berechnet werden; jedenfalls ist das die Geschichte, die die Kopenhagener Interpretation erzählt. Offensichtlich ist der Meßprozeß irreversibel, weil alle Information über die anderen Beiträge zum Zustand des Systems vor der Messung im Meßprozeß gelöscht wird; diese Information ist für immer verloren. Doch eine derartige Schlußfolgerung ist von der gewählten Interpretation des quantenmechanischen Formalismus abhängig. Um dies einzusehen, ist es hilfreich, einen Blick auf die Bohmsche Variante der Quantenmechanik zu werfen. Diese Theorie kann empirisch nicht von der Standardformulierung der Quantenmechanik à la Bohr und Heisenberg unterschieden werden. Eine Reduktion des quantenmechanischen Zeitpfeils auf den thermodynamischen Zeitpfeil ist im Rahmen dieser Interpretation allerdings vorstellbar, da die Bohmsche Theorie nah verwandt ist mit der klassischen statistischen Mechanik. Dies setzt jedoch die Lösung des Problems der Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik voraus – eine ebensfalls offene Frage. 5. Ein weiterer Zeitpfeil ist recht kurios. Er zeigt sich nur ab und zu in hochenergetischen Teilchenreaktionen, die auf künstliche Weise in einem Labor hergestellt werden können oder im sehr frühen Universum auftraten. Neutrale K-Mesonen zerfallen in einem Prozeß, der den Erhaltungssatz für Ladung und Parität verletzt. Gälte ein solcher kombinierter Erhaltungssatz,
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so sollte ein Prozeß, bei dem alle Teilchen Ladungen mit umgekehrten Vorzeichen haben und der gesamte Prozeß zeitgespiegelt verläuft, vom ursprünglichen Prozeß nicht unterscheidbar sein. Eine Verletzung des Erhaltungssatzes für Ladung und Parität hat dann aufgrund eines fundamentalen Theorems der Quantenfeldtheorie zur Folge, daß auch die Zeitinvarianz der betreffenden Prozesse verletzt ist. Im Gegensatz zu den anderen erwähnten Zeitpfeilen haben wir es hier zum ersten Mal mit einem wirklich nomologisch irreversiblen Prozeß zu tun. Leider ist es bislang nicht gelungen, diesen fundamentalen Zeitpfeil mit dem thermodynamischen oder einem anderen Zeitpfeil in Verbindung zu bringen. Unterschiedliche Zeitpfeilkonzeptionen geben Anlaß zu interessanten Grundlagenfragen. Die wichtigste ist wohl, wie die verschiedenen Zeitpfeile miteinander zusammenhängen. Gibt es einen fundamentalen Zeitpfeil (‚master arrow‘), auf den sich alle anderen Zeitpfeile in gewisser Weise reduzieren lassen? Oder müssen wir die Vielfalt fundamentaler und irreduzibler Zeitpfeile in der Natur akzeptieren? Von einer definiten Antwort auf derartige Fragen ist die Forschung noch weit entfernt. So haben sich alle bislang gemachten Vorschläge zur Reduktion unterschiedlicher Zeitpfeile auf den kosmologischen Zeitpfeil als fehlerhaft erwiesen.13 Also bleibt es vorerst bei einer Pluralität von physikalischen Zeitpfeilen. Die gegenwärtige Physik liefert uns keinen fundamentalen Zeitpfeil; sie erklärt daher auch nicht die Richtung der Zeit. Das ist allerdings auch nicht völlig überraschend. Immerhin ist es der Physik bislang auch nicht gelungen, eine Theorie zu entwickeln, die die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie vereinigt. Zwar gibt es Vorschläge für eine solche Theorie von Allem (wie z. B. die Superstring-Theorie), doch leiden alle diese Theorien noch unter zahlreichen konzeptionellen Problemen. Dies macht es unmöglich, das Problem der 13
Vgl. H. Price, Time’s Arrow & Archimedes’ Point (wie Anm. 9).
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Richtung der Zeit physikalisch abschließend zu behandeln. Eine Bemerkung zum kanonischen Ansatz in der Theorie der Quantengravitation mag dies illustrieren. Hier stellt sich heraus, daß die fundamentale Gleichung dieser Theorie die Zeit nicht explizit als Variable enthält. Das wiederum unterstützt offenbar die These, daß wir tatsächlich in einem Parmenideischen Blockuniversum leben, in dem Zeit eine Illusion des menschlichen Geistes ist und sich (im besten Falle) als ein emergentes Phänomen herausstellt. Viele Forscher favorisieren derzeit die Hypothese, nach der Zeit nicht fundamental ist, sondern erst auf einer höheren Organisationsebene auftritt, um Ereignisse zu ordnen. Auch hier bleiben jedoch viele Fragen offen. So ist z. B. unklar, wie sich diese Vorstellung mathematisch und konzeptionell präzise fassen läßt. Schließlich kann die Zeit nicht in der Zeit entstehen. Was bedeutet es also, wenn von der Emergenz der Zeit gesprochen wird? Schlägt hier am Ende gar die Stunde lebensweltlicher Zeitkonzeptionen? Auch für diese ist die Zeit weitgehend ein Rätsel, aber sie ist, im Unterschied zur Zeit in der physikalischen Theoriebildung, greifbar nahe und keineswegs kontraintuitiv: Weder reiten wir, wenn wir der lebensweltlichen Erfahrung nahebleiben, auf einem Zeitpfeil, noch leben wir in einem Parmenideischen Blockuniversum, in dem sich nichts bewegt.
2. Von Handlungen, Gestalten und Zeiten Was nicht in der Natur ist, ist in uns. So lautet üblicherweise die philosophische Alternative zu einem physikalischen Zeitbegriff. Neben die physikalische Zeit tritt im ‚Strom des Bewußtseins‘ die erlebte Zeit. Auf diese richtet sich neben einem theoretischen Interesse, das auch dem naturwissenschaftichen Zeitbegriff gilt, das anthropologische Interesse. Zwischen einer Physik der Zeit und einer Anthropologie der Zeit liegen, so scheint es, philosophische Welten. Doch das muß nicht so sein. Wenn nämlich auch die Physik, wie dargestellt, derzeit über
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keine abschließende Theorie der Zeit verfügt, dann ließen sich möglicherweise auch zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem anthropologischen Zeitbegriff Verbindungen herstellen. Als Begründer eines anthropologischen Zeitbegriffs gilt unser schon erwähnter Kirchenvater Augustin. Für diesen war Zeit nicht eine Eigenschaft der Welt, sondern eine Eigenschaft der Seele. Nicht Bewegungen in der Welt oder in der Natur ‚messen‘ die Zeit, sondern die Seele ‚mißt‘ die Zeit, diese im Sinne einer andauernden Gegenwart verstanden.14 Hier wird ein ‚kosmologisches‘ Paradigma der Zeit, wie es bereits Platon und Aristoteles vertraten, durch ein ‚psychologisches‘ oder ‚mentales‘ Paradigma ersetzt, das uhrenunabhängig ist und den Begriff der physikalischen Zeit durch den Begriff der erlebten Zeit ersetzt. Nicht die Welt, die Natur (etwa in Form von periodischen Planetenbewegungen) ‚hat‘ Zeit, nur die Seele ‚hat‘ Zeit. Daher ist auch die Seele das Maß der Zeit. Das bedeutet: Zeit hat eine subjektive Struktur. Nicht irgendeine Zeit – im Sinne von: die (physische) Welt hat ihre Zeit, und der Mensch hat seine oder die Seele hat ihre Zeit –, sondern die Zeit. Für Augustin konstituieren die Vergegenwärtigungsleistungen des Menschen (memoria, contuitus, expectatio) die Zeit selbst. Sowohl die Antwort auf die Frage ‚wo ist die Welt?‘ als auch die Antwort auf die Frage ‚wo ist die Zeit?‘ lautet: ‚in der Seele‘.15 Damit scheint das Dilemma perfekt: Auf der einen Seite die physikalische Zeit, von der die (moderne) Physik sagt, daß es sie in Wahrheit, bezogen auf das Wesen der Naturgesetze, nicht oder doch nur ‚am Rande‘ der Natur gibt; auf der anderen Seite die mentale Zeit, von der auch die modernen Jünger Augustins sagen, daß es außer ihr keine Zeit gibt. Zwischen beiden Vorstellungen von Zeit, erkenntnistheoretisch gesprochen: zwischen einem philosophischen Physikalismus und einem philo-
14 15
A. Augustinus (wie Anm. 4), S. 632 ff. Vgl. A. Augustinus, a.a.O., S. 640 ff.
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sophischen Psychologismus oder Mentalismus, scheint die Zeit selbst ihre eigentümliche Wirklichkeit zu verlieren. Wo wir die Zeit vermuten, irgendwo zwischen der Zeit in der Natur und der Zeit in uns, sagen uns Physik und Philosophie, daß sie dort nicht ist. Zur Lösung dieses Dilemmas sei hier die These vertreten, daß zeitliche Strukturen Handlungsstrukturen entnommen werden. Nicht die Natur und nicht das Ich (die ‚Seele‘) sind der Schlüssel der Zeit, sondern die Art und Weise, wie sich der Mensch in seinen Handlungen und durch seine Handlungen orientiert. Handlungen erfolgen nicht so sehr in der Zeit – dieser Aspekt ist Handlungen äußerlich, z. B. wenn man sie relativ zu einer mit Uhren gemessenen Zeit betrachtet –, sie haben vielmehr ihre eigene Zeit. Das heißt, sie haben ihre eigene Dauer und ihre eigene Ordnung. Nehmen wir das Schachspiel als ein Beispiel: Hier hat ein Handlungszusammenhang seine Dauer und seine (in diesem Falle regelbestimmte) Ordnung. Daß das Schachspiel, wie andere Spiele, auch gegen die Uhr gespielt werden kann, ist ein eher ‚äußerliches‘, willkürliches Element. Spiele haben ihre eigene Zeit. Wo sie in die Uhrenzeit eingepaßt werden, verlieren sie ein Stück ihres Wesens. Als weiteres Beispiel: das Gespräch der Liebenden. Hier liegt fast schon sprichwörtlich zeitliche Entrückung vor. Dieses Gespräch dient weder einem bestimmten Zweck, noch unterliegt es irgendwelchen Regeln, noch ist man sich seiner als Handlung überhaupt bewußt. Für beide Beispiele gilt, daß sich die Dauer einer Handlung in der (gemessenen) Zeit ausdrücken läßt. Doch ist damit an einer Handlung nur dasjenige erfaßt, was übertragbar und gerade darum kein konstitutives Element der Handlung selbst ist. Mit anderen Worten: Jede Handlung hat gewissermaßen zwei Zeiten, eine eigene Zeit und eine ihr fremde Zeit. Die eigene Zeit ist primär, die fremde Zeit sekundär. Konstitutiv für Handlungen überhaupt ist die Existenz einer ihnen eigenen Zeit. Wenn Handlungen nicht ihre eigene Zeit hätten, verstünden wir überhaupt nicht, was Zeit bedeutet. Die ‚allgemeine‘ Zeit,
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d.h. die öffentliche oder, wie Heidegger sagt, die ‚Weltzeit‘16, hat einen abgeleiteten Modus. Dabei gehört zu den legitimierenden Strukturen dieser allgemeinen Zeit das selbst handlungsbezogene Bedürfnis, Handlungen und ihre Zeiten zu vergleichen und zu koordinieren (z. B. in Form von Fahrplänen und Verabredungen). An dieser Stelle ließe sich einwenden, es gäbe nicht nur die Zeit von Handlungen, die Handlungszeit, sondern auch die Zeit der Natur, die natürliche Zeit (z. B. Tag und Nacht, Sommer und Winter, Jugend und Alter). Gemeint wäre: das, was wir tun und was wir können, hat seine Zeit, und das, was wir nicht tun und was wir nicht können, hat seine Zeit. Letzteres bestimmt zudem, z. B. in der natürlichen Ordnung der Tage und Nächte, alle Handlungen. Ist also womöglich doch eine natürliche Zeit die Zeit, in der unsere Handlungen (mit ihrer Zeit) sind? Auch diese ‚natürliche‘ Zeit – die nicht die in einer Physik der Zeit gesuchte oder verabschiedete Zeit ist – aber läßt sich in Handlungsstrukturen ausdrücken. Dazu muß man sich nur klarmachen, daß wir nicht erst handlungslos in der Natur (in der Welt) sind, um diese dann mit unseren Handlungen oder unsere Handlungen mit ihr zu verbinden. Natur, das ist zunächst einmal nichts anderes als die naturhafte Seite von Handlungen. Es ist eine Erfahrung, die wir mit unseren Handlungen und mit der Natur machen. So ist beim Gehen der Boden (als ein Stück Natur bzw., wenn bearbeitet, als ein Stück Welt) Teil der Handlung Gehen; im Gehen unterscheiden wir nicht zwischen unseren Beinen und dem Boden. Beim Sprechen sind die Stimmbänder (als ein Stück Natur) Teil der Handlung Sprechen; im Sprechen unterscheiden wir nicht zwischen unseren Stimmbändern und dem, was wir sagen. Beim Sehen sind die Augen (auch ein Stück Natur) Teil der Handlung Sehen (z.B. in der Weise des Hinsehens); im Sehen unterscheiden wir nicht zwischen unseren Augen und dem, was und wie wir sehen. Natur (Welt) ist in beiden 16
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 141977, S. 406 ff.
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Beispielen als ‚Unterlage‘, ‚Material‘, ‚Widerstand‘, ‚Raum‘ Teil, und zwar integraler Teil von Handlungen. Handlungen selbst unterscheiden nicht zwischen dem, was an ihnen Handlung und was an ihnen Natur (Welt) ist. Das gilt im engeren Sinne auch für eine naturhafte Zeit als integralem Teil von Handlungen. Beispiele: Die Zeit zwischen Aufwachen und Aufstehen (eine schwere Zeit), die Zeit zwischen zwei Glas Bier unter Freunden (eine leichte Zeit), die Zeit zwischen Denken und Tun, Wunsch und Verzicht (eine vergeßliche Zeit), die Zeit zwischen Hoffen und Bangen (eine launische Zeit). Das alles bedeutet: Handlungen haben nicht nur ihre eigene Zeit, in ihnen lernen wir auch in Handlungs- und in Erfahrungsform das kennen, was an der Welt und was an uns selbst Natur ist. Die Welt ohne unmittelbaren Rekurs auf (eigene) Handlungen, sozusagen auf eigene Faust sehen zu wollen, ist allemal etwas, mit dem wir fortfahren, nichts, mit dem wir beginnen. Deswegen ist aber auch Natur etwas, das wir ursprünglich haben (in Handlungsform) und dann verlieren, nichts, dessen primäre Kenntnisform die Aneignung wäre. Damit ist aber auch schon gesagt, daß sich das, was in einem ursprünglichen Sinne eine Einheit bildet (gemeint ist Natur als naturhafte Seite von Handlungen), ‚nachträglich‘ begrifflich zerlegen läßt, z. B. in eine Handlungszeit und in eine Naturzeit, ohne daß jene damit die Zeit der ‚Seele‘ und diese die Zeit der Physik wäre. Entscheidend ist vielmehr, daß wir es hier mit einem Zeitbegriff zu tun haben, der dem genannten Dilemma von Physikalismus und Psychologismus (oder Mentalismus) nicht unterliegt und selbst einen (zunächst) uhrenfreien, gestalthaften Charakter besitzt.17 Solche gestalthaften Formen der Zeit sind die Zeit des Nachhausegehens, die Zeit des Abschieds, die Zeit der Liebe, die Zeit des Glücks; aber auch die Zeit des Monsuns, die Zeit des Wassermanns oder die Zeit der Erdbeeren. 17
Vgl. W. Wieland, Prolegomena zum Zeitbegriff, in: H. Schipperges (Hg.), Pathogenese. Grundzüge und Perspektiven einer Theoretischen Pathologie, Berlin 1985, S. 7–31.
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Was hier über den Begriff der Handlung klarzumachen versucht wurde, läßt sich auch für den Begriff des Lebens verdeutlichen. Die menschliche Zeit spiegelt sich in zeitlichen Gestalten des Lebens. Diese sind ‚Schicksalsformen‘ des Lebens, weil sie, wie Jugend, Reife und Alter, „dem Entwicklungsprozeß wesentlich sind. Schicksalsformen sind nicht Formen des Seienden, sondern für das Seiende; das Sein tritt unter sie und erleidet sie“18. Jugend und Alter, aber auch Abschied und Glück sind nicht Eigenschaften des (individuellen) Lebens, sondern Formen, Gestalten, Zeiten, unter die ein Leben tritt. Aus der ‚Natur‘ des Lebens bestimmt sich seine Zeit; das Leben ist kein zeitlicher Prozeß. Oder noch anders formuliert: Die Zeit des Lebens sind seine Zeiten. Und wieder hat das hier Gesagte weder etwas mit einer Physik der Zeit zu tun, die die Zeit aus den Augen verliert, noch mit einer Verinnerlichung der Zeit, die die Seele zur Hüterin der Zeit erklärt. Eher schon etwas mit Kants Vorstellung, daß die Zeit eine (reine) Form oder eben auch Gestalt ist, die allen unseren Anschauungen, Erfahrungen, Handlungen zugrundeliegt. Weder in einer vierdimensionalen Mannigfaltigkeit noch in der Seele finden wir die Zeit, die unsere Zeit, die eine menschliche Zeit ist. Das sahen auch die Griechen – meine besonderen philosophischen Freunde – so. Als die Philosophie die Zeit als ein philosophisches Problem erfand, war sie gerade mit kosmologischen Fragen beschäftigt. Zeit, so Platon im „Timaios“, hat ein kosmisches Wesen. Sie entstand mit dem Kosmos, nämlich mit dessem ‚unvergänglichen‘ aionischen Wesen. Aion (f), d. h. Leben, erfüllte Zeit, bildet die Ewigkeit ab, die das Wesen eines idealen Kosmos (das Wesen seiner Idee im Platonischen Sinne) ist, die ‚bewegte‘ Zeit (RD½«) bildet den Aion ab. Platon unterscheidet also zwischen den Zeitformen eines idealen Kosmos, bezeichnet als 18
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die Philosophische Anthropologie, in: ders., Gesammelte Schriften IV, Frankfurt/M. 1981, S. 211 f.
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‚ewiges Lebewesen‘ (U) c $¼)19, eines geschaffenen Kosmos, der ebenfalls eine unvergängliche Struktur hat, und der ‚bewegten‘ oder gemessenen Zeit, die ein Abbild des astronomischen Wesens des Kosmos ist und wie dieser eine periodische Struktur hat.20 Die ‚bewegte‘ Zeit bedeutet hier nicht das ‚Wesen‘ der natürlichen Welt (wie ‚alles ist zeitlich‘ im Sinne von ‚alles entsteht und vergeht‘), sondern die Darstellung des aionischen Wesens der Welt, in dem sich die Ewigkeit ‚verzeitlicht‘. Von Anfang an ist dabei mit dem Begriff der Zeit der Begriff des Lebens verbunden: Aion ist Leben. Ferner ist der Kosmos Inbegriff unterschiedlicher Zeitformen, darunter auch der Formen der Naturzeit, der Handlungszeit und der Lebenszeit. Das wird auch bei Aristoteles, der in kosmologischen Dingen sonst nicht sehr platonisch denkt, (im ersten Buch seiner Schrift „Über den Himmel“) deutlich: „Ohne Wandel und Leid hat er [der Kosmos] das beste und unabhängigste Leben den ganzen Aion hindurch. Dieses Wort ist in göttlicher Weise von den Alten geprägt worden. Denn das vollendet Ganze (GQ«), das die Zeit des Lebens eines jeden einzelnen [Lebewesens] umfaßt, außerhalb deren es der Natur nach nichts gibt, wird der Aion jedes einzelnen genannt.“21 Das bedeutet, nicht nur der Kosmos hat seine Zeit, seinen Aion, sondern auch jedes Lebewesen. Eben das aber läßt sich so ausdrücken, daß nicht die Zeit das Leben schafft, sondern daß das Leben seine Zeit (Aristoteles: seinen Aion) hat.22 Und diese Zeit ist zugleich eine kosmische, ‚naturhafte‘ Zeit. Natur und Leben sind noch, ohne daß dies als sonderlich mythisch angesehen werden müßte, ineinandergearbeitet. In der Platonischen Konzeption kommt das dadurch zum Ausdruck, daß es die ‚Teile‘ der (bewegten) Zeit sind, die in ihrer 19 20 21 22
Tim. 37d. Vgl. Tim. 37d-38a. Zur Astronomie der Zeit: Tim. 35a-36d. De cael. A9.279a20–25. Vgl. G. Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt/M. 1974, S. 80 f.
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periodischen Struktur das Ganze des (kosmischen) Aion ‚nachahmen‘. Wie die ‚Zeit des Kosmos‘ Tage und Nächte, Monate und Jahre hat, so hat die menschliche Zeit die Lebensalter Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter. Das Leben besteht aus gegliederten Ganzheiten, eben (zeitlichen) Gestalten. Es hat keine zeitliche Struktur im Sinne einer Auflösung in ein zeitliches Kontinuum oder eines Zeitpfeils, auf dem wir vermeintlich reiten; es hat zeitliche Gestalten. Daher besteht das Leben auch nicht aus Zeit, sondern aus Zeiten. Diese wiederum ‚ahmen‘ die zeitliche Struktur des Kosmos ‚nach‘: die menschliche Zeit und das menschliche Leben stellen die kosmische Zeit und das kosmische Leben dar. Physik und Anthropologie haben sich (noch) viel zu sagen. Gelebte und kosmische Zeit verbinden sich im Gestaltcharakter der Zeit. Das Leben hat zeitliche Gestalten, die sich abwechseln oder aufeinander folgen wie Tag und Nacht, Morgen und Mittag, Herbst und Winter. Deshalb kann auch Achill immer jung bleiben – sein Leben ‚hat‘ nur die Gestalt Jugend; und deshalb birgt auch jede zeitliche Gestalt andere Erfahrungen (nach Aristoteles z. B. Mathematik für die Jugend, Metaphysik für das Alter). Grenzen der zeitlichen Gestalten des Lebens bestimmen zu wollen, ist sinnlos; die Erfindung der Uhr täuscht über diesen Umstand nur hinweg. Die Alternative wäre ein Kontinuummodell der Zeit oder das Bild vom Zeitpfeil, und beide gehören einer anderen Welt, der Welt der Physik an. Nicht die Zeit fließt, sondern die Dinge fließen, verändern sich, allerdings gestalthaft, in der Zeit. Schon die Aristotelische Zeittheorie läßt die Vorstellung, wie sie sich in der Wendung ‚die Zeit vergeht‘ zum Ausdruck bringt, nicht zu. Zeit ist in der Physik des Aristoteles eine Form der Bewegung. Mit der Bewegung bewegt sich aber nicht die Zeit; nur die Dauer wächst analog zu der in einer Bewegung zurückgelegten Strecke.23
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Vgl. P. Janich, Die Protophysik der Zeit. Konstruktive Begründung und Geschichte der Zeitmessung, Frankfurt/M. 1980, S. 255.
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Damit entsprechen die Platonischen und die Aristotelischen Zeitkonstruktionen der gelebten und der (in Mythen und alltagssprachlicher Form) dargestellten Zeit ihrer Zeit. Was hier archaisch wirken mag, ist weit eher Ausdruck lebensweltlicher Erfahrungen im Umgang mit der menschlichen Zeit, die noch nicht den Weg entweder in eine abstrakte physikalische Theorie oder in die Seele genommen hat. Daß wir heute andere Erfahrungen zu machen scheinen und daß wir die (theoretischen) Dinge unterschiedlich betrachten, liegt daran, daß andere Zeitkonstruktionen, wie beispielsweise alltagsphysikalische, die Lebenswelt beeinflussen. Das Bedürfnis, konkrete Zeiten, darunter auch wieder Handlungszeiten, Naturzeiten und Lebenszeiten zu koordinieren, jederzeit von einer zeitlichen Gestalt in eine andere gehen zu können, andere Zeitgestalten begreifen zu können, führt zu einer ‚abstrakten‘ Zeit, die überall gleich und überall eine Zeit ist. Zeittheorien, die in der Regel in diesem auch alltagsphysikalischen Sinne Theorien einer abstrakten Zeit sind, haben diesen praktischen Hintergrund. Paradigmen des Übergangs von konkreten Zeiten, damit auch dem Gestaltmodell der Zeit, zu einer abstrakten Zeit sind die Uhren. Diese kommen (noch einmal) aus der Gestaltvorstellung der Zeit (astronomische Modelle des Kosmos sind auch Uhren) und führen in die Kontinuumvorstellung oder Zeitpfeilvorstellung der Zeit. In der Platonischen Astronomie stellt, wie erwähnt, der ‚Kreis des Gleichen‘ (die Drehung des Himmels um seine Achse) die ‚reine‘ aionische Periodizität dar (wie das Zifferblatt einer Analoguhr), der ‚Kreis des Ungleichen‘ (die Planetenbewegung auf der Ekliptik) einen himmlischen Kalender.
Schlußbemerkung Zeit ist ein Erfahrungselement, wie auch Raum ein Erfahrungselement ist. Dabei können wir Wege zurückgehen, nicht aber Zeiten. Das macht uns im übrigen den Raum zu etwas Vertrautem, die Zeit zu etwas in Wahrheit Unvertrautem. Poetisch
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formuliert: Der Raum ist das, worin Heimat ist, die Zeit ist das, was heimatlos macht – worüber auch die öffentliche, die verwaltete Zeit, etwa in Fahrplänen, in Lebens- und Wochenarbeitszeit ausgemessen, nicht hinwegzuhelfen vermag. Die Chance einer wiedergewonnenen Zeit liegt daher auch nicht im immer enger werdenden Netz der verwalteten Zeit und nicht in einer physikalistischen oder psychologistischen bzw. mentalistischen Zeitauffassung. Diese haben selbst einen abgeleiteten Status. Wenn wir wissen wollen, was Zeit ist, reicht es eben nicht aus, auf Zeitpläne und Uhren zu zeigen oder Erinnerungen zu bemühen. Worauf es ankommt, ist, den Handlungs- und Gestaltcharakter der Zeit wieder zu einem wirklichen Erfahrungselement des Lebens, des individuellen wie des gesellschaftlichen Lebens, zu machen. Nur wenn das Leben (gestalthafte) Zeiten hat, weiß es auch, was Zeit ist. So wird denn auch im Gestaltcharakter der menschlichen Zeit deutlich, daß der Mensch nicht nur ein Teil der Natur ist. Insofern er um den Gestaltcharakter seiner Zeit weiß und über alle zeitlichen Gestalten hinweg auch um seinen Tod weiß, wendet sich in ihm Natur vielmehr gegen sich selbst.24 Natur wird, auf Zeit, zum Selbstbewußtsein, zum Ich – um den Preis des Todes, den nur ein Mensch sterben kann, aber auch um einer Freiheit willen, die nur ein Mensch leben kann. Auch das lehrt ein Blick in den Dschungel theoretischer Zeitbegriffe und in die Ordnung eines praktischen Zeitbegriffs. Theorien können sich eben nicht an die Stelle von Erfahrungen setzen; allerdings auch (leider) Erfahrungen nicht an die Stelle von Theorien. t for two – zwei, die sich wohl doch nicht viel zu sagen haben.
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Vgl. H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Frankfurt/M. 1976, S. 123.
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Wissen in der Zeit Zehn Erwägungen zur dauernden Flüchtigkeit des Sinns 1. Alles hat seine Zeit Die Zeit ist aus unserem Dasein nicht wegzudenken, auch wenn sie niemand je gehört oder gesehen hat. Was immer geschieht, hat seine Zeit; was immer zu Ende geht, hat seine Zeit gehabt. Oft genügt die Angabe eines Zeitpunkts, um einen Vorfall hinreichend deutlich zu bestimmen. Auch wenn das Ereignis alle Vorstellung übersteigt, genügt es doch, „11. September“ zu sagen, um jedem augenblicklich klar zu machen, wovon die Rede ist. Das gilt nicht nur für historische Ereignisse. Von manchem Leben bleiben nur zwei Jahreszahlen zurück, die den Anfang und das Ende bezeichnen – und damit die Zeit angeben, in der ein Mensch gelebt hat. Manchmal weiß man damit schon genug. Gelegentlich genügt es, das Alter einer Person zu nennen, und es ist alles gesagt: „Sie wollen sich um ein Habilitationsstipendium bewerben? Wie alt sind Sie? 36? Das können Sie vergessen.“ Wer eine solche Antwort erhält, steht bereits außerhalb des Horizonts, in dem er sich orientieren wollte. So hat selbst noch ein geschlossener Zeithorizont eine Zeit, die ihn umgreift. Wir können uns schlechterdings gar nichts denken, was nicht von minimaler Dauer wäre und sein Vorher, Nachher und Zugleich haben muß. Und da ändert es nichts, daß sich alles auf der schiefen Ebene der Vergänglichkeit befin-
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det. Denn selbst das, was von dort im Nichts verschwindet, hat seine Zeit gehabt. Überdies bleibt der Zeitpunkt seines Verschwindens ein Teil der Zeit.
2. Die Dauer des Augenblicks So offensichtlich und unausweichlich die Erfahrung der Zeit auch sein mag: Ihr Dasein bleibt hinter den Dingen verborgen, an denen sie sich zeigt. Stets bedarf es eines Vorgangs im Raum, einer Bewegung oder eines spürbaren Stillstands physischer Dinge, um die Zeit erfahren zu lassen. Auch wenn wir noch so oft das Gegenteil behaupten: Keine Uhr zeigt uns „die Zeit“ an. Sie zeigt uns lediglich den phänomenalen Stillstand der Zeiger über dem Ziffernblatt und erlaubt uns, gesetzt, wir vertrauen auf ihren richtigen Gang, aus dem augenblicklichen Stand einer räumlichen Bewegung auf einen korrespondierenden Zeitpunkt zu schließen. Den Zeitpunkt lokalisieren wir auf einer imaginären Reihe ähnlicher Punkte. Und es ist diese Reihe, nach deren Modell die Zeit üblicherweise vorgestellt wird, obgleich niemand weiß, wie diese Reihe beschaffen ist und wo sie eigentlich verläuft. Das Paradigma der Zeit besteht somit in einer Reihe kontinuierlich durchlaufener Punkte. Wir können kaum umhin, uns die Zeit in dieser Art zu denken, obgleich sie strenggenommen nur in der Gleichzeitigkeit besteht, in der wir uns selbst mit dem Zeiger der Uhr oder dem Lauf der Sonne bewegen. Dieser Gleichzeitigkeit paralleler Bewegungen aber liegt die unmittelbar nur uns selbst gegebene Dauer des Augenblicks zugrunde. Dauer des Augenblicks – die Paradoxie des Ausdrucks wird nur noch durch die Paradoxie der mit ihm bezeichneten Erfahrung überboten. Die nicht meßbare Extension des ephemeren Jetzt soll die alles tragende Basis der Zeitreihe und damit die Grundlage von Vergangenheit und Zukunft sein. Der unausgedehnte, sich jeder Endlichkeit entziehende Punkt des Erlebens wird zum Träger der Unendlichkeit. Das Ganze der in Jahrmil-
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liarden ausgestreckten Zeit balanciert auf der Spitze eines ultrakurzen Moments, der sich begrifflich so verkleinern läßt, daß er gegen Null tendiert.
3. Die phänomenologische Essenz der Zeit Die Dauer des Augenblicks läßt sich nicht denken, wenn wir die Mechanik der äußeren Welt zum Maß der Dinge erheben. Solange wir, wie dies die Physiker in professioneller Beschränkung tun, der physikalischen Außenwelt den metaphysischen Primat einräumen, bleibt die Zeit ohne Grund. Sie ist dann nur eine statische Reihe von unbeweglichen Punkten, die von den Dingen durchlaufen wird. Alle Dynamik liegt in den physischen Kräften, und die Zeit ist nur eine weitere Dimension des Raumes, der die Ortsbestimmung von Effekten ermöglicht. Die Zeit, wie wir sie erleben, kommt darin nicht vor. Die knappe und die erfüllte, die sich hinschleppende und die vertane Zeit sind im Modell der Physiker nicht vorgesehen. Aus der Position der privilegierten Außenwelt fehlt vor allem ein Zugang zum Grund der Zeit, der in nichts anderem als in ihrer Gegenwart zu finden ist. Nur in ihr hat die Zeit den Charakter der unaufhaltsamen Bewegung. Der bewegte Fluß der Zeit strömt also nur durch das Nadelöhr der Gegenwart, das es, aus der Sicht der physikalischen Außenwelt, gar nicht gibt. Denn zwischen „Vorher“ und „Nachher“ ist, physikalisch gesehen, kein Raum für die Zeit des Augenblicks. Wenn die Außenwelt schon alles wäre, käme die Zeit, wie sie uns gegenwärtig ist, gar nicht vor. Wenn das den Vorteil mit sich brächte, daß man die Zeit ignorieren könnte, würde ich mich augenblicklich zum Physikalismus bekehren. Doch die Zeit bleibt, auch wenn sie sich im Raum der Dinge nirgendwo findet; und sie bleibt mit ihrer Dauer in ihrem Fluß und ist allen gleichermaßen knapp bemessen. Auch der Physikalismus hat seine Zeit. Wenn wir die Zeit aus der Perspektive der Außenwelt nicht erfassen können und sie dennoch nicht auf sich beruhen lassen
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wollen, müssen wir auf das Erleben des Augenblicks zurückkommen, um sie aus der Perspektive des individuellen Daseins zu denken. Der erlebte Augenblick kann durchaus Dauer haben. Zwischen „Vorher“ und „Nachher“ liegt hier mitunter alles, was uns wichtig ist. Im Erleben können Stunden des Wartens oder Tage des Glücks zum Augenblick gerinnen. Hier hat die Zeit auch ihre triebhafte Richtung nach vorn. Hier kann ihr Fließen ebenso wie ihr Stillstand leibhaftig erfahren werden.
4. Der Vorrang des Erlebens Unter dem metaphysischen Primat der Außenwelt stellt sich leicht der Eindruck ein, als würde durch den Ausgang vom menschlichen Erleben alles „subjektiviert“ und somit beliebig. Doch so unsicher und schwankend kann das Erleben nicht sein, wenn es in der Lage ist, den strengen Takt der Zeitreihe zu begründen. Die Anhaltspunkte dafür liegen im Erleben selbst, das niemals bloß die leibhaftige Gegenwart von etwas Äußerem benötigt, sondern darüber hinaus auch stets in einer Korrespondenz zu äußeren Dingen steht. Wollte ich das für Träume und selbstläufige Spekulationen belegen, wäre ein beträchtlicher phänomenologischer Aufwand zu betreiben.1 Bei der Erfahrung der Zeit sind wir jedoch in einer ungleich günstigeren Lage. Denn hier muß die Eigenbewegung der Vorstellung nicht nur mit der gespürten Präsenz des eigenen Leibes verbunden, sondern zugleich auf die Bewegung eines physischen Gegenstands bezogen sein. Das zwischen Vorher und Nachher lokalisierte Jetzt ist mit der räumlichen Prä1
Was ich durchaus könnte. Jeder Traum, und erst recht jede bewußte geistige Tätigkeit, ist an die innere Widerständigkeit des Leibes gebunden, dessen Erfahrung selbst wieder an die Widerstände gebunden ist, denen er als ein dynamisch bewegter Körper unter dynamisch bewegten Körpern unablässig ausgesetzt ist.
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senz des Beobachters zugleich an eine räumliche Bewegung eines Gegenstands – etwa des Zeigers über dem Zifferblatt – gebunden. Für diese Bewegung können auch eine digitale Ziffernfolge, der Schatten der Sonnenuhr oder der Lauf der Sonne selber stehen. Doch was immer es auch sein mag: Der räumliche Gegenhalt ist unabdingbar. Er ist überdies so offenkundig, daß sogar von der Vorgängigkeit des Raumes gesprochen werden könnte, wenn nicht diese Vorgängigkeit selbst wieder unter zeitlichen Prämissen gedacht werden müßte. Gleichwohl gilt auch für die erlebte Zeit, daß sie stets an etwas hervortritt, das sie nicht selber ist. Und es ist dieses Andere unserer selbst, das wir notwendig mit anderen zu teilen haben, an dem unsere Vorstellungen ihre Festigkeit erlangen. So, wie die Priorität der Bedürfnisse nicht ausschließt, daß ein Organismus überlebt, so wenig schließt der metaphysische Vorrang unseres eigenen Erlebens aus, daß es in seinen eigenen Gegenständen die Form der wissenschaftlichen Arbeit annimmt.
5. Das Erleben vollzieht sich nicht in subjektiver Isolation Die erlebte Zeit hat ihren Vorlauf in der rhythmischen Organisation des Leibes, der damit auf die geordneten Bedingungen einer Umwelt reagiert, aus der er sich alles nimmt und von der er sich gleichwohl abgrenzt. Hier haben wir die primäre Korrespondenz zwischen Außen und Innen, eine ursprüngliche Gemeinsamkeit zwischen dem, was geschieht, und dem, was sich davon abgrenzt –: um nicht mehr zu tun, als sich zu erhalten und zu entfalten. Die interne Organisation eines Lebewesens ist auf die Rahmenbedingungen seiner Umgebung angewiesen, gibt sich aber die Standards und Effekte seiner eigenen Leistungen selber vor. Was immer ein Lebewesen vorfindet, unterstellt es den Konditionen seines eigenen Daseins. So erscheinen seine Verfassung und sein Verhalten gegenüber der Umwelt autonom. Den-
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noch müssen Struktur und Funktion des Organismus wie ein Problem begriffen werden, auf das eine Lösung nur in Kongruenz mit der Umwelt gefunden werden kann. So gesehen ist ein Organismus selbst nur das individuierte Organ eines sich steigernden Zusammenspiels zwischen ihm und seiner Welt. Was immer sich an und in ihm ereignet, einschließlich dessen, was primär für seine interne Problembewältigung von Bedeutung ist, bleibt somit ein Vorgang im unablässigen Austausch zwischen interner Organisation und externer Konstellation. Nichts am Organismus vollzieht sich in faktischer Isolierung von äußeren Vorgängen. Davon ist auch das menschliche Erleben nicht ausgenommen. Es muß selbst als ein Element im Austausch des Menschen mit seiner Welt begriffen werden. Und vielleicht gelingt es eines Tages, den Augenblick als das bewußt erlebte Zurücktreten des Problems zu beschreiben, das sich der Organismus selber ist. Unter dem Bedürfnisdruck der eigenen Organisation und angesichts der dichten Bewegungsfolge in der gegebenen Außenlage kann diese Suspension nur von begrenzter Dauer sein. Denken wir die erlebte momentane Befreiung von der Unmittelbarkeit von Reiz und Reaktion in Verbindung mit dem, was ihr vorausgeht und was ihr folgt, haben wir einen ersten Begriff der Zeit, der mit der äußeren Folge bloßer Zeitpunkte dann in Zusammenhang gebracht werden kann, wenn wir jeweils einen Punkt auf der physikalischen Zeitskala mit dem Augenblick des Erlebens simultanisieren. Das ist das Jetzt der Gegenwart. Die Berechtigung dazu gibt uns das kontinuierliche Wechselspiel zwischen interner Organisation und externer Konstellation des lebendigen Wesens.
6. Die gemeinsame Zeit Die simultane Kontinuität zwischen dem erlebenden Organismus und seiner Welt wird nicht dadurch gemindert, daß die Lebewesen mit ihresgleichen in engster Verbindung stehen.
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Die Kommunikation – über Ausdruck und Eindruck – verstärkt vielmehr die Beziehung zur Welt, auch wenn sie mehr Gelegenheiten schafft, die Unmittelbarkeit von Reiz und Reaktion zu suspendieren. Vielleicht ist es erst unter den Bedingungen sachhaltiger Verständigung zwischen gleichartigen Individuen möglich, eine Problempause als Augenblick zu erleben? Beim Menschen jedenfalls führt erst die ausdrückliche Beziehung auf seinesgleichen zu jener Versachlichung der Dinge und Ereignisse, die der Physikalismus metaphysisch apriorisiert. Eine Sache gewinnt ihre Kontur als Sache erst in der Verfügung über sie. Die Verfügung aber setzt die kontrollierte Koordination der Körperbewegungen voraus, und die kann selbst nur nach dem Modell einer Kommunikation des Leibes mit sich selbst gedacht werden. Die wiederum kann ohne die korrekturfähige Verständigung mit seinesgleichen nicht entstehen.2 Soll die aber so beschaffen sein, daß sie für viele Individuen so eindeutig ist, daß ein gemeinsames Handeln möglich wird, ist sie auf sachhaltige Begriffe angewiesen. Damit ist das artikulationsfähige Erleben nicht nur an das physische Reiz-Reaktions-Schema des Körpers, sondern auch an die bewußte Dynamik der Entwicklung der eigenen Population gebunden. Das Erleben der Zeit gewinnt seine Ordnung im ausdrücklichen Bezug auf die Dinge, über die nur verfügt werden kann, wenn die Kommunikation über sie in begrifflicher Eindeutigkeit erfolgt. Schließen wir von hier aus auf die Verzahnung von Erleben und umgebenden Kräften zurück, dann dürfen wir vermuten, daß die Begriffe im Weltbezug des Erlebens unerläßlich sind. Die Verknüpfung der Dauer des Augenblicks mit dem pünktlichen Jetzt einer physikalischen Bewegungskongruenz kann nicht unabhängig vom Wissen sein, das wir über uns selbst in Relation auf die Dinge haben. Die Vorstellung der Zeit ist somit
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Dazu: Arnold Gehlen, Der Mensch, Frankfurt/M. 101974, S. 136 ff.
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an die Präsenz eines Wissens gebunden, das erst im Dreieck zwischen dem Selbst, den Anderen und dem Anderen der Dinge zum Ausdruck kommt.
7. Die Intertemporaliät des Wissens Wenn schon das Erleben der Zeit so eng an die disponierenden Leistungen des Wissens gebunden ist, kann es nicht überraschen, wenn das Wissen seinerseits an die Zeit gebunden bleibt. Wissen entsteht, wenn man etwas über Zeiträume hinweg als gleichzeitig verbindet. Es besteht darin, daß es etwas Früheres jetzt präsentiert oder weil es etwas Gegenwärtiges für eine spätere Lage aufbewahrt. So verstehen wir um so mehr, daß es das Wissen ist, ohne das wir die Zeit gar nicht erfahren könnten. Die bloße Anschauung und das reine Erleben reichen nicht aus, um eine Vorstellung von der Zeit gewinnen zu können. Es muß ein Gegenständliches von Dingen und von mir selber sein, um die Zeit als Zeit vor das innere Auge zu bringen. Denn ich muß einen früheren Zeitpunkt im Bewußtsein halten, um ihn von späteren unterscheiden zu können. Erst das gewährt mir die Erfahrung der Sukzession der Zeit. Umgekehrt ist es offenbar die Zeit, die mich die Vorteile des Wissens erfahren läßt. Wissen erlaubt, Erfahrung auch in dichteren Zeiträumen zu machen. Die Zeit zwischen konkreter Erfahrung und Verhaltenskorrektur wird wesentlich verkürzt. Das Lernen im Gattungskontext wird beschleunigt. Wozu die Gene im Zuge der Evolution Jahrtausende benötigen, das kann im Medium des Wissens selbstbewußter Individuen in Sekunden übermittelt werden.3 Das Wissen erlaubt uns sogar, aus noch gar nicht ge-
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Mit Hilfe des Wissens hat die Natur schon eine Verkürzung evolutionärer Effekte erzielt, die jene Beschleunigung vorwegnimmt, die wir heute von der elektronischen Informationsverarbeitung erwarten.
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machten, sondern nur gedachten Erfahrungen zu lernen. Es ist das Wissen, das die Phantasie befähigt, ihre Schwingen auszubreiten.4
8. Die tendenzielle Ewigkeit des Wissens Wissen faßt und überbietet die Zeit. Es stellt sie in Rechnung und läßt sie zugleich vergessen. Es ist das interindividuelle Medium schlechthin und geht somit auch über gegebene Zeitpunkte hinweg. Es wirkt zwischen individuellen Situationen, zwischen Individuen und zwischen Zeiträumen überhaupt. Nur im Wissen um sie kann die Antike gegenwärtig sein.5 Das Wissen suggeriert die reine Gegenwart – und die simuliert die reine Dauer. Das ist der eine Punkt. Ein anderer liegt darin, daß Wissen Sicherheit verschafft: Wer etwas weiß, kann den Gang der Ereignisse abwarten. Unter Umständen kann er auch schneller handeln. Der Wissende glaubt im Voraus zu wissen, wie es kommt. Um so größer ist seine Überraschung, wenn es wider Erwarten anders kommt. 4
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Der Mensch ist das einzige Wesen, das auf der Basis des Wissens aus Erfahrungen lernen kann, die es noch gar nicht gemacht hat. Er kann nicht nur individuell erworbenes Wissen situativ weitergeben, sondern er kann Schlußfolgerungen ziehen, Erwartungen für die Zukunft formulieren und daraus wiederum etwas für sein eigenes Verhalten entnehmen. Das zeigt, wie (im Vergleich mit den Tieren, die nur in den seltensten Fällen eigene Erfahrungen von sich aus weitergeben können) der Mensch sich schon in seiner intellektuellen Grundausstattung individualisiert. Also verweist auch das hochindividualisierte Lernen des Menschen auf sein Selbstbewußtsein, das wiederum den erlebten Augenblick benötigt, um sich über das vorgestellte Ganze der Zeit zu erstrecken. Nur das Wissen läßt uns befürchten, daß die Demokratie nicht für Entscheidungen geeignet ist, die einen mehrheitlichen Verzicht, so notwendig er auch sei, mit sich bringen. Sie kann den Verzicht nur als Tatsache erleiden, wenn es zu spät ist, nicht aber vorab die einschneidenden Maßnahmen treffen. Ist Demokratie nur unter Wachstumsbedingungen tauglich?
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Wenn dies geschieht, ist der Wissende primär in seinem Wissen herausgefordert. Schon durch die getäuschte Erwartung weiß er mehr; er wird aber noch mehr zu wissen trachten, um erneut in den Stand gesicherten Wissens zu gelangen. So ist zu erkennen, daß Wissen, so sehr es auf die gewußten Bestände setzt, auf Vermehrung angelegt ist. Natürlich gibt es unter den Bedingungen individueller oder kultureller Saturiertheit ein Wissen, das sich selbst genügt. In Archiven und Bibliotheken kann man Wissen konservieren; es soll vorkommen, daß man in Klöstern und Kirchen, in Schulen und Universitäten mit totem Wissen handelt; Akademien sind davon nicht a priori ausgenommen. Gleichwohl ist dem Wissen qua Wissen die Neugierde eingeschrieben. Warum? Weil es, wenn Wissen wirklich Wissen sein soll, auf seine Korrektheit bedacht zu sein hat. Und allein damit ist das Wissen implizit auf den Zuwachs an konkreter Erfahrung berechnet. Der Wissende will möglichst schon vorher wissen, was passiert. Und wenn er in dieser Erwartung nicht getäuscht werden möchte, dann muß er das Richtige wissen. Also wird er Neues daraufhin zu prüfen haben, ob es sein Wissen bestätigt, erweitert oder korrigiert. Dem Neuen aber kann man nicht entgehen, sobald man überhaupt etwas weiß. Wer weiß, weiß auch von der Gefahr des Veraltens. Und wenn einer dieser Gefahr zu entgehen versucht, muß er auf die Vermehrung seines Wissens setzen.
9. Die Progressivität des Wissens im Medium der Dauer So unbehaglich es manchem gerade im Bewußtsein der möglichen Bewahrung seines Wissens auch sein mag: Das Wissen ist auf Fortschritt angelegt. Wir sind die Getriebenen unseres eigenen Wissens. Und selbst wenn es das Wissen ist, das uns dabei ein Unbehagen verschafft, müssen wir aus der Stagnation heraus. Das Schneller, Höher, Stärker, das manchen wie ein Fluch
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über der Moderne zu liegen scheint, ist ein Implikat des Geistes. Auf den Geist können sich die Anwälte des seienden Stillstands daher nicht berufen. Das Veralten des Wissens ist nur die Rückseite seiner impliziten Fortschrittlichkeit. So sehr das Wissen an die Zeit gebunden ist, so offenkundig hat es eine immanente Referenz zur Dauer. Was wir wissen, mag noch so sehr auf eine vergängliche Lage in der Zeit bezogen sein: In seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit scheint es aller Zeit entrückt. Das ist keine echte Ewigkeit, sondern eine funktionale Unendlichkeit, die zur Natur des Wissens und Begreifens gehört. Der immanente Zeithorizont des Wissens ist die unumschränkte Dauer. Der transzendente Zeithorizont des Wissens ist der Augenblick. Das Wissen weist somit auf die erlebte Zeit zurück. Sie hat immer gegenwärtig zu bleiben, wenn unser Reden von historischer oder physikalischer Zeit, und erst recht, wenn unser Reden vom Wissen einen Sinn haben soll.
10. Wissenschaft und Lebenszeit Was können wir aus der kurz gefaßten Erwägung über das Wissen in der Zeit für den Prozeß der Wissenschaft lernen? Ich habe zwölf wissenschaftspolitische Schlußfolgerungen formuliert, die von der Einsicht ausgehen, daß wir die Zeitkonditionen des Wissens zu bedenken haben. Gerade weil uns das Wissen unendliche Dauer suggeriert, haben wir die Pflicht, über seine Endlichkeit zu reflektieren. Wir fügen damit dem Wissen kein Unrecht zu, weil es ursprünglich auf die Zeit bezogen ist. Das gilt, nebenbei bemerkt, auch für die „Langzeitvorhaben“ unserer Akademie. Erstens: Wenn der Primat des Erlebens gilt, haben wir bewußt von uns und unseren Problemen auszugehen. Die Frage nach uns selbst hat alle anderen Fragen zu begleiten. Und wenn wir wissen, wie eng gerade die Sachlichkeit mit der selbstbewußten Kommunikation zwischen Individuen verknüpft ist, brauchen
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wir nicht zu befürchten, daß die Wissenschaftlichkeit Schaden nimmt. Zweitens: Wenn das Erleben nicht einfach nur „subjektiv“, sondern schon in seinem Ursprung auf die wechselseitigen Konditionen und Optionen von Organismus und Umwelt verwiesen ist, haben wir einen Grund mehr, stärker auf die Individualität derjenigen zu setzen, denen an Erkenntnis gelegen ist. Daß sie erkennen wollen, ist freilich eine Unterstellung, auf der wir zu insistieren haben. Drittens: Wenn von Individuellem die Rede ist, folgt im wissenschaftlichen Kontext die Warnung vor den „Idiosynkrasien“ auf dem Fuße.6 Wenn ein Einzelner sich auf seine Einsichten beruft, um daraus allgemeine Schlußfolgerungen abzuleiten, wird seine „Schlüsselattitude“ verworfen, ganz gleich, mit welchen guten Gründen er seine Erkenntnis stützt.7 Wenn darin eine Aufforderung zur Vorsicht liegt, sind solche Hinweise willkommen. Nicht selten aber liegt darin nur das Imponiergehabe von Sozialwissenschaftlern, die ihre vermeintlichen Freßfeinde aus der alten Philosophischen Fakultät verbeißen. Inzwischen hat sich längst gezeigt, daß auch die Struktur- und Systemwissenschaften nicht ohne die „Schlüsselattitude“ ihrer großen alten Männer auskommen.8 Sie bleiben auf das ergänzende und vertiefende Element literarischer Erfahrungen angewiesen. Wenn dies aber so ist, kann es nicht falsch sein, auch schon die jungen Wissenschaftler zu ermutigen, auf ihre eigene Erfahrung, ihr eigenes Urteil und damit notwendig auch auf abweichenden Einsichten zu setzen.
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Vgl. Jürgen Habermas, Interview mit Gad Freudenthal (1977), in: Kleine politische Schriften I – IV, Frankfurt/M. 1985. Jürgen Habermas, Einleitung zu: Stichworte zur > Geistigen Situation der Zeit < , Frankfurt/M. 1979. Ich erinnere an Luhmann, Habermas, Bourdieu oder Dahrendorf.
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Viertens: Wer die Individualität für sich selbst in Anspruch nimmt, wird sie seinem Gegenüber schwerlich verweigern können – jedenfalls nicht mit guten Gründen. Bei der Berufung auf die eigenen Gründe steht die eigene Lebenserfahrung im Hintergrund, zu der ein eigener Zeithorizont gehört. Der wird nur bei wenigen Gesprächspartnern identisch sein.9 Wenn wir ihn dennoch verstehen wollen, haben wir die gegebene Differenz in Rechnung zu stellen. Schon damit bewegen wir uns bewußt im Medium biographischer und historischer Zeitlichkeit, für die wir keine spezielle Hermeneutik benötigen. Es genügt die eigene Aufmerksamkeit und das gerade durch den Unterschied herausgeforderte Interesse an einer gemeinsamen Erkenntnis. Fünftens: Die für den epistemischen Zusammenhang zwischen den Individuen wichtigste methodologische Einsicht ist, daß zwischen Individualität und Universalität kein Gegensatz besteht. Es ist vielmehr so, daß wir das eine nicht ohne Bezug auf das andere denken können. Da das Individuelle in seiner entwickelten Form, die uns nur im menschlichen Lebenszusammenhang begegnet (und von der wir auf defiziente Modi des Individuellen in der Natur zurückschließen), stets auf seine Zeit bezogen ist, können wir auch das Universelle nicht aus seinen geschichtlichen Bezügen lösen. Gleichwohl wird es dadurch in seiner Allgemeinheit nicht aufgelöst; das Universelle geht in der Relation zu historischen Lagen nicht verloren, sondern bleibt allein schon als Bedingung ihrer Erkenntnis bestehen. Sechstens: Was für das Verhältnis zwischen Individuen gilt, das trifft auch auf die geschichtlichen Epochen zu. Um sie in ihrer Eigenart zu erkennen, haben wir uns das Trennende bewußt zu machen. Aber schon, wenn es in dieser Bemühung gelingt, erhellende, unsere Selbsterkenntnis tangierende Einsichten zu ge9
Beispiel: Jürgen Habermas über die Mauer in Hamburg und Frankfurt, die 1979 so trennend gewesen sein soll wie die Mauer in Berlin. (Einleitung zu: Stichworte zur >Geistigen Situation der Zeit> (ka + kb) –1 ) gilt cR 2 cL (mit ka 2 kb 2 k in diesem Sonderfall, exakt oder wenigstens in sehr guter Näherung, wie wir später sehen werden) und –dcR /dt = dcL /dt = 0. Im chemischen Gleichgewicht ändern sich die Konzentrationen nicht mehr. Sie werden durch die Gleichgewichtskonstante K beschrieben (9) Der Unterschied zwischen den beiden Konzentrationen verschwindet nach einem Exponentialgesetz, gleichgültig wie groß die Konzentrationsunterschiede (cR – cL )t = 0 am Anfang sind (z. B. cL = 0)
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Der umgekehrte Prozeß, daß ausgehend von einer Gleichgewichtsmischung mit cR = cL (ein „Razemat“) nach einiger Zeit spontan ein Unterschied cR – cL >> 0, also etwa ein reines Enantiomer R mit cR (und mit cL = 0) entsteht, wird nicht beobachtet, die Gleichgewichtseinstellung, die hier eine Razemisierung ist, ist ein irreversibler Prozeß, der nicht zeitumkehrsymmetrisch ist. Allerdings wird er normalerweise so erklärt, daß er auf zeitumkehrsymmetrischer Moleküldynamik beruht. Die Irreversibilität entsteht dann durch die Gesetze der Statistik bei sehr vielen unterschiedlichen Molekülen, wobei sich im thermodynamischen Gleichgewicht die Prozesse R f L und L f R gerade statistisch ausgleichen. Die statistische Größe, welche die irreversible Annäherung an das Gleichgewicht beschreibt, ist die Entropie S. Für ein System bei konstanter Energie und konstantem Volumen gilt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, in seiner kinetischen Formulierung (11) wobei im Gleichgewicht das Gleichheitszeichen gilt dS/dt = 0, die Entropie ist konstant auf ihrem Maximalwert. Der von Rudolf Clausius im Jahre 1865 in Zürich eingeführte Begriff der Entropie entstand durch Übersetzung des deutschen Wortes „Verwandlungsinhalt“ ins Altgriechische -GD@ (mit GD@ für „Wandlung“, also „Inhalt an Wandlung“) in Analogie zum vorher eingeführten Begriff „Energie“ der den ersten Hauptsatz der Thermodynamik zum Inhalt hatte, nämlich -D mit D Arbeit, also „Inhalt an Arbeit“. Rudolf Clausius hat die Einführung eines Fremdwortes aus dem Altgriechischen in die internationale Wissenschaftssprache mit viel Sorgfalt diskutiert. Wichtig ist aber für uns hier die Aussage, welche die Entropie macht: Sie sagt uns, wie weit die irreversible Verwandlung eines physikalisch-chemischen Systems in Richtung auf das thermodynamische Gleichgewicht fortgeschritten ist: Im Gleichge-
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wicht erreicht sie dann schließlich einen Maximalwert. Die Entropie gemäß Gl. (11) verschafft uns eine Zeitrichtung. Allerdings ist der Weg hierhin sehr subtil, wie wir jetzt am Beispiel einiger irreversibler Prozesse in einzelnen Molekülen erläutern werden. Solche Prozesse haben wir nach einem speziellen experimentellen Verfahren mit den Mitteln der hochauflösenden Spektroskopie ermittelt, wie im allgemeinen Schema in Abb. 3 dargestellt [1, 2, 8]. Der Weg in diesem Schema führt von experimentell gemessenen Spektren von Molekülen in mehreren komplizierten Analyseschritten zur Molekülbewegung. Es zeigt sich nun, daß schon für einfachste sehr schnelle Prozesse der Energiewanderung in einzelnen Molekülen eine gewisse Irreversibilität mit Anwachsen der Entropie beobachtet werden kann. Das wollen wir hier mit einigen Beispielen beleuchten, die uns auch helfen werden, die Natur dieser Irreversibilität besser zu verstehen. Viele Moleküle besitzen charakteristische Strukturelemente, die in unterschiedlichen Molekülen wiederkehren und eine ähnliche „Funktion“ ausüben. Man kann dies vergleichen mit dem Strukturelement „Bein“, das ja nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei vielen Tieren in ähnlicher Form auftritt und eben der Funktion des Laufens dient. Ein solches, in organischen und Biomolekülen häufig wiederkehrendes Strukturelement ist die C–H Gruppe am vierbindigen Kohlenstoffatom. Man spricht auch vom AlkylC–H-Chromophor, da er über weite Bereiche des Infrarotund auch des sichtbaren Spektrums zur Lichtabsorption in charakteristischen Frequenzgebieten führt („Farbe trägt“, gemäß dem griechischen „Chromo-phor“). Diese Lichtabsorption ist dann eine der Funktionen des Strukturelementes C–H, neben weiteren. Es ist nun eine interessante Frage, was im Molekül passiert, wenn man ein solches Strukturelement in Bewegung versetzt, etwa durch Absorption von Lichtenergie. Es zeigt sich, daß in CHX3-Molekülen auf sehr kurzen Zeitskalen von weniger als 100
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Abbildung 3: Schema zur Ermittlung der Moleküldynamik aus Molekülspektren. Der Ausgangspunkt sind experimentell beobachtete Infrarotspektren von Molekülen, die in mehreren Schritten einer komplexen Analyse ausgewertet werden können, wobei am Ende die Kinetik und Bewegung von Molekülen erschlossen wird. Prinzipiell wäre auch ein rein theoretisches Vorgehen möglich („ab initio“). Die Genauigkeit solcher Rechnungen ist aber heute noch ungenügend. Prinzipielle Fragen (wie z. B. nach den grundlegenden Symmetrien in der Dynamik) lassen sich nur experimentell beantworten [1,2].
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Femtosekunden eine anfängliche Streckbewegung mit Verlängerung und Verkürzung des C-H-Abstandes in eine Knickbewegung der C-H-Bindung gegenüber dem CX3-Gerüst umgewandelt wird. Die quantenmechanische Natur dieser Bewegung ist sehr interessant, und in Abbildung 4 für das Freon CHF3 dargestellt. Man kann dies als eine quantenmechanische Wellenbewegung entlang zweier Koordinaten auffassen (x und y in Abbildung 5), die der Dehnung der CH-Bindung (Q s in Abbildung 4, analog x in Abbildung 5) und dem Knickwinkel gegenüber dem CX3-Gerüst (Q b in Abbildung 4, analog y in Abbildung 5) entsprechen, ähnlich den Wellen in einer Badewanne in Längs- und Querrichtung. Die Höhe der Welle entspricht hier der Wahrscheinlichkeit, das H-Atom in einem gewissen Abstand vom C-Atom und in einem Knickwinkel gegen das CX3-Gerüst zu finden. Das bemerkenswerte quantenmechanische Ergebnis, das sich aus der Spektroskopie von CHF3 ergab und in Abbildung 4 abgelesen werden kann, ist, daß neben der Umwandlung einer anfänglichen Streckbewegung (bei 0 fs) in Knickbewegung auch eine Delokalisierung des H-Atoms eintritt, ein „Strukturverlust“. Nach 80 fs ist es etwa gleich wahrscheinlich, das H-Atom in irgend einem Abstand und irgend einem Winkel zum CX3-Gerüst zu finden, soweit dies mit der Gesamtenergie des Moleküls überhaupt vereinbar ist (große Auslenkungen in jeder der beiden Richtungen erfordern Energie [5]). Es wäre ganz falsch zu sagen, zu einer bestimmten Zeit (80 fs) hätte das CHX3-Molekül eine bestimmte Struktur (wie etwa ein geknicktes Bein). Wir können keinen Film von dieser Struktur drehen, sondern nur von Wahrscheinlichkeitsdichten, den delokalisierten Wellenstrukturen in Abb. 4. Dieses Ergebnis ist charakteristisch für den Alkyl-CHChromophor und tritt ähnlich in anderen Molekülen mit dieser Gruppe auf (auch im Methan CHD3, mit D-Isotopen), während sich zum Beispiel die acetylenische R–C–C–H-Gruppierung völlig anders verhält. Solche Ergebnisse haben einige Dogmen der Reaktionskinetik umgestoßen und sind wichtig für unser zukünftiges Verständnis chemischer Reaktionen und im Hinblick auf eine mögliche Reaktionssteuerung mit Lasern [2, 5].
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Wir werden auf dieses Ergebnis später noch einmal zurückkommen, bemerken hier aber zunächst schon einmal, daß Abbildung 4 schon eine Art „Irreversibilität“ zu zeigen scheint, da ein anfänglich relativ einfach strukturiertes Wellenpaket (zur Zeit t = 0 fs) sich im Laufe der Zeit ausbreitet, etwa bei 220 fs bis 380 fs eine ausgebreitete komplizierte delokalisierte, weiterhin im Laufe der Zeit fluktuierende Form hat, aber sich zumindest während des größten Teils der Zeit nicht wieder zu einer einfachen Struktur wie bei 0 fs zusammenzieht. Diese Irreversibilität ist jedoch in gewisser Hinsicht nur scheinbar, da man prinzipiell bei einem gegebenen Zeitpunkt, z. B. bei 380 fs, einen Zustand mit Umkehrung der Impulse als Anfangszustand wählen kann, der sich dann in umgekehrter Richtung entwickelt, also nach weiteren 380 fs genau so einfach strukturiert aussieht wie der Zustand bei 0 fs in Abb. 4. Ein sehr bemerkenswertes Ergebnis der neueren Forschung zeigt nun, daß es prinzipiell zwei sehr verschiedene Typen der molekularen Quantendynamik auf kurzen Zeitskalen gibt, die in unterschiedlichen Klassen von Molekülen realisiert sind [5]. Die eine Klasse verhält sich so wie in Abb. 4 und schematisch in Abb. 5 „S“ gezeigt, daß nach kurzer Zeit eine quantenstatistische Delokalisierung auftritt. Moleküle mit dem erwähnten Alkyl-C–H-Chromophor zählen hierzu. In anderen Molekülen tritt dies so nicht auf, sondern man hat für längere Zeit eine „kohärente“ räumlich lokalisierte Oszillation mit oder ohne Energieaustausch zwischen den Schwingungstypen im Molekül (schematisch in Abb. 5 „N“ gezeigt). Moleküle mit einem Acetylen-CH-Chromophor sind Beispiele hierfür [15, 16]. Die Unterschiede beruhen auf unterschiedlichen anharmonischen Kopplungen, die zu unterschiedlicher Ausprägung von „Resonanzen“ führen. Wir werden auf mögliche Anwendungen dieser sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen von Molekülen zurückkommen. Wir wollen das allgemeine Ergebnis aber zunächst noch etwas deutlicher machen, indem wir als Beispiel die Zeitentwicklung der Entropie in dem etwas komplizierteren Beispiel des
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Abbildung 4: „Wellenpaketbewegung“ der Wahrscheinlichkeitsdichte für die Molekülstruktur im CHF3 (siehe [5]).
CH-Chromophors in CHFClBr anführen [1, 8, 17]. Diese ist in Abb. 6 für einen Anfangszustand gezeigt, der ähnlich wie für CHF3 in Abb. 4 einer hohen Anregung mit sechs Quanten in der C–H Streckschwingungsbewegung entspricht. Abb. 6 zeigt nun für diesen Fall aber nicht das Wellenpaket der Wahrschein-
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Abbildung 5: Schema der Äquipotentiallinien und Wahrscheinlichkeitsdichteverteilungen in einem Modell zweier gekoppelter Schwingungen eines Moleküls (x könnte die Streckschwingung Q s in Abbildung 4 sein, y die Knickschwingung Q b). Die Äquipotentiallinie in einem „Badewannenmodell“ entspricht dem Niveau eines gleichmäßigen Wasserspiegels am Rande der Badewanne. Im statistischen Fall „S“ füllt die Wahrscheinlichkeitsdichte dementsprechend den zur Verfügung stehenden „Raum“ in der Badewanne aus. Im Fall „N“ werden gewisse Raumbereiche durch das „Wasser“ nicht erreicht.
lichkeitsdichte, sondern die nach Wolfgang Pauli in geeigneter Weise berechnete mikrokanonische Entropie für das einzelne Molekül als Funktion der Zeit (genau genommen sogar nur für einen Teil dieses Moleküls, siehe [15]). Diese Entropie zeigt, wie durch Gl. (11) vorgegeben zumindest am Anfang ein schnelles Wachstum bis nahe an den Maximalwert, der dem „Gleichgewicht“ entspricht. In dieser zweiten Phase zeigt die Entropie eines so kleinen Systems allerdings dann „Schwankungen“, welche Gl. (11) verletzen. Weiterhin kann man wie oben diskutiert im Zustand hoher Entropie, etwa bei 1 ps in Abb. 6, die Impulse umkehren und findet dann nach 2 ps wieder einen Zustand wie bei 0 ps mit einer Entropie Null, was scheinbar dem 2. Hauptsatz widerspricht (in [16] ist das für ein Beispiel durchgeführt worden). Was wir hier am Beispiel eines molekularen Experimentes
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Abbildung 6: Zeitentwicklung der mikrokanonischen Entropie im CHFClBr, das zur Zeit t = 0 mit 6 Quanten der CH-Streckschwingung angeregt wurde (feinkörnig, nach Pauli, durchgezogene Linie; grobkörnig, verallgemeinert, [15], gestrichelte Linie). Ergebnisse aus [17], siehe dort für ausführliche Diskussion. (A) Experimentelles Ergebnis, welches nur partielle Relaxation zeigt (dennoch sehr weitgehend). (B) und (C) Ergebnisse mit künstlich abgeänderten Hamiltonoperatoren, die vollständigere Relaxation zeigen. Obwohl die Ergebnisse alle ein de facto irreversibles Anwachsen der Entropie auf einer Zeitskala von fs bis ps zeigen, sind sie doch mit Zeitumkehrsymmetrie vereinbar. Siehe [16] für ein Ergebnis, wo die Zeitumkehr durchgeführt ist.
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zeigen, ist die Realisierung einer schon seit Boltzmann diskutierten Idee der Erklärung des 2. Hauptsatzes als „de facto Symmetriebrechung“ (in der Sprache von [1]). Die wirkliche Dynamik bleibt zeitumkehrsymmetrisch und eine Abnahme der Entropie ist im dynamischen System tatsächlich möglich. Der 2. Hauptsatz mit einer Zunahme der Entropie ergibt sich „de facto“ aus der Wahl der Anfangsbedingungen und der statistischen Natur der untersuchten Größe Entropie in einem genügend großen und komplizierten System, wo die Schwankungen relativ klein bleiben. Interessanterweise ist jedoch eine Deutung des 2. Hauptsatzes denkbar, die auf einer de lege Verletzung der Zeitumkehrsymmetrie beruht [1]. Diese Frage führt uns nun zu den Begriffen der drei fundamentalen diskreten Symmetrien der Physik, zu Erhaltungssätzen und ihren Verletzungen, zu prinzipiell beobachtbaren und nicht beobachtbaren Größen, wofür die Zeitumkehrsymmetrie und die Zeitrichtung nur Beispiele aus einer Gruppe von drei analogen Größen sind.
4. Fundamentale Symmetrien, Erhaltungssätze, nicht beobachtbare Größen und Symmetrieverletzungen in der Physik Es gibt also zwei kartesische Koordinatensysteme, welche man als „Rechtssysteme“ und „Linkssysteme“ bezeichnet. Der Unterschied ist jedem Physiker und Ingenieur geläufig. Interessant ist, daß man Rechtssysteme bzw. Linkssysteme an sich nicht geometrisch definieren kann, wohl aber die Gegensätzlichkeit beider Typen. Albert Einstein Die Zeitumkehrsymmetrie ist eine von drei fundamentalen eng verwandten Spiegelungssymmetrien in der Natur, die wir hier etwas näher besprechen wollen, da wir die Grundbegriffe später
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noch benötigen werden. Es handelt sich hierbei um die folgenden „Symmetrieoperationen“. 1. Die Inversion aller Koordinaten aller Teilchen im Schwerpunkt, die auch als Paritätsoperation P bezeichnet wird (d. h. für alle Teilchenkoordinaten hat man x f –x, y f –y, z f –z). Das ist für ein kartesisches Koordinatensystem in Abb. 7 gezeigt. 2. Die Inversion aller Impulse und Drehimpulse (insbesondere „spins“), die auch als Zeitumkehroperation T bezeichnet wird, da sie auf ein Ersetzen t f –t in der Dynamik hinausläuft, also eine ganz ähnliche Spiegelung in der Zeit t wie x f –x im Raum darstellt. 3. Das Austauschen aller Teilchen durch ihre Antiteilchen, was auch als Operation „C“ bezeichnet wird für „charge conjugation“, Ladungskonjugation, da Teilchen und Antiteilchen entgegengesetzte Ladungen haben. Früher war man der Ansicht, daß diese Symmetrien exakte Symmetrien der Physik seien, daß also jede dieser drei Symmetrieoperationen zu einem exakt symmetrisch äquivalenten System führt, das in allen Eigenschaften mit dem ursprünglichen genau übereinstimmt, nur eben „gespiegelt“ ist. Das hat sehr interessante Konsequenzen, die wir zunächst am anschaulichsten Beispiel der „Raumspiegelung“ oder Paritätsoperation diskutieren wollen. In der Sprache der Physik bedeutet das Vorhandensein einer solchen Symmetrie, daß der Hamiltonoperator H mit Paritätsoperation P kommutiert (12) Das führt zunächst zu einer Erhaltungsgröße der Dynamik, einer Quantenzahl „Parität“, die angibt, ob die Wellenfunktion ihr Vorzeichen bei der Spiegelung P beibehält ( = +, positive Parität, P = +1) oder wechselt ( = –, negative Parität P = –1). Aus Gl. (12) kann man folgern [18], daß eine Anfangs vorgegebene, wohldefinierte Parität von (also
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Abbildung 7: Die Symmetrieoperation der Rauminversion Eˆ oder Pˆ transformiert ein rechtshändiges Koordinatensystem (links) in ein linkshändiges System (rechts). In der elektroschwachen Quantenchemie ist die Symmetrie unter der Operation der Rauminversion nicht vorhanden. Durch Drehung des Koordinatensystems auf der rechten Seite um 180° um die x-Achse kann man die äquivalente Standard-„Spiegelbild“-Beziehung dieser Koordinatensysteme als enantiomere Strukturen zeigen.
z. B. P = +1) im Laufe der Zeit exakt erhalten bleibt, also mit P = +1 für (t0) gilt auch P = +1 für alle (t) mit beliebigem t. P ist eine „Konstante der Bewegung“, die aus der exakten Symmetrie folgt. Umgekehrt könnte man aus einer Veränderung von P im Laufe der Zeit auf eine „Verletzung“ oder Abwesenheit der fundamentalen Spiegelungssymmetrie schließen (das wird in der Physik der Elementarteilchen auch tatsächlich gefunden, Die Symmetrie P ist „verletzt“). Eine exakte Symmetrie P hätte aber noch eine weitere Konsequenz: Die zugrundeliegende Eigenschaft des Raumes, also „Rechtshändigkeit“ des Koordinatensystems oder „Linkshändigkeit“ ist eigentlich gar nicht absolut beobachtbar oder überhaupt definierbar, was uns zu dem Zitat von Einstein am Anfang dieses Abschnittes führt: Eine exakte Symmetrie in den Naturgesetzten führt zu einer Eigenschaft in der Natur, die prinzipiell „unbeobachtbar“ bleibt, stets vor unserer Erkenntnis verschleiert. Wenn nun diese Symmetrie verletzt gefunden wird, dann wird der Schleier gelüftet, eine fundamentale Eigenschaft der Natur wird für uns beobachtbar [1]. Das erklärt vielleicht die große
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Bedeutung, die solchen Symmetrien in der modernen Physik zukommt [19]. Diese abstrakten Gedanken wollen wir nun im nächsten Kapitel am Beispiel der Paritätsverletzung in chiralen Molekülen erläutern. Es kann hier jedoch vorausgeschickt werden, daß nach unseren heutigen Kenntnissen aus der Hochenergiephysik alle drei der Spiegelungssymmetrien als verletzt gelten. Das bedeutet zum Beispiel wegen der de lege Verletzung der Symmetrie T, daß auch die Zeitrichtung eine fundamental „beobachtbare“ Größe wird, unabhängig von den statistischen de facto Gesetzen zum Anwachsen der Entropie aus Kapitel 3. Allerdings bleibt in der heutigen Physik noch eine Symmetrie bestehen, die der kombinierten Operation CPT entspricht. Diese sogenannte CPT Symmetrie entspricht, einer Symmetrie unter den gleichzeitigen Spiegelungen x f –x, y f –y, z f –z, t f –t und Teilchen f Antiteilchen. Es bleibt also doch noch eine unbeobachtbare, „verschleierte“ Eigenschaft der Natur und wir werden die Konsequenzen für die Überlegungen zur Irreversibilität noch diskutieren.
5. Molekulare Chiralität und de lege Verletzung der Parität (Raumspiegelungssymmetrie) Si les principes immédiats de la vie immédiate sont dissymétriques, c’est que, à leur élaboration, président des forces cosmiques dissymétriques, c’est là, suivant moi, un des liens entre la vie à la surface de la terre et le cosmos, c’est à dire l’ensemble des forces répandues dans l’univers. Louis Pasteur Wir wollen dieses wichtige Kapitel der heutigen Forschung zu den physikalisch-chemischen Grundlagen der molekularen Chiralität hier sehr kurz im Hinblick auf eine Frage zusammenfassen: Was ist der prinzipielle Unterschied zwischen einer „de
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facto“ Symmetriebrechung, wie wir sie für die Zeitumkehrsymmetrie schon durch die scheinbare Irreversibilität in Kap. 3 kennengelernt haben, und einer grundlegenden „de lege“ Symmetriebrechung. Es zeigt sich, daß dieser Unterscheid und seine Konsequenzen im Falle der Raumspiegelung außerordentlich einfach veranschaulicht werden können, da die Konzepte auf molekularer Ebene sehr leicht zugänglich sind. Wir verweisen hier auch auf die ausführlichen Darstellungen mit zahlreichen Literaturzitaten [1–3]. Für eine weitergehende Diskussion der Konzepte der Symmetriebrechung spontan, de facto und de lege verweisen wir besonders auf [1, 3, 10] Wir haben im Kapitel 2 schon den Tunnelprozeß zwischen den beiden enantiomeren Strukturen eines chiralen Moleküls (Abb. 2) kennengelernt. Was geschieht nun, wenn die Energieaufspaltung E in Gleichung (5) sehr klein gemacht wird? Offensichtlich wächst dann t auf sehr große Werte. Zum Beispiel wurde für das Molekül Cl–S–S–Cl in Abb. 2 kürzlich berechnet [20], daß die Zeiten t hypothetisch auf ein unvorstellbar großes Vielfaches (>1060 s) des Alters des Universums (~ 15 × 109 a ~ 5 × 1017 s) anwachsen. Das bedeutet, daß ein anfänglich „de facto“ in einer Struktur erzeugtes Molekül bei kleinen Energien (tiefen Temperaturen) auch dort bleibt, daß die Symmetrie dann also de facto gebrochen ist, weil in der hergestellten Substanz nur die eine Form vorliegt, nicht aber die andere, symmetrisch äquivalente. Unter Einbezug der chemischen Reproduktion durch Vererbung würde dies auch das nahezu ausschließliche Auftreten von L-Aminosäuren in den Biopolymeren des Lebens de facto erklären. Diese Deutung geht schon auf Friedrich Hund (1927) zurück [13]. Die zugrundeliegende Symmetrie wäre daran zu erkennen, daß wir im thermodynamischen Gleichgewicht, das sich bei höherer Temperatur oder in Gegenwart eines Katalysators einstellt, gleiche Konzentrationen cR und cL der beiden Formen finden, daß also die Gleichgewichtskonstante K in Gl. (9) exakt gleich 1 ist, und zwar aus Symmetriegründen, was schon von van’t Hoff diskutiert wurde (siehe [3] für eine ausführliche Diskussion). Das führt weiterhin
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auch zu genau gleichen Energien der Isomere R und L oder einer Reaktionsenthalpie RH 00 = 0, exakt Null für die Reaktion (7). Jede auch noch so kleine de lege Verletzung der Raumspiegelungssymmetrie führt zu einer Abweichung von diesem Wert exakt Null für den Energieunterschied RH 00 oder exakt 1 für K. Erkenntnisse aus der Kern- und Hochenergiephysik zeigen nun, daß die Symmetrie de lege verletzt ist. Neueste Rechnungen an Molekülen, welche diese Erkenntnisse aus der Hochenergiephysik im Rahmen einer sogenannten „elektroschwachen Quantenchemie“ berücksichtigen, führen zu Werten für die energetische Asymmetrie in chiralen Molekülen, die je nach Molekül etwa bei 10–11 Jmol–1 liegen [3]. Die theoretischen Grundlagen für solche Rechnungen beruhen auf einer vereinigten Behandlung der elektromagnetischen Kräfte, welche für die normalerweise in der Chemie wichtigen Bindungen verantwortlich sind, mit der schwachen Kernkraft, die für eine Form der Radioaktivität, aber eben nach unseren neueren Erkenntnissen auch für die molekulare Chiralität wichtig sind. Wie geringfügig der vorhergesagte Wert von 10–11 Jmol–1 für RH 00 ist, kann man aus dem Vergleich mit spektroskopisch leicht meßbaren Tunnelaufspaltungen in H2O2 (ungefähr 100 Jmol–1) oder typischen Reaktionsenergien (1000 bis 1’000’000 Jmol–1) für chemische Reaktionen ersehen. Bis heute ist dieser sehr kleine Energieunterschied RH 00 1 1 10–11 Jmol–1 (d. h. ein Hundertmillionstel eines Millionstel Jmol–1) noch nicht gemessen worden, es gibt aber realistische Anstrengungen, ihn zu messen, nachdem wir vor einigen Jahren durch neue theoretische Berechnungen gefunden haben, daß er viel größer vorhergesagt wird als früher vermutet [3]. Wie klein dieser nun prinzipiell meßbare Unterschied auch sein mag, die Asymmetrie führt zu einem fundamentalen Ergebnis: Die absolute Struktur „Rechts“ und „Links“ wird prinzipiell beobachtbar und nicht nur die Gegensätzlichkeit zwischen rechts und links, die im Zitat von Einstein erwähnt ist. Diese grundsätzlich neue Erkenntnis zur molekularen Chiralität, die wir hier sehr knapp dargestellt haben, läßt sich auch auf folgende Weise veranschaulichen. Angenommen, wir woll-
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ten heute einer fernen Zivilisation die Information übermitteln, daß wir chemisch aus L-Aminosäuren aufgebaut sind, dann wäre dies mit einer kodierten Nachricht (d. h. ohne Übersendung eines geometrischen, chiralen Modells) nicht möglich, wegen der „Nichtbeobachtbarkeit der absoluten Ausrichtung“ von „L“ und „R“ Koordinatensystemen im Raum (wir stellen das hier ohne Beweis fest). Wenn jedoch eine Asymmetrie besteht, können wir mitteilen, daß wir zum Beispiel aus der stabileren Form mit der tieferen Energie bestehen (z. B. die L-Form, wenn das zutrifft). Die ferne Zivilisation könnte dann beide Formen synthetisieren und messen, welche Form, L oder R stabiler ist und diese dann mit unseren Angaben vergleichen, auch wenn die Messung schwierig ist. Die absolute Händigkeit oder „Chiralität“ des Raumes wird bei einer Symmetrieverletzung de lege durch eine ganz einfache skalare Meßgröße, die spektroskopisch oder thermochemisch meßbare Reaktionsenergie, beobachtbar und mitteilbar. Bei einer de facto Symmetrieverletzung wären die Energien in Abb. 2 zwischen den enantiomeren Strukturen exakt symmetrisch äquivalent und die absolute Chiralität des Raumes bliebe unbeobachtbar. Es sei hier nur nebenbei bemerkt, daß die Frage der Beobachtbarkeit der Händigkeit des Raumes (oder der „absoluten“ Chiralität eines Objektes) neben der physikalischen-chemischen auch eine lange philosophische und erkenntnistheoretische Geschichte hat. Die physikalische Lösung als de lege Symmetrieverletzung, die sich aus der heutigen Physik ergibt statt der früher vermuteten de facto Symmetriebrechung, war für die Philosophie (und auch für viele Physiker) völlig unerwartet. Sie ist für unser Verständnis der Natur, der Welt, ja des Lebens von grundlegender Bedeutung [1]. Im eingangs zitierten Satz von Pasteur findet sich immerhin eine Art Vorahnung hierzu, wenn auch sehr schleierhaft. Dies führt uns nun zu einer möglichen zukünftigen Beobachtung, die für viele heutige Physiker noch unerwarteter wäre, falls sie einmal gemacht würde.
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6. Zeitumkehrsymmetrie, Stereochemie, CPT Symmetrie und eine absolute Moleküluhr Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher. Albert Einstein Wir wissen heute, daß es ebenso wie die de lege Verletzung der Raumspiegelungssymmetrie auch eine de lege Verletzung der Zeitspiegelungssymmetrie gibt. Während allerdings die Frage der quantitativen Bedeutung der de lege Verletzung der Paritätssymmetrie für die molekulare Chiralität im positiven Sinne zumindest theoretisch geklärt ist [3], ist die Frage der quantitativen Bedeutung der de lege Verletzung der Zeitumkehrsymmetrie für die molekulare Irreversibilität heute noch völlig offen. Es ist aber zumindest vorstellbar, daß sie unter gewissen Bedingungen quantitativ wichtig sein könnte. Wir wollen mögliche Ansätze zur Klärung dieser quantitativen Frage hier nicht besprechen, sondern gleich zu einer weiteren prinzipiellen, qualitativen Frage fortschreiten. In der heutigen Physik wird allgemein CPT Symmetrie vorausgesetzt (die im Kap. 4 diskutierte „kombinierte Spiegelung“). Das theoretische „Bedürfnis“ nach einer solchen Symmetrie ist sehr groß und entspricht allgemein unserem Bedürfnis nach „Einfachheit“ im Verstehen der Welt. In der Tat müßte ein weitgehender Umbau der heutigen theoretischen Physik erfolgen, wenn wir Phänomene mit Verletzung der CPT Symmetrie beschreiben wollten. Das wäre sicher nicht einfach. Aus historischer Sicht muß uns aber das Bedürfnis nach Einfachheit verdächtig erscheinen. Es war ja dasselbe Bedürfnis nach Einfachheit, das früher zur Annahme der Raumspiegelungssymmetrie und der Zeitspiegelungssymmetrie geführt hat. Heute wissen wir, daß die Welt komplizierter ist. Diese Symmetrien sind de lege verletzt. Dementsprechend kann es auch sinnvoll sein, nach einer CPT Symmetrieverletzung zu suchen. Erst eine solche würde auch die letzte nicht beobachtbare, verschleierte Eigenschaft der Natur beobachtbar machen. Wie wir an an-
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derer Stelle gezeigt haben [1], würde erst diese letzte Asymmetrie in einem verallgemeinerten Sinne die Konstruktion einer absoluten Moleküluhr ermöglichen, die nicht nur Zeitintervalle, sondern auch die Zeitrichtung neben der Ausrichtung des Raumes und der Eigenschaft Materie-Antimaterie absolut festlegt. Wir wollen hier kurz die experimentellen Ansätze zur Suche nach einer CPT Symmetrieverletzung skizzieren. All diese Ansätze verwenden gewisse exakte Konsequenzen der CPT Symmetrie: Eine erste solche Konsequenz ist die genau gleiche Masse von elementaren Teilchen und ihren Antiteilchen. So untersucht man etwa die Masse m von Protonen und Antiprotonen, die an großen Beschleunigern hergestellt werden. Heute weiß man aus massenspektrometrischen Messungen, daß die Massen von Proton und Antiproton im Rahmen der relativen Meßgenauigkeit m / m 2 10–10 ungefähr gleich sind. Ein zukünftiges Experiment müßte also eine höhere Genauigkeit erzielen als dieser Wert angibt. Ein solches geplantes, zukünftiges Experiment ist die spektroskopische Untersuchung an neutralen Wasserstoff- und Antiwasserstoffatomen, die also jeweils aus Proton und Elektron oder Antiproton und Positron bestehen. Für ein solches Experiment, das vermutlich innerhalb des kommenden Jahrzehnts durchgeführt werden wird, schätzt man eine sehr kleine, erreichbare relative Unsicherheit in der Größenordnung m / m 2 10–18, also viel genauer als am ProtonAntiproton-Paar erreicht (beim K-Mesonen- und Positron/ Elektronsystem sind ähnliche Genauigkeiten schon erreicht, aber nicht wirklich vergleichbar). Wir haben vor etwa einem Jahrzehnt gezeigt [2], daß prinzipiell in fernerer Zukunft spektroskopische Untersuchungen an Paaren von chiralen Molekülen aus gewöhnlicher Materie (also z. B. L) und ihren Enantiomeren aus Antimaterie (als z. B. R*) die Grenze der erreichbaren Genauigkeit in den Bereich m / m 2 10–30 verschieben könnten, was einem weiteren Gewinn von 10 Größenordnungen entspricht. Realistisch wären solche Untersuchungen zunächst an noch hypothetischen, chiralen Clustern aus Wasserstoff (H2)n oder [H+3(H2)n ] etc. denkbar [8]. Der heutige Stand der Kennt-
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nis zur CPT-Symmetrie läßt sich jedenfalls so zusammenfassen, daß bisher bei der Suche nach der Verletzung dieser Symmetrie keinerlei positive Hinweise gefunden wurden. Es gibt auch keine gut begründeten theoretischen Ansätze für die Verletzung der Symmetrie. Man kann aber wohl vermuten, daß die Suche nach einer solchen Verletzung in Zukunft sehr viel höhere Genauigkeit anstreben wird, bis man schließlich eine Verletzung findet oder diese schließlich vielleicht aus indirekten Experimenten definitiv ausschließen kann. In Abwesenheit einer genaueren theoretischen Grundlage hat die Suche nach einer CPT-Symmetrieverletzung jedoch auch einen spekulativen Aspekt.
7. Molekulare Irreversibilität und eine mögliche Molekularpsychologie L’ora è fuggita, e muoio disperato. Cavaradossi in Tosca, mit Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica und Musik von Giacomo Puccini Während die bisherigen Überlegungen alle entweder theoretisch oder experimentell gut begründet waren, wenden wir uns in diesem Kapitel rein spekulativen Überlegungen zu, was hier gleich zu Anfang klar zum Ausdruck gebracht werden soll. Ziel solcher Überlegungen soll es sein, einen theoretischen Rahmen für eine heute rein hypothetische, aber immerhin denkmögliche Molekularpsychologie abzustecken. Es ist jedoch auch vorstellbar, daß die Überlegungen hierzu in eine völlig andere Richtung gehen müßten, und dann wäre ein solcher Rahmen nutzlos. Immerhin gibt es einige Hinweise, daß eine zukünftige Molekularpsychologie, die also das Verständnis von „Gedanken“ auf der Grundlage molekularer Prozesse zum Gegenstand hat, sinnvoll sein könnte. Wir werden unsere Überlegungen hierzu in drei Abschnitte gliedern, die uns zu recht interessanten Schlüssen führen werden.
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7.1 Gedankenbildung als molekulare, irreversible Entscheidung Homo Viator in Bivio Der Mensch ist ein Wanderer am Scheidewege Jahrestausende altes Gleichnis Geht man in die Graubündner Alpen Ski fahren oder wandern, so steht zur Wahl auch der hübsche Ort Bivio. Er hat seinen Namen aus römischer Zeit, denn hier findet man eine Weggabelung, einen Scheideweg mit der Wahl, kommt man aus Zürich und Chur, entweder über den Julierpass, auf einem Umweg über das Engadin und den Malojapass oder direkter über den Septimerpass ins Bergell und dann nach Italien und Rom zu wandern. Je nachdem, wo die Lawinen im Frühling die Wanderer eher trafen, konnte die Entscheidung recht folgenreich sein. Auch könnte man im Engadin eine andere Richtung, etwa dem Inn folgend nach Innsbruck und schließlich zum Schwarzen Meer wählen. Heute fährt man per Auto über den Julierpass und sieht dort noch die römischen Säulen, die auch auf einer Schweizer Briefmarke verewigt sind. In Italien begegnet man zahlreichen Orten „Bivio“, deren Namen zweifellos ebenfalls von einer Weggabelung herrührte. Das Gleichnis vom Wanderer am Scheideweg für die menschliche Situation der Entscheidung überhaupt gehört sicher zu den ältesten der Menschheitsgeschichte und entspricht einer Urerfahrung, wie unsere Entscheidungen unser Leben beeinflussen. Aus griechisch-römischer Zeit ist die Sage von Herakles am Scheidewege wohlbekannt und unzählige Male in der bildenden Kunst des Abendlandes wiedergegeben, wegen des offensichtlich attraktiven Themas des starken, jungen Mannes, der die Wahl zwischen zwei schönen Frauen, der Tugend oder der Lust, hat. Die Frage ist natürlich, wie etwas, warum es und was genau im Menschen abläuft, wenn die Entscheidung getroffen wird. Wer oder was trifft denn die Entscheidung, ist sie prädestiniert, vorhersagbar, oder unvorhersehbar frei? Die Fragestellung ist in
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Philosophie, Literatur und Religion uralt [21, 22] und neuerdings wieder zum Thema von Diskussionen in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gemacht worden, ausgelöst durch die provokative Feststellung einiger unserer Kollegen aus den Neurowissenschaften, die Willens- und Handlungsfreiheit sei eine Illusion [23]. Wir untersuchen hier diese Fragen auf der Grundlage der möglichen molekülkinetischen Prozesse im Gehirn, was vermutlich der weitestgehend mikroskopische Ansatz ist, weil auf der noch kleineren Skala etwa des Inneren der Atomkerne bei den möglichen Umwandlungsprozessen zu hohe Energien benötigt werden, als daß sie bei den Bedingungen unseres täglichen Lebens eine Rolle spielen könnten, wenn wir einmal die Vorgänge der Radioaktivität im Körper, der Höhenstrahlung und der sehr seltenen durch die Sonnenneutrinos ausgelösten Kernreaktionen ausklammern. Wir wollen hier von einer ersten Hypothese einer zukünftigen Molekularpsychologie ausgehen, daß nämlich eine Entscheidung, ein Gedanke zunächst durch einen molekülkinetischen Vorgang ausgelöst wird. Anlaß für eine solche Hypothese ist zum Beispiel die bekannte Tatsache, daß der Elementarakt der Beobachtung eines Lichtsignals im Sehprozeß eine molekülkinetische cis-trans-Isomerisierung ist. Das ist schematisch in Abb. 8 gezeigt. Das cis-Retinal ist über eine protonierte Schiffsche Base mit dem Protein Opsin zum Rhodopsin verknüpft (Gruppe = NH+–X). Durch die photochemisch mit einem Lichtquant ausgelöste cis f trans Isomerisierung werden die räumlichen Verhältnisse im Protein so verändert, daß in einer langen Sequenz von Prozessen schließlich ein Sinneseindruck von Licht entsteht. Wenn wir also nach Adaptation unseres Auges an vollkommenes Dunkel einen schwachen Lichtblitz wahrnehmen und entscheiden: „Jetzt habe ich Licht (oder ein Lichtquant) gesehen“, so steht ganz am Anfang dieser speziellen „Entscheidung“ nach heutiger Kenntnis eine molekülkinetische cis-trans-Isomerisierung. Es ist also vorstellbar und plausibel, wenn auch nicht notwendig, daß auch am
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Abbildung 8: Der Primärschritt der lichtinduzierten molekülkinetischen cis f trans Isomerisierung im Rhodopsin des Auges und die diversen Folgeschritte, die schließlich zu einer Lichtwahrnehmung führen.
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Anfang anderer „Entscheidungen“ molekülkinetische Vorgänge stehen, es könnten ja sogar Stereomutationen sein, wie sie in Kap. 2 erwähnt wurden, oder Relaxationsprozesse wie in Kap. 3. Es gäbe dann also gewissermaßen molekulare Schaltelemente der Gedankenbildung. Wir wissen nicht, ob das so ist, wollen es aber einmal annehmen und die Konsequenzen dieser Hypothese untersuchen. Wir werden hierbei die miteinander verknüpften Fragen stellen. 1. Ist diese molekulare Entscheidung reversibel (zeitumkehrsymmetrische Moleküldynamik)? 2. Ist sie reproduzierbar und vorhersagbar? 3. Ist sie durch die unabhängige Einwirkung eines Phänomens beeinflußbar, das wir als den subjektiven freien Willen bezeichnen könnten? Die ersten Fragen beziehen sich auf die Möglichkeit einer Zeitumkehr und einer Wiederholung eines Gedankens nach zweifacher Zeitumkehr. Dies würde die Einzigartigkeit einer historischen Entscheidung in Frage stellen. In der gewöhnlichen Mechanik und auch in der Moleküldynamik existiert diese Einzigartigkeit nicht, wohl aber wird sie im täglichen Leben vorausgesetzt. Die Symmetriebrechung, die zu dieser Einzigartigkeit führt, könnte de lege oder de facto sein, wir wissen die Antwort hierauf nicht. Auch die zweite Frage zur Vorhersagbarkeit können wir noch nicht beantworten. Allerdings liegt es bei den Sinneswahrnehmungen nahe, daß bei zuverlässigem Eintreten eine Vorhersagbarkeit vorliegt. Drittens fragen wir danach, wer eigentlich die Entscheidung trifft, ein Molekül in unserem Gehirn, oder „wir“ als komplexe, umfassende Subjekte (wobei wir dann definieren müssen, wer dieses Subjekt genau ist). Bei der Sinneswahrnehmung etwa im erwähnten Sehprozeß, wäre eigentlich die „Entscheidung“ vom Molekül in seiner Wechselwirkung mit dem Photon getroffen worden, während danach nur noch komplexe Abläufe der Registrierung und Fixierung folgen. Wir werden diese Fragen nun durch eine genauere Un-
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tersuchung der physikalisch-chemischen Rahmenbedingungen der „Entscheidungsfreiheit“ ergänzen (oder „Handlungsfreiheit“ oder „Willensfreiheit“ oder „Gedankenfreiheit“).
7.2. Physikalisch-chemische Rahmenbedingungen der Willensfreiheit Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei! Volkslied Der Volksglaube und unsere Intuition stützen die Aussagen in diesem wunderschönen Volkslied, aber stimmen sie? Bei Robert Musil findet man demgegenüber sinngemäß zitiert den Satz: „Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will“, womit zum Ausdruck gebracht ist, daß die Unfreiheit gerade in unserer Gedankenwelt Vorrang hat. Wir wollen hier zu den zahllosen religiösen und philosophischen Abhandlungen, in denen die inneren Widersprüche unserer intuitiven Vorstellungswelt zur Frage der Entscheidungsfreiheit, zur Schuldfähigkeit vor Gott oder den Menschen, zur Prädestination durch die Allwissenheit und Allmacht Gottes oder der ewigen Naturgesetze nichts Ähnliches hinzufügen und verweisen auf [21–24], um uns weiterer Pflichten der Diskussion dieser Aspekte zu entledigen. In [24] lese man im Rahmen unserer Akademie besonders die Stellungnahme Ivar Ekelands im Kapitel „La position de Leibniz“. Es ist in diesen wenigen Literaturbeispielen schon fast alles auf den Punkt gebracht, was man logischerweise auf den Punkt bringen könnte.
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Was wir hier neu hinzufügen wollen, ist eine empirische molekülphysikalisch-chemische Sicht der Primärprozesse. Da wir offenbar noch sehr weit davon entfernt sind, eine direkte experimentell-empirische Untersuchung in diesem Rahmen sinnvoll durchzuführen, geht es zunächst darum, die Rahmenbedingungen darzustellen und Definitionen für mögliche Fragestellungen zu geben. Zunächst einmal müssen wir uns fragen, was wir in einer empirischen Untersuchung denn als „Willensfreiheit“ definieren wollen (repräsentativ für die anderen erwähnten „Freiheiten“ genommen). Hier würde ich zwei mögliche Definitionen unterscheiden. Die erste, die ganz bestimmt wenigstens prinzipiell empirisch sinnvoll untersucht werden könnte, nenne ich „objektive Willensfreiheit“. Empirisch würden wir in einer experimentellen Untersuchung einem Individuum immer dann „objektive Willensfreiheit“ zugestehen, wenn wir seine Entscheidungen, Gedanken und die daraus folgenden Handlungen prinzipiell nicht vorhersagen können, aus welchen Gründen auch immer. Das sagt noch nichts darüber aus, ob das Individuum „etwas für seine Einscheidungen kann“, also verantwortlich gemacht werden kann. Hierauf komme ich noch zurück. Umgekehrt, wenn wir ein experimentelles oder theoretisches Verfahren entwikkeln, mit dem wir alle Handlungen des Individuums vorhersagen können, so würden wir ihm die objektive Willensfreiheit absprechen. Auch wenn das Individuum persönlich glaubt, es hätte frei entschieden, würden wir seinen Glauben mit der Vorhersage seiner Handlungen als Illusion entlarven. Es steht außer Frage, daß die so definierte „objektive Willensfreiheit“ prinzipiell überprüfbar ist, mindestens im Sinne einer Falsifizierung nach Popper. Es gibt im Bereich der Neurowissenschaften Überlegungen zu einigen Beobachtungen, die darauf hinauslaufen, daß die objektive Willensfreiheit schon empirisch widerlegt sei (durch entsprechende Vorhersage gewisser Willensentscheidungen an Versuchspersonen [23]. Wir sind jedoch der Ansicht, daß diese
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Ergebnisse noch sehr weit entfernt sind von einer angemessenen naturwissenschaftlichen Beweisführung. Vielmehr gehen wir hier von der These aus, daß hierzu ein Verständnis der Mechanismen der Entscheidungsbildung mindestens bis hinab zur molekularen Stufe erforderlich wäre. Wenn wir übrigens den extremen Standpunkt annehmen, daß ein einzelnes radioaktives Atom ein beseeltes Wesen ist, das eine freie Willensentscheidung fällen kann, dann hat es empirisch tatsächlich objektive Willensfreiheit in dem hier definierten Sinn, auch wenn dies merkwürdig erscheinen mag. Die freie Entscheidung ist der Zeitpunkt des Zerfalls, den wir im Einzelfall prinzipiell nicht vorhersagen können. Es ist nun interessant zu fragen, was die Hypothese einer Molekularpsychologie zu dieser objektiven Willensfreiheit zu sagen hat. Das führt uns in einer überraschenden Weise auf die Erkenntnisse aus den früheren Kapiteln dieses Vortrages. Wenn, wie in Kapitel 3 vermerkt, die molekularen Schalter der Entscheidung strikt vom quasiklassisch „deterministischen“ Typus „N“ in Abb. 5 sind und wenn die Folgeprozesse klassisch deterministisch ablaufen, dann könnte man durch entsprechende genaue Untersuchungen eine Vorhersage machen und die objektive Willensfreiheit hiermit widerlegen. Wenn aber umgekehrt die entscheidenden Moleküle vom quantenstatistisch indeterminierten Typ der Dynamik „S“ in Abb. 5 sind, dann wäre eine Einzelentscheidung prinzipiell nicht vorhersagbar (nur viele gleichartige Entscheidungen im statistischen Mittel wären vorhersagbar) und die objektive Willensfreiheit wäre prinzipiell in der Molekülkinetik verankert. Da wir heute beide Typen molekularer Dynamik kennen, könnte die Evolution alternativ jede von beiden oder auch nebeneinander beide für unterschiedliche „Zwecke“ in unserer Gehirnbiochemie eingebaut haben. Das wäre ein interessanter Gegenstand der Untersuchung. Die bemerkenswerte molekülphysikalische Entdeckung der beiden verschiedenen Typen von primärer Schwingungsdynamik, quasiklassisch lokalisiert und deterministisch, oder quantenstatistisch delokalisiert und undeterminiert [5], eröffnet also ein
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interessantes Spektrum von Möglichkeiten für eine denkbare Molekularpsychologie, ohne daß wir momentan eine Vermutung äußern können, was zutrifft. Wir können auch die Frage der Zeitumkehrsymmetrie in diesem Zusammenhang betrachten. Solange die Zeitumkehrsymmetrie gilt, so würden die quasiklassisch deterministischen Moleküle nach zweifacher Folge von Zeitumkehrungen (zweimal in der gleichen Richtung über „Bivio“, dazwischen einmal zurück) roboterhaft immer dasselbe wiederholen. Demgegenüber wäre bei den statistisch delokalisierten Molekülen auch bei Zeitumkehrsymmetrie eine solche Wiederholung nicht im Einzelfall vorhersagbar, sondern nur im statistischen Mittel. Die „Experimente“ müßten ja an statistischen Gesamtheiten von im quantenmechanischen Sinne identischen Individuen gemacht werden. Zwar ist die Durchführung von Experimenten an solchen Gesamtheiten von Menschen schwer vorstellbar (abgesehen von der Unmöglichkeit der technischen Realisierung der Zeitumkehr, selbst bei prinzipieller physikalischer Gültigkeit), aber die Idee wäre natürlich, die Experimente auf der molekularen Ebene durchzuführen und die Kette der Folgeprozesse zu analysieren und zu verstehen, falls möglich. Falls Zeitumkehrsymmetrie nicht gilt (was ja prinzipiell tatsächlich zutrifft), so wäre bei Gültigkeit von CPT-Symmetrie immer noch ein Experiment denkbar, in dem wir zu gegebener Zeit den kompletten Quantenzustand des (molekularen) Individuums in der chiral enantiomeren Form aus Antimaterie rekonstruieren und hieran die Zeitumkehr durchführen. Eine echte historische Einzigartigkeit der Molekularpsychologie in diesem erweiterten Sinne gäbe es also nur bei CPT-Verletzung, was hier am Rande bemerkt sei. Wenn sie auch mit prinzipiell nicht vorhersagbaren Handlungen verknüpft ist, so erlaubt doch auch eine objektive Willensfreiheit es uns nicht, von einer Verantwortlichkeit oder Schuldfähigkeit des Individuums zu sprechen. Die „freien“ Entscheidungen würden in einem statistischen Sinne von Molekülen getroffen, nicht von den „Individuen“, den Menschen.
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Das führt uns zum Begriff der subjektiven Willensfreiheit. Diese erfordert mehr als durch die „objektive“ Willensfreiheit im oben definierten Sinn verlangt. Unsere intuitive Vorstellung dessen, was wir im täglichen Leben in aller Regel als gewöhnliche Willensfreiheit voraussetzen, kann bezogen auf die molekularpsychologische Hypothese so formuliert werden, daß es eine übergeordnete Struktur gibt, eben unser „Ich“, die den Entscheidungsprozeß in irgendeiner Form von „innen“ bestimmt, aber von außen nicht vorhersagbar, zustande bringt. Diese Vorstellung wäre unproblematisch, wenn dieser Entscheidungsprozeß deterministisch und vorhersagbar wäre, dann wäre eben unser „Ich“ die Darstellung der Gesetzmäßigkeiten, nach denen der Vorgang abläuft. Die Illusion der Willensfreiheit kann Teil des Prozesses in unserem Gehirn sein, die Willensfreiheit im definierten Sinne existiert dann aber nicht einmal als „objektive Willensfreiheit“: Unsere Handlungen wären die eines vorhersagbaren Roboters. Damit es eine nicht vorhersagbare Entscheidung gibt, die gleichzeitig aber auch nicht statistisch durch die „Moleküle der Entscheidung“, sondern durch eine übergeordnete Struktur „frei“, das impliziert nicht von außen vorhersagbar, getroffen wird, muß die Möglichkeit einer Beeinflussung der quantenstatistischen molekularen Entscheidung durch die übergeordnete Struktur bestehen. Etwas Derartiges kann man hypothetisch fordern, es steht aber im klaren Widerspruch zu den statistischen Gesetzen der molekularen Quantendynamik. Wenn das dynamische Verhalten in nicht vorhersagbarer Weise den quantenstatistischen Gesetzen folgt, so ist es eben auch nicht der Beeinflussung – und das heißt effektiv auch der Bestimmung und dem Wissen – der übergeordneten Struktur unterworfen. Das bedeutet, daß die Annahme der subjektiven Willensfreiheit den heute bekannten Gesetzen der molekularen Quantenphysik widerspricht. Zur Schärfung dieser Schlußfolgerung will ich hier anführen, was eine empirische Prüfung der subjektiven Willensfreiheit impliziert, so wie wir diese in der Regel verstehen. Zunächst ein-
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mal setzt sie voraus, daß kein Außenstehender unsere Entscheidungen vorhersagen oder bestimmen kann („kein Mensch kann sie wissen“). Das heißt, subjektive Willensfreiheit impliziert objektive Willensfreiheit. Zum Zweiten ist aber zu fordern, daß das Individuum selbst sehr wohl die Entscheidung bestimmen und damit vorhersagen kann. Wie wäre das in einem Experiment empirisch prüfbar? Man kann sich zum Beispiel vorstellen, daß in einem solchen psychologischen Experiment das Individuum sich selbst ein Gesetz gibt, nach welchem es eine Serie von Entscheidungen trifft, die von den Außenstehenden aber prinzipiell nicht vorhergesagt werden können. Ein solches Gesetz könnte für eine Serie von ja-nein Entscheidungen zum Beispiel sein, daß das Individuum – nehmen wir einmal an, es sei eine Mathematikerin – immer „ja“ sagt, wenn in einer Sequenz von Ziffern einer vorgedachten „absolut normalen Zahl“ (im mathematischen Sinne z. B. die Zahl e, falls das zutrifft), eine gerade Ziffer auftaucht, bei ungeraden „nein“. Da der Außenstehende definitionsgemäß die Gedanken der Mathematikerin nicht lesen kann und aus einer endlichen Ziffernfolge auch die Zahl und weitere Ziffernfolge nicht vorhersagen kann, kann er die Entscheidung nicht vorhersagen, obwohl sie prädeterminiert ist. Zur nachträglichen Prüfung, ob die Entscheidungen nicht einfach „molekularstatistisch“ erfolgten, würde das Individuum im Nachhinein dem Experimentator die Regel erklären, die einer rein statistischen Entscheidung klar widerspricht. Das heißt, für den Außenstehenden muß die Entscheidung rein statistisch aussehen, für das bestimmende Individuum selbst folgt sie aber einer vorhersagbaren Regel, die nachträglich dem Experimentator zur Prüfung mitgeteilt werden kann. Man muß allerdings Vorkehrungen treffen, daß die Regel nicht im Nachhinein erfunden wird. Was im obengenannten Experiment auf molekulardynamischer Ebene gefordert wird, ist nichts anderes als die berühmte Hypothese der sogenannten verborgenen Parameter in der Quantenphysik, die hinreichend durch zahlreiche quantenphysikalische Experimente widerlegt ist. Das bedeutet, daß die An-
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nahme einer subjektiven Willensfreiheit im oben definierten Sinn den heute bekannten quantenphysikalischen Gesetzen auf atomarer und molekularer Ebene klar widerspricht. Die Hypothese könnte nur durch eine „neue Physik“ gerettet werden. Das muß nicht notwendig zur Verwerfung der Hypothese führen. In der Vergangenheit hat es in regelmäßigen Abständen Entdekkungen „neuer Physik“ gegeben. Die Quantenmechanik von 1926 erlaubt Dinge, die den Gesetzen der klassischen Physik von vor 1900 eindeutig widersprechen (z. B. den Tunneleffekt). Trotzdem ist die Quantenmechanik im mikroskopischen Bereich gut gültig. Die Entdeckung der Gesetze der schwachen Wechselwirkung führte zur Entdeckung der Paritätsverletzung (im Jahr 1956/57), die im Rahmen der Physik von vor 1950 nicht vorgesehen, ja verboten war. Regelmäßig tritt eine Entdeckung von neuer Physik potentiell dann auf, wenn Experimente in Bereichen durchgeführt werden, die vorher nicht genügend experimentell erschlossen waren, so daß die neuen Gesetze eben vorher nicht gefunden werden konnten. Ebenso kann man heute feststellen, daß die sehr komplexen mikrophysikalischen Abläufe im Gehirn nicht angemessen experimentell untersucht sind, so daß zweifellos Raum für die Entdeckung neuer Gesetze besteht. Das heißt nicht, daß wir annehmen, daß es eine solche neue Physik wirklich gibt. Was wir jedoch sagen können ist, daß es entweder subjektive Willensfreiheit nicht gibt (dann genügt die heute bekannte Molekülphysik zur Beschreibung des Gehirns) oder aber es gibt subjektive Willensfreiheit, dann bedeutet das die Entdeckung einer neuen Physik. Da wir heute noch sehr weit davon entfernt sind, auch nur die objektive Willensfreiheit mikroskopisch, physikalisch-chemisch nachzuweisen, was der erste, notwendige Schritt in der Beweiskette wäre, so ist die Realisierung dieses Entdeckerprogramms um Einiges in der Zukunft zu sehen. Wenn es jedoch einmal gelänge, so wäre diese Entdeckung von großer Tragweite, sicher etwa von gleicher Bedeutung wie etwa die Entdeckung der ebenfalls hypothetischen CPT-Verletzung. Wegen des oben erwähnten hypothetischen Zeitumkehrexperimentes im Entscheidungsprozeß gibt es sogar
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einen denkbaren Zusammenhang zwischen beiden hypothetischen Entdeckungen der Zukunft. Zusammenfassend können wir aus der Sicht der Hypothese der Molekularpsychologie also drei Möglichkeiten zur Situation der menschlichen Willensfreiheit feststellen: 1. Es gibt keine Willensfreiheit, menschliche Entscheidungen sind vorhersagbar, wie bei Robotern. Unser Eindruck, frei zu entscheiden, ist eine Illusion. Mit den bekannten Gesetzen der Physik und Chemie ist das vereinbar, wenn die „molekularpsychologisch“ wesentlichen Moleküle sich effektiv deterministisch verhalten (Fall „N“ im Kapitel 3). Wiederholte Zeitumkehr ist prinzipiell möglich und führt zu Wiederholung derselben Vorgänge und Entscheidungen. Menschen sind „Roboter“. 2. Es gibt eine „objektive Willensfreiheit“, aber keine subjektive Willensfreiheit. Die Entscheidungen sind prinzipiell nicht vorhersagbar und statistisch unbestimmt. Das ist mit den bekannten Gesetzen der Quantenphysik vereinbar, wenn die „entscheidenden“ Moleküle der Molekularpsychologie das Verhalten „S“ aus Kapitel 3 zeigen. Die Entscheidungen werden aber nicht vom Individuum „frei“ gefällt, sondern folgen quantenstatistischen Gesetzen, die an Gesamtheiten von vielen Individuen überprüft werden könnten. Die Vorstellung des Individuums, es treffe „selbst“ eine Entscheidung, ist eine Illusion. „Moleküle treffen die Entscheidung“ oder wir sind eben wie Roboter mit einem eingebauten perfekten physikalischen Zufallszahlengenerator, der im Einzelfall nicht vorhersagbare Entscheidungen erzeugt (wie z. B. die Atome im radioaktiven Zerfall). 3. Es gibt eine subjektive Willensfreiheit, so wie wir sie intuitiv verstehen, daß nämlich eine komplexe Überstruktur, das Individuum oder das „Ich“ die Entscheidung in einem Sinne trifft, der für das Individuum selbst wohl bestimmbar, nicht aber für den Außenstehenden vorhersagbar ist. Das bedingt als Voraussetzung die Existenz der objektiven Willenfreiheit,
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darüber hinaus benötigt es aber eine Verletzung der heute bekannten Gesetze der molekularen Quantenphysik. Der experimentelle Nachweis einer subjektiven Willensfreiheit wäre gleichzeitig der Nachweis einer neuen Physik. Die Bedeutung der letzten Schlußfolgerung kann man vielleicht erkennen, wenn man sie mit der Frage nach der Lebensentstehung (und der Natur des Lebens) vergleicht, die ebenso wie die Frage der Willensfreiheit heute naturwissenschaftlich offen ist. Bei der Lebensentstehung und dem Leben allgemein gibt es jedoch keinerlei Hinweise, daß sie nicht im Rahmen der heutigen Physik und Chemie erklärt werden könnte. Das schließt neue Phänomene nicht aus, aber sie sind nach gegenwärtigem Wissen nicht nötig zur Erklärung des Lebens. Bei der molekularpsychologischen Hypothese einer subjektiven Willensfreiheit ist eine neue Physik zwingend notwendig, da sie den bekannten Gesetzen der Physik widerspricht. Natürlich könnte es sein, daß es andere „nicht molekularpsychologische“ Erklärungen der Willensfreiheit gibt, aber auch hier ist eine Vereinbarkeit mit den bekannten Gesetzen der Physik zumindest schwer vorstellbar und müßte noch konstruktiv gezeigt werden, falls man die Alternative ernst nehmen sollte. Prinzipiell legen die materiellen, molekularen Grundlagen der Vorgänge im Menschen (im Gehirn) die physikalischen Rahmenbedingungen fest. Erdhistorisch ist vielleicht von Interesse, daß vom Beginn des Planeten vor ca. 4,56 Milliarden Jahren bis zur Lebensentstehung etwa 2 Milliarden Jahre vergingen (gute Beweise für das Alter des Lebens auf der Erde deuten auf eine Entstehung vor mehr als 2 Milliarden Jahren hin, etwas unsichere Belege werden auf eine Zeit von vor mehr als 3 Milliarden Jahren datiert. Für das Alter des menschlichen Denkens kann man keine sicheren Zahlen angeben – es ist wohl sicher älter als 10’000 Jahre, könnte aber auch 100’000 Jahre oder 1 Million Jahre alt sein. Es ist also durchaus vorstellbar, daß in diesem zweiten sehr langen Schritt der Evolution etwas geschehen ist, was noch bedeutsamer ist als die Überwindung der Stufen zum Leben. Wir wissen
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es nicht. Wir sind noch so weit von einem Verständnis der physikalisch-chemischen Grundlagen des menschlichen Denkens entfernt, daß es erlaubt ist, von der Arbeitshypothese der Existenz der subjektiven Willensfreiheit auszugehen, selbst wenn dies die Annahme von neuen, heute nicht bekannten physikalisch-chemischen Phänomenen voraussetzt. Wir müssen jedoch auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß am Schluß der Untersuchung als Ergebnis die Negation der subjektiven und vielleicht auch der objektiven Willensfreiheit steht. Ausgehend von neuen experimentellen und theoretischen Ergebnissen der Molekülspektroskopie sind wir hier zur Formulierung der Hypothese einer möglichen Molekularpsychologie gelangt, die eine experimentelle Überprüfung der aufgeworfenen Fragen bis zur Ebene der molekülphysikalischen Grundlagen eröffnet.
7.3 Das Bild vom Menschen: Menschen, Gesellschaft, Ameisen und Ameisenhaufen Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Populär „Menschen sind für Dich nur Zahlen.“ „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.“ Schiller, Don Carlos Der Ausgang der molekularpsychologischen Experimente würde unser Bild vom Menschen zweifellos beeinflussen. Wenn die Lösungen 1 oder 2 aus dem vorhergehenden Abschnitt zutreffen, so sind wir von Robotern (oder Ameisen, wenn diese wirklich so primitiv sind, wie wir meinen) nicht verschieden. Wenn Ameisen zur Kommunikation Pheromone verwenden, die dann ihr Verhalten „steuern“ – zumindest statistisch gesehen – so verwenden die Menschen eben kompliziertere Instrumente, Sprache, Worte, Schrift, Liebesbriefe anstatt der Sexpheromone der Insekten, Lüge und Betrug statt den molekularen Pheromonen der Täu-
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schung, aber im Grunde wäre alles in gleicher Weise molekular, teils deterministisch, teils quantenstatistisch kontrolliert. Die Menschheit auf der Erde als Ganzes wäre wie ein riesiger Ameisenhaufen (was vielleicht eine Beleidigung für die Ameisen ist), der nach deterministischen und statistischen Gesetzen mehr oder weniger roboterhaft, jedenfalls aber ohne Willen, von Molekülen gesteuert, ein Programm abspult, das seiner Fortpflanzung, Weiterentwicklung, dem Überleben und der Evolution dient. Wenn die 3. Lösung aus dem vorigen Abschnitt zutrifft, so wandelt sich dieses Bild mehr in Richtung eines autonom, frei entscheidenden und die Welt – in begrenztem Rahmen – beeinflussenden und kontrollierenden Subjekt: „Eritis sicut deus“ ist die gefährliche Verheißung dieser Lösung, die aber immerhin zutiefst in unserer Gedankenwelt verankert ist, wie aus einem abschließend zu zitierenden Gedicht von außerordentlicher Schönheit zu erkennen ist, auf das mich Mike McBride (Yale) anläßlich meiner Telluride public lecture (ca. August 1995, mit ähnlichem Inhalt wie hier) aufmerksam machte, das in der angelsächsischen Welt zum Kanon gehört, wenn auch mir zuvor (vielleicht zu meiner Schande) unbekannt: Es ist von Robert Lee Frost [25] und ist die „Verdichtung“ des „Homo Viator in Bivio“ The Road Not Taken Two roads diverged in a yellow wood, And sorry I could not travel both And be one traveler, long I stood And looked down one as far as I could To where it bent in the undergrowth; Then took the other, as just as fair, And having perhaps the better claim, Because it was grassy and wanted wear; Though as for that the passing there Had worn them really about the same,
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And both that morning equally lay In leaves no step had trodden black. Oh, I kept the first for another day! Yet knowing how way leads on to way, I doubted if I should ever come back. I shall be telling this with a sigh Somewhere ages and ages hence: Two roads diverged in a wood, and I – I took the one less traveled by, And that has made all the difference. Das Gedicht spielt auf vieles an – Symmetrie, Zeitumkehr und Irreversibilität und freie Entscheidung. Niemand, der sich selbst gegenüber ehrlich ist, wird daran zweifeln, daß dieses Gedicht unser Bild von uns selbst widerspiegelt – „… that has made all the difference“, es kommt darauf an, wie wir frei entscheiden, die Begriffe von Verdienst und Schuld, Freiheit und Verantwortung haben eine Bedeutung [21–26]. Der Mensch ist ein Wesen, das sich durch freie Entscheidung seine Lebensgeschichte, seine Entwicklung und damit einen Teil seines Selbst erschafft. Er ist kein Roboter. Zumindest wollen wir das gerne glauben. Freilich müssen wir akzeptieren, daß nach dem heutigen Stand der Erkenntnis auch eine andere Wahrheit möglich ist: Ein Ziel dieses Vortrages war es zu zeigen, daß diese Frage zumindest prinzipiell empirisch experimentell beantwortet werden könnte, wenn die Hypothese der Molekularpsychologie sinnvoll weiterverfolgt werden kann. Eine schlüssige Antwort ist allerdings nicht in sehr naher Zukunft zu erwarten. Falls die Abwesenheit der Willensfreiheit im besprochenen Sinne empirisch nachgewiesen würde, so verlöre das Konzept eines Menschen als individuelles Wesen überhaupt seinen Sinn, es wäre tot. „Eritis sicut formica“ wäre die Devise.
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8. Psychologie der Forschungsförderung bei Langzeitvorhaben Basel, 25. Mai 1999 In tiefer Trauer nehmen wir Abschied von Paul Sacher Prof. Dr. h.c. mult dem grossen und herzlichen Freund und Förderer unseres Instituts. Er betrachtete Naturwissenschaft nicht nur als eine Quelle nützlicher Lösungen von praktischen menschlichen Problemen, er achtete sie wie Kunst, Literatur und Musik auch als eine Geisteswissenschaft. Die vielen Hunderte ehemaliger und heutiger Mitglieder und Besucher unseres Instituts, wie auch die Mitglieder des International Board of Scientific Advisors und des Swiss Board of Consultants unseres Instituts werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Anzeige aus der NZZ Mit diesem bewegenden Dank eines vom Musiker Paul Sacher geförderten naturwissenschaftlichen Forschungsinstitutes kommen wir zum letzten Punkt des Vortrages, dessen Erwähnung am Schluß der Zusammenfassung die Organisatorin Frau Freia Hartung seinerzeit zur Hoffnung veranlaßte, ich sollte doch etwas auch hierzu sagen, was ich tun will, aber nur kurz und eher episodisch. Es geht um die Entscheidungen, die bei der Forschungsförderung zu fällen sind, und welche Hindernisse hierbei bestehen, besonders bei langfristigen und relativ teuren Projekten. Paul Sacher hatte offenbar den Mut, über lange Jahre eine Förderung à fonds perdu – ohne praktisches Erfolgsinteresse des von ihm auch vertretenen Industrieunternehmens – für die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung durchzusetzen, obwohl das nicht einmal zu seinen formellen „Pflichten“ gehörte.
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Der Geist, der hier wehte, weht allerdings eher selten, meist überwiegt eine ängstlich, administrativ-bürokratische Betrachtungsweise, wie ich aus einem Beispiel aus meinem persönlichen Forscherleben berichten kann. Im Jahre 1992 hatte ich nach einem entsprechenden Angebot die Gelegenheit, mit dem damaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft H. F. Zacher (die Namensähnlichkeit ist wohl Zufall) zu verhandeln über einen möglichen Wechsel an das Institut meiner wissenschaftlichen Jugend, das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie (früher auch Spektroskopie) in Göttingen, mit dem mich die besten Erinnerungen aus meiner ersten Zeit als junger Forscher bei Manfred Stockburger und Albert Weller verbinden und wo neu wieder eine engere Verbindung auch mit meinem Doktorvater J. Troe entstanden wäre. Während ich andere Angebote stets schon im Vorfeld abgelehnt hatte als unattraktiv im Vergleich zur ETH Zürich, die in Europa herausragende Bedingungen bot, fuhr ich hier doch zu Gesprächen nach München, schon allein wegen des emotionalen Hintergrundes, aber auch wegen der Hoffnung auf eine wirklich außergewöhnliche Förderung unserer Projekte zu grundlegenden Symmetrieprinzipien, die ich hier zum Teil beschrieben habe, und die zu jenem Zeitpunkt in mehreren Arbeiten skizziert waren, wobei die Hoffnung auf ein schnelles Voranschreiten bei besonderer Förderung bestand. Die meisten materiellen Randbedingungen am MPI in Göttingen waren unwesentlich verschieden von jenen an der ETH Zürich, so daß mein Verhandlungswunsch sich im Wesentlichen auf einen Punkt konzentrierte: Ich legte dem Präsidenten meine Projekte in schriftlicher Form eines zusammenfassenden Artikels vor und bat ihn, zusätzlich zu den „normalen“ Ausstattungen mit Räumen, Sachmitteln und Personalstellen einen Betrag von ca. 10 Millionen DM über ca. 5–10 Jahre hinweg frei zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, mit dieser besonderen Förderung, das geplante experimentelle Projekt in etwa 10 Jahren oder auch weniger zum Erfolg zu führen. Die Mittel sollten frei für alle wissenschaftlichen Zwecke verwendbar sein, also ungebunden etwa bezüglich Anteil an
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Personalmitteln für Postdoktoranden, Doktoranden und technischen Mitarbeitern und Mitteln für Geräte etc. Diese Flexibilität schien mir maximale Chancen für einen schnellen Erfolg zu versprechen. Aus heutiger Sicht kann man übrigens sagen, daß die damals vorgeschlagene Projektidee sich durchaus bewährt hat. auch mit einer sehr viel geringeren finanziellen Förderung sind inzwischen Fortschritte erzielt worden, die, wenn auch viel langsamer, proportional betrachtet den damals entwickelten Vorstellungen ungefähr entsprechen und einen vollen Erfolg des Projektes in 5–10 Jahren bei einer entsprechenden damaligen Förderung wahrscheinlich erscheinen lassen. Nach zahlreichen schon bestehenden Erfolgen auf den einzelnen Stufen des Projektes gehen wir heute auch von einem vollen experimentellen Erfolg in relativ naher Zukunft aus, wobei dieser in unserer Arbeitsgruppe erzielt werden könnte oder in neu entstandenen (damals noch völlig abwesenden) Konkurrenzprojekten. Bei der Größenordnung der geforderten Mittel, muß man auch berücksichtigen, daß Fragen beantwortet werden sollen, die sonst in Experimenten der Hochenergiephysik und mit Kosten, die einen Faktor hundert höher sind, untersucht werden. Auch dieses Argument brachte ich in die Verhandlungen ein. Kurz zusammengefaßt war mein Eindruck von diesem Gespräch, daß H. F. Zacher diese Vorstellung einer so freien Verwendung von so großen Mitteln als absoluter Horror erschien. Vielleicht hätte er 10 Millionen DM in ein teures Gerät investiert, aber soviel Geld einfach so, völlig frei und nur mit der Bindung „für die Wissenschaft“ – völlig undenkbar. Es wurde ein Bruchteil geboten, was für einen Wechsel nicht attraktiv schien. Da es auch keine privaten Gründe für einen Wechsel gab zu einer Zeit, als noch niemand ahnen konnte, daß etwas mehr als zehn Jahre später Flugzeuge in wenigen hundert Metern Abstand über unser zuvor idyllisch ruhig gelegenes Wohnhaus donnern würden, dank der (freien?) Entscheidung verantwortungslos inkompetenter Politiker diesseits und jenseits der Landesgrenzen im Einklang mit einem größenwahnsinnigen
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und menschenverachtenden Management von Flughafen und Fluggesellschaft in Zürich. Am Rande sei vermerkt, daß viele Jahre später nach weiteren Mißerfolgen der MPG eine Berufung eines Wissenschaftlers auf diese Stelle gelang, mit Mitteln dieser Größenordnung hauptsächlich für „feste, solide Investitionen in sehr teure Instrumente“. Freilich haben solche Instrumente nach einem Jahrzehnt meist auch keinen großen Wert mehr. Es ist aus dieser Episode, die sicher viele Parallelen hat, zu ersehen, daß auch die professionell mit der Aufgabe der Forschungsförderung betrauten Personen oft zurückschrecken vor mutigen Entscheidungen, die sich nicht in den fest vorgegebenen Bahnen bewegen. Dabei wird übersehen, daß Förderung der Grundlagenforschung immer à fonds perdu ist, in der Hoffnung, daß sie eines Tages Frucht tragen wird, aber ohne jede Gewißheit. Meine Kommentare sollten im Übrigen nicht als unangemessene Kritik an der Art der Forschungsförderung der MaxPlanck-Gesellschaft interpretiert werden. Diese Gesellschaft, wie auch Institutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Deutschland oder der Schweizerische Nationalfonds in der Schweiz leisten hier wirklich Bedeutendes, ja Bewundernswertes. Dennoch sehe ich eine allgemeine Schwäche bei der unbürokratischen Förderung längerfristiger und deshalb teurer Projekte individueller Forschungsgruppen, die nicht mit Großforschungseinrichtungen wie etwa CERN oder DESY etc. verbunden sind. Obwohl die Wissenschaftsgeschichte oft genug gezeigt hat, daß solche Investitionen in die Zukunft sich im statistischen Mittel lohnen, da die Frucht ein Vielfaches der Investition ist, gibt es doch nur wenige Förderer, die eine psychologische Schwelle zur wirklich desinteressierten, langfristigen, mutigen und zukunftsorientierten Förderung der Grundlagenforschung überschreiten können. Der Abbau solcher Hemmnisse in Zukunft, und die Gewährung größerer Forschungsfreiheit würde der Forschung nach meiner Einschätzung sehr dienen. Der Musiker Paul Sacher gehörte wohl zu diesen wenigen im Gegensatz zu vielen anderen, vielleicht auch im Verstehen des-
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sen, was der Musiker Johann Sebastian Bach in einem Orgelchoral zu seinen letzten Werke gemacht hat, und der in einem Satz den Sinn der menschlichen Entscheidungsfreiheit umfaßt – so sie denn existiert – als das, was am Ende bleibt, eine vita als Kette von vielleicht freien, vielleicht irreversiblen Entscheidungen, die einzig unser Eigen sind, das wir im Sinne der frühen Kulturen als Opfer darbringen könnten: „Vor Deinen Thron tret ich hiermit“ [27].
Zusammenfassung Es werden nach einer allgemeinen Einführung in die Fragestellung und die Motivation unserer Untersuchungen hierzu zunächst die Grundbegriffe der physikalischen Zeitdefinition und Zeitmessung erläutert, als Messung von Zeitintervallen mit der Atom- oder Moleküluhr. Es wird sodann auf die Frage der experimentellen Bestimmung der Zeitrichtung eingegangen. Die Zeitumkehrsymmetrie (T) wird als eine von mehreren grundlegenden physikalischen Symmetrien besprochen (insbesondere C, P und T). Es werden die Zusammenhänge zwischen Symmetrien, Erhaltungsgrößen und schließlich fundamental „nicht beobachtbaren“ Größen und die Konzepte der Symmetriebrechung (spontan, de facto, de lege) kurz erklärt. Hierbei wird auch die Frage der Spiegelsymmetrie des Raumes (P) im Zusammenhang mit der molekularen Chiralität und der Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie (Ladungskonjugation, „charge conjugation“ C) diskutiert. Es zeigen sich eine Reihe von Analogien zwischen diesen Symmetrien. Die Irreversibilität in der molekularen Kinetik wird im Rahmen einer de facto Symmetriebrechung der Zeitumkehrsymmetrie verstanden. Es werden einige experimentelle Ergebnisse zur molekularen Kurzzeitdynamik auf der Femtosekunden- bis Nanosekundenzeitskala vorgestellt, welche das zeitliche Anwachsen der Entropie in einzelnen isolierten Molekülen in der Gasphase demonstrieren. Dennoch sind diese Vorgänge prinzipiell zeitumkehrsymmetrisch. Allerdings zeigen sich sehr unterschiedliche dynamische Grundeigenschaften von Molekülen, je nach der Anharmonizität der Schwingungsbewegung, was ein grundlegendes experimentelles Ergebnis der neueren Forschung darstellt und wichtige Konsequenzen hat. Nicht alle der vier Grundkräfte der Natur (starke Kraft, schwache Kraft, elektromagnetische Kraft, Gravitation) zeigen die Symmetrien C, P, T. Die schwache Kernkraft verletzt die Spiegelsymmetrie des Raumes (Paritätsverletzung „de lege“). In neuesten Experimenten der Hochenergiephysik sind auch Verletzungen („de lege“) der Zeitumkehrsymmetrie direkt nachgewiesen worden.
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In einem abschließenden Teil des Vortrags wird gezeigt, daß verallgemeinert die Festlegung einer Zeitrichtung („T“ neben „C“ und „P“) möglich würde, wenn die sogenannte CPT-Symmetrie verletzt wäre (gleichzeitige Spiegelung von C, P, T), was zur hypothetischen Möglichkeit der Konstruktion einer „absoluten Moleküluhr“ führt [1], die neben Zeitintervallen auch die Zeitrichtung festlegt. Bis heute gibt es jedoch keine experimentellen Hinweise auf CPT-Verletzung. In einem spekulativen Schlußteil des Vortrages wird auf die Konsequenzen einer hypothetischen CPT-Verletzung eingegangen. Weiterhin werden die möglicherweise unterschiedlichen Formen der „Gedankenbildung“ im Hirn je nach Art der molekularen Kinetik und nach Typ der Symmetrieverletzung bei der Zeitumkehr abgehandelt, für den ebenfalls spekulativ-hypothetischen Fall, daß die Gedankenbildung eine molekulare Grundlage hat, daß es also neben der „Molekularbiologie“ auch eine „Molekularpsychologie“ gibt, ein hier neu vorzustellender Begriff. Es wird an einem Fallbeispiel „aus dem Leben“ gezeigt, welche Art von psychologisch-administrativ-politischen Hindernissen die Durchführung von Langzeitprojekten in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung behindern und wie solche Behinderungen durch Gewährung größerer Forschungsfreiheit vermindert werden könnten.
Literaturhinweise [1] M. Quack, Nova Acta Leopoldina, 81 (1999), S. 137–173. [2] M. Quack, „Molecular femtosecond quantum dynamics between less than yoctoseconds and more than days: Experiment and theory“, in Femtosecond chemistry, Proc. Berlin Conf. Femtosecond Chemistry, Berlin (March 1993), (Eds.: J. Manz, L. Woeste), Weinheim: Verlag Chemie 1995 chapter 27, p. 781–818. [3] M. Quack, Angew. Chem., 114 (2002), S. 4812–4825; Angew. Chem. Int. Ed. English, 41 (2002), p. 4618–4630; M. Quack, Angew. Chem. Int. Edit. Engl., 28 (1989), p. 571–586; Angew. Chem., 101 (1989) S. 588–604. [4] D. Luckhaus, M. Quack, „Gas Phase Kinetics“, in Encyclopedia of Chemical Physics and Physical Chemistry, Vol. 1 (Fundamentals) (Eds.: J. H. Moore, N. Spencer), Bristol: IOP publishing 2001, chapter A 3.4, p. 653–682. [5] R. Marquardt, M. Quack, „Energy Redistribution in Reacting Systems“, in Encyclopedia of Chemical Physics and Physical Chemistry, Vol. 1 (Fundamentals) (Eds.: J. H. Moore, N. Spencer), Bristol: IOP Publishing 2001, chapter A. 3.13, p. 897–936. [6] D. Luckhaus, M. Quack, „Gas Phase Kinetics Studies“, in Encyclopedia of Chemical Physics and Physical Chemistry, Vol. 2 (Methods) (Eds.: J. H. Moore, N. Spencer), Bristol: IOP Publishing 2001, chapter B. 2.5, p. 1871–1903.
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[7] M. Quack, S. Jans-Bürli, Molekulare Thermodynamik und Kinetik, Teil 1: Chemische Reaktionskinetik, Zürich: Verlag der Fachvereine 1986, (Neuauflage M. Quack and J. Stohner in Vorbereitung 2004). [8] M. Quack, Chimia, 57 (2003), p. 147–160. [9] M. Quack, Akademie-Journal. Magazin der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Themenschwerpunkt Chemie) (1/2003), S. 38–44. [10] M. Quack, „Die Symmetrie von Zeit und Raum und ihre Verletzung in molekularen Prozessen“, in Jahrbuch 1990–1992 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: Walter de Gruyter 1993, S. 467–507. (schriftliche Fassung des achten öffentlichen Akademievortrages, Berlin 4. 10. 1990); leicht abgeänderte englische Fassung: M. Quack, „The symmetries of time and space and their violation in chiral molecules and molecular processes“, in Conceptual Tools for Understanding Nature. Proc. 2nd Int. Symp. of Science and Epistemology Seminar, Trieste April 1993, (Eds.: G. Costa, G. Calucci, M. Giorgi), Singapore: World Scientific Publ., 1995, p. 172–208. [11] W. Klein, „Der Mythos vom Sprachverfall“, in Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1999, Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 139–158. [12] E. Schrödinger, Annalen der Physik IV. Folge,81 (1926), S. 109–139. [13] F. Hund, Z. Physik, 43 (1927), S. 788–804, 805–826, siehe auch ibid. 40 (1926) S. 742–764. [14] C. N. Hinshelwood, The Kinetics of Chemical Change, 4th ed., Oxford: Clarendon Press 1940. [15] M. Quack, Annu. Rev. Phys. Chem., 41 (1990), p. 839–874; M. Quack, „Mode Selective Vibrational Redistribution and Unimolecular Reactions During and after IR-Laser Excitation“, in Mode Selective Chemistry, Jerusalem Symposium, Vol. 24 (Eds.: J. Jortner, R. D. Levine, A. Pullmann), D. Reidel Publishers 1991, p. 47–65. [16] M. Quack, J. Stohner, J. Phys. Chem., 97 (1993), p. 12574–12590. [17] A. Beil, D. Luckhaus, M. Quack, J. Stohner, Ber. Bunsen-Ges. Phys. Chem., 101 (1997), S. 311–328. [18] M. Quack, Mol. Phys., 34 (1977), p. 477–504; M. Quack, „Detailed symmetry selection rules for chemical reactions“, in Symmetries and properties of non-rigid molecules: A comprehensive survey. Studies in Physical and Theoretical Chemistry, Vol. 23, Amsterdam: Elsevier Publishing Co., 1983, p. 355–378. [19] K. Mainzer, Symmetrien der Natur. Ein Handbuch zur Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Berlin-New York: Walter de Gruyter 1988. [20] R. Berger, M. Gottselig, M. Quack, M. Willeke, Angew. Chem. Int. Edit., 40 (2001), p. 4195–4198; Angew. Chem. 113 (2001), S. 4342–4345. [21] In Das Amulett von Conrad Ferdinand Meyer findet sich eine hübsche Diskussion im dritten Kapitel kurz vor der ersten Erwähnung des „Medaillons“, die aus einer spezifischen Sicht die wesentlichen Punkte klar erläu-
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[22]
[23] [24] [25] [26] [27]
Martin Quack tert, die auch in der Diskussion der BBAW wieder (aus ganz anderer, mehr weltlicher Sicht des Strafrechts) zum Vorschein kamen. Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Vol. 1–3, Verlag der Buchhandlung des Erziehungsvereins Neukirchen Kreis Moers, 1919, (siehe besonders Hauptartikel zum Gesetz etc, 2.–5. Buch Mose, Band 2, 1. Hälfte S. 223 ff., 2. Hälfte S. 3–441 und Inhaltsübersicht über die Gesetzesauslegung Band 3). Übersetzung von Band 1 von W. Groeters, Mathias Simon, von Band 2 (1. Hälfte Buch Mose 2–5) von Karl Müller, von Band 3 (2. Hälfte Buch Mose 2–5 und Buch Josua) übersetzt von Ernst Quack und Th. August Bergfried. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. I. Ekeland, Le meilleur des mondes possibles. Mathématiques et destinée, Paris: Editions du Seuil 2000. R. L. Frost, Collected Poems, Prose and Plays, New York: The Library of America, Library Classics 1995. R. R. Ernst, Angew. Chem., 115 (2003), S. 4572–4578; Angew. Chem. Int. Edit., 42 (2003), p. 4434–4439. A. Schweitzer, Johann Sebastian Bach, 10. Auflage, Nachdruck [1. Auflage 1908], Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1979; s. besonders Kapitel 12 sowie das Vorwort von Charles Marie Widor.
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Auf der Suche nach der (verlorenen) Zeit in der Biologie Die uns heute bekannte Wissenschaft der Biologie ist eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Sie ist damit geprägt von der in dieser Zeit gängigen Einteilung der Wissenschaften in Naturund Geistes- bzw. Handlungswissenschaften (oder Wissenschaften vom Menschen). Diese Aufteilung spiegelt auch die Antithese zwischen Natur und Bewußtsein oder zwischen Gesetz und Normativität wieder, welche das Bild der Biologie ebenfalls entscheidend beeinflußt hat. Als Naturwissenschaft waren für die Biologie Physik und Chemie mit ihren Idealen zeitloser Objektivität, zeitloser Gültigkeit und Vorhersagbarkeit das vorherrschende Paradigma, das so zwar nie eingeholt wurde, das aber auch für die Biologie als Naturwissenschaft leitend war. Ein weiterer Anteil des 19. Jahrhunderts findet sich im Einfluß der Naturgeschichte oder Evolutionstheorie. Konträr zur Betonung zeitloser Gültigkeit gehen dadurch Momente der kontingenten Geschichtlichkeit in die Theoriebildung der Biologie ein. Dieses Moment, das damit für biologische Erklärungen Gewicht bekommt, wird in rein funktionalen Erklärungen der Biologie jedoch zumeist ausgeblendet. Das hat zur Folge, daß Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit so fast unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Die für die funktionale Erklärung erforderliche Operationalisierbarkeit und naturgeschichtliche Beschreibung vertragen sich auch nicht, weil Operationalisierung die universale Anwendbarkeit der Methode unterstellt, während die Beschreibung schon immer von der Einzigartigkeit der
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Geschehnisse ausgeht. Der Faktor Zeit ist in der Biologie aber ein wissenschaftskonstituierendes Element. Im folgenden soll versucht werden zu analysieren, wie die beiden Weisen des Verstehens und Erklärens in der Biologie entlang des Paradigmas zeitloser Objektivität und entlang der Beschreibung des Kontingenten verwendet werden und in welchen weiteren Sinnen Zeit in der Biologie eine Rolle spielt. Wie Ernst Mayr in seinem Standardwerk Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt darlegt, sind biologische Phänomene Jahrtausende hindurch entweder als physiologische oder als naturgeschichtliche Phänomene eingeordnet worden. Diese Einteilung möchte Mayr durch seine eigene Unterscheidung in qualitativ und funktional erklärende Ansätze ersetzen. Während bei funktional erklärenden Ansätzen die Frage nach unmittelbaren Ursachen eines biologischen Vorgangs forschungsleitend ist, stehen bei qualitativ erklärenden Ansätzen die Fragen nach mittelbaren, evolutionären Ursachen, welche lediglich in der Zeit wirken, im Vordergrund. Indem Mayr darauf hinweist, daß die beiden Biologien, denen die beiden unterschiedlichen Varianten der Kausalität zu Grunde liegen, „bemerkenswert eigenständig“ seien, bestätigt er, daß Zeitlosigkeit und Kontingenz in der Theoriebildung der Biologie weitestgehend unverbunden nebeneinander stehen. Dennoch sei jedes biologische Phänomen durch voneinander unabhängigen Arten der Kausalität bedingt1. Unter Funktions1
Eines der anschaulichen Beispiele, die er dafür gibt, daß jedes Phänomen von beiden Arten der Kausalität bestimmt ist, ist das folgende. Wenn man erklären will, ob ein Vogel ein Zugvogel ist, reicht der Hinweis auf bestehende klimatische Bedingungen allein nicht. Der Genotypus, der bestimmt, ob eine Art seßhaft ist oder nicht, wird durch die Evolution im Zeitraum von Jahrtausenden bestimmt. Die unmittelbare Ursache für den Beginn einer Wanderbewegung mag die Reaktion auf den Photoperiodismus sein, der einsetzt, wenn die Anzahl der Tageslichtstunden abnimmt. Die mittelbare Ursache mag aber die natürliche Auslese sein, die bewirkt, daß diejenigen Vogelarten, die in einer Klimazone zu einer bestimmten Zeit kein Futter
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biologie versteht Mayr diejenigen Disziplinen innerhalb der Biologie, die sich im wesentlichen mit der Frage, wie etwas funktioniert, beschäftigten, und damit, auf welche Weise strukturelle Elemente2 wirken. Der Funktionsbiologe versucht das zu untersuchende Element vollständig unter Kontrolle zu bringen, und alle überflüssigen Variablen im Experiment auszuschalten. Bei dieser Arbeitsweise spielt der Gesichtspunkt, daß jeder Organismus das Produkt einer langen Geschichte und damit ein Glied einer langen Evolutionskette ist, keine Rolle. Damit wird aber auch das Faktum ausgeblendet, daß ein Organismus in seiner Entstehungs- und Funktionsweise zeit- und raumgebunden ist und mithin die Erklärungsansätze, die einer Zeit- und Raumgebundenheit Rechnung tragen. Das Verständnis des zu untersuchenden Organismus wird in diesem Fall auch ein anderes sein, als in dem Fall, in dem er nicht isoliert von seiner Umgebung und den ihn umgebenden Organismen, sondern in Abhängigkeit von diesen Umweltfaktoren zu verstehen wäre. Gegen die Vernachlässigung des naturgeschichtlichen Hintergrundes wendet sich Mayr aber nicht zuletzt deshalb, weil man zu keinem vollständigen Verständnis eines Organismus gelangen könne, wenn man ihn nur unter funktionsbiologischen Aspekten betrachte. In einem Organismus gäbe es nämlich kaum eine Struktur oder Funktion, die man vollständig verstehen könne, wenn man den (natur-) geschichtlichen Hintergrund nicht berücksichtigt habe. Für die Biologie als Naturwissenschaft betont Mayr daher nachdrücklich den erklärenden Wert historischer Darstellungen: „Historische Darstellungen besitzen einen erklärenden Wert, weil frühere Ereignisse in einer
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finden, Zugvögeln werden müssen, um nicht zu verhungern und auszusterben. E. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung, übers. v. K. de Sousa Ferreira, Berlin/Heidelberg/New York/ Tokyo 1984, S. 56. Von Molekülen bis hin zu Organen und ganzen Lebewesen und ihren Interaktionen in sozialen Verbänden.
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historischen Abfolge gewöhnlich einen kausalen Beitrag zu späteren Ereignissen leisten.“3 Da sich der kausale Beitrag in vielen biologischen Prozessen nicht als ein unmittelbarer ermitteln läßt, weil er erst mittelbar wirksam und „sichtbar“ wird, wird ein Erklärungsgewinn erzielt, wenn man die erwähnte mittelbare Kausalität berücksichtigt. Wenn es darum gehe, biologische Vorgänge vollständig zu erklären, müßten, so Mayr, beide Faktoren der Kausalität berücksichtigt werden, da alle biologischen Prozesse sowohl eine unmittelbare als auch eine mittelbare Ursache haben. Diese Behauptung untermauert Mayr am Beispiel der verschiedenen Erklärungen der Funktion der Befruchtung. Für Funktionsbiologen war zunächst die Erklärung ausreichend gewesen, nach welcher der Zweck der Befruchtung das Auslösen der Entwicklung sei. Eine Entwicklung setzt nämlich erst dann ein, wenn das zuvor im Ruhezustand befindliche Ei befruchtet ist und eine erste Furchenteilung eintritt. Auf Grund der Beobachtung, daß bei parthenogenetischen Arten keine Befruchtung nötig ist, kamen Evolutionsbiologen jedoch zu einem anderen Ergebnis. Nach diesem Erklärungsansatz ist die Neukombination der Gene, die zu einer höheren genetischen Variabilität führt, Zweck der Befruchtung. Die Neukombination der Gene liefert das Material für die natürliche Auslese. Erst die Hinzunahme des naturgeschichtlichen Horizonts, der die Berücksichtigung von Geschehnissen außerhalb des Labors erfordert, erlaubt demnach eine umfassendere Erklärung. Der Faktor ‚Zeit‘ wird in der Biologie noch in weiteren Zusammenhängen berücksichtigt. Wir haben zunächst sechs Fälle unterschieden, bei denen das der Fall ist, aber es ließen sich wahrscheinlich noch weitere ausfindig machen, die uns entgangen sind: 1. Zeit und das Verständnis des Lebens. 2. Zeit und Forschungswirklichkeit in der Biologie. 3. Evolutionsforschung als Archäologie und Geschichte. 3
E. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt (wie Anm. 1), S. 59.
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4. Zeit als Abnutzungsfaktor bei biologischen Organismen. 5. Schutz der evolutionären, d. h. zeitlichen Prozesse durch Schutz der Biodiversität. 6. Physikalische Zeit in der Biologie. Für den vorliegenden Diskussionszusammenhang sind die einzelnen Zeitfaktoren von unterschiedlicher Bedeutung. „Es würde ein ganzes Leben dauern, würde man sich die komplette Genomsequenz eines Menschen in einem Vortrag vorlesen lassen.“ Diese Bemerkung in einem populärwissenschaftlichen Buch zur Genomsequenz4 wird von der Bemerkung begleitet, daß die gespeicherten Informationen und Anweisungen „auf “ dem Genom das Buch des Lebens darstellten. Die Genomsequenz eines Menschen wird mithin mit ihm als Daseienden gleichgesetzt. Zwar bräuchten wir ein ganzes Leben, um diese Daten zur Kenntnis zu nehmen, und brauchen auch einige Zeit, um sie zu erforschen, aber das liege nur an unserer begrenzten Auffassungsgabe. Denn grundsätzlich seien die Informationen da, was nichts anderes bedeutet, als daß der Mensch als ein Wesen bestimmt wird, das in seiner Genomsequenz gegenwärtig ist. Fragen des Werdens, der Entwicklung oder der Bildung, des sozialen Milieus spielen dann nur noch eine eingeschränkte Rolle. Zeit wird hier ausschließlich im Rahmen der kognitiven Beschränktheit des Menschen angeführt, während der Zeitfaktor hinsichtlich der Notwendigkeit der Entwicklung ansonsten marginalisiert wird. Das Genom als Code muß nur noch gelesen werden, aber es ist prinzipiell bereits gegenwärtig. Die Metapher vom Buch des Lebens suggeriert hier nicht nur ein zeitloses Individuum, das keiner Entwicklung und Bildung bedarf, sondern führt zu der eigenartigen Kombination der Konzepte Individualität auf der einen Seite und Maschinenlesbarkeit und Reparaturmöglichkeit auf der anderen Seite. Diese Kombination ist nur möglich, indem Individualität auf 4
K. Davies, Die Sequenz. Der Wettlauf um das menschliche Genom, München 2001.
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Einmaligkeit reduziert wird, auf eine Einmaligkeit, wie sie auch jeder Fingerabdruck aufweist. Diese Vorstellung geht mit der Auffassung einher, daß die Auflistung der genetischen Störungen der Auflistung der Krankheiten eines Menschen im Laufe seines Lebens gleichkäme, weil das menschliche Genom (so wörtlich) den Schlüssel für das Verständnis von Gesundheit beinhalte. Hans Blumenberg hatte das Verständnis der Maschinenlesbarkeit des Genoms in seinem Werk Die Lesbarkeit der Welt im Kapitel „Der genetische Code und seine Leser“5 noch anders sehen wollen. Fast optimistisch nennt er dieses Verständnis des Lebens als einem zur Gänze vorhandenen Code eine erste gedankliche Auseinandersetzung mit dem, was Leben ist. Der einflußreiche theoretische Physiker Erwin Schrödinger hatte sich in einer Abhandlung mit dem Titel „Was ist Leben?“ Fragen der Biologie zugewandt. Schrödingers Hintergrundannahmen versteht Blumenberg als eine Frühform der gedanklichen Beschäftigung mit dem Leben, die Blumenberg unseres Erachtens zu Unrecht heute für überholt hält. Wenn Blumenberg Erwin Schrödingers Aufnahme des Metapherngebrauchs der chiffrierten Natursprache durch Max Planck analysiert, versteht Blumenberg Plancks Metapherngebrauch als einen modernen, insofern diese Natursprache weder „etwas mitteilen, aber auch niemanden etwas verbergen wolle. Die alte Urkunde ist ein Relikt, das der Nachwelt nicht hinterlassen worden ist, kein Denkmal, sondern eine Spur; und ihre Rätselhaftigkeit ist in Bedingungen begründet, die (…) schicksalhaft am Zeitverlauf hängen.“6 Wir werden sehen, daß heute in der Tat kein Biologe das Genom als ein Denkmal betrachtet, daß die Spur aber dennoch als ein Relikt angesehen wird, die der Nachwelt hinterlassen worden ist, damit sie ihr eigenes Gewordensein verstehen kann. Die 5 6
H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1986. Ebd., S. 373.
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Verschiebung ist eine marginale und dennoch wichtige, da hat Blumenberg selbstverständlich recht. In unserer Gegenwart wird nicht mehr der intendierte Autorwille in die Urkunde ‚Genom‘ hineingelesen, aber sie wird gelesen wie ein Tatsachenbericht aus einer anderen Zeit. Blumenberg glaubte in seinem gebildeten Optimismus auch die Maschinenmetapher Schrödingers überwunden: „Wenn Schrödinger die Gesamtheit der genetischen Faktoren im Zellkern als codierte Schrift ansah, wer war dann der metaphorisch unvermeidliche Leser ihres Textes (…)?“ Schrödinger greift dafür auf den Laplaceschen Dämon zurück: „dem jegliche kausale Beziehung sofort offenbar wäre“ (und der, wenn er das chromosomale Material vor sich habe) „aus dieser Struktur voraussagen (könne), ob das Ei sich unter geeigneten Bedingungen zu einem schwarzen Hahn, einem gefleckten Huhn, zu einer Fliege oder einer Maispflanze (…) oder zu einem Weibe entwikkeln werde.“7 Sind wir gegenwärtig wirklich so weit über Schrödingers Heranziehung des Laplaceschen Dämon hinaus? Haben wir nicht immer noch die Fiktion eines Lesers als eines außerhalb des Systems stehenden Beobachters, „dessen Akt des Lesens in der Leistung eines vollkommenen Rechenautomaten bestand, der für jeden gegebenen, vollständig einen Systemzustand beschreibenden Datenkomplex jeden beliebigen anderszeitigen desselben Systems liefern (kann)“?8 Der vollkommene Rechenautomat benötigt keine Zeit, weil er die Entwicklung des Organismus nicht abwarten muß, er kann sie quasi instantan ausrechnen. Genau diese Annahme steht aber doch hinter der Anwendung genetischer Kenntnisse in der vorgeburtlichen Diagnostik, nur daß der Leser nicht der Laplacesche Dämon, sondern der Arzt ist.
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Schrödinger, Was ist Leben? München 1951, zitiert nach Blumenberg (wie Anm. 5), S. 377. Blumenberg, S. 382.
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Blumenberg macht eine weitergehende Beobachtung. Man wäre in der Genetik nicht weitergekommen, wenn mit dem Gedanken der Fähigkeit zu Reproduktion, Rekombination und der „Wiederholung des Gens“, der Selbstvervielfältigung und damit letztlich der Selbstlektüre des Gens nicht auch Entwicklung als Gedanke Einzug gehalten hätte. Da ohne Entwicklung die Evolution des Lebens nicht möglich gewesen wäre, sieht Blumenberg die Selbstlektüre noch als Aufbruch und Aufgabe einer rigoristischen Punkt-für-Punkt-Weitergabe von Information.9 Denn die Form der Entwicklung durch Reproduktion des Gens, wird durch Abweichungen und „Lektürefehler“ immer wieder voran gestoßen. Der Gesichtspunkt der Zeit geht mithin in die Theorie der Reproduktionsfähigkeit ein: „jeder Rigorismus in der Reproduktionsfähigkeit der Natur, schon eine wesentlich gesteigerte Texttreue in der Punkt-für-Punkt-Weitergabe von Information, hätte die Evolution des Lebens gehindert, die Existenz des Menschen in Reichweite seiner Geschichte kommen zu lassen. Der Zeitbedarf der Lebensgeschichte (wäre) im Zeithorizont der Planetengeschichte nicht aufgegangen“.10 Da die Geschichte des Lebens einen eigenen Zeitbedarf hat, müßten für ihre Rekonstruktion auch mittelbare Ursachen berücksichtigt werden. Dieser Umstand spielt für den Punkt „Zeit und Forschungswirklichkeit in der Biologie“ eine wichtige Rolle. Denn da sich die mittelbaren Auswirkungen einer veränderten Funktionsweise eines Organismus oder auch nur der Festschreibung einer Funktionsweise für den Organismus selbst und für sein biologisches Umfeld nicht prognostizieren lassen, weil die Anzahl der zu berücksichtigenden Parameter zu groß und mutmaßlich unüberschaubar ist, spielen diese nur in größeren Zeiträumen wirksamen Effekte in den Erklärungen und Experimenten der Forschung eine geringere Rolle als Effekte 9 10
Ebd., S. 384. Ebd., S. 384.
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mit unmittelbarer Auswirkung. Die in der Forschung dominante Arbeitsweise der Funktionsbiologie zielt darauf ab, alle überflüssigen Variablen im Experiment auszuschalten, um das zu untersuchende Element vollständig unter Kontrolle zu bringen. Zu dieser Kontrolle gehört auch eine möglichst präzise Prognostizierbarkeit. Kognitive Beschränkungen hinsichtlich der Prognostizierbarkeit werden nicht angenommen, weil alle relevanten Ursachen als unmittelbar wirksam gelten. Die Hinzunahme der mittelbaren, das heißt in größeren Zeitabschnitten wirksamen Ursachen, hätte hingegen zur Folge, daß für die Zukunft Ursachenzusammenhänge nicht nachvollziehbar wären und damit ginge die vollständige Kontrollierbarkeit im Experiment verloren. Die Berücksichtigung der Zeit in Form von Ursachezusammenhängen, die erst in zeitlicher Perspektive sichtbar werden, führt mithin zu einem Verlust an experimenteller Kontrolle. Das Experiment im Labor, das dem Geschehen in der Natur nachstellen soll, folgt eigenen methodischen Grundsätzen, weil die untersuchten Ursache- und Wirkzusammenhängen andere sind als außerhalb des Labors und weil die Zukunft in Form der Prognostizierbarkeit eine Funktion für die naturwissenschaftliche Erklärung hat, die sie im naturgeschichtlichen Horizont nicht haben kann. Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang der Berücksichtigung mittelbarer Ursachen in Forschungszusammenhängen ist mit der Zeitintensität der Forschung selbst gegeben. Mehr Zeit zu benötigen stellt aber unfraglich einen Wettbewerbsnachteil dar. Es ist eben unmöglich, die Evolution im Labor „nachzuspielen“, es lassen sich nur Experimenten denken, die bestimmte Evolutionstheorien plausibler machen als andere. Auch der Umstand, daß Evolutionsforschung als eine Form der Archäologie oder Geschichte bezeichnet wird (Punkt 3), bedeutet nicht, daß der Faktor Zeit in biologische Untersuchungen einen eigenständigen Erklärungsfaktor darstellte. Die Untersuchungen zur Evolution des Humangenoms werden insofern als Archäologie bezeichnet, als sie dazu dienen
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können, die Geschichte der eigenen Familie oder Abstammung zu rekonstruieren oder beispielsweise die Geschichte von Präsidentenfamilien neu zu schreiben. Die Geschichte der Völkerwanderungen kann damit vervollständigt oder verifiziert werden und kriminalistische Aufgaben können gelöst werden. Daher wird festgestellt, daß die Evolution des Humangenoms dazu beitrage, die Frage zu klären, wer der Mensch ist. Das Verständnis von Archäologie oder Historie, das hinter diesen Annahmen steckt, ist allerdings eines, das zum einen mit dem Mythos der Wahrheitsnähe von Ursprünglichkeit, also letztlich einer religiösen Vorstellung verbunden ist. Zum anderen ist dieses Verständnis von Archäologie mit der Vorstellung von Geschichte als Tatsachengeschichte eng verbunden. Das Geschichtsverständnis, das dahinter steht, ist das des 19. Jahrhunderts, welches von Ranke bestimmt wurde: „Zeigen wie es gewesen ist“. Die Schwierigkeiten dieses Archäologie- oder Geschichtsverständnisses liegen auf der Hand. Es ist zumeist mit der Vorstellung wissenschaftlicher Wertfreiheit verbunden. Gänzlich unberücksichtigt bleibt auch, daß der Auswahl von berichtenswerten Ereignissen zumeist selbst bereits eine Wertung zu Grunde liegt. Das Genom als Urkunde hat, wie Blumenberg so zutreffend bemerkt, in unserer Vorstellung keinen intentionalen Autor mehr, kein Gott will uns seinen Weltenplan offenbaren. Dennoch enthält das Genom die Wahrheit des Ursprungs, die wir finden können, um die verschämten oder böswilligen Intentionen menschlicher Geschichtsschreibung zu korrigieren. Das setzt voraus, daß es eine objektiv richtige Weise der Geschichtsschreibung gibt, an der die Genetik sich beteiligen könnte. Die Frage, die sich hier stellt, kommt für den Metaphorologen Blumenberg zu spät. Warum hat Blumenberg die von ihm so bezeichnete Entwicklungsgeschichte des genetischen Textes nicht mit einer weiteren Metapher in Verbindung gesetzt, mit der Metapher des Anfangs im Wort? Die Intentionalität des göttlichen Autors beiseite lassend, lohnt sich doch zumindest der Hinweis darauf, daß die Kreativität des Wortes und ihrer
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Schöpfer längst an die Sprache oder den Text der Genetik übergegangen ist. Und daß in der Biologie nur intentionsfreie Entwicklung gemeint sei und nicht auch Geschichte, wenn über Kombinationsmöglichkeiten in der Genetik nachgedacht wird, daß die Selbstzurücknahme von Biologen und Mediziner also so weit gehen könnte – hierin kann Blumenberg nicht recht gegeben werden, und so ist seine Analyse wohl mehr der Hoffnung zuzuschreiben als der Forschungswirklichkeit. (Die Verbindung des Begriffs der Geschichte mit den Begriffen der Intentionen und der Handlungen wird noch weitere Erwähnung finden.) „Entwicklung hieße, daß am genetischen Text fortgeschrieben wird; Geschichte hieße, daß die Annalen des Menschen Epoche um Epoche fortgeführt werden. (Des Genetikers Blick) auf die in Schriftlichkeit sich darstellende Geschichte des Lebens und des Menschen (ist) vorwiegend von der Frage bewegt gewesen, wie das alles hatte zustande kommen können.“11 Hier hat ein Mann geschrieben, der eine genaue Kenntnis davon gehabt hat, was Historiographie in den Zeiten war und er will uns deshalb davor warnen, etwas Geschichte zu nennen, was reine Faktenneugier bezüglich der Natur ist und nicht mit den von Menschen zu verantwortenden Geschehnissen in eins fällt, von denen es zu berichten gilt. Aber der Begriff der Naturgeschichte hat sich im Lichte der Evolutionstheorie auch geändert, denn seither ist er nicht mehr nur im klassischen Sinne von „historia“ als Sammlung und Erzählung von natürlichen Gegebenheiten zu verstehen, „sondern wirklich als (…) zeitlicher Verlauf des Entstehens und Vergehens (…) eben (als) eine Geschichte der natürlichen Formen und Arten, eine Selbstverständlichkeit.“12 (Daneben hat sich längst der Gedanke breit ge11 12
Ebd., S. 404. M. Hampe, Naturgesetz, Gewohnheit und Geschichte. Zur Prozeßtheorie von Charles Sanders Peirce, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), S. 907–927, hier S. 909.
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macht, daß auch die menschliche Geschichte nicht so intentionen- und handlungsgelenkt ist wie lange angenommen. Weder verläuft die menschliche Geschichte nach Naturgesetzen ab, noch unterliegt sie allein dem menschlichen Willen.13) Die Vorstellung, eine Geschichte der natürlichen Tatsachen könne keine Geschichte sein, auch wenn sie Naturgeschichte genannt wird, übersieht zudem ein bereits angesprochenes Moment bei der Auswahl der Fakten. Der Auswahl von berichtenswerten Ereignissen liegt zumeist bereits eine Wertung und ein spezifisches Interesse zu Grunde. Dieses Interesse lenkt nicht nur den Blick darauf, was gesucht werden soll, sondern faßt die Suche in Begriffe, die Produkte einer bestimmten Zeit sind. Der Begriff der Rasse wurde beispielsweise von Kant gebildet. Und wer hätte je ohne den Begriff der Rasse, der nach Kant noch eine Geschichte erfahren hat, nach Rasse in der Biologie oder gar in der Genetik suchen können? Solche Begriffsbildung ist zudem meist normativ aufgeladen. Eigentlich zeitgebundene Werte werden so über ihre Vorkommen im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Disziplin anscheinend naturalisiert und damit festgeschrieben. Da das bereits geschilderte, implizit wertende Vorgehen unreflektiert bleibt, ergeben sich hinsichtlich der Geltung biologischer Urteile Verzerrungen. Auf den Umstand, daß biologische Theorien häufig wertbeladen sind, weil ihre Ergebnisse zu Schlußfolgerungen führen, die alles andere als wertfrei sind, gleichgültig wie objektiv die naturwissenschaftliche Forschung sein mag, ist damit hingewiesen. Zeit wird auch als Abnutzungsfaktor bei biologischen Organismen interpretiert. Damit wären wir bei Punkt vier der Abhandlung angelangt. Da die Sequenzen im Laufe eines Lebens oft kopiert wird und bei jeder Kopie Abweichungen auftreten können, erhöht sich 13
Dazu Hampe, ebd.
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jedenfalls nach einer Erklärung die Wahrscheinlichkeit, daß Eltern im höheren Alter ein Kind mit Down-Syndrom bekommen (nach einer anderen Erklärung werden die Eierstöcke bei einer Frau nur einmal bestückt, nicht wie beim männlichen Sperma, das ständig neu gebildet wird, die andere Theorie, warum das Down-Syndrom mit dem Alter der Frau zunimmt, hängt damit zusammen, daß evtl. erst einmal die „guten“ Ovarien für Eisprünge genutzt werden). Auch hier wird die Genomsequenz als Schlüssel für das Verständnis von Gesundheit gewertet. Zwar wird in anderem Zusammenhang zugegeben, daß es nach wie vor unklar sei, wo genetische Einflüsse aufhören und Umwelteinflüsse beginnen, aber die Möglichkeit, daß die Bewertung eines Down-Syndroms als Krankheit beispielsweise ein kulturell bedingtes Phänomen sein könnte, bleibt gänzlich unberücksichtigt. In diesem Sinne wird die Frage der Historizität von Krankheiten ignoriert. Der in vorliegendem Zusammenhang weitere wichtige Aspekt von Zeit in der Biologie verbirgt sich hinter Punkt 5 „Schutz der evolutionären, d. h. zeitlichen Prozesse durch Schutz der Biodiversität“. Hier scheint der Faktor Zeit in biologischen Überlegungen berücksichtigt zu sein, denn es geht explizit darum, die genetische Vielfalt zu erhalten, um evolutionäre Prozesse und damit eben zeitliche Prozesse zu schützen. Unabhängig davon, daß hinter diesen Überlegungen naturethische oder religiöse Motive stehen, weil sie mit teleologischen Interpretationen verbunden werden, stellt diese Form der Berücksichtigung des Zeitlichen allerdings eine Verkürzung von Evolution auf Biodiversität dar. In der wissenschaftstheoretischen Forschung wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, daß dadurch gerade nicht Zeitlichkeit betont wird, sondern genetische Vielfalt innerhalb einer Spezies zum überzeitlichen Prinzip der Evolution erhoben wird.14 14
Th. Potthast, Die Evolution und der Naturschutz. Zum Verhältnis von Evolutionsbiologie, Ökologie und Naturethik, Frankfurt/M. 1999, S. 148.
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Die Beobachtung, nach welcher der Schutz der genetischen Vielfalt innerhalb einer Art ein überzeitliches Prinzip in der Evolutionstheorie darstellt, steht konträr zu derjenigen, daß die Festlegung auf eine genotypische Norm eine zeitliche Festlegung beinhaltet. Denn die Entscheidung für die Elimination einer Genvariation, die für eine Krankheit verantwortlich gemacht wird, bedeutet zugleich die Festlegung auf eine gesellschaftlich akzeptierte Norm. Damit wird aber auch eine genotypische Norm geschaffen und festgelegt, die in erster Linie zur Vermeidung bestimmter Phänotypen herangezogen wird, wiederum aber einer kulturellen Norm folgt. Diese Vorgehensweise läßt sich hinsichtlich Nutzpflanzen, Nutztieren und all derjenigen Organismen feststellen, deren Funktionsweise einen Nutzeffekt für gegenwärtig verfolgte Zwecke verspricht. Da jeder Organismus das Produkt einer langen Geschichte und Glied einer langen Evolutionskette ist, ist die Festschreibung auf die derzeitige Nutzbarkeit und/oder andere Normvorstellungen eine Festschreibung biologischer Objekte als Endprodukte einer bestimmten Zeit und in dem erläuterten Sinne einer bestimmten Kultur. Das kulturell ausgebildete Interesse, das damit zur Norm erhoben wird, führt zudem dazu, daß diese Objekte und ihre Funktionen nicht mehr in einem umfassenderen Sinne erklärt oder beschrieben werden. Der Festlegung auf eine kultur- und zeitbedingte Norm kann, wie gerade gesehen, nicht ohne weiteres dadurch begegnet werden, daß die Genvielfalt zur überzeitlich gültigen Norm erhoben wird, weil auch der Begriff der Genvielfalt eine wissenschaftliche Begriffs- und Entstehungsgeschichte hat. Dieses Dilemma muß hier ungelöst bleiben. Für die Überlegungen zu Punkt sechs, die physikalische Zeit in der Biologie, stellt die Modellierung lebender Systeme auf der Grundlage interner Rhythmen ein hervorragendes Beispiel dar. Wir wollen uns im folgenden eine Arbeit unseres Kollegen in der Jungen Akademie, Marc-Thorsten Hütt, ansehen, in der er versucht hat, Methoden und Konzepte der theoretischen Phy-
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sik als Werkzeuge zum Entwurf biologischer Modelle zu diskutieren.15 Es geht ihm darum, Minimalmodelle zu konstruieren, in denen die wesentlichen Züge der Dynamiken von Systemen dargestellt werden sollen. Die Theorienbildung nimmt hierbei natürlich größten Raum ein. Erst nachdem die Modellierung abgeschlossen ist, werden die dabei bestimmten Organisationsmuster im Experiment auf ihre Richtigkeit geprüft. Wenn die dabei gewonnene mathematische Beschreibung sich auf zahlreiche biologische Phänomene in der (biologischen) Natur anwenden läßt, geht man davon aus, Grundprinzipien der Natur entdeckt zu haben. Angestrebt wird also keine detailgetreue Reproduktion eines einzelnen biologischen Phänomens, sondern die in wesentlichen Eigenschaften zutreffende Beschreibung des Phänomens. Das Ausblenden von Details kann dazu führen, daß Erklärungsansätze sich auf andere, ähnliche biologische Phänomene übertragen lassen. In diesem Sinne entspricht das Vorgehen dem, wie in der theoretischen Physik typischerweise methodisch verfahren wird. Zunächst geht es darum, ein oszillatorisches Verhalten einer durch das Modell repräsentierten Pflanze zu rekonstruieren, das mit dem endogenen Rhythmus einer konkret in der Natur vorkommenden Pflanze in Einklang ist. Die Pflanze, deren rhythmisches Verhalten rekonstruiert werden soll, ist eine Pflanze mit einem CAM-Metabolismus (crassulacean acid metabolism). Der Rhythmus bezieht sich auf den KohlendioxidAustausch (den „Gaswechsel“) mit der Umgebung. Eine Besonderheit bei dieser Pflanze ist, daß sie auch ohne äußere Änderungen eine ausgeprägte Oszillation des Gaswechsels aufweist, die eine Periodendauer von etwa 24 Stunden besitzt. Evolutionär geht dieser endogene Rhythmus aus dem aufgeprägten Tag-Nacht-Rhythmus hervor. Gleichzeitig findet man bei 15
M.-Th. Hütt, Untersuchungen von biologischen Prozessen mit Methoden der theoretischen Physik, in: Selbstorganisierte Systemzeiten, W. Deppert, K. Köther, B. Kralemann, C. Lattmann, N. Martens und J. Schaefer (Hrsg.), Leipzig 2002, S. 77–126.
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Überschreitung einer bestimmten Schwellentemperatur ein arhythmisches Zeitverhalten der Gaswechselkurve. Hier ist ein Ansatzpunkt, um mit Begriffen wie Synchronisation und Desynchronisation einen internen Zeitbegriff zu konstruieren, der Aufschluß über die physiologischen Abläufe in der Pflanze erlauben könnte. Dabei ist zweierlei von Interesse. Zum einen wurde am Beispiel dieser Pflanze ein Modell für eine circadiane Uhr aufgestellt, die auf dem Stoffwechsel der Pflanze beruht. Zum anderen hat man ein Beispiel für eine zeitliche Dynamik, die auf einem raum-zeitlichen Phänomen beruht. Denn da das Überschreiten der Schwellentemperatur zur Desynchronisation verschiedener Blattbereiche führt, wird die Raumkomponente bedeutsam. Das Blatt wird dann als Fläche von Oszillatoren gesehen, die ihre Synchronisation ab einer bestimmten Schwellentemperatur verlieren. Die Synchronisation stellt sich auch dann nicht wieder ein, wenn die Temperatur langsam wieder abgesenkt wird, sondern erst, wenn ein äußerer Zeitgeber/Temperaturimpuls eingesetzt wird. Ein langsames Absenken der Temperatur ist zeitlich nicht hinreichend lokalisiert, um als äußerer Zeitgeber zu dienen. Die Parallele zwischen dem tatsächlichen Verhalten der Pflanzen und der Modellbildung „geht hier auf“. Historisch kontingente Zeitangaben, die in der qualitativ, beschreibend arbeitenden Biologie einen guten Sinn erfüllt haben, spielen hier keine Rolle mehr. Die hier angestrebte mathematische Präzision führt dazu, biologische Organismen als biologische Systeme zu verstehen, die wiederum in Teilsystemen bestehen, welche aufeinander und auf ihr Umweltsystem abgestimmt sein müssen. Die Einheit des Lebens und die Zeitlichkeit und Relativität der Conditio humana und der übrigen Lebewesen gerät so aus dem Blickfeld zugunsten einer berechenbaren Abstraktion. Dieser Schritt ist nur deshalb möglich, weil das bei der Pflanze tatsächlich vorkommenden Gaswechselmuster und die mathematische Modellierung angeglichen werden – das eine wird zum Bild des Anderen und erlaubt so Fortschreibbarkeit des zeitlichen Verlaufs des Gaswechselmusters bei der Pflanze und
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Vorhersagbarkeit, die in Bezug auf die sonstige Kontingenz biologischer Entwicklungen nicht möglich ist. Es ist wohl kein Zufall, daß Zeit hier im Sinne von Rhythmus bzw. Arhythmus modelliert wird. Zeit wird mithin nicht als Phase, in der etwas passiert, verstanden, wie im Falle der Evolution, sondern als Takt oder Zeitmaß, deren Periodik rekonstruiert oder modelliert wird. Zeit und biologischer Organismus werden hier in einem anderen Verhältnis gesehen als in der Evolutionsgeschichte, da die Wiedergabe des zeitlichen Verlaufs es ermöglicht, den Zustand des biologischen Systems zu einem Zeitpunkt anzugeben oder vorherzusagen, was bei den sonstigen Kontingenzen, denen biologische Organismen unterworfen sind, nicht möglich ist. Dieses Zeitverständnis, angewendet auf biologische Organismen, beseitigt Kontingenz und ermöglicht Vergleichbarkeit systemischer Eigenschaften, da mathematische Methoden und Beschreibungsweisen als „Vergleichssprache“ eingeführt werden können. Damit sind wir entgegen der Vermutungen von Blumenberg wieder bei der abbildenden Sprache und damit bei der Ewigkeit angelangt. Diese Sprache bedarf der Ewigkeit, weil sie das Seiende enthüllen soll und nicht die Entwicklung aufweisen. Wenn in der Biologie versucht wird, sich die Theoriebildung der Physik zum Vorbild zu nehmen, verliert man jedoch die die Biologie als Wissenschaft konstituierende Theorie, nämlich die Evolutionstheorie aus dem Auge. Denn während in der Physik physikalische Gesetze verstanden werden können, ohne den Urknall zu verstehen und Fragen nach dem Warum und nach der Entwicklung keine Rolle spielen, sind diese Fragen in der Biologie das wissenschaftskonstituierende Element. In dieser Abhandlung wurden einige Aspekte der Zeit in der Biologie aufgesucht. Weder die dieser Wissenschaft in ihrer jetzigen Form konstituierenden Dichotomien der zeitlosen Naturgesetzlichkeit und der Geschichte der natürlichen Arten und Formen noch die des theoretischen wissenschaftlichen Voka-
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bulars, das Ausdruck einer Begriffs- und Kulturgeschichte ist, konnten dabei aufgelöst oder versöhnt werden. Aufzeigen konnten wir auf der Suche nach der Zeit in der Biologie lediglich, in wie vielen Weisen die genannten Dichotomien unser biologisches Denken durchziehen oder es gar konstituieren.
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Zeitnot des Rechts I Rechtshistoriker haben Zeit. Viel Zeit. Schließlich ist Rechtsgeschichte eine Beharrlichkeit, Ernst und Akkuratesse erfordernde Angelegenheit und nichts für Windhunde. Da sitzen Wissenschaftler in ihren Kämmerlein, gelegentlich auch einmal in einem bekanntermaßen zeitlos staubigen Archiv, und lesen und denken und schreiben über Quellen. Alles ist dem Rechtshistoriker seine Quelle, solange es irgendwie um eine vermutete Kommunikation über Recht und Unrecht geht. Eine Inschrift aus dem alten Rom, ein Papyrus aus dem noch älteren Ägypten, ein überlieferter Fetzen aus den dunklen Jahrhunderten, ein Manuskript aus dem Mittelalter, ein gedrucktes Buch aus der Neuzeit, eine Akte aus der DDR. Sorgfältigst, ohne jegliche Hetze, wird jedes identifizierbare Wort aus den Quellen gewendet, bepustet, abgebürstet, sauber gepinselt und blank poliert, auf daß es endlich betrachtet und gelesen werden könne, um dem Denken und dem Schreiben einen Haltepunkt zu gewähren. Einsam sitzt der Rechtshistoriker meist da – ganz wie Kafkas Dr. Bucephalus: „Bei stiller Lampe … liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher“ – und wird mit der Zeit alt. In der Zwischenzeit ist der Rechtshistoriker beseelt von dem Gedanken, eine Bedeutung hinter den schwarzen Linien zu entdecken und das normative Element, das vielleicht noch heute zu Bedenkende, aus den verwitternden Texten herauszupräparieren, kann er doch – wie die meisten von uns – nicht ak-
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zeptieren, daß etwas ohne zureichenden Grund geschehen, gedacht und geschrieben sein könnte. Immer – allen funktionalistischen Phantasien zum Trotz – ist er auf der Suche nach dem Grund, der Ursache, dem Movens einer alten Geschichte. Diese kausale Tätigkeit beschäftigt ihn sein Leben lang. Freiwillig. Wir müssen uns den Rechtshistoriker in seiner stillen, so zeitraubenden, wie zeitlosen Arbeit als glücklichen Menschen vorstellen. Auch wenn er nur Tropfen der Finsternis zu Papier bringen kann. Nur selten hebt der Rechtshistoriker seinen Kopf, um sich von seinen alten Papieren zu lösen. Tut er dies einmal und tritt er gar aus dem fahlen Lichtkegel seiner Lampe heraus in die Welt, in die grelle Welt des Jetzt – dann kann es nicht schnell genug gehen. Jetzt kann er es nicht erwarten, daß die Schuldner ihm sein Geld zurückbezahlen, daß die bestellten Möbel fristgerecht geliefert werden, daß das Gericht in seinem Scheidungsprozeß endlich entscheidet. Hat der Jurist – der Richter, der Advokat – Zeit, um dem Rechtshistoriker jetzt schnell zu helfen, zu einem Urteil zu verhelfen, das das Ergebnis des sorgfältigsten, zeitraubendsten Wendens, Bepustens, Bürstens, Säuberns und Polierens aller Argumente im Prozeß ist? Gerade der Rechtshistoriker könnte die Antwort kennen, hat er sich doch schon lange mit den zurückliegenden Bemühungen auseinandergesetzt, das Dickicht der Fakten und das Gestrüpp der Normen zeitgemäß zu durchqueren. Das Problem ist: Die ganze Welt ist eine Jurisprudenz, wie Thomas Bernhard einmal geschrieben hat. Wie soll der Jurist sich in der Welt, die Jurisprudenz ist, zurecht finden, wenn die Jurisprudenz die ganze Welt ist? Der Rechtshistoriker ist in der glücklichen Lage, Zeit zu haben, dieser Frage nachzugehen. Einer Frage, die mit der schönsten Frage überhaupt aufs engste zusammenhängt.
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II „Wie finde ich den schönsten Gedanken von der Welt?“ Eine naive Frage – die Aufforderung, ein Märchen zu erzählen. Und doch mußte General Stumm von Bordwehr „irgendetwas Ähnliches fragen“. Er war das erste Mal in der weltberühmten Hofbibliothek. Dreieinhalb Millionen Bände. Läse er – etwa um den schönsten Gedanken der Welt zu greifen, oder „eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen“ zu können – jeden Tag ein Buch, würde er Zehntausend Jahre brauchen, bis er den „kolossalen Bücherschatz“ durchschaut hätte, rechnete er aus. Dem General bleiben „die Beine auf der Stelle stecken“, und die Welt kommt ihm „wie ein einziger Schwindel“ vor: „Da stimmt etwas ganz grundlegend nicht!“ Listig fragt er den Bibliothekar, wie er es eigentlich begönne, „in diesem unendlichen Bücherschatz immer das richtige Buch zu finden?!“ Der Bibliothekar, „gehonigelt und diensteifrig“, bittet den General, ihm den Gegenstand seines Wissensdurstes zu benennen. „Ein Buch über die Verwirklichung des Wichtigsten“. Außerdem murmelte Stumm noch etwas von „Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden Anschluß herzustellen“. Der Bibliothekar wird ob dieser klugen Eingebung „geradezu unheimlich höflich“ und führt den militärischen Besucher in das „Allerheiligste der Bibliothek“. Einem Freund, Ulrich, sagt der General: „Ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über Bücher: es hat ordentlich nach Gehirnphosphor gerochen … natürlich war mir, wie der Mann mich allein lassen will, auch ganz sonderbar zumute, ich möchte sagen, unheimlich; andächtig und unheimlich. Er fährt wie ein Affe eine Leiter hinauf und auf einen Band los, förmlich von unten gezielt, gerade auf die-
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sen einen, holt ihn mir herunter, sagt: ‚Herr General, hier habe ich für Sie eine Bibliographie der Bibliographien‘ … also das alphabetische Verzeichnis der alphabetischen Verzeichnisse der Titel jener Bücher und Arbeiten, die sich in den letzten fünf Jahren mit den Fortschritten“ der einen oder anderen Frage beschäftigt haben. „Ein Tollhaus“ – die Hofbibliothek.
III Wie finde ich das richtige Recht? Das ist die Frage, die Juristen (und andere Rechtssucher) seit jeher umtreibt. Könnten doch die Sprecher, Erklärer und Kämpfer des Rechts die richtige Entscheidung, die zutreffende Lehre, das geeignete Mittel nur so behende, schnell und sicher wie der Hofbibliotheksaffe erhaschen! Wo ist die Ordnung des juridischen Wissens, die das zielgenaue, rasche Erfassen des Rechts ermöglicht? Nirgends. Heute nirgends. Das dem Bibliotheksbesuch des Generals Stumm folgende 20. Jahrhundert wird die Vorstellung der Ordnung des juridischen Wissens endgültig zu Grabe tragen. Eine Ordnungsvorstellung, die nicht immer in gleicher Weise vorgeherrscht hatte, jedoch nicht aufgehört hat einzuleuchten, seitdem Menschen von anderen Menschen erwarten, wie sie sich verhalten sollen, und seitdem sie diese normativen Ideen und Wünsche in den Zusammenrottungen, die dann später Gesellschaften genannt wurden, zu einem Apparat der Organisation des gemeinsamen Lebens zusammensetzten – Recht. Um welche Vorstellung handelt es sich genau? Um die Vorstellung, daß dieser normative Apparat oder Organismus, diese Masse an Recht, dieser Kitt, der die Erwartungen der Menschen zusammenhält, prinzipiell erkennbar und darstellbar ist – als Ganzes. Die Idee, das Ganze des Rechts könne und müsse festgehalten werden, ist so alt wie die Rechtsgeschichte. Von den petrifizierten Rechten der antiken Welt auf mächtigen mesopotamischen Stelen über die handgeschriebenen Sammlungen der Spätantike bis zu den gedruckten Gesetzbüchern der bürger-
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lichen und industriellen Welt ist Recht keine partikulare, sondern eine umfassende Unternehmung gewesen. Aber es gab Zeiten, in denen das Ganze des Rechts nicht materiell in die Welt gesetzt wurde. In der antiken Welt Roms geriet das Gesetz der zwölf Tafeln nicht zum dauerhaften Digestum. Und in der Neuzeit, als gedruckte Bücher die Meinungen der Juristen in alle Welt zerstreuten, gab es zwar einen einzigen, allmächtigen Begründer des Rechts, der sich abwechselnd in das Gewand Gottes, der Natur oder der Vernunft kleidete, doch vereitelten die Menschen in der Gesellschaft die einheitliche Darbietung des normativen Theaters. Die Laiendarsteller ließen sich immer neue Handlungen einfallen, die den professionellen Schaustellern der Jurisprudenz immer mehr und immer mehr verschiedene und gar sich widersprechende und immer schneller aufeinanderfolgende Antworten abrangen. Aber die Einheit der Rechtsordnung, die im Zeitalter der Renaissance, des Barock und der Aufklärung noch nicht so genannt wurde, blieb ein Wunsch für die Ordnung der Sozietät. Einer Sozietät, die durch Handel, Buchdruck, Reisen und Krieg sich im Plural wahrnahm und fremden Gewohnheiten ausgesetzt wurde. Rechtsgewohnheiten. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert versuchte Europa in unterschiedlich ausgeprägter Weise die Vorstellung der Ganzheit des Rechts zu verfolgen. Fälle, Normen, Urteile, Doktrinen werden täglich geboren, betrachtet, ausgewählt, verworfen. Immer wieder wurde versucht, die Zeit anzuhalten, sich der sogenannten Entscheidungsgrundlagen zu vergewissern, das juridische Wissen zu ordnen, damit sicher entschieden werden kann. Die Stars bei der Jagd nach dem Ganzen waren Enzyklopädien und Alphabete des Rechts.
IV Juristen müssen lesen können. Seitdem die alten Digesten, die Justinian zusammenstellen ließ, im 11. Jahrhundert im Westen
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wieder auftauchten und zuerst an den neuen Universitäten Norditaliens gelehrt wurden, griff das Schreiben und Lesen des Rechts um sich. Im Laufe der wissenschaftlich-gelehrten Revolution des hohen und späten Mittelalters, bis zum 15. Jahrhundert, professionalisierte sich der Juristenstand. Das Mündliche, das noch das altgermanische Rechtsverfahren auszeichnete, wurde mehr und mehr vom Schrifttum verdrängt. Die weltlichen und kirchlichen Quellen des Rechts wurden wieder und wieder aufgeschrieben. Das aufgeschriebene Normkorpus versahen die gelehrten, das heißt universitär ausgebildeten Juristen mit Glossen und Kommentaren, die jeweils wieder glossiert und kommentiert wurden. Die Normtexte und deren Kommentare gerieten zum wichtigsten Arbeitsmittel der Lehrer, Studenten und Anwender des Rechts. Auch die Gewohnheiten, die alten Coutumes, bannten die Schreiber auf Papier. Selbst bei Gericht wird jetzt geschrieben. Prozeß und Urteil fallen auseinander. Entscheidungen brauchen mehr und mehr Zeit. Also muß geschrieben werden, damit nichts vergessen wird und damit der Postweg beschritten werden kann. Die Akten des Prozesses, inklusive lokaler aufgeschriebener Normen, werden versendet. An die Universitäten, wo die alphabetmächtigen Rechtsgelehrten sitzen und zur Prüfung und Entscheidung des Verfahrens ausersehen sind. Die Professoren schikken die geschriebenen Gutachten wieder zurück, damit das Urteil ergehen kann. Die Gutachten oder Konsilien werden ihrerseits gesammelt, zusammengeschrieben und wieder verwendet. Das Recht versank in einer Unmenge an juristischer Literatur.
V Die Bibliotheken der vormodernen und modernen Zeit des Rechts, also bis in das 20. Jahrhundert hinein, quollen über. Überall Akten und Bücher. Wie gefräßige Tiere nährten sie sich von den Fakten, die das Leben schuf, und den Normen, Ge-
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wohnheiten, Urteilen, Meinungen, die juristische Gehirne ersonnen. Wer sollte noch den Überblick behalten? Wie sollte man den ausufernden juristischen Literaturen Herr werden? In Frankreich war das Problem im 17. und 18. Jahrhundert insofern besonders virulent, als ein einheitlicher, zentraler Staat bestand, der ein Interesse an einer einheitlichen, zentralen, ja königlichen Rechtsprechung hatte. Doch die Situation des Rechts in Frankreich war komplex. Es war zersplittert in der Differenz zwischen dem pays coutumier und dem pays de droit écrit. Deren Gesetze bildeten gemeinsam mit dem kanonischen Recht und den ordonnances der Könige „cette science non moins vaste qu’importante qu’on appelle jurisprudence“, wie Guyot 1775 in seinem 64bändigen Répertoire universel schrieb. Dem Leser wird vor Augen geführt, wie notwendig es sei, der Zersplitterung des Rechts zu begegnen. Die Fragmentierung habe zu unglaublich vielen Werken dieser „Jurisprudenz“ geführt. Niemand habe es bisher versucht, die verschiedenen Standpunkte, Materien, Gesichtspunkte, Entscheidungen, Doktrinen, etc. „dans un même livre“ zu vereinen. Wenn erst einmal das hier vorgeschlagene Werk den Grad der Perfektion erreicht habe, zu dem es in der Lage sei, dann werde es den Platz einer unendlichen Menge von anderen Büchern einnehmen, von denen es profitiert, deren Fehler es aber auch korrigiert haben werde. Es wird „une sorte de bibliothèque de jurisprudence“ sein, in der die Richter mit Leichtigkeit „des règles sûres pour les diriger“ finden werden, aber auch die Verteidiger, Notare, Gerichtsvollzieher, Staatsanwälte, Minister, ja die Bürger selbst, alle ihre Funktionen und Interessen betreffenden notwendigen Informationen schnell und sicher entnehmen können. Die alte Bibliothek konnte also ausgemistet werden. Und ersetzt werden durch eine Bibliothek neuen Typs: Ein einziges Buch, allenfalls ein mehrbändiges Werk, das als neue Bibliothèque sämtliche Bücher und Werke der alten Bibliothek in sich aufsaugt. Diese Herkulestat besorgen im Ancien Regime Hun-
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derte, ja in ganz Europa Tausende alphabetischer Werke von teilweise Ehrfurcht gebietendem Umfang. Die neuen Bibliotheken, materialisiert im Lexikon, im Wörterbuch, im Dictionnaire, diese neuen Handapparte des Rechts mußten sich allerdings den Respekt und die Autorität erst verdienen. Einer der berühmtesten Autoren, Brillon, notierte, daß man zwar ihren Gebrauch liebe, doch respektiere man den Namen kaum. Vor allem die Älteren im „Ordre“ (d. h. der Advokaten) schätzten diese (diktionarische) Art zu schreiben wenig. Sie meinten, daß sie solcher Kompilationen nicht bedürften, von denen sie sich nicht überzeugen lassen können, aus denen es nichts für sie zu lernen gebe. Doch die Jungen könnten so nicht mehr agieren. Die Masse des zu Kennenden sei in allen Rechtsbereichen so stark angewachsen, daß man nicht mehr alles profund wissen könne. Deshalb: „Ils (d. h. die Jungen) peuvent être excusables de desirer une indication prompte & universelle des matières … l’essentiel est de s’instruire des principes, connoître les bons Auteurs, & sçavoir où trouver ce qu’ils ont le mieux traité“. Man erkennt den Juristen: Kurz, knapp, kalt – entscheidend ist das Entscheidende. Der explizite Anspruch der juristischen Lexika war ihre Vollständigkeit, die eine ganze Bibliothek zu ersetzen vermochte. Für Claude de la Ville hatte 1692 noch ein tausendseitiger Folio-Band ausgereicht. Er kritisiert die mehrbändigen Volumina seiner Kollegen, die glauben, mit vielen Worten der Wahrheit und dem Recht auf die Spur kommen zu können. Doch die Wahrheit breitete sich auch in dem neuen Typ der Buch-Bibliothek aus. Guyot brauchte schon 64 Bände. Und das war noch nicht das Ende der einen mehrbändigen Bibliothek, die einer „bonne & briefve iustice“ dienen sollte.
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VI Allen Versuchen, in den Enzyklopädien, Lexika, Alphabeten des Rechts, das Recht einzufangen, handhabbar zu halten, zu (be)greifen, war lediglich ein Erfolg von kurzer Dauer beschieden. Da alles in der Welt Eingang in das Buch und damit in die Bibliothek fand, ja, da alles in der Welt überhaupt nur da ist, um in ein Buch einzugehen, wurden aus dem einen Band der Bibliothèque mehrere, viele, unabgeschlossene, unabschließbare Bände, womit die Bibliothek, die unzählige Bücher in sich aufnehmende Bibliothek wieder Platz, einen immensen Platz einnahm. Wer sollte das alles lesen? Wer hätte die Zeit, das alles zu lesen? Das in der Bibliothèque eingefangene Alphabet des Rechts brach aus dem Buch heraus und tummelte sich wieder in unzähligen Facetten auf den Regalen der Bibliothek. Das seit dem 12. Jahrhundert anwachsende, seit dem 16. Jahrhundert explodierende juristische Schrifttum, der ständige Rekurs auf das erst in der Neuzeit so genannte Corpus iuris civilis und das Corpus iuris canonici, auf die niedergeschriebenen Gewohnheitsrechte, auf die Einfälle und Abfälle der gelehrten Juristen, auf die gedruckten Plaidoyers und Harangues der praktischen Juristen, auf die Systeme des Naturrechts, des Vernunftrechts, des Ius publicum, auf die Policeyordnungen, dieses unablässige Hinweisen, Unterweisen, Abweisen, Verweisen, Abschreiben, Wegschreiben, Gegenschreiben – diese juristische Schreibwut, diese Akten und Bücher produzierende Passion des Juristen decouvriert ein fundamentales Gebot des Rechtssystems der alten Ordnung: Das Recht basiert auf dem, was geschrieben wurde, was früher einmal notiert worden ist. Das Recht basiert auf Vergangenheit. Immer mehr Fälle mußten mit immer mehr festgeschriebenen, gedruckten Regeln entschieden werden. Die Entscheidungen selbst wurden gedruckt und zukünftig berücksichtigt. Und so weiter. Die Menge an juristisch relevantem Material für die Rechtsprechung, den Kern einer jeden auf Recht beruhenden Gesellschaft, wuchs immens und wurde zum Problem. Kein sy-
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stematisches Buch, kein System des Naturrechts, keines des Vernunftrechts vermochte dem Richter zu helfen. Die Kopfgeburten der juristischen Theorie mochten Legitimationen für ein weltliches Recht schaffen, das Recht auf der Welt wurde jeden Tag neu gesprochen. Zwei Wege boten sich zur Beherrschung einer unüberschaubaren textuellen Welt an. Das System und das Alphabet. Das System ist die Domäne der Enzyklopädien. Vor allem in Deutschland optierte man dafür, seit Pütter dem Älteren in Göttingen, also seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Weit über 100 Rechtsenzyklopädien erschienen hier bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Gedacht als Einführungen in das universitäre Rechtsstudium dienten sie dazu, dem Studenten das Ganze des Rechts vor Augen zu führen. Relativ kurz und knapp gehalten, vermittelten sie das Recht als eine verständliche, in kurzer Zeit lehr- und lernbare Materie. In ihrer Art standen sie Lehrbüchern und damit den Institutionen – dem pädagogisch orientierten Teil der Sammlung Justinians – nahe. Die Ordnung stand im Vordergrund und sollte die Masse der Texte bändigen. Das Alphabet ist die Domäne der Wörterbücher, der Dictionnaires. Der Zufall (in Form eines alten Zählprinzips) wird hier zum Prinzip der Ordnung. Einer Ordnung, die nur noch durch ein komplexes System von Verweisen als eine geordnete Ordnung zu begreifen ist. Diderot und d’Alembert sind daran gescheitert. Die beiden Verweisbände (Tables genannt) erschienen erst Jahrzehnte nach dem ersten Band ihres einmaligen diktionarischen Unternehmens. Das Alphabet erweist sich jedenfalls, mehr und vor allem geduldiger noch als das System, als großer Verdauer für die Masse an juristisch Entschiedenem und Gewußtem. Alles verarbeitet es im Modus der simplen Buchstabenordnung. Die ganze Jurisprudenz läßt sich aufnehmen im Alphabet. Das Alphabet separiert alles und stellt alles nebeneinander. Auf dem selben Niveau. Hierarchien gibt es nicht, Qualitäten auch nicht. Oder wie Voltaire, selbst Verfasser eines philosphischen Wörterbuchs, sagt: „L’alphabet fut
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l’origine de toutes les connaissances de l’homme, & de toutes ses sottises“. Das Alphabet war für eine sich in der Praxis immer mehr autonomisierende Rechtsordnung der kongeniale Wissenshort. Dem Zufall der Justiz entsprach der Zufall der Anordnung der Ergebnisse eben jener Justiz. Dem Rekurs auf Gesetze außerhalb des Gesetzten blieben mit dem Alphabet alle Systemschlüssel verwehrt. Das Alphabet war der begleitende Chorgesang einer auf radikale Positivität umstellenden Rechtsordnung.
VII Mehr noch als das (im juristischen Deutschland stark pädagogisch geprägte) System benötigt und formt das Alphabet Archive und Bibliotheken. Es basiert – anders als das System – auf Vergangenheit. Und deshalb war die Ersetzung der Bibliothek durch das (eine, alphabetische) Buch, die Bibliothèque, nicht von Dauer. Nicht von Dauer, weil weder in den Büchern noch in dem einen Buch das Recht einem fixen und exakten Wissen zugänglich gemacht werden konnte. Dieses Wissen um das Recht, dieses Wissen, um dessentwillen die vielen Bücher in einem Buch kondensiert wurden, dieses gedruckte Wissen mußte gelesen werden. Der Reichtum des juristischen Wissens war ein (an)gelesenes und ein (zu) lesendes Wissen. Erst das Lesen befreite dieses im Buch in Wartestellung befindliche Wissen. Lesen. Der Jurist muß lesen können. Damit sich das Recht zwischen dem Buch und der Lampe entfalten kann. Damit dieses Imaginäre, das sich aus den unzähligen Einzelheiten, den infiniten schon gesagten und geschriebenen Wörtern, den immerwährenden Wiederherstellungen, den vergangenen Momenten und Monumenten zusammensetzt – damit dieses Imaginäre, das nichts anderes als DAS Recht ist, sich dem Leser, der zugleich Träumer ist, erscheint. Zwischen den Zeilen, zwischen den Büchern, im Zwischenraum des Schongesagten und der Kommentare, in
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den Ritzen der Glossen und Bindungen, inmitten der Zeichen im Zwielicht der Texte breitet sich das Imaginäre aus. Das Recht befindet sich zwischen dem Buch und der Lampe. Das Recht ist ein Bibliotheksphänomen.
VIII Das Ende für die zahlreichen ganzheitsverliebten, die Zeit arretierenden und arrestierenden Alphabete und Enzyklopädien des Rechts kam im 19. Jahrhundert. In Frankreich zu Beginn, in Deutschland am Ende dieser hundert Jahre. Die beiden berühmtesten Gesetzbücher der Welt markieren die beiden Enden. Mit dem Code Civil und dem Bürgerlichen Gesetzbuch wurde 1804 und 1900 ein neues Aufschreibesystem geschaffen, das in beiden Fällen das zuvor so vielfältige und mehrstimmige und unerhörte Recht festhalten, stillstellen, verzeichnen, begründen sollte. Das Recht bezog sich nun auf das Recht. Auf sich selbst. Mit dem Tod Gottes kam die Selbstreferenz. Aufgeschrieben. Der Zweck dieses vom alten Notieren und Niederlegen und einfachen Schreiben so unterschiedenen neuen Aufschreibens sah niemand luzider als der Sohn des ersten Schreber-Gärtners. Senatspräsident am Oberlandesgericht Dresden Daniel Paul Schreber, Doctor juris, bemerkte 1903: „Außerdem dient das Aufschreiben noch zu einem besonderen Kunstgriff … Man glaubte mit dem Aufschreiben den bei mir möglichen Gedankenvorrat erschöpfen zu können, so daß schließlich einmal ein Zeitpunkt kommen müsse, wo neue Gedanken bei mir nicht mehr zum Vorschein kommen könnten“. Die alten mündlichen und schriftlichen Rechte, wie sie in verzweigten und diversen Rechtsquellenhierarchien theoretisch verortet, in Gutachten, Papieren, Lehrbüchern, Enzyklopädien und Lexika geordnet und in den juristischen Urteilen angeordnet wurden, wichen dem einen generellen Gesetz, das Antworten für das Leben bot, in völliger Erschöpfung des Vorrats an Problemen und Lösun-
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gen. „Das erwähnte Aufschreibesystem ist eine Tatsache, die anderen Menschen auch nur einigermaßen verständlich zu machen außerordentlich schwerfallen wird … Man unterhält Bücher oder sonstige Aufzeichnungen, in denen nun schon seit Jahren alle meine Gedanken, alle meine Redewendungen, alle meine Gebrauchsgegenstände, alle sonst in meinem Besitze oder meiner Nähe befindlichen Sachen, alle Personen, mit denen ich verkehre usw. aufgeschrieben werden“. In den Motiven und Protokollen, in den procès verbaux zu den beiden großen Gesetzbüchern wurde in der Tat alles verzeichnet, was ge- und bedacht werden konnte. Nichts ist weggelassen worden. Die Bände sind zahlreich und münden alle in dem einen Buch, dem Gesetzbuch. Und dieses hat keinen Autor mehr. Das Recht im Gesetz ist nicht mehr abhängig (von einem Geber), und es ist auch nicht willkürlich, es ist als Recht auf sich selbst geworfen. Das positive Gesetz hat so am Anfang und am Ende des 19. Jahrhunderts seine neue Mechanik erhalten: Es ist, wie Rudolf Wiethölter einmal formulierte, „Recht als Recht durch Recht“ geworden. Doch Schreber junior sah genau, daß diese Erschöpfung des Rechts „auf einer gänzlichen Verkennung des menschlichen Denkens beruht“. Die Vorstellung des Feststellens, Anhaltens, Stillstellens der Produktivkräfte „ist natürlich völlig absurd, da das menschliche Denken unerschöpflich ist und z. B. das Lesen eines Buches, einer Zeitung usw. stets neue Gedanken anregt“. Und so besteht der erwähnte Kunstgriff darin, „daß, sobald ein bereits früher einmal in mir entstandener und daher schon aufgeschriebener Gedanke wiederkehrte … man nach Wahrnehmung des betreffenden Gedankenkeims den heranziehenden Strahlen ein ‚Das haben wir schon‘ (gesprochen: ‚hammirschon‘) scil. aufgeschrieben, mit auf den Weg gab“. Und so war es bei den beiden Gesetzbüchern: Alles war in ihnen enthalten, die Vergangenheit der Suche nach dem Ganzen des Rechts konnte abgelegt werden, schien das Ganze doch nun realisiert – und dennoch waren die Provokationen des Lebens und die Reaktionen des Rechts unerschöpflich phantasiereich.
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Senatspräsident Schreber war ein Irrer. Kurz nach seiner 1893 erfolgten Berufung auf die zweithöchste Richterstelle Sachsens wurde er in die Nervenklinik der Leipziger Universität eingeliefert. 1902 wurde er entlassen, 1903 erschienen seine „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, 1907 kam er bis zu seinem Tod 1911 wieder in die Anstalt. Irresein. Das heißt, daß die Repräsentationen der Repräsentanten, das Repräsentierte, die Dingwelt, die Realität überwuchern. Die Phantasie kommt an die Macht. Die Signifikanten übernehmen das Nach-denken. Und sie okkupieren den Platz des Rechts, das weder mit dem vermeintlich konkreten Code civil noch mit dem vermeintlich abstrakten BGB stillgestellt werden konnte. Nach der Realisierung des ganzen, einheitlichen und begreifbaren Rechts im Gesetzbuch in Frankreich wie in Deutschland ließen sich die einzelnen, verschiedenen und dunklen Meinungen zum Recht nicht durch das Gesetz zähmen. Die Vereinheitlichung (der Jurisprudenz) trat gerade nicht ein. Die divergente Masse an Rechtsansichten wurde gerade nicht geringer nach der Installierung des einen ganzen Rechts für alle, als das Gesetz den totalitären Gedanken der Enzyklopädie und des Alphabets sublimierte. Der Begriff der Lücke konnte erst jetzt, als das Ganze realisiert schien, überhaupt aufkommen. Die juristische Phrasenmaschine wuchs dem Recht über den Kopf. Das Recht funktionierte zwar noch, aber es funktionierte nur noch. Der Grund, die Einheit, das Ganze des Rechts ließen sich nicht mehr begreifen. Sie zerstoben in den Wirbelwinden der juristischen Interpretation, die auf jeden Zwischenfall eine neue Antwort kreierte. Diese abgrundtiefe Grundlosigkeit und argumentative Uferlosigkeit des Rechtssystems durfte nicht offenbar werden. Wie könnte sich eine Gesellschaft bewußt aufgrund grundlosen Rechts organisieren? Eingebettet in die industrielle Revolution stellte die Beobachtung und Beschreibung des Rechtsdiskurses dementsprechend von Begründung auf Funktion um. Recht funktionierte. Warum war nicht mehr die Frage, durfte nicht mehr
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die Frage sein, weil es keine Antwort mehr darauf geben konnte. Die Bezeichnungen wachsen also dem Bezeichneten über den Kopf. Was bleibt, nach der Installation der unitarischen Kodifikation, sind Bücher und Entscheidungen, die wiederum zu Büchern werden. Doch sind es nicht mehr die alten juristischen Enzyklopädien und Alphabete des Rechts, die die Welt des Rechts einzufangen suchten – damals im klassischen Zeitalter der Repräsentation, als die Vorstellung noch von der Welt abhing. Einzufangen war nichts mehr. Für die Rechtssucher, die Rechtsgeber und die Rechtsdenker blieb gerade noch soviel Sicherheit übrig, wie ein Zinnsoldat unter sich hat, um nicht umzufallen. Wirklich?
IX Das Gesetz vom 30. ventôse des Jahres XII war das folgenreichste in der Rechtsgeschichte Frankreichs. An jenem 21. März 1804 vereinigte dieses Gesetz 36 Einzelgesetze, die getrennt dekretiert und promulgiert worden waren. Der Titel des Gesetzes lautete: Code civil des Français. Victor Alexis Désiré Dalloz war zu diesem Zeitpunkt achteinhalb und dachte auf den Höhen des heimatlichen Jura sicher nicht an Gesetze und den einen Code, der den alten Traum der Rechtsvereinheitlichung endlich umzusetzen schien. Der kleine Désiré sollte noch viel Zeit in seinem Leben haben, in Gedanken Gesetzen nachzuhängen. Er starb am 13. Januar 1869 und die Zeit davor war ein einziger Parcours in Sachen Recht. Désiré Dalloz absolvierte eine glanzvolle juristische Karriere. Advokat, Advokat an der Cour de Cassation, mit 31 Jahren Präsident des Ordre, große Prozesse, ein Liberaler, Deputierter, ein Mann des öffentlichen Lebens und Ansehens. Zur emblematischen Figur des juristischen 19. Jahrhunderts in Frankreich wurde er jedoch nicht durch seine oratorische und politische, sondern seine schriftstelleri-
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sche Leistung, die Jurisprudence générale du Royaume. Répertoire méthodique et alphabétique de législation, de doctrine et de jurisprudence. Désiré Dalloz ist der letzte und der größte Organisator der Materialien des Rechts. Seine Sammelwut und seine Anordnungsgabe sind auf dem Feld des Juridischen unübertroffen. 12 schwere Quartbände in der ersten Auflage, 1824/25 kam der erste Band heraus. 44 Bände (in 47 Bänden) in der nouvelle édition ab 1845, eine literarische Sensation – am 5. Februar 1846 erhält D.D. das Offizierskreuz der Ehrenlegion –, bei der Armand Dalloz, der Bruder, hilft, gefolgt von 19, ein eigenes Alphabet bildenden Supplementbänden, der letzte erscheint 1897. Der napoleonische Code hatte die alte doktrinäre, jurisprudentielle und legislative Zersplitterung des Rechts aufheben sollen. Der Code sollte der neue große Verdauer der Rechtsmaterien sein und aus ihm sollte sich die richtige – und das hieß im Vergleich zu sogenannten ähnlich gelagerten Fällen einheitliche – Entscheidung im Rechtsfall ergeben. Der Code, der eine überall im Land gleich gültige Code, versprach die Aufhebung der vor 1789 so verschiedenen, in den gewaltigen Alphabeten des Rechts so sorgfältig wie vertrackt aufbewahrten Judikaturen. Die Vereinheitlichung der Rechtsprechung, die Entmachtung der mächtigen lokalen Gerichtshöfe mit ihren eigenen Gesetzen und Stilen, die Zurichtung auf ein Gesetz, einen Sinn, eine Entscheidung – das sollte der große Code bewirken. Désiré Dalloz war ein Bewunderer des einen Gesetzbuchs für alle Franzosen, aber 20 Jahre nach dessen Promulgation mußte er in der Einleitung zur 1. Auflage seines Mammutwerkes ernüchtert feststellen, daß er und seine Zeitgenossen trotz der herrschenden Gesetze noch weit davon entfernt waren, eine lange Serie von einheitlichen Urteilen zu erleben und damit die universelle Vernunft am Werke zu sehen. Die Rechtsprechung blieb unsicher. Dalloz sah, was man bis heute sehen kann: Niemand kann sich heute auf gestern verlassen. Jeden Tag (tous les jours) passiert es, daß ein Gericht genau (précisément) das Gegenteil von dem entscheidet, was andere Gerichte zuvor entschieden
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haben. Nicht selten sieht man die Abweichung (dissidence) sich in mitten derselben Kammer einrichten. Immer wieder werden neue Lichter auf die Normen und die Fakten geworfen. Und immer sieht ein Jurist etwas anderes als ein anderer Jurist. Hinzu kommen die Lehrmeinungen, die sich wissenschaftlich nennenden juristischen Überlegungen eines Individuums. Der Code konnte sie nicht verhindern. Der Code war so wenig ein Automat wie der Richter. Die Ente des Mechanikers Jacques de Vaucanson, die stets gleichmütig Körner aufpickt, verdaut und den immergleichen Rest ausscheidet, oder dessen großartiger filigraner Flötenspieler, der ohne Zagen automatisch Töne blies, waren Schaustücke eines 18. Jahrhunderts der Lumières, das auf die Berechenbarkeit der Vernunft, den Fortschritt und das Wohlergehen der Menschheit hoffte. Der Code als Gesetzbuch funktionierte nicht wie die mechanischen, progressistischen Träume wenige Jahrzehnte zuvor suggerierten. Der Code war, kaum in Kraft gesetzt, unwiederbringlich verloren. Er galt nur einen Moment lang. Neben den Rechtsprechungen und dem Leben waren Lehrmeinungen Urheber der Irritationen, die den Code im Sturm des Rechtsdiskurses zappeln ließen. Als Jacques de Malleville 1805 seine bescheidene „Analyse raisonnée de la discussion du Code civil au Conseil d’Etat“ dem Kaiser vorlegte, erregte sich Napoleon und es entfuhr ihm: „Voilà mon Code perdu!“ Die Feststellung der Buchstaben des Gesetzes auf den Seiten der offiziellen Ausgaben des Gesetzbuchs führte also gerade nicht zum Festhalten des Codes. Der Code war verloren, in dem Augenblick, als er das Licht der Welt erblickte. Alle Gerichte des Reiches konkurrierten nun in der Interpretation der für jede Kammer, jeden Richter gleichen Buchstaben. Die Professoren und Advokaten beteiligten sich sofort an diesem Wettlauf, der ein unerreichbares Ziel vor Augen hatte – das Recht in eine rasende Maschine zu verwandeln, die berechenbare Urteile ausspuckt. Endlich könnte die Zeitnot der Juristen ad acta gelegt werden. Jahrhunderte lang hatten die Juristen an der Fas-
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sung, dem Stillstellen der individuellen Gedanken, der einheitlichen Methode, der universellen Art des Denkens gearbeitet. Der Autor, jeder einzelne Autor lebte. Jede Alternative, jede Möglichkeit, jede Art der Anordnung juristischer Gedanken wurde ausprobiert. Ausprobiert, das heißt niedergeschrieben, publiziert. Die Fabrik des Rechts hatte einen gewaltigen Ausstoß. All dies wurde gelesen, benutzt, nachgedacht und damit der Möglichkeitshaushalt der juristischen Phantasie potenziert. Und immer wieder von neuem wurde geschrieben, jedes Mal mit dem Ziel, daß nicht mehr geschrieben zu werden brauchte, weil das Geschriebene als Geschriebenes zeitlos war. Die Zeit wird getötet mit dem Schreiben und Drucken. Désiré Dalloz unternahm als letzter noch einmal die Anstrengung, alle Elemente zusammenzuraffen, deren eine ultime, endlich die Zeit hinter sich lassende Rechtsrechenmaschine bedürfte. Eine veritable Wissenschaft der Urteile, eine science des arrêts, wollte er begründen. Die Urteile sollten nicht mehr so kritiklos, fehlerhaft, unsystematisch wie bisher gesammelt und angeordnet werden. Die Urteile sollten eingefangen werden in ein Netz, gewoben aus Methode und Alphabet. Methode ist wichtiger als Alphabet. Das Alphabet stellt ohne Ansehen der Wichtigkeit der Materien und ohne Ansehen irgendeines Zusammenhangs alles nacheinander. Die Arretisten des 18. Jahrhunderts waren Fetischisten des Alphabets. Sie achteten vor allem darauf, daß alle nur erdenklichen Rechtsbegriffe lemmatisiert waren und so das Nachschlagen vereinfacht wurde. Doch was fand man, wenn man in Eile – der Jurist hat es immer eilig – nachschlug? Massakrierte Urteile, deren verschiedene, zu diversen Materien gehörende Teile, auf alle möglichen Lemmata verteilt waren. Der Zersplitterung der Rechtsprechung entsprachen im alphabetischen Uniformitätsapparat zerfetzte Entscheidungen. Dalloz erkannte zwar die praktischen Vorteile der alphabetischen Ordnung an, deren Potential, Sinn und Zusammenhang zu zerstören, wollte er aber möglichst minimieren. Also verringerte er die Anzahl der Lemmata drastisch, ließ nur Ober-
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begriffe zu und ordnete diesen alle Accessoria zu. Diese „methodische“ Vorgehensweise ließ riesige Einträge entstehen, die stets drei Teile beinhalteten: Gesetzgebung, Lehre, Rechtsprechung. Die systematische Verortung des zuvor additiv bewahrten jurisprudentiellen Wissens hatte einen immensen Erfolg. Die erste Auflage des Dalloz war in Windeseile vergriffen, die Italiener fertigten unter Einarbeitung eigenen Rechts eine Übersetzung an, die Belgier druckten eine eigene Version, die Dalloz am Urheberrecht verzweifeln ließ. Und wie stand es mit dem „vaste chaos“ mit seinen „innombrables monuments que présente la jurisprudence“? Fiel Licht hinein? War nun der Ariadnefaden gesponnen, der Hilfe versprach in diesem unglaublichen Wust („cet inextricable dédale“), in dem sich der Geist des Juristen hoffnungslos verliere? 15 Jahre nach der Auslieferung des 12. Bandes der ersten Auflage, 1830, war das Licht fahl geworden und der Faden gerissen. Jetzt, 1845, erschien die neue Edition, das Monument der modernen französischen Rechtskultur, das größte juristische Nachschlagewerk aller Zeiten. Zehntausende, eng bedruckte Seiten. Dalloz führte Randnummern ein, den Überblick auf einer einzigen Seite zu behalten wurde schwierig. Waren nun der Reichtum der Rechtsprechung, diese schweigende Gesetzgebungsmaschinerie, die Akkumulation von Sinn, die Verweigerung von Imitation, la confusion qui règne erschöpft? Der junge Désiré Dalloz hoffte noch, die Anzahl der Volumen begrenzen, ja minimieren zu können. Das ist ihm schon 1824 bis 1830 nicht gelungen. Jetzt, in der Zeit nach 1845 gelang es ihm schon gar nicht mehr. Jeder Band, der erschien, war ein Pfahl im Fleische der einheitlichen Wissenschaft der Urteile. Jeder Band diente der Vereinheitlichung und jeder Band zerstörte sie aufs Neue. Wie ein Krebsgeschwür fraßen die in den Bänden enthaltenen Tausende Gesetze, Theorien und Entscheidungen die Idee der Einheit auf. Die alten Alphabete hatten noch durch unsauberes Zitieren, Weglassen von Gesichtspunkten und oberflächliche Konsiderationen einen Schein des einheitlichen Ganzen erzeu-
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gen können. Dalloz will sich das nicht leisten. Er kann es sich auch nicht so leicht machen und ein wenig phantasieren, so wie die alten. Schließlich werden Urteile jetzt, im 19. Jahrhundert, begründet. Das bedeutet, man muß genau sein, die Motive sind nicht zu erraten, sondern zu analysieren, die Fakten müssen genau berichtet werden, sonst versteht der Leser die rapportierten Motive der Richter nicht, und „la plus légère nuance“ wird unverzichtbar. Désiré Dalloz hatte 1824/25 ein jeden Juristen (und Klienten) faszinierendes Versprechen gegeben: Ein „clin-d’oeil“ sollte ausreichen, sich über ein bestimmtes Rechtsproblem zu instruieren. Im Stile des alten Brillon versprach er den Nutzern seiner Jurisprudence générale, seien es Advokaten, Richter oder allgemein „jeunes légistes“ leicht zugängliche, umfassende, zeitsparende Information. Nichts davon wurde wahr. Die Bände schwollen an. Es wurden immer mehr. Dutzende. Die aneinandergereihten Bände quollen rechts und links aus dem Gesichtsfeld, wenn man vor ihnen stand. Ein Augenzwinkern reichte nicht. Die Augen ermüdeten vom langen Lesen der kleinen Schrift. „Une encyclopédie du droit“, sogar eine „bibliothèque de jurisprudence“ sollte das große Digestum der 2. Auflage sein. So hoffte der große Dalloz. Doch wäre er nicht so groß gewesen, wenn er nicht geahnt hätte, daß sein Werk das Werk einer vergehenden Zeit war. „Bibliothèque de jurisprudence“ – mit dieser Referenz an die alten Alphabete des Rechts hat Dalloz sein eigenes Alphabet in die historische Spur gesetzt, hat selbst seine Jurisprudence générale in die Geschichte eingeschlossen. Die zweite Auflage startet 1845 mit dem zweiten Band, der aber mit dem Eintrag A (Première lettre de l’alphabet) beginnt. Der letzte Band erscheint 1870. Es ist Band 1, der nun die 1845 bereits in der Einleitung zum Gesamtwerk angekündigte historische Einführung, die Geschichte des französischen Rechts, enthält, die erst gegeben werden konnte, als das Ganze abgeschlossen war. Dalloz spannt mit dem letzten ersten Band sein Werk in Geschichte. Einer Geschichte, aus der es kein Entrinnen gibt.
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Désiré Dalloz wußte, daß gerade ein Werk wie seines im Versuch das Ganze des Rechts einzufangen, unzeitgemäß war. Gaston Griolet und Charles Vergé, die Herausgeber der Supplementbände, die von 1887 an erschienen, waren nicht so luzide wie der Begründer. Sie meinten, daß Komplettierungen, Ergänzungen, ausreichten, um „la véritable encyclopédie du droit francais au XIXe siècle“ fortbestehen zu lassen. Sie waren überzeugt davon, daß der Code civil „intact“ geblieben war, daß „le droit de la France n’a pas encore changé, qu’il n’a pas même sensiblement vieilli“. Sie hatten nicht begriffen, was das Gesetz für die Alphabete des Rechts bedeutete. Das Gesetz hatte zunächst die alten Alphabete scheinbar obsolet werden lassen. Allerdings nicht in der intendierten Weise. Der revolutionäre Code hatte die alphabetischen Ordnungen keineswegs überflüssig gemacht. Die Vereinheitlichung der Doktrin, der Jurisdiktion, des Rechts war gerade nicht eingetreten. Das Alphabet in Verbindung mit dem System wurde mehr denn je benötigt, deswegen gebar Dalloz seine Jurisprudence générale, und damit bekam das enzyklopädische Alphabet seine zweite Chance. Aber es war überfordert. Es war hoffnungslos überfordert. Das Recht änderte sich jeden Tag, es wurde jeden Tag gesprochen und lieferte so jeden Tag neues Material für die Enzyklopädie. Supplemente waren Zeichen ebenso großen Fleißes wie in die Augen stechender Fruchtlosigkeit. Schon vor dem zehn Jahre währenden Erscheinen waren die Bände veraltet und damit für den Juristen nutzlos, ein schöner Wandschmuck im cabinet, allenfalls. Désiré Dalloz hatte sich nicht der Illusion des kaum veränderten, ja immer noch frischen, dauerhaften Rechts hingegeben. Er wußte um die Macht der Rechtsprechung. Er wußte es, hatte er doch der Bändigung derselben in einer Enzyklopädie sein ganzes Leben gewidmet. Ein Leben, dem am Ende nur die Beschäftigung mit der Geschichte des Gegenstandes blieb, von dem er 1845 schrieb, daß er „la plus noble et la plus vaste des sciences sociales“ sei. Von diesem Gegenstand, dem Recht, wußte er
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aber schon zum Zeitpunkt, als der erste Band (Band II) der Mammutenzyklopädie erschien, daß er nicht enzyklopädisch zu fassen sei. Die Enzyklopädie war ein totgeborenes Kind, das von seinem Erzeuger in voller Pracht im Mausoleum der Jurisprudence générale aufgebahrt wurde. Aber der Zwilling, der 1825 mit der ersten Auflage der Enzyklopädie auf die Welt kam, war lebensfroh und – tüchtig. Der Zwilling lebte. Dieser Zwilling brauchte keine Supplemente und Vorworte blinder Herausgeber. Er lebt noch heute und feuert jede Woche mit seinen verschiedenen Branchen die juristische Kommunikation an. Dalloz gab ihm den Namen: Jurisprudence générale, recueil périodique. Es handelte sich um eine anfangs monatlich, später wöchentlich erscheinende Zeitschrift, in der die neuen Entscheidungen, Gesetze, doktrinären Strömungen dokumentiert, annotiert, diskutiert wurden. Aktuell. Damit hat das Alphabet endgültig ausgedient. In dem Augenblick, als das größte Alphabet des Rechts erschien, mußten ihm Zeitschriften sekundieren. Monatlich, wöchentlich erscheinende Registraturen der jurisdiktionellen Polyphonien. Die Zeitschriften wurden zwar wieder mit Hilfe alphabetischer Indices erschlossen, doch ruhten sie nicht mehr im Schoße des Alphabets selbst. Der große juristische Traum, die Zusammenfügung der fragmentierten Rechte und Entscheidungen in der Form eines Alphabets des Rechts, war im Moment seiner größten Entfaltung ausgeträumt. Das Alphabet scheiterte an der Masse seiner Fragmente, der eingeführte unitarische Code erlebte seine eigene prekäre Fragmentierung. Es blieben atomisierte Fetzen in den juristischen Wochenschriften seither. Désiré Dalloz steht für das Ende und den Anfang des Prozesses der Eingrenzung und Entgrenzung des Ganzen des Rechts. Kein Wunder also, das die berühmteste juristische Zeitschrift Frankreichs, die 1825 ihr zersetzendes Licht auf die traute (Einheits)Welt des Rechts zu werfen begann, heute schlicht den Namen ihres Gründers trägt: Le Dalloz.
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X Die Welt, auch die Welt der Rechtsansichten, war spätestens nach 1900 nicht mehr in Büchern faßbar. Es war zuviel geworden. Keine Einheit, keine Ganzheit, keine Klarheit zeigte sich am Horizont. Im ersten modernen deutschen Irrealitätsroman ahnte Malte Laurids Brigge das neue Problem dieser „immensen Wirklichkeit“. Rainer Maria Rilkes alter ego sah, „daß man nicht das Recht hatte, ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu lesen“. Warum? „Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Vor den Büchern war sie heil und vielleicht ganz dahinter“. Damit sie ganz bleibt, muß man also alles lesen, das Repräsentierte und die Repräsentation zusammenbringen, die Ganzheit ins Auge fassen. Doch wie sollte dies in der „unendlichen Realität“ möglich sein? Bücher – wer hatte soviel Zeit? Wie sollte Malte „es mit allen aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem bescheidenen Bücherzimmer, in so aussichtsloser Überzahl und hielten zusammen“. Mit dem BGB, ab dem 1. Januar 1900, wurde das neue Paradox des Rechts offenbar. Das eine Buch, das Buch der Bücher, der Katechismus für den Aufstieg Deutschlands zur wirtschaftlichen Weltmacht war das Buch, das alle bisherigen Bücher des bürgerlichen Rechts ersetzte. Jeder hatte das Recht, es aufzuschlagen, denn kein anderes gab es zu lesen. Alles war darin. Die Welt war ganz dahinter und heil. Die Bibliothek des Rechts – zusammengeschrumpft in 2385 Paragraphen zwischen zwei Buchdeckeln. Buch und Welt waren eins. Einen Moment lang. Noch am Tag der Inkraftsetzung traten Urteiler, Deuter, Ausleger, Erklärer, Glossatoren, Kommentatoren, Professoren auf den Plan und fügten dem einen Buch weitere Zeilen, die sich zu neuen Büchern auswuchsen, hinzu. Das BGB, das die zum Teil jahrtausendealten Ansichten des Rechts in einem Band bündeln sollte, hatte nur eine juristische Sekunde lang Erfolg. Danach driftete die Welt wieder fort. Im BGB lagen Anfang und Ende der juristischen Vielfalt geborgen, in einem
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bis heute andauernden paradoxen Kreislauf. Immer wenn das Bürgerliche Gesetzbuch eine Diskussion (etwa durch Änderung, Hinzufügung, Streichung eines Paragraphen) beenden soll, schafft es gerade durch diese Operation eine neue Diskussion. Das Recht läßt sich nicht stillstellen und wenn es stillgestellt wird, schafft es gerade dadurch neue Bewegung. Das Gesetzbuch vermochte trotz der Ersetzung aller anderen Bücher neue andere Bücher nicht zu verhindern. Und damit war die Verpflichtung, alles zu lesen, nicht mehr auf das BGB beschränkbar. Die Ganzheit wurde wieder zum Problem, nachdem sie sich für einen Augenblick eingenistet hatte. Der Schrebersche Kunstgriff hielt zwar die Idee aufrecht, jede rechtliche Lösung sei eigentlich in dem einen Buch verborgen. Doch dies funktionierte nur soweit man das Recht als ein funktionales System ansah, in dem die Vorstellung von Ganzheit keine Rolle mehr spielt, da es nur noch auf die Geschlossenheit der Operationen ankam. Der Abschied von der Ganzheit und die Aufmerksamkeit für die Funktion bedeutete auch die Lösung des Problems der Leseverpflichtung. Dort, wo es nicht mehr darauf ankommt zu wissen, Welt und Vorstellung zusammenzubringen, dort wo vom Heil abgesehen wird, da kann das ständige Weiterlesen, Interpretieren, Argumentieren, Phrasendreschen abgebrochen werden. Die Justiz, solange sie funktioniert – und sie funktioniert, solange sie funktioniert –, ist der neue alte Accelerator des Rechts, dort, wo Urteile gesprochen werden, damit nicht mehr das Ganze gelesen werden muß und so weiter Urteile gesprochen werden können. Dieser Abschied von der aufschreibbaren Totalität feiert seine grandiose Abschiedsvorstellung Anfang des 20. Jahrhunderts, als General Stumm von Bordwehr Ulrich gegenüber – Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ – imaginiert: „jetzt stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommene zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie“. Das Recht ist
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noch nicht tot. Es lebt aber nicht nur weiter, weil es die Alphabete und Enzyklopädien hinter sich gelassen hat, sondern vor allem, weil das Rechtssystem so prozediert wie der Bibliotheksaffe funktioniert: „Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!“ Juristen haben keine Zeit. P.S.: Die Vortragsform wurde beibehalten. Eine ausführliche Reflexion über die Ordnung des juridischen Wissens und den damit verbundenen Zeitproblemen findet sich in: Rainer Maria Kiesow, Das Alphabet des Rechts, Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2004 (siehe dort die Nachweise zum vorliegenden Text).
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Ein besonders erfolgreiches Langzeitvorhaben*0 „Zeithorizonte“! Eine glückliche Metapher, um dem Unbegrenzten und Unbegrenzbaren eine feste und doch nur scheinbare Trennungslinie einzuziehen, eine Gesichtskreisstütze und Sehfeldanregung, mit deren Hilfe man die ozeanische Zeit zu Eis verdicken, in Stücke schneiden und verpacken kann. In meinem Fach, der Rechtsgeschichte, die dazu neigt, die gebotene stille Beobachtung des Normativen mit der energischen Normierung des Beobachteten zu vermischen, ist der Zeithorizont ein probates und schönes Mittel zur Konstruktion von Orientierungen. Ich erzähle Ihnen, herausgegriffen aus der unendlichen Fülle der Möglichkeiten, die langzeitig laufende, wissenschaftliche Vorhaben bieten, vier Lebensläufe, zurechtgestutzt, moduliert und portioniert mit Hilfe von Horizonten, die am Ende doch nichts begrenzen.
*0 Eine erweiterte Fassung erscheint in Rechtsgeschichte 4 (Frankfurt/M.: MaxPlanck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, April 2004).
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I Der erste Lebenslauf ist der des römischen Rechts. Das römische Recht ist bekanntlich seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland aufgetaucht, hat sich rasch aus der Rolle des Gastes befreit und sich zum Lehrmeister und Zuchtmeister gewandelt, um schließlich im 19. Jahrhundert als fast unangefochtener Monarch das Feld der deutschen Rechtskultur zu beherrschen. Rezeption des römischen Rechts nennt man diesen Vorgang. Eine Vokabel der Verlegenheit, die allerlei Gründe, Vermutungen, Rationalisierungen und Entschuldigungen zusammenfassen und verstecken muß. Mit ihr wird der merkwürdige und letztlich immer noch unverständliche Sachverhalt beschrieben, daß die Regeln, Prinzipien und Weisungen, mit denen eine moderne Gesellschaft ihre Konflikte bereinigt und ihre Planungen umzäunt, mittels enormer gedanklicher Anstrengung aus Texten gezogen, gepreßt und destilliert wurden, die im Kern aus einer fast 2000 Jahre alten, fremdsprachigen, und von der gerade existierenden Welt denkbar verschiedenen Sphäre stammen. Denn was war dieses römische Recht eigentlich? Keine Sammlung von Normen, wie man es von einem kontinentalen Gesetzeswerk der Gegenwart kennt und erwartet, sondern eine dreiteilige Sammlung von Fällen, mit eingearbeiteten rechtsgelehrten Voten und kaiserlichen Entscheidungen. Die Digesten, der Codex und die Novellen, zusammen bekannt als das sogenannte Corpus Iuris Civilis, die Gesamtheit des bürgerlichen Rechts. Die Digesten: eine riesige Sammlung ehemals strittiger Sachverhalte, überwiegend den Schriften römischer Juristen der ersten zweieinhalb Jahrhunderte nach Christus als Fragmente entnommen, leidlich geordnet in 50 Büchern und 428 Titeln, die als Raster für die Auffindung gesuchter Präjudizien allerdings wenig tauglich sind. Die Fälle werden in äußerster abstrakter
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Verdichtung geschildert, die darauf bezogenen rechtlichen Erwägungen und Argumentationen haben wegen ihrer sachgebundenen Eleganz und wegen des stupenden Scharfsinns ihrer Autoren über die Jahrhunderte hinweg den an Rechtsstrukturen interessierten abendländischen Verstand tief beeindruckt. Der Codex: Eine vom 3. bis zum 6. Jahrhundert nach Christus reichende Sammlung kaiserlicher Entscheidungen und Anordnungen. Auch sie, wie eigentlich alle Rechtsnormen bis heute, hervorgegangen aus Erfahrungen mit Konflikten, deren Beilegung dem Gewalthaber angetragen worden war. Die Novellen: rund 170 umfangreiche legislative Akte, mit geringen Ausnahmen von Kaiser Justinian erlassen, der zwischen 528 und 533 nach Christus die Herstellung von Digesten und Codex angeordnet hatte. Mit seinen Novellen, den „Neuerungen“, versuchte der berühmte byzantinische Kaiser, den nur bruchstückhaft gelungenen Versuch, das schon damals alte und veraltete römische Recht, den modernen, d. h. seinen Zeiten anzupassen. Diese Masse von Rechtstexten, die planmäßige Kompilation eines byzantinischen Kaisers und seiner beamteten Kanzlisten, war jenes römische Recht, das im Abendland über reichlich 800 Jahre traktiert, interpretiert und reformuliert wurde und – in freilich höchst bescheidener Weise – immer noch wird. Warum es diesem Korpus einstmals gelang, das ältere deutsche Privatrecht weitgehend zu verdrängen und sich in Rechtslehre, Gesetzgebung und Rechtsanwendung zu nahezu alleiniger Herrschaft aufzuschwingen, das wird wohl auch in Zukunft noch mit einer so oder anders gewichteten Mischung aus den vielzitierten Faktoren „mittelalterliche Reichsidee“, „juristischer Humanismus“, „neue Verkehrsbedürfnisse“, „Staatsentstehung“, „Verwissenschaftlichung des Rechtswesens“ usw. bearbeitet und erklärt werden.
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Mir kommt es allerdings weniger auf das Aufkommen, den Aufstieg und das Aufblühen des römischen Rechts an, als auf seinen Scheitelpunkt und den folgenden, am Ende raschen Niedergang. Der Scheitelpunkt wurde in Deutschland zweifellos mit Friedrich Carl von Savigny erreicht. Dem 1779 geborenen und 1861 „in höchstem deutschen und europäischen Ruhme“ (Wieacker) gestorbenen Frankfurter und seiner historischen Rechtsschule gelang es, in strikter Gegnerschaft zu dem als traditionsfeindlich und unwissenschaftlich eingeschätzten Vernunftrecht des aufklärerischen 18. Jahrhunderts, ein geschichtliches Programm zur Erneuerung der Rechtswissenschaft aus dem Geiste des römischen Rechts zu entwerfen und politisch durchzusetzen. In der Folge entfaltete sich die nach den „Pandekten“, der griechischen Übersetzung für das lateinische Wort „Digesten“, „Pandektistik“ genannte Rechtswissenschaft. Sie führte, nach dem heutigen Urteil der internationalen Rechtshistoriker, die deutsche privatrechtlich dominierte Rechtskultur auf ihren vermutlich höchsten Gipfel. Es war ein Gipfel, der, wie alle Gipfel, nur noch den Abstieg zuließ und bei jeder Form von Fortbewegung auch erzwang. Die unwahrscheinliche und immer noch zu schreibende Verlaufsgeschichte dieser rechtsliterarischen Bewegung des 19. Jahrhunderts zeitigte eine ganze Reihe höchst erstaunlicher Wirkungen: Sie brachte es fertig, in romantischer Anknüpfung an einen kulturellen Volksbegriff, das römische Recht als eine organische Erscheinung des deutschen Volkslebens und die gelehrten Juristen als exklusive Repräsentanten des postulierten Volksgeistes erscheinen zu lassen. Sie konstruierte aus der widerspruchsvollen, heterogenen und letztlich wirren Traditionsmasse der römischen Texte durch gezielte Auswahl, Pointierung und Harmonisierung eine für Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung gleichermaßen geeignete hochabstrakte romanistische Rechtsdogmatik, in der die „Quellen“, wie die wunderbare und unerschöpfliche Metapher
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für die Traditionstexte lautet, nicht mehr als hermeneutische Herausforderung, sondern nur noch als konsentierte Bezugspunkte für die freie Entwicklung des schöpferischen Rechtsgedankens fungierten. Die Pandektistik hat durch ihre dem Historismus verpflichtete Enthüllung der Geschichtlichkeit des Rechts Rechtsgeschichte möglich und sichtbar gemacht, ohne sich selbst so weit auf Geschichte einzulassen, daß ihre rechtspolitischen und rechtstheoretischen Postulate beschädigt worden wären. Schließlich mobilisierte die Pandektistik eine kräftige, nationalromantisch und rechtspolitisch motivierte, intellektuelle Gegenwehr, die schon um die Mitte des Jahrhunderts Studien über die prinzipiellen Unterschiede zwischen römischem und deutschem Recht sowie über die Vorzüge des letzteren hervortrieb. Im Verlaufe dieser Auseinandersetzungen spalteten sich die rechtshistorisch engagierten Juristen in Romanisten und Germanisten, eine Spaltung, deren Spuren in der Geschichte der juristischen Fakultäten der Bundesrepublik bis auf den heutigen Tag beobachtet werden können. Drehen wir den Zeithorizont von der Pandektistik nach vorn auf das 20. Jahrhundert, dann erscheint auf der Bühne der allmähliche Niedergang des römischen Rechts und sein endlicher Tod im letzten Viertel des verflossenen Säkulums. Der erste, heftige und schon tödliche Schlag ging von der erfolgreichen Kodifikationsbewegung aus. Mit dem 1. Januar des Jahres 1900 trat nach langer, fast 30-jähriger Planungs- und Vorbereitungszeit, das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft. Mit ihm erhielt das gesamte römische Recht den Status von Gesetzesmaterialien, die zwar zum Verständnis und zur Auslegung des legislatorischen Willens herangezogen werden konnten, aber nicht mußten. Mochte das neue Gesetzbuch unstrittig vom römischrechtlichen Geist tief imprägniert sein – die alten „Quellen“ hatten gleichwohl nur noch eine propädeutische Legitimation und keine verbindliche Kraft mehr. Die gesetzesgleichen Lehrbücher der großen Pandektisten, von denen der
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Rechtshistoriker bis heute neben Altmeister Savigny und seinem Schüler Puchta respektvoll beispielsweise Heinrich Dernburg, Rudolf von Jhering, Bernhard Windscheid zu zitieren pflegt, bezogen sich auf eine erloschene Normenwelt. In den universitären Veranstaltungen mußte der römische Stoff zugunsten des Neuen deutlich reduziert werden. Die akademischen Schüler der Pandektisten konnten mit dem schlechthin Unbegreiflichen nur deshalb weiterleben, weil es ihnen gelang, unter Berufung auf den romanistischen Geist der Zivilistik, ihre Lehren als notwendige Einführung in diesen zu konservieren und an die Studenten zu bringen. Dem hatte auch die Folgezeit trotz mancherlei Anstrengungen nichts entgegenzusetzen. Theoretische Kraft und methodologische Anstrengungen konzentrierten sich auf den in Hoffnung oder mit Bangen erahnten Justizstaat der Zukunft und kreisten um Dezisionismus, freie Rechtsschöpfung und Richterethos. Im übrigen war man mit dem ersten Weltkrieg und der ungeliebten Weimarer Republik befaßt. Das römische Recht dümpelte als Rechtsgeschichte im propädeutischen Windschatten. Mit dem Auftreten des Nationalsozialismus begann auch für das romanistische Reservat eine wirklich kritische Zeit. Denn der Nationalsozialismus hatte sich zur Freude der Germanisten vorgenommen, den weiterwesenden römischrechtlichen Geist zu bannen. „Wir fordern Ersatz für das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemeinrecht“ lautete Punkt 19 des Parteiprogramms von 1920, eine Formel, die in den völkisch-germanistisch geprägten, rechtshistorischen Populärschriften der Zeit wurzelte. Das Programm wurde umgesetzt. Das römische Recht verschwand aus den Unterrichtsprogrammen der deutschen Fakultäten. Die führenden Romanisten, überwiegend Juden, wurden vertrieben, wobei es der NS-Propaganda sehr gelegen kam, die Beseitigung des in damaliger Diktion „artfremden“ römischen Rechts, mit ihren antisemitischen Aktionen verknüpfen zu können.
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Aber in den Köpfen und Herzen ihrer Schüler und jüngeren Kollegen, die das Regime überlebten, überlebte auch das römische Recht. Es kehrte nach 1945 wieder in Form von Rechtsgeschichte an die Universitäten zurück, als die älteren Mitglieder der Rechtsfakultäten sich – verständlich, aber wenig weitsichtig – bemühten, an die Universitätsszene ihrer glücklichen Studentenzeit vor dem 1. Weltkrieg anzuknüpfen. Es gab noch einmal drei große, unvergeßliche Romanisten, Max Kaser, Wolfgang Kunkel, Franz Wieacker, die aber den Untergang des humanistischen Gymnasiums, den Verlust des humanistischen Bildungsideals und den dadurch endgültig eingeleiteten Vermoderungsprozeß des römischen Rechts nicht aufhalten konnten. Heute fristet es nur noch an einigen wenigen Rechtsfakultäten eine gesamtkulturell belanglose Residualexistenz, aus der es auch die rückbesinnlich orientierten Neopandektisten, die dem amerikanisch getönten, globalen Recht trotzig ihre europäischen Würzelchen entgegenstrecken, nicht werden befreien können.
II Der zweite Lebenslauf, den ich erzählen möchte, ist der des Vocabularium Iurisprudentiae Romanae. Dieses Vocabularium war ein Langzeitvorhaben der preußischen Akademie der Wissenschaften. Langzeitvorhaben sind Unternehmungen, die zwar nach Meinung und Hoffnung ihrer Begründer noch innerhalb von deren Lebenszeit zu Ende geführt werden können und sollen. Aber der Aspekt, daß die Früchte der inszenierten Arbeit erst der nächsten, übernächsten oder auch einer noch ferneren Generation zugute kommen könnten, wird in der Regel mitgedacht. Dagegen wird der ebenfalls naheliegende Gedanke, daß diese Früchte von der Erntegeneration möglicherweise nicht mehr
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geschätzt werden könnten, durchgehend ausgeblendet. Insoweit eignet den Langzeitvorhaben eine normativ-pädagogische Note. Den Nachfahren wird im Namen der unsterblichen Wissenschaft das nötige Interesse verordnet. Das Vocabularium Iurisprudentiae Romanae wurde nach genau 100 Jahren abgeschlossen, und zwar „abgeschlossen“ im Sinne von „planmäßig vollendet“ und nicht etwa „beendet“ in irgendeiner imperfekten Weise. Insofern und im Blick auf viele andere Unternehmungen dieser Art verdient es ohne jeden Zweifel die Bewertung, ein „besonders erfolgreiches Langzeitvorhaben“ genannt zu werden. Bestellt und ins Leben gerufen hat dieses Vorhaben der große Theodor Mommsen, Nordfriese und Berliner, geboren 1817, gestorben 1903. Beendet wurde es von Marianne Meinhart, geboren 1920, gestorben 1994, Professorin für römisches Recht im österreichischen Linz. Professor Mommsen, seit seiner Versetzung von Breslau nach Berlin im Jahre 1858 Ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, hatte im Jahre 1870 der Akademie und insbesondere der Juristenwelt ein kolossales Geschenk gemacht. Er legte die Edition einer Rechtssammlung vor, die unstreitig im Zentrum des damals geltenden römischen Rechts stand: die Edition der Digesten oder – wie Sie bereits wissen – der Pandekten. Die Pandektisten, die eben dabei waren, der deutschen Privatrechtskunst Weltruhm zu verschaffen, beglückte Mommsen 1870 also mit einer historisch-kritischen Ausgabe eines wesentlichen Teiles ihres lateinischen Normenschatzes. Historisch-kritisch bedeutet hier, daß die älteste erreichbare Textstufe für den zu edierenden Text gesucht wird, wobei der nur selten und für die Antike niemals erfüllbare Traum des Editors auf ein Exemplar mit der verbürgten Handschrift des Autors gerichtet ist. Ist der älteste Beleg des fraglichen Textes ausfindig gemacht, wird er mit anderen „Textzeugen“, mit Abschriften, Auszügen, Zitaten, Drucken, Kommentaren etc. „kri-
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tisch“ – das bedeutet: auf der Folie dessen, was der Kritiker zu wissen glaubt – verglichen, um dann endlich in der Form publiziert zu werden, von der der Herausgeber annimmt, daß sie dem „Urzustand“, dem Produkt des historischen Autors am nächsten komme. So problematisch dieses mit vielen Unbekannten und allerlei Hypothesen und Spekulationen belastete Verfahren offensichtlich ist – für eine Welt, die glaubt, daß es auf jedes Wort, vielleicht sogar auf jeden Buchstaben, ankommt und die bereit ist, von einem Wort und einem Buchstaben nicht nur ihr eigenes Seelenheil, sondern auch das der anderen abhängig zu machen, – für eine solche Welt ist dieses Verfahren zur Konstruktion von Authentizität das einzig denkbare und vernünftige. Für die Juristen und Theologen des Abendlandes – und nicht nur für sie – war es daher schon früh der sichere Weg zur Rettung ihrer Deutungen vor der Bedrohung durch Textalternativen. Es war zweifellos kein Zufall, daß die Pandektisten die historisch-kritische Ausgabe ihres heiligen Buches im Jahre 1870 erhielten. Denn sie hatten sich gerade mit Hilfe von Savigny und einer durch den Historismus geförderten „geschichtlichen Betrachtung“ auf die Suche nach einer neuen Rechtsdogmatik begeben, die den durch die beginnende Industrialisierung gewandelten, normativen Bedürfnissen angepaßt war. Da lieferte der sofort allgemein akzeptierte Mommsen-Text endlich die Jahrhunderte lang vermißte feste Grundlage, auf der, im Kampf um die richtige Auslegung der römischen Normen, ein kollektiv nachvollziehbarer, hermeneutischer Prozeß in Gang gesetzt werden konnte. Mommsen hatte also ein höchst aktuelles und unmittelbar praktisches Wissenschaftsziel verwirklicht. Um den vollen Nutzen seiner in wenigen Jahren fertiggestellten Ausgabe zu erhöhen, hatte Mommsen die Anfertigung eines Index verborum, eines Registers aller in dem großen, aber unübersichtlichen Werk enthaltenen Wörter, angeregt. Fleißige Hilfskräfte zerschnitten zwei Exemplare der frischgedruckten
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Digesten, klebten die Wörter in alphabetischer Reihenfolge wieder auf, notierten dahinter Seite und Zeile des Fundortes in den Digesten und schrieben anschließend die abweichenden Lesarten nieder, welche Mommsen im kritischen Apparat seiner Edition vermerkt hatte. Das war eine mühevolle und langwierige Arbeit, die sich nahezu 20 Jahre hinzog. Erst im Mai 1888 konnte das „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten“ dem „beständigen Sekretar der königlichen Akademie der Wissenschaften und ordentlichen Professor Herrn Dr. Mommsen“ melden, daß das vom Ministerium seit 1880 finanziell unterstützte „verdienstvolle Werk nunmehr zum Abschluß gebracht ist“. Es wurde der königlichen Bibliothek einverleibt und sollte „dem interessierten Publikum in der für Handschriften üblichen Weise“ zugänglich gemacht werden. Daß dieses, heute leider verschollene Werk jemals ein solches Publikum gefunden hat, so daß die große Mühe den gerechten Lohn erhielt, ist nicht nur ungewiß, sondern auch unwahrscheinlich. Denn 1888, als der Index abgeschlossen wurde, hatten sich die Interessen der Wissenschaft und damit ihre Bedürfnisse einschneidend verändert. Schon zwei Jahre früher, 1886, war Mommsen selbst mit einer Denkschrift hervorgetreten, in der er vorschlug, den Index verborum, wenn er denn erst fertiggestellt sei, zu verwenden, um daraus ein Vocabularium Iuris Romani Antiquioris herstellen zu lassen. Dieses Vocabularium sollte viel mehr werden als ein bloßer Wortindex. Ein Wortindex, mit dem man jedes in der Normensammlung vorkommende Wort, aber auch Wortverbindungen (wie ius gentium: „Völkerrecht“) oder Redensarten (wie tempus ad deliberandum: „Bedenkzeit“) auffinden kann, ist ein gutes Hilfsmittel für Juristen, die aus der ratio scripta die richtige Stelle schöpfen wollen. Im Vocabularium sollten demgegenüber die Wörter der Digesten nicht mehr vollständig, sondern raumsparend nach ihren Grundformen (die Fachleute sagen: lemmatisiert) verzeichnet
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werden. Außerdem – und das war das Entscheidende – sollten die Wörter wieder jenen antiken Autoren, aus deren Büchern Kaiser Justinian die Fragmente einstmals nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten hatte ausschneiden lassen, zugeordnet werden. Das Vocabularium würde seinen Benutzern demnach erlauben, die römischen Juristen nach ihrem Sprachgebrauch zu differenzieren und zu individualisieren, sie als Autoren und Persönlichkeiten sichtbar zu machen. Von diesen Bemühungen durfte man sich Großes erwarten. Es war bekannt, Kaiser Justinian hatte es selbst verkünden lassen, daß die Textfragmente der römischen Juristen bei ihrer Exzerpierung hier und da verändert, umgeschrieben, interpoliert und sonstwie den Bedürfnissen der byzantinischen Epoche, die bereits fünf Jahrhunderte vom Prinzipat trennte, angepaßt worden waren. Wenn es nun mit Hilfe philologischer Studien gelingen würde, durch die alte Sprache auch der alten Sache habhaft zu werden, würde man das klassische (wie man es getauft hatte) römische Recht, das Recht des Prinzipats, von allen späteren Zutaten gereinigt, wie einen von allem genetischen Schmutz befreiten Diamanten vor sich sehen. Das Vocabularium versprach die Eliminierung der justinianischen Interpolationen und damit die endgültige Reinigung der ratio scripta. Aber zweifellos war dies ein Traum von Philologen und Historikern, nicht von Juristen. Der Schritt vom Index zum Vocabularium spiegelt die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Arbeit am römischen Recht. Es war der Schritt von der historischen Rechtsschule zur historisierenden Rechtsbetrachtung. Mommsens Manifest von 1886 legte den Grundstein für das Vocabularium Iurisprudentiae Romanae. 1886 – also ein Jahr bevor die bereits fünf Jahre an einem Nationalgesetzbuch arbeitende Juristenkommission des Reichsjustizamtes ihre Ergebnisse präsentierte – signalisierte der mächtige Jurist und Historiker den Beginn der endgültigen Historisierung des römischen Rechts.
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1887 begann die Arbeit am Wörterbuch der klassischen römischen Rechtswissenschaft; zugleich wurde das Unternehmen im Fachblatt der historischen Rechtsschule, der Zeitschrift der Savigny-Stiftung, dem romanistischen Publikum mit Hilfe von Probeartikeln vorgestellt. Das war genau das Jahr in dem der erste Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches der wenig begeisterten deutschen Öffentlichkeit vorgelegt wurde, denn sie stieß sich an der rein pandektistischen Geisteswelt und dem ungebremsten römischrechtlichen Inhalt des großen Gesetzes. 1903, Mommsen war eben gestorben, erschien der erste Band des auf fünf Bände kalkulierten Vocabularium. Er umfaßte die Buchstaben A bis C und wurde dem Andenken an Mommsen gewidmet. Seine Fertigstellung hatte nach allgemeiner Meinung viel zu lange, nämlich 17 Jahre gedauert und war von mancherlei Störungen begleitet gewesen. Die meisten Bearbeiter der ersten Stunde waren teils aus persönlichen, teils aus beruflichen Gründen ausgeschieden. Nur Professor Bernhard Kübler blieb noch übrig, ein Mann von dem es in seinem Nachruf hieß, er sei der „eigentliche Hauptarbeiter“ am Vocabularium gewesen. Jetzt war man jedoch optimistisch, daß die Arbeit rasch voranschreiten werde, denn noch ahnte niemand, daß das Wörterbuch ein Langzeitvorhaben der Preußischen Akademie werden würde. Aber die Hoffnung trog. Erst im Jahre 1914 konnten wieder zwei Faszikel erscheinen, und dann sorgte der 1. Weltkrieg und die ihm folgende Finanznot für eine drastische Unterbrechung bis 1925. Obwohl danach wieder mit großem Eifer und ohne Rücksicht auf die Zeitläufte an dem Wörterbuch gewerkelt wurde, gelang es bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges nicht, mehr als zwei Faszikel (1936 und 1937) und einen weiteren Band erscheinen (1939) zu lassen. Was aber vorwiegend an der mageren Sachausstattung und keinesfalls daran lag, daß etwa die Preußische Akademie der Wissenschaften sich auf den Standpunkt gestellt hätte, daß Punkt 19 des amtierenden Parteiprogramms eine Arbeit am römischen Recht obsolet gemacht hätte.
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Nach dem zweiten Weltkrieg war das Wörterbuch zwar nicht vergessen, aber arbeiten mochte so recht niemand mehr an ihm. Denn das, was eine 1953, gleichzeitig mit dem Beginn der bundesrepublikanischen Restauration publizierte Geschichte des römischen Rechts vortrug, nämlich: „Alle Studien, insbesondere alle textkritischen und interpolationistischen, aber auch alle aus irgendwelchen geschichtlichen Anlässen betriebenen Wortstudien, … werden für die Juristenschriften … und … für die Digesten selbst ein unschätzbares Hilfswerk in dem leider noch unvollendeten Vocabularium Iurisprudentiae Romanae zur Hand haben“ – eben diese Bekanntmachung fand die große Mehrheit der Romanisten nur noch mäßig interessant. Textkritik und Interpolationenforschung schickten sich an, einem neuen Textverständnis zu weichen, und nur wenige glaubten noch, besser als ein Römer zu wissen, was korrektes Juristenlatein war. So erschien denn erst 1964, nach 25-jähriger Pause, wieder ein Faszikel des Vokabulars und es dauerte weitere 15 Jahre, also bis 1979, bis die nächste Lieferung den inzwischen für das römische Recht nur noch mühsam zu begeisternden Buchmarkt erreichte. Danach ging es jedoch wirklich rasch. Allerdings nicht deswegen, weil die wissenschaftlichen Bedürfnisse der Romanisten die Wende erzwungen hätten. Ein kleiner lateinischer Satz in den Vorreden erklärt das unerwartbare Tempo: adhibitum est auxilium machinae computatoriae! Das elektronische Zeitalter hatte das sterbende römische Recht erreicht. 1983, 1985 und 1987 erschienen die noch fehlenden Teile des Wörterbuchs, so daß nach genau 100 Jahren das Langzeitvorhaben tatsächlich seinen Abschluß fand.
III Mit dem nächsten Lebenslauf greife ich nach Bernhard Kübler. Er wurde am 4. Juli 1859 geboren, war also 42 Jahre jünger als Mommsen, ohne den sich allerdings sein Leben zweifellos andere Wege gebahnt hätte.
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Sohn des Direktors am königlichen Wilhelmsgymnasium in Berlin, absolvierte er die väterliche Schule und studierte anschließend klassische Philologie an der Friedrich Wilhelm Universität. 1881, im seinerzeit üblichen Durchschnittsalter von 22 Jahren, wurde er zum Doktor der Philologie promoviert. Danach ergriff er, wie es für die braven klassischen Philologen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nahezu die Regel war, den Beruf des Gymnasiallehrers. Er unterrichtete an verschiedenen Berliner Gymnasien. Das letzte, an dem er von 1895 bis 1902 tätig sein konnte, war das seiner Liberalität wegen gerühmte Askanische Gymnasium. Dieses, als „Askanische Oberschule in Berlin-Tempelhof “ heute noch existierende Gymnasium, war seinerzeit eine renommierte, neuhumanistische Lehranstalt, deren Rektor, ein Altphilologe, was das gründliche und umfassende Erlernen der alten Sprachen betraf, keinen Spaß verstand. Der junge Kübler war also nachhaltig damit beschäftigt, den ihm anvertrauten Jugendlichen Grammatik, Wortschatz und Textüberlieferung der Antike einzubleuen. Diese Tätigkeit füllte ihn offenbar nicht aus. Denn schon 1887, also von der ersten Stunde an, arbeitete er am Vocabularium Iurisprudentiae Romanae mit. Als das Unternehmen in der Savigny-Zeitschrift bekannt gemacht wurde, wird Dr. Bernhard Kübler als einer der drei mit der „Ausführung der Arbeit“ befaßten Wissenschaftler erwähnt. Den Auftrag dazu hatte Mommsen erteilt. Ihm war der Philologe, der schon als Student seine Vorlesungen besucht und sich für römisches Justiz- und Militärwesen interessiert hatte, nicht mehr aus den Augen geraten. Und als Kübler sich 1891 bei der philologischen Fakultät habilitiert hatte und gleichzeitig – nicht zuletzt wegen seines immensen Fleißes – zur tragenden Stütze im Herausgeberkreis des Vokabulars avanciert war, bereitete der Altmeister in aller Stille einen unerhörten Coup vor. Die juristische Fakultät der Universität Greifswald wurde bewogen, dem durch fachlich Juridisches bislang nicht sonderlich aufgefallenen Kübler einen juristischen Ehrendoktor zu verleihen. Damit war die formale Voraussetzung dafür geschaffen,
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daß der Privatdozent der Philologie ein an der juristischen Fakultät der Friedrich Wilhelm Universität von Mommsen vorsorglich eingefädeltes und durchgesetztes Extraordinariat erhalten konnte. Das alles ereignete sich im Jahre 1900, das Jahr, in dem bereits mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch die Fanfare des Wandels in der Romanistik geblasen wird. Der Umstand, daß ein reiner Philologe als Professor für römisches Recht in eine juristische Fakultät überwechseln konnte und nach kurzer Zeit damit begann, Vorlesungen nicht nur im römischen, sondern auch im (neuen) bürgerlichen Recht zu halten, ist überaus erhellend für den Platz und das Befinden des römischen Rechts im Deutschland der Jahrhundertwende. Noch lagen römisches und bürgerliches Recht so nahe beieinander, daß das eine durch das andere interpretiert werden konnte. Das (jetzt) geltungslose geschichtliche Recht, das geltende (noch) geschichtslose Recht und die Geschichte des Rechts hängen noch für fast ein Jahrzehnt nahezu ununterscheidbar aneinander. Dann verschwindet das geschichtliche Recht nicht nur aus den justiziellen Dezisionen, sondern auch aus den gelehrten Erörterungen der Dogmatiker der geltenden Normenwelt. Die Geschichte des Rechts mutiert in kleinen Schritten zur Rechtsgeschichte. Das 20. Jahrhundert wird das Jahrhundert einer allmählich immer radikaleren Historisierung der Rechtsbeobachtung. Zunächst wird diese Beobachtung kontextualisiert, wie man heute vielleicht sagen würde, wenn man das Heranreifen der Einsicht bezeichnen möchte, daß in der Antike nicht nur Rom und das Recht der Römer existierten, sondern daß es auch Griechen und Ägypter gab – ein Vorgang, der schließlich dazu führte, daß die Romanisten die antike Rechtswelt beginnend bei Ur und Akkad und endend in Byzanz zu bearbeiten begannen. Zum anderen führte die Suche nach den Interpolationen in der überlieferten Textmasse des römischen Rechts, Forschungen, für die das Vocabularium seine Hilfsdienste anbieten
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sollte, schneller in eine Sackgasse als das Wörterbuch vorankam. Der Weg in die Sackgasse war ausgeschildert durch eine Reihe von Hypothesen, zu deren Zusammenbruch Bernhard Küblers umsichtige historisch-philologische Arbeit manches Bauelement beitrug. Dazu gehörte die Vorstellung, die römischen Juristen hätten eine bestimmte, nämlich „klassische“ Einheitssprache gesprochen, deren „unklassische“ Störung spätere, fremde Eingriffe – Interpolationen eben – verrate; dazu gehörte die Ausblendung der Überlieferungsgeschichte der Texte zwischen dem 2. und dem 5. Jahrhundert, weil man allen Textwandel als Folge intentionaler Eingriffe der Bürokraten Justinians ansah; dazu gehörte die Idee, daß es sich beim römischen Recht um eine unpersönliche, weitgehend harmonisch geschlossene Menge abstrakter Dogmen, nicht um ein vielstimmiges Konglomerat juristischer Meinungen und Argumentationen gehandelt habe. Altertumswissenschaftliche Methode und philologische Feinarbeit destruierten diese Annahmen Schritt für Schritt. Sie destruierten damit zugleich das Fundament auf dem das Vocabularium siedelte, und sie führten die romanistischen Lehrstuhlinhaber des 20. Jahrhunderts in die Schizophrenie, sich zwischen den Methoden historischer Feinanalyse und den Herausforderungen pragmatischer Rechtskonstruktion aufspalten zu müssen. Was Theodor Mommsen konnte und was zu Beginn des Kübler’schen Berufslebens noch möglich war, nämlich Historiker UND Jurist zu sein, wurde rasch unmöglich. Selbst wenn alle Romanisten – was bekanntlich nicht der Fall war – Mommsens Genialität besessen hätten, wären sie nicht zur gleichzeitigen Arbeit als Nomotheten der Rechtsdogmatik und als Idiographen der antiken Rechtsgeschichte in der Lage gewesen. Doch damit bin ich weit vorausgeeilt im wüsten 20. Jahrhundert. Zunächst sind wir noch im Jahre 1900, in dem Bernhard Kübler bei den Juristen ein Extraordinariat erhielt, das aber
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schon ein Jahr später in eine planmäßige Professur umgewandelt wurde. Noch im selben Jahre 1900 übernahm Kübler, nachdem alle Mitherausgeber, sei es aus beruflichen, sei es aus persönlichen Gründen ausgeschieden waren, auch die Alleinredaktion des Vocabularium. Der „Kernpunkt“ in seiner Lebensarbeit, wie es in einem Nachruf heißt, ist erreicht. Die Dinge ließen sich auch gut an. Geld war vorhanden. Im Jahre 1900 feierte die Preußische Akademie der Wissenschaften ihr 200jähriges Bestehen und blickte voller Stolz auf ihre von Harnack für den Festtag verfaßte Geschichte. Der deutsche Kaiser und preußische König will die Akademie und in ihr besonders Theodor Mommsen ehren. Wie ehrt man einen 83-jährigen, dem schon alle Ehrungen, mit dem die Zeit einen Wissenschaftler ehren kann, zugefallen sind? Man bezeichnet dem Kaiser das Vocabularium als einen wissenschaftlichen Gegenstand, der seiner Munifizenz würdig sei. Aus dem Allerhöchsten Dispositionsfonds fließen 60000 Mark, die das Unternehmen finanziell absichern. Eine stattliche Herde von 300 durchschnittlich schweren Milchkühen hätte man sich für diese Summe auf dem Viehhof in Berlin-Friedrichsfelde kaufen können. Und Bernhard Kübler darf dieses Geld ausgeben. Er heuert Hilfskräfte und Mitarbeiter an und kann, da er rastlos selbst Hand anlegt und der wortmonographischen Darstellungen nicht überdrüssig wird, beispielgebend und motivierend das Wörterbuch vorantreiben. 1912, schon 53jährig, verließ Kübler Berlin und nahm einen Ruf an die stille Universität Erlangen an, wo er 1934 – im damals noch im Bereich des Üblichen liegenden Alter von 75 Jahren – emeritiert wurde. Wie er sich zur gerade ein Jahr alten, neuen deutschen Welt stellte, ist nicht bekannt. Seine Arbeit am Wörterbuch setzte er jedenfalls zielstrebig fort. Aber es wird ihm wohl kaum entgangen sein, daß, wie die Preußische Akademie der Wissenschaften dem Verleger Walter de Gruyter anläßlich einer Kalkulation für das Vokabular schrieb, das Aufbringen von Zuschußbeiträgen für ein Wörterbuch des römischen Rechts „heute ganz besonders schwer“ geworden war.
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1935 wurde Kübler, reichlich spät, zum korrespondierenden Mitglied dieser Akademie ernannt, die das öffentlich immer weniger als Desiderat empfundene Wörterbuch herausgab. Der Vizepräsident der Akademie, Geheimrat Ernst Heymann, Direktor des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, schrieb 1940, anläßlich des überraschenden Todes des mittlerweile 80-jährigen Alleinredaktors, nachdem er den auch heute noch üblichen Floskeln von der „entsagungsvollen Arbeit“ und der „kaum auszufüllenden Lücke“ Genüge getan hatte: „Bernhard Kübler war unser Mitglied und hat einen großen Teil seines rastlosen Fleißes unserem von Theodor Mommsen begründeten Vocabularium Iurisprudentiae Romanae gewidmet. Er hat dieses Werk nahe an die Vollendung geführt“. Aber vollendet war es eben doch nicht. Marte nam furente, heißt es noch 45 Jahre später in der abgründigen Sprache der Disziplin, omne hoc opus iacuit,: weil Mars wütete, blieb das ganze Werk liegen. Die Akademie gründete, da der Hauptarbeiter, „der sein Leben lang diese Last“ trug, gestorben war, eine aus den Mitgliedern Heymann, Koschaker und Stroux bestehende Akademiekommission, deren Wirken, wenn es ein solches je gab, keine Spuren hinterlassen hat. Als das Vokabular, nach dem kleinen Zwischenspiel von 1964, endlich in seine letzte Runde ging, waren die Kommissionsmitglieder ausnahmslos längst gestorben, die Akademie hieß nicht mehr „Preußische“, sondern war unaufhaltsam DDR-deutsch geworden und wurde 1972 „Akademie der Wissenschaften der DDR“ getauft. Die noch nicht abgearbeiteten Materialien befanden sich nicht mehr in Berlin, sondern lagen in Mainz. In Deutschland war offenbar niemand bereit, das Vermächtnis Mommsens anzunehmen. Marianne Meinhart, die sich schließlich mit der Arbeit betrauen ließ, schrieb in einer Einleitung kühl, sie habe die – früher für das Essentiale gehaltenen – Interpolationsvermutungen weggelassen. Warum? Weil,
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quae arbitria adnotari ad disciplinam Iurisprudentiae Romani haud tanti refert. In grobem Deutsch: die Sache bringt nichts mehr! Der anfängliche Seinsgrund des Vokabulars war also mittlerweile zur unnützen Zierart mutiert, ohne daß eine neue Rechtfertigung auch nur angestrebt worden wäre. Die Sache verstand sich offenbar aufgrund langer Dauer von selbst. Die Nachwirkungen des Lebenswerks von Kübler entsprachen dem blassen Ende des Vorhabens. Für die wissenschaftliche Welt hatte es mit einer einzigen knappen Erfolgsnotiz – von Johanna Maria Fröschl, Assistentin am römischrechtlichen Lehrstuhl der Universität Salzburg – sein Bewenden.
IV Der vierte Lebenslauf drängt sich in einem Brief zusammen, der dem heutigen Leser das Herz zerreißt. Dieser Brief ging im Dezember 1941, wenige Tage vor Weihnachten bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften ein. Datiert war das Schreiben auf den 19. Dezember. Am Tag zuvor, am 18. Dezember 1941, hatte der Schreiber sein 55 Lebensjahr vollendet. Der mit Schreibmaschine auf gutem, noch heute unvergilbtem Papier geschriebene Brief lautet folgendermaßen: Preußische Akademie der Wissenschaften Berlin NW 7 Unter den Linden 8 Als früherer rechtshistorischer Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften erlaube ich mir ergebenst, folgende Bitte vorzutragen: In 30-jähriger Mitarbeit am Wörterbuch der römischen Rechtssprache habe ich einen wissenschaftlichen Apparat an Druckbögen, Druckfahnen, Manuskripten, Hilfszetteln und Büchern zusammengebracht, der für die Fortsetzung des Wer-
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kes von Bedeutung sein dürfte. Daneben habe ich an anderen Unternehmungen der Akademie wie z. B. „den Gesetzen der Angelsachsen“ mitgearbeitet, woraus sich ähnliche Materialien ergeben haben. Ich habe auch zwei von der Berliner Rechtsfakultät preisgekrönte Arbeiten rechtsgeschichtlichen Inhalts verfaßt, die im Manuskript vorliegen. Zu ihrer Fortführung habe ich Materialsammlungen zusammengebracht, die z[um] T[eil] in Kartothekform vorhanden sind. Endlich habe ich auf Anregung des inzwischen verstorbenen Prof[essors] Bernhard Kübler die „Institutionen Justinians“ zur Vorbereitung eines Wörterverzeichnisses verzettelt, wobei jedes Wort des Werkes ausgeschrieben und sein Fundort vermerkt ist. Da bei den für mich bestehenden Verhältnissen mit dem Verlust dieser Materialien zu rechnen ist, wenn sie nicht anderweitig untergebracht werden, ich aber andererseits hoffe, daß sie in berufener Hand noch zur Fortführung der begonnenen Arbeiten beitragen können, erlaube ich mir die Bitte auszusprechen, diesen wissenschaftlichen Apparat der Akademie zur hochgeneigten Verfügung übergeben zu dürfen. Paul Israel Abraham Jüdische Kennkarte Berlin A 156453 Das einen Tag nach seinem Geburtstag formulierte Angebot des ehemaligen Mitarbeiters brachte die Akademie deutlich in Verlegenheit. Gerade hatte sie den Juden unauffällig aus ihrem Gesichtsfeld geschafft, da brachte er sich mit seinem, wie sie es formulierte: Antrag auf „Übernahme von Material“ peinlich in Erinnerung. Obendrein in der offenkundigen Absicht, eine Art von Lebenswerk, das offenbar von dem des soeben hochgeehrt und hochverehrt gestorbenen Herrn Kübler nicht sonderlich verschieden war, der Akademie zu schenken und es dadurch für die Wissenschaft zu retten. Die Empfindungen der Verantwortlichen schwankten zwischen Bangigkeit und Genugtuung. Einerseits wurde ihnen schon bei der Wendung „übergeben zu dürfen“ äußerst un-
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wohl. Denn das schien doch zu bedeuten, daß der Jude mit seinem Stern und seiner vorweggenommenen Hinterlassenschaft in der Akademie als Schenker aufzutauchen beabsichtigte. Denn auf etwas anderes als auf die bevorstehende Deportation konnte mit der Wendung „bei den für mich bestehenden Verhältnissen“ kaum angespielt worden sein. Man würde ihn empfangen und sich irgendwie bedanken müssen. Das konnte schwer kalkulierbare, politische Folgen haben. Andererseits war es kostbare „Wissenschaft“, die da kostenlos angeboten wurde. Wissenschaft, an der die Akademie nicht nur pflichtgemäß, sondern existentiell ein großes Interesse zu haben hatte. Es bestand Handlungsbedarf und Vizepräsident und Geheimrat Heymann handelte. Wie er handelte, kann man einer am 6. Januar 1942 verfaßten Aktennotiz entnehmen: „Da ich eine Durchschrift des Schreibens von A. erhalten hatte, habe ich mich sofort mit Herrn Dr. Schwarz in Verbindung gesetzt, der in meinem Auftrage an A. geschrieben hat, daß er zu ihm kommen und sich die Sachen ansehen werde, um Näheres zu verabreden. Die angebotenen Arbeiten, die im Zusammenhange mit A.’s früheren Arbeiten für das Vocabular entstanden sind, sind (zum Teil mindestens) offenbar sehr wertvoll … Die Unterredung des Dr. Schwarz mit A. konnte aber nicht stattfinden, da A. schrieb, daß er krank geworden sei. Dr. Schwarz hat ihm noch einmal geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Er wird jetzt sogleich noch einmal schreiben, daß die Akademie das Angebot annimmt und daß er über die Modalitäten noch mit Herrn A. sprechen wolle, sobald dieser wieder einigermaßen gesund ist. Die Modalitäten bestehen (nach näherer Prüfung der Manuskripte) darin, daß wir als Akademie das volle Eigentum und das volle Urheberrecht an den Sachen erwerben würden und dafür aber auch einen angemessenen Betrag bezahlen würden, aus Gründen, die ohne weiteres am Tage liegen.“ Was da so ohne weiteres „am Tage“ lag, war der Umstand, daß „der A.“, von und mit dem Herr Doktor Schwarz auftragsge-
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mäß zu sprechen geneigt war, im Begriff stand, zu verhungern. Zwei Bittbriefe hatte Paul Abraham im Juli und Oktober des Jahres 1938 an den Vizepräsidenten geschickt, um seine bevorstehende Entlassung vielleicht doch noch abzuwenden. Schließlich hatte er am 31. Mai 1935 im Namen des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler das vom Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg gestiftete „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ erhalten. Aber das Kreuz hatte nur einen Aufschub erwirkt und nicht wirklich helfen können. Ab Januar 1939 mußte Paul Abraham sich Paul Israel Abraham nennen. Wenig später wurde er umstandslos aus seinem Werkvertrag entlassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er 30 Jahre lang in der Akademie gearbeitet. 30 Jahre – denn 1909 hatte Professor Kübler den Studenten Paul Abraham im Tone höchsten Lobes als selbständigen Bearbeiter für den 3. Band des Vocabularium vorgeschlagen. Küblers Lob war gut begründet. 1895 hatte er seinen Dienst am Askanischen Gymnasium angetreten. 1896, ein Jahr später, begann der kleine Paul, der 1886 in Berlin geborene Sohn von Adolf und Helene Abraham, in derselben Schule das neuhumanistische Curriculum und wurde, nicht zuletzt durch seinen Lehrer Kübler, mit allen Standpunkten und Visionen des kaiserzeitlichen Humanismus gründlich vertraut gemacht. Paul lernte zunächst hingebungsvoll und sehr erfolgreich. Erst als sein Vater gestorben war und der Schüler seinen Fleiß zwischen der Schule und der Unterstützung seiner alleinerziehenden Mutter teilen mußte, ließen seine Leistungen allmählich nach. Daß Paul Abraham 1905 ein mittelmäßiges Abitur (als 14. von 22 Schülern) machte, entging allerdings dem emsigen Professor Kübler, der inzwischen schon 3 Jahre ausschließlich der Universität diente ebenso, wie dessen Studienbeginn an der philosophischen Fakultät. Erst als der junge Mann nach einem Studienwechsel bei den Juristen auftauchte und sich durch herausragende, von der Rechtsfakultät zweimal preisgekrönte rechtshistorische Leistungen bekannt machte, erinnerte
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er sich wieder. Was zugleich seine Begehrlichkeit weckte. Denn schon damals war eine Seltenheit, was heutzutage auf den Juristenlehrstühlen längst ausgestorben ist: juristisch, historisch und philologisch in gleicher Weise geschulte und kompetente Wissenschaftler. Paul Abraham verspricht, noch einmal eine solche Ausnahmeerscheinung zu werden. Er studiert mit der Hilfe eines vom Askanischen Gymnasium ausgesetzten Stipendiums, das er, auch um die Mutter nicht verhungern zu lassen, durch allerlei Nebenarbeiten aufbessert. 1909 läuft das Stipendium aus. Paul muß sich nach Ersatz umsehen und bewirbt sich, wie nahe liegt, bei Kübler um eine Anstellung bei dem finanziell gut ausgestatteten Vocabularium. Kübler ist entzückt. Die Anstellung eines Studenten in einem Akademievorhaben dieses Ranges ist allerdings keine einfache Sache. Kübler rechnet mit Schwierigkeiten und bereitet seinen Antrag mit größter Sorgfalt vor. Gleichwohl gerät die Beratung über einen Werkvertrag für Paul Abraham zum Musterfall für akademische Seiltänze, wie sie auf diesem Felde bis heute getanzt werden. Fachliche Qualifikation? Über jeden Zweifel erhaben! Verantwortungsbewußtsein? Professorale Kontrolle ist gewährleistet. Keine Zertifikate? Formalismen, die nachgeholt werden können. Verzögerung des Studiums? Ermahnung zu doppeltem Fleiß. Der Bedarf der Etablierten und die Not des Bedürftigen setzten sich durch: Am 24. Januar 1910 erhält Abraham den erhofften Werkvertrag. Seine Arbeit am Vocabularium beginnt; eine anstrengende und entsagungsvolle Arbeit, die ihn durch sein ganzes, von Entbehrungen gezeichnetes Leben begleiten wird, die ihn spezialisiert, ausfüllt und auffrißt. „Ein schönes inniges Familienleben, gesegnet von Kindern“, wie es dem humanistisch allseits gebildeten Hauptredaktor bescheinigt wurde, hätte der Hilfskraft Abraham sicher auch gefallen. Aber bis zum Tode der Mutter, im Jahre 1925, war bei dem kargen Lohn nicht an Frau und erst recht nicht an Familie zu denken. Als aber die Mutter starb und das ökonomisch unergiebige Krawattenlädchen in der Wilmersdorferstraße geschlossen
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werden konnte, war Paul fast 40 Jahre alt und längst ein einsamer, mit Entbehrungen reichlich vertrauter Wissenschaftsarbeiter geworden, dem niemand in einem Nekrolog, wenn er denn einen solchen erhalten hätte, hätte nachrufen können, er sei, wie sein Arbeitsstellenleiter, ein „Genosse froher Stunden“ gewesen, „zu heiterem Lebensgenuß bereit“. Paul erhielt aber keinen Nekrolog. Zunächst bekam er ein amtliches Schreiben, dessen Entwurf Ernst Heymann den Akten anvertraut hat: „Auf Ihr Schreiben vom 19. Dezember erwidert die Akademie mit bestem Dank, daß sie Ihr Angebot ihr Ihren dort bezeichneten wissenschaftlichen Apparat zur Verfügung zu übergeben an[nimmt]. Herr Dr. Schwarz wird im Auftrag des Vorsitzenden der Vocabularium Kommission, H[errn] H[eymann], sobald Sie wieder gesundheitlich dazu in der Lage sind, über die Modalitäten der Übergabe und ein etwaiges Honorar das Nähere besprechen.“ Zu der Besprechung des „Näheren“ kam es nicht. Es wurde überhaupt nicht mehr gesprochen. Heymann sprach sowieso nicht. Kübler konnte nicht mehr sprechen, denn er war gestorben. Als er noch lebte, war auch nicht gesprochen, sondern lediglich einsilbig geschrieben worden. Technische Korrespondenz in veränderter Sprache. Aus dem „lieben Paul Abraham“ war angesichts der „bestehenden Verhältnisse“ dann doch der „sehr geehrte Herr Dr. Abraham“ geworden. Humanistische Umsicht des großen Humanisten. Herr Dr. Schwarz sprach auch nicht. So sehr lag ihm der kranke Jude Abraham, dessen Nachfolger er geworden war, schließlich nicht am Herzen. Das „Kriegsjahr“ 1942 verstrich. Am 26. Februar 1943 wurde Paul Abraham zusammen mit 1094 Opfern im sogenannten 30. Judentransport nach Auschwitz gefahren und ermordet.
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Zwei Monate später, im Mai 1943, holte Fritz Schwarz das angebotene Material aus der verlassenen Wohnung seines Vorgängers ab, brachte es in die Akademie und damit in Sicherheit. Damit war gewährleistet, daß das Langzeitvorhaben seiner glücklichen Vollendung entgegensehen konnte.
V Soweit die vier Lebensläufe. Weitere könnten dem Porträt des besonders erfolgreichen Langzeitvorhabens vermutlich schärfere Konturen und etwas mehr Farbe verleihen. Etwa der Lebenslauf von Theodor Mommsen, der den Umschwung einer anwendungsbestimmten Disziplin zu einer vergangenheitsorientierten gestaltend erlebt hat, oder der des Geheimrates Ernst Heymann, der, als die Todesreise Abrahams amtlich wurde, pflichtschuldig in den Akten vermerkte, daß dieser inzwischen „evakuiert“ worden sei, oder der von Fritz Schwarz, der den geretteten Materialien in der Nachkriegszeit das 4. Faszikel des 3. Bandes abrang, ohne deshalb 1964 von Paul Abraham viel Aufhebens zu machen. Aber ich muß schon aus Zeitgründen abbrechen. Auch meine Absicht, die Lebensläufe kurz zu kommentieren und, mehr als geschehen, zu unterstreichen, wie sie sich berühren, überschneiden, wechselseitig dementieren, habe ich aufgegeben. Es ist vermutlich besser, darauf zu verzichten, die Ohren der Zuhörer dorthin zu zerren, wo das Röcheln der Vergeblichkeit unüberhörbar wird. Auch ist es angemessen, unsere Nasen nicht auf das wenige Sinnvolle in der Sinnlosigkeit stoßen zu wollen. Schließlich ist es nicht mein Geschäft, die liebenswürdigen Augen anderer aufzureißen, damit sie sich von der Beobachtung der Fremdbewegung auf die Selbstbewegung richten. Das Wispern der Texte muß nicht lautstark überhöht werden. Es ist für das willige Ohr vernehmlich genug.
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Autoren PD Dr. Eva-Maria Engelen Dozentin an der Philosophischen Fakultät, Universität Konstanz Prof. Dr. Kurt Flasch Professor emeritus für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Volker Gerhardt Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin PD Dr. Rainer Maria Kiesow Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/M. PD Dr. Martin Korte Arbeitsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried Prof. Dr. Klaus Mainzer Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Augsburg Prof. Dr. Christoph Markschies Lehrstuhl für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin
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Autoren
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Mittelstraß Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz Prof. Dr. Martin Quack Ordinarius für Physikalische Chemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Dr. Henning Schmidgen Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Simon Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Namenregister
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Namenregister Abaelard, Peter 15 Abraham, Paul 244ff. Alembert, Jean Le Rond d’ 208 Alexander der Große 2 Angelus Silesius 125 Aristoteles 26, 34, 39, 41, 65 f., 71, 131 Arkesilaos 67 Augustinus 15, 21 f., 34, 65, 128 Bach (Familie) 88, 177 Bacon, Roger 18 Beck, Freder 69 (Anm. 25), 70 (Anm. 26) Bergson, Henri 86, 89 Bernhard von Clairvaux 15 Bernhard, Thomas 200 Bernoulli (Familie) 88 Besso, Michele 77 Blumenberg, Hans 4, 186 ff., 190 f., 197 Bohm, David 69 Bohr, Niels 31, 69 (Anm. 25) Boltzmann, Ludwig 82, 147 Brillon, Jean-Pierre 206, 218 Broglie, Louis de 69 Brücke, Ernst 111, 113 Brucker, Jakob 12 Bruni, Leonardo 5 Burckhardt, Jacob 5, 7f., 13 Burdach, Konrad 3 Bussi, Giovanni Andrea de 5 Cagniard de la Tour, Charles 115 Calvin, Johannes 15 Carnap, Rudolf 15
Cicero 64ff., 68 Clausius, Rudolf 82, 139 Comte, Auguste 8, 16 Conway, John 94 Cusanus (Nikolaus von Kues) 5, 18 Dalloz, Victor Alexis Désiré 213 f., 216 ff. Darwin, Charles 87 Dernburg, Heinrich 232 Descartes, René (Cartesius) 1, 15 f. Diderot, Denis 208 Dilthey, Wilhelm 3, 8f., 13, 16 Dionysius Areopagita 18 Donders, Franciscus Cornelis 105 ff., 113 f., 116 ff. Droysen, Johann Gustav 8 Du Bois-Reymond, Emil 61 f., 70 Eckhart, Meister 18 Einstein, Albert 30, 69 (Anm. 25), 77 f., 87, 127 ff., 147, 149, 152, 154 Ekeland, Ivar 161 Erasmus von Rotterdam 15 Euler, Leonhard 76 Foucault, Michel 121 f. Freund, Alexandra 125 f. Freyer, Hans 4 Fröschl, Johanna Maria 243 Frost, Robert Lee 171 Gadamer, Hans-Georg 13 Galen 70 ff.
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Namenregister
Galilei, Galileo 9, 136 Gerhardt, Volker 60 f., 66, 70 Gödel, Kurt 79 Goethe, Johann Wolfgang 2, 15, 21 f. Gold, Thomas 30 Griolet, Gaston 219 Gruyter, Walter de 241 Guyot, J. N. 205f.
Klein, Wolfgang 128 Kleist, Heinrich von 15 Koenig, Rudolph 114 ff. Kondratieff, Nikolai 92 Koschaker, Paul 242 Kübler, Bernhard 236 ff., 240 ff., 246 ff. Kuhn, Thomas S. 60 Kunkel, Wolfgang 231
Habermas, Jürgen 55 (Anm.) Hamer 106 ff., 114 Harnack, Adolf von 241 Hartmann, Nicolai 13 Hawking, Stephen 78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 10 Heidegger, Martin 10 f., 15 ff., 36 Heisenberg, Werner 31, 69 (Anm. 25), 81 Helmholtz, Hermann von 104 f., 120 Heraklit 75 Heymann, Ernst 242, 245, 248f. Hilbert, David 95 Hinshelwood, Cyryl Norman 137 Hippokrates 71 Hirsch, Adolphe 105 Homer 15 Hund, Friedrich 133, 151 Hütt, Marc-Thorsten 194 f. Huygens, Christiaan 69
La Ville, Claude de 206 Lagrange, Joseph Louis 76 Laplace, Pierre-Simon 187 Leibniz, Gottfried Wilhelm 94, 96 Lepenies, Wolf 103 Lullus Raimundus (Ramón Lull) 18
Jaager, Johan Jacob de 108 ff., 121 Jacob, François 103 Jhering, Rudolf von 230 Johannes Eriugena 18 Jonas, Hans 56 Julian von Eclanum 15 Justinian 203, 208, 227, 235, 240 Kafka, Franz 199 Kant, Immanuel 38, 58, 61, 192 Kaser, Max 231
Malleville, Jacques de 215 Marloye, Albert 115 Mayr, Ernst 182 ff. Meinhart, Marianne 232, 242f. Michelet, Jules 5 Mill, John Stuart 107 Mittelstraß, Jürgen 60, 68f., 72 Mommsen, Theodor 232ff., 249 Muratori, Lodovico Antonio 4 Musil, Robert 161, 201 f., 222f. Napoleon 215 Newton, Isaac 69, 76 f. Noether, Emmy 76 Parmenides 75 f. Pasteur, Louis 150, 153 Pauli, Wolfgang 145 Penrose, Roger 78 Petrarca, Francesco 5 Planck, Max 186 Platon 15, 17, 22, 34, 38ff., 41, 63 f., 66, 68, 71, 75 Plotin 17 Poincaré, Henri 95
Namenregister Popper, Karl 162 Prigogine, Ilya 86 Proust, Marcel 89 Puchta, Georg Friedrich 230 Pütter, Johann Stephan 208 Rabelais, François 15 Ranke, Leopold von 4f., 7, 190 Reichenbach, Hans 29 Rescher, Nicolas 60 Rheinberger, Hans-Jörg 102 Richter, Achim 69 (Anm. 25), 70 (Anm. 26) Rilke, Rainer Maria 221 Sacher, Paul 173, 176 f. Savart, Félix 115 Savigny, Friedrich Carl von 228, 230, 233 Schelske, Rudolf 105 Schiller, Friedrich 170 Schreber, Daniel Paul 210 ff. Schrödinger, Erwin 81, 131 f., 186 f. Schumpeter, Joseph 92 Schwarz, Fritz 245, 248f. Scott, Édouard Léon 112 ff. Simon, Dieter 60 (Anm. 2) Singer, Wolf 61 Sommerfeld, Arnold 69 (Anm. 25)
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Stockburger, Manfred 174 Stroux, Johannes 242 Thierry von Chartres 18 Troe, Jürgen 174 Turing, Alan 95 Ueberweg, Friedrich 12 Van’t Hoff, Jacobus Henricus, 151 f. Vaucanson, Jacques de 215 Vergé, Charles 219 Vergil 15 Voltaire 4, 208f. Weller, Albert 174 Wertheim, Wilhelm 114 f. Weyl, Hermann 76, 80 Wieacker, Franz 228, 231 Wiethölter, Rudolf 211 Windscheid, Bernhard 230 Wolfram, Stephen 95 Wundt, Wilhelm 120 Xenophanes 62ff., 66f. York von Wartenburg, Paul 8ff., 16 Zacher, Hans F. 174 f.
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