Zeit der Revolution! - Revolution der Zeit?: Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789 - 1848/49
 9783666357923, 9783647357928, 3525357923, 9783525357927

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler

Band 129 Ernst Wolfgang Becker Zeit der Revolution! - Revolution der Zeit?

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Bayerische Staatsbibliothek München

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

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Zeit der Revolution! Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789-1848/49 von

Ernst Wolfgang Becker

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

99. 2675

Meinen Eltern und Regina

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufitahme Becker, Ernst Wolfgang: Zeit der Revolution! - Revolution der Zeit?: Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789 - 1848/49/ von Ernst Wolfgang Becker. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 129) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-525-35792-3

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

© 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck, Tübingen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Inhalt

Vorwort

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Einleitung 1. ›Zeit‹ und ›Revolution‹ in erfahrungsgeschichtlicher Perspektive .. 2. Forschungsüberblick 3. Methodische Begrenzungen für Zeiterfahrungen 4. Quellenauswahl und -problematik: Publizistik und Öffentlichkeit

ERSTER TEIL:

I.

Von der Französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen

Unmittelbare Zeiterfahrungen angesichts der Französischen Revolution 1. Deutsche ›Revolutionstouristen‹ in Paris: übersehene Zeit 2. Die Französische Revolution in der deutschen Öffentlichkeit: vergessene Zeit

11 11 21 26 30

37 37 38 48

II. Schwindende Zustimmung zur Revolution: entfesselte Zeit 1. Frühe Distanz zur Revolution 2. Der Krebsgang der Revolution 3. Der Zirkel der Revolution 4. Reformen als Bändiger einer entfesselten Zeit 5. Revolution als fatalistisches Naturgeschehen

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III. Napoleon als neue Epochenzäsur 1. Die vergebliche Vertilgung der Revolution 2. Revolutionärer Bruch durch Napoleon: Möglichkeit reformerischer Kontinuität 3. Napoleon als Vollender der Revolution 4. Napoleonischer Revolutionsexport: Gestaltbarkeit und Entzug von›Zeit‹

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IV Die Geburt des Nationalismus: zukunftsweisende Dynamik in der Zeiterfahrung 1. Ernst Moritz Arndt und der »Geist der Zeit« 2. Nationalismus: Dynamik und Machbarkeit von ›Zeit‹ 3. Das revolutionäre Potential: Nationalismus im Wechselspiel der drei Zeithorizonte 4. Nationalismus und neuartige Zeiterfahrungen

ZWEITER TEIL:

V

VI.

Die Zeit des Vormärz

Zäsur und Kontinuität: revolutionärer Wiedereinstieg in einen Fortschrittsprozeß 1. Aktualisierung der konservativen Tradition: Antwort auf die revolutionäre Latenz 2. Liberaler Fortschritt zwischen Revolution und Reform 3. Die unvollendete demokratische Revolution 4. Revolution im Interesse der Gegenwart: Heines Zeiterfahrungen Die krisenhaften vierziger Jahre: Übergangszeit in einer flüchtigen Gegenwart 1. Flucht in die Zeitlosigkeit und konservative Integration von Fort- und Rückschritt 2. Das Elend der polarisierten Übergangszeit: permanenter Aufschub liberaler Zukunftserwartungen 3. Demokratische Revolutionserwartungen: Restauration eines evolutionären Fortschrittsprozesses 4. Rückblick auf eine gespaltene Zeiterfahrung

108 108 114 124 142

147 149 150 161 180 193 198 200 213 234 248

Die Zeit der Revolution 1848/49

253

VII. Ende der Stagnation und neue Zeitstörungen 1. Liberale ›Reform-Revolution‹: von der Sukzession zur Opposition 2. Die Märzrevolution als Vorgeschichte für eine soziale Zäsur 3. Alterung und subversive Fortsetzung der Revolution

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DRITTER TEIL:

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VIII. Krise und Ende: Auseinandersetzung mit Revolution und Reaktion 1. Reaktionäre Selbstfindung in der Omnipräsenz des revolutionären Prinzips 2. Das liberale Pendel zwischen Revolution und Reaktion 3. Fatalistischer Fortschrittsprozeß zwischen Revolution und Reaktion: Selbstversicherung demokratischer Revolutionserwartungen 4. Rückblick und Ausblick - Ende der Revolution?

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SCHLUSSBETRACHTUNG:

Zeit der Revolution! - Revolution der Zeit?

353

Quellen-und Literaturverzeichnis 1. Zeitschriften 2. Zeitungen 3. Quelleneditionen 4. Briefe, monographische und sonstige Quellen 5. Literatur

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Register 1. Personenregister 2. Sach- und Ortsregister

389 389 392

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Vorwort Dies ist die leicht gekürzte und veränderte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 1997/98 von der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen angenommen wurde. Wer sich in einer solchen Arbeit mit den revolutionären Zeiterfahrungen einzelner politischer Strömungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigt, gerät in die Gefahr, angesichts eines sperrigen Untersuchungsgegenstandes selber in den Malstrom der Zeit zu geraten und sich in ihm zu verlieren. Daß diese Studie dennoch in einen mehr oder weniger kontinuierlichen und beherrschbaren Fortschrittsprozeß mit Anfang und (vorläufigem) Ende eingespannt blieb, habe ich auch denjenigen zu verdanken, die während der letzten Jahre meine individuelle Eigenzeit immer wieder in eine soziale Systemzeit zu integrieren vermochten, mir Hilfestellungen und Anregungen aller Art gaben. An erster Stelle möchte ich hier Prof Dr. Dieter Langewiesche für seine kompetente und kritische Betreuung sowie überdurchschnittliche und unkonventionelle Hilfsbereitschaft danken. Unermüdlich versuchte er mir nahezubringen, mit methodischen Skrupeln nicht zu »philosophisch«, sondern pragmatischer umzugehen. Für das präzise Korrekturlesen der verschiedenen Stufen des Manuskripts und für zahlreiche Anmerkungen in Gesprächen geht außerdem mein Dank an Prof Dr. Hans-Peter Ulimann, Niko Buschmann, an den Archivarius Dr. Robert Meier, an Hiltrud und Regina Wimmer und nicht zuletzt an die unbestechliche rote Feder des Andenforschers Otto A. Danwerth. Mathias Metz half mir immer dann, wenn meine Kenntnisse des PC-Universums an ihre Grenzen stießen. Prof. Dr. Otthein Rammstedt stellte mir freundlicherweise einige unveröffentlichte Manuskripte aus den siebziger Jahren zum Thema »Zeit und Revolution« zur Verfügung. Prof. Dr. Karl Heinz Bohrer hatte großzügigerweise keine Bedenken gegenüber meinem Titel, der kontingenterweise der Überschrift eines früheren Aufsatzes Bohrers über Zeiterfahrungen bei Friedrich Schlegel und Heinrich Heine ähnelt. Den Angestellten der Universitätsbibliotheken Tübingen, Stuttgart, Freiburg, Frankfurt/M., Hamburg und Berlin sowie des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung sei herzlich gedankt, daß sie mich geduldig und protestarm mit zahllosen Zeitschriften- und Zeitungsbänden belieferten. Maike Röttger, Andreas Schütte, Torben Freund und Martin Danwerth gewährten mir derweil Unterschlupf und bemühten sich erfolgreich, daß mir die Zeit nicht zu lang wurde. 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Ein von störenden Verpflichtungen freies Denken gewährte mir ein Stipendium der Graduiertenförderung des Landes Baden-Württemberg, und damit viel selbstbestimmte Zeit. Großzügig übernahm die VG-Wort einen großen Anteil des Druckkostenzuschusses. Die Herausgeber der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« boten mir dankenswerterweise eine Aufnahme in dieser Reihe an. Gewidmet sei diese Arbeit zum einen meinen Eltern, die mich zeit meines Studiums und weit darüber hinaus mit menschlicher Anteilnahme, fachlichem Interesse und finanzieller Unterstützung begleiteten; zum anderen meiner Frau Regina, die mich mit dieser Arbeit im Kopf kennenlernte, dennoch liebevoll zu mir stand, mir Auszeiten ermöglichte und mit mir nun gemeinsam Wege jenseits von »Zeit und Revolution« gehen wird. Arzbach/Westerwald, Dezember 1998

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E.WB.

»Was ist also die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.«1

Einleitung 1. ›Zeit‹ und ›Revolution‹ in erfahrungsgeschichtlicher Perspektive Als Barthold Georg Niebuhr 1829 seine Vorlesungen über »Die Geschichte des Zeitalters der Revolution« hielt, charakterisierte er seine Zeit folgendermaßen: »Vieles trug dazu bei, alles zu beschleunigen; selbst die Entfernung von einem Ort zum andern wurde verringert durch Wegebau, regelmäßige Einrichtung des Postenlaufs u. s. w; alles stand immer mehr dem Einzelnen zu Gebote.... Man fing auch an geschwinder und intensiver als früher zu leben; das aber war zur Zeit der Revolution erst im werden und hat sich hauptsächlich erst seitdem entwickelt.«2 Aus dem Rückblick heraus wird die Französische Revolution zu einem epochalen Einschnitt stilisiert, mit dem neue Zeiterfahrungen einhergingen, die sich bis zur Gegenwart permanent fortgepflanzt und immer schärfer profiliert hätten. In der fortdauernden Revolutionsentwicklung seit 1789, die Niebuhr zum »Zeitalter der Revolution« zusammenfaßt, habe die Zeit ihr gleichförmiges Maß verloren und beschleunige sich zusehends in Umwelt und Lebensführung des einzelnen; und gerade diese Beschleunigung zeige, wie die Geschichte in den Verfugungsraum des Menschen gerückt sei. Neuartige Zeiterfahrungen im Anschluß an die Französische Revolution Niebuhr bringt hier in wenigen Zeilen Erfahrungen zum Ausdruck, die zum Signum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören. Die sechs Jahrzehnte zwischen 1789 und 1849 konfrontierten die Zeitgenossen mittelbar oder unmittelbar mit Revolutionen, zudem mit Krieg und Besatzung in der napoleonischen Ära. Sie hatten sich mit der revolutionären Dynamik des frühen Nationalismus auseinanderzusetzen, mit Fortschritt, Stagnation und Regression des 1 Augustinus, Confessiones XI n. 17, in: Flasch, S. 251. 2 Niebuhr, S. 54 f.

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politischen und sozialen Lebens. Diese Bewegungskräfte provozierten eine veränderte Wahrnehmung von ›Zeit‹, mit der ein einschneidender Wandel in der Ortsbestimmung der politischen Strömungen einherging. Auf diese Weise kristallisierten sich politische Deutungsmuster über Zeiterfahrungen im Kontext von Revolutionen heraus. Begriffsgeschichtlich hat sich mit dem Phänomen von Zeiterfahrungen im Revolutionskontext vor allem Reinhart Koselleck seit den sechziger Jahren auseinandergesetzt. Sein Konzept einer Begriffsgeschichte geht von dem Grundgedanken aus, daß die Welt den Menschen in Sprache ausgelegt wird: »Die Begriffsgeschichte hat die Konvergenz von Begriff und Geschichte zum Thema«, jedoch ohne einer Identität das Wort zu reden.3 Vielmehr werde der »naive Zirkelschluß vom Wort auf den Sachverhalt und zurück« durchbrochen und das Spannungsverhältnis zwischen beiden herausgearbeitet. Indem die Begriffsgeschichte den Zusammenhang von Begriff und Wirklichkeit reflektiert bzw. die Differenz von gesellschaftlicher Realität und ihrer sprachlichen Artikulation hervorhebt, leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag für die Sozialgeschichte. Sozial- und Begriffsgeschichte bleiben in der Thematisierung von diachronen Strukurveränderungen und synchronen Ereignissen (Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen) aufeinander verwiesen; deckungsgleich sind sie nicht, da sich Wirklichkeit und Begriffe unterschiedlich schnell wandeln.4 Begriffsgeschichte als ein »methodisch eigenständiger Teil sozialhistorischer Forschung«5 verfolgt den langfristigen Bedeutungswandel von zentralen ›Schlüsselbegriffen‹, in die eine Fülle politisch-sozialer Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhänge eingeht. Sie untersucht in diachroner Perspektive den Zusammenbruch der alten und den Beginn der modernen Welt in dem Prozeß der begrifflichen Erfassung. Dahinter steht die heuristische Grundannahme eines sich seit etwa 1770 vollziehenden fundamentalen Bedeutungswandels klassischer Topoi. Begriffe bekommen neuartige Sinngehalte, die den Bedeutungen unserer gegenwärtigen Sprache immer näherrücken und nicht mehr übersetzt werden müssen. Kosellecks Begriff der ›Sattelzeit‹ für diese Schwellenphase hat sich in der Geschichtswissenschaft und darüber hinaus eingebürgert; in ihm dokumentiere sich eine neue Welterfassung, »ein sich änderndes Verhältnis zu Natur und Geschichte, zur Welt und zur Zeit«, das die gesamte Sprache durchziehe.6 3 Auch im folgenden Brunner u. a., Bd, l, S.XXIIl· 4 Vgl. zum Verhältnis von Sozial- und Begriffsgeschichte Koselleck, Sozialgeschichte und BeerifFsceschichte. 5 Ders., Vergangene Zukunft, S. 124. 6 Brunner u. a., Bd. 1, S. XV. Vier Kriterien sprechen für diesen auf den Begriff gebrachten Erfahrungswandel: die Demokratisierung des politischen Sprachgebrauchs durch eine Ausweitung des öffentlichen Diskurses; die »Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungsgehalte«, die prozessuale Sinngehalte und Erfahrungen zusammenfassen; die Ideologisierbarkeit vieler Ausdrücke und die Steigerung ihres Abstraktionsgrades, was zu einer Anhäufung von »Kollektivsingularen« fuhrt;

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Eine besonders ertragreiche und breit rezipierte Durchfuhrung des begriffsgeschichtlichen Vorhabens findet sich in Kosellecks Studien zum Revolutionsbegriff.7 In kaum einen Terminus ging der neuzeitliche Erfahrungswandel so deutlich, aber auch so heterogen ein wie in den Kollektivsingular ›Revolution‹, in dessen schlagwortartiger Ubiquität sich politische und wissenschaftliche, ökonomische und technische, soziale und kulturelle Veränderungen bündelten. Die Gleichsetzung mit ›Fortschritt‹ und ›Zukunft‹ machten ihn zu einem neuzeitlichen Bewegungsbegriff, der je nach Standpunkt für Modernität oder auch irrationale Gewaltsamkeit stehen konnte. ›Revolution‹ in seiner politischen Bedeutung ist eine Schöpfung der Neuzeit. Die klassische Antike hingegen kannte keinen entsprechenden Terminus, sondern sprach von Bürgerkriegen, Aufständen oder der Abfolge von Verfassungsformen in einem Kreislaufmodell. Jeder politische Umschlag führte demnach nur wieder zu schon bekannten Staatsformen und vermochte nichts prinzipiell Neues in die politische Welt einzubringen. Der erst in der christlichen Spätantike auftauchende Revolutionsbegriff bedeutete nun ebenfalls ein In-sich-selber-Kreisen, wurde jedoch nicht politisch, sondern noch bis Kopernikus entsprechend dem zyklischen Sternenumlauf naturaliter verwendet. Das späte Mittelalter übertrug den Terminus ›Revolution‹, gedeutet als natürlichen Zyklus, zunehmend auf den politischen Bereich: »Die naturale Metaphorik der politischen ›Revolution‹ lebte von der Voraussetzung, daß auch die geschichtliche Zeit immer von gleicher Qualität, in sich geschlossen, wiederholbar sei.«8 Die erwartete Zukunft leitete sich von Faktoren der Vergangenheit ab und implizierte einen gleichbleibenden Verlauf Der Gang der Geschichte diente als Beispielsammlung und Lehrmeister für die politische Praxis, da er sich in bestimmten Konstellationen immer wiederholte. Politische Neuerungen blieben in diesem »transhistorischen Revolutionsbegriff« aufgehoben. Mit der zunehmenden Politisierung des Revolutionsbegriffs seit dem 16. Jahrhundert verlor der Rückkehrgedanke seine Bedeutung; Geschichte und Natur traten auseinander, und Revolutionen konkretisierten sich anhand einzelner Staatsveränderungen. Insbesondere die französische Rezeption der englischen Glorious Revolution wies schon zentrale Merkmale eines modernen Revolutionsverständnisses auf, das Veränderungen nicht mehr als zyklische Wiederkehr, sondern als unumkehrbare Entwicklung begriff, die politische und schließlich die Potenzierung der »Standortbezogenheit jeglichen Wortgebrauchs«, die eine verstärkte Politisierung der Begriffe bedeutet und für die jeweiligen Zukunftsentwürfe in Dienst genommen wird (vgl. ebd., S. XVI ff.). 7 Vgl. auch im folgenden die einschlägigen Schriften von Reinhart Koselleck zum Revolutionsbegriff, insbesondere Koselleck, Revolution, Rebellion, S. 653-788; ders., Vergangene Zukunft, insbesondere S. 67-86; ein Konzentrat seiner Thesen außerdem in ders., Revolution als Begriff; grundlegend für die Thematik immer noch Griewank; außerdem Th. Schieder, Revolution und Gesellschaft; Bender; zudem der Sammelband von Reinalter. 8 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 72.

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Parteinahme erzwang. Mit der Aufklärung setzte sich dieser Trend fort, so daß schon vor 1789 alle wichtigen Komponenten des modernen Revolutionsbegriffs wenigstens ansatzweise formuliert waren.9 Aber erst die Französische Revolution rückte das neue Revolutionsverständnis in den Horizont des bewußten Erlebens: »Der Revolutionsbegriff ist neuzeitlich. ... Der Begriff, wie er heute verstanden und verwendet wird, ist strenggenommen erst seit der Französischen Revolution üblich geworden. Seitdem sind bestimmte Erfahrungen von einem Grundbegriff zusammengefaßt worden, die einzeln auch schon vorher unter ›Revolution‹ begriffen, aber in ihrer Vielfalt und Komplexität erst seit 1789 gebündelt wurden.« 10

In diesen Kollektivsingular ›Revolution‹ ging seit 1789 eine Vielzahl von Erfahrungen ein, in denen sich eine spezifische Zeitqualität offenbarte. ›Zeit‹ war nicht mehr allein die äußere Form, in der sich Geschichte abspielte, sondern gewann eine selbständige geschichtliche Qualität, wurde zur geschichtskonstituierenden Größe. Als Bewegungsbegriff zielte ›Revolution‹ jetzt auf einen zeitlich unumkehrbaren Prozeß. Fünf verschiedene Dimensionen neuartiger Zeiterfahrungen lassen sich aus Kosellecks Analyse des Revolutionsbegriffs herausdestillieren: Erstens schienen die Ereignisse von 1789 alle bisherigen Erfahrungen zu überholen; Vergangenheit und Zukunft ließen sich nicht mehr zur Deckung bringen. Die Gegenwart begann bei Null und leitete eine »neueste Zeit« ein. Eine Revolution stand nun für einen entschiedenen Bruch mit der Vergangenheit und wurde zu einem unumkehrbaren »geschichtsphilosophischen Perspektivbegriff«, auf den Bezug genommen wurde und an dem sich künftiges Handeln zu messen hatte.11 Ein revolutionärer Epochenbruch schloß jede berechenbare Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit der Geschichte als Lehrmeisterin aus und drehte den Topos ›historia magistra vitae‹ um: »Nicht mehr aus der Vergangenheit, nur aus der selbst zu schaffenden Zukunft läßt sich Rat erhoffen.«12 9 Vgl. in: Reinalter, S. 53-66. 10 Koselleck, Revolution, Rebellion, S. 653. 11 Ebd., S. 78. 12 Ebd., S. 62. Hingegen hält Eckhard Keßler den Topos für eine anthropologische Tatsache, die nicht zu überwinden sei: »Da nun der aktive und der passive Aspekt dieser Beziehung zwischen Geschichte auf der einen und Gegenwart und Zukunft auf der anderen Seite in Wechselbeziehungen stehen, also niemals nur der eine oder nur der andere Aspekt wirksam werden kann, muß notwendigjede Geschichte Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung strukturieren, und das heißt, den Menschen, über sich hinausweisend, belehren. Es ist daher die dieser Wechselbeziehung zugrundeliegende anthropologische Tatsache, daß der Mensch Geschichte immer als Teil seiner zwischen Vergangenheit und Zukunft ausgespannten historischen Realität besitzt, die das Ergebnis der historischen Untersuchung, daß Geschichte, wie immer sie auch verstanden wurde, eine Lehrfunktion hatte, nun auch systematisch begründet. ... Es kann keine Geschichte geben, die nicht über Gegenwart und Zukunft belehrt.« (Keßler, S. 27 f.); vgl. auch Landfester. Vorliegende Untersuchung wird u. a. die Rehabilitierung des Topos historisch begründen.

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Damit hängt zweitens zusammen, daß sich der Erfahrungsraum, der als gegenwärtige Vergangenheit das eigene Verhalten an erfüllten oder verfehlten Möglichkeiten ausrichtet, und der Erwartungshorizont, der als präsente Zukunft auf das Noch-Nicht zielt, durch das epochale Ereignis der Französischen Revolution voneinander lösten. Der gemachte Erfahrungsgewinn gab neue Erwartungshorizonte frei, die wiederum reflexiv den Erinnerungshaushalt verändern konnten. Diese Dialektik von gegenwärtiger Vergangenheit und vorgestellter Zukunft dokumentiert die zeitliche Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft in einer dynamisierten Gegenwart und begründet historische Zeit. Weitreichende Erwartungshaltungen kompensierten den abnehmenden Gehalt der Vergangenheit und setzten ein utopisches Überschußpotential frei. Dieses machte ein offener Fortschrittsbegriff faßbar, der die zeitliche Struktur der Moderne prägte.13 Drittens führte die Explosion von Ereignissen seit 1789 zu einer beschleunigten Fortschrittserfahrung, der sich der einzelne ausgesetzt fand. Die Gegenwart war nicht mehr als Gegenwart erfahrbar, sondern entlief ständig in die Zukunft und gab neue Perspektiven frei, die den Revolutionsbegriff wiederum imprägnierten. Das spannungsvolle Erlebnis der chronologischen Gleichzeitigkeit unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungsstufen forderte ihrerseits auch zum progressiven Vergleich und zum beschleunigten Ausgleich des ›Rückstandes‹ heraus. Mit Hilfe von Revolutionen sollte die Zukunft akzeleriert herbeigeführt und die weitere Entwicklung an die eigene Planung rückgebunden werden. Eine Revolution löste also einerseits eine Zeitbeschleunigung aus, forderte diese aber andererseits von den ›Zurückgebliebenen‹. Konnte Geschichte mittels Revolutionen beschleunigt werden, kam dies viertens einem Verzicht auf eine außergeschichtliche Instanz gleich. Die erkannte Geschichte blieb an den Menschen gebunden. ›Zeit‹ wurde für das menschliche Handeln verfügbar; ›Revolution‹ bekam eine appellative Funktion als ideologischer Kampfbegriff, in den alle nicht erfüllten Hoffnungen eingingen. Gleichzeitig wuchs aber mit der Machbarkeit auch die Eigenmacht der Geschichte, nämlich aufgrund der Zersetzung des traditionellen Erfahrungsraumes, der bislang die Geschichte bestimmt hatte. Eine Revolution konnte zum eigenmächtigen Handlungssubjekt werden, das seine Zielerfullung erzwang und diese auf die Zukunft hin legitimierte. Machbare ›Reform‹ und selbstläufige ›Evolution‹ waren die jeweiligen Gegenbegriffe für diese Doppelbedeutung von ›Revolution‹.14

13 Vgl. hierzu Koselleck, Fortschritt, S. 371-423; zu den historischen Kategorien ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ vgl. ders., Vergangene Zukunft, S. 349-375. 14 Vgl. Koselleck, Revolution, Rebellion, S. 736 f., 751.

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Schließlich wurden zwei parallele Erfahrungsbereiche im modernen Revo lutionsbegriffzusammengeiuhrt: auf der einen Seite der gewaltsame Aufstand, Bürgerkrieg oder Staatsstreich als punktuelles Ereignis für einen diskontinuierlichen politischen Bruch; auf der anderen Seite der langfristige Strukturwandel, in dem die Geschichte der Vergangenheit und Zukunft die der permanenten Revolution war. Mit dieser korrespondierte zunehmend das Bedeutungsfeld des Terminus ›Krise‹ als Dauerbegrifffur Geschichte schlechthin; ›Revolution‹ entwickelte sich zur krisenhaften Übergangszeit.15 Epochenbrucherfahrung und Auseinanderdriften von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, die Möglichkeit der Beschleunigung und Machbarkeit von ›Zeit‹ sowie die Wahrnehmung einer Revolution in Permanenz - diese Zeiterfahrungen bündeln sich im Revolutionsbegriffund schneiden ihn auch auf die vorliegende Untersuchung zu. Der begriffsgeschichtliche Zugang Kosellecks aus den sechziger Jahren muß jedoch kritisch in die neuere mentalitätsund kulturgeschichtliche Diskussion eingebettet und modifiziert werden.16 Mit der strukturalistisch-linguistischen Wende in der Geschichtswissenschaft zeichnete sich eine Tendenz ab, Sprache als ein sich selbst regulierendes System von Zeichen und nicht mehr als passive Trägerin für außersprachliche Bedeutungen zu betrachten. Ohne so weit gehen zu wollen, damit einen Gegenstand der Geschichte zu leugnen, hat diese Deutung von Sprache und Diskurs großen Einfluß auf die französisch- und englischsprachige Geschichtsschreibung ausgeübt.17 In der ›Intellectual History‹ vollzog sich eine Abkehr von hermeneutischer und sozialwissenschaftlicher Deutung von Geschichte und historischer Methode, darüber hinaus eine Rehabilitierung und Neubestimmung der Geistesgeschichte.18 Die Sozialgeschichte erfuhr eine ›kulturtheoretische Wende‹, indem sie die Ebene der Wahrnehmungen und Deutungen in ihrem symbolischen Ausdruck durch Texte, Bilder oder Rituale miteinbezog.19 Schon die jüngere Annales-Generation der sechziger Jahre thematisierte eine ›dritte Ebene‹, die des Mentalen, und forderte eine Sozialgeschichte der Ideen und Mentalitäten in ihrer diskontinuierlichen Entwicklung anstatt ihrer ›longue durée‹. Sozialwissenschaftliche Textanalysen weiteten auch in Deutschland, wo die mentalitäts- und sprachorientierten Anregungen aus Frankreich nur zögerlich aufgenommen wurden,20 das Interesse auf die Alltagsgeschichte aus. 15 Vgl. zum Krisenbegriff Koselleck, Krise, S. 624-650; zur »permanenten Revolution« aus soziologischer Sicht vgl. die Arbeit von Tetsch. 16 Vgl. aus der Fülle der Literatur als Einstieg den Sammelband von HardtuHg u. Wehler. 17 Vgl. zur Rezeption Schöttier, Sozialgeschichtliches Paradigma, S. 164 ff. 18 Vgl. den Sammelband von La Capra u. Kaplan; vgl. außerdem Whites Theorie der historiographischen Sprachbilder, die den historischen Text als literarisches Kunstwerk interpretiert. 19 Vgl. Sieder, S. 448 f. 20 Zu den Gründen vgl. Schöttkr, Soziaigeschichtliches Paradigma, S. 172 f., 175 ff.; Sellin, S. 112 f.

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Auf die verschiedenen Richtungen der diskursorientierten Geschichtsschreibung kann hier ebensowenig eingegangen werden wie auf ihre spezifischen Probleme.21 Wichtig in der Debatte ist die Positionsbestimmung gegenüber der Sozialgeschichte und das Bemühen, einer kulturalistischen oder revitalisierten geistesgeschichtlichen Verengung zu entgehen.22 So ambitioniert und reflektiert der sprachorientierte Ansatz Kosellecks auch das Verhältnis zur Sozialgeschichte theoretisch bestimmt, in der Durchführung bleibt er letztlich in ideengeschichtlichen Traditionen verwurzelt. Seine Belege beschränken sich vor allem auf philosophische und literarische Spitzenzitate. Die diachrone Betrachtungsweise verfolgt zu eindimensional Ersterwähnungen von isolierten und herausragenden ›Schlüsselbegriffen‹ sowie lange Entwicklungslinien, statt das Augenmerk auch in synchroner Absicht auf das diskursive Umfeld zu richten.23 Die Begriffsgeschichte arbeitet weitgehend ohne sozial- und politikgeschichtliche Zuordnung ihrer Belege zu einem spezifisch historischen Kontext, sondern bedient sich unsystematisch aus dem Zettelkasten langer Zeiträume, um den vorausgesetzten Bedeutungswandel von Begriffen zu belegen. Demgegenüber verfolgt meine Untersuchung Zeiterfahrungen systematisch innerhalb einzelner Zeitabschnitte, in denen die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Revolution eine zentrale Rolle spielte. Zudem ordnet sie vor diesem Hintergrund Zeiterfahrungen sozialräumlich den sich herausbildenden politischen Strömungen in den einzelnen politischen Landschaften zu. Erfahrungen von ›Zeit‹ werden im Revolutionsdiskurs anhand einer breitgefächerten politischen Publizistik herausgearbeitet, die diesen Strömungen nahesteht. Politische Deutungsmuster von der Revolution können so über den Zeitbegriffdifferenziert dargestellt und interpretiert werden. Die sozial- und politikgeschichtliche Verortung von öffentlich kommunizierten revolutionären Zeiterfahrungen geht also über den punktuellen und ideengeschichtlichen Ansatz der Begriffsgeschichte hinaus. Sie huldigt weder einem freischwebenden Kulturalismus, der die Differenz zwischen tradierten Texten und geschichtlichen Tätigkeiten und Handlungsbedingungen negiert, noch einer naiven Abbildtheorie, die Sprache als passive Bedeutungsträgerin von Welt versteht. Vielmehr steht hinter dem hier verfolgten Konzept ein Erfahrungsbegriff, der sich aus einem dialektischen Verhältnis zwischen handelndem Subjekt und sozialer Wirklichkeit speist. Aus wissenssoziologischer Perspektive konstituiert sich die soziale Welt zum einen aus den subjektiven 21 Vgl. Iggers, S. 562 ff.; Schöttier, Sozialgeschichtiiches Paradigma, S. 167 ff. 22 Vgl. z. B. Schöttier, Sozialgeschichtliches Paradigma;ders., Mentalitäten, Ideologien, Diskurse; außerdem Sieder. 23 Vgl zur Kritik an Koselleck Schöttler, Sozialgeschichtliches Paradigma, S. 173 ff; zum Ertrag der Begriffsgeschichte für eine empirische Sozialgeschichte vgl. kritisch Berding, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 109 f.

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Erfahrungen ihrer Akteure, die in einem fortlaufenden Verarbeitungsprozeß Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen koordinieren. Zum anderen erfährt diese akteurszentrierte Erfahrung von Wirklichkeit eine gesellschaftliche Dimension und Begrenzung in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Handeln und sozialen Rollen, Institutionen und Traditionen, Symbolen und Sprache. Erfahrung übernimmt auf diese Weise die soziale Welt als eine ihr vorgelagerte strukturelle Ordnung, bringt diese aber aufgrund ihrer Aneignung auch wiederum neu hervor, reproduziert und modifiziert sie: »Wissen über die Gesellschaft ist demnach Verwirklichung im doppelten Sinne des Wortes: Erfassung der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit.«24 Erfahrung befindet sich durch diese doppelte Wirklichkeitskonstruktion - einem Wechselspiel zwischen Externalisierung, Objektivation und Internalisierung - in einem Spannungsverhältnis zwischen subjektivem Erleben und sozial objektivierten Deutungskategorien. Anstelle einer teleologischen Meta-Erzählung der einen Geschichte tritt ein entwicklungsoffener Pluralismus von zeit- und standortgebundenen Wirklichkeiten in ihrer Beziehung zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die individuelle und kollektive Wahrnehmungen filtern.25 Erfahrungen wohnt zudem ein aktives Moment inne, wenn sie als Erwartungen auf ein in die Zukunft entworfenes Ziel zulaufen und zum Handeln herausfordern.26 In Erfahrungsprozessen werden sowohl Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen als auch die je vorgefundenen Handlungsbedingungen aufgenommen und verarbeitet. Sprachliche Kommunikation steht an der Schnittstelle zwischen handelndem Subjekt und Gesellschaft: »Vor allem anderen ist die Alltagswelt Leben mit und mittels der Sprache, die ich mit den Mitmenschen gemein habe. Das Verständnis des Phänomens der Sprache ist also entscheidend für das Verständnis der Wirklichkeit«. Sprache typisiert, entpersönlicht und materialisiert subjektive Erfahrungen und subsumiert sie »ständig unter allgemeine Sinnordnungen, die objektiv und subjektiv wirklich sind«.27 Ein objektiv zugängliches Zeichensystem wie die Sprache gibt also den Rahmen vor, um individuelle und kollektive Erfahrungen bewußt und kommunikativ zu machen. Sie bietet den primären Zugangsrahmen zu einer Erfahrungsgeschichte. Die kollektiv verfestigten sprachlichen Deutungsmuster reflektieren soziale und politische Zustände und weisen über sie hinaus. Sprache als Trägerin von Erfahrungen bietet somit die Möglichkeit, auf indirektem

24 Berger u. Luckmann, S. 71. 25 Vgl. Sieder, S. 466. 26 Vgl. Luckmann, Theorie des sozialen Handelns, S. 48 ff.; den., Lebensweltliche Zeitkategorien, S. 15; Luhmann, Zeit und Handlung, S. 65; zum praxeologischen Ansatz Pierre Bourdieus vgl. Sieder, S. 447 f. 27 Berger u. Luckmann, S. 39, 41.

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Wege kollektiven Einstellungen nachzuspüren.28 Deshalb werden in vorliegender Studie kommunikative Praktiken untersucht, die über Publizistik Öffentlichkeit bzw. Politik konstituieren, gleichzeitig von diesem öffentlichen Raum aber auch determiniert werden und auf ihn reagieren. Statt sich ausschließlich auf diachrone Einzelwortbetrachtungen zu konzentrieren, muß daher auch das semantische Umfeld berücksichtigt werden, in dem der Revolutionsbegriff steht - vor allem im Zusammenhang mit Äußerungen, in denen Zeitwahrnehmungen thematisiert werden.29 Erfahrung konstituiert sich über Zeit. In sinnhafte Erfahrungen geht der eigene und fremde Erfahrungsraum als vorgeprägte und erinnerte Vergangenheit ebenso ein wie eine antizipierte Zukunft, die den Erwartungshorizont bestimmt: »Jede gegenwärtige Erfahrung steht in einem Erfahrungszusammenhang, der sich aus vergangenen, schon abgeschlossenen Erfahrungen und aus grundsätzlich offenen ... Erwartungen zukünftiger Erfahrungen zusammensetzt.«30 Gegenwärtige Erfahrungen haben sich permanent an erinnerten Vergangenheiten, Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen abzuarbeiten. Im Korsett von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont erweisen sich Erfahrungen als grundsätzlich wandelbar, so wie umgekehrt gegenwärtige Erfahrungen auch Erinnerungen und Erwartungen umdeuten können. Diese zeitliche Struktur gegenwärtiger Erfahrung mit ihren eingelagerten Erinnerungen und Erwartungen gehört als »innere« Zeit31 dem subjektiven Erfahrungshaushalt an und soll in dieser Untersuchung in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt werden, denn »nur in dieser ihrer zeitlichen Strukturiertheit erhält die Alltagswelt für mich den Akzent der Wirklichkeit«.32 Denjenigen subjektiven Zeiterfahrungen ist nachzugehen, die von der politischen und sozialen Umwelt determiniert werden und diese gleichzeitig reproduzieren und verändern. Soziale Zeit begreift sich als eine bewußtseinsmäßige, symbolische Konstruktion und Darstellung der realzeitlich geordneten Ereignisse und ist variabel.33 Die gleichmäßige ontologische Zeitstruktur wird relativiert und aufgespalten in viele soziale Zeiten und wird zur Interpretationskategorie von 28 Vgl. zur Begriffsgeschichte als einer Analyse gesellschaftlich kommunizierter Deutungsmuster Bollenbeck, S. 19 ff. 29 Einer formalen lexikologischen und semantischen Feldforschung mit Hilfe statistischer Methoden soll hier freilich nicht das Wort geredet werden. Vgl. dazu Schöttier, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse, S. 103 ff. 30 Luckmann, Lebensweltliche Zeitkateeorien, S. 19. 31 Ders., Theorie des sozialen Handelns, S. 53 f. 32 Berger u. Luckmann, S. 31. 33 Nicht zu verfolgen ist die abstrakte soziale Zeitstandardisierung mittels eines gesellschaftlich etablierten Kalenders, um intersubjektives Handeln zu synchronisieren, da die Kalenderreform nach der Französischen Revolution eine temporäre Erscheinung war und in Deutschland nur begrenzt rezipiert wurde. Zum französischen Revolutionskalender vgl. Meinzer, Revolutionskalender und »Neue Zeit«; ders., Revolutionskalender.

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Welt.34 Eine Gesellschaft zerfällt, so Maurice Halbwachs in seiner sozialpsychologischen Begründung eines ›Kollektiven Gedächtnisses‹, »in eine Vielzahl von Gruppen, von denen jede ihre eigene Zeitdauer hat«, die es dem Gedächtnis erlaubt, »mehr oder weniger weit in das zurückzugehen, was man die Vergangenheit zu nennen übereingekommen ist«.35 Was für den Blick zurück gilt, hat auch Bedeutung für die jeweiligen Zukunftsvorstellungen als Möglichkeitshorizonte für kollektives und individuelles Handeln. Zum einen wirkt die Einschätzung der Zukunft auf die Bestimmung gegenwärtiger Handlungsdispositionen, zum anderen kann sie auch rückwirkend das Bild der Vergangenheit verändern.36 Vergangenheits- und Zukunftshorizonte fungieren in unterschiedlicher Gewichtung als Verweisungszusammenhänge für gegenwärtige Orientierung. Die ansonsten »theoretisch amorph«37 wirkende Zeitkategorie erhält durch ihre soziale Verortung in einen Revolutionskontext Gestalt. Unter der spezifischen Fragestellung, wie sich Zeiterfahrungen einzelner politischer Strömungen in revolutionären Umbruchprozessen formieren, werden diese Erfahrungen bedeutungsvoll für das Revolutionsverständnis. Sprachlich verfaßte Zeiterfahrungen als Schnittstelle zwischen Akteur und Gesellschaft sind ein Schlüssel, um Erfahrungen und Deutungen von ›Revolution‹ transparent zu machen und aus dem begriffsgeschichtlichen Gehäuse zu führen. Die temporalen Strukturierungsleistungen der Zeitgenossen vermögen Widersprüchlichkeiten, Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten in der Revolutionswahrnehmung offenzulegen.38 Ziel dieser Arbeit ist es daher, die bewußtseinsabhängigen und sich in spezifischen Kombinationsmustern niederschlagenden Zeiterfahrungen an die Kommunikationspraxis einzelner politischer Strömungen rückzubinden, die sich mit sozialen und politischen Wandlungsprozessen zwischen 1789 und 1849 auseinandersetzten. Insbesondere Revolutionen, verdichtete Krisenzeiten und auch die revolutionäre Stoßkraft des Nationalismus beeinflußten das Gefüge des Zeitbewußtseins; dieses fungierte wiederum als Orientierungs- und Strukturierungsmittel zur Bewältigung und zum Verstehen historischer Umbrüche und löste Handlungserwartungen aus. Die Unter34 Schon vor 60 Jahren resümierten Sorokin und Merton in einem grundlegenden Aufsatz über die sozialen Zeitsysteme einzelner Kulturkreise und Religionsgemeinschaften: »Summing up, we may say that thus far our investigation has disclosed the facts that social time, in contrast to time of astronomy, is qualitative and not purely quantitative; that these qualities derive from the beliefs and customs common to the group and that they serve further to reveal the rhythms, pulsations, and beats of the societies in which they are found.« (Sorokin u. Merton, S. 623). 35 Halbwachs, S. 122 f. 36 Vgl. Höbcher, Weltgericht, S. 12 ff.; Luckmann, Theorie des sozialen Handels, S. 48 ff.; Noack. 37 Dies der Vorwurf von Lepsius gegen eine Theorie der geschichtlichen Zeiten (vgl. Lepsius, Bemerkungen, S. 60). 38 Die dialektische Verschlungenheit von Stabilität und Dynamik, System und Wandel in sozialen Systemen betont Waldmann, S. 686-703.

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suchung nimmt an, daß sich das revolutionäre Geschehen in dem Zeitempfinden und der Zeitstruktur der einzelnen politischen Strömungen mit ihrer jeweiligen Ideologie, ihrer Programmatik und ihrem sozialen Hintergrund auf verschiedene Weise bemerkbar machte und diese Zeitwahrnehmungen dann wiederum auf die Deutung von Revolutionen zurückwirkten. So scheint es vielversprechend, das Verhältnis politischer Strömungen zur Revolution über Zeiterfahrungen zu bestimmen. Revolutionswahrnehmung, deren Auswirkungen auf das Zeitbewußtsein und Interpretation der revolutionären Wirklichkeit zeigen sich demnach in einem engen Wechselverhältnis. Das Nachspüren von Zeiterfahrungen im revolutionären Kontext besteht also vor dem Hintergrund einer schon von Marx diagnostizierten, von der Wissenssoziologie in nicht-doktrinärer Weise weiterentwickelten Dialektik zwischen struktureller bzw. revolutionärer Wirklichkeit und menschlicher Konstruktion dieser Wirklichkeit, die in ihrem sprachlich verfaßten Zeitbewußtsein Ausdruck findet.39 Indem also Zeitlichkeit, welche Erfahrungen allgemein konstituiert und strukturiert, in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs gestellt wird und sie so Revolutionswahrnehmungen und -deutungen politischen Strömungen zuordnen läßt, wird eine modernisierte Begriffsgeschichte versucht. Kosellecks Kriterien für ein modernes Revolutionsverständnis müssen unter einem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz neu überprüft werden. Die Ergebnisse leisten die notwendige Differenzierung und Modifizierung der begriffsgeschichtlichen Interpretation von ›Zeit‹ und ›Revolution‹, die bislang weit über die Grenzen der Geschichtswissenschaft hinaus positiv rezipiert wurde. Das Zeitalter der Revolutionen spiegelte konkurrierende Zeitmodelle wider, in denen ein politischer Deutungskampf über Revolutionen aufschimmerte. In diesem Geflecht von Zeiterfahrungen werden Kosellecks Mutmaßungen über den Stellenwert einer Sattelzeit aufgebrochen und fragwürdig. Eine Revolution konnte im Gegenteil gerade Kontinuität stiften, um den epochalen Bruch mit der Vergangenheit und den Aufbruch in eine ›neue Zeit‹ erträglicher zu gestalten - ganz im Sinne der ›historia magistra vitae ›.

2. Forschungsüberblick Die Erforschung des Themenkomplexes »Zeiterfahrungen in der Ära der Revolutionen 1789-1849« ist noch weitgehend Terra incognita - abgesehen von den Studien Reinhart Kosellecks. Zwar liegen historische Arbeiten über die Auswirkungen der Französischen Revolution auf Deutschland und über die weitere 39 Vgl. dazu die Schlußfolgerungen für eine Wissenssoziologie und soziologische Theorie von Berger u. Luckmann, S. 197 ff.

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deutsche Entwicklung bis einschließlich der Märzrevolution ad nauseam vor, das Thema ›Zeit‹ im Umfeld der vielfältigen Auseinandersetzungen mit Revolutionen findet hingegen kaum Beachtung.40 Darüber hinaus leidet die soziologische Forschung an einem Dilemma: Aus zeittheoretischer Perspektive wird die Auseinandersetzung mit dem historischen Phänomen der Revolution marginalisiert, während aus revolutionstheoretischer Sicht das Problem der Zeiterfahrungen wiederum kaum Aufmerksamkeit erfährt. Ein vor wenigen Jahren erschienener Sammelband über die »Klassiker der modernen Zeitphilosophie« konnte zu Recht einleitend konstatieren, daß das Zeit-Thema, »das die Wissenschaft und gebildete Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert immer wieder beschäftigte, neue Aktualität gewonnen hat«, und zwar seit etwa Mitte der achtziger Jahre.41 Ein Blick auf die Texte zu den Themenfeldern »Zeiterfahrung und Zeitsprache«, »Der Zeitpfeil der Natur« und »Zeit und Zeitlichkeit« belehrt schnell darüber, daß schon ›unsere modernen Klassiken Zeiterfahrungen nicht im Zusammenhang mit Revolutionen untersuchten. Ähnliches ist für die ältere Geschichte der Zeitphilosophie festzuhalten.42 Und auch in der soziologischen Theoriebildung stößt man schnell an deren Grenze, dann nämlich, wenn die zahlreichen Versuche zum Problem einer sozialen Zeit auf revolutionäre Umbruchsituationen hin gelesen werden sollen. Sie bieten zwar für die Frage nach einer subjektiv-intersubjektiven sozialen Zeit einen wichtigen theoretischen Hintergrund, der aber nicht den Zusammenhang mit Revolutionen berücksichtigt - weder soziologisch noch historisch. Deutlich wird dies in der geistes- und kulturgeschichtlichen Untersuchung über die Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa von Rudolf Wendorff, der das Phänomen einer bewußten Zeit von seinen Ursprüngen im Alten Orient bis ins20.Jahrhundert verfolgt. Zeitbewußtsein interpretiert Wendorffals Ausdruck übernommener Traditionen, aber auch eigener Lebenserfahrungen.43 Die Entstehung des Fortschrittsdenkens in der Aufklärung sei als Vorstufe für das »Zeitexperiment« der Französischen Revolution zu charakterisieren, das sich aus drei Voraussetzungen speise: der linearen Gerichtetheit des historischen Verlaufs, der Aufwertung der Kategorie ›Zukunft‹ sowie der Betonung der menschlichen Fähigkeiten und sittlichen Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich eines vorwärtsweisenden Zeithorizonts. Wendorff bleibt mit diesen Bestimmungen weit hinter der Differenziertheit Kosellecks zurück und behan-

40 Vgl. einleitend und mit ausführlicher Bibliographie Fehrenbach, Ancien Régime; Langewiesche, Europa; weitere Literatur unten. 41 Zimmerii u. Sandbothe; vgl. außerdem Gimmkr u. a.; Achtner u.a.; Sandbothe. 42 Vgl. z. B. die Darstellung von Gent. Dies gilt auch für das Zeitproblem in der Philosophie der deutschen Romantik, die um die Jahrhundertwende ein hohes Reflexionsmaß erreichte; vgl. dazu Frank, Zeitbewußtsein; ders., Problem der Zeit; Bohrer, Das absolute Präsenz, S. 8-31. 43 Vgl. Wendorff, S. 10.

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delt in dem kurzen Abschnitt über die Französische Revolution lediglich die Bedeutung des Revolutionskalenders.44 Norbert Elias analysiert in seiner wissenssoziologischen Studie »Über die Zeit« den Symbolcharakter von Zeitbestimmungen.45 Insbesondere die Kalenderzeit gilt ihm als »bewegliches soziales Symbol«, das informierend und regulierend »in den Kommunikationskreislauf menschlicher Gesellschaften eingeschaltet ist«. Sie manifestiere die Einbettung des einzelnen Menschen in eine soziale Welt, stifte Beziehungen zwischen den »Positionen im Nacheinander des physikalischen Naturgeschehens, des Gesellschaftsgeschehens und des individuellen Lebenslaufs« und gebe damit ein Orientierungsmittel an die Hand. Je nach den Anforderungen der Gegenwart an die Gesellschaft der Individuen bilde sich eine bestimmte Zeitauffassung heraus. Die Erfahrung eines gleichförmigen Zeitflusses sei keine anthropologische Konstante, sondern vielmehr das Ergebnis eines strukturierten Zivilisationsprozesses. Wie sich revolutionäre Krisenzeiten auf soziale Zeiterfahrungen außerhalb chronologischer Systeme auswirken und den linearen Zeitfluß beeinflussen, untersucht Elias hingegen nicht. In Anlehnung an Niklas Luhmann arbeitet Werner Bergmann die Interpretationskategorie ›Zeit‹ systematisch in eine soziologische Systemtheorie ein. Dabei bestimmt er ihre variantenreichen Funktionen zwischen bewußtseinsmäßiger Darstellung von Welt, intersubjektiver Verständigung, sozialer Strukturierung, Einheitsstiftung für gegenwärtiges Handeln und schließlich einer von systemspezifischen Zeiterfahrungen unabhängigen Weltzeit.46 Der Anschluß dieser systemtheoretischen Dimensionen von ›Zeit‹ an Revolutionen liegt freilich nicht im Horizont dieser Untersuchung. So wird auch bei weiterer Durchsicht soziologischer Zeittheorien offensichtlich, daß sie Zeiterfahrungen im revolutionären Kontext kaum problematisieren, obwohl die Autoren die soziale Verankerung des subjektiven Zeitbewußtseins immer wieder ins Zentrum der Analyse rücken.47 44 Ebd., S. 321, 334 ff. 45 Auch im folgenden Elias, Zeit, insbesondere das Vorwort. 46 Vgl W. Bergmann, S. 92 ff. 47 Die Arbeit von Bieri beschäftigt sich mit dem Verhältnis von realer Zeit zu subjektiver Zeiterfahrung. Schöps untersucht die Präge kraft von Zeitbewußtsein und -ordnung auf soziale Strukturen. Nowotny interessiert in ihrem Zeit-Essay das Verhältnis zwischen sozialer Zeit und individueller Eigenzeit. Dux verfolgt die Entwicklung der Zeit in der Geschichte, um ein besseres Verständnis der Geistesgeschichte zu gewinnen. Die stark an Husserl orientierte Aufsatzsammlung Sommers gibt eine deutlich philosophisch akzentuierte Phänomenologie von Lebenswelt und Zeitbewußtsein. Nassehi erarbeitet die Voraussetzungen und Bedingungen, die zur sozialen Handhabung von Zeit führen, woraus sich erst der soziale Zeithorizont entwickele. Und Schlote versucht, Strukturen, Mechanismen und Widersprüche des alltäglichen Umgangs des Menschen mit Zeit zu klären, um Potentiale der Zeitautonomie herauszuarbeiten und Auswege aus einer von sozialem und Selbstzwang bestimmten Zeitorganisation zu skizzieren.

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Sind philosophische und soziologische Veröffentlichungen zum Thema ›Zeit‹ en vogue, ist es um die Formulierung von sozialwissenschaftlichen Revolutionstheorien seit den achtziger Jahren stiller geworden.48 Der Anspruch, eine Theorie der Revolution zu formulieren, die Ursachenforschung betreibt, Typologien, Verlaufsformen und entwicklungsgeschichtliche Perspektiven erarbeitet, um mittels einer Revolutionsprognostik gewaltsame Umbrüche gerade zu vermeiden, hat sich nicht erst aufgrund des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme als Trugschluß erwiesen. So kommt schon Georg R Meyer in seinem »kritischen Überblick in historischer Absicht« über Aufgaben und Defizite der Revolutionsforschung zu dem Ergebnis: »Die prinzipielle Identität und damit Vergleichbarkeit aller historischen Ereignisse und Abläufe wird bei der Suche nach der Theorie der Revolution vorausgesetzt. Statt zu größeren Erkenntnischancen führt die komparative Analyse zur Nivellierung von Unterschieden, zur Anrichtung eines historischen Einheitsbreis.«49 Darüber hinaus spielt das Moment der Zeit nur eine marginale Rolle in den Revolutionstheorien. Diese beschränken sich allenfalls auf die allgemeine Konstatierung von Beschleunigungs-, Fortschritts- oder Epochenbrucherfahrungen und laufen letztlich auf eine Paraphrase Kosellecks hinaus, dessen Resultate breit rezipiert und meistens unhinterfragt übernommen werden.50 Einen Schritt weiter geht George Gurvitch in seiner sozialpsychologischen Studie über die Geschwindigkeit sozialer Zeit. Den von ihm erfaßten Gesellschaftstypen wird eine Skala von sozialen Zeiten (verlangsamte, trügerische, unregelmäßig pulsierende, zyklische, verspätete, zwischen Verspätung und Vorsprung alternierende, verfrühte Zeit) zugeordnet, von denen eine für Revolutionen bezeichnend ist: »Finally, as the eighth and last kind I shall point out explosive time, which dissolves the present as well as the past in the creation of the future immediately transcendend. ...

48 Vgl. als ersten Einstieg in die Thematik die Sammelbände vonZapf;Beymejänkke Jaeggi u. Papcke; außerdem die Arbeiten von Wassmund; Lenk (eine Auseinandersetzung mit sozialistischen Revolutionstheorien von Babeuf bis Stalin); E. Zimmermann. Eine anspruchsvoll vergleichende Revolutionstheorie, die soziale Revolutionen unter sozioökonomischen, internationalen und autonom eigenstaatlichen Aspekten im Vergleich zwischen französischer, russischer und chinesischer Revolution deutet, offeriert Skocpol. 49 G. P. Meyer, S. 161. Meyer warnt vor einer empiriefreien sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, aber auch vor einer theoriefreien Sozialwissenschaft und analysiert Revolutionen auf drei systematisch unterscheidbaren Ebenen (ebd., S. 168 ff.). Kritisch zum Problem des Verhältnisses von Geschichtswissenschaft und Soziologie zu Revolutionstheorien auch Hamann, S. 23 ff. 50 Was darüber hinaus thematisiert wird, sind die einzelnen Formen des Wandels wie evolutionär, reformerisch, eruptiv (vgl. Th. Schieder, Theorie der Revolution, S. 13 f.). Die mit historischem, soziologischem, politologischem und kulturgeschichtlichem Anspruch auftretende Arbeit von Waelder über Fortschritt und Revolution ist sehr assoziativ gehalten, ohne konkreten historischen Hintergrund und vermag es nicht, Fortschrittserfahrungen mit Revolutionswahrnehmungen zusammenzuführen.

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Such a time is that of collective acts of creation which always play some role in the social life but which rise from beneath of surface and bccome open and dominant during revolution.« 51

Wenn dieser Zeittyp historisch auch nicht näher ausgeführt wird, stellt er doch einen interessanten Zusammenhang von kollabierenden Zeitstrukturen und im Fluß befindlichen sozialen Strukturen im Rahmen von Revolutionen fest. Ansätze für eine Zusammenfuhrung von Zeit- und Revolutionserfahrungen finden sich auch in den Arbeiten von Niklas Luhmann, in denen der soziale ZeitbegrifTeine zentrale Rolle spielt.52 ›Zeit‹ als Aspekt der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit konstituiere sich durch systemeigene Selektivität des Handeln und Erlebens und reduziere so Weltkomplexität auf eine erlebbare Gegenwart mit ihren spezifischen Vergangenheits- und Zukunftshorizonten. ›Zeit‹ beziehe Gegenwärtiges und Nichtgegenwärtiges, Dauer und Wechsel aufeinander und vermittle den Möglichkeitshorizont mit der Aktualität des Erlebens. Luhmann betont die Beziehung von sozialen und temporalen Strukturen, wenn er wie Koselleck um 1800 eine fundamentale Veränderung des Zeitbewußtseins konstatiert und diese auf einen Differenzierungsschub in der ausgehenden Ständegesellschaft zurückführt. Eine funktional ausdifferenzierte Klassengesellschaft lasse die Orientierung an einer gemeinsamen Systemgeschichte nicht mehr zu. Die Gegenwart werde durch schwindende Gemeinsamkeiten des Gesellschaftsverständnisses und durch einen steigenden Erfahrungsverlust zu einem bloßen Übergang punktualisiert. Sie weiche einem offenen Zukunftsverständnis mit Erwartungsgewinn, das Handeln erzwinge, aber auch immer unabsehbarer mache. Je komplexer sich die Gesellschaftssysteme gestalteten, um so größer werde die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die zunehmende Diskrepanz zwischen steigenden objektiven Möglichkeiten und schwindender subjektiver Handlungs- und Erlebniskapazität führte zu Zeitknappheit und -druck. Folgen könnten Konflikte zwischen Eigen- und Fremdselektivität von Zeit, ein Vertrauensverlust in die Umwelt und Überforderungsängste sein. Luhmanns Thesen lassen sich vielleicht gerade für so verdichtete Momente wie Revolutionen fruchtbar machen, die aufgrund konfuser, gegenläufiger und komplexer gewordener Systemeigenschaften und Zeitstrukturen orientierendes Handeln erfordern und dieses zugleich erschweren. 51 Gurvitch, S. 178. Kritisch merkt hingegen Gerhard Schmied an, daß Gurvitch die Geschwindigkeit von Zeiten mit sozialem Wandel gleichsetze und die Komplexität sozialer Realität zu sehr reduziere auf die lückenlose »Zuordnung von Zeiten zu gesellschaftlichen Elementen«. Schmied betont statt dessen das Gleichmaß der Zeit als Orientierungssystem (Schmied, S. 102 f., 111). 52 Vgl. hierzu Luhmann, Weltzeit; ders., Vertrauen; ders., ZweckbegrifF; ders., Knappheit; ders., Sinn, insbesondere S. 53-61; ders., Future; ders., Zeit und Handlung; ders., Temporalisierung.

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An dieser Aufgabe hat sich der Bielefelder Soziologe Otthein Rammstedt in den siebziger Jahren versucht. Er versteht Revolutionen als Reduktionsmechanismen für eine allzu offene Zukunft mit ihren zahlreichen Möglichkeiten.53 Die Erfahrung einer revolutionären Gegenwart lasse sich durch eine spezielle Sicht von selektierendem Zeit- bzw. Zukunftsbewußtsein strukturieren, das im Zusammenhang mit der sozialen Differenziertheit eines Systems stehe: »Daher wird der Wandel im Verständnis von Revolution, als abhängig von der Art und dem Grad der sozialen Differenzierung, anhand des Zeitbewußtseins aufgezeigt, dessen Entwicklung auf die Form des Bewußtseins von Zukunft eingeschränkt bleibt.«54 Rammstedt entwirft ein Schichtenmodell und nimmt eine synchrone Zuordnung von sozialer Schichtung und Zukunftsbewußtsein innerhalb einer Gesellschaft vor: Okkasionelles Zeitbewußtsein sei vornehmlich in Unterschichten anzusiedeln, zyklisches in der Oberschicht, lineares mit festgelegter Zukunft in der unteren Mittelschicht, lineares mit offener Zukunft in der oberen Mittelschicht.55 Entsprechend dieser Zuordnung wird den einzelnen Schichten ein spezifisches Verhalten in Revolutionen attestiert. Bleiben Rammstedts Zuordnungsverfahren auch in vielerlei Hinsicht fragwürdig und in historischer Perspektive eindimensional, geben sie doch Hinweise auf das Verhältnis von Zeitbewußtsein und Revolutionen, das aber um das Moment der erinnerten Vergangenheit und ihrer unverwirklichten Möglichkeiten erweitert werden muß sowie an einzelne politische Strömungen zu koppeln ist.

3. Methodische Begrenzungen für Zeiterfahrungen Um Zeiterfahrungen sozial und politisch zuordnen zu können, muß der Zeitraum einer vielschichtigen Übergangsgesellschaft zwischen Tradition und Moderne methodisch eingegrenzt werden. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die politisch-soziale Seite der sogenannten ›Doppelrevolution‹ und deren Einfluß auf das Zeitbewußtsein, in das auch Folgen der Industriellen Revolution eingingen.56 Der Untersuchungszeitraum zwischen den Jahren 1789 und 1848/49 wird in drei große Phasen gegliedert. In ihnen hatten sich die Zeitgenossen mit einschneidenden sozialen und politischen Umbrüchen sowie Bewegungstendenzen auseinanderzusetzen, die zu kommunikativen Schüben und zu einer fortgesetzten Fundamentalpolitisierung führten. 53 Rammstedt, Theorie der Revolution, S. 10. 54 Ebd., S. 22. 55 V g l zu den einzelnen Formen des Zeitverständnisses auch A. Brandt, S. 725 f.; Rammstedt, Alltagsbewußtsein, S. 47-63. 56 Vgl. dazu am Beispiel der Eisenbahn Schwelbusch.

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Im Zentrum der ersten dieser Phasen (1789-1815) stehen die Auseinandersetzungen mit dem ›Epochenereignis‹ von 1789 und dessen Folgen für Deutschland: der kriegerische Revolutionsexport insbesondere unter Napoleon, der beschleunigte Wandel durch die Auflösung des Alten Reiches und die territoriale Flurbereinigung, die rheinbündisch-preußischen Reformwerke und schließlich der sich zunehmend rührende Nationalismus in der Zeit der sogenannten Befreiungskriege. Alle diese Bewegungskräfte bewirkten einen starken Politisierungsschub in der sich schon im 18. Jahrhundert formierenden bürgerlichen Öffentlichkeit Die sogenannte Restaurationszeit bis 1830 wird weitgehend ausgespart bleiben, auch wenn sich in dieser Zeit eine »unbezähmbare Dynamik« in den politischen Energien anbahnte.57 Doch trotz der Revolutionen in Spanien und Italien und trotz der mobilisierenden Wirkungen des griechischen Befreiungskampfes auf die Öffentlichkeit blieb der Deutsche Bund in diesen Jahren von revolutionären Erschütterungen verschont. Der Ausbau der Staatsbürokratie, der Übergang vieler Staaten zu einer begrenzten Repräsentatiwerfassung und insbesondere der süddeutsche Frühkonstitutionalismus vermochten noch die Sprengkräfte einer Revolution zu binden. Aber darüber hinaus versandeten die hoffnungsvollen Reformansätze der Bundesverfassung schließlich in der restriktiven Verfassungsauslegung durch die Wiener Schlußakte 1820 und verpflichteten die Staaten zur »politischen Erstarrung«.58 Die repressiven Karlsbader Beschlüsse erstickten einen großen Teil der politischen Öffentlichkeit in der Publizistik und beseitigten ein Forum, auf dem eine Diskussion über die Möglichkeit von Revolutionen und Reformen hätte stattfinden können. Die Weiterentwicklung der politischen, vor allem der liberalen Strömungen wurde gebremst.59 Außerdem verlor der Nationalismus die Dynamik der Aufbruchphase und flüchtete sich zumal in Süddeutschland in die einzelstaatliche Loyalität eines ›Verfassungspatriotismus‹.60 Erst die europäischen Revolutionen von 1830 und die sozialen Unruhen katapultierten die breite Unzufriedenheit über die politischen Zustände wieder verstärkt an die Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund relativer Erstarrung und Stagnation soll als zweite Phase daher die Zeit des Vormärz von 1830 bis 1847 behandelt werden, als die politische Landschaft wieder stärker in Bewegung geriet. Zum einen kam es zu einer neuen Revolutionswelle in Europa, die auch Teile von Deutschland er57 Vgl. Wehler, Bd. 2, S. 4. Auf die notwendigen Differenzierungen für die Beurteilung einer facettenreichen Epoche zwischen Reform und Restauration konzentriert sich der Sammelband von Ullmann u. Zimmermann. 58 Langeuriesche, Europa S. 61. 59 Wehler, Bd.2, S. 416. 60 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 305 ff. Freilich ließen sich nationale Hoffnungen nicht gänzlich unterdrücken, wie die Württembergische Sängerbewegung und der Philhellenismus demonstrierten (vgl. die Arbeiten von Düding und Hauser).

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faßte;61 zum anderen ging mit diesen revolutionären Erhebungen der Versuch von Nationalstaatsgründungen einher, die den Nationalismus als revolutionäre Bewegungskraft auch in Deutschland wieder stärker mobilisierten und ihn in den vierziger Jahren zu einer dynamischen Massenbewegung werden ließen.62 Diese bündelte die oppositionellen Kräfte und verlagerte die bislang enttäuschten Verfassungshoffnungen zunehmend auf die nationale Ebene.63 Damit war eine weitere Fundamentalpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens verknüpft, in deren Verlauf sich politische Parteien im modernen Sinne herauskristallisierten.64 Um diese neue Dynamik erfassen zu können, werden insbesondere die Jahre 1830-1832 und das Krisenjahrzehnt vor der Revolution von 1848/49 in den Fokus genommen. In der dritten Zeitphase wird schließlich die Revolution von 1848/49 untersucht, als eine Revolutionswelle Deutschland ergriff und die drei zentralen Krisenmomente (Nationalstaatsgründung, politische Verfassungsfrage, Reform der Wirtschafts- und Sozialordnung)65 verdichtet zutage traten. Der Untersuchungsraum ist das Gebiet des Deutschen Bundes in den Grenzen von 1815 ohne den österreichischen Teil. Selbstverständlich kann auch das verbleibende Gebiet nicht flächendeckend erfaßt werden. Deshalb erscheint es sinnvoll, sich auf verschiedene politische Landschaften zu konzentrieren, die insbesondere nach 1830 immer deutlicher hervortraten:66 Bayern und vor allem München als Hort des konservativ ausgerichteten politischen Katholizismus; der Südwesten mit seinem klassischen Liberalismus um Rotteck und dem sich abspaltenden populistischen Demokratismus insbesondere um das Hambacher Fest 1832; das Rheinland, das einen liberalen Katholizismus und in den Metropolen einen großbürgerlichen Liberalismus um Ludolf Camphausen und David Hansemann beheimatete; der preußische Norden und Sachsen mit einem stärker etatistisch und aristokratisch ausgerichteten »rechten Flügel« des Liberalismus um Karl Pölitz und Friedrich Dahlmann sowie mit einem intellektuellen, linkshegelianischen Radikalismus um Arnold Ruge; und schließlich Kernpreußen mit Berlin als dem Zentrum eines modernen politischen Konservativismus um Victor A. Huber, Friedrich Julius Stahl und die Gebrüder Gerlach. Diese politischen Landschaften bieten einen repräsentativen Einblick in die föderative Vielfalt Deutschlands. Zudem erlaubt diese Auswahl, die politischen Strömungen, die sich seit 1789 deutlicher herauskristallisierten und die öffentliche Diskussion bis 1848/49 61 Vgl. zur Revolution in europäischer Perspektive Church, insbesondere Kap. 3 und 4; außerdem Hobsbawm, vor allem Kap. 6. 62 Vgl. z. B. Wehler, Bd. 2, S. 397 ff.; H. Schulze, S. 80 ff. 63 Vgl. Fehrenbach, Verfassungsstaat, insbesondere S. 17-39. 64 Vgl. Langewiesche, Europa, S. 66 ff. 65 Vgl. ebd., S. 72. 66 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 377 ff; Wehler, Bd. 2, S. 413 ff.

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zunehmend beherrschten, in den Mittelpunkt zu rücken. Wie Fritz Valjavec in seiner immer noch grundlegenden Studie über »Die Entstehung der politischen Strömungen 1770-1815« herausgearbeitet hat, gewannen die politischen Richtungen aus der »doppelten Herausforderung von theoretischer Innovation ( ›Aufklärung‹) und bürgerlicher Revolution (Französische Revolution von 1789)«67 ihr Profil Einerseits war die politische Aufklärung vor 1789 Ursprungsort für die Entstehung des Frühliberalismus und ex negativo des Konservativismus; andererseits zeichnete aber gerade die revolutionäre Praxis seit 1789 für eine stärkere Differenzierung und Politisierung des öffentlichen Spektrums verantwortlich und legte so den Grundstein für die Parteibildungen im 19. Jahrhundert.68 Die liberalen Ansätze, die Valjavec schon für die Zeit vor 1789 analysiert, blieben eingestandenermaßen sehr verschwommen. So besaßen fast alle deutschen Zeitschriften »liberalisierende Züge«.69 Eine deutliche Scheidung von einer demokratischen Strömung gelingt kaum,70 und auch die geistige Auseinandersetzung des Konservatismus mit der Aufklärung gewann erst nach 1789 als Folge der revolutionären Ereignisse ihre politische Brisanz.71 Selbst wenn Valjavec also die Ursprünge der politischen Strömungen (zumindest der liberalen und konservativen) schon vor 1789 auszumachen vermag, werden sie weitgehend erst nach der Revolution politisch relevant, als die Gefahr eines radikalen Bruchs mit den tradierten Staats- und Gesellschaftsprinzipien sichtbar vor Augen stand und einen heftigen öffentlichen Meinungsstreit provozierte.72 Die von Valjavec und dem überwiegenden Teil der Forschung vorgeschlagene Grobklassifikation in eine liberale, demokratische und konservative Strömung wird Leitfaden der Arbeit sein, obschon diese Unterteilung an ihren Rändern häufig unscharf ist und die einzelnen Strömungen auch in sich sowohl bei synchroner als auch diachroner Betrachtung uneinheitlich sind.73 Dieser Binnenheterogenität wird durch Differenzierung der einzelnen Strömungen in politische Landschaften Rechnung getragen. Außerdem muß der jeweilige programmatische Entwicklungsstand der politischen Richtungen in den einzelnen Zeiträumen mit in den Kontext der Analyse von Zeit- und Revolutionserfahrungen einfließen. Und schließlich sind die Kriterien für die Zuordnung von Quellen zu einer bestimmten politischen Strömung idealtypisch zu verste67 Garber, in: Valjavec, S. 543 f.; vgl. außerdem A. Kuhn, Politische Gruppierungen. 68 Vgl. Garber, in: Valjavec. S. 154, 302. 69 Ebd., S. 123 f. 70 V g l ebd., S. 180. 71 Vgl. ebd., S. 302; außerdem die grundlegende, ideengeschichtlich ausgerichtete Studie von Kondylis, in der die Kontinuität des europäischen Konservativismus anhand der Idee der ›Societas civilis‹ betont wird. 72 Vgl. Valjavec, S. 302 f. 73 Vgl. Garber, in: Valjavec, S. 559 ff.

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hen und haben heuristische Funktion, um anhand eines klassifikatorischen Instrumentariums der hier skizzierten Fragestellung nachzugehen und diese auf ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen. Vor allem der Zeitraum nach 1830 kann entlang dieser drei politischen Strömungen untersucht werden, als die Etablierung und Differenzierung einer kritischen Öffentlichkeit dank der Ereignisse um die französische Julirevolution und trotz der Repressionspolitik des Deutschen Bundes nicht mehr aufzuhalten waren.74 Aus den noch vagen politischen Strömungen der Zeit vor 1815 entwickelte sich ein »funfgliedriges deutsches Parteiwesen«, Parteien freilich noch im Sinne »lose gefügter Gesinnungsgenossenschaften«,75 die sich aber zunehmend organisatorisch festigten und schließlich 1848 ein Parteiwesen im modernen Sinne bildeten.76

4. Quellenauswahl und -problematik: Publizistik und Öffentlichkeit Der lange Zeitraum und die Breite des Themas machen einerigoroseAuswahl aus dem schier unüberschaubaren Quellenmaterial erforderlich. Zwei Filter bieten sich für eine Analyse im Rahmen einer Erfahrungsgeschichte an, um das Quellenmaterial auf Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen hin durchsichtig zu machen. Zum einen sollten sich die Zeugnisse durch einen hohen Grad an Subjektivität und Reflexivität auszeichnen und eine möglichst unmittelbare zeitliche Nähe zu den revolutionären Ereignissen aufweisen, mit diesen also in eine direkte Auseinandersetzung eintreten. Nur so lassen sich Rückschlüsse aufdas subjektive Zeitempfinden im Kontext von revolutionären Umbruchsituationen ziehen. Ex-post-Einschätzungen, die aus einer größeren zeitlichen Distanz heraus (wie z. B. in der Erinnerungsliteratur) verfaßt werden, sind hingegen für diesen Zweck weniger geeignet; relevant sind sie allenfalls, wenn sie sich von einer revolutionären Gegenwartssituation her auf vergangene Revolutionserfahrungen und deren Interpretationsmuster beziehen und somit als Bezugspunkt zur Deutung der Gegenwart beitragen können. Zum anderen sollte den Quellen ein hohes Maß an Öffentlichkeit zukommen, um so einen breiten Ausschnitt aus der zeitgenössischen Diskussion einzufangen. Erfahrungswandel zeigt sich gerade in Zeiten kommunikativer Schübe, in denen Politik öffentlich verhandelt wird. Die Zeugnisse sollten Ausdruck einer politisch-parteilichen Akzentuierung sein, um die Rezeption 74 V g l z. B. Langewksche, Europa, S. 66 ff. 75 Ebd., S. 68. 76 Vgl. zum Begriff der politischen Partei Huber, Bd. 2, S. 320 f.; Langewksche, Anfänge der deutschen Parteien, S. 324-361; Siemann, Deutsche Revolution, S. 90-114.

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der Revolution einer spezifischen politischen Strömung zuordnen zu können. Hier kann oftmals an die politische Selbsteinschätzung der publizistischen Organe angeknüpft werden. Deshalb empfiehlt sich für diese Gratwanderung zwischen subjektiver Reflexion und einem breiten politischen Wirkungskreis vor allem der Rückgriff auf historisch-politische Zeitschriften, zumal auf solche, die über einen längeren Zeitraum hinweg als Diskussionsforen zur Verfügung standen und gewichtige Träger für die Ausbildung einer ›öffentlichen Meinung‹ waren.77 Bürgerliche Öffentlichkeit78 formierte sich schon vor 1789 in der deutschen Aufklärungsgesellschaft,79 die literarische Diskussion und Publizistik behandelte zunehmend politische Fragen.80 Verschiedene Foren standen für eine kritische Auseinandersetzung mit unhinterfragten Traditionsbeständen zur Verfügung, die ein Feld für den öffentlichen Disput schufen. In ihm stellte sich eine bürgerliche Meinung dem Anspruch nach frei und ohne Standesschranken dar, schärfte und differenzierte sich politisch. Der Diskurs der »Gelehrtenrepublik« bewegte sich im »Medium ungeheuer weitläufiger Privatkorrespondenzen und publizierter wissenschaftlicher Streitgespräche«.81 Darüber hinaus sorgten Aufklärungsgesellschaften für die Verbreitung und Vertiefung bürgerlicher Selbstfindung und politischer Bewußtseinswerdung.82 Gerade in Vereinen, die von 1770 bis 1800 eine Gründungswelle erlebten, konnte sich bürgerliche Aktivität organisieren.83 Insbesondere die Lesegesellschaften gehörten zu den am weite77 Einen ersten Zugriff auf die Zeitschriftenlandschaft verschaffen die ersten beiden Bände der Bibliographie von Kirchner. Weitere Zeitschriften werden u. a. aufgeführt in der Einstiegsliteratur zum deutschen Zeitschriften- und Pressewesen, so z. B. Fischer, Handbuch; Haacke; Lindemarin; Koszyk; Hocks u. Schmidt; Obenaus. 78 Vgl. hierzu die grundlegende Analyse von Habermas, Strukturwandel. Habermas unterscheidet eine schon immer präsente private Meinung von der sich im 18. Jahrhundert konstituierenden politischen Öffentlichkeit, die mit Hilfe des Mediums des öffentlichen Räsonnements »den Staat mit den Bedürfnissen der Gesellschaft« vermittelte (S. 86 ff.). Zum begriffsgeschichtlichen U m feld von ›Öffentlichkeit‹ vgl. Höbcher, Öffentlichkeit. Zur Problematik der Fiktion ›öffentliche Meinung‹ vgl. Schäfer, Kollektivbewußtsein, der den belasteten Begriffder ›öffentlichen Meinung‹ durch den des »kollektiven Bewußtseins‹ ersetzt, denn dieser sei differenzierter und offener für ein breiteres Bezugsfeld, weil es statt eines monolithischen Zeitgeistes zahlreiche Ausprägungen kollektiven Bewußtseins gebe. Wer aber »öffentliche Meinung‹ als ein Feld kommunikativer Praktiken sieht, in dem sich vielfältige Stimmen mit- und gegeneinander äußern, und das Verhältnis einer veröffentlichten Meinung zu ihren Rezipienten reflektiert, braucht sich Schäfers neuer Begrifflichkeit nicht zu bedienen. 79 Vgl. zu den Widersprüchen einer räsonnierenden, aber tatenarmen Aufklärungsgesellschaft der Jahrzehnte vor 1789 überblickshaft Fehrenbach, Ancien Régime, S. 55 ff; Wehler, Bd. 1, S. 326 ff. 80 Vgl Abdelfettah,S. 16 f 81 Wehler, Bd. l , S . 327 f 82 Vgl. Abdelfetta ,S. 18 ff 83 Zur reichhaltigen Literatur über das frühe deutsche Vereinswesen vgl. die bibliographischen Angaben bei Wehler, Bd. 1, S. 628 f

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sten verbreiteten Vereinsformen. Neben ihrem ursprünglichen Beweggrund, die Kosten für begehrte Lektürestoffe zu mindern und ein wachsendes Informationsbedürfnis zu stillen, entwickelten sie sich zu einem überständischen, nach demokratischen Prinzipien eingerichteten »Übungsfeld eines öffentlichen Räsonnements«. Lesen konnte so zur »Ersatzform für öffentliche Betätigung« der akademischen, zumeist städtischen Intelligenz werden und zur dialogischen Aufklärung von Privatleuten beitragen.84 Parallel zum Aufstieg der Lesegesellschaften nahm in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Anzahl der Lesekundigen sprunghaft zu und lag um 1800 bei ca. 25% der Bevölkerung.85 Auch das Lektüreverhalten wandelte sich von einer intensiven Wiederholungslektüre zu einer extensiven Informationslektüre.86 Deshalb waren es die Periodika, die diesen Wandel vorbereiteten und den »Wunsch nach Neuigkeiten, nach gegenwartsbezogenen Informationen«87 weckten, aber auch durch eine gewaltige Expansion darauf reagierten. Hans Gerth datiert den Beginn einer »Öffentlichkeit im modernen Sinne« in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Das Entstehen einer neuen politischen Presse von Zeitschriften und Zeitungen schuf einen kontinuierlichen und dauerhaften Markt an Rezipienten.88 Gerade Zeitschriften hatten schon vor 1789 das Übergewicht in dem Lektüreangebot der Lesegesellschaften. Anders als die auflagenstärkeren und breiter rezipierten Zeitungen,89 die einer strengeren Zensur unterworfen waren90 sowie standortgebunden blieben91 und sich auf ein unparteiliches Nachrichtenreferat beschränkten, wurden die historisch-politischen Zeitschriften zu Diskussionsforen über die Zeitereignisse.92 Insbesondere seit der Französischen Revolution erlebten sie einen Gründungsboom und wurden zu einer Form intensiver Revolutionsrezeption, in deren Verlauf die in den Anfängen begriffenen politischen Strömungen eine deutli84 Prüsener, Sp. 392. Zur Mischung von Binnenegalität und Außenexklusivität vgl. Wehler, Bd. 1, S. 321. 85 Vgl. Engelsing, Analphabetentum, S. 62; zur erfolgreichen Alphabetisierung in Deutschland und Frankreich vgl. Francois, S. 407-425. 86 Vgl. Prüsener, S. 381; Dann, Lesegesellschaften, S. 16. 87 Prüsener, S . 3 8 1 . 88 Vgl. Gerth, S. 61. 89 Vgl. zur Kritik an der Überschätzung der Wirkung von Zeitschriften und zur Rehabilitierung der Zeitung als Massenerzeugnis für Mittel- und Unterschichten Welke, Zeitung und Öffentlichkeit, S. 71-99, besonders 75 ff. 90 Vgl. Schäfer, Arndt als politischer Publizist, S. 46; Fleck, S. 342. 91 Vgl. Lorenz, S. 18. 92 Vgl. Welke, Deutsche Publizistik, S. 39. Schon Valjavec schreibt über die Zeitung: Der Einfluß der Presse »bereitete in manchem die politischen Frontenbildungen der Zukunft vor, erschütterte den bis dahin selbstverständlichen Glauben an die überlieferten Autoritäten, aber vermittelte nicht bestimmte Auffassungen, auf die es bei diesem Vorgang doch wesentlich ankam. Ihre Verbreitung erfolgte in größerem Maße durch politische Zeitschriften, die in Deutschland erstmals in den siebziger Jahren zu erscheinen begannen.« (Valjavec, S. 95 f.).

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chere politisch-ideologische Akzentuierung gewannen. Zwar standen hinter den Periodika noch keine organisierten Gruppen, da der Herausgeber meinungsbildend und -lenkend blieb;93 dennoch gilt: »Sie setzten die Kenntnis des politischen Geschehens voraus und reicherten das aus den Zeitungen bereits Bekannte mit zusätzlichen Informationen zu wichtig erachteten Aspekten an, um diese zu interpretieren und die Fragen nach Zielen, Berechtigung der eingesetzten Mittel und Zwecken der Revolution aufzuwerfen. Dabei waren Diskussionsbeiträge aus dem Kreis der Leser durchaus willkommen.« 94

Gestatten einige Zeitschriften eine kontinuierliche Untersuchung über einen längeren Zeitraum hinweg - z. B. die »Europäischen Annalen« (1795-1832) oder das konservative »Politische Journal« (1781-1840) -, bleiben die meisten durch eine auffällige Kurzlebigkeit gekennzeichnet.95 Dennoch schuf die besonders seit 1792 ansteigende Flut an Periodika ein weites kommunikatives Netzwerk, das maßgeblich am politischen Selbstverständigungs- und Differenzierungsprozeß der politisch Interessierten beteiligt war.96 Gerade in diesen Zeitschriften präsentierte sich das entscheidende Merkmal einer neuen Literaturform, sie machten den Kern der öffentlichen Diskussion aufgrund ihrer Informationen, Stellungnahmen, Kommentare und Reflexionen über politische Vorgänge aus.97 Die Auflagenstärke der Zeitschriften läßt sich im allgemeinen nur schwer ermitteln. Die Durchschnittsauflagenhöhe lag vermutlich bei 1000, von denen aber in der Regel nur 700 bis 800 Exemplare an die Abonnenten zu bringen waren. Auflagen wie die der »Minerva« (5000 Exemplare) blieben eine Seltenheit. Für die Zeit um 1795 läßt sich eine Gesamtabonnentenzahl von ca. 50.000 schätzen. Wenn man berücksichtigt, daß jedes Exemplar über Lesegesellschaften und andere Vereine durch mehrere Hände ging, kann man diese Zahl mit zehn multiplizieren und gewinnt so ein Zeitschriftenpublikum von bis zu 500.000 Lesern.98 Nachdem das deutsche Pressewesen seit den Karlsbader Beschlüssen geknebelt und farblos geworden war, gewann es mit der französischen Julirevolution 93 Vgl. Fleck, S. 343; Schäfer, Arndt als politischer Publizist, S. 41 f.; Fischer, Handbuch, S. 180. Wolfgang Kaschuba sieht in der Revolutionszeit einen Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Kultur und eine Zäsur für die Alltagserfahrung: »Schriftlichkeit und Lektüre als alltägliche Informations- und Kommunikationsmuster verändern die Wahrnehmungshorizonte und Weltbilder insgesamt: ›Erfahrung‹ erhält eine neue, räumlich wie zeitlich fast unbegrenzte Dimension.« (Kaschuba, S. 383). 94 Welke, Deutsche Publizistik, S. 39. 95 Vgl. Wehler, Bd. 1,S.309. 96 Vgl. Lindemann, S. 270 f. 97 Vgl. Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 12; zu Quellengattungen ohne ausreichende Repräsentativität und Öffentlichkeit vgl. ebd., S. 10 ff. 98 Vgl. Welke, Zeitung und Öffentlichkeit, S. 73 ff.; Wehler, Bd. 1, S. 309 f.

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wieder verstärkt an Bedeutung.“ Die Zensur vermochte es auch nach den Bundesbeschlüssen von 1832 nicht mehr, die Publizistik durch administrative Akte regierungskonform zu machen, sondern trieb diese in die Opposition.100 Hinter den publizistischen Organen standen verstärkt politische Bewegungen, die den Blättern einen deutlich parteilichen, kritisch-reflexiven und oftmals national ausgerichteten Charakter gaben. Dank einer erfolgreichen Alphabetisierung bahnte sich eine »Leserevolution« an, durch welche die öffentliche Meinung zu einer gewichtigen Macht in der deutschen Kommunikationsgesellschaft wurde.101 So konnte sich die Zahl der Zeitschriftenleser trotz des Verfalls der Lesegesellschaften nach der Jahrhundertwende und dank der Expansion der Leihbibliotheken weiterhin bei geschätzten 500.000 halten. Die seit 1830 wieder zahlreicher gegründeten Zeitschriften blieben meinungsbildend und weniger gegängelt als Zeitungen.102 Kurz: Die Zeitschriften hatten auch im Vormärz einen hohen Anteil am politischen Selbstgespräch der Zeit und wurden zu Vorläufern der Parteipresse.103 Einschränkend muß darauf hingewiesen werden, daß es sich bei den Zeitschriften, zumal den historisch-politischen, nicht um ein Massenerzeugnis handelte.104 Ihr Leserkreis beschränkte sich weitgehend auf die städtischen Kreise der Gebildeten. Öffentliche Meinung, wie sie hier entstand, bezog sich vornehmlich auf die Interessen der akademischen Mittelschicht.105 Ob sich diese Schicht sozialhistorisch als ›Bildungsbürgertum‹ fassen läßt, muß hier nicht erörtert zu werden.106 Wichtiger als eine präzise soziale Zuordnung ist der Einfluß, den bildungs- (und besitz-)bürgerliche Normen in Erziehung und Lebensführung ausübten und die damit ein Selbstverständnis prägten, das quer durch Berufsgruppen und Stände ging.107 Auch im Liberalismus nahm das Bildungsbürgertum bei der Formulierung politischer und sozialer Zukunftsvorstellungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Position ein.108 Das ist deshalb bedeutsam, weil gerade der Liberalismus mit seiner Zielutopie einer bürgerlichen Gesellschaft, angesiedelt zwischen Modernität und 99 Vgl, Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 591; Wehler, Bd. 2, S. 526. 100 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 415 ff. 101 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 587 ff.; Wehler, Bd. 2, S. 521 ff. 102 Fleck, S. 344. 103 Vgl. Obenaus, S. 52. Die Übergänge zu Zeitungen können freilich manchmal fließend sein, wenn Zeitschriften alle paar Tage erscheinen (vgl. z. B. die »Deutsche Tribüne«, das »Berliner Politische Wochenblatt« oder die »Sächsischen Vaterlands-Blätter«). Doch als Leitorgane einer bestimmten politischen Strömung mit relativ großer Verbreitung und hohem Reflexionsniveau sind sie eher der Kateeorie ›Zeitschrift‹ zuzuordnen. 104 Vgl. Welke, Zeitung und Öffentlichkeit, S. 74 f. 105 Vgl. Höbcher, Öffentlichkeit, S. 454 f. 106 Vgl. hierzu die Diskussion in den Sammelbänden von Conze u. a. 107 V g l Lepsius, Bildungsbürgertum, S. 13; Wehler, Bd. 2, S. 210 ff 108 Vgl. Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus.

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Tradition, eine der gemeinbürgerlichen Integrationskräfte war, welche die »heterogenen Klassen- und Schichtenlagen der verschiedenartigen bürgerlichen Sozialformationen« überwölbten.109 Der politische Diskurs hielt sie zusammen. Die in den Zeitschriften geführten politischen Debatten können deshalb als facettenreicher Ausdruck dieses sich politisch formierenden gebildeten Bürgertums verstanden werden, das von den Liberalen bis zum radikalen Flügel der Demokraten reichte. Doch zu den Lesern zählten ebenso Konservative, die sich als Reaktion auf diese bürgerliche Öffentlichkeit politisch engagierten. Sie kamen sowohl aus dem Bürgertum als auch aus dem Adel, der sich von Aufklärung und Revolution bedroht fühlte. Wenn also der Adressatenkreis der politisch-historischen Zeitschriften gemessen an der Gesamtbevölkerung klein blieb, erfaßte er doch große Teile der Gebildeten und zunehmend der Besitzenden. Zeiterfahrungen werden damit begrenzt im politischen Diskurs untersucht, weniger im Alltag.110 Die Revolution von 1848/49 stellte für die Publizistik eine Zäsur dar, die sich auch in der Quellenauswahl niedergeschlagen hat. Die Zeitschriften verloren ihre frühere politische Bedeutung. Sie stellten 1848 größtenteils ihr Erscheinen ein oder wandelten ihren Charakter vollständig.111 Ihre Rolle bei der Politisierung der Öffentlichkeit ging auf die von der Zensur befreite Tagespresse über, die einen Boom an Neuerscheinungen und eine enorme Auflagensteigerung erlebte. Erst für sie kann von einer Massenwirkung gesprochen werden. »1848 wurde das Geburtsjahr der modernen Tendenzpresse«.112 Ohne sie wäre die durchgreifende Politisierung, die bis in das Alltagsleben reichte, nicht möglich gewesen. Deshalb werden für diesen begrenzten Zeitraum neben wenigen Zeitschriften als Hauptquelle Zeitungen herangezogen, die sich als Leitorgane einer politischen Richtung und Landschaft zuordnen lassen. Dieser Wechsel im Quellenfundament ist auch deshalb erforderlich, weil nur die Tagespresse der Dichte, Schnelligkeit und Unmittelbarkeit der Ereignisse während der Revolution nachkommen konnte. Aus diesem Grund werden vereinzelt ebenfalls Flugblätter herangezogen. Die Verlagsorte der ausgewählten Zeitschriften und Zeitungen lagen zumeist in den erwähnten politischen Landschaften, auf die sich diese Studie konzentriert: in Stuttgart, Frankfurt/M., Mainz, Koblenz, Köln, Hamburg, Altona, Leipzig, Berlin. Zusätzlich wurden für den gesamten Zeitraum auch einschlägige Quelleneditionen ausgewertet. Hinzu kommen vereinzelt monographische und per109 Wehler, Bd. 2, S. 239; außerdem der schon klassisch zu nennende Aufsatz von Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. 110 Damit unterscheidet sich diese Untersuchung von der auf den Alltag gerichteten Wissenssoziologie eines Berger und Luckmann, deren erfahrungsgeschichtlicher Ansatz hingegen übernommen und auf den Diskurs der Gebildeten übertragen wird. 111 Vgl Obenaus, S. 1. 112 Vgl. Siemann, Deutsche Revolution, S. 116-124, hier 117.

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sönliche Zeugnisse, wenn sie den Kriterien Öffentlichkeit‹ und ›politisches Räsonnementi genügen oder einer verbreiteten Einschätzung pointiert Ausdruck verleihen.

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ERSTER TEIL

Von der Französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen »Les Français ont fait en 1789 le plus grand effort auquel se soit jamais livré aucun peuple, afin de couper pour ainsi dire en deux leur destinée, et de séparer par un abime ce qu'ils avaientétéjusque-là de ce qu'ils voulaient être désormais. Dans ce but, ils ont pris toutes sortes de precautions pour nerienemporter du passé dans leur condition nouvelle; ils se sont imposé toutes sortes de contraintes pour se façonner autrement que leurs pères; ils n'ont rien oublié enfin pour se rendre méconnaissables.«1 I. Unmittelbare Zeiterfahrungen angesichts der Französischen Revolution Direkter als von der amerikanischen »Verfassungsrevolution«2 wurde Deutschland mit den revolutionären Ereignissen im Nachbarland Frankreich konfrontiert. Hier konnte man aus der Perspektive des Augenzeugen die Möglichkeit eines gewaltsamen Bruchs mit den traditionellen Mächten und den Beginn einer Dynamik beobachten, die in einem Vierteljahrhundert die politische Welt völlig umgestalten sollte. Ihren unmittelbarsten Ausdruck fand die Diskussion der französischen Ereignisse in den Augenzeugenberichten deutscher ›Revolutionstouristen‹ der ersten Stunde.

1 TocquevÜle, S. 87. 2 Wehler, Bd. 2, S. 347.

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1. Deutsche ›Revotutionstouristen‹ in Paris: übersehene Zeit Das starke Interesse an dem »Schauspiel der Französischen Revolution«3 in Deutschland verdankte sich zu einem großen Teil den Berichten deutscher Parisreisender.4 Es gab zwar eine Überfülle politischer Informationen in den Druckerzeugnissen, deren Zahl seit 1789 drastisch anschwoll;5 doch sie boten häufig widersprüchliche Angaben, die oftmals lediglich aus französischen Zeitungen übernommen wurden.6 Deshalb fragte die deutsche Öffentlichkeit insbesondere nach solchen Zeugnissen, die eine direkte Teilnahme an den Ereignissen in Paris erkennen ließen und in Deutschland publiziert wurden. Sie kamen dem gesteigerten Informationsverlangen nach und stillten den Orientierungswunsch in einer dramatisch bewegten Zeit.7 Sie dienten als »Agentur der Informationsvermittlung zwischen dem Mutterland der Revolution und dem politisch als rückständig eingeschätzten Deutschland«,8 boten oder suggerierten Authentizität, konnten mit einem nationalen Lesepublikum rechnen und hatten somit einen gewichtigen Einfluß auf das politische Meinungsbild der deutschen Rezipienten.9 Die Mehrzahl dieser ›Revolutionstouristen‹ machte dem unruhigen Paris schon in der frühen Revolutionsphase ihre Aufwartung.10 Einer der ersten aus dieser Gruppe von Reisenden war der Romanschriftsteller Johann Christoph Schulz aus Magdeburg, den es schon im Juni 1789 nach Paris zog. In den vier Monaten seines Aufenthaltes verfaßte er die »Geschichte der großen Revolution in Frankreich«, in der er in einem detailgetreuen und zusammenhängenden Augenzeugenbericht seine Eindrücke wiedergab, die lebhaft in Deutschland aufgenommen wurden. Als Anhänger einer konstitutionellen Monarchie läßt er seine Geschichte der Französischen Revolution mit der Konstituierung der Nationalversammlung in Versailles beginnen, in der er einen neuen Geist sich entwickeln sieht, der abwechselnd mit Verbitterung auf die Vergangenheit, mit Skepsis auf die Gegenwart und voller Hoffnung auf die Zukunft blicke.11 Anschließend setzt ein Bericht ein, der kaleidoskopartig Handlungen sowie Charakteristika von Haupt- und Nebenakteuren, manchmal anekdotenhaft, mit minutiösen Schilderungen von kritischen Situationen verbindet. Schulz erin3 Stern, S. 17. 4 Vgl. als Überblick besonders Ruiz, S. 229-251; Hammer, S. 26-42. 5 Vgl. Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 20. 6 Vgl. Gerhard Kozieleck im Nachwort zu Schulz, S. 292. 7 Vgl. Hentschel, S. 324 f. Zur Wahrnehmung der Fremde im Reisebericht vgl. Brenner, S. 14-49. 8 Boehncke u. Zimmermann, S. 14. 9 Vgl. Peitsch, S. 186 f.; Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 19. 10 Vgl. Kozieleckim Nachwort zu Schulz, S. 295 f.; als ersten Überblick vgl. auch im folgenden Stern, S. 17 ff. 11 Vgl. Schulz, S. 26.

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nert an die politischen und moralischen Schrecken der Vergangenheit und schildert den Gang der weiteren Ereignisse bis zum Zug nach Versailles im Oktober 1789. Er beläßt es bei der Beschreibung der Sitzungen der Nationalversammlung samt ihren Gegensätzen, Intrigen, aber auch politischen Erfolgen, außerdem bei der Frage nach der Verfassung und der Rolle des Königs. Zentral sind die eindringlichen Schilderungen tagespolitischer Geschehnisse auf der Straße mit ihren schon früh einsetzenden Grausamkeiten, die Schulz zwar verabscheut, aber immer wieder auch rechtfertigt, da er sie zu der fortwährenden Aufwärtsbewegung der Menschheit im Zeichen von Aufklärung und wohlgeordneter Freiheit rechnet.12 Andeutungen zum Themenkomplex ›Revolution und Zeiterfahrung‹ bzw. Gedanken zu einem wahrgenommenen Epochenbruch und zu einem neuen Zeitempfinden, das auf das Revolutionsverständnis zurückwirkt, finden sich dagegen in dieser spannenden, aber doch weitgehend auf der Ereignisebene verbleibenden Revolutionsgeschichte nicht. Schon im August 1789 traf auch der junge Begleiter Joachim Heinrich Campes, Wilhelm von Humboldt, in Paris ein, der seine Eindrücke in den »Pariser Tagebüchern« festgehalten hat.13 Humboldt stand den revolutionären Ereignissen kühler als Campe gegenüber, seine kurze Darstellung des unruhigen Paris bleibt die eines am Augenschein haftenden Städtetouristen. Sie erschöpft sich in der Beschreibung von Örtlichkeiten wie den Tuilerien mit ihren Kunstwerken oder der Bastille mit ihrer grauenerregenden Architektur. Reflexionen über das revolutionäre Geschehen und seine Bedeutung für ein neuartiges Zeit- und Revolutionsverständnis finden sich dagegen überhaupt nicht. Sie tat Humboldt erst aus einer größeren zeitlichen und örtlichen Distanz heraus in einem Brief an Karl Gustav von Brinkmann vom 19. Dezember 1793 kund, als die Schreckensherrschaft ihrem Höhepunkt zustrebte. Er sei überzeugt, daß »etwas Gutes und Großes aus dem Chaos« der Revolution hervorgehen und »eine völlig neue Epoche« beginnen werde.14 Als unmittelbarer Beobachter der Revolutionsereignisse bleibt Humboldt aber sichtlich unergiebig. Einer der wenigen Deutschen, der sich schon vor der Revolution in Frankreich aufhielt, war der schwäbische Pfarrerssohn Karl Friedrich Reinhard, der später in französischen diplomatischen Diensten stand. Er ging schon 1787 nach Bordeaux, wo ihn die Nachricht der Pariser Revolution erreichte, der er sich sogleich anschloß. Dort verfaßt er zwischen Juli und Oktober 1789 die »Briefe über die Revolution in Frankreich«,15 die zwar auch die Situation in den Provinzen berücksichtigen, aber trotz der räumlichen Distanz zu Paris das dortige Geschehen detailliert, wenn auch nicht aus der Perspektive der direkten 12 13 14 15

Vgl. ebd., S. 135 f. Vgl. Humboldt, Kleine Schriften, S. 37-51. Humboldt, Briefe, S. 72. Reinhard, Briefe, S. 459-518.

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Augenzeugenschaft wiedergeben. Reinhard berichtet distanzierter, da weniger in die Ereignisse involviert als die Parisreisenden, von den vermuteten Ursachen der Revolution,16 der aufgeregten Stimmung in der Hauptstadt und der Grande Peur auf dem Lande, den Truppenbewegungen, initiierten Intrigen der königlichen Regierung, dem Brotmangel, der Arbeitslosigkeit und dem stokkenden Wirtschaftsleben, über die Verhandlungen in der Nationalversammlung sowie über die Diskussion der Verfassung und einzelner Punkte aus ihr. Doch ganz verliert sich Reinhard nicht in der Beschreibung von politischen Aktionen, Verhandlungen, Stimmungsbildern und Ursachenanalysen, sondern ihm ist die Bedeutung dieser Umwälzungen bewußt, wenn er trotz der Bedenken über die Dauerhaftigkeit der revolutionären Errungenschaften ausruft: »Noch in keinem Volk, in keinem Jahre der Welt, hat man eine so ehrwürdige Versammlung und eine so merkwürdige Revolution gesehen wie diese«, die »eine der wichtigsten Begebenheiten in der Weltgeschichte« darstellt.17 Aber angesichts der schnellen und komplexen Ereignisfolge fehlen ihm »Zeit und Fähigkeit..., bis zu den ersten Triebfedern und Veranlassungen dieser grossen Begebenheiten hinaufzusteigen«, und die Vorbereitungen zur Verfassung nehmen einen so »raschen Gang, dass meine Materie, wenn ich sie irgend erschöpfen wollte, alle Gränzen eines Briefes übersteigen würde«.18 Auch Reinhard kommt über die Schilderung der »Wehen der Revolution und den Prozeß der demokratischen Umgestaltung« nicht hinaus.19 Zeiterfahrungen im Umfeld der Revolution lassen sich so nicht ausmachen, mit Ausnahme der Feststellung einer beschleunigten Ereignisfolge, über die er aber nicht weiter reflektiert, es sei denn über die Unmöglichkeit, dieser in seinen Briefen gerecht zu werden.20 Im März 1790 hielt sich auch Georg Forster für wenige Tage in Paris auf. In seinen sonst so informativen Reiseberichten und Beiträgen zur Geschichte und Politik finden sich aber kaum Notizen, die direkt aus diesen Tagen stammen. Erst 1792 schreibt und veröffentlicht er die »Erinnerungen aus dem Jahr 1790«, in denen er Essays zu zwölf Bildern und zwölf Porträts vorlegt, die das Jahr 1790 charakterisieren. In einer Bildbeschreibung beschäftigt sich Forster mit den 16 Vgl. dazu besonders Reinhard, Übersicht, S. 30-77. 17 Vgl. Reinhard, Briefe, S. 486, 518. 18 Ebd., S. 460, 486. 19 Nachwort von Kozieleck zu Schulz, S. 296. 20 Das Problem der angemessenen Distanz zu der Ereignisfulle spricht Reinhard auch noch mal in seinem Aufsatz in der Zeitschrift »Thalia« von 1791 über die »vorbereitenden Ursachen der Französischen Staats-Veränderung« an: »Der bequemste Standpunkt für den Beobachter ist gewöhnlich weder in zu großer Entfernung, sei's der Zeit oder des Orts, noch in großer Nähe: jenes, weil veraltete Urkunden die Merkmale der Echtheit verlieren, oder weil zu entfernte Gewohnheiten und Denkungsarten ihm fremd sind; dieses, weil herrschende Meinungen und Leidenschaften ihn in ihrem Wirbel hineinreißen, oder weil den Zeitgenossen, sei's mit den bloßen Erscheinungen beschäftigt, sei's von den handelnden Personen getäuscht, weder Zeit noch Mittel bleibt, die Begebenheiten zu verfolgen.« (in: Günther, S. 189 f.).

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Vorbereitungen zum Föderationsfest. Nach seinen Einschätzungen ergriffihn damals eine solche Begeisterung, daß ihn das Thema der Revolution bis zu seinem Lebensende nicht mehr losließ, ahnte er doch die beispiellose Bedeutung der Ereignisse, deren Folgen unabsehbar seien: »Wie die Französische Revolution in das Schicksal der Menschheit eingreift, und was sie wirken werde bis ans Ende der Welt - wer mag das jetzt schon bestimmen?« 21 Die Arbeiten für das Föderationsfest sind für ihn eine Illustrierung eines weltbewegenden Enthusiasmus, der sich aus einer gärenden Volksmasse heraus entwickle. 22 Der Zuschauer dieser Ereignisse könne nicht mehr an sich halten und verliere in seiner Beschreibung jede Distanz, denn die »Gelassenheit, womit wir auf unserm Sofa oder an unserm Schreibtisch über die Welthändel urtheilen und die Partheien bald lossprechen, bald verdammen, fällt auf dem Schauplatze der Handlung weg; man steht dort gleichsam auf glühendem Boden, und man gehorcht der Allgewalt der Umstände, die ein unaufhaltsames Schicksal seit Jahrhunderten schon vorbereitet hatte.«23 Diese mit ohnmächtiger Faszination auf die Geschehnisse blickende Haltung sollte sich immer stärker in Forsters politischer Einstellung durchsetzen und wird uns noch weiter unten beschäftigen. Doch ansonsten läßt auch Forster wenig von einer unmittelbaren Zeit- bzw. Revolutionserfahrung in der Frühphase der Französischen Revolution erkennen. Anfang Juli 1790 gelangte der Schlesier Konrad Engelbert Oelsner nach Paris, wo er sich mit einigen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1828 aufhalten sollte. Er nahm aufmerksam am politischen Leben teil, verkehrte im Jakobinerklub, von dem er sich später als Girondist aber wieder abwandte, und verfolgte intensiv die Arbeit der Nationalversammlung und des Konvents, so daß er sich zu einem intimen Kenner der Pariser Revolutionsszene profilierte. 24 Aus der Zeit von 1790 bis 1793 entstanden eine Reihe von Berichten und Briefen, die in der »Minerva« und in den »Friedenspräliminarien« veröffentlicht wurden. 25 1797/99 erschienen diese in zwei Bänden unter dem Titel »Luzifer oder Gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution«. 26 Diese in lockerer Form gehaltenen Berichte und Briefe geben theoretische Überlegungen zur politischen Organisation des französischen Staates, Anekdoten und Berichte über die Ereignisse vor und nach 1790 wieder, schildern in naturalistischer Weise eindringlich Szenen wie den Sturm auf die Tuilerien oder die Septembermorde, skizzieren individuelle sowie kollektive Schicksale und charakteri21 Forster, Bd. 3, S. 460 f. 22 Vgl. ebd., S. 462. 23 Ebd., S. 461. 24 Vgl. zu Oelsner Kozieleck im Nachwort zu Schulz, S. 301 ff.; das Vorwort von Werner Greiling zu dem Auswahlband Oelsner, Luzifer, mit Essay, S. 7-28. 25 Vgl. zu den Friedenspräliminarien Peitsch, S. 187. 26 Vgl. den verdienstvollen Reprint im Scriptor Verlag, KronbergTs. 1977, hg. v. Jörn Garber.

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sieren herausragende Gestalten der Revolution. Es finden sich weitsichtige Einschätzungen z. B. über außenpolitische Ereignisse wie die Kanonade von Valmy27 oder über die Politik der Bergpartei, die er immer schonungsloser kritisiert.28 Obwohl er später die gewaltsame Entwicklung der Revolution verabscheut, sieht er doch ihre lehrreiche Notwendigkeit: »Die Französische Revolution erschütterte den Erdball. Gross, wichtig und lehrreich, verdiente sie, bis in die rohesten Elemente gekannt zu werden.« 29 An späterer Stelle bemerkt Oelsner schließlich verwundert: »Die Revolution hat die Fortschritte des menschlichen Geistes auf die ausserordentlichste Weise beschleunigt: eine Menge Wahrheiten und Meinungen, mit welchen man vor einigen Jahren für einen Denker gehalten wurde, den seine Originalität zu den Tafeln der Grossen führte, sind jezt gang und gäbe, und in den Köpfen vorurtheilsfreier Praktiker lichter und solider geworden, als man sie da findet, wo sie blosse Spekulation und Spiel des Geistes gewesen sind.«30 Trotz der Erkenntnis über die einschneidende Bedeutung der Pariser Ereignisse und ihrer Vorbildfunktion für die Menschheit, trotz der Erfahrung einer die geschichtliche Entwicklung beschleunigenden Zeit bleibt in den weiteren Beiträgen und Briefen das Phänomen einer neuen Zeiterfahrung angesichts revolutionärer Umwälzungen ungedacht. Am 1. Juli 1790 machte sich der oldenburgische Kanzleirat Gerhard Anton von Halem in die Schweiz auf, um anschließend dem revolutionären Frankreich einen Besuch abzustatten. Im Oktober traf er schließlich in Paris ein, wo er sich sieben Wochen aufhielt. Seine Reiseerlebnisse schildert Halem in 55 Briefen an einen fiktiven Empfänger, in einer Vorerinnerung und einem Nachwort. Darin macht er von vornherein deutlich, daß es ihm nicht um eine zusammenhängende Revolutionsgeschichte gehe, sondern um zufällige, sich aus dem Reiseverlauf ergebene Eindrücke. 31 Er als Autor wolle die Leser »unter die Menschen in ihrem jetzigen exaltierten Zustand« führen und »die Sitten lebendig, wie sie ... aufstiegen«, erhaschen. Daher rühren auch die vielfältigen und oftmals ungeordneten Beschreibungen der Pariser Örtlichkeiten und ihrer Kunstschätze, der Theater und Opern und ihrer Aufführungen, der Nationalversammlung und ihrer Verhandlungen, der politischen Klubs samt der dort gehaltenen Reden und getroffenen Beschlüsse und nicht zuletzt zentraler Persönlichkeiten aus dem Revolutionsgeschehen. Alltagsereignisse von der Straße und Greuelgeschichten finden sich dagegen in diesen Briefen weniger. Optimistisch und mit kaum verhehlter Begeisterung zeigt er sich in seinem Schluß27 Vgl. ebd., Teil 2, S. 242. 28 Vgl. ebd., S. 12 f.

29 Ebd., T e i l1,S. 2.

30 Ebd., S. 184. 31 Vgl. Halem, Teil 1, S. 2.

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wort von der Dauerhaftigkeit und Unabänderlichkeit des revolutionären »Schauspiels« in Frankreich überzeugt: »Der Hof hat sich jezt, glaub' ich, überzeuget, dass der Geist der Revolution ewig ist«. In Frankreich habe eine engagierte Öffentlichkeit gezeigt, »wie das hohe Interesse der Nationalfreyheit die Kräfte aller wunderbar spannte«.32 Dem wird aber keine Relevanz für Deutschland zugemessen, da dort die Entwicklung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, der Volksbildung und des nationalen Gemeingeistes defizitär sei.33 Mit Ausnahme der Bemerkungen über ein Fortwirken des revolutionären Geistes, also seiner Permanenz, finden sich in den Briefen aus Paris keinerlei Anzeichen für neuartige Zeiterfahrungen, sondern die gemachten Erfahrungen konzentrieren sich auf die oben genannten Eindrücke. Die »Vertrauten Briefe aus Paris«, die der Schriftsteller und Komponist Johann Friedrich Reichardt nach seinem vierwöchigen Pariser Aufenthalt im März 1792 verfaßt, sind in der Absicht geschrieben, »uns auf alle mögliche Weise von der Stimmung und Gesinnung des Volkes und von der gegenwärtigen politischen Lage des Landes zu unterrichten«.34 Entsprechend seinem feuilletonistischen Erzählstil und einer lockeren »Aneinanderreihung interessanter kulturgeschichtlicher Schilderungen«35 plaudert Reichardt über Opernund Theateraufluhrungen, Sitzungen der Nationalversammlung und des Jakobinerklubs, charakterisiert Persönlichkeiten und berichtet über die sich zuspitzende politische Lage, deren Radikalisierung er als Anhänger einer konstitutionellen Monarchie und Vertreter einer idealistisch-humanistischen Weltanschauung ablehnte.36 Doch die Allgegenwart und Ereignisflut der Revolution, die auf Reichardt einströmen und die er nicht zusammenzufassen weiß,37 scheinen ihn zu überfordern. Er kann dem nur noch durch das Anlegen eines abstrakt-humanistischen Maßstabes Herr werden und weicht so letztlich dem konkreten Geschichtsverlauf aus.38 Statt sich des Detailreichtums mit subjektiven Urteilskriterien anzunehmen, wird »das Erlebte ... überwiegend kumulativ zusammengetragen, Gehörtes unreflektiert wiedergegeben und das Geschehen anekdotenhaft verkürzt«.39 So meint Reichardt, von einem abstrakthumanistischen Ideal aus einen höheren Standpunkt gewonnen zu haben, läßt damit aber keinen Raum mehr für Zeitwahrnehmungen im Revolutionskontext. Nur einer der »Revolutionstouristen« scheint als Augenzeuge unmittelbar von den Ereignissen zum Ausdruck von Zeiterfahrungen provoziert worden zu 32 33 34 35 36 37 38 39

Ebd., Teil 2, S. 295, 311, 323, 266. Vgl. ebd., Teil 1, S. 30 ff.; Teil 2, S. 327. Reichardt, S. 60. Einleitung von Weber zu ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. hierzu Hentschel, S. 334 ff. Ebd., S. 336.

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sein. Als einer der ersten und vermutlich auch bekanntesten Revolutionsreisenden betrat der Jugendschriftsteller, Pädagoge, Sprachforscher und Verleger Joachim Heinrich Campe im August 1789 Pariser Boden. Seine dort innerhalb von drei Wochen verfaßten »Briefe aus Paris« erschienen bereits von Oktober 1789 bis Februar 1790 im »Braunschweigischen Journal« und erlebten bis 1792 vier deutsche und zwei holländische Auflagen. Sie zeichnen sich durch einen hochgestimmten, zuweilen pathetischen Stil aus, durch emphatische Betrachtungen über die erregende Atmosphäre und allgemeine Gärung auf den Plätzen und Straßen, in der Nationalversammlung und an anderen Örtlichkeiten. Sie beschreiben das französische Volk und dessen Nationalcharakter, revolutionäre Tagesereignisse und herausragende Persönlichkeiten sowie die philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Ursachen der Revolution. 40 Wie viele seiner ›Mitreisenden‹ fühlt sich auch Campe überfordert von der Auseinandersetzung mit »der eingesammelten Ideen- und Empfindungsmasse«, die »das Chaos noch chaotischer« machen: »Wie soll ich anfangen, die äußeren Sinne zu verstopfen, um den inneren Zeit und Raum zu verschaffen, den schon eingesammelten zu großen Vorrat neuer Vorstellungen nur erst insoweit auseinanderzulegen, daß das Gedächtnis ihn in seine Fächer aufnehmen kann?«41 Ein Mittel, sich gegen äußere Einflüsse zu wehren, sieht Campe in der Auseinandersetzung mit einem fiktiven Briefpartner. Als Zuschauer eines Schauspiels, 42 als der er sich versteht, versucht er so, seinen Empfindungszustand, nicht »die Geschichte der französischen Staatsumwälzung«, 43 auf andere zu übertragen, auch wenn dabei Ordnung und Zusammenhang nicht zu erwarten seien. 44 Gerade aufgrund dieses Zugeständnisses an die Subjektivität seiner Darstellung schillert durch Campes Überlegungen immer wieder die Erfahrung einer neuartigen Zeitqualität angesichts radikaler äußerer Veränderungen durch. Das gegenwärtige Ereignis der Revolution betrachtet Campe in seiner Einmaligkeit als eine deutliche Zäsur in der Menschheitsgeschichte, das »in der ganzen Geschichte bis jetzt... noch nie seinesgleichen gehabt hat und was also etwas ganz Unerhörtes außerhalb der bisher bekannten Natur und Ordnung der Dinge« zu sein scheine. 45 Es wird, wie er schon wenige Tage vor seiner Ankunft in Brüssel herausstreicht, zu einem epochalen Neubeginn, der eine noch nie dagewesene Zukunft eröffne: 40 Vgl. Campe, S. 207 ff. 41 Ebd., S. 113 f.

42 43 44 45

Vgl. ebd., S. 113 f., 134 u. a. m. Ebd., S. 256. Vgl. ebd., S. 115. Ebd.,S. 180; vgl. auch S. 114 u. 134.

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»Das Jahr 1790 wird in der Geschichte der Menschheit eine neue Epoche machen. Was jetzt in Frankreich geschieht und was in den österreichischen Niederlanden nächstens geschehen wird, kann nicht ohne große segensreiche Folgen für die gesamte Menschheit in allen fünf Weltteilen bleiben.«46 Damit ist Campe ein Beobachter, der schon sehr früh nicht nur die grenzüberschreitende, sondern auch welthistorische Bedeutung der Französischen Revolution erkennt. Diese bekommt als Perspektivbegriff Vorbild- und Leitfunktion zugewiesen und bedeutet nicht mehr Rückkehr zu einem alten Zustand, sondern setzt neue Erwartungshorizonte frei. Erstmalig in der Weltgeschichte falle eine Revolution auf den fruchtbaren Boden der Aufklärung und könne so einen günstigen Verlauf und eine »herrliche Perspektive« erwarten lassen. 47 Campe rechnet mit einer fortdauernden »Wiedergeburt« in eine neue Zeit hinein. 48 Der Zusammenhang mit der bisherigen Geschichte werde so gelöst. Die Umwälzungen wirkten permanent fort, wobei auf die Französische Revolution als Initialzündung immer wieder Bezug genommen wird. Gerade in Revolutionen bekomme ›Zeit‹ eine selbständige und weltimmanente Funktion; sie, die eine offene Zukunft ermögliche, gelte es zu ergreifen, um seine eigene Geschichte oder konkreter: seine Staatsverfassung im Sinne der Wirklichkeit gewordenen Aufklärung zu gestalten.49 Hiermit geht eine Beschleunigungserfahrung einher, die sich gerade der vorrevolutionären Zeit schuldet, in der Campe ein Moment der Gärung sieht, das durch Unterdrückung der Aufklärung von staatlicher Seite her nur weiter fortgetrieben sei, um schließlich in einer Revolution zu enden: »Alle Anstalten des Despotismus zur Unterdrückung der Vernunft sindjetzt umsonst - was sage ich -, sie sind vielmehr gerade das wirksamste, gerade das unfehlbarste Beschleunigungsmittel, eine allgemeine Aufklärung zu verbreiten, den Despotismus zu stürzen und die Menschheit in die ihr geraubten Rechte um so viel schneller und gewisser wieder einzusetzen. Dies lehrt u n s Frankreich in seiner jetzigen Umwandlung.«50 Jeder retardierende Eingriff in den Geschichtsprozeß wirke gerade kontraproduktiv und beschleunige diesen nur. So sei die Französische Revolution schließlich die schnellste, aufgrund der fortgeschrittenen Aufklärung aber auch friedlichste Umwälzung aller Zeiten gewesen. 51 ›Zeit‹ wurde also gerade in einem Beschleunigungsprozeß erfahr- und machbar, den die Kräfte der Vergangenheit lostraten. ›Revolution‹ als Reaktion auf diese Kräfte setzte eine Gegenwart frei, die ständig in die Zukunft enteilte. Die hypothetische Fort-

47 Vgl. ebd., S. 275 f. 46 Ebd., S. 108 f. 49 Vgl. ebd., S. 274 ff. 48 Vgl. ebd., S. 115. 50 Ebd., S. 210. Die Kursivschrift stammt auch in allen folgenden Zitaten meiner Arbeit grundsätzlich aus dem Originaltext. 51 Vgl. ebd., S. 197 f.

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Schrittsgeschichte der Aufklärung wurde mittels Beschleunigung zur konkreten Erwartungsgeschichte, die aber auch der antithetischen Rückbindung an die despotische Vergangenheit bedurfte. Bis in seine Alltagsbetrachtungen hinein sieht Campe dieses Beschleunigungsmoment wirken, wenn er staunend feststellt, wie dicht die Zeit mit Arbeit und Geschäftigkeit angefüllt sei und welch ein Reichtum von Ideen zu Papier gebracht werde, der »in kurzem ganz Europa überschwemmen« 52 würde. Angesichts der Ereignisse scheine sich auch das Denken den beschleunigten U m ständen anzupassen. Obwohl Campes konkrete Erwartungen an die Revolution und ihre Revolutionäre sehr optimistisch sind,53 übersieht er nicht die Gefahren, wenn sich ›Zeit‹ zu überschlagen und verselbständigen drohe und auf diese Weise in ihrem Lauf den Menschen entgleite: »Wer vermag es, den reißenden Strom, der seine Dämme durchbrochen hat, wieder in das alte Bett zurückzuführen und ihm zu gebieten: zwischen diesen zerrissenen Dämmen sollst du bleiben, bis wir Zeit gewinnen werden, dich durch neue einzuschränken? «54 ›Zeit‹ mit einer eigenen geschichtlichen Qualität barg also auch etwas Bedrohliches in sich, das in den 1790er Jahren verstärkt empfunden wurde, wie noch weiter unten zu sehen sein wird. Doch bei Campe überwiegt zunächst trotz dieser anklingenden Skepsis die positive Beurteilung einer neuen Zeit und ihrer Chancen für die Zukunft. Hier finden wir in nuce schon Momente der neuartigen Zeiterfahrung, die Koselleck im Umfeld und Gefolge der Revolution von 1789 ausmacht. Die Frage, die sich unausweichlich stellt, ist die nach der Ursache für das weitgehende Schweigen der Quellen - abgesehen von den erwähnten Äußerungen Campes, die aber im Vergleich zu seinen ›Mitreisenden‹ eine Ausnahmestellung einnehmen. Das große Interesse an der Revolution, überhaupt die Reisefreudigkeit in Richtung Paris mögen darauf hindeuten, daß die französischen Umwälzungen als etwas Außergewöhnliches empfunden wurden. Schulz spricht von einem »neuen Geist«, Oelsner von großen Erschütterungen und Campe von einem weltgeschichtlichen Epochenbruch, doch weiterführende Gedanken zum Beginn einer neuen Zeit, welche die Vergangenheit radikal hinter sich läßt, finden sich nicht. Reisenden, die in den ersten zwei bis drei Jahren Paris besuchten, fanden sich dort mit einer Ereignisfülle konfrontiert, die alles Vertraute, wie man es aus der Tradition des Reformabsolutismus in Deutschland kannte, 55 umzukehren drohte. Alle Berichte der Parisreisenden hatten sich mit diesem ordnungslosen »Chaos der Meinungen und Ereignis52 53 54 55

Ebd., S. 279. Vgl. ebd., S. 275. Ebd., S. 178. Vgl. z. B. Wehler, Bd. 1, S. 230ff.u. 359ff.;Fehrenbach, Ancien régime, S. 51.

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se«56 auseinanderzusetzen, welches das geschichtsphilosophische Denken der Aufklärung permanent irritieren und die geschichtliche Konsistenzerfahrung sprengen mußte.57 Gerade aus diesem Grund erklären sich die Skepsis und »resignative Enthaltung«58 der ›Revolutionstouristen‹ gegenüber einer zusammenhängenden Geschichtsschreibung der Revolution, aber auch die Bevorzugung der literarischen Form des publizistischen Briefes als Grenzgänger zwischen Öffentlichkeit und Intimität, Objektivität und empfindender Subjektivität. Die überforderten Geschichtsschreiber der Gegenwart nutzten die Briefform »zur Antwort auf den Geschiehtserfahrungsverlust für den Einzelnen, auf die Zeitbeschleunigung, auf die abstrakte Gleichzeitigkeit einer weltgeschichtlichen Gegenwart und drohenden Subjektlosigkeit des geschichtlichen Prozesses mit dem Angebot einer literarisch vermittelten Unmittelbarkeit kommunikativ vollzogener ›Mitzeitigkeit‹.« 59

So sollte der Unmittelbarkeit einer dichten und unüberschaubaren Erfahrungswelt formal begegnet werden. Auf der Suche nach einem möglichst authentischen Bild der Revolution hatte der Parisreisende eine »intellektuelle Suchbewegung« anzustrengen, um sich im »Meer einander überschlagender und überbietender Ereignisse« zu orientieren. Die Reisenden entwickelten so etwas wie eine »Topographie ihres Wahrnehmungsfeldes, sie strukturieren ihre Beobachtungen um Ankerplätze, um repräsentative Orte des Revolutionsgeschehens«.60 Es sind Tableaus von Paris, um welche die Revolutionsereignisse gruppiert werden.61 Die gedrängte Erzählweise versucht so, der Vielfalt der Wahrnehmungen gerecht zu werden, schildert menschliche und allzumenschliche, emotionale und imaginative Momente, beschreibt Örtlichkeiten, Institutionen und Persönlichkeiten und berichtet - manchmal anekdotenhaft - über tages- und alltagspolitische Ereignisse der Straße. Angesichts der schnellen Ereignisfolge, die keinen Halt mehr in der Vergangenheit ermöglichte, wurde die sinnliche Gegenwart des aktuellen Geschehens in der Empfindung und Einbildungskraft »zum unbefragten Ausgangspunkt eines geschichtlichen Sinnentwurfs«62 - so insbesondere bei Campe. Dieser Sinnentwurf war aber ein abwartender, der eines Zuschauers in einem Schauspiel, der in das Geschehen nicht eingriff und die Revolution nur in sich aufnehmen wollte.63 Deshalb vermochten es diese Tableaus kaum, dem 56 Boehncke u. Zimmermann, S. 16 f. 57 Vgl. auch im folgenden Oesterle, S. 11-75, hier 39. 58 Ebd., S. 40. 59 Ebd., S. 35. 60 Boehncke u. Zimmermann, S. 16. 61 Vgl. zur Funktion von Tableaus Oesterie, S. 15; Peitsch, S. 190 ff. 62 Oesterie, S. 42. 63 Vgl. zum Revolutionsreisenden als ›Zuschauer‹ in einer Revolution als ›Schauspiel‹ mit ihren Szenen als ›GemäIde‹ Peitsch, insbesondere S. 189,192 f.; Kurz, besonders S. 133 f.

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Detailreichtum einen Filter vorzuhalten. Sie lenkten den Blick auf bestimmte Felder, doch dort war der Zuschauer der Revolution mit einer Wahrnehmungsflut konfrontiert, von der er nicht abstrahieren konnte, um das fundamental Neue dieser Revolution im Zeitbewußtsein, sprich: den Epochenbruch und Beginn einer neuen Zeit zu erkennen. Die Beschleunigung von Zeit, der die Parisreisenden auch und gerade als passive Zuschauer ausgesetzt waren, verhinderte eben ihre Thematisierung. So konnte die Beschleunigungserfahrung auch nicht als Appell an das eigene Handeln verstanden werden, Zukunft akzeleriert herbeizuführen und die eigene Geschichte zu gestalten, da die Ereignisfülle und -dichte rein rezeptiv verarbeitet wurde, ohne ihre Konsequenzen näher in Betracht zu ziehen. Und auch der Eindruck einer Revolution in Permanenz kam deshalb nicht zur Sprache, da die Französische Revolution in der Flut der Tagesereignisse noch zu sehr als punktuelles, weniger kontinuierliches Geschehen angesehen wurde. Kurz: Die mittels Tableaus - oder wie bei Reichardt durch einen abstrakt-humanistischen Maßstab - gefaßte Fülle von Revolutionseindrücken verblieb ohne ordnende Instanz auf der Wahrnehmungsebene der Ereignisse und ließ keine reflexive Rückbindung an das Moment einer neuen Zeiterfahrung zu. 2. Die Französische Revolution in der deutschen Öffentlichkeit: vergessene Zeit Im Angesicht der Revolution blieben neuartige Zeiterfahrungen aus. Doch wie erlebte man die ›neue Zeit‹ in unmittelbar zeitlicher Nähe zu den Ereignissen von 1789 in Deutschland selber? Wie schon in der Einleitung erwähnt, trafen die Pariser Umwälzungen in den deutschen Staaten auf einen publizistisch sensibilisierten Boden, auf dem die Ereignisse diskutiert werden konnten.64 Doch der eigentliche Gründungsboom an Zeitschriften, die sich mit dem aktuellen Tagesgeschehen beschäftigten, setzte nach 1790, zumeist ab 1792 ein, also mit Ausrufung der Republik in Frankreich.65 Erst als die radikalisierte Revolution für die deutschen Rezipienten seit 1792 räumlich und auch gedanklich näherrückte, begann der politische Differenzierungsprozeß in einer sich schlagartig ausweitenden Zeitschriftenlandschaft. Allein quantitativ ist also die Auswahl historisch-politischer Blätter für die ersten zwei bis drei Jahre begrenzt. Maximal zehn der herangezogenen Zeitschriften bestanden schon 1789, die meisten davon mit aufklärerischen Tendenzen. Ein auffälliges und durchgehendes Merkmal der frühen Revolutionsrezeption in Deutschland ist die fast einhellige Begrüßung der Pariser Ereignisse, was 64 Vgl. dazu auch Nolte, Republikanismus, S. 11. 65 Vgl. Fleck, S. 343 f.; Abdelfettah S. 22.

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in der Forschung bis heute kaum umstritten ist. Eine Polarisierung der politischen Positionen zur Revolution und eine Ausweitung der Diskussionslandschaft habe erst mit der Radikalisierung der Revolution und der drohenden Kriegsgefahr seit 1792 eingesetzt.66 Dieses Urteil aus der Fachliteratur wird durch die hier ausgewerteten Quellen gestützt - allerdings nur sofern die Revolution überhaupt ein Thema ist! Die Französische Revolution, beschrieben als historischer »Wendepunkt in der neuzeitlichen Entwicklung«,67 ist jedoch bei aller Zustimmung zu den Ereignissen um 1789 in den Zeugnissen nur sehr schwach ausgeprägt. Die als Belege für die Frühphase der Revolution herangezogenen expliziten Äußerungen hinsichtlich des Anbruchs eines neuen Zeitalters stammen fast immer von einschlägigen Geistesheroen wie Klopstock, Wieland, Schiller, Kant, Fichte, Hegel u. a. m.68 Darüber hinaus wird in Christian Schubarts »Chronik« dem gealterten Jahrhundert eine neue »Schöpfungskraft«69 attestiert, die beispiellos in der Weltgeschichte sei.70 Und selbst ein später so antirevolutionär ausgewiesener Konservativer wie Friedrich Gentz gesteht noch im Dezember in seinem vielzitierten Brief an Garve: »Das Scheitern der Revolution würde ich für einen der härtesten Unfälle halten, die j e das menschliche Geschlecht getroffen haben. Sie ist der erste praktische Triumph der Philosophie, das erste Beispiel einer Regierungsform, die auf Prinzipien und auf ein zusammenhängendes System gegründet wird. Sie ist die Hoffnung und der Trost für so viele alte Übel, unter denen die Menschheit seufzt.«71

Doch solche Stimmen sollten nicht als zeittypisch verallgemeinert werden, wie der publizistische Fundus an historisch-politischen Zeitschriften eindeutig zeigt. Auch der Quellenband von Jörn Garber zur frühkonservativen Kritik der Revolution enthält nur einen Text aus der Zeit vor 1792.72 Obwohl das Neuartige der Revolution vielleicht geistig präsent gewesen sein mag, halten sich Aufsätze in den Journalen weitgehend zurück bei der näheren Charakterisierung 66 Schon die geistesgeschichtlich ausgerichtete Studie Alfred Sterns spricht von »uneingeschränkten Gefühlen der Bewunderung«, die sich durch die ersten Eindrücke und Äußerungen ziehen (Stent, S. 3). Auch Fritz Valjavec stellt eine große Zustimmung im Umfeld des Bürgertums und der Gebildeten zu den Vorfällen um 1789 heraus: »Die Frontstellung einiger Konservativer gegen die Revolution war anfänglich vereinzelt und bedeutungslos.«(Valjavec, S. 156; vgl. auch Nolte, Republikanismus, S. 11 f.). Und Hans-Ulrich Wehler stimmt in den Chor mit ein, wenn er der Mehrheit der deutschen Gebildeten - gleich welcher politischer Couleur - Sympathien zu dem revolutionären Geschehen bis weit in das Jahr 1792 nachsagt (vgl. Wehler, Bd. 1, S. 350 f.). 67 Wehler, Bd. 1, S. 350 f. 68 Vgl. hierzu beispielhaft Raumer u. Botzenhart, S. 24-37; Fehrenbach, Ancien régime, S. 57 f.; Wehler, Bd. 1, S. 350 f. So kann auch das Urteil Paul Noltes über das »unmittelbar, im Augenblick des Ereignisses, [auftretende] Bewußtsein für den welthistorischen Einschnitt, für die Geschichtswende« nicht in dieser Form verallgemeinert werden (Nolte, Republikanismus, S. 11 f.). 69 Chronik, 1790, Bd. 1, S. 41. 70 Vgl. auch Neuer Teutscher Merkur, 1790, Bd. 1, S. 41 f. 71 Garve, in: Hermand, Bd. l,S.99f. 72 Vgl. Garber, Kritik der Revolution.

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eines Epochenbruchs; der Scheidepunkt zwischen alter und neuer Zeit wird nicht näher bedacht, allenfalls in wenigen Fällen konstatiert. Überhaupt lassen sich in dem untersuchten Öffentlichkeitsraum neuartige Zeit- und Revolutionserfahrungen, wie sie Koselleck mit dem ›Epochenereignis‹ von 1789 in Verbindung bringt - insbesondere die Phänomene der Zeitbeschleunigung, der Permanenz von revolutionären Veränderungen, des Auseinanderrückens von Erwartungshorizont und Erfahrungsraum und der Verfügbarkeit von Zeit -, im unmittelbaren Umfeld der Revolution kaum feststellen. Welches waren statt dessen die Themen, die vornehmlich in den Zeitschriften behandelt wurden und sich mit den Ereignissen in Frankreich beschäftigten? Die bis etwa 1791 »relativ sachlich«73 geführte Diskussion setzte sich vornehmlich mit Fragen auseinander wie denen nach den Ursachen und weiteren Entwicklungswegen der Revolution, nach ihrer Rechtfertigung, nach Menschen-, Bürger- und Presserechten, mit dem Problem einer Staatsverfassung oder mit tagespolitischen Aspekten wie der Arbeit und Aufgabe der Nationalversammlung, der Rolle des Königs und der politischen Klubs.74 Die kontrovers geführten Auseinandersetzungen um diese Themen wurden aber getragen von einer breiten Zustimmung zu den französischen Ereignissen, so daß sich die weltanschauliche Differenzierung in politische Strömungen noch weitgehend in den Anfängen befand. Die Gründe für das Ausbleiben einer Revolution in Deutschland sind in der Forschung vielfach erörtert worden.75 Neben einem auch zahlenmäßig schwachen Bürgertum, einem weniger mächtigen Adel als in Frankreich, der dafür aber institutionell gut verankert war, den isolierten Bauernunruhen, dem Fehlen einer ausgereiften Sozialrevolutionären Situation und der Inhomogenität eines zersplitterten Reiches ohne Hauptstadt wird als Grund auch immer der Einfluß der Aufklärung und frühen Klassik auf die Gebildeten genannt. Politisch-sozialer Fortschritt sollte durch Aufklärung des Menschen und eine aufgeklärte Politik vorangetrieben werden, nicht durch Revolutionen.76 So wurde die Französische Revolution mehr als philosophisches Ereignis begrüßt, als Selbstbeweis für die »Unwiderstehlichkeit aufgeklärter Prinzipien«,77 weniger als Vorbild für eigene Handlungsoptionen: »Die Konsequenz radikalen Handelns wurde nur selten aus den hochgeschätzten Aufklärungsideen gezogen, die Einsicht in die begrenzten Möglichkeiten, die Intellektuelle 73 Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 20. 74 Vgl. hierzu als ersten Überblick folgende Quellensammlungen: Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 27-79; Stammen u. Eberle, Französische Revolution, S.161-215; Träger, S. 635698. 75 Vgl. Weis, S. 202 ff.; Fehrenbach, Ancien régime, S. 51; Wehler, Bd. 1, S. 355 ff.; Berding u. Ullmann, S. 25 ff. 76 Vgl. Vierhaus, Deutsche Urteile, S. 8 f. 77 Ebd., S. 9; vgl. auch den oben zitierten Brief Gentzens an Garve.

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in der praktischen Politik besaßen, w a r bis hin zur Resignation überscharf ausgeprägt, zumal die handlungsfähigen Adressaten revolutionärer Appelle w e i t u n d breit nicht zu sehen waren.« 7 8

Dieses »akademisch geschulte, überwiegend an Karrieren im Staats- und Stadtdienst gebundene Bildungsbürgertum«79 dachte nicht unkritisch, aber staatsbezogen. Doch auch diejenigen Bildungsbürger, deren Lage aufgrund ihrer prekären sozialen und wirtschaftlichen Situation, ihres verletzten Stolzes und ihrer fehlgeschlagenen Hoffnungen auf eine geachtete und gesicherte Stellung zeitweise unerträglich erschien, schafften nicht den Sprung zu einer aktiven revolutionären Intelligenz.80 Außerdem vermochte das Reformwerk des Aufgeklärten Absolutismus eine revolutionäre Situation zu entspannen und die Folgen der vorhandenen Mißstände abzuschwächen, anders als in Frankreich, wo sich die Regierung nicht mehr gegen die starke adlig-bürgerliche Opposition durchsetzen konnte. Blieb dieser monarchische Reformabsolutismus auch letztlich auf halber Strecke stehen, trieb er doch trotz seiner »eigentümliche[n[ Zwitterstellung«81 die Modernisierung so weit, daß das Revolutionspotential zumindest zeitweilig aufgefangen werden konnte.82 Es entwickelten sich schwächere Konfliktherde und ein größeres Vertrauen auf systemimmanente Reformen als in Frankreich. Deshalb konnte die Revolution 1789 von den Zeitgenossen als fast notwendige Antwort auf die spezifisch französischen Mißstände gesehen werden, Deutschlands Weg hingegen in Reformen und ausgewogenen Institutionen.83 Nun endlich stimme, wie Wieland schon im Mai 1790 schreibt, die französische Staatsverfassung mit dem Zweck einer bürgerlichen Gesellschaft überein, wie man sie schon in Deutschland verwirklicht habe.84 Nur gewährte Aufklärung würde, wie Johann Benjamin Erhard in seiner politischen Theorie betont, eine Revolution verhindern.85 Auch ein Anhänger der Französischen Revolution wie Reinhard schließt einen Umsturz in Deutschland wegen der territorialen Zerstückelung, des Reformwerks und einer besseren »Nationalerziehung« aus.86 Allenfalls würde die Revolution Reformen in Deutschland beschleunigen.87 Der Enthusiasmus, mit dem diese Reformen allgemein eingefordert wurden, läßt sicher auch Rückschlüsse auf eine latente Unzufriedenheit in Deutschland über die erlah78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Wehler, Bd. 1, S. 356. Ebd., S. 210. Vgl. Fehrenbach, Ancien régime, S. 56 f. Wehler, Bd. 1, S. 361. Vgl. Raumer u. Botzenhart, S. 11 ff. Vgl. Becher, S. 153. Vgl. Neuer Teutscher Merkur, 1790, Bd. 1, S. 42. Vgl. Erhard, S. 97; zur politischen Theorie Erhards vgl. auch Batscha, S. 66-90. Vgl. Reinhard, Briefe, S. 517. Vgl. Abdelfettah, S. 22.

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mende Schwungkraft des Aufgeklärten Absolutismus und die soziale Situation der Gebildeten zu;88 eine Aufforderung an die politische Praxis ergab sich daraus aber nicht. Deshalb blieb die Einschätzung der Französischen Revolution als Epochenbruch folgenlos für die eigene Zeiterfahrung, da die Möglichkeit einer Revolution für Deutschland weitgehend ausgeschlossen und nicht als notwendig angesehen wurde. Das sozialökonomisch rückständige Deutschland bot »noch kein Experimentierfeld für fortschrittliche Gesellschaftskonzepte«, die Erfahrungen einer Revolution wurden »zumeist aus der Zuschauerperspektive gewonnen«.89 Der zäsurhafte Beginn einer neuen Zeit konnte sich so nur auf Frankreich beschränken, wurde als eine notwendige Folge aus den dortigen Bedingungen heraus wie selbstverständlich akzeptiert und befürwortet, hatte aber für die reformerische Tradition in Deutschland keine direkte, revolutionäre Relevanz und wurde selten eigens thematisiert. Die relativ wirksame Konfliktregelung des Reformabsolutismus zumindest in den größeren deutschen Staaten konnte sich noch als Stifter von Kontinuität gerieren; Geschichte blieb nur in diesen engen Grenzen für Deutschland gestaltbar, nicht im Rahmen einer Revolution. Der Erwartungshorizont erweiterte sich zwar, blieb aber dem Erfahrungsraum der deutschen politischen Verhältnisse weiterhin verbunden. Somit konnte sich auch das Bewußtsein einer Revolution in Permanenz in dieser Frühphase der Revolution nicht durchsetzen, da das Geschehen in Frankreich noch mehr als punktuelles, für Deutschlands politische Praxis folgenloses Ereignis beurteilt wurde, das allenfalls als ›Ideenrevolution‹ auf der Ebene einer evolutionären Entwicklung wirken konnte.90 Die revolutionären Ereignisse wurden nicht sofort als Totalrevolution erkannt, da auch eine politisch sensibilisierte Öffentlichkeit die soziale Dynamik und politische Radikalität einer grenzüberschreitenden Umwälzung zunächst nicht richtig einschätzte.91 Überblickt man die Zeugnisse aus den ersten drei Jahren nach 1789, läßt sich der Einbruch einer neuen Zeit- und Revolutionserfahrung noch nicht ablesen. Gerade die unmittelbare Konfrontation mit Beschleunigung und Kontinuität einer Revolution, also die mangelnde Distanz, verhinderte die Reflexion über diese Erfahrungsmomente. So bemerkt auch Ingrid Oesterle in einem Aufsatz über die Verschränkung von historischem Tempus- und literarischem Paradigmenwechsel: »Gegenwärtige Weltgeschichte ist vorzüglich dort, wo man nicht ist; nur selten kann einer sagen, er sei dabei gewesen.«92 88 89 90 91 92

Vgl. Fehrenbach, Ancien régime, S. 56. Ebd., S. 160. Vgl. ebd., S. 57. Vgl. dazu auch die Bemerkung von Vierhaus, Deutsche Urteile, S. 7. Oesterle, S. 37.

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IL Schwindende Zustimmung zur Revolution: entfesselte Zeit Mit der Radikalisierung der Revolution seit 1792 weitete sich in Deutschland die öffentliche Diskussion aus und zog eine Gründungswelle neuer historischpolitischer Zeitschriften nach sich. Im Anschluß an die Ereignisse der Jahre 1792 (Erstürmung der Tuilerien, Septembermorde, Abschaffung der konstitutionellen Monarchie) und 1793 (Hinrichtung des Königs, Beginn der Grande Terreur unter Robespierre) dokumentierte sich in diesen Journalen zunehmend eine weltanschauliche Differenzierung und Polarisierung der politischen Positionen.1 Seitdem distanzierte sich die öffentliche Meinung in Deutschland zusehends von ihrem einstmals fast durchgehend positiven Urteil zur revolutionären Praxis in Frankreich.2 Es begann nach der Phase des Enthusiasmus über die in der Revolution verwirklichte Aufklärung die Phase der Ernüchterung.3 Eine doppelte Enttäuschung prägte die politische Bewußtseinsbildung der deutschen Gebildeten: einmal über die Entgleisung der als Triumph der Aufklärung in Frankreich gefeierten Revolution, dann aber wiederum auch über den Stillstand der Entwicklung in Deutschland bzw. das Ausbleiben von Reformen.4 Ein zweites Moment wurde in der Zeit nach 1792 prägend für die deutsche Öffentlichkeit: die Folge mehrerer Revolutionskriege, in denen die Prinzipien der Revolution über Frankreichs Grenzen hinausgetragen wurden. »Krieg und Revolution traten in gegenseitige Abhängigkeit und Wechselwirkung«.5 Der Krieg drängte die Revolution zur grenzüberschreitenden Expansion, die Revolution ideologisierte den Krieg, der kein Ende finden konnte, ohne die Revolution selbst zu verleugnen; Eroberung und revolutionäre Befreiung wurden »wesensgleich«, darin lag die Ambivalenz des Krieges.6 Die Besetzung deutscher Gebiete durch französische Revolutionsheere nach der Kanonade von Valmy ließ Teile Deutschlands in direkten Kontakt mit den Auswirkungen von 1789 treten und verschärfte die Differenzen zwischen den politischen Strömungen und innerhalb dieser.7 1 Vgl. Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 20 f. 2 Vgl. Wehler, Bd. 1, S. 351. 3 Vgl. zu den drei Phasen der politischen Bewußtseinsbildung Berding, Ausstrahlung, S. 10 f. 4 Vgl. Vierhaus, Deutsche Urteile, S. 15. 5 Fehrenbach, Ancien régime, S. 38.; dies., Ideologisierungdes Krieges, S. 57-66. 6 Bergeron u. a., S. 55. 7 Vgl. hierzu einseitig zugunsten eines Fortschritts im Sinne eines »revolutionären Humanismus« Raschke, S. 305-318.

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1. Frühe Distanz zur Revolution Zu einem der wenigen konservativen Presseorgane, die schon vor 1789 erschienen, gehörte seit 1781 das in Hamburg herausgebrachte »Politische Journal« Gottlob Benedikt von Schirachs. Als Herausgeber verschaffte er dem Blatt schon bald eine beherrschende Stellung im norddeutschen Raum, wogegen andere Zeitschriften vor der Umsiedlung der »Minerva« nach Hamburg einen schweren Stand hatten. Schirach verlieh dem Journal von Anbeginn eine konservative Note und wurde von verschiedenen Regierungen »als Sprachrohr [benutzt], um vor Umsturzbewegungen zu warnen«. 8 Die Zeitschrift gab wie viele andere Blätter Auskunft über eine Vielzahl von Themen: europäische Kriege, Kriegserklärungen, Bündnisse, Friedensschlüsse und Entschließungen des Reichstags; der innenpolitische Zustand der einzelnen europäischen Länder (Verfassungen, Finanzen, Militärwesen, Bevölkerung, Geographie u. a. m.), wobei besonders auf die Parlamentsberichte aus dem viel bewunderten England eingegangen wurde; Geburts-, Sterbe- und Ehelisten. Kleinere Nachrichten über »merkwürdige Begebenheiten« sollten das Bild schließlich abrunden. Doch hier interessiert vornehmlich derjenige Artikel, der jedem Jahrgang vorangestellt ist, denn er gibt einen bewertenden Überblick über die Ereignisse des vergangenen Jahres. Hing das »Politische Journal« bis 1789 noch Prinzipien der Aufklärung an, wie man aus der Rückschau von 1792 feststellte, 9 setzte die Abwendung von den Ideen der Französischen Revolution bereits früh ein. Die ›Explosion‹ der Revolution wird zwar als unvermeidliche Folge der langwährenden Mißstände in Frankreich beurteilt 10 und dem erwarteten »neuen Frankreich« eine abwartende Haltung entgegengebracht. 11 Doch schon im Rückblick auf das Jahr 1789 macht man deutlich: »Im Jahre 1789 bekam die Welt eine Erschütterung, gerieth in Convulsionen, und es begann der Anfang einer neuen Epoche des menschlichen Geschlechts in Europa. Das Jahr 1789 ist das merkwürdigste seit vielen Jahrhunderten. Seit den Zeiten der Kreuzzüge ist nie wieder eine Epoche gewesen, wie diese, in welcher eine politische Meinung so durch ganz Europa sich mit solcher allgemeinen Heftigkeit, und Theilnahme verbreitete, und ausschweifte.«12 Eine völlige Umkehrung der natürlichen und gottgewollten Ordnung habe stattgefunden; nicht nur beginne eine beispiellose Ära des menschlichen Geschlechts, sondern auch des gesamten europäischen Staatensystems, das aus 8 Stern, S. 64. 9 Vgl. Politisches Journal, 1792, Bd. 2, S. 1279. 10 Ebd., 1789, Bd. 2, S. 903. 11 Ebd., S. 1029. 12 Ebd., 1790, Bd. 1,S. 3.

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dem Gleichgewicht gerate. 13 Bleiben die Veränderungen, die in den Jahrgängen vor 1789 im »Journal« konstatiert werden, noch im Rahmen einer im Ganzen festgefügten Ordnung und innerhalb eines gleichmäßigen Ereignisstroms, wird die geschichtliche Entwicklung seit 1789 durch fortwährende Zäsuren ständig aufgebrochen. Eine Geschichte Frankreichs sei erst zu schreiben, so das Journal 1791, wenn die Revolution und somit auch ihre verdrehten Deutungen rückgängig gemacht würden und damit Ruhe in die Bewegung der Zeit gekommen sei.14 Die Revolution setzte also eine neue und offene Zeit in dem Augenblick frei, wo sie als eine existentielle Bedrohung einer festen und vorgegebenen Ordnung empfunden wurde und die Erfahrung einer beschleunigten Entwicklung hervorbrachte. Von diesem Zeitpunkt an berichtet das »Politische Journal« regelmäßig in einem Abschnitt über »Anarchie und Krisis in Frankreich«. Doch nicht nur in dieser konservativen Zeitschrift lassen sich zu r Frühphase der Revolution Zeiterfahrungen ausmachen, sondern die wenigen Zeugnisse, in die sie ebenfalls eingehen, sind durchaus auch liberaler Provenienz. Der aufklärerisch gesonnene Christian Friedrich Daniel Schubart, Herausgeber der seit 1787 erscheinenden »Vaterlandschronik«, betont gleich nach Ausbruch der Revolution die herausragende Stellung des 18. Jahrhunderts, insbesondere die des Jahres 1789: »... so streckt das Jahr 1789 seinen Scheitel unter seinen achtundachtzig Brüdern an die Wolken, daß der staunende Schauer vor dem Jahrgeiste zurücktritt und stamlend ausruft: der war ein Riese der Zeit! Sagt nicht, ihr marklosen Wehklager, die Zeit altere und unsre Zeitgenossen leiden am Marasmus, haben Schwindel und Ohnmacht, niken am Greisenstabe, erzählen einander Mährchen in der Abendsonne.«15 In einem weiteren Artikel aus dem Jahr 1789 über die »Weltwirre« sieht Schubart die europäischen Staatsverhältnisse »ganz und gar aus den Fugen« geraten, die Künder der Apokalypse würden Konjunktur bekommen und den Beginn einer Zeitlosigkeit prognostizieren. Wahr sei jedoch, »daß sich das achtzehnte Jahrhundert fürchterlich schlafen legen werde. Welcher Geist der Unruhe durchdonnert ganz Europa! In den Provinzen des paradiesischen Frankreichs wüthet der Pöbel noch immer mit Mord und Plünderung«. 16 Frühe Bedenken gegen die Ereignisse 1789 in Frankreich ließen also ein Epochenbruchdenken zum Ausdruck kommen, und zwar gerade dann, wenn die Zäsur als bedrohlich empfunden wurde. Schon 1790 werden in einem Artikel »Über die Ausbreitung des Revolutionsgeistes« Ängste hinsichtlich eines Krieges geäußert, der alle inner- und interstaatlichen Systeme und Gesetze zu erschüttern drohe. Der 13 Vgl. ebd., S. 8,17. 14 Vgl. ebd., 1791, Bd. 1, S. 12. 15 Vaterlandschronik, 1789, Bd. 2, S. 897. 16 Ebd., S. 549.

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sich gewaltsam ausbreitende Revolutionsgeist eröffne nur schreckliche Zukunftsaussichten, die in die alten Zeiten des ›homo homini lupus‹ zurückführen würden. 17 Auch für die »Berlinische Monatsschrift« offenbarten sich im August 1790 die »Aussichten in die Zukunft« in den düstersten Farben, wenn die ersten zwei Zeilen eines gleichnamigen Gedichtes lauten: »Mit des Chaos Nacht verhüllet/Unserm Blik die Zukunft sich.«18 Daß der neue Entwicklungsschub zumindest in Frankreich auch ins Leere laufen könne, dieser Verdacht wird schon 1790 in Schubarts »Chronik«, der Nachfolgerin der »Vaterlandschronik« geäußert: »Unser alterndes Jahrhundert zeigt eine Schöpfungskraft, wie seit Christus Geburt, vielleicht noch kein Jahrhundert hatte. Große Reiche, mächtige Staaten schlüpfen, wie Schlangen, durch drange Hölen, legen die alte Haut ab, und schimmern in neuer bunter Hülle. Das rasche blitzschnelle Frankreich sollte, seinem Charakter gemäß, schon lange in neuer Schöpfung dastehen; aber die Gebährerin wekt große Erwartungen, und doch sieht man das Kindlein nicht, das zur Welt soll gebohren werden.«19 Das Bewußtsein eines Epochenbruches und die Erfahrung einer sich beschleunigenden Zeit mußten also erst negativ besetzt werden, um in den Reflexionshorizont der Zeitgenossen Einzug zu halten. Vor 1792 gab es für diese negative Einschätzung der Ereignisse in Frankreich noch wenig Anlaß, nur einige Zeitzeugen stimmten der dortigen Entwicklung nicht zu; aber gerade diese wenigen Bedenkenträger waren es, die sich über ›Zeit‹ im Umfeld der Revolution äußerten. Ob es sich hier um neuartige Zeit- und Revolutionserfahrungen im Sinne Kosellecks handeln mag, muß bei den spärlichen Zeugnissen noch offenbleiben. Jedenfalls finden sich Äußerungen über den Beginn einer neuen und das Absterben einer alten Zeit innerhalb einer beschleunigten Entwicklung, deren Ende mit Skepsis beäugt wurde, da der Erwartungshorizont sich unabsehbar zu erweitern drohte. Für eine negative Einschätzung der Französischen Revolution sollten sich seit 1792 mehr Gelegenheiten bieten. Somit ist zu erwarten, daß sich dies auch auf die Zeit- und Revolutionswahrnehmung niederschlug.

2. Der Krebsgang der Revolution In der Forschung ist es heute weitgehend unbestritten, daß sich der moderne politische Konservativismus schon vor der Französischen Revolution formierte. Die ideologischen Grundsäulen der in einer festen Seinsordnung veranker-

17 Mainzer Zeitung vom 13.1.1790, in: Hansen, Quellen, Bd. 1, S. 531. 18 Berlinische Monatsschrift, 1790, Bd. 2, S. 190. 19 Chronik, 1790, Bd. 1, S. 41; vgl. auch ebd., 1791, Bd. 2, S. 607.

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ten Vorstellung einer Societas civilis lassen sich seit der Auseinandersetzung mit den revolutionären Zügen der Neuzeit ausmachen; diese Leitmotive mußten nur in die säkulare Sprache der Aufklärung übersetzt werden.20 Die Krise eines naiven Traditionalismus im Sinne Karl Mannheims21 und die Formierung eines politisch agierenden Konservativismus begannen also mit der Frontstellung »gegen die Auswirkungen von Aufklärung und Rationalismus, gegen das Vordringen des bürokratisierten Anstaltsstaats, gegen den intervenierenden Reformabsolutismus«.22 Sie wurden begleitet von weltanschaulich-religiösen Auseinandersetzungen mit den Geheimgesellschaften23 und von einer dynamisch gewordenen Sozialordnung.24 Als Reaktion auf diese Prozesse war die Theorie eines Konservativismus letztlich nur über den Umweg der Kritik an der Aufklärung und anderen Bewegungskräften, hingegen nicht unmittelbar zu greifen, da sein ideologischer Gegner leichter an Prinzipien festzumachen war.25 Mit dem Fortschreiten der modernen Zweckrationalität verklammerten sich Aufklärung und Konservativismus dialektisch, ohne daß dieser jene jemals überschreiten konnte: »Alle Konservativen argumentieren auf dem Boden der Aufklärung gegen sie.«26 Doch erst die Revolution als ein Prinzip, das sich zu Terror und Chaos zu entwickeln drohte, schuf die Initialzündung für das konservative Denken und den Hintergrund für eine Reflexion des Traditionalismus.27 Denn »die französische Entwicklung [hat] diesen an sich schon vorhandenen Bestrebungen jenen politischen Widerhall verliehen, der ihnen vorher fehlte und der zu einer größeren Wirkung unerläßlich war«.28 Als mit dem Prozeß der Revolution die politische und gesellschaftliche Ordnung auf einmal konkret und praktisch machbar erschien und Zukunftsprojektionen realisierbar wurden, da war auch deutlich geworden, daß der hergebrachten Ordnung kein Ewigkeitswert zugesprochen werden konnte und deshalb die Sozialordnung der Revolution wieder entzogen werden mußte.29 Der Konservativismus wurde nun in Abgrenzung zum Fortschritt zu einer Weltanschauung der bewußten Beharrung, die es aber dynamisch wieder herbeizuführen galt.30 20 Vgl. zu den frühen ideologischen Leitmotiven einer Societas civilis und ihrer Kontinuität Kondylis, Konservativismus, insbesondere S. 63 ff. 21 Vgl. den prägnanten Aufsatz von Mannheim, S. 24—74. 22 Wehler, Bd. 2, S. 441. 23 Vgl. Valjavec,S. 271. 24 Vgl. Mannheim, S. 31 f.; Epstein, S. 14 ff.; Wehler, Bd. 2, S. 133 ff. 25 Vgl. hierzu Greiffenhagen, Konservativismus in Deutschland, S. 81; ders., Konservativismus, S. 159. 26 Greiffenhagen, Konservativismus in Deutschland, S. 353. 27 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 313. 28 Valjavec, S. 302. 29 Vgl. Ribhegge, S. 112-136. 30 Vgl. Epstein, S. 33.

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Die Infragestellung der traditionellen europäischen und innerstaatlichen Ordnungen durch die Expansion und ›Entartungen‹ der französischen Entwicklung betraf zunächst und insbesondere die Position der konservativen Strömung. Die Wahrnehmung einer sich beschleunigenden Zeitbewegung tritt pointiert in den publizistischen Zeugnissen in Erscheinung. Sie sei einem Veränderungsdruck geschuldet, der mit dem Scheidejahr 1789 einsetze und beispiellos weiterwirke, wie z. B. Gentz 1793 in der berühmten Einleitung zu seiner Burke-Übersetzung hervorhob: »Nie war dieser Wechsel so auffallend sichtbar als in dem Wirrwarr großer, neuer, unerhörter Revolutionen, die seit einigen Jahren, Schlag auf Schlag, die Aufmerksamkeit und das Erstaunen der Menschen herausgefordert haben.«31 Man lebe in einem Zeitalter der »Vergänglichkeit«, in der jede Idee sich binnen kurzem selbst überhole. Statt politischer Stabilität sei der »Rausch des Augenblicks« gefragt.32 Der gleichen Auffassung ist Christoph Girtaner in seinen »Politischen Annalen«, wenn er das Jahr 1792 als »eines der merkwürdigsten Jahre in dem laufenden Jahrhundert« tituliert: »Es änderte sich in demselben die politische Lage der meisten europäischen Staaten, und die wichtigsten Begebenheiten folgten auf einander mit unerwarteter Schnelligkeit. Die erste Ursache aller dieser Veränderungen ist in der in Frankreich vorgefallenen Staatsveränderung zu suchen.«33 Das Jahr, in dem der erste Koalitionskrieg ausbrach, habe das europäische Gleichgewicht ernsthaft gestört. Und 1794 schreibt wieder Gentz in seiner Vorrede zu Mallet de Pans Schrift über die Französische Revolution und die Ursachen ihrer Dauer, daß diese Revolution eine Begebenheit sei, »die dem ganzen menschlichen Geschlecht« angehöre und aufgrund ihrer Bedeutung alles Interesse auf sich vereine. Doch seit Eröffnung des Krieges und der Radikalisierung der revolutionären Entwicklung in Frankreich sei es unmöglich geworden, nur noch Zuschauer zu sein; vielmehr sei man »selbst interessirter Teilnehmer an den Schicksalen der Revolution und an den Resultaten des Krieges geworden«.34 Die »Schlag auf Schlag eintreffenden Zerrüttungen und Revolutionen« gäben der französischen Politik für Europa eine solche Wichtigkeit, das sie auch noch 1798 alle Aufmerksamkeit auf sich ziehe.35 Diese schnelle und unabsehbar scheinende Revolutionsbewegung lasse sich aber nicht in einer zusammenhängenden Revolutionsgeschichte darstellen, gerade weil »in dieser Periode der heftigsten Gärungen des menschlichen Geistes« alles vage bleiben müsse.36 Auch wenn aus dem passiven Zuschauer der Revolution ein Teilnehmer geworden sei, habe dieser doch nicht die Möglichkeit, in das Geschehen einzu31 32 33 34 35 36

Gentz, Einleitung, S. 20; zu Gentz' Revolutionsauffassung vgl Griewank, S. 248 ff. Vgl. Gentz, Einleitung, S. 21. Politische Annalen, 1793, Bd. 2, S. 5. In: Langendorf, S. 128 f. Gentz in einem Brief an Garve vom März 1798, in: Wittichen, Bd. 1, S. 206. Vgl Gentz in einem Brief an Böttiger vom Februar 1798, in: Wittichen, Bd. 1, S. 138.

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greifen. So berichtet in einer Rückschau auf die vergangenen zehn Jahre ein Artikel in Gentz' »Historischem Journal« »Über den Gang der öffentlichen Meinung in Europa in Rücksicht auf die französische Revolution«: »Seit zehn Jahren sind die Gemüther aller derer, denen das Schauspiel der Weltbegebenheiten nicht gleichgültig ist, unter einem unerhörten Wechsel außerordentlicher Erscheinungen und erschütternder Katastrophen, nicht Schritt für Schritt geführt, sondern in betäubender Schnelle fortgerissen worden. ... Noch nie haben sich in einem Zeitraum von zehn Jahren so viele, so große und so verwickelte Thatsachen, eine so rasche Folge der außerordentlichsten Veränderungen, eine so rastlose Bewegung und so gehäufte Umwandlungen zusammengedrängt, noch nie eine so außerordentliche Menge handelnder Personen an den öffentlichen Vorgängen Theil gehabt, noch nie sind Verwandlungen von so wunderbarer Mannigfaltigkeit und so reichhaltiger, in alle gesellschaftliche und politische Verhältnisse eingreifender Wichtigkeit, auf einem so offnen und zugänglichen Schauplatz getrieben und in so vielfachen Gestalten wiederholt, und aus so widersprechenden Gesichtspunkten beurtheilt worden.«37 Deshalb sei es schwierig, den zeitlichen Verlauf in seiner Gesamtheit zu begreifen und die lang- und kurzfristigen Ursachen der Französischen Revolution zu finden. Die Einzigartigkeit einer beschleunigten und verdichteten Entwicklung seit dem Epochenjahr 1789 und die Permanenz der revolutionären Bewegung gehen also deutlich in den Erfahrungshorizont der konservativ denkenden Zeitgenossen ein, sind aber eindeutig negativ konnotiert. So schildert das »Politische Journal« schon seit den frühen 1790er-Jahren regelmäßig die Greuel und Verbrechen der Revolution, die im Namen von Freiheit und Gleichheit und als Ergebnis der Aufklärung begangen und von jedem Jahr wieder neu übertroffen würden. 38 Statt Zeit in ihrem Verlauf gestalten zu können, klingt oftmals eine Ohnmachtserfahrung an. In einer »Historisch-politischen Uebersicht der Haupt-Begebenheiten des Jahres 1794« aus der »Neuen Deutschen Monatsschrift« bemerkt der Verfasser, daß die Gemüter seit den Greueln von 1792 immer noch nicht abgestumpft seien, da ständig neue Anreize auf sie einwirkten. 1794 habe die Französische Revolution »Gestalten angenommen, die das seit drei Jahren mit dem Entsetzen vertraute Gemüth aus seiner Fassung bringen konnten«, da der Krieg in Europa sich immer weiter ausbreite. 39 Früher hätte man die Weltgeschichte anhand der Aktionen weniger Persönlichkeiten in ihrem Gang begreifen können. Seit fünf Jahren aber drängten sich die Begebenheiten »einander wie die Wellen des Meeres, und scheinen, wie diese, mehr ein Spiel der Winde als zweckmäßig-wirkende Kräfte zu seyn«. 40 Der Ge37 Historisches Journal, 1799, Bd. 1, S. 3 f., 52 f. 38 Vgl. z. B. Politisches Journal, 1792, Bd. 1, S. 9,693 f.; 1792, Bd. 2, S. 964; 1793, Bd. 1, S. 117 f.; 1794, Bd. 1, S. 3 f., 13, 650 ff. 39 Neue Deutsche Monatsschrift, 1795, Bd. 1, S. 4. 40 Ebd., S. 5.

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Schichtsschreiber könne in dieses Chaos der Entwicklung keine Ordnung mehr bringen und müsse sich auf die Darstellung der »Fakta« aus den einzelnen europäischen Ländern beschränken. 41 In einem Artikel aus dem »Historischen Journal« 1799 über »Die Entstehung der Französischen Revolution« legt der Autor dar, daß auch und gerade eine willkürliche Unterteilung der Revolution in eine gute und eine schlechte Periode nur noch mehr Chaos für das Verständnis der Zeitgenossen und der Nachwelt bedeuten würde. Nur aus einem »wahrhaft-welthistorischen Gewicht und Interesse« könne die Revolution »als ein zusammenhängendes begreifliches Ganzes [erscheinen]; die Kette der Ursachen und Wirkungen windet sich durch die unendliche Mannichfaltigkeit der einzelnen Thatsachen, durch ein wildes Gedränge schnell-wechselnder, nie-gesehener, oft räthselhafter Gestalten, stets mit einer gewissen Klarheit hindurch; und ein beobachtender Geist kann aus dem reichen, aber verworrenden Stoffe, den die größte aller historischen Begebenheiten darbietet, jene belehrenden Resultate ziehen, in welchen der höchste Werth und der letzte Zweck des Studiums der Geschichte liegt.«42 Die Revolution, in der sich die Geschichte in verdichteter Form beispielhaft abspiele, müsse in ihrer permanenten und nahezu unüberschaubaren Bewegung als etwas zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden, ihre »Entartungen« mit eingeschlossen, um ihr doch noch einen belehrenden Sinn abzugewinnen. 43 Als progressive Entwicklung in eine bessere Zukunft hinein, als Epochenbruch, mit dem eine neue Zeit anhob, die sich vom Menschen gestalten ließ, in diesem Sinne konnte der beschleunigte Zeitverlauf nicht mehr gesehen werden, zu massiv sah man sich diesen Bewegungskräften ausgeliefert. Vielmehr sei damit zu rechnen, so das »Historische Journal« 1799, daß die Revolution »vermöge ihrer eigenthümlichen Beschaffenheit wesentlich und nothwendig, eine fortwährende unabsehliche Reihe von Revolutionen und Katastrophen herbeiführen wird«, eine beständige Folge von Revolutionen und Gegenrevolutionen. 44 Damit setzte sich eine Skepsis gegenüber einer Erwartungshaltung durch, die eine vermeintlich bessere Zukunft auf Kosten einer als unerträglich empfundenen Gegenwart favorisierte und somit einen Zirkel unerfüllbarer Hoffnungen einleitete. 45 Letztlich war es in den Augen der konservativen Zeitgenossen die Revolution, die aufgrund des negativ eingeschätzten Epochenbruchs, der ihm folgen41 Vgl. ebd., S. 6 ff.

42 Historisches Journal, 1799, Bd. 3, S. 434 f. 43 Vgl. hierzu auch noch mal Gentz, Einleitung, S. 45: »und eine Masse von Belehrung, die sonst die Geschichte auf das Studium mehrer Jahrhunderte verteilte, wird sich hier in dem lebendigen Gemälde zusammendrängen.«

44 Historisches Journal, 1799, Bd. 2, S. 456 ff. 45 Vgl. ebd., S. 24.

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den Zeitbeschleunigung, die sich nicht mehr steuern ließ, und des permanenten Revolutionsverlaufs nur einen Sinn zuließ, nämlich die Umkehrung der einstmals unter progressiven Vorzeichen angetretenen Bewegung. So sieht schon der Herausgeber der »Politischen Gespräche aus dem Reiche der Todten«, Moritz Flavius Trenck von Tonder, die Revolution auf den Faden der Parzen gesponnen: »du, oh Lachesis, hast die Denkart, den Wahn, die Richtung der Einbildung des Menschen rückwärts gedrehet, rückwärts gesponnen.«46 1790 wird in Gentz' »Deutscher Monatsschrift« geklagt, daß »nichts Neues unter der Sonne [geschehe]. Es ist daher natürlich, daß uns diese Begebenheit [der Französischen Revolution] auf ähnliche Begebenheiten der Vorzeit zurückfuhrt.«47 Mit der Hinrichtung des Königs sei nach Ansicht eines anonymen Zeitgenossen die Zeit aus den Angeln gehoben und der Fortschritt der Revolution verkehrt.48 Ebenfalls 1793 fordert das »Politische Journal«, man müsse mit dem Zeitalter voranrücken und dürfe nicht zurückbleiben; doch die Revolution in Frankreich habe mit ihrer Zeitrechnung, die sie fälschlicherweise als eine neue verkaufe, und ihren heidnischen Zeremonien zu Ehren einer ominösen Vernunft die Menschheit um Jahrhunderte zurück in den Zustand der Barbarei und des Aberglaubens geworfen.49 Im Rückblick auf die jakobinische Schreckensherrschaft wird Robespierre unterstellt, er habe wieder eine Monarchie in Frankreich einrichten und damit das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen.50 Schließlich erschien im März 1795 ein Artikel im »Politischen Journal« mit dem bezeichnenden Titel »Frankreichs Retro-Revolution«.51 Dort heißt es: »So gieng die Retro-Revolution in Frankreich, schon über die Zeiten der ersten constitutionellen National Versammlung zurück. Man versicherte in öffentlichen Pariser Blättern, daß die neue Retro-Revolution, wie man sie selbst nannte, bald noch weit andre große Schritte, - rückwärts machen würde.«52 Mit der Einsetzung des Direktoriums und der Vorbereitung der dritten Verfassung werde die Revolution wieder rückgängig gemacht. Die öffentliche Meinung gehe sogar noch weiter: »Bald darauf sagt man öffentlich in Paris: ›Der Convent ist schwanger, und wird einen König gebähren.‹«53 Der materielle und geistig-moralische Rückschritt wird auch noch aus der Distanz von zehn Jahren als Resultat der Französischen Revolution hingestellt, daß nämlich Europa 46 47 48 49 50 51 52 53

In: Hansen, Quellen, Bd. 1, S. 522. Deutsche Monatsschrift, 1790, Bd. 2, S. 311. In: Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 231 ff. Vgl. Politisches Journal, 1793, Bd. 2, S. 1124 f.; vgl. auch 1794, Bd. 5, S. 3. Politisches Journal, 1794, Bd. 2, S. 969 f. Vgl. ebd., 1795, Bd. 1, S. 244 ff. Ebd., S. 248. Ebd., S. 255.

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»in den letzten zehn Jahren fast in jeder Betrachtung rückwärts gegangen; daß die gesellschaftliche Verbindung geschwächt, die Hoffnung auf manche wesentliche und notwendige Reform geschwunden, daß Kapital aller Nationen vermindert, der allgemeine Wohlstand allenthalben in seinen Quellen angegriffen, der Fortschritt der geistigen Kräfte im Ganzen beträchtlich gehemmt, und die praktische Sittlichkeit in ihren Grundpfeilern erschüttert worden.« 54

›Revolution‹ könne nicht mehr als Beginn einer neuen Zeit begriffen werden, da sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückgeschritten sei, ja weit dahinter zurück.55 Die Ideen der Aufklärung, 1789 realisiert, hätten sich völlig verkehrt und der Menschheit schließlich mehr Opfer gekostet als die Jahrhunderte zuvor.56 Statt in eine neue und offene Zukunft, die sich mit der Vergangenheit radikal entzweit, aufzubrechen, führte die Revolutionsbewegung entgegen ihrer progressiven Intentionen, unter denen sie angetreten war, also wieder in die Vergangenheit. ›Zeit‹ konnte nur hervorbringen, was sowieso schon geschehen war. Die revolutionäre Gegenwart war immer nur die letzte Etappe der Vergangenheit, bevor sie wieder regressiv umschlug. Diese Entwicklung wurde von den konservativen Zeitgenossen weniger als hoffnungsvolle Möglichkeit einer Restauration herbeigesehnter Herrschafts- und Sozialordnungen der Societas civilis betrachtet, sondern als bedrohlicher Rückschritt in den vorstaatlichen Bereich der Barbarei und des Krieges aller gegen alle. ›Re-volution‹ konnte also nicht als radikale Neuorientierung auf die Zukunft hin gelten, sondern wies zurück auf einen Zustand, der weit vor einer restaurierten monarchischen und ständischen Ordnung lag. Einer vergangenheitsorientierten, aber evolutionären und damit kontrollierbaren Restauration einer Tradition stand eine rückwärtsorientierte, unkontrollierbar beschleunigte Revolution gegenüber.57 Also auch und insbesondere der Erfahrungsraum einer revolutionären Gegenwart konnte keinen neuen Erwartungshorizont in eine offene Zukunft freisetzen, sondern verengte sich zwangsläufig in eine regressive Bewegungsrichtung. Der unterstellte Erfahrungsverlust bedeutete keinen Erwartungsgewinn, sondern ließ die konservativen Zeitgenossen auf vergangene Erfahrungsräume zurückgreifen, um somit die Revolution und die Gefahr eines beschleunigten und permanenten Epochenbruchs in bekannte Muster einordnen und sie als Feinde der Menschheit denunzieren zu können.

54 Historisches Journal, 1799, Bd. 2, S. 66 f. 55 Vgl. auch die Zeugnisse in: Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 337, 420. 56 Vgl. Politisches Journal, 1796, Bd. 2, S, 1235. Hier war nun der Punkt erreicht, wo die Diskussion um das Verhältnis zwischen Aufklärung und Revolution ansetzte und zu den sogenannten Komplott- und Verschwörungstheorien und -vorwürfen führte; vgl. Valjavec, S. 303 ff.; Epstein, S. 583 ff.; Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 23 f. 57 Vgl. zu diesem Verhältnis von ›Revolution‹ und ›Restauration‹ Kondylis, Reaktion, S. 186.

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3, Der Zirkel der Revolution Frühliberalismus als eine Verfassungsbewegung zu bestimmen, die sich aus der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelte, hat sich aufgrund des Vorteils der definitorischen Trennschärfe in der Forschung durchgesetzt. 58 Spätestens seit Valjavecs ideengeschichtlicher Untersuchung zur Entstehung der politischen Strömungen weiß man aber ebenfalls, daß sich zentrale liberale Leitbilder wie ein an rechtsstaatliche Prinzipien gebundener Monarch, eine freie Öffentlichkeit oder eine Volksvertretung in zwei Kammern schon im 18. Jahrhundert finden lassen, als sich die »geistigen Grundlagen« der Aufklärung zunehmend politisierten und konkretisierten. 59 Auch Lothar Galls These vom »Zukunftsbild einer klassenlosen Bürgergesellschaft ›mittlerer‹ Existenzen« orientiert sich an den Ideen der (französischen) Aufklärung und an den vorgefundenen Gegebenheiten einer »vorindustriellen, berufsständisch organisierten Mittelstandsgesellschaft auf patriarchalischer Grundlage«, 60 die bis weit ins 19. Jahrhundert reichte und schließlich zur liberalen Klassenideologie degenerierte. Hier ist nicht der Ort, um sich mit den metapolitischen Ausgangspunkten und politischen Leitbildern des Frühliberalismus auseinanderzusetzen, 61 vielmehr soll nur von der Existenz frühliberalen Gedankenguts und einer frühliberalen politischen Strömung als Folge der Aufklärung ausgegangen werden, selbst wenn diese an ihren Rändern häufig noch unscharf blieben, letztlich aber durch die Ereignisse von 1789 deutlicher an Profil gewannen. Auch wenn sie die liberale Bewegung nicht schuf, wurde die Französische Revolution doch insofern zu einem einschneidenden Erlebnis, weil sie eine Vielzahl von Erfahrungen vermittelte, aus denen sich politische und soziale Modellvorstellungen einer Revolution überhaupt für das 19. Jahrhundert entwickelten. 62 Besonders eines hatte die Revolution von 1789 den »antitraditionalistischen Kräften« klar gemacht: »die Möglichkeit eines unmittelbaren, gewaltsamen Bruches mit der fürstlichen Gewalt, mit den überlieferten Mächten.« 63 Die Kontinuität zum und die Kooperation mit dem Aufgeklärten Absolutismus drohten durch den revolutionären Bruch problematisch zu werden. Es mußte sich die Frage stellen, wie angesichts eines radikalen Wandels im Nachbarland, der seine Schatten immer stärker auf Deutschland warf, dem Bewegungs- und 58 Vgl. hierzu erst einmal Galt, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«, S. 324-356, hier 325; ebenfalls noch sehr lesenswert Valjavec, S. 15 ff; als Forschungsüberblick vgl. Langewiesche, Spätaufklärung und Frühliberalismus, S. 67-80; ders., Liberalismus in Deutschland, S. 15 f.; Wehler, Bd. 2, S. 414. 59 Vgl. Valjavec, S. 28 f., 88 ff.; neuerdings die Frühliberalismus-Studie von Wilhelm. 60 Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«, S. 353. 61 Vgl. hierzu Langewiesche, Spätaufklärung und Frühliberalismus, S. 69 ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 286 ff; Wehler, Bd. 2, S. 413 ff 62 Vgl. Neumüller, S. 14; Langewiesche, Liberalismus und Revolution, S. 26 f. 63 Valjavec, S. 153.

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Fortschrittsbedürfnis der liberalen Strömung nach Rechtsgleichheit und -Sicherheit, nach ökonomischer und Pressefreiheit sowie nach einer Verfassung mit dem Ziel einer konstitutionellen Monarchie noch nachzukommen war. Wie schon in den Zeugnissen über die frühe Distanz zur Französischen Revolution nachgewiesen, setzte das Bewußtsein, an einem Epochenbruch teilzuhaben, erst ein, als die revolutionären Ereignisse zunehmend auf Unverständnis und Abscheu stießen und eine Bedrohung auch für Deutschland darstellten. Das »Schleswigsche Journal« des schleswig-holsteinischen Aufklärers und Publizisten August von Hennings befürwortet zwar den Ausbruch der Revolution und rechtfertigt auch ihre »Irrwege« gegen Wielands Vorbehalte, aber mit der Hinrichtung des französischen Königs wird im Frühjahr 1793 eine skeptische Kehrtwendung eingeleitet: »die Ermordung Ludwigs hebt die ganze jetzige Epoke aus den Angeln, und jeder, nahe oder ferne, fühlt, daß er mit aus den Angeln gehoben wird.« 64 In Frankreich herrsche nun eine schlimmere Despotie denn j e . U n d mit dem zehnten Thermidor sei, wie der Verfasser eines Artikels in den »Friedenspräliminarien« herausstellt, die Revolution mal wieder an einen epochalen Scheidepunkt gelangt, der darüber entscheide, ob sie zu ihren »ersten, vernünftigen Grundbegriffen« zurückkehren oder aber die anarchische Bewegung fortsetzen werde. 65 Der wahrgenommene und negativ besetzte Epochenbruch, der immer wieder neu anzusetzen schien, bedeutete aber nicht nur eine Trennlinie zwischen zwei Zeiten, sondern barg in seiner Komplexität und Dichte eine ganze Ära in sich. Die Revolution in Frankreich bekam eine Bedeutung zugewiesen, die sich allenfalls mit der der Reformation vergleichen lasse.66 Immer wieder bestaunen die Zeitgenossen, was sich innerhalb so kurzer Zeit alles zugetragen habe. So ein Autor aus Schuberts »Chronik« rückblickend auf das Jahr 1792: »Ein weit umfassender Schauplatz großer, welterschütternder Begebenheiten, die sonst nur aus dem Schooße von Jahrhunderten hervorgehn«. 67 U n d Hennings über den »Genius des Jahres 1793«: »Geschichten - wie sie seit Jahrhunderten die Sonne selten beleuchtete - wie sie sonst nur aus dem Schoosse von ganzen Jahrhunderten hervorgesehen - drängten sich in diesem Einen grossen Jahre zusammen.« 68 Der eindrucksvollen Verdichtung der Zeit, ihrer Ereignisfülle, korrespondiert ihre überdimensionale Bedeutung, welche die wenigen Jahre seit 1789 für ganze Generationen zu haben scheinen: »Jetzt muß die Zeit, dies fürchterliche und vielleicht einzige Organ der Wahrheit euch lehren, ob ihr in vorübergehenden Täuschungen eine ganze Generation einem Traume 64 65 66 67 68

Schleswigsches Journal, 1793, Bd. 1, S. 329. Friedenspräliminarien, 1795, Bd. 8, S. 318 ff. Vgl. Chronik, 1792, Bd. 1, S. 291 f. Ebd., Bd. 2, S. 855. Der Genius der Zeit, 1794, Bd. 3, S. 404; vgl auch Humaniora, 1796, Bd. 1, S. I f.

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von wenigen Stunden aufgeopfert, oder ob ihr durch die ewige Vernunft geleitet auf den Aufopferungen von wenigen Tagen das Glück von Jahrhunderten gegründet habt.«69 Entweder würden jetzt die Erwartungen der Vergangenheit in kürzester Zeit durch Mißbrauch der Gegenwart enttäuscht, oder aber die Opfer, die man in diesen bedeutungsschweren Zeiten auf sich nehme, bestimmten die Zukunft für Jahrhunderte. So ermahnt auch ein Artikelschreiber aus dem »Genius der Zeit« alle »bessern und edlern Menschen, der Gegenwart zu entfliehen, in der Zukunft zu leben«.70 Deshalb sei es geboten, dem »Strom der Zeit« in diesen kurzlebigen und bedeutungsschwangeren Zeiten »unsre Forderungen an die Ewigkeit [zu] übergeben«. 71 Bekam die Gegenwart diese überdimensionale Bedeutungsschwere für die Erwartungen aus der Vergangenheit und für die Zukunft, dann mußte sich der Zeitstrom in beängstigender Weise beschleunigt haben. Nur wenn die Ereignisdichte zunahm und Zeit somit schneller abzulaufen schien, kam den einzelnen historischen Momenten ein erhöhtes Gewicht zu, was wiederum einen Handlungsdruck erzeugen konnte. Eine Beschleunigungserfahrung läßt sich ähnlich wie bei der konservativen Strömung auch bei der liberalen fast durchgehend in dieser Phase der Revolution feststellen. Eine Revolution wie die Pariser müsse, so 1795 in der »Minerva«, die Auffassungsgabe jedes gewöhnlichen Menschen überfordern, da sie sich von Anfang an als »ein wahres Chamäleon [entpuppte], und uns oft in der größten Geschwindigkeit... andre Machthaber, andre Grundsätze und andre Resultate aufstellte«.72 Mit der Herrschaft des Konvents habe sie wiederum ihre Natur völlig verändert. 73 Im »Geheimen Briefwechsel zwischen den Lebendigen und Toten« verabschiedet sich das Jahr 1791 an seinen Sohn, das Jahr 1792, mit folgenden Worten: »Mein Abschied ist nahe; die Zeit öffnet den Rachen und verschlingt mich. Ο könnte ich sagen, daß ich glücklich war! - der Allherrscher läßt Oceane von Jahrhunderten unter seinem Throne rollen; Jahre werden von Jahren verdrängt, Tage von Tagen, Stunde von Stunden, Sekunden von Sekunden. Er spricht zu der Natur, - die Ewigkeit ist für mich, und die Zeit ist dein. Menschen! wie soll ich euch den reissenden Strohm der Zeit schildern? - denket! jede Stunde reißt euch näher aus dem Grab.«74 Und ein Jahr später klagt ein Autor derselben Zeitschrift dem mächtigen »Gott der Zeit« die Unglücksfälle und Grausamkeiten des Jahres 1792, die sich wie ein »reißender Strom« in Frankreich entwickelt hätten. Was sich dem Beobachter der Revolutionen biete, sei ein »Bild der Zerstörung.... und auf dem ganzen 69 70 71 72 73 74

Neues Göttingisches historisches Magazin, 1792, Bd. 1, S. 367 f. Der Genius der Zeit, 1795, Bd. 3, S. 266 f. Ebd., S. 318. Minerva, 1795, Bd. 1, S. 111. Ebd., S. 123. Geheimer Briefwechsel zwischen den Lebendigen und Toten, 1791, S. 403.

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Weltall kann man die Tritte der Zeit wahrnehmen. Himmel, Erde und alle Elemente beugen sich unter der Macht der Zeit«. 75 Bald werde »es vielleicht nicht mehr Zeit seyn, nach der Uhr zu sehen«, denn die Zeit verschwinde jetzt »schneller als der Blitz«, sei nur noch in der Geschwindigkeit präsent. 76 Gerade in diesen Zeiten des Umbruchs sei der Wunsch, »einen höheren Standpunkt zu finden und zu behaupten, aus welchem man den Strom der Begebenheiten verfolgen ... könnte«, 77 ein kaum erfüllbares Bedürfnis, da man zunehmend in die chaotische und gewaltsame Bewegung involviert werde. “wiederum wird eine Ohnmachtserfahrung deutlich, die alles andere offenbart, nur nicht die Möglichkeit, Herr seiner Zeit zu werden. So beklagt sich ζ. Β. 1793 das »Schleswigsche Journal«, daß letztlich nichts auszurichten sei gegen »den allgewaltigen Geist der Zeit«, 78 der aber auf eine unbestimmte Zukunft hoffen lasse. Und im Zusammenhang mit einem Vergleich zwischen den politischen Verhältnissen Frankreichs und des Schweizer Bundes warnt im selben Jahr ein Schreiber aus den »Friedenspräliminarien« die Schweizer vor einer Nachahmung des französischen Vorbilds, denn »habt Ihr die Maschine einmal in Bewegung gesetzt, so werden Eure Kräfte nicht mehr zureichen, um ihre Richtung zu lenken; Ihr werdet wider Euern Willen fortgerissen seyn«. 79 1801 schließlich beschreibt ein Artikel aus Karl Ludwig Woltmanns Zeitschrift »Geschichte und Politik« die Parallelen zwischen Kreuzzügen, Reformation und Französischer Revolution und betont die Nichtigkeit der Versuche, »den Geist ihres Zeitalters nach ihren Absichten zu formen und zu lenken; sie konnten ihn zwar hie und da an einzelnen Orten über einzelne Punkte, auf einzelne Augenblikke verwirren, aber nicht auslöschen: zwar ableiten, aber nie ganz lenken; er blieb einmal erweckt - selbständig auf sein unsichtbares Ziel gerichtet, das sich unter dem fürchterlichen Zusammenstoßen widersprechender Meinungen immer mehr befestigte.«80 Der »Geist des Zeitalters macht sich selbst«, der Mensch sei nur sein Werk gewesen. 81 Dies gelte mit dem Ausbruch der Revolutionskriege um so mehr, denn die »Revolution und der Krieg sind unzertrennlich: sie haben einen gemeinschaftlichen Stamm; alle Revolutionsmittel sind auch Mittel zum Kriege«.82 Der »Aufstand der Massen« habe im Krieg eine »Organisation der Anarchie« 75 Ebd., 1792, S. 395 f. 76 Friedenspräliminarien, 1793, Bd. 1, S. 262; Der Genius der Zeit, 1795, Bd. 1, S. 507; vgl. zu den fortgesetzten Auflösungsängsten Friedenspräliminarien, 1795, Bd. 7, S. 259; Der Genius der Zeit, 1798, Bd. 3, S. 11 f. 77 Friedenspräliminarien, 1793, Bd. 1, S. 1. 78 Schleswigsches Journal, 1793, Bd. 3, S. 242. 79 Friedenspräliminarien, 1793, Bd. 1, S. 137. 80 Geschichte und Politik, 1801, Bd. 3, S. 328. 81 Ebd., S. 329. 82 Friedenspräliminarien, 1794, Bd. 2, S. 33.

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geschaffen, die den Krieg zu verselbständigen drohe.83 Auch 1798 sieht Hennings im »Genius der Zeit« den Frieden durch die bedrohliche Haltung des Direktoriums gefährdet; jede außenpolitische Aggression würde auch die innere Entwicklung Frankreichs wieder unbeherrschbar machen.84 Der Krieg in Wechselwirkung mit der Revolution führte also die unkontrollierbare Entwicklung weiter und potenzierte die Ohnmachtserfahrung angesichts einer übermächtigen und gewaltsamen Zeit. Diese Bewegungskräfte im Gefolge von Revolution und Krieg bargen zwar auch die Möglichkeit einer besseren Zukunft in sich, doch blieb diese angesichts einer chaotischen Gegenwart für die meisten publizistischen Vertreter der liberalen Strömung rätselhaft. Zwar gebe es in »Zeiten des Despotismus, der Tyrannei, der Greuel und der Verwirrung und der Bewegung« eine Hoffnung, daß diese Schrecken die »Wehen der Gebährerin« seien. Aber dieser Glaube an die »Zweckmäßigkeit der Dinge«, der einen Fortgang der Menschheit garantierte, bleibe »in dem Chaos ewiger Empörungen« unbestimmt und unbegreiflich.85 Alles, was dem »Genius der Zeit« zu denken übrig bleibe, sei daher, »daß er ein Embryo der Zukunft sey!« Die beschleunigte und zerstörerische Zeit bekommt den Status einer »vorbereitenden« Zeit zugeschrieben, die eine ruhige Entwicklung einleiten werde.86 Der fortdauernde Revolutionsprozeß machte die Gegenwart zur Übergangszeit auf eine Zukunft hin, doch diese blieb ungewiß und verwies daher letztlich immer wieder auf die bewegte Jetztzeit, der man nicht entrinnen konnte. Aus dieser Gegenwart heraus sei es unmöglich, seine Erwartungen auf eine vorgestellte Zukunft zu richten, denn »die Kunst, politische Prognostika zu stellen, scheint uns nie undankbarer gewesen zu seyn, als eben jetzt«, so 1793 in den »Friedenspräliminarien«.87 Die Zeit sei, wie immer wieder von den Zeitgenossen herausgestellt wird, zu unruhig und bewegt, um eine Zukunft bestimmen zu können, gerade »weil keine Epoche da ist, die sich gegen die gegenwärtige stellen lasse«.88 Die Kriege schließlich hätten den permanenten Wandel fortgesetzt, der alle Erfahrungen überholt habe und keine Vorhersagen mehr ermögliche.89 Angesichts einer entgleitenden Gegenwart, in der die Zeit sich verwirrend zu beschleunigen schien und sich jedem menschlichen Eingriff entzog, war der Zugriff auf die Zukunft ungewiß, auch wenn die aufklärerische Fortschrittsgewißheit letztlich nicht aufgegeben wurde; doch diese speiste sich nicht aus einem neuen Erfahrungsraum der Gegenwart, da diese keine Anhaltspunkte gab, 83 84 85 86 87 88 89

Ebd., 1793, Bd. 1, S. 368. Vgl. ebd., S. 64 ff. Ebd., 1795, Bd. 2, S. 397 f. Ebd., 1795, Bd. 1, S. 5 f. Ebd., 1793, Bd. 1,S. 373. Schleswigsches Journal, 1793, Bd. 3, S. 222 f. Der Genius der Zeit, 1800, Bd. 1, S. 8.

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sondern sie griff wieder auf das Moment der historischen Erfahrung zurück. Dies geschah auf zweierlei Weise; die erste, die resignative, wird in diesem Kapitel geschildert. Im Einleitungsartikel des ersten Jahrgangs der Zeitschrift »Geschichte und Politik« rechtfertigt der Herausgeber Karl Ludwig Woltmann das Ziel des Blattes, das seinen Titel zum Programm erhebt: »Die französische Revoluzion war für die Welt eine Erscheinung, welche aller historischen Weisheit Hohn zu sprechen schien, und täglich entwickelten sich aus ihr neue Phänomene, über welche man die Geschichte immer weniger zu befragen verstand ... Ein unermeßliches Gebiet der Hoffnung ward eröffnet; das goldne Zeitalter schien begonnen zu seyn.«90 Eine Revolution, orientiert an den Prinzipien der Vernunft, scheine die historische Erfahrung nicht mehr zu brauchen. Doch spätestens seit dem Sturz der Jakobiner hätten das Direktorium und dann Napoleon sich wieder stärker an der Vergangenheit orientiert und damit den Einfluß der historischen Wissenschaft auf die politische gesichert. Die Zeitschrift habe sich deshalb das Ziel gesteckt, Geschichte in politischer Hinsicht zu beschreiben und Politik durch geschichtliche Erfahrung zu erhellen. 91 So könne auch Deutschland sich durch Rückgriff auf die Eigenheiten seiner Geschichte vor der französischen Hegemonie bewahren, obwohl es sich 1789 zunächst viel von dem französischen Vorbild versprochen hätte. 92 In einem Artikel der »Minerva« aus dem Jahr 1794 »Ueber Revolutionen in der moralisch-politischen Welt«93 werden dem Begriff ›Revolution‹ zwei Bedeutungen zugemessen, die aus der Naturgeschichte stammen: einmal ›Revolution‹ als ein Regelkreislauf, in dem sich abwechselnd bestimmte Begebenheiten und Zustände wiederholen, wie z. B. in den Verfassungskreisläufen Piatons und Polybios'; andererseits ›Revolution‹ auch als »Störung der Ordnung, Verletzung der Regel, Hemmung, oder gar Umkehrung des Laufes der Natur«. 94 Aber in der Philosophie, der Religion, den Wissenschaften und Künsten, den Sitten und in der Politik würde die erste Form der Revolution vorherrschen, also der Regelkreislauf. 95 Dieser Gedanke, welcher der regellosen Veränderung eine Ordnung zu geben versucht, wird von Hennings ebenfalls 1794 im »Genius der Zeit« aufgenommen und weiterentwickelt. Dort stellt er ein Kreislaufbzw. Dekadenzmodell vor, das sich seit Menschengedenken wiederhole und in der Französischen Revolution paradigmatisch ausgebildet finde. Jede Revoluti90 91 92 93 94 95

Geschichte und Politik, 1800, Bd. 1, S. 3. Ebd., S. 6 f. Ebd., 1801, Bd. 1,S. 83 ff. Minerva, 1794, Bd. 1, S. 12-36. Ebd., S. 15. Ebd., S. 18 ff; vgl. zur Metapher der Geschichte als Kreisbewegung Demandt, S. 236-257.

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on, die nicht von vornherein durch Vorsichtsmaßregeln in ihrem Verlauf gebändigt werde, durchlaufe zwangsläufig drei Stadien: »Die erste Periode der Revolution unterschied sich von allem, was iemals Ähnliches in der Welt geschehen war, durch einen gewissen Anstrich von Menschlichkeit und Milde, der das Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Periode der triumphirenden Humanität anzukündigen schien. Die zweite Periode benahm der Revolution viel von ihrer schönen Seite und raubte ihr eine große Zahl ihrer eifrigsten Anhänger in ganz Europa. Die dritte Periode endlich hat Alles ausgelöscht, was etwa noch von Teilnahme und Anhänglichkeit an die Sache der Revolution in den Herzen gefühlloser Menschen übriggeblieben war. Es ist itzt weiter nichts als das alltägliche, schon hundertmahl da gewesene Spiel einer empörten Sklavenhorde mit ihren vormaligen Herren. Mit Schrekken blättern wir in den Geschichten der Vorwelt und finden kaum einige wenige Spuren daß die Welt Jahrhunderte und Jahrtausende älter geworden ist.«96 Aus der Revolution in Frankreich gewinnt dieser Liberale in der ersten Phase den Eindruck eines beispiellosen Epochenwechsels, der sich letztlich aber wieder als nichts anderes als ein sich ewig wiederholendes Spiel der Geschichte erweist. Den weiteren Verlauf der französischen Ereignisse lehnt Hennings deshalb als fortschrittshemmend ab, da die Menschheitsgeschichte so zu einem unablässigen Kreisen verurteilt werde. Aber anders als die Konservativen sieht er die Revolution als Möglichkeit für einen Fortschritt immer noch als notwendig an, jedoch losgelöst von ihrem weiteren, realen Verlauf; denn dieser bewege sich nach einem ersten Anlauf wieder zurück zum Ausgangspunkt. Im Kreislaufmodell also fand eine doppelte Rückbindung an die Vergangenheit statt: einmal innerhalb der jeweiligen revolutionären Kreisbewegung zurück an den Anfangspunkt einer barbarischen Menschheit; andererseits und universaler innerhalb der Menschheitsgeschichte an die anderen Zirkel der Vergangenheit, die in Revolutionen immer wieder durchlaufen wurden und die Welt nicht älter werden ließen. Nicht viel anders als in den konservativen Zeugnissen hatte für die liberalen Strömungen mit der Revolution also ein Rückschritt eingesetzt, dem zwar immer wieder ein Aufschwung folgte, doch dieser blieb fortschrittslos. 1796 stellt ein Beobachter der wechselvollen Zeitereignisse im »Genius der Zeit« fest, daß sich alles »in ewigem Zirkel [bewege], ohne die geringste Deutung zurück zu lassen, daß ein anderer Zweck beabsichtigt werde, als: sich ewig im Kreüe zu bewegen«.97 Die Französische Revolution, so ein Artikel in Hennings »Annalen der leidenden Menschheit«, habe Erschütterungen verursacht, welche die Menschheit von ihrem Fortschrittsweg zurückwarfen und von denen sie sich erst in Jahrhunderten erholen werde. 98 Und 1804, als Napoleon schon die Kai96 Der Genius der Zeit, 1794, Bd. 2, S. 373 f. 97 Der Genius der Zeit, 1796, Bd. 3, S. 25. 98 Vgl. Annalen der leidenden Menschheit, 1799, Bd. 6, S. 104.

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serkrone empfangen hatte, schien der »Zirkel der Revolution«, wie der politische Schriftsteller Josias Ludwig Gosch seinen Aufsatz betitelte, seine Vollendung erreicht zu haben: »Mit der französischen Revolution ist es nun dahin gekommen, daß sie einen Zirkel durchlief, und auf dem nämlichen Punkt, wovon sie auslief, wieder zurückgekommen ist: die aufgehobene Königswürde wird wieder hergestellt.«99 Gosch greift zur Einordnung der Französischen Revolution explizit auf Piatons Modell des Wechsels der Staatsformen zurück, nur mit dem Unterschied, daß der Zirkel in Frankreich sehr viel schneller durchlaufen worden sei, als es sich der athenische Philosoph habe vorstellen können. Der negativ und zunehmend bedrohlich empfundene, permanente und beispiellose Epochenbruch seit 1789 ließ also alle aufklärerischen Zukunftserwartungen im Ungewissen und keine Handlungsoptionen mehr zu, die Geschichte gestaltbar erscheinen ließen. Vielmehr wurde mit dem Einordnen des realen Revolutionsverlaufs in eine Zirkelstruktur ein Rückgriff auf historische Erfahrungen getätigt, der die Möglichkeit einer neu zu gestaltenden Zukunft ausschloß. Der veränderte Erfahrungshintergrund einer beschleunigten Revolutionszeit verengte also wiederum den Erwartungshorizont, vermochte es aber, Orientierung an der historischen Erfahrung zu bieten. Gerade ein zyklisches Zeitbewußtsein konnte von Zukunftsunsicherheiten und Orientierungslosigkeiten entlasten.100 Erst die erfahrene Diskontinuität der Französischen Revolution gewährte als Ausweg aus der nicht mehr einzuordnenden Entwicklung eine Rückbindung an die vergangene Erfahrung und ermöglichte so Kontinuität, die aber regressiv ausgerichtet war. Eine andere Variante, Kontinuität zu begründen und dennoch einen Fortschritt zu garantieren, lag im evolutionären Fortschrittsgedanken. 4. Reformen ab Bändiger einer entfesselten Zeit Der Begriff der Reform hatte in den Vorstellungen des vorrevolutionären Aufgeklärten Absolutismus noch kaum Einzug gehalten, vielmehr orientierte man sich an dem Perfektibilitätsgedanken der traditionellen Aufklärung. Die Französische Revolution zwang nun dazu, der revolutionären Veränderung eine nicht-revolutionäre entgegenzusetzen und von dem traditionellen Begriff ›Reformation‹ zunehmend abzurücken.101 Reform als Nicht-Revolution war erst einmal konservativ definiert und wurde zunächst maßgeblich von Burke aufgegriffen, der sie als Bewahrung durch rechtzeitige Korrekturen explizierte, die 99 In: Träger, S. 214; vgl. auch Oelsner, in: ebd., S. 698. 100 Vgl. Schöps, S. 115; Schmied, S. 161 ff. 101 Vgl. auch im folgenden Wolgast, S. 313-360, besonders 341 ff.

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im Gegensatz zur schnellen Revolution Zeit benötigten. Doch trotz des großen Einflusses Burkes auf die konservative Revolutionsrezeption setzte sich der ReformbegrifTdort nur langsam durch, auch wenn die Idee einer allmählichen Vervollkommnung schon zentraler Bestandteil der Aufklärung und des Aufgeklärten Absolutismus gewesen waren. So konnten die konservativen Strömungen auf ihn bei Bedarf zurückgreifen, ohne die Gefahr eines gewaltsamen Bruches einzugehen, da sie Aufklärung gouvernemental gelenkt verstanden. Vorstellungen zu einer Reform als Gegenbild zur Revolution finden sich dagegen nach 1789 nachdrücklicher bei Vertretern der liberalen Strömungen. DerRückgrirffauf die historische Erfahrung bettet einmal, wie oben gezeigt, die Revolutionsbewegung in eine Kreisbahn ein und kann auf diese resignative Weise, die keinen Fortschritt ermöglichte, ein Moment der Stabilität in die nicht mehr zu bändigende Zeitbewegung einflechten. Rückbindungen an die Tradition konnten den Zeitfluß aber auch in die Zukunft ausrichten. So beginnt ein Artikel des »Berlinischen Archivs der Zeit und ihres Geschmacks« 1795 mit der Beobachtung, daß die Menschen, die über ihr Zeitalter hinausstrebten, und ihr von der Vergangenheit geprägtes Zeitalter in einem wechselseitigen Einflußverhältnis stünden. 102 Die anvisierte Zukunft müsse nach den Resultaten der Vergangenheit beurteilt werden, denn wem »kann es gleichgültig seyn, die Fäden, mit welchen die Gegenwart an der Vergangenheit hängt und sich an die Zukunft knüpft«, zu verfolgen. 103 Deutlicher weist auf die Geschichte als Lehrmeisterin für Gegenwart und Zukunft das »Staatsarchiv« 1801 hin: »Es geschieht nichts Neues unter der Sonne: dies wird gewiß Mancher denken und sagen, der die Geschichte unseres Textcapitels mit Aufmerksamkeit liest oder anhört, und sie mit gewissen großen Ereignissen der letzten zwanzig Jahre vergleicht. In der That nehmen wir hier eine auffallende Ähnlichkeit zwischen einer schon beinahe drey Jahrtausende alten Geschichte und den Begebenheiten des letzten Jahrzehende unseres Jahrhunderts wahr; hier und dort hatten dieselben Maßregeln dieselben Folgen; hier und dort büßte man empfindlich für dieselben Fehler.«104 Es lasse sich wieder verstärkt aus der Geschichte lernen und aus ihr Strategien der Revolutionsvermeidung ziehen: besser von oben herab reformieren als von unten hinauf revolutionieren 105 - also auch hier wieder deutliche Anklänge an den Aufgeklärten Absolutismus, die den Übergang zur konservativen Strömung fließend machen. Statt sich einem zirkelhaften Wiederholungszwang auszusetzen, verbürge eine staatlicherseits gewährte Reform eine sichere Fortschrittsbewegung. So heißt es auch noch 1801 im »Neuen deutschen Magazin« aus Leipzig, daß die Erfahrungen der letzten zehn Jahre zu nutzen seien, damit 102 103 104 105

Vgl. Berlinisches Archiv der Zeit und des guten Geschmacks, 1795, Bd. 1, S. 1. Ebd., S. 2. Staatsarchiv, 1801, S. 194 f. Ebd., S. 206.

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man wieder zu dem Punkt »des allmählichen, ruhigen Fortschreitens zu sicherer bürgerlicher und moralischer Vollkommenheit« zurückkehre, von dem »uns eine Revolution fortris, um uns durch schreckliche Erfahrungen eine bisher nicht tief genug gefühlte Wahrheit unauslöschlich einzuprägen: besser reformerisch als revoluzionieren«. 106 An das unpolitische und vorrevolutionäre Ziel einer moralischen und bürgerlichen Veredelung sollte hier wieder angeknüpft werden, also an die vom Aufgeklärten Absolutismus sanktionierte Trennung von Staat und Gesellschaft. Im »Neuen Teutschen Merkur« stellt Wieland Anfang 1793 »Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes« an.107 Dort heißt es, daß nach dreihundert Jahren die »Kultur und Ausbildung der Menschheit« stufenweise fortgeschritten sei und sich dabei »endlich unvermerkt eine beynahe gänzliche Veränderung der alten Vorstellungsarten, Meynungen und Gesinnungen« durchgesetzt habe, »eine Art von allgemeiner intellektueller und moralischer Revolution«, deren natürliche Folgen nicht aufzuhalten seien, »da sie durch Gerechtigkeit und Klugheit so geleitet werden können, daß sie ohne eine heftige Erschütterung zum größten Nutzen des menschlichen Geschlechts überhaupt und der einzelnen Staaten insbesonderheit ausschlagen müssen, wofern die rechte Zeit und die rechte Art einer so weisen und nöthigen Operazion nicht versäumt wird.«108 Die allgemeine Fortschrittsbewegung mit ihren Folgen lasse sich also durch rechtzeitige Maßnahmen kanalisieren, die den Erschütterungen einer Revolution zu begegnen und somit einen Rückschlag zu vermeiden wüßten. Für den bedächtigen Wieland gilt es, die Errungenschaften dieser schon seit über hundert Jahren andauernden Revolution zu bewahren und aus ihr Nutzen zu ziehen, jedoch ohne gewaltsame Eruptionen. 109 Damit konnte er sich auf das geringere Konfliktpotential in Deutschland stützen, wo der Wunsch nach Reformen auf einen fruchtbaren Boden fiel. Deutschland habe, so Wieland, bereits Verfassungen eingerichtet, die eine Freiheit garantieren, welche Frankreich vor 1789 nicht gekannt habe, gute Regierungen eingesetzt und trotz mäßiger Steuern eine stabile Finanzlage. 110 Doch Freiheit bleibe in Deutschland eine moralische, die politische mit all ihren gewaltsamen Folgen sei Frankreich vorbehalten. 111 Aber auch diejenigen Publizisten, die seit 1789 zunehmend nach politischer Freiheit drängten und daher eher dem Frühliberalismus als der Spätaufklärung zuzurechnen sind, versprechen sich von Reformen mehr als von einer Revolu106 Neues deutsches Magazin, 1801, Bd. 1, S. 19. 107 Vgl. Neuer Teutscher Merkur, 1793, Bd. 1, S. 3 ff. 108 Ebd., S. 3 f. 109 Vgl. Wieland in einem Brief an Gleim vom 12. April 1793, in: Träger, S. 45. 110 Vgl. Neuer Teutscher Merkur, 1793, Bd. 1, S. 22 ff. 111 Vgl. ebd., 1795, Bd. 3, S. 72.

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tion. Zwar gesteht 1789 der auf der Grenzscheide zwischen Frühliberalismus und Spätaufklärung stehende August Ludwig Schlözer 112 der Revolution noch »Exzesse« als einen notwendigen Bestandteil zu,113 befürwortet 1793 aber für Deutschland Reformen als Mittel für die einzig wahre, immer allmählich sich durchsetzende Aufklärung anstelle einer Revolution, deren Ausgang ungewiß sei.114 »Hat die französische Revolution der Sache der Freiheit und der Menschheit genützt?« Dieser Frage geht Hennings 1799 in den »Annalen der leidenden Menschheit« nach.115 Obwohl ein Anhänger der Ideen der Revolution und ihrer Verdienste (Sturz der Tyrannei, Gewährung der Verfassung, Menschenrechte) 116 räumt er ein, daß jede Revolution die Gefahr der Zerrüttung, Gewalt und Sittenlosigkeit in sich berge: »Jede Revolution ist mit Erschütterungen verbunden, die allezeit die Fortschritte der Menschheit hemmen, und Menschen und Dinge in ein anderes Gleis werfen.« 117 U m eine solche Entwicklung zu verhindern, gelte es, den Fortschritt maßvoll voranzutreiben: »Jene Maasregeln werden ihm [d. i. dem Menschen] daher am willkommensten seyn, welche diese [Ordnung] am wenigstens verrücken. Veränderungen, die dem augenbliklichen Bedürfnisse abhelfen und diesem zusagen, langsam voranschreitende Reformen kommen diesem am nächsten, so wie hingegen Veränderungen, welche augenbliklich wie mit Wetterschnelle, die ganz angewöhnte Ordnung verrücken, schnelle Revolutionen, diesem Zustand nicht angemessen sind.«118 Es werden zwei Geschwindigkeiten von Veränderungen unterschieden, von denen nur die langsamere für die Gesellschaft von Nutzen sei; die schnellere würde jede Ordnung umstürzen und zu einem Ergebnis fuhren, wie es in Frankreich als warnendem Beispiel zu beobachten sei. Der Unterschied zwischen Revolution und Reform ist hier also weniger ein qualitativer, sondern ein auf das Tempo und die Richtung bezogener. Beide ähneln sich in ihren Zielen und sind unter progressiven Vorzeichen angetreten, doch nur die Reform vermag diese zu erreichen, ohne sich in regressiven und kreislaufhaften Repetitionen zu verlieren. Seit etwa 1792 läßt sich dieses zunehmende Bedürfnis nach einer Verschnaufpause von der atemlosen Revolutionszeit verzeichnen, einer Zeit, in der sich die Geschichte wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückzubewegen schien, um von dort aus zyklisch die vorgegebene Entwicklung zu wiederho112 Vgl. zu Schlözer als »Erzvater des deutschen Liberalismus« Valjavec, S. 98 ff. 113 Vgl. Staatsanzeigen, 1789, Bd. 13, S. 467 f., in: Träger, S. 941. 114 Vgl. Schlözers Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, Göttingen 1793, S. 166 ff., in: Träger, S. 946. 115 Vgl. Annalen der leidenden Menschheit, 1799, Bd. 6, S. 88-112. 116 Ebd., S. 104 f. 117 Ebd., S. 95. 118 Ebd., S. 103 f.

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len. Ein sicherer Fortschritt könne dagegen nur auf evolutionärem Weg erfolgen, also mit Hilfe von Reformen. Ausschließlich auf diese langsame und wohlüberlegte Weise sei es möglich, so ein Anonymus Ende 1799, der Revolutionsbewegung ihr fortschrittliches Moment zu bewahren. 119 Auch ein so entschiedener Verfechter der revolutionären Ideen von 1789 wie der badische Historiker und Publizist Ernst Ludwig Posselt, der von 1795 bis zu seinem Tod 1804 auf Anregung Cottas die »Europäischen Annalen« in Tübingen herausgab, greift auf das Reforminstrument zur Bändigung der entglittenen Zeit zurück. 120 Hier wird ebenfalls die Revolution in Frankreich als der Beginn einer neuen Ära begrüßt, dabei aber nicht versäumt, die Schrecken der vergangenen Jakobinerherrschaft zu verurteilen, die jede Aussicht auf eine Zukunft nehme und mit der das Rad der Geschichte zurückzurollen scheine. 121 Mit dem Sturz Robespierres breche zwar wiederum eine neue Ära an,122 deren weitere Entwicklung aber angesichts der unüberschaubaren Ereignisfulle nicht mehr vorherzusagen sei: »Der menschliche Geist, der mit starker Gewißheit die Bahnen unvorhergesehner Kometen berechnet, ist stumpf für die Aussicht selbst in die nächste Zukunft um uns her, wo tausend Möglichkeiten sich durchkreuzen, wo das wilde Spiel der Leidenschaften oft in einem Moment die längsten und mühsamsten Kalküle der Weisheit zerstört; wo oft dem Scheine nach höchstbedeutende Ereignisse unfruchtbar in sich selbst versinken, und dagegen ein kaum bemerktes Pünktchen sich in ungeheuren Folgen entwikkelt; wo oft am ehesten geschieht, was man am wenigsten erwartete.«123 Besonders die französischen Ereignisse seit 1792 müßten als Warnung an Deutschland gesehen werden, das sich auf eine Revolution nicht einlassen dürfe, da der Fortschritt angesichts der Zeit- ›Entartung‹ unsicher sei. Deutschland habe Verfassungen, welche die Möglichkeit für eine progressive Entwicklung in sich bergen, da sie Reformen zulassen. Explizit sich an Schlözer anlehnend, erklärt Posselt Deutschland zu dem Land, in dem die »wahre Aufklärung« herrsche.124 Auch ein radikales Blatt wie die »Europäischen Annalen« sucht also eine Kontinuität zur Vergangenheit herzustellen, nämlich in Anlehnung an die progressiven Entwicklungsideen der Aufklärung. Metaphorisch hat dieser Versuch, dem Revolutionsgang eine in die Zukunft gerichtete Seite abzugewinnen, Ausdruck in dem Bild der Spirale gefunden. 119 Vgl. den anonymen Zeitgenossen in: Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 423 f. 120 Vgl. H. W. Kuhn, S. 181-187. Von Interesse ist diese Zeitschrift besonders wegen ihrer synoptischen Betrachtungsweise aktueller weltpolitischer Konstellationen und ihrer Weitsicht, mit der sie den sogenannten Epochenbruch seit der Französischen Revolution für Europa beurteilte. 121 Vgl. Europäische Annalen, 1795, Bd. 1, S. 251; ebd., S. 291 ff; ebd., S. 8; ebd., 1795, Bd. 4, S. 24ff.:ebd., 1797, Bd. 4. S. 26. 122 Vgl. ebd., 1796, Bd. 1, S. 12. 123 Vgl. ebd., S. 21. 124 Ebd., 1796, Bd. l,S.29 f.

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Ein Artikel aus der »Humaniora« betrachtet die Ereignisse seit 1789 nur als »die Fortsetzung einer allgemeinen, schon lange angehobenen und immer fortschreitenden Revolution der Begriffe und Vorstellungsarten«, denn die »Vergangenheit grenzt so nahe an die Zukunft, daß unsre Blicke, von jener zurückgezogen, wie von selbst diese aufsuchen«. Immer wieder treffe man in der Geschichte auf Ereignisse, »die dem alltäglichen Gange seiner Bildung mit einem Mahle einen heftigen, beschleunigenden Antrieb gaben«, ohne daß der Entwicklungsgang anschließend zum Erliegen käme.125 Trotz aller Beschleunigung und dabei auftretender Widerstände, die ›Zeit‹ in eine retrograde Richtung zwinge, gelinge es der Revolution als einem zusammengesetzten »Erzeugnis von mehr denn einem Jahrhundert«,126 einen Fortschritt einzuleiten und zwar als »Spirale, deren Zurückkehren nur scheinbar sey, und die bei allem Widerannähern an früher durchlaufene Punkte dennoch vorwärts schreite«.127 Ähnlich skizziert auch Oelsner, der der Entwicklung in Frankreich länger als andere die Treue hielt, 1795 in Usteris »Klio« die Aufwärtsbewegung mit dem Bild einer Spirale: »Die Revolution hat sich freilich im Kreise gedreht, aber es ist eine Spirale, aus der sie sich bewegt, und folglich kehrt sie nur scheinbar auf den nämlichen Punkt zurück, indem sie wirklich vorwärts wandelt, und der menschliche Geist mit ihr.«128 Hier wurde also versucht, den Kreislauf der geschichtlichen Entwicklung mit dem Fortschrittsgedanken, also Zyklik mit Linearität in Einklang zu bringen.129 Die Struktur des singulären Geschehensablaufs seit 1789 wird in ein spiralförmiges Modell der Gesamtgeschichte eingeordnet. Revolutionen bedeuten somit nur einen scheinbaren Rückschritt und Zukunftsverlust, da sie letztlich wieder in eine Aufwärtsbewegung münden. So auch im »Genius der Zeit«, wo die Frage gestellt wird, ob es in der Geschichte einen kontinuierlichen Prozeß der Perfektibilität gebe, in dem jedes Zeitalter aus den Fehlern des vorhergehenden lernen könne.130 Die Geschichte, besonders im Angesicht der Entwicklung seit 1789, scheine darauf hinzudeuten, daß »das menschliche Geschlecht eben so leicht vor als rückwärts gehe, und daß es seinem Untergange immer näher komme, je mehr es sich empor zu heben suche«. Doch der Menschheitsprozeß, in seiner Gesamtheit betrachtet, zeige, erst »durch fortdauernde Bewegungen und Erschütterungen von innen und außen sind seine Kräfte aufgeregt worden.... Wer kann es wagen, diesen Geist der Menschheit in seinem großen Fortschritt aufzuhalten?«131 Alle Bemühun125 Humaniora, 1796, Bd. 1, S. X. 126 Ebd.,S. II. 127 Ebd., S. XI. 128 Klio, 1795, Bd. 1, S. 4. 129 Vgl. Koselleck, Revolution, Rebellion, S. 744 ff.; zur Metapher der geschichtlichen Kreisbewegung vgl. Demandt, S. 246, 252. 130 Vgl. Der Genius der Zeit, 1794, Bd. 1, S. 429-435. 131 Ebd., S, 433, 435.

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gen von Tyrannen, so in den »Annalen der leidenden Menschheit« von 1799, »die Menschheit retrograde Schritte machen zu lassen, um ... ihre Herrschaft dauernd zu befestigen«,132 hätten zu Revolutionen geführt, die nur das vollendeten, was sich à la longue und auf reformerischem Wege sowieso ergeben hätte, aber auf diese Weise steuerbar geblieben wäre. Nur wer die Entwicklung der Menschheit aufhalte, riskiere in einem Zeitalter allgemeiner Bewegung das Entgleiten von ›Zeit‹ in eine gewaltsame Revolution. Die Krise der Revolution, von der sich der Autor auch noch 1799 eine Regeneration der Menschheit verspricht, lasse sich nicht mehr abwenden, denn »der Mensch ist zu ohnmächtig, die Umstände zu schaffen, er kann sie, ist er weise, blos benutzen, wenn und wie sie da sind. ... nur das läßt sich erwürken, daß sie so sanft, als möglich erfolge«.133 Damit war die ewige Wiederkehr gleicher Abfolgen im Revolutionsgeschehen in einen einmaligen Fortschrittsprozeß eingebettet worden. In der Gegenüberstellung von regressiver Revolution, die sich menschlicher Verfügbarkeit entzog, und progressiver Reform, die einen beherrschbaren und an der Gegenwart orientierten Fortschritt einleiten sollte, ließ sich also eine Zuordnung erkennen. Der permanente Wiederholungszwang einer seit 1789 ablaufenden Revolutionsperiode wies zwar scheinbar regressiv in die Vergangenheit und wurde zur Fortsetzung deren zirkelhafter Entwicklungsmuster, doch handelte es sich hierbei um ständig neue Versuche auf dem Weg zum Fortschritt, um somit dem In-sich-selber-Kreisen zu entrinnen. ›Revolution‹ und ›Reform‹ konnten beide mit einer zukunftsgerichteten Bewegung konnotiert werden, beide waren in einen transpersonalen Fortschrittsprozeß eingebunden, nur in ihrer Geschwindigkeit unterschieden sie sich, weniger in ihren oft noch aus der Aufklärung stammenden Zielen. Die Revolution beschleunigte diesen Prozeß durch ihre wiederholten Anläufe auf gewaltsame und unüberschaubare Weise, erweckte aber gleichzeitig den Eindruck von kreislaufhaften Rückschritten; die Reform leitete hingegen eine kontinuierliche Entwicklung ein, die auf Sprünge verzichtete, beherrschbar blieb und so sich der Aufwärtsentwicklung der Menschheit anpaßte. Im Bild der Spirale konnten diese beiden Entwicklungsmodelle zusammengefaßt werden, da hier der revolutionäre Kreislauf »diachron gestreckt wird, ohne der Wiederholungskurve gänzlich entraten zu können«.134 Das Verhältnis von ›Revolution‹ und ›Reform‹ erwies sich als Scheinopposition. Die Fortschrittsgewißheit der Aufklärung gab selbst einer als chaotisch empfundenen Revolutionsbewegung noch ein progressives Moment, das aber nur mittels Reformen auch erkennbar und sicher einholbar blieb.

132 Annalen der leidenden Menschheit, 1799, Bd. 6, S. 261. 133 Ebd., S. 263. 134 Koselteck, Revolution als Begriff, S. 210.

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Mit der kompensatorischen Zuflucht liberaler Strömungen in Reformvorstellungen war das Zeitbewußtsein aber auch wieder verstärkt gegenwartsbezogen und weniger auf eine offene Zukunft ausgerichtet. Politischer Fortschritt wurde in der Gegenwart gesucht, in den reformabsolutistischen Institutionen, an die man anknüpfen konnte, um so einer regressiven Krisenbewegung eine neue, progressive Dynamik zu geben. Reformen sollten Vergangenheit und Zukunft verknüpfen, konkreter: Rechtsstaatlichkeit mit Hilfe traditioneller Herrschaftsstrukturen durchsetzen. Die entfesselte Zeit mußte wieder gezähmt werden und so ein statischeres Gepräge bekommen, wenn Schlözer 1793 noch einmal lakonisch feststellt: »Sind wir doch der Gegenwart wenigstens ebensoviel als der Zukunft schuldig!«135 Ein Epochenbruch ließ sich damit aber nur unzureichend begründen, wenn die Zukunft zunehmend zugunsten einer auf Innovationen ausgerichteten Gegenwart vernachlässigt wurde.136 5. Revolution ahfatalistisches Naturgeschehen Über die Bedeutung der deutschen Jakobiner ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden, seitdem Valjavec den demokratischen Ideen der 1790er Jahre lediglich die Funktion eines »politischen Strohfeuers« zuerkannte, das zwar nach 1789 schnell aufflammte, dann jedoch bald wieder erlosch.137 Obwohl die demokratische Strömung publizistisch sehr rege auftrat, blieb sie weitgehend von der Bevölkerung isoliert und vermochte diese kaum zu revolutionären Taten zu bewegen, wie das Mainzer Beispiel zeigte. Die DDR-Forschung, flankiert von Walter Grab, bemühte sich, die Wirkungsmacht der deutschen Jakobiner aufzuwerten,138 drohte sie dabei aber als Traditionsbildner und Avantgarde einer revolutionären deutschen Vergangenheit zu überschätzen.139 Auf den Begriff deutscher Jakobinismus‹ wird hier verzichtet, da er einerseits als ideologischer, diffuser Kampfbegriff für die Forschung vorbelastet ist, andererseits eine verfälschende Verbindung zur radikalen Phase der Französischen Revolu135 In: Träger, S. 946. 136 Vgl. zur Annäherung von Erwartungshaltungen an Erfahrungsräume der Gegenwart Nowotny, S. 50 ff. 137 Vgl. Valjavec, S. 204; zur Forschungsdiskussion vgl. Fehrenbach, Ancien régime, S. 153 ff 138 Vgl. z. B. H. Scheel, Süddeutsche Jakobiner; Voegt; Grab; Demokratische Strömungen; ders., Norddeutsche Jakobiner; ders., Eroberung oder Befreiung; ders., Geschichte. 139 Vgl. die Kritik von Α Kuhn, demokratische Traditionen: H. Scheels und Grabsjakobinis­ musdefinition werde auf die Vergangenheit gewaltsam zurückprojeziert und finde dort nur das, was vorher schon in sie hineingelegt wurde. Dies bestätigen auch H. Scheels und Grabs Quellensammlungen selber, deren Texte fast ausnahmslos ihren klassenkämpferisch und revolutionär gewählten Kriterien für den Jakobinismusbegriff widersprechen. Vgl. ähnlich wie Kuhn Fehrenbach, Deutschland und die Französische Revolution, S. 238 ff; Wehler, Bd. 1, S. 356. Gegen die Marginalisierung des Jakobinerbegriffs polemisiert Haasis, Bd. 1, S. 15 ff.

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tion suggeriert; er wird daher durch einen »eingeführten verfassungstheoretischen Begriffder Zeit« ersetzt, nämlich den der demokratischen Strömung‹.140 Anders als die konservative und die liberale ist die demokratische Strömung ein Resultat der Französischen Revolution gewesen.141 Aber erst mit der Radikalisierung der Revolution 1791/92 und vollends seit der Hinrichtung Ludwigs XVI. läßt sich ein deutlicher Trennungsstrich zwischen liberalen und demokratischen Positionen ziehen, obwohl die Grenzen auch dann nicht immer leicht zu erkennen sind.142 Die in allen deutschen Landschaften aktiven ›Revolutionsmännen setzten sich aus »Gebildeten und Halbgebildeten«143 zusammen, blieben aber in den Städten und auf dem Land in der Minderheit. In stärkerem Maß als die liberalen waren die demokratischen Bestrebungen uneinheitlich und gespalten. Einige Hauptziele der Demokraten lassen sich dennoch nennen: »Die Demokraten gehen auch in Deutschland vom Grundsatz der Volkssouveränität aus, der völligen Gleichberechtigung aller Staatsbürger auf politischem und sozialem Gebiet. Sie sind daher Gegner des Adels, der Standesunterschiede, meistens für eine starke Zentralgewalt und gegen die Sonderstellung der vielen einzelnen Territorien.«144

Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes an politischen Entscheidungen sollten ohne Zensuswahlrecht erfolgen, die Staatsform hatte im allgemeinen eine republikanische zu sein. Auch nach 1792 hielten Demokraten an dem Vorbildcharakter Frankreichs fest, gewaltsame Revolutionen wurden als »ultima ratio zur Veränderung der politischen Institutionen« akzeptiert.145 Mit der beginnenden Auflösung der Republik in Frankreich, der Abkehr der französischen Revolutionäre von den einstmals verkündeten kosmopolitischen Zielen und mit dem Übergang zu einer nationalistischen Kriegszielpolitik verloren die Demokraten ihren »weltbürgerlich-ideologischen Kompaß«146 und damit das französische Vorbild für eine große publizistische Wirksamkeit. Auch für die demokratischen Strömungen hatte sich der Eindruck eines Neuanfangs in der Geschichte der Menschheit seit den frühen 1790er Jahren verfestigt. Am 21. November 1792 schreibt Georg Forster als führender Reprä140 Vgl. Garber, in: Valjavec, S. 560 f. 141 Vgl. auch im folgenden Valjavec, S. 180 ff. 142 Vgl. Grab, Geschichte, S. 75, 80. Ein Artikel »Über Aristokraten und Demokraten in Teutschland« im »Neuen Göttingischen historischen Magazin« von 1793 unterscheidet »äußerste Demokraten«, die radikale Gleichheit fordern, von gemäßigten Demokraten. 143 Valjavec,S, 181. 144 Ebd., S. 184. 145 Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 17 f. Wie schwierig diese Kriterien am Quellenmaterial letztlich durchzuhalten sind, zeigt sich z. B. bei einem gern zitierten Repräsentanten der Demokraten, Georg Friedrich Rebmann, wenn er 1793 bekennt: »Freiheitssinn ist zwar meineSache,jedoch bin ich nicht für die Partei, welche auch in Deutschland eine Revolution durch das Volk bewirken will.« (Rebmann, Wanderungen, S. 42). 146 Grab, Geschichte, S. 85.

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sentant der Mainzer Revolution an seinen Verleger Christian Friedrich Voß nach Berlin: »Es ist eine der entscheidenden Weltepochen, in welcher wir leben. Seit der Erscheinung des Christentums hat die Geschichte nichts Ähnliches aufzuweisen.«147 Der Hamburger Heinrich Würzer unterscheidet 1796 in seiner Zeitschrift »Der Patriotische Volksredner« drei Arten der Revolution: ›Revolution‹ im wörtlichen Sinne bedeute eine »regelmäßige Veränderung, wodurch irgend etwas wieder zu demselben Zustand zurückkehrt, worin es sich vor dieser Veränderung befunden hat«, hierbei vergleichbar dem regelmäßigen Umlauf der Planeten; im natürlichen Sinne bedeute ›Revolution‹ die »regelmäßige Ordnung der Dinge«, nämlich den Wechsel von Leben und Tod; moralisch und politisch verspreche ›Revolution‹ aber eine völlig neue Ordnung, die manchmal wie in Frankreich »unumgänglich notwendig« erscheine, um Tyranneien zu brechen.148 Hier hat sich also das Zeitbewußtsein von dem Zirkelcharakter der Revolution befreit, diese leitet statt dessen seit 1789 eine völlig neue Zeit ein.149 Was diesen Neubeginn auszeichne, sei die beispiellose Ereignisdichte der Gegenwart und ihre Bedeutungsschwere für die Zukunft: »Noch nie ereigneten sich so viele und wichtige Veränderungen zu gleicher Zeit als zu unseren Tagen; nie war die Gärung in den menschlichen Gemütern so allgemein; und nie ging die Gegenwart mit so außerordentlichen Begebenheiten für die Zukunft schwanger. Nie war es also für jeden denkenden Menschen wichtiger als jetzt, um sich her zu blicken und zu fragen, was wird aus uns, was wird aus dem menschlichen Geschlecht werden?« 150

Diese Art von Beschleunigungserfahrung, welche die neue Ära kennzeichnete und gleichzeitig zu ihr führen sollte, ließ die Berufung auf eine Vergangenheit nicht mehr zu und machte jede Prognose beinahe unmöglich. So 1793 in Eulogius Schneiders »Argos«: »Diejenigen, welche gern vom Vergangenen auf das Gegenwärtige, und vom Gegenwärtigen auf das Vergangene schließen, dürfen nur die ganze Reihe der Erscheinungen und Vorfälle, wovon unsere Revolution wimmelt, untersuchen, so werden sie bald überzeugt sein, daß ihre Weissagungen Luft, und ihre Muthmaßungen Hirngespinste waren.« 151 147 Forster, Bd. 4, S. 794. Dieser und auch andere Briefe Forsters wurden post mortem 1794 und 1795 in den »Friedenspräliminarien« abgedruckt. 148 Grab, Deutsche revolutionäre Demokraten, S. 209. 149 Vgl. hierzu auch Görres, für den sich die Revolution schon lange vorher ankündigte, 1789 aber explosionsartig eine »neue glänzende Periode« einleitete (Das rothe Blatt, 1798, in: Görres, Politische Schriften der Frühzeit, S. 130). 150 Würzer, in: Grab, Deutsche revolutionäre Demokraten, S. 247. So fragt auch ein Autor im »Argos« 1792, wie die Franzosen solche großen Fortschritte seit 1789 erzielen konnten, die sonst nur Jahrhunderte hervorgebracht hätten (Argos oder der Mann mit hundert Augen, 1792, Bd. 1, S. 303, 305). 151 Argos oder der Mann mit hundert Augen, 1793, Bd. 2, S. 281.

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Diesem Erfahrungsverlust im Kontext der sich beschleunigenden Ereignisse nach 1789 wird auf der einen Seite ein spezifisch deutscher Weg entgegengehalten, nämlich der der »sanfte[n], durch bloße Aufklärung bewirkte[n]« Revolution anstatt der »gewaltsame [n] durch Empörung«.152 Der sich überstürzenden Entwicklung in Frankreich stehe für den Zeitgenossen eine friedliche, evolutionäre gegenüber, die den deutschen Verhältnissen und dem maßvollen deutschen Charakter adäquater erscheine, so Georg Friedrich Rebmann um 1796.153 Deutschland habe durch seine religiöse Reformation schon den größten Teil einer Revolution vorweggenommen und somit eine beständige und tiefgreifende Veränderung ermöglicht, die nun in einer »vernünftigen Verfassung« zu kulminieren habe.154 Und 1798 sieht ein Autor in Rebmanns »Kameleon« Deutschland durch das »Unglück der Franzosen« belehrt und sehr weit von einer Revolution à lafrançaise entfernt, denn »die Humanität geht ihren festen obgleich langsamen Schritt, und es nahet sich eine Revolution andrer Art«, nämlich »nach den Grundsätzen der Moral«.155 Dieser spezifische Weg einer deutschen Reformkontinuität, der gewaltsame Revolutionen überflüssig machen soll, erinnert deutlich an liberale Erwartungshaltungen, angesichts einer regressiv erscheinenden Zeit auf dem Boden gegenwärtiger Institutionen Vergangenheit und Zukunft kontinuierlich miteinander zu verknüpfen und so Geschichte gestaltbar zu machen. Doch den weitergehenden politischen und sozialen Forderungen der Demokraten konnte die bloße Berufung auf die deutsche Reformtradition des Aufgeklärten Absolutismus nicht genügen; ihnen ging es darum, die Entwicklung in Deutschland energisch voranzutreiben, das Defizit an Fortschritt angesichts einer erfahrenen politischen Rückständigkeit gegenüber Frankreich auszugleichen. In der Spannung der›Gleichzeitigkeitdes Ungleichzeitigen‹ wurden Fortschritt und der Mangel daran faßbar.156 Deshalb werden immer wieder die deutschen Regenten aufgerufen, die Gelegenheit zu nutzen und den beherrschbaren Weg einer evolutionären Entwicklung weiter voranzutreiben, denn wer sich jetzt auf dem noch friedlichen Zustand Deutschlands ausruhe, drohe, so »Der Patriot« 1793, vom harten Schicksal gezüchtigt zu werden, sprich: eine schnelle Revolution zu durchleben.157 Der Rückgriff auf Reformen schien also unsicher geworden zu sein, wenn diese nicht eindeutig in die Zukunft wiesen und die Vergangenheit hinter sich ließen. 152 Vgl. Das neue graue Ungeheuer, 1796, Bd. 6, S. 41. 153 Vgl. Rebmann, Ideen, S. 151; zu Rebmann vgl. Kawa; neuerdings den Sammelband von Wadle u. Sauder. 154 Rebmann; Ideen, S. 151, 160, 167. 155 Kameleon oder das Thier mit allen Farben. Eine Zeitschrift für Fürstentugend und Volksglück, 1798, Bd. 1, S. 89 f.; vgl. auch Neuer Niedersächsischer Merkur, 1797, Bd. 2, S. 150 f. 156 Vgl. Koselleck, Fortschritt, S. 391 f. 157 Der Patriot, 1793, Bd. 9, S. 32; Das neue graue Ungeheuer, 1796, Bd. 6, S. 42.

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Widerstand gegen notwendige Veränderungen, so der Tenor der Quellen, würde einer unkontrollierbaren und permanenten Zeitbeschleunigung wie in Frankreich nur zuarbeiten und somit eine gewaltsame Entwicklung einleiten.158 In diesem Sinne heißt es in Rebmanns »Schildwache« 1796: »Zu wünschen ist eine gewaltsame Revolution aber in Deutschland gewiß nicht, und noch kann sie verhindert werden, wenn man nur nicht fortfährt, sie aus Aengstlichkeit und Unwissenheit durch die verkehrten Maasregeln, welche man dagegen anwendet, zu beschleunigen.« 159 Das Schwanken zwischen Reformdringlichkeit zur Verhütung einer Revolution und Reformskepsis, die sich angesichts einer stagnierenden Entwicklung in Deutschland immer weniger auf die Traditionen der Aufklärung berufen konnte, läßt sich an Georg Forsters Entwicklung ablesen. Er war einer der wenigen Publizisten in Deutschland, der durch die Mainzer Ereignisse 1792/93 direkt und in führender Position mit einer Revolution konfrontiert wurde. Noch vor seiner Beteiligung an dem Mainzer Umsturz gibt er in einem Brief an Christian Wilhelm Dohm vom 5. April 1791 seinen Zweifeln an der Reformfähigkeit der alten Ordnung Ausdruck: »Wir sind nicht auf dem Punkte, wo eine gewaltsame Revolution uns das geringste helfen und nützen könnte, wenn sie auch möglich wäre, was sie doch nicht ist. Allein bessert man nicht in Zeiten, wird den Mängeln der Konstitution nicht abgeholfen, solange alles ruhig ist, so muß endlich der Umschlag doch kommen, spät freilich, aber desto totaler.«160 Und in einem anderen Brief vom 21. Dezember 1792 an Voß bemerkt er, »daß Deutschland zu keiner Revolution reif ist und daß es schrecklich, gräßlich sein wird, sie durch das halsstarrige Bestehen auf die Fortsetzung des unglückseligsten aller Kriege unfehlbar vor der Zeit herbeizuführen«. 161 Gerade die kritische Entwicklung der Revolution seit 1792 sieht Forster »überall von Übereilung, Übertreibung, Frühreife« und von »lauter Wandel und Wechsel in der Welt«162 geprägt. Einerseits schienen Deutschland die Voraussetzungen für eine Revolution noch zu fehlen, andererseits werde diese bei weiterer Reformverweigerung unvermeidbar und um so radikaler und totaler sein. Von der Richtung dieser Bewegung zu mehr Freiheit scheint Forster dennoch überzeugt zu sein: »... daß man doch nur einsehen möge, wie die Stimmung unserer Zeiten ist, wie von lange her die Schicksale dieses Augenblicks vorbereitet sind, wie es platterdings unmöglich ist, daß die morschen Dämme halten können, die man der Freiheitsüberschwemmung entgegengesetzt!« 163 158 159 160 161 162 163

Vgl. z. B. Argos oder der Mann mit hundert Augen, 1792, Bd. 1, S. 307. Die Schildwache, 1796, Bd. 1, S. 27 f. Forster, Bd. 4, S. 650. Ebd., S. 809. Ebd., S. 725, 734 Brief an Voß vom 21. November 1792, in: ebd., S. 794.

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Doch mit dem Scheitern der Mainzer Republik betrachtet Forster die mit großen Hoffnungen verfolgte Zeitbeschleunigung als eine Bedrohung, die auch durch Reformen nicht mehr zu bewältigen sei. Deutlich wird dies in den Briefen und »Parisischen Umrissen«, die 1793 im Pariser Exil entstanden, als Forsters Distanz zu einer Revolution ohne Tugend und einer Tyrannei der Vernunft zunahm. 164 Als kranker Zuschauer der Revolution sieht er in ihr eine »Naturerscheinung«, deren unbekannten Gesetze nicht mittels Vernunft zu ergründen seien, sondern denen man freien Lauf lassen müsse: »Die Revolution hat alle Dämme durchbrochen, alle Schranken übertreten, die ihr viele der besten Köpfe hier und drüben bei ihnen in ihren Systemen vorgeschrieben hatten.«165 Forster spricht im Zusammenhang mit der Geschichte Europas vom Schicksal, das sich nicht mehr voraussagen lasse, »weil es nicht mehr von Vernunft und Eigennutz, sondern von toller regelloser Willkür und rasender Leidenschaft abhängt«, so daß der Mensch nicht mehr in den Ablauf der Zeit eingreifen könne. 166 Die Revolution in ihrem zeitlichen Verlauf führe zur Desorientierung und werde zum Fatum, dem das geschichtliche Subjekt sich nur noch überantworten könne: »Seitdem man bei uns die Revolution als eine neue, unaufhaltsame Schwungkraft anzusehen gelernt hat, haben sich auch viele von ihren Gegnern wieder mit ihr ausgesöhnt; und meinen sie nicht, daß es immer noch besser ist, ihr nachzulaufen und sie einzuholen, als mit gewissen Halbweisen, die ihr voranliefen und sie zuerst in Bewegung brachten, plötzlich stillezustehen und sich zu ärgern, daß sie, wie eine Schneelawine, mit beschleunigter Geschwindigkeit dahinstürzt, stürzend an Masse gewinnt und jeden Widerstand auf ihrem Weg vernichtet.«167 Einmal ausgelöst, wirke die Revolution permanent weiter, sei nicht mehr zu kontrollieren, da sie in der Hand des Schicksals stehe: »Die Vorsehung hat das Heft, und wir schwimmen mit dem Strome.« 168 ›Revolution‹ wird zu einer physikalischen »vim inertiae«, die, einmal angestoßen, für lange Zeit nicht mehr zu bremsen sei und so die erstaunliche Permanenz der Bewegung erkläre. 169 Der resignierende und sterbende Forster entzieht dem Menschen weitgehend jede Verantwortung für den beschleunigten Lauf der Zeit. Die progressiven Vorzeichen der Revolution, unter denen der einzelne einstmals antrat, um eine neue Zeit einzuleiten und zu gestalten, stünden nun gänzlich außer seiner Verfügungsgewalt. 164 Vgl. den Brief Forsters an seine Frau Therese vom 16. April 1793, in: ebd., S. 847. 165 Georg Forster, Parisische Umrisse, in: ebd., Bd. 3, S. 729-776, hier 730. Schon Griewank betont, daß Forster früh die unbändige Dynamik der Revolution entdeckt und dieser durch gewaltsame Naturmetaphern Ausdruck verliehen habe (vgl. Gnewank, S. 241 ff.). 166 Forster in einem Brief an Therese vom 25. September 1793, in: Forster, Bd. 4, S. 911. 167 Forster, Bd. 3, S. 732. 168 Forster in einem Brief an Therese vom 24, Oktober 1793, in: Forster, Bd. 4, S. 922 f.

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»Die Revolution ist ein Orkan, wer kann ihn hemmen? Ein Mensch, durch sie in Tätigkeit gesetzt, kann Dinge tun, die man in der Nachwelt nicht vor Entsetzlichkeit begreift. Aber der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ist hier für Sterbliche zu hoch. Was geschieht, muß geschehen. Ist der Sturm vorbei, so mögen sich die Überlebenden erholen und der Stille freuen, die darauf folgt.«170 Letztlich läuft dieser sich verselbständigende Prozeß auf Forsters tautologische Aussage zu: »Die Revolution ist... die Revolution.... Daß sich alles Kopf über Kopf unter wälzt, ist ein vollgültiger Beweis, daß der Nahme der Sache entspricht«.171 Das Subjekt der Revolution ist die Revolution, eine nach unvorhersehbaren Naturkräften agierende Macht, nicht der geschichtlich Handelnde. Ähnlich wie Forster erging es vielen Demokraten, die auch nach 1792/93 an der Revolution in Frankreich als Eröffnung einer neuen Zukunft festhielten und sich für das »zurückgebliebene« Deutschland einen Epochenbruch erhofften. Anders als für Liberale verläuft die sich beschleunigende Zeit für Demokraten weiterhin progressiv und scheine »eine schöne Zukunft aus der Nacht der Zerstörung« hervorgehen zu lassen, so Rebmann 1793 in der Vorrede zu seinen »Kosmopolitischen Wanderungen«. 172 Der Revolution wurden »Entartungen« zuerkannt, da diese letztlich als unumgänglich für eine Weiterentwicklung erschienen. So kann Rebmann seine Frage: »War die Revolution ein Uebel, weil sie so große Uebel nach sich zog?« mit einer Naturanalogie beantworten: »Ungewitter und Stürme sind ein großes Uebel für diejenigen, deren Erndten sie zerstören; aber ohne dieses Uebel würde alles, was athmet, erstickt und umgekommen seyn. Weil es Dünste giebt, muß es auch Ungewitter geben, oder vielmehr es würde kein Ungewitter geben, wenn es keine Dünste gäbe.«173 Und 1798 wird erneut in »Der Geißel« gefragt, ob der »Riese der Revolution« noch vorwärts schreite: »Wir können dann und wann zurückzugehen scheinen; aber selbst diese Rückschritte sind nur ein neuer Anlauf, der uns dann plötzlich näher zum Ziele führt.«174 Die permanente Revolutionsbewegung wurde also nicht mehr in eine überschaubare, aber auch regressive Kreisstruktur eingebettet, sondern behielt den Charakter einer in eine neue Zeit weisenden Kraft. Diese verlagerte sich auch nicht mehr auf den reformerischen Weg, der vergeblich für Deutschland angemahnt wurde und nicht den demokratischen Erwartungen entsprechen konnte, die aufklärerisch und reformabsolutistisch geprägte liberale Leitbilder hinter sich ließen. Sondern die fortschrittliche Richtung der Revolution selber wurde weiterhin betont und an ihr festgehalten, eine

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Vgl. Forster, Bd. 3, S. 732. Forster in einem Brief an Therese vom 28. Dezember 1793, in: Forster, Bd. 4, S. 959. Forster, Bd. 3, S. 731. Rebmann, Wanderungen, S. 31. Die Geißel, 1797,Bd.3,S. 315. Ebd., 1798, Bd. 1, S. 82 f.

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Bewegung, die auch über eine langsame Revolution, also eine Reform, hinwegschreiten würde. Daß dem evolutionären Weg der Reform immer weniger Chancen eingeräumt wurden, wird deutlich aus der Potenz, welche die Revolution seit den frühen 1790er Jahren zunehmend in dem Zeitempfinden der Demokraten einnahm. Die Revolution mit ihren Folgen für Deutschland stelle einen autogenen Prozeß mit einer ungeheuren Menge an neuen, nicht mehr zu verarbeitenden Eindrücken dar,175 einen Prozeß, der 1796 für Rebmann noch lange nicht beendet ist, sondern der vielmehr nahelege, daß »vielleicht eher, als wir glauben, neue Stürme bevorstehen«.176 Es ist auffällig, wie sehr hierbei die Gewässermetapher als Bild für die revolutionäre Bewegung in den demokratischen Zeugnissen vorherrscht.177 Erhard ruft 1794 in einer Nürnberger Flugschrift die »deutsche Nation« auf, sich dem Revolutionsexport durch die französischen Heere nicht entgegenzustellen, denn: »Die Frankennation ist eine freie Nation - wie kannst Du es wagen, ihr Widerstand zu leisten? Gleich einem reißenden Strome, der, wenn er einmal die Dämme durchbrochen hat, alle sich ihm entgegenstellenden Hindernisse mit sich unaufhaltsam fortreißt, wird die Frankennation alle Heere verschlingen, die das deutsche Volk ihrer Siegerbahn entgegengestellen wird.« 178

Und 1798 stellt wiederum eine Flugschrift, diesmal aus Württemberg, kategorisch fest, daß nichts »den neuen Ideenstrom« aufzuhalten vermöge, »der die Menschheit gegen das neue Ziel, die Freiheit, selbst über die Felsen hinwegreißt, womit das Bett des Flusses gleichsam übersäet ist«.179 Wird hier die revolutionäre Real- und Ideenbewegung noch bewußt affirmativ in den Dienst der politischen Sache gestellt, verliert sich diese Möglichkeit mit Fortdauer der beschleunigten Entwicklung, da der Strom der Geschichte total zu entgleiten droht. So in einem Aufsatz über den Staatsstreich vom 18. Fructidor 1797 in der »Neuen Schildwache«: »Der Strom reißt uns unaufhaltsam mit sich fort. Glücklich ist derjenige, den er nicht verschlingt, glücklicher noch derjenige, welcher dann und wann am Ufer einen Augenblick ausruhen, und neue Kräfte sammeln kann.«180 Mit dem Ausbruch des zweiten Koalitionskrieges sind für Joseph Görres im »Rübezahl« die Charakteristika des Zeitalters »ewiger Wechsel, reißend schnelles Stürmen im Flusse der Begebenheiten«. Man könne der 175 Vgl. in: Boehncke u. Zimmermann, S. 185. 176 In: Stammen u. Eberle, Französische Revolution, S. 111. 177 Vgl. Demandt, S. 166 ff. 178 Erhard, S. 102. 179 In: H. Scheel, Jakobinische Flugschriften, S. 205. 180 Die neue Schildwache, 1798, Bd. 2, S. 86 f. In diesem Artikel wird wie bei Forster die Revolution auch mit einer physikalischen Kraft, nämlich einer Kugel verglichen, die, erhält sie den entscheidenden Anstoß, unaufhaltsam fortrollt und deren Richtung und Geschwindigkeit sich nicht mehr verändern läßt: »Was ihr im Wege liegt, wird mit fortgerissen.« (ebd., S. 73 f.).

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Natur ablauschen, wie »alle Elemente aus ihrem Gleichgewicht« geraten, aber »wer will ihr folgen in das Chaos der Begebenheiten unserer Tage, in das wilde Braußen und Toben der fessellosen Leidenschaft... Wer will den Sturm in seine Elemente dekomponieren, und wieder aus seinen Elementen zusammensetzen ...?«181 Noch deutlicher wird 1800 einer der »Revolutionsaphorismen« aus dem »Kameleon«: »In Revolutionen muß man dem Lauf des Wassers folgen, oder man erschöpft sich, indem man gegen den Strom kämpft, und wird endlich entkräftet, und doch ohne Leitung fortgerissen. Sich mit der fortgerissenen Menge halten, das ist alles, was die Weisheit hoffen kann; sich mehr vorsetzen, wäre Thorheit und Uebermuth.«182 Die revolutionäre Gärung im Volk durchbreche fortwährend die »Dämme, tritt über ihre Schranken, und die Ueberschwemmung breitet sich weithin an den Ufern aus«.183 Die Gewässermetaphern ermöglichten es, dem Zeitfluß innerhalb geschichtlicher Prozesse Kontinuität und Linearität zuzuweisen. 184 Dem Revolutionsverlauf konnte so weiterhin eine progressive Richtung unterstellt werden, die eine neue Zeit einleitete, denn der Strom der Geschichte wälzte sich permanent fort. Doch diese Bewegung mußte keine geradlinige und gleichmäßige sein, da jeder natürliche Fluß sich auf seine Weise einen Weg bahnt und gewaltsam über die Ufer treten kann. Die Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit des Wassers, seit 1789 oftmals in der Dammbruch-Metapher ausgedrückt, 185 gab das Ohnmachtsgefühl des Menschen angesichts einer als übermächtig empfundenen Zeit wieder. So ist für Görres im »Rübezahl« 1798 die Lage des Kontinents von einem »Gefühl der Ohnmacht« und von panischem »Schrecken vor dem Zeitgeiste, der furchtbar wie ein Lavastrom sich von Süden gegen Norden hinaufwälzt«, gekennzeichnet. 186 Revolutionen ließen sich, so bringt es wieder ein Revolutionsaphorismus aus dem »Kameleon« treffend zum Ausdruck, nicht mit üblichen Maßstäben vergleichen; wie in Krankheiten »entstehen alle Begebenheiten derselben [d. i. der Revolution] gleichsam von selbst, oder fallen ganz gegen die Absicht derer aus, durch welche sie bewirkt wurden«. 187 Auch Posselt scheint der drängenden Ereignissen nicht mehr Herr zu werden, wenn er 1795 in den »Europäischen Annalen« ausruft: »Stürze von Extrem zu Extrem; die ganze physische und moralische Welt in Gährung; alles sich drängend - das ist das Pensum der neuersten Chronisten.« 188 Ob die Revolution 181 182 183 184 185 186 187 188

Der Rübezahl, 1799, in: Görres, Politische Schriften der Frühzeit, S, 479. Kameleon oder das Thier mit allen Farben, 1800, Bd. 4, S. 100. Ebd., S. 104. Vgl auch im folgenden Demandt, S. 176 ff. Vgl auch oben Forster und außerdem schon Campe. Der Rübezahl, 1798, in: Görres, Politische Schriften der Frühzeit, S. 318. Kameleon oder das Thier mit allen Farben, 1800, Bd. 4, S. 97. Europäische Annalen, 1795, Bd. 1, S. 10.

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beendet sei, sei nicht zu beantworten, da die Geschichte für diese beispiellose Epoche nicht mehr Magistra vitae sein könne. 189 Vielmehr müsse man wohl davon ausgehen, daß die revolutionäre Beschleunigung permanent weiterwirke, der menschliche Geist aber »stumpf [bleibe] für die Aussicht selbst in nächster Zukunft um uns her, wo tausend Möglichkeiten sich durchkreuzen, wo das wilde Spiel der Leidenschaft oft in einem Moment die längsten und mühsamen Kalküle der Weisheit zerstört;... wo oft am ehesten geschieht, was man am wenigsten erwartet.«190 Die krisenhafte Bewegung seit 1789 lasse sich nicht mehr aufhalten; was menschliches Eingreifen allein vermöge, so ein Artikel im »Neuen grauen Ungeheuer« von 1795, sei, ihr allenfalls eine »schiefe Richtung« zu geben.191 Was schließlich auch getan werde, man erreiche immer nur das Gegenteil von dem, was im Rahmen von Revolutionen angestrebt worden sei: »Man beschleunigt, indem man zurückhalten, und hält zurück, indem man beschleunigen will.« 192 Darin scheint die Ohnmachtserfahrung der demokratischen Zeitgenossen zu gipfeln, die sich vermaßen, die Zeit mittels Revolutionen zu gestalten und nun einer zerstörerischen und eigenmächtigen Fortschrittsbewegung ausgeliefert waren. Resümierend lassen sich also Zeiterfahrungen im Kontext der Französischen Revolution erst dann in Deutschland ausmachen, als der permanente Epochenbruch und die Beschleunigungserfahrung negativ besetzt wurden. Weniger die Ideen von 1789 selber, als vielmehr die konkreten Erfahrungen mit dem fortgesetzten Krieg, den Revolutionsarmeen und der Besatzungsmacht bestimmten das Zeitbewußtsein der einzelnen politischen Strömungen, die jeweils unterschiedlich damit umgingen. 193 Die Beschleunigung der Entwicklung und die Permanenz des Epochenbruchs wurden seitdem durchgehend empfunden und mit Ohnmachtserfahrungen angesichts einer als übermächtig angesehenen Zeit quittiert. Nur die Kompensationsmuster unterschieden sich. Konservative Strömungen sahen in der gesamten Revolutionsbewegung schon relativ früh eine Regression, die weit über den angestrebten Rückschritt einer allmählichen und in einer festen Seinsordnung verankerten Restauration hinausging und in einem vorstaatlichen Zustand der Barbarei enden mußte. Mit dieser Deutung konnten sie dem unerträglichen Gedanken einer offenen Zukunft begegnen. Liberale Strömungen begegneten dem durch die Ereignisdichte freigesetzten Handlungsdruck und der durch die Wechselwirkung von Revolution und 189 Ebd., 1796, Bd. 1,S. 14. 190 Ebd., S. 21. 191 Das neue graue Ungeheuer, 1795, Bd. 1, S. 22. 192 Ebd., S. 24. 193 Vgl. zu den konkreten Erfahrungen mit den Folgen der Revolution in den 1790er Jahren Berding, Ausstrahlung, S. 8.

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Krieg bewirkten Unverfügbarkeit von ›Zeit‹ auf zweierlei Art, indem auf historische Erfahrungen zurückgegriffen wurde: resignativ durch ein Kreislaufmodell, das keine offene Zukunft mehr ermöglichte; zuversichtlicher durch den evolutionären und gegenwartszentrierten Weg der Reformen. Die unsichere Zeitbewegung einer Revolution konnte so eingefangen und sicher verfügbar gemacht werden. Durch ihren Anspruch, an staatliche und institutionelle Traditionen anzuknüpfen, verschafften Liberale aber der Gegenwart gegenüber der Zukunft einen Relevanzgewinn. Das Eingebettetsein der kreislaufhaften Revolution in einen Fortschrittsprozeß, also die Zuordnung von Zyklik und Linearität, von Revolution und Reform fand ihren Ausdruck in der SpiralMetapher. Reformen anstatt Revolutionen standen angesichts der unabsehbaren Entwicklung in Frankreich auch für die demokratischen Strömungen im Vordergrund, nur brachten sie diesem ›deutschen Weg‹ weniger Hoffnungen entgegen, durch ihn ihre weitreichenden politischen und sozialen Ziele verwirklichen zu können. Deshalb behielt das Phänomen der Revolution von vornherein den Charakter eines Epochenbruchs in eine neue Zeit hinein und mußte weniger mittels Regression, Kreisvorstellungen oder Reformen gebändigt werden. Der Preis dafür war aber, daß ›Revolution‹ weiterhin ein zwar unwiderstehlicher, aber eben auch fatalistischer und autogener Naturprozeß fern jeder menschlichen Eingriffsmöglichkeit blieb. Die verschiedenen Zeiterfahrungen können nicht immer eindeutig den einzelnen politischen Strömungen zugeordnet werden, sondern zahlreiche Überschneidungen sind zu verzeichnen. So ähneln konservative Regressionsvorstellungen von ›Zeit‹ im Revolutionsprozeß liberalen Kreisvorstellungen, auch wenn der Kreis, als Spirale gedacht, ein Fortschrittsmoment enthält. Liberale Reformvorstellungen einer langsamen und beherrschbaren Revolution sind andererseits auch als Mittel zum Erreichen demokratischer Zielvorstellungen zu finden. Die Spiral-Metapher als zukunftseröffnender Konnex von Revolution und Reform diente sowohl liberalen als auch demokratischen Zeitvorstellungen. Überhaupt dürfte es sich als schwierig erweisen, einzelne Bilder und Metaphern allzu eindeutig politischen Positionen zuzuordnen.194 Die Sprache und Ideen der Aufklärung, die weite Teile der gebildeten Öffentlichkeit schon vor 1789 prägten, beeinflußten weiterhin die politische Diskussion in Deutschland und ließen die Konturen der einzelnen politischen Lager noch unscharf. Doch begannen sich dahinter verschiedene Wertungsmuster als Antwort auf die neuen Erfahrungen von Revolution und Krieg herauszubilden. Dadurch wurden zunehmend verschiedene ideologische Positionen determiniert. Konservative Strömungen erstarrten im Angesicht der Revolution weitgehend in 194 Vgl. Peitsch, S. 198 f. Ähnlich urteilt Demandt über die Naturmetapher: »Optimisten wie Pessimisten untermalen ihre Geschichtsansicht mit Bildern aus der Natur. Sie gibt jedem Recht.« (Demandt,S. 176).

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Regressionsvorstellungen und -ängsten und erkannten noch nicht die neuen Möglichkeiten, die sich ihnen als politischer Kraft künftig aus der Revolutionsabwehr eröffnen sollten. Liberale Publizisten sahen trotz der Ohnmachtserfahrung, die aus der Kreislaufstruktur von Revolutionen erwuchs, die Möglichkeit, die beschleunigte Zeit innerhalb permanenter Epochenbrüche progressiv steuern zu können, auch wenn sie dabei mit einem Fuß immer noch in den aufgeklärten Traditionen und den reformabsolutistischen Institutionen stecken blieben und so den Epochenbruch relativieren konnten. Demokraten hingegen nährten ihre Reformskepsis und hielten an der Revolution als effizienter, aber nicht beherrschbarer Fortschrittsbewegung fest, auch wenn ihre Präferenz weiterhin auf einem evolutionären Weg beruhte, über den aber bei weiterer Reformblockade die Revolution hinwegschreiten würde. ›Revolution‹ als Epochenbruch im Sinne Kosellecks blieb in diesem Fall gerettet, der Einfluß auf deren Entwicklung schwand damit aber ebenso. Strenggenommen entglitt ›Zeit‹ sowohl im Rahmen von sich überstürzenden Revolutionen als auch von Reformen menschlicher Verfügbarkeit, da der allgemeine Fortschrittsplan der Menschheit schon vorgezeichnet schien und es auch für Liberale nur noch darauf ankam, sich in einer unabwendbaren Krise der Zeit und ihren Erfordernissen anzupassen und diese zu nutzen - möglichst auf dem Weg der Reformen. Die von Koselleck diagnostizierten neuartigen Zeiterfahrungen im Anschluß an die Französische Revolution verlieren sich also zum Teil in dem komplexen Geflecht von modernen und traditionellen Revolutionsvorstellungen der einzelnen politischen Strömungen. Zumindest der Eindruck eines Epochenbruchs in eine neue Zeit hinein bleibt fraglich. Der Beschleunigungs- und Permanenzcharakter von Revolutionen ging zwar Anfang der 1790er Jahre in den Bewußtseinshorizont der Zeitgenossen ein, aber dieser autogene Zeitfluß schien gerade nicht die Möglichkeit zuzulassen, die Entwicklung in eine mehr oder weniger gestaltbare Zukunft zu überführen, sondern sie entlief menschlicher Verfügbarkeit um so mehr, als die Auswirkungen der Französischen Revolution für Deutschland immer unmittelbarer wurden.

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III. Napoleon als neue Epochenzäsur Die Französische Revolution konnte seit ihrer beschleunigten Radikalisierung nicht mehr den Anspruch erheben, eine Epochenzäsur für eine bessere Zukunft zu sei. Sie war oftmals nicht mehr der Perspektivbegriff, auf den man sich positiv beziehen konnte, um seine Zeit zu gestalten. Damit einher ging seit der zweiten Hälfte der 1790er Jahre ein nachlassendes Interesse an der Revolution selber, da die eindrücklichen Tagesereignisse in Paris fehlten. Statistisch dokumentiert wird dieser Befund durch die abnehmende Anzahl von historischpolitischen Journalen seit der Etablierung des Direktoriums und dem Aufstieg Napoleons.1 Zwar stiftete die Französische Revolution als ein weltgeschichtliches Ereignis der Menschheit die »Grundprinzipien der modernen Welt«,2 doch wurde sie für Deutschland zu einer realen Erfahrung erst in der Auseinandersetzung mit den Koalitionskriegen, vor allem aber mit Napoleon und dem durch ihn bewirkten Revolutionsexport und der Neuordnung des Reiches. Der in der Forschung lange Zeit vernachlässigte Einfluß der napoleonischen Fremdherrschaft auf den Modernisierungsprozeß in Deutschland ist in jüngeren Studien stärker zur Geltung gekommen. Seit Franz Schnabels »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« werden auch die in der älteren Nationalgeschichtsschreibung noch vielfach als ›undeutsch‹ denunzierten Reformleistungen der Rheinbundstaaten angemessen gewürdigt.3 Napoleon war es zu verdanken, daß die revolutionären Errungenschaften modifiziert nach Deutschland vermittelt wurden und ihr Einfluß über das deutsche Geistesleben hinausging: »Der Code Napoleon, der die bürgerlichen Verhältnisse des nachrevolutionären Frankreichs auf rechtliche Begriffe brachte, bedeutete für Deutschland eine revolutionäre Herausforderung.«4 Gerade in den neu geschaffenen Rheinbundstaaten mußte dieser Herausforderung begegnet werden, da diese Staaten mit bestimmten Modernisierungsaufgaben konfrontiert wurden: der administrativen Integration, der zentralstaatlichen Penetration, der ideologischen Identitätsbildung und der erweiterten »Partizipation von Bürgern an überschaubaren EntScheidungsprozessen«.5 Damit sollte ein vorrangiges Ziel dieser erweiterten Staatsgebilde von Napoleons Gnaden verfolgt 1 Vgl. Stammen u. Eberle, Deutschland 1789-1806, S. 23. 2 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 11. 3 V g l als ersten Forschungsüberblick Fehrenbach, Ancien régime, S. 170 ff.; dies,, Deutschland und die Französische Revolution, S. 249 ff; dies., Traditionelle Gesellschaft; dies., Reformen und Reformprojekte; vgl. außerdem Raumer, S. 265 ff. 4 Fehrenbach, Deutschland und die Französische Revolution, S. 251. 5 Vgl. Wehler, Bd. 1, S. 373 ff

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werden: »Aus bunt zusammengewürfelten, aus politisch-religiös-ökonomisch-kulturell höchst heterogenen Herrschaftsgebieten wollten sie in möglichst kurzer Zeit einen zentralisierten, bürokratisierten, politisch homogenisierten Einheitsstaat herstellen, der mit der westeuropäischen Entwicklung Schritt halten konnte.«6 Bürokratisierung und Monopolisierung weiteten die Staatstätigkeit aus und trugen zur Entwicklung einer modernen Staatlichkeit bei. Die rheinbündische Zeit gab den Mittelstaaten »den weiten Handlungsspielraum für tiefgreifende innere Reformen« und leitete einen beschleunigten politischen und sozialen Wandel ein.7 Er hatte tiefgreifende Auswirkungen für das Bewußtsein wie für die politisch-soziale Wirklichkeit, die bis weit zum Konstitutionalismus des Vormärz reichen.8 Auch das schon im 18. Jahrhundert angelegte Reformwerk in Preußen gelangte erst mit dem katastrophalen Zusammenbruch von 1806 zu seinem Durchbruch, als der preußische Staat sich nach seiner Niederlage behaupten mußte.9 ›Reform‹ und ›Revolution‹ rückten durch den externen Anpassungsdruck, der vom revolutionär-napoleonischen Frankreich ausging, und das Drängen der Reformbürokratie, die sich u. a. an den Ideen von 1789 orientierte, näher zusammen. Die Französische Revolution regte Reformen im Sinne einer Revolution von oben an und leitete eine »Periode beschleunigter Anpassung« ein, überspitzt formuliert: eine »Antirevolution«.10 In dem Willen zur Staatsbehauptung sollten mit unterschiedlichem Gewicht politische, soziale und ökonomische Reformen verwirklicht werden, um mittels eines säkularen Erfolges die relative Rückständigkeit des Staates gegenüber dem Westen auszugleichen und die zu Schaden gekommene Glaubwürdigkeit der monarchischen Institutionen wieder zu erneuern. Somit erfuhr seit der Jahrhundertwende die Rezeption der Revolution von 1789 mit ihren weitreichenden Folgen als neuer Zeiteinschnitt eine Brechung durch das Auftreten Napoleons - und dies in verschiedener Hinsicht für die Zeit- und Revolutionserfahrungen. i. Die vergebliche Vertilgung der Revolution Noch Anfang 1799 klagt das revolutionsfeindliche »Politische Journal« über die Destruktionskräfte, welche die Revolution von 1789 freigesetzt habe, da sie nur Epochen stürzen könne, dagegen gescheitert sei beim Aufbau einer neuen Ordnung: »Sie kann zerstören - wie noch nie in der Welt zerstört war: Sie kann aber nicht bauen. ... Sie [d. i. die Schöpfungen der Revolution] fallen immer ein. 6 Ebd., S. 373. 7 Berding u. Ullmann, S. 14; vgl. auch Wehler, Bd. 1, S. 375 ff. 8 Vgl. Berding u. Ultmann, S. 19; Fehrenbach, Ancien régime, S. 88, 178; Raumer, S. 266. 9 Vgl. zu den einzelnen Reformen Wehler, Bd. 1, S. 397 ff. 10 Ebd., Bd. 1, S. 397; vgl. auch Fehrenbach, Ancien régime, S. 102; Berding u. a., S. 12.

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Eine Epoche stürzt die andere, und wird von einer anderen wieder gestürzt. Der Zeitraum eines Jahres macht viele Kluften.«11 Doch ein entscheidender Wandel im Revolutionsverständnis der konservativen Strömung setzte mit Napoleons Staatsstreich vom 18. Brumaire ein. Mit dieser neuen »Revolution« biete sich Frankreich und Europa eine völlig neue Chance für die Zukunft. 12 Erst eine derartige Korrektur der Entwicklung könne die erwarteten »Explosionen zu neuen Revolutions-Katastrophen« verhindern. 13 Frankreich habe seinen Traum von einer revolutionären Republik, die letztlich in die Barbarei zurückfallen müßte, ausgeträumt und seinem Wunsch nach einer Monarchie nachgegeben. 14 Für die Sache der Revolution bedeute dies, daß mit Napoleons Machtübernahme »die französische Revolution, nicht allein, wie Saturn, ihre Kinder aufgefreßen [hat], sondern zuletzt sich selbst«.15 Erst jetzt könne die Möglichkeit einer neuen Epoche erkannt werden: »Napoleon ist das Instrument des Weltgeistes in Europa, der eine neue große Epoche herbeygefuhrt. Die wahre Freyheit, die 1789 da war, durchbrach die Schranken und fiel in Tollheit. Da band sie der Weltgeist, und eröffnet nun durch einen großen Mann eine neue Zeit, in welcher Monarchen unumschränkter herrschen wie ehemals.«16 Die konservative Publizistik setzte zunächst alle ihre Erwartungen in Napoleon, der die revolutionäre Unordnung in Frankreich und damit auch drohende Unruhen in Deutschland eliminieren sollte. Er müsse deshalb eine zentrale Rolle im »großen Drama der Revolution« einnehmen, um die revolutionäre Entwicklung binnen kurzen zu schließen, so schon kurz nach dem 18. Brumaire im »Historischen Journal«. Jetzt endlich gebe es die Möglichkeit, Frankreich eine dauerhafte Verfassung zu verschaffen, um den permanenten Revolutionswirren zu entgehen. 17 Der übermächtigen und beschleunigten Zeit seit der Revolution 1789 konnte nur eine Gestalt entgegengesetzt werden, die selbst Träger dieser Zeit war und sie deshalb zu bändigen wußte. Daher war es seit 1799 Napoleon, der den Geist der Epoche in sich trage und nach dem die Jetztz e i t benannt werden müsse. 18 Er gehöre »unter die außerordentlichen Männer nicht bloß der Revolution, deren Häupter er alle verdunkelt, sondern seines ganzen Zeitalters«. 19 Napoleon wird zum Kristallisationspunkt aller Hoffnun-

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Politisches Journal, 1799, Bd. 1, S. 3. Ebd., Bd. 2, S. 1286 f. Ebd., S. 1050. Ebd., S. 822; vgl. auch ebd., 1800, Bd. 1, S. 3. Ebd., S. 17. Ebd.. 1804. Bd. 2. S. 1135. Vgl. Historisches Journal, 1799, Bd. 3, S. 448. Vgl. Politisches Journal, 1806, Bd. 1, S. 3; 1808, Bd. 2, S. 762. Revolutionsalmanach, 1803, S. 131.

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gen und Erwartungen des Zeitalters stilisiert, wenn das »Politische Journal« noch 1811 emphatisch festlegt: »Unser Zeitalter und Napoleon sind gleichartige Begriffe. Es giebt Momente in der Geschichte, wo ein großer Geist allein seinen Zeitgenossen gegenüber steht, und weit hervorragend mit seiner Kraft mehrere Generationen umfaßt und in Bewegung setzt. Einen solchen Zeitpunkt - es hat deren in fünf bis sechs Jahrtausenden nicht viele gegeben - sollten wir erleben.«20 Die Überdimensionalität eines bestimmten geschichtlichen Zeitpunktes, die in den 1790er Jahren noch der unpersönlichen und regressiven Revolutionsbewegung zugesprochen wurde, konzentrierte sich jetzt auf eine Epochenfigur, die als Ausnahmeerscheinung die Geschichte kontrolliert in Bewegung zu setzen wußte und Handlungsmöglichkeiten zugunsten einer traditionellen Herrschaftsordnung offerierte. Für die konservativen Strömungen beendete Napoleon die revolutionäre Regression und stellte als »wahren« Zeitenwechsel eine statische Gegenwartsordnung wieder her. Als Träger der Zeitläufte galt er auch als ihr Bändiger. Neben dieser Hoffnung stand jedoch die Skepsis. Die Bewunderung gegenüber Napoleon als demjenigen, der die Revolution zum Abschluß brachte, die alte monarchische Ordnung restaurierte und der Zeit wieder einen gegenwartsbetonten und machbaren Charakter gab, war von vornherein zwiespältig, da den Verfechtern der politischen und sozialen Ordnung von vor 1789 nicht entgangen sein konnte, daß auch nach der Jahrhundertwende keine Ruhe in den europäischen Entwicklungsprozeß eingekehrt war, sondern die Ereignisse sich weiterhin zu überschlagen drohten. Im Oktober 1802 schildert Gentz in einem Brief Adam Müller die von Napoleon besetzten Länder, die nun noch mehr an den »Greueln« der vergangenen Revolutionen litten: »Nein! die Gegenwart ist fast noch schrecklicher, als die Vergangenheit. Vor dem 18. Brumaire war der Gedanke, daß die Schrecknisse ... notwendig vorübergehend sein müßten, die tägliche und stündliche Erwartung neuer Revolutionen, von denen doch endlich einmal die erwünschte sein würde, und selbst die durch die Fortdauer des Krieges unterhaltne Ungewißheit der Zukunft, eine Art von Gegengewicht gegen das Übermaß der Leiden.«21 Doch nun herrsche nur noch eine einförmige, despotische Gegenwart. Die Ungewißheit der Revolutionsbewegung vor dem Auftreten Napoleons habe zumindest mehr Hoffnungen auf einen kontrafaktischen Zustand freigesetzt als die Herrschaft Napoleons, welche die despotischen Verhältnisse in Europa unwiderruflich zu zementieren drohe und die beschleunigte und in sich kreisende Entwicklung weiterführe. 20 Politisches Journal, 1811, Bd. 1, S. 4. 21 Brief an Adam Müller, in: Wittichen, Bd. 2, S. 382 f.

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Die Beschleunigungserfahrung, die ›Zeit‹ gerade nicht mehr gestaltbar werden läßt, gehört also auch unter Napoleons Einfluß als Beender der Revolution weiterhin zum Signum der konservativen Wahrnehmungswelt, wie sie schon seit 1789 durch das Erleben der Französischen Revolution geprägt war. Anfang 1803 hofft Schirach im »Politischen Journal« noch, daß nun endlich eine neue Epoche in der Entwicklung Europas eingetreten sei, die eine Ruhephase einleiten werde;22 ein Jahr später muß er jedoch eingestehen, daß mit dem Vertrag von Amiens nur ein Waffenstillstand, kein Frieden geschlossen wurde und der politische Sturm noch immer nicht verebbt sei.23 Wiederum sei deshalb die Geschichte der europäischen Staatenbeziehungen, so Gentz 1806, nur fragmentarisch zu beschreiben; der Historiker der neuesten Zeitereignisse könne allenfalls ein »historisches Denkmal, als Erinnerung an unser damaliges Verhältnis [errichten], da bei den reißenden Fortschritten der Übel schon ein halbes Jahrhundert hinter uns zu liegen scheint«.24 Hielt die Zeitbeschleunigung unvermindert an, dann war auch die Revolution noch nicht zu ihrem Ende gelangt, sondern hatte durch die fortgesetzten Kriege und Transformationen des Alten Reiches neue Impulse erhalten. Napoleon werde zur Inkarnation dieser permanenten Veränderungswelle, die er in Gang halte, ohne sie zu brechen.25 Zwischen dem »revolutionären System und dem eines absolutistischen Despotismus, wie er jetzt in Frankreich bestehe, [herrscht] eine so auffallende und vielseitige Analogie«, daß man, so Gentz, sie kaum noch unterscheiden könne.26 Und einige Jahre darauf wird im »Politischen Journal« befürchtet, daß Napoleon, in dessen Brust das »Verhängnis der gegenwärtigen Generation« ruhe,27 der rastlose Beweger der europäischen Geschichte bleiben werde, der sich nicht aufhalten lasse, sondern wie ein ungebändigter Strom der Zeit alles mit sich reiße.28 Erst Napoleon habe der Revolution die Möglichkeit weltweiter Verbreitung eröffnet. Anstatt den fortwährenden Epochenwechsel abzuschließen, würden sich nun die Epochenjahre überschlagen. Konservative Zeitgenossen beobachten eine Ereignisdichte, die zuvor nur mit den Folgen der Revolution in den 1790er Jahren zusammengebracht worden war: »Eines seiner Jahre umfaßt jetzt die Denkwürdigkeiten eines Jahrhunderts, und so wie ein Jahr endet, meint man das wichtigste verlebt zu haben, man glaubt auf dem Zenit 22 Politisches Journal, 1803, Bd. 1, S. 4. 23 Ebd., 1804, Bd. 1, S. 3. 24 Gentz, Fragmente, S. VI f. 25 So schon im März 1799 Gentz in einem Brief an Böttiger, in; Wittichen, Bd. 1, S. 255. 26 Gentz, Fragmente, S. 76. Auf die ›Analogie‹ von Revolution und Absolutismus wird von Konservativen bis zur Revolution von 1848 immer wieder zurückgegriffen; weiteres dazu vgl. im zweiten Teil Kap. V,l und VI,1. 27 Politisches Journal, 1809, Bd. 1, S. 4. 28 Ebd., 1808, Bd. 1, S. 442.

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thatenreicher Begebenheiten zu stehen, und vergißt so die großen Erscheinungen der nächst vorhergegangenen Jahre, und die Keime, welche die Gegenwart für künftige Generationen aussaete, die thatenreiche Vergangenheit, und die ahnungsvolle Zukunft. An Napoleons Persönlichkeit muß die Geschichte der Zeit ihren Faden anknüpfen. Um diesen großen, mit keinem andern der ältern und neuern Geschichte in Vergleichung zu setzenden Charakter auf dem Französischen Kaiserthron dreht sich alles Merkwürdige, wie die Planeten sich um ihre Sonne bewegen. Seine nimmer ruhende Thätigkeit war das politische Triebrad des verflossenen Jahres, und die Augen der Welt richten sich dahin, wo er weilte.«29 Die überdimensionale Gegenwart verhinderte jeden Rückblick auf eine angestrebte Vergangenheit und jede Vorwegnahme einer hoffnungsbeschwerten Zukunft. Dem gegenwärtigen Ereignisdruck ausgeliefert, wurde angesichts des ungebremsten Zeitstroms Napoleon zu der Achse im Koordinatensystem der politischen Bewegung, an der man sich allein noch orientieren konnte, da er die wesentliche Kraft aller Veränderungen in Deutschland und Europa zu sein schien. Nur Napoleon als Verkörperung der weitergeführten Revolution diente noch als Haltepunkt in einer Gegenwart, die keine verläßlichen Muster für einen konservativen Erfahrungsraum und keine Perspektiven für einen überschaubaren Erwartungshorizont bot. So konnte zwar einerseits der Revolutionsbewegung die regressive Zielrichtung der Anfangsjahre genommen werden, da sie weder in einen barbarischen, vorstaatlichen Zustand noch letztlich in eine traditionell restaurierte Monarchie zurückführte; andererseits eliminierten die beschleunigte Zeitbewegung und ihr Träger Napoleon wiederum die Möglichkeit, in die historische Entwicklung einzugreifen. Der starke Bezug auf eine übermächtige Gegenwart machte ›Zeit‹ zu einem von Napoleon personifizierten Fatum; was blieb, waren nur noch Bewunderung, Hoffnung und Angst angesichts einer unablässig entlaufenden Zeit.

2. Revolutionärer Bruch durch Napoleon: Möglichkeit reformerischer Kontinuität In einem Großteil der liberalen Stimmen wurde die Verlagerung der Revolution auf Napoleon anfänglich begrüßt. 30 Das Ereignis der Französischen Revolution rückte zunehmend in den Hintergrund. Schon im November 1798 kon29 Ebd., 1810, Bd. 1, S. 108. 30 Nur ein Anonymus kritisiert hingegen 1802 in der »Minerva«, daß Napoleon und die Institutionalisierung der Alleinherrschaft alle Erwartungen auf einen Epochenwechsel, den die Französische Revolution erwarten ließ, zerstört und einen beklagenswerten Rückschritt in der Geschichte eingeleitet habe. Der Bürger sehe gelassen zu, wie die Regierung »das Revolutionäre verbannt, und sich immer mehr dem alten System nähert«. Napoleon habe die progressiven Momente der Revolution pervertiert und in ihr Gegenteil verkehrt (in: Stammen u. Eberle Deutschland 1789-1806, S. 477 ff).

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statierte ein Autor aus der »Minerva«, daß das Schicksal der Welt von Napoleon abhängen würde, da er den Epochenbruch von 1789 abgelöst habe.31 Die liberal-konservative »Deutsche Monatsschrift« von 1802 bemerkt in einem Artikel »Über Bonaparte«, daß sich seit dem 18. Brumaire alles Interesse in Europa auf diese Epochengestalt konzentriere: »Nach meinen geringen Einsichten, schien nur mit ihm der Menschheit eine schöne Morgenröthe anzubrechen.«32 Er habe vielen Staaten Ruhe, Ordnung, Frieden und weise Regierungen gegeben. In pazifistischen Rechtfertigungsversuchen kann Napoleon schließlich als Friedensbringer und Menschheitsbeglücker für Europa gefeiert werden.33 Und in Frankreich selber sei, so im Berliner Journal »Geschichte und Politik« von 1803, das Feudalwesen schon lange überfällig gewesen, weshalb »die französische Revolution mit ihren Auswirkungen eine nothwendige Erscheinung [wurde]. Wie viel zu ihrem Siege Bonaparte gethan hat, weiß jeder.«34 Diese fast einhellige Begrüßung Napoleons, der als Personifizierung des Epochenwechsels die Ideen von 1789 einzulösen und ihnen somit ein Zukunftspotential zu geben schien, stand aber in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts zunehmend neben der Sorge über eine nicht abbrechende Beschleunigung der politischen Ereignisse. Die Agonie des Alten Reiches bis zu dessen Auflösung, die verfehlte Außenpolitik Preußens und der sich abzeichnende Zusammenbruch im Gefolge einer Führungs- und Vertrauenskrise35 wurden von der liberalen Publizistik, zumal der »Minerva«, mit Schrecken verfolgt. Der befürchtete dritte Koalitionskrieg gab Johann Wilhelm Archenholz Anlaß, über den nicht nachlassenden Veränderungsdruck zu klagen, der die Fixierung der Zeitläufte erschwere: »In unseren Tagen sind große politische Veränderungen häufiger, als je, und oft sind sie das Werk eines Augenblicks. Gegenstände, die den Stempel der Permanenz zu haben scheinen, verschwinden wie Schattenspiele.«36 Die erfolgreichen napoleonischen Heere seien Träger des Zeitgeistes, »der alles mit Schnelligkeit gethan und bewirkt wissen will«.37 Sich gegen diese Übermacht einer schnellebigen Zeit zu stemmen, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt: »Der Geist der Zeiten und Ereignisse zwingt uns öfters, wider unsere innere Meynung zu handeln; denn wem ist nicht das Sprüchwort bekannt: man kann nicht wider den Strom schwimmen; und wer dennoch so zu schwimmen wagt, ermattet gar bald, und geht endlich unter.«38 Die Zeit entgleite dem menschlichen Zugriff, denn die »Begebenhei31 Vgl. Minerva, 1798, Bd. 4, S. 252. 32 Deutsche Monatsschrift, 1802, Bd. 2, S. 229. 33 Vgl. Minerva, 1807, Bd. 3, S. 302 ff., besonders 324 f.; vgl. zur pazifistischen Rechtfertigung Napoleons auch Raumer, S. 123. 34 Geschichte und Politik, 1803, Bd. 1, 3. 35 Vgl Raumer, S. 181 f. 36 Minerva, 1805, Bd. 2, S. 193 f. 37 Minerva, 1806, Bd. 1, S. 386. 38 Ebd., S. 423.

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ten entwickeln sich mit furchtbarer Schnelle, und wie ganz anders, als es der neuen Epoche verheissungsvolle Morgenröthe erwarten ließ!« 39 Nach den Niederlagen von Jena und Auerstedt stimmt Archenholz schließlich nur noch einen Grabgesang auf die preußische Monarchie an, deren Macht schon vor 1806 aufgrund innerer Erstarrung gebrochen gewesen sei und lediglich von einer überlebten Vergangenheit gezehrt habe. 40 Nun seien mit Preußens Monarchie auch die Unabhängigkeit, die Religion und Sprache Deutschlands untergegangen. Das »politische Chaos«, so in einer Mitteilung Archenholz' an seine Leser, die Geschichte dieser Niederlage lasse sich noch nicht schreiben, da die Zeit zu bewegt sei41 - ein Akt der Überforderung, wie er sich schon oben bei Gentz in seiner fragmentarischen Geschichtsdarstellung dokumentierte. In dieser wechselhaften Zeit, so drei Jahre später in der »Minerva«, gebe es wieder wie zu Revolutionszeiten keine Möglichkeit, in den Lauf der Geschichte einzugreifen: »Vielleicht gab es nie eine Zeit, in welcher Staatsverfassungen wie philosophische Systeme, Sitten und Meynungen schneller auf einander folgten, und alles in einem raschen Umschwung fortgetrieben wurde, als die gegenwärtige. Des Menschen Wünsche und seine Tätigkeit scheinen nur das Spiel eines launigen Glücks zu seyn; kein anderes Gesetz zu herrschen, als das Gesetz des Wechsels, und wenig anderes ein Interesse zu gewinnen, als das Neue, Ungesagte und Ungehörte.«42 Doch anstatt sich angesichts einer Zeit, in der das »Gesetz des Wechsels« regierte, in sein Schicksal zu fügen, bekam die Beschleunigungserfahrung dennoch wieder einen progressiven und gestaltbaren Charakter. Die Berliner »Neuen Feuerbrände« danken 1807 Gott, »daß wir so weit vorgerückt sind in der Zeit, daß jene furchtbar schwarzen Wolken, welche uns begegneten, unserm Scheitel vorüber zogen«. Nun habe man endlich den Höhepunkt der drückenden Entwicklung erreicht, könne die Ursachen der preußischen Niederlage ergründen und sich Gedanken über Preußens Zukunft machen. 43 Gerade in Preußens Untergang wird die Möglichkeit eines Neuanfangs gesehen, so der Tenor einiger »Gedanken eines Preußen auf Veranlassung des Tilsiter-Friedens« in der »Minerva«. 44 Preußens Verlust wird als Gewinn dargestellt: »Ein schöner Tag bricht für den geretteten Staat an, der, in sich treflich geschlossen, alle jene Provinzen gern entbehrt, deren Entlegenheit ihn in tausendfache und oft unangenehme Beziehungen setzte« und dessen zwanghaftes Arrondierungsstreben 39 Ebd., Bd. 2, S. 345. 40 Vgl. Archenholz' »Betrachtungen eines Deutschen am Grabe der Preußischen Monarchie«, in: Minerva, 1806, Bd. 4, S. 377-396. 41 Vgl. ebd., S. 148. 42 Ebd., 1809, Bd. 1, S. 298 f. 43 Neue Feuerbrände, 1807, Bd. 2, S. 36 ff. 44 Vgl. Minerva, 1807, Bd. 3, S. 348-355.

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nun beendet sei.45 Und in einem Redefragment »über das gegenwärtige traurige Schicksal unsers Deutschen Vaterlandes« räumt der Verfasser ein, daß die »Zeit der Schmach« auch auf die innerstaatlichen Übel und Mißstände in Preußen weisen würde, die diese Katastrophe letztlich verursacht hätten. 46 Der preußische Zusammenbruch zeige, daß die alte Ordnung sich letztlich als entbehrlich erwiesen habe, dem Bürger mit der Einrichtung einer konstitutionell gebundenen Monarchie mehr Anteil am politischen Staatsgeschäft zukommen müsse. 47 Immer wieder wird in den folgenden Bänden der »Minerva« betont, daß der Blick von der düsteren preußischen Vergangenheit auf die erfreulichere Zukunft gerichtet werden müsse, die sich aus den Reformansätzen der Gegenwart als Folge des verlorenen Krieges speise. So z. B. in den »Hoffnungen und Wünsche[n] eines Preußischen Patrioten« 1808: »Groß ist der Verlust, den die Preußische Monarchie von außen erlitten hat, aber nicht ohne heilsame Folgen wird diese unglückliche Catastrophe für die innere Wohlfahrt des Landes seyn. Eine neue Organisation der Verfassung, und Administration des Preußischen Staates ist im Werke, und wird ihm an innerer Kraft und Stärke ersetzten, was er an äußerer Macht und am Umfange seines Gebiets verloren hat.«48 Die Niederlage Preußens könne »zur Quelle neuen Glücks« werden. Nun endlich höre man auf, »dem Zeitgeist mit Gewalt zu widerstreben, ist auf dem Wege, einzusehen, daß sich in jedem politischen Körper ... alles in einer ununterbrochen vorwärts strebenden Bewegung befindet, und daß der Geist der Zeit sich unaufhaltsam von einer Stufe zur andern erhebt, neue Ansichten der Dinge aufstellt, und eine Veränderung in den Formen derselben nothwendig herbeyfuhrt; und daß die weiseste Gesetzgebung nur dann wohltätig würken kann, wenn ihr die öffentliche Meinung zur Seite steht.«49 Einem aufklärerischen Fortschrittsglauben wurde hier also in dem Moment zur Wiedergeburt verholfen, als mit dem vermeintlichen Zusammenbruch des Alten ein Neuanfang möglich erschien, der auch noch die Niederlage in einen Fortschrittsprozeß einzuordnen wußte. 50 So kann ein Artikel mit folgenden Worten enden: »Es wird eine Zeit kommen, wo wir unser jetziges Unglück segnen werden, das die morschen Hütten niederriß, uns zwar augenblicklich unbedeckt ließ, aber uns Kraft gab, ein dauerhaftes Gebäude aufzurichten, das uns und unsere Kinder sicher birgt, und in dem wir freyer Atem schöpfen können.« 51 Und auf Deutschland bezogen heißt es in der »Minerva«, daß sich die 45 46 47 48 49 50 51

Ebd., S. 354 f. Ebd., Bd. 2, S. 382 f. Ebd., S. 383 f. Ebd., 1808, Bd. 4, S. 193 f. Ebd., S. 202. Vgl. hierzu auch den Artikel über »Borussia und Preussens Genius«, in: ebd., S. 416. Ebd., S. 307. Bayerische Staatsbibliothek München

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Vorsehung eines bestimmten Mannes bedient habe, um die zahlreichen Revolutionen und Krisen seit 1789 als notwendigen Übergang zu einer besseren Zeit hin zu beschleunigen und gleichzeitig zu verschärfen. 52 Napoleon habe die alte deutsche Verfassung gestürzt und damit überhaupt erst den Weg freigeräumt, etwas Neues in die Geschichte zu setzen - und zwar in Form des Rheinischen Bundes, der in seinen Einrichtungen zeitgemäßer sei und zum Mittelpunkt eines »einzigen Germanischen Bundes« werden könne; schon jetzt würden sich die ersten Anzeichen der »Morgenröthe eines schönen Tages« zeigen. 53 Deutschland habe sich von seinem französischen Nachbarn revolutionieren lassen müssen, da es selber dazu nicht in der Lage gewesen sei, so 1808 in den »Neuen Feuerbränden«. Und weiter heißt es dort: »Napoleon hat also, was in Deutschland getrennt war, vereinigt, und einem und bedeutendsten Reiche Deutschlands eine Constitution gegeben, welche den größten Theil der ehemaligen Mißbräuche über den Haufen geworfen hat; er hat daher Sprache, Sitten und Religion unangetastet gelassen; ... er habe ein Werk vollendet, woran seit dem Ursprung dieser Nation vergebens gearbeitet worden ist.«54 Politisch wurde also ein neuer Anfang gesetzt, hingegen an der deutschen Kulturnation als erhaltenswertem Erbe festgehalten. Doch auf die Rheinbundund Nationsproblematik wird weiter unten noch einmal zurückzukommen sein. Die Zäsur von 1806/07 konnte also auch als Möglichkeit verstanden werden, den preußischen Zusammenbruch als Nullpunkt für einen Neuanfang zu begreifen. Die revolutionäre Bewegung vermochte auf ihrem zerstörerischen Höhepunkt aus dem Zirkel auszubrechen, eine eigene Kontinuität zu begründen und somit sich selbst zu überwinden. Gerade im preußischen, aber auch rheinbündischen Reformwerk wurde ein selbständiges politisches Programm gesehen, das sich von dem gewaltsamen Revolutionskreislauf in Frankreich abgrenzte, inhaltlich sich aber in ein Verhältnis zu den Ideen von 1789 setzen mußte. 55 Die Neuordnung des Reiches und die preußische Katastrophe schufen eine Erfahrungswelt, die mittels Reformen einen Zukunftshorizont kanalisierte, verfügbar machte und der permanenten Brucherfahrung endlich zu entkommen meinte. Diese Zeiterfahrungen blieben aber an die Person Napoleon gebunden. Allein er sei derjenige, so in den »Politischen Reflexionen« der »Minerva« vom März 1807,56 der es vermöge, das Chaos der Gegenwart zu ordnen und in die Zukunft gestaltend einzugreifen, denn er entziehe sich in seiner Einzigartigkeit jeder geschichtlichen Analogie. In einem Sittengemälde Europas aus dem Jahre 1806 beklagt sich ein anderer Autor über »das große Gebre52 53 54 55 56

Vgl. ebd., Bd. 1,S. 378. Ebd., S. 381 f. Neue Feuerbrände, 1808, Bd. 5, S. 140, 154. Vgl. Nolte, Republikanismus, S. 21. Vgl. auch im folgenden Minerva, 1807, Bd. 3, S. 302-331.

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chen des Zeitalters, die Charakterlosigkeit. Ein großer Charakter ist bis jetzt aufgetreten - nur einer - und eben deswegen widersteht ihm nichts. Was der Eine will, wird geschehn.« 57 Napoleon wird hier zum Gravitationszentrum, welches das alte europäische Gleichgewichtssystem ablöst. Trotz der Möglichkeit, ›Zeit‹ durch Reformen evolutionär und linear in die Zukunft auszurichten und so erst einen wirklichen Epochenbruch garantieren zu können, rückte ›Zeit‹ nicht in den menschlichen Verfügungsraum, sondern verblieb bei einer übermächtigen Instanz, personifiziert in Napoleon.

3. Napoleon als Vollender der Revolution Uneingeschränkter als von den gemäßigten Reformern im Norden wurde Napoleon von den Demokraten im Süden begrüßt. Schon Valjavec macht darauf aufmerksam, »daß mit dem Abbau der französischen Republik... die deutschen Demokraten ihren bisherigen Rückhalt verloren und angesichts ihrer moralischen und faktischen Bindung an Frankreich die dortige Wandlung mitmachen mußten, ideologisch aber dadurch gelähmt wurden«. 58 Die demokratische Auseinandersetzung mit Napoleon läßt sich besonders gut anhand der Rheinbundpublizistik verfolgen. 59 Sie kann als eine spezifische Ausprägung politischer Öffentlichkeit in einer Umbruchphase und als Zeugnis für die Auseinandersetzung damit gelten. 60 Zu ihr gehören so bedeutende Blätter wie Peter Adolf Winkopps »Rheinischer Bund«, 61 Johann Gottfried Pahls »Nationalchronik der Teutschen«62 oder im etwas weiteren Sinne Posselts »Europäische Annalen«. 63 Auch wenn sich an ihnen eine Tendenz zur Verwissenschaftlichung des politischen Diskurses beobachten läßt, die den in den neunziger Jahren erreichten Politisierungsgrad der öffentlichen Debatten zurücknahm und auf das Feld des Staatsrechts auswich, 64 bleiben diese Journale doch weiterhin aufschlußreiche Zeugnisse für das Zeit- und Revolutionsbewußtsein der (einstmals) demokratischen Strömungen während der napoleonischen Zeit. Es mutet wie ein Abgesang auf zehn Jahre Revolution an, wenn Posselt in seiner Jahresübersicht 1799 das vergangene Jahrzehnt als den Beginn einer der Hauptepochen der Menschheitsgeschichte tituliert und emphatisch ausruft: 57 Ebd., 1806, Bd. 2, S. 356. 58 Vatjavec, S. 204. 59 Vgl. zur Rheinbundpublizistik und zu den verschiedenen Formen des Rheinbundpatriotismus die instruktive Studie von Schuck; Siemann, Französische Revolution. 60 Vgl Schuck, S. 15. 61 Vgl. Ziehen; Raumer, S. 340 f.; Schuck, S. 43 ff. Zu den konservativen Tendenzen im »Rheinischen Bund« in Gestalt eines Reichspatriotismus vgl. Kap. IV., 3.

62 Vgl. Schuck, S. 31 ff. 63 Vgl. ebd., S. 30 f. 64 Vgl. ebd., S. 64.

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»... alles, was man bis auf uns Revolutionen nannte, wird als ein blos partielles und ephemeres Phänomen hinschwinden gegen diese Revolution, welche mehr oder minder die ganze Macht des Menschengeschlechts erschüttert, eine neue Denk- und Empfindungsweise, eine moralische Neue Welt unter unseren Augen hervorgebracht, oder wie man bei der betäubenden Schnelligkeit, womit diese Umschaffung geschah, recht eigentlich sagen kann, hervorgezaubert hat.«65 Die beispiellose und permanente Revolution von 1789 habe in der letzten Dekade mit atemberaubender Geschwindigkeit ein völlig neues Zeitalter in machtpolitischer, geistiger und moralischer Hinsicht eingeleitet. Von nun an rückt sie in den »Europäischen Annalen« zunehmend in den Hintergrund, da sie nach dem Vorwärtsschreiten der vergangenen Jahre quasi ausgedient habe. Statt dessen wird Napoleon zum Mittelpunkt des zeitlichen Geschehens, j e doch affirmativer als bei den reformorientierten Liberalen. Napoleon gilt als Freiheitsbringer und Wohltäter des französischen Volkes, der wieder Ordnung in die Verfassung, die Finanzen und die Wirtschaft gebracht habe. 66 Indem er sich der Revolution bemächtige und Frankreich zur Freiheit erziehe, gebe er seinem Volk eine Zukunftsperspektive innen- und außenpolitischer Art.67 Daraus würden sich Verpflichtungen gegenüber der Menschheit ableiten, insbesondere für Deutschland. 68 Die Folgen der Französischen Revolution für den deutschen Nachbarn als ein Komplex miteinander verflochtener Revolutionen und Kriege hätten sich in einer Beschleunigung der Ereignisse dokumentiert, denen der Beobachter der Zeitläufte nicht mehr nachzukommen wisse: »Der Sturm des Schicksals hat in den zwölf Jahren von 1789 bis 1801 ein solches Gewühl von außerordentlichen Begebenheiten an uns vorübergewälzt, daß wir, Zeitgenossen, manches Factum, welches sonst den Ruf eines ganzen Jahrzents gemacht haben würde, kaum einer flüchtigen Aufmerksamkeit würdigten, weil oft schon der nächste Augenblick eine neue Verwiklung des wilden Spiels, noch auffallendern Schlag des Schicksals brachte.«69 Wieder war es die transpersonale Macht des Schicksals, die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts den Wechsel der Ereignisse bestimmte, der keine zusammenhängende Darstellung mehr erlaubte. Doch jetzt, mit der beginnenden Auflösung des Alten Reiches, die schon 1801 mit dem Luneviller Frieden und den dort beschlossenen linksrheinischen Enteignungen und deren Entschädigungen einsetzte, werde der Zeit wieder zu einer ruhigeren Entwicklung verholfen.70 Die »Europäischen Annalen« versprechen sich seit 1802 einen Abschluß 65 66 67 68 69 70

Europäische Annalen, 1799, Bd. 1, S. 4 f. Vgl. ebd., 1800, Bd. 2, S. 130 f.; Bd. 3, S. 248 ff. Vgl. ebd., 1801, Bd. 2, S. 215; 1802, Bd. 1, S. 3 ff. Vgl. ebd., 1803, Bd. 1,S. 8. Vgl. ebd., 1802, Bd. 4, S. 284. Vgl. ebd., S. 285 f.

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der permanenten Revolutionen und der nicht enden wollenden Kriege. Deshalb könnten nun die neuen Machtverhältnisse und politischen und militärischen Interessenlagen aller europäischer Staaten nüchtern dargestellt werden. Die Konzentration auf die unmittelbaren Auswirkungen der Französischen Revolution sei vorbei.71 Diese Erweiterung des Blickfeldes sei möglich, da mit dem Eingreifen Napoleons in das deutsche Reichsgefuge ›Zeit‹ nun in ruhigeren Bahnen verlaufen könne. Napoleon habe von der Krankheit ›Revolution‹ geheilt und ihr den Weg der Reform gewiesen, der den bleibenden Charakter der Ideen von 1789 bewahren werde.72 Daß mit Napoleon jedoch kein Stillstand in der europäischen Entwicklung eingetreten sei, registrieren zahlreiche Äußerungen in den »Europäischen Annalen« auch nach dem Reichsdeputationshauptschluß. Selbst nach den territorialen und politischen Umbrüchen am Anfang des Jahrhunderts werde der von Napoleon getragene Veränderungsdruck nicht nachlassen: »Eben so große, wo nicht größere Umschwünge und Metamorphosen werden noch folgen, wenn der große alles bewegende Geist nicht vor der Zeit hinweggeraft wird, der die bisherigen Wunder bewirkt hat.«73 Einerseits solle die Zeitbeschleunigung also wieder durch Napoleons Eingreifen in das deutsche Staatengefuge gedämpft werden, andererseits gelte es, die notwendigen Transformationen, die schon Frankreich Stabilität gegeben hätten, auch für Deutschland weiterzuführen. Nur Napoleons Tatendrang und die durch ihn initiierten rasenden Fortschritte könnten Deutschland letztlich eine dauerhafte Ordnung bringen.74 Diese Ambivalenz zwischen Ruhebedürfnis und Hoffnung auf einschneidende Veränderungen hat besonders klar und eindringlich der Publizist Friedrich Buchholz gesehen, ein scharfsinniger Analytiker der Revolution, der nach Posselts Tod 1805 die Leitung der »Europäischen Annalen« übernahm. In einem Artikel »Was hat die Französische Revolution für Napoleon I. und was hat Napoleon I. für die Französische Revolution gethan« beschreibt er das Verhältnis zwischen Revolution und Napoleon: »Die Revolution an und für sich selbst war eine Krankheit, durch welche der politische Körper zu einem neuen Leben erwachen sollte.«75 Verhindert werde dieser Prozeß, wenn sich die Entwicklung in die Länge ziehe. Das Direktorium habe zwar versucht, diese zum Stillstand zu bringen, sei aber aufgrund fortgesetzter Finanz- und Wirtschaftskrisen und permanenter Unruhen daran gescheitert, eine feste Ordnung einzurichten, so daß die Revolution ziellos weitergelaufen sei. Mit Napoleon habe schließlich der Umschwung eingesetzt, denn er institutionalisiere die Forderungen (ζ. Β. nach Abschaffung des Feudalwesens oder der staatsbürgerlicher Gleichheit), 71 72 73 74 75

Vgl. ebd., S. 290 f. Vgl. Siemann, Französische Revolution, S. 129. Europäische Annalen, 1805, Bd. 1, S. 4. Vgl. ebd., 1804, Bd. 3, S. 3. Auch im folgenden ebd., 1805, Bd. 3, S. 3 ff.

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unter denen die Revolution 1789 einstmals angetreten sei, und stabilisiere so den Erwartungshorizont: »Nimmt man alles bisher zusammen, so geht sehr deutlich daraus hervor, daß, während die Revolution um Napoleon den Ersten das Verdienst hat, die Gemüther der Franzosen für die Einwirkungen seines schöpferischen Genies empfänglich gemacht zu haben, sein Verdienst recht eigentlich darin besteht, daß er der Revolution, die seit dem Umsturz des Thrones hin und her taumelte und nirgends zum Stillstand gebracht werden konnte, einen Sinn, einen bleibenden Charakter, eine Wesenheit gegeben hat. Von dem Augenblick an, wo dieses geschehen war, mußte sich der Stillstand von selbst einfinden. Wir dürfen uns also gar nicht darüber wundern, daß ... alle revolutionaire Bewegungen seit Bonaparte's Regierung in Frankreich aufgehört haben.«76 Napoleon habe alle Erwartungen erfüllt und so jeden Anlaß für weitere Revolutionen genommen. Er habe die Ideen von 1789 verwirklicht und damit der Zeit eine unumkehrbare Richtung auf eine gestaltbare Zukunft hin gegeben, anstatt sie einem unberechenbaren Fatum zu überantworten. Die institutionalisierten Resultate der französischen Transformationen vollendeten also letztlich die Revolution, indem sie den Zeitverlauf stabilisierten und in die Zukunft hinein überschaubar machten. Im Süden Deutschlands konnte diese Hoffnung auf Kanalisierung und Institutionalisierung der durch die Revolution von 1789 ausgelösten Zeitbeschleunigung ihren Ausdruck im Rheinbund finden - als Keimzelle für eine Wiedergeburt Deutschlands in einem freien alliierten Staatenbund. Napoleon habe, so in einem Aufsatz im »Rheinischen Bund« von 1808, die ungebändigte Revolutionsbewegung in Frankreich wieder verfügbar gemacht und Deutschland damit ein Vorbild gegeben: »Die deutschen Berge der Zukunft eröffnen sich, da die Trümmer der alten Verfassung fielen.«77 Jetzt also erst, mit dem Ende des Alten Reiches, bot sich die Möglichkeit, der Zeit eine progressive Bewegungsrichtung zu geben. In einer kritischen Besprechung der 1808 anonym erschienenen Schrift »Ansichten des Rheinbundes. Briefe zweier Staatsmänner«, deren Verfasser Heinrich Luden war, wird mit der überlebten Vergangenheit territorialer Zersplitterung in Deutschland gebrochen. Die Übernahme des Code Civil habe die Erwartung geweckt, »daß wir die Resultate der Revolution genießen werden, ohne die schrecklichen Zuckungen erduldet zu haben, unter welchen sie erworben sind«.78 Die in den neunziger Jahren noch unabsehbar und fatalistisch wahrgenommene Fortschrittsbewegung, die weder in einen Zirkel eingebettet noch auf eine kontrollierbare Reform hin verlagert werden konnte, wurde nun beherrschbar durch ihre Materialisierung in den Reformen des Rheinbundes. Die 76 Ebd., 1805, Bd. 3, S. 11 f. 77 Der Rheinsche Bund, 1808, Bd. 5, S. 299; vgl. auch Europäische Annalen, 1807, Bd. 1, S. 96. 78 Der Rheinische Bund, 1808, Bd. 9, S. 232 f.

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»Sibyllinischen Blätter« feiern 1807 Napoleon als den »größte [n] Wohltäter der deutschen Nation«, denn er habe Deutschland »blutige Revolutionen [erspart], die der fortschreitende Zeitgeist notwendig gemacht hätte, indem er den deutschen Fürsten Beispiel und Hilfe bietet, sie selbst, ohne Einwirkung der rohen Menge zu bewerkstelligen, und sie eben durch ihre Leitung so segensvoll für ihre Völker zu machen, als Napoleon die schreckliche französische Revolution, diesen Anfang der großen europäischen, für Frankreich machte.«79 Napoleon habe, so 1811 im »Rheinischen Bund«, die chaotische Bewegung der Revolution auf ihre ursprünglichen Grundsätze zurückgeführt und sie somit gebändigt: »So ward die Revolution auf den gefahrloseren und sicherern Weg der Reform eingeleitet«.80 Die Herrschaft Napoleons sei notwendig geworden, »um die Revolution in den Meinungen und in dem bürgerlichen Leben... unter den meisten Völkern von Europa zu vollenden«.81 Damit sei endlich eine neue Epoche eingeleitet worden, welche die vorrevolutionäre Vergangenheit hinter sich gelassen habe und in der »noch immer fortdauernden Gährung« eine notwendige Scheidung des Herkömmlichen vom Neuen vornehmen werde.82 Napoleons universale Rolle in der Geschichte sei es, »daß er von Gott gesandt sey, um eine allgemeine Revolution in den Begriffen und in dem Leben der Menschen hervorzubringen«, die nicht mehr revidierbar sei.83 Deutschland habe aus eigener Kraft nie seine Verfassung verbessern können und deshalb eines ersten Impulses von außen bedurft; diesen gab der »größte Mann des Zeitalters und der Vorwelt, dessen Blick die Gegenwart und Zukunft umfaßt«.84 Nur Napoleon vermochte es also nach dieser Auffassung, den Erwartungshorizont mit den vorgefundenen und tradierten Erfahrungsräumen zu verknüpfen und somit einen allzu radikalen revolutionären Bruch zu vermeiden, der Geschichte nicht mehr hätte machbar werden lassen. Die Fortschrittsbewegung hielt demnach unter Napoleon weiterhin an, nur entglitt sie jetzt nicht mehr menschlicher Verfügbarkeit. Diesen Gedanke legt insbesondere ein Artikel aus dem »Rheinischen Bund« von 1808 nahe, der sich mit der Frage beschäftigt, unter welchen Aspekten die Geschichte Napoleons geschrieben werden könne. Diese müsse zunächst einmal davon ausgehen, daß Napoleons erstes Ziel geheißen habe, »die Revolution, diese nothwendige Kraftäußerung der ihren alten Formen entwachsenen Menschheit, zu einem Schlusse zu fuhren, wodurch ihr Zweck, Verbesserung des gesellschaftlichen Zustan79 In: F. Schulze, Bd. 1,S. 13.

80 Der Rheiniche Bund, 1811, Bd. 20, S. 358. 81 Ebd., S. 366 f. 82 Vgl. ebd., S. 354. 83 Ebd., S. 359 f. 84 Ebd., 1810, Bd. 15, S. 400, wo die Vorzüge der von Napoleon initiierten Verfassung von Westfalen als Vorbild für die übrigen Staaten des Rheinbundes gepriesen werden.

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des, auf eine sichere und dauerhafte Art erreicht würde«. 85 Der naturale Geschehensablauf der Revolution sei damit gebändigt worden, ohne einen linearen Fortschritt zu verhindern, denn »das Außerordentliche der Gegenwart [wird] noch Außerordentlicheres von der Zukunft« erwarten lassen.86 In Kontinuität zur Revolution von 1789 könne die bewegte Gegenwart noch immer Garantin einer neuen Zeit bleiben, die nicht dem Verfiigungsraum der Akteure entgleite: »Es ist eine ungeheure Zeit, in der wir leben. Das Große des gegenwärtigen Augenblikes verlischt vor dem Größeren des Folgenden; das alte Sprichwort: Nichts Neues unter der Sonne, widerlegt die Erfahrung des Tages: Was bisher der Hand des Zufalls überlassen wurde, wagt des Menschen Geist mit freier Hand zu ordnen. Zeiten, Räume, Verhältnisse schwinden vor ihm zusammen, und in dem Maße als sie an Schauer und Einfluß verlieren, erhöht er sich selbst, und erhebt sich über sie, denen er sonst sklavisch diente.«87 Habe die Revolution ihre Bestimmung erreicht, könne der Mensch wieder verstärkt in das Geschehen eingreifen. Doch der Zugriff auf die Geschichte schwand in dem Maße, wie Napoleon als Epochengestalt gesteigerte Bedeutung zugesprochen wurde und die Bewegung der Welt und das Fortschreiten der Menschheit repräsentierte.88 Er war die Identifikationsfigur, an die sich universale Reichs- und Europaideen - etwa der von Karl Theodor von Dalberg aufgegriffene Karlsmythos - oder Hoffnungen knüpften, die im Rheinbund die Keimzelle einer nationalen Wieder- bzw. Neugeburt sahen. Napoleon wurde mit Erwartungen überfrachtet. So sorgt man sich im »Rheinischen Bund« darum, ob die Deutschen sich »Napoleons Sorgfalt nicht unwerth« zeigen - dem Heros der gesamten Menschheit, der auch den deutschen Völkern Frieden und Selbständigkeit geben werde und dem deshalb ein Nationaldenkmal errichtet werden müsse, »würdig des ersten und einzigen Wohltäters der gesamten deutschen Nation«.89 Die schon seit 1801 im Südwesten erscheinende »National-Chronik der Teutschen« des kritischen Aufklärungsjournalisten Pahl gibt in einem Artikel ihrer Bewunderung gegenüber Napoleons schnellem Sieg über Österreich 1805 Ausdruck. Der Autor hofft, daß aus dem entstandenen »Chaos« eine neue Verfassung für Deutschland geschrieben werde, die verhindere, daß es weiterhin »das Opfer fremder Leidenschaften« bleibe. 90 Worum sich das Zeitalter als seinen Mittelpunkt drehe, sei die Gestalt Napoleon, in der sich die »Kraft des menschlichen Charakters und

85 Ebd., 1808, Bd. 3, S. 229. 86 Ebd., S. 228. 87 Ebd., S. 227. 88 Vgl. zur frühen publizistischen Rezeption Napoleons in Deutschland Rietzschel, insbesondere S. 67. 89 Der Rheinische Bund, 1807, Bd. 1, S. 99. 90 Vgl. National-Chronik der Teutschen vom 6.11.1805, S. 327.

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des Genies« gesteigert finde.91 Napoleon begnüge sich damit, so ein Jahr später, »die Bewegung der ihn umkreisenden Planeten zu beobachten und zu lenken«.92 Gerade in Kriegszeiten sei dies nötig, so auch in dem von Preußen begonnenen vierten Koalitionskrieg. Napoleon forme wie die physische Natur in der Periode des Chaos ungeordneten Stoff: »Die unsichtbare und allmächtige Kraft, die den Erscheinungen des Menschenlebens ihre Bahn vorzeichnet, und unwiderstehlich ihren Gang bestimmt, hat sich deutlich und entscheidend ausgesprochen, daß dieser einzige Mann der Vollbringer ihres Willens sey, und daß jede Reaktion, gegen sein Beginnen für diejenigen verderblich werde, die sie wagen.«93 Im Angesicht des Übermächtigen bleibe dem gemeinen Menschen nicht mehr viel Spielraum, auf den zeitlichen Ereignisablauf noch Einfluß auszuüben, selbst wenn der blinde Zufall daraus gewichen sei: »So entwickelten sich die Anlässe aller Erscheinungen unserer Tage natürlich und nothwendig einer aus dem andern. Von dieser Ansicht ausgehend, wird Alles, was Viele bisher als Werk des blinden Zufalls oder als Anmaßung ungeregelter Herrschsucht ansahen, zu eng verketteten Folgen der Nothwendigkeit; aufgefaßt und ausgeführt von einem hellsehenden, geordneten und ordnenden Geiste.«94 Der von Napoleon eingeleitete, von Kriegen und Krisen begleitete Neuordnungsprozeß für Deutschland war also nicht an das geschichtliche Subjekt rückgebunden, sondern lag letztlich wieder bei einer außergeschichtlichen Instanz als Lenkerin eines unabwendbaren Schicksals, mittels dessen die Revolution ihre Erfüllung erzwang. ›Zeit‹ ging also wieder nicht in die Verfügbarkeit des Menschen über, sondern blieb Ausdruck einer Schicksalsbewegung, die zwar nicht mehr willkürlich, aber notwendig nach einem bestimmten Plan ablief, den nach Meinung der Zeitgenossen nur Napoleon zu kennen und auszuführen vermochte.

4. Napoleonbcher Revolutionsexport: Gestaltbarkeit und Entzug von ›Zeit‹ In der Publizistik der drei politischen Strömungen verblaßte die Revolution von 1789 als Bezugspunkt einer Zeiterfahrung; ihr Platz wurde von Napoleon eingenommen, als Deutschland durch ihn mit der revolutionären Herausforderung konfrontiert wurde und den Weg der Reform beschritt. Mit dem 18. Brumaire verband die konservative Strömung anfangs die Hoffnung, daß die 91 92 93 94

Vgl ebd., S. 326. Ebd. vom 30.4.1806, S. 131. Ebd. vom 15.10.1806, S. 314. Der Rheinische Bund, 1808, Bd. 3, S. 230.

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regressive Bewegung der Revolution beendet werde. Als Restaurator einer monarchischen Ordnung und selbsternannter Beender der Revolution eröffnete Napoleon ein neues Zeitalter, das Konservative durch den Rückgriff auf traditionelle Herrschaftsformen geprägt sahen. Damit hatte er im Verständnis der konservativen Zeitgenossen den ungebändigten Zeitstrom zumindest vermeintlich in ein ruhiges Bett gelenkt und dem Menschen wieder mehr Eingriffe in seine Geschichte zugestanden, als die Ereignisse nach 1789 erlaubt hätten. Ebenso rückte für die liberalen Strömungen die Französische Revolution in den Hintergrund, schien doch Napoleon die unbeherrschbare Zeitbewegung seit 1789 zur Ruhe bringen und somit erst einen Epochenwechsel auf die Zukunft hin einleiten zu können. Der Beginn der Reformwerke wurde in der Publizistik als Überwindung einer erstarrten Ordnung vielfach begrüßt. Napoleon galt ihr als »Garant des bürgerlichen Fortschritts«,95 der mit seiner revolutionären Kraft das alte Europa zerstörte und reformierte. Der Kreislauf der Revolution konnte durchbrochen werden, wenn seine Zerstörungskräfte den Zenit erreicht und den revolutionären Zirkel selbst aufgelöst hatten, so daß sie eine Tabula rasa für eine neu anzusetzende Gegenwart hinterließen. Erst dieser gewaltsame Bruch mit der Vergangenheit bereitete den Boden, auf dem Reformen als einzige Form des evolutionären und gestaltbaren Fortschritts gedeihen konnten. Der napoleonische Export revolutionärer Beschleunigung führte zum Zusammenbruch des Alten Reiches und Preußens und erschloß so den liberalen Strömungen die Chance, ihre Hoffnungen auf Reformen verwirklicht zu finden. Erst die eigene Katastrophenerfahrung ließ die Regeneration Deutschlands mittels Reformen - ohne eine Revolution mit all ihren Phasen wie in Frankreich - denkbar werden. Aus der Gegenüberstellung oder Zuordnung von Revolution und Reform war also ein Nacheinander geworden: Die von Napoleon weitergetragene Diskontinuität gab die Voraussetzungen für eine langsame, progressive und beherrschbare Entwicklung im Sinne aufklärerischer Fortschrittserwartungen, um so erst eine eigene reformerische Kontinuität neu zu beginnen - sei es nun in der Begründung einer selbständigen Tradition der »organischen Reformen« wie in Preußen oder sei es in Anlehnung an die französischen Gesetzgebungswerke wie in den Rheinbundstaaten.96 Entschiedener als norddeutsche Liberale knüpfte die demokratisch orientierte Rheinbundpublizistik an das ›Vorbild ‹ von 1789 an, vermittelt über Napoleon, der als Freiheitsbringer begrüßt wurde. In dem Spannungsverhältnis zwischen Ruhebedürfnis aufgrund der nicht abbrechenden Zeitbeschleunigung einerseits und ungeduldiger Hoffnung auf einschneidende Veränderungen andererseits sah man die Revolution in den Rheinbundreformen ihre Vollendung finden, da sie in diesen kanalisiert und institutionalisiert wurde. Hier konnte 95 Sterner, S. 313. 96 Vgl. Fehrenbach, Ancien régime, S. 102 f.; Neumüller, S. 102.

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die fatalistische Revolutionsbewegung ihre Bestimmung erreichen und gestaltbar werden, da Reformen ihren Zielen Dauer verliehen und die Fortschrittsbewegung beherrschbar erschien. Die Reformvorhaben eröffneten die Aussicht, an einem Fortschritt teilzuhaben, ohne dem autogenen Naturprozeß der Revolution ausgeliefert zu sein. Die fortwährende Diskontinuitätserfahrung seit 1789 konnte also nach dem Bruch von 1803/06 in eine Kontinuitätslinie überführt werden, die den Anschluß an Prinzipien von 1789 ermöglichte und Zukunftserwartungen wach hielt. Ähnlich wie bei den Liberalen standen ›Revolution ‹ und ›Reform ‹ in einem sukzessiven Verhältnis. Der Bruch mit dem Alten Reich schien überbrückbar, indem dank Napoleon eine Kontinuität zu 1789 ermöglicht wurde. Die Reformvorhaben konnten so Reduktionsmechanismen entwickeln, die eine allzu offene Zukunft einschränkten und wieder mehr Zugriffe auf die Zeit offerierten. Allen drei politischen Strömungen war aber gemeinsam, daß sie neben ihren spezifischen Zeiterfahrungen Napoleon eine übersteigerte Bedeutung zumaßen. Er blieb der Fixpunkt, in den sich alle weiteren Ereignisse verdichtet drängten, der eine ungeheure Epoche verkörperte und weiterhin Europas Schicksal in den Händen hielt. Gerade das Andauern der napoleonischen Eroberungspolitik gab einer konservativen Restauration oder einer evolutionären Reformpolitik in Deutschland keine günstigen Voraussetzungen und ließ ›Zeit ‹ wieder entgleiten. Die revolutionäre Beschleunigungserfahrung seit 1789 wirkte also auch über Napoleon als dem Protagonisten einer neuen Zeit permanent fort und ließ Geschichte kaum noch machbar erscheinen.

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IV Die Geburt des Nationalismus: zukunftsweisende Dynamik in der Zeiterfahrung 1. Ernst Moritz Arndt und der »Geist der Zeit« 1809 erscheint in Magdeburg eine anonyme Flugschrift unter dem programmatischen Titel »Ein Wort zu seiner Zeit«, die folgendermaßen einsetzt: »Die Gegenwart ist schwanger an Zukunft! die Zeit sitzt im Gebährstuhl, kämpfend mit den Geburtswehen, großer Ereignisse! In einem Zeitraum von zwanzigjahren, ereigneten sich der Weltbegebenheiten so viele, und von so verschiedener, höchst intereßanter Art, daß es nur dem aufmerksamen Beobachter möglich war, ihnen zu folgen; festzuhalten mit seinem Blick, vermochte er keine derselben; denn oft bot ein einziges Jahr allein schon, ein Reihe von Ereignissen dar, die in einem anderen Zeitalter und unter anderen Umständen und Verhältnissen hingereicht haben würden, ein halbes Jahrhundert auszufüllen.«1 Überfordert von der schnellen Aufeinanderfolge der Ereignisse seit 1789, in der das Heute vom Gestern fortwährend verschlungen werde, kann der Verfasser die einzelnen Stränge der Begebenheiten kaum mehr ordnen. Er sieht in dem verdichteten Auftreten permanenter Brüche eine ungewisse Zukunft heraufziehen, da selbst die Scharfsinnigsten die »Natur künftiger Ereignisse« nicht mehr zu ergründen vermögen: »Viel - sehr viel - geschah in den beiden letzten Jahrzehenden; allein der Stoff zu noch weit mehreren und größeren Begebenheiten, lauscht hinter dem Vorhange der Zeit«.2 Die beschleunigte Entwicklung der Gegenwart scheine eine bedeutungsschwere, aber unabsehbare Zukunft zu eröffnen. Doch zugleich wird eine Erfahrungskontinuität konstruiert, indem der Verfasser von fast zwei Jahrzehnten permanenter Kriege und seinen sozialen Folgen berichtet: von Tod und Verstümmelung, Zerstörung und Armut, Aufruhr und Bürgerkrieg, von Mißtrauen, Haß und Fanatismus, moralischer Verwahrlosung sowie sittlicher Zügellosigkeit und dergleichen mehr, dem nicht mehr Einhalt geboten werden könne. Dieser gleichbleibende Erfahrungsraum des chaotischen Alltags, der mit dem gerade begonnenen Krieg Österreichs gegen Frankreich sich fortzuzeugen scheine, berechtige, von der Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft zu schließen, die keine neuen Erwartungshorizonte zu bieten habe.3 1 In: Spies, S. 138. 2 Ebd., S. 139. 3 Vgl. ebd., S. 143. 108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Der als extrem negativ wahrgenommene Ereignisdruck der napoleonischen Ära bescherte also auf der einen Seite eine gleichbleibend katastrophale Gegenwart, die sich aus der kriegsgesättigten Vergangenheit speiste, passiv hingenommen werden mußte und zunehmend auch die Handlungsoptionen für die Zukunft begrenzte; auf der anderen Seite eröffnete er eine unabsehbare Zukunftsperspektive, da die Gegenwart mit etwas schwanger ging, das noch unspezifisches Desiderat blieb. Weil jedoch auch diese unsichere Zukunft noch eine gesteigerte Gegenwart sein könne, also eine Potenzierung der aktuellen Leiden, warnt die Flugschrift schließlich vor Erhebungsversuchen, denn deren katastrophalen Folgen könne man an der Gegenwart ablesen.4 Anstatt eine ereignisgesättigte Gegenwart als Aufruf zur Gestaltung einer neuen Zukunft zu begreifen, wird davon abgeraten, durch Aktionismus eine von Krieg und Leiden geprägte Gegenwart in die Zukunft hinein zu perpetuieren. Nur wer die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre berücksichtige und daher jeder Gewalt entsage, könne dieser trostlosen Aussicht entgehen und eine statische Gegenwart in Frieden genießen.5 Letztlich sollte mit diesen konservativen Beschwichtigungsversuchen einer antinapoleonischen österreichisch-preußischen Koalition sowie deutschen Aufstandsversuchen gegen Napoleon entgegengewirkt werden. Das Ereignis der Französischen Revolution als Auslöser einer beschleunigten Zeit tritt in diesem Flugblatt wieder in den Hintergrund. Es sind die durch Napoleon bewirkten Veränderungen im internationalen Staatensystem, die nationalen Krisenerfahrungen und die Gegenreaktionen darauf, die zu einer weiteren Akzentverschiebung in den Zeiterfahrungen fuhren. Diese bewegen sich weg von dem Ereignis von 1789 und hin zu einer als permanent angesehen Krise, die in ihrer Zuspitzung aber auch kritische Übergangszeit auf eine ungewisse Zukunft hin zu sein vermag. Letztere Möglichkeit wird in der Flugschrift nicht ergriffen, statt dessen aber von anderer Seite, die einen zunehmenden Einfluß auf die politische und publizistische Landschaft ausüben sollte. Ernst Moritz Arndt war es, für den Napoleon als der Kristallisationspunkt einer neuen Zeiterfahrung zugleich die Achse darstellte, um die sein Denken und publizistisches Wirken in dieser Zeit kreisten.6 Doch auch Arndt kann die Bedeutung der Französischen Revolution für seine Entwicklung nicht leugnen, obwohl er zeit seines Lebens ein Gegner zumindest ihrer expansionistischen Bestrebungen bleibt: 4 Gemeint sind die österreichische Erhebung, der isoliert gebliebene und nach wenigen Tagen niedergeschlagene Aufstand des Oberst Dörnberg im Königreich Westfalen im April 1809 und die Ereignisse in Spanien. 5 In: Spies, S. 144. 6 Zu Arndt und seinem publizistischen Wirken vgl. Schäfer, Arndt als politischer Publizist; ders., Kollektivbewußtsein, S. 142 ff. Die Zitatenreiche Lobeshymne auf Arndt von Sichebchmidt kann dagegen weitgehend vernachlässigt werden.

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»... aber ich würde sehr undankbar und zugleich ein Heuchler sein, wenn ich nicht offen gestände, daß wir dieser wilden und tollen Revolution unendlich viel verdanken, daß sie ein reiches Feuermeer des Geistes ausgegossen hat, ... daß sie Ideen in die Köpfe und Herzen gebracht hat, die zur Begründung der Zukunft die notwendigsten sind, um die zu fassen vor zwanzig und dreißigjahren die meisten Menschen noch zitterten: sie hat jenen geistigen Gährungsprozeß beschleunigt, durch welchen wir als durch unser Fegefeuer gehen mußten ...; sie hat gewiesen, wie weit der menschliche Geist sich in irdischen Dingen vermessen darf, alles zu wollen und zu wagen, was er in ihm selbst als ewige Aufgabe der Vernunft gegründet findet.«7 Die Französische Revolution hat also auch im Urteil Arndts einerseits als Ideenrevolution beschleunigend auf die menschliche Entwicklung gewirkt und die Möglichkeit einer andersartigen Zukunft begründet; andererseits ist sie in ihrer Vermessenheit Negativfolie für die Hybris der Vernunft. In Arndts vierbändigem Werk »Geist der Zeit«, das in den Jahren 1806 bis 1818 entstand, gehen subjektiv wahrgenommene Zeitbewegung und inhaltliche Bestimmung des Zeitalters ineinander über: »Durch den Menschen geht die Zeit, ohne ihn würde sie still stehen.« Das Zeitalter bestimme sich aus dem »allgemeinsten Leiden und Wirken der Menschen« in der »wilden Zeitfluth«. Das Verhalten des Menschen im zeitlichen Wechsel prägt also das Zeitalter: »Zeitalter und Zeitgenossen in rechter Bedeutung sind Eins.« 8 In dem Bewußtsein, an einer großen Zeitenwende zu stehen, glaubt Arndt, hinter dem »Gesicht der Zeit den Zeitgeist zu sehen und diesen Geist der Zeit deuten zu können«. 9 So wird der Revolution von 1789 für die ersten Jahre ein »höherer und enthusiastischer Geist«10 zugestanden. Der »athemlos« und »unaufhaltsam« vorwärtsdrängenden Zeit sei man bis etwa 1795 ausgeliefert gewesen. 11 Dann jedoch hätten sich die progressiven Schritte der Revolution verlaufen, da diese gewachsene Bindungen zerrissen habe, ohne neue zu knüpfen, und zu einem »gefräßigen Ungeheuer [wurde], welches hungrig sich selbst verschlang, bis es im Würgen ermattete«. Schließlich bleibe durch Napoleons Staatsstreich »von allen den guten Einrichtungen und den vorbereitenden Schritten, welche die Revolution vorwärts gethan hatte, jetzt kaum die Spur und hie und da das todte Gerippe übrig«.12 Diese Stagnation der Zeit währte nach Arndt nicht lange, denn die Revolutionsbewegung werde von Napoleon weitergetragen, weil die Revolution noch nicht an ihr Ende gekommen sei: »Bonaparte trägt dunkel den Geist der Zeit in sich und wirkt allmächtig durch ihn, ohne Klügelei fühlt er die Fortschwingun7 Amdt, Verfassungen, S. 95. 8 Arndt, Geist der Zeit. Bd. 1. S. 80. 9 Schäfer, Arndt als politischer Publizist, S. 194. 10 Arndt, Geist der Zeit, Bd. 1, S. 343. 11 Vgl. ebd., S. 345. 12 Ebd., S. 350, 348. 110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

gen der furchtbaren Revolutionsbewegung, und hält sein Volk frisch darin.« 13 Die Revolution als Eigenbewegung wird zunehmend vom kriegerischen Handeln Napoleons abgelöst, das sich viel unmittelbarer auf Deutschland auswirkte als die Umwälzungen von 1789 selber. Wenn also staunend bemerkt wird: »Wer die letzten zwanzig Jahre gelebt hat, der hat für Jahrhunderte gelebt«,14 oder: »Was damals im Schritt ging, geht jetzt im Galopp«,15 dann bezieht sich diese Beschleunigungserfahrung weniger auf die Französische Revolution selber, als vielmehr auf die von Napoleon ausgelöste schnelle Folge weitreichender Ereignisse. Das Jahr 1789 sei allenfalls der geistige Auslöser eines politischen Prozesses permanenter Veränderungen und Zerstörungen gewesen, dessen aktiver Träger aber Napoleon sei und an dessen vorläufigem Ende die Auflösung des Alten Reiches und der preußische Zusammenbruch stünden. 16 Unter dem Eindruck einer repressiven französischen Besatzungspolitik in Preußen schrieb Arndt den zweiten Teil vom »Geist der Zeit«, der 1809 erschien. Angesichts der zunehmenden Europäisierung der Revolution und einer »schnellumrollenden Zeit« erfährt auch Arndt die Geschichtsbewegung als allmächtig, wenn er die Deutschen anruft: »Ihr seid nicht mehr die Alten, nicht mehr die Gewaltigen, auch euch hat die allmächtige Zeit zum Nichtigen abgeschliffen.« ›Zeit ‹ als historisches Subjekt sei über Napoleon erfahrbar, der nach einer allgemeinen Vorsehung Geschichte mache und in dem sich die Ereignisse der Zeit überschlügen. 17 Napoleon wird zur schicksalbehafteten Naturkraft, deren Faszination Arndt noch 1805 erlegen ist: »Man darf den Fürchterlichen so leicht nicht richten, als es die meisten tun in Haß und Liebe. Die Natur, die ihn geschaffen hat, die ihn so schrecklich wirken läßt, muß eine Arbeit mit ihm vorhaben, die kein anderer so tun kann. Er trägt das Gepräge eines außerordentlichen Menschen, eines erhabenen Ungeheuers, das noch ungeheurer scheint, weil es über und unter Menschen herrscht und wirkt, welchen es nicht angehört. Bewunderung und Furcht zeugt der Vulkan und das Donnerwetter und jede seltne Naturkraft, und sie kann man auch Bonaparten nicht versagen.«18 Damit mündet die von Napoleon beschleunigt fortgesetzte Entwicklung im Entzug der Zeit aus der Sphäre menschlicher Verfügbarkeit und in dem Wirken eines Fatums, das Deutschland unmittelbar bedroht. Für Arndt hat sich die hoffnungsvoll verfolgte Bewegung der Französischen Revolution verkehrt, schlägt jetzt destruktiv über Napoleon auf Deutschland zurück und offenbart 13 Ebd., S. 429. Im zweiten Teil von »Geist der Zeit« heißt es, Napoleon halte »die fruchtbaren Mittel der französischen Revolution in seinen starken Händen« (Arndt, Geist der Zeit, Bd. 2, S. 355). 14 Arndt. Geist der Zeit, Bd. 1, S. 83. 15 Ebd.,S. 115. 16 Vgl Arndt, Geist der Zeit, Bd. 2, S. 321. 17 Ebd., S. 105, 183, 316; Arndt, Geist der Zeit, Bd. 1, S. 432. 18 Arndt, Geist der Zeit, Bd. 1, S. 426. 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

die Ohnmacht des Geschichtssubjekts. Als Resultat und Ausweg aus dieser Erfahrung wird bei Arndt ein unbändiger, pathologisch gesteigerter Haß auf die französische Nation und ihren Kaiser freigesetzt. Napoleon sei der »böse Dämon«, der alle Übel dieser Welt verkörpere. Zu den französischen Nachbarn fällt ihm immer wieder ein, daß jetzt die Zeit da sei »für alle Teutschen, jeden Franzosen, der ihren entweihten Boden betritt, als ein Scheusal zu vertilgen; denn das übermüthige Volk will uns vernichten«. 19 An diesem Punkt der Ohnmacht und der Frankophobie beginnt das Zeitbewußtsein schließlich umzuschlagen. Die in einen Heilsplan eingebundene Zeit und die nationalisierte Feindschaft20 werden in der gegenwärtigen Krise als Chance für die (Wieder-) Begründung einer deutschen Nation begriffen, indem Arndt allen Widrigkeiten der französischen Fremdherrschaft einen Appell zum Handeln entgegensetzt: »Laß eine ungeheure Begebenheit, einen gewaltigen Mann mit der kolossalischen Furchtbarkeit aufstehen, daß es so aussieht, sie werden alles überwältigen und zertrümmern, laß die Vorsehung sie selbst dazu ausersehen haben: was geht es mich an? ich weiß es nicht, ich sehe nur den Schein. Aber Eines geht mich an, Eines weiß ich, daß ich das Meinige thun und eher untergehen soll, als mich einer fremden Macht blind ergeben. Die Vorsehung geht mit dem All der Dinge und mit dem Menschengeschlecht ihren ewig dunkeln Weg, den ich nimmer verstehen werde; aber auch in meine Hand ist eine Vorsehung gegeben: wenn ich für das Allgemeine empfinde, handle, strebe, so fühle ich auch in mir, wie klein oder groß ich sei, eine Kraft, welche das Weltschicksal ändern kann.«21 Napoleons Zeit laufe dem Ende entgegen, da er keine Zukunft mehr offerieren könne, sondern sein Machtwille und seine Herrschaft letztlich »gegen die Zeit und ihre heiligsten Bedürfnisse« anrannten. »Er treibt im Strom der Eroberungen hin«22 und könne der Zukunft nicht mehr gebieten. 23 Auch Napoleon entgleite also zunehmend die geschichtliche Entwicklung, er werde von ihr getrieben, da er ihr keine Perspektive mehr gebe. ›Zeit ‹ in ihrer irreversiblen Bewegung bekomme jetzt eine Option, die genutzt werden könne und müsse, um Napoleon eine neue Epoche entgegenzusetzen. Gerade um nicht im Fluß der Zeit unterzugehen, habe Deutschland sich seiner nationalen Eigenarten bewußt zu werden und an sie anzuknüpfen, um auf den Verlauf der Ereignisse zu reagieren und Kräfte gegen Napoleon zu mobilisieren: »Jetzt kommen wir auf uns selbst, auf unser Land, unser Volk, und auf das künftige Schicksal von

19 Arndt, Geist der Zeit, Bd. 2, S. 361, 160, 439. 20 Vgl. hierzu die instruktive Studie vonjeismann, insbesondere S. 76 ff.; Näheres dazu im folgenden Kapitel dieser Arbeit. 21 Arndt, Geist der Zeit, Bd. 2, S. 316. 22 Ebd., S. 364, 362. 23 Vgl. ebd., S. 365. 112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

beiden. Auch für uns ist eine große Epoche eingetreten; auch für uns entsteht die große Frage, wie und wodurch unser Neues werden soll.«24 Ein Zurück zu den alten Zuständen und Verfassungen vor 1803 sei für Deutschland nicht mehr anzustreben, denn nur ein Neubeginn könne es aus seiner Ohnmacht herausführen und die Fremdherrschaft beenden: »Wenn das Geschehene nicht klug machen soll, so ist das Künftige nicht zu heilen noch zu erhalten.« 25 Die warnende Stimme der Zeit rufe Deutschland aus seiner Erniedrigung zum Widerstand gegen die napoleonische Fremdbestimmung auf, um eine große und neue Epoche einzuleiten, die mit der Vergangenheit breche: »Aber die Zeit ist inne, wo ihr begreifen lernen müsset, was ihr waret, was ihr nicht mehr seyn dürft, und was ihr künftig seyn sollt.«26 Die schnelle Unterwerfung und Korrumpierung Deutschlands haben für Arndt das Alte Reich für alle Zeiten desavouiert und legen einen Neuanfang zwingend nahe: Aufteilung der deutschen Fürstentümer auf den habsburgischen und preußischen Staat.27 ›Zeit ‹ in ihrer schicksalhaften Bewegung lief also weiterhin transpersonal ab und ließ letztlich auch Napoleon hinter sich, konnte aber im Rückgriff auf die Idee einer Nation gestaltet werden. Deshalb bleibt diese Art der Zeiterfahrung ambivalent. Der Zeitverlauf wurde einmal als Fatum begriffen, das über Deutschland in Gestalt Napoleons gekommen war. Andererseits war es aber auch möglich, auf den fahrenden Zug der Zeit aufzuspringen und an die Vorsehung selbst Hand anzulegen, wenn man sich in Auseinandersetzung mit der französischen Fremdherrschaft auf seine nationalen Eigenarten besinnen und im kritischen Rekurs auf diese eine neue Zeit einleiten würde. Der politische Nationalgedanke befand sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch in seinem Anfangsstadium, begründete vorerst weder eine selbständige politische Strömung, noch gewann er maßgeblichen Einfluß auf die politischen Richtungen. 28 Schon Valjavec betont, daß die Gestalt Arndts einsam aus ihrer Zeit herausragte. 29 In der zeitgenössischen Rezeption entfaltete Arndt seine größte Wirkung 1812 bis 1815. Doch auch er, einer der bedeutendsten Publizisten, fand nur punktuell Zugang zu den Gebildeten und erst recht zum ›einfachen ‹ Volk, zumal er besonders in Preußen und im süddeutschen Raum »gegen die dynastisch-partikularistische Anhänglichkeit des Volkes an das jeweilige Herrscherhaus und gegen die allgemeine apolitische Passivität« anzukämpfen hatte. 30 In einer Studie über die Bewußtseinslage in Preußen zwischen Reform und Krieg stellt Bernd von Münchow-Pohl gleich24 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 366. Ebd., S. 180 f. Ebd.. S. 184. Vgl. ebd., S. 431 ff. V d . Valjavec, S. 341 f. Ebd., S. 342. V g l Schäfer, Kollektivbewußtsein, S. 142 ff., hier 146.

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falls heraus, daß die nationalen Strömungen zur Zeit der französischen Besatzung und bis etwa 1812 in Preußen wegen der vorherrschenden Apathie ein »Randphänomen« blieben. 31 So war auch Arndt »ein Prediger in der Wüste, von der Zensur und den Polizeibehörden gegängelt, auf einen geringen Leserkreis und Gedankenaustausch mit einigen wenigen Gleichgesinnten beschränkt«.32 Aber andererseits wirkten sich um die Jahrhundertwende strukturelle Veränderungen aus, die dem politischen Bewußtsein einer nationalen Identität vorgearbeitet hatten.

2. Nationalismus: Dynamik und Machbarkeit von ›Zeit‹ Die Literatur der internationalen Forschung zum Thema ›Nation ‹ und ›Nationalismus ‹ zählt Legion und ist kaum mehr zu überschauen - ein Überblick kann allein aus diesem Grund hier nicht geleistet werden, ist aber auch nicht vonnöten. 33 Es soll nur daran erinnert werden, daß der frühe Nationalismus in Deutschland am Anfang des 19. Jahrhunderts mit langfristigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zusammenfiel, die viele Menschen aus traditionellen Bindungen herausführten und die polarisierende Ausdifferenzierung der Gesellschaftsstruktur vertieften. 34 Diese Übergangszeit von der alten ständischen, agrarisch geprägten Welt zu einer neuen, im Entstehen begriffenen industriekapitalistischen »Verkehrs- und Marktgesellschaft« 35 arbeitete sozialpsychologischen Verwerfungen zu. Der soziale Lebensraum schien sich aufzulösen, was zu einer zunehmenden Verunsicherung des einzelnen führte. 36 Begleitet wurden diese Krisenerscheinungen von dem »Zerfall der traditionalen Legitimierung politischer Herrschaft« spätestens seit der Französischen Revolution und dem damit einhergehenden »Vordringen des säkularisierten Einheitsstaats«.37 Zudem stellten die aufstrebenden bürgerlichen Schichten politi31 Vgl. Münchow-Pohl, S. 338. 32 Ebd., S. 339. 33 Vgl. zur internationalen Nationalismusforschung in ihren vielfältigen Facetten den umfangreichen Überblick von Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat; außerdem den knappen und nur auf die Bundesrepublik bezogenen Bericht von Haupt. Als Einführung in die Geschichte des Nationalismus in Deutschland vgl. jetzt die in ihrer Wertung manchmal etwas schiefe Darstellung von Dann, Nation und Nationalismus. Zur Kritik an Danns grundsätzlichen Unterscheidung von ›gutem ‹ Nationalgedanken der Frühphase und ›schlechtem ‹ Nationalismus der Spätsphase vgl. Langewiesche, Nationalismus, S. 10 f.; ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 195. Zur Einführung in die Theorie des Nationalismus sind nützlich Dann, Nationalismus und sozialer Wandel; Winkler; Alter, Nationalismus. 34 Vgl. auch im folgenden Dann, Nationalismus und sozialer Wandel, S. 77-128, besonders 84 ff.; Alter, Nationalismus, S. 82 ff.; H. Schulze, S. 49 ff.; Wehler, Bd. 1, S. 507. 35 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 301. 36 Vgl. Winkler, S. 26. 37 Wehler, Bd. 1, S. 506.

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sche Partizipationsforderungen, denen gegenüber sich die deutschen Einzelstaaten und die herrschenden Eliten aus Adel und hoher Bürokratie unempfänglich zeigten; gerade diese aufstrebenden Schichten sollten zunächst zu der sozialen Trägerschicht für die Ideologie des Nationalismus werden. Eine Zeit der Verunsicherung, in der traditionelle Legitimitäten, regionale, ständische und religiöse Bindungen unter dem Modernisierungsdruck langsam ausgehöhlt wurden, schuf Raum für neue Loyalitäten und ließ den Wunsch nach einem Ersatzideologem aufkommen. 38 Die Betonung einer gemeinsamen Sprache und Kultur gewann eine wichtige (Re-) Integrationsfunktion. Diese Idee einer deutschen Kulturnation erhielt ihre politische Schubkraft aber erst durch eine Reihe dramatischer Ereignisse »mit außerordentlich effektiven soziopolitischen und sozialpsychologischen Auswirkungen«, 39 die den langfristigen Wandel beschleunigten und zur Initialzündung für die Idee des Nationalismus wurden. Die Französische Revolution und ihre kriegerischen Folgen, insbesondere ihr Export durch Napoleon nach Deutschland, die Veränderung der politischen Landschaft bis zur Auflösung des Alten Reiches und der Neubildung von Staaten, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Friedensverträge, die »Revolution von oben« mittels Reformen in Preußen und den Rheinbundstaaten sowie die Erfahrung von Fremdherrschaft und französischer Hegemonie - all dies setzte Sprengkräfte frei, welche die vertraute Ordnung zu zerstören drohten. 40 Dies galt insbesondere für die Situation Preußens. Die erlittene Niederlage und die Fremdherrschaft, die immensen Gebietsverluste und die Furcht vor einer Auflösung des Gesamtstaates, die ungeheuren Kriegskontributionen und Besatzungskosten, der drohende Staatsbankrott, Geldentwertung, Absatzprobleme im In- und Ausland, Krankheit und Unterernährung in weiten Teilen der Bevölkerung und nicht zuletzt die drückenden Lasten der Allianz mit Frankreich dokumentierten die preußische Abhängigkeit und führten zu einer »durchweg depressiv-resignative[n] Grundstimmung«. 41 Die Neutralitätspolitik des Königs während des österreichisch-französischen Krieges 1809 politisierte die Armee und steuerte auf eine Gehorsamskrise zu, die jedoch zugunsten der Staatsraison entschieden wurde. Dies bedeutete wieder die Rückkehr in einen trostlosen Alltag und steigerte Mutlosigkeit und Zukunftsängste. Die Reformmaßnahmen allein konnten aus dieser Krisensituation nicht mehr herausfuhren, da sie wegen der oktroyierten Allianz- und Vertragstreue nicht wie erwartet vorankamen und in den Erfordernissen des Augenblicks 38 Vgl. auch Alter, Nationalbewußtsein, S. 20. 39 Wehten Bd. 1, S. 507. 40 Vgl. auch am Beispiel Bayerns zu den mentalen Folgen von Kriegen und politischen, territorialen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen auf das Denken, Fühlen und Verhalten der ‹kleinen Leute ‹ Bkssting. 41 Münchow-Pohl, S. 97. Nach dieser vorzüglichen Studie auch das Folgende.

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untergingen. Eine kleine Gruppe entschlossener Reformbeamter erreichte nur schwerlich von oben herab per Ministerialverfugung eine Bevölkerung, die diesen Maßnahmen allein schon wegen der Wirtschaftsmisere fremd gegenüberstand. Die Reformschritte schienen vorerst mehr einzureißen als aufzubauen und eine Rückkehr zu geregelten Verhältnissen zu verhindern; sie stießen deshalb auf Unverständnis und Ablehnung. Wieder sollten die Untertanen in einer stark belasteten Gegenwart auf später vertröstet werden, wieder einmal wurden die Reformhoffnungen von 1807/8 zumindest kurzfristig enttäuscht. Die durch die gemeinsam erduldete Unterdrückung geschaffene Unzufriedenheit richtete sich nicht gegen die Krone, da das Legitimitätsprinzip zu tief im Denken und Fühlen der meisten Zeitgenossen verankert blieb. Statt dessen verstärkte sich die Verbitterung über die preußisch-französische Allianz gegen Rußland und die Wiederkehr der Franzosen nach Preußen 1812. Diese Stimmung konnte sich schließlich nach dem preußischen Frontwechsel in den sogenannten Befreiungskriegen entladen. Sie bezogen ihre Dynamik weniger aus den inneren Reformen, sondern der Krieg selber war es, der mobilisierte und die Kluft zwischen Staatsführung und den skeptischen Teilen der Bevölkerung schloß. In den Jahren der napoleonischen Hegemonie schienen »Gegenwart und jüngste Vergangenheit wie eine ununterbrochene Kette folgenschwerer politischer Ereignisse« die Zeit sprunghaft zu beschleunigen und die Zukunft unkalkulierbar werden zu lassen, woraus sich ein Bedürfnis nach neuen Orientierungsmustern herausbildete. 42 Gerade die Konfrontation mit dem Fremden in einer krisenhaften Zeit sollte die nationalen Eigentümlichkeiten zunehmend bewußt machen, wie insbesondere Michael Jeismann in seiner Arbeit eindrucksvoll, aber anhand eines begrenzten Quellenkorpus herausgearbeitet hat. Statt eine teleologische Entwicklungsperspektive des Nationalismus von einer frühliberalen Oppositionsideologie hin zu einem aggressiven Integralismus ex post zu konstruieren, 43 muß das Zusammenspiel von Abgrenzungsmechanismen nach außen und inneren Harmoniepostulaten bei der Diffamierung des politischen Gegners seit den Befreiungskriegen berücksichtigt werden. 44 Indem man das französische Volk als nationalen Feind darstellte, hob sich auf dieser Negativfolie die Qualität des deutschen Volkes positiv ab und wurde zur Nation stilisiert. Für die eigenen nationalpolitischen Hoffnungen wurde die nationalisierte Feindschaft unerläßlich. Dies war jedoch kein deutscher Sonderfall. Die Konstituierung einer homogenen Nation scheint generell auf die 42 Ebd., S. 394. Münchow-Pohl erwähnt hier nur die religiösen Erweckungsbewegungen der Gebildeten als psychische Stabilisatoren und transzendentale Fluchtpunkte, nicht dagegen nationale Orientierungsmöglichkeiten. 43 Diese Sicht dominiert in der Fachliteratur, wenngleich die Kritik daran wächst; vgl. den Forschungsbericht von Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 205. 44 Vgl. hierzu Jeismann, S. 42, im folgenden auch 76 ff.

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wechselseitige Bestimmung von Fremd- und Selbstbildnissen angewiesen.45 In Preußen bot die Auseinandersetzung mit der Fremdherrschaft die Möglichkeit, die eigene Krisenerfahrung durch die Zugehörigkeit zu einer starken Gruppe zu kompensieren.46 Insbesondere die antinapoleonische und frankophobe Bewegung schuf einen nationalen Erfahrungsraum, der trotz des starken Landespatriotismus »die deutsche Nation größer und politisch bewußter« werden ließ.47 Im gemeinsamen Krieg machte ein allgegenwärtiges und unspezifisches Feindbild die »Nation« erfahrbar.48 Die negative Abgrenzung nach außen fand ihr positives Pendant in dem Rückgriff auf eine vermeintlich ›deutsche ‹ Vergangenheit. Die Suche nach einer kollektiven Identität wurde in die Geschichte gelenkt. Eine unsichere und aufgrund unzureichender Reformresultate enttäuschende Gegenwart ließ Bindungen an eine große, mythengesättigte Vergangenheit ›entdecken ‹. Nationale Identität avancierte zum Thema kultureller und politischer Bewegungen: »Wenn Selbstbestimmung als Forderung und Gebot an die Stelle fester sozialer Standorte und vorgegebener Identitäten tritt, wenn die gesellschaftliche Identität verflüssigt wird und Herrschaft nicht mehr selbstverständlich ist, wenn die Unruhe der Geschichte zunimmt, dann muß die Einheit der Gesellschaft auf ein neues und umfassendes Fundament gestellt werden, daß der Flüchtigkeit und Ungewißheit der Geschichte und der individuellen Entscheidung entzogen ist.«49

Jetzt konnte die Suche nach dem ›Unverrückbaren ‹ und ›Natürlichen ‹ wie Herkunft, gemeinsame Geschichte, Sprache, Literatur oder Konfession beginnen. Schon hier setzte der Prozeß ein, in dem, wie Elias betont, sich das ideale »Selbstbild zunehmend auf die Vergangenheit und nicht mehr auf die Zukunft [richtete]. Der Blick zurück ersetzte als die Quelle der emotionalen Befriedigung den Blick nach vorn. Kern ihres Wir-Bildes und Wir-Ideals war nun ein Bild ihrer nationalen Tradition.« Damit verschob sich »der emotionale Aspekt von der Zukunft auf die Vergangenheit und Gegenwart, vom Glauben an die Veränderung zum Besseren auf den unveränderlichen Wert nationaler Eigentümlichkeiten und Traditionen«.50 Das Arbeiten mit historischen Versatzstükken als Ventil für einen unerträglichen Problemdruck knüpfte oftmals an eine stilisierte, mythenreiche Vergangenheit an und bediente sich pseudowissenschaftlich gewonnener, oftmals verfälschter Geschichtsbilder.51 Diese imagi45 Vgl. zur Nationsbildung als wechselseitigem Prozeß zwischen Partizipation und Aggression, Eigenbild und Feindbild Langewiesche, Nationalismus, besonders S. 11 f. und 21 ff. 46 Vgl. hierzu die gute Einführung in Begriff und Funktion von Nation und Nationalismus von M. Meyer, S. 28 ff, insbesondere 37 f. 47 Dann,, Nation und Nationalismus, S. 67; vgl. auch ders., Deutsche Nation, S. 9-23. 48 Vgl. Jeismann, S. 42. 49 Vgl. Giesen, Identität, S. 13 f. 50 Elias, Exkurs über Nationalismus, S. 175 f. Elias schreibt diesen Prozeß aber erst einer politisch führenden Mittelklasse in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu. 51 Vgl. Wehler, Bd. 1, S. 510.

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nierte Vergangenheit 52 wurde gleichsam enthistorisiert, um durch die zeitlose Verortung eines ›germanischen Geistes ‹ die nationale Identität zu sichern. 53 Hermann der Cherusker, Karl der Große und Barbarossa waren nur einige der vielbeschworenen Gestalten dieser Zeit, denen eine einheitsstiftende und gegenwartslegitimierende Funktion zukam und die starke Mobilisierungskräfte freisetzten.54 Erst die skizzierten strukturellen Veränderungen und dann vor allem die kurzfristige Beschleunigung der historischen Ereignisse nach der Jahrhundertwende verhalfen einer modernen Zeit- und Revolutionserfahrung zum Durchbruch, denn erst die »unmittelbaren, überwiegend negativen Erfahrungen bestimmten das Verhältnis zur Besatzungsmacht, nicht die geistige Auseinandersetzung mit den Ideen von 1789 oder der imperialen Ideologie Napoleons«.55 Jetzt wurden in Deutschland, zumal in Preußen, Rezeptionsbedingungen für ein neuartiges Zeitbewußtsein geschaffen, die in anderen Ländern wie England, Amerika oder Frankreich mit Revolutionen gekoppelt waren. Der Beginn des modernen Nationalismus als Antwort auf die französische Herausforderung übernahm die Funktion für Zeiterfahrungen, die Koselleck schon der Französischen Revolution selber zusprach. Vor diesem Hintergrund läßt sich die ambivalente Zeiterfahrung Arndts einordnen. Durch die Erfahrung einer permanenten Krise wurde ›Zeit ‹ als übermächtig hingenommen; ihr Bedrohungspotential stellte aber gleichzeitig den Fluchtpunkt dar, um ex negativo aus dem schicksalhaften Geschichtsverlauf auszubrechen. Diese Möglichkeit bot sich mit der Idee der Nation, die Orientierung und klare Abgrenzungskriterien gegenüber Frankreich versprach. Gerade die Besinnung auf die eigenen nationalen Kräfte eröffnete neue Handlungsperspektiven. Arndt führte den Erfolg der Französischen Revolution und ihres Expansionsdrangs auf die nationale Identität des französischen Volkes zurück. Das Bekenntnis zur nationalen Eigenart war ihm Voraussetzung für die Stärke eines jeden Landes. 56 Diese Perspektive vor Augen untersucht er die Bedingungen des Aufstiegs und Falls der alten und neuen Völker, um daraus Lehren für Deutschlands gegenwärtige Situation zu ziehen.57 In jedem dieser Völker findet er verbindende Momente wie Sprache und Kultur, aber auch inneren Zwiespalt, an dem sie jeweils zugrunde gingen. Angesichts der gegenwärtigen Ohnmacht Deutschlands und der Parallelen aus der Völkergeschichte gebe es nur eine Möglichkeit, sich aus dem bedrückenden Zustand zu befreien: 52 Vgl. zum Konzept einer vorgestellten Nation Anderson. 53 Vgl. Giesen, Intellektuelle, S. 148 f. 54 Vgl. zu den Mythen der Nationen in europäischer Perspektive, die im 19. Jahrhundert ex post nationale Kontinuitäten stiften sollten, den ausgezeichneten Ausstellungskatalog von Flacke. 55 Münchow-Pohl, S. 396. 56 Vgl. Arndt, Geist der Zeit, Bd. 1, S. 199 f. 57 Vgl. ebd., S. 122 f.

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sich auf seine Eigenheiten als ›Volk‹ zu besinnen und im Bewußtsein dieser Traditionen die Nation wieder zu ihrer ›alten Größe ‹ zu fuhren. Die Gestaltung der nationalen Zukunft bedürfe eines festen Haltes in der Vergangenheit 58 Und noch 1814 warnt Arndt davor, sich trotz der großen Möglichkeiten, die sich mit Ende des Befreiungskrieges auftäten, im Zeitfluß treiben zu lassen, und entwirft eine ständische Verfassung, die sich aus der deutschen Geschichte heraus rechtfertigen lassen müsse. 59 Schon zuvor war dieser Gedanke in den Erfahrungsraum der Zeitgenossen gerückt: sich Handlungsoptionen im Rückgriff auf die Nation offenzuhalten. Im Juli 1804 beklagt sich in der »Minerva« ein Anonymus angesichts der desolaten Lage des Alten Reiches über den isolierten deutschen Patriotismus und Nationalstolz, der zu keiner Gemeinsamkeit finde: »Die gegenwärtigen Verhältnisse stehen durchaus einem deutschen Patriotismus entgegen, und Rückerinnerung an eine kaum noch denkbare Vergangenheit« könne ihn auch nicht wecken. 60 Doch gerade gegen den drohenden Untergang des Reiches gelte es, »seine Kräfte, die es einst hatte, wieder aufleben [zu lassen] und dem habsüchtigen Nachbar« entgegenzuwirken, »sobald ein Schritt seines Heers die Gränze des so sehr zerschmolzenen Germaniens entheiliget. Und daß diese Kräfte dann wieder da seyn können, wer wird daran zweifeln!« Kein Deutscher würde die Möglichkeit verkennen, »die Vestungen des Reichs wieder aus ihren Trümmern zu erheben«.61 In der bedrohlicher werdenden Konfrontation mit Napoleon stellen Beobachter der Zeitläufte im Jahr 1806 immer öfter die Frage nach dem Nationalcharakter der Deutschen. Diesem wird eine einzigartige zweitausendjährige Persistenz »altdeutscher Tugenden« bis in die Gegenwart zugesprochen. 62 Ein weiterer Artikel aus der »Minerva« sieht zwar anstelle des »National-Egoismus« die »Weltbürgerlichkeit« als Merkmal des deutschen Charakters an. Doch selbst wenn Deutschland aufhöre, eine politische Nation zu sein, werde seine verbindende Kultur es weiterhin über jeden äußeren Despotismus hinwegretten. 63 In der Zeit um die Auflösung des Alten Reiches erscheinen in der »Minerva« zunehmend Gedichte, die an die Idee des »Vaterlands« als geistige Einheit appellieren. Und in den Monaten um die preußische Niederlage bei Jena und Auerstedt verfaßt ein unbekannter Zeitgenosse einen pathetischen Hymnos mit dem bezeichnenden Titel »Der Zeitstrom«, der in der Prophezeiung mündet: »Und ein Armin der Zeit ... wird rufen: ›Hebet euch! Friedrichs Schatten 58 Vgl. Arndt, Geist der Zeit, Bd. 2, S. 191 ff. 59 Vgl. Arndt, Verfassungen, S. 89 ff.; vgl. zu den großen Affinitäten von Arndts Verfassungsentwürfen zu den Strukturen des Alten Reiches Duchhardt, insbesondere S. 173. 60 Minerva, 1804, Bd. 3, S. 59. 61 Ebd., S. 64. 62 Ebd., 1806, Bd. 1, S. 1 f. 63 Ebd., Bd. 3, S. l ff.

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winktl·«64 Es gelte, die Zeichen der Stunde zu nutzen, nämlich im Rückgriff auf eine heroische deutsche Vergangenheit in den von Napoleon entfesselten und übermächtigen Strom der Zeit einzugreifen und ihn gegen die französische Bedrohung zu wenden. Diese Art, auf deutsche Traditionsbilder zurückzugreifen, verharrte aber noch weitgehend in Herderschen Ideen einer einheitlichen Kulturnation und wurde mit dem preußischen Zusammenbruch zunehmend unpolitischer. 65 Mit größerer politischer Schubkraft greifen die von Fichte 1807/08 in Berlin gehaltenen »Reden an die deutsche Nation« auf deutsche Vergangenheitsbilder zurück. In seiner ersten Rede konstatiert er gewissermaßen den Abschluß einer Geschichtsepoche: »Mit uns gehet mehr als mit irgendeinem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte. Innerhalb der drei Jahre, welche seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnitts verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen.«66 Mit seiner Bestandsaufnahme der Gegenwart möchte Fichte auch den Fortgang der Geschichte skizzieren und deuten. Deshalb entwickelt er ein Erziehungsprogramm, das im Rekurs auf deutsche Sprache, Kultur, Wissenschaft und Geschichte den einzelnen zu einem nationalen Wesen und die gesamte Nation zu neuem Leben erwecken solle; nur so könne der desolaten Situation des Landes begegnet und ein vollkommener Staat geschaffen werden. 67 Die Reden klingen dann auch in dem Appell aus, der die Deutschen vor die Alternative stellt: Entweder verkörpere man das Ende einer Nation und werde diese in Zukunft vergessen, oder aber man werde der Anfang einer neuen Zeit sein, wenn man an die jetzt noch bestehende nationale Erinnerung anknüpfe: »Bedenket, dass ihr die letzten seyd, in deren Gewalt diese grosse Veränderung steht. Ihr habt doch noch die Deutschen als Eins nennen hören, ihr habt ein sichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich und einen Reichsverband gesehen, oder davon vernommen, unter euch haben noch von Zeit zu Zeit sich Stimmen hören lassen, die von dieser höheren Vaterlandsliebe begeistert waren.«68 Mit dem Beginn einer aus Deutschlands nationaler Vergangenheit gespeisten neuen Epoche werde ›Zeit ‹ endlich in eigener Verantwortung verfügbar und bekomme die Nation letztlich die Aufgabe einer nationalen Sendungsmission, als »Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt«.69 Der Buchhändler und spätere Verleger Friedrich Christoph Perthes, der sich während der französischen Besetzung nationalpolitisch gegen die Franzosen 64 65 66 67 68 69

Ebd., S. 555 ff. Vgl. z. B. ebd., 1808, Bd. 1, S. 161 ff; 1809, Bd. 2, S. 193 ff Fichte, S. 264. Ebd., S. 274, 353 f. Ebd., S. 486. Ebd.; vgl. auch ebd., S. 498 f.

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engagierte, 70 blickt zwar 1808 auf Napoleon als eine »historische Naturnotwendigkeit«, ohne aber in Resignation zu fallen. Die Zeit lasse sich nicht mehr zurückdrehen, vielmehr müsse man auf den Trümmern Deutschlands etwas Neues aufbauen, auch wenn diese Aufgabe gewaltig sei, denn »wir vielmehr sind es, die sich der Zeit gewachsen halten müssen, und wer wollte auch Anfang und Ende einer solchen Umwälzung, wie die gegenwärtige ist, in ein Menschenleben zusammendrängen«. Gerade in diesen Zeiten der Unterdrückung und des beschleunigten Umbruchs müsse man sich auf sein »Deutschtum« 71 besinnen. Ohnehin werde Napoleon kontraproduktiv wirken und letztlich die nationalen Kräfte nur um so enger zusammenführen. 72 Deutlicher wird Perthes in der Ankündigung zu der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Vaterländisches Museum«, wo er 1810, als Hamburg dem französischen Kaiserreich einverleibt wurde, schreibt: »Das vaterländische Museum ist einig durch die drängenden Umstände einer Zeit veranlaßt worden, dergleichen von so ausgebreiteter Gewalt, von einem so in die geringsten Umgebungen eingreifenden Umschwunge der Dinge seit der Völkerwanderung her keine gefunden werden kann. Denn jetzt, wo Jeder, der Gegenwart überdrüssig, in die Zukunft, hoffend oder zagend, hineinschaut, scheint es mehr als je nothwendig, sich rettend einen Mittelpunkt zu gewinnen, um von ihm aus den mancherley Strudeln und Wirbeln zu begegnen.«73 Doch Perthes kann letztlich nur eine geistige Einheit Deutschlands beschwören, um die regionalen Unterschiede einer zerrissenen Nation hinter sich zu lassen. Prononciert arbeitet der Historiker Heinrich Luden in seinen 1808/09 in Jena gehaltenen Vorlesungen »Über das Studium der vaterländischen Geschichte« die Bedeutung einer vergangenen Zeit heraus. Zwar bleibe »in der Not der Gegenwart nichts, das uns trösten könnte, als der Glaube an die Zukunft«,74 doch wer den Zeitgeist erforschen wolle, könne dies nur durch einen Blick in die Vergangenheit tun: »Die Gegenwart eilt schnell vorüber; die Zukunft ist uns unbekannt; nur die Vergangenheit steht fest in der Geschichte und antwortet auf unsere Frage.«75 Das Verständnis der Gegenwart braucht also den Rekurs auf nationale Traditionen, um ›Zeit ‹ gestalten zu können. Mit dem Nahen der Befreiungskriege nahm die Berufung auf eine stilisierte Vergangenheit noch zu und wurde zum politischen Movens: »gestärkt schaut unser Blick aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück«, 76 so der Oberleh70 Perthes, Bd. 1, S. 130 ff. 71 Ebd., S. 141, 148. 72 Vgl. ebd., S. 146 f. 73 Vaterländisches Museum, 1810, S. I. 74 Luden, S. 12. 75 Ebd., S. 13. 76 Karl Ludwig Struve, in: Czygan, Bd. 1, S. 158. 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

rer Karl Ludwig Struve in einer Rede in Riga kurz nach Beginn des französischen Rußlandfeldzuges. 77 Mit dessen Scheitern und der vermeintlichen Aufbruchstimmung der Befreiungskriege wurde die Bewegung der Zeit als zunehmend dynamisch empfunden. Die Orientierung an dem Gedanken einer Nation rückte die einst als Schicksalsbewegung empfundene Zeit in den Verfügungsraum des Menschen. Auf die Frage nach der Aufgabe der alles verändernden Revolutionen der letzten Jahre antworten die »Deutschen Blättern« rückblickend auf das Jahr 1813, daß diese in der Gestalt eines reinigenden Gewitters die einem Volk eigenen Kräfte geweckt hätten, um zu einem freien Handeln in der Zeit zu gelangen. 78 Bezeichnend ist eine Äußerung des badischen Liberalen Karl von Rotteck, der am Anfang des Jahres 1814 in den »Teutschen Blättern« bemerkt: »Zwanzigjahre schon braust, mit immer schwellenden Wogen, der Strom des Verhängnisses. Er hat Manches umgestürzt und Manches fortgerissen, was lange und glorreich gestanden, und mit wilder Gewalt aus den zusammengetriebenen Trümmern einen Koloß aufgethürmt, der durch sein Gewicht Europa erdrückte und durch seine Masse unerschütterlich schien.«79 Spätestens seit dem gescheiterten Rußlandfeldzug sei die Macht Napoleons aber gebrochen worden. Nun hätten die Versuche zu beginnen, »durch eigene Mitwirkung den Gang des Schicksals zu beschleunigen«. 80 Die Besinnung auf einen »Nationalgeist« und ein »wiedererwachendes Germanien« werde Deutschland eine vielversprechende Zukunft garantieren, die nun in der Hand der Deutschen als Nation liege. 81 Stand hinter dieser nationalen Beschwörung aus dem Südwesten vermutlich eher ein landespatriotischer Impetus, so ermöglichte er doch ›Zeit‹ in der Krise zu gestalten. Dies wird noch einmal besonders deutlich in einem Aufsatz aus Ludens Zeitschrift »Nemesis« über »Die Zeichen der Zeit«, in dem er die chaotische Revolutionsbewegung nach 1789 von den Befreiungskriegen unterscheidet: »Wahr ist: wie ein tiefer Strom hat sich die Völkerkraft dahin bewegt und hat niedergestürzt und fortgerissen, was sich ihrem Lauf hemmend zu widersetzen wagte. Aber wahr ist auch: dieser Strom hat sich in seinem Bette gehalten, und ist dem Ufer gefolgt; er hat überall befruchtet und nirgends zerstört. Seine reine, klare, durchsichtige Fluth hat nichts von jenem glühenden Lavastrom, der vor vier und zwanzig Jahren anfing, die Länder der Erde zu durchbrausen, und Alles mit glühender Asche zu überschütten, oder mit erstickender Luft zu vernichten, was seine Flammen nicht erreichen konnten.«82 77 78 79 80 81 82

Vgl. ebd., S. 160 f. Deutsche Blätter, 1814, Bd. 2, S. 70 ff Teutsche Blätter, 1814, Nr. 1, S. 2. Ebd., S. 4. Vgl ebd., Nr. 2, S. 6 ff; Nr. 3, S. 9 ff Nemesis, 1814, Bd. 3, S. 8 f.

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Die Naturmetapher des Stromes erhält neben der destruktiven und fatalistischen eine konstruktive Deutung, die ›Zeit ‹ machbar erscheinen läßt. Auch von konservativer Seite bekommt ›Zeit ‹ wieder einen dynamischeren Charakter zugesprochen, selbst von Gentz, dem späteren Skeptiker jeder nationalen und liberalen Bewegung. In seinen »Fragmenten« von 1806 appelliert er an eine deutsche Einheit, denn Europa sei durch Deutschlands selbstverschuldete Wehrlosigkeit gefallen und »muß durch Deutschland wieder emporsteigen«.83 Nur wer sich der Bewegung der Zeit anpasse, könne »Erhabenheit über das Schicksal gewinnen«. 84 Im Hinblick auf die Erhebung Österreichs 1809 schreibt Gentz an Wessenberg: »Die Welt ist einmal aus den Angeln gehoben; j e mehr Elemente der Gährung jetzt in einander wirken, desto größer werden doch auch die Chancen der Wiedergeburt.« 85 Diese Wiedergeburt kann für ihn nur ein Zurück zu Zuständen bedeuten, die wenig gemein mit einem konstitutionellen Nationalstaat haben, aber doch der Zeit ein dynamisches Gepräge geben. So fordert eine anonyme Schrift »Zur politischen Reformation« aus dem Jahr 1813 einen organischen Ständestaat mit einer unabhängigen monarchischen Spitze und will dabei an die »alte Gestalt des Vaterlandes« in seiner Mannigfaltigkeit unter Berücksichtigung gemeinschaftlicher nationaler Interessen und Institutionen anknüpfen - also an einen lockeren Staatenbund, der ein idealisiertes Reich wieder erneuere: »Noch einmal benuzet die Erfahrung der Jahrhunderte - die großen Lehrer der Zeit können nun fruchtbringend werden.«86 Und in ähnlich konservativer Manier möchte ein Anonymus 1813 in Königsberg seine »Mitbürger an die Gesinnungen und Thaten ihrer Vorgänger erinnern«: »Wer ist der Deutsche, der beim Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit, sich nicht aufgefordert fühlt, seinem Namen und Vaterlande eine Schuld zu bezahlen, mit der er gegen dieselben schon lange in Rückstand gewesen?« 87 Diese dynamische Zeiterfahrung Konservativer, die sich aus verlorenen Traditionen speiste, wurde aber nach den Siegen über Napoleon zunehmend von einem restaurativen Beharrungswillen gegenüber den noch immer revolutionär erscheinenden nationalliberalcn Forderungen abgelöst.88 Die Ohnmachtserfahrung gegenüber einer als allmächtig angesehenen Zeit, wie sie sich nachdrücklich im deutschen Norden anläßlich der französischen Fremdherrschaft zeigte, konnte also mit der Rückbindung an eine nationale Vergangenheit aufgefangen werden. ›Zeit ‹ bekam wieder die Möglichkeit, 83 Gentz, Fragmente, S. XLVI. 84 Ebd.,S. L I I I . 85 Gentz, Briefe. S. 21. 86 In: Czygan, Bd. II, S. 446 f. 87 In: ebd., Bd. 1, S. 192. 88 Vgl. z. B. Gentz in einem Brief an Metternich vom April 1814, in: Wittkhen, Bd. 3, S. 295; außerdem eine Tagebucheintragung Gentzens 1813, in der er davor warnt, »daß der Sturz eines auf die Revolution gegründeten Despotismus, wohl, anstatt einer wirklichen Restauration, abermals zur Revolution zurückfuhren könnte« (in: F. Schulze, Bd. 1, S. 203).

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durch diesen Rückgriff auf nationale Muster dynamisch in den Verfugungsraum des Menschen zu rücken, um die Krise zu bewältigen. Gerade die allgegenwärtige Beschleunigungs- und Brucherfahrung führte zu der (Re-)Konstruktion einer stilisierten Tradition. Diese konnte eine kulturelle und geistige Einheit beschwören oder regressiv in der Verherrlichung vergangener politischer und sozialer Ordnungsvorstellungen mit dem Ziel ihrer Restauration bestehen. Ein gestaltbarer Entwicklungsprozeß wäre so letztlich zum Stillstand gebracht worden.

3, Das revolutionäre Potential: Nationalümus im Wechsebpiel der drei Zeithonzonte Statt Anknüpfungspunkt für eine rückwärtsgewandte Ideologie zu bieten, konnte der Verweis auf eine wie auch immer geartete Nation aber auch ein progressives Potential offerieren und die Zeiterfahrung auf eine neue Zukunft hin ausrichten. Diese Zukunftsperspektive orientierte sich wieder an der Französischen Revolution. Auch Arndt sah ja in dem Sturz des Ancien Régime das Ende des alten Europas und den Beginn einer neuen Zeit. 89 Als sich 1789 die Pariser Nationalversammlung als Souverän konstituierte, legitimierte sie damit zugleich das französische Volk als eine Nation. 90 Mit diesem politischen Auftakt des modernen Nationalismus konnte sich einerseits eine radikale und totalitäre Spielart entwickeln, die alles dem vermeintlichen Kollektivwillen der Nation unterordnete, sich im Inneren gegen Pluralismus, Föderalismus und autonome Institutionen sperrte und nach außen eine aggressiv-imperiale Note hervorkehrte, wie sie sich schon um die Jahrhundertwende in Frankreich und Deutschland herauszukristallisieren begann. 91 Als Produkt der Modernisierungkrise vermittelte der Nationalismus in diesem Fall Sinn und Identität in der Totalität einer nationalen Vergangenheit. 92 Andererseits kam der Verweis auf die von unten konstituierte Nation frühliberalen Forderungen entgegen, sofern das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Grundrechte des Einzelnen über die nationale Zugehörigkeit definiert wurden. Von ihren Anfängen an ist die Suche nach einer nationalen Identität mit Emanzipationsbestrebungen verbunden. Dieser im wesentlichen säkulare Glaube setzt, so Norbert Elias, »in den jeweiligen Gesellschaften einen erheblichen Grad an Demokratisierung voraus, im soziologischen, nicht im politischen Sinn des Wortes«.93

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Vgl. Arndt, Verfassungen, S. 95. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 302. Vgl. ebd.; zußerdemjeismann, Teil 1. Vgl. Nipperdey, Identität, S. 125. Elias, Exkurs über Nationalismus, S. 196.

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Nationsbildung wurde in Deutschland zu einer von vier Entwicklungsaufgaben neben Staatsbildung, politischer Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit und zunehmend zum Motor auf dem Weg zu diesen Zielen. 94 Der Nationalismus »löst die Partikularisierung der Lebenswelt auf; er zentralisiert und mobilisiert; er schafft erst die Großgruppe (mit ihrer Anonymität und Ideologieanfälligkeit), die nationale Gesellschaft«.95 Als oppositionelle, frühliberale Emanzipationsbewegung richtete er sich gegen die Vorrechte des Adels, gegen die Vertreter der partikularstaatlichen Zersplitterung und gegen die soziale Ungleichheit der Ständegesellschaft und war einem Programm der defensiven Reform verpflichtet. 96 In der zweifachen Zukunftsorientierung - politische und rechtliche Gleichstellung sowie radikale Säkularisierung des individuellen Glücksanspruchs 97 - floß auch im politisch rückständigen Deutschland dem »Zukunftsentwurf Nation eine potentiell revolutionäre Kraft« zu, denn die »Anfänge der modernen Vorstellung von Nation waren fortschrittlich, emanzipatorisch, demokratisch«. 98 In die einzelstaatlichen Reformwerke gingen diese Aspekte ein und wurden zumindest bei den gebildeten Eliten während der Befreiungskriege »ideologisch überhöht und tendenziell in eine gesamtnationale Richtung umgebogen«. 99 Gerade im antinapoleonischen Widerstand konnte insbesondere das preußische Reformvorhaben der Französischen Revolution eine eigene nationale Kontinuität entgegenstellen. 100 Es eröffnete sich ein nationaler Erfahrungsraum, in dem Deutschland neben und über den Einzelstaaten erlebbar wurde. Das bedeutete für einzelne Gruppen einen Akt der Emanzipation von ihren bisherigen Bindungen. 101 So betrachtet, wäre der Nationalismus nicht allein eine regressive Reaktion eines »heimatlosen« Individuums (Nipperdey) auf den angeblichen Traditionsverlust, sondern ihm wäre ein dynamisches Zukunftsmoment inhärent. Dem Doppelziel der deutschen Nationalbewegung - äußere Unabhängigkeit durch Befreiung von der französischen Fremdherrschaft und innerstaatliche, am Vorbild des revolutionären Frankreichs orientierte Freiheit - wohnte ein Impuls inne, der die Zeiterwartung in die Zukunft ausrichtete. 102

94 Vgl. Dann, Nationalismus und sozialer Wandel, S. 78. 95 Nipperdey, Identität, S. 124. Vgl. dazu auch John Breuilly, der den Nationalismus als spezifisch moderne Idee insbesondere in den Staatsbildungskontext einbettet und ihm drei Funktionen zuschreibt: Koordination, Mobilisierung, Legitimität (Breuilly, S. 33 f.). 96 Vgl. Wehler,Bd. 1, S. 511, 97 Vgl. Langeiviesche, Nation und Nationalstaat, S. 174. 98 Langewiesche, Reich, Nation, Staat, S. 355. 99 Dann, Nationalismus und sozialer Wandel, S. 96. 100 Vgl. Neumüller, S. 102. 101 Vgl. Dann, Nation und Nationalismus, S. 67. 102 Vgl. zur ambivalenten Beziehung zu Frankreich Dann, Nationalismus und sozialer Wandel, S. 97.

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August Neidhardt von Gneisenau erkennt im Juli 1807 in seiner »Denkschrift über die Notwendigkeit, die Kräfte des ganzen Volkes zu entfesseln« den Zusammenhang, der sich in Frankreich seit 1789 zwischen Revolution sowie Konstituierung und Mobilisierung der Nation gezeigt habe: »Die Revolution hat die ganze Nationalkraft des französischen Volkes in Tätigkeit gesetzt«.103 Die Ideen der Revolution hätten die europäischen Staatenverhältnisse dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht, daß man diese nur wieder ins Lot bringen könne, wenn man sich dieser Ideen freiwillig bediene. Indem man sich die Ergebnisse der Revolution aneigne, gewinne man einen doppelten Vorteil: Vermeidung einer gewaltsamen Revolution und Mobilisierung einer »Nationalkraft« gegen die französische Fremdherrschaft. 104 Anlehnung an die Französische Revolution und Abwehr des gewaltsamen napoleonischen Revolutionsexports liegen hier eng beieinander. Dringlicher wird dieser Zusammenhang in einer Denkschrift des Freiherrn von Dörnberg an Gneisenau fünf Jahre später hergestellt, als die Enttäuschung über die nur langsam greifenden Reformen und die andauernde französische Repression zunahm: »Nein, meine innere Überzeugung, und die mit jedem Tage zunimmt, ist, daß für Deutschland bloß Heil in einer Revolution zu finden ist. Und so sehr ich das Schreckliche davon einsehe, so ziehe ich sie doch der Alternative einer Unterjochung unter französischer Oberherrschaft vor, wodurch alle Keime von dem, was noch gut, groß und edel in der Nation ist, völlig erstickt werden.«105 Befürchtet wird ein Erlahmen der Nationalkraft, wenn diese nicht endlich revolutionär gegen Frankreich aktiviert werde. Wie aber aus der Idee der Nation und dem Rückgriff auf eine ›deutsche ‹ Vergangenheit selber ein Zukunftspotential entfaltet werden konnte, das die sich auflösende Gegenwart der napoleonischen Fremdherrschaft progressiv überwand - dies läßt sich dezidierter erst an einigen Vertretern der deutschen Nationalbewegung nachzeichnen. Arndts Nationalismus steht trotz seiner aggressiven Deutschtümelei der reichsdeutschen Vergangenheit skeptisch gegenüber; denn sie sei partikularistisch und lasse somit keine Berufung auf eine Nationalgeschichte zu. »Teutschland also ist nichts, wir Teutsche sind nichts; man kennt nur Thüringer und Westfalen, Pommern und Baiern, Wirtemberger und Hannoveraner.« 106 Die Befreiung vom französischen Joch könne nur erfolgreich sein, wenn man sich der Stilisierung einer deutschen Vergangenheit entledige: »Durch unsere deutsche Geschichte läuft ein wunderlicher Wahn, woraus ich gar nicht klug werden kann. Wenn die Teutschen über die traurige Gegenwart klagen, so nehmen sie den Mund so gern voll von der Allmacht und unüberwindlichen Furchtbarkeit und 103 Gneisenau, in: Klein, S. 63. 104 Ebd. 105 Dörnberg, in: Donath u. Markov, S. 204. 106 Arndt, Geist der Zeit, Bd. 2, S. 216. 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Stärke ihrer Altvorderen im Mittelalter. Ich habe mich danach umgesehen, sie aber nirgends so gefunden.« 107

Man müsse sich vielmehr von der alten territorialen Zersplitterung befreien, um eine einheitliche Nation werden zu können: »Das Alte ist dahin; ihr könnet nicht Sachsen, ihr könnet nicht Baiern, ihr könnet nicht Wirtemberger seyn, als eigene Völkchen, ihr müsset Teutsche seyn wollen.« 108 Gerade in der Gegenwart habe sich gezeigt: Das Künftige »kann nimmer wieder stehen, was so ganz niedergerissen ist und sich in seiner Hülflosigkeit und Ohnmacht offenbart hat«.109 Was Arndt sagen will: »jeder Mann, der eine neue Zeit machen sollte, muß seiner Zeit voraus gewesen seyn.«110 Unter Berufung auf eine unspezifisch gelassene deutsche Nation bricht er also mit dem Alten, um eine neue Zeit einzuleiten. Die proklamierte ›Wieder‹-Herstellung des Vaterlandes und die Berufung auf nationale Traditionen, die er weit in die Geschichte zurückverfolgt, verbindet Arndt mit der Forderung nach erweiterten politischen Partizipationsrechten. In seinem Verfassungsentwurf von 1814 bemerkt er wiederholt und nachdrücklich, daß das Alte Reich brüchig und veraltet gewesen sei. »Da blies kein Sturmwind, nein, ein Hauch blies von jenseits des Rheins her, und alles stürzte zusammen.« 111 Die Französische Revolution, nun zur europäischen geworden, habe deutlich gemacht, »daß der alte Zustand Europens vergangen ist, daß wir in den Vorhallen einer neuen Zeit stehen«.112 Aus diesem Grund entwirft Arndt eine ständische Verfassung, die ihr Recht zwar aus der Vergangenheit her legitimiert, 113 als eingeschränkte Repräsentatiwerfassung aber durchaus einen Staat mit politisch agierenden Staatsbürgern anstrebt. In ihm sollten neben dem bevorrechtigten Adel auch Bauern und Bürger als Kontrollinstanzen vertreten sein,114 die christliche Kirche aber jedes politischen Einflusses verlustig gehen, da sie »auf ewig vergangen [ist], und kein Gott sie wieder ins Leben zurückrufen« werde. 115 Die Einrichtung zentraler Institutionen wie eines Reichsgerichts und Reichstages unter einem gemeinsamen Oberhaupt, die Entwerfung zentraler Gesetze und Erziehungseinrichtungen hätten unter den Augen einer kritischen Öffentlichkeit und der »unbeschränkteste[n] Preßfreiheit« stattzufinden. 116 Es ist ein schwer zu entflechtendes Gespinst aus traditionalen und 107 Arndt, Geist der Zeit, Bd. 1, S. 191. 108 Arndt, Geist der Zeit, Bd. 2, S. 428. 109 Ebd., S. 181. 110 Ebd., S. 330. 111 Arndt, Verfassungen, S. 91. 112 Ebd., S. 94. 113 Vgl. ebd., S. 89. 114 Vgl. ebd., S. 106 ff. 115 Ebd.,S. 102. 116 Ebd., S. 99; vgl. auch S. 121.

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modernen Verfassungsvorstellungen, das hier am Ende der Befreiungskriege in die öffentliche Diskussion um die zukünftige Gestaltung Deutschlands eingebracht wurde. 117 Wichtig für unseren Zusammenhang ist ohnehin nur, daß in Reaktion auf das Ende des Reiches, auf die Gründung des Rheinbundes und auf die preußische Niederlage die Berufung auf eine deutsche Vergangenheit auch für Arndt prekär wird, da sie sich dem Ansturm der neuen und revolutionären Zeit in keiner Weise gewachsen zeigt. Der Rückgriff auf ständische Elemente intendiert daher, aus den »wiederhergestellten und erfrischten Einrichtungen, welche echt germanischen Stammes sind, ... alles Nichtige und Tote weg[-zuräumen], das für unsere Zeit nicht paßt, alle unnützen Mißbräuche und Hemmungen menschlicher Kräfte und Entwicklungen«. 118 Die Beschwörung einer nationalen Kontinuität blieb letztlich nur tragfähig, wenn die Diskontinuitäts- und Beschleunigungserfahrung seit 1789 akzeptiert und als Möglichkeit für eine progressive Zukunftsgestaltung begriffen wurde, wobei diese gerade durch den Rekurs auf eine stilisierte und weitgehend enthistorisierte nationale Vergangenheit weniger offen erschien. 119 Eine konstitutionelle Fürstenherrschaft auf ständischer Grundlage ist auch Ziel der »Volksverfassung« in Friedrich Ludwig Jahns »Deutschem Volkstum« von 1810. So plädiert er z. B. für eine »Reichsversammlung der Stände«, die eine »Sprechgemeinschaft (Parlament) sein [muß], nicht eine Taubstummenanstalt von Ja-Herren und Beifallsnickern«; 120 oder für eine allgemeine Wehrpflicht im Landsturm, der körperlich zu ertüchtigen und geistig zu patriotischer Gesinnung zu erziehen sei.121 So skurril sich dann auch Jahns Ausführungen über Staatsverwaltung, Bürgerrechte, Volkserziehung und zu pflegende Bräuche ausnehmen, sein Programm beruht doch auf einem Volksbegriff, der sich widerständig gegen den realen Geschichtsverlauf zeigt: »Von eines jeden allbegreifenden Zeitraums erster geschichtlichen Denkzeit bis zum letzten Schlußereignis waren Völker immer die Leiter der Begebenheiten.« ›Volkstum ‹ ist »das 117 So solle das Stadtbürgertum wieder in »sichere Schranken von Innungen und Zünften« zurückkehren, um dem Verfall der Sitten entgegenzuwirken (ebd., S. 118 f.). 118 Ebd., S. 119. 119 Die dynamisierenden Aspekte der Französischen Revolution betont schon Hardenberg in seiner Denkschrift »Über die Reorganisation des Preußischen Staats« vom 12.9.1807: »Die Französische Revolution, wovon die gegenwärtigen Kriege die Fortsetzung sind, gab den Franzosen unter Blutvergießen und Stürmen einen ganz neuen Schwung. Alle schlafenden Kräfte wurden geweckt, das Elende und Schwache, veraltete Vorurteile und Gebrechen wurden - freilich zugleich mit manchem Guten - zerstört.« Der Wahn, Revolutionen durch das Festhalten am Alten verhindern zu können, habe diese erst befördert, denn den revolutionären Grundsätzen von 1789 würde sich keiner entziehen können. Deshalb wolle man »eine Revolution im guten Sinne« zum Zweck der Veredelung der Menschheit. »Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung« dies sei dem Zeitgeist angemessen (in: Winter, S. 305 f.); vgl. auch die Denkschrift Altensteins vom 11.9.1807, in: ebd., S. 369 ff. 120 Jahn, S. 196. 121 Vgl. ebd., S. 212 ff.

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Gemeinsame des Volks, sein inwohnendes Wesen«, das sich als Appell an die Leser wendet, »die für die Hochgedanken ›Volk, Deutschheit und Vaterland‹ noch nicht gänzlich abgestorben sind«. Gerade der drohende Verlust der eigenen politischen und auch geschichtlichen Identität in der napoleonischen Ära lege nahe zu fragen: »Was gehört zu einem folgerechten Volk? was waren wir vormals? was sind wir nun? wie kamen wir dahin? was sollten wir sein? wie können wir es werden? und, wenn wir es geworden sind, bleiben?« Jahns Schrift handelt von dem »Bleibenden«, nicht von dem »Vorübergehenden, Wechselnden und Wandelbaren«. Diese der Vergangenheit zugeschriebene ahistorische Substanz sei es, die neue Perspektiven demjenigen eröffne, der sich hinab »wagt in die Schattenwelt der Geschichte, dort nach einem Ausweg und Ausgang fragt und auf ihre Sehersprüche für die Zukunft horcht«. 122 Gerade die »gegenwärtige ruhmlose Epoche« verweise auf das, was noch nicht sei, in Deutschlands »Volkstum« aber seiner Verwirklichung harre: »Sicher wird und muß die Zeit kommen, wo die Deutsche Nation, durch weise Gesetze unter einem mächtigen Monarchen vereint, zwar nicht als ein alleingebietendes, aber doch als eines der herrschenden Völker in dem großen Europäischen Staatenrat seine vollwichtige Stimme wieder geben wird. Selbst die Geschichte Deutschlands öffnet uns diese beruhigenden Aussichten, noch hat Deutschland nicht den ganzen Kreis von Revolutionen durchlaufen, den es durchlaufen muß, um das zu werden, wozu es der hohe Ruf der Natur bestimmt hat. ... Behauptet sich die Nation in jeder moralischen Hinsicht als eine eigene Nation: so wird auch durch den Strom der Zeiten und Ereignisse endlich der Augenblick herbeigeführt werden, in welchem das Glück sich wieder mit ihr versöhnen wird.«123 Gerade der Rekurs auf ein ahistorisches ›Volkstum ‹ konnte Zukunftsoptionen freisetzen, welche die nationale Katastrophe transzendierten und Halt in einer bewegten Zeit zu bieten schienen. Und umgekehrt sollte die Erwartung nationaler Größe eine Vergangenheit als Nationalgeschichte einlösen. Bedingung dafür war, daß der aktualisierte Reichsbegriff national verklärt und enthistorisiert wurde. Das Bemühen um geschichtliche Legitimierung der Gegenwart wollte die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche durch Rückgriff auf eine ferne und kritikunberührte, zumeist diffus im Mittelalter angesiedelte Vergangenheit überbrücken. 124 Die Nation als Zukunftsentwurf in einer Zeit des Niedergangs wird auch in Görres' Aufsatz »Ueber den Fall Teutschlands und die Bedingungen seiner Wiedergeburt« beschworen, der 1810 in Perthes' »Vaterländischen Blättern« veröffentlicht wurde. 125 Der Zusammenbruch des Alten Reiches habe sich 122 123 124 125

Ebd., S. 19, 22 f., 24, 314, 12. Ebd., S. 95 ff. Vgl. Fehrenbach, Reich, S. 488 f. Vgl. den Wiederabdruck in Görres, Politische Schriften, Bd. 1, S. 115-132. 129 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

schon lange angekündigt: »WasJahrhunderte allmälig vorbereitet, zerstört nimmer der Augenblick«. Görres begrüßt die Niederlage von 1806, weil sie endlich mit »alte[r] Trägheit und Langeweile« gebrochen habe: »Darum hat Gott nicht Sieg gegeben, weil er keine Frucht gebracht hätte für die Geschichte, die fortschreiten will ohne Aufenthalt; gerade das, was zum Sieg gefehlt, hätte zum Frieden auch gemangelt«. Doch gerade deshalb seien mit dem Fall Deutschlands auch neue Zukunftsperspektiven verbunden: »mit Schimpf hat ihre alte Zeit geschlossen, aber ehrenvoll schon hat ihre neue Zeit begonnen.« 126 Der Schutt der Vergangenheit müsse abgetragen werden, bevor man seine Zeit progressiv in die Zukunft ausrichten könne: »Es konnte das Alte nicht wiederkehren, Teutschland war nicht scheintodt, es war keine Gewaltsamkeit, die jene Auflösung herbei geführt, es hatte Alles von selbst dazu sich angeschickt, keine Macht kann neues Leben in die Leiche bringen. Aber die Formen altern, eben weil die Nationen sich verjüngen; die Natur wird grau, daß Leben nie, weil es immer das Alter auswirft wie Schlacken; keine Zeit ist lebensärmer, denn die andere.«127 Das Ende Deutschlands und der Zusammenbruch Preußens seien nur der Zenit jenes Alterungsprozesses, dem jedes Volk unterliege, der aber auch immer wieder einer neuen Zeit zum Durchbruch verhelfe. Die Nation werde zu einem unsterblichen Organismus, der sich durch seinen Tod immer wieder selbst reinkarniere: »Keine ächte, wahrhaftige Kraft ist untergegangen bis auf diese Stunde in der Geschichte..., der Tod [ist] eben erst ihr glorreicher Eintritt in die Welt, und einmal ins Leben aufgenommen, pflanzt sie sich auch unsterblich durch alle Zeiten fort.«128 Wie Jahn rekurriert auch Görres auf die Nation als eine ahistorische Substanz, die sich immer wieder verwirkliche. Niemand vermöge »ein Volk, das aus sich selbst heraus zu einem großen historischen Charakter anreist, zurückzuhalten«. Erst wenn die Deutschen zu einer »kräftigen, in sich einigen Nation erwachsen« seien, werden sie ihre äußere Unabhängigkeit wieder erlangen. Die Nation sei immer erst auf dem Wege und müsse fortwährend erneuert werden, und zwar mittels einer festen öffentlichen Meinung, »die entschieden und unverkennbar den eigenthümlichen Charakter des Stammes ausdrückt«. Gelänge es ihr, so Görres am Ende seines Artikels, ihre Lautlosigkeit zu überwinden und »Sprache zu gewinnen, alles Unglück dieser Zeit wäre nur Vorbereitung zu ihrer Wiedergeburt gewesen«. 129 Der Blick auf den konkreten Geschichtsverlauf der jüngsten deutschen Vergangenheit und auf ihre Defizite wies also als ein Ende ex negativo auf den Beginn einer anderen Zukunft, die aber ihre E›yna126 127 128 129

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

119, 116. 117. 120. 126 f., 132.

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mik und Rechtfertigung erst aus dem Bezug auf eine vorausgesetzte nationale Essenz und aus deren Verwirklichung bezog und somit Kontinuität über alle Zeiten hinweg zu stiften vermochte. 130 Auch die Zukunft konnte in der Realisierung der zeitlosen Nation somit vice versa ihre nationale Berechtigung erfahren. Deutlich kommt dies auch in Fichtes erster »Rede an die deutsche Nation« zum Ausdruck. Mit der napoleonischen Fremdherrschaft habe Deutschland die Verfügungsgewalt über seine Zeit abgegeben: »Was seine Selbständigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermögen einzugreifen in den Zeitfluss, und den Inhalt desselben frei zu bestimmen ...; es hat von nun an gar keine eigene Zeit mehr, sondern zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche.« Diesem Schicksal könne aber ein Volk entgehen: »Es könnte sich erheben aus diesem Zustande, in welchem die ganze bisherige Welt seinem selbstthätigen Eingreifen entrückt ist, ... lediglich unter der Bedingung, dass ihm eine neue Welt aufginge, mit deren Erschaffung es einen neuen und ihm eigenen Abschnitt in der Zeit begönne, und mit ihrer Fortbildung ihn ausfüllte ... Falls es nun eine also beschaffene Welt, als Erzeugungsmittel eines neuen Selbst und einer neuen Zeit, geben sollte für ein Geschlecht, das sein bisheriges Selbst, und seine bisherige Zeit und Welt verloren hat: so käme es einer allseitigen Deutung selbst der möglichen Zeit zu, diese also beschaffene Welt anzugeben.«131 Fichtes nationales Erziehungsprogramm setzt also an einer Art Nullpunkt an, mit dem ein Neuanfang beginnt, der mit der Vergangenheit bricht. Wenn er in seiner vierzehnten Rede an die verlorene Einheit des Reiches erinnert und den Beginn einer »über alle eure Vorstellungen herrliche[n] Zeit«,132 über die der Mensch noch verfügen könne, beschwört, dann bleibt dieser Appell so unbestimmt, daß er jede reale Gegenwart als ungenügend einholen muß und somit trotz der historischen Rückbindungen seiner »Reden« nach vorne weist. Auf welches real-historische Fundament war denn überhaupt zu bauen, wenn Fichte an eine nationale Einheit appellierte? Jeder Bezug auf eine idealisierte deutsche Vergangenheit mußte angesichts der traditionellen Zersplitterung im Alten Reich sehr vage bleiben und letztlich Vergangenheit und Gegenwart transzendieren. Historische Voraussetzungen und Bindungen hinter sich lassend, wendet sich Fichte an einen neuen Typus des Deutschen: »Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend und wegwerfend all die trennenden Unterscheidun130 Den zukunftsweisenden Rückgriff auf deutsche Traditionen, um die Wiedergeburt der Nation zu ermöglichen, beschreibt Görres auch in seinem Aufsatz über den »Fall der Religion und ihre Wiedergeburt«, der ebenfalls 1810 in Perthes »Vaterländischen Blättern« erschien (Wiederabdruck in: Görres, Politische Schriften, Bd. 1, S. 132-188, insbesondere 184). 131 Fichte, S. 264 f. 132 Ebd., S. 486. 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

gen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der Nation gemacht haben.«133 Mittels eines dermaßen radikalen Neuansatzes ließ sich die entziehende Gegenwart überwinden und konnten neue Perspektiven eröffnet werden, die wieder Herrschaft über die Zukunft und rückblickend den (Wieder-)Einstieg in eine national-konstruierte Geschichte ermöglichten. In einer seiner vielbeachteten Predigten »Ueber die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit«134 unterscheidet Friedrich Schleiermacher etwas zeitlich Vergängliches von etwas ewig Bleibendem. Jenes schreite in der Geschichte fort und überhole sich ständig: »Denn es gibt nirgends eine Rückkehr in menschlichen Dingen ... Wenn jener zerstörenden Kraft [d. i. Napoleon], welche nach einer langen Stille zuerst als ein über Einer Gegend furchtbar schwebendes Ungewitter ausbrach, und dann als ein schnell hineilender Sturm Verheerung über unsern ganzen Welttheil verbreitete, wenn ihr nichts widerstanden hat, und alles was aus den Trümmern allmählich aufsteht sich in einer neuen Gestalt erhebt: sollen wir glauben, daß wenn nur unser altes Gebäude noch ohne alle Veränderungen bestanden hätte, wir würden verschont geblieben sein?«135 In einer Übergangszeit dürfe man nicht »durch jene verfehlte Anhänglichkeit an das Vergangene zurückgehalten werden«. Die Anerkennung des Vergänglichen geht für Schleiermacher einher mit der des Unvergänglichen, das »in jeder künftigen Gestaltung unserer Angelegenheiten immer schöner und vollkommener« dargestellt werden müsse und das »dem Geist und der wahren Bestimmung des Volkes« gemäß sei. Statt mit dem Vergänglichen das Bleibende wegzuwerfen und sich in »eine fremde Gestalt« drängen zu lassen, sollten »die entschlafenen Väter und Helden des Landes,... die Geschichte und die Satzungen der Vergangenheit« dadurch geehrt werden, »daß an den Geist an das innere Wesen derselben jede folgende Umbildung sich anschließe, und wir eben dadurch Eines mit ihnen bleiben und uns wahrhaft als ihre Nachkommen und Zöglinge erweisen«.136 In der Vergangenheit müsse also die nationale Wesenheit von der zufälligen und vergänglichen Form unterschieden werden. Schleiermacher listet deshalb nationale Tugenden wie Arbeitsamkeit, Sparsamkeit oder den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und der Glaubens- und Gewissensfreiheit auf Diese vermeintlich zeitlosen nationalen Werte sollten handlungsmotivierend auf die Gegenwart einwirken und sie in eine Zukunft überführen, die gerade deshalb wieder in Kontinuität zur Vergangenheit stand. Der drohende Verlust der Geschichte angesichts der napoleonischen Fremdherrschaft wurde durch die Berufung auf eine nationale Substanz kompensiert und konnte zu133 Ebd., S. 266. 134 Vgl. den Wiederabdruck in: Spies, S. 29-40. 135 In: ebd., S. 32. 136 In: ebd., S. 33, 35 f. 132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

gleich den Erwartungshorizont in die Zukunft ausrichten, in der sich das nationale Wesen in erneuerter Form durchzuhalten vermochte: »dann werden wir nicht Ursache haben zu klagen daß das alte den Stürmen der Zeit gewichen ist, dann werden wir der gepriesenen Vorfahren nicht unwürdig und ihnen nicht unähnlich sein bei aller äußeren Verschiedenheit unseres Zustandes«. 137 In einem Artikel über die »Wichtigkeit der Zeitabschnitte« schreibt ein Autor in den »Miszellen für die Neueste Weltkunde« 1810: »Wir sind gezwungen, zu bekennen, daß das Vergangene nimmermehr wiederkehren, das Geschehene in Ewigkeit nicht ungeschehen werden könne.« 138 Und im »Blick auf das Jahr 1813« steht in Friedrich Brockhaus' »Deutschen Blättern«, daß die Zeit viel von den neuen Staatskonstruktionen der napoleonischen Ära zerstört habe, damit das »Alte und Gute« erneut zurückkehre - »doch nimmer kommt es in einerlei Gestalt«.139 Philipp Friedrich Pöschel sieht in einer Predigt am Anfang desselben Jahres gerade durch die »Erinnerung an die glücklicheren Zeiten der Vergangenheit« den »Glauben an die Zukunft« bestärkt. 140 Die Erhebung habe Deutschlands nationale Eigenart wieder geweckt und die Erwartungen in eine bessere Zukunft ausgerichtet, die jetzt in menschlicher Verfügung liege: »sollte es uns nicht die heiligste Angelegenheit seyn, dahin zu streben, daß das Bild der besseren Zeit besonders in unseren eigenen Gesinnungen, Sitten und Wandel wiedererstrahle?« 141 Mit stärkerem politischen Akzent findet sich in der »Nemesis« von Luden ein Aufsatz über »Die Zeichen der Zeit«, in dem er sich über die Fürstenbestrebungen beklagt, die das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen hofften, um vergangene revolutionäre »Entartungen« zu verhindern: »Aber über die Entartung der Zeit ist der ursprüngliche Sinn der Zeit nicht zu vergessen, und in nachgemachten Formen hat man nicht das alte Leben. Jedes Rückstreben zum Alten - denn eine wirkliche Rückkehr ist eben so unmöglich, als daß die Sonne ihren Lauf ändert - ist in sich selbst, wenn auch nicht in der Seele Derer, die sie versuchen, böse, weil es der Natur des Geistes widerspricht.«142 Die Erfahrungen der letzten Jahre, so Luden weiter, ließen sich nicht mehr tilgen, das Alte nicht mehr zum Leben erwecken. Die Forderung nach einer freiheitlichen deutschen Nation, nach einer »Wiedergeburt« Deutschlands brach also gerade mit der Vergangenheit und eröffnete die Möglichkeit einer neuen, national geprägten Zeit, die in den Verfugungsraum des Menschen gerückt wurde. Die Metternichsche Ära sollte diese Erwartungen im Deutschen Bund bald zunichte machen. 137 In: ebd., S. 39 f. 138 Miszellen für die Neueste Weltkunde, 1810, Nr. 73, S. 291. 139 Deutsche Blätter, 1814, Nr. 59, S. 66. 140Im:Spies, S. 361. 141 In: ebd., S. 362. 142 Nemesis, 1814, Bd. 3, S.11. 133 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Auch wenn in den antinapoleonischen Erhebungen die politische Idee einer Nation bewußter wurde, blieb der Gedanke eines Nationalstaates, ob nun unter borussischen Vorzeichen oder nicht, doch weitgehend auf den Norden Deutschlands beschränkt, wo die politische Ohnmacht besonders empfindlich wahrgenommen wurde. 143 Aber auch dort erfolgte das nationale Engagement oftmals aus einem landespatriotischen Impuls heraus und blieb, wie oben schon beschrieben, einer Minderheit vorbehalten.144 Im Süden und Südwesten wirkte noch nach 1803 die alte Reichsidee bis weit ins 19. Jahrhundert fort.145 Statt einen zentralistischen Nationalstaat anzustreben, war dort der Nationsgedanke auf »die fortlebende Idee der deutschen Kulturnation, die nicht auf einen Nationalstaat zielte, und die föderative Vielfalt der deutschen Staatenwelt« ausgerichtet. 146 Hier konnte ein doppelter Patriotismus auch das Ende des Reiches überleben: Einmal in Form eines Landespatriotismus, von dem aus mittels Reformen die territoriale Konsolidierung und konstitutionelle Modernisierung der sich souverän gerierenden Einzelstaaten ausging; andererseits in der Gestalt eines Reichspatriotismus, der föderal orientiert blieb, die Einzelstaaten aber in die universale Reichsordnung des Mittelalters eingebunden wußte. 147 Anhand der verfassungspolitischen Konzeptionen hat Heinz Angermeier das Jahr 1806 als »totalen Neubeginn« relativiert und herausgearbeitet, »daß dieses alte deutsche Reich über 1801 und 1806 hinaus für die Theorie, wie für die Praxis hinsichtlich seiner speziellen Staatlichkeit, hinsichtlich des territorialen Bestandes, seiner ethnisch-traditionellen Zusammengehörigkeit und seiner dynastisch gelenkten Gliedstaaten existent geblieben ist«.148 Neben diesen föderal und europäisch orientierten Vorstellungen beruhte das frühe Nationalbewußtsein im Zusammenhang mit den Selbständigkeitsbestrebungen gegen Napoleon auf einem eher »defensiven Charakter«, der sich aus der Schwäche der deutschen »Mittellage« und »Vielgliedrigkeit« erklärte. Die damaligen Staatskonzeptionen waren »der historischen Realität des alten Reiches näher, als der Vorstellung einer großen nationalstaatlichen Zukunft«.149 Die Spannung zwischen einerseits Souveränitäts- und Modernitätsansprüchen in den neu konstituierten Einzelstaaten, die sich in ihren Reformen an den gesellschaftspolitischen Bruch von 1789 anlehnten, und andererseits rhcin143 Zum späten Auftauchen des Begriffs ›Nationalstaat ‹ vgl. Langewiesche, Reich, Nation, Staat, S. 349; ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 205 f. 144 Vgl. Dann, Nation und Nationalismus, S. 58 f. 145 Anklänge an eine nationalisierte und idealisierte mittelalterliche Reichsidee finden sich auch bei so betonten Nationalrepräsentanten wie Jahn, Fichte und Gorres (vgl. Fehrenbach, Reich, S. 490 ff.). 146 Langewiesche, Reich, Nation, Staat, S. 346. 147 Zur Kontinuität eines ›doppelten Patriotismus ‹ vgl. Dann, Altes Reich, insbesondere S. 116 ff. 148 Angermeier, S. 67. 149 Ebd., S. 100.

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bündischem Nationalgedanken, der sich an der Reichstradition orientieren konnte, sollte die Debatte um die rechtliche Stellung des Rheinbundes und einer ihm gemäßen Verfassung bestimmen. Die Auseinandersetzung mit der Zäsur von 1806 und die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität des Rechts wurde zum zentralen Thema der Staats- und verfassungsrechtlichen Diskussion. Es »ging immer darum zu klären, ob mit dem Untergang des Reiches alles Recht mit untergegangen sei«.150 Ob man nun an diesem Dualismus von Rheinbundideologie und fürstlichem Souveränitätsanspruch festhält151 oder aber weitere, vermittelnde Positionen herausarbeitet, die »Rheinbundpatriotismus und einzelstaatliche Souveränitäts- und Reformpolitik nicht als Widerspruch, sondern als Einheit begriffen«152 - wichtig ist hier, daß sich die ausgesprochenen Zukunftserwartungen letztlich aus einer nationalen Vergangenheit legitimieren lassen sollten. Das Journal »Der Rheinische Bund« unter Winkopp, einem Anhänger des Dalbergschen Rheinbundpatriotismus, knüpft in vielen Artikeln an einen Reichspatriotismus an, der die Kontinuität vom Alten Reich zum Rheinbund unter Ausblendung der zukunftsweisenden gesellschaftspolitischen Brüche von 1789 und 1806 bewahren will.153 Mag die Unmittelbarkeit dieser Anbindung auch ins Ideologische weisen, da sie an der überlebten feudalständischen Struktur der Reichsverfassung festhält,154 so soll das Zeitbewußtsein in Momenten des permanenten Umbruchs doch zukunftsweisende Orientierung an nationalen Vergangenheitsbildern finden. Gerade der zunehmende Verlust na150 Schuck, S.216. 151 Vgl. Raumer, S. 346 f. 152 Schuck, S. 256. Schuck arbeitet vier Typen von Neuordnungskonzeptionen für das Deutsche Reich aus der Rheinbundpublizistik heraus: 1. der Rheinbundpatriotismus der konservativen Reichsanhänger, der an die Reichsreformdiskussion der Zeit von 1800 bis 1806 anknüpfte, kaum über die vorrevolutionäre feudale Herrschafts- und Gesellschaftsordnung hinauswies und aller revolutionären Brüche zum Trotz Kontinuitäten des Rheinbundes zum Alten Reich bewahren wollte (S. 276); 2. die Konzeption der »modernistischen Rheinbundpatrioten«, die sich seit dem Bruch 1806 vom Alten Reich verabschiedeten und die gesellschaftlich-verfassungspolitischen Resultate der Französischen Revolution auf einen deutschen Bundesstaat übertragen wollten (S. 278 ff.); 3. die Vorstellungen derjenigen, die im Rheinbund als Staatenbund den Garanten einzelstaatlicher Souveränität mit effektiver Verwaltung sahen, damit aber auch der Tendenz eines fortschrittlichen Machtstaates zur »reaktionären Abschottung gegenüber gesellschaftlichen Emanzipationsforderungen« erlagen (S. 283); und 4. der Versuch, Einzelstaaten zu einem Staatenbund unter Übernahme verfassungsstaatlicher Prinzipien aus der Französischen Revolution zusammenzuschließen (S. 290 ff). In der Arbeit von Burg über die deutsche Triasidee fehlt ein Abschnitt zur Rheinbundzeit. 153 Vgl. ebd., S. 276 f. 154 Vgl. ebd.; außerdem den Artikel von Johann Baptist Schue: »Parallelen zwischen der altund neuteutschen Verfassung ...«, in: Der Rheinische Bund, 1811, Bd. 18, S. 225-263, 313-353. Hier werden jeweils die Vorteile der einen Verfassung gegen die andere ausgespielt, um letztlich aber immer der feudalständischen Ordnung der Reichsverfassung den Vorzug gegenüber dem Rheinbund zu geben.

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tionaler Bindungen und Selbständigkeit wird von Winkopp beklagt: »Das Band, welches deutsche Staaten verbindet, wird immer loser, alle Nationalkraft geht verloren, wir hören bald gänzlich auf, Deutsche und ein selbständiges Volk zu seyn, das mächtig und geehrt bei engerer Verbindung auftreten würde.« 155 Deshalb wird in einigen »Aphorismen über die deutsche National-Einheit als Zweck des rheinischen Bundes« für eine Verbesserung der deutschen Verfassung plädiert, die in dem engeren Zusammenschluß der einzelnen Staaten unter einheitlichen Bundesinstitutionen bestehen solle.156 Die Souveränität der einzelnen Bundesfursten habe dabei nur »Mittel zur Erreichung des höheren Zwecks der Einheit und zur Wegräumung der bisherigen Hindernisse dieser deutschen NationalEinheit« zu sein. 157 Ziel der Zeitschrift sei es, »jedem Deutschen der noch Gefühl für deutsches Vaterland, deutschen Namen, deutsche Freiheit hat, die vorgegangene Veränderung als annehmlich darzustellen, die Möglichkeit zu zeigen, wie diese Veränderung, wenn sie es auch jetzt noch nicht ist, für Deutschland wohltätig werden könne«. 158 Der Zusammenbruch des Alten Reiches sollte also größere Akzeptanz gewinnen, indem wieder an eine große und vergangene Epoche der deutschen ›Nation ‹ Anschluß gesucht wurde, welche die Zersplitterung des Reiches mittels einer reformierten Verfassung hinter sich ließ. Die Französische Revolution blieb aber weiterhin ein Angelpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Kontinuitätsbruch von 1803/06, da sie eine unabsehbare Veränderungswelle einleitete. Schon 1805 bemerkt in der »NationalChronik der Teutschen« ein Beobachter der Zeitläufte: »Die französische Revolution hat das politische System von Europa umgekehrt, die gegenseitigen Verhältnisse der großen Mächte in einem gewissen Sinne total verändert, und eine neue Welt geschaffen, die mit der alten in einem auffallenden Kontrast steht. Aber noch ist die Schöpfung nicht vollendet, und das Produkt derselben ringt noch immer nach Ausbildung und Konsistenz.«159 Daß diese beschleunigte Totalveränderung auch noch nach 1806 unter Napoleon wahrgenommen wurde, ist schon im vorangehenden Abschnitt beschrieben worden. Wie ein »elektrischer Schlag« habe die Revolution beinahe die gesamte europäische Welt mitgerissen, ohne daß ein Moment der Ermattung oder Schwäche gefolgt wäre. 160 Noch 1811 wundert sich ein Verfasser im »Rheinischen Bund« über den außerordentlichen Wechsel der Dinge in Europa seit 155 Der Rheinische Bund, 1807, Bd. 4, S. 460; vgl. zur Klage über den fehlenden »Gemeingeist« der vergangenen Jahrhunderte auch ebd., S. 200, 206. 156 Vgl. ebd., 1808, Bd. 5, S. 373. 157 Ebd.. S. 378. 158 Ebd., 1808, Bd. 6, S. 294. 159 National-Chronik der Teutschen vom 23.1.1805, S. 20. 160 Vgl. ebd. vom 18.11.1807, S. 357. 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

dreißig Jahren, über die neuen Gesichtspunkte der Verwaltungen und Verfassungen - »wie verschieden von dem, was sie ehemals waren! Und noch ist nicht abzusehen, wann endlich eine feste Ordnung der Dinge statt haben wird.«161 Anders als die konservativen Reichsanhänger um Winkopp betont Wilhelm Joseph Behr in einem Artikel über »Das teutsche Reich und der rheinische Bund« den nicht rückgängig zu machenden Bruch mit dem Alten Reich: »Der August des Jahrs 1806 war der wichtige Zeitpunkt - die Grenze und der Anfang zweyer Hauptepochen in der teutschen Geschichte«. 162 Deutschlands Verlangen nach durchgreifenden Reformen habe sich endlich im Rheinbund verwirklicht gefunden. Behr begrüßt in seinem föderalistischen Rheinbundkonzept die »Modernisierung der deutschen Staatsverfassung auf der Grundlage der in den Reformstaaten vollzogenen Wendung zum modernen Verfassungsstaat«163 als einen Neuanfang, der die Zäsur von 1789 berücksichtige, und kommt damit den Souveränitätsansprüchen der Landesfürsten entgegen. Doch den höheren Zweck des Rheinbundes sieht Behr in der Verwirklichung einer deutschen Nationaleinheit, denn die größte Schwäche der alten Reichsverfassung habe in dem zunehmenden Fehlen eines Gemeingeistes gelegen: »Daß es aber so gekommen ist, verschuldete jedoch offenbar nicht die Verfassung des Reiches an sich, sondern lediglich der Mangel des Willens der aktiven Reichsglieder, der Tendenz der Verfassung sich pünktlich zu fugen«.164 Die Verfassung vermochte nicht mehr, »ein, dem Zwecke der Gesammtheit nothwendig nachtheiliges, Uebergewicht der Individualität der Reichsglieder niederzuhalten« und den wahren Zweck des »Erstrebens des gemeinschaftlichen Wohls« durchzusetzen. 165 Eine sich an dem Vorbild der Französischen Revolution orientierende Rheinbundverfassung solle die strukturellen Voraussetzungen für die im Alten Reich verlorengegangene nationale Einheit schaffen - freilich in Form eines Staatenbundes. 166 Aufgabe dieses neuen Bundes sei es, »daß durch die Art, wie der Bund verwaltet wird, durch seine Funktionen ganz vorzüglich darauf hingewirkt werden müsse, den, zur Erreichung des Bundeszwecks in einem eminenten Grade erforderlichen, Gemeingeist unter den Bundesgliedern herzustellen, und diesen hergestellten Geist der Einheit und das daraus hervorgehende gemeinsame Interesse in einem stäten Leben zu erhalten.«167 Dies sei um so wichtiger, da der »Gemeingeist unter den Bundesgliedern« noch unterentwickelt sei, habe man sich in den vergangenen Jahrhunderten doch voneinander entfremdet. Die »Wiederherstellung ihrer Einheit« müsse deshalb 161 Der Rheinische Bund, 1811, Bd. 20, S. 7. 162 Ebd., S. 418. 163 Schuck, S. 85. 164 Der Rheinische Bund, 1808, Bd. 7, S. 104. 165 Ebd., Bd. 8, S. 18 f. 166 Vgl ebd., Bd. 7, S. 105 f. 167 Ebd., Bd. 8, S. 19. 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

als Aufgabe für die Zukunft betrachtet werden; der jetzige günstige und nicht mehr so schnell wieder kommende Augenblick solle in diesem Sinne genutzt werden. 168 Der Gedanke einer national-föderalen Einheit, der sich zukunftsweisend an den gesellschaftspolitischen Ideen von 1789 orientierte, stellte also deutlich die konkreten Schwächen der Reichsverfassung heraus, wollte aber mittels einer Rheinbundverfassung an den verlorengegangenen Nationalgedanken anknüpfen, der in dem einzelstaatlichen Machtstreben der Landesfürsten zunehmend untergegangen war und sich in der Reichsverfassung nicht hatte durchhalten können. Die Idee der »Wiedergeburt« der Nation mußte den realhistorischen Verlauf der Reichsgeschichte hinter sich lassen, um in eine gesellschaftspolitisch moderne und national-föderale Zukunft zu weisen. Gerade die Defizite der Entwicklungsgeschichte des Reiches erforderten die vermeintliche Re-Konstruktion eines früheren Zustandes, den es mit Hilfe einer neuen Verfassung wiederherzustellen galt. Spätestens mit der preußischen Niederlage wird auch in der »Nationalchronik der Teutschen« eine »Wiederherstellung der teutschen Reichsverfassung« als unmöglich angesehen.169 Aufgrund der nationalen Katastrophe breche nun mit dem Rheinbund eine neue Epoche an: »... so dürfen wir nicht daran zweifeln, daß das verflossene Jahr in den Annalen des Vaterlandes, in allen künftigen Zeiten, bemerkt, und sogar als das Datum einer Hauptepoche in seiner Geschichte angezeichnet werden wird. Da in ihm Teutschland aufhörte, ein Staat, und die teutsche Nation, ein bürgerlicher Körper zu seyn, so bildet es den Gränzstein einer tausendjährigen Periode, welchem gegen über, als Eroberer und Gesetzgeber, Karl der Große steht.«170 Erst mit dem Sieg Frankreichs über Preußen bestehe nun die Möglichkeit, aus dem Rheinischen einen Deutschen Bund zu machen, dem eine größere nationale Anziehungskraft zukommen könne. 171 Ein Anonymus im »Rheinischen Bund« konstatiert 1807 die Auflösung des nur noch lose zusammengehaltenen Reiches durch Napoleon, wodurch eine neue und zukunftsträchtige Ordnung hervorgegangen sei.172 Jedoch »was den Bund nationalisieren, was es jedem Deutschen werth machen muß, in diesen Kreisen zu leben, dies einzurichten, überließ er ihrer Weisheit«. Dem Rheinbund sei die Entwicklung auf eine Nation hin unausgesprochen und wie selbstverständlich inhärent; die Größe ihrer Fürsten komme »ganz eigentlich von ihrem Einverständniß mit der Nation« her.173 Gerade der konsequente Bruch mit dem Alten Reich, der 168 169 170 171 172 173

Ebd., S. 19 f., 57 f. Vgl Nationalchronik der Teutschen vom 1.4.1807, S. 99 f. Ebd. vom 6.1.1807, S.l. Ebd. vom 18.3.1807, S. 81 f. Der Rheinische Bund, 1807, Bd. 2, S. 143 f. Ebd., S. 145 f.

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von Napoleon initiiert wurde, sollte Deutschland die Spurensuche nach einer nationalen Einheit ermöglichen, die durch die anachronistische Reichsverfassung verschüttet worden war. In der Nationalisierung des Rheinbundes lag die Chance einer vermeintlichen Wiederentdeckung der Nation. Dies deutlich ausgesprochen zu haben, ist das Verdienst einer Flugschrift des schleswig-holsteinischen Rheinbundanhängers Christian Ulrich Detlev Freiherr von Eggers über »Deutschlands Erwartungen vom Rheinischen Bund« aus dem Jahre 1808.174 Als Vertreter einer modernen Staats- und Gesellschaftsverfassung erhofft er sich einerseits konsequente Reformen in Anlehnung an die Entwicklung in Frankreich. 175 Damit eng verknüpft ist andererseits seine Forderung nach einem nationalen Einheitsstaat, der schon deutlich bundesstaatliche Züge aufweist. Das Schicksal jeder Staatenverbindung, der es an Einheit mangele, sei es, im Augenblick der Krise zu zerfallen, was zumal die deutsche Geschichte paradigmatisch gezeigt habe. »Wird acr Rheinische Bund«, so Eggers Fragestellung, »ein ähnliches Schicksal haben?«176 U m dies zu verhindern, müsse die Verwirklichung des allgemeines Wohls der Untertanen »nicht als Staatsbürger allein, sondern auch als Deutscher« im Vordergrund stehen. Dies habe das Ziel aller Bundesglieder zu sein: »die Wiedergeburt aus dem Chaos, worein das alte Deutschland gestürzt war: die neue Schöpfung, welche der fortschreitende Geist der Zeiten gebieterisch heischt.« Jetzt, wo die alten Formen sich auflösen, könne man nicht mehr »das Neue mit dem Alten amalgamieren«, vielmehr müsse der Augenblick genutzt werden zu einer »heilsamen Wiedergeburt«. Eggers rheinbündischer Nationalgedanke ist weitgehend von den Vorzügen für Handel und Gewerbe bestimmt, die sich aus einem Zusammenschluß ergeben sollten. Diese Vorstellungen lehnten sich aber an eine vorausgesetzte, vor vielen Jahrhunderten verlorene Nationaleinheit an, die es nun im Rahmen eines konstitutionellen Staates wiederherzustellen und zu sichern gelte: »Baiern, Sachsen, Franken, Schwaben, Rheinländer, Westfälinger - sie reden und schreiben doch alle Deutsch, haben doch viele gemeinschaftliche Sitten, Bedürfnisse, Verbindungen. Jetzt umschlingt sie alle Ein politisches Band, das ihnen gegen Auswärtige die Einheit des Staats wieder giebt, welche Deutschland schon seit dreihundert Jahren verloren hatte.... Man sollte jetzt schon den Namen ändern. Der Rheinische Bund ward für einen weit beschränkteren Kreis errichtet. Er ist jetzt der wahre germanische Bund.«177 Der Wunsch, »sich zu Einer Nation zu vereinigen«, werde zu neuem »Antrieb der Thätigkeit [fuhren], der die herrlichsten Früchte bringen kann«. Unter den 174 Wiederabgedruckt in: Spies, S. 60-70. Die Schrift wurde noch im selben Jahr freundlich im Rheinischen Bund, 1808, Bd.9, S. 137-155 besprochen. 175 Vgl. hierzu Schuck, S. 109 f. 176 Auch im folgenden Eggers, in: Spies, S. 61 ff. 177 Ebd., S. 67. 139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Vorzeichen von Einheit und Freiheit werde, schließt Eggers seine Flugschrift, ein schöner Tag anbrechen: »So scheidet Deutschland aus dem Revolutionskriege mit einem Gewinn für Jahrhunderte«, der mit sehr viel geringeren Opfern als in Frankreich erkauft werde. 178 Im Rückgriff auf eine vergangene nationale Einheit und in Anlehnung an moderne gesellschaftspolitische Prinzipien der Französischen Revolution kann Eggers also eine neue Zeit offerieren, in die der Mensch handelnd einzugreifen vermag. Die Revolution bekam für das ›eigentliche ‹ Deutschland des Rheinbundes ihren Stellenwert als Perspektivbegriff für eine noch nie dagewesene Zukunft, die ihre Dynamik aber erst aus einer wieder zu verwirklichenden nationalen Vergangenheit bezog. Von 1808 bis 1811 erschien in Gießen das Blatt »Germanien, eine Zeitschrift für Staats-Recht, Politik und Statistik von Deutschland«, herausgegeben von August Friedrich Wilhelm Crome und Karl Jaup. 179 Als Anhänger einer modernen Rheinbundverfassung begrüßen die Herausgeber in der Ankündigung der Zeitschrift den Zusammenfall der morschen »Hülle unserer deutschen Staatsverfassung«, die so voller »Anormalien« gewesen sei, daß sie weder »den inneren Gährungen unseres Vaterlandes« noch den »äusseren Angriffen« etwas entgegenzusetzen hatte. Deshalb habe sich jeder »unbefangene Patriot« darüber zu freuen, »endlich den Zeitpunkt eintreten zu sehen, wo ein neuer deutscher Bund, unter den Auspicien des mächtigsten und glorreichsten Monarchen unserer Hemnisphäre, geschlossen wird, - ein Bund, dessen Plan und Zweck für Ruhe und Sicherheit, für die Kultur und den Wohlstand unseres Vaterlandes mehr Festigkeit und Dauer verspricht, als man von jener tausendjährigen Reichs-Verfassung ferner noch zu erwarten berechtigt war.«180 Was als deutsche Nation aus diesem »politischen Schiffbruch« mit Hilfe einer neuen, rheinbündischen bzw. deutschen Verfassung zu retten sei, sei der »deutsche Sinn für alles, was wahr, recht, edel und gut ist«, die deutsche Sprache und wissenschaftliche Kultur: »Wird dann auf diesen alt-deutschen Stamm die neue deutsche Staats-Verfassung gepfropft, so wird es nicht fehlen, daß der ehemalige National-Stolz der Deutschen endlich wieder erwache, daß der GemeinGeist der ganzen Nation für alles Edle und Große ... unter dieser neuen StaatsVerfassung wieder aufblühe.«181 Der »Geist der Humanität, der Liberalität und des Patriotismus« werde sich stände- und individuenübergreifend in Deutschland verbreiten und alle Scheidewände des ehemaligen Feudalsystems niederreißen. Cromes und Jaups Hoffnung besteht darin, Deutschland »zu einer einzigen, großen und mächtigen Staats-Familie« zu erheben und »den ehemaligen 178 179 180 181

Ebd., S. 68 ff. Vgl. zur Zeitschrift und ihren Herausgebern Schuck, S. 42 f. mit den Anmerkungen 115 f. Germanien, 1808, Bd. 1, S. 1 f. Ebd.,S.4.

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Glanz seiner National-Würde« wiederherzustellen. Der Neuanfang, den eine rheinbündische Verfassung leisten kann, bedeutet hier also die Regeneration einer Nation, die sich aus kulturellen Werten speist und durch eine neue Staatsverfassung auch wieder politische Relevanz bekommen soll. Dem angekündigten Ende der Nation wird auch in Cromes Einleitungsaufsatz im ersten Band 1807 entgegengetreten. Deutschland, also die Rheinbundstaaten, könne weiterhin seine Souveränität und seine nationalen Eigenheiten wie Sprache, Religion, Sitten und Kultur bewahren. 182 Nach der territorialen Flurbereinigung sei es als Nation gestärkt und als »Staatenverein« selbständiger und wehrhafter geworden, denn der rheinische bzw. germanische Bund zeige sich sehr viel zeitgemäßer als das Alte Reich. 183 Der kulturell geprägte Nationsbegriff werde gerade mit einer fortschrittlichen Rheinbundverfassung wieder politisch aufleben. Dies klingt immer wieder als Tenor in den Rheinbunddebatten an.184 Besonders konsequent wird in den »Europäischen Annalen« der Bruch mit dem vergangenen Reich betont. Mit der Abdankung des Kaisers sei die Reichsverfassung gänzlich vernichtet worden. 185 Dennoch sei es eine »Wiedergeburt Deutschlands«, die man als letztes Ziel immer wieder anzustreben habe, so Friedrich Buchholz in einem gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahre 1808.186 Zwar möchte er, ohne »ungerecht gegen das vergangene Jahrhundert zu seyn..., zu dem [Jahrhundert] voll Stolz hinaufblicken, das wir eröffnen«; doch zeige erst der Rückblick auf die bisherige Geschichte, daß »wir noch nicht unseren Zenith überschritten« haben. Die noch nicht völlig ausgebildete deutsche Sprache deute schon darauf hin, »daß wir zur Einheit geschaffen sind«.187 Wieder weisen die Defizite der Vergangenheit auf eine noch zu verwirklichende Nationaleinheit hin. Daß diese ihr Vorbild auch in grauer Vorzeit finden könne, zeigt ein Artikel aus dem folgenden Jahr, der in seiner Intention weit über eine deutsche Nation hinausweist und einer für die »Europäischen Annalen« typischen Europaidee anhängt: »Franken, Teutsche, Römer, so lange durch gleiche Verfassung vereint, werden hinfür die Vortheile des alten Bundes genießen, ohne seine Nachtheile von neuem zu erfahren, und wir der fremden Herrschaft ungewohntere Teutsche werden eine Art von Beruhigung darin finden, keinen neuen Kaiser als Oberherrn aberkennen zu müssen, sondern zu dem, der in den frühesten Zeiten über Teutschland geherrscht hat, zu dem Kaiser der Franken nach vollbrachtem tausendjährigen Cyklus zurückkehren zu können.«188 182 Ebd., S. 4 f., 13 f., 2 f. 183 Vgl. ebd., S. 4 f., 13 f., 2 f., 7 f. 184 Vgl. z. B. Der Rheinische Bund, 1811, Bd. 20, S. 454 f. 185 Vgl. z. B. Europäische Annalen, 1807, Bd. 2, S. 306. 186 Ebd., 1808, Bd. 2, S. 276-281. 187 Ebd., S. 280. 188 Ebd., 1809, Bd. 4, S. 178; vgl. zur Europaidee Schuck, S. 30 f. 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Was angestrebt wurde, war eine Rückkehr zu den Ursprüngen des völkerübergreifenden Heiligen Römischen Reiches, verfassungsrechtlich aber in einem zeitgemäßen Gewand. Die Idee einer ›teutschen ‹ Nation wurde hier freilich weit hinter bzw. vor sich gelassen. Die Rheinbunddebatte über Kontinuität und Diskontinuität des Rechts weist also auf ein enges Wechselspiel zwischen Vergangenheitsbezug, Gegenwartsverarbeitung und Zukunftsentwürfen hin. Die konservativen Reichspatrioten suchten direkten Anschluß an die Idee des föderalen und feudal-ständischen Reiches, um so durch Binnenreformen innerhalb der alten Reichsverfassung die Brüche von 1789 und 1806 zu umschiffen. Jedoch: »Der Wegfall der politischen Wirklichkeit des Reiches hat erst den Traum vom Reich ausgelöst, der weit›gefährlichen als jene, anstelle des erhaltenden Prinzips in Europa ein revolutionierendes gesetzt hat.«189 Die Idee des Reiches konnte revolutionär wirken und Kontinuität stiften, indem sie an eine ›teutsche ‹ Vergangenheit erinnerte, die noch von einem vermeintlichen ›Nationalgeist ‹ und nicht von Schwäche und Zersplitterung wie seit dem 17. Jahrhundert geprägt war und die Gegenwart deshalb transzendierte. Revolutionär wirkte sie zudem im Zusammenhang mit fortschrittlichen Reformen, die sich eng an die Ideen von 1789 anlehnten. Auch in den Reformvorstellungen der »modernistischen Rheinbundanhänger« blieb das Moment einer nationalen Einheit, sei es nun in staatenbündischer oder bundesstaatlicher Gestalt, zentraler Bezugspunkt, selbst wenn bzw. gerade weil der Bruch mit dem Reich so konsequent betont wurde. Mittels Reformen sollte die Zukunft gestaltet werden, die ihren Zielpunkt letztlich in den Vorstellungen einer längst vergangenen nationalen Einheit fand. Der Revolutionsexport nach Deutschland ermöglichte erst den Wiedereinstieg in eine nationale Geschichte, dessen Keimzelle der Rheinbund zu sein hatte - fern von Preußen und Österreich. Erst im Rahmen einer eigenen Nationalgeschichte, die an einen imaginären Nationalgeist anschloß und die man in einer kulturellen Nationalsubstanz latent vorhanden wähnte, erschien die unabsehbare Zukunft machbar. Die nationalen Defizite der Reichsgeschichte bzw. -Verfassung wiesen in der Rheinbunddebatte ex negativo auf einen verlorengegangenen nationalen Zustand, den es wieder zu verwirklichen galt.190

4. Nationalismus und neuartige Zeiterfahrungen Der von Koselleck konstatierte Wechsel zu einer modernen Zeit- und Revolutionserfahrung hat sich also in seiner ganzen Komplexität erst im Wechselspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft offenbart. Die seit 1789 zu verzeichnende permanente und beschleunigt sich ausbreitende Revolutions189 Raumer,S. 1-5.

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bewegung arbeitete dem Bewußtsein eines Epochenbruchs, der ›Zeit‹ von der Vergangenheit löste und eine neue Zukunft einleitete, gerade entgegen. Selbst der Revolutionsexport durch Napoleon vermochte die Hoffnungen auf eine beherrschbare und zukunftsgerichtete Zeit mittels Reformen letztlich nicht einzulösen, da die krisenhafte Bewegung menschlicher Verfügbarkeit weiterhin zu entgleiten und in der Hand des personifizierten Schicksals namens Napoleon zu liegen schien. Der moderne Frühnationalismus als Antwort auf einen langfristigen Strukturwandel und kurzfristige Krisenerfahrungen wie dem Ende des Reiches und dem preußischen Zusammenbruch konnte aufgrund seines Vergangenheitsbezuges (und nicht weniger wegen der aggressiven Abgrenzung von allem Fremden) Orientierung, Identität und Handlungsmöglichkeiten bieten, die in eine neue Zeit wiesen. Dies war möglich, weil der verheißungsvolle Rückgriff auf eine nationale Tradition die reale Geschichte des zersplitterten und ohnmächtigen Alten Reiches transzendieren wollte und dabei so unbestimmt blieb, daß dieser Mythos der nationalen Erneuerung eine Zukunftsperspektive mit sich brachte. Insbesondere im krisengeschüttelten Preußen sollte die Gegenwart an einem Nullpunkt neu ansetzen, indem sie sich an einer zeitlosen Nationalsubstanz orientierte, die es permanent einzulösen galt und die so einen Wiedereintritt in eine nationale Kontinuität zu ermöglichen hatte. Damit konnte der drohende Verlust der eigenen Geschichte und Zukunft kompensiert werden. Der nationale Erfahrungsraum, der sich in der gemeinsamen Krisenerfahrung und in den Befreiungskriegen erschloß, ließ also die Realhistorie der nächsten Vergangenheit hinter sich, bezog sich aber ex negativo wiederum auch auf sie, indem an eine unbestimmte nationale Tradition erinnert wurde, deren Bedeutungsüberschuß die Vergangenheits- und Gegenwartserfahrungen transzendierte. Im Gedanken der nationalen Einheit zeigte sich eine Zukunftslatenz, die gerade in der Erhebung gegen Napoleon die Möglichkeit bot, sich als Nation zu legitimieren und damit rückwirkend einen »nationalen Selbstbeweis« anzutreten. 191 In einer krisenhaften Gegenwart andauernder Brüche, welche die Zukunft unbestimmt und unbeherrschbar ließ, konnte die Berufung auf eine wie auch immer geartete Nationaleinheit einen Neuanfang setzen, der einerseits die offene Zukunftsgeschichte durch die Einordnung in eine nationale Kontinuitätslinie überschaubarer und planbarer machte, andererseits die vorausgesetzte nationale Vergangenheit durch ihre zeitlose Andersartigkeit auf eine neue Zeit hin legitimierte. Erst diese Wechsellegitimierung von Vergangenheit und Zukunft gab in einer beschleunigten und revolutionären Gegenwart ›Zeit ‹ eine 190 Wie sich der Gedanke einer modernen »Nation« durch die Reformdiskussion der Reichspublizisten seit 1648 bis 1806 zieht und noch in den Verfassungen der Staaten des Rheinbundes, des Deutschen Bundes und der deutschen Nationalversammlung von 1849 wirkte, hat jüngst ßwrgdorf beschrieben. 191 So unter anderer Fragestellung zuchjeismann, S. 63.

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progressive Richtung hin zu einer neuen Epoche und machte sie aufgrund der Verankerung in einer vorgestellten gemeinsamen Vergangenheit gestaltbar. Das emanzipatorische Moment des modernen Nationalismus gab der Zeiterfahrung aber wiederum auch eine enge Verbindung zur Französischen Revolution, deren Prinzipien mit dem napoleonischen Revolutionsexport nach Deutschland gelangten. In der indirekten (Preußen) oder direkten (Rheinbundstaaten) Konfrontation mit den Ideen von 1789 konnte ein Zukunftspotential freigesetzt werden, das Zeit in den Verfügungsraum des Menschen zu rücken schien. In Norddeutschland wurde durch das preußische Reformwerk der Französischen Revolution eine eigene Kontinuität entgegengestellt, die sich aber gleichzeitig an 1789 orientierte. In der Rheinbunddiskussion war die Erinnerung an die Französische Revolution noch präsenter und sollte bei den sogenannten modernistischen Rheinbundanhängern politisch auch umgesetzt werden, um dem Bruch von 1806 zu einer größeren Akzeptanz zu verhelfen. Doch auch in den Rheinbundstaaten legitimierte sich das Reformwerk erst aus dem Rückgriff auf eine national gedeutete Reichsgeschichte, welche ihre Defizite hinter sich ließ und auf eine machbare Zukunft wies. Die Nationalisierung des Rheinbundes in einem Verfassungswerk und der »Wiedereintritt« in eine nationale Tradition - staatenbündischer oder bundesstaatlicher Provenienz - regenerierten die Idee der Kulturnation und verliehen ihr politische Relevanz. Die Erfahrung, daß sich Geschichte im Rahmen von Revolutionen regressiv und unabsehbar entwickelte, konnte also durch zwei ineinandergreifende Kompensationsmodelle aufgefangen werden, welche die Ohnmachtserfahrung beendeten: einerseits durch Reformen, die aber andererseits aufgrund des unüberschaubaren Ereignisdrucks unter Napoleon erst durch die Verankerung in einer nationalen Vergangenheit eine neue und machbare Zeit ermöglichten, die der Krise in Permanenz begegnete. Sein progressives Potential vermochte der Nationalismus aus einer ständig neu zu aktualisierenden, ahistorischen Nationalsubstanz und den Ideen von 1789 zu beziehen. Gerade in Phasen der permanenten Krise konntedas›Kollektive Gedächtnis ‹, wieder an nationale Traditionen anschließen, vermeintliche Kontinuität stiften und den Aufbruch in eine neue und allzu offene Zukunft kontrollierbarer machen. 192 Insbesondere Zeiten, in denen sich die Ereignisse drängen und der tatsächliche oder vermeintliche Fortschritt die Zeitgenossen überfordert, scheinen für eine Rückwendung zur Vergangenheit anfälliger zu sein als Zeiten des Stillstandes, in denen der Bezug aufTraditionen alltäglich wird. Damit stellt sich auch die Frage, ob sich der Topos ›historia magistra vitae ‹ mit dem Ausbruch der Französischen Revolution wirklich überholt hatte, wie Koselleck 192 Vgl. zu dem sozialpsychologischen Phänomen des Kollektiven Gedächtnisses ‹ Halbwachs, insbesondere S. 70.

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meint, oder ob erst in Zeiten der Beschleunigung, in denen die Gegenwart immer weniger aus der Vergangenheit heraus zu erklären war und die Zukunft im Dunkeln blieb, die Berufung auf eine nationale Geschichte nicht wieder neue Bedeutung erfuhr, nämlich als Wegweiser in eine gestaltbare Zukunft. Damit würde der in einer revolutionär bewegten Zeit drohende Verlust von Erfahrung insofern einen Erwartungsgewinn verbürgen, als er vorgebliche nationale Erinnerungen und uneingelöst gebliebene Hoffnungen der Vergangenheit reaktivierte und in die angestrebte neue Epoche hineintrug. Die als haltlos eingestufte Gegenwart konnte so zum Ort von Traditionsfortsetzung und Innovation zugleich werden. Die Problemvielfalt einer krisenhaften Jetzt-Zeit und unabsehbaren Zukunft sollte kanalisiert und lösbar werden durch den Rückgriff auf Erwartungen einer vergangenen und unerfüllt gebliebenen Zukunft. 193 Hiermit scheint sich zu bestätigen, daß erst die weitere Entwicklung der Französischen Revolution, also der napoleonische Revolutionsexport, die eingeleiteten und angestrebten Reformwerke sowie insbesondere das Wechselspiel der drei Zeithorizonte im aufkommenden Nationalismus einem modernen Zeitbewußtsein zum Durchbruch verhalfen. Erst jetzt wurden Möglichkeiten gesehen, in einem beschleunigten und permanenten Revolutionsprozeß einen Epochenbruch auf eine neue Zeit hin zu gestalten und somit dem geschichtlichen Subjekt zur Erfahrung seiner Selbstermächtigung zu verhelfen.

193 Vgl. zum Gedanken einer Vergangenheit, deren unerfüllte Erwartungen von einer zukunftsorientierten Gegenwart einzulösen seien, um so zu einer anamnetischen Wiedergutmachtung erduldeten Unrechts zu gelangen, Benjamin, Bd. I,2, S. 691-703.

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ZWEITER TEIL

Die Zeit des Vormärz »Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde. Ein Augenzeuge, der seine Divination vielleicht dem Reim verdankt hat, schrieb damals: Qui le croirait! on dit qu'irrités contre l'heure De nouveaux Josués, au pied de chaque tours, Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.«1 Den Zeitraum von 1815 bis 1848 als eine einheitliche Epoche zu betrachten, hat sich in der Forschung durchgesetzt, auch wenn fundamentale Veränderungen schon vor 1815 eingetreten waren und in einen langfristigen Transformationsprozeß eingeordnet werden müssen. 2 Einschneidend wirkte für Deutschland »vor allem der Versuch der europäischen Mächte, die Zeit der großen politischen Umwälzungen abzuschließen, indem sie das Prinzip der Revolution als Legitimationsbasis für politische Herrschaft verwarfen zugunsten des Prinzips monarchisch-dynastischer Legitimität«.3 Die konservative Politik des Deutschen Bundes restaurierte keine älteren territorialen, sozialen und politischen Verhältnisse, sondern wollte die neuen Zustände zementieren, gleichzeitig die Dynamik der Reformen einschränken und die Verfassungs- und Sozialbewegungen eingrenzen, was nach 1819 auch zunehmend gelang. Diese Abwehr einer bürgerlichen Gesellschaft favorisierte eine organische Entwicklung, nicht einen Bruch. Das »System Metternich« versprach zwar Stabilität und kam nach Jahrzehnten des Umbruchs dem allgemeinen Ruhebedürfnis

1 Benjamin, Bd. I,1, S. 702.

2 Vgl. Langewiesche, Europa, besonders S. 2 f.; Ulimann u. Zimmermann. 3 Langewiesche, Europa, S. 3.

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entgegen, offerierte dagegen aber keine Lösungen für die anstehenden innenund nationalpolitischen Strukturprobleme. Dieser politischen Blockade von oben standen dynamische gesellschaftliche Entwicklungen entgegen, die in den Einzelstaaten ein wachsendes Reformverlangen entstehen ließen. Auch wenn durch die Wiener Schlußakte das monarchische Prinzip für alle deutschen Staaten festgeschrieben wurde, konnten doch auf verschiedenen Handlungsfeldern Reformen fortgesetzt und neue initiiert werden, sich eine eingeschränkte und oftmals gegängelte politische Öffentlichkeit am Leben erhalten und in den politischen Entscheidungsprozessen zur Geltung kommen. 4 Obwohl sich unter dem Druck der repressiven Bundespolitik die liberalen Verfassungshoffnungen zumeist auf die landespolitische Ebene verlagerten, kam trotz dieses »Partikularpatriotismus« 5 die nationale Bewegung auch nach 1819 nicht völlig zum Erliegen, als sie im Deutschen Bund ihre politische Perspektive verloren hatte. Der organisierte gesellschaftliche Nationalismus äußerte sich insbesondere im Südwesten vor allem in Männergesangsvereinen und dem deutschen Philhellenismus, unterstützt durch Entwicklungsfaktoren wie die Erweiterung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kommunikationsmöglichkeiten. 6 Als die einzelstaatlichen Reformen zunehmend versandeten, traten stabilitätsorientierter Staat und in Bewegung geratene Gesellschaft weiter auseinander und entfremdeten sich. 7 Die Ambivalenz zwischen Beharrung und Dynamik sollte schließlich das Kennzeichen einer Epoche der Bewegung und des Übergangs werden. 8 Dies schlug sich insbesondere in revolutionären Momenten, als Bewegung in das politische Leben Deutschlands kam, auf die jeweiligen Zeiterfahrungen nieder.

4 Vgl. hierzu die entsprechenden Aufsätze auch für Preußen in: Ullmann u. Zimmermann. 5 Faber, Restauration, S. 156. 6 Vgl. Düding; Hauser. 7 Dies ist die zentrale und umstrittene These von Koselleck, Preußen, die jüngst wieder differenziert wurde in: Ulimann u. Zimmermann. 8 Vgl. Koselleck, Staat und Gesellschaft, S. 109.

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V Z ä s u r u n d Kontinuität: revolutionärer Wiedereinstieg in einen Fortschrittsprozeß Die unerwartet ausgebrochene französische Julirevolution von 1830 löste eine revolutionäre Kettenreaktion in Europa aus, auch wenn diese sich nicht in der dichten Vernetzung zeigte wie 1848.1 Die Ereignisse in Paris wurden zum Auslöser für Unruhen in zehn weiteren Staaten und führten auch in England zu politischen und sozialen Unruhen. Die europaweite Krise ließ den Gedanken der Totalumwälzung von 1789 wieder stärker in die Erinnerung rücken; Hoffnungen auf eine konstitutionelle Monarchie und Furcht vor neuen Revolutionskriegen bestimmten die Atmosphäre in Europa.2 Die restaurative Stabilitätspolitik erwies sich als brüchig. Eine neue politische Generation war geprägt von den Versprechungen des napoleonischen Zeitalters und der Befreiungskriege, die Französische Revolution geriet für sie zur Geschichte, deren Ideen es unter dem Schlagwort der Emanzipation nun zu verwirklichen galt.3 Spontane und lokal verankerte soziale Proteste legten 1830 revolutionäre Sprengkräfte frei, die vom liberalen Bürgertum zu einer effektiven Oppositionsbewegung kanalisiert wurden, um Reformforderungen Nachdruck zu verleihen. So ließen sich Herrschaftsordnungen reformieren und zugleich stabilisieren, die sozialen Spannungen blieben aber weiterhin virulent. Auch in Deutschland wurde das Jahr 1830 als Ende des innenpolitischen Stillstandes empfunden. Statt von staatlicher Seite gingen nun die Anstöße zu Veränderungen von den gesellschaftlichen Kräfte aus. Die aufgezwungene Lethargie brach insbesondere in den reformarmen nord- und mitteldeutschen Staaten auf, die damit Anschluß an den süddeutschen Frühkonstitutionalismus bekamen. 4 Aber auch Süddeutschland konnte sich der revolutionären Stimmung nicht entziehen. Die liberale Opposition kehrte zahlreich in die Landtage zurück und eröffnete große parlamentarische Debatten. Der badische Reformlandtag und das von ihm verabschiedete liberale Pressegesetz galten als Vorbild für eine weitreichende konstitutionelle Monarchie: »Die Julirevolution hat die konstitutionellen Zustände von ihrer bürokratisch-monarchischen Bevormundung entbunden und dadurch eine neue, vorher unbekannte Beweglichkeit geschaffen.«5 Die Ausweitung der Publizistik, die politische Differenzie1 Vgl. Bergeron u. ct., S. 266; vgl. für das revolutionäre Europa von 1830 vor allem die Darstellung von Church. 2 Vgl. Th. Schieder, Problem der Revolution, S. 236 f. 3 Vgl. Bergeron u. a., S. 296 f. 4 Vgl. im einzelnen Botzenhart, Reform, S. 110 ff. 5 H. Brandt, Julirevolution, S. 227; vgl. zur Publizistik in Baden Deuchert; Müller.

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rung der Zeitungen und Zeitschriften sowie die vielen politischen Feste und Wahlkämpfe führten zu einer allgemeinen Politisierung, die ihren Höhepunkt in der Gründung des »Deutschen Preß- und Vaterlandsvereins« und in den Feiern um das Hambacher Fest fand.6 Als Kulminationspunkte der Einheitsund Freiheitsbestrebungen zwischen 1815 und 1847 waren diese Ereignisse Ausdruck einer breiten Oppositionsbewegung, die an die Öffentlichkeit trat. Die ›Partei der Bewegung‹ spaltete sich während dieser Ereignisse zusehends in Liberale und Demokraten. Die Welle von Revolutionen ging in Europa mit Versuchen einher, Nationalstaaten zu gründen. So brach auch in Deutschland die »Resignationskruste« der nationalpolitischen Bewegung auf7 Obwohl diese Oppositionsbewegung ein gesamtdeutsches Phänomen mit nationalpolitischen Organisationen und überregionalen Versammlungen war, gelang ihr nicht der Durchbruch zu einer nationalen Massenbewegung, verblieben ihre Aktionen in den Grenzen der Einzelstaaten und erfaßten nicht Preußen und Österreich. Da sich die Einzelstaaten als unfähig zur Nationalstaatsbildung erwiesen, verstärkte sich insbesondere aufdemokratischer Seite die Forderung nach einem Nationalparlament. Um das Hambacher Fest konstituierte sich eine neue Richtung, die sich vom Liberalismus um Rotteck unterschied und von einer jüngeren Generation getragen wurde.8 Nicht mehr allein der Einzelstaat war Basis für die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, bürgerlichen Freiheiten oder Parlamenten, sondern demokratische Strömungen beriefen sich wieder positiv auf die Französische Revolution als eine antiabsolutistische und nationale Volksrevolution und forderten einen modernen und tendenziell schon republikanischen Nationalstaat mit Volkssouveränität. 1. Aktualisierung der konservativen Tradition: Antwort auf die revolutionäre Latenz Für das konservative Lager stellte die Julirevolution eine deutliche Zäsur dar. BegrifFsgeschichtlich gesehen, gewann erstjetzt der Ausdruck ›konservativ‹ sein politisches Profil, als sich auch in Deutschland das politische Klima zu verändern begann, eigene Positionen definiert und gegnerische diffamiert werden mußten.9 Es wurde deutlich, daß die mit der Französischen Revolution und Napoleon hervorgetretenen demokratischen Tendenzen und sozialen Bewegungskräfte nicht überwunden worden waren und die politische Entwicklung 6 Vgl. Foerster, Hambacher Fest; dies., Preß- und Vaterlandsverein; W. Schieder, Hambacher Fest, S. 3-20; Traute, S. 14-52; noch immer lesenswert Valentin, Hambacher Nationalfest. 7 H. Schulze, S. 77; im folgenden v g l Dann, Nation und Nationalismus, S. 97 ff. 8 Auf den generationenspezifischen Unterschied macht aufmerksam Cervelli, S. 312-340. 9 Vgl. Vierhaus, Konservativismus, S. 536 ff.

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sich nicht aufhalten ließ. Gerade diese Dynamik machte eine Parteinahme in der sich zunehmend politisierenden Öffentlichkeit unumgänglich: »Mit der Einsicht, daß die soziale und politische Wirklichkeit in einem nicht aufzuhaltenden Wandel begriffen war, stellte sich die Frage nach dem Maß notwendiger, erwünschter oder zulässiger Veränderung oder Bewahrung.« 10 Im »Politischen Journal«, dessen Bedeutung als aggressives Sprachrohr einer konservativen Haltung nach 1815 abgenommen hatte, wird 1830 in einem Artikel über den »Ausbruch der zweiten Französischen Revolution« eine direkte Kontinuitätslinie zu 1789 gezogen. Nun sei wieder »eine der großen welthistorischen Epochen [ausgebrochen], deren nicht zu berechnenden Folgen eine Reihe von Jahren hindurch den wichtigsten Stoff der Weltgeschichte ausmachen werden«. 11 In einem Aufsatz über »Die Juliustage 1789 und 1830« befürchtet der Autor einen Wiedereintritt in den Revolutionskreislauf, der gerade erst mit der Restaurationsära zu Ende gegangen sei: »Nach einem Zeitraum von 41 Jahren, nachdem die Französische Revolution, die mit der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 ihren blutigen Anfang nahm, ihren für die ganze Welt so folgenreichen Kampf vollendet zu haben schien, erhob sich gerade wieder in dem verhängnisvollen Julimonat dieses Jahres ihre die allgemeine Ruhe bedrohende Gestalt.«12 Die Furcht vor einer Neuauflage der europäischen Revolutionskriege klingt in diesem Artikel bereits an, und ein Jahr darauf wird auch in der »Historischpolitischen Uebersicht des Jahres 1830« deutlich darauf hingewiesen, daß jede andere Revolution in Europa in ihrer europäischen Wirkung unbedeutend gewesen sei, nur »Frankreichs Staatsumwälzung hatte eine universelle Europäische Einwirkung«. 13 Der Bogen in die Vergangenheit wird schließlich noch weiter gespannt, wenn an die »Crisis am Ende des 15. Jahrhunderts und am Beginn des 16. Jahrhunderts« erinnert wird: »Auch damals drängten sich Ereignisse [wie die der Entdeckungen und der Reformation] zusammen, deren welthistorische Wichtigkeit wir erst jetzt recht zu erkennen vermögen.« 14 Die Revolutionen von 1830 werden in ein weltgeschichtliches Kontinuum eingebettet, das die Gegenwart erklärlich erscheinen läßt, in der aber das jeweilige revolutionäre Ereignis auch eine überdimensionale Bedeutung erfährt, da sich in einem Moment mehrere Epochen drängen: »So neu die Belgische Revolution noch ist, so hat ihre Geschichte doch bereits eine solche Menge von Epochen, daß es scheint, als habe eine Reihe von Jahren darüber vergehen müssen.«15 Die Epochenverdichtung in den Revolutionen von 1830 hatte also ihre 10 11 12 13 14 15

Ebd., S. 542. Politisches Journal, 1830, Bd. 2, S. 689. Ebd., S. 738. Ebd., 1831, Bd. 1, S. 25. Ebd., S. 4. Ebd., S. 494. 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Parallelen in der Vergangenheit, bekam damit aber für die Gegenwart auch eine herausragende Stellung. Zu einem publizistischen Ereignis wurde 1831 das Erscheinen des »Berliner Politischen Wochenblatts«. Gegründet als Antwort auf die revolutionäre Herausforderung , blieb es für die kommenden Jahre das führende Organ der preußischen Konservativen vom legitimistisch-neuständischen Flügel. 16 Zunächst getragen von konservativen Katholiken wie Joseph Maria von Radowitz und Karl Ernst Jarcke, sollte die wöchentlich erscheinende Zeitung gruppenbildend wirken und ließ schon erste Tendenzen einer konservativen Partei erkennen. 17 Ihre Aufgabe sieht sie in der Bekämpfungjeder Art von Revolution, ohne dabei Auslöser einer ›contrerévolution ‹ sein zu wollen, wie das de Maistre entlehnte Motto auf der Titelseite jeder Ausgabe bezeugen sollte: »Nous ne voulons pas la contrerévolution, mais le contraire de la revolution«. Anders als im »Politischen Journal« trifft hier bei denjenigen Vertretern des Konservativismus, welche die publizistische Debatte seit 1830 dominieren sollten, eine eindimensionale Einordnung der Ereignisse um 1830 in die revolutionär bewegte Vergangenheit auf Vorbehalte. Der österreichische Reformkonservative Radowitz, ein »katholischer Neupreuße«, 18 charakterisiert 1837 in einem Aufsatz unter dem Titel »Sonst und jetzt« die Gegenwart als revolutionär und unterschied die Revolution 1830 dennoch von der 1789. In der ersten französischen Revolution habe »die consequentere Partei jederzeit die minder consequente überwältigt, daß diejenigen, welche aus den gemeinsamen Prinzipien weitere Folgerungen abzuleiten wußten, eben dadurch ein unzweifelhaftes Uebergewicht über alle erlangen, welche auf halbem Wege stehen zu bleiben trachteten.... Man vergleiche die Aussicht, welche nach gelungener Juli-Revolution die Zukunft von Europa darbot, mit dem gegenwärtigen Zustand dieses Welttheils. Nach den Analogien der Vergangenheit mußte Jeder geneigt seyn, in allen Ländern, bis zu welchen sich die Erschütterungen der Pariser Umwälzungen erstreckten, eine Wiederholung des früher Erlebten zu erwarten; statt dessen ist das Entgegengesetzte geschehen. Ueberall hat die inconsequente Revolution die consequente besiegt - und, mindestens für den Moment, einen Zustand fixiert, den man nach den Erfahrungen früherer Zeiten und den hierausabgeleiteten Vernunftschlüssen für unmöglich erklärt haben würde.«19 Hinter diesem Schwebezustand einer »inconsequenten« Revolution stehe das »juste Milieu«, gerade um einer »consequenten«, sprich: sozialen Revolution vorzubeugen, welche die Eigentumsfrage in den Vordergrund stellen würde. In der politischen Revolution gegen die alte Ordnung vereint, müßten bei der 16 Vgl. zu dieser Variante des Konservativismus Wehler, Bd. 2, S. 449 f. 17 Vgl. auch im folgenden W. Scheel, S. 30. 18 Wehler, Bd. 2, S. 454. 19 Dieser Aufsatz ist identisch mit »Das juste Milieu«, in: Radowitz, Ges. Schriften, Bd. 4, S. 24-34, hier 25. In dieser Ausgabe wurde der Artikel fälschlicherweise auf das Jahr 1830 statt 1837 datiert (vgl. W. Scheel, S. 189, Anm. 424). 152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Erörterung sozialer Fragen die Gegensätze zwischen neu Privilegierten und Proletariern ausbrechen und zum zweiten Teil der Revolution überleiten: »Der letzte Damm gegen das Überfluten der Strömung würde hiermit gebrochen sein und die Eigentumsfrage an die Stelle der politischen treten.«20 Eine soziale Revolution wäre dann eine konsequente, ähnlich wie sie auch Frankreich 1789 erlebt habe, nur mit dem Unterschied, daß in der konsequenten Französischen Revolution Bürgertum und Unterschichten noch gemeinsam gekämpft und nicht wie jetzt verschiedene Ziele verfolgt hätten. Auch wenn Radowitz also eine Analogie zwischen 1830 und 1789 für die vorherrschende politische Lage als unangemessen ablehnt und demjuste Milieu keine weitergehenden revolutionären Bestrebungen mehr unterstellt, da es seine Ziele erreicht hätte, scheint der Umschlag der Revolution in eine konsequente und soziale als Bedrohung seit 1830 präsent zu sein. Zwar glaubt Radowitz, die inkonsequente Revolution der Bourgeoisie sei stabil geworden, was 1830 noch kaum einer aus dem Kreis des »Wochenblatts« erwartet hatte; doch bleibe dieser Zustand weiterhin transitorischer Art, da permanent durch eine soziale Revolution gefährdet. Begriffsgeschichtlich ist herausgearbeitet worden, daß sich schon bald nach der Julirevolution von 1830 der Revolutionsbegriff in Deutschland auszudifferenzieren begann, insbesondere in eine politische und eine soziale Revolution.21 Gerade die relativ schnelle Kanalisierung und Institutionalisierung der europäischen Revolutionen, die in Belgien und Frankreich zum Stillstand gekommen schienen, aber einen Großteil der Bevölkerung vom politischen Leben weiterhin ausschlossen und virulente soziale Fragen unberücksichtigt ließen, gerade ihre Legalisierung erscheint Konservativen wie Radowitz unglaubwürdig: »Soll wirklich das altmonarchische Princip in Europa aufrecht gehalten werden, erachten sich die Regierungen verpflichtet oder wenigstens berechtigt jede Veränderung hierin abzuwehren, so dürfen sie nie geschehen lassen, daß eine gelungene Revolution eben hierdurch legalisiert wird, und daß eine hieraus hervorgegangene Regierung in die Reihen der anderen eintritt. Die Revolution kann und wird nicht auf halbem Weg stehen bleiben, sondern früh oder spät erst in Frankreich ihre vollen Consequenzen entwickeln, dann in den übrigen Staaten. Man nehme ihre Forderungen freiwillig an, oder man bekämpfe sie! Eins von Beiden!«22 Die politische Revolution könne sich also nicht mit sich selber begnügen, sondern müsse ihre sozialen und radikalen Konsequenzen verwirklichen, wenn ihr nicht von Anfang an kompromißlos entgegengearbeitet werde. In einem Artikel »Zur Theorie der Revolution« im »Berliner Politischen Wochenblatt« wird ebenfalls die Unterscheidung von politischer und sozialer 20 Ebd., S. 34. 21 Vgl. Koselleck, Revolution, Rebellion, S. 766ff.;ders., Vergangene Zukunft, S. 79 f. 22 Radowitz, Ges. Schriften, Bd. 4, S. 43. 153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Revolution betont. Revolution sei die Umwälzung eines rechtlichen Zustandes; politisch werde sie bei einer Umwälzung der Staatsverhältnisse, sozial bei der Umwandlung der »gegenseitigen Rechte und Pflichten der verschiedenen Classen der Gesellschaft« und bei der Formulierung einer neuen Theorie des Gemeinwohls. Seien früher Revolutionen rein politisch gewesen, gehörten seit 1789 politische und soziale Revolution zusammen. Die politisch-soziale Revolution von 1789 habe gezeigt, daß eine politische Revolution nur eine Übergangsphase sein könne. 23 Ein weiterer Artikel furchtet die »eigentliche Gefahr und Bedeutung der Revolutionen« dann, »wenn alle innern und äußern Bande sich zur gleichen Zeit lösen und die allgemeine Freiheit‹ zur rohen Willkür des Haufens wird, der nur die Herrschaft des Moments und dessen Bedürfnis anerkennt. - Dann erst zeiht die Revolution ihre letzten Konsequenzen«. Diese wollten auch diejenigen nicht, die jetzt noch Unruhe schürten, da die Revolution dann unbeherrschbar würde. 24 Es war also nicht mehr möglich, in Revolutionen nur noch eine verfassungsrechtlich-politische Umwälzung zu sehen, die sich willkürlich beenden ließ, sondern diese implizierte immer zugleich eine Totalveränderung aller gesellschaftlichen Bindungen. So wie die konservativen Strömungen schon in den neunziger Jahren die Französische Revolution in ihrer Gesamtheit einschließlich aller Radikalisierungen betrachteten, nahmen sie auch die Julirevolutionen mit ihrer sozialen Dynamik nur als eine einzige destruktive Bewegung wahr; diese war quasi jeder Revolution inhärent, auch wenn sie sich schon bald institutionalisiert hatte wie in Frankreich, Belgien und einigen Teilen Deutschlands. Leopold von Ranke konstatiert in einem Artikel »Über die Restauration in Frankreich« die Ubiquität von Revolutionen unabhängig von den jeweiligen Staatsformen, denn diese würden immer wieder ihr Gegenteil gewaltsam produzieren: »Die Revolution, die schon so oft geendigt zu seyn behauptet hat, niemals scheint sie endigen zu wollen. Immer in neuen und zwar immer in entgegengesetzten Gestalten tritt sie auf. Aus der Republik verwandelt sie sich in den militärischen Despotismus; sie unterwarf sich wieder den legitimierten Fürsten; sie hat dieselben neuerdings verjagt: und Niemand, der sie seitdem beobachtet hat, wird sich überreden, daß sie damit zur Ruhe gekommen sey.«25 Im »Politischen Journal« fragt sich 1832 ein Zeitgenosse, wo noch ein Haltepunkt zu finden sei, wenn »das Leben seinen moralischen Schwerpunkt verloren« habe und die Gegenwart als »ungeheure Lüge« entlarvt werde: »In den Zuständen etwa? sie sind beinahe ein halbes Jahrhundert im Wechsel! Oder in den Meinungen? Sie wechselten noch früher und behender!« 26 Es sei nicht 23 24 25 26

Berliner Politisches Wochenblatt, außerordentliche Beilage vom 3.3.1832, S. 58 f. Ebd. Nr. 23 vom 9.6.1832, S. 151. Historisch-Politische Zeitschrift, 1832, S. 9. Politisches Journal, 1832, Bd. 2, S. 725.

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richtig, bemerkt Franz von Baader 1832, von einer ersten und einer zweiten französischen Revolution zu sprechen, »ohne indessen zu bedenken, dass diese Revolution die Zeit der sogenannten Restauration über nie aufgehört hat«.27 Die Entwicklung in Frankreich habe gezeigt, so im »Berliner Politischen Wochenblatt«, daß die Revolution ihre eigenen Kinder verzehre und nur zu weiteren Unruhen oder zur Reaktion führen könne. 28 Für den altständischen Konservativen Karl Ludwig von Haller präsentiert sich 1834 der Zeitgeist schließlich nur noch in der Destruktion, denn der Geist der Zerstörung »kann seine eigenen Schöpfungen nicht leiden, oder vielmehr es ist ihm, seiner Natur nach, das Schaffen und Erhalten auf ewig versagt«.29 So boten also die Revolutionen von 1830 die Möglichkeit, wieder an den Permanenz- und Beschleunigungscharakter der Entwicklung nach 1789 anzuschließen, denn der politisch-konstitutionellen Revolution wurde immer nur eine Vorläufigkeit unterstellt, sie überholte sich ständig selber in ihren sozialen und destruktiven Konsequenzen. Deshalb konnte diese Ausdifferenzierung des Revolutionsbegriffs, der die Französische Revolution von 1789 und insbesondere die Terreur als Muster zur Verfügung standen, jede Art von revolutionärer Veränderung denunzieren. Die Erhebungen nach der Julirevolution in Paris und Lyon sowie die unruhige Situation in Deutschland bis zum Hambacher Fest schienen den Befürchtungen einer sozialen Revolution neue Nahrung zu geben. 30 Die zerstörerischen Bewegungskräfte rückten ins Zentrum der Beobachtung, sie nahmen ›Zeit ‹ wieder aus dem Verfügungsraum des Menschen. Jede Revolution lasse sich, so das »Berliner Politische Wochenblatt« 1831, von Menschen Hand weder in ihrer Entwicklung beschleunigen noch für permanent erklären, sondern das »unfreiwillige Fortschreiten ist die Signatur der ersten Revolution gewesen, es ist auch der Charakter der jetzigen und wird der Verlauf jeder künftigen Umwälzung seyn; denn in jeder geschichtlichen Begebenheit liegt, unabhängig von dem Willen und den Leidenschaften des Menschen, eine geheime, innere Kraft, die sich zur Entfaltung aller Consequenzen treibt, welche ihr Princip, wenn auch dem Auge der Menge verborgen, in sich beschließt.«31

27 Baader, Bd. 6, S. 57, Fußnote. 28 Vgl. Berliner Politisches Wochenblatt, Nr. 9 vom 2.3.1833, S. 57; vgl. zur Furcht vor Revolutionskriegen nach 1830 Politisches Journal, 1832, Bd. 2, S. 1145 f. 29 Hauern. 114. 30 Vgl. dazu z. B. Gentz: »Nein! Wenn wir uns heute irgendeiner Besorgnis preisgeben wollen, so wäre es weit weniger der eines politischen als eines gesetlschafilichen Krieges. Die Möglichkeiten eines Aufstandes der unteren Volksklassen gegen die höheren, der Armen gegen die Reichen, das ist die Gefahr, die über uns schwebt, für welche der moralische und materielle Zustand der Gesellschaft in fast allen Ländern den Keim in sich trägt und wovon wir schon einige erschreckende Beispiele erlebt haben.« (in: H. Brandt, Restauration, S. 227). 31 Berliner Politisches Wochenblatt, Nr. 5 vom 5.11.1831, S. 17.

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Drohe einer Revolution die Stagnation, dann befinde sie sich schon auf dem Rückzug: »Jeder Stillstand, jedes zweifelhafte unentschiedene Zaudern, jedes scheue Zurücktreten, jede Mattigkeit und Halbheit muß unter diesen Umständen schon als eine Niederlage angesehen werden«. 32 ›Revolution ‹ wird also mit einem Fortschritt verbunden, der aber so unaufhaltsam und unkontrollierbar schnell ist, daß er in die Destruktion fuhren muß. Wie Baader den Menschen durch die Konstitution der Gesellschaft geprägt sieht, so meint er auch, »dass beim Umsturz und der Auflösung dieser Constitutionen oder Institute, d. i. bei Revolutionen, die Menschen ungleich weniger selbst und frei wirken, als sie meinen, und bei all ihrer Geschäftigkeit meist doch nicht wissen, was sie thun«.33 Bleibt die Entwicklung in revolutionären Krisenzeiten dem menschlichen Wissen und Handeln entzogen, dann versinkt auch die Zukunft im U n gewissen. Man dürfe, so Radowitz 1830, nicht darauf zählen, »daß bei bevorstehenden politischen Crisen diejenigen Personen, welche zunächst dabei betheiligt sind, irgend weiter in die Zukunft blicken als die allerunwissendsten und gleichgültigsten Menschen«. 34 Anstatt in eine undurchdringliche Zukunft blickten Vertreter des konservativen Spektrums in die Vergangenheit, in der sie als Pendant zur Revolution den Absolutismus identifizierten. Görres sieht 1831 den Kampf von Absolutismus und Revolution um die Macht schon seit dem Mittelalter wirken. In ihrer wechselseitigen Bedingtheit und in ihrem gewaltsamen Gegeneinander würden sie sich immer wieder zerstörerisch provozieren, wie beispielsweise der Wechsel von der Französischen Revolution zum napoleonischen Absolutismus gezeigt habe.35 Im »Berliner Politischen Wochenblatt« steht diese Parallelisierung von Revolution und Absolutismus im Mittelpunkt der Diskussion. 36 Auch hier wird die notwendige Entwicklung einer Revolution über die Terreur zu einer »Militärdespotie Napoleons als die Rückkehr zur natürlichen Ordnung der Dinge« beschrieben, ein sich permanent wiederholender Prozeß, der letztlich nichts erreicht habe, da alle Ideale der Revolution verraten worden wären. 37 Die Revolution schien sich also wieder nur im Kreise zu drehen, entwickelte sich zirkelhaft und regressiv, wie dies schon in den neunziger Jahren in den Äußerungen der Konservativen und Liberalen verzeichnet werden konnte. Revolution und Absolutismus bzw. Despotismus wurden jetzt aber nicht mehr nur als zwei sprunghaft aufeinanderfolgende Stufen in einem Geschichtspro32 Ebd., erstes Probeblatt vom 8.10.1831, S. 2. 33 Baader, Bd. 6, S. 310. 34 Radowitz, Ges. Schriften, Bd. 4, S. 34. 35 Vgl. Görres, Politische Schriften, Bd. 5, S. 453 ff. 36 Vgl. Kondylis, Konservativismus, S. 210 ff.; W. Scheel, insbesondere S. 65 ff. In Scheels Arbeit hat die Analyse des Verhältnisses von Absolutismus und Revolution eine Schlüsselstellung. Deshalb mag es genügen, im folgenden nur auf einige für unser Thema relevante Punkte einzugehen. 37 Vgl. dazu die Einzelheiten und Quellenbelege bei W. Scheel, S. 84 f.

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zeß dargestellt, sondern galten in wichtigen Punkten als wesensgleich. 38 Zentral ist hier ein über mehrere Wochen fortgesetzter Aufsatz von Jarcke aus dem Jahr 1833, überschrieben »Revolution und Absolutismus«. 39 Nach mehreren Jahren des unruhigen und verwirrenden Parteitreibens sei nun zwar nicht ein Moment der Ruhe, aber der Erschöpfung eingetreten, der zur Aufklärung über Revolution und Absolutismus genutzt werden müsse: »Absolutismus und Revolution sind, aus einem höheren Standpunkt betrachtet, identhch; sie sind beide eine Negation wirklicher und bestehender Rechte, um einen andern durch die Theorie gefundenen Zustand in deren Stelle zu setzen. Das Grundübel unserer Zeit ist aber dieser oben und unten verbreitete, und fast totale Mangel an Achtung und Ehrfurcht vor dem Rechte.«

Die Atomisierung der Gesellschaft und die »schrankenlose Befugniß der centralisirten Staatsgewalt«, also die Ausschaltung der Zwischengewalten und die Negierung bestehender Rechte, ließen die absolutistische Herrschaftsform näher an den revolutionären Umgestaltungsprozeß rücken. Die »Signatur der Revolution« sei der Kampf »um die absolute Gewalt«, die Begründung einer absoluten Staatsgewalt im Volkswillen. Revolution und Absolutismus könnten sich wie in einem »circulus vitiosus« wechselweise nicht entgehen. 40 Beide lösten sich immer wieder ab, da sie letztlich die gleichen Ziele (totale Herrschaft) und gleichen Mittel (Zentralismus und Ausschaltung der ständischen Rechte) vertraten, also einen Wechsel darstellten, der sich immer nur selbst reproduzierte. Die Revolutionen von 1789 und 1830 bedeuteten keinen Traditionsbruch mehr, sondern eine Einordnung in einen geschichtlich notwendigen Wechselprozeß von Revolution und absolutistischen Herrschaftsformen. Wie könne man nun dieser Reproduktion des Immergleichen entgehen, fragt Jarcke. Die reine Abwehr beider Extreme sei als einfache Negation nicht hinreichend in einer Phase, in welcher »der Sturm der Zeit in unserm Welttheil größten Theils das echte und alte Positive zerstört« habe. Deshalb insistiert Jarcke nachdrücklich: »Täuschen wir uns nicht! - Es handelt sich nicht bloß mehr um das Bewahren oder um das Verneinen der Zerstörung, sondern um Wiedererbauung dessen was zerstört ist, um Ergänzung und Ausbau der Ruinen, damit sie, ein neues kräftiges Werk, noch ein Jahrtausend, wenn es Gott gefällt, der Zeit trotzen. Das ist die große Aufgabe unserer Epoche, die eine Tag- und Nachtgleiche ist in der Weltgeschichte, und wie diese von ihren 38 Zur Kontinuität des Absolutismus in der Revolution und zu den strukturellen Ähnlichkeiten beider vgl. Kondylis, Konservativismus, S. 215: »Die Überzeugung von der historischen und strukturellen Verwandtschaft, ja Identität von Absolutismus und Revolution war unter den Konservativen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gang und gäbe«. 39 Der Aufsatz ist leichter zugänglich und handhabbar als separater Druck in:Jarcke, Revolution, 40 Ebd., S. 3, 8, 10.

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Stürmen begleitet. ...jetzt handelt es sich darum: ob ein neues Positives sich aus den gesunden Resten und den ursprünglichen Bestandteilen der Vergangenheit krystalisieren, oder ob unser Geschlecht, wenigstens in diesem Welttheil, in der Verwesung untergehen wird?« 41

Doch dieses »neue Positive« als Gegenbild zu Revolution und Absolutismus wird in präabsolutistischer Zeit angesiedelt. Es ist ein Rückgriff auf eine Ständeherrschaft, mit Hilfe deren den zerstörerischen Zeitläuften begegnet und Geschichte wieder verfügbar gemacht werden soll. Jede Amalgamierung dieser Ständeherrschaft mit Prinzipien eines Repräsentativsystem, wie es die französische Charte von 1814 und der Artikel 13 der Bundesverfassung durch ein Zusammenwirken von Revolution und Absolutismus angestrebt hätten, solle vermieden werden. 42 Die Möglichkeit, seiner Zeit wieder Herr zu werden, verblieb in rückwärtsgewandten Vorstellungen und vermochte keine neue Zukunft zu eröffnen, sondern allenfalls aus dem Circulus vitiosus von Absolutismus und Revolution regressiv auszubrechen. 43 Die Revolutionsbewegung begann sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1832 zu erschöpfen, als die Bundesbehörden massiv auf das Hambacher Fest und seine Folgen reagierten. Dies wurde auch von der konservativen Presse erkannt und begrüßt. So bemerkt 1833 ein Zeitgenosse im »Politischen Journal«, daß »im reißenden Strome der neuern Geschichte die Begebenheiten seit der Julirevolution 1830 als Springfluth« erschienen wären, der nun aber »wahrlich schnell genug eine verhältnißmäßig tiefe Ebbe gefolgt« sei, da sich die Revolutionsbewegung überstürzt habe und so in einem Rückschritt münden müsse. 44 Auch das »Berliner Politische Wochenblatt« gesteht zu, daß aus Furcht vor einer noch schlimmeren Entwicklung »im Großen und Allgemeinen allerdings eine gewisse Ruhe, ein Stillstand auf der Bahn der Auflösung und Zerstörung eingetreten« sei, auch wenn die Zukunft für Europa aufgrund der fortbestehenden Parteigegensätze unruhig bleiben werde. 45 Und vier Jahre später konstatiert dasselbe Blatt das »allmähliche Erlöschen der Revolution«, die ihre »ursprüngliche Kraft« verloren habe, aber weiterhin virulent bleibe. 46 Die drängende Revolutionsbewegung, die an 1789 erinnern ließ, verlangsamte sich also, ohne daß man ihr gänzlich entkommen konnte, wie die unruhige Entwicklung der kom41 Ebd., S. 12 f. 42 Vgl. ebd., S. 17 ff. 43 Vgl. auch Jarcke, Verfassung. Dort warnt er vor jeglicher Verwechslung landständischer Verfassungen mit Repräsentativsystemen und vertritt die Überzeugung, »daß es wenigstens in jedem Falle Pflicht sey, da Stillestehen nicht möglich, das Ziel der Bewegung zu ändern und dahin zu trachten, daß das, was durch eine irregeleitete Thätigkeit im Sinne des falschen Systems geschehen, durch eine entgegengesetzte folgerechte Wirksamkeit im Sinne des Rechts und der wahrhaften Ordnung wieder gut gemacht werde« (S. V). 44 Politisches Journal, 1833, Bd. 1, S. 3 f. 45 Berliner Politisches Wochenblatt, Nr. 30 vom 27.3.1833, S. 183. 46 Ebd., Nr. 37 vom 16.9.1837, S. 214.

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menden Jahre in Deutschland zeigte. Jedenfalls schien diese Phase der relativen Ruhe und revolutionären Latenz Gelegenheit zu bieten, das Verhältnis von revolutionärer Dynamik und restaurativer Stagnation zu reflektieren, zu differenzieren und eventuell für seine Ziele zu nutzen. Ranke will 1832 in der »Historisch-Politischen Zeitschrift« die Dichotomie von Revolution und Restauration für die spezifisch deutschen Verhältnisse überbrücken, da Revolution für ihn keinen totalen Bruch und Restauration keine völlige Wiederherstellung des Alten bedeuten müßten. Beide zu vermitteln habe das deutsche und insbesondere preußische Reformwerk geleistet: »So ist die Veränderung, welche der Revolution entspricht, in Deutschland geschehen; sie ist nicht durch einen Ausbruch der in sich selber gährenden Elemente, sondern durch die aus dem Erfolge hervorgehende Untauglichkeit der früheren Institutionen hervorgerufen worden; sie ist, und dies ist die Hauptsache, nicht wie in Frankreich, im Widerspruch mit den Fürsten vollzogen worden, sondern unter ihrer Leitung, in ihrem Vortheil.«47 Eine gesetzmäßige Entwicklung habe zur Verjüngung der preußischen Monarchie geführt, die es mit Hilfe ihrer Fürsten verstanden habe, die Gegenwart zugleich mit der Vergangenheit und Zukunft zu verknüpfen. Bezieht sich der behäbige Ranke hier noch auf die aufklärerische Idee der Reform von oben, die sich aus dem Gegensatz zum »französischen Weg« der Revolution speist, so läßt sich das »Berliner Politische Wochenblatt« schärfer über »Die Worte: Rückschritte und Fortschritte in ihrer Anwendung im politischen Raisonnement« aus. Jede Bewegung in den gesellschaftlichen Verhältnissen brauche »organische Widersprüche«, d. h., der Fortschritt benötige als seinen inneren Gegensatz ständig retardierende Kräfte, um nicht regressiv zu werden. 48 ›Zeit‹ blieb nur machbar, wenn ihre unvermeidliche und zuweilen revolutionäre Bewegung gehemmt wurde, ansonsten degenerierte sie zu einem unkontrollierbaren Fortschritt, der im Rückschritt enden mußte. Eine zukunftsgerichtete, vielleicht sogar revolutionäre Dynamik schien hier erkannt und akzeptiert zu sein, wenn sie mit den als notwendig erscheinenden Rückschritten kombiniert wurde, damit aber ihren progressiven Charakter auch wieder relativierte. Daß man sich der geschichtlichen Entwicklung anzupassen habe, gerade um nicht einer chaotischen und rückläufigen Revolutionsbewegung anheimzufallen, diese Auffassung wird nachhaltig von Baader vertreten, der als katholischer Konservativer für Sozialreformen eintrat, ohne diese aber mit einer politischen Neuordnung verbinden zu wollen. 49 Das Leben und die Geschichte begreift er 47 Historisch-Politische Zeitschrift, 1832, S. 83. 48 Vgl, Berliner Politisches Wochenblatt, außerordentliche Beilage vom 16.1.1836, S. 19 f. 49 Vgl. hierzu Baaders Schrift aus dem Jahre 1834: Über Evolutionismus und Revolutionismus oder die positive und negative Evolution des Lebens überhaupt und des sozialen Lebens insbesondere, in: Baader, Bd. 6, S. 75-108, hier 76; vgl. auch Koselleck, Revolution, Rebellion, S. 751 f. 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

als evolutionär, da sie immer im Werden begriffen seien: »Jede Stagnation des Lebens in der Zeit muss bereits als eine Bindung desselben erkannt werden, gemäss dem Satze: non progredi est regredi.« 50 Werde diese evolutionäre Bewegung nicht durch soziale Reformen gefordert, sondern von einem Absolutismus mittels einer »Contrerevolution« gehemmt und zum Stillstand gebracht, dann drohe das Entstehen einer revolutionären Bewegung. Die Reaktion und der durch sie provozierte »Revolutionismus« seien es also, die einem natürlichen und gottgewollten »Evolutionismus« entgegenarbeiten, der allein einen kontinuierlichen Wandel verbürgen könne. Es sei falsch, »dem Revolutionismus bloss reprimierend und nicht zugleich evolutionierend zu begegnen«. 51 Nach Baader befindet man sich bereits in der zweiten Phase des »Revolutionismus« und sei jetzt eingetreten in einen indifferenten Zustand der »innern Unruhe der Verwesung«. 52 Der Glaube, alles beim Alten belassen bzw. die notwendigen Reformen für den Wiedereintritt in die evolutionäre Bewegung verschieben zu können, beruhe auf einem Irrtum, der in dem »Nichtverständnisse der Zeit« liege. Die uneinsichtigen Zeitgenossen »lassen die vergangene Zeit, als doppelte Zeitschuld und gleichsam als unverdaute Zeit, hinter sich zurück, und anstatt dass die Vergangenheit, als ein bereits gelöstes Problem, sie fördernd der Zukunft entgegenführte, anstatt dass sie immer zeitfreier, zeitkräftiger, somit wahrhaftjünger sich fänden, nimmt die Zeitschwere und Zeitgebundenheit für sie immer mit dem Zeitfortgange zu, bis endlich diese Last und Noth sie zu dem verzweifelten Expediens eines Zeit- und Geschichtsbankerotts greifen macht, meinend, dass falls sie etwa nur, wie jene in dem ersten Ausbruch ihrer Revolution Tollgewordenen, einen neuen Kalenderanfang decretiren, hiemit auch ihre Zeitschuld getilgt ist. Wir sehen hieraus abermals, wie und warum alle revolutionäre ... Bewegung eben nur die Folge einer vernachlässigten und versäumten Evolution ist.«53 Seit der Französischen Revolution sei der »Kriegszustand zwischen den einzelnen Regierungsgewalten sowohl als zwischen Regenten und Regierten für permanent und stabil« erklärt und ein Fortschritt so unmöglich gemacht worden. 54 Statt sich in einer Revolution, die den Zeitstau gewissermaßen sprunghaft auflöst, zu verlieren, möchte Baader deutlich machen, »dass es nur an uns liegt, entweder der Zeit Meister zu werden, oder, durch Versäumniss der von ihr geforderten Evolution oder auch der dieselbe nachholenden Reformation, sie gegen uns zu revolutioniren«. 55 Dem Zusammenhang von restaurativer Stagnation und übereilter Revolution stand die Vorstellung einer evolutionären 50 51 52 53 54

Baader, Bd. 6, S. 75, Fußnote. Vgl. ebd., S. 77, Fußnote u. S. 89 f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 98.

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Entwicklung gegenüber, die allein in eine Zukunft führen konnte und mit Hilfe notwendiger sozialer Reformen Zeit verfügbar werden ließ. Baader definierte einen sozial aufgeschlossenen Konservativismus zunehmend mit Hilfe einer als unaufhaltsam eingeschätzten Fortschrittsbewegung jenseits der ewigen Wechselbeziehung zwischen Revolution und Absolutismus. Eine sich gleichbleibende Gegenwart wurde als unmöglich angesehen, da sie letztlich immer wieder revolutionsauslösend sein mußte. ›Zeit‹ erschien dann machbar, wenn man sich insbesondere ihrer sozialen Dynamik anpaßte und sie für seine Ziele nutzte. Anerkennend, daß Revolutionen auf ein gehemmtes Bewegungsbedürfnis antworteten, dokumentierte sich hier schon ein Erfahrungsgewinn aus einer permanent entlaufenden Zeit. Baaders Forderung nach sozialen Reformen schränkte eine unabsehbare Zukunft ein und konnte letztlich auf ein zeitgemäßes Bewahren der politischen Verfassung hinauslaufen, damit also Tradition aktualisieren. 2. Liberaler Fortschritt zwischen Revolution und Reform Wie für den Konservativismus erschienen die Revolutionen von 1830 auch für den politischen Liberalismus in Deutschland als eine Zäsur, die auf doppelte Weise mit der Vergangenheit zu brechen schien. Einerseits stellten sich die sozialen und politischen Unruhen im Norden und Nordwesten als neue Bedrohung für den reformorientierten Liberalismus dar. Andererseits wurde die Revolution gefeiert, weil nun liberale Verfassungen durchgesetzt, die bestehenden in Süddeutschland von den Liberalen produktiver angeeignet und ihre Sprengkräfte gegen ihre ehemaligen Urheber genutzt werden konnten.56 Dem bürokratischen Liberalismus der Reformzeit trat nun verstärkt ein vom Bürgertum getragener, konstitutioneller Liberalismus gegenüber, der sich zwar auch auf die Leistungen der Reformbürokratie stützen konnte, in dieser aber zunehmend ein Werkzeug der Reaktion sah.57 Auch wenn der erstarkende Kammerliberalismus die Repressionspolitik des Deutschen Bundes letztlich nicht unterlaufen konnte, wurde er doch zu einem wichtigen »Forum der Kritik am Monarchen, an der bürokratischen Regierungspraxis, am monarchischen Prinzip als Verfassungsgrundlage, vor allem in den Jahren 1830 bis 1837«.58 Neben den Landtagen bildete sich eine breite liberale Oppositionsbewegung heraus, die sich in einer ausgebreiteten Publizistik, in Versammlungen, Wahlen, Festen 55 Ebd., S. 101. 56 Vgl. H. Brandt, Julirevolution, S. 227 ff. 57 Zur Unterscheidung von bürokratischem und konstitutionellem Liberalismus vgl. Faber, Strukturprobleme, S. 211 ff. 58 Hardtwig, Vormärz, S. 65.

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vielerlei Art und zunehmend auch Vereinen dokumentierte. 59 Diese Formen der politischen Öffentlichkeit sollten die Tätigkeiten der einzelnen Landtage kritisch begleiten. Der Liberalismus im Vormärz war politisch und sozial in vielfältiger Weise differenziert. Grob gesehen läßt sich ein stärker in Süddeutschland beheimateter, an der Aufklärungstradition und an Frankreich orientierter parlamentarischer Liberalismus um Rotteck unterscheiden von einem im Norden und in Sachsen angesiedelten, historisch-realistisch und eher etatistisch ausgerichteten rechten Flügel des Liberalismus um Dahlmann und Pölitz. Daneben begann sich in den rheinländischen Metropolen allmählich ein großbürgerlicher Liberalismus um Camphausen und Hansemann herauszubilden. 60 In den Jahren von 1828 bis 1836 gab der Historiker und Staatsrechtler Karl Heinrich Ludwig Pölitz in Leipzig die »Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst« heraus, in denen vornehmlich Staats- und verfassungsrechtliche Fragen erörtert wurden. Ein Hauptanliegen der Zeitschrift war es, Aufklärungsarbeit über »Die drei politischen Systeme der neuern Zeit« zu leisten, wie sie in zahlreichen Artikeln schon vor 1830 entwickelt und auch über die Julirevolution hinweg beibehalten wurde. 61 So wie ›Reform ‹ und ›Reaktion ‹ wird auch ›Revolution ‹ von Pölitz irreführend als System begriffen, da es sich hier doch eher um eine Bewegungs- als eine Zustandskategorie handelt. Darunter sei zu verstehen »die gewaltsame Umbildung der bisherigen Grundlage des inneren Staatslebens und des gesammten Staatsorganismus, nach Verfassung, Regierung und Verwaltung ..., womit gewöhnlich eine völlige Veränderung und Umwandlung der äußern Verhältnisse desselben Staates, als nothwendige Folge, zusammenhängt«.62 Seine politische Bedeutung habe der Revolutionsbegriff erst mit der Französischen Revolution gewonnen, als er nicht mehr Veränderungen durch Eroberungen, Thronwechsel oder durch die Emanzipation von Kolonien meinte. Seitdem seien die Hauptursachen aller Revolutionen das Veralten der Verfassung und eine akute Finanznot gewesen. 63 Habe vor 1789 ›revolutio ‹ die »Zurückwälzung eines Dinges zu einem Puncte in Zeit oder Raum« bedeutet, an dem es bereits früher schon einmal gewesen sei, entspreche dieser Bedeutungjetzt der Begriff ›Reaktion ‹, denn »Revolution ist jede plötzliche, gewaltsame, den regelmäßigen Gang überschreitende Umänderung eines Zustandes«. 64 Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit sind also ihre zentralen Merkmale. Sie bewege sich sprunghaft in eine neue Zeit hinein, so daß dabei jeder Anschluß an die 59 Vgl. Nolte, Gemeindebürgertum. 60 Vgl. zur regionalen Differenzierung des Liberalismus Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 298 f.; Wehler, Bd. 2, S. 415 f.; Siemann, Staatenbund, S. 236 ff. 61 Vgl. z. B. den Aufsatz unter dem gleichnamigen Titel in den Jahrbüchern der Geschichte und Staatskunst, 1828, Bd. 1, S. 1-21. 62 Ebd., S. 1 f. 63 Vgl. ebd., S. 2, 4. 64 Ebd., 1829, Bd. 2, S. 337 f.

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Vergangenheit verlorengehe: »Das System der Revolution beginnt eine neue Gegenwart, als ob der Staat, der revolutionirt wird, keine Vergangenheit gehabt hätte.«65 Das System der Reaktion hingegen verhindere jegliches Fortschreiten einer Staatsverfassung und versuche, bereits eingeleitete Reformen wieder rückgängig zu machen. Ihr einziger Bezugspunkt sei das Althergebrachte, das es um jeden Preis zu erhalten bzw. wiederherzustellen gelte. 66 Die europäische und amerikanische Entwicklung seit 1789 habe genügend Anschauungsmaterial für das Wirken dieser Systeme der Revolution und Reaktion geliefert: »Daß übrigens die Zeit, die wir verleben, eine solche Zeit ist, wie die eben geschilderte; daß die Stürme der Revolution viele europäische und amerikanische Staaten und Reiche seit 40 bis 50 Jahren mit wilder Wuth erschütterten; daß aber auch in andern Staaten das Reactionssystem jeden zeitgemäßen Aufschwung und jede klar erkannte und mit viel Besonnenheit und Ruhe gewünschte Verbesserung und Fortbildung des innern Staatslebens niederhielt, ... das bedarf wohl keines weitern Beweises. Die Jahrbücher der neuesten Geschichte seit 1789 liefern dafür den fruchtbarsten, zugleich aber auch den warnendsten Commentar.«67 Deshalb müßten Reformen favorisiert werden, nämlich ein »durch das von der Regierung angenommene und festgehaltene System eines, auf geschichtlicher Unterlage ruhenden, Fortschreitens des innern und äußern Staatslebens zum Bessern«.68 Ohne Sprünge werde so die Gegenwart an die Vergangenheit geknüpft. 69 Ein Stillstand der geschichtlichen Entwicklung erscheint Pölitz unmöglich, denn es gibt »kein Drittes: entweder Fortschritt, oder Rückschritt. Stillstand wird weder in der Naturwelt, noch in der sittlichen Ordnung der Dinge getroffen.« Das System der Reaktion läßt sich dem Rückschritt und das der Reformen dem Fortschritt zuordnen. Eine Zuordnung der Revolution fällt dagegen schon schwerer. Sie läßt sich ebenfalls auf der Seite des Fortschritts verbuchen, da auch sie einen neuen Zustand in Verfassung, Regierung und Verwaltung anstrebe und damit dem »Grundgesetz aller blühenden Staaten und aller mündig gewordenen Völker [nachkomme]. Allein dieser Fortschritt darf nicht durch Sprünge erfolgen; er soll nicht gewaltsam, sondern allmählich eintreten,... von innen heraus sich ankündigen.« Eine Revolution unterscheidet sich also von der Reform wiederum weniger in der Gerichtetheit der Zeitbewegung, sondern vielmehr in der Zeitgeschwindigkeit, da sie »mit Einem Schlage alles Bestehende ... umstürzt«. 70 Pölitz ist von dem perfektiblen Fortschreiten der Menschheit überzeugt und ordnet auch die Revolution in diesen Prozeß ein. Dennoch 65 66 67 68 69 70

Ebd., Bd. 1, S. 2 f.; vgl. auch ebd., 1831, Bd. 1, S. 530. Vgl. ebd., 1828, Bd. 1, S. 16 ff.; ebd., 1829, Bd. 2, S. 3. Ebd., 1829, Bd. 1, S. 6. Ebd., 1828, Bd. 1, S. 5 f. Vgl. ebd., 1829, Bd. 1, S. 3. Ebd., 1828, Bd. 1, S. 7, 9 f. 163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

lehnt er gewaltsame Umwälzungen zur Beschleunigung der Zeitbewegung vehement ab, da sie nämlich nicht mehr Menschenwerk sein könnten, sondern das Ergebnis von transpersonalen Entwicklungskräften seien. Revolutionen würden so zu einer »eisernen Nothwendigkeit« ohne jede menschliche Zugriffsmöglichkeit. 71 Lasse sich ›Zeit‹ im Rahmen von Revolutionen nicht mehr gestalten, dann könnten diese auch keinen dauerhaft besseren Zustand schaffen, da ein Rückschlag der Entwicklung permanent drohe. Zwar träten sie wie Reformen mit dem Anspruch des Einleitens einer neuen Epoche auf, doch verzögerten sie letztlich nur die Fortschrittsbewegung, die allein machbar bleibe durch ein langsames Fortschreiten mittels staatlicher Reformen. 72 Wie das System der Reformen eine Vermittlung zwischen dem revolutionären Fortschrittsanspruch und der regressiven Reaktion bedeute, schwanke das System der Revolution zwischen überstürztem Fortschreiten und daraus resultierenden Verzögerungen. Damit schien sich eine Zeiterfahrung aus der Französischen Revolution sedimentiert zu haben, denn ihre Ambivalenz hielt an. Einerseits blieb die Revolution in einen Fortschrittsprozeß eingebunden, andererseits mußte sie aufgrund ihrer sprunghaften und gewaltsamen Dynamik mit Hilfe von Reformen an die Tradition rückgebunden und somit erst für eine evolutionäre Entwicklung verfügbar gemacht werden, die allein einen sicheren Aufbruch in eine neue Zeit gewährte. In dieser Doppeldeutigkeit bewegte sich auch die erste Rezeption der Juliereignisse in Deutschland, wo der Bezug zur Revolution von 1789 augenfällig hergestellt wurde. Rotteck sieht 1830 in den »Allgemeinen politischen Annalen«, dem Nachfolgeblatt der »Europäischen Annalen«, die Revolution in Paris in einer direkten Linie zur Frühphase der Französischen Revolution: »Nein! die Revolution der großen Woche wird keine tragischen Folgen haben. Sie wird der Schlußact der im Jahre 1789 mit der Erstürmung der Bastille begonnenen Umwälzung seyn, heroisch, bewunderungswürdig und fleckenlos wie diese, ja in noch weit höherem Maße, doch nicht wie sie von traurigen und gräuelvollen Tagen - den Folgen der Reaction und der feindlichen Coalition - begleitet seyn. Wer könnte es wagen, gegen das schönste Ergebniß dieser heldenmüthigen Erhebung eines durch Gesetzwidrigkeiten aufs Äußerste gebrachten Volkes aufzutreten?«73 Der Ausbruch der Revolution in Paris ermöglichte so gerade wieder den Anschluß an den Epochenbruch von 1789, derjetzt erst seinen Abschluß zu finden schien, nachdem der Fortschrittsprozeß durch die von der Reaktion provozierte Terreur, das Auftreten Napoleons und die Restauration seit 1815 unterbrochen war. 1830 wurde zum Wiedereinstieg in die fortschreitende Zeit und bewirkte erst eine Kontinuitätserfahrung zu 1789. Über die Unruhen in einigen 71 Vgl ebd., 1829, Bd. 2, S. 357. 72 Vgl. ebd., S. 363; ebd., 1828, Bd. 2, S. 12. 73 Allgemeine politische Annalen, 1830, Bd. 3, S. 161 f. 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Teilen Deutschlands wird in dem Blatt bemerkt, daß die »Partei der Stabilen« das »Bedürfniß und die Nothwendigkeit des Fortschreitens« verkannt habe. Insbesondere habe diese Partei »auch auf einen Kreislauf der Dinge [gehofft], und vermeinte, sie auf denselben Punct zurückfuhren zu können, von dem im Jahre 1789 die gewaltige Bewegung ausgegangen war«. Der Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, habe erst dazu geführt, die Revolution aus Frankreich bis in das nordwestliche Deutschland hinauszutragen. Nur zeitgemäße Verfassungen trügen dazu bei, den Kelch der Revolution am Südwesten vorübergehen zu lassen.74 Darüber hinaus wird die Französische Revolution in all ihren Phasen zu einem Referenzpunkt für Friedrich Buchholz, der in einem Artikel in der Berliner »Neuen Monatsschrift für Deutschland« »Über die revolutionären Bewegungen im mittleren Deutschland« apodiktisch feststellt: »Alle, seit dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschlands gesellschaftlichem Zustande vorgegangenen Veränderungen haben nur eine Quelle, und diese ist die französische Revolution in ihren verschiedenen Phasen.« 75 Seitdem habe sich mit jedem Jahr eine neue Welt gestaltet. Deshalb sei es, so Buchholz mit Blick auf die Unruhen in Norddeutschland, unverzeihlich, unter »solchen Umständen dem Altem an[zu]hängen, blos weil man darin das Bewährte zu erschauen glaubt«. 76 Revolutionen seien dort unmöglich, wo eine Gesellschaft im Hinblick auf die Zukunft leben würde. Damit wurde also der gesamte Zeitraum von 1789 über die Restauration bis hin zu den Revolutionen 1830 unter dem Gesichtspunkt eines permanenten Veränderungsdrucks gesehen, der sich dem Initialereignis der Französischen Revolution schuldete und 1830 eine Zuspitzung erfahren hatte. Der Hamburger Verleger Friedrich Perthes, der in seinem umfangreichen Briefverkehr mit einem großen Teil der in der politischen Öffentlichkeit stehenden Gebildeten kommunizierte, geht noch einen Schritt weiter. Skeptisch blickt er auf die revolutionären Ereignisse und befürchtet schließlich, es gebe »immer mehr Neues, was grade so aussieht, wie das Alte von 1789. Noch einmal wird Europa den blutigen Lauf durch die Anarchie zur Despotie beginnen. Mir graut, nach einem vielbewegten Leben neue Bewegungen wiederum durchleben zu müssen.« 77 Zwar bestünden äußerliche Unterschiede zu 1789, doch habe die Entwicklung der letzten vierzig Jahre keine größere Reife bewiesen. Anders als Rotteck und Buchholz sorgt sich Perthes also um eine Wiederaufnahme des Kreislaufs der Revolution von der Anarchie zur Despotie. Gerade die Gefahr eines Krieges mit Frankreich gab dieser Befürchtung neue Nahrung. So hält Hansemann in seiner Denkschrift über »Preußens Lage und 74 75 76 77

Ebd., 1830, Bd. 4, S. 238, 246. Neue Monatsschrift für Deutschland, 1830, S. 324. Ebd., S. 334. Perthes, Bd. 3, S. 301.

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Politik am Ende des Jahres 1830«78 die Revolutionsbewegung der europäischen Völker noch nicht für beendet; vielmehr werde sie im Inneren der Staaten weiterwirken oder zu einem großen Krieg fuhren. Bot sich die Revolution von 1789 - sei es ausschnitthaft oder vollständig mit all ihren Phasen - als Modell für die Revolutionserfahrungen 1830 an, dann zeigten sich auch wiederum Momente eines schon bekannten Zeitbewußtseins. Der Zeit in ihrem beschleunigten Ablauf sei nicht mehr nachzukommen, so Perthes an einen Freund, »denn die Geschichte arbeitet schnell. ... Unser einem sind diese Zeiten nicht langweilig und nicht kurzweilig, sondern nur halsbrechend.« 79 Gestaltbar sei eine solche Zeit schon gar nicht mehr, denn die Macht der Masse sei »zu einer Gewalt angeschwollen, der wie jeder Naturgewalt schwer zu begegnen sein wird«. 80 Auch in den »Allgemeinen politischen Annalen« wird der neuen Zeit eine überdimensionale Bedeutung zuerkannt: »Die neue Zeit ist 6 Monden alt; aber diese 6 Monden stehen da wie 6 Schöpfungstage, und der erste und letzte ist der denkwürdigste.« Der Autor versteigt sich zu der Behauptung: »Die Geschichte der Welt - so möchten wir kühn behaupten - hat kein anderes Jahr von so unermeßlicher und verhängnisreicher Wichtigkeit aufzuweisen, wie jenes, das so eben zu Ende ging.« Die Revolutionen pflanzten sich wiederum permanent und europaweit fort, denn keine »von allen ist auf einen Punct angelangt, von dem man sagen kann, daß er einigermaßen bleibend sein werde: nur über Fortschritt und Phasen desselben haben wir nach und nach zu berichten«. Zur Kontemplation verurteilt, wird der Zugriff auf diesen Fortschritt fragwürdig: »Das Loos ist geworfen über Europa, eine Zeit furchtbarer Bewegungen beginnt, deren Ende kein Mensch absehen kann. Seit vierzig Jahren ist es durch eine moralische Solidarität unter sich verbunden, so daß kein einzelner Theil desselben eine bedeutende Veränderung erleiden darf, ohne daß alle übrigen Glieder die Erschütterung mitfühlen.« Diese Vernetzung der einzelnen Revolutionen wirke auch in den Zeiten augenfälliger Restauration subversiv weiter, wie Frankreich unter der Herrschaft der Bourbonen zeige: »Der Strom der Revolution sollte wieder über Europa hereinbrechen.« Im Gegensatz zu den alten Revolutionen, die zu deutlich sichtbaren Umwälzungen führten und »je nach Umständen länger oder kürzer tobten, bis allmählig wieder Alles in sein ruhiges Geleis zurückkehrte«, wirken die neuen Revolutionen untergründig und damit fundamental: 78 In: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 1, S. 62; vgl. ebenfalls Perthes, Bd. 3, S. 305; vgl. zur Blockbildung in Europa und zur deutsch-französischen Kriegsgefahr in liberaler Rezeption Μ. Meyer, S. 88 ff. 79 Perthes, Bd. 3, S. 307 f.; vgl. auch Die neue Zeit von einem alten Constitutionellen, 1831, Bd. 8, S. 64. 80 Perthes, S. 304; vgl. auch S. 306. 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

»Die neuen Revolutionen werden mit einigen Gewaltstreichen vollbracht, dann steht Alles der Form nach noch auf demselben Fuße wie vorher, und nur die Basis fehlt; wie durch einen Zauber ist diese entrückt, Alles was sich auf sie stützt, hat keinen Halt mehr, es wankt und folgt beinahe noch den mechanischen Gesetzen des Falles der Basis nach.«81 Diese Erfahrungen einer beschleunigten Zeit und permanenten Revolutionsbewegung, diese Ohnmachtserfahrungen angesichts einer Zeit, die zu enteilen drohte und keine kontrollierbare Zukunftsgestaltung mehr zuließ, all dies erinnert an die Zeit- und Revolutionserfahrungen, die sich im Anschluß an die Französische Revolution seit etwa 1792 ausmachen ließen. Der Rückgriff auf das Modell der Französischen Revolution als Beginn einer fortwährenden Krisenerfahrung gab letztlich keine anderen Optionen mehr frei. Doch auf ein regressives Kompensationsmodell für eine haltlose Zeit wurde kaum noch zurückgegriffen. Der Zirkel der Revolution hatte 1830 weitgehend ausgedient. Statt einen Kreislauf erwartete Perthes in Fortsetzung der Französischen Revolution eine »Verjüngung des Alten«. 82 Anders als in der Rezeption von 1789 verlor auch der Topos ›historia magistra vitae ‹ jetzt zunehmend seine Bedeutung. Der Rückgriff auf die geschichtliche Erfahrung wurde immer fragwürdiger angesichts einer Entwicklung, die aufgrund der revolutionären Latenz von der Französischen Revolution bis zur Julirevolution als Dauerkrise beurteilt wurde. Langfristiger Wandel und einmalige Umbrucherfahrungen wechselten sich permanent in einer als Übergangsepoche erlebten Zeit ab.83 Gerade die beschleunigte und unverfugbar erscheinende Zeit, die fortwährend neue Erfahrungen gebar, ließ sich nicht mehr in Zeitmodelle einordnen, die auf einen Wiederholungszwang hinausliefen und somit die Zukunft an die Vergangenheit banden. So kann Heinrich Laube 1833 in »Das neue Jahrhundert« schreiben: »Meinst Du, Du wolltest erst dann über Deine bestehende Gegenwart au fait sein, und für sie schreiben, die Erfahrung solle Dich sichrer stützen - siehe zu, daß die Stütze nicht bricht, ... daß Du nicht des Sisiphus Rad wälzest, das Rad der Zeit stellt sich alljährlich anders da, und mit dem absoluten, durchherrschenden Prinzip der Geschichte ist's so lang eine bedenkliche Sache, als wir noch keine weiter sehende Vernunft haben -... ich fasle nicht, sondern habe Figuren im Hintergrunde, die mich heilig versichert haben, daß sie Erfahrung, und tausend erworbene Dinge über Bord werfen mußten, um die neue Zeit zu verstehen.«84

81 Allgemeine politische Annalen, 1831, Bd. 2, S. 284; ebd., 1831, Bd. 5, S. 107; ebd., 1831, Bd. 2, S. 201; ebd., S. 151 ff. 82 Perthes, Bd. 3, S. 306. 83 Vgl. Kosellecky Krise, S. 634 ff. Die Krise als Dauerkategorie gleicht sich demnach zunehmend der Revolution als Prozeßbegriffan. 84 Laube, Bd. 2, S. 262 f. 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Das »Rad der Zeit« wird zur Metapher für eine Zeitbewegung, die keinen Halt mehr in der geschichtlichen Erfahrung findet und fortwährend in eine neue Gegenwart aufbricht. In Leipzig erschien in den Jahren 1831 bis 1835 die Zeitschrift »Das Vaterland«, herausgegeben von Friedrich Bülau und Julius Weicke. Dieses Blatt begleitete wohlwollend, aber auch kritisch den Weg Sachsens zu einem konstitutionellen Staat, mahnte Pressefreiheit an und forderte die Regierung auf, an der 1831 gewährten Verfassung, die Sachsen zu einem modernen Staat machte, 85 festzuhalten und nicht den Bundesbeschlüssen nachzugeben. 86 In der Verfassung sieht man die Möglichkeit, Anschluß an den süddeutschen Frühkonstitutionalismus zu bekommen, um eine gesetzmäßige Freiheit zu verwirklichen. 87 Man lebe in einer Zeit der Erwartungen: »Wir sehen alte Formen verschwinden, längst bestandene Einrichtungen sich auflösen.« 88 Rückblickend wird schließlich bemerkt, daß das Staatsleben in dieser Zeit Riesenschritte gemacht habe. Es war eine »Zeit der Revolutionen«, in der aufgrund der engen Verknüpfung der europäischen Nationen die Vorgänge in einem Staat nie ohne Nachwirkungen für andere Staaten geblieben seien. »In Zeiten so raschen Uebergangs wird, auch außer dem Gebiete positiver Gesetzgebung, das Gewohnte und Hergebrachte verdrängt; was vor einem Vierteljahrhundert noch wahr war, ist es jetzt nicht mehr; und bedenklich wird es, bestehende Einrichtungen fortwährend in dem Lichte der frühern Zeit zu betrachten. Auch die Anhänger constitutioneller Regierungsformen ... fehlen hier öfters,« da sie an alten Vorurteilen über das Repräsentativsystem festhielten; der Vorzug dieses Systems liege aber in seinem »fortbildenden Principe«. 89 Noch deutlicher wird ein Artikel über »Die Stimmen der Geschichte«, der sich gegen die Geschichte als »die große Lehrmeisterin der Menschheit« wendet. 90 Es werde ein schwerer Mißbrauch mit der Anwendung geschichtlicher Tatsachen auf die großen politischen Fragen der Gegenwart getrieben. Das Buch der Geschichte sei so groß und inhaltsreich, daß jeder das in ihm finde, was er suche: »ein einzelnes Factum, was, losgerissen von seinen inneren und äußeren Bedingungen, für die Behauptung zu sprechen scheint, die er beweisen will«. Worauf es hingegen ankomme, sei, das zu erkennen, »worin das Jetzt von dem Früheren unterschieden ist und wie dieser Unterschied auf die Gestaltung des Kommenden einwirkt«. Dachte im achtzehnten Jahrhundert niemand im Staate Sachsen an eine Beseitigung der zahlreichen Mißstände, hätten sich im neunzehnten 85 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 368; Botzenhart, Reform, S. 111 f.; zur Revolution in Sachsen vgl. M. Hammer 86 Vgl. z. B. Das Vaterland, Nr. 63 vom 8.8.1832, S. 249 f. 87 Vgl. z. B. ebd., Nr. 101 vom 17.12.1831, S. 413. 88 Das Vaterland, Nr. 46 vom 9.6.1832, S. 181. 89 Ebd., Nr. 10 vom 4.2.1834, S. 37. 90 Vgl. auch im folgenden ebd., Nr. 100 vom 16.12.1834, S. 409 f. 168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Jahrhundert die Völker gewandelt, »ja die Völker nach 1830 [sind] andre als vorher; jeder Schluß von den Einen auf die Andern ist trügerisch«. Die sich permanent erneuernde Gegenwart mache jeden Vergleich mit der Vergangenheit problematisch. Dies gilt auch für Zeugnisse, die angesichts der Niederlagen der revolutionären Bewegungen in Italien, Polen und vorübergehend auch Belgien furchten, »daß es keine dauerhafte und fruchtbare Revolution, keine Revolution ohne Wiederkehr giebt«. 91 Denn trotzdem vermöge eine Revolution ein weiterer progressiver Schritt im Rahmen der Perfektibilität der Menschheit zu sein. Schon diese Einschränkung vermittelt, daß es sich bei diesen Rückschlägen der Revolution nur um vorübergehende innerhalb einer allgemeinen Fortschrittsgeschichte handeln konnte. Der Liberalismus fühlte sich auch im Anschluß der Julirevolution als Repräsentant des Wandels und der Zukunft. Er - als Exponent der Bewegung-verhalf dem Fortschrittsglauben zu dem Stellenwert einer »liberalen Leidenschaft« in einer dynamischen Epoche: »Für den Liberalismus war die Zeit der Universalfreund, der unaufhaltsam größeres Glück für immer größere Zahlen bringen würde.« 92 Anfang 1833 setzt sich »Das Vaterland« in einem Artikel, überschrieben »Die Zeit«, mit der Frage auseinander, ob sich mit der Reaktion des Deutschen Bundes die Fortschrittsbewegung, wie viele meinen, erschöpft habe. 93 Dies sei aber zu verneinen, da die Ideen der Zeit weiterwirkten, sich festsetzten und letztlich machtvoll entfalten würden: »Auch Teutschland hat seine Zeit nicht verloren. Der Wettersturm, der über unsern Häuptern daherbrauste, hat die Luft gereinigt und Alles mit neuen, stärkenden, belebenden Kräften geschwängert. Doch auch hier gab es Kampf und Widerstreit. Eine edle Begeisterung verkannte zuweilen die Natur der Verhältnisse, die Kraft der Zeit und den Geist des Volks, oder wollte der Zukunft vorgreifen, oder Teutschland nach französischem Maaßstabe messen.« Die Revolutionen in Form eines »Wettersturmes« hätten also gerade zu einer Dynamisierung der Zeit geführt. Eine Übersteigerung der Bewegung in Form von sozialen Volksunruhen werde durch eine Gegenkraft wieder gemäßigt: »das Unhaltbare ward aufgegeben, dem Vorzeitigen entsagt.« Auch wenn sich nach 1832 zeitweilig Enttäuschung über die Entwicklung der Revolutionen bemerkbar gemacht habe, seien wir dennoch »in den letzten drei Jahren vorwärts geschritten«, so 1833. Selbst wenn man den erreichten Verfassungszustand wieder rückgängig machen würde, blieben deren Ideen weiterhin bestehen.94 Dennoch macht sich manchmal auch eine Ungeduld bemerkbar, selbst als sich die 91 Neue Monatsschrift für Deutschland, 1832, S. 215; vgl. auch Allgemeine politische Annalen, 1832, Bd. 1, S. 181 f. und 277 f. 92 Schapiro, S. 30. 93 Vgl. auch im folgenden Das Vaterland, Nr. 2 vom 4.1.1833, S. 5 f. 94 Vgl. ebd., Nr. 88 vom 1.11.1833, S. 410.

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Massenbewegungen um das Hambacher Fest auf ihrem Höhepunkt befanden. So seufzt ein Schreiber im Juni 1832: »Auch leben wir in einer Zeit, die raschere Vorschritte macht, als jede andre. Und dennoch möchten wir, bei aufmerksamer Betrachtung des Charakters, der sich in dieser politischen Richtung ausspricht, fast die Befürchtung nicht unterdrücken können, daß noch Jahrhunderte hingehen können, bevor sich ein echtes und wohltätiges politisches Leben in der Gesamtmasse des Volkes entfalten wird.«95 Andere wie Laube, der nur in einem konstitutionellen Königtum »mit Preßfreiheit und öffentlicher Kriminalgerichtsbarkeit das Glück eines Volkes« garantiert sieht, begnügen sich mit einer passiven Zuschauerrolle: »aber dennoch sehe ich ruhig der entwickelnden Zeit zu, und halte mich nicht für berufen, ihren Gang zu beschleunigen.« 96 Einer der publizistisch aktivsten Vertreter des Jungen Deutschlands, Theodor Mundt, entdeckt noch 1834 eine neue bemerkenswerte Krankheit in sich, den »Zeitpolyp«, der sich seit der Julirevolution bemerkbar gemacht habe: »Es ist das Wehtun der Zeit in meinem innersten Menschen, wovon ich hinschmachte. ... Der Zeitgeist zuckt, dröhnt, zieht, wirbelt und hambachert in mir.«97 Karl Varnhagen von Ense befürchtet 1831 gar, mit der Geschwindigkeit der politischen Ereignisse nicht mehr Schritt halten zu können: »Jeden Tag beinahe muß man sich auf's Neue fragen, ob man auch wieder frisch von Heute sey, nicht noch im Gestern oder Vorgestern liege? Diese Gefahr der Verspätung sah ich in hundert schreckenden Beispielen täglich erneut«. 98 Wie auch auf die beschleunigten Zeitereignisse reagiert wurde, ob mit Ungeduld, Attentismus oder Verspätungsfurcht, ein Weg zurück in die Vergangenheit schien nicht mehr möglich zu sein und wurde auch nicht als Kompensation angestrebt: »Der gewöhnliche und sich nicht über die Stufe der Mittelmäßigkeit erhebende Mensch erkennt schon das Mangelhafte der bis auf uns herabreichenden Vergangenheit; er sieht ein, daß alles von Menschenhänden Gebaute sich überlebt, und nicht selbst wieder verjüngt, wie die Natur; er nimmt auch jede Milderung und Erleichterung des bisherigen Zustandes dankbar auf, und klagt laut, wenn er von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das längst als schlecht Erkannte sich immer noch fortschleppen sieht.«99 Menschliche Einrichtungen könnten sich also überleben, ohne sich - im Gegensatz zur Natur - eigenständig zu regenerieren. Es veralte nämlich nur etwas, wenn es in eine Fortschrittsbewegung eingebunden sei und dieser nicht mehr gerecht werde. Die Aufgabe der Verjüngung müsse fortwährend vom Men95 96 97 98 99

Ebd., Nr. 44 vom 2.6.1832, S. 173. Laube, Bd. 2, S. 43. Mundt, S. 12. BriefVarnhagens an Rotteck vom 23.11.1831, in: Rotteck, S. 283; vgl. zu Varnhagen Greiting. Das Vaterland, Nr. 46 vom 9.6.1832, S. 182; vgl. auch ebd., Nr. 2 vom 5.1.1831, S. 5.

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sehen geleistet werden, um sich dem Lauf der Zeit anzupassen. Der Staat habe seine Bürger »der höchstmöglichen Vollkommenheit entgegen« zu fuhren. »Deshalb muß er dazu dienende Anstalten und Einrichtungen treffen, und entgegenstehende möglichst hinwegräumen. Mehr kann er aber auch nicht thun. Die Vervollkommnung und Ausbildung des Einzelnen bleibt ihm nothwendig selbst überlassen.« 100 Einerseits läßt sich also eine kontinuierliche und lineare Fortentwicklung der Zeit ausmachen, der das geschichtliche Subjekt aber andererseits nachkommen kann oder nicht; wenn nicht, kommt es zwar auch nicht zu einem Rückschritt, aber die Vergangenheit wird als Belastung mit in die Zukunft genommen und hemmt den Prozeß der permanenten Erneuerung. Der Verfasser des Artikels »Bewegung und Reaction« im Conversationslexikon von Brockhaus spannt die Weltgeschichte zwischen diese beiden Pole ein.101 Unter Reaktion sei eine behinderte Bewegung mit dem Ziel des Stillstandes zu verstehen. Andauernde Stagnation vermöge aber in der Zeit nicht einzutreten. Letztlich sei die Geschichte doch immer von einem Fortschreiten bestimmt, denn auch eine Ruhephase »ist aber nur scheinbar, und kein Volk stehtjemals gänzlich still. Sein Fortschreiten kann so langsam sein, daß es Jahrhunderte hindurch kaum zu bemerken ist, und vorzüglich ist die Erhebung aus den Zeiten der ersten Kindheit mit so großen Schwierigkeiten verknüpft, daß beinahe kein Volk sie aus eigner Kraft vollbringt und wir noch jetzt Völker auf der untersten Stufe finden.« Diese Bewegung erfahre ihren Gehalt aus dem Streben des Menschen und Bürgers nach Wahrheit, Recht und bürgerlicher Freiheit: »Zu diesem Ziele hat die Menschheit von jeher gestrebt, aber in der neuern Zeit ist die Bewegung unendlich rascher und mächtiger geworden.« In den letzten fünfzig Jahren habe eine sehr viel größere Veränderung in den Gesinnungen, Meinungen und Staatsverfassungen stattgefunden als in den zwei Jahrhunderten zuvor. Und in »dieser großen Bewegung nimmt die französische Revolution freilich eine wichtige Stelle ein, allein sie ist weder die Ursache noch der Anfang, und noch viel weniger das Ziel derselben«. In einer unermeßlichen Fortschrittskette »ist die französische Revolution nur ein Glied, die Tendenz auf politische Emancipationen bezeichnend«. Bevor die Reaktion die Bewegung wieder in ihr Gegenteil verkehrt habe, sei dem neugegründeten Gebäude der Restauration »durch die Revolution vom Julius 1830 eine neue Erschütterung« zugefügt worden. Mag der Verfasser des Artikels der revolutionären und kriegsbereiten »Partei der Bewegung« auch ablehnend gegenüber stehen und die »Partei der richtigen Mitte«, die den Sturm zu beschwören versuche, favorisieren, wird 100 Ebd., Nr. 47 vom 13.6.1832, S. 187. 101 Vgl. auch im folgenden Brockhaus, Conversationslexikon, Bd. 1, S. 245 ff. 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

doch die zeitbeschleunigende, zukunftsgerichtete Wirkung der Revolutionen anerkannt. 102 »Das Vaterland« spricht 1834 von dem Umstand, der die Revolutionen in die Welt gebracht habe, daß nämlich »vor dem Menschengeschtechte nicht, wie vor der Gottheit, tausend Jahre sind, wie Ein Tag! die Entwicklung des Menschengeschlechtes geht ihren sichern, weislich berechneten, aber langsamen Gang«.103 Einigen sei dieser Gang aber zu langsam, und sie wollen die Ergebnisse ihrer Bemühungen noch zu Lebzeiten erleben; sie »stecken vorsorgend den ganzen Wald in Brand - und das nennt man Revolution«. 104 So befördere sie »im günstigsten Falle die Staatseinrichtungen, welche sie als heilsam erkennt, mit Gewalt und gegen den Willen der anders Denkenden«. Ohne Gewalt und unter Zustimmung der Bevölkerung wären dieselben Maßnahmen als eine Reform im Einklang mit dem stetigen Zeitfluß verstehbar, doch auch die Revolution hat an einer zukunftsbetonten Bewegung teil. Mundt schreibt 1835 im »Literarischen Zodiakus« einen Aufsatz »Über die Bewegungsparteien in der Literatur«. Schon im Alltag werde jeder Stillstand als Rückschritt empfunden. »Die Bewegung ist also wesentlich erhaltend, und wo sie zerstört, ist es nur, um zu erhalten, Die Bewegung erscheint als das dauernde Gesetz in der Natur ... Ich widme mich dieser Bewegung, denn sie ist die Wahrheit. ... Aber wenn ich nun um mich her blicke oder zurückschaue, werde ich überall gewahr, wie aus der Bewegungspartei zuletzt wieder eine legitime geworden ist. Jede Revolution trägt schon wieder die Keime zu ihrer Restauration in ihrem Schooße ... Die Strahlen der Bewegung, welche eine große Ansicht ausgesendet hat in die Welt, verdichten sich ihr am Ende selbst zu einem monarchischen Thron, auf dem sie eine Zeitlang ruht und sich wiegt und herrscht, bis wieder von anderer Seite neue junge Bewegung begonnen, welche das versteinerte Resultat der alten entthront.«105 Unter diesem Bewegungsgesetz liefen die revolutionären Bewegungen in der Literatur ab. Wenn also die Revolution schon den Keim der Restauration in sich trägt, so nicht deshalb, weil sie wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückfindet, sondern weil die Zeit permanent weiterschreitet und die Resultate jeder Revolution schon bald wieder zu einem Anachronismus macht. Stets sorgt ein weiterer Bewegungsschub für eine Anpassung an das Zeitkontinuum, für eine fortwährende Verjüngung des Bestehenden, damit es nicht abstirbt und als Last der Vergangenheit mitgetragen wird. 102 Vgl. auch den Artikel »Liberalismus«, in dem die Veränderungskraft des Liberalismus als das Ergebnis einer allgemeinen Revolution aufgefaßt wird. Diese sei der »Strom der Zeit selbst, welcher seine Wogen unaufhaltsam und ohne von Menschen geleitet oder gar getrieben zu werden, der Ewigkeit zurollt« (ebd., Bd. 2, S. 879 f.). 103 Das Vaterland, Nr. 83 vom 17.10.1834, S. 341. 104 Auch im folgenden ebd., S. 342. 105 Literarischer Zodiakus, 1835, S. 1 f. 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Eine Revolution bewegt sich also in einem zukunftsgerichteten Entwicklungsprozeß, ist Ausdruck eines ubiquitären Veränderungswillens, wie er sich insbesondere nach 1830 artikuliert. Ernst Münch bemerkt daher in seiner Abhandlung über »Teutschlands Vergangenheit und Zukunft«, die 1831 in der Stuttgarter Zeitschrift »Die neue Zeit von einem alten Constitutionellen« erschien, daß in Deutschland zwar keine Verschwörung, aber eine »Revolution in den Geistern« bestehe. Sie herrsche in den Massen wie auch in den gebildeten Ständen, die der Überzeugung seien, »daß die Sachen, so wie sie jetzt stehen, nicht bleiben dürfen, und eine würdigere Lage der Dinge sich gestalten müsse«.106 Daß die Gegenwart sich von dem Ballast der Vergangenheit befreit und eine neue, konstitutionelle Zukunft eingeleitet habe, dies sei sicher. Aber auch über das Wie besteht kein Zweifel mehr, wenn Münch feststellt, daß das deutsche Volk »allgemeine Revolutionen« verabscheue und bloß Reformen fordere - »aber schnell und volbtändig«107 Es wäre vergeblich, dem »Rad der Zeit« in die Speichen zu fassen, allenfalls habe der Mensch die Möglichkeit, »mit den Begebenheiten klugen Vergleich« einzugehen.108 ›Reform ‹ und ›Revolution ‹ sind in eine transpersonale Fortschrittsgeschichte gespannt, von der im »Vaterland« gesagt werden kann: »Die Sache des Guten wird siegen, so oder so!« Doch eingedenk der gewährten Verfassung in Sachsen wird angefügt: »Aber dreifaches Heil, wenn sie nur auf dem ruhigen Wege der Reform, geleitet von Mäßigung und Besonnenheit, gestützt von dem einstimmigen Willen aller Freunde des Besseren ihre Bahn sich bricht!«109 Der »Plan der Reform, welchen Gott gemacht hat«, schmiege sich dem fortschreitenden Prozeß hin zu mehr Freiheit besser an als das gewaltsame und unberechenbare Auf und Ab des »Plan[s] der Revolution, den die Menschen gemacht haben« und der ebenfalls eine verbesserte Staatsverfassung anstrebe.110 Nur das »streng und fest verfolgte System der Reformen vermag die Gesundheit des Staatskörpers für ewige Zeiten zu erhalten«.111 Allein wenn versucht werde, mittels einer Reaktion eine »planmäßige Zurückführung zum Schlechten« zu bewirken, also den ruhigen Entwicklungsgang zu hemmen, sei eine gewaltsame Revolution unvermeidlich, um dann auf diesem unsicheren Wege zum Ziel zu gelangen. Der Strom der Geschichte laufe permanent weiter, werde aber bei seiner Hemmung zerstörerisch und unkontrollierbar über die Dämme treten.112 Doch könne selbst diese Entwicklung, die eigentlich durch Reformen verhin-

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Die neue Zeit von einem alten Constitutionellen, 1831, Bd. 5, S. 50. Ebd.. S. 60: vel. auch ebd., S. 48. Ebd., S. 63. Das Vaterland, Nr. 2 vom 4.1.1833, S. 5. Ebd., S. 342. Ebd., Nr. 39 vom 14.5.1831, S. 161; vgl. auch ebd., Nr. 83 vom 17.10.1834, S. 341. Vgl. ebd., Nr. 43 vom 30.5.1832, S. 169.

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dert werden solle, noch im Sinne eines Fortschritts gedeutet werden, wie Mundt 1834 rückblickend auf die Revolutionsjahre meint: »Wir sind nach langen Kämpfen weise geworden, wir entwickeln uns von nun an in Reformen. ... Revolutionen sind vulcanische Ausbrüche der Menschheit, die sich nur dadurch gut machen, daß nachher auf den lavagedüngten Stätten die Saatfelder um so schöner und fruchtbarer gedeihen, aber nur die Verzweiflung, die sich nicht mehr anders retten kann, düngt mit Lava, unter der immer jahrhundertalter Fleiß und Besitz der Städte und Menschen verschüttet liegen. Reformen sind sanfter gearbeitete Halbschwestern der Revolutionen; ... Reformen sind logische Revolutionen.«113 »Reformen sind logische Revolutionen«, sie befinden sich im Einklang mit der natürlichen Fortentwicklung der Menschheit und führen gesetzmäßig in eine neue Zeit hinein, was Revolutionen auch vermögen, jedoch zu dem Preis, daß sie keine sicheren Resultate verbürgen können, sondern von ihrem Verlauf her irrational bleiben. Die Revolutionen von 1830 ließen sich auch als Abschluß einer langfristig angelegten Entwicklung betrachten, »weil sie nur das letzte Durchbrechen einer längst vorbereiteten und nach und nach gereiften, nothwendigen Veränderung sind«.114 Hier verhalf die Revolution einer evolutionären Entwicklung zu ihrem Durchbruch, war also eingebettet in einen langwährenden Veränderungsprozeß, den sie zur Vollendung brachte. Dieser Gedanke mußte insbesondere in Mittel- und Norddeutschland naheliegen, wo es zu einer breiten Konstitutionalisierungswelle nach der französischen Julirevolution und den partiell gewaltsamen sozialen Unruhen kam. Die Ausarbeitung von Verfassungen war es, welche dem fortschreitenden Zeitfluß adäquat zu sein schien, Anschluß an den süddeutschen Konstitutionalismus ermöglichte und die Zukunft mit der Vergangenheit verknüpfte, wie Pölitz 1831 in Anlehnung an sein schon vor 1830 niedergelegtes »System der Reform« für die kurhessische Verfassung hoffte.115 Im »Vaterland« wird generell von der »constitutionellen Bestimmung« Deutschlands gesprochen, die eine langsame Entwicklung einer guten Verfassung ermögliche und sich nun verwirklichen lasse: »Die Vorsehung geht langsam und gemessen ihren Gang, und braucht oft Jahrhunderte, um Veränderungen vorzubereiten, die wir... nicht ahnen, die aber, sobald sie hervortreten, als planmäßig eingeleitete und sicher fortgeführte Weltbegebenheiten erscheinen. Ich wage daher auch die Behauptung aufzustellen, daß das teutsche Volk... vorzugsweise eine constitutionelle Bestimmung habe und vor allen Völkern Europa's geeignet sei, das constitutionelle Leben in seinem Schooße zu entwickeln. Schon in der alten Reichsverfassung lag das constitutionelle Princip.«116 113 Mundt, S. 86 f. 114 Das Vaterland, Nr. 2 vom 5.1.1831, S. 5. 115 Vgl. Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst, 1831, Bd. 1, S. 241 f. und 533. 116 Das Vaterland, Nr. 83 vom 17.10.1832, S. 333. 174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Im konstitutionellen Prinzip manifestierte sich also, wie sich Anfang der dreißiger Jahre schlagartig zeigte, eine Staatsverfassung, die Kontinuität mit der Vergangenheit und Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft garantieren sollte und somit dem ›natürlichen ‹ Fortschrittsprozeß zu entsprechen schien, innerhalb dessen die Verfassungen einzelne Stufen waren. Skeptisch gewendet kann Perthes um 1831 in den gewährten Konstitutionen »wenig anderes als die Fixierung eines Momentes der Revolution« sehen, denn die »Gegenwart liebt oft, ohne es zu wissen, den Zustand der Revolution«. 117 In den Verfassungen der Gegenwart hatte die revolutionäre Entwicklung also ihre kurzfristige Fixierung gefunden, sie markierten im Zeitkontinuum einen Ruhepol, bis die Revolution weiterschritt, die dann wieder durch Reformen gedämpft und gelenkt werden mußte. Die Revolutionen um das Jahr 1830 stellten also für die liberale Öffentlichkeit eine notwendige und schubweise Wiederangleichung der politischen Verhältnisse an den als unaufhaltsam eingeschätzten Fortschrittsprozeß dar, der seit 1789 kontinuierlich über die Restaurationsphase hinaus gewirkt hatte auch wenn sie als Mittel der praktischen Politik weiterhin abgelehnt wurden. Gleichzeitig behielten sie aufgrund der sich ständig als neu begreifenden Gegenwart ihre einmalige Qualität als Zukunftsspenderinnen, da sie eine neue Stufe im Zeitkontinuum repräsentierten und die Vergangenheit stets hinter sich ließen, also auch die Erinnerung an 1789. ›Zeit‹ spielte sich also nicht mehr innerhalb regressiver Kompensationsmodelle ab. Die sich schon in den neunziger Jahren herauskristallisierende Zuordnung von Revolution und Reform hatte sich weitgehend durchgesetzt, denn beide kamen dem allgemeinen Fortschrittsprozeß - sich wechselseitig ergänzend - auf ihre Weise nach: Revolutionen brachen alte Verkrustungen auf und stürmten ohne Traditionsballast in eine neue Zeit; Reformen mäßigten diese Bewegung, stellten wieder eine Rückbindung an erhaltenswerte Traditionsbestände in der Gegenwart her und geleiteten erst auf dieser Grundlage sicher in eine Zukunft. Revolutionen blieben dabei ambivalent, da sie einerseits einen Fortschrittssprung ermöglichten, der aber andererseits erst dann sein Zukunftspotential entfalten konnte, wenn sein traditionsabschneidendes Destruktionspotential mittels Reformen in evolutionäre Bahnen gelenkt wurde. Insbesondere die in Deutschlands Norden und Mitte durchgesetzten Verfassungen konnten ein Bindeglied zwischen Tradition und neuer Zeit schaffen und die sich zahlreich bietenden Möglichkeitshorizonte einer zukunftsoffenen Entwicklung reduzieren. Die in Bewegung geratene politische Landschaft konnte nun auch für die Nationsbildung genutzt werden. Rotteck als einer der führenden badischen Liberalen sieht 1831 die Möglichkeit für eine »deutsche Reichsvertretung« gekommen, für eine Nationalrepräsentation, in die der partikularstaatliche Kon117 Perthes, Bd. 3, S. 349.

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stitutionalismus münden solle.118 Der »Drang der Begebenheiten« seit der J u lirevolution habe diesen Gedanken nicht als »Sprung mehr über eine Reihe politischer Bildungsjahre hinaus zu einem gefährlichen Aeußersten [gebracht], sondern es ist ein einfach natürlicher Schritt, der an die seither durchlaufene Bahn der Entwicklung folgerichtig sich anschließt«. Nun gelte es, den Augenblick zu nutzen, »wo wir den sicheren Hafen zu erreichen, den festen Boden eines deutschen Vaterlandes zu betreten hoffen«. Die Beschleunigung der politischen Bewegung in den Revolutionen hat also nach Ansicht Rottecks die Möglichkeit eröffnet, einen Nationalstaat aus der konstitutionellen Entwicklung heraus zu begründen - so vielfältig die nationalpolitischen Konzepte badischer Liberaler auch waren. 119 Für Rotteck ist die Gleichzeitigkeit von einzelstaatlicher Souveränität und deutscher Kulturnation kennzeichnend. Hinter diesem Gedanken stand ein subjektiver und kosmopolitischer Nationsbegriff, der sich an den westlichen Nationen und Werten orientierte und den machtbetonten, egoistischen und emotionalen Nationalismus ablehnte. 120 Unter Nation »verstanden sie eine nach innen und außen freie Gemeinschaft freier und gleicher Individuen. Die Freiheit gehörte dabei unmittelbar zur nationalen Identität der Deutschen.« 121 Daraus resultierte die Abneigung gegen ein absolutistisches Preußen als nationale Vormacht. Diese Haltung vertritt auch ein Briefpartner aus dem »Briefwechsel zweier Deutscher« des württembergischen Liberalen Paul Pfizer aus dem Jahre 1832. Friedrich als Anhänger der Triasidee erwartet eine geistige Wiedergeburt Europas, deren Anfang mit der Reformation als epochalen Beginn einer neuen Zeitrechnung anzusetzen sei und an deren Spitze Deutschland zu stehen habe. Die Idee der Freiheit solle ohne »gewaltsame Verfassungsänderungen« langfristig verwirklicht werden, um die religiöse Reformation politisch zu vollenden. 122 Schädlich seien vor allem die Menschen, welche die Gegenwart auf Kosten der Zukunft preisgeben wollten und auf einen schnellen Umsturz hinarbeiteten, wie sie es von den französischen Staatsumwälzungen übernommen hätten. Doch Revolutionen seien weder etwas »Sittlichgroßes« noch etwas Notwendiges, und von ihnen sei keine Hilfe für die Gebrechen der Zeit zu erwarten, denn:

118 Vgl. auch im folgenden Allgemeine politische Annalen, 1831, Bd. 3, S. 29 f. 119 Diese Konzepte reichten Anfang der 1830er Jahre von dem Gedanken einer konstitutionellen Bundesreform, einer konstitutionellen Triasidee im Bündnis mit Frankreich und der Sicherung der Souveränität Badens bis hin zu einem konstitutionalisierten Preußen als Vormacht der nationalen Einheit (vgl. M . Meyer, S. 101). Zur Triasidee in der deutschen Publizistik unter dem Einfluß der europäischen Revolutionen vgl. Burg, S. 198 ff. 120 Vgl. ebd., S. 77 ff. 121 Ebd., S. 269. 122 Vgl. Pfizer, Briefwechsel, S. 5 ff.

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»Allein Revolutionen sind immer ein Uebel und selten ein nothwendiges und unvermeidliches. Alles, was durch Revolutionen erreicht werden soll, steht durch ruhigwirkende, friedliche Mittel sicherer und besser zu erreichen. Denn auch die glücklichsten Revolutionen sind nur scheinbare Ausnahmen von dem Weltgesetz der Stetigkeit, sie sind entweder lange vorbereitet und stellen nur das endliche Bersten der Knospe dar, oder es bedarf wenigstens bei jeder plötzlichen, mit gewaltsamen Erschütterungen verbundenen, Umkehrung... einer langen Zeit, bis die neue Ordnung der Dinge zu einer organischen wird und sich somit beruhigt.«123 Revolutionen sind also wieder der Abschluß einer lang vorbereiteten Entwicklung, oder sie bedürfen einer längeren Zeitspanne, um die neue Ordnung in den ruhigen Gang der Reform integrieren zu können. Angemessener angesichts des »Weltgesetzes der Stetigkeit« sei daher die allmähliche Konstitutionalisierung des Deutschen Bundes, mit welcher der langfristige Prozeß der Nationalstaatsbildung zu beginnen habe, denn der Gang einer Revolution sei nicht mehr zu lenken. 124 Das »Fortschreiten auf der Bahn constitutioneller Freiheit [ist] jetzt zur Nothwendigkeit geworden« und habe die »Gewalt einer Naturkraft gegen den Absolutismus« gewonnen. 125 Ihr werde sich auch Preußen fügen müssen. Der Süden sollte in dieser Vorstellung als Kern einer neuen Einheit den Norden an sich binden und entsprechend dieser Magnettheorie auf den Zusammenschluß aller konstitutionellen Staaten des sogenannten ›dritten Deutschland ‹ hinwirken, das sich eng an Frankreich anzulehnen hoffe.126 Hinter diesem Nationalkonzept, dem teilweise auch Rotteck und Welcker anhingen, standen Vorstellungen einer wirtschaftlich vorindustriellen, politisch aber dynamischen Gesellschaft in Süddeutschland, aus der sich der gemeinbürgerlich-aufgeklärte Grundzug des Liberalismus und sein Leitbild einer »klassenlosen Bürgergesellschaft« (Lothar Gall) speisen konnten. Liberale Politik galt »als Durchsetzung der Idee des Rechts im Dienst eines unaufhaltsamen Fortschritts der Menschheit insgesamt, Verwirklichung eines objektiv zu erkennenden Gemeinwohls«. 127 Geschichte wurde zum Fortschritts- und Bildungsprozeß mit dem Ziel der Verwirklichung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Erst aus der konstitutionellen Kontinuität heraus hatte sich langsam ein Nationalstaat zu entwickeln, nicht aus einem revolutionären und unkontrollierbaren Bruch oder einem Verlust der konstitutionellen Tradition, wie er bei einer nationalen Vormachtstellung Preußens drohen würde. Allenfalls ein konstitutionalisiertes Preußen hätte die Initiative bei einer nationalen Reform Deutschlands übernehmen können. Diese Art der Annäherung an den preußischen Staat bemüht der rheinische Liberale Hansemann in einer Denkschrift 123 124 125 126 127

Ebd, S. 241 f. Vgl. ebd., S. 276 f. Ebd., S. 352, 354. Vgl. ebd., S. 296ff.;vgl. außerdem M. Meyer, S. 71 ff, 88 ff M. Meyer, S. 83. 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

aus dem Jahr 1830. Dort verlangt er eine »die wahre Kraft der Nation repräsentierende Versammlung« und einen kraftvollen und föderal orientierten neuen deutschen Bund unter der Führung eines reformierten Preußens, das Privilegien abschaffen und eine konstitutionelle Regierung und Pressefreiheit gewähren solle. Preußen müsse die Gunst der Stunde ergreifen, denn die »Geschichte wird Wehe über die Staaten ausrufen, welche die Zeit verkannten und die entscheidenen Augenblicke nicht aufzufassen verstanden«. Preußen werde in der deutschen Einheit aufgehen, seine konstitutionelle Wiedergeburt diejenige Deutschlands nach sich ziehen. Der andere Briefpartner aus Pfizers »Briefwechsel«, der Ansichten des Verfassers vertritt, erkennt ebenfalls den geistigen Reichtum Deutschlands an, betrachtet diese Tradition aber nicht mehr als angemessen für eine gärende Zeit, wie sie sich seit der Julirevolution offenbare: »Aber alle diese Keime einer besseren Zukunft gehen in dem dürren Stoppelfeld der Gegenwart verloren ohne die baldige Rückkehr zum Leben und zur Wirklichkeit. ... Die Zeiten der ruhigen Comtemplation, der friedlichen Versenkung in die Tiefen der inneren Welt sind vorüber, und unsre Lage fordert thatkräftigen Entschluß, statt müßige Träume. Doch scheint leider die Zeit größer, klüger, gebildeter zu seyn als die Individuen: überall keimt es und gährt, aber noch fehlt der zündende Sonnenstrahl eines vorleuchtenden Genius.«128 Die Zeit drohe über den Menschen hinwegzufegen. Der »große Kampf der Gegenwart, der jetzt die europäische Welt in ihren Grundfesten bewegt und erschüttert, wird um die Existenz und die Rechte der Nationen gekämpft«, wohinter Deutschland nicht zurückbleiben dürfe.129 In der Gegenwart könne die territoriale Zersplitterung nicht mehr Schutz für Freiheit, Bildung und Aufklärung bieten, denn diese seien nicht mehr den Bewegungen der Zeit gerecht geworden; dafür bedürfe es nun der nationalen Wiedergeburt. 130 Diese habe aber im neuen Gewande stattzufinden, denn ein Anschluß an das alte Kaisertum sei nicht mehr möglich: »Der Strom der Zeit läßt sich nicht gegen seine Quelle zurückdrängen; es gibt keinen Zauberspruch, das Todte wieder zu erwecken, immer neue Gestalten drängen sich, aber das Erstorbene wird nie in derselben Gestalt wieder lebendig«. 131 In dieser gärenden und bewegten Zeit, in der die Gegenwart schwanger gehe mit neuen Geburten, befinde sich Deutschland auf einer Übergangsstufe: Es müsse »seine mit der Reformation begonnene Bestimmung, als die geistige Macht Europa's« vollenden und eine neue Zukunft öffnen - und zwar, indem 128 129 130 131 132

Pfizer, BriefWechsel, S. 147 f. Ebd., S. 172; vgl. auch Pfizer, Gedanken, S. 4. Vgl. Pfizer, BriefWechsel, S. 183, 185; ders., Gedanken, S. 5. Pfizer, Briefwechsel, S. 218. Ebd., S. 221.

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»ein neuer Anknüpfungspunkt zu festerer Einigung gefunden« werde. 132 Österreich sei den »Impulsen der neuen Zeit« nicht gefolgt. Deshalb müsse man sich Preußen zuwenden, da es in seiner Verwaltung, Regierung, Volksbewaffnung und Wirtschaftsordnung am zeitgemäßesten sei. Im Gegensatz zu Österreich hätten sich hier Freiheit und Aufklärung parallel entwickelt, und in einem Zusammengehen des Südens mit dem Norden würden sich Recht und Macht vereinigen. 133 Für eine Nationalvereinigung ohne die Macht Preußens sei hingegen der Patriotismus des deutschen Volkes zu wenig ausgeprägt und zu egoistisch. Statt die Forderung nach konstitutioneller Freiheit zunächst hinter die Einheit zu stellen, würden die Deutschen »lieber auf eine Revolution oder auf sonst ein unvorhergesehenes und unerhörtes Ereignis [setzen], das zwar eintreten kann, auf welches aber seine ganze Rechnung abzuschließen Wahnsinn ist, weil Revolutionen aller Berechnung spotten und außerordentliche Ereignisse nur dann zum Besseren fuhren können, wenn die Richtung und der Wille zum Besseren überwiegend vorhanden sind.«134 Revolutionen lehnt Wilhelm also ebenso ab wie Friedrich, da sie nicht mehr von Menschen Hand zu gestalten seien, allenfalls als sprunghafter Abschluß einer schon fortgeschrittenen Bewegung fungieren können. Anders als Friedrich sieht Wilhelm aber in einer fortschreitenden Konstitutionalisierung der Einzelstaaten keine Möglichkeit mehr, zu einer machtvollen Einheit Deutschlands in Europa zu gelangen, da die territorialen Eigeninteressen zu ausgeprägt seien. Die ehemals Freiheit verbürgende Landeshoheit der Fürsten sei nach der Reformation, als die Kaiser Deutschland aufgaben, zu einem zerstörerischen Wettstreit gegeneinander degeneriert, und erst Friedrich der Große habe sich als der würdigste unter den Fürsten erwiesen und den Anfang gesetzt, Deutschland unter seiner Krone zu einigen. 135 Diesen Neuansatz gelte es weiterzuführen, da nur unter Preußens Führung und unter Beteiligung aller deutschen Regierungen eine Nation zu verwirklichen sei, ohne auf halbem Wege stecken zu bleiben. Erst nach Lösung dieses dringlichsten Problems könne auch die konstitutionelle Freiheit ausgebaut werden, ohne auf eine Revolution zurückgreifen zu müssen. Kurz nach der Julirevolution sieht auch Perthes nur eine Möglichkeit, der aus den Fugen geratenen Zeit zu begegnen: »national müssen wir uns halten, und die einzige Art, in welcher nationale Gesinnung heute sich äußern kann, ist das möglichst feste Anschließen an Preußen.« 136 Und noch 1832 fragt er sich, wo wir bei diesem zunehmenden »Gedränge« bei Jahresfrist stehen werden, und prognostiziert eine große Umwandlung, denn »auch in Deutschland kann es 133 Vgl. ebd., S. 228; ders., Gedanken, S. 32 ff. 134 Pfizer, Briefwechsel, S. 268 f. 135 Vgl. ebd., S. 272 f. 136 Perthes, Bd. 3, S. 318 f. 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

nicht bleiben wie es ist, man muß gestalten; der Bundestag vermag es nicht. Wird Preußen dazu gedrängt werden?« 137 Allein Preußen wird also noch die Fähigkeit zugeschrieben, auf den drängenden revolutionären Veränderungsdruck reagieren zu können. 138 Jedoch die Auffassung, daß eine Nationalstaatsgründung und nicht mehr vorrangig die Konstitutionalisierung der Einzelstaaten dem Zug der Zeit entspreche und diese Bewegung unter preußischer Führung kontrolliert stattzufinden habe, findet sich im Anschluß an die Revolutionen von 1830 nur vereinzelt unter liberalen Stimmen und wird den Erwartungshorizont erst in den vierziger Jahren in verstärktem Maße prägen.

3. Die unvollendete demokratische Revolution Der demokratische Radikalismus in seinem Facettenreichtum war ein Kind des »konstitutionellen Mehrheitsliberalismus«, dessen Kompromißbereitschaft er mit einer scharfen Staats- und Gesellschaftskritik geißelte. 139 Oftmals agierte er noch außerhalb der Kammerdebatten und der liberalen Publizistik und solidarisierte sich angesichts der Repressionsmaßnahmen des Deutschen Bundes und der Einzelstaaten untereinander, bevor er in den vierziger Jahren eine eindeutige Alternative zum Liberalismus darstellte und sich in konkurrierende Richtungen bis hin zum Sozialismus und Kommunismus aufspaltete. Frustriert über die anhaltende Restaurationszeit und enttäuscht über den konstitutionellen Liberalismus, wandten sich seine Vertreter demokratischen Ideen und der Kritik am deutschen Idealismus insbesondere Hegelscher Provenienz zu. Die sich überlagernden Krisen sensibilisierten sie für die neuartigen sozialen und wirtschaftlichen Mißstände. Ihre eigene »Status-Inkonsistenz«, also »die Diskrepanz zwischen lang gehegten Erwartungen und realer sozialer Lage«, schien ihre Kritik lebensgeschichtlich zu bestätigen und zu verstärken. 140 Seine erste Phase hatte der politische Radikalismus schon in den Jahren 1815 bis 1819, organisiert in Burschenschaften. Die Pariser Julirevolution läutete die zweite Phase insbesondere im deutschen Südwesten ein, die ihren Höhepunkt im Hambacher Fest erreichte. Deshalb soll in diesem Kapitel auch nur die eine Erscheinungsform des vormärzlichen Radikalismus behandelt werden, nämlich die im Südwesten beheimatete ›populistische ‹ um Johann Georg August 137 Ebd., S. 356. 138 Vgl. auch Die neue Zeit von einem alten Constitutionellen, 1831, Bd. 5, S. 88 f. 139 Vgl. auch im folgenden Wehler, Bd. 2, S. 431 ff.; vgl. ebenfalls die instruktive Studie zu dem von der Forschung bis heute vernachlässigten Thema des vormärzlichen Radikalismus von Wende, Radikalismus im Vormärz, im folgenden besonders S. 13 ff.; ders., Radikalismus, S. 114—125; zur notwendigen Unterscheidung von Liberalismus und Radikalismus im deutschen Südwesten vgl. auch Fenske, S. 13 ff.; zum literarischen Radikalismus vgl. Köster. 140 Vgl. Wehler, Bd. 2, S. 434 f.

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Wirth und Philipp Jakob Siebenpfeiffer. Der sogenannte ›intellektuelle Radikalismus ‹ der vor allem in Preußen angesiedelten Linkshegelianer fand dagegen erst seit Ende der dreißiger Jahre eine größere publizistische Wirksamkeit. Er blieb aber auch dann noch ein »Speer ohne Schaft«, da er sich auf kleine Kreise beschränkte und ihm der Sprung in die praktische Politik nicht gelang.141 Im Gegensatz dazu vermochte insbesondere der Radikalismus der Pfalz eine Massenbewegung zu mobilisieren. Hier konzentrierte sich wegen des französischen Einflusses, der Abneigung gegen die bayerische Regierung und der wirtschaftlichen Mißstände die demokratische Opposition Anfang der dreißiger Jahre. Seitdem entfremdete sich diese politische Strömung aufgrund ihrer radikalen Forderungen nach einem nationaldemokratischen Einheits- oder Föderalstaat, nach Volkssouveränität und bürgerlich-politischen (Wahl-)Rechten ohne soziale Zugangsbeschränkungen zusehends vom Liberalismus, auch wenn liberale und demokratische Vorstellungen oftmals noch ineinandergriffen.142 Revolutionen als unwiderstehlicher und autogener Prozeß innerhalb einer Fortschrittsbewegung - diese Erfahrung der Ohnmacht angesichts einer übermächtig fortschreitenden Zeit bestimmte den Wahrnehmungshorizont der demokratischen Strömungen auch vier Jahrzehnte nach dem als epochal empfundenen Neuanfang der Französischen Revolution. Die Pariser Julirevolution wird ebenfalls als Auftakt zu einer neuen Epoche im kosmopolitischen Sinne betrachtet, wenn einer der wirkmächtigsten Vertreter des pfälzischen Radikalismus, Wirth, in seinem Blatt »Die Deutsche Tribüne« noch 1831 ausruft: »Der 29. Juli eröffnete eine große Epoche der Weltgeschichte: denn an diesem Tage begann der Lauf der neuen Zeit, die großartiger und colossaler als je in dem Streben zur Wiedergeburt und zur weltbürgerlichen Verbrüderung aller Völker ihren Charakter findet.«143 Angesichts der europaweiten Unruhen wird der Revolution ein universaler Charakter konzediert. In einem Artikel über die polnische Revolution heißt es in dem frankophilen Journal »Das konstitutionelle Deutschland«, daß die Revolution im Fortschreiten sei, sie die Welt durchwandere, ohne daß die Menschheit zurückgehen müsse: »Sie wird sich nicht zurückwerfen lassen in die dunkle Nacht längst entflohener Jahrhunderte«, kein Despotismus oder Pfaffentum werden »dem rollenden Wagen der Zeit in die Speichen greifen; sie werden mit fortgerissen und zertrümmert werden«.144 Angesichts der Durchsetzungskraft der »liberalen Ideen« wird in der 141 Vgl. ebd., S. 435; vgl. auch Faber, Strukturprobleme, S. 218 f. 142 Vgl. zu den Verfassungsprinzipien des demokratischen Radikalismus Huber, Bd. 2, S. 405 ff.; zu den Hambacher Forderungen vgl. Foerster, Hambacher Fest, S. 122; Koch, S. 225 f.; zum Verhältnis von Radikalismus und Konstitutionalismus vgl. Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 48 ff. 143 Die Deutsche Tribüne, Nr. 49 vom 20.8.1831, Sp. 396; vgl. auch ebd., Nr. 27 vom 29.7.1831, Sp. 217. 144 Das konstitutionelle Deutschland, Nr. 62 vom 21.10.1831, Sp. 2 f.

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»Deutschen Tribüne« auf einen Ausspruch Napoleons Bezug genommen: »Läßt man auch der Conterrevolution freien Lauf, so wird sie unvermeidlich bald sich selber in der Revolution ersäufen.... Nichts wird im Stande seyn, die großen Grundsätze unserer Revolution aus der Welt zu bringen. ... Ihre U n sterblichkeit ist gesichert!«145 Hier griffen die Zeitgenossen wieder auf eine Fortschrittsgewißheit im Rahmen von Revolutionen zurück, die schon die demokratischen Reaktionen auf 1789 kennzeichnete und sich bis 1830 trotz aller Revolutionsskepsis auch der Liberalen bemächtigte. Der furchtsamen und hinhaltenden Politik der deutschen Regierungen zum Trotz »schreitet die Zeit wunderbar vorwärts, so daß, wenn man sich aufs Festhalten und Beschwichtigen beschränkte, nothwendig in Kurzem wieder eine Haupterschütterung erfolgen müßte«, so einer der führenden Demokraten der Pfalz, Siebenpfeiffer, in seiner Zeitschrift »Rheinbayern«. 146 Deutschland werde sich den Bewegungen in Frankreich und England nicht entziehen können, sondern sie bei jeder Behinderung revolutionär beschleunigen. Revolutionen nähern sich selber zunehmend der unablässig fortschreitenden Zeit an, wenn Siebenpfeiffer in seinem Blatt »Westbote« bemerkt, daß die deutschen Fürsten eine »gesetzliche Revolution« nicht zustande gebracht hätten, man aber dennoch sicher sein könne, daß »die Zeit der Verwandlung kommt. Die Natur ist allmächtig. Schon vor 40 Jahren hat man gesagt, die Revolution werde die Runde um die Erde oder doch durch Europa machen. Sie schreitet fort und fort, und unbemerkt bald rückwärts. Sie hätte längst die Bahn vollendet, wäre man ihr nicht überall hemmend in den Weg getreten. Und das war gut so: die Völker mußten erst heranreifen. Die Vorsehung geht ihren Gang; sie kennt ihre Zwecke und kennt ihre Mittel; sie kennt sie so genau, daß auch der Despotismus ihr dient.«147 Auch über die trostlose Restaurationszeit hinweg habe man sich den Glauben an ein »Fortschreiten der Menschheit« bewahrt, beteuern einige Redner 1832 in Hambach. Jetzt sei aber endlich das »Morgenroth eines neuen Jahrtausends« angebrochen. 148 Und auch 1830 schien die Revolution noch nicht zum Ende gekommen zu sein, sondern lief ähnlich wie nach 1789 in Frankreich auf eine gänzliche Umgestaltung des Gesellschaftssystems hinaus, so daß der Verfasser eines Artikels über »Die Lage in Europa« eine »neue Revolution« prognostiziert: »Aber diese dritte Revolution gilt dann dem Köngsthrone und endigt mit - der Republik!« 149 145 Die Deutsche Tribüne, Nr. 29 vom 31.7.1831, Sp. 234; vgl. auch Das konstitutionelle Deutschland, Nr. 11 vom 18.2.1831, Sp. 1. 146 Rheinbayern, 1831, Bd. 5, S. 130. 147 Westbote, Nr. 62 vom 2.3.1832, Sp. 490. 148 Vgl. die Rede Brüggemanns, in: Wirth, Nationalfest, S. 80; die Rede von Barth, in: ebd., S. 75. 149 Der Volksfreund, Nr. 7 vom 9.6.1832, S. 35. 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Epochenbruch- und Kontinuitätserfahrung gingen in dieser revolutionären Fortschrittsbewegung ineinander über. Kontinuität stiftet der Rekurs auf die Französische Revolution, deren Errungenschaften wie »Abschaffung des Lehnwesens, der Zünfte, erblichen Privilegien, des Zehntens, der Frohnen« für Deutschland noch ausstünden, so im EröfFnungskapitel des ersten Bandes des »Rheinbayern«. Dies bedeute, daß »die Revolution auch bei uns ihren Kreislauf vollenden muß«.lS0 ›Kreislauf ‹ meint hier nicht mehr die Rückkehr zu einem Ausgangspunkt, sondern die Erfüllung der Aufgabe der Revolution in der Durchsetzung von Volksvertretungen oder Pressefreiheit.151 Die Erinnerung an die Prinzipien von 1789 blieb damit auch 1830 präsent und ordnete die Revolution in ein geschichtliches Kontinuum ein.152 Darüber hinaus sprach die verdichtete Ereignisabfolge und Bedeutungsfülle der Pariser Revolution von 1830 aber auch für ein einschneidendes Erlebnis, das mit der Vergangenheit brach: »Die Begebenheiten seit jenem Tage [des Pariser Revolutionsausbruchs] sind so überschwenglich und furchtbar, daß sie unsern ganzen Geist, Verstand wie Phantasie, einnehmen und beschäftigen, und daß man Mühe hat, den öffentlichen Zustand, der ihnen vorherging, sich klar zurückzurufen und mit Ruhe zu überdenken: es ist, als ob Jahrhunderte zwischen jenem denkwürdigen Tage und dem heutigen lägen, und es sind erst fünf flüchtige Monate«.153 Immer wieder wurde die Plötzlichkeit der ausbrechenden und die Beschleunigung der fortdauernden Revolution in Frankreich betont, der revolutionäre Augenblick, der sich perpetuierte und an den sich weitreichende Folgen mit beängstigender Geschwindigkeit knüpften. So spricht ein Zeitgenosse in der »Deutschen Tribüne« von dem »Ereignis des Jahrhunderts«, das »gleich einem elektrischen Strahle alle europäischen Völker berührt und in deren Gemüthern einen Funken geweckt [hat], welcher ... ein junges Leben über die veralteten Staatskörper ausgießen wird«. 154 Die fortschrittlichen Ideen in Frankreich hätten sich mit einer Schnelligkeit und Tiefe verbreitet, »welche nur diejenigen in Erstaunen setzen, die diesen klassischen Boden der Freiheit nicht mit Aufmerksamkeit betrachten«. 155 Noch immer sei die Revolution in Frankreich »reich an wichtigen Folgen für das politische Verhältnis der verschiedenen Staaten von Europa« gewesen und fessele »die Aufmerksamkeit jedes denkenden Mannes«. 156 150 Rheinbayern, 1830, Bd. 1, S. 7. 151 Vgl. ebd., S. 8. 152 Vgl. auch Die Deutsche Tribüne, Nr. 19 vom 21.7.1831, Sp. 153. 153 Rheinbayern, 1830, Bd. 1, S. 311. 154 Die Deutsche Tribüne, Nr. 19 vom 21.7.1831, Sp. 153. 155 Ebd., Nr. 28 vom 1.2.1832, Sp. 217. 156 Das konstitutionelle Deutschland, Nr. 7 vom 21.1.1831, Sp. 1; vgl. auch Die Deutsche Tribüne, Nr. 18 vom 20.7.1831, Sp. 142. 183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Es sollten diese Erfahrungen einer beschleunigten und zukunftsbetonten Gegenwart sein, die über die als Stagnation empfundene Restaurationsphase hinweg einen Wiedereinstieg in die Erwartungen von 1789 ermöglichen konnten. Vor 1830 habe Deutschland im politischen Schlaf gelegen, so der »Westbote«, aber der »Donner der Kanonen vom Juli erweckte das schlafende Volk; es rieb sich erwachend die Augen und sah erstaunt, wie Bürgerhände die Macht eines Despoten überwältigten«.157 Während der Restauration hätten sich die meisten Staaten Europas »mit ihren innern Angelegenheiten [beschäftigt], w e nig fortschreitend, manche rückgängig, einige stillstehend, sofern ein Stillstand im Staats- und Volksleben denkbar und möglich ist«.158 Reformen dieser Zeit seien regressiv gewesen, da »man in der That von 1815 bis 1830, alljährlich mit wachsenden Riesenschritten, zurückreformierte«. 159 Auf dem Wiener Kongreß habe die Gegenrevolution im Namen der Legitimität und in Gestalt der Heiligen Allianz sowie des Deutschen Bundes beschlossen: »Das Jahrhundert sollte umkehren und ein paar Jahrzehnte ungeschehen gemacht werden ... Zugleich wollte man sich gegen das Vorrücken der Zukunft sicherstellen. Die große Diktatur wurde errichtet, durch nichts gebunden, als durch die Grundsätze der Stabilität.«160 Woran in den Jahren nach 1830 immer wieder erinnert wurde, waren die Verfassungs- und Nationalversprechungen der Fürsten aus den Befreiungskriegen, die noch immer ihrer Einlösung harren würden. 161 Vor 1813 habe man, so Siebenpfeiffer 1831, »ja nicht für Deutschland und nicht für die Freiheit gekämpft, sondern gegen die Revolution, für die Legitimität. Seit der französischen Revolution [von 1789], welche ganz Europa umwandelte, hat immer der Fluch einer geistigen Trennung auf Deutschland geruht. Freiheit und Nationalität, die zwei großen Tendenzen der neuen Zeit, waren für uns immer auf zwei entgegengesetzten Seiten. Wir konnten die eine nicht vertheidigen, ohne die andre zu bekämpfen. So stand Deutschland in der Wahl zwischen Freiheit und großer Nationalität.«162 Auch im Krieg gegen Napoleon habe zunächst das zerrissene Deutschland gegen den französischen Despotismus gekämpft. Nur am Beginn der Befreiungskriege seien Freiheit und Nationalität »auf einen Augenblick Verbündete« gewesen, was seit Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen sei: »Diese neue Kraft drang durch, und nun erwartete man, von so vielen Blüthen auch die Früchte 157 Westbote, Nr. 43 vom 12.2.1832, Sp. 337. 158 Rheinbayern, 1830, Bd. 2, S. 307; vgl. auch ebd., 1830, Bd. 1, S. 8 f. 159 Ebd., 1830, Bd. 4, S. 174. 160 Rheinbayem, 1831, Bd. 3, S. 52. 161 Vgl. z. B. Die Deutsche Tribüne, Nr. 1 vom 1.7.1831, Sp. 1 ff.; Das konstitutionelle Deutschland, Nr. 61 vom 18.10.1831, Sp. 1 f.; Rede Brüggemanns auf dem Hambacher Fest in: Wirth, Nationalfest, S. 80. 162 Rheinbayem, 1831, Bd. 3, S. 50. 184 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

reifen zu sehen.«163 Doch diese Erwartungen habe die repressive Bundespolitik erstickt. »So brannte das Feuer allgemeiner Unzufriedenheit unter dünner Hülle fort, bis der schreckliche Stoß der französischen Revolution Risse schlug, wodurch die Flamme überall zugleich hervorlodert, wo nur die leiseste Luft sich bewegt.«164 Deutschlands Aufgabe sei es nun, die versprochene Freiheit und Nationalität zu verwirklichen, worin Frankreich erneut vorangeschritten sei.165 Die gegenwärtigen Erfahrungen der Julirevolution als der Beginn einer neuen Zeit aktualisierten die permanent enttäuschten Erwartungen der Vergangenheit nach freiheitlichen Verfassungen und nationaler Einheit: »Eine neue große Zeit schreitet über die Bühne der Welt, beschäftigt die Sünden der Vergangenheit wider das menschliche Geschlecht zu sühnen und die nieder getretene menschliche Würde in ihre Rechte einzusetzen«, so Wirth in der »Deutschen Tribüne«.166 Die Erfahrungen um die Revolutionen von 1830 legten damit eine Annäherung an ehemalige Erwartungen nahe, blieben aber auch Desiderate, da die reale Entwicklung in Deutschland nicht den Vorstellungen vieler Demokraten entsprach. Im »Rheinbayern« beklagt sich ein Demokrat am Ende des Jahres 1830, daß es trotz der beschleunigten Ereignisse »in unserm Deutschland, wenige kleine Distrikte abgerechnet, fast noch ganz [ist] wie es zuvor war!« 167 Die Revolution als »plötzliche Verlassung des Staatsprinzips« zugunsten einer Art Volkssouveränität habe sich in Deutschland noch nicht durchgesetzt: »In Deutschland überall, selbst in den sogenannten constitutionellen Staaten, herrscht bis zur Stunde das Prinzip des Absolutismus (wer dies bestreitet, kennt die Verhältnisse nicht oder verleugnet sie); an dessen Stelle muß das der Zeit angehörige, das Prinzip der Volksthümlichkeit treten«.168 Mit Ausnahme der badischen Kammer hätten die Ständeversammlungen seit der Julirevolution wenig bewirkt: »Rede man mir nichts vom constitutionellen Leben in Deutschland, wir haben keins«, denn es sei eine »Täuschung«.169 Die Reaktion leiste dem Beginn einer neuen Zeit in Deutschland großen Widerstand, verwehre man doch jede Hilfe für das revolutionäre Polen und gegen das autokratische Rußland. 170 Preußen gehe sogar so weit, durch seinen offenen Neutralitätsbruch gegen Polen einen Krieg mit Frankreich zu provozieren und sich so gegen das Prinzip der »Freiheit der Völker« zu wenden. Damit drohe eine neue 163 Ebd., S. 51. 164 Ebd., 1830, Bd. 1, S. 2. 165 Ebd., 1831, Bd. 3, S. 54. 166 Die Deutsche Tribüne, Nr. 27 vom 29.7.1831, Sp. 217; vgl. auch die Rede, in: Wirth, Nationalfest, S. 21. 167 Rheinbayern, 1830, Bd. 1, S. 311. 168 Ebd., 1831, Bd. 4, S. 177. 169 Ebd., 1831, Bd. 5, S. 109; vgl. zur Wahrnehmung der reaktionären Politik in den Einzelstaaten ebd., 1831, Bd. 4, S. 152 ff. 170 Die Deutsche Tribüne, Nr. 27 vom 29.7.1831, Sp. 217.

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Katastrophe, welche die Völker aber nur benützt hätten, um ihre »Angelegenheiten geschickteren Händen anzuvertrauen«, so in Wirths Zeitschrift »Das liberale Deutschland«. 171 Es ist der deutsche Rückstand, der immer wieder gegenüber der Entwicklung in Frankreich betont wird und nicht zu einem Krieg fuhren dürfe.172 Insbesondere im »Rheinbayern« wird Wert darauf gelegt, »daß man Frankreichs Zustand rein und wahr erkenne wie er ist. In ihm liegt der Schlüssel der Zukunft von ganz Europa«.173 Anders als 1789 drohten in Frankreich nun keine Radikalisierung der Revolution und auch keine Interventionen gegen Deutschland, da sich die Julirevolution allein gegen den Absolutismus, das göttliche Recht und ständische Privilegien gerichtet habe.174 Frankreich sei durch eine vierzig Jahre währende Erfahrungsschule gegangen, »wie sie sonst kaum Jahrhunderte, kaum Jahrtausende darbieten; es ist zum Mannesalter gereift«. Die Pariser Julirevolution sei damit »nicht anders als die Ueberwältigung des Widerstandes, den man dem natürlichen Gang der ersten entgegengestellt hatte«.175 Der revolutionäre Wiedereinstieg in den ›natürlichen ‹ Lauf der Zeit und somit in den nach 1815/19 blockierten Reformprozeß dominierte auch die Hoffnungen für Deutschland: »Die denkwürdige Pariser Revolution des Julius öffnete den Völkern die Augen über die Schwächen einer im Finstern wirkenden Gewalt; sie erkannten die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse als unabweisliche geltend zu machen.« 176 Doch blieb die Verwirklichung dieser Bedürfnisse gerade in der Rheinpfalz hinter den Erwartungen zurück, als Ende 1831 der bayerische Landtag geschlossen wurde und Unterdrückungsmaßnahmen wie die Verschärfung der Zensur- und Presseverordnung durch die bayerische Regierung zunahmen. 177 Vor allem müsse, so 1831 im »Rheinbayern«, der Druck des Deutschen Bundes von Deutschland genommen werden, »und ihr werdet ein einiges und freies Deutschland entstehen sehen und zwar durch Hilfe der eigenen Fürsten, sobald sie frei handeln können und zur Einsicht dessen gelangen, was ihnen selbst und den Völkern Noth thut«. 178 Die Revolution habe in Deutschland also noch nicht ihre Aufgabe erfüllt und könne dies nur durch eine enge, aber rein geistige Anlehnung an Frankreich: »nur durch Frankreichs 171 Das liberale Deutschland, Nr. 2 vom 10.8.1831, Sp. 33 ff.; vgl. zur Furcht vor einem europäischen und deutsch-französischen Krieg den Artikel von Siebenpfeiffer in: Rheinbayern, 1831, Bd. 2, S. 22-64. 172 Vgl. Rheinbayern, 1831, Bd. 3, S. 46. 173 Vgl. den Aufsatz »Deutschland und Frankreich«, der das Verhältnis der beiden Länder angesichts der Julirevolution beleuchtet, in: Rheinbayern, 1831, Bd. 3, S. 129-183. 174 Vgl. ebd., S. 140. 175 Ebd.,S. 149 f., 140. 176 Die Deutsche Tribüne, Nr. 10 vom 12.7.1831, Sp. 89. 177 Vgl. Foerster, Hambacher Fest, S. 114; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 352. 178 Rheinbayem, 1831, Bd. 4, S. 176.

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geistigen Einfluß - einen andern will ich nicht - kann Deutschland sich von der Vormundschaft der nordöstlichen Barbarei und dem Absolutism loswinden. Frankreich ist die Wiege oder der Heerd der Civilisation oder Freiheit«. 179 Siebenpfeiffer plädiert für eine eigenständige Entwicklung Deutschlands, die sich aber ins Bewußtsein rufen müsse, was sie Frankreich ideell schulde. 180 So wünscht sich der Verfasser eines Artikels über »Die neue Zeit« sogar einen »weltbürgerlichen, constitutionellen Napoleon«, der »Europa reformieren und diesen Welttheil vor den Stürmen wahren können [wird], die bei der gegenwärtigen Lage der Dinge früh oder spät über ihn hereinbrechen werden«. 181 Außerdem würde eine vollzogene Revolution in Deutschland sich auch wiederum positiv auf Frankreichs konstitutionelle Entwicklung auswirken, diese vollenden und Frieden in Europa schaffen.182 Daß in Deutschland nach der Julirevolution die wichtigsten demokratischen Veränderungen noch ausgeblieben seien, das war also die fast einhellige Meinung der rheinpfälzischen Demokraten. 183 Gewaltsame Revolutionen für Deutschland werden abgelehnt, nicht aber Revolutionen an sich.184 Aufgabe in Deutschland sei es, die »Revolution auf gesetzlichem Wege zu bewirken. Politische, überhaupt sittliche Revolutionen, d. h. ein Umschwung der Völkerverhältnisse, haben das mit der Naturrevolution gemein, daß sie mit unwiderstehlicher Gewalt vor sich gehen; aber nicht das, daß sie wie diese mit Zerstörung begleitet sein müssen; nur wo, wie hier [in Deutschland], blinde Gewalt sie hemmt, bricht sie mit ähnlichen Erscheinungen hervor. Große Umkehrungen hat Europa, hat Deutschland erfahren. Die Geschichte lehrt den Fortgang der Dinge; man kann ihn rechtzeitig leiten, fruchtbar machen, aber nicht hemmen.«185 Revolutionen behalten also auch nach 1830 den Charakter eines zwangsläufigen Naturgeschehens: »Revolutionen sind moralische Naturereignisse; sind die politischen Elemente dazu vorhanden, so geht der Prozeß vor sich, man kann ihn durch Abschreckung vorgespielter Folgen nicht abwehren.« 186 Revolutionäre Umwälzungen könne der Mensch deshalb nicht selber machen, »sie machen sich selbst. Auch die unsrige wird sich machen, muß sich machen; unser Bemühen sei, daß sie still, geräuschlos vor sich gehe«.187 179 Ebd., S. 182; vgl. auch S. 178; außerdem ebd., 1830, Bd. 1, S. 312. 180 Vgl. ebd., 1830, Bd. 4, S. 174.

181 Die Deutsche Tribüne, Nr. 49 vom 20.8.1831, Sp. 396. 182 Vgl. Rheinbayern, 1831, Bd. 4, S. 180. 183 Vgl. auch Die Deutsche Tribüne, Nr. 60 vom 31.8.1831, Sp. 481. 184 Vgl. hierzu besonders den Aufsatz von Siebenpfeiffer »Nur keine Revolution in Deutschland!«, in: Rheinbayern, 1830, Bd. 1, S. 1-10. 185 Ebd., S. 7. 186 Ebd., 1831, Bd. 4, S. 152. 187 Ebd., 1831, Bd. 5, S. 118.

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Da mit der französischen Julirevolution in Deutschland noch keine Veränderung eingetreten war, die den Erwartungen der Demokraten genügte, erreichte der Zeitenlauf noch nicht den Punkt, an dem die konstitutionelle Kontinuität der Liberalen einsetzen konnte. Die französische Entwicklung der letzten vierzig Jahre als Fortschrittsgeschichte vor Augen, blieb Deutschland nach demokratischer Auffassung dahinter zurück und verfehlte den erhofften Anschluß sowohl an die Ideen von 1789 als auch an die der Befreiungskriege, die kurzfristig Freiheit und Einheit versprochen hatten. Im Rahmen einer postulierten Fortschrittsgeschichte mußte die Revolution also weiterhin und fundamentaler auf Deutschland einwirken, konnte noch nicht durch Reformen abgelöst werden. Kontrollierbar blieb die Zeitbewegung dann aber nur noch, wenn ihr destruktives Potential, das den Fortschritt nach liberaler Ansicht ja immer noch hemmen konnte, nicht mehr notwendiger Bestandteil einer Revolution war. In Siebenpfeiffers »Deutschland«, dem kurzlebigen Nachfolgeblatt des »Rheinbayern«, wird unter einer politischen Revolution eine Umwälzung verstanden, die »die bisherige Bewegung des Staatslebens nach Geist und Bedeutung, Motiv und Ziel, wesentlich« abändert, wobei Plötzlichkeit und Gewalt eher zufällige Randerscheinungen seien, die vom Widerstand gegen die Veränderung abhingen. 188 Eine Revolution könne also auch allmählich und gewaltlos vonstatten gehen und sich damit der Reform annähern. Revolution und Reform als begriffliche Abstraktionen seien deshalb nur noch unter Schwierigkeiten auseinanderzuhalten. 189 Im »konstitutionellen Deutschland« wird im Namen der Deutschen gefordert, »was uns gehört und gebührt von Gott und Rechtswegen: Landes-Verfassung unter Volks-Vertretung, gesetzliche Freiheit des Einzelnen und Sicherheit des Ganzen gegen jeglichen Eingriff von Außen und in die heiligen Rechte des Volkes«.190 Erst wenn diese von »Rechtswegen« geforderten Veränderungen gehemmt würden, werde die »Flamme der gerechten Empörung« diesen rechtswidrigen Widerstand verzehren. 191 Die Ziele in diesem Artikel weisen weit über die als ungenügend empfundene Gegenwart hinaus und erhalten den »Rechtsanspruch« einer Revolution - friedlich oder gewaltsam - am Leben, indem sie sich aus den vergangenen Erwartungen insbesondere der Ideen von 1789 und der Befreiungskriege heraus legitimieren. Die gewaltsame Revolution löse als notwendige Konsequenz diese Erwartungen ein, wenn die evolutionäre Veränderung Gegenwehr bei ihrer Durchsetzung erfahre. Aufgrund dieses Widerstandes konnte die Revolution in den Jahren nach 1830 also noch nicht in eine reformerische Entwicklung überfuhrt werden, sondern blieb Desiderat, 188 189 190 191

Deutschland, 1831, Bd. 1, S. 31 ff. Vgl. ebd., S. 35 f. Das konstitutionelle Deutschland, Nr, 65 vom 1.11.1831, Sp. 1. Vgl. ebd., Sp. 2; vgl. auch Rheinbayern, 1831, Bd. 3, S. 7 f.

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als ein solches aber nicht per definitionem gewaltsam und destruktiv. Bevor ein »Reformativsystem« überhaupt greifen könne, müsse »das Prinzip, aus welchem die Reformen hervorgehen sollen, der Zeit« angehören - und dies sei das »Prinzip der Volksthümlichkeit«: »... der Staat, das Volk muß die Stelle des Fürsten, d. h. das Volksinteresse muß die Stelle des Interesses des Fürstenhauses einnehmen, der Staat muß wirklich der Staat, Volk und Fürst müssen ein unauflösliches Ganzes seyn. Ist dieses volksthümliche Prinzip errungen, durch wahrhaftes Repräsentativsystem mit voller Preßfreiheit bevestigt und gewährleistet - j a , dann gehen die Reformen von selbst, dann, aber auch nur dann, hat das Reformativsystem einen Sinn.« Erst ein Sprung hin zu Volkssouveränität und Pressefreiheit könne also überhaupt die Grundlage für sinnvolle Reformen ermöglichen. So beklagt sich ζ. Β. auch die »Die Deutsche Tribüne« fortwährend über die unterdrückte öffentliche Meinung, die grundlegende politische Reformen verhindere. Nur eine freie Presse könne den Erfordernissen der neuen Zeit gerecht werden. 192 Der notwendige Prinzipienwechsel habe revolutionäre Qualität und müsse jeden Reformen vorausgehen, da er sich nicht auf »gesetzlichem Weg, also durch Initiative der Regierungen selbst« bewirken lasse: »der Absolutism tödtet sich selbst nur durch Uebermaß, nicht durch freiwilligen Verzicht«.193 Grundsätzlich vermochte also nur ein vorausgegangener Bruch mit dem herkömmlichen »Reformativsystem« Reformen zu verwirklichen, die der Bewegung der Zeit entsprachen. Gewaltsamkeit und Plötzlichkeit waren für diese Art von Veränderung aber keine notwendigen Voraussetzungen, sondern nur Begleiterscheinungen bei äußerem Widerstand. So konnte sich Akzeptanz für die Notwendigkeit eines fundamentalen Neuanfang einstellen, der entsprechend demokratischer Auffassung auch nach der Julirevolution für Deutschland noch ausstand. Geprägt von den erfolgreichen Nationalbewegungen in Belgien und Griechenland, war auch den süddeutschen Demokraten bewußt, daß ihre Vorstellungen eines Neuanfangs letztlich nicht vom Gedanken einer deutschen Nation zu trennen waren. 194 Wie schon oben erwähnt, knüpften Publizisten in den Jahren nach 1830 an die einmalige geschichtliche Konstellation der Befreiungskriege an, als Deutschland für Freiheit und Einheit gleichermaßen gekämpft habe. Solle es nun wieder zum Krieg gegen Frankreich kommen, so Wirth in einer Abhandlung über »Die politische Reform Deutschlands«, dann werde man sich nicht wieder auf die Versprechungen der Fürsten verlassen, sondern die Waffen erst nach der Verwirklichung nationalpolitischer Reformen aus den 192 Vgl. Die Deutsche Tribüne, Nr. 27 vom 29.7.1831, Sp. 218; ebd., Nr. 60 vom 31.8.1831, Sp. 481; vgl. außerdem Das konstitutionelle Deutschland, Nr. 44 vom 19.8.1831, Sp. 1. 193 Rheinbayern, 1831, Bd. 4, S. 178. 194 Vgl. Dann, Nation und Nationalismus, S. 102. 189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Händen geben.195 So wie sich die konstitutionellen Hoffnungen der Demokraten nach 1830 nicht erfüllt fanden, blieb auch die nationalpolitische Entwicklungweit hinter den Erwartungen zurück, denn Freiheit und Einheit bedingten sich wechselseitig und standen nicht in einem einseitig gerichteten Kausalnexus. 196 Der Druck des aristokratisch dominierten Bundestages auf die kleinen und nach Konstitutionen strebenden Einzelstaaten zeige die Notwendigkeit für eine »ächte Nationalvertretung aller deutschen Völker „., um deren Rechte und allgemeine Interessen zu berathen«. 197 Nur durch die Überwindung der Zersplitterung Deutschlands, von der die repressive Politik des Deutschen Bundes bisher profitiert habe, könne eine dauerhafte Freiheit für die deutschen Völker geschaffen werden. 198 Mit Hilfe einer Art Bundesreform solle ein »deutscher wahrer Föderativstaat, wurzelnd in jenen Stammesverschiedenheiten und doch zu einem unauflöslichen Ganzen verknüpft« oder eine »Conföderativ-Republik« geschaffen werden, in denen sich Nationalität und Freiheit gegenseitig durchdringen: »eine wahrhafte Repräsentativ-Vetfassung in jedem Gliedstaat des deutschen Bundes, und eine solche in großem Maßstab für die ganze vom Bunde umschlungene deutsche Nation.«199 Die Bildung eines nationalen Bundesstaates sei nur durch die Beseitigung des Absolutismus und die Neuzusammensetzung des Bundestages möglich, denn »ohne die Freiheit wird die Nationalität nicht gedeihen«. 200 Und nur wiederum unter nationaler Perspektive könne sich diese konstitutionelle Freiheit in Deutschland auch durchsetzen: »Nein, wir wollen die Freiheit nicht vom Gedanken des Vaterlandes trennen, sondern dieser Gedanke soll die Freiheit und den Volkswillen, der sie fordert, wie den Fürstenwillen, der sie zugesteht, erleuchten, läutern und bevestigen: und ein großes, freies und starkes Deutschland wird daraus erwachsen und blühen zum Segen desgesammten Euro-

pas.« 2 0 1

Auf der anderen Seite wurde aber auch immer wieder von der demokratischen Publizistik eingeräumt, daß diese Perspektive unrealistisch sei. Aufgrund der langwährenden politischen Zersplitterung hätten Antipathie und Indifferenz zwischen den deutschen Einzelstaaten das gemeinsame politische Band aufgeweicht; von den Fürsten sei in nationaler und in konstitutioneller Hinsicht nichts mehr zu erwarten. Eine demokratische Nationalregierung jenseits fürstlicher Sonderinteressen finde sich nirgends. 202 Mit der Julirevolution habe »das 195 Vgl. Wirth, Reform, S. 60. 196 Vgl. zu Wirths Auffassung des Verhältnisses von Freiheit und Einheit Wende, Radikalismus, S. 179 ff. 197 Rheinbayern, 1831, Bd. 5, S. 126. 198 Vgl. Deutschland, 1832, S. 43. 199 Rheinbayern, 1831, Bd. 4, S. 175; ebd., Bd. 3, S. 63; Wirth, Reform, S. 46. 200 Rheinbayem, 1831, Bd. 3, S. 55 f. 201 Ebd., S. 57. 202 Vgl. ebd., 1831, Bd. 5, S. 110 ff.; vgl. auch ebd., S. 108; ebd., Bd. 4, S. 175 f. 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

deutsche Vaterland von euch [Deutschen] seine Wiedergeburt« gefordert, die Deutschlands Fürsten nicht mehr leisten könnten, da sie sich von ihren Völkern entfremdet hätten und taub seien gegenüber der gewaltigen »Stimme der Zeit, für den Nothschrei des Vaterlandes«.203 Kurz: Freiheit und eine stärkere nationale Verknüpfung lassen sich nach dieser Auffassung nur noch gegen die Fürsten durchsetzen. 204 Auch von französischer oder preußischer Unterstützung für die Bildung eines nationaldemokratischen Föderativstaates versprachen sich Demokraten nicht viel, standen sie doch in dem Dilemma zwischen einem nicht-konstitutionellen Preußen und einem nicht-deutschen Frankreich. Wie schon oben erwähnt, hegte man zwar ideelle Sympathien für die Pariser Julirevolution, blieb aber weiterhin skeptisch gegenüber den vermeintlichen französischen Ansprüchen auf die Rheingrenze aufgrund der negativen Erfahrungen der Vergangenheit. 205 Österreich als Gesamtmonarchie »war niemals deutsch, sondern Deutschland galt ihm nur als ein Mittel zur Verstärkung seiner Macht«. 206 Und Preußen habe sich nach hoffnungsvollen Reformanfängen wieder von Deutschland entfremdet, indem es sich einem »aristokratischen Absolutismus« zugewandt und devot der russischen Kabinettspolitik insbesondere im Fall Polens angeschlossen habe. Im Gegensatz dazu seien die deutschen Völker »politisch zu weit vorangeschritten, um ihren Anstoß von Preußen zu erwarten«. 207 Auch im »liberalen Deutschland« richten sich zwar »die Blicke der Freunde des deutschen Vaterlandes zutrauensvoll nach Preußen«, das es sich an die Spitze der nationalen und konstitutionellen Bewegungen in Deutschland stellen möge, doch sei man von der despotischen preußischen Politik gegenüber den Polen wieder tief enttäuscht worden. 208 Ein demokratisches und föderal organisiertes Deutschland lasse sich also noch nicht realiter finden, auch nicht mit Hilfe von außen: »Wo ist Deutschland? - W i r finden es nirgends in der Wirklichkeit; in den Herzen der Edeln, in den Gesängen der Dichter, in der Begeisterung der Freiheitskriege, da sind die 203 Ebd., Bd. 5, S. 120. 204 Vgl. hierzu auch Μ . Meyer, S. 117 ff. 205 Vgl. Rheinbayern, 1831, Bd. 3, S. 48 f.; zu den Hoffnungen auf ein Bündnis mit Frankreich vgl. M . Meyer, S. 88 ff; dazu auch die frankophile Zeitschrift aus Straßburg Das konstitutionelle Deutschland, N r 21 vom 29.4.1831, Sp. 4: »Ich beklage mit manchem deutschen Patrioten, das untergegangene Deutschland; - aber sechzehn Jahre, in welchen östreichische Lichtscheue, und Preußens engherzige Unentschlossenheit das Banner des deutschen Vaterlandes trugen, haben den letzten Funken deutschen Nationalsinns erödet, und ich habe keine Hoffnung, daß dieser Phoenix aus der Asche wieder erstehen werde; darum muß ich wünschen und verlangen, daß die gesetzmäßige Freiheit meines badischen Vaterlandes auf eine festere Basis [eines Bündnisses mit Frankreich] sich stütze, als auf den Traum einer weiland deutschen Nation !« 206 Vgl. Rheinbayern, 1831, Bd. 5, S. 103. 207 Ebd., S. 104 f.; ebd., Bd. 3, S. 47. 208 Das liberale Deutschland, Nr. 4 vom 8.9.1831, Sp. 57 ff.; vgl. auch ebd., Nr. 1 vom 3.8.1831, Sp. 26; vgl. zu Wirths Einstellung zu Preußen Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 179.

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Spuren eines Vaterlandes.«209 Aber auch wenn das gemeinsame »politische Lebensprinzip« fehle, ließen sich nicht nur in Sprache, Literatur, Sitten und Charakter, sondern auch in einer Idee der nationalen Zusammengehörigkeit zumindest »Elemente zukünftiger Einheit« ausmachen. Denn, so weiter im »Rheinbayern«: »Aber es gibt auch ein deutsches Vaterland in höherem Sinn: es lebt eine Idee selbst politischer Einigung und Erhebung, sie gährt chaotisch in jugendlichen Köpfen, sie regt sich als Bedürfniß im Gefühl, im sichern Instinkte der Massen, im klaren Bewußtseyn, im sinnenden Plane der denkenden Männer.« 210 Die Idee einer Nationalrepräsentation habe Einzug in die politische öffentliche Debatte gehalten, aus dem Chaos der Gegenwart könne deshalb ein Deutschland hervorgehen - und dies wäre dann die »stille Revolution«. Es sei zwar eventuell nur ein Traum, aber: »Vielleicht auch wach ich ... Die Zeit kann in ihrem weiten Schooß Dinge tragen, wovon vielleicht kein Träumer, vielleicht auch kein versteinerter Staatsmann eine Ahnung hat.«211 Man habe einen mächtigen Bundesgenossen bekommen, nämlich »die Kraft der Zeit, die Kraft der öffentlichen Meinung, welche sich in den Julitagen auf den Thron gesetzt«. Erst eine sich ungehindert entfaltende öffentliche Meinung mittels Pressefreiheit und »patriotischer Vereine« könne Deutschland Selbständigkeit und innere Reformen geben und somit zur nationalen Selbstfindung beitragen.212 Eng liiert mit demokratischen Verfassungsvorstellungen übte also die ›zeitlose ‹ Idee einer deutschen Nation einen fortwährenden Druck auf die Entwicklung aus, da sie dank ihrer Latenz zur Verwirklichung drängte, die freiheitliche Ansprüche miteinschloß. Das Ungenügen an der Gegenwart auch nach der Julirevolution, die »dunkeln Schlagschatten im Gemälde der Zeitbewegung« hätten einen zukunftsweisenden Zorn heraufbeschworen: »In diesem edlen Zorn ist die Bürgschaft gegeben, daß einst ein Deutschland wieder entstehe aus den Trümmern, worunter die Gewalt der Zeit und der Verrath der Fürsten es begraben. Leuchtende Strahlen der Hoffnung zucken auf, die Strahlen der Morgenröthe deutscher Freiheit, und bald, bald wird ein Deutschland sich erheben, herrlicher als jemals gewesen.«213 Die Zeit dränge, eine gesetzliche und soziale Grundreform rechtzeitig einzuleiten, um »die immer wachsende Bewegung der Zeit zu leiten und fruchtbar zu machen«. 214 Das Hambacher Fest biete die Möglichkeit, daran zu erinnern, 209 Rheinbayern, 1831, Bd. 3, S. 47. 210 Ebd., 1831, Bd. 5, S. 117; vgl. auch ebd., Bd. 4, S. 175 f. 211 Ebd., Bd. 5, S. 119. 212 Ebd., S. 121 ff.; vgl. auch Das liberale Deutschland, Nr. 4 vom 8.9.1831, Sp. 61; Die Deutsche Tribüne, Nr. 127 vom 6.11.1831, Sp. 1021. 213 Deutschland, 1832, S. 38. 214 Ebd., S. 54. 192 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

daß die Entwicklung noch nicht an ihr Ende gekommen sei, sondern sich die Zeit weiter in Richtung Freiheit und Einheit bewege: »Die Bewegung der Zeit rückt unaufhaltsam fort; es können Stillstande, scheinbare Rückgänge sich einstellen, aber sie sind nicht von Dauer und gleichen durch rasche Sprünge sich wieder aus. Darum täusche sich Niemand mit dem Wahn, die Uhr stehe still, weil der Zeiger gelähmt ist; und Niemand verliere den Muth; niemand werde wankend in der Ueberzeugung, daß das Vaterland, die Sache des Volks und der Freiheit durch Einsicht und Entschlossenheit zu retten sey. Noch ist es Zeit, die Bewegung zum Guten zu leiten, durch Weisheit und Kraft.«215 Die Revolution hatte ihre Aufgabe nach den Veränderungen von 1830 also noch nicht erfüllt, sondern der Bruch mit der Vergangenheit und der Sprung weg von der Gegenwart hin zu einer unverwirklichten demokratischen Nation standen noch aus, mußten mittels Öffentlichkeit vorangetrieben werden. Das Ungenügen an der deutschen Gegenwart, die sich für den demokratischen Erwartungshorizont scheinbar weitgehend unbeeindruckt von den revolutionären Umbrüchen zeigte, die vielen Möglichkeiten, die noch auf ihre Verwirklichung warteten, sie setzten weiterhin eine revolutionäre verfassungs- und nationalpolitische Umwälzung für Deutschland auf die Tagesordnung, um nicht à la longue den Anschluß an den allgemeinen Fortschrittsprozeß zu verlieren. Dem evolutionären Entwicklungsgang mittels Reformen räumten Demokraten zunächst einmal keine Realisierungschancen gegen den Herrschaftsanspruch der einzelstaatlichen Regierungen und des Bundestages ein. Vielmehr hatte erst ein revolutionärer Bruch zu erfolgen, der aber nicht mehr gewaltsam u. hemmend sein mußte, sondern gleichbedeutend mit einem notwendigen, konsequenten und zukunftsweisenden evolutionären Reformprozeß sein konnte.

4. Revolution im Interesse der Gegenwart: Heines Zeiterfahrungen Heinrich Heines kurzer Aufsatz aus dem nachrevolutionären Paris (September 1833), »Verschiedenartige Geschichtsauffassungen«, 216 umreißt das Spektrum der Zukunftserwartungen und verdeutlicht zugleich deren Wandel. Die Vertreter der einen Auffassung, das seien die »Weltweisen der historischen Schule und die Poeten aus der Wolfgang Goetheschen Kunstperiode«, sehen in dem Buch der Geschichte nur einen organischen und »trostlosen Kreislauf«. Diese Sichtweise habe einen »sentimentalen Indifferentismus gegen alle politischen Angelegenheiten« und eine Überbewertung des Vergänglichen zur Folge und führe 215 Ebd., S. 61. 216 Vgl. auch im folgenden Heine, S. 21 ff. 193 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

unweigerlich zu einem »erstarrenden Tod«. Dieser »fatalen fatalistischen Ansicht« stünden die humanistischen Vertreter einer linearen Zeitauffassung gegenüber, die ihr Ziel einer idealischen Staatsform in der Zukunft ansiedelten und auf diese hin die Gegenwart zu überwinden trachteten. Gegen die phlegmatische Verherrlichung der Vergangenheit und gegen die »Schwärmerei der Zukunftsbeglücker« setzt Heine die Interessen der Gegenwart, die um ihrer selbst willen verfolgt werden müßten, insbesondere das »Menschenrecht« auf Leben. Dem Geltendmachen dieser Interessen diene die Revolution. Unter den Vertretern der untersuchten politischen Strömungen lassen sich diese idealtypischen Geschichtsauffassungen im Umfeld der Revolutionen von 1830 nicht bzw. nicht mehr finden. Weder kann man unter Konservativen oder Liberalen ein kreisförmiges Zeitbewußtsein ausmachen, das die Gegenwart nur unter Anwendung von geschichtlichen Mustern zu erklären weiß; noch findet man unter Vertretern der demokratischen Strömungen ein Zeitbewußtsein, das radikal mit jeder Vergangenheit bricht und die Gegenwart nur noch als Mittel für hochgespannte Zukunftserwartungen versteht. Vielmehr wurden die Revolutionen 1830 nach dem Ende der Restaurationszeit für alle politischen Strömungen zum Anlaß, ihre Zeiterfahrungen an einer unabweisbaren Fortschrittsdynamik auszurichten, die in die Zukunft enteilte. Als ubiquitäre Erfahrung blieb diese Bewegung perspektivisch gebrochen und führte zu einer Differenzierung, aber auch vielfältigen Überlagerung der Zeitwahrnehmungen. Für Konservative waren Epochenbruch und Kontinuität in einer kontinuierlichen Brucherfahrung bis zurück zur Französischen Revolution und gar zur Reformation vereinbar geworden, wozu auch die Wechselwirkung und Wesensgleichheit von Revolution und Absolutismus beitrugen. Hier wurde die Revolution einem gleichbleibenden Prozeß angepaßt, da Revolution und Absolutismus im jeweils anderen letztlich immer nur sich selber reproduzierten. Somit konnte sich die Revolution auch in Zeiten der restaurativen Ruhe durch ihr Pendant des Absolutismus permanent am Leben erhalten, blieben die Ereignisse um 1830 in einer Traditionslinie verankert. Die Pariser Julirevolution und die Folgebewegungen in Europa ließen auch für Liberale und südwestdeutsche Demokraten Bruch- und Kontinuitätserfahrungen zusammenrücken. Gerade der als universal angesehene Epochenbruch von 1830 in einer beschleunigten, verdichteten und zukunftsschweren Gegenwart, die aus der restaurativen Stagnationsphase hinausfuhren sollte, schuf die Voraussetzungen, wieder an die unverwirklichten Möglichkeiten von 1789 und insbesondere an die Verfassungs- und Nationalversprechen aus den Befreiungskriegen anzuknüpfen. Das Jahr 1830 erschien also als Versuch, die aufgestauten Erwartungen der Vergangenheit den unerwarteten Revolutionserfahrungen der Gegenwart wieder anzunähern. Wurden für die konservativen Strömungen Epochenbruch und Kontinuität aufgrund einer permanenten Hiatuserfahrung vereinbar, so schufen die revolutionären Umbrüche um 1830 194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

für Demokraten und auch Liberale überhaupt erst die Möglichkeit, mittels eines revolutionären Sprungs von dieser fortgeschrittenen Stufe im Zeitkontinuum aus an vergangene Erwartungen anzuschließen. Voraussetzung hierfür war die Annahme einer allgemeinen und unabweisbaren Fortschrittsbewegung, die auch subversiv über Phasen des gehemmten Zeitflusses hinweg wirken und sich schließlich in einer Revolution Luft machen konnte.217 Auch ein sozial aufgeschlossener Konservativismus begann schon, an einer Fortschrittsbewegung zu partizipieren, die es als eine natürliche Evolution mit Hilfe sozialer Reformen von oben zu nutzen und im bewahrenden Sinne zu lenken galt. Liberale und auch Demokraten sahen dagegen in den Umwälzungen von 1830 selbst die letzte Möglichkeit, wieder durch die geschaffenen Verfassungen und die Belebung des politischen Lebens überhaupt in eine favorisierte evolutionäre Reformkontinuität einzutreten - trotz ihrer aus dem weiteren Verlauf der Französischen Revolution herrührenden Revolutionsskepsis. Sollte das Jahr 1830 also auch die enttäuschten Erwartungen der Vergangenheit aktualisieren, blieb dieser Anspruch für Vertreter des rheinpfälzischen Radikalismus noch uneingelöst. Sahen Liberale die notwendige Aufgabe der Revolution schon bald mit den eingeleiteten Verfassungen als Bindeglied zwischen alter und neuer Zeit weitgehend erfüllt und wollten sich deren Bewahrung widmen, schätzten viele Demokraten den Bruch mit der restaurativen Vergangenheit, den Anschluß an 1789 und an die Versprechen der Befreiungskriege als völlig unzureichend ein. Die Revolution stand dieser Ansicht zufolge für ganz Deutschland noch aus, da die konstitutionelle und die damit eng verknüpfte nationale Entwicklung hinter den demokratischen Erwartungen zurückblieb. War Liberalen und insbesondere Konservativen der Gedanke an eine unvollendete Totalrevolution, die permanent von einer politischen zu einer sozialen umzuschlagen drohte, als Schreckgespenst präsent, schienen demokratische Ziele (Volkssouveränität, föderale Nationalrepublik) nur noch in einer weiteren Revolution gegen die Landesfursten und gegen den Deutschen Bund durchsetzbar. Obwohl Demokraten eine gewaltsame und unkontrollierbare Revolution wie Liberale ablehnten, konnte ein fundamentaler Bruch mit dem Restaurationssystem nur über einen weiteren revolutionären Sprung erfolgen, um somit schließlich in einen demokratisch definierten Fortschrittsprozeß einzusteigen und eine reformerische Entwicklung zu ermöglichen. Anders als die Liberalen, die eine Revolution notgedrungen und widerwillig als Auftakt zu Reformen begrüßen konnten, um anschließend das destruktive revolutionäre Moment evolutionär zu bändigen, begriffen Demokraten eine Revolution nicht allein als eine solche Grenzschwelle, sondern selber auch als eine Epoche des permanenten Übergangs. Angesichts der unvollendeten Revolu217 Vgl. zur Ubiquität und perspektivischen Mehrdeutigkeit des FortschrittsbegrifFs Koselteck, Fortschritt, S. 412 ff.

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tion von 1830 wurde der Appell nach einer weiteren Revolution gleichbedeutend mit einer Fortschritt verheißenden Zeitbewegung. Die Richtung dieser Bewegung konnte nach demokratischer Auffassung nicht regressiv sein. Gestaltbar blieb ›Zeit‹ im Rahmen von Revolutionen dann, wenn sie sich gesetzlich im Sinne eines demokratisch verstandenen Fortschritts entwickelte, indem sie das fatalistische und zerstörerische Potential ausschied; nur bei äußerem Widerstand drohte sie gewaltsam zu werden und aus dem Ruder zu laufen. Damit näherte sich die demokratisch verstandene Revolution partiell der liberal verstandenen Reform an. Eine Revolution als noch unerfüllte Aufgabe konnte nicht nur als Auftakt für eine demokratische Reformzeit verstanden werden, sondern eine solche in einem fundamentalen Fortschrittsprozeß auch selber bedeuten. Nicht mehr galt es nur, die als unumgänglich eingeschätzte revolutionäre Diskontinuität in evolutionäre Kontinuität mittels Reformen zu überführen, um somit ›Zeit‹ in den menschlichen Verfügungsraum zu rücken, sondern anstelle dieses Zweischritts bekam die noch zu verwirklichende Revolution selber beide Aufgaben zugewiesen: Garantin für den Beginn einer neuen Zeit und für die weitere evolutionäre Entwicklung zu sein. Die Aussichten auf einen Bruch mit der Restaurationszeit und auf einen Wiedereintritt in vergangene nationale und konstitutionelle Erwartungen, diese dann doch nicht genutzten Möglichkeiten, wie sie 1830 europaweit geboten wurden, gingen beide in den demokratischen Revolutionsbegriff als Zukunftsaufgabe ein und konnten ihn im öffentlichen Bewußtsein positiver verankern, als es die Erinnerung an die Terreur und die fatalistische Zeitbewegung der Französischen Revolution vermochten. Heines Aufforderung, die »Interessen der Gegenwart« gegenüber der Vergangenheit mittels einer Revolution geltend zu machen, kamen Demokraten nach, wenn sie auf die in den Revolutionen von 1830 unverwirklichten Möglichkeiten hinwiesen. Als Aufgaben für die Gegenwart drängten die demokratischen Gesellschafts-, Verfassungs- und Nationalvorstellungen 218 auch nach 1830 weiter auf ihre Realisierung und machten eine Revolution virulent. Gerade so sollten diese Vorstellungen auch die gegenwärtige Zeit unter Veränderungsdruck setzen, sie überbieten und damit ein Zukunftspotential freisetzen. Die demokratischen und nationalen Erwartungen waren somit als Zukunft in einer Gegenwart präsent, die es im Hinblick auf diese Erwartungen zu überwinden galt. Darüber hinaus speiste sich der demokratische Erwartungshorizont auch aus einer erinnerten Vergangenheit, die gerade in einer revolutionär bewegten Gegenwart wieder relevant wurde. Die unverwirklichten Hoffnungen aus der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen gingen also als permanente Zukunftsaufgabe in die Gegenwart ein. Gerade in Revolutionen scheint sich ›Fortschritt‹ weniger durch eine »zeitliche Differenz zwischen 218 Vgl. zu der inhaltlichen Seite die Arbeiten von Wende zum Radikalismus.

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Erfahrung und Erwartung« zu definieren, wie Koselleck meint,219 sondern vielmehr in der Wiederannäherung gegenwärtiger Erfahrungen an die uneingelösten Erwartungen und Versprechen der Vergangenheit, die eine neue Zeit zu offerieren versprachen. Oder anders gewendet: Die Zukunftserwartungen in einer revolutionären Gegenwart schufen sich Legitimität durch Erinnerungen an vermeintliche Hoffnungen der Vergangenheit, die Kontinuität sicherten. Das Geltendmachen der Revolution, um die »Interessen der Gegenwart« zu vertreten, schloß somit die beiden anderen Geschichtsauffassungen, die Heine ablehnt, modifiziert mit ein: die Vergegenwärtigung einer unverwirklichten Vergangenheit, die gerade nicht zu einem »erstarrenden Tod« führt, und das Überbieten der Gegenwart zugunsten einer neuen Zeit. Eingebettet in einen transpersonalen Fortschrittsprozeß, in den sowohl Revolutionen als auch Reformen, Zukunft und Vergangenheit eingespannt waren, mußte ›Zeit‹ letztlich wieder aus dem menschlichen Verfugungsraum rücken. Diese übermächtig scheinende Entwicklung instrumentalisierten zwar die einzelnen politischen Strömungen für ihre Erwartungen von einem künftigen Deutschland, aber der Weg zur Einlösung dieser Hoffnungen geriet zum Korsett für Reformen und Revolutionen - allenfalls die Geschwindigkeit der Entwicklung ließ sich noch beeinflussen.220

219 Vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 349-375, besonders 366. 220 In dem Sinne auch Blumenberg: »Der Mensch macht nicht die Geschichte; er macht das Tempo der Geschichte; und dieser zweite Satz ist in seiner Geltung von dem ersten abhängig. Das Antreiben des Tempos setzt die anderweitig abgesicherte Zwangsläufigkeit der Abfolgen voraus. Kein erbauliches Resultat; aber, an seinen Faszinationen erkennbar, das angesichts der Zeitdimension Zukunft offenbar tröstlichste.« (S. 242).

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VI. Die krisenhaften vierziger J a h r e : Ü b e r g a n g s z e i t in einer flüchtigen Gegenwart Die breite Politisierung, wie sie als Reaktion auf die europäischen Revolutionen in Deutschland Anfang der dreißiger Jahre eingeleitet wurde, konnte auch durch die repressiven Beschlüsse von Deutschem Bund und Einzelstaaten nicht mehr rückgängig gemacht werden. Langfristige Faktoren wie die Verbesserung der elementaren Schulbildung und die unaufhaltsame Ausweitung des Binnenmarktes über die Grenzen der Einzelstaaten hinaus machen dies ebenso verständlich wie kurzfristige Ereignisse, so z. B. der Kölner Kirchenstreit, die Trierer Wallfahrt und ihre Folgen für die Einheit des deutschen Katholizismus, der mit großen Hoffnungen begleitete Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV oder die Rheinkrise von 1840. Die steigende Lesefähigkeit weiter Bevölkerungskreise und der außerordentliche Aufschwung der bürgerlichen Vereinstätigkeit schufen einen breiten Resonanzboden für die Rezeption und Erörterung politischer Fragen. Trotz der Zensur wurde das Kommunikationsnetz dichter und stieg die Zahl der Zeitschriftengründungen insbesondere in den konstitutionellen Staaten wie Sachsen, Baden und Württemberg deutlich an. Die politisierte und von Unterdrückung bedrohte Opposition scharte sich unter anderem um diese Publikationsorgane, die parteibildend wirken konnten. 1 So entwickelte sich trotz Vereinsverbot und liberaler Parteienskepsis ein »Beziehungsgeflecht zwischen Personen und Gruppen gleicher politischer Überzeugung«, das zu informellen »Gruppen um die Herausgeber, Mitarbeiter und Leser politischer Zeitschriften und Sammelwerke oder auch um Abgeordnete in den vormärzlichen Landtagen« führte. 2 Auf diese Weise begann sich ein »funfgliedriges deutsches Parteiwesen« zu etablieren und die Opposition weiter zu differenzieren, was eine Verfestigung der Spaltung des bürgerlichen Lagers in Liberale und Demokraten zur Folge hatte. Vor der Revolution von 1848/49 verband die oppositionelle Bewegung trotz unterschiedlicher politischer und sozialer Zielvorstellungen aber noch die Ablehnung der erstarrten politischen Herrschaftsordnung und das Eintreten für einen Verfassungs- und Nationalstaat. An der allgemeinen Politisierung der vierziger Jahre hatten auch die Revitalisierung des Nationalgedankens durch die Rheinkrise, die Schleswig-Holstein-Frage oder die zahlreichen politischen Feste und Vereine mit ihrer natio-

1 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 377 f. 2 Rürup, S. 155.

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nalen Symbolik Anteil, die dem Nationalismus eine Massenbasis verschafften.3 Neue ökonomische und gesellschaftliche Enwicklungsfaktoren wie die Begründung des Zollvereins und der Entwicklungsschub in der Industrialisierung und der gesamtdeutschen Kommunikation ermöglichten eine Ausweitung der sozialen Trägerschichten. Dazu gesellte sich eine Erschöpfung des partikularstaatlichen Modernisierungspotentials im System des Deutschen Bundes, da die Probleme oftmals über die Einzelstaaten hinauswiesen. Das repolitisierte Nationalgefühl gewann neben der nationaldemokratischen Variante auch einen antiemanzipatorischen Akzent, der aggressiv und machtorientiert die Spannungen und Konflikte nach außen ablenkte, um als Sammlungsideologie dem wachsenden Harmonie- und Gemeinschaftsbedürfnis der Nation entgegenzukommen.4 Der Nationalismus war Krisensymptom und sollte Weg zur Bewältigung der Krise werden. Die einzelnen Staaten reagierten auf die soziale und wirtschaftliche Dynamik häufig mit repressiven Maßnahmen und behinderten die Entstehung einer offenen und souveränen kritischen Öffentlichkeit. Das Spannungsverhältnis von Staat und Gesellschaft verschärfte sich.5 Hinzu traten die sozialen und ökonomischen Folgen des starken Bevölkerungswachstums, der frühen Industrialisierung, des Mißverhältnisses zwischen steigender Agrarproduktion und sinkender Kaufkraft sowie die Auswirkungen des sich zeitlich überlappenden Zusammenfallens zweier Wirtschaftskrisen alten (durch Mißernten agrarischen) und neuen (aufgrund eines zyklischen, modernen Wirtschaftseinbruchs industriellen) Typs. Dies führte zu Teuerungen, Mangel an Erwerbsmöglichkeiten, zur Stagnation im gewerblichen, handwerklichen und industriellen Bereich sowie zur Verelendung breiter Bevölkerungskreise, die sich in sozialen Unruhen und Protesten Luft machte oder zu massiven Auswanderungen führte.6 Der Pauperismus als »Begleiterscheinung des Auflösungsprozesses der ständisch-feudalen Sozialordnung und des Übergangs zu einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft« wurde zur vieldiskutierten Frage im späten Vormärz. Seine unberechenbare Dynamik machte ihn zu einem beunruhigenden 3 Zum Nationalismus als Massenbewegung in den 1840er Jahren vgl. auch im folgenden Dann, Nationalismus und sozialer Wandel, insbesondere S. 117 f. 4 Vgl. ebd., S. 103 f. Insbesondere Manfred Meyer betont die Zäsur der vierziger Jahre für das Verhältnis von Freiheit und Macht und für den Funktionswandel vom freiheitlichen zum integralen Nationalismus (vgl. M. Meyer, insbesondere S. 178 ff.); zur Einordnung Meyers in den Forschungskontext und zur Relativierung seiner Thesen vgl. LangeuHesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 205 ff. 5 Vgl. den Sammelband von Conze. Die These vom Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft wurde jüngst differenziert in den Beiträgen des Sammelbandes von Ullmann u. Zimmermann. 6 Vgl. zur wirtschaftlichen und sozialen Krise die entsprechenden Kapitel in den einschlägigen Überblicksdarstellungen, außerdem J . Bergmann, der ausführlich auch auf die vorrevolutionäre Krise eingeht; zu sozialen Protesten und ihrer Funktion vgl. Volkmann u. Bergmann; Gailus, Soziale Protestbewegung; ders., Straße und Brot.

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Schreckgespenst für Konservativismus und weite Teile des liberalen Bürgertums und dokumentierte die Unfähigkeit und Hilflosigkeit der Regierungen im Umgang mit den Protestaktionen. Trotz überwundener Agrarkrise 1847 hatte sich psychisch ein Krisenbewußtsein festgesetzt, in dem die soziale Frage für breite Bevölkerungsteile weiterhin virulent blieb. 7 So schufen in dem Jahrzehnt vor der Revolution die politischen, ökonomischen und sozialen Krisen ein vielschichtiges Konfliktpotential, führten zu Desintegration und Polarisierungen. Wohlstands- und Fortschrittsoptimismus wurden von diesem Krisenbewußtsein überlagert. In dieser Übergangszeit, in der die Auflösung alter Ordnungs- und Wertmuster Unsicherheiten und Ängste, aber auch Hoffnungen und Erwartungen auslöste, reifte ein vorrevolutionäres Bewußtsein heran, das zwar nicht zwangsläufig auf eine Revolution zulief, aber doch der Gewißheit vorarbeitete, daß die notwendigen Veränderungen nur noch gegen die Regierungen durchgesetzt werden konnten. Deshalb blieb die Frage einer Revolution trotz fehlender revolutionärer Anstöße von außen präsent und wirkte als Symptom der allgemein empfundenen Krise auf das Zeitbewußtsein.

1. Flucht in die Zeitlosigkeit und konservative Integration von Fort- und Rückschritt

Wenn hier von Konservativismus die Rede ist, dann nicht von dem altständischpatrimonialen à la Friedrich Ludwig von der Marwitz, ebenfalls nicht von einem politisch-romantischen der Adam Müller oder Friedrich Schlegel. Sie blieben als Verfechter einer konsequent durchstrukturierten Feudalordnung oder einer rückwärtsgewandten, romantisierten Utopie jenseits jeder praktischen Relevanz, selbst wenn sie viele Schwachpunkte der modernen Staatsund Wirtschaftsordnung aufdeckten und ihre Denkfiguren und Begründungsmuster als »ideologischer Verputz« weiterwirkten. 8 Auch der legitimistischneuständische Konservativismus um Jarcke und das »Berliner Politische Wochenblatt« verlor mit dem Eingehen dieser Zeitschrift ein wichtiges Sprachrohr, leistete aber durch seine Abwendung von der »altständischen Versteinerung als auch von den romantischen Luftschlössern« 9 und durch sein 7 Rürup, S. 161 f. 8 Zu den einzelnen idealtypischen Varianten des Konservativismus auch im folgenden den Überblick bei Wehler, Bd. 2, S. 442 ff. Kondylis hingegen betont, daß die Neuformulierung und Weiterbildung der Rechtsauffassung der Societas civilis als eines antiabsolutistischen Kampfes nach 1789 zwar in den einzelnen konservativen Lagern in jeweils verschiedenen Formen aktualisiert wurden, die gedanklichen Grundelemente aber immer wieder in unterschiedlichen Kombinationen mit zahlreichen Übergängen auftauchten, von typischen Richtungen oder gar Schulen innerhalb der konservativen Ideologie also nicht die Rede sein könne (Kondylis, Konservativismus, S. 207). 9 Wehler, Bd. 2, S. 449.

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Eintreten für eine neuständische Repräsentation als Revolutionsprävention einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung der konservativen Strömung. Deren zukunftsträchtigster Zweig bildete sich in den vierziger Jahren im Reformkonservativismus um Joseph Maria von Radowitz, Friedrich Julius Stahl und Victor Aime Huber heraus, in seinen Inhalten oftmals verwandt mit einem pragmatisch-machiavellistischen Staats- und Sozialkonservativismus der Gentz und Metternich. Angesichts der Erfahrungen im Vormärz strebte der Reformkonservativismus auf der einen Seite eine Annäherung an den modernen Verfassungsstaat an und sah diesen in einer konstitutionellen Monarchie mit folgenden Kennzeichen: geschriebene Verfassung, Rechsstaatlichkeit, ständische Nationalrepräsentation und monarchisches Prinzip. 10 Auf der anderen Seite galt es, sich den schon eingetretenen oder noch erwarteten Enwicklungstendenzen der entstehenden Industriegesellschaft anzupassen und eine staatliche Sozialpolitik zur Entschärfung der sozialen Frage zu propagieren. Grundelemente des konservativen politischen und sozialen Denkens sollten unter den veränderten Verhältnissen der Gegenwart als aktuelles Programm verständlich gemacht und zur Geltung gebracht werden. 11 So entwickelte sich in den vierziger Jahren ein Konservativismus, »der in seinem Selbstverständnis und nach seinen Selbstaussagen weder restaurativ noch bewegungsfeindlich erschien, noch sich darin erschöpfen wollte, die Revolution zu bekämpfen«. Er reagierte auf die gesellschaftliche Dynamik, trat aus der Defensive heraus und wurde zu einer »ernstzunehmenden politischen Ideologie«.12 Zur Bildung einer konservativen ›Partei ‹ kam es aufgrund des Parteienverbots und der Parteienskepsis und trotz der Bemühungen Hubers dennoch nicht.13 Auch blieb der Begriff ›Konservativismus ‹ weiterhin an den Rändern unscharf und keiner bestimmten politischen Richtung eindeutig zuordbar.14 Organisatorisch boten sie vor 1848 das Bild »einer in sich zerstrittenen, elitären, institutionell freischwebenden Clique mit anscheinend hoffnungslos obsolet gewordenen Wertvorstellungen«, so daß sie das politisch-publizistische Feld trotz Zensur weitgehend Liberalen und Demokraten überließen. 15 Da diese konservative Richtung in den vierziger Jahren nur ein sehr begrenztes Korpus an publizistischen Quellen produzierte, muß in diesem Kapitel die Quellenbasis erweitert werden. Hier bietet sich ein Presseorgan an, das zum 10 Vgl. zu Stahls Staats- und Verfassungstheorie und zum Reformkonservativismus auch Puhle, S. 271-276. 11 Vgl. Vierhaus, Konservativismus, S. 547. 12 Ebd. 13 Vgl. zu Hubers Agitation für eine konservative ›Partei ‹ und Presse ebd., S. 547 ff.; außerdem Janus, 1845, Bd. 1, S. 1-50; ebd., 1846, Bd. 2, S. 553-574, 585-612. 14 Vgl. Vierhaus, Konservativismus, S. 554. 15 Schwentker, S. 55 f.

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öffentlichen Flaggschiff des konservativen und ultramontanen politischen Katholizismus avancierte. Als Reaktion auf den Kölner Kirchenstreit erschienen seit 1838 die langlebigen »Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland«. Sie waren im Gegensatz zur protestantischen Variante des Konservativismus in Preußen die katholische in Süddeutschland.16 Aus dem Konflikt mit dem preußischen Staat hervorgegangen, wurden die »Blätter« zu einer der wichtigsten publizistischen Stimmen und zu einem aggressiven Kampfinstrument gegen revolutionäre Zeittendenzen und die Staatsomnipotenz des Absolutismus.17 Im Bekenntnis zum christlichen Staat und zur ständischen Monarchie, die den König in die Adelswelt einbinden sollte, in der Kritik an den sozialen Folgen der Industrialisierung und in dem massiv vorgebrachten Öffentlichkeitsanspruch gab es Berührungspunkte mit konservativen Positionen, die den Reformkonservativismus in Preußen beeinflußten.18 Personell zeigte sich die Nähe zum Konservativismus in der Person Jarckes, der als Konvertit 1837 mit den preußischen Konservativen brach und zum Mitherausgeber der »Historisch-politischen Blätter« wurde. Auch die Staats- und Gesellschaftsvorstellungen des alten Görres, ebenfalls einer der Herausgeber der »Blätter«, leisteten einen - wenn auch nicht kohärenten - Beitrag zur konservativen Theorie.19 Trotz aller Konflikte mit dem preußischen Staat und zahlreicher Auseinandersetzungen mit den protestantischen Reformkonservativen zeigte sich offensichtlich auch an dem katholischen Konservativismus die Tendenz, sich in einer stark verändernden und als feindlich wahrgenommenen Welt durch Widerstand und vorsichtige Anpassung zu behaupten, ohne in der gesellschaftlichen Dynamik grundlegende Positionen aufgeben zu müssen. Die Ablehnung der Ideen von 1789 und des Absolutismus sowie die Anerkennung moderner Forderungen wie Religions- und Pressefreiheit20 waren gemeinsamer Hintergrund der protestantisch-preußischen und katholisch-ultramontanen Variante des Konservativismus. Die »Historisch-politischen Blätter« prognostizieren in einem Aufsatz »lieber die vorherrschenden Tendenzen der Gegenwart« eine Epochenwende, in der sich das Alte aufzulösen und das Neue anzukündigen scheine. Der Blick müsse sich auf diese Zeittendenzen richten, um ihre Richtung und Stärke und »unsere Hoffnungen und Ängste« einzuschätzen.21 Die Erwartung eines Bruchs speist sich dabei aus der Befürchtung, daß sich die Gefahr einer Revo16 Vgl. zu den Historisch-politischen Blättern Fischer, Deutsche Zeitschriften, S. 141 ff; vgl. zur katholischen Variante des Konservativismus um Görres Puhle, S. 264 ff. 17 Vgl. zur Erneuerung des deutschen Katholizismus nach 1815 Lönne, S. 63 ff; zum Verhältnis von Staat und katholischer Kirche vgl. Heinen, insbesondere S. 52 ff. 18 Vgl. Puhle, S. 265; Huber, Bd. 2, S. 352 ff 19 Vgl. Puhle, S. 265 ff 20 Diese waren nicht individuell gemeint, sondern dienten der Behauptung des eigenen Standpunktes. Vgl dazu Meinen, S. 59 ff 21 Vgl. Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, 1843, Bd. 2, S. 378 f.

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lution perpetuiert habe, indem sie sich auf eine soziale verlagere: »Die Saison ist vorüber, die Physiognomie des Jahrhunderts hat sich geändert; die Gefahren, welche Europa bedrohen, sind heute andere, als vor sieben Jahre«, so in einem Artikel »Ueber die Gefahr einer socialen Revolution durch die untern Volksklassen und deren Stellung in älterer und neuester Zeit« aus dem Jahr 1840.22 Die Herrschaft des »falschen Liberalismus« und seiner Doktrinen gehe zu Ende; statt dessen drohten Anarchie und Auflösung durch die grassierende Überbevölkerung in den Städten und den weitverbreiteten Pauperismus. Im Vergleich zur Französischen Revolution kann somit für die Gegenwart festgestellt werden: »War die erste französische Revolution (deren siegreicher Lauf um die Welt, jetzt, nachdem wenig mehr von dem vor sechzig Jahren Bestehenden zu zerstören übrig blieb, geschlossen scheint) ein Krieg des dritten Standes gegen den ersten und zweiten, so ist die mit jedem Tage deutlicher hervortretende Signatur der Gegenwart und Zukunft ein Vernichtungskampf des vierten Standes gegen den dritten, der heute bis auf wenige Reste den ersten und zweiten verschlungen hat.«23 Der offene Kampf zwischen dem Eigentum des liberalen Mittelstandes und der Armut des Proletariats werde »den Charakter der Zukunft bestimmen«. Auch ohne einen einschneidenden revolutionären Anstoß wurden also von diesen konservativen Zeitgenossen fortwährend Brüche prognostiziert, die Ausdruck und vorweggenommenes Resultat einer permanenten Gegenwartskrise waren. In dem langfristigen Wandel, der sich hier in der ›sozialen Frage‹ manifestierte, fanden sich Anhaltspunkte für einen zugespitzten revolutionären Bruch, der voller Furcht und Ablehnung erwartet wurde. Jetzt drohte eingelöst zu werden, was einige konservative Zeitgenossen wie Radowitz schon nach den Revolutionen von 1830 befürchteten: Der Sieg der bürgerlichen, »inkonsequenten« Revolution von 1830 entpuppte sich als ein vorläufiger und lief unaufhaltsam auf einen »konsequenten« Bruch mit allem Herkömmlichen hinaus. Der transitorische Zustand der Gegenwart erweist sich als unhaltbar und in permanenter Veränderung begriffen, wenn in den »Historisch-politischen Blättern« ein »entschiedenes Streben« ausgemacht wird, »alles Stätige beweglicher und wandelbarer zu machen, Alles zu erleichtern, zu beschleunigen, zu verflüchtigen, zu verallgemeinern, zu uniformieren und kosmopolitisieren«. Man könne »wohl mit weit mehr Recht von gesellschaftlichen Bewegungen, als von gesellschaftlichen Zuständen sprechen«.24 Diese Dynamik läßt sich einordnen in die Fortsetzungsgeschichte der politischen und sozialen Französischen Revolution, welche die europäische Geschichte latent oder manifest bestimm22 Ebd., 1840, Bd. 1, S. 578. 23 Ebd., 1847, Bd. 1, S. 529. 24 Ebd., 1843, Bd. 2, S. 379 f.

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te. Erst mit dem Jahr 1789 sei man »wieder in die Geschichte gepeitscht worden«, so Görres in seiner Schrift »Kirche und Staat«, ohne daß sich herausgestellt habe, »daß sie sehr fruchtbar an uns gewesen« sei.25 Die unsichere Gegenwart datiere von diesem Ereignis an, das wie die Reformation auf religiösem nun auf politischem Sektor eine allgemeine Revolution eingeleitet habe: »Eine allgemeine Revolution war die Mutter unserer Zeit; sie liegt wie ein ungeheurer Bergsturz zwischen unserem Jahrhundert und dem verflossenen ...; die alten Dämme sind unter der Gewalt der losgelassenen Elemente eingestürzt«. 26 Seit 1790 hätte eine Erschütterung und Umwälzung die nächste gejagt, und schon »diese Erscheinung so vieler und so rasch folgender und überall verbreiteter äußerer Revolutionen beweist, wenn das Allbekannte noch eines Beweises bedarf, daß sich die inneren Bande gelockert, daß die Grundlagen, auf denen die Gesellschaft ruht, mehr als schwankend geworden sind«. 27 In der Zersplitterung des großen Grundbesitzes und der erhöhten Zahl der egoistischen Kleinbesitzer, in der Auflösung des Zunftwesens, in dem konjunkturabhängigen Fabrikwesen, der drohenden Proletarisierung oder selbst der Uniformierung in der Kleidung wird konkret den Auflösungserscheinungen nachgegangen. Die Revolution von 1789 als epochaler Bruch hatte also einen permanenten und langfristigen Wandel eingeleitet, der ebenfalls als revolutionär eingestuft wurde, da er unablässig die Gegenwart hinter sich ließ. Die Perhorreszierung der unentwegt wirkenden Revolution macht diese auch in Zeiten scheinbarer Ruhe präsent, wenn in den »Historisch-politischen Blättern« 1839 trotz der noch schwelenden Kölner Krise über die Revolution gesagt wird: »Europa ruhet jetzt eine eigene Ruhe. Mit Ausnahme einiger Stellen, wo sich Kampf und Bewegung mehr äußerlich zeigt [!], gleicht es einer Gegend, die vor uns in Schlummer und bürgerlicher Ruhe gesunken. Aber dieser Schlummer, diese Ruhe ist kein wahrer Friede. Die französische Revolution ist ein merkwürdiges Thema im europäischen Leben, und es muß in tausend Variationen auf dem kultivierten Gebiet unserer Erde durchgespielt werden.... Wie eine Leidenschaft nicht aus der Seele verschwunden ist, wenn sie einmal zurückgetreten, sondern nach Perioden entweder stärker oder schwächer wiederkehrt; so wird auch die revolutionäre Bewegung zurückkehren entweder stärker oder schwächer.«28 ›Revolution‹ bekommt hier wieder Züge eines unabweisbaren Fatums, ist sie doch selbst in Zeiten äußerer Ruhe omnipräsent und löst alle gesellschaftlichen Bindungen von innen auf, um schließlich im Nihilismus zu münden: »Nichts Kirchliches, nichts wahrhaft Politisches und ... nichts Wissenschaftliches wird vor ihr bestehen, bis sie endlich durchdringt und zu sich selbst kommt, d. h. 25 26 27 28

Görres, Politische Schriften, Bd. 6, S. 209. Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, 1841, Bd. 1, S. 1. Ebd., 1843, Bd. 1, S. 380 f. Ebd., 1839, Bd. 2, S. 616.

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selbst sich auflöst und vernichtet.«29 Einmal in die Welt gesetzt, müsse eine Revolution sich durchspielen, also in ständig neuen Variationen wiederkehren. Widerstand gegen diese Bewegung erscheine zwecklos, denn gegenrevolutionäre Gewalt, rationale Klugheit oder überhaupt alle menschlichen Mittel dagegen bewirkten nur das Gegenteil, da diese Mittel selber sich der revolutionären Anmaßung bedienten. Schon der Konstitutionalismus sei ein Merkmal menschlicher Selbstsucht und deshalb revolutionär. Im Hinblick auf den Mischehenstreit mit Preußen wird deshalb die drohende Abhängigkeit der Kirchen von den Regierungen beklagt, da so das Göttliche zur menschlichen Sache gemacht werde.30 Obwohl er sich schon moderner Mittel zur Beeinflussung der Öffentlichkeit bediente und sensibel auf die soziale Problematik im Vormärz reagierte, sah der katholische Konservativismus im Machtanspruch des modernen Staates, in dessen Versuch der Bevormundung und Beaufsichtigung der Kirche und in allen modernen Zeittendenzen einer liberalen Gesellschaft die unübersehbaren Zeichen einer Dauerkrise, die von der Reformation und vor allem den Ideen von 1789 herrührte.31 Diese Haltung denunzierte die Gegenwart als durchgehend revolutionär, da sie sich permanent erneuerte und damit auflöste. Eine regressive Richtung bekam ›Zeit‹ also auch in dieser als Krise erfahrenen Revolution nicht, erhielt aber einen derart flüchtigen Charakter, daß sich der Zeitenlauf wiederum völlig menschlicher Verfügbarkeit entzog, ja noch mehr: Jeder aktive Eingriff in die politische Dynamik - auch zur Abwehr der nihilistischen Revolution - arbeitete dieser Revolution letztlich nur wieder zu, da er sich revolutionärer Prinzipien wie Rationalismus und Anmaßung gegenüber der göttlichen Ordnung bediente. Im Widerspruch zu seinen eigenen publizistischen Ambitionen propagierte der katholische Konservativismus deshalb eine Rückbesinnung der Kirche auf sich selber, indem jede Kooperation mit dem Zeitgeist verunglimpt wurde. Strikte Romtreue und ein hierarchisch-disziplinierter Klerus, strenge Einheitlichkeit und Geschlossenheit der katholischen Kirche und Lehre sollten ein Ausklinken aus dem atomistischen Treiben der Revolution ermöglichen. Nur ein Bund mit dem offenbarenden Gott, nicht mit dem intellektuellen vermöge der entfesselten Zeit zu entgehen.32 ›Zeit‹, durch die sich Veränderungen vollzogen, wurde vom katholischen Konservativismus gewissermaßen zugunsten einer statischen Weltordnung negiert, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hatte.33 Gerade die permanente Veränderung der Gegenwart wies auf das Substrat, das transformiert werden sollte: »Der Kampf, der allerwärts die Gegenwart bewegt, und in dem ein Neues 29 30 31 32 33

Ebd., S. 622. VgJ. ebd., S. 618, 626, 734 f., 628. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 409 ff. Vgl. Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, 1839, Bd. 2, S. 737 f. Zur Berufung des bayerischen Katholizismus auf das Mittelalter vgl. Klug.

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sich mit Gewalt in die Welt einzuführen sucht, hat uns auf ein Aelteres hingewiesen, das da weichen soll und zurücktreten vor dem Eindringenden, damit in ihm ein neues Weltalter beginne.« 34 Dieses Substrat, das die alte Ordnung bestimmt habe, finde sich in einer »prinzipienhafte[n] Christlichkeit«. Diese habe sich selbst in den »heftigsten Stürmen« der Revolution seit 1789 zu halten vermocht und trotz vieler Anfechtungen und Einschränkungen - insbesondere nach dem Kölner Kirchenstreit - von ihren neuen Feinden nicht der vorherrschenden Zeitbewegung angepaßt werden können. 35 In einem Artikel der »Historisch-politischen Blätter« »Ueber den Geist der Zerstörung und Erhaltung in unserer Zeit« werden zwei sich bekämpfende Richtungen unterschieden, die »destructive« und die »conservative«. Der Beobachter der Zeitläufte »wird gegenüber jenem unruhigen, stürmischen, friedlosen Drange nach sogenanntem Fortschritt in die blaue, bodenlose Unendlichkeit, nach stets erneuerten Neuerungen und radicalen Reformen und Revolutionen auch eine Gesinnung entgegengesetzter Natur gewahren, eine Gesinnung oder ein Gefühl historischer Pietät, die ihren Blick der Vergangenheit zukehrt und auf ihrer Grundlage fortbauen will«.36 Der Gegenwart, die aufgrund ihrer Neuerungssucht permanent in eine unabsehbare und haltlose Zukunft zu entweichen droht, wird ein Refugium gegenübergestellt, das in der Vergangenheit liegt und wieder in die Gegenwart überführt werden soll. Diese Wiederbelebung des christlichen überzeitlichen Prinzips habe weniger einen kontinuierlichen Fortschritt zu gewährleisten, sondern vielmehr jede mittels reformerischer oder revolutionärer Anmaßung gestaltete Zeit zum Stillstand zu bringen. Die Leiden an einer bewegten Gegenwart hätten als Ausweg nur die »Rückkehr zum christlichen Prinzip«, so der »Allgemeine Religions- und Kirchenfreund und Kirchenkorrespondent« aus Würzburg 1845, und »diese Rückkehr ist aber in Wahrheit ein Fortschritt zum christlichen Geist, und das wahre Vorwärts ist das Aufwärts«.37 Dem innerweltlichen Fortschritt eines linearen oder auch diskontinuierlichen Zeitstrahls wurde also ein Fortschritt entgegengehalten, dessen Richtung die weltimmanente Zeit transzendent überstieg, letztlich zum Jüngsten Gericht und zu Gott führte. Den politischen und gesellschaftlichen Bewegungskräften der Civitas terrena sollte mit dieser Art der Rückkehr ihre Dynamik genommen werden. Anders als der liberale Katholizismus, der vor allem im Rheinland trotz seiner in kirchenpolitischen und innerkirchlichen Belangen dogmenstrengen und romtreuen Haltung staatspolitisch dem liberalen Verfassungsstaat zuneigte, 38 und anders als der sozialpolitisch aufgeschlossene Katholizismus blieb der ka34 35 36 37 38

Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, 1838, Bd.l, S. 214. Vgl. ebd., 1839, Bd. 2, S. 239. Ebd., 1841, Bd. 1, S. 1 f. Allgemeiner Religions- und Kirchenfreund und Kirchenkorrespondent, 1845, S. 3 f. Vgl. Huber, Bd. 2, S. 363 ff.

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tholische Konservativismus um den Görreskreis in München einer Abwehrhaltung gegen die Zeittendenzen der modernen Welt verhaftet. Anerkennend, daß die politische und soziale Dynamik in dem Jahrzehnt vor 1848 unablässig in eine neue Zeit aufbreche, sollte dieser als destruktiv beurteilte Fortschritt einer allgemeinen, fatalistisch und subversiv wirkenden Revolution aus der Zeit herausgenommen werden und zu einem zeitlosen christlichen Prinzip zurückkehren. Dieses Prinzip siedelte die dynamische Fortschrittsbewegung nicht diachron in der geschichtlichen Entwicklung an, sondern blieb auf ein vertikales Aufwärts zu Gott beschränkt und kam einer Flucht in die Zeitlosigkeit der Ewigkeit gleich. Jeder Eingriff in die innerweltliche Zeit galt hingegen als menschliche Anmaßung, die einer Revolution nahekam. Auch dem protestantischen Konservativismus in Preußen galt die Gegenwart der vierziger Jahre als permanent revolutionsgefährdet, als Dauerkrise, deren Signum die beschleunigte Auflösung der gesellschaftlichen Bindungen war. 39 In Radowitz' fiktiven »Gesprächen aus der Gegenwart über Staat und Kirche« aus dem Jahre 1845 beklagt sich ein Diskutant über die politische und kirchliche Agitation der Vereine und öffentlichen Versammlungen gegen die fürstliche Autorität.40 Auf die furchtsame Vermutung, daß sich wie 1789 eine revolutionäre Situation entwickeln könne, entgegnet zwar sein Gesprächspartner, der aufgeschlossen-konservative Waldheim, daß vermutlich jede Zeit ihre eigenen Leiden und Gefahren für exzeptionell halte, gesteht aber dennoch, in seiner politischen Haltung Radowitz nahestehend, zu, »daß es auch demjenigen, der sich ganz objektiv zu der Gegenwart verhielte, so erscheinen muß, als ob ein Wendepunkt für die innere Geschichte der europäischen Menschheit eben in dieser windstillen Zeit sich vorbereite. Die Erscheinungen, die Ihr hervorhebt, teure Freunde, sind ebensowohl Ursachen als Wirkungen dieses Zustandes.«41 Auch in einer Zeit, die frei war von revolutionären Zäsuren, fanden sich also aufgrund der sozialen Dynamik Anzeichen für einen Wendepunkt. Es war eine Gegenwart, in der »Das revolutionäre Prinzip« regiere, so der Titel eines Aufsatzes im »Berliner politischen Wochenblatt«. Eine Revolution sei nicht mehr Mittel zur Erreichung eines höheren Zwecks, sondern ein Grundsatz, der Ursprung (Volkssouveränität), Inhalt (Ablehnung der göttlichen Vorsehung), Motive (irregeleitetes Rechtsgefühl) und schließlich auch Mittel umfasse, in denen allein sich Radikalismus und Liberalismus unterschieden. 42 Radowitz wiederum sieht Deutschland auch außenpolitisch vom revolutionären Prinzip 39 Vgl. zum Krisenbewußtsein des Konservativismus im 19. Jahrhundert Greiffenhagen, Konservativismus in Deutschland, S. 122 ff. 40 Vgl. auch im folgenden Radowitz, Gespräche, S. 163 ff 41 Ebd., S. 165. 42 Vgl. Berliner politisches Wochenblatt, Nr. 27 vom 4.7.1840, S. 144 ff.

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bedroht: von Frankreich aus durch die Lehre der Volkssouveränität, von Rußland her durch die des Absolutismus. Daß beide zu vereinigen seien, habe schon Napoleon gezeigt. Man werde nicht »einen festen Grund in der Gährung der Zeit finden, ehe die Regierungen nicht das gefahrbringende Erbe der Revolution, ... den modernen Staatsabsolutismus« von sich geworfen hätten.43 Auf diese Anzeichen einer revolutionären Zeit müsse auch das beschädigte preußische Staatsschiff reagieren, so Radowitz 1847 in einem Artikel über »Preußen und die Fluthen der Zeit« anläßlich der Berufung des Vereinigten Landtages, und Kurs auf das offene Meer mit neuen Zielen nehmen, da die Häfen der Vergangenheit aufgrund der zahlreichen Klippen nicht mehr zu erreichen seien.44 Anstatt sich aus der zeitlichen Dynamik herauszunehmen, um so der revolutionären Ubiquität zu entkommen, sollte jene vielmehr nutzbar gemacht werden, um einem revolutionären Bruch zuvorzukommen - eine Haltung, wie sie schon in den dreißiger Jahren vom Katholiken Baader eingenommen wurde, um der aufgestauten Fortschrittsbewegung wieder zu ihrem evolutionären ›Recht‹ zu verhelfen. Baaders Forderung nach zeitgemäßen sozialen Reformen zur Eingrenzung einer allzu offenen Zukunft wurde unter den preußischen Reformkonservativen nachdrücklich von Victor Aimée Huber als Herausgeber der Zeitschrift »Janus« verarbeitet, einem Blatt, das »entschieden als Organ der protestantisch-evangelischen Seite des conservativen Deutschlands« auftrat.45 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1845 über die »Temporis signatura« wird über diese gegenwärtigen Zeittendenzen ausgesagt, »daß das, was wir als das äußere Resultat der sogenannten modernen Ideen des Liberalismus als ›die Resultate der Revolution‹ zu bezeichnen pflegen, eine von Gott in der Weltgeschichte nicht bloß jeweilig und augenblicklich zugelassene, sondern tief angeordnete, in der nothwendigen Entwicklung des Menschengeschlechts liegende Richtung derselben, und somit eine göttliche Thatsache mit dem Anspruche und mitbestimmtem Rechte auf Dasein und Fortbildung sei.«46 Nicht die Wahrheit der revolutionären Ideen wird behauptet, sondern auf das Faktum der von der Revolution zerstörten sozialen Fundamente hingewiesen. Nicht bloß die Formen des alten gesellschaftlichen Zustandes seien in voller Auflösung begriffen, sondern dieser sei auch in den Gesinnungen, Gemütern und Sitten nicht mehr anzutreffen: »Wir stehen unstreitig vor der Pforte einer neuen Zeitepoche«.47 Deshalb wäre es eine »Thorheit«, die überwundenen Zustände wiederherstellen zu wollen; allein schon »der Versuch würde nicht nur scheitern, es würde die Aufbauung von vielem Guten, was jetzt nicht schwer 43 Radowitz, Ges. Schriften, Bd. 4, S. 140 f. 44 Vgl. ebd., S. 173 ff. 45 Janus, 1845, Bd. 1, S. 13; vgl. zu Huber auch Huber, Bd. 2, S. 341; Wehler, Bd. 2, S. 454. 46 Janus, 1845, Bd. 2, S. 394. 47 Vgl. auch im folgenden ebd., S. 446 ff.

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sein möchte durchzusetzen, völlig unmöglich machen«. Die Grundsätze der historischen Schule, daß man neue Zustände und Institutionen nicht selber schaffen könne, da diese von selbst entstehen und sich entwickeln müßten, diese Auffassungen hätten sich in der heutigen Zeit als falsch herausgestellt: »In einer früheren Zeit... hätte man nach diesen Grundsätzen verfahren können, und dennoch, die politischen Ereignisse und die rasend schnelle Entwicklung der modernen Zustände haben uns so überflügelt, daß eine ruhige, naturgemäße Entwicklung der socialen Formen, ein stilles Fortwachsen, Fortbilden und Umbilden derselben mit jenen Umwälzungen der Politik und Kultur gar nicht Schritt halten konnte.« Die Beschleunigung der modernen Welt als Resultat der Revolution mit all ihren Folgen für das politische und soziale Leben sei danach also unumkehrbar, die revolutionäre Fortschrittsbewegung müsse akzeptiert und auf sie reagiert werden, denn durch »bloßes Stillestehen in der Gesetzgebung und Verwaltung, durch bloßes Negiren, wird man sie [d. i. die neuen sozialen Zustände] weder ungeschehen machen, noch der Verhältnisse Meister werden«. ›Revolution‹ wird hier zu einem von Gott in Gang gesetzten Prozeß, der von jeder Regression weit entfernt liegt und permanent neue Zustände schafft, vornehmlich auf dem sozialen Terrain. Diese beschleunigte Entwicklung drohe sich aber auf einen Abgrund zuzubewegen und damit sich selbst zu destruieren, wenn sich die Politik dem »Stillstehen, Negiren, Aufhalten« verschreibe. In der Ungleichzeitigkeit der sozialen Dynamik und der politischen Stagnation mache sich ein horizontaler Bruch innerhalb der Gegenwart bemerkbar, da diejetzige »Gesetzgebung im Rückstande gegen die Zeit und ihre Bedürfnisse geblieben ist«. Eine »organische Gesetzgebung« hätte in drei Richtungen zu weisen: Sie müsse alle gefährlichen und destruktiven Gesetzesprinzipien wie ζ. Β. diejenigen aus dem Allgemeinen Landrecht ausmerzen; sie müsse den neuen sozialen Zuständen gerecht werden und deren Hemmnisse aus dem Weg räumen; schließlich müsse sie »neue organische und korporative Institutionen« bilden. Nur so könne sie »überhaupt auf dem Fundamente wahrer Freiheit und schaffender Kraft vorwärts schreiten«. Auch wenn die Prinzipien des Liberalismus falsch seien, reagiere er doch auf wirkliche und unabweisliche Bedürfnisse. Deshalb habe man sich am liberalen Zeitbewußtsein zu orientieren, das sich der politischen Dynamik angepaßt habe, auf eine Reform im Beamten- und Justizwesen hinzuwirken und zur Schaffung von Provinzialständen beizutragen.48 Durch die Erfahrung einer Dauerkrise, die sich in der Spannung zwischen einer beschleunigten sozialen Dynamik und einer stagnierenden politischen Entwicklung zeigte, erschien es Konservativen also geboten, Erwartungen zu formulieren, die auf zeitliche Bewegungstendenzen der Gegenwart zurückgriffen und gleichzeitig diese Gegenwart überboten, indem sie sich die Fortschrittsbewegung im konservativen Sinne zunutze machten. ›Konservativ‹ solle 48 Vgl. ebd., S. 450 ff. 209 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

nicht mehr bedeuten, »mit todten, mechanischen, sondern mit organischen Dingen, mit Geist und Leben zu thun« zu haben, wie Huber in seinem Eröffnungsartikel zum ersten Jahrgang des »Janus« schreibt. ›Erhaltung‹ wird verstanden als »Fortbildung, als höhere Entwicklung der irgend gefunden, berechtigten Elemente des Lebens, nach den in ihnen selbst gegebenen Gesetzen«.49 Damit reagiert Huber auf eine Zeit, die nach Phasen der Übereilung einerseits von »Erlahmung und Verwirrung« geprägt sei, andererseits aber gerade deshalb über diese Defizite hinausstrebe: »Ja - unsere Zeit drängtjedem Staate, vor allen aber dem preußischen, neue, bisher in dem Maaße jedenfalls unbekannte Pflichten und Aufgaben unerbittlich, unabweislich auf.« In der Forderung, es müsse anders werden, stimme man mit seinen entschiedensten Gegnern überein. An den »bescheidenern Bedürfnissen einer vergangenen Periode« könne man sich bei seinen Staatsgeschäften nicht mehr orientieren.50 Es sei nicht zu leugnen, so in der Vorrede zum Jahrgang 1847, »daß sogar der Radikalismus manchen der großen Aufgaben der Zeit gegenüber mehr Recht und Beruf hat, als jene unfruchtbare antiquirte Doktrin, die sich nicht bloß als eine unvermeidliche Durchgangsstufe, sondern als das letzte Ziel... überall vordrängt«.51 Bewahrung als Fortbildung von »berechtigten Elementen des Lebens« - »berechtigt« sei aber laut Huber nur das, was »die Grundlagen des Bestehenden in allen Seiten des Staats-, Volks- und Familienlebens nicht zerstört«, was auf dem »lebendigen, thatsächlichen, persönlichen, göttlichmenschlichen Grund und Boden des Christentums, der christlichen Kirche und Bildung« stehe, und dies genau bestimmen die Konservativen je nach eigenem Ermessen.52 Die zugestandene Entwicklung hat sich also auf ein überzeitliches Substrat zu beziehen und ist diesem untergeordnet, wenn es heißt: »Erhaltung aber des zu Enwikkelnden wird immer höher und näher stehen, als die Entwicklung, schon weil es sie bedingt.«53 Das sensibilisierte Zeitbewußtsein von Liberalismus und Radikalismus, ihr Erkennen der gesellschaftlichen Dynamik wurde übernommen, jedoch mit der Absicht, durch ein Anschmiegen an den anerkannten Wandel diesen auf das Erhaltenswerte zu richten und letztlich so zu verhindern. Auf politischem Gebiet wird streng an dem Recht festgehalten, »welches Siegel und Schlußstein aller andern Rechte ist, an dem der rechtmäßigen Obrigkeit«, die bei allen letzten formalen und moralischen Entscheidungen »in allen eigentlichen staatlichen Fragen« beim Monarchen liege. In der Erhaltung des »monarchisch-dynastischen« Rechts finde die Bewegung ihre Grenze oder besser: erst ihr Ziel.54 49 50 51 52 53 54

Ebd., 1845, Bd. 1, S. 3. Ebd., S. 22 f. Ebd., 1847, Bd. 1, S. 25. Ebd., 1845, Bd. 1, S. 8. Ebd., S. 31; vgl. auch ebd., 1847, Bd. 1, S. 12. Ebd., 1847, Bd. 1, S. 13.

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In diesem Sinne ist dann auch Stahls Versuch der Verknüpfung einer monarchisch-ständischen mit einer konstitutionellen Ordnung zu verstehen, wie er sie in seiner berühmten Flugschrift »Das monarchische Prinzip« von 1845 vorstellt. Die Bemühungen Hallers undjarckes um eine »wahre ständische Verfassung im Gegensatze des Repräsentativsystems« werden von Stahl als mißlungen beurteilt, da sie im Zeichen des »frühern, der Revolution vorausgegangenen Zustandes« stünden und nicht der Dynamik der Gegenwart gerecht würden: »Der innerste Lebenstrieb des Zeitalters ist gerade die Überwindung jenes ältern Charakters des Ständewesens, der Fortschritt von ständischem Partikularismus zur nationalen Einheit, vom patrimonialen Charakter der Verfassung zum staatlichen oder constitutionellen.« 55 Stahl versucht, an der englischen Verfassung orientiert, ständische und repräsentative Ordnung im »constitutionellen Princip« zusammenzudenken, da Repräsentation nicht Volksherrschaft oder Parlamentarismus bedeuten müsse und Ständeherrschaft als Machtausübung gesamtstaatlicher Landstände nach Art einer »öffentlichrechtliche [n] Institution« 56 zu verstehen sei. Anstelle der Alternative ›ständisch‹ oder ›repräsentativ‹ heißt es bei Stahl: »Jede gesunde Repräsentation in unserer Zeit muß die nationale Einheit und muß die ständische Gliederung repräsentiren, sie muß die sächlichen Lagen und Berufsvorstellungen, ›das Land‹, und muß den Inbegriff der Menschen, ›das Volk‹, repräsentiren. ... Das repräsentative Princip ist nur dann ein Irrthum, wenn es vom ständischen gelöst ist, wie dort [in Frankreich], und das ständische Princip ist nicht minder ein Irrthum, wenn es vom repräsentativen (volkseinheitlichen) gelöst, wie hier [in Deutschland].«57 In welcher Form dieses Mischungsverhältnis von alt (ständisch) und neu (repräsentativ) im einzelnen beschrieben wird, soll hier kein weiteres Thema sein. 58 Wichtig ist aber, daß über dieses konstitutionelle Prinzip letztlich die göttliche und sittliche Autorität des Monarchen gestellt wird, der beim Regieren nicht an parlamentarische Mehrheiten gebunden ist und über das legislative Initiativrecht, die Verwaltungshoheit und letztlich auch über das Budgetrecht verfügt. 59 Das »monarchische Prinzip« kompensiere die Entpatrimonialisierung des Staates »durch den Vorrang der zum öffentlichen Gut gemachten Prärogative der Krone gegenüber ständisch-parlamentarischer Repräsentation«. 60 Und wo es gilt, das monarchische Vorrecht gegenüber dem parlamentarischen Prinzip zu begründen, da beruft sich Stahl auf die Normalität der Vergangenheit, in der die Monarchie 55 56 57 58 59 60

Stahl, Monarchische Prinzip, S. IV f. Wehler, Bd. 2, S. 453. Stahl, Monarchische Prinzip, S. VIII. Vgl.Puhle,S.273f. Vgl. Stahl, Monarchische Prinzip, S. 14 ff. Puhle, S. 273.

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»das in der Regel und unter den gewöhnlichen Verhältnissen Rechte und Angemessene [ist]. Wie nach dem Zeugniß aller Jahrhunderte die Monarchie die normale Staatsverfassung ist, die Republik nur ein individueller Beruf bestimmter Staaten, so auch ist dies innerhalb der reichsständischen Verfassung das Verhältniß von monarchischem und parlamentarischem Princip.«61 Im Zweifelsfalle habe deshalb immer die Zentralmacht Vorrang vor der parlamentarischen Peripherie. Stahls Reformvorstellungen reagierten zwar auf den Beschleunigungsdruck der vierziger Jahre und sollten den Konservativismus aus seiner altständischen Bewegungslosigkeit herausfuhren, doch war im Gegensatz zu den Liberalen für ihn der Konstitutionalismus, also die Bindung des Monarchen an Verfassung und Gesetz, kein Mittel zur Parlamentarisierung, sondern sollte diese verhindern, die letztlich aus der Vergangenheit gerechtfertigte Vorrangigkeit des »monarchischen Prinzips« institutionell legitimieren und damit die gesellschaftliche Dynamik zum Abbruch bringen: »Stahl hat den größten Teil des deutschen Konservativismus konstitutionell gezähmt, indem er dem Konstitutionalismus die Zähne parlamentarischer Kontrolle und Initiative zu ziehen versuchte.« 62 Das Wahrnehmen der in Bewegung geratenen Gesellschaft ließ nach Wegen suchen, die im Fortschreiten letztlich einen Rückschritt zu überzeitlichen bzw. in der Vergangenheit verorteten Staats- und Gesellschaftsvorstellungen ermöglichen sollten. Die Gegenüberstellung von Fortschritt und Rückschritt weicht hier schon langsam auf63 Das Leipziger Blatt »Bayard, der Kämpfer für Gott, König und Vaterland« charakterisiert die »neuere Zeit« zwar noch als einen »Kampf des Widerspruchs« zwischen den Kräften des Fortschritts und denen des Rückschritts; doch am Beispiel des Wiederaufgreifens der frühchristlichen Liebesmahle durch den Deutschkatholizismus wird von den Rückschritten der vermeintlichen Fortschrittler gesprochen, die im Rückschritt einen Fortschritt suchten. 64 Trotz aller Kritik daran wird hier zumindest die Möglichkeit eines Fortschreitens mittels des Rekurses auf einen anachronistischen Ritus eingeräumt, der so reaktiviert wird. Und Radowitz betont in seinen »Gesprächen aus der Gegenwart über Staat und Kirche«, daß sich die Gegenwart nur noch mit Hilfe von Differenzierungen des Fortschritts und des Bewahrens erfassen lasse: »Konservatives? Ich habe dagegen, daß auch diese neueste Benennung von Haus aus an einem Grundirrtum leidet. Das Konservieren, Beharren, ist weder an sich gut, noch das Aufgeben, Fortbewegen an sich schlecht. Beharren im Guten ist Pflicht; Beharren in dem, was eben nur da ist, Unrecht oder Unweisheit. Fortschreiten zum Besseren auf 61 Stahl, Monarchische Prinzip, S. 36 f. 62 Puhle, S. 274. 63 Vgl. zur Dialektik und Dilemmatik von Beharrung und Fortschritt Greiffenhagen, Konservativismus in Deutschland, S. 227 £F. 64 Vgl. Bayard, der Kämpfer für Gott, König und Vaterland, 1847, S. 180 ff.

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berechtigtem Wege ist löblich; Fortschreiten zum Schlechteren oder selbst zum Guten mit rechtswidrigen Mitteln ist verwerflich. In so wohlfeilen Schemata können die Aufgaben der Gegenwart nicht gefaßt werden; es wird immer darauf ankommen, im gegebenen einzelnen Falle zu erwägen, wobei man beharren solle und wohin man fortschreiten dürfe.«65 Im Gegensatz zu den katholischen Konservativen, die sich aus der politischen Fortschrittsbewegung ausklinken wollten, übernahm der kleine Kreis der preußischen Reformkonservativen also bereitwillig liberale und radikale Zeitwahrnehmungen ohne deren Inhalte. Die permanent fortschreitende Zeit sollte mittels zeitgemäßer Institutionen und Gesetze gestalt- und kontrollierbar werden, da sie ansonsten aufgrund des sich vertiefenden horizontalen Bruchs zwischen Gesellschaft und Staat zerstörerisch auf eine Revolution zuzulaufen drohte. Das Einklinken in die verzeichnete Fortschrittsbewegung, in der sich die Erfahrungen unablässig überholten und deshalb neue Erwartungen formuliert wurden, ließ die innerweltliche Zeit anders als für die katholischen Konservativen machbar werden. Auf dieser Grundlage konnte sich zwar der Reformkonservativismus dem Vorwurf der Immobilität entziehen, funktionalisierte aber die Verarbeitung der gesellschaftlichen Dynamik zu einem rhetorischen Mittel der Bewahrung. So trat er »in die Auseinandersetzung um das Ausmaß des zu Erhaltenden und um Richtung und Geschwindigkeit der als notwendig erkannten Veränderungen« ein, 66 um einen einschneidenden Wandel zu verhindern. Erhaltung, dargestellt als Fortbildung, sollte letztlich den Gegensatz von Fortschritt und Beharrung bzw. Rückschritt aufweichen und den überzeitlichen konservativen Prinzipien von Staat und Gesellschaft dienen. In der Revolution von 1848 wurde schließlich darauf zurückgegriffen.

2. Das Elend der polarisierten Übergangszeit: permanenter Aufschub liberaler Zukunftserwartungen Stärker als die konservativen Richtungen nutzten Liberale die vielfältigen Möglichkeiten der inner- und außerparlamentarischen Öffentlichkeitsarbeit in dem Jahrzehnt vor der Revolution und rezipierten nachdrücklich die einzelnen Krisenphänomene. Ihr Ziel einer »Staatsbürgergesellschaft mittlerer Existenzen« richtete sich sowohl gegen die alte ständisch-feudale Privilegiengesellschaft als auch gegen die Auswüchse des klassengeprägten Industriekapitalismus. Liberale Leitbilder zielten auf soziale Harmonie und wandten sich gegen eine grundsätzliche Dynamisierung durch unkontrollierbares wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt. Eingeklemmt zwischen der Abwehr überkomme65 Radowitz, Gespräche, S. 360 f. 66 Vierhaus, Konservativismus, S. 549.

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ner Staats- und Gesellschaftsvorstellungen und der Abneigung gegenüber den rasanten ökonomischen Entwicklungen mit ihren sozialen Folgeerscheinungen, befand sich der frühe konstitutionelle Mehrheitsliberalismus letztlich im Widerspruch zu den allgemeinen Entwicklungstendenzen: »Unstreitig ist das mittelständische, honoratiorenpolitische ›Erwartungsmodell‹ der liberalen Mehrheit mit dem Durchbruch der Industriellen Revolution seit den vierziger Jahren und der neuen Hierarchie der Marktklassengesellschaft gescheitert.«67 Anders reagierte der großbürgerliche Liberalismus in den rheinischen Metropolen und in Sachsen auf diese Herausforderungen.68 Geprägt von der französischen Besatzungszeit und der geographischen Nähe zu den industriewirtschaftlichen Vorreiterstaaten war insbesondere der Westen sozioökonomisch weiter entwickelt. Die Liberalen setzten dort auf Industrialisierung als unaufhaltsamen Fortschritt, um aus einer derartigen Erfolgsgeschichte auch den Anspruch auf politische Macht innerhalb einer konstitutionellen oder parlamentarischen Monarchie in einem unter Umständen nationalen Gesamtstaat abzuleiten. Akzeptierte eine liberale Minderheit als Interessenvertretung der wirtschaftlich und sozial aufsteigenden Schicht des Besitzbürgertums auch ›Pauperismus‹ und Proletarisierung innerhalb einer Klassengesellschaft als vorübergehende Begleiterscheinungen des Fortschritts, stand hingegen den meisten die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Englands als eindringliches und abschreckendes Lehrbeispiel vor Augen. Diese Liberalen traten deshalb für eine aktive, auch staatlich geförderte Sozialpolitik innerhalb eines Verfassungsstaates ein, um dem drohenden Schreckgespenst einer sozialen Revolution vorzubeugen, ohne aber auf diese Weise die politischen Teilhaberechte ausweiten zu wollen oder gänzlich Abstand von frühliberalen Leitbildern zu nehmen.69 Für den Liberalismus als »Partei der Bewegung« galt es, den schrittweisen und unterschiedlich verstandenen Sieg von Aufklärung und konstitutionell begrenzter Freiheit weiterhin zu sichern. In verschiedenem Ausmaße mußte er dem politischen, sozioökonomischen und nationalen Bewegungsbedürfnis in einer fortschreitenden Zeit entgegenkommen, ohne seine Positionen in der beschleunigten Krisendynamik des Vormärz aufzugeben und sich in einer Revolution zu verlieren. Wie weit und auf welchen Gebieten diese Anpassung geleistet werden mußte, darin unterschieden sich die einzelnen liberalen Strömungen der vierziger Jahre. Daß ›Zeit‹ sich kontinuierlich auf eine liberal gedeutete Zukunft zubewege, diesem Glauben wird immer wieder und in verschiedenen rhetorischen Wendungen Ausdruck verliehen. So überschreibt 1842 ein Autor der Ulmer Zeitschrift »Die Zeitinteressen« einen Artikel mit den zuversichtlichen Worten 67 Wehler, Bd. 2, S. 424. 68 Vgl. auch im folgenden ebd., S. 424 ff.; Lutz, S. 220 ff.; Fehrenbach, Rheinischer Liberalismus. 69 Vgl. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 32.

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»Rückschritte sind heut zu Tage nicht mehr zu furchten«. Die nach Freiheit und Wahrheit strebende Zeit habe die Bewegung zu ihrem Lebensprinzip gemacht; Untätigkeit, Nachgeben und Unterdrückung der neuesten Zeittendenzen würden daher immer seltener, »denn so will es unsere Zeit, die unaufhaltsam im Fortschreiten begriffen ist« und somit eine Garantie gegen den Rückschritt darstelle.70 Und ein Jahr darauf wird in einem Aufsatzjeder scheinbare Rücklauf in eine Fortschrittsbahn eingeordnet: »Ja, in einem Zeitalter, wie das unsrige, ... ist der Rücklauf der Civilisation, wie der Rücklauf der Planeten bloß scheinbar, und die deutsche Nation wird endlich nach einem tausendjährigen Gange das gelobte Land der religiösen und politischen (praktischen) Freiheit erreichen, trotz aller Rückschritte, welche... nicht mehr zufürchten sind. Mit den Waffen der Gewalt ausgerüstet vermag die Reaktion zwar viel Unheil zu stiften, aber sie kann nichts Todtes und Erstorbenes wieder lebendig machen.«71 Rückschritte habe es in der Vergangenheit gegeben, doch die zahlreichen Verbesserungen und Reformen »auf allen Gebieten unseres socialen und politischen Lebens« hätten der Zeit eine solche Beschleunigung verliehen, so in der von Karl Biedermann in Leipzig herausgegebenen »Deutschen Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben« 1843, daß diesen Fortschritten nun kaum noch nachzukommen sei: »Vor dem Jahre 1840 konnte man Deutschlands politischen und socialen Fortschritte nach Jahren berechnen; vor dem Jahre 1830, nach Jahrzehnten; jetzt muß man mindestens jeden Monat die Summe derselben ziehen, soll die Rechnung nicht allzusehr anwachsen.« Und der aufmerksame Varnhagen vermerkt in seinen Tagebüchern Anfang der vierziger Jahre, daß das Leben »alle Tage unruhiger, geräuschvoller, eiliger, zerstreuter« sei. Neben dem Zollverein und der Eisenbahn sei dafür die »jüngere Denkart überhaupt« verantwortlich, die an allem gespannt und gehetzt Anteil nehme. 72 Waren die Revolutionen von 1830 und ihre reformerischen Konsequenzen im Verfassungsleben Ausdruck eines plötzlichen Schubs und ermöglichten so den Anschluß an eine seit 1789 währende Fortschrittsgeschichte, erfuhr diese Bewegung jetzt eine weitere Beschleunigung, ohne einer Revolution von außen zu bedürfen. Die gedrängte Entwicklung in den vierziger Jahren, welche die öffentliche Diskussion belebte, und die seit den Bundesbeschlüssen aufgestaute Bewegung, die gerade im politischen und sozialen Bereich einer Lösung entgegenstrebte, ließen den Eindruck entstehen, permanent den Scheidepunkt einer neuen und nicht einsehbaren Epoche vor sich zu haben. Perthes prognostiziert, daß man am »Vorabend großer, gewaltiger Ereignisse« stehe, da die politischen Verhältnisse zu einer europäischen Krise drängten, der »Umschwung 70 Die Zeitinteressen, Nr. 88 vom 2.11.1842, S. 355; vgl. auch ebd., Nr. 82 vom 14.10.1843, S.326f. 71 Ebd., Nr. 54 vom 8.7.1843, S. 215; vgl. auch ebd., Nr. 80 vom 7.10.1843, S. 318 f. 72 Varnhagen, Tageblätter, Bd. 2, S. 92.

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in allen materiellen Verhältnissen« den Staaten »eine Neugestaltung der gesamten inneren Verwaltung zur Notwendigkeit« mache und »die Umkehr aller geistigen Zustände« zu einem »noch unbekannten Neuen« fortreiße: »Ein unhemmbarer Wirbel hat uns ergriffen ...; alles strebt nach immer eiligerem Umdrehen und Umwenden.«73 Im Anblick einer Epochenscheide verlören die herkömmlichen Begrifflichkeiten ihre Bedeutung und kämen dem Heranwachsen der neuen Zeit nicht mehr hinterher, so 1846 in den vielbeachteten Leipziger »Grenzboten«: »Die alte Zeit ist gestorben und die neue wächst tüchtig nach; darum sind in manchen Phasen des Lebens die überkommenen Begriffsbestimmungen unpassend geworden, dennoch hat man auch noch keine neun gefunden. Ueberall muß der Zusatz ›modern‹ aushelfen und weil sich das neue Leben eben aller Arten anders construiert, hat dies ›modern‹ aller Arten und bei jedem Einzelnen eine verschiedene Bedeutung. So ergeht's uns mit dem Begriff ›Gesellschaft‹ so wie dem der ›Politik‹«.74

Daß dieser Aufbruch in eine neue Zeit unumkehrbar sei und die dicht gedrängte Gegenwart den Blick zurück verbaue, ist auch die Auffassung Varnhagens, wenn er sich eingesteht, daß die Goethezeit abgeschlossen hinter der Gegenwart liege, da die Welt »seitdem eine andre Wendung genommen« habe und die neue Generation nicht mehr zurücksehe, da sie »alle Hände voll zu thun« habe.75 Lehren aus der Vergangenheit, die einen evolutionären Übergang in die Zukunft verbürgen konnten, ließen sich für eine solcherart bewegte Gegenwart nicht mehr heranziehen. Vielmehr könne nur aus den gegenwärtigen Zuständen und Verhältnissen ein zeitgemäßes Handeln abgeleitet werden, so die »Grenzboten« 1844 in einer Kritik an Vertretern des Fortschritts, die ihre Theorien durch Exempel aus der Vergangenheit zu belegen versuchen und damit »langweilige Repetitionen« ins Leben legten. Was die Geschichte lehre, sei nur, daß aus ihr nichts zu lernen sei: »Indem sie die verschiedenen Entwicklungsstufen der Völker in ihrer Aufeinanderfolge darstellt, setzt sie die Unterschiede gegen ein ander und wehrt alles willkürliche Verwischen derselben ab. Wie es in der ganzen Natur der Dinge nichts sich völlig Gleiches gibt, eben so wenig kann eine Epoche in eine andere übertragen, das Gesetz einer Zeit in einer andern weiter in's Leben gerufen werden.«76 In einer Zeit vielfältigster Krisen, die sich in keiner gebündelten Revolution entluden, reduzierten sich die Zukunftserwartungen immer mehr auf eine unsichere Gegenwart, die alle gemachten Erfahrungen überstieg. In Karl Weils »Konstitutionellen Jahrbüchern« aus Stuttgart wird in einem Artikel über 73 Perthes, Bd. 3, S. 448. 74 Die Grenzboten, 1846, Bd. 2, S. 25. 75 Vamhagen, Tageblätter, Bd. 2, S. 93. 76 Die Grenzboten, 1844, Bd. 3, S. 413 f. 216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

»Deutsche Zustände der Gegenwart« 1846 ein »neuer Geist« ausgemacht, der sich mächtig rege und dessen Richtung und eigentümliches Wesen wie bei allem Neuen sich noch nicht erkennen lasse.77 Er manifestiere sich in sozialen Unruhen und in Demonstrationen der Bürgerklasse, mache sich im Osten für liberale Ideen, im Westen für nationale Integrität stark und propagiere sozialistische oder kirchenfreiheitliche Ideen. Diese permanente Bewegung der Unruhe sei dem Zustand nach 1830 nun »durchaus unähnlich«, denn: »Die liberale Partei leitet ihn nicht, sie wird von ihm bewegt. Die konstitutionelle Seite nährt ihn nicht: wer weiß, ob seine Folgen nicht auch gegen sie sich wenden.« Man könne heute nur noch schwer sagen, »ob das, was früher hier oder dort genützt, jetzt nicht schadet, nicht die entgegengesetzte Wirkung hervorbringt«. Ohne Revolutionen blieben diese Erfahrungen einer unberechenbaren Zeit also von der Vergangenheit abgeschnitten und entwickelten sich haltlos in einer Gegenwart, die sich zwar unaufhörlich auf etwas Neues zuzubewegen schien, sich dabei jedoch jedem menschlichen Zugriff zu entziehen drohte. Daß sich ›Zeit‹ im Rahmen von Revolutionen nicht gestalten lasse, diese seit 1789 bestehende Furcht blieb unter Liberalen auch in den vierziger Jahren weiterhin präsent, wenn beispielsweise in einem Kölner Aufruf zugunsten der geplanten Herausgabe der »Rheinischen Allgemeinen Zeitung« über den vierzigjährigen bunten Wechsel von Revolutionen gesagt wird, daß diese weder »notwendig, noch seltener rechtmäßig und am allerseltensten wohltätig in ihren nächsten Wirkungen« seien, denn »viele Revolutionen erreichen gerade das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollten«.78 Noch 1847 heißt es in den »Grenzboten«, daß die Revolution »die blinde Gewalt des Fatums [ist], das wir wohl verstehen, aber nicht gut heißen können«.791830 sahen Liberale in dieser fatalistischen Revolutionskraft noch den schubweisen Wiedereinstieg in den seit 1789 währenden Fortschrittsprozeß, um dann die geschichtliche Entwicklung evolutionär und kontrollierbar mittels Reformen in die Zukunft zu fuhren. Hingegen ließen die zahlreichen Krisensymptome der vierziger Jahre und der Reformstau angesichts der sozialen und ökonomischen Bewegungen, die sich gerade in keiner Revolution Luft machten, den Anschluß an eine sich in der Vergangenheit legitimierende Fortschrittsgeschichte kaum noch möglich erscheinen, sondern verorteten den Fortschritt in einer fortwährend in die Zukunft aufbrechenden Gegenwart. So kann ein Zeitgenosse 1847 in den »Grenzboten« ausrufen: »Die Zeit schreitet allerdings vorwärts und fragt nicht: wohin? aber die Zeit ist auch das Nichtige, Sinnlose, das nur ist, insoweit wir das Wirk77 Vgl. auch im folgenden Konstitutioneile Jahrbücher, 1846, Bd. 3, S. 3 f. 78 In: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 1, S. 175 f.; vgl. auch Varnhagen, Werke, Bd. 5, S. 376. 79 Die Grenzboten, 1847, Bd. 2, S. 206; vgl. auch ebd., 1847, Bd. 3, S. 277 f.: »Eine Revolution hervorzurufen, ist unter günstigsten Umständen einem entschlossenen Willen wohl möglich; sie aber aufzuhalten oder zu leiten, das vermag auch ein Mirabeau nicht.«

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liche daran messen.« 80 ›Zeit‹ zeigte sich immer nur in dem, was nicht war, und überlebte sich permanent selber; sie stieß fortwährend den Sockel der Gegenwart von sich, auf dem sie stand, und schien keine Verankerung in der Vergangenheit mehr zu finden. Der Eindruck eines unausweichlichen Fortschritts und eines unmittelbar vorausstehenden Übertritts in eine neue Epoche blieb der flüchtigen Gegenwart einer Übergangszeit verhaftet. Der Epochenbruch drohte sich ohne Rückbindung an einen seit der Französischen Revolution ausgemachten Fortschrittsprozeß zu verlieren, da es sowohl an den notwendigen Reformen als auch an einer Revolution mangelte, die zu diesem Anschluß hätten beitragen können. Vielfach wird in der liberalen Publizistik darauf hingewiesen, daß sich die unablässige Geburt des Neuen verlaufen und erschöpfen könne, da sie zu schnell erfolge und sich so kein Zustand konsolidiere. Die »Unzufriedenheit und das Verlangen nach Veränderungen und Verbesserungen in den Verwaltungszweigen der Staaten« hätten immer mehr um sich gegriffen, so in der Frankfurter »Neuesten Weltkunde« in einem Artikel über »Gefahrvolle Täuschungen in dem Fortschreiten der Politik, der geistigen und materiellen Kultur«.81 Aufgrund dieser Übereilung bestehe die Gefahr, daß die Resultate dieses permanenten Veränderungsdrucks nicht von Dauer sein könnten: »Viele Staaten der gegenwärtigen Zeit leben zu schnell und zu hastig, übereilen sich in ihren Organisationen und Reorganisationen, und gehen eben darum einem gleich frühen Altern unabweislich entgegen. Wie die Menschen in ihren Bedürfnissen höher steigen und in deren Befriedigung schneller leben, so verhält es sich vielfach mit dem jetzigen Staatsleben, welches häufig einer Treibhauspflanze gleicht, die in ihrer gekünstelten Lage wohl schnell emporwächst und sich entfaltet, aber selten zu einer gesunden und kräftigen Frucht es bringt, und dann zu kränkeln anfängt, wenn sie aus ihrer gekünstelten Sfäre entrückt in ein andres Klima versetzt, oder wenn ein Fehler begangen wird, der ihr nahe tritt.«82 Auch einem Verfasser in den »Grenzboten« ist es schier unbegreiflich, daß ein so wildes Pferd wie das Jahr 1846 »seinen Reiter nicht abgeworfen hat«. Er fragt sich: »Was war das für eine Zeit, wo solche Funken nirgends zündeten, wo Fackeln in die dürren Stoppelfelder geworfen wurden, ohne daß diese aufloderten?«83 Die sich überstürzende Zeit ließ nur noch eine flüchtige Gegenwart zu, in der die Latenz einer krisenhaften Zuspitzung der Entwicklung auf eine Revolution hin permanent präsent blieb, ohne letztlich einzutreten. Die beschleunigte Jetzt-Zeit wurde zum prekären Umschlagpunkt, da sie nicht die Gewähr bot, die Erwartungen einer sich allmählich verwirklichenden Zukunft beständig einzulösen. 80 81 82 83

Ebd. Vgl. Neueste Weltkunde, 1845, Bd. 3, S. 272. Ebd., S. 288. Die Grenzboten, 1847, Bd. 1, S. 37.

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Die Zukunftserwartungen und die politische Mobilisierung des Liberalismus erhielten Anfang der vierziger Jahre einen deutlichen Aufschwung: »Das Gefühl der Stagnation und Gängelung wurde zusehends durch den Optimismus übertrorTen, daß die Offensive, zumal die Zukunft ohnehin auf ihrer Seite sei, wieder in Gang gebracht und aussichtsreich durchgehalten werden könne.«84 Erschüttert konnte dieser Blick auf die Zukunft aber einerseits durch die brisanten Folgen langfristiger Prozesse werden, die sich in der demographischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Dynamik dokumentierten; andererseits durch eine Vielzahl von aktuell auftretenden Krisen wie den außenpolitischen Unsicherheiten, den religiösen Auseinandersetzungen, der Strukturkrise des Handwerks, der Finanzierungsprobleme der Unternehmen und der Furcht vor den dramatisierten Schreckgespenstern des ›Pauperismus‹, Proletariats, Kommunismus und Sozialismus als Folgen einer sich beschleunigenden Industrialisierung. Die bedrohliche Überlagerung und Häufung von Modernisierungskrisen offenbarten die Labilität einer Umbruchgesellschaft und führten schließlich zu einer politischen Legitimationskrise, in der sich zunehmend ein »unüberwindlicher Pessimismus gegenüber der Steuerungsfähigkeit des Alten Regimes« durchsetzte.85 Die alte Welt schien auseinanderzubrechen, ohne daß sich eine Macht ankündigte, das heraufziehende Chaos zu verhindern. Somit traten liberale Zukunftserwartungen, die sich Anfang der vierziger Jahren an die forcierte gesellschaftliche und ökonomische Dynamik knüpften, und die ständig neuen Krisenerfahrungen, die sich in einer kritischen Übergangszeit zu perpetuieren und den Sprung in eine neue Zeit immer wieder aufzuschieben schienen, weiter auseinander. Die Zeit enteilte sichtbar in die Zukunft, ohne daß ihr die Staatsmacht durch die notwendigen Reformen nachgekommen wäre. Die Diskrepanz zwischen liberalen Erwartungen und dem Grad ihrer Erfüllung nahm so unentwegt zu. Diese von der Revolutionstheorie so bezeichneten »relativen Deprivationserfahrungen« expandierten bis zur Revolution von 1848 beängstigend und überlagerten sich in wirtschaftlicher, politischer und regionaler Hinsicht, wo sich die Unterschiede und Benachteiligungen gegenüber einzelnen Bezugsgruppen besonders drastisch zeigten.86 In der subjektiven Sicht der Zeitgenossen wurde damit eine unerträgliche Dauerbelastung und ein Spannungszustand geschaffen, in dem die zeitliche Verlaufsordnung aus den Fugen zu geraten drohte und 1848 schließlich zu einer revolutionären Entladung führte. Schon 1843 skizzieren »Die Zeitinteressen« kurz diese Diskrepanz zwischen Umgestaltungswillen und Stagnation am Vorabend einer großen Veränderung: 84 Wehler, Bd. 2, S. 677. 85 Ebd., S. 684; vgl. auch ebd., S. 694. 86 Vgl. zur Theorie der »Relativen Deprivation« Gurr, S. 266-310; zu Gurr in historischer Absicht vgl. G. P. Meyer, S. 146 ff.; Wehler, Bd. 2, S. 695 ff.

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»Auch gegenwärtig finden wir uns in den Vorbereitungen zu einer großen Umgestaltung der Gesellschaft begriffen. Unsere Zustände sind fast alle scheinbar so zerrissen, daß, wer nicht tiefer zu sehen gewohnt ist, leicht an denselben verzweifeln mag. Daher das ängstliche Festhalten an dem, was jeder etwa noch für dauernd hält«.87 Insbesondere seit Mitte der vierziger Jahre wurden nun aufgrund der Reformblockade von oben und trotz der anhaltenden Revolutionsskepsis die Unhaltbarkeit einer bewegten Gegenwart, welcher der reformerische Übergang in eine neue Zeit nicht zu gelingen schien, und die Gefahr einer Revolution benannt, die auch als letzte Möglichkeit erschien, den Aufbruch in die Zukunft zu realisieren. Camphausen schreibt nach einer Berlinreise in einem Brief an Hermann von Beckerath, daß er zu der Überzeugung gekommen sei, »daß der gegenwärtige Zustand nicht mehr lange vorhalten kann« und »die Änderung bald eintrete, und die Furcht vor der Zukunft, falls man zu sehr zögert«.88 In der »Neuesten Weltkunde« wird »die Nothwendigkeit der Bewegungen im Staate als Ursache der Erhaltung und des Bestandes, der Veränderungen und des Fortschreitens« gesehen. Je größer nun im Staatsleben der Stillstand sei, desto heftiger und radikaler werde die darauf folgende Bewegung, bis hin zu einer Revolution.89 Noch deutlicher wird ein Neujahrsartikel in der Leipziger »Deutschen Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben« über »Das Jahr 1844 und das Jahr 1840«.90 Der kurzen enthusiastischen Erhebung des Jahres 1840 wird die »abwärts gekehrte Bewegung« der darauffolgenden Jahre gegenübergestellt. Nach den »Gesetzen des Gleichgewichts der Kräfte«, die auch für die politische Welt angenommen werden, müsse der Druck von oben einen Gegendruck von unten hervorrufen, »welcher dann die herabsinkende Bewegung mit einem Male wieder in eine steigende verwandelt«. Die Erwartungen von 1840 auf einen evolutionären Einstieg in die Zukunft seien erschüttert worden, »und kaum vermögen wir noch, uns des Gedankens zu erwehren, daß nur ein unvorhergesehenes, unberechenbares Ereignis den täglich beschleunigten Fortgang der Reaktion hemmen und dem Prinzipe eines vernünftigen Fortschritts wieder freie Bahnen brechen könne«.91 Die liberalen Hoffnungen kollidierten also mit der realen Erfahrung einer stagnierenden politischen Entwicklung, die sich nur noch durch eine Revolution dynamisieren ließ, um die Fortschrittserwartungen der Gegenwart einzulösen. Die Erwartungen an Reformen, die kontinuierlich Tradition und Zukunft verbinden sollten, schwanden, und die drohende Gefahr einer zutiefst abgelehnten, da nicht-gestaltbaren Revolution offerierte sich zunehmend als 87 Die Zeitinteressen, Nr. 1 vom 4.1.1843, S. 2. 88 In: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 1, S. 910. 89 Neueste Weltkunde, 1845, Bd. 3, S. 258, 272. 90 Vgl. auch im folgenden Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, 1845, Bd. 1,S. 1ff. 91 Ebd.,S.3.

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einzige Möglichkeit, dem Fortschritt wieder auf die Sprünge zu helfen, dann aber auch einen radikalen Bruch zu vollziehen. Heinrich von Gagern beklagt sich 1846 über »eine so gelangweilte Stimmung in Deutschland, daß bald hier oder da ein Ruck erfolgen muß«.92 Varnhagen warnt in seinem Tagebuch im Oktober 1847: »Alles zieht sich bei uns furchtbar in die Länge!« Zwar sei noch Gelegenheit, daß sich ein mächtiger Fürst als Gründer eines Kaiserreichs an die Spitze der Bewegung setze und eine konstitutionelle Monarchie begründe; aber die Zeit dafür sei schon fast nicht mehr gegeben: »Die Bewegung, getäuscht und befehdet von allen unsern Fürsten, oder von ihnen doch nicht unterstützt, wird sie überschreiten und zurücklassen, als nutzloses Gebild, als einzustampfenden Schutt für die Ausfüllung der Unebenheiten, die Bewegung wird nothgedrungen eine freistaatliche werden. Hütet euch, hütet euch!« 93 Revolutionen wurden also bei Reformverweigerung zur Quelle, um die politischen und sozialen Verhältnisse der allgemeinen Dynamik der Zeit anzupassen. In sie wurden aber weiterhin auch die Erwartungen hineingelegt, wieder Anschluß an die eigene Vergangenheit herzustellen. Deutlich formuliert dies 1842 der Artikel »Revolution« in dem einschlägigen »Staatslexikon« von Rotteck und Welcker. Die Nationen rückten auf einer permanenten Fortschrittsbahn langsam vorwärts, »indem sie den wachsenden Schutt der Vergangenheit mühsam vor sich herschieben«. Würden diese aufgestauten Hindernisse nicht beizeiten hinweggeräumt, entwickelten sich diese Nationen »nicht mehr im langsamen Schritte der allmählichen Reform, sondern nur noch im revolutionären Sprunge hinüber«. 94 Aber dieser revolutionäre Sprung läßt die Vergangenheit nicht allein hinter sich, denn: »Allein selbst nach ihrem bleibenden Resultate, wie dies schon der Name treffend sagt, lassen sich die Revolutionen als die Rückkehr der Geschichte eines Volkes auf sich selbst und darum als Rückwälzung bezeichnen. Wie der Kern, aus dem ein Baum herauswächst, so trägt schon die Urgeschichte der Nationen ihre Zukunft in sich; ohne daß freilich, hier wie dort, die Bestimmbarkeit von Außen damit aufgehoben würde.«95 Eine Revolution führt ein Volk auf beschleunigte Weise zu seiner ureigenen Bestimmung zurück, die sich fortschreitend entwickelt. Auch als schwer zu bändigender Sprung aus einer krisenhaften und traditionslosen Gegenwart in eine neue Zeit blieb eine Revolution also in die Kontinuität eines Fortschrittsprozesses eingespannt, den sie bei ausbleibenden Reformen zu akzelerieren wußte. 96

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In einem Brief an Reinhard Eigenbrodt vom 1.5.1846, in: Wentzcke u. Klötzer, S. 327. Varnhagen, Tageblätter, Bd. 4, S. 151 f. In: Günther, Bd. 3, S. 1072. Ebd., S. 1065 f. Vgl. auch Die Zeitinteressen, Nr. 51 vom 25.6.1842, S. 207.

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Aber ohne die immer wieder warnend prognostizierte Revolution und die ersehnten Reformen zeigte die krisenhafte Gegenwart sich für viele Liberale weitgehend auf sich selbst zentriert, lebte fortwährend auf eine liberal gedeutete Zukunft hin, ohne diese noch in einen Traditionszusammenhang einordnen zu können. Der Rekurs auf 1789 und 1830 blieb zumeist aus, da in den vierziger Jahren der revolutionäre Anknüpfungspunkt fehlte, um wieder in eine allgemeine Fortschrittsgeschichte einzutreten. Statt dessen wurde die Gegenwart nun selber zum Schauplatz von Gegensätzen, die Vergangenheit und Zukunft repräsentierten. So werden 1842 in den »Sächsischen Vaterlandsblättern« antagonistisch zwei Pole gegenübergestellt: »Zwei feindliche Elemente haben unser Vaterland geschieden und führen die zweispaltigen Theile gegeneinander zum Kampfe. Dort stehen die Männer, denen der Fortschritt und die Bewegung ein Greuel sind, hier die Kämpfer für politische und kirchliche Freiheit«. 97 Auf der einen Seite, so das Leipziger Blatt weiter, stünden »die Satzungen des Herkommens«, auf der anderen die Forderungen nach Öffentlichkeit und Verjüngung der bürgerlichen Verhältnisse. Diese Gegensätze zwischen dem Alten und Neuem, zwischen konstitutionellen und nicht-konstitutionellen Staaten träten immer schroffer hervor und seien noch nicht zugunsten einer Seite entschieden worden. 98 Ebenfalls wird 1840 in Cottas »Deutscher Vierteljahresschrift« die gärende Gegenwart als Übergang gesehen »zwischen einer altvergangenen [Zeit], dem Mittelalter, und einer neuen, werdenden; mit dem einen Arm greift jene, mit dem andern diese herein; der alte Stoff, noch nicht bewältigt, aber verarbeitet in modernem Geist, erzeugt das conservative, die Ahnung der Zukunft, richtig oder irrig aufgefaßt und ins Leben gesetzt, das revolutionäre Prinzip in Kirche und Staat.«99 Zum Kennzeichen der Zeit werde das »Ringen nach einem festen Organismus«, der im Kampf des Alten mit dem Neuen aber noch keine Gestalt angenommen habe. Sechs Jahre daraufsieht in demselben württembergischen Blatt der Verfasser eines Artikels »Zur Verständigung in den Bewegungen der Gegenwart« den allmählichen Fortschrittsgang »an einem Wendepunkt, an einem Zeitpunkt des Endes und der Wiedergeburt angelangt. Die Gesellschaft ruht nicht mehr auf den alten Grundlagen, und die Völker fühlen das Bedürfniß neuer Einrichtungen, im Einklang mit den Geschicken der Zukunft.« 100 In diesem Spannungsfeld zwischen überlebter, aber noch wirksamer Vergangenheit und schon durchscheinender Zukunft stünden die gegenwärtigen Zustände und Stimmungen der Gesellschaft in gewerblicher, politischer und religiöser 97 Vgl. auch im folgenden Sächsische Vaterlandsblätter vom 1.1.1842, S. 1 f. 98 Vgl. zum »verderblichen Dualismus« zwischen konstitutionalisiertem Süden und verspätetem Norden auch Die Grenzboten, 1844, Bd. 1, S. 5. 99 Deutsche Vierteljahresschrift, 1840, Bd. 4, S. 335 f. 100 Ebd., 1846, Bd. 4, S. 175.

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Hinsicht.101 Und noch ein Jahr vor der Märzrevolution wird in dem Ankündigungsblatt für die »Deutsche Zeitung« eine öffentliche Unzufriedenheit gegenüber dem unscheinbaren Fortschrittsgang konstatiert: »In diesem bedächtigen Gang der Thatsachen ist dann in der letzten Hälfte der Zeit, auf die wir zurückblicken, das Tempo etwas zu langsam gefunden worden; es ist ein kühner Schwung der Geister eingetreten«. Der »Drang nach Öffentlichkeit« habe eine »Gärung« im politischen und nationalen Leben erzeugt. 102 Der hierbei drohenden Übereilung, die der Zukunft zu schnell vorausgreifen wolle, stünden die Verzögerungen durch die Anhänger des Alten entgegen, wobei sich die Ziele beider Richtungen in der Gegenwart letztlich gegenseitig blockierten, da sie jeweils ihre Gegenkraft provozierten und den evolutionären Fortschrittsgang verzögerten: »Die Übereilung dort, die Zögerungen hier unterbrechen den ruhigen Gang der Dinge, gehen aber jetzt beide ihrer Ziele verlustig: indem man dort beschleunigen will, hat man bisher immer die Hemmungen der Reaktion hervorgerufen, indem man hier anhalten will, hat man die Hast der Agitation nur gefördert. Auf beiden Seiten will man mit kleinen Bruchtheilen der Nation, von denen der eine die Zeit nicht abwarten kann, der andere die Zeit zu schnellfüßig findet, die Bahn des Volkes in seiner Gesamtheit kreuzen.«103 Als Provisorium stiftete die Gegenwart keine Kontinuität mehr zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern in ihr begegneten sich kondensiert die realen Gegensätze dieser beiden Zeitebenen; sie war der Ort, an dem diese Widersprüche ausgetragen wurden. Aber diese Erfahrung einer polarisierten Jetzt-Zeit, die sich aus ihren Antagonismen heraus nicht evolutionär in eine Zukunft zu entwickeln vermochte, konnte gerade aufgrund dieser Defizienz auf eine künftige Einheit der Gegensätze hinweisen. So sieht ein Verfasser 1842 in dem kirchlichen Gegeneinander von zukunftsgerichteter Aktion und traditionsverhafteter Reaktion »die ganze Entwicklung, und erst wenn diese geschlossen ist, wird sich das Leben ungestört in neue Gestaltungen werfen können«. 104 Erst die Einheit der Gegensätze könne also in eine Zukunft leiten. Das Ringen des Alten mit dem Neuen sei gerade ein Hoffnungsschimmer für den erwarteten Verjüngungsprozeß des Landes: »Wie aber, wenn jener Verjüngungsprozeß eben durch Amalgamation mit dem Neuen, wenn diese Consolidation [des Neuen] gerade durch das Maßgeben des Alten vor sich ginge? Wie wenn aus der Vermählung beider, als beider Kind, die Zukunft geboren

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Vgl.ebd., S. 196. Programm des Ankündigungsblatts der Deutschen Zeitung vom 8.5.1847, S. 1. Ebd.; vgl. auch Deutsche Vierteljahresschrift, 1844, Bd. 4, S. 323. Die Zeitinteressen, Nr. 2 vom 5.1.1842, S. 7.

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würde? Dieser Gedanke ist es, der einer andern Hoffnung unserer Zeit, der Hoffnung auf Transaction zu Grund liegt.«105

Sechs Jahre darauf hält dasselbe Journal »Eine Umschau in der Gegenwart«, die sich in »geflügelter Eile« zu entwickeln scheine, wobei über die Richtung dieser Bewegung wegen verwirrender Gegensätze Unklarheit herrsche. Deshalb wird nach Sinn und Einheit in der chaotisch erscheinenden Gärung gesucht und eine vollständige Umschau über die Entwicklungen in Staat und Gesellschaft, Eisenbahn und Presse, Kunst, Wissenschaft und Religion abgehalten.106 Der Artikelschreiber kommt dabei zu dem Schluß, daß es im Streit der Gegenwart immer um eine vorwärtsweisende Einheit gehe: »Wir haben bei dieser Umschau in allen Ereignissen, Bewegungen und Strebungen der Gegenwart ein und dasselbe wieder gefunden: den Zug zur Einigung. Dieser erscheint als das Eigenthümliche und Große unserer Zeit.«107 Dieses Ziel sei noch nicht erreicht worden, aber gerade die ausgemachten Widersprüche würden auf das Desiderat eines künftigen Ausgleichs hindeuten. Dieser Einheit wurde in den vierziger Jahren auch schon begrifflich vorgearbeitet, wenn sich der gemäßigte Liberalismus aufgrund der radikalen Konkurrenz von links108 zunehmend als Mitte empfahl und sich dem gemäßigten Konservativismus annäherte. So ruft ein Schreiber 1843 in den »Konstitutionellen Jahrbüchern« aus: »konservativ, konservativ im edlern, höhern Sinn ist in dieser Stunde und in den deutschen Landen die Opposition, der Liberalismus fast allein.«109 In einem Artikel in der »Deutschen Vierteljahresschrift« über den »Pauperismus und dessen Bekämpfung durch eine bessere Regelung der Arbeitsverhältnisse« wird das »Prinzip der Reform« als allein konservativ gedeutet, da es sich dem stetigen Fortschrittsprozeß anpasse, ohne es zu einer Zäsur mit der Vergangenheit kommen zu lassen.110 Gerade das allmähliche Voranschreiten solle die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft retten. Deshalb erklärt es Biedermanns »Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben« zu ihrem Ziel, »in ächt konservativem Sinne den Geist des Volksfür den gesetzlichen Fortschritt« zu bilden und zu stärken.111 Und wenige Monate vor der Märzrevolution weist Friedrich Bülau in einem Artikel über »Conservative und Liberale« auf das komplementäre Verhältnis von liberalem Konservativismus und konservativem Liberalismus hin: 105 Deutsche Vierteljahresschrift, 1840, Bd. 4, S. 342. 106 Vgl. ebd., 1846, Bd. 2, S. 67 ff. 107 Ebd., S. 136. 108 Vgl. Vierhaus, Liberalismus, S. 770 ff 109 Konstitutionelle Jahrbücher, 1843, Bd. 1, S. 19. 110 Deutsche Vierteljahresschrift, 1844, Bd. 3, S. 323. 111 Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, 1845, Bd. 1, S. 4; vgl. das ebenfalls von Biedermann herausgegebene Blatt Der Herold. Eine Wochenschrift für Politik, Litteratur und öffentliche Gerichtsverfahren, 1846, S. 1.

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»Der Liberale liebt es, durch Reformen zu conserviren, der Conservative, durch Erhalten und Stützen des Bestehenden die Gesundheit und Tüchtigkeit des Staatswesens zu sichern. Beiden gelingt ihr Streben nicht immer, Beide sind in Gefahr, in Einseitigkeit und Uebertreibung zu verfallen. Nur aus einem ehrlichen Zusammenwirken, einem auf gegenseitige Achtung, auf zunehmende politische Einsicht, auf redliche Vaterlandsliebe, auf echte religiöse Humanität gestützten Kämpfen und Vergleichen kann der wahrhafte Vorschritt, die wahre Erhaltung aufgehen.«112 Begrifflich sollten die Gegensätze der Gegenwart - also das Gegeneinander von beharrenden Kräften, die ihren Impetus aus der Vergangenheit bezogen, und Bewegungskräften, die sich der voranschreitenden Zeit anschließen wollten, um so der stagnierenden Gegenwart zu entfliehen - eingeebnet und durch das Moment der Reform evolutionär in die Zukunft gelenkt werden. Diese Amalgamierung des liberalen Fortschrittsgedankens mit dem M o ment des konservativen Bewahrens, mit der die antagonistische Präsenz von Vergangenheit und Zukunft entschärft werden sollte, fand sich wieder in den Forderungen nach einer konstitutionellen Monarchie. Der schon erwähnte Kölnische Aufruf von 1840 für die »Rheinische Allgemeine Zeitung« sieht in dem fürchterlichen Wechsel der Staatsformen die Tendenz, daß sich die bürgerliche Gesellschaft »nach jedem republikanischen Sturme« nur noch näher an die zertrümmerten Throne gedrängt habe, und plädiert deshalb für die konstitutionelle Monarchie als natürliche Staatsform. 113 Eine politische Miszelle in den »Konstitutionellen Jahrbüchern« geht von der Monarchie als erreichter Basis für jede »Beförderung vernunftrechtlicher Zustände, durch einsichtsvolles Fortschreiten mit der Geschichte« aus. 114 Was von ihr fortan wegführe, »ist Rückschritt, ist unhistorisch, ist antinational«. Jeder Fortschritt beruhejetzt auf dieser Grundlage, die sich fortzuentwickeln habe auf dem Weg »der gesetzlichen, festen und gemäßigten Reform in monarchisch-konstitutionellem Sinne«. Erst wenn sich solcherart Verfassungen in allen Einzelstaaten durchgesetzt hätten, so das Stuttgarter Blatt, fördere dies gleichzeitig den nationalstaatlichen Einigungsprozeß. In den »Sächsischen Vaterlandsblättern« wird in einem Aufsatz über »Liberalismus und Socialismus« hervorgehoben, »daß die gegenwärtige Zeit eine Übergangsepoche ist, in welcher Verfassungen, Religionsbegriffe, Einrichtungen, Gesetze und Sitten einer Umgestaltung unterliegen«. Alle notwendigen Veränderungen müßten auf eine »Reform der Staatsverfassung« zurückgeführt werden, die sich auf eine konstitutionelle Monarchie mit Pressefreiheit und Volkskammer zuzubewegen habe; nur eine solche Staatsform könne den Anforderungen der Gegenwart gerecht werden. 115 Die konstitutio112 113 114 115

Neue Jahrbücher der Geschichte und Politik, 1847, Bd. 2, S. 456. In: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 1, S. 175. Vgl. auch im folgenden Konstitutionelle Jahrbücher, 1843, Bd. 2, S. 360 f. Sächsische Vaterlandsblätter vom 28.5.1843, S. 379 f.

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nellen Staaten in Deutschland hätten aus den Gegensätzen herausgeführt und sich der Bewegung der Zeit angeschlossen: »Die kleinen deutschen Staaten sind das bewegende, treibende, befruchtende Element in der Entwicklung der vaterländischen Geschichte.«116 Die dortige Ausbildung von Verfassungen werde schließlich zu einem »Bunde unabhängiger Staaten« fuhren. Die Prioritäten sind aber deutlich gesetzt: Eine territoriale Zersplitterung wird einer Einheit unter despotischer Fremdherrschaft vorgezogen, weil diese Zersplitterung »uns den Fortschritt giebt, die Freiheit verbürgt, eine Zukunft mit ausgedehnteren politischen Rechten in Aussicht stellt«. Sachsens konstitutionell gesichertes öffentliches Leben gehe diesem Trend voran und demonstriere, daß »der Stillstand nicht möglich und nur verderblich ist, darum drängen wir zum Fortschritt, darum dringen wir auf Entscheidung«. Konstitutionalisierung der monarchischen Einzelstaaten im Hinblick auf eine - langfristig gesehen - föderal orientierte Nationaleinheit, in der die konstitutionalisierten Einzelstaaten zum Gravitationszentrum werden - dieser für den Beginn der dreißiger Jahre noch vorherrschende Weg, um im Rekurs auf die revolutionären Umbrüche seit 1789 wieder Anschluß an das Fortschrittskontinuum zu bekommen, geriet in den vierziger Jahren allmählich ins Abseits, ohne gänzlich verlorenzugehen.117 Die Hoffnungen auf eine Westbindung eines konstitutionalisierten Deutschland schwanden zunehmend - dies auch ein Anzeichen für den sich abzeichnenden Generationenwechsel im führenden Kreis der Liberalen seit Rottecks Tod. Alle Versuche, die Einzelstaaten und ihre Verfassungen als Hebel für einen deutschen Nationalstaat zu nutzen, scheiterten. Statt dessen zeichnete sich eine Ethnisierung der Außenpolitik gegen Rußland und Frankreich ab, wurde eine ›deutsche Identität‹ wieder mehr von der Absetzung gegen andere bestimmt, um Unterlegenheits- und Bedrohungsängste mit Hegemonialkonzepten zu kompensieren, wie auch »Die Grenzboten« bezeugen: »Die Völker, die Stämme sind immer mehr und mehr auf ihre Eigenheit aus, schließen sich immer schroffer gegen einander ab, suchen sich in ihrer angestammten Sprache und Nationalität, in der überkommenen Form ihrer Religiosität fester und fester wider einander zu verschanzen, die alten Antipathien wachen auf, der Weltbürgcrsinn wird verpönt, der Süden entbrennt gegen den Norden, der Osten gegen des Westen, gegen das Ausländerthum werden auf allerlei Weise Schlagbäume errichtet.« 118 116 Vgl. auch im folgenden ebd. vom 1.1.1842, S. 1 f. 117 Vgl. zum schnellen Wandel der Nationalismusformen am Beispiel Badens auch im folgenden M. Meyer, S. 178 ff. Der kontrastreiche Vergleich zwischen dem emanzipatorischen Nationalismus der dreißiger und dem machtorientierten der vierziger Jahre wird von Meyer aber überzeichnet (vgl. ebd., S. 201 ff.). 118 Die Grenzboten, 1846, Bd. 1, S. 89; vgl auch überpointiert Meyer zum sogenannten neuen Nationalismus: »Wirtschaftliche und äußere politische Stärke, Reichtum und vor allem Macht [als außenpolitische Kategorie], nicht mehr die Freiheit, waren also die zentralen Begriffe dieses neuen Nationalismus.« (M. Meyer, S. 271).

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Tendenzen der Ab- und Ausschließung werden in den Jahren nach der Rheinkrise verstärkt angesprochen, auch nachdem sich das Verhältnis zu Frankreich wieder entspannt hatte. Die Beständigkeit dieses Nationalismus zeige sich darin, so die »Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben« aus Leipzig 1843, »daß er durch alle jene Einzeläußerungen weder erschöpft noch befriedigt oder gar zur Ruhe gebracht ward, daß er nicht stillstand, sondern immer weiter vorwärtsschritt. ... im Fortgang wächst ihm die Kraft«.119 Diese dynamische Kraft gehe letztlich über die konstitutionellen Einzelstaaten hinweg: »Rückwärts können wir nicht; wir können und dürfen nicht jener nationalen Richtung uns widersetzen, um die Scheinsouveränität unsrer Einzelstaaten und Verfassungen wieder in den Vordergrund zu stellen; wir müssen vielmehr diese Partikularismen mehr und mehr in der allgemeinen Einheit des nationalen Bedürfnisses aufzulösen suchen, - aber wir müssen um so energischer dahin streben, daß dieses Bedürfniß eine wahrhaft nationale Verfassung erhalte.«120 Der Konstitutionalismus müsse verkümmern, wenn er sich nicht von den partikularstaatlichen Grenzen befreie. Diese nationale Dimension konnte durch den ökonomischen Kontext der frühen Industrialisierung erschlossen werden, der die neue liberale Generation seit 1840 prägte und sie von den vorindustriellen Anschauungen einer klassenlosen Bürgergesellschaft allmählich entfremdete. 121 Zollverein, Eisenbahnbau und industrielle Maschinisierung ließen Reichtum und nationale Machtstellung zunehmend zu bewegenden Antriebskräften in der Geschichte werden. Der idealistische Glaube an den verändernden Einfluß des Wortes wurde unter der Macht des sozioökonomischen Wandels zunehmend von einer materialistischen Haltung abgelöst, die sich auf die Nation, weniger auf das Individuum bezog.122 Davon zeugt nachdrücklich die »Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben«, die in dem ersten Jahrgang 1842 ihre Position unverhüllt darlegt. In dem Artikel über »Die Fortschritte des nationalen Prinzips« wird voller »Freude und Stolz« über das »wiedererwachte Nationalbewußtsein der Deutschen, das wiedergewonnene Band der inneren Einheit für die bisher nur äußerlich verbundenen deutschen Stämme« berichtet.123 Nun gelte es, »die Fehler unserer Nationalerziehung wieder gut zu machen« und dem deutschen Volk nicht nur in Wissenschaft und Kultur, sondern auch in den neuesten Zeittendenzen den ersten Platz unter den Nationen zu erringen. Der Verfasser wirft 119 Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, 1843, Bd. 1, S. 57. 120 Ebd., S. 61. 121 Vgl. M. Meyer, S. 224 ff. 122 Dieser Verbindung von Industrialisierung, Reichtum, Macht und Nation wurde schon in den dreißiger Jahren von Friedrich List vorgearbeitet. 123 Vgl. auch im folgenden Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, 1842, Bd. 1, S. 1 ff.

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einen Rückblick auf die deutsche Nationalgeschichte. Vor der Französischen Revolution habe Deutschland, verlassen von Österreich und Preußen, nur noch eine nominelle Einheit besessen und sich im »Krebsgang« bewegt; nach 1789 sei wiederum der Einheitsgedanke erwacht, der aber mit dem Napoleonischen Zeitalter in die Vereinzelung zurückgefallen sei. Die Befreiungskriege nähmen nur noch die Rolle eines Strohfeuers ein, seien »mehr Gipfelpunkt einer gewaltigen Bewegung, als der Anfangspunkt einer fortschreitenden und sich steigernden Entwicklung unsres Nationallebens« gewesen und könnten nur noch Negativfolie für das gegenwärtige Handeln sein. Nach 1815 hätten die Reformverweigerung Preußens und die Konstitutionalisierung der süddeutschen Staaten erneut zu einer nationalen Spaltung geführt, die ihren Höhepunkt 1830 erreicht habe. Seit 1834 habe aber der Zollverein Deutschland im ökonomischen Sektor näher zusammengeführt und deutlich gemacht, daß der Liberalismus seinen Gesichtskreis erweitern müsse und nun über Wirtschaftsverflechtungen zur Verständigung mit Preußen gelangen könne. Es sei damit ein praktisches deutsches Nationalleben entstanden, das den Zollverein als Ausgangspunkt für die nationale Einigung betrachte: »Eine reiche Zukunft liegt vor uns aufgeschlossen; sorgen wir dafür, daß sie uns nicht entgehe! der erste Schritt auf der neuen Bahn ist gethan, die Richtung bezeichnet«. Die Zeit des kosmopolitischen, auf einem abstrakten Freiheitsbegriff beruhenden Liberalismus sei vorüber; statt dessen müsse die konkrete und praktische Freiheit auf ökonomischer Grundlage anvisiert werden und so zur nationalen Einheit führen. Ökonomische Verkehrsformen auf nationaler Ebene würden also zu einem deutschen Nationalstaat und à la longue auch zur Ausbildung »freier Staatsformen«, sprich: Verfassungen führen.124 Der Gedanke einer auf praktisch-ökonomische Weise zu realisierenden nationalen Einheit wird deutlich vor die liberale Freiheitsidee gesetzt, so ein Jahr später in dem »Programm der Redaction«: »Die Bewegung der politischen Ideen, losgerissen von ihrem natürlichen Boden, den Interessen des praktischen, bürgerlichen Lebens,... verliert sich leicht in die luftigen Räume der Ideologie oder bricht gewaltsam durch alle bestehenden Verhältnisse hin durch, um ihr theoretisches Ideal mit einem Zauberschlage ins Leben zu rufen.«125 Statt dessen müsse die politische Bewegung wieder in die Praxis geholt werden, was hinauslaufen solle auf den »Ausbau des politischen Organümus Deutschlands im Innern, Befestigung und Erweiterung seiner äußeren Macht durch Kräftigung des praktischen Sinnes und des Unternehmergeistes im Volke«.126 Die Zukunft bestehe in der »Ausbildung des industriellen Lebens der Nation und seiner natürlichen Organe, des Assoziationswesens, der Erwerbs- und Verkehrsfreiheit in einem ausgedehnten Länder124 Vgl. hierzu auch ebd., 1843, Bd. 1, S. 59; ebd., Bd. 2, S. 1. 125 Ebd., 1843, Bd. 1, S. 6. 126 Ebd., S. 7.

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gebiete, der erleichterten Communikation der verschiedenen Stämme untereinander«. 127 Der Rückblick der »Neuen Kieler Blätter«, betitelt »Beim Jahreswechsel«, setzt die nationale Begeisterung seit 1840 ebenfalls deutlich von den Bewegungen um das Jahr 1830 ab: »Das Streben, welches das Jahr 1830 erweckte, war formell und äußerlich. Die Hoffnungen und Wünsche drängten sich sofort auf die letzten Ziele, Constitution und Reichseinheit.« 128 Diese konstitutionellen Hoffnungen der Liberalen seien aber zu vermessen gewesen. Deshalb müsse das formale Verfassungsdenken durch Zollverein und deutsche Kriegsmarine von innen materiell gefüllt werden; erst dann würden die deutschen Konstitutionen Leben und Gewicht bekommen. Ähnliche Äußerungen finden sich auch unter großbürgerlichen Liberalen des Rheinlandes, die ihre politischen Ambitionen aus der ökonomischen Stärke heraus immer deutlicher formulierten. So schreibt Beckerath 1846 an Camphausen: »In Deutschland scheint nun... das materielle Interesse zum Medium der Entwicklung, zum Bindeglied für die so beklagenswert getrennten Stämme, zu dem Boden bestimmt zu sein, aus welchem ein stolzes Nationalgefuhl, unentbehrlich für politische Größe, erblühen soll. Der Volksgeist drängte in der Form materieller Bestrebungen nach Einheit der Nation, nach einer selbständigen Konstituierung Deutschlands anderen Ländern gegenüber, um demnächst auf dem so errungenen Boden sein schöpferisches Wirken auch nach Innen zu richten.«129 Erst solle sich die Nation auf ökonomischer Grundlage nach außen stärken, um dann diese »Kraftentwicklung« auf ihr Inneres zurückzuwerfen. Als mit den verschärften sozialen Folgen der Agrar- und Gewerbekrisen seit 1845 und der Radikalisierung des kollektiven Protestes die Konfliktsituation zu eskalieren droht, die »ersten Schwingungen sozialer Erschütterungen in Deutschland fühlbar« werden und man die Situation oftmals mit einem kurz vor dem Ausbruch befindlichen Vulkan vergleicht, wird darauf hingewiesen, daß die »wünschenswerte Nationaleinheit... vielmehr eines stärkeren Bindemittels als die eines augenblicklichen Rausches bedarf«, nämlich »stark und unmittelbar wirkende Maßregeln« hinsichtlich politischer Institutionen und Zollgesetzgebung. 130 In den Jahren vor der Märzrevolution riefen der Gesamtzusammenhang der sozioökonomischen Modernisierung, die Wahrnehmung des raschen Wandels in vielen Lebensbereichen, die Polarisierungen aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Krisen und die politischen Spannungen Ängste wach, von der Ent127 Ebd., 1842, Bd. 1, S. 368. 128 Neue Kieler Blätter, 1844, S. 1. 129 In: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2, S. 46. 130 Vgl. Briefe des Fabrikanten Η. A. Lingenbrink an Mevissen vom 13.4. und 24.5.1847, in: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2, S. 265; vgl. zur konfliktreichen Situation auch Wehkr, S. 652 ff.

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wicklung überrollt zu werden: »In dieser Lage schien ein aggressiver machtorientierter Nationalismus geeignet, die Spannungen nach außen abzuleiten und die Harmonie der tief zerstrittenen Gesellschaft wiederherzustellen«, ohne daß aber die nach innen gerichtete oppositionelle Forderung nach konstitutionellen Reformen aufgegeben wurde. 131 Dieser Nationalismus beruhte auf dem neuen ökonomischen Umfeld der frühen Industrialisierung als positivem Antriebsmotor (ζ. B. in der Form des Zollvereins), aber auch auf den negativen sozialen Folgen dieser Industrialisierung, die es zu kompensieren galt. Ein solcher Na­ tionalstaatsgedanke speiste sich also aus der Situation der Gegenwart und hob sich von den geschichtlich-ideologischen Begründungen ab, setzte so einen neuen Anfang in der Zeit. Die nationalen Ansprüche aus den Befreiungskriegen wurden als zu weitgehend und emotionsbelastet abgelehnt, vielmehr redeten Liberale einem aus seiner Aktualität geborenen Nationalismus auf materieller Grundlage das Wort, der erst an diese Forderung den Gedanken an Konstitutionen knüpfte. So betonen die »Neuen Kieler Blätter« die folgenreiche Bedeutung der materiellen Frage gegenüber den Freiheitskriegen: »Wer mag es läugnen, daß der internationale Verkehr der Eisenbahnen und Dampfschiffe mit seinem Zusammenfuhren der entlegensten Stammesgenossen, daß der Zollverband mit seinen bereits eingetretenen und ferner in Aussicht stehenden Wirkungen, einer gemeinsamen deutschen Industrie, gemeinsamem Handelsrecht, gemeinsamer SchifFahrtsacte, und einer gemeinsamen deutschen Flotte, unendlich viel folgenreicher für das Erwachen eines nationalen Einheitsbewußtseyns im deutschen Volke gewirkt haben und täglich wirken, als alle jene Gefühlsregungen für deutsche Einheit, welche von den Freiheitskriegen her so vielfach die Jugend in Alarm gesetzt haben«.132 Diese materiellen Interessen zielten auf einen Nationalstaat, der sich aus dem frühindustriellen Kontext der Gegenwart legitimierte und sich von der nationalen Vergangenheit faktisch absetzte. Der »Funktionswandel« 133 des Nationalismus im weiteren Verlauf der vierziger Jahre ofFerierte eine neue Möglichkeit, die sozialen und politischen Gegensätze durch diesen Einheitsgedanken abzubauen und die Lähmung der gegenwärtigen Zeit, welcher der Weg in die Zukunft nicht gelingen sollte, zu überwinden. Neben seiner ökonomischen Begründung insistierte der liberale Nationalismus der vierziger Jahre weiterhin auf Forderungen nach konstitutionellen Reformen und blieb somit Opposition. 134 Die Hoffnungen auf eine Magnetfunktion des konstitutionellen Südens erwiesen sich zunehmend als Illusion und verlagerten sich vielmehr auf Preußen als nicht allein ökonomischen Vorreiter fur einen deutschen Einheitsstaat, wie der Erwartungsdruck zeigt, der auf der 131 132 133 134

M. Meyer, S. 273. Neue Kieler Blätter, 1843, S. 5f. M. Meyer, S. 242, 273 f. Vgl. ebd., S. 274.

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preußischen Verfassungsfrage ruhte. Preußen müsse sich diesem Zug der Zeit anpassen, so die Stuttgarter »Jahrbücher der Gegenwart« 1845 in einem Artikel über »Preußen und die Verfassungsfrage«, denn »wie die Dinge gegenwärtig in diesem Lande stehen, bei der Raschheit, Einhelligkeit und Entschiedenheit, mit welcher sich dort die öffentliche Meinung in Beziehung auf die vorliegende Angelegenheit seit 1840 entwickelt hat, ist es als unvermeidliche Nothwendigkeit anzusehen, daß Preußen über kurz oder lang die Bahn der constitutionellen Regierungsform wird betreten müssen.«135 So solle sich Preußen durch »eine freisinnige, volksthümliche Reichsverfassung bald die Krone aufsetzen« und damit eine stetige und gesetzmäßige nationale Entwicklung begründen. 136 Dabei erinnerte die liberale Öffentlichkeit immer wieder an das Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III. aus den Befreiungskriegen, dem sich der neue König lavierend zu entziehen suchte. 137 Die Vorstellung eines Weges zur nationalen Einheit unter borussischen Vorzeichen, der sich in den dreißiger Jahren schon vereinzelt fand, intensivierte sich in der liberalen Publizistik. Das preußische Volk strebe »mit Riesenschritten vorwärts und die neue Regierung ist viel zu gerecht und einsichtsvoll, um die Entwicklung dieser neuen Kraft, die ihr zuletzt am meisten zugute kommen muß', gewaltsam zu hemmen«, heißt es 1844 in den »Grenzboten«. 138 Auch die »Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben« weiß, daß Preußen zum Führer eines konstitutionellen Deutschlands werden müsse. 139 Schon das Gerücht über eine preußische Verfassung setzte große Hoffnungen frei, wie 1845 ein Artikel in den »Grenzboten« bezeugt: »Der Posaunenruf einer neuen Epoche Deutschlands, die Gemüther aus ihrem Schlafe, die todten Geister aus ihren Gräbern, die kalten Herzen aus ihrer Eiseserstarrung wekkend, schien aus diesen Worten [über eine preußische Verfassung] wiederzuklingen. Von da an, wo das Verkündigte ins Leben tritt, ist ein Sporn in Deutschlands Flanken gesetzt und an einen faulen Stillstand nicht mehr zu denken.«140 Doch je mehr sich die nationalen Erwartungen auf eine preußische Verfassung richteten und Preußens führende Stellung im Zollverein dem auch Vorschub leistete, um so deutlicher wurden diese Hoffnungen durch die restriktive Verfassungspolitik Friedrich Wilhelms IV enttäuscht, wie sich Jahr für Jahr an der 135 Jahrbücher der Gegenwart, 1845, Bd. 1, S. 254; vgl. auch Konstitutionelle Jahrbücher, 1844, Bd. 1,S,72. 136 Ebd., S. 268. 137 Wehler, Bd. 2, S. 677; zum Antrag Camphausens auf dem Koblenzer Provinziallandtag, der an das Verfassungsversprechen von 1815 erinnern sollte, vgl. Lutz, S. 221; vgl. außerdem Konstitutionelle Jahrbücher, 1843, Bd. 3, S. 95 f.; ebd., 1846, Bd. 1, S. 80 ff. 138 Die Grenzboten, 1844, Bd. 1, S. 8. 139 Vgl. Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, 1843, Bd. 1, S. 63. 140 Die Grenzboten, 1845, Bd. 1, S. 519.

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liberalen Publizistik ablesen läßt. Die für eine führende Rolle Preußens im Nationsbildungsprozeß eintretende »Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben« verhehlt nicht ihre Enttäuschungen über die Ergebnisse des preußischen Provinziallandtages 1844.141 Auch Paul Pfizer beginnt in den »Konstitutionellen Jahrbüchern« zu zweifeln, ob das »konstitutionelle Prinzip« in Preußen einen Halt finden könne, »durch den das Repräsentativsystem in Deutschland eine Wahrheit wird«.142 Die Hinwendung zu Frankreich wird zwar als nationaler Selbstmord gesehen, doch aufgrund der egoistischen Blockadepolitik in allen konstitutionellen und nationalen Belangen werde sich Deutschland wohl bald wieder von Preußen abwenden: »Und das Rad der Zeit wird nicht um Preußens willen stille stehen, die gerechte Ungeduld der Völker wird nicht warten wollen, bis sich die Preußische Regierung zu einer deutschen Politik entschließt, weil sie nicht anders kann.« Varnhagen sieht in der erfolgreichen Tätigkeit vieler fortschrittlicher Kräfte wie ζ. Β. der württembergischen Kammer, die gerade die Finanzierung der Zensurkosten verweigert habe, letztlich »nur Flickwerk, in's Große und Ganze wird nicht gewirkt, überall ist Hemmung, Zweifel, Feigheit, Zaudern, und selbst die Macht wird zur Ohnmacht, wo es auf Deutschland überhaupt ankommt«. Die polarisierten Kräfte der Gegenwart lähmten sich nur selber, wovon die permanent verschobene preußische Verfassung zeuge.143 Ein Jahr darauf beklagt er sich, daß im Gegensatz zum Volksleben die preußische Staatsmaschine selbst immer unbrauchbarer werde: »das Regieren will nicht mehr gehn, stößt immerfort auf selbstbereitete Hindernisse.«144 Aufgrund der prekären Finanzlage und zur Garantierung von Anleihen für den Eisenbahnbau wurde im April 1847 der »Erste Vereinigte Landtag« in Berlin einberufen, an den sich noch einmal konstitutionelle und nationale Erwartungen richteten. Die »Neuen Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst« begrüßen eine neue Ära für das öffentliche Leben, die »eine glänzende Zukunft verheißt«. Die Macht der Regierung und der Einfluß der öffentlichen Meinung seien gesichert. »Die Früchte eines so glücklichen Zustandes wird aber, das ist offenbar, Teutschland ernten, da sich die einzelnen Bestandtheile ... immer mehr als ein Ganzes, Einiges fühlen lernen werden.« Kritisch vermerkt wird aber auch, daß die soziale Problematik, die »stündlich an Wichtigkeit gewinnt«, völlig ausgespart bleibe.145 »Die Grenzboten« behandeln den Verlauf des Vereinigten Landtages in zahlreichen Artikeln, da in ihn alle ZukunftshofFnungen gelegt werden: »Es ist ein Tag in der preußischen Geschichte, wie er nicht wieder kommt; wenn wenigstens Jeder, der hier eine Stimme hat, sich durchdrin141 142 143 144 145

Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben, 1844, Bd. 1, S. 2 f. Vgl. auch im folgenden Konstitutionelle Jahrbücher, 1846, Bd. 1, S. 106 f., 121 f. Tagebucheintrag vom 3.5.1845, in: Varnhagen, Tageblätter, Bd. 3, S. 69. Ebd., S. 309. Neue Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst, 1847, Bd. 2, S. 280 ff

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gen wollte mit dem Gefühl der Zukunft, die in diesen kurzen Zeitraum gebannt ist!«146 Die Zeit beschleunige ihren Puls und trete in diesem beispiellosen Moment »aus dem Alltagsgleise«.147 Die Verfassungsfrage ließ sich in den öffentlichen Debatten nicht mehr zum Schweigen bringen, selbst wenn dem Vereinigten Landtag der Sprung zu einem konstitutionellen Parlament aufgrund der obstinaten Haltung des Königs mißlang. Auch im ›dritten Deutschland‹ und auf Bundesebene hatten sich die national- und verfassungspolitischen Diskussionen belebt, ohne aber einen Durchbruch zu erzielen.148 Die hochgespannten konstitutionellen Erwartungen angesichts der drängenden und kumulierenden sozialen, politischen und nationalen Fragen wurden wieder nicht eingelöst.149 Varnhagen beklagt das Sich-dahin-Schleppen der Arbeit des Vereinigten Landtages: Der rechte Augenblick sei verpaßt worden, da man die aristokratische Verfassung nicht antaste.150 Die Zeit scheine sich damit »dem äußeren Anschein nach« wieder in ruhigen Bahnen bewegen zu können, so »Die Grenzboten« in einem ihrer letzten Artikel des Jahrgangs 1847, »doch vergeht fast kein Tag, an welchem nicht hier oder dort eine plötzliche Flamme die Gluth verräth, die unter der trügerischen Asche schlummert«.151 Aus einer krisenhaften und polarisierten Übergangszeit heraus, der es an entschiedenen Reformen und einer Revolution zur Kontinuitätsstiftung mangelte, ließ sich also keine neue Epoche begründen, da sich die Widersprüche nicht aufheben ließen. Die Zeiterfahrung befand sich fortwährend auf dem Sprung in die Zukunft, die Erwartungen harrten ihrer Einlösung, doch die realhistorische Entwicklung blieb dahinter zurück und stagnierte weitgehend. Auch Preußen kam den konstitutionellen und nationalen Hoffnungen nicht entgegen. In einer bewegten Übergangszeit, in der eine Revolution immer nur latent präsent war, traten Erwartungen und Erfahrungen ohne vermittelnde Kontinuitäten immer spannungsvoller auseinander. Konnte letztlich nur eine perhorreszierte Revolution sie wieder zusammenfuhren und so den Sprung in die Zukunft gewährleisten?

146 Die Grenzboten, 1847, Bd. 1, S. 546. 147 Ebd., 1847, Bd. 2, S. 77. 148 Vgl. Lutz, S. 237 f., 241 ff. 149 Vgl. zur Situation Deutschlands unmittelbar vor der Revolution den Überblick von Lutz, S. 229 ff 150 Varnhagen, Tageblätter, Bd. 4, S. 82, 91, 102, 109 et passim. 151 Die Grenzboten, 1847, Bd. 4, S. 431.

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3. Demokratische Revolutionserwartungen: Restauration eines evolutionären Fortschrittsprozesses Das bürgerliche Oppositionslager begann sich in den dreißiger Jahren zu spalten. Diese Entwicklung beschleunigte sich in dem Jahrzehnt vor der Revolution bis zu dem Offenburger Programm der süddeutschen Demokraten, so daß man spätestens für die vierziger Jahre programmatisch und terminologisch von einer eigenständigen demokratischen Strömung sprechen kann, auch wenn diese in den nationalen und konstitutionellen Forderungen manchmal noch mit liberalen Vorstellungen übereinstimmte.152 Wurde für die dreißiger Jahre der Schwerpunkt der Quellenanalyse vornehmlich auf den süddeutschen populistischen Radikalismus gelegt, so wird sich die Untersuchung jetzt weitgehend auf den zweiten Idealtypus der demokratischen Strömungen konzentrieren, der überwiegend im Norden beheimatet war. Dieser stärker intellektuell und linkshegelianisch geprägte Radikalismus um Arnold Ruge, Theodor Echtermeyer, Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Karl Nauwerck, Karl Heinzen oder Julius Fröbel vermochte zwar keine Massen aufzubieten, wurde aber »zu einer ideenpolitischen und publizistischen Macht« im Vormärz, dessen hoher Theorieanspruch in die Praxis wirken wollte.153 Darüber hinaus werden aber auch noch einige publizistisch aktive Vertreter der süddeutschen und sächsischen populistischen Demokraten wie Johann Georg August Wirth, Gustav von Struve und Robert Blum zu Wort kommen. Eine Verbindung des populistischen mit dem intellektuellen Radikalismus schien sich in den vierziger Jahren durch die vielfältigen Beziehungen zu der »Anti-Establishmentopposition« der evangelischen Lichtfreunde und der Deutschkatholiken anzukündigen; damit bot sich zumindest eine Möglichkeit an, auf breitere Kreise zu wirken.154 Daß sich die gegenwärtige Zeit in den krisenreichen vierziger Jahren beschleunige und sich auch zu beschleunigen habe, um auf diesem Fortschrittsweg entschlossen in die Zukunft aufzubrechen, dieser Gedanke findet sich in zahl152 Vgl zur Eigenständigkeit der demokratischen Richtung Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 17; zu Überschneidungen zwischen Radikalismus und Liberalismus vgl. z. B. Lutz, S. 232. 153 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 389; vgl. zu der Intellektuellengruppe der Junghegelianer den interaktionistischen und diskursanalytischen Zugangvon Wolfgang Eßbach. Eßbach arbeitet die vier Grunddefinitionen, die die Junghegelianer an sich ausprobierten, heraus. Sie verstanden sich nicht nur als philosophische Schule, journalistische Boheme und atheistische Sekte, sondern auch als politische Partei, die die Theorie ins Leben tragen wollte und sich in ihrem Verfassungsverständnis zunehmend gegen den Liberalismus radikalisierte, als Partei aber wegen ihrer Politikunfähigkeit schon früh scheiterte (vgl. Eßbach, S. 157 ff.). 154 Zum aufklärerischen Emanzipationspotential der Freireligiösen vgl. Graf, S. 165: »Die politische Relevanz der freien Religionsgesellschaften gründete also darin, daß in ihnen der Anspruch aufpolitische Mitbeteiligung des Bürgers am Staatsleben und soziale Emanzipation der Unter- und Mittelschichten eine Darstellung fand, die im religiös fundierten Normen- und Wertesystem der Bevölkerung selbst verankert war.«

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reichen demokratischen Zeugnissen.155 Rüge schreibt 1842 in den »Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst« über »Conservativismus und Radicalismus«: »Blickt man auf das ungeheure Heer der Vorurtheile und Ungerechtigkeiten, welche im Menschengeschlechte gehaust haben und hausen, so begreift man, daß das letztre sich niemals der Ruhe und dem Schlummer ergeben darf, ohne die drohendsten Gefahren herbeizurufen. Noch niemals hat es eine Zeit gegeben, welche auf ihren Lorbeeren ruhen konnte. Es gab immer eine Menge Dinge zu thun, namentlich das Wegräumen des Zeitenschuttes ... Keine Zeit hat aber ein so lebhaftes Bewußtsein, wie die unsrige, davon gehabt, daß jeder Tag seine Arbeit [hat]. Deshalb darf man den Conservativismus für den gefährlichsten Feind der Völker halten.« 156

Der Blick in die Vergangenheit gibt das Postulat für die Zukunft, daß jede Zeit ihre Aufgabe habe, die sie permanent in Bewegung halte. Der »Zeitenschutt«, nämlich das anachronistische Traditionsgut, müsse immer wieder überwunden werden, denn: »Der Stillstand des Lebendigen, dessen, was schreiten muß, ist Rückschritt.«157 Die erneute Politisierung in den Jahren vor der Revolution brachte Bewegung in das Zeitempfinden, was Ruge 1845 in einem Brief an den Redakteur der Zeitschrift »Die Opposition« sehr begrüßt. Jeder nehme wahr, daß etwas vorgehe, zumal in den religiösen Bewegungen: »Die Regierungen finden ihr Material unter den Händen verändert, die Menschen sind frei geworden und fuhren eine ganz neue Sprache.«158 Die »Rheinische Zeitung fur Politik, Handel und Gewerbe«, gegründet und herausgegeben von bürgerlichen Unternehmern wie Camphausen und Gustav Mevissen, jedoch unter der Redaktion von Radikalen wie Marx und Ruge bald Sprachrohr demokratischer Kritik, stellt in dem Beiblatt ihrer ersten Ausgabe fest, daß die »lange Erschöpfung, welche nach den vorhergehenden großartigen Bewegungen der Revolution die politische Welt überschlich«, aufgehört habe.159 In der dem Deutschkatholizismus nahestehenden Zeitschrift »Die Epigonen« wird im Einleitungsartikel des ersten Bandes der schnelle und schroffe Wechsel »ungeheurer Ereignisse« betont, »als hätte das Volk, welches dabei im Vordergrund der Bühne steht und die 155 Diese Zukunfts- und Bewegungsfixiertheit in einer Gegenwart, deren Bedeutung in ihrem Übergangscharakter liegt, entspringt »zum Teil sicherlich der Überzeugung, die epochale universale Krise, mit der man sich konfrontiert sieht, allein durch den entschlossenen Aufbruch in die Zukunft und nicht etwa durch Flucht in die Vergangenheit zu überwinden« (Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 145); vgl. zu Ruge und dessen Jahrbüchern Mayer, S. 17-31; Rosenberg, S. 97-114; Köster, S. 36 ff.; Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 36 ff. 156 Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Nr. 197 vom 19.8.1842, Sp. 787. 157 Ebd. 158 Ruge, Briefe, S. 322. Vgl. zum Entwicklungsdrang der religiösen Reformbewegungen, dem sich auch die katholische Kirche nicht entziehen konnte, Vorwärts! Volks-Taschenbuch auf das Jahr 1845, Bd. 3, S. 296. 159 Rheinische Zeitung fur Politik, Handel und Gewerbe, Beiblatt zur Nr. 1 vom 1.1.1842.

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Hauptrolle spielt, plötzlich geistige Siebenmeilenstiefel angezogen«. 160 Und angesichts der sozialen Not und Erschütterungen sieht das frühsozialistische »Westphälische Dampfboot« ein rastloses Drängen und Treiben im sozialen, wirtschaftlichen und öffentlichen Leben. 161 Nur zum Anfang eines neuen Jahres habe sich kurzfristig einmal Ruhe eingefunden »in der geschäftigen, sturmbewegten Welt. Die Menschenmenge, die sich eben noch brausend durch die Gassen wälzte und rastlos ihren Interessen nachjagte, hat sich verlaufen.« 162 Auf allen Ebenen wurde also eine Zeitbeschleunigung wahrgenommen, welche die Gegenwart bestimmte und gleichzeitig über diese hinausstrebte. Am »sausenden Webstuhl der Zeiten«, so in Robert Blums »Volks-Taschenbuch« von 1847, zeige sich im Heute schon immer auch das Morgen. 163 Auf der anderen Seite beklagen die demokratischen Zeitgenossen auch immer wieder die Rückständigkeit des politischen Lebens, das auf die zunehmenden Krisensymptome nicht reagiere. So befurchtet Ruge angesichts der Rheinkrise 1840, daß Deutschland zwischen den Polen des russischen Absolutismus und der französischen Freiheit aufgerieben werde, denn es »entwickelt sich bei uns alles zu flau und zu langsam«.164 Fünfjahre darauf weist der Radikalrepublikaner Karl Heinzen im von Hermann Püttmann herausgegebenen »Deutschen Bürgerbuch« auf die umfassende und systematische Reaktion auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens hin: »Die alte Zeit mit ihren Ansichten und Ansprüchen will noch immer nicht weichen«, und man habe nicht begriffen, daß die Interessen der Völker auch die der Regierungen sein sollten. 165 Ausführlich legt Karl Nauwerck in Heinzens Zeitschrift »Die Opposition« »Einige Anmerkungen zur Gegenwart« dar, deren Tenor in der Sorge um den Anschluß Deutschlands an allgemeine Entwicklungstendenzen besteht.166 Der deutsche Geist sei »größtentheils pensioniert« und stehe zur Weltgeschichte nur in einer sehr entfernten Beziehung. In bezug auf öffentliche Angelegenheiten seien die Deutschen oberflächlich, leichtsinnig und schläfrig: »Wir lassen uns in alter Weise wieder von andern Völkern überholen; indem wir stillstehen, schreiten wir natürlich zurück Während alte Fragen noch nicht gelöst, alte Verhältnisse noch nicht erledigt sind, tauchen schon neue Fragen und Bedürfnisse auf, und die öffentlichen Zustände werden immer verwickelter und unheilbarer. Noch lange nicht sind wir mit den politischen Aufgaben fertig, und schon dringen die sozialen Aufgaben auf uns ein, deren Lösung bei unsern erst halbgeordneten Zuständen doppelt 160 Die Epigonen, 1846, Bd. 1, S. 7. 161 Das Westphälische Dampfboot, 1846, S. 1 f. 162 Ebd., 1847, S. 1. 163 Vorwärts! Volks-Taschenbuch auf das Jahr 1847, Bd. 5, S. 261 f.; vgl. auch Das Westphälische Dampfboot, 1845, S. 150; dazu Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 146 f. 164 BriefanStahrvom 1.11.1840, in: Ruge, Tagebuchblätter, Bd. 1,S. 210 f. 165 Deutsches Bürgerbuch für 1845, S. 4. 166 Vgl. auch im folgenden Die Opposition, 1846, S. 252 ff.

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schwierig ist. Bilden wir uns nicht ein, daß es damit noch Zeit habe. Die Zeit wartet nicht auf die Trägen.«167 Angesichts der vielen ungelösten politischen und sozialen Fragen war damit ein Entwicklungsstau eingetreten - dies gerade eine Folge der allgemein wahrgenommenen Zeitbeschleunigung, der die alten Regierungskräften nicht nachkamen. Neujahr 1842 schreiben die Konstanzer »Seeblätter«: »So rollet Jahr für Jahr vom großen Zeitenhaufen und das Vergangne thürmt sich wachsend auf« 168 Im »Volks-Taschenbuch« wird dem Staat bescheinigt, nicht »eine der großen Fragen, in denen die Zukunft enthalten ist«, erledigt zu haben. Das Jahr 1843 müsse »entschieden unter das Zeichen des Krebses gestellt werden«. Die Gegenwart wird damit wieder - wie schon bei liberalen Zeitgenossen - zum Schauplatz unvereinbarer Widersprüche: »Vorwärts und Censur! Zwei ewig unvereinbare Dinge, zwei mathematische Größen, die sich einander aufheben, zwei getrennte feindliche Pole! Das Eine die Losung einer in allen bewegten, einem unbekannten Ziele mächtig entgegen strebenden Welt, die Andere das Prinzip der Hemmung, des Stillstandes, des Rückschrittes.« 169 Die zahlreichen und beschleunigt auftretenden Krisensymptome werden als Vorzeichen einer neuen Zeit gedeutet, an der sich aber auch gleichzeitig die Widersprüche der Gegenwart zwischen progressiver Zeitbeschleunigung und regressiv-reaktionärem Zeitenstau entzünden: »Man fühlte allgemein, es sei eine neue Zeit im Anzüge, deren Eintritt in die Verhältnisse der Gegenwart von jener Seite gefürchtet, die mit allen zu Gebote stehenden Mitteln des Einflusses der Machtfiille und des durch den Besitz geheiligten Machtansehens zu verzögern, zu hemmen, ja ganz zu vereiteln getrachtet werden sollte, während alle Wünsche und Bestrebungen der andern Seite sich dem Herbeiführen einer neuen Gestaltung der Dinge zukehrten.«170 Das beschleunigte Herbeiführen der Zukunft wird um so dringlicher herbeigesehnt, je deutlicher sich Widerstände dagegen ausmachen lassen. So kann die eigene Zeit fortwährend zu einem Wendepunkt stilisiert werden, wenn Wirth bemerkt: »Wir stehen an der Grenze einer neuen Zeit«, die sich scheide »in der Entwicklung der Dinge von aller Vergangenheit« und als »neuer selbständiger Geschichts-Abschnitt« auftrete.171 In den Forderungen nach Volkstum, worunter Wirth die Anerkennung menschlicher Humanität versteht, 172 nach Freiheit und insbesondere Nationalwürde wird ein Vorgriff auf die nahe Zukunft ge167 Ebd., S. 258 f. 168 Seeblätter, Nr. 1 vom 2.1.1842. 169 Vorwärts! Volks-Taschenbuch auf das Jahr 1844, Bd. 3, S. 3. 170 Ebd., Bd. 4, S. I f. 171 Wirth, Richtung, S. 185; vgl. auch S. 189. 172 Diese bedeutet für Wirth »die Anerkennung der menschlichen Würde, den freien Gebrauch aller Rechte des Geistes, die Durchführung einer billigen, nach den Gesetzen der Möglichkeit geregelten Rechtsgleichheit« unter dem Schutz des Staates (ebd., S. 182).

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nommen, die aber auch immer wieder gefährdet bleibe »im bewegten Meere der Zeit«. Der Wendepunkt wird so permanent von neuem in einer Gegenwart aktualisiert, die sich vom Alten nicht lösen kann: »Ein neuer, ganz neuer Geschichtsabschnitt ist eingetreten, welcher die Durchführung edler Nationalzustände zu seiner Aufschrift, seinem Charakter wählen wird. Die alte Zeit war schweigsam, düster, gebeugt: die neue ist geistig bewegt, glühend beredt, heiter, klar, hochaufstrebend. Wollet nicht irre werden an den dunklen Streifen, die an dem neuen Geiste noch flüchtig vorüberschweben: der wallende Lichtglanz hat sich bereits angekündigt«.

Wirth kann es nicht oft genug betonen: »es ist eine neue, ganz neue Zeit eingetreten«, die aber immer noch in gedrückten, ärmlichen, leblosen und unwürdigen öffentlichen Umständen angesiedelt sei: »das öffentliche Leben, die edlere, höhere Freiheit fehlen und gehemmt ist dadurch der Thatendrang, das kühne Aufstreben zu großartigen und reinen Entwürfen. Wir müssen anders, wir müssen besser werden, und wir werden es durch den Kultus der Freiheit und der Nationalwürde.« Denn diese Nationalwürde »ist die noch einzig mögliche geistige Triebfeder der gegenwärtigen und der kommenden Zeiten«, die sich nach »den Gesetzen des Lebens« aber »nur durch Widerspruch und Kampf« gewinnen ließen: »Ernst ist die Zeit und bedeutsam die Zukunft, welche ringend und kämpfend ihrem Schooße sich entwindet«.173 Aus den Widersprüchen der Gegenwart mußte - wie schon bei den liberalen Strömungen zu verzeichnen war - nicht unbedingt eine sich gegenseitig blockierende Stagnation der antagonistischen Kräfte von Vergangenheit und Zukunft resultieren. Gerade diese Gegensätze, die Präsenz und der Ballast der reaktionären Tradition in einer sich beschleunigenden Zeit, waren es, die ex negativo und abstrakt auf die Utopie des Noch-Nicht hinwiesen.174 Wie die liberalen standen nun auch diese demokratischen Zeiterfahrungen einem revolutionären Aufbruch in die Zukunft skeptisch gegenüber, insbesondere der historisch-national denkende Wirth in seiner Einschätzung des »Fanatismus« der Französischen Revolution.175 Statt dessen wurde dem reformerischen Weg der Vorzug gegeben, da er der allgemeinen und beschleunigten Fortschrittsbewegung am adäquatesten erschien. So verteidigt Ruge 1838 die »Hallischen Jahrbücher« gegen die »Dencunciationen« des konservativen Historikers Heinrich Leo, welcher der Zeitschrift die Vorbereitung einer Revolution in Preußen vorwarf. Dabei knüpft der Junghegelianer wieder an den Topos 173 Ebd., S. 188, 187, 191, 190, 269, 274. 174 Vgl. dazu fast denselben Wortlaut in Wirths und Karl Hagens Zeitschrift »Braga. Vaterländische Blätter für Kunst und Wissenschaft«, wo auf die gärende Gegenwart, ihre »heftige Bewegung«, ihr »unruhiges Drängen« gewiesen wird, deren Grundcharakter Widerspruch und Kampf zwischen dem Alten und Neuen sei, woraus sich eine neue Epoche entwickeln werde (1838, Bd. 1,S. 18 f., 293 f.). 175 Vgl. Wirth, Richtung, S. 74 ff.; dazu Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 197 f.

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der Selbstläufigkeit revolutionärer Umbrüche an, der ja schon die Revolutionserfahrungen kurz nach 1789 prägte: »Niemand projectirt, niemand macht, niemand hindert eine wirkliche Revolution, sie wird nicht gemacht, sie macht sich, d. h., wenn sie eintritt, so ist diese Gewaltsamkeit der Entwicklung historisch nothwendig. Wird nun aber die Entwicklung nicht aufgehalten und gehemmt, im Gegentheile hat der Staat das reformirende Princip, wie Preußen, so giebt es keine Nothwendigkeit, ja nicht einmal eine Möglichkeit der Revolution. Und diese Ansicht soll revolutionär sein?«176 Hingen Ruge und andere preußische Demokraten damals in den »Hallischen Jahrbüchern« auch noch der konservativen Fiktion an, der preußische Staat könne die Reformtradition nach 1806 weiterfuhren, und wurden diese Hoffnungen seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV zunehmend enttäuscht,177 hielten sie doch weiterhin an dem Gedanken fest, daß willkürlich begonnene Revolutionen besser zu vermeiden seien, da sie, so der radikal-demokratische Publizist Karl Heinzen 1845 im »Deutschen Bürgerbuch«, »für die Freiheit ebenso verderblich sind, als für die Feinde derselben«. 178 Eine Revolution wird hier zu einem »gewaltsamefn] Ausbruch einer Krankheit des Staatskörpers«, um die »verderblichen Elemente und Säfte« auszuscheiden. Solange es aber wie in Deutschland noch Möglichkeiten gebe, diesen Ausbruch zu verhindern, sei eine gesetzliche Entwicklung vorzuziehen, da nur diese die errungene Freiheit auch bewahren könne und nicht fortwährend den Widerstand der Reaktion herausfordere. 179 Selbst der spätere Revolutionär Gustav von Struve schreibt 1846 in seinen fiktiven »Politischen Briefen«, daß Gott Deutschland vor einer englischen oder französischen Revolution bewahren möge: »Welche Schmach wäre es für Deutschland im 19ten Jahrhundert noch den Gräueln des 17ten und 18ten zu verfallen! Nein, das wird nicht geschehen, und dafür bürgen mir gerade diejenigen Ideen, welche den Impuls zu unserer Reform geben«.180 Und noch 1847 hält der einstige Mitarbeiter der »Hallischen Jahrbücher« und der »Rheinischen Zeitung«, Robert Prutz, die konstitutionelle Monarchie zwar nicht für ein Endziel, aber für »eine Stufe staatlicher Entwicklung - und zwar eine unumgängliche, und zwar die nächste, die wir zu beschreiten haben. Hüten wir uns doch, in unreifer Eile, den Gang der Geschichte gegen ihren Willen zu beschleunigen, und, statt die vorgezeichnete Bahn getreulich auszuschreiten, einzelne Stufen der Entwicklung willkürlich überspringen zu wollen!«181 176 Hallische Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Nr. 180 vom 28.7.1838, Sp. 1436 f. 177 Vgl. Mayen Köster, S. 36 f.; Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 186ff.;Eßbach, S. 183 ff. 178 Vgl. auch im folgenden Deutsches Bürgerbuch für 1845, S. 6 ff 179 Zu Heinzens Propagierung und Popularisierungeines positiven Revolutionsbegriffs in der Zeitschrift Deutscher Tribun 1847 vgl. Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 199 f. 180 Struve, S. 180 f.; vgl. auch Seeblätter, Nr 63 vom 29.5.1842. 181 Prutz, S. 126.

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Jede Zeit habe ihre Aufgabe, die erfüllt werden müsse, und solle deshalb der Zukunft nicht allzu sehr vorgreifen. Julius Fröbel macht sich in seinem 1847 erschienenen zweibändigen Hauptwerk »System der sozialen Politik« Gedanken über das »sicherste Mittel gegen die Gefahren der Revolution«. Dieses bestehe darin, den Parteien durch »theoretische Freiheit und allgemeine Theilnahme an der Gesetzgebung« eine »legale, in den Staatsorganismus eingereihte Existenz und Bewegung zu geben, und so die Revolution durch ihre Legalität und Permanenz unschädlich zu machen«.182 Trotz einer Gegenwart, deren Zeiterfahrung von dem Widerspruch einer sich krisenhaft beschleunigenden Zeit, der die politische Entwicklung nicht nachzukommen vermochte, gekennzeichnet war, blieb somit eine Revolution nur das letzte Mittel gegen geschichtliche Stagnation. Allein Reformen verhießen letztlich einen dauerhaften Fortschritt. Griffen Demokraten doch auf das Instrument der Revolution zurück, dann wurde ihr das Moment des gewaltsamen Bruchs genommen und sie durch ihre permanente Legalisierung entschärft, indem sie die politische Entwicklung immer wieder der vorwärtsstrebenden Zeitbewegung anpasse: »denn Revolution ist der Fortschritt der Rechtsgleichheit im Rechtsbewußtsein und der Rechtsgültigkeit«.183 Das Gegeneinander von krisenhafter Zeitbeschleunigung und Reformblokkade ließ dennoch eine Revolution als progressiven Entwicklungsmotor zunehmend in den demokratischen Erwartungshorizont rücken, auch wenn Reformen der Vorzug gegeben wurde. Aber diese waren entsprechend dem politischen und sozialen Programm der Demokraten so durchgreifend, daß die Gegenwart letztlich immer nur hinter ihnen herhinken konnte. Im Laufe der vierziger Jahre entwickelte sich eine demokratische Sozialkritik, welche die liberalen Bürger- und Menschenrechte weit hinter sich ließ und die politische Revolution verstärkt mit der Lösung der sozialen Krise verband.184 Ihre Sensibilität für die im Vormärz virulenten sozialen Fragen ließ die Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und deren versagter Erfüllung, also die schon oben angesprochene relative Deprivationserfahrung, nur noch krasser hervortreten als bei den Liberalen. Radikale Reformen, die permanent angemahnt wurden, um die Gegenwart endlich im Sinne einer verheißungsvollen Zukunft zu überbieten, erschienen nur noch auf schnelle und gründliche Weise realisierbar, was eine Revolution miteinschloß, auch wenn man ihre gewaltsamen Konsequenzen ablehnte.185 182 Fröbel, Bd. 2, S. 292. 183 Ebd., Bd. 1, S. 111. 184 Vgl. zur demokratischen Sozialkritik Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 106 ff.; zur Radikalisierung von Ruges Revolutionsverständnis nach seinem Pariser Aufenthalt vgl. Ruge, Patriotismus; dazu ebenfalls Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 208 ff. 185 Vgl. zu den Vorteilen einer schnellen Revolution zur Erfüllung radikaler Reformen die Aussagen bei Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 206 f.

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Deutlicher als die liberalen konnten damit die demokratischen Zeiterfahrungen an diejenigen zu Beginn der dreißiger Jahre anknüpfen und in das Revolutionsverständnis eingehen. Obwohl in der Julirevolution und ihren Auswirkungen auf Deutschland die Möglichkeit eines revolutionären Sprungs in eine Reformkontinuität gesehen wurde, ließ sich der demokratische Erwartungshorizont nicht einlösen und blieb eine fortschrittsverheißende Revolution weiterhin als Desiderat für einen Übergang virulent. Da eine Revolution sowohl gewaltsame Diskontinuität als auch evolutionäre Weiterentwicklung bedeutete, blieb der Rückgriff auf sie für Demokraten unproblematischer als für Liberale, für die sie allenfalls nur widerwillig als Eintritt in eine allmähliche Reformierung akzeptiert werden konnte, um sie dann sogleich mittels Konstitutionen zu suspendieren, wie es in einigen Ländern (ζ. Β. Sachsen) geschehen war. Die weitergehenden Forderungen vieler Demokraten an eine Verfassung und einen Nationalstaat prallten deshalb auch schon Anfang der dreißiger Jahre auf eine widerständige Wirklichkeit. Diese Erfahrungen konnten weitgehend in die zugespitzte Legitimationskrise der vierziger Jahre übernommen werden und verschärften sich dort angesichts des sozioökonomischen Problemstaus. Somit gestaltete sich das demokratische Verhältnis zur Revolution affirmativer als das der Liberalen, da sie nach der Julirevolution weiterhin Bezugspunkt für einschneidende politische und immer mehr auch soziale Veränderungserwartungen geblieben war. Einmal ausgebrochen, sollte sie konsequent im Sinne der demokratischen Forderungen genutzt werden, um den Einstieg in die Zukunft zu gewährleisten. Vor allem legitimierte sich nun dieser revolutionäre Weg wiederum aus den unerfüllt gebliebenen Hoffnungen der Vergangenheit. So wurde immer wieder an die Fürstenversprechen von 1815 erinnert, die noch ihrer Einlösung harrten und als Desiderat in der Gegenwart präsent blieben. Der Geist der Freiheitskriege »bereitet still und geräuschlos, aber unaufhaltsam die bessere Zukunft [vor], die sein ist«, so 1843 im »Volks-Taschenbuch«.186 Im gleichen Sinne sieht ein Zeitgenosse ein Jahr darauf in »Wigand's Vierteljahresschrift« das Freiheitsverlangen seit den Befreiungskriegen weiterwirken - allen Repressionsmaßnahmen zum Trotz: »Das mag lange gehen, aber es geht nicht ewig; die gehemmte Bewegung der Freiheitskriege muß von allen wissentlichen und unwissentlichen Abirrungen am Ende doch wieder auf ihre ursprüngliche Bahn zurückkehren und das Schwert wiederherstellen, was die Federn verdorben haben.«187 Für seine Zeit erkennt nun der Verfasser die Möglichkeit, in einem Krieg gegen Rußland und nicht mehr gegen Frankreich einen »Umschwung der Welt« einzuleiten und so die Versprechen von 1815 wieder zu 186 Vorwärts! Volks-Taschenbuch auf das Jahr 1843, Bd. 2, S. V Auch Wirth erinnert fortlaufend an die nicht eingelösten Fürstenversprechen (vgl. Wirth, Richtung, S. 234, 302), 187 Wigand's Vierteljahresschrift, 1844, Bd. 1, S. 169

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aktualisieren und einzulösen.188 Auch ohne eine Revolution wie im Jahre 1830 wurde aus der Krisensituation der vierziger Jahre heraus durch den Rekurs auf die Umbruchsituation um 1815 die Gegenwart weiterhin unter Veränderungsdruck gesetzt, der bis zum Mittel eines weltumspannenden Revolutionskriegs gegen das despotische Rußland reichte, um auf diese Weise die radikalen Freiheitsforderungen durchzusetzen.189 Der zweite Bezugspunkt, aus dem heraus sich die revolutionäre Option der Gegenwart legitimieren konnte, war die Französische Revolution, auch wenn ihre Radikalisierung von antifranzösischen und deutsch-national argumentierenden Demokraten wie Wirth schroff verurteilt wurde.190 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Einfuhrungsartikel der Zeitschrift »Die Epigonen«, deren Herausgeber, Otto Wigand, den radikalen Junghegelianern nahestand.191 Die Gegenwart wird in ihrem doppelten und offensichtlich widersprüchlichen Charakter beschrieben: einerseits als eine progressive und ereignisgesättigte Bewegung, die sich aber andererseits bald darauf »mit derselben reißenden Schnelligkeit rückläufig« entwickle und »sich in kurzer Frist auf das Gründlichste selbst widerlegt zu haben« scheine. Doch dies sei eine Täuschung, da die scheinbar regressive Bewegung nur »an das Vorhandene und Geltende anzuknüpfen« gedenke, um die Brüche nicht zu schroff und unerklärlich werden zu lassen und so Kontinuität herzustellen. Was hingegen als schroffe Zäsur »an der Schwelle unseres Zeitalters« stehe, sei die Französische Revolution: »Von allen vorwärts gerichteten Bestrebungen der Gegenwart ist auch nicht eine, die nicht in ihr, zuweilen nur mit sparsamen, aber immer mit deutlichen und energischen Zügen angedeutet wäre. Natürlich; denn sie war j a der ausnahmslose gewaltsame Bruch mit der ganzen Vergangenheit, und wovon sich Frankreich losriß, davon suchen wir uns jetzt langsam Schritt für Schritt aber gründlich abzulösen«.

Da aber die französischen Aufklärer als Väter der Revolution nur vage Vorstellungen von einem modernen Staatswesen gehabt und sie ihre Ideen den breiten Volksschichten nicht näher gebracht hätten, habe auch diese radikale Revolution sich nicht vollständig von den dogmatischen Traditionen zu befreien vermocht und sich vorerst zurücknehmen müssen. Die deutsche Aufgabe bestehe jetzt darin, durch die religiös-politische Erneuerungsbewegung des Deutschkatholizismus die Tradition der Französischen Revolution weiterzutreiben und den Bruch mit dem alten Geist der katholischen Kirche zu vollenden, denn: 188 Vgl. ebd., S. 197. 189 Vgl. zu den expansionistischen Tendenzen unter Radikalen Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 185 f. 190 Vgl. Wirth, Richtung, S. 74 ff. 191 Vgl. auch im folgenden Die Epigonen, 1846, Bd. 1, S. 7 ff.; zum positiven Verhältnis des Deutschkatholizismus zur Revolution als gottgewollte Emanzipationsbewegung, Offenbarung und notwendige Fortsetzung der Reformation vgl. Graf, S. 142 ff

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»Wie der Erdball, seine Jahresbahn beschreibend, zugleich aber im Gefolge der Sonne durch den Weltraum eilend und vielleicht mit dem unbekannten Centralpunkt dieser Bewegung wieder in einer dritten begriffen, niemals wieder an denselben Ort gelangt, so verläuft auch die Geschichte in einer nie in sich zurückkehrenden Linie, was man auch reden mag von ihren Kreisen, und daraus, daß unser Geschlecht bisher ohne ein solches Glaubensgerüst nicht bestehen konnte, folgt nicht, daß es auch für alle Zukunft so sein muß.« Die lineare bzw. spiralförmige Deutung der alten Kreislaufmetapher wird zur Waffe der »Epigonen der Revolution« gegen »das alternde Recht der Ueberlieferung«; man habe damit »die Erbschaft jenes großen Kerngedanken angetreten, den Frankreich, nur einzelne Früchte desselben würdigend, als Uebertreibung verschmähte«. Wigand sieht hiermit die Gegenwart in die Pflicht der unerfüllten Hoffnungen der Französischen Revolution genommen, um so aus ihren Fehlern zu lernen und ihren nicht ganz erfolgreichen Bruch mit der Vergangenheit nun in Deutschland zu vollenden. Durch eine radikal-diskontinuierliche Entwicklung ließ sich erst Kontinuität zu den Erwartungen von 1789 herstellen. In der Revolution wurden darüber hinaus die Tendenzen der Zeit faßbar gemacht: progressive und regressive Beschleunigung. Auch letztere konnte im Sinne einer linearen oder zumindest spiralförmigen Fortschrittsbewegung gedeutet werden, da jeder scheinbare Rückschritt die erreichte neue Zeitstufe zu sichern hatte und somit auf die Dauer einen vollständigen Bruch garantierte. Damit wurde eine radikale Umgestaltung in den vierziger Jahren einerseits als zukunftsgerichtete Loslösung von der Vergangenheit angesehen; sie rechtfertige sich aber andererseits aus dem Rekurs auf die Französische Revolution, die es versäumt hatte, der Revolution gründlich vorzuarbeiten sowie durch einen Bezug auf Bestehendes den Bruch erträglich zu gestalten und insofern zu sichern. Eine radikale Umwälzung, die den Menschen im Zeichen einer demokratisch gedeuteten Zukunft wieder in den allgemeinen Fortschrittsprozeß hineinwerfen sollte, fand unter Demokraten in den vierziger Jahren zunehmend eine grundsätzliche historische Legitimierung, die noch weit über die Befreiungskriege oder die Französische Revolution hinausging und die schon Liberale in den dreißiger Jahren zur Begründung einer konstitutionellen Kontinuität bemüht hatten. So ist es gerade der historisch argumentierende Wirth, der fortwährend auf die Prägekraft der Vergangenheit für das Heute und den weiteren Fortschrittsgang insistiert: »Die Gegenwart ruht auf der Vergangenheit, alle inneren Zustände der Völker bilden sich organisch aus frühreren Verhältnissen heraus, und niemals giebt es eine Zeit, welche, von der Vergangenheit und den aus ihr hereinwirkenden Ursachen getrennt und losgerissen, fur sich allein dastünde.« 192 Insbesondere in seinem Beitrag »Die politisch-reformatorische 192 Braga. Vaterländische Blätter für Kunst und Wissenschaft, 1838, Bd. 1, S. 401; vgl. auch Wirth, Richtung, S. 48.

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Richtung der Deutschen im XVI. und XDC Jahrhundert« von 1841 werden die Forderungen nach Nationaleinheit und - eng damit verbunden - Verfassungen aus der ›deutschen‹ Geschichte heraus begründet.193 Wirth betont permanent die freiheitlichen und nationalen Aspekte in der Entwicklung des öffentlichen Rechts vom frühen Mittelalter bis zur Reichsverfassung, aber auch ihre zunehmenden Fehlentwicklungen und Mißbräuche, bis die politisch-reformatorischen Bewegungen im 16. Jahrhundert insbesondere unter Hutten eine Erneuerung der Verfassung und eine Wiederherstellung der nationalen Einheit eingefordert hätten. Doch der religiöse Glaubenseifer und der Egoismus der Fürsten hätten jeden nationalen Sinn zuschanden gemacht, die Deutschen mit ihrer Verfassung Freiheit und Einheit zugleich verloren. Nach dem Dreißigjährigen Krieg sei Deutschland nur noch ein Spielball dieser Fürsten und ausländischer Mächte gewesen.194 Das 19. Jahrhundert könne nun aber wieder an die unerfüllt gebliebenen Reformforderungen des 16. anknüpfen, was die reformative Richtung seit 1831 in Deutschland auch getan habe.195 Heute, wo die Bedingungen für weitgehende Reformen unter dem patriotisch gesinnten Friedrich Wilhelm IV. sogar noch günstiger seien, sei es möglich, die Erwartungen des 16. Jahrhunderts vollständig einzulösen: »Nun ist der Zeitpunkt gekommen, Alles, Alles wieder gut zu machen. Dieselbe Richtung ist wieder da, wie im 16. Jahrhundert, die Analogie ist vollkommen«.196 Hier offenbare sich abermals die »Regel der Weltordnung«, die besage, daß es vergeblich sei, lang gereifte »Umwälzungen, welche nach dem Gange der Weltordnung eintreten müssen, durch künstliche Mittel ... verhindern zu wollen ... Alle Versuche, den Gang des Rades zum Vortheil des Guten zu beschleunigen, sind eben so vergeblich, als die Bemühungen, den Umschwung zum Vortheil des Bösen aufzuhalten: denn es ist überhaupt unmöglich, den Gang des Ganzen zu ändern.« 197

Die Zeitbeschleunigung der Gegenwart und die unerläßlichen Reformen erklären sich als Moment eines historisch notwendigen Fortschrittsprozesses. Denn man könne, so auch die »Seeblätter« 1842, »in der Geschichte Europas noch um zwei Jahrhunderte zurückgehen, um auf gleich allgemeine Freiheitsbestrebungen zu stoßen«.198 193 Vgl. zur wechselseitigen Verflochtenheit von Einheits- und Freiheitsanstrengungen bei Wirth Wende, Radikalismus imVormärz, S. 181. 194 Vgl. zuWirths romantisch-historischer Geschichtsbetrachtung das Entwicklungsschema bei Wirth, Richtung, Kap. V. 195 Ebd., S. 24. 196 Ebd., S. 42. So wird auch in »Wigand's Vierteljahresschrift« 1845 eine »neue Phase der Reformation« angekündigt, die sich heute aber weniger dem »religiösen Bewußtsein«, sondern vielmehr dem »praktischen Leben« zu widmen habe, um die »freie, ungehemmte Bewegung des mächtig wirkenden Gedankens« mittels Preßfreiheit zu garantieren (Wigand's Vierteljahresschrift, 1845, Bd. 1, S. 4 f.) 197 Ebd., S. 293 f. 198 Seeblätter, N r 40 vom 5,4.1842.

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Wenn dieser Prozeß von der Reaktion gehemmt und jede Reform verweigert werde, dann sei, so Heinzen im »Deutschen Bürgerbuch«, auch eine gewaltsame und unkontrollierbare Revolution gerechtfertigt, um den Zeitknoten zu lösen. Sei sie einmal unumgänglich geworden, lasse sich nicht mehr gegen sie räsonnieren: »Die Freunde der Freiheit dürfen und müssen die Revolutionen benutzen, aber nicht herbeiführen. Sie müssen sich so verhalten, daß entstehende Revolutionen ihnen zugetragen und aufgedrängt, nicht von ihnen gesucht und eingeleitet werden ... Eine Revolution ist ein Chaos von Gesetzlosigkeiten, Verbrechen und Leidenschaften, die, durch Unterdrückung hervorgerufen, im Namen der Freiheit sich geltend machen und zugleich durch den Zweck der Freiheit ihre Rechtfertigung erhalten.« 199

Die Reaktion ist es erst, die den Ausbruch einer chaotischen Revolution provoziert und zu verantworten habe, derer sich dann die demokratischen Zeitgenossen zu bedienen hätten.200 Besser sei es aber, eine solche durch Reformen überflüssig zu machen. Diese hätten sich jedoch möglichst schnell dem Drang der Zeit anzupassen, denn nur ein radikales »System der Consequenz« ermögliche noch Fortschritt, so 1842 in den »Deutschen Jahrbüchern«. Deshalb wird hier der demokratische und selbst konservative Radikalismus in seiner Geschwindigkeit vom gemächlichen Reformismus geschieden: »Der Radicalismus unterscheidet sich vom Reformismus auch im Tempo, wie das Allegro vom Andante. ... Denn die Lösung des Radicalismus ist: gründlich und rasch!«201 Kämen die Regierungen dieser radikalen und notwendigen Lösung nicht nach, dann sei die Revolution unvermeidlich: »Dies ist unsere Lage; und diesen verhängnisvollen Zustand, daß man den Ausbruch innerer und äußerer Revolutionen mit verschlossenen Augen abwartet und aller Mittel beraubt ist, um durch freiwillige Reformen den nahenden Sturm zu beschwören, verdanken wir dem reaktionären System der jetzigen preußischen Regierung.«202 Die staatliche Verzögerung der notwendigen, raschen Reformen mache nach demokratischem Verständnis eine selbstläufige Revolution immer unumgänglicher. Hier zeigt sich eine Zeiterfahrung, die schon Liberale Anfang der dreißiger Jahre machten, um ex post den revolutionären Sprung in eine reformerische Entwicklung zu rechtfertigen. Demokraten verwendeten hingegen nach 1830 diese Denkfigur, um auf die unerfüllten Aufgaben einer Revolution zu verweisen. 199 Deutsches Bürgerbuch für 1845, S. 7. 200 Vgl. auch Vorwärts! Volks-Taschenbuch auf das Jahr 1846, Bd. 4, S. III, wo die Reaktion als eine solche beschrieben wird, »die sich den auf gesetzlichen Bahnen wandelnden Volkswünschen und Volksbedürfnissen aus allen Kräften entgegenstemmt und dadurch erst die Gefahren und drohenden Bedrängnisse von Innen und Außen herbeiführen muß, auf deren Abwendung sie vorgeblich gerichtet sein soll«. 201 Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Nr. 197 vom 19.8.1842, Sp. 788. 202 Brief an den Redakteur der »Opposition«, 1845, in: Rüge, Briefe, S. 322 f.

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Die Blockade- bzw. Restaurationspolitik wird zum Störfaktor im geschichtlichen Entwicklungsgang und kann im negativen Sinne als revolutionär bezeichnet werden, wie Struve bemerkt: »Ein Revolutionär ist in meinen Augen derjenige, welcher verhindern will, daß eine Nation ihren Entwicklungsgang gehe ... Revolutionär ist derjenige, welcher seine Person für wichtiger erachtet, als die Nation, der er angehört... Revolutionär ist derjenige, welcher der natürlichen Evolution der Kräfte einer Nation entgegentritt.«203 Diejenigen, die den Zustand der Gegenwart um jeden Preis erhalten wollten, so in den »Deutschen Jahrbüchern«, trügen letztlich zur Auflösung alles Bestehenden bei. Die Radikalen hingegen seien die eigentlichen Konservativen, da sie nicht den gesamten Staat destruierten, sondern nur das Schlechte aus ihm herausschneiden wollten, um so den evolutionären Fortschrittsprozeß ungehemmt zu gewährleisten.204 Anknüpfend an das vorrevolutionäre Widerstandsrecht, kann Wirth somit paradoxer Weise ausrufen: »Nein, denn die Einführung der Republik wäre keine Revolution, sondern vielmehr eine Restauration. Unsere rechtmäßige Reichsverfassung war republikanischer Natur, dieselbe wurde durch eine Revolution von Seiten der Fürsten gewaltsam umgestürzt und die Wohlfahrt unseres Volkes kann daher nur durch die Rückkehr auf den früheren Rechtszustand, also nur durch Restauration, befördert werden.«205 Der Blick auf die Vergangenheit legitimierte also einen grundsätzlichen Wandel, da dieser Reaktion auf die unrechtmäßige revolutionäre Anmaßung der Fürsten war und damit erst einen Wiedereintritt in die Tradition und den evolutionären Zeitenlauf garantieren konnte. Diese sophistische Begriffsverkehrung sollte aber letztlich nicht alte Zustände wiederbeleben, sondern wurde gerade für eine neue Zukunft in Anspruch genommen, die man freilich auch schon immer wieder in der Vergangenheit anvisiert hatte. So unterscheidet Rüge 1841 in seinem Aufsatz »Der protestantische Absolutismus und seine Entwicklung« die (Contre-)Revolution der Reaktion von der eigentlichen Revolution, ein Gegensatz, der sich - mit anderen Inhalten -geschichtlich schon zwischen Reformation und »Jesuitismus« manifestiert habe. Beide würden sich zwar gegen die politische Gegenwart in Gesetz und Verfassung wenden und sie durchbrechen wollen, jedoch »die Reaction im Sinne der Vergangenheit (Karl X. u.s.w.), die Revolution im Sinne der Zukunft. Aber die Zukunft ist unvermeidlich«; denn auch die in die Gegenwart projektierte Vergangenheit sei nicht wirklich, sondern bereite letztlich das Neue vor: »so wird die Reformation in Frankreich unterdrückt, undgerade diese Unterdrükkung und Reaction ist Revolution und macht die Revolution«. Die Reaktion als Revo203 Struve, S. 34. 204 Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Nr. 197 vom 19.8.1842, Sp. 787. 205 Wirth, Richtung, S. 222.

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lution für eine Vergangenheit schlage immer wieder um in einen zukunftsbetonten revolutionären Prozeß. 206 Indem diese beiden Arten von Umwälzungen unterschieden wurden, konnte die demokratische Revolution ihrem Anspruch weiterhin gerecht werden, eine neue Zeit einzuleiten - selbst wenn oder gerade weil sie ihre Rechtfertigung auch aus der Vergangenheit bezog und von der Reaktion herausgefordert wurde. So meint Nauwerck: »Die politische Zukunft der Deutschen wird von der Vergangenheit zurückgestrahlt: so wird die veredelte, um den ganzen Inhalt der neueren Gesittung bereicherte altgermanische Freiheit sein,«207 Und auch der so historisch denkende Wirth distanziert sich eindeutig von der »manierirten Deutschthümelei« und den mittelalterlichen Tendenzen, wie sie auch in den Befreiungskriegen in Erscheinung getreten seien. Selbst das vielbeschworene Reformationszeitalter möchte er nicht in die Gegenwart heraufholen: »Sage man uns nicht, als wollten wir die alte Zeit heraufbeschwören. Das fällt uns nicht ein! Im Gegentheile, wir wollen weiter: wir wollen fortschreiten! Aber die Richtung, welche sich in jener Zeit und in jenen Männern kund gab, dieselbe Richtung, welche schon im Reformationszeitalter so schön und kräftig sich gezeigt hat; mit einem Wort: die Richtung der neueren Zeit, welche die freie Entwicklung des Geistes will auf dem Boden der Nationalitäten - diese soll auch die unsrige sein!«208 Eine materielle Wiederbelebung der Vergangenheit lehnt Wirth ab, doch an die gemachten Versuche, der Zeitbewegung eine zukunftsweisende Richtung zu geben, die gen Freiheit und Nationaleinheit strebe, daran solle Deutschland anknüpfen. Peter Wende entwickelt in seiner fundierten Studie über den Radikalismus im Vormärz, wie das Revolutionsverständnis brüchig und widersprüchlich wurde. 209 Einerseits stelle sich die Revolution als zukunftsorientierter und freiheitsversprechender Bruch mit der Tradition dar, dessen historische Notwendigkeit allein Fortschritt gewähren könne. Zu diesem demokratischen Bekenntnis zur Revolution geselle sich aber andererseits die »konservative Grundvorstellung von dem primär evolutionär-kontinuierlichem Charakter des historischen Prozesses«. Der reaktionäre Eingriff in diese zur Norm erhobene Entwicklung werde nun zur revolutionären Tat im negativen Sinne; positiv sei dagegen eine Revolution als Negation dieser Negation, als »Gegengewalt gegen die unrechtmäßige Gewaltausübung der bestehenden Gewalt«, um den evolutionären Prozeß wieder zur Geltung zu bringen: »Das restaurative Prinzip der vorrevolutionären Widerstandslehre hat in solchen Beweisführungen den neuzeitlichen Revolutionsbegriff verdrängt, wenn die Zukunft, die die Revolu206 207 208 209

Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Nr. 129 vom 29.11.1841, Sp. 514. Nauwerck, in: H. Brandt, Restauration, S. 50. Braga. Vaterländische Blätter für Kunst und Wissenschaft, 1839, Bd. 2, S. 197. Wende, Radikalismus im Vormärz, S. 198 ff.

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tion erschließen soll, bereits vollgültig vorgeprägt ist in den Normen und Formen der Tradition.«210 Die demokratische Revolution als Kontinuität und Fortschritt gewährende Restauration gegen die gewaltsame konservative Revolution - diesem Ergebnis Wendes kann man sich nur anschließen. Doch daß damit die Revolutionsvorstellung widersprüchlich und ihre Theorie brüchig wird, diese Schlußfolgerung ist nicht zwingend. Zwei Rechtfertigungen der Revolution ließen sich bei Demokraten ausmachen: auf der einen Seite ›Revolution‹ als historisch notwendiger Bruch mit einer überlebten Tradition und als Beginn einer völlig neuen Zeit; auf der anderen Seite als Reaktion auf die regressive Revolution der Konservativen und als Wiedereintritt in einen schon in der Vergangenheit vorgeprägten evolutionären Fortschrittsprozeß. Diese beiden Legitimationsversuche ergänzten sich aber, wenn die entwicklungsgeschichtlichen Normen der Vergangenheit auch ein vorwärtsweisendes Moment besaßen und es die Aufgabe der Gegenwart war, die unverwirklichten Möglichkeiten der früheren Zeit in der Zukunft einzulösen. Bei einer dauerhaften Reformblockade führte eine Revolution als Notwehr wieder in den evolutionären Fortschrittsprozeß, gerade um so die verhinderten raschen und gründlichen Reformen zu verwirklichen. Die doppelte Zeiterfahrung einer Beschleunigung und eines Staus gingen in dieses Revolutionsbewußtsein ein: Die Blockade sollte durch einen revolutionären Sprung überwunden werden, um damit wieder an das geschichtliche Kontinuum beschleunigt anschließen und eine Zukunft gestalten zu können. Wie schon nach den Juliereignissen war eine Revolution Aufbruch in eine neue Zukunft und Garant eines Wiedereintritts in ein Fortschrittskontinuum. Deshalb bleibt es problematisch, wenn Wende doch noch zu dem Schluß kommt, daß das radikale Bekenntnis zur Evolution nur rhetorischer Art und der demokratische Radikalismus »die Partei der Revolution« sei. Daß die totale Diskontinuität nicht das letzte Wort einer revolutionären Umwälzung sein mußte, dies wurde 1848 letztlich durch die Skepsis der Demokraten und ihren Widerwillen, die Revolution weiterzutreiben, bescheinigt. 4. Rückblick auf eine gespaltene Zeiterfahrung

Traten für Demokraten die Erfahrungen mit einer ihren Vorstellungen ungenügenden Gegenwart und die diese transzendierenden Erwartungen schon Anfang der dreißiger Jahre auseinander, so wurde diese gespaltene Zeiterfahrung zum allgemeinen Signum in dem Jahrzehnt vor den deutschen Märzereignissen. Die verschleppten und angemahnten Reformen ließen den Aufbruch in eine neue Zeit permanent präsent sein, ohne ihn aber zu realisieren und die Dynamik der Zeit einzulösen. Die komplexe Gegenwart zwischen 210 Ebd., S. 205.

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Zeitbeschleunigung und Zeitstau, zwischen Belebung der öffentlichen Diskussion, Häufung und Überlagerung von Krisenmomenten und Stagnation der politischen Entwicklung kreiste in ihren Widersprüchen, konnte die zeitliche Dynamik realhistorisch nicht einlösen und schien sich von Vergangenheit und Zukunft letztlich abzuschneiden. Mangels Revolutionen oder Reformen, die auf die allgemeinpolitische Legitimationskrise und die relativen Deprivationserfahrungen hinreichend geantwortet hätten, wurde die Jetzt-Zeit zum permanenten Wendepunkt, ohne den Sprung in die neue Zeit zu vollziehen, wurde zum Schauplatz des Gegeneinanders der Kräfte der Zukunft sowie der Vergangenheit, ohne diese Widersprüche in Kontinuität überfuhren zu können. Die zum Übergang punktualisierte Gegenwart blieb von permanenter Flüchtigkeit gekennzeichnet. Sie changierte zwischen andauernder Traditionsverhaftung und zahlreichen krisenhaften Unregelmäßigkeiten im Zeitrhythmus, zwischen Verspätung und Vorsprung.211 Aber anstatt dieser antagonistischen Zeit fortwährender Enttäuschungen und Zukunftsvertröstungen verhaftet zu bleiben, konnten Liberale ihre Komplexität reduzieren, indem ein umfunktionalisierter und pragmatischer Nationalismus einen Neubeginn in der Gegenwart ansetzte und so aus der Zerstrittenheit in eine künftige Einheit führte. An diesen Zukunftsvorstellungen sollten sich gegenwärtige Handlungsdispositionen ausrichten, um der beschleunigten Zeit eine vorwärtsweisende Richtung zu geben und sich von der Vergangenheit zu lösen. Für Demokraten dagegen konnte die Gegenwart allein auch in den vierziger Jahren nicht mehr als Geburtshelferin der Zukunft fungieren. Der Entwicklungsstau, die widersprüchlich erfahrene Wirklichkeit, die sich nicht vom Alten zu lösen vermochte, all dies machte die Desiderate der Gegenwart um so offensichtlicher und den Aufbruch in eine neue Zeit um so dringlicher. In einer Revolution sahen Demokraten weiterhin die unverwirklichten Möglichkeiten der Vergangenheit in die Zukunft hinein wirken. Wer sich wie die konservative Reaktion gegen diese evolutionäre Zeitbewegung stemmte, konnte nun als revolutionär denunziert werden - dies allerdings im regressiven Sinne. Wer sich hingegen in diese Tradition eingliederte, für den mutierte eine Revolution zu einer kontinuitätsstiftenden Restauration. Diese zielte aber nicht auf eine inhaltliche Regeneration des Alten ab, sondern bezog aus den unerfüllten Erwartungen der Vergangenheit letztlich eine zukunftsweisende Dynamik.212 211 In der Zeittypologie Georges Gurvitchs würden die vierziger Jahre dem vierten Typus der unregelmäßig pulsierenden Zeit in Übergangsgesellschaften und wohl auch dem sechsten Typus der zwischen Verspätung und Vorsprung wechselnden Zeit in frühkapitalistischen Gesellschaften entsprechen. Doch bestätigt sich seine Vermutung nicht, daß bei diesen Zeiterfahrungen die Horizonte der Vergangenheit und Zukunft gänzlich verlorengingen und die Gegenwart über sie triumphiere (vgl. Gurvitch, S. 176 ff.). 212 Vgl. ζ. Β. Wirth, Richtung, Kap. XI: Die »republikanischen« Züge der Reichsverfassung, die durch die Fürsten usurpiert wurde, hätten in den Forderungen der demokratischen Opposition seit 1831 ihre Renaissance gefunden.

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Deshalb gilt nur eingeschränkt, was Bernhard Giesen im Rahmen seiner Analyse zum Nationalismus der Vormärzintellektuellen als »demokratischen Code« bezeichnet und was zu einer »außerordentliche[n] Verschärfung des Zeitbewußtseins« führte: »Der Blick auf die Zukunft macht Handeln als autonomes Handeln bewußt, die Erinnerung des Vergangenen zeigt Unveränderbares. Der Bezug auf die Zukunft erregt und erzeugt Spannung des Ungewissen, Neuen und Unerhörten, die Betrachtung der Vergangenheit beruhigt und stabilisiert; die Partei der Zukunft ist auch die des Neuen und Aufregenden.« 213

Dieser Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft ermögliche erst Fortschritt und Geschichte.214 Giesen schätzt dieses Verhältnis aber viel zu statisch ein, wenn von der Vergangenheit konservative Stabilität und von der Zukunft »erregende« Gespanntheit auf das Neue hin ausgehen sollen. Vielmehr überwanden insbesondere demokratische, aber auch einige liberale Zeiterfahrungen die widersprüchliche Gegenwart zwischen Beschleunigung und Blockade, indem sie auf der einen Seite die Offenheit einer neuen Zeit durch ihre partielle Verortung und Verankerung in der Vergangenheit einschränkten und die anvisierte Zukunft durch diese Einordnung in ein Fortschrittskontinuum legitimieren konnten. Auf der anderen Seite setzten sie durch den Rückblick auf die Geschichte so viele unverwirklichte Möglichkeiten und idealisierte Anknüpfungspunkte frei, daß von ihnen eine zukunftsverheißende Dynamik und ein spannungsvoller Veränderungsdruck für die Gegenwart ausgingen. Eine Revolution als Wiederherstellung eines evolutionären Kontinuums und als Utopiespenderin brachte diese Zeiterfahrung auf den Begriff Insbesondere bei der politischen Strömung, welche die Zukunft auf ihre Fahne geschrieben hatte, offenbarte sich ein Zeitbewußtsein, für das sich der Topos ›historia magistra vitae‹ im Zusammenhang mit Revolutionen noch nicht überlebt hatte; doch war er nicht antiquarisch orientiert, sondern sollte letztlich einer demokratischen Utopie zum Durchbruch verhelfen. Ein ähnliches Zeitbewußtsein zwischen den drei Zeithorizonten ließ sich ja schon im Rahmen des Nationalismus um die Befreiungskriege beobachten. Umgekehrt ging es Reformkonservativen darum, zwar die wahrgenommene progressive Zeitbeschleunigung zu nutzen, um letztlich aber durch Fortbildung ahistorische konservative Prinzipien zu erhalten und den kaum noch vermeidbaren Übergang in eine neue Zeit zu verhindern. Demokraten legitimierten also über 213 Giesen, Intellektuelle, S. 186 f. 214 Damit sagt Giesen letztlich nichts anderes als Koselleck, der schon vor Jahrzehnten festgestellt hat, daß sich Fortschritt und geschichtliche Zeit durch die zeitliche Differenz von Erfahrung und Erwartung konstituierten und daraus ein »utopisches Überschußpotential« speisten (vgl. z. Β. Kosellecks schon erwähnten Aufsatz über die beiden historischen Kategorien ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ von 1975, wieder abgedruckt in: Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 349375, besonders 366 f.).

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die Vergangenheit die Zukunft, Konservative über ein Einklinken in die Fortschrittsbewegung ihre Traditionsbestände. Liberale konnten sich wie Demokraten auch auf die unerfüllten konstitutionellen und nationalen Erwartungen stützen, brachen mit diesen aber zunehmend durch ihre Hoffnungen auf einen ökonomisch und ethnisch durchsetzten Nationalismus unter preußischer Führung, der auf die aktuellen Erfordernisse der Gegenwart reagieren sollte. Letztlich wurden die an die Gegenwart herangetragenen politischen und sozialen Erwartungen alle enttäuscht, da angestrebte Reformen und mit Skepsis beäugte Revolutionen als Kontinuitätsträger ausblieben. Als schließlich 1848 wieder ein externer Anstoß die antagonistische Stagnation in Deutschland in Bewegung brachte und in eine nie dagewesene, aber lang erhoffte Zukunft zu weisen schien, wurden die unterschiedlichen Zeiterfahrungen abermals vor neue Herausforderungen gestellt.

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DRITTER TEIL

Die Zeit der Revolution 1848/49 »Das war ein März für Deutschland! Jeder Tag brachte Neues. Außer dem Erzählten geschah Vieles, was die Geschichte nur im Flug berühren kann. Sie berührt es der Zeitfolge nach: man sieht um so besser, wie die Ereignisse sich drängten, spannten, kaum zu Athem, zur Besinnung kommen ließen. Es war ein geschichtliches Feuerwerk, das der Weltgeist rasch hintereinander abbrannte.« 1

Das politische und gesellschaftliche System Europas, das 1815 auf dem Wiener Kongreß neugeordnet und aufJahrzehnte hin zementiert worden war, zerbrach seit 1847 beängstigend schnell. Von der Schweiz und Italien ausgehend, pflanzten sich Revolutionen in beinahe ganz Europa fort, erfaßten Frankreich und wirkten von dort aus als Initialzündung für die Erhebungen in Deutschland und in anderen europäischen Staaten. Trotz der vielfältigen Spezifika derjeweiligen revolutionären Erhebungen lassen sich vier weitgehend gemeineuropäische Triebkräfte dieser »synchronen Erschütterung« von 1848 ausmachen: die unerfüllt gebliebenen Verfassungsforderungen eines nach politischer Teilhabe ringenden Bürgertums; der drängende Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit; das langfristig angelegte Konfliktpotential einer im Umbruch begriffenen frühindustriellen Gesellschaft und schließlich die im Gefolge mehrerer Mißernten auftretenden akuten Hunger- und Teuerungskrisen zwischen 1845 und 1847.2 Hieraus ergaben sich für die Revolutionsbewegungen drei zentrale Aufgaben, die jeweils weitere Problembereiche und sehr verschiedene Lösungsansätze nach sich zogen und an deren Komplexität die Revolutionen schließlich scheitern sollten: Demokratisierung bzw. Konstitutionalisierung, Nationalstaatsbildung und Neuregelung der Sozialverfassung. 1 Zimmermann, Deutsche Revolution, S. 363. 2 Vgl. Siemanny Deutsche Revolution, S. 185, S. 49 f.; zur schier unübersichtlichen Literatur und Forschung über die europäischen und deutschen Revolutionen von 1848/49 vgl. Langetviescke, Revolution und vorrevolutionäre Gesellschaft, Teil. 1 u. 2; ders., Europa; vgl. aus den zahlreichen Veröffentlichungen zum 150-jährigen Jubiläum der Märzrevolution in europäischer Perspektive vor allem Dowe u.a. (Hg.); Botzenhart, 1848/49; Hardtwig (Hg.), Revolution; zur Revolution in Deutschland vgl. neuerdings den Band von Jansen und Mergel (Hg.), in dem die Revolution als Abschluß einer alten Zeit in der Wahrnehmung, den Handlungsformen und Werten der Zeitgenossen geschildert und außerdem die regionale Vielfalt dieser Erfahrungen betont wird; daneben vgl. zu Deutschland auch Dipper und Speck (Hg.).

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Von den sich in Deutschland herauskristallisierenden fünf Handlungsebenen (spontane Volksbewegungen, Öffentlichkeit, Verrechtlichung in den Parlamenten, Märzministerien und alte fürstlich-aristokratische Gewalten) interessiert hier besonders der Bereich der außerparlamentarischen Öffentlichkeit.3 Das im Vormärz so aktive Vereinswesen wirkte nun, als Vereins- und Versammlungsfreiheit herrschten, offen in die Politik hinein und organisierte sich in Reaktion auf politische Ereignisse in mehreren Schüben. Es antwortete mit Hilfe verschiedener Lösungsstrategien auf die Legitimitäts-, Integrations- und Partizipationskrise und trieb die Profilierung der einzelnen politischen Strömungen voran. Bei der Bildung einer außerparlamentarischen Opposition und eines institutionalisierten Kontaktes zur Parlamentsfraktion spielten die Demokraten eine Vorreiterrolle und entwickelten ein positives Parteienverständnis im modernen Sinne, dem sich die Liberalen aufgrund ihres überparteilichen Anspruchs nur widerwillig und verhalten anschlossen. Die unabhängig von den Parlamentsfraktionen gegründeten Vereine sahen ihre Aufgabe in zweifacher Hinsicht: Mobilisierung der Bevölkerung, um deren Meinungsbildung zu organisieren und zu kanalisieren, und politische sowie intellektuelle Schulung dieser Bevölkerung, um die politischen Rechte überhaupt nutzen zu können.4 Neben einer vereinsinternen wurde also vor allem eine vereinsexterne Wirkung intendiert, die insbesondere durch die sich explosionsartig ausbreitende Tagespublizistik zu erreichen war.5 Indem sie die neuen politischen Wirkungsmöglichkeiten 1848/49 nutzten, verschafften sich die politischen Vereine über Publikationen in politisch nahestehenden Zeitungen oder in eigenen Organen eine Öffentlichkeit, die ihnen Überleben und eine breite, überregionale Resonanz sicherten. In einer ungegängelten Tendenzpresse konnten nun endlich Tagesereignisse wiedergegeben, parteilich reflektiert und so einem Massenlesekreis zur weiteren Auseinandersetzung nähergebracht werden. Die tägliche Erscheinungsweise gewährleistete ein Anpassen an die Gedrängtheit der Ereignisse im »tollen Jahr«, worauf einige Zeitungen mit einer Morgen- und Abendausgabe reagierten. Mehr als in der äußeren Form änderte sich die Presse innerlich, denn »sie mußte es tun«, so etwas überspitzt Rolf Engelsing, »weil sie einem ebenso verwandelten Publikum und einer völlig neuen Aufgabe gegenüberstand. Sie wurde zur ersten und vielfach einzigen, ja mehr, sie wurde zur klassischen Lektüre eines ganzen Volkes. Sie bediente nicht mehr, sie herrschte.«6 Im folgenden wird vornehmlich auf Zeitungen mit überregionalem Cha3 Vgl. auch im folgenden Siemann, Deutsche Revolution, S. 58 ff. 4 Vgl. LangeuHesche, Anfange der deutschen Parteien S. 340; vgl. auch Siemann, Deutsche Revolution, S. 90 ff. 5 Vgl. zur Kommunikation in der Revolution neuerdings den Aufsatz von Siemann in: Dipper u. Speck (Hg.), S. 301-313 6 Engebing, Zeitung und Zeitschrift, Sp. 901. Engelsing schreibt weiter: »in einer Zeit, in der sich die Ereignisse jagen und die Stimmungen schwanken, wird das Leben selbst leidenschaftlich,

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rakter zurückgegriffen, die für »die neu entstandenen großen Parteirichtungen standen und den kleinen Lokalblättern Formulierungshilfe leisteten«.7 Konnte das politische Bürgertum schon auf Organisationsformen der Vormärzzeit zurückgreifen und insbesondere die demokratische Richtung diese während der Revolution auf nationaler Ebene über den Centralmärzverein effektiv ausbauen, zeigte sich der preußische Konservativismus in den ersten Monaten nach den Märzereignissen weitgehend überfordert von der revolutionären Entwicklung und blieb handlungsunfähig. Liberalen und Demokraten wurde die politische Öffentlichkeit in Presse, Vereinen und Landtagen überlassen. Erst im Juni bahnte sich ein Orientierungswechsel an. Statt sich auf Gewalt, höfische Intrigen oder einen Staatsstreich zu verlassen, fand diese Neuorientierung darin Ausdruck, »in einer sich demokratisierenden Gesellschaft das Maß an Organisationsbereitschaft und die Fähigkeiten der politischen Führung einer politischen Vereinigung, dieses politische Engagement der eigenen Anhänger auch institutionell einzufangen« und so »über die Chancen zur Durchsetzung politischer und sozialer Ziele zu entscheiden«.8 Deshalb gründete Ernst Ludwig von Gerlach im Juli 1848 den »Verein für König und Vaterland« quasi aus taktischer Verlegenheit, um über das Parlament und die öffentliche Meinungsbildung das konstitutionelle System wieder abzuschaffen oder zumindest zu beschränken. Bis zum Mai 1849 wurden etwa dreihundert konservative Vereine mit sechzigtausend Mitgliedern ins Leben gerufen. Ihnen gelang der Ausbruch aus dem agrarisch-junkerlichen Milieu, so daß der Konservativismus seinen höfisch-aristokratischen Charakter weitgehend einbüßte und sich der öffentlichen Auseinandersetzung um konkurrierende politische Ordnungsvorstellungen stellte. Zu einer dauerhaften Parteibildung sollte es jedoch nicht kommen, da sich die Vereine auf lokale oder regionale Interessenpolitik konzentrierten und eine zentralistische Zusammenfassung erst im Mai 1849 gelang, als in der Nationalversammlung und Reichsverfassungskampagne ein gemeinsamer Feind ausgemacht wurde. Im Sommer begann sich schließlich die innenpolitische Lage zu beruhigen, und die Vereine versanken in politischer Apathie.9 Einen dauerhafteren Bestand, nämlich bis 1939, hatte die im Juni 1848 von Ernst Ludwig von Gerlach und Hermann Wagener gegründete »Neue Preußische Zeitung«, wegen des Kreuzes auf dem Zeitungskopf bald als »Kreuzzeitung« bezeichnet.10 Schon im ersten Jahr wurde sie von dreitausend Abonblind und vordergründig; und es drängt selbst zu einer zeitungsnahen Form, um seine geschichtliche Bindung an die Gegenwart nicht zu verlieren.« (Sp. 899). 7 Siemann, Deutsche Revolution, S. 119. 8 Schwentker, S. 87. 9 Zu den Grenzen und Schwächen in der politischen Schlagkraft der konservativen Vereine vgl. ebd., S. 335. 10 Vgl. zur Geschichte der »Neuen Preußischen Zeitung« den Artikel in: Fischer, Deutsche Zeitungen, S. 209-224; zu den ersten Jahren vgl. die Arbeit von Danneberg.

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nenten, 1849 von fünftausend bezogen. Als publizistisches Flaggschiff der preußischen Konservativen versammelte sie unterschiedliche politische Gesinnungen wie die der Gerlach, Wagener, Stahl, Radowitz oder Huber, Sie gab Kommentare zum politischen Geschehen und sah ihre Aufgabe in der Sammlung der konservativen Kräfte in einer Partei, die in den Wahlen zur preußischen Nationalversammlung ein totales Desaster erlebt hatte. Die Auseinandersetzung mit der Revolution war die Initialzündung für die Gründung der Zeitung und blieb für die Jahre 1848/49 auch eines ihrer Hauptthemen. Von herausragender Bedeutung für die Revolutionseinschätzung sind die monatlichen Rundschauen Gerlachs. Aus diesen Gründen wird das Blatt die zentrale Bezugsquelle für Zeit- und Revolutionserfahrungen preußischer Konservativer sein, denn andere königstreue Blätter wie ζ. Β. die »Hannoversche Zeitung« beschränken sich weitgehend auf ein nüchternes Nachrichenreferat, ohne dezidiert konservative Positionen zu vertreten. Das Spektrum der liberalen Strömungen kann hingegen mittels zahlreicher Publikationsorgane erfaßt werden, in denen in Kommentaren Stellung zum Zeitgeschehen bezogen wurde. Die Augsburger »Allgemeine Zeitung«, schon 1798 von Cotta in Stuttgart gegründet und 1810 nach Augsburg verlegt, vertrat einen gemäßigten Liberalismus. Ohne immer eine unabhängige politische Linie eingehalten zu haben, wurde sie vor 1848 zeitweilig zu einer der wichtigsten publizistischen Stützen Metternichs.11 Der rheinische Liberalismus fand seine Stimme in der »Kölnischen Zeitung«, die ebenfalls eine lange vorrevolutionäre Tradition besaß, aber erst Mitte der vierziger Jahre unter der Redaktion von Karl Heinrich Brüggemann zu einem parteilichen Organ für die liberal-konstitutionelle Opposition wurde. Mit der Märzrevolution schienen sich die Hoffnungen der Zeitung nach einer Evolution der politischen Verhältnisse erfüllt zu haben, und sie erlebte eine Verdoppelung ihrer Auflage auf über siebzehn tausend Exemplare im zweiten Quartal 1848.12 Als entschiedenes und vielbeachtetes Parteiblatt wurde 1846/47 die »Deutsche Zeitung« in Heidelberg gegründet. Hauptinitiatoren waren südwestdeutsche Liberale wie Bassermann, Gagern, Gervinus, Häusser, Mathy und Mittermaier, doch schrieben für sie auch norddeutsche Liberale wie Droysen. Das Blatt verstand sich als gesamtdeutsches Organ für den Liberalismus, auch wenn in ihm der rechte, geschichtlich argumentierende Flügel vorherrschen sollte.13 Eine direkte Frucht der Revolution war die Gründung der Berliner »National-Zeitung« im März/April 1848; ihre 11 Vgl. zur Geschichte der »Allgemeinen Zeitung« neuerdings die Studie von Müchler, außerdem den entsprechenden Artikel in: Fischer, Deutsche Zeitungen, S. 131-144. Die gemäßigte Vossische Zeitung aus Berlin erwies sich hingegen als nicht sehr aussagekräftig für die Frage nach Zeiterfahrungen. 12 Vgl. zur Geschichte der »Kölnischen Zeitung« den Artikel in: Fischer, Deutsche Zeitungen, S. 145-158. 13 Vgl. insbesondere die jüngst erschienene Dissertation von Hirschhausen über die »Deutsche Zeitung«.

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parteipolitischen Ambitionen waren schon in der Probenummer präsent. Getragen von einer politisch engagierten Gruppe um gemäßigte Liberale wie Diesterweg, gehörten der Redaktion zeitweilig aber auch Demokraten wie Nauwerck an. Nicht zuletzt deshalb kann die »National-Zeitung« für das breite Spektrum im Liberalismus stehen. Sie trat für eine konstitutionelle Monarchie mit einem starken Staatsoberhaupt möglichst preußischer Provenienz und für eine schnelle Verrechtlichung der Revolution gegen ihre Radikalisierung ein, nicht weniger aber auch für ein allgemeines Wahlrecht ohne Zensus und wirksame Reformen zur Lösung der »sozialen Frage«. Sie rief nach der Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses im April 1849 zum Wahlboykott auf und hielt an der Legitimität des Stuttgarter Rumpfparlaments fest, wandte sich aber ebenfalls gegen alle Forderungen nach einer Republik. So sind die Übergänge zu den gemäßigten demokratischen Strömungen in diesem Blatt fließend.14 Vor allem Demokraten versuchten, sich von Beginn der Revolution an die Tagespresse zunutze zu machen. Die herangezogenen Zeitungen sollen grob in kompromißbereit- gemäßigte und dogmatisch-radikale unterschieden werden, wobei diese Unterteilung 1848 nicht mehr fest an Landschaften gebunden war.15 Unter den demokratischen Blättern ragte im Südwesten »Der Beobachter. Ein Volksblatt aus Württemberg« heraus, der sich schon vor der Revolution als das Organ der gesamten württembergischen Opposition verstand und während der Revolution zunehmend zum Sprachrohr der gemäßigten süddeutschen Demokraten wurde. »Der Beobachter« trat dezidiert für den Zusammentritt der Nationalversammlung ein und begleitete diese kritisch bis zu ihrem Ende, auch wenn er den Malmöer Waffenstillstand ablehnte und zunehmend daran zweifelte, ob die Frankfurter Versammlung ihrer Aufgabe gewachsen sei. Dennoch stand er hinter dem Kompromiß der Reichsverfassung und verteidigte diesen anschließend vehement als Organ des Centralmärzvereins. Dafür war er sogar bereit, die ›Kröte‹ des preußischen Erbkaisertums zu schlucken, da die Idee der Volkssouveränität nicht unbedingt von einer republikanischen Staatsform abhängig und auch in einer »demokratischen Monarchie« realisierbar sei.16 Nationalpolitisch trat er für einen Bundesstaat unter Einschluß Österreichs ein. Von ihrer gemäßigten Einstellung her ist diesem württembergischen Blatt für den norddeutschen Raum die »Bremer Zeitung für Politik, Handel und Literatur« an die Seite zu stellen, die aber eine größere Affinität zu einer kleindeutschen Lösung besaß, eine preußische Hegemonie dennoch ablehnte.17 Ab Januar 1849 erschien sie als »Zeitung für Norddeutschland« in Hanno14 Vgl. zur Geschichte der »National-Zeitung« den Artikel in: Fischer, Deutsche Zeitungen, S. 177-190. 15 Vgl. zur Unterscheidung im Vormärz und in der Nationalversammlung 1848/49 Huber, Bd. 2, S. 410ff.,618 f. 16 Vgl. z. B. Der Beobachter, Nr. 64 vom 8.5.1848. 17 Vgl. z. B. Bremer Zeitung, Nr. 330 vom 13.12.1848.

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ver und verlor einiges von ihrer Schärfe. Für die Spätphase der Revolution seit dem Frühjahr 1849 kann außerdem die Berliner »Urwähler-Zeitung« (später »Berliner Volks-Zeitung«) herangezogen werden. Weitaus weniger kompromißbereit zeigte sich die »Mannheimer Abendzeitung« als ein Blatt der radikalen Linken, vertrat sie doch einen strikt antimonarchischen und -preußischen Kurs und sah in der konstitutionellen Monarchie nur eine krisenhafte Übergangsform zwischen Monarchie und (sozialer) Republik.18 Schon früh kritisierte sie die liberale Vereinbarungspolitik in der Nationalversammlung und malte das Schreckgespenst der Reaktion an die Wand, um die Revolution weiterzutreiben. Trotz Ablehnung des preußischen Erbkaisertums trat sie 1849 während des badischen Aufstandes für die Durchsetzung der Reichsverfassung ein und traf sich darin mit der in Darmstadt, seit April 1849 in Frankfurt erscheinenden »Neuen Deutschen Zeitung. Organ der Demokratie«. Diese verstand sich als Sprecherin der äußersten Linken in der Nationalversammlung und trat heftig gegen den »liberalen Doktrinismus« auf19 Der erste Demokratenkongreß im Juni 1848 begründete einen Zentralausschuß in Berlin, der sich für die Öffentlichkeitsarbeit gerne der »Reform« Arnold Ruges bediente.20 Ein Kuriosum unter den demokratischen Blättern in Berlin blieb die wiedererweckte »Locomotive. Zeitung für politische Bildung des Volkes« von Friedrich Wilhelm Held, die von Anfang April 1848 bis in den Januar 1849 hinein erschien. Dieser Journalist und Agitator, der insbesondere bei den Maschinenbauern viel Anklang fand, vertrat nach Veit Valentins Auffassung ein »etwas verschwommenes Rechtsstaatsideal«, setzte sich hauptsächlich für die Meinungs- und Oppositionsfreiheit ein und wandte sich scharf und hämisch gegen den abwägenden großbürgerlichen Liberalismus. Als »antikapitalistischer Hetzer« und Befürworter eines Bündnisses zwischen »Volksbewegung und dem militärisch feudalen Royalismus« fand er aber im eigenen demokratischen Lager immer weniger Rückhalt.20 18 Vgl. z.B. Mannheimer Abendzeitung, Nr. 88 vom 29.3.1848; ebd., Nr. 102vom 12.4.1848. Die Mannheimer Abendzeitung war immer wieder von Verboten betroffen und erschien deshalb in den ersten Monaten der Revolution lückenhaft. So fehlen die Ausgaben vom 29.4. bis zum 26.5.1848 komplett und vom Juli 1848 zum größten Teil. Am 29.6.1849 wurde die Redaktion auf Druck der Regierung ausgewechselt und vertrat seitdem einen Kurs im Interesse der »Wahrheit und Freisinnigkeit auf dem Boden der Gesetze und der Ordnung« (ebd., Nr. 154 vom 29.6.1849). 19 Vgl. z. B. Neue Deutsche Zeitung, Nr. 64 vom 13.9.1848; Nr. 75 vom 20.9.1848; Nr. 128 vom 1.6.1849. 20 Die Reform erschien vom 1.4. bis 14.11.1848. Zugänglich waren jedoch nur noch die Ausgaben vom 1.4. bis 30.6.1848 und die Berliner Beilagen, Nr. 1 bis 18. 21 Valentin, Deutschen Revolution, Bd. 2, S. 57 f. Sozialistische Blätter, wie Stepan Borns »Das Volk« und die »Verbrüderung« oder Marx' »Neue Rheinische Zeitung« hatten zwar noch vielfältige thematische und personelle Verbindungen zu radikaldemokratischen Strömungen und wurden deshalb ebenfalls durchgesehen. Die Ausbeute zum Thema Zeit- und Revolutionserfahrungen war aber gering und wird nur vereinzelt herangezogen werden. Außerdem muß man spätestens seit 1848 von einer zunehmenden Trennung der sozialistischen von der demokratischen Strömung ausgehen (vgl. Siemann, Deutsche Revolution, S. 93 ff.).

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VII. Ende der Stagnation und neue Zeitstörungen In der Revolutionsforschung hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, von der Komplexität der Revolutionsursachen als dem eigentlichen Signum von 1848 zu sprechen und von monokausalen Erklärungen Abschied zu nehmen. Dies gilt für die gesamte europäische Revolutionslandschaft, für welche die einzelnen Ursachen differenziert gewichtet werden müssen, und nicht weniger für Deutschland.1 Unbestreitbar ist jedenfalls, daß sich in den dreißiger und vierziger Jahren ein vielschichtiger Reformstau gebildet hatte, der zu einer Dauerbelastung wurde, da er die Führungsschwächen der Regierungen offenbarte und zu einem Vertrauensverlust im Bürgertum führte. Immer forcierter wurde eine reformerische oder revolutionäre Entlastung von der Entwicklungsblockade gefordert, wofür die europäischen Ereignisse 1847/48 die äußere Initialzündung gaben. Als die Revolution in Deutschland ausbrach, kam sie dennoch unerwartet und ungeplant und war nicht von unausweichlicher Konsequenz. Drei Aspekte sind für die Märzrevolution entscheidend:2 die scheinbar schnelle Kapitulation der alten Mächte; der dezentrale Charakter der Revolution; die baldige Institutionalisierung der revolutionären Bewegung, um einen Totalumsturz, also das Weitertreiben der politischen Revolution zu einer sozialen, zu verhindern. Gerade die sich in einzelnen städtischen Unruhen manifestierende soziale Latenz der Revolution beeinflußte die Politik der Märzminister und der liberalen Mitte. Mit der Anerkennung der sogenannten Märzforderungen bahnte sich ein politischer Systemwechsel an. Durch die Wahl einer Nationalvertretung sollten eine Verfassung und ein Nationalstaat geschaffen und so die Revolution begrenzt werden. Behutsame Umformung und Wahrung von Rechtskontinuität statt revolutionäre Zerschlagung wurden zum Kennzeichen der außerparlamentarischen Märzbewegung, die vor den Thronen stehenblieb. Die Revolution sollte auf diese Weise ihren Abschluß finden und in eine evolutionäre und parlamentarisch legitimierte Reformpolitik übergehen. 1 Vgl. hierzu den kurzen Problem- und Forschungsüberblick bei Langewiesche, Europa, S. 164 ff; außerdem den breit angelegten Aufriß der Revolutionsursachen bei Wehler, Bd. 2, S. 660 ff, wo die Gesellschafts- und Legitimationskrise des Vormärz mit dem Phänomen einer »springflutartige[n] Expansion von Deprivationserfahrungen bis hin zum revolutionären Protest von 1848« zusammengedacht wird; zur Kritik am zirkulären Vorgehen Wehlers und der Überstrapazierung sozialwissenschaftlicher Erklärungsmodelle vgl. Langewiesche,, Revolution und vorrevolutionäre Gesellschaft, Teil 2, S. 341 f. 2 Vgl. auch im folgenden Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 604 ff; vgl. zur ungewollten liberalen Revolution in Europa Mommsen.

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Waren sich weite Teile des liberalen und demokratischen Bürgertums in der Eindämmung der Revolutionsbewegung einig und wurde dies auch deutlich in dem geringen Rückhalt, den der radikalrepublikanische Antrag Struves im Vorparlament und der badische Aprilaufstand in der Bevölkerung fanden, zeigte sich dennoch früh, daß es keine »sozial homogene Trägerschaft der Revolution« und keine »allgemein akzeptierten Zielperspektiven« gab.3 Sowohl die baldige Auseinanderentwicklung der zahlreich neugegründeten liberal-demokratischen Vereine als auch die Kontroversen in der Nationalversammlung machten deutlich, daß die Frage nach der Staatsform, weniger nach der Gestaltung des Nationalstaats, zum eigentlichen Spaltpilz im Bürgertum und Schwachpunkt der Revolution wurde. Ausgehend von dem Prinzip der Volkssouveränität traten die verschiedenen Richtungen der Demokraten generell für eine Republik und das Einkammersystem, das allgemeine und gleiche Wahlrecht und damit für die sofortige Integration der unterbürgerlichen Schichten ein. Sie zeigten sich gegenüber der sozialen Frage‹ aufgeschlossen, gerade um einer anarchischen Weiterentwicklung der Revolution vorzubeugen: »Republik und allgemeines Wahlrecht sollten die politische Revolution in soziale Evolution transformieren.«4 In der Frage der republikanischen Staatsform zeigten sich Teile der Demokraten aber im Laufe der Verfassungsdiskussionen in der Nationalversammlung kompromißbereiter. Um die bürgerliche Opposition nicht zu sehr zu schwächen und die Beratungen wegen des Zeitdrucks zu einem schnellen Abschluß zu bringen, war eine Republik für sie auch vorstellbar mit einem wählbaren Monarchen an der Spitze, allenfalls ausgestattet mit einem suspensiven Veto. Der extremen Linken war dies hingegen ein Kotau vor der Reaktion und ein Abrücken von den Ausgangsprinzipien der Revolution. Dieser Flügel radikalisierte sich schon 1848 zunehmend und beherrschte den Zentralausschuß sowie den zweiten demokratischen Kongreß in Berlin und rief gegen die Nationalversammlung zur revolutionären Tat auf. Nach dem Ende des radikalen Zentralausschusses durch den Berliner Staatsstreich schloß sich die disparate Linke noch einmal zur Verteidigung der »Märzerrungenschaften« und gegen die Konterrevolution in dem gemäßigteren Frankfurter Centralmärzverein zusammen. Er soll nach zeitgenössischen Schätzungen 500 000 Mitglieder umfaßt und insbesondere während der Reichsverfassungskampagne die Aktionen der annähernd tausend demokratischen Ortsvereine koordiniert haben. Der drohende Sieg der Reaktion führte gemäßigte und radikale Linke noch einmal zusammen, um die Legitimität der aus der Revolution und den allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Nationalversammlung und ihres Verfassungswerkes durchzusetzen.

3 Vgl. auch im folgenden Langewiesche, Republik, S. 341-361, hier 347. 4 Ebd., S. 357.

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Im Gegensatz zu dem transitorischen Zwitterwesen einer demokratischen Monarchie, in der die Macht des Staatsoberhaupts deutlich eingeschränkt war,5 strebten Liberale eine konstitutionelle Monarchie mit starker monarchischer Spitze, Zweikammersystem und Zensuswahlrecht zum Schutz des Mittelstandes und Eigentums gegen soziale Forderungen von unten an. Ihnen schwebte ein Rechts- und Nationalstaat als Klassenstaat auf Zeit vor, mit rechtlichen Freiheiten für alle und politischen Rechten nach Besitzkriterien, eine Mittelstandsgesellschaft, in die aber langfristig auch unterbürgerliche Schichten hineinwachsen sollten. Die von den Demokraten erhobene Forderung nach einer Republik mutierte für Liberale zu einem Angstsyndrom, gleichbedeutend mit Rechtsbruch, Anarchie, Bürgerkrieg und Umsturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung - eine überzogene Befürchtung, die sich aber in den städtischen Sozialrevolten, dem Aprilaufstand und der drohenden Weiterentwicklung Frankreichs zur sozialen Republik zu bestätigen schien. In diesem schon zu Beginn der Revolution ideologisch vergifteten Klima, in dem Liberale die allgemeine demokratische Revolutionsbereitschaft überschätzten und Demokraten die liberale Reformbereitschaft unterschätzten und sie als reaktionär denunzierten, schien eine Zusammenarbeit der verschiedenen politischen Strömungen im Bürgertum vor allem in der außerparlamentarischen Vereinsbewegung kaum noch möglich zu sein. Nicht zuletzt von dieser Schwächung der bürgerlichen Strömungen konnten die Reaktionskräfte im Sommer 1848 profitieren, nachdem sie vorher weitgehend verstummt waren und sich ihr vormärzliches Bollwerk, der Bundestag, schnell und geschmeidig der revolutionären Bewegung angepaßt hatte, um sie in rechtliche Bahnen gelenkt zu wissen. Mit der Entwicklung des konservativen Vereinswesens, der Gründung der »Kreuzzeitung« und der Rückkehr des Prinzen Wilhelm nach Berlin gewannen die preußischen Konservativen ihr Selbstvertrauen wieder zurück, während sich die revolutionäre Entwicklung in Berlin zunehmend isolierte. Die entscheidenden Machtfaktoren der alten Ordnung, Militär, Bürokratie, Justiz und Amtskirchen, blieben intakt und loyal; die preußische Nationalversammlung vermochte nicht, sie auf sich einzuschwören und verlor mit jedem Regierungswechsel mehr Machtmittel. So konnten die Konservativen schon vor der reaktionären Offensivpolitik im Herbst 1848 ihre Position konsolidieren, während die Zeit gegen die parlamentarische Entscheidungsfindung der revolutionären Kräfte arbeitete.6

5 Vgl. am Beispiel Württembergs Langewiesche, Liberalismus und Demokratie, S. 164. 6 Vgl. zum unterschätzten Wiedererstarken der konservativen Gegenrevolution Wehter, Bd. 2, S. 771 ff.

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1. Liberale ›Reform-Revolution‹: von der Sukzession zur Opposition Die liberalen Zeiterfahrungen zu Beginn des neuen Jahres sind uneinheitlich. Im Rückblick auf das Jahr 1847 klingt in der »Kölnischen Zeitung« Erleichterung an, daß die akute ökonomische Krise mit ihren sozialen Folgen im Begriff sei, sich zu entspannen. Deshalb habe man jetzt eine Situation, wie sie sich noch Anfang 1847 »drohend und verhängnisvoll« ankündigte, überwunden und sei am »Eingange eines neuen Zeitabschnittes«. Dem vergangenen Jahr wird zugestanden, »mit Mäßigung die Bahn des Fortschritts betreten« zu haben und daß man aus diesem Grund »mit Wohlgefallen auf das Vergangene, mit Vertrauen auf die Zukunft« blicken könne. 7 Und trotz des gescheiterten preußischen Provinziallandtages, an den auch »Die Grenzboten« so viele Erwartungen gerichtet hatten, ist dieses Blatt zuversichtlich, daß sich die liberalen Ideen auch ohne revolutionäre Sprünge realisieren würden: »Das eben abgelaufene Jahr ist nicht durch gewaltsame Sprünge, durch glänzende Thaten ausgezeichnet, es ist keine große Schlacht geliefert, keine Revolution durchkämpft, kein neues philosophisches System erfunden, und doch wird es für die Entwickelung der Freiheit, namentlich in unserem Vaterlande, als ein bedeutendes bezeichnet werden. Es zeigt sich, daß die Ideen sich realisieren, auch ohne gewaltsame Anstrengung«.8 Überall habe die konstitutionelle Politik an Boden gewonnen, seien Reaktion und Radikalismus zurückgedrängt worden. So können auch die »Jahrbücher der Gegenwart« ihre Einschätzung des beginnenden Jahres mit den Worten zusammenfassen: »Kurz, man lebt bewußter und schneller.« 9 Auf der anderen Seite wird auch immer wieder vermerkt, daß trotz einer oberflächlichen Beruhigung der deutschen Verhältnisse die lähmenden Widersprüche noch immer nicht aufgelöst seien. Die »Neuen Jahrbücher der Geschichte und Politik« bemerken, daß der »Stoff zu Aufregungen« noch überall vorhanden sei; es finde ein »Kampf des Alten mit dem nach Anerkennung ringenden Neuen statt«.10 »Die Grenzboten« sehen schließlich einen Zusammenhang der sich drängenden Ereignisse des Schweizer Sonderbundskrieges und der italienischen Unruhen Anfang des Jahres, in denen das »alte, verfallene Gebäude der Restauration« zu wanken beginne: »Es sind die Blasen, die das Meer aufwirft vor dem Sturme.« 11 Die Zeiterfahrungen schwankten also zwischen der Hoffnung auf eine schon angebrochene evolutionäre Entwicklung einerseits und der Ahnung von neuen Kämpfen zwischen alter und neuer Zeit andererseits. 7 Kölnische Zeitung, Nr. 3 vom 3.1.1848. 8 Die Grenzboten, 1848, Bd. 1, S. 1. 9 Jahrbücher der Gegenwart, 1848, Bd. 1, S. 1. 10 Neue Jahrbücher der Geschichte und Politik, 1848, Bd. 1, S. 387. 11 Die Grenzboten, 1848, Bd. 1, S. 332, 329.

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Nach der Pariser Februarrevolution scheint es dann für die liberale Öffentlichkeit unübersehbar zu sein: »Europa steht wieder am Anfange eines mit großen staatlichen Umgestaltungen schwangeren, für Millionen Mitlebender und viele Generationen Nachfolgender verhängnisvollen Zeitabschnittes«, so Ende Februar die »Kölnische Zeitung«. 12 Trotz der sich schon um die Jahreswende abzeichnenden revolutionären Krise in Europa wird gerade der Ausbruch der französischen Revolution mit Überraschung zur Kenntnis genommen. Ein Flugblatt aus Worms kündet am 1. März von Ereignissen der letzten Tage, »welche wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel in die Verhältnisse Europas zündend geschlagen« sind. 13 Und in der »Vossischen Zeitung« gesteht ein Zeitgenosse, daß er seine Gedanken den plötzlichen Ereignissen kaum anzupassen vermöge. 14 Die gesamte krisenhafte Entwicklung Europas in den letzten M o naten verschwinde nun, so die »Allgemeine Zeitung« hinter dem, was in Frankreich geschehen sei: »...alles ist jetzt durch das blitzähnlich meteorartige Hervortreten der unglaublichsten und zugleich umfassendsten Erscheinung der französischen Republik vor unserm Blick wie zerstoben, und in jenem Geschichtswirbel wie in weite Ferne geschleudert.... Alle diese Ereignisse [in Schleswig-Holstein, der Schweiz und Italien] scheinen ihre selbständige Bedeutung verloren zu haben und ihre ernsteste Wichtigkeit erst jetzt, in Beziehung zu Frankreich zu erhalten. Dorthin ist jeder Blick, jeder Sinn gerichtet.«15 Überrumpelt von dem revolutionären »Ungewitter in Frankreich« seien die Regierungen in Deutschland »durch den Drang des Augenblicks« gezwungen worden, sich den Bitten und Forderungen, selbst dem Antrag auf ein deutsches Parlament zu fügen.16 Unweigerlich wird die Pariser Revolution von 1848 mit der von 1789 verglichen. 17 In den »Grenzboten« berichtet ein Korrespondent aus Paris, daß er sich bei jedem Schritt an die Zeit der ersten Revolution erinnert fühle: »man möchte mit aufgeschlagenem Geschichtsbuch durch die Straßen gehen; denn man täusche sich nicht, die Masse der Franzosen hat Nichts gelernt und Nichts vergessen ... Die Traditionen von 1790 sind der Katechismus des untern Volkes«.18 Wie 1789 und anders als 1830, als die Verfassung vor der Dynastie gerettet wurde, habe die jüngste Revolution, so die »Allgemeine Zeitung«, »einer 12 Kölnische Zeitung, Nr. 60 vom 29.2.1848. 13 In: Obermann, Flugblätter, S. 58; vgl. auch den Brief Beckeraths an Mevissen vom 27.2.1848, in: Hansen, Rheinische Briefe, Bd, 2,1, S. 469; außerdem die Zeilen Dr. Ladenburgs an Karl Mathy vom 28.2.1848, in: Mathy, S. 113. 14 Vossische Zeitung, Nr. 53 vom 3.3.1848. 15 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 69 vom 9.3.1848. 16 Ebd., Beilage zu Nr. 70 vom 10.3.1848. 17 Vgl. die Aufsätze in: Götz von Olenhusen (Hg.), in denen das Jahr 1789 als Anknüpfungspunkt für das kollektive soziale Gedächtnis vor allem in Baden und im Rheinland betont wird. 18 Die Grenzboten, 1848, Bd. 1, S. 423.

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langjährigen Politik gegolten, und mit dem König das Gesetz, die Verfassung, die Kammer gestürzt«.19 Der rheinische Liberale Peter Merkens hingegen gesteht sich entgegen seinen ersten Erwartungen ein, daß die Republik wohl einstweilen gefestigt sei, »sei der Unsinn auch noch so kolossal. Das Experimentwird seinen Kreislauf abhalten. Seit 1789 sind neue Erfahrungen gemacht worden, vielleicht ist die Neuzeit für bisher unbekannte Entwicklungen fähig und empfänglich.«20 Der Bezug zur Französischen Revolution ist wieder jederzeit abrufbar, ob nun affirmativ oder voller distanzierter Furcht. Der Hintergrund für die Frage nach der Einordnung der Pariser Ereignisse von 1848 in den Revolutionskontext und -verlauf von 1789 war zunächst die Befürchtung einer Neuauflage der Revolutionskriege. Ende Februar kündigt die »Kölnische Zeitung« trotz aller Sympathie mit Frankreich Widerstand an, falls Deutschlands Freiheit wieder mit Gewalt von außen gebracht werden solle. 21 Und während der deutschen Märzbewegung spricht es die »Kölnische Zeitung« in einem Artikel über »Krieg oder Friede« deutlich aus: »Die Nachrichten, welche uns in den letzten Tagen Schlag auf Schlag aus Frankreich zugekommen sind, haben in ganz Deutschland heillose Folgen nach sich gezogen: die Geschäfte stocken, das Zutrauen ist dahin, ein panischer Schrecken hat sich der Gemüther bemächtigt. Man glaubt am Vorabend der verhängnisvollsten Ereignisse zu stehen, und die Frage: ›Krieg oder Friede?‹ ist in aller Munde.« Die Phasen der Schreckenszeit und Revolutionskriege wurden mit den Ereignissen in Frankreich von vornherein assoziiert, aber auch die Möglichkeit eines Erfahrungsgewinns eingeräumt, welche die Jahrzehnte nach 1789 geboten hätten. Schon »die Juli-Revolution hat bereits den Beweis geliefert, daß die Schreckenszeit von 1789, welche seit einem halben Jahrhundert der Reaction ein so willkommenes, so dankbares Thema geboten hatte, nicht wiederkehren werde«. 22 Die Revolution von 1830 habe den Bruch mit ihr vollzogen. Die Ursachen für 1793 lägen 1848 nicht mehr vor. So behauptet die »Kölnische Zeitung« einige Monate später : »Es ist abermals ein 1830 über Europa eingebrochen«, das aber nicht wieder vertagt werden dürfe. 23 Der Inhalt der jetzigen europäischen Revolutionen könne nicht mit der von 1789 verglichen werden: »Die Völker alle haben, die Meisten in ihnen unmerklich und unbewußt, seitdem unendlich viel gelernt, und die, welche unseren politischen Willen uns auslegen und gesetzgebend denselben uns ›vollenden‹ wollen, sie sollen auch ein Bewußtseins haben

19 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 62 vom 2.3.1848. 20 Brief Merkens' an L. Camphausen vom 29.2.1848, in: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2,1, S. 476. 21 Kölnische Zeitung, Nr. 60 vom 29.2.1848. 22 Ebd., Nr. 67 vom 7.3.1848; vgl. auch Deutsche Zeitung, Nr. 59 vom 28.2.1848. 23 Kölnische Zeitung, Nr. 163 vom 11.6.1848.

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über die Veränderungen, die in Folge jener großen Erfahrungen in diesem Willen vor sich gegangen sind.«24

Die Revolution sei also nicht nur in Frankreich auf veränderte Bedingungen getroffen und habe andere Erwartungen als die von 1789 freigesetzt, sondern in ganz Europa. Deutschland befinde sich, so die »Allgemeine Zeitung«, in einer völlig anderen Lage als noch 1789 und habe deutliche Fortschritte in der »constitutionellen Gesinnung« gezeigt, die jetzt erst klar hervortrete und sich von jeder radikalen Gesinnung unterscheide.25 Was die Märzrevolution in Deutschland für liberale Zeitgenossen zu einem eigenständigen und notwendigen Ereignis machte, war die nationale Erfahrung einer historischen Stagnation aus der Vormärzzeit. Diese Jahre kündeten aufgrund der Krisenstimmung fortwährend von dem Beginn einer neuen Epoche, doch ohne die ersehnten Reformen oder die befürchtete Revolution gelang ihr nicht der allmähliche oder sprunghafte Einstieg in ein Fortschrittskontinuum. Nun, im Frühjahr 1848, bekam ›Zeit‹ die manifeste Dynamik, die ihr in den Jahren zuvor nur latent innewohnte. Die Revolution bot eine eruptive Entlastung von dem Zeitenstau einer polarisierten Übergangszeit: »Was lange Jahre nicht vermochten, haben wenige Stunden bewirkt. Die Reform unserer Verfassung ist durch eine ebensofriedlichealsglückliche Revolution bewerkstelligt. ... Die Schnelligkeit der Bewegung und ihres Resultats ist für viele Leute überraschend. Für uns ist sie es nicht. Die Frucht war reif, es bedurfte nur eines Windstoßes hier wie überall in Deutschland. Die französische Februarrevolution hat diesen äußeren Anstoß gegeben.«26

Hier werden verschiedene Zeiterfahrungen deutlich, die immer wieder in den Zeugnissen auftauchen. Zum einen wird eine beschleunigte Bewegung wahrgenommen, in der sich die Ereignisse in schneller Folge ablösten. Sie sei aber zum anderen nicht unerwartet gekommen, sondern stelle die Konsequenz einer langwährenden Phase der Erstarrung dar: »Das conservative System hat uns ein fürchterliches Vermächtnis hinterlassen.« Deshalb sei die überreife Frucht »in den zu ihrer Aufnahme längst vorbereiteten Schooß« gefallen. Auf diese Weise lasse sich die »ungeheure Gährung der Gemüther« erklären. Kurz: »Das conservative Unwesen hat uns in eine Revolution geworfen, nachdem alle Versuche dasselbe zu Reformen zu vermögen an der Hartnäckigkeit der verblendeten Staatslenker scheiterten.«27 So kann Varnhagen seiner Briefpartnerin er24 Ebd., Nr. 189 vom 7.7.1848; vgl. zur Unvergleichbarkeit der Revolution in Frankreich auch den Brief Camphausens an W. Lenssen, in Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2,1, S. 624. 25 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 66 vom 6.3.1848. 26 Ebd., außerordentliche Beilage zu Nr. 74 vom 14.3.1848. 27 Ebd., Beilage zu Nr. 109 vom 18.4.1848; vgl. auch das Kölner Volkswahlprogramm vom 27.4.1848, wo der sich seit vielen Jahren durchhaltende »Druck der Herrscher gegenüber den Beherrschten« verantwortlich gemacht wird fur den »Drang zur Umwälzung der bestehenden

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leichtert mitteilen: »ich freue mich jeden Tag, diese Wandlung der Dinge noch erlebt zu haben. Sie ist mir eine große Genugtuung, die uns für dreißigjährigen Druck, Verkümmerung und Schmach endlich zukommt.«28 Der rheinische Liberale Franz Wilhelm Koenigs glaubt, »daß die jüngere Generation die neue Zeit als die Morgenröthe einer besseren Zukunft betrachtet und lieber einen kleinen Sturm als das Ungewisse des früheren Zustanden erdulden« möchte.29 Eine imaginäre Reichseinheit vor Augen, bekommt das Jahr 1848 überdies die Aufgabe zugewiesen, die »Schmach« von 1648 zu tilgen und so einen zweihundertjährigen nationalen Entwicklungsstau aufzuheben: »Der Zerfall des ehrwürdigen Reiches, die tiefe Schmach und jammervolle Zerrissenheit des deutschen Vaterlandes, welche das Jahr 1648 mit seinem westfälischen Frieden‹ besiegelte, - sie soll das Jahr 1848 für immer hinwegtragen«, so ein Artikel in der »Kölnischen Zeitung« über »Des Reiches Wiedergeburt«.30 Die Befreiungskriege und das preußische Verfassungsversprechen werden dabei zum Bezugspunkt, der die Erwartungen der Vergangenheit wieder in die Erinnerung rückt.31 Der Entwicklungsstau, dessen Ursachen tief in der deutschen Vergangenheit verortet wurden, weckte eine Erwartung, die sich permanent und immer drängender auf die notwendige Anpassung an einen liberal gedeuteten Fortschrittsprozeß richtete. Der hier auftretende Widerspruch zwischen langgehegter Erwartungshaltung und weit verbreitetem ÜberraschungsefFekt beim Ausbruch der Revolution kann aufgelöst werden. Die Überraschung bezog sich auf den tatsächlichen Zeitpunkt der revolutionären Ereignisse, weniger auf die inhaltliche Seite, also daß überhaupt eine Revolution eingetreten war. So sieht ein Betrachter der Zeitläufte in der »Deutschen Vierteljahresschrift« den »Aufschwung« in Deutschland durch die Pariser Vorgänge »wohl beschleunigt, aber keineswegs hervorgerufen«. Die seit Jahren verfolgten Ziele - »Einheit, Freiheit und erhöhtes Wohlseyn« - seien der »Lebenskeim der jetzigen Bewegung; was der Augenblick hinzubringt, muß als Schaum betrachtet werden, den die brausenden Wogen aufwerfen«.32 Explizit stellt der die Zeitereignisse über Jahre Verhältnisse«, der sich nun »plötzlich mit einer unerwarteten Heftigkeit, mit einer nie geahnten Raschheit in Verfolgung seiner Ziele geäußert« habe (in: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2,2, S. 95). 28 Brief an Amely Boelte vom 1.4.1848, in: Varnhagen, Kommentare, S. 147; vgl auch Deutsche Zeitung, Nr. 64 vom 4.3.1848, wo darauf bestanden wird, »daß uns nichts Unverhofftes und Überraschendes zu Theil ward, sondern nur ein zur Ueberreife gediehenes gutes Recht«. 29 Franz Wilhelm Koenigs in einem Brief an Mevissen vom 10.3.1848, in: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2,2, S. 552. 30 Kölnische Zeitung, Nr. 84 vom 24.3.1848; vgl. auch noch ebd., Nr. 63 vom 3.3.1848; ebd., Nr. 293 vom 29.10.1848; Deutsche Vierteljahresschrift, 1848, Bd. 2, S. 341. 31 Vgl. die zahlreichen Verweise auf die Befreiungskriege und das preußische Verfassungsversprechen wie z. B. in der Kölnischen Zeitung, Nr. 90 vom 30.3.1848, in der National-Zeitung, Nr. 52 vom 24.5.1848 oder in der Allgemeinen Zeitung, Beilage zu Nr. 228 vom 15.8.1848. 32 Deutsche Vierteljahresschrift, 1848, Bd. 2, S. 341.

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hinweg aufmerksam verfolgende Varnhagen den Zusammenhang zwischen Zeitenstau und Überraschungseffekt dar: »Seit Jahren den Gang der Dinge beobachtend,... sah ich längst voraus, was kommen mußte, ich sagte und schrieb auch vielfältig, aber ich dachte nicht, daß ich die Erfüllung noch selber schauen würde, bei dem trägen Gang aller Sachen, bei dem nach allen Seiten stattfindenden Hinschleppen und Verkümmern kont' ich den Ausbruch nur in dunkler Zukunft ahnen. Nicht der Inhalt, wohl aber die Stunde der Ereignisse in Frankreich hat mich überrascht, ebenso die Nachwirkung in Deutschland, und als diese schon eiliger vorschritt, gleichwohl noch die Plötzlichkeit des Umschwungs in Wien, in Berlin.«33 Eine auf die Zukunft hin gespannte Erwartung konnte den Zeitpunkt ihrer Einlösung nicht genau vorwegnehmen, denn sonst wäre sie keine Erwartung mehr. Jede inhaltliche Erwartungshaltung mußte deshalb letztlich in einen zeitpunktbezogenen Überraschungseffekt münden. 34 Bekommt der Revolutionsausbruch eine Entlastungsfunktion für die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte währende Reformblockade zugewiesen, dann erhält er eine überdimensionale Relevanz in der Geschichte. Varnhagen bringt es auf die kurze Formel: »Diese Eine Nacht ist ein Kapitel der Weltgeschichte, das schwerer wiegen dürfte als manches Jahrzehnt.« 35 Noch Wochen später hebt Brockhaus auf die Wichtigkeit der Gegenwart ab, denn »hier und dort sind Erscheinungen hervorgetreten, die in gewöhnlichen Zeiten, träten sie vereinzelt auf, monatelang die Federn in Bewegung setzen würden, von denen man aber jetzt kaum spricht«.36 Und rückblickend bemüht sich die »Kölnische Zeitung« vergeblich, in der Geschichte einen Zeitraum zu finden, »der in so wenig Tagen so zahlreiche und mächtige Begebenheiten umfaßte, als die drei verflossenen Monate«. 37 Was dem revolutionären Augenblick eine solche Bedeutungsschwere zumaß, war der jetzt greifbare Aufbruch in eine neue Zeit, welche die anachronistische Vergangenheit, die bis 1848 immer noch die Gegenwart bestimmte, hinter sich ließ: »Die Zeiten, diese trüben, unheilvollen Zeiten«, an denen sich jeder Fortschritt gebrochen habe, »in einem großen Theile Deutschlands gehören sie der Vergangenheit an«.38 Eine paradiesische Zukunft scheint in den enthusiastischen Märzwochen präsent zu sein:

33 Brief an Ignaz Paul Vital Troxler, in: Varnhagen, Kommentare, S. 150 f. 34 Vgl. hierzu auch Neue Jahrbücher der Geschichte und Politik, 1848, Bd. 2, S. 193. 35 Artikel in Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 85 vom 25.3.1848. 36 Brockhaus am 16.4.1848, in: Brockhaus, Tagebücher, Bd. 2, S. 183; vgl. auch ebd., S. 173 f. 37 Kölnische Zeitung, Nr.110vom 19.4.1848; vgl. auch den Brief Karl Mathys an seine Frau vom 3.3.1848, in: Mathy, S. 116. 38 Kölnische Zeitung, Nr. 71 vom 11.3.1848.

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»Der Hauch der Freiheit hat... eine neue Welt geschaffen aus dem Chaos der ZwitterVerhältnisse, welche sich aus baufälligen Überlieferungen und modernen Ideen in Europa gestaltet hatten. Mächtig regt sich in uns allen das Gefühl, daß wir Bürger dieser neuen Welt sind. Eine Zukunft breitet sich vor uns aus, schön wie ein irdisches Eden, und diesmal wird sie uns nicht wieder entrissen werden.« 39

Nun sei eine Zeit des zwischenstaatlichen und sozialen Friedens angebrochen, der sich auf Dauer auch Rußland nicht entziehen könne. Die still gehegten Jugendträume »einer anderen Zeit« der »Freiheit und der Thaten« seien nun Wirklichkeit geworden: »Welch ein Schauspiel, das unsere Tage bieten! Wir dürfen Abschied nehmen von der Vergangenheit, denn eine neue Zeit beginnt zu tagen, eine neue Ära bricht in der Weltgeschichte an.« Trotz des gärenden »Chaos« und zahlreicher ungelöster Fragen über die Zukunft sei eines gewiß: »unwiederbringlich ist das alte Regiment dahin, kein Pfad führt mehr zu ihm zurück, keine Reaction kann mehr die junge Freiheit ertödten«.40 Erst 1848 habe das Mittelalter sein Ende gefunden.41 Die Brucherfahrung innerhalb einer Revolution, die jeden Rückweg in die Vergangenheit zu verbauen schien, bedeutete nun kein Auseinanderdriften von Zeiterfahrung und Zeiterwartung oder nur in dem Sinne, daß die Erfahrungen der Vormärzzeit mit einem Mal der Vergangenheit angehörten und sich nun eine neue Zukunft eröffnete. Aber gerade in den Revolutionserfahrungen von 1848 wurde von den Zeitgenossen deutlich erkannt, daß diese Zukunft eine längst erwartete und dank dieser neu gemachten Erfahrungen auch zum Greifen nahe war. Nach einer Epoche der versäumten Modernisierung konnten jetzt die Erwartungen an eine Revolution als sprunghaften Wiedereinstieg in ein Fortschrittskontinuum eingelöst werden. ›Revolution‹ bot die Möglichkeit der Rückwälzung bzw. des Rückbezugs gegenwärtiger Erfahrungen aufvergangene konstitutionelle und nationalstaatliche Erwartungen, ohne aber deshalb einem Fortschritt entsagen zu müssen.42 Deshalb wurden die Revolution und die aus ihr hervorgegangenen Institutionen auch als Faktum anerkannt, wie die meisten liberalen Stimmen hervorheben. Die Debatte um die Anerkennung der Revolution in der preußischen Nationalversammlung vorwegnehmend, betont die »National-Zeitung« schon wenige Tage nach ihrem ersten Erscheinen unmißverständlich: 39 Ebd., Nr. 84 vom 24.3.1848. 40 Ebd., Nr. 86 vom 26.3.1848. 41 Ebd., Nr. 126 vom 5.5.1848. Diese Brucherfahrung, bisweilen vermischt mit Skepsis gegenüber den konkreten Inhalten einer neuen Zeit, findet sich in allen liberalen Blättern in ähnlichen Wendungen immer wieder (vgl. z. B. Deutsche Zeitung, Nr. 84 vom 24.3.1848; Vossische Zeitung, Nr. 97 vom 26.4.1848; National-Zeitung, Nr. 48 vom 20.5.1848; Kölnische Zeitung, Nr. 195 vom 13.7.1848; den Artikel von Diesterweg »Was fordert die Zeit?«, in: Diesterweg, S. 358 f.). 42 Vgl. hingegen Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 366 ff: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont ließen sich seit dem 18. Jahrhundert immer weniger zur Deckung bringen und gerade diese zunehmende Differenz bringe historische Zeit und Fortschritt auf den Begriff.

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»... wir haben eine Revolution gehabt! ... Eine Revolution ist kein rechtlicher Zustand: das ist zugestanden und es braucht keine Worte darüber. Es giebt aber ein Recht der Geschichte, das höher ist, als die Syllogismen der Juristen und es giebt ein Gesetz der Entwicklung, welches tiefer begründet ist, als die Paragraphen eines geschriebenen Gesetzes.«43 Auch nach dem Sturm auf das Berliner Zeughaus als Reaktion auf die Ablehnung des Antrags Julius Berends' auf Anerkennung der Revolution bleibt das Blatt bei seiner Auffassung, daß die Revolution der Zustand sei, »in welchem wir uns befinden und der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach noch einige Zeit befinden werden«. Deshalb sei es eine »vollkommen überflüssige, wenn auch gerechte Forderung, die Anerkennung der Revolution zu verlangen«. 44 Auch die behäbige »Vossische Zeitung« fragt sich Ende Mai verwundert: »Warum die Revolution leugnen? Sind nicht alle wesentlichen Eigenschaften einer solchen vorhanden?« - wie z. B. der gewaltsame Umsturz des bisherigen Regierungssystems. 45 Selbst wenn Liberale weiterhin keine Anhänger einer Revolution sein können, da die Gefahr einer destruktiven, gesetzlosen und unbeherrschbaren Bewegung ihr inhärent bleibe und sie letztlich das »Gegentheil der Freiheit« sei, müssen sie anerkennen, »daß unfreie Gewalt nöthigen Falls mit Gewalt zu vertreiben ist, daß oftmals die Revolution der Freiheit erst den Weg bahnen mußte«.46 Wenn hemmende »Mächte die Vorschritte unmöglich machen, wenn dann das Gefühl sich Aller unwiderstehlich bemächtigt daß diesen Hemmungen ein Ende gemacht werden müsse« und sich alle zu einer gemeinsamen Aktion bereit finden, dann sei dies eine unumgängliche Revolution - »da reicht die rechtliche Beurtheilung nicht mehr hin, da tritt die politische, die historische ein«.47 Die Revolution habe quasi den ungesetzlichen Auftakt und Freibrief für liberale Umgestaltungen der Verfassung und der Nationalstaatsordnung gegeben, um uns »fortgesetzte Krisen« zu ersparen. 48 Obwohl sie sich immer wieder als »treuen Vertreter des Rechtsbodens« versteht, sieht sich die »Kölnische Zeitung« durch das Mittel der Revolution berechtigt, sich offen zu ihren »radikalen« Zielen zu bekennen, »weil eine große Zeit große Prinzipien fordert; weil es lächerlich ist, am Morgen nach einer Revolution, nachdem die Geschichte in einem Sprunge ein halbes Jahrhundert gehemmter Entwicklungen nachgeholt hat, nach dem abgerissenen Faden von gestern 43 National-Zeitung, Nr. 9 vom 9.4.1848. 44 Ebd., Nr. 74 vom 17.6.1848. Noch einmal wird in der National-Zeitung am 29.8.1848 die Revolution anerkannt, jedoch jetzt ihre Permanenz als abträglich für die Erringung der Freiheit beurteilt (vgl. dazu noch weiter unten in diesem Kapitel). 45 Vossische Zeitung, Nr. 125 vom 31.5.1848. 46 Kölnische Zeitung, Nr. 161 vom 9.6.1848. 47 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 195 vom 13.7.1848. 48 Deutsche Zeitung, Nr. 142 vom 22.5.1848.

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ängstlich die Hände auszustrecken, um an ihm den ›gemäßigten Fortschritt‹weiter zu spinnen; weil wir bezüglich des Zieles immer radical gewesen sind und uns das wahre constitutionelle System für Deutschland nie ohne jenes allgemeine Stimmrecht... gedacht haben.«49

Was jedoch zunehmend auch zu Irritationen führte, war die Erfahrung einer permanenten Revolution, die sich schon im März angesichts der zunehmenden sozialen Proteste ankündigte und die Eigentumsverhältnisse auf den Kopf zu stellen drohte.50 Koenigs beklagt sich in einem Brief an Mevissen über die sich täglich steigernden Forderungen, denen die Regierungen bald nicht mehr gewachsen seien. Neben dem Stocken von »Handel und Wandel« bereite ihm die »aufgeregte Stimmung der Proletarier« die größten Sorgen.51 Wenige Tage später vertraut Brockhaus seinem Tagebuch an: »Nun sollte man meinen, die Revolution habe ihren Weg vollendet durch Deutschland; aber die untersten Schichten der Gesellschaft sind zu sehr aufgewühlt worden und von da droht der guten Sache der Freiheit die größte Gefahr!«52 Zumal der badische Aprilaufstand rief Befürchtungen einer nicht mehr abreißenden Krise hervor: »Die materielle Krisis, der Stillstand alles Verkehrs und aller Geschäfte, die Auflösung der Gesetze und Ordnung in einem Teil des Landes, die Erschütterung derselben auch da, wo der Aufruhr keinen Anklang fand, sind die ersten Segnungen der Freiheit, die eine Minorität mit den Waffen in der Hand der Mehrheit aufzutrotzen sucht. Aber die Wirkungen gehen weiter; in ganz Deutschland haben die Dinge im Seekreis einen Eindruck gemacht, auf den die Urheber schwerlich gefaßt sein mochten«. 53

Wenn wir doch, so Varnhagen, »zu einer Revolution gelangen müssen, so wäre es ein Unglück, sie nicht gleich anfangs ergriffen« und damit der revolutionären Bewegung ein Ende bereitet zu haben.54 Die liberale Anerkennung einer Revolution bedeutete also nicht auch ihren Abschluß. Vor allem die wahrgenommene Zeitbeschleunigung ließ keine Prognosen über ein baldiges Ende der Revolutionsbewegung zu, ja diese verhinderte gerade eine ruhige Reflexion über ihre Resultate, die nicht mehr festzuhalten waren: »Die Ereignisse drängen sich so schnell, daß man kaum Zeit hat, sie aufzuzeichnen.«55 Keiner ruhigen Betrachtung mehr fähig, sei es fast unmöglich, so die »Allgemeine Zeitung«, »jedes Ereigniß für sich rein und scharf zu sehen und 49 Kölnische Zeitung, Nr. 92 vom 1.4.1848. 50 Zur Protestforschung vgl. den Band von Volkmann u. Bergmann, insbesondere den Aufsatz von Gailus, S. 76-106; ders., Straße und Brot; zum Forschungsstand vgl. Langewiesche, Revolution und vorrevolutionäre Gesellschaft, Teil, 2, S. 406-411. 51 Brief Koenigs an Mevissen vom 9.3.1848, in: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2,1, S. 544 f. 52 Brockhaus am 19720.3.1848, in: Brockhaus, Tagebücher, Bd. 2, S. 174 f. 53 Deutsche Zeitung, Nr. 114 vom 23.4.1848; vgl. auch ebd., Nr. 82 vom 22.3.1848; Kölnische Zeitung, Nr. 118 vom 27.4.1848. 54 Varnhagen, Werke, Bd. 5, S. 443; vgl. auch ders., Tageblätter, Bd. 5, S. 159. 55 Dr. Ladenburg an Karl Mathy vom 28.2.1848, in: Mathy, S. 112.

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in seiner Bedeutung und Wirkung zu veranschlagen«. 56 »Die neue Zeit in Deutschland«, so der Titel eines Artikels, überstürze sich fast; daher sei es nötig, »den Kopf aufrecht zu erhalten, um nicht im Wirrwarr die Besinnung zu verlieren«. 57 Bedenken gegenüber der »ganz neue[n] Eile« meldet die »Kölnische Zeitung« in einem Kommentar über »Die Bewegungen in Deutschland« an, nämlich daß die notwendigen Reformen und »reichlichen Zugeständnisse meist so rasch erlangt wurden«. Diese vermeintliche Akzeleration der Zeit angesichts einer kaum noch begreifbaren Ereignisdichte drohte das Zeitverständnis zu überfordern, da es die Auffassung kontinuierlicher Zeitstrukturen zu sprengen schien. Aufgrund der Gedrängtheit der »folgenschwersten Ereignisse wilder Hast« verschwinde jetzt die Vergangenheit, »ehe wir uns ihre volle Bedeutung zum Bewußtsein gebracht haben, und die anfänglich weitaussehende Zukunft steht vor uns, ehe wir uns zu ihrem Empfange vorbereitet haben«. 58 Die beschleunigte Gegenwart zieht also die Zukunft beängstigend an sich heran und stößt die jüngste Vergangenheit immer wieder ab. Der Drang der Zeit bekommt mitunter dämonischen Charakter, wenn es in der »Allgemeinen Zeitung« heißt: »Vorwärts! So lautet der Name eines gebannten Dämons, der lange Jahre im Zauberschlafe lag. Vergebens bemühte man sich mit Druckerschwärze den Zauber zu lösen, die Formel ihn zu erwecken schien nicht gefunden. Unterdessen war unvermerkt die Stunde gekommen und der bekannte Dämon erhob sich aus den todten Buchstaben mit leiblicher Gestalt, aber er wuchs so schnell und riesenhaft an vor aller Augen daß die Besonnensten Furcht bekamen als sie sahen wie er die Welt hinter sich spanne, und gleich einer Locomotive mit ihr dahin rase. Halt! halt! Vergebens jeder Ruf! Er rast dahin bis er an sein Ziel gelangt. Wollen wir ihn aufhalten? Nein! Wir können nur die Steuerung geben, daß wir nicht über die nächste Brüstung stürzen ... Alles Ausmaß der Zeit und des Raumes ist geändert. In unsern tropischen Tagen ist Wachsen, Blühn und Verblühn das Werk weniger Stunden. Man altert entsetzlich schnell, und die noch vor kurzem zu weitest vorangekämpft, stehen im nächsten Augenblick im Hintertreffen und sind im übernächsten als müde und invalide Kämpfer bei Seite geschafft.«59 In dieser krankhaften Zeitkrise bleibe die Zukunft letztlich undurchdringlich und nicht mehr gestaltbar. Auch zur Außenpolitik heißt es in der »Deutschen Zeitung«: »es stürzt sich das Ganze, das Bessere wissend dem Schlimmeren unaufhaltsam zu. Das ist die Natur der Zeiten, wo nicht mehr die Besinnung

56 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 110 vom 19.4.1848. 57 Ebd., Beilage zu Nr. 74 vom 14.3.1848. 58 Ebd., Nr. 90 vom 30.3.1848. 59 Ebd., Nr. 184 vom 2.7.1848; vgl. auch National-Zeitung, Nr. 39 vom 11.5.1848, wo es heißt: » Wir sind versumpften Zuständen entsprungen und wer wäre jetzt nicht liberal? Es giebt keinen, der nicht ein neuer Mensch geworden wäre ... Was vor Wochen noch radikal zum Entsetzen hieß, was Grauen und Herzklopfen erregte, ist jetzt unausstehlich konservativ«.

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den Staat steuert, sondern wo er dem Spiel des Zufalls und der Ereignisse und den Stürmen der Leidenschaft überlassen ist.«60 Schon bald nach Ausbruch der Revolutionen in Deutschland wurde somit auch vielen Zeitgenossen bewußt, daß die plötzliche und permanente Dynamik in der politischen und sozialen Entwicklung keine Sicherheit mehr für einen Bruch mit der Vergangenheit zuließ, sondern sich die Unsicherheit und Flüchtigkeit der Vormärzzeit konzentriert fortsetzten. Selbst ein Artikel in der »Kölnischen Zeitung«, der den Anfang einer neuen Zeit emphatisch betont, muß gestehen: »Noch aber schwimmen wir unsicher auf dem hohen Meere, noch ist Deutschland ein gährendes Chaos, noch entscheiden tausend ungelöste Fragen über seine Zukunft.« 61 Die revolutionären Märzereignisse treiben die Widersprüche einer Übergangszeit unweigerlich auf die Spitze, ohne sie in einer nationalen und konstitutionellen Einheit auflösen zu können: »Die Erschütterungen welche Deutschland in den letzten 14 Tagen erfahren hat, müssen nothwendig die schneidendsten Gegensätze hervorrufen« und den Wunsch verstärken, »den alten Stand der Dinge zurückzuführen,... denn zu schroff war der Uebergang, zu ungewiß und sturmverkündend ist die Zukunft«. 62 Im weiteren Verlaufe der unruhigen Entwicklung im März und April 63 wird die Mitnahme des Ballastes einer vermeintlich abgelegten Vergangenheit in die Zukunft hinein zur Gewißheit: »Wir wissen, daß eine neue Zeit sich nicht Bahn brechen kann, ohne einen mehr oder minder heftigen Kampf gegen die hinsterbende, alte, und halten es für völlig gerechtfertigt, wenn diese überall ... ihre letzten Kräfte anstrengt und ihrem Widersacher den Boden streitig macht. Vergessen wir dabei nicht, daß unsere junge Freiheit keine Zeit hatte sich organisch durch eine fortgesetzte Reihe von errungenen Fortschritten zu befestigen um im Bewußtsein der Nation ihren Platz einzunehmen, sondern, daß durch einen plötzlichen, überraschenden Anlauf, ein System gestürzt wurde, daß mit so vielen engverschlungenen Fäden ein Netz bildet, gegen welches seit 33 Jahren unzählige vergebliche Versuche gemacht wurden, es zu zerreißen.«64 Und auch Varnhagen ist sich darüber im klaren, daß »mit dem 18. März das alte Regierungswesen nicht aufgehört hat, sondern noch mächtiger andauert«. Es habe nichts Neues begonnen und es sei nichts Altes abgeschlossen worden, sondern es habe nur einen »gewaltigen Ruck« gegeben, der im Moment die 60 Deutsche Zeitung, Nr. 174 vom 24.6.1848; vgl. auch ebd., Nr. 122 vom 2.5.1848. Der vorherrschende »blinde Zufall« der Entwicklung, der sich durch die vielen Revolutionszentren in Deutschland noch potenzierte, wird beschrieben in ebd., Nr. 183 vom 3.7.1848. 61 Kölnische Zeitung, Nr. 86 vom 26.3.1848. 62 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 80 vom 20.3.1848; vgl. auch Varnhagen in einem Brief an eine Freundin Mitte Mai, wo er von großer Verwirrung und der Unsicherheit einer siegreichen Revolution spricht, deren Erfolg von dem Widerstand abhänge, den sie vorfinde (Varnhagen, Briefe, S. 98 f.). 63 Vgl. die Protestkurven bei Gailus, Soziale Protestbewegung, S. 87 ff. 64 National-Zeitung, Nr. 48 vom 20.5.1848.

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Zukunft ins Licht und das Alte in den Schatten stelle.65 Rückblickend werden in einem »Aufruf des Bürgervereins«, abgedruckt Ende Juni in der »Kölnischen Zeitung«, die Erwartungen an die Märzrevolution beschrieben, welche »die Morgenröthe einer besseren Zeit« versprochen habe. Aber bald habe sich die Unsicherheit auf dem »erschütterten Boden« offenbart, denn »noch lastet ein unheilvoller Uebergangszustand drückend auf dem deutschen Vaterlande. Eine mehr als dreißigjährige Hemmung der freien Entwicklung straft sich furchtbar, die Kämpfe, unter denen die junge Freiheit geboren wurde, dauern fort und drohen sie zu ersticken«. Gerade im Kampf gegen »die Herrschaft anarchischer Willkür« müsse dem Rückschritt jeder Vorwand genommen werden.66 Die sozialen Unruhen auf dem Land und in den Städten und die radikaldemokratische Aprilrevolution ließen also das Erbe der Vormärzzeit, ihre unauflöslichen Gegensätze, konzentriert weiterwirken und verhinderten einen eindeutigen Aufbruch in eine neue Zeit.67 Die konstitutionellen und nationalstaatlichen Hoffnungen wurden angesichts der beunruhigenden Revolutionserfahrungen wieder verschoben. Damit standen sich zwei Zeiterfahrungen innerhalb der liberalen Strömungen gegenüber, die quer durch die Publikationsorgane gingen. Auf der einen Seite kündete die verdichtet auftretende Ereignisfülle von einem Bruch mit der Vormärzzeit, der in eine lang erwartete liberale Zukunft führen sollte. Auf der anderen Seite zeugte die Erfahrung einer nicht enden wollenden Beschleunigung und einer permanenten Revolution von Widersprüchen und Gegensätzen, die gerade wieder an die vierziger Jahre anknüpften und die kontrollierte Entwicklung zu einem neuen Zeitabschnitt hemmten. Statt eines Epochenbruchs bedeutete die Revolution wieder eine Übergangszeit, wurde zur Zäsur in statu nascendi. Deshalb machte sich schon früh ein Zeitdruck bemerkbar, da der Beginn einer neuen Zeit zwar gegenwärtig war, dieser aber in der beschleunigten Entwicklung auch verlustig zu gehen drohte. Immer wieder kam die Furcht zum Ausdruck, den Augenblick nicht schnell genug zu nutzen und der Entwicklung hinterherzuhinken. Ungeduldig beklagt sich Hansemann in einer Adresse an den preußischen König, daß die Berufung des Allgemeinen Landtages erst in sechs Wochen stattfinden solle, »während die Zeit drängt und die Tage jetzt wie viele Jahre in der Zeitgeschichte wiegen«. Eine späte Einberufung des Landtages würde jeden Einfluß auf die deutschen Angelegenheiten aus der 65 Varnhagen, Tageblätter, Bd. 5, S. 56. 66 Kölnische Zeitung, Nr. 177 vom 25.6.1848. 67 Vgl. hierzu auch den Aufsatz »Ueber politische Parteien der Gegenwart« eines Anonymus, der bei Ausbruch der Märzrevolution in den Lübecker Blättern erschien und wenig später separat gedruckt wurde. Hier werden die schroffen Gegensätze in der politischen Landschaft zwischen Beharrung und Bewegung beschrieben: Stabilität und Radikalismus, Konservativismus und Liberalismus, Staatsstreich und Revolution, Aristokratie und Demokratie etc. Eine »rechte Mitte« sei illusionär da man keinen »festen Halt« auf ihr zu finden vermöge und in »ein stetes Schwanken nach vor- und rückwärts« gerate (Anonymus, Politische Parteien, S. 7).

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Hand geben.68 Varnhagen empört sich Mitte April: »Es ist unglaublich, wie lahm alles geht, in einer Zeit, wo es eine sachte Umschaffunggilt, eine Erneuerung fast aller Behörden.«69 Zunehmend wird der resignative und mahnende Ruf des »trop tard« bemüht, um auf die Diskrepanz von Zeitbeschleunigung bzw. Ereignisfülle und Langsamkeit der konstitutionellen und nationalstaatlichen Entwicklung hinzuweisen.70 Und in der »Kölnischen Zeitung« reflektiert eine Zeitgenosse darüber, »wie beflügelt die Materie ist und wie langsam die Gedanken reisen! Die Welten schwingen sich mit einer rasenden Schnelligkeit, die uns schwindeln macht, durch den Raum... Aber die Ideen wandern wie die Schnecken durch die Zeit«.71 Für liberale Zeitgenossen war es also problematisch, sich die transpersonale Zeitbeschleunigung zunutze zu machen und sie in ihrem Sinne weiterzutreiben. Sie wähnten sich quasi im Auge des Zeitensturms, in dem sie eine seltsame Abwesenheit von historischer Zeit verspürten. Obwohl Brockhaus bei der Beobachtung des Tagesgeschehens sich überall und »unaufhörlich das Außerordentlichste« ereignen sieht, vermerkt er für sich im Augenblick einen »Stillstand in der allgemeinen Gärung eingetreten«, was »aber einen tiefer Blickenden nicht zu täuschen vermag«, denn alles sei aufgewühlt und aufgerüttelt.72 Auf der einen Seite überschlug sich also die Entwicklung; auf der anderen bestand die Gefahr, daß Liberale ihr nicht mehr nachkamen und so den Zug der Zeit verpaßten. Gerade die wahrgenommene Dynamik erzeugte einen unerträglichen Zeitdruck und drohte den Menschen von ihr auszuschließen, wenn nämlich die Übermacht der Zeit keine Handlungsoptionen mehr offerierte. Diese Gefahr, der Entwicklung nicht mehr nachzukommen, erzeugte wiederum einen Handlungsdruck. Die »Deutsche Zeitung« appellierte schon Anfang März an den Leser: »Wir leben in Zeiten, wo die Geschichte außerordentlich rasch ihre Wege macht, den Worten müssen die Thaten auf der Ferse nachfolgen, wenn die Worte Werth behalten sollten.« Nicht allein im Rahmen von Revolutionen, sondern »auch in friedlichen Reformen gibt es Momente, wo jenes verhängnisvolle c'est trop tard... einen tiefen Sinn erhält«.73 Jetzt, wo die Politik »den allmächtigen Scepter der Alleinherrschaft über alle Geister und Gestalten« schwingt,74 sei die »Zeit der Maßregeln« vorbei, statt dessen lebe man wie in den Freiheitskriegen wieder in der »Zeit der Thaten«, auf die es 68 In: Hansen, Rheinische Briefe, Bd. 2,1, S. 581. 69 Varnhagen, Tageblätter, Bd. 4, S. 383; vgl. auch ders., Kommentare, S. 171 f. 70 Vgl. dazu auch den Anonymus, der mit dem Ausbruch der Revolution schon das »zu spät« für einen politischen und gesellschaftlichen Ausgleich eingetreten sieht (Anonymus, Politische Parteien, S. 3 f., 21 f.). 71 Kölnische Zeitung, Nr. 126 vom 5.5.1848; vgl. auch Deutsche Zeitung, Nr. 148 vom 28.5.1848. 72 Brockhaus am 11.8.1848, in: Brockhaus, Tagebücher, Bd. 2, S. 203. 73 Deutsche Zeitung, Nr. 64 vom 4.3.1848. 74 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 167 vom 15.6.1848.

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mäßigend zu wirken gelte. 75 In einem Artikel über »Die Bundesverfassung« leitet die »Deutsche Zeitung« gerade aus der transitorischen revolutionären Gegenwart die Forderung ab, sich der Geschichte wieder zu bemächtigen und eine starke Verfassung zu schaffen: »je wankender die Ordnung in Deutschland ist, j e schrecklicher sich plötzlich der Horizont verdunkelt hat, j e wankender die Throne stehen, desto einträchtiger eile man, einen mächtigen und starken Mittelpunkt zu schaffen, der das Ganze zusammenhält.« 76 Statt sich einem »geistesüberlegenen, dämonischen Retter« anzuvertrauen, der Frankreich aus der Zerrüttung gerettet habe, solle man in Deutschland vielmehr »Einrichtungen und Verfassungswerke« schaffen, um sich damit den revolutionären Druck produktiv anzueignen und ihn rechtlich zu kanalisieren. Die von der permanenten politischen und sozialen Revolutionsbewegung hervorgerufenen Erfahrungen zusammenbrechender und entgleitender Zeitstrukturen, die den Zeitgenossen zur Kontemplation aus einer Blase der Zeitlosigkeit heraus degradierten, diese Erfahrungen einer potenzierten Übergangszeit in einer akuten Revolutionssituation ließ Liberale auf Reformen zurückgreifen; denn allein sie schienen dem Zeit- und Handlungsdruck der Revolution begegnen zu können. Reformen wurden zur Aufgabe und »dringenden Forderung der Neuzeit« stilisiert, nachdem die Revolution den Bruch mit der Vormärzzeit initiiert habe. 77 Die Aufgabe der Fürsten sei es, so ein aufschlußreicher Artikel in der »Allgemeinen Zeitung« über »Reaction, Revolution, Mitte«, die »Zeit welche die Vorsehung über uns heraufgefuhrt hat zu begreifen« und »in der constitutionell-monarchischen Regierungsform Deutschlands wahres Heil« zu sehen. 78 Zunächst erläutert der Verfasser, daß eine Revolution gerechtfertigt sei, wenn jeder Fortschritt von hemmenden Mächten unmöglich gemacht werde und sich dagegen im gesamten Volk Widerstand formiere. Man sage jetzt, daß wir »in eine Phase der Bewegung eingerückt seyen, die eine neue Zeit zu ihrem Ziele hat«. Doch die Revolution habe dazu nur den Auftakt geben können: »Eine Revolution hat sich begeben, damit die Reformen möglich würden; und mit ihrem Erscheinen fielen jene Hemmnisse in den einzelnen Staaten, und [in] Deutschland, auf und ab, hörte man das Ja auf alle Fragen, die seit dreißigjahren mit hartnäckigem Nein beantwortet waren.... Die Revolution ist ein Uebergangvon einem Zustand zu dem andern, sie hat keinen Sinn als permanenter Zustand, ihre Früchte bleiben, sie selbst tritt zurück. Das ist's was ich als die Mitte bezeichne«. 75 Ebd., Beilage zu Nr. 111 vom 20.4.1848; vgl. auch Vossische Zeitung, Nr. 125 vom 31.5.1848; vgl. auch das Flugblatt »An Dresdens Bewohner« vom Dresdener Vaterlands-Verein vom 15.4.1848, in: Obermann, Flugblätter, S. 141; außerdem den Aufruf zu »reger Thatkraft« in der Kölnischen Zeitung, Nr. 177 vom 25.6.1848. 76 Deutsche Zeitung, Nr. 90 vom 30.3.1848. 77 Erklärung Dresdener Bürger, in: Obermann, Flugblätter, S. 71. 78 Auch im folgenden Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 195 vom 13.7.1848.

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Die Position der Mitte, auf die sich Liberale immer wieder beriefen, reklamierte die durch die Revolution einlösbaren konstitutionellen und nationalstaatlichen Hoffnungen für sich. Sie lasse sich nur noch behaupten, wenn man im Revolutionsprozeß dezidiert Stellung beziehe für »die Rückkehr der Ruhe und Ordnung, die friedliche Angleichung der verschiedenen sich bekämpfenden Gegensätze, und das Niederhalten der beiden äußersten Parteien, von denen nur Schaden für sich wie für das Gesamtwohl« zu erwarten sei.79 Gerade weil die politischen und sozialen Gegensätze mit der Revolution nun auf die Spitze getrieben würden, gelte es, die liberale Mittelposition gegen die Extreme zu vertreten, wenn Friedrich von Raumer gegenüber den »Sturmschreiter[n]« und den zu »Salzsäulen gewordenen Maulwürfe[n] und Faulthiere[n]« seine These von »dem belebenden Herzschlage der rechten Mitte« vertritt: »Man kann so wenig einen Staat, als sich selbst plötzlich ganz neu machen. Es muß dem Veränderten etwas Beharrliches zu Grunde liegen, und das Beharrliche kann ... von dem Verändern nicht ganz unberührt bleiben.«80 Als sich der revolutionäre Übergang beschleunigt perpetuierte, also gerade nicht zugunsten von Reformen zurücktrat und dabei Zeit nicht mehr gestaltbar wurde, drohten die Früchte einer Revolution verlorenzugehen. Da die revolutionäre Bedrohung auch nach der Konstituierung der Nationalversammlung für Liberale präsent blieb (Rückkehr des preußischen Prinzen nach Berlin und Zeughaussturm, Barrikadenkämpfe in Wien und Paris, Aufstand in Prag oder die blutigen Zusammenstöße zwischen Garnison und Bürgerwehr in Schweidnitz),81 bezogen sie ihre Position zunehmend aus dem Gegensatz zur Revolution. Sich als Mitte verstehend, polarisierten sie vielmehr, indem sie begannen, Reformen der Revolution gegenüberzustellen; dabei erwarteten sie von letzterer auf Dauer nur eine Wiedergeburt der überwunden geglaubten Widersprüche zwischen vergangenheits- und zukunftsorientierten Kräften aus der Vormärzzeit.82 Schon zu Beginn der Märzrevolution wird in der »Deutschen Zeitung« die bevorzugte Reformbewegung in Deutschland von der Revolution in Frankreich unterschieden.83 In den Wochen und Monaten darauf verlagert sich dieser Gegensatz nach Deutschland hinein. Nach dem badischen Aprilaufstand und mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung stellt ein Artikel in der »Allgemeinen Zeitung« die Frage: »Revolution oder Reform?«. Der fortwährende Revolutionszustand wird zwar anerkannt, aber nur, um ihn mittels 79 National-Zeitung, Nr 48 vom 20.5.1848. 80 Raumen S. 220 f. 81 Zu den sozialen und politischen Protesten im »langen Revolutionsalltag« vgl. Gailus, Soziale Protestbewegung, S. 97 ff. 82 Schon Neumüller stellt den grundsätzlichen Widerspruch in der liberalen Revolutionsauffassung fest, daß nämlich eine »Reform-Revolution« der Mitte, die gemäßigt und bestimmt in der Revolution auftrete, nicht bestehen könne und letztlich zerrieben werden müsse (Neumüller; S. 289), 83 Deutsche Zeitung, Nr. 69 vom 9.3.1848.

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Reformen zu beenden.84 Läßt sich hier schon anstelle einer Folgebeziehungen ein Gegensatz erkennen, nämlich dann, wenn sich die Revolution mit den von ihr in Gang gesetzten Reformen zu überlagern droht, so wird dieser offensichtlich, wenn es in der »Deutschen Zeitung« heißt: »Wir kämpfen in Deutschland den großen Kampf der Reform mit der Revolution. Unsere erste und schönste Hoffnung, daß wir ohne inneres Blutvergießen der Wiedergeburt unseres Staates zusehen könnten, ist nicht in Erfüllung gegangen. Die Revolution hat da und dort ihr Haupt erhoben, aber sie ist unterdrückt worden; die allgemeine Meinung hat sie verurtheilt. Dies soll uns, die wir auf der Seite der Reform stehen, nicht sanguinisch machen. ... Die Reform wird also ihre ganze Kraft und Meisterschaft zu erproben haben, wenn sie die Revolution auf Dauer niederhalten will.«85 Die »permanente Reform« gilt der »Kölnischen Zeitung« als das »echte constitutionelle System«, das von einer Revolution nicht zu erwarten sei.86 Werde eine »constituierte freie Reform« geschaffen, »dann wird sich die Sphinx der Revolution in den Abgrund stürzen«.87 Die Vormärzerfahrung einer Revolution als sprunghafter Wiedereinstieg in ein evolutionäres Fortschrittskontinuum, das anschließend durch Reformen gesichert werden sollte, diese beiden sukzessiven Schritte einer ›Reform-Revolutiom88 überlagerten sich angesichts der widersprüchlichen liberalen Zeitwahrnehmungen schon in der Anfangsphase der Revolution. Die unübersehbare Epochenbrucherfahrung, welche die anerkannte Revolution bei liberalen Zeitgenossen evozierte, wurde quasi konterkariert durch das Bewußtsein einer beschleunigten Zeitbewegung und eines permanent erscheinenden Umbruchs, der sich menschlichem Zugriff zu entziehen drohte. Der Zeitdruck erzeugte einen Handlungsdruck: Lösten Reformen nicht mehr ›naturgesetzlich‹ eine Revolution durch ihre Verrechtlichung ab, dann mußten sie sich als ihr Widerpart formieren. Durch diesen schon in den ersten Revolutionsmonaten und vor der Septemberkrise bewußt konstruierten Gegensatz sollte der Mensch wieder an der beschleunigten Zeitbewegung teilhaben und sie gestalten, gerade weil es sie zu pazifizieren und letztlich zu eliminieren galt. Erst der Kampf einer Reformhaltung gegen die Revolution schien also Handlungsmöglichkeiten zu offerieren.

84 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 134 vom 13.5.1848. 85 Deutsche Zeitung, Nr. 140 vom 20.5.1848. In einer Leipziger Flugschrift vom 24.6.1848 wird der Nationalversammlung die Aufgabe zugewiesen, die Ziele der Revolution einzulösen, was aber nur erreicht werden könne, wenn gegen den permanenten Umbruch vorgegangen werde, da dieser selbst kein Ziel sei (in: Obermann, Flugblätter, S. 155). 86 Kölnische Zeitung, Nr. 92 vom 1.4.1848. 87 Ebd., Nr. 200 vom 18.7.1848. 88 Vgl. schon wie oben Neumüller.

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2. Die Märzrevolution ah Vorgeschichtefür eine soziale Zäsur Wie liberale sind auch demokratische Zeiterfahrungen zu Beginn des neuen Jahres nicht eindimensional und legen die Vielfalt der demokratischen Strömungen frei. Die Klage über das Ungenügen der Gegenwart findet sich in den Zeugnissen zwar durchgehend wieder, aber die Folgerungen sind jeweils unterschiedlich. Die gemäßigt-demokratische »Bremer Zeitung« bemerkt in ihrem Neujahrsartikel: »Wir wollen die Freiheit für Deutschland, aber ohne den Preis der Revolution.« Nur gesetzlicher Widerstand, nämlich »die offene Bethätigung jedes Einzelnen zum Besten des Ganzen«, könne »das Zeitalter der Revolutionen schließen, und das der wahren Herrschaft des Rechts und der Gesetze, der Freiheit und der Volkswahlen für alle Länder und Völker begründen«. Revolutionen würden nur weitere Gegenrevolutionen provozieren. 89 Hingegen fragt sich ein anonymes Flugblatt nach einem »Jahr vergeblicher Hoffnung« und schnell verfliegender Zeit, warum wir »schon sterben [sollen], die wir noch nicht gelebt« haben. Eine Revolution sei aber schon in aller Munde und deshalb: »So voran nun, du doppelverschlungenes, doppelachtiges Jahr! Vielleicht zerhaut ein Ereignis in diesem Jahr die Fesseln, die uns ins Fleisch schneiden.« 90 »Das Westphälische Dampfboot« wiederum glaubt nicht, in diesem Jahr könne ein einzelnes Ereignis »den Kampf zwischen der Freiheit und der Reaktion entscheiden-, nur in Zeiten gewaltiger Aufregung, wo die Thatkraft von Jahrzehnten in einem einzigen Moment zusammengedrängt wird, wie z. Β. in der ersten französischen Revolution, kann ein Wurf, eine kühne That, ja selbst eine das Volk mit unwiderstehlicher Gewalt fortreißende Rede die ganze Lage der Dinge, die Grundlage des Staates radikal und prinzipiell ändern. Solche Hauptschlachten werden jetzt nicht mehr oder noch nicht wieder geliefert«.91 Gesetzlicher Widerstand, um mittels Reformen ein Zeitalter fortgesetzter Krisen zu schließen, ein revolutionärer Akt, um mit einem Satz in eine bessere Epoche zu springen, und die Summierung zahlreicher kleinerer Krisenerscheinungen, um langfristig einen Umschwung einzuleiten - in diesem Spektrum konnten sich demokratische Zukunftserwartungen Anfang des Jahres 1848 bewegen. Keine von ihnen traf nach dem Ausbruch der Märzrevolution gänzlich ein; aber sie alle sollten auch weiterhin zum Tragen kommen. Wie schon bei liberalen Zeiterfahrungen zu beobachten, tritt die Zeit mit Beginn der Revolution aus ihrem vormärzlichen Gleise heraus und in einen kaum noch faßbaren Beschleunigungsprozeß ein: »Der riesenschnelle U m schwung der Ereignisse läßt unserem Urtheil noch nicht Zeit, demselben zu

89 Bremer Zeitung, Nr. 1 vom 1.1.1848. 90 In: Obermann, Flublätter, S. 49 ff. 91 Das Westphälische Dampfboot, 1848, Bd. 1, S. 2.

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folgen«, so der württembergische »Beobachter«.92 »Das Westphälische Dampfboot« sieht sich deshalb nicht mehr in der Lage, die »Weltbegebenheiten in einer fortlaufenden Uebersicht« zu besprechen, sondern »lediglich die Tagesfragen«. Man müsse »jetzt mit der Bewegung schwimmen«.93 In einem Gewaltakt scheine die Zeit sich verjüngen zu wollen.94 Mit »freudigem Schauer« sehe man der »neuen Zeit entgegen. Der Sturm, der in die Zeit gefahren ist, hat die wohlverschlossenen Thüren gesprengt, hinter welchen die heiligsten Rechte des Volkes verriegelt waren.«95 In Ruges »Reform« werden die technischen Errungenschaften der Neuzeit bemüht, um dieser Bewegung Ausdruck zu verleihen: »Die Weltgeschichte ist erwacht und sie rast mit Dampfkraft durch Europa!«96 Wieder ist es die Ereignisdichte, der diese Beschleunigungserfahrung geschuldet ist, wenn es in der »Bremer Zeitung« heißt: »Zwei Tage haben hingereicht eine Revolution zu vollenden, welche vor kaum länger als einem halben Jahrhundert mehr Jahre als jetzt Tage dazu brauchen, um zu demselben Resultate zu gelangen.« Noch nie in der Weltgeschichte habe die »Nemesis so schnell, so vollständig, so vernichtend gerichtet«.97 Gewohnte Zeitstrukturen scheinen nicht mehr zu gelten, wenn »alles auf den Kopf gestürzt« ist.98 Selbst noch nach Konstituierung der Nationalversammlung sieht Robert Blum den Zeitensturm wehen, »und Tag und Nacht vermengen sich bei uns in der sonderbarsten Weise«.99 Auch die Satire bemächtigt sich der Zeiterfahrung. Der »Kladderadatsch« nennt sich »Organ für und von Bummler« und persifliert in dem Leitartikel seiner ersten Nummer die allgemein wahrgenommene existentielle Erregung: »Die Zeit ist umgefallen! Der Geist hat der Form ein Bein gestellt! Der Zorn Jehovas brauset durch die Weltgeschichte! ... Urwahlen haben begonnen, - Fürsten sind gestürzt - Throne gefallen - Schlösser geschleift, - Weiber verheeret - Länder gemißbraucht - J u d e n geschändet -Jungfrauen geplündert - Priester zerstört - Barrikaden verhöhnt - Iüadderadatsch!«100

Diese Verspottung der oftmals pathetisch wiedergegebenen Beschleunigungserfahrung beweist eine Fähigkeit zur Selbstdistanz und Selbstironie, die in den parteipolitischen Blättern kaum anzutreffen ist. 92 Der Beobachter, Nr. 1 vom 3.3.1848. 93 Das Westphälische Dampfboot, 1848, Bd. 1, S. 1. 94 Der Beobachter, Nr. 11 vom 13.3.1848. 95 Ebd., Nr. 8 vom 10.3.1848. Der »Sturm der Zeit« ist ein zentraler Topos während der Anfangsmonate der Revolution, um die Bewegtheit und Unsicherheit der politischen und sozialen Entwicklung auszudrücken (vgl. z. B. Ludwig Uhlands Rede vor der Tübinger Versammlung am 2.3.1848, in Jessen, S. 41). 96 Die Reform, Nr. 6 vom 6.4.1848. 97 Bremer Zeitung, Nr. 65 vom 5.3.1848; vgl. auch den Brief Ferdinand Freiligraths aus London an Heinrich Koester vom 6.3.1848, in: Weber, S. 42. 98 Der Beobachter, Nr. 8 vom 10.3.1848. 99 Brief an seine Frau Jenny vom 19.5.1848, in: Jessen, S. 140. 100 Kladderadatsch, Nr. 1 vom 1.5.1848.

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Wieder ist es der Reformstau aus der Vormärzzeit, der 1848 durchbrochen wurde, um der Entwicklung freien Lauf zu lassen. ›Zeit‹ schien sich zu beschleunigen, wenn ihre Hemmnisse weggebrochen waren. Kurz nach der französischen Februarrevolution wird in einem Flugblatt die Frage gestellt, ob Deutschland nun »allein unter dem Joche der Knechtschaft verbleiben« solle. Jetzt gelte es, »den Augenblick zu ergreifen. Zweiunddreißig Jahre lang haben wir fruchtlos geschafft«.101 Im »Beobachter« wundert sich ein Zeitgenosse: »ein Strahl der Erregung durchbricht die jahrelange Nacht der öffentlichen Erschlaffung. Wie ändern sich die Dinge!« Nun scheine die Geschichte, »welche sonst schwerfällig aus den Bergen von Jahrhunderten sich aufbaute«, in Stunden ihr Werk zu vollenden - und aus welchem Grund? »Zunächst aus keinem anderen Anlaß als aus der Verzögerung einer nothwendigen Reform«, welche »über kurz oder lang doch gewährt werden« müsse.102 Diese Last aus vergangenen Jahren habe sich nun in einem Augenblick verflüchtigt: »Was bisher wie ein drückender Traum und Jahre lang auf der Brust jedes Patrioten lag, das schwindet jetzt unter der Allgewalt der sich fast überstürzenden Ereignisse mit einem Male und so rasch hinweg, daß der Verstand vor den herüber und hinüber schweifenden, auf eine zugleich freudige und schreckhafte Zukunft gerichteten Gedanken kaum zur Ruhe und Besinnung kommen kann!« 103

Nach Jahrhunderten, so in der »Mannheimer Abendzeitung«, sei die Zeit reif zur »Eroberung der Freiheit« geworden. Wer jetzt »die Erbschaft der Geschichte« verspiele, »welche wir durch jahrhundertelanges Entsagen« nicht aufgenommen haben, werde Deutschland wieder in die Knechtschaft führen.104 Der »Sturm der Geschichte« habe in wenigen Wochen nachzuholen, was »in Jahrzehnten und Jahrhunderten versäumt« worden sei.105 Im Vormärz konnten sich die Forderungen nach radikalen politischen und nationalstaatlichen Reformen historisch legitimieren, indem an unerfüllte Erwartungen aus der Vergangenheit angeknüpft wurde. Eine politische Revolution sollte den geschichtlich als notwendig begründeten, aber im Vormärz gehemmten Evolutions- und Fortschrittsprozeß wieder restaurieren. Mit der Märzrevolution schien sich diese Erwartung nun erfüllt zu haben. Für die ge101 Flugblatt »Vorwärts ist der Ruf der Zeit« vom 27.2.1848, in: Obermann, Flugblätter, S. 54. 102 Der Beobachter, Nr. 59 vom 1.3.1848; vgl. auch den Artikel »Wer Wind säet, wird Sturm ernten«, in: ebd., Nr. 4 vom 6.3.1848. 103 Ebd., Nr. 7 vom 9.3.1848; vgl. auch das »Kölner Volks-Wahlprogramm« vom 27.4., in: Obermann, Flugblätter, S. 219. 104 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 140 vom 17.6.1848. Noch Ende des Jahres heißt es im »Beobachter« anläßlich einer Dokumentation von Landtagsbriefen: »Der Sturm, der in die neue Zeit gefahren, hat im Volke selbst vieles anders gemacht. Der deutsche Michel ist vom Schlafe erwacht. Es beginnt für ihn zu tagen. Ein politisches Leben hat begonnen, sich im Volke selbst zu regen.« (Der Beobachter, Nr. 271 vom 30.12.1848). 105 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 141 vom 18.6.1848.

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mäßigten demokratischen Blätter mußte jetzt der evolutionäre Weg der Reform beschritten werden, um ein weiteres Entgleiten der gewaltsamen Revolution zu vermeiden. Jetzt sei gerade noch Zeit, so die »Bremer Zeitung«, »auf dem friedlichen Wege der Reform« das zu erreichen, »was andere Völker durch ein Meer von Blut und Thränen auf dem Wege der Revolution und der Gewalt erreicht haben«. Noch könne »das für Deutschland allein heilsame Prinzip der konstitutionellen Freiheit erreicht« werden, ohne die Monarchie abzuschaffen, wenn man die schnell verrinnende Zeit nutze. 106 Eine »friedliche Durchsetzung der Reform« wird hier deutlich einer Revolution vorgezogen, denn: »Jede Revolution ist ein Unglück. Ihre N o t w e n d i g k e i t ändert daran nichts.«107 Der württembergische »Beobachter« stellt sich »entschieden auf den Standpunct der [demokratischen] Parthei und unsere Losung ist die Demokratie, die Volksherrschaft, wie sie das civilisierte Europa fordert und bedarf. Aber wir wissen, daß unser Volk plötzliche Uebergänge nicht verträgt, daß es seinem eigensten Wesen zufolge ein stufenweises Fortschreiten gewaltsamen Sprüngen vorziehen muß.«108 Deshalb tritt das Blatt dezidiert für die Wahl und die Rechte der Nationalversammlung und für die Einsetzung einer provisorischen Zentralgewalt ein, denn mit dieser als Kontinuitätsträgerin sei ein weiterer »Abschnitt in der Geschichte der deutschen Revolution eingetreten« und werde die revolutionäre Anspannung der Gemüter wieder nachlassen. 109 Die vom »Beobachter« vertretene Idee der Volkssouveränität war nicht unbedingt abhängig von der monarchischen oder republikanischen Staatsform. In beiden könne »das Prinzip des Jahrhunderts, der demokratische Gedanke«, verwirklicht werden, wenn nur die Regierung durch das Volk kontrolliert werde. 110 Noch im August sieht sich die Zeitung vor die Aufgabe gestellt, den »Geist und Inhalt der Vergangenheit nicht zu sehr zu verletzen« und »zeitgemäße Schritte zu thun und Grundsteine zu legen, die stark genug sind, das Gebäude der Zukunft zu tragen«.111 Aber auch die radikale Linke plädiert in der Anfangsphase der Revolution für die »volle Möglichkeit einer friedlichen Fortentwicklung«, denn die »Nation verlangt nicht nach dem plötzlichen Umsturz des Bestehenden«, so die »Mannheimer Abendzeitung«. Gestünden die deutschen Fürsten Reformen zu, könne der »tausendjährige Bau unserer Verfassung« vollendet und der »Sturm einer Revolution« verhindert werden, »deren Ende sie nicht zu berechnen vermögen«. 112 Das »Leipziger Abendblatt« verlangt in einem Artikel über »Die ›gemä106 Bremer Zeitung, Nr. 67 vom 7.3.1848. 107 Ebd., Nr. 66 vom 6.3.1848. 108 109 110 111

Der Beobachter, Nr. 141 vom 29.7.1848, Ebd., Nr. 112 vom 28.6.1848; vgl. auch ebd., Nr. 113 vom 29.6.1848. Ebd., Nr. 157 vom 17.8.1848; vgl. auch ebd., Nr. 99 vom 14.6.1848. Ebd., Nr 151 vom 10.8.1848.

112 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 68 vom 9.3.1848; vgl. auch ebd., Nr. 65 vom 63.1848.

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ßigte‹ Revolution«, den revolutionären Bruch anzuerkennen, nun aber besonnen fortzuführen.113 Und das »Wahl-Manifest der radicalen Reformpartei für Deutschland« beginnt lakonisch: »Die Revolution ist gemacht; die Reform beginnt.«114 Schon enttäuscht über die Resultate der Märzrevolution, die keine »constitutionelle Verfassung auf der breitesten Grundlage« durchgesetzt habe, wird in der »Reform« dennoch eine Regierung gefordert, »die für und durch das Volks selbst eingesetzt ist - das könnte immer noch ein Königthum, ein erbliches Königthum sein, aber ein demokratisches, vernünftiges Königthum, wo Volk und Regierer von derselben Idee des höchsten Allgemeinwohles durchdrungen sind«.115 Die Revolution von 1848 als Entlastung nach einem Entwicklungsstau schien von Demokraten zumindest in ihrer ersten Phase nicht als Totalbruch mit der Vergangenheit angesehen zu werden, sondern sie suchten auch die Möglichkeit einer weiteren Reformentwicklung. Diese sollte auf ihrem Weg in die Zukunft den Bezug zur Tradition nicht vollkommen aufgeben, um so den revolutionären Einstieg in die Fortschrittsbewegung evolutionär fortzuschreiben. Doch auffällig bleibt vor allem bei der extremen Linken, daß die intendierte reformerische Weiterentwicklung der Revolution zumeist nur noch in negativer Hinsicht an die deutsche Vergangenheit knüpfte, um sich von ihr abzusetzen und sie fur beendet zu erklären. Auch die Berufung auf ein »demokratisches Königtum« konnte sich ja kaum mehr auf einen traditionellen Legitimitätsgedanken stützen, sondern brach letztlich mit diesem. Unerfüllte Erwartungen aus den Befreiungskriegen oder der Französischen Revolution wurden selten thematisiert, ebensowenig historische Parallelisierungen zwischen 16. (Reformation) und 19. (Revolution) Jahrhundert, wie sie besonders Wirthin den vierziger Jahren konstruierte. Allein ein anonymes Flugblatt bemerkt Ende Februar, also noch vor dem deutschen Revolutionsausbruch: »Die Männer von 1789 sind aus den Gräbern gestiegen, um ihr Vaterland zu verjüngen.«116 Aber eine dezidiert historische Rechtfertigung der Revolution, um wieder in eine evolutionäre Fortschrittsgeschichte »restaurativ« einzutreten, wird jetzt nicht mehr bemüht, sondern in den radikaldemokratischen Blättern explizit abgelehnt. So heißt es in der »Reform«: 113 Leipziger Abendblatt, Nr. 75 vom 28.6.1848, in: Obermann, Einheit und Freiheit, S. 476 f. 114 Abgedruckt in: Die Reform, Nr. 16 vom 16.4.1848. 115 Ebd., Nr. 67 vom 8.6.1848. 116 In: Obermann, Flublätter, S. 56. Die »Bremer Zeitung« hält zur französischen Februarrevolution zwar auch fest, daß mit ihr das Experiment der politischen Freiheit wieder zu ihrem Anfang gelangt sei, aber diese »Bewegung ist nicht völlige Kreisbewegung, es ist eine Spirale. Der Punkt bei dem sie angelangt sind ist nicht genau der Anfangspunkt.« Die »Erfahrungen von mehr als einem halben Jahrhundert« gäben der Republik von 1848 bessere Aussichten als der von 1792 (Bremer Zeitung, Nr. 66 vom 6.3.1848). Hier liegt bei aller Bezugnahme auf 1789 die Betonung also auf dem Neuansatz von 1848.

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»Weg mit allen historischen Begründungen, es hat noch keine Geschichte der Völker gegeben, und jede hutorische Entwickelung ist in den Zeiten des neu erwachten menschlichen Selbstbewußtseins nur ein selbstgefälliger Versuch des Betruges und der Täuschung, ausgehend von privilegirten Menschenklassen. Nur wer alte Privilegien erneuern oder neue schaffen will beruft sich auf historische Entwickelungen.«117 Man könne »daher auch nicht eine gesetzliche Anknüpfung an die zertrümmerten Formen unseres früheren Staatenlebens, eine geschichtliche Entwicklung früheren Rechts versuchen«, da sich die Geschichte nicht allein durch »eine fortlaufende und allmälige Entwickelung« auszeichne, sondern »in großen Zeiten durch schroffe und schneidende Gegensätze, deren Ausdruck die Stürme des Volkslebens, deren Erfolge neue Formen des Staats, neue Grundsätze des Rechtes sind«.118 Ein kompromißloser, »gewaltsamer Bruch mit der alten Zeit« finde sich durch die Revolution eingeleitet.119 In solchen außergewöhnlichen und beispiellosen Zeiten, so die »Mannheimer Abendzeitung«, reichten die »gewöhnlichen Gesetze« nicht mehr aus, um alle ihre Erscheinungen auszumessen; »denn das ist eben das Wesen jenes Kampfes, daß alte Gesetze abgelegt und neue geschrieben werden«. Eine Regierung könne aus der »alten Zeit in die neue, aus der Zeit der Schwächen und Widersprüche in die Zeit der Ruhe, der Herrschaft der Gesetze« nur treten, wenn sie die alte Zeit »mit ihren Uebergängen, mit ihren Leidenschaften und politischen Verwirrungen auf immer vergißt«.120 Denn, so zwei Wochen später: »Alles hienieden wird mit der Zeit alt, und was vor Jahrhunderten vielleicht einmal das Beste gewesen, das wird mit der Zeit allmählig mittelmäßig, werthlos und endlich sogar schlecht. Das kommt, so zu sagen, ganz von selbst, oder vielmehr, es folgt aus den Veränderungen, denen jedes Ding an sich unterworfen ist und die in den es umgebenden Objekten seiner Wirksamkeit im Lauf der Zeiten vorgehen.«121 Deshalb endet der Artikel mit dem Aufruf, sich nicht dem »starrköpfige [n] Stillestehenwollen inmitten der allgemeinen Bewegung« hinzugeben, sondern sich der »Neuzeit« anzuschließen und zu bekennen, daß man älter geworden und fortgeschritten sei. Zwar sei die Revolution, so »Die Reform«, in den Einzelstaaten vor den Thronen stehengeblieben, um sie mit demokratischen Institutionen zu umgeben, und setze sich dort der Kampf der Volks- gegen die Fürstenrechte fort; auf der Ebene des Nationalstaates werde aber nun der völlig neue Weg der Volkssouveränität beschritten: »Es ist also in Deutschland für die Bildung eines vollkommenen unverfälschten Volksbundes reine Bahn, ihr habt 117 Die Reform, Berliner Beilage, Nr. 1 vom 1.6.1848. 118 Ebd., Berliner Beilage, Nr. 6 vom 8.6,1848. 119 Ebd., Berliner Beilage, Nr. 18 vom 30.6.1848. 120 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 73 vom 14.3.1848. 121 Ebd., Nr. 90 vom 31.3.1848; vgl. zum »natürlichen« Alterungsprozeß, dem das politische Leben unterliegt, auch das Flugblatt von Mitte März, in: Obermann, Flugblätter, S. 90 f.

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Tabula rasa. In eurer Vergangenheit findet ihr nichts als den Despotismus«.122 Selbstbewußt schreibt die »Locomotive« noch Ende August das Testament für die alte Zeit: »Die gute alte Zeit, sie ist dahin, sie ist an Altersschwäche gestorben. Selig sind die Todten!«123 Einerseits wirkte die deutsche Märzrevolution als Ventil für den Entwicklungsstau aus der Vormärzzeit, um nun beschleunigt an einem postulierten Fortschrittsprozeß zu partizipieren und Versäumtes nachzuholen. Andererseits betonten Blätter der radikalen Linken aber den revolutionären Epochenbruch, der einen ›natürlichen‹ Alterungsprozeß zum Abschluß brachte, mit der negativen Vergangenheit brach und jenseits historischer Legitimationsversuche auf der Tabula rasa der Gegenwart eine neue Zeit einleitete. Die revolutionär bewirkte Entlastung nach einem Reformstau stellte also nicht nur Kontinuität mit den Erwartungen einer vormärzlichen Vergangenheit her, sondern sollte selber voraussetzungslos von einem imaginierten Nullpunkt aus einen Aufbruch in eine neue Zeit hinein ermöglichen. Ein ›natürlicher‹ Absterbeprozeß wurde gegen historische Kontinuitätsstiftung ausgespielt. Für einen Neubeginn standen vor allem soziale Forderungen, mit denen Demokraten gerade 1848 eigenständig und selbstbewußt an die Öffentlichkeit traten und die in ihrer radikalsten Variante auch klassenkämpferische Töne anschlugen. Konnte die politische Märzrevolution noch an vergangene Hoffnungen aus der Vormärzzeit anknüpfen und so eine evolutionäre Entwicklung zwischen Vergangenheit und Zukunft begründen, kündigte sich durch die demokratische Erwartung einer nächsten, nämlich sozialen Revolution eine beispiellose Epoche an. Daß die weltgeschichtliche Bedeutung der Revolutionen des Frühjahrs in ihrer sozialen Dimension liege und eine Republik neben den politischen auch die sozialen und ökonomischen Verhältnissen zu regeln habe, ist bei allen Unterschieden unstrittig in den demokratischen Zeitungen.124 Doch insbesondere in den radikal-demokratischen Blättern, denen die politische und vor allem soziale Entwicklung nicht weit genug geht und die sich von den Ereignissen bis zum Zusammentreten der Paulskirche überspielt sehen, wird zunehmend ein sozialrevolutionärer Bruch mit der Vergangenheit gefordert.125 Die politische Revolution vom März gerät zur Vorgeschichte einer Zäsur, wenn es in der »Locomotive« heißt:

122 Die Reform, Nr. 16 vom 16.4.1848. 123 Ebd., Nr. 121 vom 26.8.1848. 124 Vgl. z. B. den gemäßigten Beobachter, Nr. 186 vom 20.9.1848 oder die radikalere Mannheimer Abendzeitung, Nr. 77 vom 18.3.1848. Im Gegensatz zu den sozialistischen Blättern wurde in den meisten demokratischen Zeitungen aber an der privaten Eigentumsordnung festgehalten (vgl. z. B. Locomotive, Nr. 3 vom 4.4.1848; Der Beobachter, Nr. 44 vom 15.4.1848; Mannheimer Abendzeitung, Nr. 311 vom 29.12.1848). 125 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 632 f.

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»Europa steht am Vorabende einer großen Umwälzung, zu der die Revolutionen des Februar und März 1848 nur die Introductionen abgegeben haben, einer Umwälzung, welche den Boden des jetzigen socialen Lebens eben so zertrümmern wird, wie die große Revolution von 1789-1815 den Boden des damaligen politischen Lebens zertrümmert hat. Wir reden von der großen socialen Revolution Europa's, die schon mehre Jahre hindurch ein Gegenstand der Furcht und Erwartung war, und die jetzt — wie jeder fühlt - in das Stadium der Geburtswehen getreten ist. Ist es noch nöthig zu beweisen, daß diese Revolution im Schoße der Zeit wirklich empfangen worden und zur Geburt heran gereift ist?«126 Nach den vergleichsweise gewaltlosen »Vorspiels-Revolutionen« müsse der Staat mit Hilfe neuer Institutionen »die sociale Revolution auf unblutigem Wege selbst« machen, andernfalls drohe ein Klassenkampf. Einen Monat später wird noch einmal verdeutlicht, daß man unter »Umgestaltung und Umschwung der Dinge ... keine politische Umgestaltung« verstehe, denn »deren haben wir in ziemlich ganz Europa in der kürzesten Zeit mehr als zur Genüge gehabt«, ohne daß sich die Erwerbs- oder Besitzlage der Arbeiter gebessert habe. Deshalb stehe Deutschland erst am Anfang seiner Revolutionen: »Wir befinden uns in einer Durchgangsperiode«, an deren Ende die Lösung der Arbeiterfrage zu stehen habe.127 In gleicher Weise beurteilt die »Neue Deutsche Zeitung« auch die Unruhen in Paris: »Die politischen Revolutionen sind nur die Vorläufer der sozialen - und in unserer Zeit folgt Alles rasch auf einander.«128 Eine politische Revolution allein konnte nicht für einen Epochenbruch stehen; vielmehr bedurfte es dafür der Weiterfuhrung der Zeitbewegung mittels eines sozialen Umbruchs, um auf dieser neugeschaffenen Grundlage erst Reformen einzuleiten, die eine neue Epoche zu eröffnen hatten. Die Gegenwart blieb Übergangszeit, da die institutionalisierte Märzrevolution den erhofften politischen und insbesondere sozialen Bruch mit der Vergangenheit nicht zu leisten schien. So schreibt Ludwig Feuerbach Mitte Juli aus Frankfurt an seine Braut, daß die Demokratie noch nicht habe siegen können, »denn die Gegenwart ist eine Zeit des Überganges, folglich der Unentschiedenheit, der Taktlosigkeit, des Hinundherschwankens zwischen Alten und Neuen«.129 Deutlich wird diese Zeiterfahrung in Ruges »Reform« beschrieben: »Der März dieses Jahres hat uns auf der vollen Höhe der Freiheit - aber unsern socialen Zustand auch mit dem ganzen bösen Keime der Vergangenheit erfüllt gefunden.«130 125 Auch im folgenden Locomotive, Nr. 34 vom 13.5.1848. 126 Ebd., Nr. 60 vom 16.6.1848. 128 Neue Deutsche Zeitung, Nr. 2 vom 2.7.1848; vgl. auch Seeblätter, Nr. 116 vom 16.5.1848. 129 Brief vom 14.7.1848, in: Weber, S. 204. 130 Die Reform, Nr. 25 vom 26.4.1848.

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Deshalb sei die Revolution noch nicht vorüber, die Zeit der Reform noch nicht gekommen, da die politische Revolution nicht durch eine »gründlich freisinnige Verfassung« vollendet worden sei, um die sozialen Forderungen »dann friedlich und auf dem Wege des Gesetzes, des neuen freien Gesetzes, zu erfüllen«. In einer Phase, in der »der Einzelne mehr den Fluch als den Segen der Zeit« empfinde und die materiellen Verhältnisse immer trostloser würden, zeige sich die Revolution als »eine stürmische unabweisbare Petition, sie verlangt die Erfüllung«. Daher werden wir »eine neue Revolution haben, eine sociale, die Revolution des Hungers, die schwerlich, wie die politische Revolution der Freiheit, im Kampfe einer Nacht beendet werden möchte!«131 So wird im August »Die neue Revolution im Anzuge« prophezeit: »der Augenblick, in dem wir leben, zeigt uns eine solche Spannung der feindlichen Gegensätze gegeneinander, daß wir nichts Geringeres zu erwarten haben, als einen neuen allgemeinen Ausbruch der europäischen Revolution. Diese zweite Revolution wird in Deutschland die reelle Demokratie, in Frankreich die sociale Republik hervorbringen; was in jeder Bewegung die Halbheit war, das wird die neue Revolution ergänzen.«132

Ohne große Erwartungen an die künftige Nationalversammlung zu haben, bemerkt Rudolf Virchow lakonisch: »Wenn man erst eine Revolution gehabt hat, so ist eine zweite nichts Unerhörtes mehr.«133 Aber diese Revolution, auf deren Grundlage erst soziale Reformen gedeihen könnten, bleibe in einer Übergangszeit Desiderat: »Unser Weckeruf ist keine Agitation, es ist die Denunciation des Halben, Fragmentarischen in der Zeit.«134 Anders als für Liberale bedeutete die Anerkennung der politischen Revolution für Demokraten eine Aufforderung, das Stückwerk der Revolution als »das letzte Rechtsmittel des Volkes« zu vollenden, um so erst »Ruhe und Sicherheit« zu garantieren.135 Der vertikale Bruch mit der Vergangenheit wurde nach demokratischer Ansicht noch nicht verwirklicht, gerade weil der soziale horizontale Bruch innerhalb der Gesellschaft nicht überbrückt werden konnte. Diese Wechselbeziehung zwischen den zwei Zäsurachsen ließ eine erneute Revolution insbesondere für radikale Demokraten weiterhin virulent erscheinen: 131 Ebd., Nr. 67 vom 8.6.1848. 132 Abgedruckt in Mannheimer Abendzeitung, Nr. 207 vom 30.8.1848. 133 Brief an seine Eltern vom 1.5.1848, in: Virchow, S. 143 f. 134 Die Reform, Berliner Beilage, Nr. 3 vom 4.6.1848; vgl. auch die Klage Stephan Borns über die »ganz und gar unfertige« politische Revolution, in: Das Volk, Nr. 2 vom 3.6.1848; später dazu auch noch einmal Borns Verbrüderung, Nr. 12 vom 10.11.1848; ebd., Nr. 16 vom 24.11.1848. In Marxens Neuer Rheinischer Zeitung wird die sich wiederholende Revolution zum Topos des Historischen Materialismus und seines Prognoseanspruchs (vgl. ζ. Β. Neue Rheinische Zeitung, Nr. 64 vom 3.8.1848). 135 Die Reform, Berliner Beilage, Nr. 18vom 30.6.1848; vgl. auch ebd., Nr. 63 vom3.6.1848.

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»Ich glaube, wir stehen erst am Ende des Anfangs. Das wird man freilich den »Männern der Evolution« nie begreiflich machen, außer durch die Praxis, durch die Thatsache.... Wir stehen am Vorabend einer neuen Revolution, welche vollenden wird, was die erste unvollendet ließ, weil sie sich über Ziel und Zweck der Bewegung nicht klar war.«136 Als die gewählte Nationalversammlung die Demokraten in der Minderheit zeigte, denunzierte ein Zeitgenosse die halbherzige Politik der Frankfurter Versammlung und stellte klar, daß »wir erst am Anfang derjenigen Ereignisse und Umwälzungen stehen, deren Ende wir schon zur Zeit des Vorparlaments zu feiern können glaubten«. Wer jetzt noch glaube, »vollends die Vergangenheit und Zukunft mit einander zu versöhnen und zu vermitteln«, der verdamme sich zu der mühevollen und vergeblichen Arbeit des Sisyphos, »welcher die steinernde Last der Vergangenheit auf den Berg der Zukunft rollen will«. Die »Männer der historischen Schule, die Schöpfer eines neuen deutschen Kaiserthums«, diese »Janusköpfe mit den Doppelgesichtern, welche zur selben Zeit in die Vergangenheit und Zukunft blicken«, könnten daher den Anforderungen der Gegenwart nicht gerecht werden. 137 Die Erfahrungen in der Märzrevolution schienen sich den politischen Erwartungen des Vormärz anzunähern; doch das Fragmentarische einer unerfüllten Revolution, in die jetzt die Erwartung eines sozialen Bruchs mit der Vergangenheit miteinging, wies auf eine gefährdete Übergangszeit hin und ließ demokratische Hoffnungen und gemachte Erfahrungen wieder auseinandertreten. Die gegenwärtige Vergangenheit wurde vor allem in der Reaktion verortet. Insbesondere die extreme demokratische Linke erkannte früh die Gefahr der Gegenrevolution und weitete den Reaktionsvorwurf bis zum Liberalismus aus. 138 In einem Brief aus Frankfurt an seine Frau wirft Feuerbach der Nationalversammlung nach Einsetzung der provisorischen Zentralgewalt vor, sich selber entmachtet zu haben. Sie »hat an die Spitze der neuen Zeit die alte Zeit, an die Stelle des Fortschritts den Rückschritt in die alte Kaiser- und Fürstenwelt gesetzt« und damit der Gegenrevolution Vorschub geleistet.139 Schon im März wird der Aufruf zur Bildung eines politischen Klubs mit der drohenden Reaktion begründet. 140 Und in der »Reform« werden »ganz einfach Reactionsversuche in allen Experimenten [gesehen], welche dahin tendiren, die Souverainität des Volkes zu untergraben«. 141 Mit dem zunehmenden Erstarken der europäischen Gegenrevolution im Sommer wurde die Reaktion zum permanenten Schreckgespenst für Demo136 Neue Deutsche Zeitung, Nr. 55 vom 3.9.1848. 137 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 132 vom 7.6.1848. 138 Vgl. Kondylis, Reaktion, S. 208 ff. 139 Brief vom 30.6.1848, in: Weber, S. 188. 140 Flugblatt vom 23.3.1848, in: Obermann, Flugblätter, S. 122; vgl. auch Mannheimer Abendzeitung, Nr. 76 vom 17.3.1848. 141 Die Reform, Berliner Beilage, Nr. 3 vom 4.6.1848.

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kraten, an der sie ihre zukunftsbetonte Zeiterfahrung schärfen konnten. 142 Für die »Locomotive« ist sie in einer entschieden progressiven Zeit als regressive Gegenwirkung präsent.143 Ende August widmet sich Robert Springer in einem Artikel der Frage »Was ist Reaction?« Sie sei der »Kampf gegen den Fortschritt der Freiheit« und zu allen Zeiten wie noch heute gefährlich. 144 Deshalb kann es Anfang September in einem Aufsatz über »Die alte und die neue Zeit« auch heißen: »Keine Zeit der neueren Geschichte, glauben wir, hat entschiedenere Gegensätze herausgestellt, als die gegenwärtige. Die Elemente des Alten mit dem Neuen kämpfen wie Wasser mit Feuer, wie Tod mit Leben.... Der jüngste Tag ist gekommen. Eine neue Welt ist erstanden, während die alte in sich selbst zusammenstürzte. Aber ihr Schutt und Gerüll liegen massenweise da: sie müssen hinweg geräumt werden, gründlich hinweggeräumt werden, so wir nicht überall in jedem Augenblick Hals und Bein brechen wollen.«145 Jetzt, im August, sei die Reaktion »vollendet«, denn: »Sie ist mit einer Schnelligkeit zum Ziele gelangt und auf die Spitze getrieben, wie es nur in Revolutionszeiten möglich ist, in welchen die Völker in wenigen Monaten die Geschichte ganzer Jahrhunderte durchleben.« Diese Schnelligkeit der Entwicklung lasse aber gerade auch »freudige Hoffnungen für die Zukunft« und aufweitere Revolutionen zu.146 Man habe sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, »daß die Revolution sich für permanent erklären muß, so lange die Kontrerevolution permanent arbeitet«.147 Die freigegebene permanente Revolution entbehre »aller Schrecken und Gräuel, welche die unterdrückte und nur zeitweise ausbrechende so fürchterlich macht«. 148 Hatte in der revolutionären Phase für die gemäßigte Linke die Zeit der Reform schon begonnen, um so eine eigene soziale Reformkontinuität zu begründen, stand sie für die publizistisch sehr aktiven Radikaldemokraten hingegen noch aus, da die erreichte Institutionalisierung der »Märzerrungenschaften« einen politischen und insbesondere sozialen Epochenbruch zu blockieren schien. Eine Revolution blieb hierbei aber nicht Selbstzweck, sondern sollte die Tabula rasa für eine neue, evolutionäre Sozialentwicklung bereiten. Wegen dieser neu zu begründenden Kontinuität standen Revolution und Reform weiter142 Vgl. zur europäischen Dimension Siemann, Deutsche Revolution, S. 157ff.;zum frühen und unterschätzten Erstarken der deutschen Reaktion vgl. Wehler, Bd. 2, S. 771 ff. 143 Vgl. Locomotive, Nr. 66 vom 23.6.1848, Fußnote. 144 Ebd., Nr. 123 vom 29.8.1848. 145 Ebd., Nr. 126 vom 1.9.1848. 146 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 193 vom 13.8.1848. 147 Ebd., Nr. 208 vom 31.8.1848. 148 Ebd., Nr. 200 vom 22.8.1848; vgl. zur permanenten Provokation weiterer Revolutionen durch die gegenrevolutionäre Reaktion auch ebd., Nr. 27 vom 1.8.1848; außerdem Bremer Zeitung, Nr. 203 vom 21.7.1848.

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hin in einer Folgebeziehung, die sich nach den politischen Märzereignissen aber auf einer nächst höheren, der sozialen Ebene abzuspielen hatte. Anders als bei Liberalen entwickelte sich also die Reform nicht zur Gegenspielerin der Revolution, um ›Zeit‹ zu gestalten, sondern hatte nach einer erneuten Revolutionszäsur evolutionär einen auch sozialen Modernisierungsprozeß durchzuführen. Der Gegensatz zwischen erwarteter Zäsur und erstarkender Reaktion war vorherrschend und drängte den Erwartungshorizont vorrangig auf eine abermalige Revolution, um die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen und den Weg für eine demokratische und sozialverträgliche Republik zu bereiten. Aufgrund dieser Gespanntheit rückte ›Zeit‹ in den Verfügungsraum des Menschen, wie »Das Volk« beschwörend gegen die Redensarten einwendet, die den Menschen passiv als »Kind der Zeit« betrachten: »Wir sind nicht Kinder der Zeit, wohl aber ist die Zeit unser Kind. Wie wir sind, so ist sie, was wir wollen, will sie; und jede ihrer leisesten Regungen ist nur ein treues Spiegelbild dessen, was uns schon oft durchbebte. Wenn die Zeit schwer auf uns lastet, so verschulden wir es, indem wir aus Bescheidenheit es unterließen, den Hebel anzuwenden, von dem wir allein Hoffnung erwarten dürfen.«149

3. Alterung und subversive Fortsetzung der Revolution »Woher dieses unaufhaltsame Fliehstreben unsrer Zeit, das bei keinem erreichten Punkt stehen bleibt, bei keinem gewonnenen Recht, keiner gewährten Form, keiner erlangten Konzession sich zufrieden gibt, so lange noch irgend eine Schranke ihm entgegensteht?« 150 Klagend fährt der »Rheinische Beobachter«, ein treuer Begleiter der preußischen Regierungspolitik der letzten Jahre vor der Revolution, im Hinblick auf die Unruhen in Italien und in der Schweiz fort, daß der Verlust aller inneren Bindungen dieses »Fliehstreben« ausgelöst habe, dessen »Hauptströmung in der gegenwärtigen Zeitbewegung auf das sogenannte Selfgovernment gerichtet ist«. Als dann schließlich die Revolutionen in Frankreich und den größten Teilen Deutschlands ausgebrochen waren, konstatiert das Blatt eine »Erschütterung des europäischen Staatensystems, die in der Geschieht kaum ihresgleichen hat, und deren Tragweite bei der allgemeinen Zerrüttung des sozialen und sittlichen Lebens sich nicht einmal annähernd bemessen läßt«.151 Die revolutionären Ereignisse würden sich dermaßen überschlagen, »daß der Gedanke ihnen kaum zu folgen vermochte«. Das französische Volk habe »gewaltsam mit der Vergangenheit gebrochen« und »sich nicht mehr in einen naturgemäßen Entwicklungsgang hineingefunden, weil ihm 149 Das Volk, Nr. 32 vom 26.8.1848. 150 Auch im folgenden Rheinischer Beobachter, Nr. 39 vom 8.2.1848. 151 Auch im folgenden ebd., Nr. 75 vom 15.3.1848.

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unter den Stürmen der Revolution auch die leitenden sittlichen Ideen abhanden kamen«. Deutschland dürfe diesen Weg nicht einschlagen, endet der kurz vor dem Ausbruch der Berliner Straßenkämpfe erschienene Artikel. Die angespannte europäische Lage schon zu Beginn des Jahres 1848 führte bei den konservativen Zeitgenossen also zu einem Gefühl der Desorientierung. Der Verlust von Bindungen an eine vertraute Vergangenheit, dieses »Fliehstreben« aller Kräfte in einer sich beschleunigenden Zeit entrückte die Ereignisse den gewohnten Sinnzusammenhängen, wenn es in den »Historisch-politischen Blättern« heißt: »Das Gesetz, das bisher die Zeitverhältnisse in aller geistigen Entwicklung bis zur vollkommenen Reife regelte, scheint nicht mehr zu gelten. Die Zeit hat die berühmten Siebenmeilenstiefel angezogen, und vollendet in einem Dezennium oder noch weniger, wozu ihr sonst kaum ein Jahrhundert genügte.«152 Das Adjutantenjournal des preußischen Königs vermerkt dann während der Berliner Revolution, daß man im »Sturm« der Ereignisse nicht mehr in der Lage sei, die Geschehnisse zu überblicken: »Es ist schwer, ein klares Bild von diesem Tag zu geben.«153 Und noch Anfang Juli berichtet der preußische Kavelleriegeneral Julius von Hartmann aus Berlin seiner Braut, daß er den Blick von dem »Wirrwarr der Gegenwart«, dem »Toben der Zeit« ab- und einer »ruhigen und heiteren Zukunft« zugewandt habe.154 Hier stellte sich eine Überforderung ein, mit der Dynamik einer neuen Zeit umzugehen; um sich in ihr zu behaupten, zog man sich von ihr zurück, was wiederum die Gefahr heraufbeschwor, von der Entwicklung überrollt zu werden. Anstelle dieser anfänglichen Abwehrreaktionen eines unbeweglichen Konservativismus rettete der preußische Reformkonservativismus seine dynamische Anpassungsbereitschaft in die Revolution hinüben Einer seiner Repräsentanten, Victor A. Huber, eröffnet seinen »Janus« 1848 unter Berufung auf Stahl mit der Willenserklärung, weiterhin auf dem konservativen Weg vorwärts schreiten zu wollen. Der Blick werde nur zurückgerichtet, »um desto entschiedener in der Richtung, welche die Vergangenheit der Zukunft angedeutet hat, vorwärts zu schreiten«.155 In einem weiteren Artikel werden die konservativen Kräfte aufgerufen, aus ihrer Apathie aufzuwachen und gegenüber der Revolution einen Standpunkt zu beziehen: »Wir meinen die Reaktion im eigentlichen Sinne. Wie wenig wir aber unter einem Aufschwung, einer Ermannung des conservativen Deutschlands, eine wohl gar auf fremde Sympathien bauende militärisch-bürokratisch-aristokratische Reaktion verstehen, brauchen wir nach allem, was wir seit Jahren geredet haben, nicht weiter nachzuweisen. Wir müßten eine solche um so mehr beklagen, als sie unfehlbar nur als ein klägliches Zwischenspiel einen um so vollständigeren und blutigeren Sieg des Radikalismus vor152 153 154 155

Historisch-politische Blätter, 1848, Bd. 1, S. 94. Adjutantenjournal des preußischen Königs vom 19720.3.1848, in: Jessen, S. 96 f. Brief aus Berlin an seine Braut vom 3.7.1848, in: Weber, S. 196. Janus, 1848, Bd. 1, S. 1.

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bereiten würde. Nicht rückwärts sondern vorwärts liegt das Heil, und der Weg rückwärts führt nicht weniger dem Abgrund zu als der Weg desfabchen Fortschritts; nur der rechte Weg vorwärts fuhrt zum Ziel; Stehenbleiben aber ist unmöglich.«156 Reagieren auf die revolutionäre Herausforderung, um in der beschleunigt in die Zukunft aufbrechenden Entwicklung auch als Konservativer bestehen zu können - dieses Programm aus dem Vormärz gelangte in den Monaten nach der Märzrevolution zu unerwarteter Aktualität, nachdem der preußische Konservativismus zunächst in die Defensive gedrängt worden war.157 Schon in der ersten Probenummer der »Neuen Preußischen Zeitung« Mitte Juni heißt es, daß man zwar den Kampf gegen die »reißende Gewalt« der Revolution mit aller Entschiedenheit aufnehmen müsse, um »den entfesselten Geistern der Empörung mit Kraft und Nachdruck entgegenzutreten«. Auf den anderen Seite habe sich die Aufgabe des Blattes aber auch nicht in einem mechanischen Reagieren, in einem prinzipienlosen »Repristinieren eines früheren Zustandes« und nicht in dem bloßen »Hemmen und Negieren der neuen Entwicklung« zu erschöpfen. Statt dessen gelte es, auch eine »positive Stellung zu der neuen Ordnung der Dinge einzunehmen; denn nur dem gehört die Zukunft, der auf die bewegenden Gedanken der Gegenwart positiv einzugehen vermag«. 158 Deshalb beginnt ein Artikel Anfang Juli mit dem Aufruf: »Die Revolution reitet schnell. Laßt uns nicht zurückbleiben! Es möchte schwer sein, sie wieder einzuholen.« 159 Wer einmal den Anschluß an die beschleunigte Zeit versäumt habe, dem werde sie entgleiten. Doch müsse man in einer »Zeit wilder Gährung« dabei seine Position auch bewahren, denn die Geschichte beweise, »daß die Politik, mit dem Strome zu schwimmen, nur in Zeiten des Friedens, nicht aber in der Zeit der Revolution an ihrer Stelle ist«.160 Diesem Akt der Gratwanderung hatte sich der Konservativismus während der Revolution verschrieben. Gegen die »Unerträglichkeit des Zustandes, in den die ›Errungenschaften‹ uns versetzt haben«, gegen die »Tollheit« und »Ungewißheit« einer »schmachvollen Anarchie«161 rehabilitiert die »Kreuzzeitung« den vielgeschmähten Begriff ›Reaktion‹, um die Vorwürfe ihrer Gegner ins Leere laufen zu lassen. Die vermeintlich allgemeine Reaktion wird zunächst als »Gespenst« dargestellt und geleugnet, denn »wenn alle die Reaction furchten, wer bleibt übrig, sie zu wollen und zu unternehmen?« Nur eine verschwindende Minderheit wolle noch ein Zurück zum Absolutismus, da man hinter die Stufe einer konstitutionellen Monarchie nicht mehr zurückgehen könne. 162 Die Vertreter einer »ab156 157 158 159 160 161 162

Ebd., S. 349. Vgl. Schwentker, S. 57 ff. In: Fischer, Deutsche Zeitungen, S. 211. Neue Preußische Zeitung, Nr. 5 vom 6.7.1848. Ebd., Nr. 4 vom 5.7.1848. Ebd., Nr. 60 vom 8.9.1848. Ebd., Beilage zu Nr. 42 vom 18.8.1848.

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strakten Restauration gibt es entweder gar nicht oder einflußlose«.163 Darüber hinaus findet aber auch eine positive Umdeutung der Reaktion statt, wie aus einem Artikel über »Die Reaction« Anfang Juli hervorgeht. Auf den Vorwurf, die »Kreuzzeitung« vertrete nur überholte Ideen, antwortet das gescholtene Blatt: »Es ist wahr, unsere Ideen sind alt... Aber eben weil sie alt sind, sind sie auch neu. Nichts veraltet so schnell, als das Nagelneue. Der Strom der Revolution hat sie [d. i. die Revolutionäre] auf den Strand geworfen.... Was ewig ist, bleibt immer neu, denn Ewigkeit ist eben sowohl Zukunft als Vergangenheit.« 164

Aufgrund der Persistenz ewiger Werte verlören die einzelnen Zeithorizonte ihre Konturen und verschwömmen ineinander. Deshalb dürfe der erforderliche »kühne Griff«, so sechs Wochen später, nicht in Gagernscher Weise »das Resultat der Geschichte« vernichten, sondern man brauche »einen kühnen Griffin positiver Weise, der die Vergangenheit in die Zukunft hinüberfuhrt«.165 Dies sei schließlich keine Reaktion solcher Art, wie sie den Konservativen von der Linken vorgeworfen werde, »denn wir wollen vom Schlechten zum Guten zurückkehren und nicht umgekehrt; damit wir das können, vereinigen wir alle unsre Kräfte auf Einen Punct, und verbannen wir zuerst die unglückselige Furcht vor dem Gespenst der Reaction!«166 Das Schreckgespenst der Reaktion mutierte zum Erwartungsträger; es hatte die Rückkehr zu bewährten Traditionsbeständen zu gewährleisten, die zeitlos auch in die Zukunft hinein gelten sollten. Diese permanente Selbstaktualisierung der konservativen Positionen durch den Zeitenlauf hindurch unterlag zwar letztlich kaum noch einer Entwicklung, hatte aber den Vorteil der Selbstvergewisserung, innerhalb bewegter Zeiten nie zu altern. Im Vergleich zu den Radikalen, die »das energischere Verhalten, die größere Kühnheit, das gewaltigere Anziehen ihrer Kräfte für bestimmte einzelne Stöße« auf ihrer Seite haben, könnten die »Conservativen dagegen einen mächtigen Factor für sich in die Wagschale legen« und zwar »in den einfachen Ausdehnungen der Zeit und des Raumes. Alle Vortheile, welche die Benutzung längerer Zeit und weiterer Räume gewährt, kommen den Conservativen fast mühelos zustatten«.167 Der die Radikalen plagende Zeitdruck, ihre langfristigen revolutionären Ziele im Wettlauf mit der erstarkenden Gegenrevolution verwirklichen zu müssen, galt nicht für einen Konservativismus, der sich über längere Zeiträume hinweg definierte 163 Ebd., Nr. 57 vom 5.9.1848. Auch Kondylis kommt zu dem Urteil: »In dieser Verharmlosung oder Leugnung der Reaktion als politischer Macht und Gefahr bestand die maßgebliche Einstellung der Gegenrevolutionäre 1848.« (Kondylis, Reaktion, S. 203). 164 Neue Preußische Zeitung, Nr. 5 vom 6.7.1848; vgl. zum ewig Neuen des Alten auch ebd., Beilage zu Nr. 10 vom 12.7.1848. 165 Ebd., Beilage zu Nr. 40 vom 16.8.1848. 166 Ebd., Beilage zu Nr. 42 vom 18.8.1848. 167 Ebd., Nr. 57 vom 5.9.1848.

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und für den die Zeit arbeitete - im Gegensatz zum revolutionären Momentanismus‹.168 So könnte man von einen reaktionären Attentismus sprechen, zumal wenn Ernst Ludwig von Gerlach in seiner Rundschau Anfang September darauf verweist, daß sich die Revolution im Laufe der Zeit von selber destruieren werde und deshalb keine reaktionäre Übereilung nötig sei.169 Im Gegensatz zur sich zeitlos gebenden Reaktion wird der Revolution schon bald unterstellt, sie sei nicht mehr auf dem neuesten Stand der Zeit, so in der August-Rundschau: »Die Revolution, obschon sie erst vier Monate zählt, veraltet.« Sie habe nun ihr bekanntes destruktives Wesen offenbart: »Die Greuel der Verwüstung liegen vor Augen, die drohenden Gefahren sind deutlich zu erkennen.«170 Wenige Tage darauf verzeichnet die »Kreuzzeitung« einen Artikel über die »Abnahme des Revolutionsfiebers«: »Der GährungsstofT, in den unser öffentliches Leben seit den verhängnisvollen Märztagen versetzt ist, klärt sich täglich mehr ab und die Wogen, die noch jüngst so hoch gingen, ebenen sich zusehends, so daß wir nach menschlicher Berechnung in Kurzem eine ruhige und friedliche Reformation eintreten sehen können.«171 Und die Rundschau Anfang September erklärt ebenfalls: »Der Märzrausch verklingt.«172 Das, was die Revolution zunächst versprach, nämlich beschleunigt in eine neue Zeit aufzubrechen, hatte sich also nach konservativer Auffassung nun als ein gewaltsames Strohfeuer offenbart. Und dennoch warnt die »Kreuzzeitung« trotz der sich abzeichnenden Niederlage der revolutionären Bewegungen in Italien, Frankreich und Deutschland davor, sich der »optimistischen Täuschung« hinzugeben, »als wenn die Revolution schon jetzt im Rückzug begriffen wäre«. Denn selbst wenn sie an ihrer Spitze, nämlich in den Nationalversammlungen, verwelke, wirke sie subversiv »unten an der Wurzel, in den Massen, immer weiter fort«.173 Jetzt habe sich endlich der konservative Widerstand gegen diese latente revolutionäre Gefahr formiert, denn nach der Märzeuphorie machten sich die Realitäten geltend - »die erhaltenden wie die zerstörenden«.174 Auch wenn die Revolution wegen ihrer anarchischen Destruktivkräfte fur Konservative letztlich keine neue Zeit repräsentieren konnte, blieb sie Angelpunkt für deren Selbstbestimmung. Die Radikalisierung der Straße seit der Krise um den Malmöer Waffenstillstand machte die revolutionäre Widerständigkeit entgegen dem unterstellten Alterungsprozeß nur um so offensichtlicher. Die zweite Phase der Revolution wird deshalb von zentraler Bedeutung sein, da sich in ihr die konservativen Zeiterfahrungen weiter schärfen und ausdifferenzieren sollten. 168 Diesen Begriff prägte Bohrer,Zeitder Revolution, S. 131 ff. 169 Vgl. Neue Preußische Zeitung, Nr. 60 vom 8.9.1848. 170 Ebd., Nr. 33 vom 8.8.1848. 171 Ebd., Beilage zu Nr. 40 vom 16.8.1848. 172 Ebd., Nr. 60 vom 8.9.1848; vgl. auch ebd., Nr. 55 vom 2.9.1848. 174 Ebd., Nr. 33 vom 8.8.1848. 173 Ebd., Nr. 55 vom 2.9.1848. 293 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

VIII. Krise und Ende: Auseinandersetzung mit Revolution und Reaktion Der europäischen Kettenrevolution im Frühjahr 1848folgteeine Kettenreaktion auf gouvernementaler Ebene und leitete für Europa eine Revolutionswende ein.1 Die anfangs vor der Revolutionsgewalt zurückschreckenden alten Regierungsgewalten in Wien und Berlin hatten sich rasch erholt und frischten ihr wiedergewonnenes Selbstvertrauen durch die militärische Niederschlagung des polnischen und Prager Aufstandes, die Nachricht der Zerschlagung des Pariser Juniaufruhrs und durch den österreichischen Sieg in Oberitalien auf Trotz der Institutionalisierung der Revolution in Deutschland durch die Konstituierung der Nationalversammlungen in Frankfurt und Berlin hielt sich auch hier ein permanentes Unruhepotential, das sich im September in zahlreichen sozialen Protesten Luft machte: »In dieser Septemberbewegung kulminierten soziale Enttäuschung, lokalverhafteter Protest, nationale Begeisterung, antipreußisches Ressentiment (wegen der Entwicklung in Schleswig-Holstein) und demokratische Furcht vor dem Sieg der Reaktion wie im März in einer Abfolge einzelner Aktionen.«2 Die am 16. September erfolgte Annahme des Malmöer Waffenstillstandes durch die Nationalversammlung war das Initialereignis für einen erneuten Revolutionsausbruch in Frankfurt und Baden. Die Vertreter der Paulskirche gaben Handlungsmöglichkeiten zugunsten Preußens aus der Hand, das den Waffenstillstand zu überwachen hatte. Noch gravierender: Bei den jetzt ausbrechenden Unruhen mußten sie aufgrund der militärischen Schwäche der Reichsgewalten auf die Einzelstaaten zurückgreifen, um der Aufstände, an denen sich die parlamentarische Linke nicht beteiligte, Herr zu werden. In der Septemberkrise um die Schleswig-Holstein-Frage und die Sozialrevolutionären Bestrebungen war das Militär als Sieger hervorgegangen, die Frankfurter Nationalversammlung hingegen erlitt einen großen politischen Ansehensverlust, und die Spaltung im verunsicherten Bürgertum zwischen Liberalen und Demokraten vertiefte sich. Die wenig später einsetzende Debatte über die Grenzen des zu schaffenden Nationalstaates verschärfte und verkomplizierte die politische Auseinandersetzung noch weiter und führte in der Nationalversammlung zu Fraktionsumschichtungen. Die brutale Wiener und die kalte Berliner Gegenrevolution stärkten die Reaktion entscheidend und ließen die Nationalversammlung ohne machtpoliti1 Vgl. auch im folgenden Siemann, Deutsche Revolution, S. 157 ff 2 Ebd., S. 162; vgl. auch die detaillierte Beschreibung der Septemberkrise von Valentin, Bd. 2, S. 95 ff.

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schen Rückhalt dastehen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war das Scheitern der Revolution in Deutschland bereits ausgemachte Sache. Der faktische Staatsstreich in Berlin hatte die Machtfrage, die sich an dem Problem der Oberherrschaft über das Militär entzündete, zugunsten der alten Gewalten entschieden. Die Anfang Dezember oktroyierte Verfassung war aufgrund ihres fortschrittlichen Charakters - allgemeines gleiches Wahlrecht - ein Verständigungsangebot an die gemäßigten Reformhoffnungen der Liberalen, entpuppte sich aber bald als ein mehr oder weniger verschleierter Weg in die Reaktion. Ihre Revolutionsfeindschaft ließ Liberale aber weiter Kompromißbereitschaft gegenüber der Reaktion üben, währenddessen Demokraten in die Radikalisierung getrieben wurden. In diesem europaweiten Reaktionsklima brachte die Frankfurter Nationalversammlung dennoch eine beachtenswerte Reichsverfassung zustande, welche die drei großen Problemkomplexe entsprechend der aktuellen politischen Entwicklung zu lösen schien: Umfang des Reichsgebietes, Machtverteilung innerhalb des Staates und die Oberhauptsfrage. Das Resultat war einen Kompromiß aus starken demokratischen Elementen im Wahlrecht und monarchischen an der Staatsspitze. Die Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König hingegen brachte diese gemeinsame verfassungsrechtliche Kraftanstrengung von Liberalen und Demokraten wieder zu Fall. Die Reichsverfassungskampagne spaltete die Paulskirche endgültig, da die Unterstützung außerparlamentarischer Aktionen für das Selbstverständnis der liberalen Mehrheit der erste Schritt in die revolutionäre Anarchie bedeutete und sie am Vereinbarungsprinzip mit den einzelstaatlichen Dynastien festhielten. Die meisten Liberalen verließen aus eigenem Antrieb oder auf Druck ihrer Regierungen die Nationalversammlung. Das zurückgebliebene linke »Rumpfparlament« war zunehmend isoliert und verlegte seinen Sitz nach Stuttgart. Die Reichsverfassungskampagne erlebte eine breite Unterstützung durch Demokraten- und Arbeitervereine, hingegen kaum durch Liberale, die ihre Tätigkeit nach dem Rückzug ihrer Repräsentanten aus der Nationalversammlung weitgehend einstellten. Abschreckend mußten für Liberale auch die republikanischen Tendenzen erscheinen, die nun nach dem Scheitern des Verfassungskompromisses in den Aufständen unverhüllter zutage traten. 1. Reaktionäre Selbstfindung in der Omnipräsenz des revolutionären Prinzips Die Krise um die Annahme des Malmöer Waffenstillstandes gerät für die konservativen Zeitgenossen in der »Kreuzzeitung« zu einer »Stunde der Entscheidung«, in der noch gewählt werden könne »zwischen dem Fortschreiten auf dem Wege gesetzlicher Entwicklung und dem Hereinbrechen wildester

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Rechts- und Gesetzlosigkeit«. Der drohende Krieg und Rechtsbruch aufgrund der Kompetenzanmaßung der Nationalversammlung würden über das Schicksal Preußens und ganz Deutschlands entscheiden.3 Die Frage um SchleswigHolstein wird von dem konservativen Blatt eng verzahnt mit der Rolle der Paulskirche als Vertreterin der fortdauernden Revolution. So begrüßt es schließlich die Annahme des Waffenstillstandes mit den Worten: »Damit nun ist überhaupt der Tag angebrochen, wo der Revolution die Spitze geboten werden kann, aber auch muß.« Da das Gesetz des Handelns nun auf Preußen übergegangen sei, müsse dieser Anfangserfolg zu einem umfassenden reaktionären Gegenschlag genutzt werden.4 Die Septemberaufstände, gipfelnd in der Ermordung des Fürsten Felix von Lichnowsky und des Generals Hans von Auerswald, ließen eine Radikalisierung der Revolution aber wiederum möglich erscheinen. Die »Kreuzzeitung« fühlt sich in ironischer Weise daran erinnert, daß »das kluge, das besonnene, das gerechte deutsche Volk .„ auf eine glorreiche Weise in die Phasen der französischen Revolution von 1792 eingetreten« sei.5 Die Entwicklung seit dem März, so wenige Tage später in einem Artikel über den »Erfolg unserer Revolution«, habe keineswegs die Ergebnisse gebracht, »deren Verheißung zu Anfang ihr Programm erfüllte«. Vielmehr habe sie »dieselben Lasten uns in nur noch drükkenderem Maße auferlegt, in dieselben Schwierigkeiten und Mißverhältnisse sich noch viel unauflöslicher verwickelt«. Statt in eine neue Zeit bewege man sich zirkulär: »Ist es da zu viel gesagt, daß einem zu Muthe wird, als würde die Welt von einem bösen Geiste im Kreise herumgeführt? Ist die Revolution eine Verjüngung unseres Nationallebens, oder nicht vielmehr die Zusammenziehung dessen, was gewesen ist, und dessen, was sein wird, in Eine Carricatur des deutschen Volkes und des germanischen Staates?«

Der progressive Lauf der Revolution hatte demnach einen Punkt erreicht, von dem aus er sich anschließend wieder an den Ausgangspunkt zurückbewegte. Vergangenheit und Zukunft manifestierten sich in diesem revolutionären Kreislauf in konzentrierter Form, ohne die geschichtliche Entwicklung letztlich linear weitertreiben zu können. Deshalb standen politische und soziale Revolution nicht mehr in einer notwendigen Folgebeziehung, sondern fielen im Augenblick der akuten Umwälzung 1848 zusammen: »Alle revolutionäre 3 Neue Preußische Zeitung, Nr. 64 vom 13.9.1848. Am Tage der zweiten Abstimmung in der Nationalversammlung über den Waffenstillstand versteht es das Blatt dennoch, sich gegen die Eventualität der erneuten Ablehnung abzusichern; denn diese könne zum Anlaß genommen werden, den preußischen König von der Berliner und Frankfurter Nationalversammlung zu emanzipieren und ihm endlich wieder Handlungsfreiheit zu geben (vgl. den Artikel »Die Crisis«, in: ebd., Nr. 67 vom 16.9.1848). 4 Ebd., Nr. 73 vom 23.9.1848. 5 Ebd., erste Beilage zu Nr. 79 vom 30.9.1848.

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Politik ist socialistisch und communistisch, sowie aller Socialismus und Communismus politische Revolution ist. Politisch und social - bedeutet insofern dasselbe.«6 Eine Revolution hätte demnach also ihr inneres Entwicklungsgesetz aus dem Vormärz, das sie von einem politischen zu einem sozialen Umsturz treibt, eingebüßt und würde gegenwartszentriert in sich selber kreisen. Könne eine Revolution nicht mehr eine neue Zukunft für sich beanspruchen, dann werde sie aus der Geschichte heraus begreifbar, so die Hoffnung in einem Artikel »Aus der Geschichte der Revolution«: Der Vergleich des preußischen Staatsstreichs mit dem 18. Brumaire sei insofern gerechtfertigt, »daß wir hoffen, es werde dieser Tag den Abgrund unser Revolution schließen, wie jener den Abgrund der Revolution von 1789 schloß«. Diese Erwartung sei deshalb gerechtfertigt, weil »der naturgemäße Gang, den wir bei allen Revolutionen finden, nach einmal entschiedenem Sinken weder ein sofortiges neues Steigen, noch überhaupt ein kräftiges Wiederaufleben derselben revolutionairen Elemente zuläßt. Nur eine ganz neue Revolution wäre denkbar, aber nur unter ganz neuen Einflüssen, und nach Verlauf längerer Zeit.«7 Aber während dieser »längeren Zeit« müsse man, so in einem Vergleich zwischen dem März und dem November 1848, der Revolution ständig gegenwärtig bleiben, denn auch nach Jahren scheinbarer Ruhe, die den blutigen Schauplatz der Revolution gereinigt hätten, bleibe die »bloße Erinnerung, daß sie überhaupt da sein durfte, daß sie so zu sagen ratificirt wurde, ein kaum zu bewegendes Hinderniß für die dauerhafte Herrschaft der Ordnung«.8 Somit zeigten sich konservative Revolutionserfahrungen weiterhin zwiespältig: Einerseits hatte sich die Revolution als Unternehmen demaskiert, das seine zukunftsträchtigen Versprechen nicht einzulösen vermochte, sondern zerstörerisch in der Gegenwart kreiste; andererseits blieb sie trotz ihrer Vergänglichkeit und ihres immer wieder prognostizierten Endes ständiger Bezugspunkt fur das konservative Selbstverständnis. Da die Revolution auch nach der Ausschaltung der preußischen Nationalversammlung und nach den Unterdrückungsmaßnahmen gegen die radikalen Demokraten, also mit erfolgreicher Reaktion in Preußen, weiterhin Kristallisationspunkt für Konservative war, konnte ihre verzeichnete Radikalisierung nicht alleiniger Grund für ihre fortwährende Präsenz im konservativen Denken sein. Vielmehr wird auf einen Aspekt verwiesen, der die Revolutionen seit 1789 gegenüber allen bisherigen Umwälzungen heraushebe, wie Stahl in den »Betrachtungen über die Revolution« schon Anfang September ausführt: »Man hat durch die ganze Geschichte durch Revolutionen gehabt, aber nie hat man es als einen Ruhm der Nation betrachtet, sie zu haben, man hat durch die ganze Geschich6 Ebd., Nr. 86 vom 8.10.1848. 7 Ebd., Beilage zu Nr. 124 vom 22.11.1848. 8 Ebd., Beilage zu Nr. 34 vom 10.2.1849. 297 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

te durch Verfassungen in Folge von Revolutionen geändert, nie hat man die Revolution selbst als eine Verfassung oder als ein Princip der Verfassung betrachtet. Jetzt gehört es zur Vollbürtigkeit einer Nation, daß sie eine glorreiche Revolution vollbracht habe, und es gehört zur Vollkommenheit der Verfassung, daß sie auf einer glorreichen Revolution stehe, daß man für Gesetze und Einrichtungen und Regierung nur sie zum Maß habe.«9 Deutschland habe sich einer »absoluten Revolution« verschrieben, nicht bloß einer »Umwälzung des bestehenden politischen oder socialen Zustandes«, sondern einer »Umwälzung der ewigen Gesetze menschlicher Ordnung, es ist geradezu die Entsittlichung des gesellschaftlichen Verbandes«.10 Um eine Revolution zu rechtfertigen, müsse sie ein Ziel haben, doch die Märzrevolution sei ohne Zweck gemacht und, was das Verwerflichste sei, gefeiert worden, um so jeder menschlichen und göttlichen Ordnung Hohn zu sprechen. Keine gefeierte Revolution habe bis jetzt »irgend einen dauernden und befriedigenden Zustand« herbeiführen können. Statt eine neue Ordnung zu gewährleisten, bedeute die Anerkennung der Revolution »die Umwälzung selbst, die das Princip der Ordnung für immer bleiben soll«. Noch Mitte März des folgenden Jahres beklagt sich ein konservativer Beobachter der Zeitläufte über die Revolutionsfeiern, die schon Frankreich demoralisiert und verwüstet hätten: »erst durch die Feier der Revolution hat das Volk den Aufruhr und das Verbrechen als sein Staatsrecht anerkannt.«11 Den Umsturz zum zeitlosen Prinzip, zum Selbstzweck erklärt - damit war der Revolution die Möglichkeit genommen, als Mittel für einen zäsurhaften Übergang in eine neue Zeit fungieren zu können. Als permanentes Fest konnte sie so aber auch in einer krisenreich beschleunigten Zeit immerzu als Gegenpol einer Reaktion dienen, die sich von ihr absetzen mußte. Ein revolutionärer Umsturz institutionalisierte nach konservativer Auffassung einen Zustand, dem die Rechtlosigkeit als Prinzip inhärent war und der ständig in diese umschlagen konnte und deshalb den Konservativismus auf den Plan rief Auch hinter der reformerischen und gesetzlichen Arbeit der Nationalversammlung wurde das revolutionäre Prinzip als treibende Kraft vermutet: »Um die Revolution zu fördern, muß man es verstehen, sie mit dem weißen Mantel der Legalität zu bekleiden«. Das, was preußische Konservative fürchten, sei »die legale Revolution von oben, das ist die Verdrehung der Obrigkeit von Gottes Gnaden in die von Volkes Gnaden, das ist die Lüge, daß Recht und Gesetz identisch sei ... Hier ist der wahre Feind, nicht hinter den Barricaden.«12 Nur der harten 9 Stahl, Revolution, S. 1. Die erste Abhandlung dieser Anfang Dezember erschienenen Schrift wurde in der Neuen Preußischen Zeitung, zweite Beilage zu Nr. 55 vom 2.11.1848 abgedruckt. Um einzelne Zitate den entsprechenden Seitenzahlen genauer zuweisen zu können, wird im folgenden auf den separaten Druck zurückgegriffen. 10 Ebd., S. 2, 4, 8, 10; vgl. auch Neue Preußische Zeitung, Nr. 103 vom 28.3.1848. 11 Neue Preußische Zeitung, Nr. 64 vom 17.3.1849. 12 Ebd., Nr. 74 vom 29.3.1849. 298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Haltung des preußischen Kabinetts sei es zu verdanken gewesen, so die »Kreuzzeitung« während der Reichsverfassungskampagne, daß alle Versuche der Nationalversammlung fehlschlügen, »die Revolution durch Gesetze für permanent zu erklären«. 13 U n d als sich die Zeit der Barrikaden dem Ende zuneigte, betont das Blatt weiterhin die subversive Gefahr einer Revolution, auch wenn die Revolten besiegt worden seien: »Es ist eine gefährliche Täuschung, mit den Revolten auch die Revolution besiegt zu wähnen und über den äußeren Streit den inneren Gegensatz zu vergessen. Die Revolten sind Nichts als die Parteigänger der Revolution, und wie diese haben sie kein anderes Ziel als Gold, und der Ausgang des Kampfes hat für sie nur ein persönliches Interesse. Anders die Revolution, um so gefährlicher je friedlicher, weil um so mächtiger und allgemeiner. Sie ist die Staatsverfassung ›des Geistes, der stets verneint, nach Unten und nach Innen durch Despotie, nach Oben und nach Unten durch Rechtsverachtung und Empörung. Wie ihr Gegensatz, kommt sie nicht mit äußerlichen Geberden, nicht mit Sturmläuten und Barrikadenbau, sondern ist inwendig in den Menschen eine dämonische Gestalt, die einem großen, verhängnisvollen Zwecke dient.«14 Auf Dauer sei es unmöglich, »mit dem zum Gesetz erhobenen Niederschlag der Revolution zu regieren« und »sichere Grundlagen für eine gedeihliche Entwicklung des Völkerlebens zu bilden«. 15 Deshalb müsse man die »ungesunden Märzerrungenschaften ... aus der Gesetzgebung entfernen und unserm Staatsleben wieder sein Fundament auf seiner natürlichen und geschichtlichen Entwicklung« geben. Selbst und insbesondere eine legalisierte und evolutionäre Entwicklung, an deren Anfang eine Revolution stand, lehnten Konservative ab, da sie als ultima ratio den Keim weiterer revolutionärer Umwälzungen in sich trug und den Konservativismus von seinen geschichtlich begründeten Herrschaftsrechten abschnitt. Gerade ein liberal oder demokratisch gedeuteter Reformprozeß wurde also als eine Gefahr gedeutet, kontinuierlich in eine Zukunft aufzubrechen, in der konservative Ordnungs- und Legitimitätsvorstellungen immer weniger Platz hatten. Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn in einigen Artikeln der »Kreuzzeitung« die oktroyierte preußische Verfassung vom 5. Dezember wegen ihres liberal-fortschrittlichen Charakters - ζ. Β. im allgemeinen und gleichen Wahl­ recht für die zweite Kammer - als ein Auftakt zu weiteren Revolutionen und eine Gefahr für traditionelle Besitz- und Herrschaftsstände gedeutet wird. 16 Die Auflösung der Nationalversammlung und die Verfassung werden zwar als ein »Wendepunkt in der Entwicklungskrankheit des Preußischen Staates« interpretiert, ließen aber dem Königtum keine Möglichkeit der freien Entfaltung: 13 14 15 16

Ebd., Beilage zu Nr. 120 vom 26.5.1849. Ebd., Nr. 141 vom 21.6.1849. Auch im folgenden ebd., Nr. 142 vom 22.6.1849. Zum zwiespältigen Charakter der Verfassung vgl. Valentin, Bd. 2, S. 291 ff.

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»Dadurch wird der fünfte Dezember zugleich der Anfang einer neuen Periode, und zwar, daß wir unsern Gedanken gleich herausjagen, im günstigsten Falle der Anfang einer langen Revolutionsperiode voll schwerer ungewisser Kämpfe, die das gährende Vaterland über Berg und Thal fuhren wird.«17 Wenige Tage darauf wird in einem weiteren Artikel beklagt, daß die Verfassung zu viele liberale und demokratische Forderungen berücksichtigt habe und deshalb die Fortsetzung der Revolution bedeuten könne.18 Der Rückblick auf das entschwindende Jahr inspiriert einen Zeitgenossen, von dem Antritt der Erbschaft des Jahres 1848 zu sprechen, dessen Testament am 5. Dezember geöffnet wurde und »lauter klare Schulden, lauter illiquide Forderungen« enthalte. Und Gerlach sieht schließlich die »November-Errungenschaften« durch die Verfassung als Auftakt »zu einem neuen, langen und schweren Krieg«, in dem der »Revolutionsspuk ... neuerdings als furchtbarer Feind uns in die Schranken ruft«.19 Selbst die eingeschränkten Zugeständnisse der Krone an einige Ideen der Revolution werden als Ausdruck des revolutionären Prinzips gedeutet. Jedoch die »Reaktion mußte sich etappenweise vollziehen«, wie schon Valentin in seiner Einschätzung des preußischen Verfassungswerkes bemerkte.20 Auch die »ganz persönlichen Wünsche des Königs nach einem feudalen Oberhaus und einem auf abgestuftem Klassenwahlrecht beruhenden Unterhaus waren zunächst nicht berücksichtigt« worden. Hingegen stellten einige Artikel der Verfassung Revisionsmöglichkeiten insgesamt oder in einigen Aspekten, z. B. das Wahlrecht für die zweite Kammer betreffend, in Aussicht. Hinzu kamen in den liberal anmutenden Paragraphen zahlreiche »reaktionäre Fußangeln« vor, die vielfältige königliche Notverordnungsrechte vorsahen. Der »König blieb also wie ein mittelalterlicher Burgfried absolutistisch aufrechtstehen in dieser Verfassung« und bereitete so den »evolutionäre[n] Weg in die Reaktion« vor. Daß dies auch mit Hilfe einer konstitutionellen Monarchie geschehen konnte, wie sie preußische Reformkonservative verstanden, wird aus einem Artikel Hubers ersichtlich, geschrieben Ende November, erschienen am 5. Dezember in der »Kreuzzeitung«. Hier meldet sich »Eine Stimme der wirklichen Reaktion« zu Wort, die Stellung bezieht gegen den von der Revolution monopolisierten Begriffder »konstitutionellen Monarchie«, den »wir in keiner Weise als mit dem Wesen der Monarchie verträglich anerkennen können, indem sie volksthümlichen Organen alle formelle und faktische Entscheidung zuweist«.21 Hiervon müsse sich der Konservativismus absetzen:

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Neue Preußische Zeitung, Nr. 140 vom 10.12.1848. Vgl. ebd., Nr. 144 vom 15.12.1848. Ebd., Nr. 1 vom 3.1.1849. Auch im folgenden Valentin, Bd. 2, S. 291 ff.; Siemann, Deutsche Revolution, S. 174. Auch im folgenden Neue Preußische Zeitung, Beilage zu Nr. 135 vom 5.12.1848.

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»Wir haben uns zu der wirklichen Reaktion bekannt insofern darunter der Wunsch, das Streben einer Rückkehr zu einem früheren Zustande gemeint wird, welches freilich besser mit dem Ausdruck Restauration bezeichnet werden dürfte. Wir erkennen allerdings ... in der Rückkehr zu dem Zustande den die Bewegungen der letzten neun Monate mit mehr oder weniger Erfolg zu zerstören gesucht haben die einzige Rettung für das Vaterland.« Auf dieser vorrevolutionären Grundlage werde es dann erst »um so entschiedener auf dem begonnenen rechten Wege vorwärts gehen«, um einen Ausgleich zwischen Sein und Werden zu erreichen. Ein neuer Wegfern von Revolutionen sei nur auf die Weise zu beschreiten, wie er sich in den Reformen des vormärzlichen Preußens schon angekündigt habe. Nach »allen Gesetzen der Logik und Ethymologie« könne man diesem Ziel den Namen einer »konstitutionellen Monarchie« mit größerem Recht geben, als es die revolutionären Doktrinen tun. Um sich aber von der allgemeinen Sprachverwirrung zu distanzieren, müsse man sich die Bezeichnung Reaktion gefallen lassen und sie zu neuen Ehren bringen. Eine konstitutionelle Monarchie wurde hier also zu einem Werkzeug der Reaktion, hatte nur eine Berechtigung, wenn sie eine Entwicklung begründete, die in der Vergangenheit wieder mit einem ungeschmälerten Königtum ansetzte. Die Reaktion, deren Rehabilitierung schon im Sommer 1848 eingesetzt hatte, sollte über diese Art der konstitutionellen Monarchie perpetuiert werden. In dem am 7. Dezember geschriebenen Vorwort zu seiner Schrift »Die Revolution und die constitutionelle Monarchie« begrüßt Stahl das Verfassungswerk, dessen geistiger Vater er war: »Wir begrüßen sie... vor allem deshalb mit Befriedigung, weil sie vom Könige ausgehend ..., dem Standpunkte der Revolution auch den letzten Schein nimmt.«22 Im Bereich der königlichen Rechte habe die Verfassung alle konservativen Erwartungen erfüllt, in anderen Teilen sei sie noch nicht endgültig festgelegt, auf einigen Gebieten - w i e bei der Bildung der Kammern - anderen Grundsätzen gefolgt, die für Konservative vom Schlage Gerlach ein Weiterleben der Revolution bedeuten mußten. Stahl unterscheidet in seiner Schrift wie Huber einen »falschen Constitutionalismus«, der sich im Parlamentarismus über die Macht des Königs stellen wolle, von einem »ächten Constitutionalismus«, den er aber nicht als Reaktion bezeichnen möchte. Dieses »monarchisch-constitutionelle« System verfocht Stahl schon im Vormärz, jetzt aber mit noch größerem Gewicht auf der monarchischen Seite. Nachdem die absolutistische Monarchie unwiederbringlich untergegangen sei, gelte es nun, die Ausübung der Souveränität des Königs konstitutionell zu sichern, nämlich »das unverletzliche, unentziehbare Königliche Recht, das aus eigener Wurzel, das von Gottes Gnaden ist, nicht vom Willen des Volkes«. Statt Gewaltenteilung sei die »Gemeinschaftlichkeit der Gewalt unter König und Volk« zu 22 Stahl, Revolution, S. VI. 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

garantieren: »Das Wesen der constitutionellen Monarchie ist darum nicht Alleinherrschaft oder Oberherrschaft des Volks, sondern Mitherrschaft des Volks ... Der König als Souverän bleibt aber immer die Urquelle und das Centrum der Gewalt«. So könne er eine Macht gegen die Volksvertretung und gegen die öffentliche Meinung darstellen, um auch der Minderheit Schutz gegenüber der Mehrheit zu gewähren. Die Volksvertretung hingegen solle als »wahre Repräsentation des Landes« nicht »der Ausdruck des Willens der numerischen Majorität, sondern der Ausdruck der wirklichen mannigfachen Interessen, der tiefern Intelligenz, der edlern Gesinnung der Nation« sein. So würden Elemente der Stetigkeit erhalten bleiben, damit »der Fortschritt der Zeit Umwandlung und Neubau und nicht bloß Zerstörung sei«.23 Fortschritt war hiermit aber auch ein Rückschritt von dem revolutionären Stand einer weitgehenden Parlamentarisierung zu den vorrevolutionären legitimistischen Prärogativen der Krone gegenüber einer ständisch-parlamentarischen Repräsentation. Eine Verfassung sollte diese monarchischen Rechte bei der Ausübung absichern, begründet wurden sie aber weiterhin aus einer vorkonstitutionellen Tradition heraus. Ein fundamentaler Schritt zurück hatte also in revolutionären U m bruchzeiten erst einen Fortschritt zu garantieren, welcher der Zeitbeschleunigung im Sinne der konservativen Herrschaftseliten entgegenkommen sollte, um sie so zu neutralisieren. Die Position der »Mitwirkung an der politischen Willensbildung nach Maßregeln demokratischer Prinzipien«, wie sie Wolfgang Schwentker Stahl zuschreibt, hatte letztlich das Ziel der monarchischen Restitution. 24 Dies meint auch ein Artikel aus der »Kreuzzeitung«, in dem kurz nach Verabschiedung der Erfurter Reichsverfassung die Frage diskutiert wird, ob die Verfassung des Deutschen Bundes nach der Revolution noch Geltung habe: »Was wir meinen, wird Jeder Verstehen, der mit uns die letzte Berufung des vereinigten Landtages als einen Gegensatz der Revolution begrüßte, und was wir wollen ist nicht das Alte, sondern die organisierte Verbindung des Neuen mit dem Alten. Die Motive und Formen des Neuen entnehmen auch wir aus der Gegenwart, nicht wegwischen sondern unterordnen wollen wir die neuen Gestaltungen.«25 Absolutes Veto des Reichsoberhaupts und Dreiklassenwahlrecht für das Volkshaus zeigten an, das die neue Verfassung dem monarchischen und aristokratischen Prinzip neue Festigkeit verleihen sollte. In der oktroyierten Verfassung vom Dezember konnte Stahl einen guten Teil seiner Vorstellungen verwirklicht finden, gaben doch allein mehrere Notver23 Ebd., S. 15, 17, 64, 76, 74 f.; vgl. auch Neue Preußische Zeitung, erste Beilage zu Nr. 22 vom 27.1.1849: »König und Unterthanen, Obrigkeit und Freiheit, so geschützt und von diesem Geiste bedeckt, verbunden zu einer großen Einheit, in derjedes Glied des anderen Leid und Freud empfindet, das ist die constitutionelle Monarchie.« 24 Schwentker, S. 99. 25 Neue Preußische Kreuzzeitung, Nr. 123 vom 31.5.1849.

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ordnungsrechte, die finanzielle Unbeschränktheit und das absolute Veto der Krone Rechte in die Hand, mit denen eine weitere Parlamentarisierung trotz der demokratisch gewählten zweiten Kammer verhindert werden konnte. Hier vollzog sich also schon die von Konservativen immer wieder geforderte retrograde Entwicklung - auch wenn sie von vielen nicht sofort als eine solche erkannt wurde und »fortschrittliche« und der sozialen Frage aufgeschlossene Reformkonservative wie Stahl und Huber diese Entwicklung verbrämten. Noch einen Tag vor der Verlegung der preußischen Nationalversammlung nach Brandenburg erscheint in der »Kreuzzeitung« ein Artikel mit dem programmatischen Titel »Rückwärts«. Das allgemeine Fortschrittsgeschrei sei langsam verstummt, seitdem man »bis zu den Grenzen der rothen Republik vorangeschritten« sei. Stehenbleiben könne man in dieser bewegten Zeit so kurz vor dem Abgrund nicht: »So müssen wir denn einige Schritte rückwärts thun. Also Reaction, ja Reaction oder Pöbelterrorismus, rothe Republik!«26 Auffällig ist, daß gerade vor den Wahlen für die preußische Volks- und die Ständevertretung am 22. Januar 1849 diese Notwendigkeit eines Rückschritts in der »Kreuzzeitung« betont wurde. So kritisiert ein Artikel die Visionen, die den demokratischen Aktionen vorausgingen, und bricht statt für die geschmähte Reaktion eine Lanze für die Revision: »Die Forderungen der Zeit müssen stets revidiert werden, um unnachsichtig dasjenige auszuscheiden, was darin das Maaß der Bedürfnisse überschreitet, ja den Bedürfnissen, nach richtiger Einsicht, zuwider ist.« Die notwendige Revision müsse in der Abschaffung der Demokratie und der Wiederherstellung des unverhüllten aristokratischen Staatszwecks bestehen.27 In einem weiteren Artikel wundert sich der Verfasser über die Silbe ›Re‹, die den Wörtern ›Reaktion‹, ›Reform‹ und selbst ›Revolution‹ gemeinsam sei: »Ist wirklich alles Ringen und Kämpfen der Menschen nicht nach vorn, sondern nach hinten gerichtet? Giebt es gar kein Fortschreiten zu höheren und vollkommeneren Zuständen, sondern nur ein Rückschreiten zu dem, was schon gewesen ist?«28 Und dennoch sei nicht alles eitel: »Rückwärts und doch vorwärts, alt und doch neu, schwach und doch mächtig, - das ist unsere Losung.« Man müsse eben aus göttlicher Perspektive auf den menschlichen Heilsweg schauen, um »Anfang, Mitte und Ende der via sacra« zu überschauen. Die Sehnsucht des gefallenen Menschen nach dem verlorenen Paradies treibe ihn immer wieder zurück zu diesem entfallenen Gut. Wer sich mit dem Blick nach oben der Erbsünde entsinne und auf die notwendige Läuterung einstelle, der wisse, daß das Ziel des Menschen »sowohl rückwärts als vorwärts liegt«, daß es »ein schon verliehenes, aber verlorenes, ein zwar verlorenes, aber verheißendes Gut ist«, das nur von Gott stammen könne. Sofindeman im rückwärtig Verlorenen 26 Ebd., Beilage zu Nr. 111 vom 7.11.1848. 27 Ebd., Nr. 14 vom 18.1.1849. 28 Auch im folgenden ebd., Nr. 15 vom 19.1.1849.

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das Vorwärts und im Alten die Verheißung des Neuen. Für die politisch Handelnden bedeute dies aber: »So hoch sie auch das Banner ›Vorwärts‹ erheben, so laut sie diese Loosung in die Welt hineinschreien, das ›Rückwärts‹ bleibt ihr Theil, wider Willen denen, die dem Zeugniß und der Mahnung nicht Gehör geben und fortstürmen ohne aufzuschauen nach dem Licht von oben«. Jeder menschliche Versuch, eine neue Zukunft beschleunigt herbeizuführen, war hiernach also zum Scheitern verurteilt, denn die Menschheit bewegte sich letztlich immer nur zurück zu einer verlorenen Vergangenheit, die allein in eine Zukunft umgemünzt werden konnte, wenn sie darüber hinaus als göttliche Verheißung begriffen wurde. Religiös und heilsgeschichtlich verbrämt und legitimiert, geriet die erwünschte Retroentwicklung zu einer unausweichlichen Notwendigkeit, die im Gestern das Morgen zu finden hatte und der jeder Erwartungsgewinn abhanden kam, wenn sich die Grenzen von Vergangenheit und Zukunft verflüssigten.29 Deshalb kann auch ein Artikel über »Deutschlands Zukunft« die Selbstsucht der Zeit beklagen und mit dem Aufruf enden: »Darum zurück, deutsches Volk, zurück zur alten Treue, Ausdauer, Mäßigung! Zurück zur Sittlichkeit, zur Religion! Jene ist ohne diese ein hohles Gespenst. D a s Heil liegt nicht vor dir, sondern hinter dir!« 3 0

Die sich nach konservativer Anschauung radikalisierende Revolution gab schließlich der Reaktion erst das politische ›Recht‹, die erforderliche Regression vorzunehmen. Dieses ‹Recht‹ formulierte sie schon nach dem preußischen Staatsstreich im November, als sich die Spannungen zwischen Regierung und Berliner bzw. Brandenburger Nationalversammlung dramatisch verschärften. Wrangeis Einmarsch in Berlin, die Verhängung des Belagerungszustandes, der passive Widerstand der Abgeordneten und der Steuerverweigerungsbeschluß trugen dazu bei, in der »Kreuzzeitung« über das Recht einer Gegenrevolution zu reflektieren. Der Staatsstreich sei nur »das Minimum von demjenigen Recht, was aus der Lehre der Revolution auf Seiten des Staates« gefallen sei.31 Werde dem Volk das Recht zur Revolution zugesprochen, »so hat die Regierung ein Recht auf Contre-Revolution;... Contre-Revolution ist das Maximum von demjenigen Recht, was aus der Lehre der Revolution auf Seiten der Regierung fällt«. Deshalb springe der revolutionsgefährdetc Staat »zuletzt verzweiflungsvoll selbst in die Revolution und deren Rechte hinein«. Staatsstreich und Gegenrevolution werden zum Notwehrrecht gegen das revolutionäre »Recht des Nichtrechts« deklariert.32 Sie seien als »der erste Anfang abgedrungener Nothwehr der Krone« zu verstehen.33 Noch wenige Tage vor dem 8. Novem29 Vgl. ähnlich auch den Artikel »Von Oben oder von Unten?«, in: ebd., Nr. 16 vom 20.1.1849. 30 Ebd., Beilage zu Nr. 36 vom 12.2.1849. 31 Auch im folgenden ebd., Beilage zu Nr. 124 vom 22.11.1848. 32 Vgl auch die November-Rundschau, in: ebd., Beilage zu Nr. 114 vom 10.11.1848. 33 Ebd., Nr. 137 vom 7.12.1848.

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ber bemüht sich der Verfasser eines Artikels über die »Reaction«, dieser ihren negativen Charakter zu nehmen, denn »es existiert in Wahrheit eine Reaction gegen die Verneinungen der Revolution und gegen ihre frevelhaften Zerstörungen und Zwecke, und diese Reaction ist unbesiegbar, es ist die göttliche Vergeltung, die Macht der ewigen Gesetze Gottes für die Menschheit, welche sich immer wieder geltend machen ... Die Reaction beginnt, so wie das Zerstören ihr Raum geschaffen hat... Sie wächst mit der Anarchie.«34 So wie einstmals Liberale auf die Tabula rasa der Revolution angewiesen waren, um auf dieser Grundlage Reformen einzuleiten, beruhte für Konservative die erfolgreiche Reaktion auf einer Radikalisierung des revolutionären Umsturzes, die deshalb immer wieder beschworen werden mußte. Hubers schon erwähnte »Stimme der wirklichen Reaktion« bemerkt so auch trotz aller resignativen Züge, daß in einer schnellebigen Zeit das revolutionäre »Aergerniß und das Unheil als nothwendige Bedingung und Vorbereitung für das Ziel erscheinen kann, dem Preußen in dem früheren monarchischen Staat entgegenstrebte«.35 Bevor die gegenrevolutionäre Reaktion greifen könne, habe sich die Revolution erst selbst zu destruieren bzw. in ihrem Extrem zu vollenden, wie der Jahresrückblick der »Kreuzzeitung« meint.36 Die Rundschau von Mitte Februar übt scharfe Kritik an den »aus dem Glücksrade der Wahlen hervorspringenden Namen« für das preußischen Volkshaus, fragt sich aber, ob die Revolution vielleicht nicht den »Bemühungen wohlmeinender Conservativer, sondern ihrem eignen Siege, dem Uebermaße ihres eigenen Frevels und Unsinns erliegen soll? Der Sieg der Conservativen, wie sie jetzt sind, würde das Princip stehen lassen und ihm nur die Spitze abbrechen lassen, die aber immer wieder wächst. Der Sieg der Revolution würde das Princip selbst gründlich widerlegen und vernichten.«37 In einem weiterer Artikel drei Wochen darauf stellt der Verfasser, der die Diktion Radowitz' aufgreift, fest, daß jede Revolution über zwei Arten von Leuten verfüge: Die »Männer der Bewegung« stünden auf der »Höhe der Zeit« und gingen entsprechend dem Verlaufsmodell der Französischen Revolution von der absoluten über die constitutionelle und demokratische Monarchie bis hin zur Republik, die dann in Anarchie und schließlich Despotie münde.38 Die anderen hingegen, die »Männer der Mäßigung« wollten die Grenze einer bestimmten Stufe nicht überschreiten:

34 Ebd., Beilage zu Nr. 107 vom 2.11.1848. 35 Ebd., Beilage zu Nr. 135 vom 5.12.1848. 36 Vgl. ebd., Nr. 157 vom 31.12.1848. 37 Ebd., Beilage zu Nr. 38 vom 15.2.1849. 38 Auch im folgenden ebd., Nr. 57 vom 9.3.1849.

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»Hier angekommen, leisten sie Widerstand, suchen selbst umzukehren und rufen die Ideen der Ordnung, Gerechtigkeit und Mäßigung zur Hülfe. Aber ihres Rufens und ihres Ringens ungeachtet wird die inconsequente Revolution stets von der consequenten verschlungen, bis die consequenten Revolutionairs nach vollendeter Negation und am Ziele ihrer Wünsche sich unter einander zerreißen. Dies ist die Lehre der Geschichte zu allen Zeiten und in allen Ländern«. Dennoch müsse jedes Volk dies durch eigene Erfahrungen lernen, weil es immer wieder glaube, diesen Prozeß der Zerstörung in einer Revolution vermeiden zu können. Wer erst einmal eine Revolution auslöse, müsse sie also auch bis zum Ende ihrer Autodestruktion durchspielen - ein Gedanke, den Radowitz schon in den dreißiger Jahren hatte, als er angesichts der sozialen Aspekte der Julirevolution den Sieg der inkonsequenten politischen Revolution nur für einen vorläufigen hielt und weitere, soziale Erschütterungen erwartete. Mit der preußischen Ablehnung der Kaiserkrone und dem Beginn der Reichsverfassungskampagne schien auch für das dritte Deutschland das Ende der Revolution unübersehbar geworden zu sein. Die Entwicklung trieb auf den von den Konservativen erwarteten Höhepunkt der anarchischen Selbstzerfleischung zu. Jetzt traten die unvermittelten Gegensätze zutage, die es durch das entschlossene Auftreten der Reaktion zu verschärfen galt. Einen Tag nach dem Zusammenbruch des sächsischen Aufstands durch die Intervention preußischer Truppen hält die »Kreuzzeitung« die Stunde der Entscheidung für Deutschland gekommen - »und allem Anschein nach kann diese Entscheidung nur durch die Waffen, nur durch Bürgerkrieg erfolgen«.39 Erleichtert wird registriert, daß die Revolution nun endlich ihr zerstörerisches Potential offengelegt habe und daß sie »auf der einen Seite sich um Frankfurt, daß Recht, Ordnung, Freiheit... auf der andern Seite um Preußen sich scharren, und alle Halbheiten, alle treulosen oder feigen Vermittlungen wegfallen«. Die mit »Riesenschritten nahende Entscheidung«, so Ende des Monats, habe den »faulen Sumpf der Trägheit und Unentschiedenheit aufgeräumt und die Gegensätze der Zeit schärfer aus- und aneinander« getrieben. 40 Nun erst, wo noch einmal »das wüste Meer der Revolution« Deutschland erschüttere, so Gerlach in seiner MaiRundschau, könne das, was die Gegenrevolution im Oktober und November begonnen habe, durch ein Zusammengehen der preußischen mit der österreichischen Reaktion ihre Vollendung finden.41 Und in der Rundschau einen Monat später rechtfertigt Gerlach noch einmal, daß Preußen nicht gegen die Frankfurter Paulskirche marschiert sei, weil sich nämlich die Revolution selber ad absurdum führen solle. Jetzt könne die »Reaction des Lebens gegen den Tod« der Revolution einen Kampf ohne falsche Kompromißlösungen führen. 42 Das entschiedene Auftreten der Reaktion war also auf die entfesselte Revolu39 Auch im folgenden ebd., Beilage zu Nr. 107 vom 10.5.1849. 40 Ebd., Nr. 123 vom 31.5.1849. 41 Ebd., Beilage zu Nr. 108 vom 11.5.1849. 42 Ebd., Beilage zu Nr 131 vom 9.6.1849.

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tion angewiesen, konnte erst den Weg in die Vergangenheit antreten, als ihr revolutionärer Antipode sich in seiner höchsten ›anarchischen‹ Ausprägung offenbart hatte und in sich zusammenzufallen drohte. Je offener und zerstörerischer der revolutionäre Umsturz wütete, um so gewisser war die Entwicklung wieder auf ihren vorrevolutionären Stand zurückzuführen, oder, wie die »Kreuzzeitung« lakonisch und unzweideutig bemerkt: »Des Schmucks der Zweige beraubt, steht der Stamm [des monarchischen Prinzips] in ungebrochener Kraft und jeder Schlag der Revolution hat die Wurzeln nur desto tiefer getrieben.«43 In einer Revolution fand die Reaktion ihre Erfüllung. Die dynamische Anpassungsbereitschaft des preußischen Konservativismus an die sich beschleunigende revolutionäre Zeit, wie sie noch in der ersten Programmausgabe der »Kreuzzeitung« beschworen wurde, offenbarte sich damit immer unverhohlener als der Versuch, die Entwicklung regressiv umzukehren. 2. Das liberale Pendel zwischen Revolution und Reaktion

In den »Erörterungen über deutsche Politik« wird in der »Allgemeinen Zeitung« Ende Oktober, als die Reaktion in Wien kurz vor ihrem Sieg stand und auch der preußische Staatsstreich nicht mehr lange auf sich warten ließ, die Unablässigkeit der Revolutionsbewegung betont und noch bis in die Zukunft hinein prognostiziert: »Seit acht Monaten hat Deutschland seine Revolution, und zwar erst den Anfang, noch lange nicht das Ende. Es nennt sie nicht so, es stößt sich noch an dem Namen, obschon es die Sache hat. Und hat es sie nicht schon oft gehabt?«44 Seine »moralische Revolution« des Geistes habe Deutschland schon in dem langsamen Wandel seit der Reformation gehabt, im März »empfing es die politische so plötzlich, so unaufhaltsam, mit so ungetheilter Zustimmung«, denn »lange getäuscht wandt' es sich endlich zur Revolution um die Genesung die ihm die Reform versagt«. Also auch noch ein halbes Jahr nach den Märzereignissen wird der Ausbruch einer Revolution befürwortet, wenn er eine Epoche des Stillstandes beendet und sprunghaft in einen evolutionären Fortschrittsprozeß führt. Eine Reaktion als Signal für einen Abbruch dieses Prozesses und für eine Restauration werde hingegen nur den »gewaltsam unterbrochenen Kreislauf« der Revolution wiederbeleben. Aufgabe der »rechten Liberalen« und der »ächten Conservatives gleichermaßen sei es deshalb, daß »der zügellose Strom nicht gestaut, sondern zwischen stärkeren Ufern eingebettet werde«, um nicht zuletzt auch dem »Radicalismus vom neuesten Datum« Einhalt zu gebieten. 43 Ebd., Nr. 102 vom 4.5.1849. 44 Auch im folgenden Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 305 vom 31.10.1848.

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Der Artikel legt ein dreifaches Verständnis von »Permanenz der Revolution« nahe: zum einen die »langsam und unbewußt« arbeitende Revolution in den Geistern, die ζ. Β. zur Reformation oder zur Auflösung des Reiches führte; zum anderen die fortdauernd wirkende »verheerende Ueberschwemmung«, die immer wieder neue, gewaltsame Revolutionen produziere; und schließlich den »luftreinigenden Orkan«, der den Boden für eine Reformentwicklung schaffe. Diese letzte Art von permanenter Revolution, die mittels Reformen die institutionellen »Errungenschaften« fortschreiben sollte, geriet nun insbesondere seit der Septemberkrise immer deutlicher in Konflikt mit dem fortwährenden Ausbruch revolutionärer und gegenrevolutionärer Gewalt, die aufgrund ihrer Permanenz als Beginn für eine evolutionäre Entwicklung nicht mehr taugte. Die permanente Eruption verhinderte den Einstieg in eine permanente Evolution. Die »Deutsche Zeitung« sieht kurz nach der Annahme des Waffenstillstandes von Malmö den »Schlußpunkt einer Krise«, nicht aber den »Schlußpunkt einer Entwicklung«. Gerade diese Entwicklung berge neue Krisen in sich: »Im Innern liegen die großen Folgen und Gefahren des Beschlusses.... Der Beschluß vom 16. September war ein Sieg, aber ein gefährlicher Sieg«, wie die Unruhen in Frankfurt und Baden bestätigen sollten.45 Wer jetzt die Nationalversammlung aufgebe, so die »National-Zeitung«, sei es nun durch Reaktion oder Radikalismus, der »will unser kaum begonnenes constitutionelles Leben... auflösen, der will uns direkt oder indirekt durch einen Zustand der Anarchie hindurch zum Despotismus zurückbringen«.46 Noch immer gelte: »Die Fluten sind noch nicht in ihr Bett zurückgetreten.«47 Zwei Monate später wird in einem Artikel die Frage gestellt, ob mit der Einnahme Wiens ein Ziel erreicht worden sei, worauf es heißt: »Nein, wir stehen jetzt erst am Anfange einer neuen Bewegung; während der Himmel über Wien glühte, ist eine Revolution in den Zuständen und in den Geistern erfolgt, welche ihr Werk erst jetzt beginnen wird; es sind Gewalten aufgestanden, für deren Berechnung uns noch der Maßstab fehlt.«48 Varnhagen sieht nun deutlich, daß unter der Oberfläche der politischen Revolution die gesellschaftliche noch lange und spannungsvoll weitergären werde. Die Revolution von 1789 sei daran gescheitert, das Alte auszuscheiden; ebenso vergeblich sei es nun, sich des Neuen, der Proletarier, gewaltsam zu entledigen, denn ihre Forderungen würden immer wiederkehren.49 Die Märzbewegung habe sich fortgepflanzt, aber nicht in Varnhagens Sinne, nämlich »nach den ersten Schritten stehenzubleiben und das Gewonnene ruhig auszuarbeiten«; sondern »die Geschichte rechnet mit größeren Summen und wirft unsre Zah45 Deutsche Zeitung, Nr. 255 vom 18.9.1848. 46 National-Zeitung, Nr. 167 vom 20.9.1848; vgl. auch Kölnische Zeitung, Nr. 261 vom 22.9.1848. 47 Kölnische Zeitung, Nr. 260 vom 21.9.1848. 48 Ebd., Nr. 301 vom 8.11.1848; vgl. auch Allgemeine Zeitung, Nr. 317 vom 12.11.1848. 49 Vgl. Varnhagen, Tageblätter, Bd. 5, S. 236.

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lensätze rücksichtslos um, uns künftige anzuweisen, die wir nicht abzulehnen vermögen«.50 Eine Revolution beenden, dafür würde Menschenvermögen nicht ausreichen: »Selbst die Riesenkraft Bonaparte's hat die französische Revolution nur fortsetzen, nicht schließen können; das sehen wir jetzt.«51 Die vielen Erschütterungen des Jahres 1848 wurden zu einer großen Epochenbrucherfahrung summiert, deren Defizit aber gerade darin bestand, den Schritt in ein liberales Zeitalter nicht vollzogen zu haben, sondern wieder nur permanent auf dem Sprung zu sein. Deshalb können in den liberalen Presseorganen außer den rückblickend konstatierten Erwartungen an das Revolutionsjahr als epochalen Neubeginn52 auch die Enttäuschungen über die nicht erreichten konstitutionellen und nationalstaatlichen Reformziele zum Ausdruck kommen. Brockhaus vertraut seinem Tagebuch die Sorge über ein »verhängnisvolles Jahr« an, das »Epoche machen wird in der Geschichte der Menschheit«. Es sei ein unfertiges »Jahr des Sturmes und der Unruhe«, weniger der »Errungenschaften« als der »Aussaat«.53 Anfang und Ende des Jahres 1848 stehen in einem Kontrast, wenn es in der »Allgemeinen Zeitung« heißt: »Dieses Jahr hatte so hoffnungsreich begonnen, und am Schluß was gibt, was läßt es? Wo sind die Verwirklichungen, die gesicherten Errungenschaft, und wo nicht bittere Enttäuschungen aller Art, keine so bitter wie die selbstverschuldeten? Wo ist der Friede in den Gemüthern, Freude an der Gegenwart, Vertrauen und Zukunft? Frankfurt, die deutsche Parlamentsstadt, die den Tempel unserer Nationaleinheit bauen sollte, hat sie ihr Werk vollbracht, wird sie es vollbringen können?«54

Angesichts der vielfältigen Konfliktlinien in der Nationalversammlung würden eine »Wiedergeburt Deutschlands« und eine »Vermittlung zwischen Monarchie und Republik« immer illusorischer. Und in ihrem Rückblick auf die Märztage betont die »Kölnische Zeitung« das Schwelgen »in der reinsten Begeisterung für unsere Ideale, wie berauschten wir uns in der Hoffnung auf eine große, glänzende Zukunft des großen, einigen Vaterlandes«. Damals hätte niemand geahnt, »wie viele Schläge der spröden Wirklichkeit noch auf unsere Hoffnungen fallen sollten und wie der Wintersturm noch die schönsten Blüthen unserer Ideale entblättern würde!«55 Diese Einschätzung der Erwartungen an den Revolutionsausbruch berücksichtigt zwar nicht die Gefährdun50 Varnhagen in einem Brief an Troxler vom 18.11.1848, in: Varnhagen, Kommentare, S. 187. 51 Vamhagen, Briefe, S. 136. Diesen Eindruck hatten ja auch schon die Zeitgenossen Napoleons (vgl. oben Kap. III). 52 So z. B. Kölnische Zeitung, Nr. 1 vom 1.1.1849, wo es heißt: Am Neujahrstag sinkt ein »Riesenjahr in die Urne der Vergangenheit hinab. In diesem kurzen Raum von einigen Hundert Tagen, in dieser Secunde in dem Leben der Menschheit, liegen jene gewaltigen Geschicke, vor denen alles, was die jüngere Generation erlebte, in ein gestaltloses Nichts zusammensinkt.« Vgl. auch ebd., Nr. 247 vom 31.12.1848. 53 Brockhaus am 31.12.1848, in: Brockhaus, Tagebücher, Bd. 2, S. 222. 54 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 365 vom 30.12.1848. 55 Kölnische Zeitung, Nr. 4 vom 5.1.1848.

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gen, denen der Anbruch einer neuen Zukunft auch in liberaler Sicht schon im März ausgesetzt war, aber sie zeigt, wie wenig die Revolution jetzt noch für einen künftigen Epochenbruch stehen konnte. Vielmehr ist es die alte territoriale Zerstrittenheit, welche die Gegensätze wieder aufleben lasse und die angestrebte Nationaleinheit verhindere, wenn Varnhagen in seinen Tageblättern vermerkt: »das Anstreben zur Einheit wird immer mehr zum Zerfall.... Dabei geht die Zersetzung im Innern des Staates weiter, alles steht in Gegensätzen, die sich nicht lösen wollen.«56 Seit dem Herbst 1848 hatte sich der Schwerpunkt des politischen Geschehens wieder stärker auf die deutschen Einzelstaaten verschoben, nicht nur auf die beiden Großmächte, sondern der »wahrhaft deutsche Fluch« des Partikularismus, wie ihn Valentin in seiner nationalstaatlich verengten Sicht schmäht, erlebte wieder seine Renaissance: »Wie alles in der deutschen Geschichte, zersplitterte sich auch diese erste große Volksbewegung. Bitter läßt sich der alte geschichtliche Grundsatz abwandeln: cuius regio eius - revolutio.« Nach Valentin blieb alles Nationale noch eine Forderung, die »Wirklichkeit blieb die antinationale Eigenstaatlichkeit«.57 Und auch Wehler sieht in den »vielgestaltigen Konsequenzen des deutschen Polyzentrismus und des regionalen Entwicklungsgefälles« ein weiteres Hindernis fur das revolutionäre Ziel eines neuzuschaffenden, konstitutionellen Nationalstaats.58 In der liberalen Publizistik wurden diese nationalen Gegensätzlichkeiten als Erbe der Vergangenheit erkannt, das sich nun wieder deutlich zu Wort meldete und durch einen revolutionären Ausbruch auch nicht überwunden werden konnte. So erklärt es die »National-Zeitung« für ein Trugbild, wenn man geglaubt habe, »daß die deutsche Einheit so leicht und so schnell zu Stande gebracht werden würde, wie die Farben Schwarz-Roth-Gold auf den Flügeln einer plötzlich erwachten allgemeinen Begeisterung sich über das ganze Land verbreitet hatten«. Da die deutschen Länder jahrhundertelang getrennt gewesen seien und »systematisch dahingewirkt worden ist, Verschiedenheiten zu erhalten«, könne letztlich das neue Prinzip der »Einigung der deutschen Staaten« nicht in einem Augenblick und nicht ohne Widerstand verwirklicht werden.59 Auch die einen großen österreichischen Leserkreis ansprechende »Allgemeine Zeitung« sieht am Ende des Jahres die landschaftlichen Gegensätze wieder schärfer zutage treten: Im Süden herrsche ein regeres politisches Leben aufgrund der konstitutionellen Tradition; der Norden hingegen behaupte ein natürlicheres Rechtsempfinden und ein größeres Nationalgefuhl.60 Die »Kölnische Zeitung« wird noch deutlicher, wenn sie den Sonderinteressen der Ter56 Varnhagen, Werke, Bd. 5, S. 456. 57 Valentin, Bd. 2, S. 383, 447. 58 Wehtet, Bd. 2, S. 764. 59 National-Zeitung, Nr. 165 vom 18.9.1848. 60 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 360 vom 25.12.1848; vgl. auch ebd., Beilage zu Nr. 365 vom 30.12.1848.

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ritorialfürsten die Verhinderung einer schnellen Einheit zuschreibt, die nur »im Sturm« habe erobert werden können; j e länger der provisorische Schwebezustand zwischen Frankfurter Zentrum und den vielen Peripheriepunkten andauere, um so stärker profitierten die Einzelstaaten von den tausendjährigen territorialen Irrationalitäten mit ihren verworrenen Kämpfen.61 Fast schon ein Abgesang auf ein deutsches »Bundes-Reich« 62 ist es, wenn es heißt: »Und nun Frankfurt? Und die Einheit des deutschen Vaterlandes? Wir schweigen davon. Ein Gefühl der Wehmut ergreift den Deutschen, wenn er jener ersten stolzen Hoffnung von der Einigung des Vaterlandes gedenkt, jener Begeisterung, mit der wir die schwarz-roth-goldene Fahne auf unsere Türme pflanzten, und dann darauf hinsieht, wie Schlag auf Schlag auch diese Einigung gefallen ist, wie am Jahresende alle diese Hoffnungen verblieben sind und der Partikularismus von den Thronen selbst in die Volksstämme gestiegen ist. Das ist das Jahr 1848.«63 Wiederum werden die Erwartungen an den Revolutionsausbruch den Erfahrungen mit den dissoziierenden partikularen Kräften gegenübergestellt. Der revolutionäre Augenblick im März 1848 perpetuierte sich und erzeugte fortwährend Widerstände und Gegensätzlichkeiten. Allgemein herrsche noch der Eindruck vor, so die »National-Zeitung« im Oktober 1848, es müsse anders werden: »überall weiß man, dies und das ist unhaltbar: aber man will nicht klar sehen, was unhaltbar ist; nicht muthig an das herangehen, was neu zu schaffen ist.« Es werde sich erweisen, ob die Menschheit noch »jugendkräftig und lebensfrisch, oder ob sie alt ist, der süßen Gewohnheit des Hergebrachten anhängend, Feind der Neuerung«. 64 Auf eine »Reihenfolge neuer Revolutionen« könne man nicht mehr unbedingt zählen, denn wenn die jetzige »nationale Erhebung« ohne Resultate bleibe, »so wissen wir nicht, ob der nationale Geist nicht für immer ins Grab steigt«.65 Die Revolution vermöge sich nicht des Alten zu entledigen, sondern habe die Gegensätze der deutschen Vergangenheit noch einmal aktualisiert. Deshalb sieht die »Deutsche Zeitung« nach den Septemberunruhen den Augenblick gekommen, an dem sich endlich zeigen müsse, »ob unsere letzte Vergangenheit der Keim einer neuen Zukunft gewesen ...; oder ob unser ganzes bisheriges Dasein nur ein Nachglanz jener Jahrhunderte war, während welcher das Scepter des deutschen Reiches über Europa gebot« und man deshalb jetzt vergeblich an einer neuen Zeit arbeite. 66 In einem Artikel zwei Tage zuvor hatte das libe61 Kölnische Zeitung, Nr. 6 vom 7.1.1849; vgl. auch ebd., Nr. 1 vom 1.1.1849. 62 Ebd., Nr. 5 vom 6.1.1849. Die Kölnische Zeitung legte ihre Hoffnungen nach dem Berliner Staatsstreich zunehmend auf die Frankfurter Zentralgewalt, trat aber weiterhin für einen deutschen Bundesstaat unter preußischer Führung ein. 63 Ebd., Nr. 11 vom 13.1.1849. 64 National-Zeitung, Nr. 200 vom 23.10.1848. 65 Ebd., Nr. 47 vom 19.2.1849. 66 Deutsche Zeitung, Nr, 66 vom 2.10.1848.

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rale Blatt diese Frage bereits beantwortet, wenn die »Epoche dreißigjährigen Drucks« all diejenigen anarchischen inneren Auflösungstendenzen zu verantworten habe, die schlimmer seien »als alle Revolutionen, weil sie das letzte kostbare Erbtheil unserer Nation, die Lebensbedingungen unserer künftigen Existenz, zu zerstören« drohten.67 Mit der Wiedereröffnung der beiden verfassungsgebenden Versammlungen in Brandenburg und Kremsier scheine sich ein »merkwürdiger Wendepunkt« angebahnt zu haben, »nicht bloß für die Zukunft unabsehbar folgenreich, sondern, wie unlogisch das immerhin lauten mag, auf das Vergangene und seine Hervorbringungen wunderlich zurückwirkend«. Es sei »im Kreislaufe des Kalenders« möglich, in »unserm öffentlichen Leben unerwartet eine alte Station wiedergefunden [zu] haben«.68 Fortwährend werde die Gegenwart mit den »Nachwehen des Absolutismus« und den »Nachwehen der Revolution« konfrontiert, so überschrieben ein Artikel in der »Kölnischen Zeitung«, der sich mit den Februarwahlen zur zweiten preußischen Kammer beschäftigt. Die demokratische Mehrheit werde die Polarisierung mit den absolutistischen Kräften forcieren: »Von entgegengesetzten Polen werden dann die Stürme wehen, eine abgethane Vergangenheit wird mit einer fernen, vielleicht nie erreichbaren Zukunft streiten, und - wer weiß, ob darüber nicht die Gegenwart verloren wird! Indeß, in diesen Kammern spiegelt sich nur wieder, was einen so tiefen Bruch in unser ganzes neues Staatsleben gerissen hat. Ueberall ist noch nicht die Krisis überwunden; überall krankt unser öffentliches Leben noch an den Nachwehen der alten und an dem Uebergangs-Processe der neuen Zeit. Mit anderen Worten, die Symptome der Reaction und die Symptome einer neuen oder vielmehr einer permanenten Revolution sind nicht ausgeblieben.«69 Hat sich die zukunftsstiftende Funktion der Revolution erst einmal relativiert, dann fällt es auch nicht mehr schwer, wieder auf den revolutionären ›Modellfall‹ von 1789 zurückzugreifen, nur daß die deutsche »Schreckenszeit« schon sehr viel früher angesetzt wird: »Die große Revolution von 1789 hat mit einem Anlauf dieser Art geendet; es ist Ermattung und Despotie gefolgt und bis heute hat das französische Volk an den Folgen jener Zeit zu leiden, mit deren Schrecken man jetzt zu spielen sucht. Das Spiel hat seine erste blutige Probe geliefert [in den Septemberunruhen]; wir haben Vieles rasch übersprungen und gleich damit angefangen, womit man dort geendet hat.«70 Varnhagen erinnert in einer Tagebuchnotiz vom 12. Oktober an den Entwicklungsgang der Französischen Revolution, wie sie »durch ihre Feinde in Maßregeln der Schärfe und des Schreckens getrieben« wurde: »Die Revolution 67 Ebd., Nr. 265 vom 30.9.1848. 68 Ebd., Nr. 318 vom 1.12.1848. 69 Ebd., Nr. 33 vom 8.2.1849. 70 Ebd., Nr. 265 vom 30.9.1848. 312 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

mußte blutig werden, sie wollte es nicht.« Den gleichen Gang der Dinge könne man in Deutschland beobachten: Nach der euphorischen Anfangszeit habe der reaktionäre Widerstand die »Freiheit zur Täuschung zu machen gesucht. Noch heute steht alles in Frage, nichts ist sicher, nichts verbürgt.«71 Die »Kölnische Zeitung« befürchtet zu einem Zeitpunkt, als die Verlegung der Berliner Nationalversammlung bereits beschlossene Sache war, einen Staatsstreich oder eine Neuauflage der Schreckensherrschaft von 1793.72 Und die »Allgemeine Zeitung« hat mitunter bei Beginn der Reichsverfassungskampagne die »Geschichte der französischen Revolution vor Augen«.73 Allen anfänglichen Erwartungen zum Trotz schien die Revolution in ihrer Permanenz also wieder ihren Weg zum Schrecken gefunden zu haben. Einzig rechtzeitige Reformen seien es wieder, die »die Aufgabe, welche unserm Volkjetzt gestellt ist« erfüllen könnten: den »Zweck der Revolutionen auf dem Wege der Reform zu erreichen«, so die »Kölnische Zeitung« Ende September, als in Köln gerade Barrikaden errichtet wurden.74 Aber wie sich schon in den ersten Monaten der Revolution ankündigte, konnte sich die permanente Revolutionsbewegung für Liberale nicht mehr als Auftakt von Reformen legitimieren, sondern geriet zu diesen in einen immer schärferen Gegensatz. Aus der Folgebeziehung wurde ein sich überlagernder Gegensatz, insbesondere als Revolution und Gegenrevolution die Möglichkeit von liberalen Reformen zunichte zu machen drohten. Anfang Januar gilt es, »die bloße Negation des Revolutionierens zu überwinden« und »die Revolution durch die Reform zu beenden«. Der permanenten Revolution wird eine fortwährende Reformarbeit entgegenstellt, die sich dem Zeitdruck anpassen müsse: »Es ist ein Arbeiten ohne Rast, ein Umbau ohne Ende.«75 Die demokratisch-konstitutionelle Monarchie, so die »National-Zeitung«, »ist der Permanenz, der unaufhörlichen Fortdauer der Revolution... aller entschiedenster abgesagtester Gegner«, um so den »unaufhaltsamen Fortschritt« garantieren zu können.76 Deshalb habe das preußische Volk auf die der Märzrevolution »entgegengesetzte Contrerevolution vom November nicht mit einer Revolution geantwortet«, sondern sich vielmehr des Mittels »der friedlichen ruhigen und gesetzlichen Entwicklung zu demokratisch-konstitutionellen Staatsformen und Organisationen« bedient77 -

71 Varnhagen, Kommentare, S. 185. 72 Kölnische Zeitung, Nr. 302 vom 9.11.1848. 73 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 131 vom 11.5.1849. 74 Kölnische Zeitung, Nr. 268 vom 30.9.1848; vgl. auch Die Grenzboten, 1848, Bd. 3, S. 54, wo die Revolution als ein »Fieber« bezeichnet wird, das man nicht leugnen könne, aber auch nicht »als den normalen und permanenten Zustand des Staatskörpers anerkennen« dürfe. 75 Kölnische Zeitung, Nr. 6 vom 7.1.1849. 76 National-Zeitune, Nr. 18 vom 19.1.1848. 77 Ebd., Nr. 26 vom 28.1.1849.

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eine wohl euphemistische Einschätzung der allgemeinen Revolutionsmüdigkeit in Berlin. 78 Vor allem die Reichsverfassung und eine Zentralgewalt waren es, worauf sich die Reformerwartungen im neuen Jahr nach der Reaktion in Wien und Berlin konzentrierten. Die 1848 revolutionär errungenen Freiheiten gelte es gegen die Revolution zu verteidigen und zwar mittels der »Vollendung der Reichs-Verfassung«: »Ueberall hin verbreitet sich das Gefühl, daß wir in Deutschland zu der Freiheit, die das vorige Jahr uns gebracht hat, in diesem Frühjahre noch die Ordnung und Macht eines festen Reiches hinzugewinnen müssen, wenn nicht in der That die aufgewühlten unverständigen Elemente der Demokratie uns in Conflikte verwickeln sollen«.79 Selbst wenn die neue nationalstaatliche Ordnung »ihre Mängel und Unvollkommenheiten« habe, so die »Allgemeine Zeitung« Ende Februar, wichtig sei es vor allem, »wenn sie nur so weit in Gang gebracht ist daß man die Fortentwicklung des neuerstandenen Reichs seiner eigenen Lebensfähigkeit, dem innewohnenden Bildungstrieb überlassen kann«. Habe Deutschland erst einmal durch sein Parlament Recht gesprochen, dann könne es kein Interesse mehr geben, »den Strom der Revolution dem man ein Bett gegraben, wieder als verheerende Fluth über seine Ufer zu leiten«.80 Auch nach der preußischen Ablehnung der Kaiserkrone und in Erwartung weiterer Unruhen gewähre die Reichsverfassung »die Möglichkeit zu einer vernünftigen, gedeihlichen Entwicklung, hält die Errungenschaften des Jahres 1848 im Wesentlichen fest und was sehr wesentlich ist, sie ist von den Vertretern des deutschen Volks ausgegangen«. 81 Die »Deutsche Zeitung« ruft die Fürsten auf, die Reichsverfassung schnell anzunehmen, denn wir »bedürfen geschwindest eines festen Zustandes, damit das neue Recht, das diesem Zustande angemessene Recht, werden und sich setzen und entwickeln könne«. 82 Gerade während sich in der »dritten Revolution« im Frühjahr 1849 die Ereignisse überschlügen, werde die »schleunige unbedingte Anerkennung der Reichsverfassung« zu einer Existenzfrage für Parlament und Nation, wie die »Allgemeine Zeitung« kritisch zum Zögern der Königreiche bei der Annahme der Verfassung bemerkt. 83 Als Verkörperung einer Reformhandlung und Ansatzpunkt für eine evolutionäre Entwicklung stellte die Reichsverfassung gerade den Gegenpol zu einer unkontrollierbar gewordenen Zeit dar, die von sich aus keinen Fortschritt mehr zu garantieren schien. 78 Vgl. Siemann, Deutsche Revolution, S. 173. 79 Kölnische Zeitung, Nr. 32 vom 7.2.1849. 80 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 58 vom 27.2.1849. 81 National-Zeitung, Nr. 103 vom 19.4.1849. 82 Deutsche Zeitung, Nr. 114 vom 25.4.1849; vgl. auch ebd., Nr. 118 vom 29.4.1849. 83 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 117 vom 27.4.1849; vgl. auch ebd., Beilage zu Nr. 128 vom 8.5.1849.

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In der sich permanent fortsetzenden Revolutionsbewegung wurde Preußen eine ähnliche Orientierungsfunktion zugewiesen; vor allem in nationaler Hinsicht sollte es Garant einer einheitlichen und reformerischen Entwicklung sein, um so die territoriale Gegensätzlichkeit der Vormärzzeit nicht mehr nur ökonomisch, sondern auch politisch zu überwinden. Daß sowohl die »Kölnische« als auch die »Deutsche« und die »National-Zeitung« seit Ausbruch der Revolution auf die preußische Karte setzten und Österreich als Staat betrachteten, der sich in seiner Geschichte immer deutlicher von Deutschland entfernt hatte, ist nach Durchsicht dieser Blätter schnell offensichtlich.84 Aufgrund seiner Geschichte, seiner effektiven Verwaltung, seines starken Heeres, seiner soliden Wirtschaft und nicht zuletzt seiner realen Machtstellung werde Preußen, so auch die linksliberale »National-Zeitung«, zu einem »Träger des demokratischen Prinzips in Deutschland« und zu einem Garanten für eine evolutionäre Entwicklung.85 Dagegen habe Österreich in seiner Geschichte zu starke nichtdeutsche Interessen wie z. B. in Italien entwickelt und den Schutz der Deutschen im Donau- und Schwarzmeerraum vernachlässigt.86 Selbst die austrophile Augsburger »Allgemeine Zeitung« kann sich Österreichs nahe Zukunft als expansiven deutschen Vorposten im Osten und außerhalb eines deutschen Nationalstaates vorstellen. Eine spätere nationalstaatliche Einigung mit Deutschland solle freilich nicht ausgeschlossen werden.87 Deutlich wird, daß die untersuchte liberale Publizistik auch noch nach dem Oktroi der Verfassung weitgehend auf eine kleindeutsche Lösung mit einem preußischen Erbkaiser setzte, nachdem die Verlegung und Auflösung der Berliner Nationalversammlung und die Einsetzung des Ministeriums Brandenburg als kalter Staatsstreich scharf kritisiert wurden.88 Die »Deutsche Zeitung« mildert ihre Kritik ab und zeigt sich bereit, »selbst eine oktroyierte Verfassung segnen« zu wollen, wenn sie zum »Wohl des Vaterlandes gereiche«.89 Die Aufgabe des neu zu wählenden preußischen Landtages bestehe nun vor allem darin, »die Revolution mittels ganz entschiedener Festlegung des neuen Rechtsbodens und mittels kraftvoller Anfassung der demokratisch-ökonomischen Re84 Diese kleindeutsche Haltung, die die enge Verbindung Preußens und Deutschlands betont und Preußen vor dem Staatsstreich auch eine Vormachtstellung in einem vereinten Deutschland konzediert, ist mit Ausnahme der Allgemeinen Zeitung eine der programmatischen Konstanten in den untersuchten Blättern, weshalb sich weitere Einzel nachweise erübrigen (vgl. dazu auch die oben angegebene Literatur zu den liberalen Blättern). 85 National-Zeitung, Nr. 243 vom 19.12.1848; vgl auch ebd., Nr. 113 vom 26.7.1848; ebd., Nr. 157 vom 10.9.1848. 86 Vgl. ζ. Β. ebd., Nr. 97 vom 13.4.1849. 87 Vgl. Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 331 vom 26.11.1848; ebd., Beilage zu Nr. 365 vom 30.12.1848. 88 Vgl. z. B. Deutsche Zeitung, Nr. 305 vom 16.11.1848; National-Zeitung, Nr. 230 vom 6.12.1848. 89 Deutsche Zeitung, Nr. 335 vom 19.12.1848; vgl. auch ebd., Nr. 325 vom 9.12.1848; ebd., Nr. 342 vom 27.12.1848.

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form definitiv abzuschließen«, nachdem sie durch die preußische DezemberVerfassung schon ein vorläufiges Ende gefunden habe, so die »Kölnische Zeitung« im Januar 1849. Jetzt habe man ein Bollwerk geschaffen gegen reaktionäre Barbarei und republikanischen Radikalismus.90 Preußen könne nun in Deutschland aufgehen.91 Obwohl sie die Oktroyierung der Verfassung als ungesetzlich bezeichnet,92 richtet auch die »National-Zeitung« kurz vor den Januarwahlen ihre Zukunftshoffnungen auf Preußen: »Mitten aus den Verwickelungen einer so verdüsterten Lage blickt Deutschland heute auf das preußische Volk, denn immer klarer hat sich das Gefühl gestaltet, daß hier seine Zukunft, daß hier alle seine Hoffnungen liegen.«93 Und noch einmal im Zusammenhang mit der Reichsverfassung, als sich die Diskussion über die Art des Staatsoberhaupts immer deutlicher auf ein preußisches Erbkaisertum zubewegte, wird der »Augenblick, der so nicht wiederkehrt«, für Preußens »weltgeschichtliche Bestimmung« herausgestellt: »Die Stunde ist gekommen, wo die Krone Preußens gewogen werden soll; - möge sie nicht zu leicht befunden werden. ... Noch einmal ist es Zeit-es darf nicht wieder heißen: zu spät!«94 Der unaufhaltsame Geschichtslaufwerde sonstjeglichen Einfluß auf die Zeit wieder zunichte machen, wenn Preußen in diesem revolutionärem Umbruch nicht die Zeichen der Zeit verstehe: »Wenn wir aber wenig auf die Persönlichkeiten rechnen, so rechnen wir doch auf die Gewalt der in den Dingen selbst ruhenden unwiderstehlichen Nothwendigkeit, auf die Macht des Stromes der Geschichte, der nicht blos die Schwankenden, sondern selbst die Widerstrebenden unaufhaltsam mit sich fortreißt. Das Gefühl ist in diesem Augenblick allgemein, daß, wenn Preußen jetzt feig vor seinem großen Berufe zurückwich, sein Urtheil für immer gesprochen wäre.«95 Die Geschichte gehe ihren Gang; ob sie sich aber kontrollierbar in reformerischen Bahnen bewege, dies liege in preußischer Hand. Trotz des kalten Staatsstreichs wurde in den liberalen Blättern Preußen also weiterhin die Option zugestanden, der immer stärker perhorreszierten Revolution mittels Reformen Paroli zu bieten und damit die (national-)politischen Gegensätze im Sinne eines evolutionären Fortschrittsprozesses zu schlichten. Einerseits ließ sich dies aus einer national-stilisierten Geschichte Preußens samt Reformära und Freiheitskriegen begründen; andererseits aus dem zwiespältigen Charakter der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember, die in vie90 Kölnische Zeitung, Nr. 8 vom 10.1.1849. 91 Vgl. ebd., Nr. 23 vom 27.1.1849. 92 Dennoch würdigt sie auch ihre demokratischen Grundzüge wie ζ, Β. in Nr. 253 vom 31.12.1848. 93 National-Zeitung, Nr. 19 vom 20.1.1849. 94 Ebd., Nr. 86 vom 31.3.1849. 95 Ebd., Nr. 73 vom 17.3.1849; vgl. auch Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 131 vom 11.5.1849. 316 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

lerlei Hinsicht liberalen Erwartungen von einer konstitutionellen Monarchie entgegenkam - das allgemeine Wahlrecht gehörte sicherlich nicht vorrangig dazu.96 Grundsätzlich zeigte sich hier eine liberale Offenheit gegenüber einer Reaktion, welche die politischen Errungenschaften der Revolution gegen soziale Folgeforderungen von unten zu sichern vorgab.97 Außerdem legte das rückwärtsgewandte Zukunftsbild einer vorindustriellen, berufsständisch gefaßten Mittelstandsgesellschaft auf patriarchalischer Grundlage eine Affinität zum Konservativismus nahe.98 Dieses Nahverhältnis schien aber gerade für den weiteren Verlauf der Revolution von 1848/49 immer weniger zu gelten, wenn man sich vor Augen fuhrt, in welch einem engen Verhältnis ›Revolution‹ und ›Reaktion‹ für Liberale standen. Der gesteigerte und politisierte Reaktionsbegriff und -vorwurf, wie ihn sich Demokraten in den vierziger Jahren in parteilicher Weise aneigneten und gegen jeden Konservativismus wandten, wurde von Liberalen abgelehnt. Sie wollten sich gerade gegen die demokratische Position abgrenzen und die von ihnen überschätzte Gefahr einer permanenten sozialen Revolution nicht provozieren.99 Statt den Reaktionsvorwurf allein gegen den politisch aktiven Konservativismus vorzubringen, wurde er durchgehend im Zusammenhang mit der revolutionären ›Anarchie‹ formuliert. Als sich die Reaktion in Preußen schon abzeichnet, ist die »National-Zeitung« dennoch zuversichtlich, daß die »demokratisch-konstitutionelle Monarchie« aus den »Gährungen der Neuzeit hervorgehen« und »wie über die Mordbrennerei der rothen Republik hinweg, so durch die gewetzten Schwerter der Soldateska hindurch siegreich ihren Weg vollenden« werde.100 Hier bringt die liberale Position ihren Gegensatz zur Reaktion und Anarchie gleichermaßen vor, die in einer innigen Wechselbeziehung stehen. Die Bildung des Ministeriums Pfuel in Preußen als weiterer Schritt weg von den Ergebnissen der Revolution gibt der »Kölnischen Zeitung« Anlaß zu der Befürchtung, daß der Rechtsboden »jetzt auf scharfer Scheide balancirt« und deshalb viel Mäßigung nötig sei, um nicht »in den nächsten Tagen schon nach rechts hin oder links hin über [zu] kippen und in den Strudel einer neuen Revolution oder der Contre-Revolution hinab[zu]stürzen«. Den Beginn eines Staatsstreichs habe man zwar noch in den Händen, sein Ende könnte jedoch ungewollt in die revolutionäre Anarchie fuhren.101 ›Revolution‹ 96 Valentin stellt heraus, daß die Verfassung den Eindruck eines längst fälligen Anschlusses an vergangene Erwartungen erweckte: »Preußen tat durch die Oktroyierung den Schritt, der in der Zeit der Freiheitskriege fünfmal versprochen war, den es schon 1840 und dann 1847 hätte tun können und sollen: durch das liberale Bekenntnis zeigte es Bereitschaft und Reife zum deutschen Nationalstaat.« (Valentin, Bd. 2, S. 292). 97 Vgl. Langewiesche, Liberalismus und Demokratie, S. 105. 98 Vgl. Galt, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. 99 Vgl. Kottdylis, Reaktion, S. 198 ff. 100 National-Zeitung, Nr. 183 vom 6.10.1848. 101 Kölnische Zeitung, Nr. 263 vom 24.9.1848.

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und ›Reaktion‹ bzw. Gegenrevolution« forderten sich als ungesetzliche und unkontrollierbare Bewegungskräfte gegenseitig heraus. Zwischen ihnen mußte sich der Liberalismus als oppositionelles Zentrum definieren: »Der Name »Centrum« wird nur da vorkommen müssen, wo von der auf dem Boden der Gegenwart stehenden mehr conservativen Partei der wahren Rechten sich eine in die Vergangenheit zurückspringende contre-revolutionäre als äußerste Rechte, oder von der auf dem Boden der Gegenwart stehenden mehr reformatorischen Partei der wahren Linken eine in die erträumte Zukunft vorausgreifende revolutionäre als äußerste Linke aussondert.«102 Insbesondere während der Reichsverfassungskampagne drohte die Konfrontation neuer Revolutionsbewegungen mit den gegenrevolutionären preußischen Interventionen die liberale Position aufzureiben: »Der Kampf für die Reichsverfassung ist, wenigstens in der gegenwärtigen Phase unserer Revolution, als beendet anzusehen; unsere Partei hat ihn verloren.«103 In der sich überschlagenden Wechselbewegung zwischen ›Reaktion‹ und ›Revolution‹ löse sich die Nationalversammlung auf, so die »Allgemeine Zeitung«, »und damit ist der gemeinsame und gesetzliche Halt derjenigen, welche die Reichsverfassung als den letzten Rettungsanker der öffentlichen Ordnung betrachteten, verlorengegangen«.104 Während der Reichsverfassungskampagne war es in den liberalen Blättern vor allem die Reaktion, die sich durch die Ablehnung der Kaiserkrone bzw. der Verfassung demaskiert hatte und verantwortlich gemacht wurde für den Wiederausbruch der Revolution in einigen Teilen Deutschlands. Jetzt seien die Zeiten vorbei, so Mitte April die »National-Zeitung« in einem Artikel über »Die Revolution und die Reaktion«, »wo die Reaktion noch Rücksichten nahm, sich noch bemühte, ein gutes Verhältnis mit der Revolution zu erhalten; es ist die Zeit gekommen, wo die Reaktion glaubt sagen zu können: ich hasse die Revolution, ich leugne sie, ich will sie bekämpfen«.105 Doch dies beschwöre nur neue Revolutionen herauf, die wiederum Gegenrevolutionen legitimieren würden. So scheint die Reaktion auf immer neue Revolutionen angewiesen zu sein, wenn es heißt: »Aber die Reaktion will nicht, daß die gesellschaftliche Revolution vor ihrem Ausbruch in der Freiheit untergehe. Die Reaktion arbeitet daran, die gesellschaftliche Revolution zu einer Nothwendigkeit zu machen.«106 Das preußische Wort gegen die Kaiserkrone habe die im März versprochene Einheit von Volk und Fürsten verraten und gezeigt, daß es »keine einheitliche Entwicklung, sondern einen Kampf zwei entgegengesetzter Prin102 Ebd., Nr. 40 vom 16.2.1849. 103 Die Grenzboten, 1849, Bd. 2, S. 347. 104 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 144 vom 24.5.1849; vgl. auch ebd., Beilage zu Nr. 159 vom 8.6.1849. 105 National-Zeitung, Nr. 96 vom 12.4.1849. 106 Ebd., Nr. 93 vom 8.4.1849. 318 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

zipien will. ... Die Märzrevolution soll verleugnet, ignorirt werden - wird sie sich aber weglöschen lassen«.107 Ein Ende scheine jedenfalls nicht absehbar zu sein: »Die Fluth der Revolution schwillt immer höher und es läßt sich immer weniger absehen, wohin sie uns noch treiben wird, wohin wir uns noch treiben lassen müssen«, so Brockhaus in seinem Tagebuch Anfang Mai. 108 Auch die rechtsliberale »Allgemeine Zeitung« bezieht Stellung gegen eine Reaktion, die sich zwar gegen die Revolution stemme, aber ihrerseits auch den Charakter ihres Widerparts an sich trage: »Die Bestgesinnten die der Revolution abhold sind, werden es noch mehr der Reaction seyn, die ja ihrem Wesen nach auch eine Revolution ist, nur daß die eigentliche Revolution, neben ihren schlimmen Eigenschaften, auf die edelsten Triebe der menschlichen Natur, die Gegenrevolution fast nur auf ihre Nachtseite, die niederen Leidenschaften wirkt.«109 Gemeinsam sei beiden aber, »daß sie unwillkürlich über ihr Ziel hinausgetrieben werden«, die Revolution über die anfänglichen Freiheitsbestrebungen hin zu Anarchie und Militärdiktatur, die Reaktion über die angestrebte Ordnung hin zur »Verdrehung der Gesetze« und »Lähmung jeder gesunden Thätigkeit«. Deutlich Position bezieht die »Deutsche Zeitung« in einem Aufsatz über »Reaktion oder Revolution«. Wenn man den »kalten politischen Maßstab« anlege, um das Ineinander von ›Revolution‹ und ›Reaktion‹ zu entwirren, dann werde schnell offensichtlich, »daß ein Sieg der Reaktion bei dem ungemeinen Aufschwung des politischen Geistes in Deutschland nur eine Galgenfrist für uns, nur eine kurze Vertagung der Revolution ist«.110 Besser sei es, die Revolution mit all ihren unabwägbaren und gewaltsamen Konsequenzen zu einem Ende zu führen, als ständig ihres neuen Anfangs gegenwärtig sein zu müssen: »Die Anarchie frißt sich schneller auf als die Reaktion; die Republik wird uns zu einem geläuterten Monarchismus fuhren, während die Reaktion ihn aufs Neue verdirbt. Die wüsten Zustände, die uns die Bewegung jetzt vor Augen stellt, wird die Reaktion nur für den Augenblick beseitigen, für die nächste Zukunft stellt sie sie uns in höherem Maaße in erneuerte Aussicht. Warum sollte man den einmal begonnenen, den unvermeidlichen Durchgang durch diese Uebel nicht lieber gleich vollenden?« Eine revolutionäre Bewegung mildere sich schnell von alleine, finde den Weg zur Ordnung wieder, und »dem Sklavensinn der Berliner Obscuranten [werde] endlich einmal der Kopf zertreten«. Der Revolutionsvorwurf an die Reaktion im Frühjahr 1849 war also ein doppelter: Zum einen wurde das preußische Vorgehen gegen die Reichsverfas107 Ebd., Nr. 90 vom 4.4.1849. 108 Brockhaus am 2.5.1849, in: Brockhaus, Tagebücher, Bd. 2, S. 239; vgl. auch Vamhagen, Tageblätter, Bd. 6, S. 127. 109 Auch im folgenden Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 148 vom 28.5.1849. 110 Auch im folgenden Deutsche Zeitung, zweite Beilage zu Nr. 174 vom 30.5.1849.

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sungskampagne selbst als ein rechtloser Akt gebrandmarkt: »Die preußische Regierung hat den Boden der Gesetze verlassen und den Weg der Revolution betreten«, so die »Deutsche Zeitung«; sie stehe »rein auf dem Boden der Revolution«111 Deshalb könne »Die Durchführung der Reichsverfassung«, so der Titel eines Aufsatzes in der »National-Zeitung«, auch als legitimer Notwehrakt bezeichnet werden: »Da ist keine Revolution, keine Rebellion von Unten; es ist die Kontrerevolution, die Anarchie von Oben, die das ganze deutsche Volk, gleichermaßen davon bedroht, zu bekämpfen hat«.112 Zum anderen - und diese Ansicht entwickelte sich zu der vorherrschenden in den liberalen Zeitungen wurde die preußische Ablehnung der Reichsverfassung als ein Auslöser für weitere Revolutionen begriffen, deren Ziel nicht die Ordnung der Vergangenheit, sondern die soziale Republik der Zukunft war. Die preußische Monarchie habe »die letzte, ehrenvolle, legale Gelegenheit« von sich gewiesen, »die Revolution zu bändigen, indem sie sich an die Spitze derselben stellte«, was die Aufgabe der Hohenzollern bis zu Friedrich Wilhelm III. gewesen sei.113 Deshalb prophezeie man jetzt dem Berliner Ministerium: »wenn noch ferner, wie es gleichzeitig auf mehreren Punkten geschehen, das innerste Wesen des konstitutionellen Systems so verkannt, wenn mit seinen Formen ein solcher Mißbrauch getrieben wird, dann sind in Deutschland die Tage der konstitutionellen Monarchie gezählt, und es wird, nicht auf anscheinend legalem Wege die Republik, sondern durch die unvermeidliche Gewalt der Thatsachen die Revolution eingeführt werden.«114 Der preußische König »hat die Furien der Revolution in Einem Augenblick der Ruhe entbunden, die das Volk und seine Vertreter Ein Jahr der gewaltigsten Aufregung hindurch an freiwillige Fesseln gelegt hatten«. Gegenrevolutionäre Gewalt könne die Revolution nun nicht mehr lange fesseln.115 Die Reaktion ihrerseits als Geburtshelferin weiterer Revolutionen - damit konnte sich die liberale Kritik an der Reaktion letztlich wieder auf die wiederaufgeflammte Revolutionsbewegung mit ihren sozialrepublikanischen Tendenzen verlagern. Ihre unkontrollierbare Sozialdynamik, der die Reaktion wieder zum Durchbruch verholfen hatte, blieb eigentlicher Kristallisationspunkt liberaler Ängste; die Reaktion war es hingegen nur indirekt und insoweit, wie sie selber solche Züge einer ungestaltbaren Zeit annahm oder diese durch ihre Verweigerungshaltung erst verursachte. Dies wird besonders in den Wochen 111 Ebd., Nr. 124 vom 5.5.1849; vgl. auch ebd., Nr. 122 vom 3.5.1849. 112 National-Zeitung, Nr. 121 vom 7.5.1849. Noch Anfang juli vertraut Varnhagen seinen Tageblättern an: »Seltsam, die vorjährige Revolution hier scheinbar bezwungen und in Wirklichkeit doch gar nicht! Sie sammelt neue Kräfte, und die Reaktion ist ein Stück von Ihr.« (Varnhagen, Werke, Bd. 5, S. 490). 113 Deutsche Zeitung, zweite Beilage zu Nr. 115 vom 26.4.1849. 114 Ebd., Nr. 121 vom 2.5.1849. 115 Ebd., zweite Beilage zu Nr. 142 vom 24.5.1849.

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nach der Verlegung des Rumpfparlaments und mit den republikanischen Unruhen im Südwesten deutlich, als die kurz vor der Reichsverfassungskampagne zustande gekommene Kooperation von Liberalen und Demokraten wieder brüchig wurde. Die Reichsverfassung sei für die Revolutionäre nur ein Vorwand, um ihr Ziel einer »rothen Republik« unter dem Deckmantel der Legitimität durchsetzen zu können, so die »Deutsche Zeitung« Anfang Juni.116 Die »Allgemeine Zeitung« erinnert in einem Artikel über »Die Bewegung und die Revolution« wieder an die Eigenschaften revolutionärer Umbrüche, die nur als Sprung zu einem evolutionären Fortschrittsprozeß taugten, dabei jedoch immer die Gefahr in sich trügen, sich zu verselbständigen: »Alle diese Bewegungen, begannen unter dem Vorwande der Durchführung der Reichsverfassung, und wohin haben sie geführt?«117 Ihr Ziel sei nun die soziale Republik und damit eine Revolution »im schlimmsten Sinne des Worts«.118 Man müsse die Tragweite einer Revolution ermessen, denn »wenn sich auch die edelsten Menschen an die Spitze der revolutionären Bewegung stellen, Menschen ist es nicht möglich, der Bewegung zu gebieten. Sie ist stärker als der Wille. Sie ist die Thätigkeit der Natur im Gebiet der Geschichte.«119 Dem Liberalismus blieb trotz seiner programmatischen Bandbreite eines gemeinsam: die Ablehnung der Republik, die für Liberale immer auch eine Sozialrevolutionäre war. Ein starker Monarch und ein eingeschränktes Wahlrecht sollten als Bollwerk gegen politisch-soziale Forderungen der Unterschichten und damit gegen weitere Revolutionen fungieren, um die »bürgerliche Welt« vor einer Entwicklung wie der in der Französischen Revolution zu retten.120 Auch die linksliberale »National-Zeitung« als das Forum des fortschrittlichen Berliner Liberalismus lehnt von ihrem ersten Erscheinen an die Republik ab.121 Und als die Reichsverfassungskampagne ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, hält es die Zeitung für angebracht, »die Prinzipien der Demokratie rein und ungetrübt vor die Kritik der öffentlichen Meinung hinzustellen«, wozu auch die Versicherung gehört, daß die Forderungen der Demokratie 116 Ebd., Nr. 149 vom 1.6.1849; vgl. auch schon ebd., Nr. 139 vom 21.5.1849. 117 Auch im folgenden Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 153 vom 2.6.1849. 118 Ebd., Beilage zu Nr. 131 vom 11.5.1849. 119 Deutsche Zeitung, zweite Beilage zu Nr. 154 vom 6.6.1849. 120 Vgl. Langetviesche, Republik, S. 354 f. 121 Die National-Zeitung trat für ein allgemeines Wahlrecht ohne Zensus, Ministerverantwortlichkeit, fur ein starkes Parlament und eine schrankenlos freie Presse ein, zeigte sich gegenüber der sozialen Problematik aufgeschlossen, polemisierte immer wieder gegen die »konservativkonstitutionelle« Haltung der »Deutschen und »Kölnischen Zeitung«, hielt selbst noch an der Legitimität des Rumpfparlaments fest und geißelte die Wiedereinführung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen scharfals undemokratisch. Dennoch wird schon im programmatischen Leitartikel der Probenummer vom 1.4.1848 die »konstitutionelle Monarchie, gegründet auf die weitesten demokratischen Institutionen« verlangt. Vgl. auch ebd., Nr. 85 vom 28.6.1848; zu den Aversionen gegen die Republik vgl. z. B. auch Kölnische Zeitung, Nr. 162 vom 10.6.1848; Deutsche Zeitung, Nr. 81 vom 21.3.1848.

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»die republikanische Staatsform nicht bedingen, noch viel weniger durch dieselbe gesichert« seien.122 Nur das »monarchische unverantwortliche, nicht aber das republikanische Staatsoberhaupt« könne sich aus dem Kampf der Parteien heraushalten und die demokratischen Prinzipien verwirklichen, wie das die vorbildliche englische Konstitution erwiesen habe. Selbst der von den Liberalen gebilligte Kompromiß der Reichsverfassung mit seinen starken demokratischen Elementen wie dem allgemeinen Wahlrecht und der nur suspensiven monarchischen Vetogewalt kann in einem Blatt wie der »Allgemeinen Zeitung« zum Ausgangspunkt permanenter Unruhen mutieren: »Diese Verfassung mit ihren ewigen Wahlagitationen, mit ihrem Mangel aller Garantien der Ordnung beruhigt die Gemüther nicht, befestigt die Ordnung nicht, verhindert den Umsturz nicht; ist sie einmal angenommen, so werden die sogenannten Demokraten, d. h. die Communisten, sich jeder Aenderung im conservativen Sinne aus allen Kräften widersetzen ..., sie werden das Gesetz für sich haben, und diejenigen welche dagegen ankämpfen, die Conservativen, die Ruhigen, werden Rebellen seyn, werden unterliegen«.123 Hier schien wieder die Affinität zum Konservativismus durch, die sich schon im Vormärz ankündigte, um auf der Grundlage des Bestehenden Reformen einzuleiten und die präsenten Widersprüche von Vergangenheits- und Zukunftsfaktoren aufzuheben. Liberales Rechtsstaatsdenken sah sich als ›konservativ‹ »im Sinne einer Entwicklung, die soziale Erschütterungen, politische Revolution und Rechtsbruch vermeidet und mit der Zustimmung aller Einsichtigen, auch auf der Seite der Regierungen, rechnen kann«.124 In der »Deutschen Vierteljahresschrift« heißt es im Frühjahr 1849: »Nichts ist conservativer als das Prinzip der Reform und nichts fordert mehr revolutionäre Bestrebungen und leistet dem Umsturz des Bestehenden mehr Vorschub, als das blinde Festhalten am Alten.«125 Mit den republikanischen Revolutionen scheine nun die Hoffnung auf eine »friedliche Schlichtung unserer Wirren« zerstört zu sein, wie die »Deutsche Zeitung« bemerkt, »und der revolutionäre Pessimismus macht riesige Fortschritte. Die konservative Gesinnung im besten Sinne des Wortes, die Sache der konstitutionellen Monarchie hat in den letzten Wochen mehr Terrain eingebüßt, als ihr alle republikanischen Putsche und Einfälle jemals entreißen konnten.« 126 Sah sich die liberale Öffentlichkeit von der Radikalisierung in ihrer konservativen Haltung bedroht, dann konnte sie letztlich auch Position zugunsten der Reaktion beziehen. Zwar hatte deren obstinate Politik mit zum Ausbruch der 122 123 124 125 126

Auch im folgenden ebd., Nr. 137 vom 3.6.1849. Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 131 vom 11.5.1849. Vierhaus, Konservativismus, S. 557. Deutsche Vierteljahresschrift, 1849, Bd. 2, S. 195. Deutsche Zeitung, Nr. 129 vom 10.5.1849.

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Revolution beigetragen; da diese sich aber zu verselbständigen und die liberale Mitte aufzureiben drohte, wurde die Reaktion auch zur Wegbereiterin einer wieder machbaren und sich evolutiv entwickelnden Zeit. »Die Grenzboten« haben sich nach der Auflösung der Nationalversammlung für eine der Parteien entschieden, deren unaufhaltsamer Kampf jetzt beginne: »Wem wir für den jetzigen Augenblick den Sieg wünschen, kann nicht zweifelhaft sein. Bei einem Sieg der Regierung ist wenigstens die Möglichkeit vorhanden, daß sie ihn mit Maß und Vernunft gebrauchen; ein Sieg der Republikaner aber ist nur der Anfang eines chaotischen Getümmels, von dem sich kein Ende absehen läßt.«127 In einem Artikel über »Das neue preußische Wahlgesetz und die demokratischconstitutionelle Partei« erläutert die »Kölnische Zeitung« den Unterschied zwischen der konservativ-liberalen Partei, die Ehrfurcht vor dem Gegebenen und den historischen Schranken habe, und der demokratisch-konstitutionellen Partei, die radikal in eine neue Zeit aufbrechen wolle und nur nach dem Vernunftrecht argumentiere. Jene bedeute »Entsagung«, diese »Empörung«. Entsagungsvoll entscheidet sich das Blatt für den konservativen Staatsstreich: »Wir vertragen uns eher mit dem Staatsstrekhe, als mit der pnncipiellen Revolution! Die aufrecht gebliebene Macht, die Obrigkeit gewinnen wir immer wieder für die Freiheit; aber aus dem Absolutismus der principiellen Revolution kommen wir nicht zur Ordnung und Freiheit zurück, bevor wir nicht alle Phasen derselben durchgemacht und schließlich ihrem Bankerotte in der Schreckens-Herrschaft beigewohnt haben.«128 Der reaktionäre Staatsstreich zögerte also nicht mehr allein einen schnellen Abschluß der Revolution hinaus und provozierte eine solche permanent von neuem, sondern als sich die »dritte Revolution« immer unverhüllter auch gegen die Throne richtete und für Liberale alle Anzeichen einer sozialen Anarchie aufwies, wurde die Reaktion außerdem zu einem notwendigen Rückschritt, auf dessen Basis einer konservativ-pazifizierten Ordnung erst ein evolutionärer Fortschritt gedeihen könne. Die reaktionären Kräfte beendeten eine Revolution, nachdem sie erst ihren Ausbruch herausgefordert hatten, und avancierten zum Garanten einer beherrschbaren Politik. Die Berliner Reaktion habe Ende Juni bereits die Wegscheide überschritten und lasse sich nicht mehr aufhalten »es ist Naturgesetz«, so die »Allgemeine Zeitung«. Die preußische Bürokratie werde aber einen weiteren Rückschritt verhindern und mittels einer Amnestie eine neue Zukunft begründen.129 Diesem Vertrauen in die Reaktion wurde schon seit Beginn der Revolution vereinzelt vorgearbeitet. In den ersten Monaten, als sich die liberalen Zeiterfahrungen mit der Revolutionsbewegung und ihrer Kanalisierung auseinanderzusetzen hatten, blieb die Furcht vor einer regressiven Reaktion der Traditions127 Die Grenzboten, 1849, Bd. 2, S. 347. 128 Kölnische Zeitung, Nr. 150 vom 24.6.1849. 129 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 181 vom 30.6.1849.

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kräfte eigentümlich schwach ausgeprägt. Wird der Reaktionsvorwurf thematisiert, dann traf er oftmals auch die vermeintlich republikanisch gesonnenen Radikalen: »Die wahren Reaktionaire sind die verkappten Republikaner, denn sie wollen uns zurückführen zum Absolutismus und zwar zum unerträglichsten, nämlich zum Absolutismus der Demagogen.«130 Eine »Stimme aus Preußen« berichtet in der »Deutschen Zeitung« von der »Gespensterfurcht«, als Reaktionär denunziert zu werden: »Und deshalb ist ›Reaktion‹ die furchtbarste Waffe, deren die Wühler sich bedienen.«131 Auch hier traf der Reaktionsvorwurf der Radikalen letztlich diese selber, da sie ihn nur für ihre republikanischen Ziele mißbrauchten. Neben dieser negativen Reaktion der radikalen Wühlen findet sich aber auch schon eine im Sinne eines konstitutionellen Fortschritts zwischen den Extremen, die gemäßigt auf einen jahrelangen Reformstau ›reagiert‹: »Was hat man nicht alles mit dem Worte Reaction bezeichnet, als ob nicht die einzige Reaction die eine Zukunft hat eben in demjenigen liege was die Zeit erfüllt, was in Frankfurt angestrebt wird, was seit dreißig Jahren das Ziel der deutschen Ständeversammlungen war. Das ist die einzig wirkliche und wesenhafte Reaction, und so schlimm der Name klingt, so herrlich ist die Sache ...Jede andere Reaction als diese, die allein für das Wohl des Volkes, für das Heil des Vaterlandes gegen Tyrannei von oben und unter reagiert, ist nichtig, diejenige sowohl welche die Zustände, die Früchte der Karlsbader Beschlüsse zurückfuhren möchte, als diejenige welche in der Absonderung einer eigensinnigen und eigensüchtigen Minorität vor der Nationalversammlung hervortritt.«132 Die legitime Reaktion zeigt sich also zwischen den beiden Extremen der schrankenlosen Regression und Progression. Insbesondere gegenüber dem Schreckgespenst einer sich verselbständigenden und die liberalen Grenzen überschreitenden sozialen Revolution erweise sich »Die berechtigte Reaktion« als Notwehrakt, so in einem gleichnamigen Artikel der »National-Zeitung«: »Jede gewaltsame Revolution überschreitet das Ziel ihrer historischen Berechtigung: der Taumel des Sieges und die Verfolgung der Besiegten reißt sie über dasselbe hinaus. Aber der Taumel des Sieges legt sich, die Besiegten erholen sich allmählig von dem Schrecken ihrer Niederlage, die Versprengten sammeln sich wieder um die alte Standarte, und die Reaktion tritt ein. Diese müssen wir als berechtigt anerkennen, wenn sie die Revolution nicht weiter, als auf die Linie zurückfuhrt, welche das Niveau der Gesamt-Entwicklung des Volkes bezeichnet.«133 Auch nach der Septemberkrise denke nach Brockhaus' Ansicht niemand mehr daran, die »frühern Zustände vor dem März herbei [zu] führen«, »weder unter den Fürsten noch den Ministern«. Dann heißt es in den Tagebüchern weiter: 130 Vossische Zeitung, erste Beilage zu Nr. 106 vom 7.5.1848. 131 Deutsche Zeitung, Nr. 177 vom 27.6.1848. 132 Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 195 vom 13.7.1848. 133 National-Zeitung, Nr. 135 vom 19.8.1848. 324 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

»Freilich aber muß insofern eine Reaction naturgemäß eintreten, als entschieden das Maß der gesunden Entwicklung überschritten worden ist. Dieser Reaction kann man einen günstigen Erfolg wünschen, wie feind man sonst allen Bestrebungen für das Rückwärts in politischen Dingen sein mag.« Diese Art von Reaktion möge siegen, damit »Vernunft und Besonnenheit« einkehren und sich »so der Tempel der Freiheit aufbauen« lasse.134 Grundsätzlich wird das Verhältnis von guter/schlechter Reaktion und Revolution in einem Artikel in den »Grenzboten« mit dem Titel »Ein Votum über die Reaction« behandelt.135 Jede siegreiche Revolution als eine »Naturnothwendigkeit« ziehe ebenso naturnotwendig eine Reaktion nach sich, dann nämlich, wenn sie sich in ihren »Leidenschaften« selbst zu verzehren drohe, ein Objekt für diese Leidenschaften brauche und so einen reaktionären Gegner kreiere: »Die Reaction folgt nicht blos auf die Revolution, sie ist unmittelbar mit ihr verbunden, wie der Schatten mit der Einwirkung des Lichts auf Körper.« So kreuzten sich also »zwei scheinbar entgegengesetzte Momente« in der Revolution. Die von der Revolution als Widerpart benötigte »gesunde« Reaktion zeige ihre Berechtigung nun nicht in der egoistischen »Leidenschaft der Besitzenden«, sondern darin, gegen die »willkürliche Freiheit des Idealismus« der Revolution ein vernünftiges Maß zu geben. Diese Art der berechtigten Reaktion als die ungleiche Schwester der Revolution wird seit der Septemberkrise neben den Vorwürfen gegen die preußische Politik immer wieder in den liberalen Zeugnissen thematisiert - berechtigt, weil sie eine überzogene und nicht mehr gestaltbare Revolution zu bändigen vorgibt. Die Revolution sei ein Übel, finden »Die Grenzboten«, aber man könne sie nicht verhindern, denn »wo jeder gesetzliche Weg verschlossen ist, gebraucht man die Fäuste. Mit der Contrerevolution ist es ebenso.«136 Nach der Revolutionswende in Wien und Berlin weiß die »Allgemeine Zeitung« zu berichten, daß man schon seit Wochen auf ein »Stück Restaurationspolitik« gefaßt war, denn: »dem mächtigen Schlag den die Revolution, den die Anarchie geführt, mußte ein fühlbarer Rückschlag der siegreichen Regierungsgewalten folgen. So unmächtig waren ja die Elemente der Erhaltungspolitik nicht geworden, daß sie so ohne Widerstand dem Drängen der Fractionen hätten weichen müssen; es galt nur sich zu sammeln und zu ermannen, und die Dictatur der modernen Wohlfahrtsausschüsse ... der Hauptstädte war zu Ende.«137 Nur müsse man dafür sorgen, daß der »notwendigen Restauration« keine neue und maßlose Reaktionsepoche folge, an deren Ende wieder eine Revolu134 Brockhaus am 21.10.1848, in: Brockhaus, Tagebücher, Bd. 2, S. 210. 135 Auch im folgenden Die Grenzboten, 1848, Bd. 4, S. 249 ff. 136 Ebd., S. 266; vgl. auch ebd., S. 338. 137 Allgemeine Zeitung, Nr. 332 vom 27.11.1848; vgl. auch ebd., Beilage zu Nr. 317 vom 12.11.1848.

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tion stehe. So kann in demselben Blatt auch die Einsetzung des Ministeriums Brandenburg rechtens erklärt werden, wenn die anarchische Revolution einer Umsturzpartei den Reformweg und den Rechtsboden der konstitutionellen Monarchie hinter sich gelassen habe und jede gesetzliche Regierung zu stürzen beabsichtige. Deshalb sei die milde Diktatur eines von oben eingesetzten Ministeriums geradezu geboten, um eine gewaltsame Herrschaft der Republikaner zu verhindern.138 Und für die »österreichische Kontre-Revolution« heißt es in der »Kölnischen Zeitung«, daß mit ihr die »blutige Fahne« der Revolution eingeholt worden und dieser Akt »für mehr als eine Nation der Wendepunct einer alten und einer neuen Zeit« gewesen sei. Österreich habe »unter den Zuckungen einer gewaltigen Krisis, zu seinem Weltberufe« gefunden und »die Idee eines

großen Föderativ-Staates a u f der Grundlage der Gleichberechtigung der Nationen ins

Leben gerufen«.139 Auch der »künstliche[n] Zeitrechnung« der Frankfurter Nationalversammlung, so spinnen »Die Grenzboten« den Gedanken weiter, werde »nichts anderes übrig bleiben, als sich nach diesen naturwüchsigen Messungen [der Wiener Reaktion] regulieren zu lassen«.140 Die gebrochene liberale Affinität zur Gegenrevolution erklärt sich also aus einer Pendelbewegung zwischen ›Revolution‹ und ›Reaktion‹. Beide wurden zwar in ihrem antipodischen Zusammenspiel abgelehnt, doch die liberale Haltung gegen die erstarkende Reaktion bedeutete letztlich vor allem eine Kampfansage an die von ihr herausgeforderte sozial-republikanische Revolution, welche die bürgerliche Mitte aufzureiben drohte. So sollte eben diese Reaktion in ihrer ›gesunden‹ Form eine notwendige Rückschwingung des dynamisch ausgreifenden Revolutionspendels ermöglichen, um auf diese Weise die zu entgleitende Entwicklung auf ein evolutionäres Maß zurückzuzwingen und die angestrebte liberale Mittelposition zu bewahren. Ein Ausgreifen des Revolutionspendels in das entgegengesetzte Extrem der Reaktion konnte freilich damit nicht verhindert werden. 3. Fatalistischer Fortschrittsprozeß zwischen Revolution und Reaktion: Selbstversicherung demokratisdier Revolutionserwartungen

Die Annahme des Malmöer Waffenstillstandes als augenfälliger Ausdruck der Achsenzeit der Revolution führte zu einer schweren Schädigung des Ansehens der Nationalversammlung in der Bevölkerung, schien sie doch zur Erfüllungsgehilfin der preußischen und europäischen Politik geworden zu sein. Jetzt zeigt sich das Frankfurter Parlament auch für die gemäßigten demokratischen Zei138 Ebd., Beilage zu Nr. 336 vom 1.12.1848. 139 Kölnische Zeitung, Nr. 326 vom 7.12.1848. 140 Die Grenzboten, 1848, Bd. 4, S. 395 f.

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tungen nicht mehr in seiner Funktion als vermittelnde Wegbereiterin von Reformen, um den Bezug zur Tradition nicht gänzlich zu verlieren, sondern zwischen dem Paulskirchenparlament und der im Volk weitergereiften Unzufriedenheit sei eine Kluft entstanden, so die »Bremer Zeitung« am 22. September: »Das Ansehen der Nationalversammlung ist tief erschüttert, der Zwiespalt zwischen ihr und dem Willen des Volkes ist offen hervorgetreten, und mit der Form ihrer Legalität können wir uns nicht mehr begnügen, da seit ihrem Zusammentritt eine Revolution im Wesen und Willen des Volks vor sich gegangen ist. Diese Revolution, die innerlich und ohne viel gewaltsame Ausbrüche gereift ist, macht eine neue Form, eine neue Vertretung des wesentlich umgewandelten Volkswillens nothwendig, und wer ihr gesetzliches Zustandekommen verhindert, wird, wie einst und immerfort, die Schuld des gewaltsamen Weges tragen.«141 Die Revolution entwickelte sich also neben der gesetzlichen Volksvertretung weiter, was die Septemberaufstände offenbarten, die wieder Bewegung in die politische und soziale Landschaft brachten. Deshalb empfiehlt ein Artikel Tags darauf »Gegen die Reaktion« die Forderungen der Revolution permanent in der Öffentlichkeit vorzutragen und sie gesetzlich einzulösen, indem sich die Nationalversammlung durch neue Wahlen dem Willen des Volkes gemäß ergänze.142 Ebenso hält auch der schwäbische »Beobachter« die Mehrheit der Nationalversammlung und der Kammern nicht mehr für einen Ausdruck des Volkswillens, da sich dieser in demokratischer und sozialer Hinsicht weiterentwickelt habe und an seinen Repräsentanten nicht mehr orientieren könne: »Nirgends ... findet die Sehnsucht des Volkes einen Ruhepunct (denn der einzige Ruhepunct des Mai, auf den es hoffte, hat indeß gelogen) und so stürmt sein gerechter Zorn ... ins Ungewisse fort und Niemand weiß, wo und wie er zündet.«143 Das gewaltsame Element der Revolutionen im September wurde zwar weiterhin abgelehnt, doch erwiesen sich diese Unruhen als Gradmesser, inwieweit sich die in der Nationalversammlung institutionalisierte erste Revolution der sich unablässig weiterentwickelnden Zeit angepaßt oder sich überlebt hatte. Kann die Frankfurter Versammlung der Zeitbewegung nicht mehr gerecht werden, so ist es die sich im Malmöer Waffenstillstand und in der Wiener und Berliner Gegenrevolution manifestierende Reaktion, die dem Durchsetzen einer neuen Zeit entgegentritt. In der »Locomotive« wird Ende Oktober das »Streben, den alten Zustand der Willkürherrschaft wiederherzustellen«, mit der Demokratie konfrontiert: »Mit der neuen Zeit ringt die alte und sucht ihr jeden 141 Bremer Zeitung, Nr. 260 vom 22.9.1848. 142 Ebd., Nr. 261 vom 23.9.1848. 143 Der Beobachter, Nr. 191 vom 26.9.1848. Trotz aller Skepsis gegenüber der Nationalversammlung hält das Blatt an ihr als einzige Institution der Einheit weiterhin fest (vgl. z. B. ebd., Nr. 245 vom 29.11.1848).

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Schritt nach Vorwärts streitig zu machen.«144 Und nach dem Sieg der Reaktion in Wien habe sich deren Beharrlichkeit durch die Zeiten hindurch erwiesen: »Unsere Zeit schmachtet im Dunkel, in tiefem Dunkel, so daß sich unsre Nachkommen darüber entsetzen werden. Man hat dem Absolutismus einen Stoß gegeben, daher ist er nicht gestürzt; er stellt sich breiter, um fester zu stehen; wir laufen ihm durch die Beine, anstatt sie ihm zu zerschmettern.«145 Die Reaktion als präsente Vergangenheit, die den Bruch mit der Vormärzzeit blockiert - diese schon aus der ersten Phase der Revolution bekannte Zeiterfahrung hat sich spätestens seit dem September unter Demokraten durchgesetzt, wobei der Reaktion oftmals partikularistische Bestrebungen und der Nationalversammlung zu große Nachgiebigkeiten gegenüber denselben unterstellt werden.146 Kurz nach der Annahme des Malmöer Waffenstillstandes, mit welcher der Partikularismus gesiegt habe, sei es, so die »Neue Deutsche Zeitung«, zur »Stunde der Entscheidung« gekommen, ob das deutsche Volk weiterhin auf der durch die Revolution bereiteten Fortschrittsbahn schreiten oder aber sich in ein »neues schmähliches Joch« der Reaktion zwängen lassen werde.147 Zwei Tage nach dem preußischen Staatsstreich warnt die »Bremer Zeitung« vor der konservativen Propagierung einer »formellen Einheit«, der es nur daran gelegen sei, die Demokratie einzuschränken.148 Doch die Einheit Deutschlands auf demokratischer Grundlage »war es, gegen die der Haß [der alten Mächte] am tiefsten wurzelte« und die noch immer ihrer Einlösung harre, bemerkt die »Zeitung für Norddeutschland« zum Jahreswechsel.149 Preußen habe sich durch »die Politik der November- und Decembertage endlich... in feindseligen Gegensatz zu den Einheits- und Freiheitswünschen der Nation« gebracht.150 Deshalb könne, so die Schlußfolgerung in der »Mannheimer Abendzeitung«, Deutschlands Einheit nicht mit Hilfe der Fürsten als den Nutznießern der Zersplitterung verwirklicht werden.151 Mit der preußischen und österreichischen Gegenrevolution sieht die »Bremer Zeitung« das Ende der Revolution eingeläutet: »Eine Periode der deutschen Revolution neigt sich ihrem Ende entgegen, denn von Wien und Berlin ist die Bewegung der Freiheit auf dem Rückwege«.152 Das gemäßigte Blatt gesteht sich jetzt ein, daß die Märzrevolution in dem Moment nicht mehr war, »wo sie bezweifelt werden konnte. Und sie konnte es! denn nur das ist eine 144 145 146 147 148 149 150 151 152

Locomotive, Nr. 172 vom 25.10.1848; vgl. auch ebd., Nr. 176 vom 30.10.1848. Ebd., Nr. 184 vom 8.11.1848. Vgl. Der Beobachter, Nr. 174 vom 6.9.1848; ebd., Nr. 186 vom 20.9.1848. Neue Deutsche Zeitung, Nr. 69 vom 19.9.1848. Bremer Zeitung, Nr. 302 vom 10.11.1848. Zeitung für Norddeutschland, Nr. 1 vom 1.1.1849. Ebd., Nr. 4 vom 4.1.1849. Vgl. Mannheimer Abendzeitung, Nr. 12 vom 14.1.1849; ebd., Nr. 57 vom 8.3.1849. Bremer Zeitung, Nr. 310 vom 20.11.1848.

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Revolution, was ein neues Princip hervor- oder vielmehr an die Spitze bringt.« Doch das Prinzip des Gottesgnadentums habe man nicht aufgegeben; statt dessen zerstöre das Vereinbarungsprinzip als »zeitgemäße Verpuppung des alten unumschränkten Königtums« die Errungenschaften der Revolution.153 Resigniert stellen die »Seeblätter« fest: »die Revolutionsepoche ist vorüber«.154 Daß die Revolution ihre Bewegungskraft eingebüßt habe, dieser Gedanke wurde auch in das neue Jahr übernommen, als sich die kontroversen Debatten in der Frankfurter Versammlung über den Reichsumfang und einzelne Verfassungspunkte (besonders Oberhaupts- und Wahlrechtsfrage) des Reiches zu verlaufen drohten. Eine im »Beobachter« abgedruckte Adresse des Heidenheimer Wahlkreises, die den Reichstagsabgeordneten Moritz Mohl dazu aufruft, das Erbkaisertum zu verhindern, beginnt: »Des Jahres Lauf ist vollendet. So manche Hoffnung, die es uns gebracht, ist mit ihm dahin gegangen. Der Flügelschlag der Bewegung in unserem Lande ist matt geworden, noch weit entfernt vom herrlichen Ziele, nach welchem sie gestrebt; kaum hörbar noch ist das Rauschen des Sturmes der Freiheit, der im Frühling des vergangenen Jahres in die Zeit gefahren, und der giftige Hauch der Reaktion schleicht immer kecker werdend über die Saat, deren Früchte im vollen Maße zu ernten wir vergebens gehofft... Kein Zeichen verkündet uns, daß der Morgen des neuen Jahres heiterer seyn werde, als der Abend des dahin gegangenen.«155 Angesichts des Jahrestages der französischen Februarrevolution werden ein »fieberhafter Wechsel von unbefriedigenden Bildern in diesem ersten Jahre der europäischen Revolution« und ein krankhafter »Wechsel des Vorwärts und Rückwärts« beklagt.156 Und auch nach der Annahme des demokratischen Wahlrechts durch die Nationalversammlung drohe durch das preußische Erbkaisertum eine neue Restaurationsepoche.157 Nach erfolgter Wahl des Kaisers wird der Paulskirche, die nur eine Verfassung ausarbeiten sollte, vom »Beobachter« dafür die Kompetenz abgesprochen. Sie habe die »formale Einheit des Vaterlandes über Alles« zu setzen geglaubt und damit die Entwicklung wieder zum Stillstand gebracht. Der gewählte Kaiser werde sich als Totgeburt erweisen. Dennoch empfiehlt das württembergische Blatt, den konstitutionellen Kompromiß samt Erbkaisertum anzunehmen, um die Errungenschaften wie das Wahlrecht oder die Grundrechte nicht zu verlieren.158 Deshalb unterstützt es alle Bestrebungen, die Verfassung in der Reichsverfassungskampagne durchzusetzen und dabei auch Zwang anzuwenden.159 153 Ebd., Nr. 327 vom 9.12.1848. 154 Seeblätter, Nr. 255 vom 25.10.1848. 155 Der Beobachter, Nr 27 vom 1.2.1849. 156 Ebd., Nr. 47 vom 24.2.1849. 157 Ebd., Beilage zu Nr. 60 vom 11.3.1849. 158 Vgl. ebd., Nr. 89 vom 15.4.1849. 159 Vgl. ebd., Nr. 93 vom 20.4.1849; ebd., Nr. 112 vom 6.5.1849. 329 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Die radikale »Neue Deutsche Zeitung« glaubt in ihrem Neujahrsartikel, daß die Entwicklung in Deutschland letztlich keinen Schritt vorangekommen sei: »Die Märzrevolution ist vernichtet! Ein drückender, unerträglicher Zustand lastet wieder auf Deutschland; wir beginnen das neue Jahr fast, wie das alte.«160 Die »Mannheimer Abendzeitung« sieht in der Entwicklung der deutschen Verfassungsangelegenheit und in den preußischen Vorstellungen von einem Bundesstaat nur eine Schwächung der Gesamtvertretung und insbesondere einen Schritt zurück zur alten repressiven Fürstenpolitik: »So sehen wir ein Stück unserer Hoffnungen nach dem anderen niedersinken, und was wir vor uns haben, das ist die Rückkehr zum Alten; die alte Fürstenpolitik mit all' dem Druck, den wir 30 Jahre lange getragen, taucht wieder aufs neue vor uns auf; wir haben geträumt von deutscher Einheit, von deutscher Freiheit. Unsere ganze Revolution ist zurückgedreht worden auf den Punkt, von dem sie angelaufen«.161 Die Revolution habe unter dem Zeichen der Volkssouveränität begonnen und solle nun mit dem widersinnigen und unzeitgemäßen erblichen Kaisertum enden.162 Ein Artikel in der Probenummer der Berliner »Urwähler-Zeitung« zeigt sich angesichts des fehlenden nationalen Gemeinsinns in den Parlamenten und Kabinetten davon überzeugt, daß sich »unser geträumtes schönes Zukunftsglück in Nichts auflösen wird! Die Vergangenheit ist verloren - die Zukunft ist dunkel, was sollen wir von der Gegenwart sagen!«163 Mit der preußischen Ablehnung der Verfassung sei jetzt eine Kugel ins Rollen gekommen, die »uns unaufhaltsam hinein in den Sturm eines Bürgerkrieges [reißen wird], dessen Ende und Ausgang noch nicht zu übersehen ist«.164 Angesichts der Erfahrungen mit einer überaus aktiven Reaktion geriet ›Zeit‹ aus den Fugen und präsentierte sich nicht mehr in einem Fortschrittsprozeß. Aber für Demokraten gab es noch ein weiteres Gesicht der Reaktion, auf das sie gerade angewiesen waren. Wenige Tage nach den Frankfurter Barrikadenkämpfen im September 1848 schreibt ein Zeitgenosse im schwäbischen »Beobachter«: »Seitdem der Drache der Reaktion sich wieder bäumt und hochaufgerichtet nach allen Weltgegenden hinzüngelt und Qualm und Rauch spuckt,... seit diesem Augenblick hat auch der demokratische Geist in Deutschland sich wieder aufgerafft und in zahlreichen Volksversammlungen, wie im Schooß der neubelebten Vereine, macht er sich unwiderstehlich geltend. Die Unverbesserlichen säen wieder einmal Wind - sie werden Sturm ernten.«165 160 Neue Deutsche Zeitung, Nr. 1 vom 1.1.1849. 161 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 57 vom 8.3.1849. 162 Vgl. ebd., Nr. 78 vom 1.4.1849. Aber letztlich verteidigt auch dieses badische Blatt vehement die Reichsverfassung gegen die Obstruktion der Fürsten und ruft zu ihrer Unterstützung zur revolutionären Tat auf (vgl. z. B. ebd., Nr. 136 vom 9.6.1849). 163 Urwähler-Zeitung, Probenummer vom 29.3.1849. 165 Der Beobachter, Nr. 186 vom 20.9.1848. 164 Ebd., Nr. 29 vom 4.5.1849.

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Die Reaktion habe, so endet der Artikel, neue Bewegung in die Entwicklung gebracht und provoziere einen demokratischen Gegenstoß. Ein Beobachter der Zeitläufte in den »Seeblättern« fügt dem hinzu, »daß die Bewegung unserer Zeit so tiefgehend und nachhaltig ist, daß selbst die Reaktion nur dazu dienen wird, ihr wieder neuen Anstoß zu geben und sie dem Ziele näher zu bringen«.166 So wird die Zukunft des demokratischen Fortschritts seit der Septemberkrise in zunehmender Abhängigkeit vom reaktionären Widerpart gesehen: »Die Reaktion und die Demokratie stehen sich an beiden Orten [d. i. Wien und Berlin] kampfgerüstet gegenüber und haben sich permanent erklärt. Eine Vermittlung scheint unmöglich«, so in der »Neuen Deutschen Zeitung«.167 Mit jedem Versuch, »die Revolution zu überwältigen« und sie mit den »Trümmern zerstörter Städte« zuzudecken, werde sie nur um so furchtbarer wieder hervorbrechen, versichert die »Mannheimer Abendzeitung«.168 Kurz vor der Oktroyierung der preußischen Verfassung ist das badische Blatt zuversichtlich, daß die königlichen Gewalttaten wie ζ. Β. der Belagerungszustand dafür sorgen würden, »daß das Volk bald aus der Vorschule der Revolution heraustritt«.169 Auch wenn die Revolution in Preußen momentan stillstehe, habe sie »nicht eher ein Ende, als bis die Demokratie zur That und Wahrheit geworden ist«.170 Zwischen den beiden Polen Reaktion und Demokratie spielt sich jetzt die weitere geschichtliche Entwicklung ab, welche die ›Mitte‹ des Liberalismus hinter sich gelassen hat, wenn es in der »Neuen Deutschen Zeitung« heißt: »Die Revolution ist in eine neue Phase getreten; sie hat den doktrinären Liberalismus ... durchgemacht und hoffentlich abgeschüttelt.«171 Für den »Beobachter« ist die Rolle der Opposition von den Liberalen aus der Vormärzzeit nun auf die Demokraten übergegangen.172 Das gleiche Blatt sieht den Liberalismus als progressive Kraft schließlich am Ende, als er sich immer kompromißbereiter mit den alten Mächten einläßt und den demokratischen Geist der Revolution leugnet: »Die alte liberale Parthei in Deutschland hat ihre Zeit gehabt, eine neue, kräftige tritt an ihre Stelle und schwingt die Fahne der Freiheit. Wir glauben an die Zukunft der Demokratie,«173 In komplementärer Opposition zu dieser steht dann bis ins Frühjahr 1849 hinein die gegenrevolutionäre Reaktion: »Jetzt gibt es nur noch zwei Parteien: die Revolution und die Kontrerevolution!«174 Nur 166 Seeblätter, Nr. 223 vom 18.9.1848. 167 Neue Deutsche Zeitung, Nr. 64 vom 13.9.1848. 168 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 268 vom 9.11.1848. 169 Ebd., Nr. 289 vom 3.12.1848. 170 Ebd., Nr. 301 vom 17.12.1848; vgl. auch Bremer Zeitung, Nr. 324 vom 6.12.1848. 171 Neue Deutsche Zeitung, Nr. 64 vom 13.9.1848; vgl. später auch ebd., Nr. 128 vom 1.6.1849. 172 Vgl. Der Beobacher, Nr. 195 vom 1.10.1848; außerdem ebd., Nr. 207 vom 15.10.1848; ebd., Nr. 241 vom 24.11.1848. 173 Ebd., Nr. 63 vom 15.3.1849; vgl. auch Seeblätter, Nr. 255 vom 25.10.1848. 174 Neue Deutsche Zeitung, Nr. 101 vom 29.4.1849; vgl. auch ebd., Nr. 64 vom 16.3.1849.

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noch zwischen ihnen spiele sich die Zukunft ab: »Es handelt sich jetzt nur noch um Absolutismus oder Freiheit, um Fürstenwillkür oder Volkssouveränität, um Civilisation oder Barbarei. Es gibt jetzt nur noch zwei Parteien, die eine Zukunft haben: rothe Monarchisten und Republikaner.«175 Dieser vom Vermittlungsmoment gereinigte Gegensatz wurde zum Garanten einer sich letztlich progressiv entfaltenden Zeit; an ihm rankte sich die Geschichte wechselhaft und spiralförmig in die Zukunft. Jenseits liberaler Vereinbarungspolitik war es gerade die reaktionäre Gegenrevolution, auf die eine dynamische Zeiterfahrung angewiesen war. Im Neujahrsartikel der »Mannheimer Abendzeitung« werden der Vormarsch der Reaktion und das Dunkel der Zukunft nach dem ersten Revolutionsjahr beklagt. Darüber hinaus sei die Revolution von 1848 aber auch ein erstes Zeugnis für das Bestehen einer demokratischen Bewegung gewesen und habe die Fronten zu den alten Mächten geklärt.176 Nachdem sich die Reaktion in »moderner Gestalt« wieder geregt und sie die territorialen und sozialen Gegensätze ausgenutzt habe, so in einem Rückblick auf das vergangene Jahr,177 sei sie auf ihrem Höhepunkt angelangt: »Die Reaktion hat ihren Kreislauf vollendet, und schon

ist die Reihe wieder an der Revolution.... Auf die Revolution folgt schnell die Reaktion; aber eine neue Revolution folgt ihr auf dem Fuße nach.«178 Jeder Fortschritt der regressiv und gegenrevolutionär orientierten Politik machte einen weiteren Anlauf einer demokratischen Revolution nur um so unausweichlicher, provozierte diesen erst wieder und brachte Bewegung in den Zeitfluß, der aufgrund der liberalen Vereinbarungs- und Kompromißpolitik zu stagnieren drohte. Die Reaktion im Dienste der Revolution - deutlich wird dieses Verhältnis in einem Artikel aus dem »Beobachter« erklärt, der anläßlich der Auflösung des Reichstages in Kremsier fragt, ob der Gang der Revolution sich noch fortsetzen lasse. Die Antwort fällt eindeutig aus, wenn der Verfasser meint, daß der Revolution jeder verfallen sei, »der in die Geschichte unserer Tage eintritt, und selbst die Fürsten, wie sie auch ihre Fäden seitwärts und rückwärts drehen mögten, auch diese spinnen am Rocken der Revolution«. Selbst die oktroyierte preußische Verfassung und der österreichische Verfassungsentwurf hätten sich dem herrschenden Zeitgeist durch die zugestandenen Grundrechte nicht völlig entziehen können. Die Reaktion ist also von dem in der Märzrevolution in die Welt gesetzten Keim einer neuen Zeit infiziert und hält den Gedanken an eine noch ausstehende Revolution wach, wenn es weiter heißt: 175 Ebd., Nr. 133 vom 7.6.1849. Auch die gemäßigte »Zeitung für Norddeutschland« beobachtet im Mai schließlich nur noch zwei Parteien, »die Fürstenpartei und die Volkspartei«. Jede dritte Kraft der Mitte gehöre »vielmehr durchaus zur Partei der Könige« (Nr. 129 vom 10.5.1849). 176 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 1 vom 1.1.1849. 177 Ebd., Nr. 6 vom 7.1.1849. 178 Ebd., Nr. 8 vom 10.1.1849.

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»Unser Zweck war bloß zu zeigen, wie die Mächte der Vergangenheit, um die neue Zeit zu bekämpfen, ihre Farbe annehmen, wie sie, um der Revolution die Stirne zu bieten, die Sprache der Revolution reden müssen. Die Grundrechte, die sie bieten, sind die treibende Kraft der Revolution. Ueber ihrer Verwirklichung, wenn nicht früher, muß der Kampf aufs neue entbrennen, und dem historischen Rechte tritt ein neues historisches, von ihm anerkanntes Recht des Volkes gegenüber. Darum haben wir gesagt, daß die Fürsten, wenn sie das Werk der Zeit in die zitternde Hand nehmen und Verfassungen von oben herab dem Volke octroyieren, wie es von Potsdam und Olmütz aus geschah, wie es bald in Frankfurt von einem Fürstendirektorium geschehen wird, - daß sie nur der Revolution dienen. Die Gehässigkeit der That fällt auf sie zurück, während im Werke selbst schon der Keim der neuen Zeit arbeitet.«179 Mit Beginn der Reichsverfassungskampagne, als auch »Der Beobachter« nicht mehr auf Gewalt als letztes Mittel gegen die »Kriegserklärung« der Gegenrevolution verzichten kann, heißt es: »Die Contrerevolution wird und muß vorwärtsschreiten, denn so wie die Dinge liegen, giebt es keinen Stillstand.«180 Die erstarkende Reaktion trug unwillkürlich zu einer Fortschrittsbewegung bei, da sie auf der einen Seite nach ihrer Vollendung eine weitere Revolution als Gegenbewegung unausweichlich machte, auf der anderen ihre revolutionären Momente in Inhalt (oktroyierte Verfassungen) und Vorgehensweise (Verstoß gegen die Legalität der Nationalversammlungen in Preußen und Frankfurt) nicht mehr leugnen konnte und das Desiderat eines Epochenbruchs fortleben ließ. Den ersten Aspekt deuteten Demokraten schon in den vierziger Jahren an; der zweite trug dazu bei, diese Inanspruchnahme einer Reaktionsbewegung für einen dynamischen Zeitschub noch weiter zu verschärfen.181 Diese ambivalente Funktion von ›Reaktion‹ und ›Revolution‹ erkannten auch Liberale 1848/49, freilich mit anderen, nämlich gegenrevolutionären Konsequenzen. Wenn selbst die Reaktion in einen Fortschrittsprozeß gespannt wurde, der immer wieder sprunghaft in Revolutionen seinen Ausdruck finden mußte, dann geriet diese Entwicklung zu einem unwiderstehlichen Fatum. Selbst wenn die Gegenrevolution in Wien siegen werde, bemerkt ein Zeitgenosse im »Beobachter«, würden die revolutionären Ideen weitergären: »die Revolution wird permanent werden und unter der Asche fortglimmend immer wieder in hellen Flammen aufschlagen«.182 Falls sich die demokratischen konstitutionellen und nationalen Forderungen des Centralmärzvereins nicht erfüllen lassen, werde die omnipräsente Revolution »unter allen Umständen« siegen, wenn nicht auf dem »Weg der Erkenntniß«, dann über einen Jahrzehnte währenden 179 Der Beobachter, Nr. 61 vom 13.3.1849. 180 Ebd., Nr. 114 vom 9.5.1849. 181 Über die Legalisierung der Revolution durch die preußische Politik der Rückberufung ihrer Abgeordneten aus der Paulskirche vgl. Zeitung fur Norddeutschland, Nr. 136 vom 17.5.1849. 182 Der Beobachter, Nr. 215 vom 25.10.1848.

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»Kampf der Verzweiflung«.183 Denn eines sei unumstößlich: »Die Revolution, einmal begonnen, und sie ist es, begehrt ihr volles Recht; sie ist nicht todt,... sie schlummert nur. Endigen wollen wir sie, aber es geschieht allein, wenn wir ihr gerecht werden.«184 Insbesondere radikaldemokratische Blätter, die nicht mehr auf eine evolutionäre Reformentwicklung vertrauten, propagierten die Selbstläufigkeit von Revolutionen. Die Revolution habe nun einmal begonnen, so die »Mannheimer Abendzeitung« zur Schleswig-Holstein-Krise, und werde durch die Beleidigung des Nationalgefühls nur »einen neuen kräftigen Anstoß« erhalten.185 Und in einem Artikel über »Friedrich Wilhelm und die Revolution« kritisiert der Schreiber die oktroyierte liberale Verfassung, da sie die Revolution eskamotiert und nicht anerkannt habe: »eine Revolution, die durch eine geschichtliche That sich ihr Recht erobert hat, muß sich auch geschichtlich durchspielen.«186 Sie könne deshalb auch nicht durch eine Verfassung, die der »königlichen Milde« geschuldet sei, beendet werden, da sie so »durch einen Bruch mit der Revolution zu Stande gekommen ist« und »eben nicht auf dem Wege der Revolution selbst«. Somit lasse sich schließlich von einem »Gesetz der Revolution« sprechen: »Seht Ihr nicht ein, daß alle Kräfte, welche zum Entstehen der Revolution in Bewegung gewesen, auch in dem Verlauf derselben vollständig in die Erscheinung treten und die befruchtenden Elemente, die in ihnen liegen, theils schaffend, theils anregend über die verschiedenen Verhältnisse des Lebens sich ausbreiten müssen, wenn nicht der Stoffzu einer neuen Revolution zurückbleiben soll.«187 Eine Revolution müsse sich in jedem Falle verwirklichen, also ihre ursprünglichen Ziele durchsetzen, denn jegliches Leben sei Bewegung, reflektiert ein in den »Seeblättern« abgedruckter Artikel aus der »Mainzer Zeitung« weiter, und die »Bewegung Reibung zwischen den widerstrebenden Elementen, Zerreibungdes abgenutzten schwächeren Theiles, Glättung des rauhen stärkeren«. So werde »in dem Schaumregen der Zeitbrandung« der »Kampf des Mittelalters mit der Neuzeit bis zu den lezten Konsequenzen« immer wieder beginnen.188 Und an die Dammbruch-Metapher erinnernd, die viele Zeitgenossen schon nach der Französischen Revolution bemüht hatten, um den fatalistischen Zeitendrang zu umschreiben, besteht die »Locomotive« auf dem Diktum: »Die Revolution ist Gewalt, ein Strom, der den hemmenden Damm niederreißt und 183 Ebd., Nr. 248 vom 2.12.1848. 184 Ebd., Nr. 258 vom 14.2.1848; vgl. auch Bremer Zeitung, Nr. 328 vom 11.12.1848; ebd., Nr. 329 vom 12.12.1848; ebd., Nr. 330 vom 13.12.1848. 185 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 218 vom 12.9.1848; vgl. auch Neue Deutsche Zeitung, Nr. 140 vom 10.12.1848. 186 Auch im folgenden Mannheimer Abendzeitung, Nr. 298 vom 14.12.1848; vgl. auch ebd., Nr. 242 vom 10.10.1848; Neue Deutsche Zeitung, Nr. 9 vom 11.1.1849. 187 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 259 vom 29.10.1848. 188 Seeblätter, Nr. 263 vom 3.11.1848. 334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

wild dahinbraust, verheerend für Alles, was ihm in den Weg tritt. Wer will dem wilden Strom sein Bett vorschreiben?«189 ›Zeit‹ innerhalb von Revolutionen wurde zu einem ungestaltbaren Fatum, als die politische Entwicklung mit der Septemberkrise und dann wieder im Frühjahr 1849 für demokratische Erwartungen ernsthaft in eine Krise geriet und angesichts der fortschreitenden Reaktion ihr Ende zu finden drohte. Gerade deshalb wurde es für Demokraten zu einer Notwendigkeit, sich der Revolution als eines autogenen Prozesses zu versichern, der sich letztlich überjeden Widerstand hinwegsetzte und die demokratischen Erwartungen künftig einlösen mußte. Gewicht bekam dieser Gedanke dadurch, daß die Möglichkeit einer eruptiven Fortschrittsbeschleunigung in der Geschichte allgemein verankert wurde, was insbesondere in den Krisenzeiten der Revolution geschah, im letzten Quartal des Jahres 1848 und um die Reichsverfassungskampagne. So bleibt die »Neue Deutsche Zeitung« zuversichtlich nach der Annahme des Malmöer Waffenstillstandes, denn: »Die deutsche Revolution nimmt den Gang, den bis jetzt jede Revolution genommen hat und den jede, bis das Ziel erreicht ist, nehmen wird«. Mit wachsender Erbitterung über die offene Reaktion müsse es zu neuen Erhebungen kommen: »Und wie oft die Partei des entschiedenen Fortschritts auch niedergeschmettert werde, am Ende siegt sie doch, sie muß siegen, weil die Welt fortschreiten muß.« Diesen Gang habe die Revolution in Frankreich genommen, sie werde ihn auch in Deutschland nehmen.190 Der »Drang der Zeit«, bemerkt »Der Beobachter« vier Wochen darauf, lasse sich nicht aufhalten: »Denn auch die Revolutionen haben ihr Gesetz, dessen Erfüllung eine innere Nothwendigkeit ist. ... Die Revolutionen lassen sich nicht überwinden; sie werfen jeden Widerstand nieder und ihre Konsequenzen müssen verwirklicht werden. In der That, wer, der die Geschichte der französischen und englischen Revolution mit Verstand gelesen hat, kann das Gesetz verkennen, welches darin waltet?«191 Für ein radikales Blatt wie die »Mannheimer Abendzeitung« verliert die Revolution ihren Schrecken, wenn die gesamte Vergangenheit zu einem Umbruchprozeß wird, welcher der Beförderung einer Republik und der Realisierung von Humanität gedient habe: »Die ganze Geschichte ist eine einzige Revolution, eine Revolution, deren unaufhaltsames Rad nur zur Ueberwindung hartnäckigen [reaktionären] Widerstandes dann und wann in einen zermalmenden Umschwung gebracht wird«.192 Zwar betonen vor allem radikaldemokratische Blätter wie schon im Sommer 1848, daß die Aufgabe der Revolution in einem Bruch mit der Tradition auch 189 Locomotive, Nr. 177 vom 31.10.1848. 190 Neue Deutsche Zeitung, Nr. 70 vom 20.9.1848. 191 Der Beobachter, Nr. 210 vom 19.10.1848. 192 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 311 vom 29.12.1848. 335 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

auf dem sozialen Sektor bestehe;193 aber diese angestrebte Zäsur begründen sie wiederum aus einem in der Vergangenheit angesiedelten Entwicklungsprozeß, der fortlaufend revolutionäre Brüche gekannt habe. Jetzt werde die »bekannte Weissagung, daß die französische Revolution ihre Runde um die Welt machen werde«, in Erfüllung gehen, so im »Beobachter«.194 Ein Artikel in der »Neuen Deutschen Zeitung« weist darauf hin, daß der Kompromißgedanke einer zwischen Gegenwart und Zukunft vermittelnden demokratisch-konstitutionellen Monarchie sich schon in der Vergangenheit als unmöglich erwiesen und deshalb den Revolutionswunsch nach einem Bruch mit dem Gestern latent gehalten habe.195 Am Ende der Reichsverfassungskampagne, als die Reaktion nahezu ihr Ziel erreicht hat und die »Willkürherrschaft« an »der Tagesordnung« sei, gibt ein Zeitgenosse »die gute Sache noch nicht verloren! Wende man nur den getrübten Blick hinweg von der unmittelbaren Gegenwart und richte man ihn auf das große Ganze, auf die gesamten Zustände und Bestrebungen unserer Epoche, und man wird den Trost darin finden, daß uns doch noch eine große, eine schöne Zukunft bevorsteht! Wie? Haben nicht zu allen Zeiten die Edelsten unserer Nation gerade das angestrebt, was wir auch wollen?«196

Schon die Befreiungskriege und die Bewegungen der dreißiger Jahre hätten dieselben Ziele und Zwecke verfolgt. In der Revolution des Jahres 1848 habe sich dann auf breitester Grundlage abermals die konstitutionelle und nationale Mission des deutschen Volkes für die »naturgemäße Entwicklung der europäischen Menschheit« gezeigt. Der revolutionäre Umsturz wurde letztlich zur Metapher einer schon seit Jahrhunderten wirkenden Fortschrittsbewegung, die sich außerhalb jeder menschlichen Verfügbarkeit zu verwirklichen habe: »Die Gährung der Zeit, die seit Jahrzehnten, nein, seit Jahrhunderten angesammelt ist, muß sich vollenden, und keine Menschenhand ist im Stande diesen nothwendigen Prozeß zu hintertreiben. Keinem Menschen legt sich die empörte Zeit zu Füßen ... Auch die Revolutionen haben ihre inneren Gesetze; sie können sich nicht schließen, bis ihr Ziel erreicht ist.«197 193 Vgl. z, B. Mannheimer Abendzeitung, Extrabeilage zu Nr. 242 vom 10.10.1848: »das Alte muß so gründlich vernichtet sein, daß eine Wiederkehr nicht möglich wird, dann erst kann der junge Freiheitsbau vollendet werden.« Neue Deutsche Zeitung, Nr. 5 vom 6.1.1849: »Die Revolution von 1848 ist die letzte Revolution, welche von dem Proletariat im Interesse der Bourgeoisie gemacht wurde; die Revolution von 1848 wird die erste Revolution im Interesse des Proletariats, im Interesse der Arbeiter sein. Jene hatte eine Aenderung in der politischen Form und soziale Experimente zur Folge, diese wird sofort zu sozialen Reformen übergehen.« Ebd., Nr. 9 vom 11.1.1849: »Die Revolution muß den bisherigen Rechtsboden mit einem Schlage vernichten, oder sie wird von ihm nach und nach entkräftet und endlich ermordet.« 194 Der Beobachter, Beilage zu Nr. 47 vom 24.2.1849. 195 Vgl. Neue Deutsche Zeitung, Nr. 66 vom 18.3.1849. 196 Auch im folgenden Der Beobachter, Nr. 157 vom 23.6.1849. 197 Ebd., Nr. 50 vom 28.2.1849; vgl. auch Neue Deutsche Zeitung, Nr. 70 vom 23.3.1849.

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Für radikaldemokratische Blätter wie die »Mannheimer Abendzeitung« liegt dieses Ziel jenseits des Kompromisses der Reichsverfassung, der wegen des preußischen Erbkaisertums von dem revolutionären Grundsatz der Volkssouveränität und eines republikanischen Bundesstaates wieder abgerückt sei. Deshalb werde man bald wieder in ein neues Stadium der Revolution treten.198 Ein gemäßigtes Blatt wie »Der Beobachter« sieht dagegen trotz des preußischen Erbkaisers die Revolution in den vielen demokratischen Elementen der Verfassung an ihr Ziel gekommen und unterstützt deren Annahme in Württemberg vehement.199 Die Reichsverfassungskampagne hingegen wurde weitgehend von der gesamten demokratischen Öffentlichkeit getragen, in dem Wiederaufflammen der Revolution eine Selbsterfüllung des jeweiligen demokratischen Programms gesehen. Für den »Beobachter« scheint nun »die Zeit gekommen, wo sich die Geschicke Deutschlands erfüllen sollen«. Die ausgebrochene Bewegung sei unaufhaltsam und müsse das durchbrechen, was sich überlebt habe; ihr könne man sich nur noch anpassen.200 Ein im »Beobachter« und in der »Mannheimer Abendzeitung« Mitte Mai abgedruckter Aufruf »An das Volk« sieht die Revolution »über die Völker Europa's« dahinbrausen: »Die alten Formen stürzen zusammen, keine Macht der Erde wird sie aufrecht erhalten.«201 Jetzt werde der im März des vergangenen Jahres begonnene Kampf zu einem Ende geführt.202 Nur »eine neue, blutigere Revolution als die vom vorigen Jahre, vermag die Ketten zu brechen«, die sich wieder um Deutschland gewunden hätten.203 Eine in die Geschichte hineingelesene revolutionäre Schicksalsbewegung mußte deshalb nicht mehr allein resignativ hingenommen werden, so wie es in den 1790er Jahren noch unter Demokraten zu beobachten war, sondern diese wurde zum ideologischen Instrument der als unabweisbar dargestellten Fortschrittserwartungen. Sie konnte in einer erneuten Revolution auch bei gemäßigten Demokraten gerade während der Reichsverfassungskampagne ihren Ausdruck finden, um mit dieser Gewißheit den einmal erreichten Entwicklungsstand - notfalls auch revolutionär - zumindest zu festigen, wenn nicht gar weiterzutreiben.

198 Vgl. Mannheimer Abendzeitung, Nr. 81 vom 5.4.1849; vgl. auch Neue Deutsche Zeitung, Nr. 53 vom 3.3.1849. 199 Vgl. Der Beobachter, Nr. 101 vom 25.4.1849. 200 Ebd., Nr. 121 vom 17.5.1849; vgl. auch schon ebd., Nr. 104 vom 27.4.1849. 201 Mannheimer Abendzeitung, Nr. 116 vom 17.5.1849; Der Beobachter, Nr. 124 vom 20.5.1849. 202 Vgl. Mannheimer Abendzeitung, Nr. 118 vom 19.5.1849. 203 Vgl. Der Beobachter, Nr. 138 vom 5.6.1849.

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4. Rückblick und Ausblick - Ende der Revolution? Die Zeiterfahrungen der drei politischen Strömungen hatten sich 1848/49 um die beiden Pole Reaktion und Revolution gruppiert. Übereinstimmend wurden die Märzereignisse zunächst als Wiedereinstieg in einen evolutionären Fortschrittsprozeß gedeutet. Dies geschah perspektivisch mehrdeutig als Auftakt für politisch-liberale oder demokratisch-soziale Reformen, als Voraussetzung für einen weiteren, sozialen Bruch, auf dessen Grundlage erst eine reformerische Kontinuität gedeihen konnte, oder als Möglichkeit, sich in bewegten Zeiten konservativ behaupten zu können. Doch die Vielfalt der zu lösenden Probleme ließ den erwarteten Fortschritt nicht eintreten und die Gegenwart wieder zur antagonistischen Übergangszeit werden. Die Spannung zwischen den Befürchtungen vor einer sozial-republikanischen Revolution und einer gegenrevolutionären Reaktion erzeugte einen Zeit- und Handlungsdruck, der sich aber nicht zu entladen vermochte. Statt dessen wurde dieses Spannungsverhältnis für die je eigenen Zukunftsziele dialektisch angeeignet und funktionalisiert, um die im Revolutionsstrudel drohende Auflösung überschaubarer Zeitstrukturen zu kompensieren und den jeweils gemeinten Fortschritt doch noch bestätigt zu finden. Konservative beraubten die Revolution ihrer zukunftsweisenden Inhalte und - in Erinnerung an 1789 und an die geschichtliche Erfahrung- sahen sie als ein in-sich-kreisendes, destruktives Prinzip, dessen Anspruch auf den Beginn einer neuen Epoche als nicht einlösbar dargestellt wurde. Als Bedrohung aristokratischer Machtansprüche blieb sie aber weiterhin im konservativen Erfahrungsraum präsent, selbst unter der ›Maske‹ der Verrechtlichung in den Nationalversammlungen oder in dem oktroyierten preußischen Verfassungswerk vom 5. Dezember. Die notwendige Korrektur an der Revolutionsbewegung sahen einige Reformkonservative wie Stahl schon ansatzweise in dieser Verfassung verwirklicht, gab sie doch Möglichkeiten an die Hand, den Weg zum »monarchischen Prinzip« konstitutionell abzusichern. Ein konservativer Fortschritt‹ schien erst möglich, wenn er in aristokratischen Herrschaftsstrukturen und Legitimitätsmustern der Vergangenheit abgesichert war. Die Gcstaltbarkeit von ›Zeit‹ im progressiven Sinne geriet zur poltischen Farce, wenn die Grenzen von Vergangenheit und Zukunft zugunsten einer vorgeblich zeitlosen Tradition rhetorisch verflüssigt wurden. Ungestaltbar, mußte sich aber auch die Revolution zunächst in ihrer extremsten und radikalsten Ausprägung vollenden, das heißt: in der ›Anarchie‹ neutralisieren. Erst aus der Verschärfung der Gegensätze heraus konnte die Reaktion ihr »revolutionäres Recht« beziehen, den vermeintlich notwendigen Schritt zurück tatkräftig zu praktizieren. Auch als zirkuläres Prinzip blieb eine Revolution für die Reaktion als permanenter obligatorischer Gegenpol unentbehrlich, um einen Rückschritt in der politischen Entwicklung als ›Notwehr‹ zu rechtfertigen und forciert voranzutreiben.

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Liberale wollten sich außerhalb dieses sich wechselseitig provozierenden Spannungsverhältnisses von ›Revolution‹ und ›Reaktion‹ stellen und forderten eine Mittelposition. Der permanent revolutionären Entwicklung, in der das vormärzliche Erbe der Gegensätze weiterwirkte, wurde die konstitutionelle und nationale Reform entgegengestellt. Aber diese Position drohte aufgerieben zu werden. Einerseits wurde der Reaktion jetzt ein revolutionärer Charakter zugeschrieben, da sie sich über die rechtmäßige Institution der Nationalversammlung hinwegsetzte; andererseits galt sie als Auslöserin weiterer, sozialrevolutionärer Unruhen, in denen die Entwicklung den Liberalen völlig aus den Händen zu gleiten drohte. Gerade dieser zweite Vorwurf zeigt, daß der eigentliche Zielpunkt liberaler Befürchtungen die unablässige soziale Radikalisierung der Revolution war, die Reaktion nur insofern, wie sie diese Entwicklung durch eine obstinate Politik provozierte und beschleunigte. Schon im ersten Revolutionsjahr legten Liberale eine Affinität zur regressiv-konservativen Haltung an den Tag. Doch insbesondere die republikanischen Tendenzen der »dritten Revolution« drohten das liberale Verfassungsmodell einer konstitutionellen Monarchie zu überholen. Insoweit konnte das gegenrevolutionäre Vorgehen der preußischen Regierung letztlich gerechtfertigt werden, da sie zu einer Notwehrhandlung wurde, um gegenüber der überstürzten revolutionären Dynamik ein Gegengewicht zu schaffen. Eine rückläufige Bewegung des Revolutionspendels sollte die zu weit vorangeschrittene und sich verselbständigende Entwicklung wiederum in evolutionäre Bahnen lenken. So erwies sich die als Komplement zur Revolution vielgeschmähte Reaktion als eine notwendige Restauration von politischen und sozialen Zuständen, die erst wieder einen Ansatzpunkt für Liberale geben konnten, Politik zu gestalten. Der revolutionäre Einstieg in ein Fortschrittskontinuum erzeugte durch seine Permanenz Widersprüche. Erst über den Umweg einer ›guten‹ Reaktion der Mitte bahnte sich eine Entwicklung an, die eine Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft in einer revolutionär bewegten Gegenwart versprach. Die Erfahrungen mit und die Ängste vor einer nicht mehr gestaltbaren Revolution ließen liberale Zeiterwartungen nur noch mit Hilfe einer moderat hemmenden Bewegungskraft erfüllbar erscheinen, der eine Bändigung der Revolution zwischen den Extremen vorerst zugetraut wurde. ›Konservativismus‹ und auch ›Reaktion‹ konnten damit einen ersten Einzug in die von Liberalen für sich beanspruchte Mittelposition halten, diese nach rechts hin öffnen und ihr ein Stück des Oppositionscharakters nehmen. Demokraten versicherten sich der Revolution als eines autogenen Prozesses, der schon in der Vergangenheit angelegt war, durch die verstärkt präsente Reaktion allenfalls befördert wurde und sich über jeden Widerstand hinweg erfüllen mußte, bis schließlich die erfolgreiche Zäsur Voraussetzungen für reformerisches Handeln geben konnte. Die Erfahrung nach der Französischen Revolution, ›Zeit‹ in ihrem Vorwärtsdrang nicht mehr gestalten zu können, ging daher 339 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

1848/49 eine eigentümliche Symbiose mit der Erfahrung aus der Vormärzzeit ein, als sich die Hoffnungen auf eine Revolution durch die unerfüllten nationalen und konstitutionellen Erwartungen aus der Vergangenheit als Notwehrhandlung gegen den reaktionären Willkürakt legitimieren lassen sollten und auf eine kontinuitätsstiftende Restauration hinausliefen. Jetzt machten sich Demokraten die in der Geschichte verankerte fatalistische Fortschrittsbewegung zunutze, um durch eine Anpassung an die sich beschleunigende Entwicklung ihr Programm letztlich auch revolutionär durchsetzen zu können und den Bruch mit der Vergangenheit zu vollenden. Der in der ersten Phase der Revolution zu verzeichnende Aufruf, das Fragmentarische der politischen Märzrevolution sozialreformerisch oder -revolutionär abzuschließen und damit ›Zeit‹ in den Verfügungsraum des Menschen zu rücken, gewann an Dringlichkeit und Gewicht, als die Verwirklichung der demokratischen Ziele in einen unwiderstehlichen Fortschrittsprozeß eingespannt wurde. Gerade indem sich dieser Fortschrittsgang in einem ›Gesetz der Revolution zu manifestieren schien, eröffneten sich auch in Zeiten der erstarkenden Reaktion Handlungsmöglichkeiten, die freilich in dem vorgegebenen Rahmen einer teleologischen Entwicklung verbleiben mußten, über die letztlich auch unter Demokraten keine Einigkeit herrschte. Hingegen die Notwendigkeit, auf den Zug der Zeit aufzuspringen und ihn gegen eine drohende Regression zu nutzen, dieser Umgang mit ›Zeit‹ wurde einvernehmlich akzeptiert. Mit dem Zusammenbruch der Revolutionsregierung in Karlsruhe und seit dem Beginn der Belagerung der Rastatter Festung war offensichtlich geworden, daß sich die revolutionäre Reichsverfassungskampagne ihrem Ende zuneigte. Auch im europäischen Rahmen hatte die Reaktion durch den Sieg über die ungarischen und italienischen Revolutionsarmeen im August 1849 die Überlegenheit der alten Machteliten endgültig unter Beweis gestellt. Nun setzte das konservative Nachspiel der preußischen Unionspolitik verstärkt ein, flankiert von der Tagung der liberalen Erbkaiserlichen in Gotha. Die politische Aktionsebene hatte sich wieder auf die einzelstaatlichen Regierungen verschoben und spitzte sich in dem preußisch-österreichischen Dualismus bis zur Konvention von Olmütz Ende 1850 zu. Welche Rolle kam nun noch dem Verhältnis von Revolution und Reaktion in den Zeiterfahrungen der einzelnen politischen Strömungen zu, als sich der reale Gegensatz schon zugunsten der Reaktion entschieden hatte? Der demokratische »Beobachter« sieht auch über die Reichsverfassungskampagne hinaus die Revolution in Deutschland noch nicht beendet, sondern untergründig weiterwirken: »Der Krater der Revolution ist noch nicht geschlossen und der Donner rollt wie vor dem März in der Tiefe.«204 Kritisch 204 Der Beobachter, Nr. 199 vom 10.8.1849.

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werden die preußischen Unionspläne verfolgt, die Deutschland in eine Nordund eine Südhälfte teilen würden. Das Werk der Regierungen »ist nicht geeignet, die Revolution zu schließen, welche nur durch einen großen Akt der Nationalsouveränität zu Ende geführt werden kann«.205 In einem weiteren Artikel werden die deutschen Fürsten aufgefordert, dem »Ruf nach dem deutschen Parlamente« zu folgen, »so lange noch Zeit ist, denn nicht zum zweiten Male würde es möglich seyn, das deutsche Volk durch Hinweisung auf denselben legalen Weg, den es zum ersten Male vergeblich betrat, zu beruhigen!«206 Eine weiterhin konsequent verfolgte Reaktion, wie sie vor allem in der oktroyierten Dreikönigsverfassung mit ihrem Dreiklassenwahlrecht betrieben werde, bereite zwangsläufig den Boden für die nächste Revolution vor, deren uneingelöste Erwartungen sich erfüllen müßten: »Und diese neue Revolution wird um so furchtbarer werden, als der Sinn für Recht und Gesetz im Volk durch die Willkür und die Gewaltthaten von oben systematisch erstickt wird, als die lange Qual das Volk verwildern und die in den durch Justizmorde und Einkerkerungen erbitterten Familien die bisher in Deutschland noch nicht gekannte Rachsucht Tiger und Hyänen in die Gesellschaft schleudern wird.«207 Es war erneut der reaktionäre Widerstand gegen eine als unausweichlich empfundene Fortschrittsbewegung, der aufgrund seiner gesetzeswidrigen Gewalt den Keim weiterer Revolutionen in sich trug. »Der ganze Preußische Staat steht schon jetzt auf dem Boden der Rechtslosigkeit«, so befindet ein Zeitgenosse in der »Urwähler-Zeitung«, der sich nicht als »Freund der Revolution« versteht, sondern als »unermüdliche [r] Vertreter der durch die Märzrevolution gewonnenen Rechte und Freiheiten«. Dennoch erklärt er, »daß eine etwaige neue Revolution vollkommen berechtigt sein wird, radikal wieder dort anzufangen, wo man im November 1848 unterbrochen worden ist«.208 Zwar wolle man nicht die Revolution, sondern nur ihren Segen »Ihr aber, die Ihr den Segen der Revolution verwerfet, Ihr fördert die Revolution. Wir fühlen tief im Innern, daß gewisse Gedanken, die einmal Eigenthum des Volkes geworden sind, verwirklicht werden müssen. Wir wissen aus der Geschichte, daß sich niemals noch das auf lange Zeit unterdrücken ließ, was einmal in einem Volk lebte. Die letzte Revolution brachte nun aber mehr als Gedanken, mehr als Gefühle und Bestrebungen, sie brachte uns Rechte; wie könnt Ihr glauben, daß je eine Zeit kommen wird, wo das Volk seine Rechte vergessen wird?«209 Gerade die erzwungene restaurative Ruhe werde die Erinnerung an die vergangene Revolution wach halten, um diese im radikaleren Gewande beizeiten von neuem erstehen zu lassen.210 205 Ebd., Nr. 255 vom 14.10.1849. 206 Ebd., Nr 244 vom 2.10.1849. 207 Ebd., Nr. 170 vom 8.7.1849. 208 Urwähler-Zeitung, Nr. 120 vom 26.8.1849. 209 Ebd., Nr. 151 vom 2.10.1849. 210 Hiermit relativierte sich die Erkenntnis, die Demokraten auch aus dem Ende der Revolu341 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Die Latenz der Revolution geronn zur Tradition, in der jede rechtswidrige, weil gegen den demokratisch gemeinten konstitutionellen und nationalen Fortschritt gerichtete Regression schon immer letztlich den revolutionären Umsturz bewirkt hatte und somit auch zur Selbstversicherung für die Zukunft wurde. »Lernet von der Vergangenheit!« appelliert die Überschrift eines Artikels aus der »Urwähler-Zeitung«. Unglück habe schon immer die Menschheit erzogen; deshalb setze das Scheitern der Revolution erst den Samen für den künftigen Erfolg der Freiheit.211 Selbst wenn der aus den Märztagen stammende Geist des Rechts, der Freiheit und Einheit aus der Gesellschaft gewichen sei, so werde einmal der Tag kommen, »da kehrt zurück der Geist zu seinen Kindern und bricht hervor ein urplötzlicher Frühling nach langer Winternacht und weckt die Schläfer und ruft auf die Harrenden«.212 Allen realen Erfolgen der Reaktion zum Trotz geraten die Folgen der Märzrevolution zu »Geistes-Errungenschaften und werden mehr und mehr zu solchen werden, und so sicher der Geist unsterblich ist, wenn auch der Körper dem Tode erliegt, so sicher wird der Geist unserer Zeit unsterblich sein und zum Siege kommen«.213 Die fatalistische Fortschrittsgewißheit von Demokraten sah sich weiterhin in allgemeinen Zeiterfahrungen der Vergangenheit verankert, die eingespannt blieben in ein sich wechselseitig herausforderndes Spannungsverhältnis zwischen Reaktion und Revolution. Der Sieg der alten Herrschaftsmächte im Sommer 1849 erschien deshalb im Erwartungshorizont auch gemäßigter Demokraten als Gewähr für weitere, radikalere Umbrüche, um in ein neues Zeitalter aufzubrechen. Diese Brüche konnten als Warnung gegenüber der regressiven konstitutionellen und nationalen Entwicklung der preußischen Unionspläne und als Aufforderung, die Errungenschaften von 1848 doch noch einzulösen, dienen. Der Weg zu einer erneuten Revolution war aber nicht mehr allein der Straße, sondern auch der Persistenz des demokratischen »Geistes« vorbehalten. Die Zukunftsgewißheit von Demokraten hatte damit eine resignative Note bekommen. Revolutionen als Ausdruck eines evolutionären Fortschritts - diese Auffassung findet sich noch unter Liberalen im Sommer 1849. Der linksliberale Varnhagen vertraut seinen Tageblättern an, daß er sich von einer Revolution keinen zäsurhaften Aufbruch in eine neue Zeit verspreche: »Die Leute tun immer, als ob eine Revolution das goldne Zeitalter herbeiführen müßte oder könnte. Das ist durch keine Geschichtsschreibung verwirklicht. Revolutionen sind Schritte tion zogen, daß nämlich »jede Revolution verloren ist, welche die alten wohlorganisierten Gewalten neben sich fortbestehen läßt«, so Johann Jacoby in einer Beschreibung der Sprengung des Stuttgarter Rumpfparlaments (Brief vom 19.6.1849 aus Cannstadt an Simon Meyerowicz, in: Weber, S. 356). Zwar hatte das Erstarken der Reaktion den Entwicklungsgang gehemmt, gab ihm aber ex negativo auch neue revolutionäre Impulse. 211 Urwähler-Zeitung, Nr. 132 vom 9.9.1849. 213 Ebd., Nr. 93 vom 26.7.1849. 212 Ebd., Nr. 131 vom 8.9.1849.

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der Weltgeschichte, sie hat keinen andern Gang und der Schritt führt nur zum Schritt, erst der letzte zum Ziel.« 214 Eine Regierung könne sich nur an der Macht behaupten, wenn sie stets Neues schaffe, das besser halte als das Alte, um sich so den Erfordernissen der Zeit anzupassen - »nun das ist's ja, was wir wollen! Das ist Revolution!« 215 Deshalb kann dann auch die »National-Zeitung« konstatieren: »Revolutionen sind nicht nur zerstörende, sie sind zugleich schöpferische Thaten.« Denn die durch eine Revolution erschütterten öffentlichen Zustände seien nur zu konsolidieren, wenn man aus »dem Geiste der Revolution selbst« schöpfe, ihre Prinzipien, die sich gegen den »alten Bestand der Dinge kehrten«, aufgreife, um sie »in ihrem positiven Inhalte zu fassen und sie in klarer durchgebildeter Gestalt in allen neuen Verhältnissen der gesellschaftlichen Ordnung zu verkörpern«. 216 Auch Ende 1849 - im Rückblick auf die verflossene Revolution - bemühen sich einige Blätter, den Ertrag der vergangenen zwei Jahre für die Zukunft herauszustellen. Die »Allgemeine Zeitung« sieht die revolutionäre Bewegung zunächst einmal zum Stillstand gebracht, denn auf »den gewaltsamen Stoß vorwärts ist naturgemäß der nicht weniger gewaltsame Rückschlag erfolgt«. Aber auch diese Revolution habe den »Prozeß der Auflösung des Alten« vorangetrieben und die seit 1789 bestehende Klimax weitergeführt, die erst mit dem Ende von mittelalterlicher Theokratie und Aristokratie ihren Abschluß finden werde. 217 Die »Kölnische Zeitung« bilanziert in einem mehrteiligen Artikel die Ergebnisse der Märzrevolution an einem Zeitpunkt der Ruhe, an dem sich die »früher in formloser Mischung durch einander gährenden Kräfte und Bestrebungen« nun »nach bestimmten Richtungen und Zwecken gesondert« hätten und die »Auflösung der öffentlichen Dinge« wenigstens partiell »einer neuen Ordnung gewichen« sei.218 Durch die Revolution sei die »stockende Zeit« in Bewegung geraten und das deutsche Volk sich »seiner nationalen Persönlichkeit bewußt geworden«. 219 Und auch die Sache der bürgerlichen Freiheit habe außer in Baden in keinem deutschen Staat Rückschritte erlebt: »Die politische Reaction, wenn nicht alle Zeichen trügen, ist ihren äußersten Gränzen bereits sehr nahe gekommen, und die weit gefährlichere moralische Reaction, wo sie überhaupt vorhanden war, hat längst ihr Ende erreicht. Darum blicken wir zuversichtlich in die Zukunft, und erwarten wir schon in dem nächsten Jahre die Erfüllung eines großen Theiles der Versprechungen, welche die letzten beiden Jahre unerfüllt gelassen haben.«220 214 Vamhaoen, Werke, Bd. 5, S. 489. 215Varnhagen,Tageblätter, Bd. 6, S. 341. 216 National-Zeitung, Nr. 259 vom 18.8.1849. 217 Allgemeine Zeitung, Nr. 362 vom 28.12.1849. 218 Kölnische Zeitung, Nr. 297 vom 13.12.1849. 219 Ebd., Nr. 299 vom 15.12.1849. 220 Ebd., Nr. 311 vom 30.12.1849; vgl. auch den Artikel »Vorwärts«, in: ebd., Nr. 1 vom 1.1.1850, der den Erfahrungsgewinn und Illusionsverlust durch die Revolution betont.

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Andererseits rückten Liberale von der Vorstellung eines evolutionären Revolutionspotentials, wie sie bereits im Vormärz und auch noch in der ersten Revolutionsphase vertreten wurde, schon seit dem Sommer 1848 zunehmend ab. Sie flüchteten sich in eine Haltung jenseits von Revolution und Reaktion, die auch in der zweiten Jahreshälfte 1849 bestimmend blieb. Mit dem Ende der Reichsverfassungskampagne und dem Sieg der Reaktion wollten Liberale aber auch wieder von ihrer Affinität zum Konservativismus abrücken und sich als eigenständige politische Kraft profilieren, hatte die enteilende Revolutionsdynamik doch nun den notwendigen gegenrevolutionären Dämpfer erfahren. Ende Juni trafen sich gemäßigte Liberale in Gotha, um dort mehrheitlich den preußischen Unionsplänen zuzustimmen, in der Hoffnung, mit Hilfe dieser Kompromißhaltung weiteren Revolutionen den Garaus zu machen und Ziele der Reichsverfassung vom 28. März verwirklichen zu können. In Gotha wurde die »Möglichkeit einer neuen dritten Partei« gesehen, wie eine aufschlußreiche Druckschrift »Zur Propaganda der national-konstitutionellen Partei« Anfang Juli meint, verfaßt von »einem freimüthigen Widersacher der Revolution«, der sich als Vertreter der liberalen Erbkaiserlichen versteht.221 Die Schrift beginnt mit einer Beschreibung des ubiquitären Fortschrittsanspruchs: »Heraus aus den jetzigen Zuständen müssen wir: darin stimmt Alles überein; wie verschieden auch das Ziel, wie ganz entgegengesetzt die Wege, das ist der Leitstern sämmtlicher Parteien. Allenthalben ist Bewegung; Jedermann will den Fortschritt. In kaum erhörter Weise verloren hat sich die Spur derer, welchen die Gegenwart auch nur erträglich dünkt. Es gibt geradewegs keine Freunde des ›Bestehenden;‹ für den Augenblick existirt nichts weniger, als eine konservative Partei.« Den gemäßigten Liberalismus als einzige Partei des »entschiedenen Fortschritts« darzustellen, dies sieht der Verfasser als das Ziel seiner Schrift an. Die Revolution als »das äußerste Mittel« wird kategorisch abgelehnt: »Die Revolution ist selbst die Diktatur: die Gewalt der Ereignisse über den Willen Aller, die unumschränkte Herrschaft der Natur über die Menschheit.« Sie überschlage sich und führe letztlich in die entgegengesetzte Richtung des Intendierten: »Wer überhaupt etwas will und überläßt der Revolution, diesen Willen zu realisieren, der giebt ihn im Grunde schon auf« Denn jede Revolution bringe »den nothwendigen Rückschlag mit sich« und sei »entschieden reaktionär«. Es sei das »revolutionäre Prinzip«, auf das sowohl die demokratischen Forderungen nach Freiheit als auch die quietistischen nach organischer Staatsordnung zuliefen. Demokratische Revolution und konservative Reaktion werden zu austauschbaren politischen Richtungen, da sie sich beide der revolutionären Methode bedienen: »Die entschiedensten Reaktionäre dienen mit all ihrer Entschiedenheit 221 Anonymus, Propaganda, S. III. Der Verfasser dieser Schrift trat dafür ein, die »Deutsche Zeitung« als das Zentralorgan dieser Partei zu erwerben.

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d. h. auf das Wirksamste der Revolution: Die entschiedensten Revolutionärs dienen mit aller Entschiedenheit der Reaktion.« Fortschritt könnten beide revolutionäre Fraktionen nicht bringen, denn »die revolutionären Bewegungen, sind sämmtlich Bewegungen im Kreise: gilt nicht gleichviel, ob linksherum, ob rechtsherum?!« Einzig der Weg aus der Revolution heraus könne einen entschiedenen Fortschritt verbürgen, für den das »reformatorische Prinzip« stehe. Dieses Prinzip eigne sich die demokratischen und quietistischen Ziele nach Freiheit und dauerhaften Institutionen an, bediene sich dabei aber der reformerischen Methode jenseits von Chaos und Knechtschaft, von Revolution, Belagerungszustand und Verfassungsbruch: »Indem wir das revolutionäre Prinzip angreifen, zerstören wir das Lebenselement beider. Das reformatorische Prinzip ist ihr gewisser Tod. So lange die Revolution unbesiegt sich geltend macht, geht die Menschheit in der Irre. Die Reformation ist der entschiedne Fortschritt. Ihre Bahn verfolgen wir unbekümmert ob der Feindschaft auf allen Seiten ... Unser Weg führt geradaus vorwärts. Vorwärts!« Das reformatorische Prinzip stehe für Freiheit und Ordnung auf der Grundlage eines konstitutionellen Königtums mit absolutem Vetorecht und allgemeinem Wahlrecht. Sei diese Position vor wenigen Monaten in der zweiten preußischen Kammer noch dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen gewesen, bilde man nun »die antirevolutionäre Opposition gegen das revolutionäre Ministerium, die konstitutionelle Opposition gegen das unkonstitutionelle Ministerium, die Opposition des gesetzlichen Fortschritts gegenüber der Regierung des ungesetzlichen Fortschritts«.222 Der Zielpunkt der liberalen Kritik hatte sich nun also von der demokratischen Revolution auf die gouvernementale verlagert, die jetzt einer liberalen Reform entgegenstand. Dies bedeutet für die linksliberale »National-Zeitung«, daß »die Weltgeschichte noch für viele Jahre Revolutionsgeschichte [bleibt], wenn die Freiheit nicht in ihr Recht eingesetzt, wenn dem Fortschritt nicht eine Bahn eröffnet wird, in der er seiner ungestörten Weiterentwicklung sicher ist«.223 Ein evolutionärer Fortschritt sei nicht zu erwarten, wenn die preußische Regierung weiterhin aus dem konstitutionellen Gleise trete, wie dies schon die Auflösung der Kammern und die einseitige Veränderung des Wahlrechts im Sommer 1849 demonstriert hätten: »Denn das ist die dauernde Revolution, die fortwährende Herrschaft der Thatsachen, daß die Verfassung nicht beobachtet, dastehende Verfassungsbestimmungen einseitig und unförmlich geändert werden.« Eine Revolution finde nur ihr Ende, »wenn ein neuer Rechtszustand begründet ist«, mit dem »der Zustand des Friedens, der ruhigen, fortschreitenden, verfassungsmäßigen Entwicklung beginnen« könne. Das Ende der Revolution 222 Ebd., S. 1, 22, 24 f., 13,34 f., 15, 43. 223 National-Zeitung, Nr. 257 vom 17.8.1849.

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dürfe nicht der Anfang einer Reaktion sein.224 Die auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhende Gleichberechtigung aller Staatsbürger garantiere einen organischen, friedlichen, gesetzlichen Weg, um bessere gesellschaftliche Zustände zu begründen, denn: »Die Mehrheitsentscheidungen sind konservativ, nur die Oktroyierungen der Minderheit sind despotisch, revolutionär.«225 Fünf Wochen später heißt es in einem Lagebericht in ähnlicher Weise, daß man an der Jahrhunderte währenden geistigen Reformarbeit festhalten und sie weiterentwickeln wolle: »Wir [d. i. die Majorität] wollen das Haus, dessen Ecksteine gesetzt sind, ausbauen, wir wollen, daß die gelegten Keime aufwachsen, am Licht des Tages, an Gottes Sonne sich entfalten. Das ist sehr conservativ. Die Minorität zerreißt die Verträge, bricht die Gelübde, zerschlägt die Fundamente, zertritt die Keime. Das ist sehr revolutionär.« 226

Und Varnhagen merkt im November in seinem Tagebuch an, daß die Reaktion es permanent nötig habe, den Feind blutig zu zerschmettern: »sie fühlt, daß ihr Sieg nichts ist, wenn er nicht täglich sich erneuert, daß der ruhige Fortgang der Tage stets ein Gewinn für die Demokratie ist.«227 Revolutionär, sich nämlich nicht an die einmal ausgehandelten Verfassungsprinzipien haltend und den Gesetzesbruch perpetuierend, war die Reaktion; einen allmählichen und kontrollierbaren Fortschritt bewahren, dieses betont nicht-revolutionäre Zeitbewußtsein schrieben sich hingegen Liberale zu. Nicht nur selber revolutionär, sondern auch wieder radikale Revolutionen von unten anstoßend, erweist sich die Reaktion als Auslöserin für ein kreisförmiges revolutionäres Zeitbewußtsein. In einem Artikel der »Deutschen Zeitung« über die »Deutschen Aussichten« sieht der Verfasser in der neuen Restaurationspolitik keinen Fortschritt gegenüber der alten. Statt einer »Revolution im Kleinen« herrsche nun eine »gouvernementale Anarchie im Großen«. Diese werde »den Kreislauf, in welchem sich unsere Geschicke bewegen, viel rascher durcheilen und Deutschland viel schneller an den Rand einer neuen gewaltsamen Krisis führen, als die zähere und vorsichtigere Vorgängerin that«.228 So endet denn auch ein Überblick über die Ereignisse in den einzelnen europäischen Ländern resignativ, da die Entwicklung wieder an ihren Ausgangspunkt 224 Ebd., Nr. 225 vom 29.7.1849. 225 Ebd., Nr. 425 vom 23.11.1849. 226 Ebd., Nr. 480 vom 28.12.1849; vgl. zur revolutionären Politik der gouvernementalen Reaktion gegen die aristokratische die Eintragung in Varnhagens Tagebuch vom 3.7.1849: »Die Reaktion, die nicht im Amte ist, äußert großen Unwillen gegen die im Amte befindliche, weil diese nun ernstlich zur Aufhebung der bisherigen Steuerfreiheit der Rittergüter schreitet, also die Revolution doch fortsetzt. Allein die Regierung braucht Geld, und das revolutionaire ist so gut wie das legitime.« (Varnhagen, Tageblätter, Bd. 6, S. 250). 227 Varnhagen, Tageblätter, Bd. 6, S. 439. 228 Deutsche Zeitung, Nr. 206 vom 28.7.1849; vgl. auch Kölnische Zeitung, Nr. 255 vom 25.10.1849.

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gelangt sei: »Wir stehen in den wichtigsten Lebensfragen des Staats- und Volkslebens wieder auf den anfänglichen Puncten der Bewegung.« Wie die Demokratie anarchisch von unten her gewühlt habe, wühle nun die »Partei der anachronistischen Reaction ... von oben her gegen die Berechtigung der Nationen«. Und dies werde wieder den Kreislauf zwischen Revolution und Gegenrevolution in Gang setzen: »Aber die große Gefahr, welcher wir entgegengedrängt werden durch solche Ueberstürzung von oben herab, das ist eine zweite, eine dann radicale Revolution, zunächst ein neues Chaos. Die Unmäßigkeit der jetzigen Gewalt beweist, daß sie die Lehren dieser Erhebung nicht auszusichten weiß aus deren anarchistischen Beigaben, daß sie, ärger wie die Bourbonen, nicht daraus nichts lernte, weil sie nicht vergaß, sondern nicht lernen will, um Alles vergessen zu können. Um so viel schlimmer wird sich nach nothwendigen Gesetzen die unaufhaltsam vorwärts schreitende Weltentwicklung an ihr rächen.«229 Dieser Wechsel zur nächsten Revolution beschleunige sich immer mehr, denn: »Die Zeit geht schneller als sonst. Nicht mehr braucht sie, wie von 1830-1848, von einem Umschwung zum andern achtzehn Jahre zu harren und die atlantischen Dampfschiffe bringen rascher als sonst die republikanischen Führer aus der neuen Welt zurück.«230 Demokratischer Radikalismus und Reaktion schienen sich beide der revolutionären Methode zu bedienen und drehten sich im Kreise. Eine Revolution von links oder rechts konnte jedoch keinen sprunghaften Einstieg in eine Fortschrittsgeschichte mehr garantieren, sondern hemmte diesen vielmehr, indem sie sich in ihrer zirkelhaften Struktur offenbarte. Als ungeliebte Trägerin auch liberaler Inhalte sollte sie keinen Einfluß mehr auf die Entwicklung haben. In der Konstruktion einer eigenständigen Reformposition zwischen demokratischer und reaktionärer Revolution wollten Liberale ihre Ziele kontrollierbar in die Zukunft überführen. Trotz des reaktionären Siegesmarsches hatte ein kleindeutscher Bundesstaat unter preußischer Führung und mit völkerrechtlichen Beziehungen zu Österreich diese evolutionäre Entwicklung zur konstitutionellen Freiheit zu garantieren. Man habe aus der Revolution gelernt, vollzieht die »Deutsche Zeitung« den Schwenk von der Freiheit zur Einheit, daß sie wegen der deutschen Zersplitterung keinen Erfolg haben könne, sondern vielmehr zunächst ein Zentrum geschaffen werden müsse, um dann konstitutionellen Reformen zum Durchbruch zu verhelfen.231 Allein die enge Verschmelzung Preußens mit Deutschland könne den nationalen Aufbau bewerkstelligen, aber auch zur Auflösung des reaktionären Preußentums beitragen.232 Eine 229 Deutsche Zeitung, zweite Beilage zu Nr. 233 vom 24.8.1849. 230 Ebd., Nr. 344 vom 13.12.1849; vgl. auch Vamhagen, Tageblätter, Bd. 6, S. 424 f.; ders., Briefe, S. 180 f. 231 Vgl. Deutsche Zeitung, zweite Beilage zu Nr. 262 vom 22.9.1849. 232 Vgl. Kölnische Zeitung, Nr. 2 vom 2.1.1850; ebd., Nr. 3 vom 3.1.1850.

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»preußische Freiheit« allein sei unmöglich, sie müsse in einer deutschen aufgehen.233 Die »National-Zeitung« sieht die »Aufgabe des jugendlichen Preußens als Staat« im Unterschied zu Österreich darin, »die Ideen und Forderungen der Neuzeit, denen es sein Wachsthum und seine Größe verdankt, zur Geltung und zur Wirklichkeit zu bringen«. Schon durch den Zollverein habe Preußen die Idee der Nation vorangetrieben und solle diese nun auch politisch umsetzen und zwar unter Mitwirkung des deutschen Volkes.234 Die Forderung der Revolutionen von 1848 sei: »Preußen soll in Zukunft keine Geschichte haben die nicht zugleich die Geschichte Deutschlands ist«.235 Und die Deutsche Zeitung bemerkt zum Jahreswechsel: »Und wenn wir hiermit unsere Ansichten und Wünsche über den Gang der vaterländischen Angelegenheit im neuen Jahr dargelegt und die Hoffnung ausgesprochen habe, daß es gelingen möge, auf dem einzig möglichen Wege die Revolution zu schließen und die Nation zu befriedigen: durch die Gründung des Bundesstaates und die Union mit Österreich.«236 Nur mittels dieser nationalstaatlichen Lösung könne man dem Kreislauf aus Reaktion und Revolution entrinnen und die liberale Freiheit verwirklichen. In der Juli-Rundschau der konservativen »Kreuzzeitung« wird die erfolgreiche Reaktion als ein umfassendes Unternehmen gewürdigt, das die politische Entwicklung weit über den März 1848 hinaus zurückschrauben werde: »Siegende Reaction, - das ist die Signatur der Zeit, - eine Reaction, die hoffentlich mehr ist als Reaction bis zum März 1848, nämlich Reaction weit über den März 1848 hinaus, Reaction bis zum Wiedereingreifen und Wiederaufleben der ewigen Wahrheiten, der Rechts- und Freiheitsideen«.237 Je weiter die Zeit fortgeschritten sei, um so mehr seien die Märztage und ihre Schöpfungen nicht »als der Anfang einer neuen Periode der Weltgeschichte« erschienen, sondern vielmehr als der anfallartige Ausbruch einer lange gärenden Krankheit, als »ein Delirium mitten in der Krankheitsgeschichte der in Unglauben und Gottlosigkeit abzehrenden und deshalb fiebernden Christenheit«. Diese habe sich nun wieder gefangen und könne »mit neuer Hoffnung in neue Krisen« eintreten. Die Revolution als Höhepunkt einer langen Dekadenzbewegung hatte also erst die gegenrevolutionären Kräfte zusammengeführt und den Beginn einer weit ausholenden Regression ermöglicht, um vorgeblich zeitlose Werte Wiederaufleben zu lassen. Diese sind es nun, die nach der »revolutionären Sündfluth« wieder ins Bewußtsein rücken, »daß wir in eine neue Periode eintreten, daß es 233 Anonymus, Propaganda, S. 52 f. 234 National-Zeitung, Nr. 337 vom 3.10.1849; vgl. auch ebd., Nr. 239 vom 7.8.1849; ebd., Nr. 281 vom 31.8.1849. 235 Ebd., Beiblatt zu Nr. 5 vom 4.1.1850. 236 Deutsche Zeitung, Nr. 1 vom 1.1.1850. 237 Auch im folgenden Neue Preußische Zeitung, Beilage zu Nr. 166 vom 21.7.1849.

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Morgen wird nach der Nacht von 1848«, so in der folgenden Rundschau.238 »Vorwärts nach einem bestimmten Ziel«, so heißt es im November, »vorwärts nach einem bestimmten Plane, - einen Stillstand giebt es nicht, und vergeblich sind alle rettenden Thaten, wenn sie nicht Theile eines entsprechenden Ganzen waren.«239 Gerade die »schiefe Ebene des modernen Constitutionalismus gestattet keinen Stillstand«, sondern nur eine Bewegung »mit Bewußtsein und Anstrengung nach oben, oder nach den Naturgesetzen der Trägheit und Attraktion im reißenden Fortschritt nach unten«.240 Die »ewigen Wahrheiten« aus der Vergangenheit werden also wiederum im Sinne eines Fortschritts dynamisiert, dessen Erwartungshorizont sich aber nicht von den traditionellen Erfahrungsräumen lösen kann: »Ohne Zukunft keine Gegenwart, ohne Heute kein Morgen, denn die Zeit läßt sich nicht theilen, und der Augenblick lebt von der Ewigkeit.«241 Gegenwart und Zukunft verschwimmen in dem Anspruch auf eine zeitlose Ordnung. Der preußische Konservativismus bediente sich auch nach den letzten revolutionären Unruhen und nach dem erfolgreichen reaktionären Rückschritt einer Fortschrittsrhetorik und spannte diese für sein Ziel des Bewahrens ein. Dafür benötigte er aber weiterhin den transitorischen Zustand einer Revolution. Deutlich geht dies aus der September-Rundschau hervor, in der Ernst Ludwig von Gerlach zunächst den Konservativismus als Gegner jeder Revolution, auch der Gegenrevolution darstellt, da auch letztere eine »Species der Revolution« sei. Und doch müsse man erkennen, daß die »Gegenwart eine Zeit der Gährung ist, eine Zeit, die noch mannigfache Umbildungen des Bestehenden bedingt, daß es gefährlich, weil unmöglich, wäre, das Recht des Moments willkürlich fixieren« zu wollen: »In diesem Sinne wollen wir allerdings das Recht ›in der Schwebe halten‹ und hoffen, daß wir dadurch als Progressisten im ächten Sinne uns bewähren. Nur daß der rechte Fortschritt immer auch zugleich Rückschritt ist, denn die Wahrheit ist, wie der Horizont und wie die Ewigkeit, zugleich vor und hinter uns und nur wer tief wurzelt in der Vorzeit, kann Stämme und Zweige und Blätter und Blüthen in die Zukunft treiben.«242 Dieser »rechte Fortschritt«, der sich erst im Rückschritt zu erweisen scheine, bedürfe weiterhin der Gespanntheit des revolutionären Geistes. Die Folgen der Märzrevolution hätten Deutschland, so Gerlach zwei Monate darauf, gänzlich um seine Einigkeit gebracht und um die Pole Preußen und Österreich gruppiert. Verzagen brauche man aber nicht, denn man stehe »mitten in der Revolution. Nicht durch die Weisheit von Staatsmännern, die ohne Compaß vom 238 239 240 241 242

Ebd., Beilage zu Nr. 194 vom 23.8.1849. Ebd., Nr. 261 vom 9.11.1849. Ebd., Nr. 232 vom 6.10.1849. Ebd., Nr. 239 vom 14.10.1849. Ebd., Beilage zu Nr. 227 vom 30.9.1849.

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Zeitwinde hin und her geweht würden, sondern aus dem durch die Revolution selbst mächtig aufgewühlten Geistesleben der Nation« und der neu erwachten Liebe zu den alten Institutionen der Kirche und des Königtums habe man Rettung zu erhoffen. Der Erfurter Reichstag werde diesen aus der Revolution schöpfenden »edlen Geisteskräften« neuen Spielraum geben.243 Die Erfahrung der Beschleunigung der politischen Entwicklung innerhalb einer Revolution wurde auch über deren Aktualität hinaus beschworen, um sie gerade im Sinne einer ›notwendigen‹ Rückkehr zu konservativen Werten zu nutzen. Die Revolution als transitorische und beschleunigte Übergangsbewegung bot Konservativen gerade die Möglichkeit, regressiv einen Bruch mit der Gegenwart zu vollziehen und den Anbruch eines neuen, liberal oder demokratisch geprägten Zeitalters zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Zwei mögliche Wege seien nach der Niederwerfung der Revolution noch einzuschlagen, führt ein Artikel unter dem Titel »Was soll nun werden« Ende Juli aus.244 Der erste sei die Umkehr zum »vollständigen Absolutismus«, die aber wohl nur Flickwerk bleiben könne. Den zweiten Weg zeige die revolutionäre Bewegung selber an, die eine »Krankheit des gesellschaftlichen Körpers« sei und zwei vollkommen konträre Ergebnisse haben könne: »Sie führt zur Heilung oder zum Tode, je nachdem die heilenden, oder die auflösenden Kräfte die Oberhand behalten.« Die Märzrevolution sei schon lange durch einen »Mangel an staatlicher Lebenskraft im Volke selbst« angelegt gewesen, die der Absolutismus und seine Bürokratie erdrückt hätten. Zwei diametral entgegengesetzte Richtungen hätten sich daher in der revolutionären Entwicklung der letzten 18 Monate gezeigt: »Die Eine erstrebt unmittelbar die Förderung der materiellen Interessen und will diese auf dem Wege der möglichsten Selbstregierung und Selbstverwaltung erreichen. Diese, die ständisch-sociale Richtung (nicht zu verwechseln mit den socialistischen TollhausIdeen der Franzosen), die Gegenrevolution von 1789, vereinigend wie jene auflösend, diese ist die gesunde, glückliche Weise, die stärkere, selbst in ihren Irrthümern verständig und ehrenwerth. Die krankhafte Richtung dagegen ist die sogenannte constitutionelle oder democratische, was im Princip auf Eins hinausläuft, wie Ursache und Folge, die Fortsetzung der Bewegung von 1789.« Ausgehend von der Französischen Revolution zeigen sich also zwei Tendenzen, von denen die gegenrevolutionäre die Rückkehr zu einem sozial ausgewogenen und lokal verankerten Ständestaat propagiert, um die Folgen der absolutistischzentralistischen Zwangsherrschaft zu beseitigen. Gerade revolutionäre Umbruchzeiten arbeiteten dieser Richtung zu, da sie selbst Ausdruck einer Revolution sei: »Diese Erörterung würde eine ganz müßige, die Herstellung einer ständischen Organisation etwas ganz Unmögliches sein,... wenn nicht die gegen243 Ebd.,Nr.279vom30.11.1849. 244 Auch im folgenden ebd., Beilage zu Nr. 170 vom 26.7.1849. 350 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

wärtige Revolution selbst das ständische Element in dem stärksten Maaße enthielte .« K o n -

servative vermochten es, den dynamischen Aspekt einer Revolution in ihrem Sinne regressiv zu verkehren und sich damit der Ursprungsbedeutung einer Rückwälzung wieder anzunähern. Eine Revolution, in der ›Zeit‹ in eine unbekannte Zukunft zu enteilen und aus dem menschlichen Verfügungsraum zu entgleiten schien, wurde an konservative Werte und Ordnungsvorstellungen rückgebunden und bot hiermit auch Gelegenheit, der Entwicklung Einhalt zu gebieten.

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SCHLUSSBETRACHTUNG

Zeit der Revolution! - Revolution der Zeit? »The time is out ofjoint, O cursed spite, That ever I was born to set it right!«1

»Zeit der Revolution - Revolution der Zeit« - unter diesem Titel arbeitet Karl Heinz Bohrer in einem Aufsatz die Hermeneutik revolutionärer Gegenwart bei Friedrich Schlegel und Heinrich Heine heraus. 2 Die Französische Revolution wird hier zum Kristallisationspunkt eines epochal neuartigen Zeitbewußtseins stilisiert, das sich nicht mehr in eine universalgeschichtlich-teleologische Kontinuität eingebunden sieht, sondern statt dessen mit den punktuellen revolutionären Brüchen seit 1789 konfrontiert wird. Reinhart Koselleck habe, so Bohrer, durch die Bestimmung dieses Umbruchs als »Verzeitlichung« dem »phänomenologisch-ästhetischen Terminus ›Plötzlichkeit‹ eine weiter tragende historische Begründung« verschafft, welche die jüngere deutsche und französische Revolutionsforschung bestätigt habe: »die Kategorie des ›Ereignisses‹ ... wurde zum Verständnis der politischen, ideologischen und kulturellen Dynamik zwischen 1789 und 1794 entdeckt.«3 Damit habe man nicht allein kollektive historische Mentalitäten ausgemacht, sondern auch literarisch-ästhetische Phantasmen innerhalb der modernen Literatur beschrieben, deren Entstehung, Entwicklung und letzter Fluchtpunkt über das zeitliche Beziehungsgeflecht zur Revolution zu bestimmen seien. Im Gegensatz zur Teleologie Condorcets habe Schlegel in seiner Auseinandersetzung mit der Revolution das Unvorhersehbare, Veränderliche und die U n gleichheit des Zeitmoments betont, indem er dem isolierten revolutionären Augenblick ein Zukunftspotential zuschreibe, aus dem sich seine ästhetische Utopie einer »Neuen Mythologie« gespeist habe. Stehe Schlegels Identifizierung von Mythisierung und Aktualisierung noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum »Ur-Ereignis« der Revolution, so sehe sich Heine aufgrund der Gleichzeitigkeit einer Naheinstellung (1830 und 1848) und Ferneinstellung 1 Hamlet I,5. 2 Vgl. auch im folgenden Bohrer, Zeit der Revolution, S. 128 ff. Zur Semantik ästhetischer Zeit vgl. ergänzend ders.. Das absolute Präsens, insbesondere den Aufsatz, der sich mit dem Verhältnis von Deutscher Romantik und Französischer Revolution auseinandersetzt (S. 8-31). 3 Ebd., S. 129 f.

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(1789) mit der Erfahrung einer permanenten Revolution konfrontiert. Einerseits ziehe er die revolutionäre Gegenwart hermeneutisch zur Erklärung der revolutionären Vergangenheit heran, andererseits finde er mit zunehmendem Revolutionspessimismus in jedem Ereignis das Potential für eine Revolution als Katastrophe, gerade weil die Zukunft nicht mehr inhaltlich-teleologisch antizipiert werden könne. Heines Revolutionserfahrung radikalisiere sich letztlich zu einem eschatologischen Erwartungshorizont. Hinter diesem »momentanistischen« Ansatz Bohrers steht die Annahme, daß mit dem zäsurhaften Ereignis der Französischen Revolution das geschichtsphilosophische Kontinuum im Bewußtsein der Zeitgenossen aufgesprengt worden sei. Für Bohrer hat die Moderne mit solchen Zeiterfahrungen begonnen, die sich aus dem Zukunftspotential revolutionärer Momente heraus speisen. Ihr Ende sieht er mit Benjamins »Geschichtsphilosophischen Thesen« gekommen. Nun sollte in vorliegender Arbeit nicht die ästhetischliterarische Rezeption der Revolution für das Zeitbewußtsein herausgearbeitet werden, das Bohrer anhand einiger herausragender Repräsentanten belegt, sondern die unterstellte Epochenbrucherfahrung mit all ihren Folgen für die Zeitwahrnehmung galt es bei den einzelnen politischen Strömungen auf breiter publizistischer Quellengrundlage zu verfolgen. In den jeweiligen Zeiterfahrungen über einen längeren krisenreichen Zeitraum hinweg offenbarte sich ein vielschichtiges Bild von einer Revolution, das nicht im »Momentanismus« eines revolutionären Augenblicks aufging, sondern diesen vielfach transzendierte. Der erfahrungsgeschichtliche Ansatz dieser Untersuchung ermöglichte das Aufzeigen konkurrierender Zeiterfahrungen als Ausdruck einer Vielfalt perspektivgebundener Wirklichkeiten und eines politischen Deutungskampfes hinsichtlich Revolutionen. Eine alltagsgeschichtliche Studie über Zeiterfahrungen unterbürgerlicher Schichten bleibt zwar weiterhin Desiderat; doch die öffentlichen Diskurse der Gebildeten wurden breit erfaßt und decken das politische Deutungsspektrum weitgehend ab. Schon die räumlich unmittelbare Auseinandersetzung der ›Revolutionstouristen‹ mit den Ereignissen um 1789 ließ nicht den Eindruck eines epochalen Bruchs entstehen, denn die Flut an Wahrnehmungen wurde mangels ordnender Reflexivität um bestimmte Tableaus von Paris herumgruppiert und verhinderte es gerade, daß über diese Wahrnehmungsebene hinaus der grundsätzlich neue Charakter der Revolution für das Zeitbewußtsein erfahren und verarbeitet wurde. Ebenso die zeitlich unmittelbaren Zeugnisse in Deutschland: Die Punktualität des Revolutionsgeschehens, die allgemein affirmative Haltung gegenüber den Pariser Ereignissen und das geringere Konfliktpotential des deutschen Reformabsolutismus ließen einen revolutionären Bruch in der Zeit oder eine Revolution in Permanenz nicht in den Erfahrungsraum der Zeitgenossen rücken. Erst die Radikalisierung des weiteren Revolutionsverlaufs und die fortgesetzte Konfrontation mit Krieg und Revolutionsarmeen schufen in Deutsch354 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

land die Voraussetzungen für das Erfassen einer sich unabhängig vom Menschen beschleunigenden Zeit und einer unablässigen Revolution. Diese Ohnmachtserfahrungen angesichts einer als übermächtig empfundenen Zeit schienen aber gerade nicht den plötzlichen Anbruch einer neuen Epoche gewährleisten zu können, vielmehr wurden sie von Konservativen durch regressive und von Liberalen durch zirkelhafte Verlaufsmodelle kompensiert. Einzig Demokraten sahen in der Revolution einen möglichen Bruch mit der Vergangenheit, der sich aber als fatalistischer Naturprozeß gänzlich menschlichen Zugriffen entzog. Auch der Revolutionsexport durch Napoleon verhieß letztlich keinen revolutionären Augenblick für eine neue Zeit, denn die Beschleunigungs- und Krisenerfahrung hielt im Gefolge von Krieg und Fremdherrschaft an und verdunkelte eine Zukunft, die selbst Napoleon als personifiziertes Schicksal nicht mehr zu erhellen vermochte. Für Demokraten blieb der erhoffte Sprung in der politischen Entwicklung auch nach den revolutionären Ereignissen um den Juli 1830 aus, zeigte sich doch die Gegenwart widerständig gegenüber den konstitutionellen und nationalen Hoffnungen auf einen Bruch mit der Vergangenheit. Die vierziger Jahre erwiesen sich für Demokraten und ebenso Liberale als eine krisenreiche und polarisierte Zeit des Übergangs, in der die soziale und wirtschaftliche Dynamik einem politischen Reformstau gegenüberstand. Die sich vertiefenden horizontalen Brüche in der Gesellschaft machten den vertikalen Bruch mit dem überlebten politischen System nur um so dringlicher, doch die gärende Gegenwart blieb ein Ort von präsenten Gegensätzen aus Vergangenheit und Zukunft und schien in sich zu stagnieren. Die dynamische Zeiterfahrung aufgrund einer großen Erwartungshaltung wurde permanent enttäuscht und drohte sich ohne Revolutionen oder Reformen, die auf die allgemeinpolitische Legitimationskrise und die relativen Deprivationserfahrungen reagiert hätten, zu verlaufen. Statt eines revolutionären Momentanismus herrschte eine langfristige Allmählichkeit, die immer nur auf dem Sprung in ein neues Zeitalter war. Der Revolutionsausbruch von 1848 schließlich bot die Gelegenheit par excellence, nach einem Jahrzehnte währenden Entwicklungsstau die präsenten Erfahrungen der Vergangenheit hinter sich zu lassen und in eine neue Zeit aufzubrechen. Aber für Liberale schien die sich beschleunigt radikalisierende Entwicklung auf eine perhorreszierte weitere, nämlich soziale Revolution zuzudriften. ›Zeit‹ drohte zu entgleiten und führte zu Desorientierung, wenn sich ihre kontinuierlichen Strukturen auflösten und sich die Gegensätze aus der Vormärzzeit weiterhin überlagerten. Die Erfahrung einer Zäsur relativierte sich angesichts der unabsehbaren Zeitbeschleunigung und der Permanenz des Umbruchs. Auch Demokraten sahen in der politischen Revolution erst eine Übergangserscheinung, weil die sozialen Brüche innerhalb der Gesellschaft noch nicht geschlossen waren und die erstarkende Reaktion als Hort einer anachronistischen Vergangenheit präsent blieb. Erst eine weitere, soziale Revoluti355 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

on oder der Beginn einer sozialen Evolution sollten einen Neubeginn garantieren. Konservative betonten allemal das organische Altern der verhaßten Revolution, die keinen gewachsenen Fortschritt verheißen konnte, sondern ihr seit der Französischen Revolution bekanntes Destruktionspotential entfaltete. Zeiterfahrungen wie die der Beschleunigung oder einer permanenten Zäsur verhinderten letztlich also, daß sich das Bewußtsein eines einmaligen Epochenaufbruchs in eine neue Zukunft oder einer machbaren Geschichte durchzusetzen vermochte. Besonders gilt es, gegenüber der Überhöhung des revolutionären Augenblicks, in dem blitzartig ein Zukunftspotential ausgemacht wird, Skepsis zu bewahren. Diese These setzt eine Zäsurerfahrung voraus, die bei den politischen Zeitgenossen nicht nachzuweisen ist - auch nicht in der direkten Konfrontation mit einer Revolution. Der revolutionäre Moment drohte sich vielmehr in einer unüberschaubaren Gegenwart zu verlieren, der Epochenbruch blieb allenfalls im Erwartungshorizont der Zeitgenossen latent, ohne sich einlösen zu lassen. Vor allem aber: Seit 1789 ging die Einschätzung einer Revolution nicht im Augenblickspathos auf, sondern die Erwartungen an einen revolutionären Umbruch waren immer auch gekoppelt mit Hoffnungen auf einen Wiedereinstieg in das Kontinuum eines breit angelegten und perspektivisch gebrochenen Fortschrittsprozesses. Gerade in einer Revolution sollten Bruch und Kontinuität zusammenwirken, um der entgleitenden Zeitstrukturen Herr zu werden und einen sicheren Fortschritt zu gewährleisten. Schon die zeitlichen Verlaufsmodelle im Anschluß an die Französische Revolution gaben Kontinuität, für Konservative in regressiver, für Liberale in kreisförmiger Manier. Auf diese Weise ließ sich freilich nur eine repetierende Kontinuität ohne Fortschritt begründen. Fortschritt zu verbürgen schienen nach den Ereignissen von 1789 vielmehr Reformen, die nicht auf eine offene Zukunft zielten, sondern der Gegenwart einen Relevanzgewinn verschafften, indem dort Vergangenheit und Zukunft verknüpft wurden. Auf diese Weise sollte dem regressiven Zeitverlauf einer Revolution eine evolutionär progressive Richtung gegeben werden. Aber nicht als Gegensatz, sondern als Zuordnung gestaltete sich das Verhältnis zwischen ›Revolution‹ und ›Reform‹, das in der liberalen Spiral-Metapher ihren Ausdruck fand; diese vereinte Zyklik und Linearität. Auch die gewaltsame Revolution wurde in den Dienst einer stetigen Aufwärtsentwicklung gestellt, selbst wenn sie den Eindruck eines ungestaltbaren In-sich-selber-Kreisens erweckte. Sie war aufgrund ausbleibender Reformen der immer wieder neue Versuch, der fortschreitenden Zeit nachzukommen, auch wenn letztlich nur Reformen einen kontinuierlichen und beherrschbaren Fortschritt sichern konnten. Grundsätzlich teilten Demokraten ebenso diese Ansicht, doch brachten sie dem Reformprozeß in den neunziger Jahren weitaus weniger Vertrauen als Liberale entgegen und hielten deshalb an einer Revolution als autogenem Naturprozeß notgedrungen fest, da nur so ein Epochenbruch möglich erschien. Deutlicher 356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

entwickelte sich die Zuordnung von ›Revolution‹ und ›Reform‹ in den Jahren, als der napoleonische Revolutionsexport das Jahr 1789 als Bezugspunkt für Zeiterfahrungen ablöste. Der zerstörerische Verlauf der Revolution hatte nach Ansicht von Liberalen insbesondere durch die preußische Niederlage den Zirkel durchbrochen und eine Tabula rasa geschaffen, um auf diesem Nullpunkt der Entwicklung einen Fortschritt mittels Reformen zu begründen. Die demokratisch orientierte Rheinbundpublizistik sah in dem neu geschaffenen Reformwerk eine Vollendung der Französischen Revolution. Die fortwährenden Brüche seit 1789 schienen durch die Auflösung des Alten Reiches in eine evolutionäre Kontinuität überführt werden zu können. Vor allem die Revolutionen und Unruhen nach 1830 waren es, welche die Zeiterfahrungen aller politischen Strömungen auf einen unabweisbaren Fortschrittsprozeß auszurichten begannen. Konservative setzten die Juliereignisse in bezug zu dem seit 1789, zuweilen seit der Reformation bestehenden Revolutionskontinuum fortwährender Traditionsbrüche, die sich durch die wechselseitige Reproduktion von Revolution und Absolutismus unablässig fortpflanzten - subversiv selbst in Zeiten scheinbar restaurativer Harmonie wie nach 1815. Auch das Neuartige dieser Revolution, das Radowitz in dem permanent drohenden Umschlag in einen sozialen Umsturz vermutete, schien die revolutionäre Traditionslinie in die Zukunft hinein fortzusetzen. Liberale lehnten eine Revolution als Mittel praktischer Politik ab, doch ähnlich wie Demokraten erkannten sie in ihr einen notwendigen sprunghaften Einstieg in einen Fortschrittsprozeß, der wieder an die unerfüllten konstitutionellen und auch nationalen Hoffnungen aus der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen anzuknüpfen vermochte. Gleichzeitig stellten die Ereignisse nach 1830 auch eine neue Stufe im Zeitkontinuum dar und richteten die Erwartungen in eine offene Zukunft aus, die Revolutionen von ihrer regressiven Verlaufsrichtung und die Vergangenheit von Sinnstiftungsfunktionen befreite. Kontinuität und Diskontinuität gruppierten sich um eine Revolution, denn erst diese vermochte es, eine Reformkontinuität zu begründen, wie sie in einigen mittelund norddeutschen Staaten geschaffen wurde. Eine revolutionäre Zäsur wurde hier unabdingbar für einen Fortschrittsprozeß, dessen offenes Möglichkeitspotential dann mittels konstitutioneller und nationalpolitischer Reformen reduziert werden konnte. Reformpolitik im Sinne eines kontinuierlichen Fortschritts zwischen Revolution und Gegenrevolution basierte nach Ansicht Michael Neumüllers auf dem liberalen Glauben an die Reformfähigkeit des monarchischen Staates, hatte aber schon immer einen revolutionären Einschlag.4 Die Revolution von 1830 zeigte deutlich, daß sie erst die Möglichkeit einer Reformkontinuität schuf und die Ziele einer liberalen Reform zu verwirklichen vorgab, sei es pri4 V g l Neumüller, insbesondere S. 202 ff

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mär über Verfassungen oder über Nationalstaatsmodelle. Seine Chance wahrnehmend, nutzte der Liberalismus die revolutionäre Bewegung für seine Ziele und wollte sie evolutionär in der politischen Praxis verändern. Neumüllers These über die Mittelstellung des Liberalismus zwischen Revolution und Evolution ist also gleichfalls über seine historiographische Quellengrundlage hinaus durchaus zuzustimmen. Eine Alternative zwischen Revolution und Reform lag noch nicht vor, sondern beide hatten ihren ungleichgewichtigen Platz in einer linear fortschreitenden Zeit: Revolutionen arbeiteten Reformen insbesondere in Zeiten des äußeren Stillstandes zu, erfolgreiche Reformen hingegen sollten Revolutionen gerade verhindern oder aber schließen, wenn sie bereits ausgebrochen waren.5 In dieser Arbeitsteilung konnten selbst Revolutionen historische Kontinuität verbürgen, die den monarchischen Reformstaat miteinschloß, der ja auch weiterhin staatlicher Träger liberaler Vorstellungen bleiben sollte.6 Grundsätzlich galt diese Arbeitsteilung genauso für Demokraten, doch sahen sie die demokratischen und nationalen Aufgaben der Revolutionen von 1830 als noch unerfüllt an. Reformen schienen keinen evolutionären Entwicklungsgang garantieren zu können, vielmehr behielt die Revolution aufgrund einer defizitären Gegenwart ihre Aktualität gegenüber den Einzelstaaten und dem Bundestag. Der Reformstau bedurfte weiterhin einer revolutionären Entlastung. Die liberale Sukzession von ›Revolution‹ und ›Reform‹ wurde in den Revolutionsbegriff hineingenommen, wenn Demokraten eine Revolution nicht nur als Grenzschwelle, sondern auch als eine Epoche des permanenten Übergangs selber verstanden, um einen fundamentalen Wandel langfristig zu sichern. Eine Revolution hatte also ebenso die Aufgaben einer evolutionären Reform zu übernehmen und wurde zur Metapher für einen demokratischen Fortschritt, der gestaltbar blieb und sein zerstörerisches Potential ausscheiden konnte. Zu früh angesetzte Reformen schienen diesen Fortschritt hingegen zu verspielen. In den vierziger Jahren sollte sich wiederum zeigen, wie eng Kontinuitätserwartungen mit dem Gedanken an eine Revolution verknüpft waren. Die stagnierende politische Reformentwicklung machte eine Revolution, deren gewaltsames Moment von Liberalen und zumeist auch Demokraten weiterhin abgelehnt wurde, nur umso dringlicher, zumal die zahlreichen Krisensymptome auf einen unumkehrbaren Zeitenwechsel zu weisen schienen. Gerade der Mangel an Reformen ließ eine Revolution wieder in den liberalen Erwartungshorizont rücken, da diese immer noch Garantin für einen sprunghaften Wiedereinstieg in ein Fortschrittskontinuum war und Anschluß an eine schon in 5 Neumüller umschreibt das Verhältnis von Revolution und Reform mit dem paradox anmutenden Begriff der »Reform-Revolution«, deren Widersprüche dann letztlich in der »Revolution von oben« aufgelöst werden. 6 Vgl z. B. Langewksche, Liberalismus in Deutschland, S. 20 ff.

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der Vergangenheit zu verortenden Dynamik bot. Doch ohne den Ausbruch einer solchen Revolution kreiste ›Zeit‹ in den gegenwärtigen Widersprüchen aus Vergangenheitsrelikten und Zukunftserwartungen. Diese Art von »Momentanismus« war nicht revolutionär, sondern trug den gegenwärtigen Augenblick immer weiter, ohne ihn im Sinne einer neuen Zeit zu überbieten. Der in sich gärende, jedoch stagnierende Moment ließ keinen Eintritt in eine neue Zeit zu, wenn eine Revolution als zäsurhafte Stifterin einer evolutiven Entwicklung ausfiel. Stärker noch als Liberale, welche die zerrissene Gegenwart in einer künftigen Einheit mittels eines pragmatisch-ökonomisch orientierten Nationalismus unter einem konstitutionalisierten Preußen aufheben wollten, pochten Demokraten zunehmend auf eine Revolution als einzige Möglichkeit, radikale Reformen in einem notwendigen Fortschrittsprozeß einzulösen. Die Märzereignisse von 1848 schienen diese Erwartungen zu bestätigen, durchschlug doch das revolutionäre Geschehen plötzlich den Reformknoten aus dem Vormärz und leitete einen evolutionären, da institutionalisierten Fortschritt ein. Gemäßigte Demokraten nahmen die politische Zäsur als Auftakt für soziale Reformen; radikale hingegen forderten zunächst einen weiteren, sozialen Bruch, da eine verfrühte reformerische Kanalisierung der politischen Dynamik die anachronistische Vergangenheit nicht hinter sich lassen konnte. Entscheidend ist, daß der revolutionäre Moment weiterhin eine Kontinuität zu begründen hatte, ›Revolution‹ und ›Reform‹ in einer Folgebeziehung standen und nur auf diese Weise eine Entwicklung in ein neues Zeitalter gewährleistet werden konnte. Bei Liberalen dagegen bahnte sich ein entscheidender Kurswechsel an, als die Revolution wegen ihrer fortschreitenden Radikalisierung nicht mittels Reformen geschlossen werden konnte. Statt nun auf der Grundlage eines revolutionären Epochenbruchs evolutionär in eine neue Zeit aufzubrechen und so ein Fortschrittskontinuum einzuleiten, schien die permanent drohende Sozialrevolution diesen Prozeß gerade zu verhindern. Folgerichtig mußte sich die liberale Reformhaltung, die sich als Position der Mitte verstand, zur Antipodin der Revolution entwickeln. Aus der Sukzession wurde eine Opposition. Hier entzogen Liberale einer Revolution also erstmalig das Potential, das sie auch zur Begründerin von Kontinuität machte. In der unmittelbaren Auseinandersetzung mit ihrer Permanenz und beschleunigten Radikalisierung stand sie für eine fortwährende Brucherfahrung, ohne aber diesem revolutionären Momentanismus Keime einer liberalen Zukunft entlocken zu können. Diese war schließlich nur noch über eine konsequente Reformposition einholbar, die im Kampf gegen die Revolution die zu entgleitende Zeit gestalten sollte. Der enge Konnex zwischen ›Revolution‹ und ›Reform‹ wurde seit der Julirevolution 1830 auch von Konservativen genutzt. Statt sich wie der katholische Görreskreis in eine Blase der Zeitlosigkeit zu flüchten und so aus dem Fortschrittsprozeß auszuklinken, sahen Reformkonservative in Revolutionen das Resultat eines gehemmten Bewegungsbedürfnisses. Sie erkannten in der laten359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

ten revolutionären Dynamik ein unabweisbares Fortschrittsmoment, das es im konservativen Rahmen zu gestalten galt, bevor sich das Destruktionspotential durchsetzte und ›Zeit‹ aus dem Verfugungsraum des Menschen rückte. Reformen von oben hatten auf die unübersehbar gewordenen sozialen und politischen Spannungen im Vormärz zu antworten, um eine Revolution zu verhindern, aus deren Latenz Konservative aber gerade die dynamischen Zeiterfahrungen bezogen, die sich auch bei Demokraten und Liberalen beobachten ließen. Das Ausmaß und die Richtung des Fortschrittsprozesses sollten damit aber im genuin konservativen Sinne beeinflußt werden und auf ein zeitgemäßes Bewahren hinauslaufen, das die überzeitlichen Prinzipien von Staat und Gesellschaft im Rahmen der jeweiligen Fortschrittsdynamik aktualisierte. Die Reichweite des Fortschritts verengte sich perspektivisch, um durch die Dominanz des›monarchischenPrinzips‹ und die Zusammenführung ständischer und nationalrepräsentativer Elemente letztlich einen einschneidenden Wandel zu verhindern. Der Gegensatz von Fortschritt und Beharrung bzw. Rückschritt begann aufzuweichen, indem er in die konservative Position eingearbeitet wurde. Das eigene Projekt der Erhaltung konnte sich so der Notwendigkeit der zeitlichen Bewegung bedienen. Indem sich der Konservativismus dem Erfahrungsraum der bewegten vierziger Jahre annäherte, vermochte er sich zeitgemäß zu definieren und zu rechtfertigen, ohne seinen Erwartungshorizont grundlegend zu erweitern, und sicherte so sein Überleben. Sich auf diese Weise auch in einer als übermächtig empfundenen Zeit Handlungsoptionen offenzuhalten, die im Fortschritt die dynamische Möglichkeit einer Beibehaltung oder Rückgewinnung überzeitlicher oder ›natürlich gewachsenen Inhalte sahen, dies war die Antwort der Reformkonservativen auf den unübersehbaren Beschleunigungsdruck eines sozialen, wirtschaftlichen und politischen Transformationsprozesses. Nachdem das Anpassen an die Zeitdynamik des Vormärz den revolutionären Umschlag nicht verhindern konnte, gaben die Ereignisse von 1848/49 die Gelegenheit, in einer jetzt manifesten Revolution selber das Potential für einen ›konservativen Fortschritt‹ auszumachen. Einerseits denunzierte der preußische Konservativismus zwar immer noch den destruktiven Charakter einer akuten Revolution, die keinen Fortschritt gewährleisten konnte. Auf der anderen Seite hatte er Gelegenheit, in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit einer fortgesetzten Umbrucherfahrung seine dynamische Anpassungsbereitschaft aggressiv zu demonstrieren. Offen verstand sich der Konservativismus als Reaktion auf eine aus dem Ruder gelaufene revolutionäre Bewegung, um auf der Grundlage eines solchen Rückschritts einen gestaltbaren ›konservativen Fortschritt‹ zu begründen, der aber in monarchischen Legitimitätsvorstellungen der Vergangenheit verankert war. Indem Konservative die Selbstzerfleischung der sich radikalisierenden Revolution permanent in der Öffentlichkeit brandmarkten, blieben sie doch gerade auf sie angewiesen, um daraus eine Art 360 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

›revolutionäres Recht‹ für die Verwirklichung ihrer Ziele zu beziehen. Selbst die Legalisierung der Revolution in den Nationalversammlungen und in der oktroyierten preußischen Verfassung blieb als legale Revolution von oben verhaßter Widerpart für die reaktionäre Selbstbestimmung. Doch insbesondere die revolutionäre Verschärfung der Gegensätze in der Reichsverfassungskampagne konnte als Angelpunkt und Rechtfertigung für eine gewaltsame Regression dienen. Auch nachdem die revolutionäre Bewegung im Sommer 1849 schließlich erfolgreich niedergeschlagen war, wurde permanent das Schreckgespenst einer subversiv wirkenden ›roten Anarchie‹ beschworen, um daraus eine rückläufige Entwicklungsdynamik abzuleiten. Für den verabscheuten Bruch mit der Vergangenheit stand eine Revolution nicht mehr, aber auch nicht allein für ein zerstörerisches und in sich kreisendes Prinzip bar jeder Ordnung, sondern ex negativa bezog die konservative Position ihre Schlagkraft aus der revolutionär beschleunigten Zeit, in der sie die Möglichkeit sah, die zu entgleitende Entwicklung für einen Rückschritt zu nutzen. Dahinter stand letztlich das Ziel einer reaktionären Kontinuität, die es mittels konstitutioneller Reformen in den Grenzen des›monarchischenPrinzips‹ zu realisieren galt - die Revolution von 1848/49 eben als erfolgreiche ›Notbremsung‹ einer übereilt und unkontrollierbar erscheinenden Zeit. Gab die Märzrevolution Konservativen Gelegenheit, der zu entgleitenden Entwicklung als Reaktion wieder Herr zu werden, so war es genau diese Reaktion, auf die Liberale im weiteren Verlauf der Revolution angewiesen waren, um die revolutionäre Dynamik zu mäßigen und damit in ein evolutionäres Fortschrittskontinuum einzutreten. Allein eine gegenrevolutionäre Reformhaltung schien nicht in der Lage zu sein, der Radikalisierung Einhalt zu gebieten und die aus den Fugen geratenen Zeitstrukturen wieder in ein beherrschbares und lineares Korsett zu zwingen. Die gewaltsame Reaktion hatte selber revolutionäre Züge angenommen, da sie sich einmal gesetzloser Mittel bediente, andererseits auch Auslöserin für permanente Sozialrevolutionen war, gegen die sich primär die liberale Kritik richtete. Trotz ihres Widerwillens gegenüber der offenen Reaktion, die alle revolutionären›Errungenschaftenin den Orkus zu werfen schien, bediente sich die liberale Öffentlichkeit dieses reaktionären Gegengewichts gegen das zu weit ausschlagende Revolutionspendel, um so erst die Voraussetzungen für Kontinuität zu schaffen. Die oktroyierte preußische Verfassung als Verständigungsangebot an Liberale und die Niederschlagung der Aufstände für die Reichsverfassung boten ausreichend Gelegenheit, die Reaktion gegen verhaßte republikanische Bestrebungen zu nutzen. Der einmalige reaktionäre Bruch mit einer als permanent und ungestaltbar angesehenen Revolutionsbewegung galt als unabdingbares Instrument, um eine Mittelposition in bewegter Zeit zu halten und liberale Reformen zu ermöglichen, die in einer konstitutionellen Monarchie Vergangenheit und Zukunft verknüpfen sollten. In der nachrevolutionären Entwicklung seit dem Sommer 1849 sahen aber Li361 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

berale, daß sich die Reaktion weiterhin der revolutionären Methode bediente und sich ›Zeit‹ deshalb zwischen ihr und dem ›roten Radikalismus‹ nur noch im Kreise zu drehen schien, beide also nicht mehr Auftakt für konstitutionelle und nationale Reformen sein konnten. Eine eigene liberale Mittelposition für sich beanspruchend, sollte jenseits von Revolution und Reaktion eine neue Zeit evolutionär herbeigeführt werden, wofür die preußischen Unionspläne den Rahmen zu geben hatte - auch auf die Gefahr hin, damit einem konservativen Fortschritte zu erliegen. Wollten Liberale die Reaktion als regressiv-revolutionären und einmaligen ›Gegenbruch‹ gegen die permanenten Republikanisierungstendenzen der Revolution nutzen, um liberale Kontinuität zu ermöglichen, so zeigten sich auch Demokraten zunehmend auf ihren reaktionären Widerpart angewiesen. Dieser wurde in einen fatalistischen Fortschrittsprozeß eingespannt, innerhalb dessen er der erlahmenden Zeit immer wieder neue Bewegungsimpulse gab. Je offener sich die Reaktion gerierte und ihre revolutionären Züge demonstrierte, um so unausweichlicher mußte eine weitere, soziale Revolution zunächst die Voraussetzungen schaffen, demokratische Ideen evolutionär in die Zukunft zu überfuhren. Zwischen den beiden Extremen ›Revolution‹ und ›Reaktion‹ jenseits liberaler Vermittlungsinstanzen hatte sich also der Fortschrittsprozeß abzuspielen. Auch über die Niederschlagung der Reichsverfassungskampagne hinaus gab die siegreiche Reaktion Demokraten die Gewähr für weitere Revolutionen, und auf diesem Umweg sollte in ein demokratisches Reformkontinuum und in eine neue Zeit eingetreten werden. Der revolutionäre Momentanismus blieb also bei allen politischen Strömungen in die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschrittsprozesses eingebunden und wurde so auch perspektivisch genutzt. Im Zusammenspiel mit Reformen oder einer Reaktion sollte die Revolution einer permanenten Hiatuserfahrung sowie einer beschleunigten Zeit begegnen und einen gesicherten Wandel in eine neue Zukunft oder - bei Konservativen - in eine bekannte Vergangenheit verbürgen. Hierbei spielte auch der frühe Nationalismus eine zentrale Rolle, gerade als die preußischen und rheinbündischen Reformwerke zu Beginn des Jahrhunderts die von Napoleon verursachten Krisenbewegungen nicht zu bändigen vermochten, Zeit menschlicher Verfügbarkeit entglitt und der Bruch mit einer überlebten Vergangenheit immer wieder verschoben werden mußte. Der RückgrifFauf eine konstruierte Nationalgeschichte sollte die ›fehlgelaufene‹ Geschichte des ohnmächtigen, zersplitterten Alten Reiches hinter sich lassen, Orientierung geben und gleichzeitig in eine neue Zukunft weisen. Eine zeitlose Nationalsubstanz, die auch in der idealisierten Idee vom Reich verortet wurde, galt es permanent einzulösen; auf sie konnte man sich in einer beschleunigten und revolutionären Gegenwart beziehen und gleichzeitig ihr Zukunftspotential nutzen, woraus sich rückwirkend wieder ein nationaler Selbstbeweis anstellen ließ. Damit wurde der drohende Verlust von

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Geschichte und Zukunft aufgefangen. Die Ideen von 1789, die sowohl im preußischen als auch rheinbündischen Reformwerk weiterwirkten und in den frühen Nationalismus eingingen, konnten so kontrollierbar in eine neue Zeit überführt werden. Der Gedanke einer staatenbündischen oder bundesstaatlichen Nation wirkte im Wechselspiel von lebendiger Vergangenheit, krisenreicher Gegenwart und ersehnter neuer Zukunft revolutionär und stiftete gleichzeitig Kontinuität. Erst die Verankerung im Nationalismus gab einer Revolution und der ihr zugehörigen Reform Möglichkeiten, evolutionär in die Zukunft aufzubrechen und ›Zeit‹ zu gestalten. An den Kontinuitätsträger ›Nation‹ wurde auch im Vormärz angeknüpft; in ihn drängten sich die unverwirklichten konstitutionellen und nationalpolitischen Erwartungen aus der Französischen Revolution, den Befreiungskriegen und einer ›deutschen Vergangenheit‹, die es noch einzulösen galt. Liberale verknüpften ihre Verfassungsforderungen mit verschiedenen nationalstaatlichen Zielen. Diese standen unter dem Primat des konstitutionalisierten Einzelstaates, zunehmend aber auch unter dem eines nationalen Einheitsstaates. Als dieses Unterfangen in den vierziger Jahren aufgrund enttäuschter Reformhoffnungen immer geringere Realisierungschancen besaß, orientierten sich Liberale verstärkt an den machtpolitischen und ökonomischen Gegebenheiten, die einen pragmatischen Nationalismus unter preußischer Führung als gegenwärtigen nationalen Neuanfang nahelegten. Wurde hier der Nationalismus als vergangenheitsorientierter Kontinuitätsstifter allmählich schwächer, spielte er bei Demokraten weiterhin eine zentrale Rolle, denn sie sahen in den Befreiungskriegen, aber auch in den vermeintlichen demokratischen Traditionen der Reichsgeschichte und Reformation einen zentralen Anknüpfungspunkt für ihre nach 1830 gleichfalls noch unerfüllten nationaldemokratischen Erwartungen. Interessant ist, daß gerade die politische Strömung, die mit ihren Zukunftserwartungen vorgab, am einschneidendsten mit der Vergangenheit zu brechen und mit radikalen Reformen am schnellsten in eine neue Zeit aufzubrechen, sich aus dem Rekurs auf eine deutsche Vergangenheit heraus legitimierte. Als in den vierziger Jahren eine Revolution gegen den Reformstau immer unumgänglicher erschien, wurde sie als Notwehrakt gegen die reaktionäre Entwicklungsblockade angesehen, um damit wieder in einen evolutionären Prozeß einzutreten. Die Stauerfahrung sollte damit überwunden, die Beschleunigungserfahrung hingegen für die Wiederherstellung einer Kontinuität genutzt werden. Indem Demokraten einen Fortschrittsprozeß in die Nationalgeschichte hineinlegten, rechtfertigten sie seine weitere Entwicklung auch auf eine Zukunft hin. Das Bedrohungspotential, das von einem zu radikalen demokratischen Epochenbruch hätte ausgehen können, sollte so abgeschwächt werden. Eine Revolution konnte damit als Restauration einer zukunftsweisenden Kontinuität gelten, die schon in den nationalen und freiheitlichen Traditionen einer dementsprechend konstruierten Reichsgeschichte angesiedelt wurde.

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Die Reaktion verhielt sich demnach auf doppelte Weise revolutionär, da sie den evolutionären Fortschrittsgang hemmte und mit dem intendierten regressiven Bruch weitere gewaltsame Revolutionen provozierte. Das Einordnen in eine vermeintlich demokratische Tradition mit ihren unverwirklichten Erwartungen zielte hingegen weniger auf deren inhaltliche Renaissance ab, sondern bezog daraus eine evolutionär-dynamische Zeiterfahrung auf die Zukunft hin. Das Wechselspiel der einzelnen Zeitebenen, das sich schon im revolutionären Nationalismus der Befreiungskriege abspielte, verlagerte sich im Vormärz auf eine Revolution. Diese wurde einerseits als Wiederherstellerin einer evolutionären und nationalgeschichtlichen Fortschrittsentwicklung verstanden, von der man andererseits auch einen großen Veränderungsdruck für die Gegenwart und ein utopisches Zukunftspotential erwartete. Diese Erwartungen trugen Demokraten auch in das Jahr 1848 hinein. Dabei erhielt der in der nationalen Vergangenheit verortete Fortschrittsprozeß eine fatalistische Note, wie sie schon nach der Französischen Revolution zu verzeichnen war. Somit gewann die Erfüllung der demokratischen Ziele eine Unwiderstehlichkeit, besaß doch die schicksalhafte Fortschrittsbewegung eine nationale Tradition, die es in einer Revolution restaurativ und gegenwartsüberbietend einzulösen galt. Daß der revolutionäre Moment einen Epochenbruch begründen soll, dieses zentrale Charakteristikum für eine neuartige Zeiterfahrung erweist sich also als Illusion. Entweder blieb die Zäsurerfahrung gänzlich aus, oder eine Vielzahl von unkontrollierbaren Diskontinuitäten in einer krisenreichen Zeit ließ die Gegenwart in sich selber kreisen, oder aber eine Revolution zeigte sich immer nur in ihrer Latenz, ließ den Sprung in die Zukunft vermissen und verlor sich in einer langfristigen Allmählichkeit. Der Epochenbruch relativierte sich, wenn eine Revolution selber in einen parteilich interpretierten und gleichzeitig als objektiv dargestellten evolutionären Fortschrittsprozeß eingebunden blieb. Die Zuordnung zur Reform, Reaktion oder zum Nationalismus schwächte die Gefahr eines Bruchs ohne Zukunftsgewißheit ab, zumal dieser es auch gerade war, der ›Zeit‹ menschlicher Verfügbarkeit entzog. In der historischen Forschung ist es üblich geworden, die Vielschichtigkeit der Jahre 1789 bis 1849 zwischen Restauration, Reform und Revolution zu betonen und Ereignis- und Strukturgeschichte differenziert miteinander zu verzahnen. Dies hat auch für die Untersuchung von Revolutions- und Zeiterfahrungen zu gelten. Zwischen 1789 und 1849 wurde Europa mit zahlreichen Revolutionen und Krisen konfrontiert, mit langfristigen Umbruchprozessen und kurzfristigen Veränderungen, die sich in unterschiedlichem Maße auch auf Deutschland auswirkten. Es soll jetzt abschließend noch einmal auf die Frage eingegangen werden, ob dieses Zeitalter der Revolutionen auch eine Revolution in der Zeiterfahrung nach sich zog. Orientiert man sich an Kosellecks Kriterien für eine neuartige Zeitwahrnehmung, dann sind es die Erfahrungsbereiche der Beschleunigung von ›Zeit‹ und 364 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

der Permanenz von ›Revolution‹, die sich seit der Radikalisierung der Pariser Ereignisse 1792 beobachten lassen. ›Zeit‹ entfernte sich von ihrem gleichförmigen Lauf und erfuhr eine Akzeleration in einer Krisenzeit, die zunehmend als eine Revolution empfunden wurde. Ein Epochenbruch in eine neue Zeit hinein fand hingegen in dieser permanenten und beschleunigten Krisenentwicklung nicht statt. Eingebunden in ein Fortschrittskontinuum, sollte eine Revolution statt dessen mit ihren Komplementen Reform, Reaktion und Nationalismus einen evolutionären Weg in die Zukunft bieten und den Bezug zur Vergangenheit wahren; nur auf diese Weise ließ sich eine allzu offene Zukunft mit ihren unendlichen Möglichkeiten reduzieren und dennoch eine Weiterentwicklung garantieren. Damit zeigt sich, daß eine Revolution gerade keinen Verlust von Geschichte als strukturierendes Moment bedeuten muß, wie Otthein Rammstedt meint.7 Möglichkeitshorizonte werden zwar eingeschränkt, doch diese Beschränkung bezieht sich vielmehr auf eine Zukunftsbewegung, die verstärkt an eine freiheitlich-nationale Vergangenheit rückgebunden wurde. Mit dem Frühnationalismus seit den Befreiungskriegen wurde neben Reformen ein weiterer Kompensationsmechanismus begründet, der in unterschiedlichen Variationen bis 1849 immer wieder bei den politischen Strömungen zu verzeichnen war. Gerade Zeiten, in denen eine Krise die nächste jagte und doch der Aufbruch in eine neue Zeit nicht gelang, griffen auf nationale Traditionen zurück, die Kontinuität, Orientierung und die Möglichkeit der kontrollierbaren Zukunftsgestaltung gewährten. Die Erwartungen an eine Revolution verbanden sich mit der Hoffnung auf den Wiedereintritt in eine Geschichte, deren nationale und konstitutionelle Deutung die stagnierende Gegenwart mit ihren sozialen Brüchen zu überbieten hatte. Insbesondere anhand demokratischer Zeiterfahrungen wurde offensichtlich, daß ein schon in der Nationalgeschichte ausgemachter Fortschrittsprozeß eine radikal andere Zukunft legitimieren konnte. Erst die Aktualisierung einer antiquarischen Vergangenheit in der Revolution ließ ein Zukunftspotential aufscheinen, das über grundlegende (Sozial-)Reformen gesichert eingelöst werden konnte.8 So wurde eine utopische demokratische Zukunft überschau- und beherrschbar. Konservative dagegen nutzten zwar auch die Zeitbeschleunigung, doch bezogen sie diese E›ynamik nicht aus einer noch uneingelösten Vergangenheit, denn das Vergangene galt es ja in seiner entwicklungslosen Immobilität regressiv wiederherzustellen. Vermochte eine Revolution die nationale Tradition als Fortschrittsspenderin nicht zu entwerten, mußte auch der Topos ›historia magistra vitae‹ eine Renaissance erfahren. Der Wiedereinstieg in eine nationale und konstitutionelle Kontinuität gerade mit Hilfe von Revolutionen gab der Geschichte in Krisenzeiten eine Orientierungsfunktion, mit Hilfe derer die Gegenwart auf eine neue Zeit 7 Vgl. Rammstedt, Theorie der Revolution, S. 10. 8 Vgl. zur Verlebendigung und zum Weiterwirken der Vergangenheit innerhalb von Revolutionen Landauer, besonders S. 27 f.

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hin transzendiert werden sollte. Als Lehrmeisterin wirkte die Historie für Demokraten und auch Liberale nicht antiquarisch weiter, sondern ihre Zeitdynamik sowie ihre vage definierten und unverwirklichten Möglichkeiten sollten einen Aufbruch in die Zukunft garantieren, wofür eine Revolution immer unerläßlicher wurde. Deshalb kann man auch mitnichten sagen, daß sich seit der Französischen Revolution die Differenz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont immer weiter vergrößert habe, worin sich ein Fortschritt dokumentieren würde, der die Vergangenheit hinter sich ließe. Allenfalls in stagnierenden Zeiten des polarisierten Übergangs (Vormärz), in denen eine Revolution nur latent zu verzeichnen war, traten diese beiden Bereiche ohne vermittelnde Kontinuitäten immer weiter auseinander. Eine Revolution hingegen schien zumindest in ihrer Anfangsphase die beiden Bewegungskategorien wieder anzunähern. Gerade die Ereignisse von 1830 und 1848 machten deutlich, daß nach einem Entwicklungsstau die revolutionären Erfahrungen mit den schon lange gehegten Erwartungen in Deckung zu bringen waren. Mit einem Mal konnte in der neu erfahrenen revolutionären Gegenwart der eruptive Anschluß an eine versäumte Modernisierung erreicht werden; historische Zeit wurde beschleunigt. Erst als sich mit der weiteren Radikalisierung einer permanenten Revolution und der erstarkenden Reaktion überschaubare Zeitstrukturen aufzulösen begannen und sich der Einstieg in eine Fortschrittsbewegung als Illusion erwies, weil die Gegensätze aus dem Vormärz weiterlebten, löste sich wieder der Erfahrungsraum vom Erwartungshorizont. Für Demokraten galt dies auch schon nach 1832, als sich ihre Reformhoffnungen an die Revolutionen nicht erfüllten. Doch der Gedanke an eine Revolution als Kontinuitätsstifterin hatte sich durchgesetzt, weil er es war, der die uneingelösten nationalen und konstitutionellen Erwartungen der Vergangenheit wachhielt und gerade deshalb eine neue Zeit zu offerieren versprach. Eine Revolution mußte keinen Verlust von Erfahrungen und einen Gewinn an neuen Erwartungen bedeuten, wenn sie Gelegenheit schuf, die unerfüllt gebliebenen Hoffnungen zu reaktivieren und sie sich evolutionär und zukunftsorientiert in einer bewegten Gegenwart anzueignen. Indem den vergangenen, aber präsenten Erfahrungen auch immer ein Erwartungsfaktor zugemessen wurde, konnten die Zeitgenossen in einer Revolution beide Dimensionen zusammenfuhren und einer utopischen Zukunft das Moment der Beunruhigung nehmen. Fortschritt konstituierte sich auch über diesen Rückgriff und nicht allein in einer Loslösung von Erfahrungen und der voraussetzungslosen Öffnung des Erwartungshorizonts. Gerade diese drohende Entkoppelung der Erfahrungen von den tradierten Erwartungen war es, die einen kompensatorischen Rekurs auf die Vergangenheit notwendig machte. Und gerade eine Revolution schuf hierfür die sprunghafte Voraussetzung, indem sie in ein Fortschrittskontinuum einführte, das sich aus dem Noch-Nicht der vergangenen Hoffnungen speiste. Das Verhältnis zwischen Erwartungsho-

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rizont und Erfahrungsraum, wie es Koselleck beschrieben hat,9 muß also für die Revolutionserfahrungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts umgekehrt werden.10 Machbar blieb ›Zeit‹ im Rahmen von Revolutionen nur noch bedingt. Schon die Französische Revolution konfrontierte die Zeitgenossen mit der Erfahrung, ›Zeit‹ laufe unkontrolliert ab. Eine permanente Hiatuswahrnehmung verhinderte gerade, die beschleunigte Entwicklung an das menschliche Handeln rückzubinden. Erst im Zusammenhang mit Reformen, dem Rückgriff auf eine nationale Vergangenheit und schließlich - so für Liberale 1848/49 - mit der Reaktion wurde ›Zeit‹ in eine evolutionäre und gestaltbare Zukunftsbewegung überführt. In einer Revolution konnte zwar die Entwicklung vom geschichtlich Handelnden beschleunigt werden, letztlich aber mit dem Ziel, ›Zeit‹ in ein langfristiges Fortschrittskontinuum einzuordnen und damit zu strecken, weniger um einen Rückstand aufzuholen und ›Zeit‹ im Hinblick auf die Zukunft zu verkürzen. Eine Revolution blieb immer in einen transpersonalen Fortschrittsprozeß eingespannt, der zwar einerseits in einer Tradition rückgebunden war und dadurch eine offene Zukunft planbar und überschaubar machte, dem man aber andererseits nicht entgehen konnte. Allenfalls die Geschwindigkeit der Veränderung schien noch beeinflußbar. ›Revolution‹ als Ausdruck eines objektiven Geschichtsprozesses rückte zwar ›Zeit‹ in den Verfiigungsraum des Menschen, aber auch nur im Rahmen eines vorgegebenen Fortschritts, der sich in jedem Falle zu verwirklichen hatte. Da die Richtung dieser autogenen Fortschrittsbewegung jeweils parteilich gedeutet wurde, konnte sie als unwiderstehlich für die jeweils eigenen Erwartungen dargestellt und als Selbstbestätigung gedeutet werden. Die Verselbständigung von ›Zeit‹ innerhalb einer Revolution war also nicht nur eine Bedrohung, sondern auch ein Motor für die Verwirklichung der je eigenen Fortschrittserwartungen. Der weitere und oftmals unerwartete revolutionäre Verlauf ließ diese Vereinnahmung einer Schicksalsbewegung aber vielfach fragwürdig und brüchig werden, wie sich insbesondere nach 1848 zeigte. Eine Revolution des Zeitbewußtseins im Sinne Kosellecks fand somit in den sechs Dezennien nach 1789 unter den drei politischen Strömungen nicht statt. Gemeinsame Zeiterfahrungen zogen verschiedene Konsequenzen und Kompensationsmuster nach sich, in denen sich unterschiedliche Dimensionen von Zeitwahrnehmungen und Revolutionserwartungen vermischten, ohne einen kompromißlosen Bruch mit der Vergangenheit heraufzubeschwören. Die von der Begriffsgeschichte unterstellte Sattelzeit als Beginn einer ›neuen Zeit‹ verliert sich in der Komplexität der Zeit- und Revolutionserfahrungen. In erfahrungsgeschichtlicher Perspektive wird angesichts der zahlreichen Kontinuitäts9 Vgl. z. B. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 363 ff 10 Eine Korrektur an Koselleck unter Berücksichtigung Walter Benjamins findet sich bei Habermas, Zeitbewußtsein, S. 21 ff.

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erwartungen an Revolutionen ein allgemeiner Mentalitätsbruch um so fragwürdiger. Eine Zeit des biedermeierlichen Quietismus war es dennoch nicht, denn gerade von diesen vielschichtigen Revolutionserwartungen und Zeiterfahrungen ging ein neuartiger Veränderungsdruck auf die Gegenwart aus. Eine Revolution als sprunghafter Einstieg in ein Fortschrittskontinuum hatte sich ihren festen Platz unter dem liberalen und demokratischen Zeitbewußtsein erobert. Auch wenn man die gewaltsame revolutionäre Praxis zumeist ablehnte, ihrer notwendigen Funktion für die je eigenen Reformhoffnungen war man sich bewußt. Je radikaler eine politische Strömung mit der Gegenwart brechen wollte, um so unverbrüchlicher sicherte sie ihren Zukunftsdrang mit Hilfe einer konstruierten Fortschrittslinie aus der Vergangenheit heraus ab. Eine Revolution als Auftakt für Reformen bot hierfür einen Ansatzpunkt, denn sie vereinte in unterschiedlichen Kombinationsmustern Fortschritt und Rückschritt, Kontinuität und Diskontinuität, Vergangenheit und Zukunft, Fatalismus und menschliche Selbstermächtigung. Gerade aus diesen Wechselverhältnissen ging eine Gespanntheit auf die zu überbietende Gegenwart aus, die sich durch den unaufgelösten Erwartungsdruck der Vergangenheit stärker mobilisieren ließ als durch einen allein zukunftsbezogenen und bindungslosen Messianismus. Eine Revolution fungierte in dieser Hinsicht nicht nur als Motor in einer progressiven Menschheitsgeschichte, wie schon Benjamin gegen einen naiven Fortschrittsglauben Marxscher Provenienz ins Feld fuhrt: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.«11 Der konservative Griff zur Notbremse der Revolution war nun freilich nur ein Mittel, um die Fortschrittsdynamik für traditionelle aristokratische und monarchische Ordnungs- und Herrschaftsvorstellungen restaurativ zu nutzen. Revolutionär dagegen wirkte diese Notbremsung, wenn Demokraten und Liberale eine Revolutionsbewegung durch das Einbinden in eine konstitutionelle und nationale Kontinuität abbremsten, um vor allem damit das Ungenügen der Gegenwart kontrolliert zu überbieten und ihre unterschiedlichen Erwartungen von einer neuen Zeit einlösen zu können. Im Gegensatz zu Demokraten sollte 1848/49 die liberale Affinität zur Revolution als sprunghafte Kontinuitätsstifterin brüchig werden, gerade weil der Liberalismus die unerfüllten Erwartungen aus der Vergangenheit als Legitimation für eine Zukunft zunehmend entwertete und sich der reaktionären Gegenbewegung annäherte. Liberaler Revolutionspessimismus war die Konsequenz dieser Zeiterfahrungen, mit denen das Zeitalter der Revolutionen endete. 11 Benjamin, Bd. I,3, S. 1232.

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Register 1. Personenregister Altenstein, Karl ν. Stein zum 128 Angermeier, Heinz 134 Archenholtz, Johann Wilhelm 95 f. Arndt, Ernst Moritz 108-114, 118 f., 124, 126-128 Auerswald, Hans v. 296 Baader, Franz v. 155 f., 159-161, 208 Babeuf, Frangois 24 Barbarossa, Friedrich I. 118 Bassermann, Friedrich Daniel 256 Beckerath, Hermann v. 220, 229 Behr, Wilhelm Joseph 137 Benjamin, Walter 354, 367 f. Berends, Julius 269 Bergmann, Werner 23 Biedermann, Karl 215, 224 Blum, Robert 234, 236, 279 Bohrer, Karl Heinz 353 f. Born, Stephan 286 Brinkmann, Karl Gustav v. 39 Brockhaus, Friedrich Arnold 133, 171 Brockhaus, Heinrich 267, 270, 274, 309, 319,324 Brüggemann, Karl Heinrich 256 Buchholz, Friedrich 101, 141, 165 Bülau, Friedrich 168, 224 Burke, Edmund 58, 70 f. Campe, Joachim Heinrich 39, 44—47 Camphausen, Ludolf 28, 162, 220, 229, 231, 235 Condorcet, Antoine Marquis de 353 Cotta, Johann Friedrich 74, 222, 256 Crome, August Friedrich Wilhelm 140 £

Dahlmann, Friedrich Christian 28, 162 Dalberg, Karl Theodor v. 104,135 Diesterweg, Friedrich AdolfWilhelm 257 Dohm, Christian Wilhelm 80 Dörnberg, Wilhelm Kaspar Ferdinand Freiherr v. 126 Droysen, Johann Gustav 256 Echtermeyer, Theodor 234 Eggers, Christian Ulrich Detlev Freiherr v. 139 f. Elias, Norbert 23,117,124 Engelsing, Rolf 254 Erhard, Johann Benjamin 51, 84 Feuerbach, Ludwig 234, 285, 287 Fichte johann Gottlieb 49, 120, 131 Forster, Georg 40 f., 78, 81 f., 84 Friedrich IL, König von Preußen 179 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 231,320 Friedrich Wilhelm IV, König von Preußen 198, 231, 239, 244 Fröbel,Julius234,240 Gagern, Heinrich v. 221, 256, 292 Gall, Lothar 63 Garber, Jörn 49 Garve, Christian 49 f., 58 Gentz, Friedrich 49, 58 f, 92 f., 96, 123, 155, 201 Gerlach, Ernst Ludwig v. 28, 255 f., 293, 300 f., 306, 349 Gerlach, Leopold v. 28 Gerth, Hans 32

389 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Gervinus, Gottfried 256 Giesen, Bernhard 250 Girtanner, Christoph 58 Gneisenau, August Neidhardt v. 126 Görres, Joseph 84 f, 129 f., 156,202, 204, 207 Gosch, Josias Ludwig 70 Grab, Walter 77 Gurvitch, George 24, 249 Halbwachs, Maurice 20 Halem, Georg Anton v. 42 Haller, Ludwig v. 155,211 Hansemann, David 28, 162, 165, 177, 270 Hardenberg, Karl August v. 128 Hartmann, Julius v. 290 Häusser, Ludwig 256 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 49, 180 Heine, Heinrich 193 f, 196 f., 352 f. Heinzen, Karl 234, 236, 239,245 Held, Friedrich Wilhelm 258 Hennings, August v. 64, 67-69, 73 Herder, Johann Gottfried 120 Hermann der Cherusker 118 Huber, Victor Αimé 28, 208, 210, 256, 290,300 f., 303, 305 Humboldt, Wilhelm v. 39 Jahn, Friedrich Ludwig 128-130 Jarcke, Karl Ernst 152, 157, 200, 202, 211 Jaup, Karl 140 Jeismann, Michael 116 Jacoby, Johann 342 Kant, Immanuel 49 Klopstock, Friedrich Gottlieb 49 Königs, Franz Wilhelm 266, 270 Koselleck, Reinhart 12, 14,16 f., 21 f., 24 f, 46, 50, 56, 88, 118, 142, 144, 197, 353, 364, 367 Laube, Heinrich 167, 170 Leo, Heinrich 238

Lichnowsky, Felix v. 296 Luden, Heinrich 102, 121 £, 133 Ludwig XVI., König von Frankreich 64, 78 Luhmann, Niklas 23, 25 Maistre, Joseph Marie Comte de 152 Mannheim, Karl 57 Marwitz, Friedrich Ludwig v. der 200 Marx, Karl 21, 368 Mathy, Karl 256 Merkens, Peter Heinrich 264 Metternich, Klemens v. 201, 256 Mevissen, Gustav 235, 270 Meyer, Georg Ρ 24 Mittermaier, Karl Joseph Anton 256 Mohl, Moritz 329 Müller, Adam 92, 200 Münch, Ernst 173 Münchow-Pohl, Bernd v. 113 Mundt, Theodor 170, 172, 174 Napoleon L, Bonaparte 27, 68 £, 89-95, 98-107, 109-113, 115, 117-123, 134, 136, 138 f., 143 £, 150, 156, 164, 182, 184, 187, 208, 228, 309, 355, 362 Nauwerck, Karl 234, 236 £, 257 Neumüller, Michael 276, 357 £ Niebuhr, Barthold Georg 11 Oelsner, Konrad Engelbert 41 f., 46, 75 Oesterle, Ingrid 52 Pahl, Johann Gottfried 99, 104 Perthes, Friedrich Christoph 120 £, 129, 165-167,175,179,215 Pfizer, Paul 176, 178,232 Platon 68 £ Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 28, 162 f., 174 Polybios 68 Pöschel, Philipp Friedrich 133 Posselt, Ernst Ludwig 74, 85, 99, 101 Prutz, Robert 239 Püttmann, Hermann 236

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Radowitz, Joseph Maria v. 152 f., 156, 201, 203, 207 f., 212, 256, 305 f, 357 Rammstedt, Otthein 26, 365 Ranke, Leopold v. 154, 159 Raumer, Friedrich v. 276 Rebmann, Georg Friedrich 78, 80 f., 83 f. Reichardt, Johann Friedrich 43, 48 Reinhard, Karl Friedrich 39, 40, 51 Robespierre, Maximilian 53, 61, 74 Rotteck, Karl v. 28, 122, 150, 162, 164 f., 175-177,221,226 Ruge, Arnold 28, 234, 236, 238 f., 246, 258, 279, 285 Schiller, Friedrich 49 Schirach, Gottlob Benedikt v. 54, 93 Schlegel, Friedrich 200, 353 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 132 Schlözer, August Ludwig 73 f., 77 Schnabel, Franz 89 Schneider, Eulogius 79 Schubart, Christian Friedrich Daniel 49, 55 f., 64 Schue, Johann Baptist 135 Schulz, Johann Christoph 38 f, 46 Schwentker, Wolfgang 302 Siebenpfeiffer, Philipp Jakob 181 f., 184, 187 f. Springer, Robert 288 Stahl, Friedrich Julius 28, 201, 211 f., 256, 290, 297, 301-303, 338 Stalin, Jossif W 24 Stirner, Max 234

Struve, Gustav v. 234, 239, 246, 260 Struve, Karl Ludwig 122 Trenck v. Tonder, Moritz Flavius 61 Usteri, Paul 75 Valentin, Veit 258,300, 310 Valjavec, Fritz 29, 63, 77, 99, 113 Varnhagen v. Ense, Karl 170, 215 f, 221, 232 f., 265, 267, 270, 272-274, 307 f., 312, 342,346 Virchow, Rudolf 286 Voß, Christian Friedrich 79, 81 Wagener, Hermann 255 f. Wehler, Hans-Ulrich 310 Weicke, Julius 168 Weil, Karl 216 Welcker, Karl Theodor 177, 221 Wende, Peter 247 f Wendorff, Rudolf 22 Wessenberg, Ignaz Heinrich Freiherr v. 123 Wieland, Christoph Martin 49, 51,64,72 Wigand, Otto 242 f. Wilhelm, Prinz von Preußen 261, 276 Winkopp, Peter Adolf 97, 135-137 Wirth, Johann Georg August 180 f, 185 f., 189, 234, 237 f, 241 f, 243 f., 246 f., 282 Woltmann, Karl Ludwig 66, 68 Wrangel, Friedrich v. 304 Würzer, Heinrich 79

391 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

2. Sach- und Ortsregister Begriffe, die in vorliegender Arbeit thematisch im Zentrum stehen und deshalb omnipräsent sind (z. B. alle Varianten von ›Beschleunigung‹, ›Epochenbruch‹, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹, ›Permanenz der Revolution › ›Fortschritt‹, ›Revolution‹, ›Zeiterfahrung‹, aber auch Ortsnamen wie ›Deutschland‹ und ›Frankreich‹) oder die fast ausschließlich in den spezifischen Kapiteln vorkommen (›Konservativismus‹, ›Liberalismus‹, ›Radikalismus‹, ›Märzrevolution‹), sind im folgenden nicht ausgewiesen. Absolutismus 156-158, 160, 177, 185187, 189-191, 194, 202, 207, 236, 246, 291,312,328,332,350,357 -Aufgeklärter Absolutismus 51 f, 63,7072,80 - Reformabsolutismus 46, 51 f, 57, 354 Adel 35, 50, 115, 125, 127 Agrarkrise 200, 229 Allgemeines Landrecht (1794) 209 Alltagsgeschichte 16, 354 Alphabetisierung 34 Altona 35 Amerika 118 Antike 13 Aprilaufstand in Baden (1848) 260 f, 270, 273, 276 Auerstedt 96, 119 Aufklärung 22,29,31,35,39,45-47,50 f., 53 f, 57, 62 f, 70-74, 76, 80 f., 87, 162, 179,214 Augsburg 256 Baden 198, 226, 294, 308, 342 Bastille 39, 151,164 Bayern 28, 115,186 Befreiungskriege 27, 116,119,121 f, 125, 128, 143, 149, 184, 188 f., 191, 194 f., 196,228,230 f., 241,243,247,250,266, 274, 282, 316 f, 336, 357, 363-365 Begriffsgeschichte 12, 17, 19, 21, 367 Belgien 153, 169, 189 Bergpartei 42 Berlin 35, 120, 232, 258, 261, 267, 276, 290, 294, 304, 314, 325, 327 f, 331 Bordeaux 39

Bundestag des Deutschen Bundes 180, 190,193,261,358 Bundesverfassung 27, 158 Bürgerkrieg 13, 16, 306, 330 Bürgertum 35, 50, 161, 200, 253, 255, 259-261,294 - Bildungsbürgertum 34, 51 - Besitzbürgertum 214 Burschenschaften 180 Centralmärzverein 255, 257, 260, 333 Charte, französische (1814) 158 Code Napoleon, Code Civil 89, 102 Darmstadt 258 Deutscher Bund 27, 28, 30, 147 f, 161, 169,177,180,184,186,190,195,198 f, 302 Deutscher Preß- und Vaterlandsverein 150 Deutschkatholizismus 212, 234 f, 242 Direktorium, französisches (1795-1799) 61, 67 f, 89, 101 ›Doppelrevolution‹ 26 England 118, 149,214 Erbkaisertum, preußisches 257 f, 315 f., 329 f, 337 Erfahrungsgeschichte 18, 30, 354, 367 Februarrevolution, französische (1848) 263, 265, 280, 282, 329 Föderationsfest in Paris (1790) 41 Frankfurt/M. 35, 258, 260, 285, 287, 294, 306, 308 f.

392 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Frankophobie 112 Französische Revolution (1789) 14 £, 19, 21-23, 29, 32, 37, 41 f., 45, 48-52, 54, 56, 58-61, 63 f., 66, 68-70, 73, 74, 86, 88-91, 93 f., 100 f, 103, 106, 109-111, 114 f, 118, 124-127, 135-137, 144 f., 149-156, 160, 162-165, 167, 171, 181, 183 f., 194 f, 196,203 f., 218,228, 238, 242 f., 264,278,282,296,305,309,312 f., 321,334,336,339,350,353 f., 356 £, 363 f., 366 f. Fundamentalpolitisierung 26, 28 Geheimgesellschaften 57 Geistesgeschichte 16 Gießen 140 Girondisten 41 Glorious Revolution (1688) 13 Gotha 340, 344 ›Grande peun 40 ›Grande terreun 53, 155 £, 164, 196 Griechenland 189 Hambacher Fest 28, 150, 155, 158, 169, 180,182, 192 Hamburg 35, 54 Heilige Allianz 184 ›Historia magistra vitae‹ 14, 21, 144, 167, 250, 365 Idealismus, deutscher 180 Industrialisierung, Industrielle Revolution 26, 199, 202, 214, 219, 226, 230 Intellectual History 16 Italien 27,169, 253, 262 f., 289, 293, 315 Jakobinerklub 41, 43 Jakobiner 77 Jena 96,119, 121 Julirevolution in Paris (1830) 30,34,147, 149 f., 152 £, 155, 158, 162, 167, 169, 174, 176, 178-181, 185 f., 188-192, 194,241,264,305,359 Juniaufstand in Paris (1848) 294 Juste Milieu‹ 152 f.

Kalenderreform 19 Kalenderzeit 23 Karlsbader Beschlüsse 27, 34, 324 Karlsmythos, Karl der Große 104, 118, 138 Karlsruhe 340 Katholizismus 28,198, 202, 206 Klassengesellschaft 25,214 Koblenz 35 Köln 35, 217, 225, 313 Kölner Kirchenstreit (1837-1840) 198, 202, 204, 206 Kommunismus 180, 219 Königsberg 123 Konstitutionalismus 90, 149, 168, 174176,180 f., 205,212,227,253,301,349 Konstitutionelle Monarchie 43, 53, 64, 149,170,201,214,225,239,257 £, 260, 291, 300-302, 305,313, 317, 320-322, 326, 339,345,361 Kreislaufmodell, revolutionäres 13, 68 £, 87,167, 355 Kreuzzüge 66 Kulturnation 115,120,134,144 Leihbibliotheken 34 Leipzig 35, 71, 162, 168, 215 £, 220, 222, 227 Lesegesellschaften 31 £,34 ›Leserevolution‹ 34 Linkshegelianer, Junghegelianer 181, 234, 238, 242 Luneviller Frieden (1801) 100 Lyon 155 Magdeburg 38,108 Mainz, Mainzer Republik (1792-1793) 35, 77, 79, 81 f. Malmöer Waffenstillstand (1848) 257, 293-296,307,326-328,335 Märzministerien 254 Mittelalter 13, 129, 156, 222, 244, 247, 268, 334 ›Momentanismus‹, revolutionärer 354 £, 359, 362

393 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Monarchisches Prinzip‹ 201, 211 f., 307, 338, 360 f München 28, 207 Nationalismus11,20,27 f., 108,114-116, 118,124 f., 143-145,148,176,199,226 f., 230, 249 f.,359,362-365 Nationalkonvent in Paris (1792-1795) 41,65 Nationalstaatsgründungen 28, 150, 177, 180, 253 Nationalversammlung - in Versailles (1789-1792) 38-42, 44, 50, 124 - in der Frankfurter Paulskirche (1848/ 49) 255-258, 260 f., 276 f., 279, 281, 284, 287, 294, 296, 298 £, 306, 308 £, 318,323 f., 326-329,333,338 f., 361 - in Berlin/Brandenburg (1848) 268, 294 f., 297, 303 f, 312f.,315, 333, 361 Neuzeit 13, 55, 275, 279, 283, 317, 334, 348 Niederlande 45 Olmützer Vertrag (1850) 340 Österreich 104, 108, 123, 142, 150, 179, 191, 228, 257,294,306,315,326,347349 Paris 38-43, 46 f., 82, 89, 149, 155, 164, 193, 263 f.,277, 285,354 Parteien 28-30,150,152,158,165,171 £, 198,201,214,254-256 ›Pauperismus‹ 199, 203, 214, 219, 224 Philhellenismus 27, 148 Polen 169,181,185,191,294 Prag 276, 294 Preußen 28, 90, 95-97,105 f., 111,113 f., 115-118, 130, 138, 142-144, 150, 165, 176-181, 185, 191, 202, 205, 207, 228, 230-233, 238 f., 294, 296 f., 299, 301, 305 £, 315-317, 328, 331, 347-349, 359 Proletarisierung, Proletariat 204,214,219 Proteste 199 £,270, 294

Provisorische Zentralgewalt in Frankfurt (1848/49)281,287 Rationalismus 57, 205 Reaktion 155, 160-164, 171, 173, 185, 215, 223, 239, 245 £, 258, 260 £, 262, 268, 275, 278, 287 f., 290-295, 297 f, 300-308, 314, 317-320, 322-333, 336, 338-348, 355, 360-362, 364, 366 £ Reformation 64,66,70,123,160,176,178 £, 194, 204, 246 f., 307 £, 357, 363 Reformen - preußische 27, 98, 106,115 f., 125,144, 159, 362 f. -rheinbündische 27,98,102,106f.,362f. Reformstau, Entwicklungsstau, Zeitstau 88, 160, 208, 215, 217, 220, 237, 240, 248 f., 259, 265-267, 280, 282, 284, 324, 355, 358, 363 Reich, Altes Reich 27, 89, 93, 95, 98, 100, 102, 106 f., 111, 113, 115, 119, 123, 127-129, 131, 134-138, 141-143, 266, 307, 311, 362 f Reichsdeputationshauptschluß (1803) 101 Reichspatriotismus 134 Reichstag von Erfurt (1850) 350 Reichsverfassung -des Alten Reiches 135,138f.,141 f., 174, 244, 246, 249 - der Frankfurter Nationalversammlung (1849) 257 f, 295, 314, 316, 318, 320322, 337 -von Erfurt (1849) 302 Reichsverfassungskampagne 255, 260, 295, 299, 306, 312, 318-321, 329, 333, 335-337, 340, 344, 361 f Repräsentatiwerfassung, Repräsentativsystem 27, 127, 158, 189,211 Republik 48, 78, 91, 99, 154, 246, 257 f., 260 f., 263 f., 284, 303, 305, 319-321, 335 Restauration 27, 62, 86, 124, 151, 155, 164-166, 171 f., 182, 184, 194-196, 246, 248 f, 262, 292, 301,340,363

394 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Revolutionsforschung 24 Revolutionskalender 19, 23 Revolutionskriege 53, 66, 140, 149, 151, 155,242,264 Revolutionstheorien 24 ›Revolutionstouristen‹ 37 f., 47,354 Rheinbund, Rheinbundstaaten, Rheinischer Bund 89, 98,102,115,128,135142, 144 Rheinbundideologie 135 Rheinbundpatriotismus 99, 135 Rheinbundpublizistik 99, 105, 135, 357 Rheinbundverfassung 137 f, 140 f. Rheinkrise (1840) 198, 227, 236 Rheinland 28, 229 Rheinpfalz 186 Riga 122 ›Rumpfparlament‹ in Stuttgart (1849) 257,295,321,342 Rußland 116,185, 208, 226, 241 f., 268 Sachsen 28, 162, 168, 173, 198, 214, 226, 241,306 Sängerbewegung 27 ›Sattelzeit‹12,367 Schichtenmodell, sozialwissenschaftliches 26 Schleswig-Holstein 198, 263, 294, 296, 334 Schweidnitzer Unruhen (1848) 276 Schweiz 42, 67, 253, 262 f., 289 Septemberkrise (1848) 277, 294, 296, 307,311 f, 324 f, 327, 330 f, 335 Septembermorde (1792) 53 ›Societas civilis‹ 29, 57, 62, 200 ›soziale Frage‹ 203, 260 Sozialgeschichte 12, 16 f Sozialismus 180,219,225 Spanien 27, 109 Staatsbürokratie 27, 115 Staatsstreich - Napoleons vom 18. Brumaire (1799) 91,105,110,297 - in Preußen (November/Dezember

1848) 260, 294, 297, 304, 307, 313, 315-317,323,328 Ständestaat, Ständegesellschaft, Ständeherrschaft 123 f., 158, 211, 302, 350 Stuttgart 35, 216,225, 256, 295 Systemeigenschaften 25 Systemgeschichte 25 Systemtheorie 23 Traditionalismus 57 Triasidee 176 Trierer Wallfahrt (1844) 198 Tübingen 74 Tuilerien 39, 53 Übergangsgesellschaft 26, 249 Unionspolitik, preußische 341 f., 344, 362 Vereine 31, 162, 198, 207, 254 f., 260 £, 295, 320 Verein für König und Vaterland 255 Vereinigter preußischer Landtag (1847) 232 f., 262,302 Verfassung, preußische (5.12.1848) 295, 299-302, 316, 332, 334, 338, 361 Verfassungspatriotismus 27 Verfassungsrevolution 37 Versailles 39 Volkssouveränität 78, 150, 181, 185, 189, 195, 208, 257, 260, 281, 283, 330, 333, 337 Vormärz 27, 34, 90, 198 f, 205, 214, 234, 240,247,250,254 f., 259,265,268,272, 275-277, 280, 284, 287, 291, 297, 301, 315,322,328,331,340,344,359 f., 363 f., 366 Vorparlament in Frankfurt (1848) 260, 287 Wahlrecht 78,257,260 f., 295,299 f., 302, 317, 320 f.,329,341, 345 f. Weltzeit 23 Westfalen, Königreich 103,109 Westfälischer Friede (1648) 266

395 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Wien 267, 276, 294, 307 f., 314, 325-328, 331,333 Wiener Kongreß (1814/15) 184, 253 Wiener Schlußakte (1820) 27, 148 Wissenssoziologie 21 Worms 263 Württemberg 84, 198 Zeitautonomie 25 Zeitdruck 273 £, 277 Zeithorizont 22 £

Zeitmodell 21 Zeitorganisation 23 Zeitphilosophie 22 ›Zeitpolyp‹ 170 Zeitstruktur 19, 25 Zeittheorie 23 Zensur 34 f., 114, 186,198, 20'., 232 Zentralausschuß, demokratische! (1848/ 49) 258, 260 Zivilisationsprozeß 23 Zollverein 215, 227-231, 348

396 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Wenn Sie weiterlesen möchten... Wolfgang Hardtwig (Hg.)

Revolution in Deutschland und Europa 1848/49

Mit Beiträgen von: Rüdiger vom Bruch, Konrad Canis, Laurenz Demps, Wolfgang Hardtwig, Hartmut Kaelble, Wolfgang Kaschuba, Peter Niedermüller, Ralf Pröve, Günter Schödl, Ludmila Thomas und Heinrich August Winkler. Die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 war beim hundertjährigen Jubiläum 1948 von den Konflikten des Kalten Krieges geprägt. Das einhundertfünfzigjährige Jubiläum findet in einer entspannteren Atmosphäre statt. Die Revolution gilt heute als wichtiger Schritt Deutschlands auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie und zur nationalstaatlichen Einheit - was angesichts ihres Scheiterns überrascht. Doch müssen historische Urteile über den Erfolg der Revolution von 1848/49 nicht differenzierter ausfallen? Immerhin gab es in der Revolution auch Elemente, die in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen sollten, etwa moderne Formen des Parlamentarismus. Andererseits verfochten die Revolutionäre oft traditionalistische Ziele und sozialkonservative Werte. In diesem Band werden Formen der Erinnerung an die Revolution ebenso thematisiert wie die Anfänge einer neuen politischen Kultur und der mit verschiedenen Aufgaben „überforderte Liberalismus“; es geht um die Rolle der Kirchen, der preußischen Regierung, der Universitäten und der Bürgerwehren. In mehreren, zum Teil vergleichenden Aufsätzen wird die europäische Dimension der Revolution behandelt. Der Band ist ein Beitrag zu einer Erinnerungskultur, der es um wissenschaftliche Erkenntnis, aber auch um die Vermittlung von Wissenschaft und Öffentlichkeit geht.

Irmtraud Götz von Olenhusen (Hg.)

1848/49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution

Mit Beiträgen von: Irmtraud Götz von Olenhusen, Thomas Kroll, Peter |Kurth, Daniel Mollenhauer, Birgitt Morgenbrod, Wolfgang Schwentker und Jonathan Sperber.

Waren die europäischen Revolutionen von 1848/49 nur Imitationen der Französischen Revolution von 1789/92, nur „weltgeschichtliche Totenbeschwörungen“ (Karl Marx)? In allen Revolutionsräumen und von allen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

beteiligten Gruppen wurde 1848/49 die Erinnerung an die Große Revolution in Frankreich aufgegriffen, zum Teil auch regelrecht inszeniert. Welchen Stellenwert hatte die Beschwörung der Französischen Revolution als Vorbild oder als Schreckbild? Die Autoren untersuchen die Geschehnisse in Frankreich und Italien, in den Rheinlanden, in Baden und in Wien. Die Mythen und Symbole der Französischen Revolution waren überall präsent, doch die Funktion und Bedeutung der Revolutionserinnerungen waren in verschiedenen sozialen Gruppen, politischen Lagern und Revolutionsphasen ganz unterschiedlich. So diente etwa die jakobinische Symbolik, die von den Republikanern in Frankreich, Italien und Baden übernommen wurde, dazu, Sozialrevolutionäre Tendenzen in unterbürgerlichen Schichten zu kanalisieren. Mit dem Sieg der Gegenrevolution überwanden die Konservativen ihre traumatische Erinnerung an die Französische Revolution. Aber auch für die Unterlegenen von 1848/49 verlor die Erinnerung an 1789/92 ihre Bedeutung als Mittel der politischen Mobilisierung und als handlungsleitender Mythos.

Christian Jansen / Thomas Mergel (Hg.) Die Revolutionen von 1848/49

Erfahrung - Verarbeitung - Deutung

Mit Beiträgen von: Meike Sophia Bader, Christiane Eifert, Thomas Götz, Rüdiger Hachtmann, Hans Heiss, Manfred Hettling, Christian Jansen, Carola Lipp, Thomas Mergel, Sabrina Müller, Andreas Neemann, Susanne Rouette, Philipp Sarasin und Jonathan Sperber. Waren die Ereignisse von 1848/49 ein zusammenhängender Komplex, kann man von „der Revolution von 1848/49“ sprechen? Wenn Handlungsformen und Wahrnehmungen der Beteiligten betrachtet werden, löst sich die Revolution in eine Vielzahl von Ereignissen, Wahrnehmungsformen, Verarbeitungsweisen, in „die Revolutionen von 1848/49“ auf. Die Ereignisse 1848/49 waren zwar traditional geprägt, können aber zugleich als Beginn moderner Entwicklungen gelten: Sie ermöglichten neuartige Erfahrungen, die ihrerseits die politischen Optionen und Handlungsmöglichkeiten, die soziale Geographie und kollektive Mentalität veränderten. Gerade mit Blick auf langfristige Entwicklungen ist der Erfolg der Revolution positiver als bisher zu bewerten. Die Beiträge untersuchen die Erfahrungen, Sprachformen und Handlungsweisen der Beteiligten, die Aktivität und Passivität im politischen Handeln sowie regionale Konflikte. Ebenso werden Verarbeitungsformen und Deutungen der revolutionären Ereignisse betrachtet. Die Autoren bieten anschauliche Einblicke, die zu einem Bild von großer Tiefenschärfe gerinnen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Konfliktgeschichte: Soziale Unruhen, Revolution und Denkmalsturz Manfred Hettling (Hg.)

Revolution in Deutschland? 1789-1989

Kleine Vandenhoeck-Reihe 1555. 1991. 147 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-33572-5

Manfred Hettling

Reform ohne Revolution

Bürgjertum, Bürokratie und kommunale Selbstverwaltung in Württemberg von 1800 bis 1850 Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 86. 1990. 320 Seiten mit 20 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35749-4

Christina von Hodenberg

Die Partei der Unparteiischen

Der Liberalismus der preußischen Richterschaft, 1815-1848/49 Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 113. 1996. 425 Seiten mit 4 Abbildungen und 11 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35776-1

Karl Härter

Reichstag und Revolution 1789-1806

Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46. 1992. 715 Seiten, broschiert ISBN 3-525-35948-9

Helmut Berding (Hg.)

Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution

Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 12. 1988. 258 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-36411-3

Paul Nolte

Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden, 1800-1850

Tradition - Radikalismus - Republik Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 102. 1994. 561 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35765-6

Winfried Speitkamp / Hans-Peter Ulimann (Hg.)

Konflikt und Reform

Festschrift für Helmut Berding Zweiundzwanzig Beiträge. 1995. 342 Seiten mit 1 Tafel, gebunden ISBN 3-525-36235-8

Winfried Speitkamp (Hg.)

Denkmalsturz

Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik Kleine Vandenhoeck-Reihe 1581. 1997. 155 Seiten mit 5 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-33527-X

V&R

Vandenhoeck Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

128:Martin H.Geyer

Verkehrte Welt

Revolution, Inflation und Moderne: München 1914-1924 1998.451 Seiten mit 3 Abbildungen, 14 Tabellen und 1 Schaubild, kartoniert ISBN 3-525-35791-5

127: Philipp Ther

Deutsche und polnische Vertriebene

Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956 1998.382 Seiten mit 4 Abbildungen und 2 Grafiken, kartoniert. ISBN 3-525-35790-7

126:Svenja Goltermann

Körper der Nation

Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860-1890 1998.360 Seiten mit 4 Abbildungen, kartoniert. ISBN 3-525-35789-3

125: Wolfram Fischer

Expansion. Integration. Globalisierung

123: Christoph Jahr

Gewöhnliche Soldaten

Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918 1998. 419 Seiten mit 37 Tabellen und 13 Diagrammen, kartoniert ISBN 3-525-35786-9

122: Olaf Blaschke

Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich

1997. 443 Seiten mit 5 Grafiken und 10 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35785-0

121: Marita Baumgarten

Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert

Zur Sozialgeschichte deutscher Geistesund Naturwissenschaftler 1997. 376 Seiten mit 9 Graphiken und 6 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35784-2

Studien zur Geschichte der Weltwirtschaft Hrsg. von Paul Erker und Heinrich Volkmann. 1998. 286 Seiten mit 2 Schaubildern und 9 Tabellen, kartoniert. ISBN 3-525-35788-5

124: Ute Planert

Antifeminismus im Kaiserreich

Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität 1998. 447 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35787-7

V&R

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35792-8