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German Pages 317 [322] Year 2014
Geschichte Franz Steiner Verlag
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t r a nsatl a ntiHistorische s ch e h i s toStudien r i s ch e s t u d i en Transatlantische
Jochen Krebber
Württemberger in Nordamerika Migration von der Schwäbischen Alb im 19. Jahrhundert
Jochen Krebber Württemberger in Nordamerika
transatlantische historische studien Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Washington, DC Herausgegeben von Hartmut Berghoff, Clelia Caruso, Mischa Honeck und Britta Waldschmidt-Nelson Band 50
Jochen Krebber
Württemberger in Nordamerika Migration von der Schwäbischen Alb im 19. Jahrhundert
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Studiofotografie des schwäbischen Einwanderersohnes und Viehzüchters Joseph Nester in Medina County, Texas. Privatbesitz von John J. und Esther Nester in D’Hanis, Texas
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Umschlaggestaltung: r2 Röger & Röttenbacher, Leonberg Satz: DTP + Text, Eva Burri Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10605-4 (Print) ISBN 978-3-515-10596-5 (E-Book)
DANKSAGUNG Von der Idee zu diesem Buch bis zur Umsetzung und Drucklegung sind viele Jahre vergangen. Jahre, in denen mir viele Menschen zur Seite standen, denen ich nun zu Dank verpÀichtet bin. Wenn ich hier die Entstehungsgeschichte dieser Arbeit Revue passieren lasse, wird mir dies bewusst. Den Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema „Auswanderung“ gab ein Studienjahr an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland an die Universität Konstanz fand ich am Schwarzen Brett der Geschichtswissenschaft einen Aushang vor, mit dem das Kreisarchiv Tuttlingen eine personenbezogene Aufarbeitung der Auswanderung aus der Region im 18. und 19. Jahrhundert per Werkvertrag ausgeschrieben hatte. Der Kreisarchivar Dr. Hans-Joachim Schuster erschloss mir kenntnisreich und hilfsbereit viele Informationen und vermittelte Kontakte zur Bevölkerung, die mich bei meinen Forschungen auf vielfältige Art und immer interessiert unterstützte. Nach etlichen Monaten Archivrecherchen in den im württembergischen Staatsarchiv in Sigmaringen gelagerten südwürttembergischen Auswanderungsakten bot die enorme Anzahl der namentlich erfassten Auswanderer schließlich den Grundstock für zwei separate Abschlussarbeiten bzw. Bücher: die unter dem Titel „Auswanderungen aus der östlichen Baar und dem Raum Spaichingen – Tuttlingen zwischen 1690 und 1830“ gedruckte Magisterarbeit sowie die hier vorgelegte Monographie, die Veröffentlichung meiner Dissertation, die im Juli 2009 an der Ruhr-Universität Bochum angenommen wurde. Zu höchstem Dank verpÀichtet bin ich meinen beiden (sic!) Doktorvätern, Prof. Dr. Wolfgang Helbich und seinem Nachfolger am Lehrstuhl für die Geschichte Nordamerikas, Prof. Dr. Michael Wala. Wolfgang Helbich unterstützte mich geduldig von dem Tag an, als ich ihn in seinem Urlaubsdomizil in den Schweizer Alpen mit meinen Tuttlinger Auswandererlisten für das 19. Jahrhundert im Gepäck zu einem ersten Kennenlernen traf, wo er mich als Doktoranden annahm und mit einem DAAD-Promotionsstipendium nach Amerika schickte, um dort die Einwanderungsseite zu erforschen. Nach Amerika geht mein herzlicher Dank für: die freundliche Aufnahme und gute institutionelle Betreuung als Stipendiat in die Abteilung der Special Collections and University Archives der Rutgers University Libraries unter der Leitung von Dr. Ronald L. Becker; die über das normale Maß der Hilfsbereitschaft hinausgehende Betreuung von Dr. Robert C. Morris (†), dem Leiter der National Archives North East Region in Lower Manhattan, New York; die exzellente inhaltliche Mitbetreuung meiner Arbeit von Prof. Dr. Walter D. Kamphoefner, Texas A&M University, College Station, Texas; die freundliche
Aufnahme während meiner Archivrecherchen in Texas durch Dr. David R.C. Hudson und seine Schwiegereltern John J. und Esther Nester in Old D’Hanis. Mit vielen Forschungsergebnissen zurück in Deutschland, ist es dort der Umsicht und dem Können von Dr. Wilfried Kohlgrüber, Prof. Dr. Norfrid Klug und Prof. Dr. Jürgen Hampl zu verdanken, dass diese Arbeit überhaupt geschrieben werden konnte. Durch den mühsamen Prozess, aus einzelnen Forschungsergebnissen ein einheitliches Manuskript zu erstellen und die Dissertation abzuschließen, lotste mich mit Güte, Strenge und viel Geduld Dr. Dietrich Müller-Römer, dem ich auf das Allerherzlichste dafür danken möchte. Er ist der Geburtshelfer meiner Arbeit. Dass Michael Wala meine unter seinem Vorgänger Wolfgang Helbich begonnene Doktorarbeit ohne erkennbares Zögern zur Erstbegutachtung übernahm und mich durch das gesamte Promotionsverfahren an der Ruhr-Universität Bochum navigierte, ist mir Anlass zu tief empfundenen Dank. Der Weg zur Veröffentlichung der Dissertation war länger als geplant. Zwar war das Manuskript schnell von der am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. ansässigen Redaktion der Transatlantischen Historischen Studien an- und in diese Reihe des Franz Steiner Verlages aufgenommen, aber der Verfasser ließ sich einige Zeit, um sein Manuskript nach den Vorschlägen der Redaktion und den Vorgaben des Verlags zu überarbeiten. Meinen herzlichen Dank für ihre gute Unterstützung und oft strapazierte Geduld möchte ich an Prof. Dr. Anke Ortlepp, die mich in der Anfangszeit betreute, Prof. Dr. Marcus Graeser und nicht zuletzt Prof. Dr. Britta Waldschmidt-Nelson aussprechen, die einen ganz wesentlichen Anteil an Veröffentlichung dieser Arbeit hat und der ich für ihren stetigen Input ebenfalls sehr herzlich danken möchte. Dass neben der guten fachlichen Betreuung durch die Redaktion auch noch das exzellente sprachliche Lektorat durch Ricarda Berthold, M.A., diese Arbeit zu einer besseren gemacht hat, möchte ich dankbar hervorheben. Dem Franz Steiner Verlag sei in den Personen von Katharina Stüdemann und Sarah-Vanessa Schäfer für die sehr gute und professionelle Begleitung auf dem Weg vom Manuskript zum Buch gedankt. Für ihre große Hilfe beim Literaturverzeichnis und beim Erstellen der Register danke ich herzlich LuciePatrizia Arndt, M.A., Ruhr-Universität Bochum, und Benjamin Koerfer, B.A., Universität Trier. Frau Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl von der Universität Trier bin ich ebenfalls für sehr vieles überaus dankbar. Am meisten freue ich mich mit meiner und für meine gesamte Familie, dass dieses Projekt nun zum Abschluss gekommen ist. Ohne ihre Liebe und Unterstützung gäbe es dieses Buch nicht. Köln, Trier, im Januar 2014
Jochen Krebber
INHALTSVERZEICHNIS 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3
Einleitung ...................................................................................... Ziele der Arbeit ............................................................................. Regionale Eingrenzung und zeitlicher Rahmen............................ Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen ..........................................................................................
9 9 11 15
Bedingungen von Migration in Württemberg ............................... Agrarsozialer Wandel und Kapitalisierung der Landwirtschaft.... Beginnende Industrialisierung ...................................................... Natürliche Bevölkerungsentwicklung, Abwanderung und Urbanisierung................................................................................ Politische Repression und kommunale Auswanderungsförderung.......................................................................................
45
3 3.1 3.2 3.3
Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb ........................ Koexistenz verschiedener Wanderungsverläufe ........................... Komparative Analyse des Migrationsverhaltens .......................... Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen .........................
51 51 56 61
4
Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten ...................................................................................... 75 Transatlantische Wanderungsrouten ............................................. 75 4.1.1 Reiseorganisation und Wege zu den Abfahrtshäfen........... 75 4.1.2 Überfahrt nach Nordamerika ............................................. 84 4.1.3 Anlandung und Erstaufenthalte in Nordamerika ............... 91 Lebensweltwechsel in Nordamerika ............................................. 99 4.2.1 Einwanderungsland USA – Gegenentwurf zum damaligen Europa ................................................................................ 99 4.2.2 Ansiedlungsmuster und Binnenwanderung ....................... 100
2.4
4.1
4.2
5 5.1
5.2
Migrantensiedlungen in Nordamerika .......................................... Agrargebiete.................................................................................. 5.1.1 Medina County, Texas ....................................................... 5.1.2 Haldimand County, Ontario, Kanada................................. 5.1.3 Dodge und Washington Counties, Wisconsin .................... 5.1.4 Auglaize County, Ohio ...................................................... 5.1.5 Wyoming County, New York ............................................. 5.1.6 Goodhue County, Minnesota ............................................. Klein- und Mittelstädte ................................................................. 5.2.1 Troy, Ohio ..........................................................................
29 30 36 40
113 113 116 123 127 132 134 137 141 142
8
5.3
5.5 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 8
Inhaltsverzeichnis
5.2.2 Muscatine, Iowa................................................................. 5.2.3 Madison, Indiana ............................................................... 5.2.4 Utica, New York ................................................................ 5.2.5 Detroit, Michigan............................................................... Industriegebiete............................................................................. 5.3.1 Copper Country, Michigan ................................................ 5.3.2 Altoona, Pennsylvania ....................................................... 5.4 Metropolen......................................................................... 5.4.1 Cincinnati, Ohio................................................................. 5.4.2 New York City ................................................................... Synoptische Analyse der Siedlungsbildungsprozesse...................
144 148 152 159 163 165 168 171 172 176 178
Anpassung an die neue Umwelt.................................................... Lebens- und Arbeitsbedingungen ................................................. Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken .......................... Arbeits- und Geschäftspraktiken außerhalb der Landwirtschaft .. Heiratsverhalten und Familienbeziehungen.................................. Religiöses Leben ........................................................................... Vereinsleben, politische Partizipation und der Amerikanische Bürgerkrieg ...................................................................................
187 188 191 205 210 217
Sozioökonomische Analyse des American Dream ....................... Berufs- und Sozialstatuswechsel in verschiedenen Wirtschaftssektoren ......................................................................................... Ländliche Gebiete ......................................................................... Städte ............................................................................................ Industriegebiete............................................................................. Wechselbeziehungen zwischen räumlicher und sozioökonomischer Mobilität ................................................................
223 235 236 247 255 264 265
Schlussbetrachtungen.................................................................... 269
Abkürzungsverzeichnis ............................................................................ Maße, Gewichte, Zahlungsmittel und ihre Entsprechnungen .................. Verzeichnis der Karten ............................................................................. Verzeichnis der Abbildungen ................................................................... Verzeichnis der Tabellen .......................................................................... Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................... Sach- und Personenregister ...................................................................... Register geographischer Begriffe (Ortsregister) ......................................
285 286 287 288 289 293 309 313
1 EINLEITUNG Vor über sechzig Jahren machte James Mathew Klaiber aus dem Örtchen Garner in Kentucky landesweit Schlagzeilen. Ripley’s Believe It or Not, das amerikanische Kuriosentätenmagazin, meldete am 17. April 1949, dass der damals 91-jährige Farmer in den letzten siebzig Jahren in demselben Wahlbezirk in Boyd County seine Stimme abgegeben habe.1 Klaiber, erstgeborener Sohn eines württembergischen Einwanderers aus dem am Fuße der Schwäbischen Alb gelegenen Sechshundert-Seelen-Dorf Hausen ob Verena, war ein Paradebeispiel für die Erdverbundenheit und den Hang zur Landwirtschaft, die sowohl die amerikanische Öffentlichkeit als auch die dortige Historiographie mit dem deutschstämmigen Bevölkerungsteil der Vereinigten Staaten noch heute assoziieren. Dass dies jedoch nicht das typische Lebensbild von deutschen Einwanderern ist, belegt die vorliegende Arbeit. Denn auf die Gesamtheit bezogen hält der mit diesem Beispiel suggerierte Eindruck von Kontinuität im Leben von Immigranten und ihren Kindern, wie sich zeigen wird, ebenso wenig einer Überprüfung stand wie der Mythos des typischen deutschen Einwanderers als Farmer. 1.1 ZIELE DER ARBEIT Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Migrationsstudie, in der die Wanderungsbewegungen von rund sechstausend Migranten aus allen 44 württembergischen Gemeinden des auf der Schwäbischen Alb gelegenen südwestdeutschen Untersuchungsgebietes im 19. Jahrhundert systematisch untersucht werden. Die Studie ist divergent, transnational und multilokal angelegt, verfolgt also die Spuren der Migranten von den verschiedenen Ausgangsorten in Württemberg aus nach Nordamerika, und versucht sie dort über mehrere Jahrzehnte über Zwischenetappen bis zur Niederlassung weiter zu verfolgen. Mehr als dreitausend Personen – darunter mit rund 2.500 von 3.800 Auswanderern knapp zwei Drittel der dort behördlich erfassten Auswanderergesamtheit – konnten zwischen 1850 und 1880 an etwa tausend Zielorten auf dem nordamerikanischen Kontinent lokalisiert werden, davon zwei Drittel sogar mehrmals. Auf diese Weise wird der Migrationsprozess in seiner räumlichen und sozialen Dimension dynamisch erfasst, also nicht nur der erste Niederlassungsort und die erste Tätigkeit der Migranten ermittelt, sondern auch die intra- und interregionale Migration dieser Einwanderer sowie ihre 1
Vgl. Klaiber, Klaiber Cousins, 12.
10
1 Einleitung
sozioökonomische und kulturelle Entwicklung im Zeitablauf verfolgt. Dieses Design der Arbeit ermöglicht es, die Migrations- und Adaptationsprozesse einer ganzen Migrantenpopulation in verschiedenen Zielgebieten im ländlichen und städtischen Nordamerika vergleichend zu erforschen. Dieser Befund in den Quellen zeigt, dass die Weiterwanderung nicht unerforscht bleiben darf, weil erst die Verfolgung aller Etappen der Migration die räumliche und soziale Gesamtanalyse aussagekräftig macht. Außerdem war und ist die Mobilität ein essentieller Wesenszug der amerikanischen Gesellschaft: Neueste Forschungen zur Binnenwanderung vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg haben ergeben, dass zwischen 1850 und 1860 zwei von drei Einwanderern (neben zwei von fünf Einheimischen) ihren Wohnort wechselten und dabei Countygrenzen2 überschritten und dass die Deutschen nach den Iren zu den räumlich mobilsten Teilen der amerikanischen Bevölkerung zählten.3 Dass die hohen Binnenwanderungsraten nach wie vor Gültigkeit haben, belegt der US-Zensus aus dem Jahr 2000, demzufolge knapp die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung zwischen 1995 und 2000 mindestens einmal umzog.4 Rückwanderungen5 hingegen werden in einzelnen Abschnitten im Mittelteil der Arbeit, wo sie im Einzelfall belegt werden können, bloß erwähnt, nicht aber Àächendeckend untersucht. Diese Einschränkung ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass Rückwanderungen systematisch in den Quellen erst für das Ende des 19. Jahrhunderts nachgewiesen werden können, was auch über den zeitlichen Rahmen meiner Untersuchung hinausgeführt hätte.6 2 3
4
5 6
County ist in den meisten Bundesstaaten der USA die staatliche Verwaltungseinheit oberhalb der Kommunalebene. Vgl. Ferrie, Yankeys Now, 139 ff. (Tab. 7.2 und 7.3). Ferrie verwendete die 1 %-Stichproben des U. S. Census der Jahre 1850 und 1860 aus der „Public Use Microdata Series“ des Minnesota Population Research Institute. Nur männliche Personen über 15 Jahren, die in beiden Jahren in den Proben auszumachen waren, gingen in seine Berechnungen ein. Von 4.271 Einheimischen blieben 57,2 % innerhalb ihres Countys sesshaft, unter 1.176 Einwanderern waren es nur 31,1 %. Social Science Data Analysis Network: Census 2000, Kapitel „United States Migration and Immigration“, Tabelle „Residence 5 Years Prior to Census“ (www.censusscope.org/ us, Internet-Recherche vom 11.1.2005). Nur 54,1 % aller Amerikaner gaben im Zensusfragebogen 2000 an, schon 1995 in demselben Haus oder derselben Wohnung gewohnt zu haben, worin sie gezählt worden waren. Zuvor hatte die „Sesshaftenquote“ in den USA im Fünfjahreszeitraum 1985/1990 ähnlich niedrig bei 53,3 % gelegen. Hierbei wird deutlich, dass die meisten Umzüge über kürzere Distanzen stattfanden: 54,2 % aller Umzüge zwischen 1995 und 2000 geschahen innerhalb desselben Countys; 21,1 % innerhalb desselben Bundesstaates; 18,3 % innerhalb der USA; 6,3 % waren Einwanderungen aus dem Ausland. Zum Problemfeld „Rückwanderung“ siehe Morawska, Return Migration und Wyman, Round-Trip. In den hier benutzten württembergischen Auswanderungsakten sind bis 1880 unter 3.824 Nordamerikaauswanderern lediglich 18 Rückwanderer verzeichnet. Über die
1.2 Regionale Eingrenzung und zeitlicher Rahmen
11
Gegenstand der Betrachtung bleiben dabei immer die Migranten selbst im historischen Kontext. Die analytische Perspektive liegt dabei einerseits auf den sozioökonomischen und kulturellen Vorbedingungen der Auswanderung in ihrer Heimat sowie andererseits auf ihrer räumlichen und sozialen Mobilität in Nordamerika und damit der Interaktion mit der neuen Umgebung im Einwanderungsland. Hierbei interessieren besonders die Fragen der durch den Wanderungsprozess erfahrenen Lebensweltwechsel. Gemeinsame Siedlungsbildung im Einwanderungsland wird in der Migrationsforschung in der Regel mit Kettenwanderung erklärt7, ohne dass deren strukturelle Grenzen aufgedeckt bzw. abgesteckt werden.8 Nach der klassischen De¿nition von John und Leatrice McDonald ist Kettenwanderung „[a] movement in which prospective migrants learn of opportunities, are provided with transportation, and have initial accomodation and employment arranged by means of primary social relationships with previous migrants.“9 Die vorliegende Arbeit überprüft anhand des nunmehr erschlossenen „dichten“ Datenmaterials sowohl bei den gemeinsam siedelnden Einwanderern als auch bei den in der Diaspora lebenden Migranten den Umfang und die Bedeutung der Kettenwanderung. Damit soll nicht nur ein Beitrag zur Erforschung der europäischen Nordamerikamigration im 19. Jahrhundert, sondern auch zur Theoriebildung in der historischen Migrationsforschung geleistet werden. 1.2 REGIONALE EINGRENZUNG UND ZEITLICHER RAHMEN Die vorliegende Arbeit gilt der Erforschung der grenzüberschreitenden Wanderungen von Einzelpersonen, Familien und Gruppen und vernetzt dadurch Herkunfts- und Zielorte auf beiden Seiten des Atlantiks miteinander. Während auf der Einwanderungsseite der gesamte nordamerikanische Kontinent den Rahmen bildet, innerhalb dessen Migranten an ihren Niederlassungsorten untersucht werden, ist die Auswanderungsregion10 enger eingegrenzt. Sie um-
7
8 9 10
Schiffspassagierlisten lassen sich zwischen 1840 und 1880 immerhin 74 Personen unter 3.484 Passagieren feststellen, die zum wiederholten Male die Transatlantikpassage westwärts unternahmen, also zwischendurch nach Europa zurückgekehrt waren. (Zu den hier erwähnten Quellen siehe Kapitel 1.3. Zur Methode, die Rückwanderung nach Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts systematisch zu erfassen, siehe Kapitel 4.1.2.) Zur wissenschaftlichen Genese der Kettenwanderung siehe Gjerde, Following the Chain, 1, 8. „The metaphor ‚chain migration‘ is the most useful concept in the understanding of human migration behavior, and yet the term is most overused.“ (S. 1) Zur „Überhöhung“ der Kettenwanderung vgl. auch Aengenvoort, Siedlungsbildung, 159 f. Vgl. dazu Krebber, Creed, Class, and Skills. McDonald/McDonald, Chain Migration, 82. Zur BegrifÀichkeit Auswanderung/Einwanderung bzw. Abwanderung/Zuwanderung: Das erste Begriffspaar ist staatsrechtlichen Ursprungs und bezieht sich auf dauerhafte Wanderungen aus einem nationalstaatlichen Rahmen in einen nationalstaatlichen Rah-
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1 Einleitung
fasst, wie die beiden nachfolgenden Karten zeigen, ein zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, oberem Neckar und junger Donau etwa auf halber Strecke zwischen Stuttgart und Zürich gelegenes Gebiet der Südwestalb. Dieses Untersuchungsgebiet umfasste zur Mitte des 19. Jahrhunderts gut zweieinhalb Prozent der Bevölkerung Württembergs und zwischen 1830 und 1880 einen Anteil von knapp drei Prozent der amtlich verzeichneten Nordamerikaauswanderer Württembergs. Es besteht aus den 44 Gemeinden der beiden südwestlichsten Verwaltungseinheiten des damaligen Königreiches Württemberg, den Oberämtern (OA) Tuttlingen und Spaichingen. Die Beschränkung auf dieses mit 523 Quadratkilometern Fläche und einer Bevölkerung von 44.632 Einwohnern im Jahr 1850 kleinräumige und seit der Säkularisierung und Mediatisierung am Anfang des 19. Jahrhunderts politisch einheitliche Untersuchungsgebiet erscheint aus verschiedenen Gründen sinnvoll: Einerseits lässt sich die Auswahl dieses württembergischen Untersuchungsgebietes mit der dortigen exzellenten Quellenlage und einem guten Stand an lokal- und regionalgeschichtlichen Vorarbeiten11 begründen. Andererseits ist aber der deutsche Südwesten – abgesehen von Rheinhessen12 und der Pfalz13 – in der historischen Migrationsforschung zur deutschen Nordamerikaauswanderung des 19. Jahrhunderts bisher vernachlässigt worden.14
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men. Nach diesem Verständnis geben die Auswanderungsakten Nordamerika ebenso wie – sachlich richtig, aber für die historische Migrationsforschung konzeptionell unsinnig – Baden oder Bayern als Zielländer der württembergischen Auswanderung an. Inzwischen hat sich in der neueren Forschung ein Àuktuierendes Konzept von Migration durchgesetzt, das durch das neutralere Begriffspaar Zuwanderung/Abwanderung gekennzeichnet ist. Dieses wird von mir immer dort verwendet, wo es der Verständlichkeit der Darstellung dient; oft spreche ich in diesen Fällen lediglich von Migration. Da die große Mehrzahl der württembergischen Nordamerikamigranten zwischen 1830 und 1880 aber unter Aufgabe ihrer württembergischen Staatsbürgerschaft ihr Heimatland verlassen hat und die meisten von ihnen in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen haben, ist bei solchen dauerhaften transatlantischen Migrationen das Begriffspaar Auswanderung/Einwanderung präziser und wird deshalb von mir weiterhin verwendet. Dazu zählen neben Ortschroniken und Heimatbüchern drei vom Geschichtsverein für den Landkreis Tuttlingen veröffentlichte regionalgeschichtliche Auswanderungsstudien, die als Magisterarbeiten an den Universitäten Konstanz und Freiburg entstanden: Waibel, Heuberg; Krebber, Baar und Spaichingen; Julia Haack, Emmingen – Möhringen – Immendingen – Geisingen. Schmahl, VerpÀanzt, aber nicht entwurzelt. Faltin, Auswanderung aus der Pfalz. Im Gegensatz zu mehreren für das 18. Jahrhundert vorliegenden Studien, die südwestdeutsche Auswanderungsregionen mit der nordamerikanischen Zielregion verbinden – z. B. Häberlein, Vom Oberrhein zum Susquehanna und Fertig, Lokales Leben, atlantische Welt –, wurden bisher weder Baden noch Württemberg für im Sinne Thistlethwaites transnational angelegte Regionalstudien zur Nordamerikamigration im 19. Jahrhundert gewählt.
1.2 Regionale Eingrenzung und zeitlicher Rahmen
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Karte 1: Die Lage des Untersuchungsgebietes in Südwestdeutschland Quelle: Vom Verfasser erarbeitet anhand Borchert (Hg.), Geographische Landeskunde, 25 (Abb. 3: Oberämter und Amtsbezirke 1926–1934).
Zwar liegt für Württemberg eine beachtliche landesgeschichtliche Grundlagenarbeit vor15, die in der besten Tradition der sozialhistorischen Migrationsforschung das Wanderungsgeschehen nach Umfang, Verlaufsformen und Strukturen erforscht hat. Forschungsarbeiten über das 19. Jahrhundert mit grenzüberschreitendem Ansatz beziehen sich jedoch fast ausschließlich auf 15
Von Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland.
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1 Einleitung
andere Gegenden Deutschlands, besonders auf Nordwestdeutschland.16 Eingedenk der Tatsache, dass nach dem US-Zensus von 1870 mehr als vierzig Prozent der knapp 1,7 Millionen gezählten Deutschen aus Süddeutschland stammten17, wovon wiederum etwa jeder fünfte ein Württemberger war, befasst sich die vorliegende Arbeit mit einem noch weithin unbearbeiteten Acker auf dem weiten Forschungsfeld zur europäischen Nordamerikamigration. Der zeitliche Rahmen der Arbeit umfasst mit dem „langen“ 19. Jahrhundert zwischen dem Ende des Wiener Kongresses 1815 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 die zahlenmäßig intensivsten Perioden der württembergischen Nordamerikamigration. Innerhalb dieses Zeitraumes ist die Verfügbarkeit der wichtigsten und zugleich umfangreichsten Quellengattungen für die Untersuchung der Migrations- und Adaptationsprozesse der Nordamerikamigranten von der Schwäbischen Alb allerdings teilweise begrenzt. Die Auswanderungsverzeichnisse für die beiden untersuchten württembergischen Oberämter reichen bis 1882 (Tuttlingen) bzw. 1892 (Spaichingen).18 Familienregister der Kirchenbücher liegen für den Zeitraum von 1808 bis 1875 vor.19 Mikrover¿lmte, inzwischen über elektronische Indizes20 erschlossene Schiffspassagierlisten21 sind für die US-amerikanischen Einwanderungshäfen 16
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Unter den nordwestdeutschen Gebieten, die im Fokus von Studien zur transatlantischen Migration stehen, nimmt Westfalen den größten Raum ein; vgl. Kamphoefner, Westfalen in der Neuen Welt, Kammeier, Deutsche Amerikaauswanderung aus dem Altkreis Lübbecke, Riechmann, ‚Vivat Amerika‘ und Aengenvoort, Migration. Vgl. für Hannover Henkel, ‚Ein besseres Loos‘, für Braunschweig Pohlmann, Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig, für Bremen Schniedewind, Begrenzter Aufenthalt, für Ostfriesland Hoogstraat, Von Ostfriesland nach Amerika, für Schleswig-Holstein Dix/ Timm, Schleswig Holstein/Nordamerika. Nach dem Compendium of the Ninth Census (June 1, 1870), 394 f. Table XV: „German Population, distributed according to Place of Birth among the Principal States and Free Cities of Germany – 1870“ wurden 127.959 Württemberger, 204.119 Bayern, 153.366 Badener und 131.524 Migranten aus dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt unter 1.690.533 Deutschen gezählt, von denen 253.632 keine spezi¿sche Herkunftsangabe gemacht hatten. Damit stammten unter den 1.436.901 Einwanderern aus den benannten Einzelstaaten des Deutschen Bundes 616.968 [= 42,9 %] aus den vier genannten großen süddeutschen Staaten. Für das Oberamt Tuttlingen 1806–1882: Staatsarchiv Sigmaringen (im Folgenden: StAS), Bestand Wü 65/37, Bd. 1, Büschel (im Folgenden: Bü) 190–224. Für das Oberamt Spaichingen 1804–1892: Wü 65/32, Bü 35–57. Die Anlegung solcher Familienregister war in Württemberg seit 1808 staatlicherseits vorgeschrieben; 1876 traten zivile Personenstandsregister an ihre Stelle. www.ancestry.com: Online-Index für den U. S. Manuscript Census 1790–1930 sowie für die Passagierankünfte aller US-amerikanischer Einwanderungshäfen zwischen 1820 und 1945 (Philadelphia, New Orleans), 1820–1948 (Baltimore), 1820–1957 (New York). National Archives and Record Administration (im Folgenden: NARA), Record Group (im Folgenden: RG) 36 (Records of the Customs Of¿ce): M237 Passenger Lists of Vessels Arriving at New York, New York 1820–1897 (675 Mikro¿lmrollen); M255 Balti-
1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen
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seit 1820 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorhanden. Sie werden in dieser Arbeit durch Verknüpfungen mit Auswanderungsverzeichnissen und Kirchenbüchern im Zeitraum zwischen 1830 und 1914 ausgewertet. „Moderne“ bundesweite US-amerikanische Zensuslisten mit individuellen Angaben für jede im Haushalt lebende, freie Person22 liegen – mit einer Ausnahme23 – seit 1850 im Zehnjahresabstand vor, kanadische Zensuslisten ebenfalls im gleichen Intervall zwischen 1851 und 1901.24 Aufgrund dieser Quellenlage und der Fragestellung der Arbeit wird die Einwanderung von der Schwäbischen Alb in die Vereinigten Staaten von Amerika und nach Kanada durch systematische Verknüpfung der Angaben in den Zensuslisten der Volkszählungsjahre 1850/51, 1860/61, 1870/71 und 1880/81 mit den anderen bereits genannten Quellen erforscht. Für gemeinsame Siedlungsbildungen der Migranten wird die Untersuchung mitunter bis 1900 oder darüber hinaus fortgeführt. 1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen 1.3 METHODISCHE VORGEHENSWEISE, FORSCHUNGSSTAND25, BENUTZTE QUELLEN Mehr als fünf Jahrzehnte nach Thistlethwaites Appell, den ozeanischen „Salzwasser-Vorhang“ zu durchdringen, d. h. Migration als globalen grenzüberschreitenden Prozess zu verstehen und im Ganzen zu untersuchen26, eröffnen
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more 1820–1891 (50 Rollen); M259 New Orleans 1820–1902 (93 Rollen); M277 Boston 1820–1891 (115 Rollen); M425 Philadelphia 1800–1882 (108 Rollen). RG 85 (Records of the Immigration and Nationalization Service): T715 Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at New York, New York, 1897–1957 (8.892 Rollen). NARA, RG 29 (Records of the Bureau of the Census) M432 Manuscripts of the Seventh Census of the United States, 1850 (1.009 Mikro¿lmrollen); M653 Manuscripts of the Eighth Census of the United States, 1860 (1.438 Rollen); M593 Manuscripts of the Ninth Census of the United States, 1870 (1.761 Rollen); T9 Manuscripts of the Tenth Census of the United States, 1880 (1.454 Rollen). Die Manuscripts of the Eleventh Census of the U. S., 1890 waren durch Löscharbeiten nach einem Brand im US-Handelsministerium 1921 schwer beschädigt worden und wurden im Anschluss daran vernichtet. US-Zensuslisten unterliegen einer 72-jährigen Schutzfrist für Personendaten, d. h. sie sind momentan bis 1940 veröffentlicht. Der letzte veröffentlichte kanadische Zensus ist der von 1911. Zum Forschungsstand der deutschen Nordamerikamigration siehe Helbich, German Research. Zum Stand der internationalen Forschung zur transatlantischen Migration im 19. Jahrhundert siehe das neue Schlusskapitel „‚Westfalen in der Neuen Welt‘ und die neuere Forschung“ in der zweiten erweiterten AuÀage von Walter D. Kamphoefner, Westfalen in der Neuen Welt. Auf aktuelle Forschungsfragen wird in der vorliegenden Arbeit an entsprechender Stelle in den Einzelkapiteln und in den Schlussbemerkungen Bezug genommen. Vortrag „Migration from Europe Overseas in the Nineteenth and Twentieth Centuries“, gehalten auf dem XI. Internationalen Historikerkongress in Stockholm 1960, abgedruckt und mit einem Postscriptum versehen in: Vecoli/Sinke, European Migrations,
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1 Einleitung
sich durch die inzwischen erfolgte EDV-Aufbereitung wichtiger Quellen neue Möglichkeiten für die Erforschung der europäischen Massenmigration nach Nordamerika, dieses Konzept innovativ und detailliert umzusetzen. Untersuchungen, die auf der Verknüpfung von Personendaten aus dem Aus- und Einwanderungsland beruhen, betrachteten stets Migranten aus einer eng begrenzten europäischen Region in ein oder zwei in der Regel ländlichen Siedlungsgebieten Nordamerikas, womit sie jedoch nur den kleineren Teil der jeweiligen Migrantenpopulation erfassten.27 So wegweisend diese Studien sind, vernachlässigen sie aufgrund der seinerzeit unvollkommenen Hilfsmittel zwangsläu¿g die „stille Mehrheit“ derjenigen Migranten, die sich abseits der untersuchten Siedlungsgebiete niederließen. Dies lässt beispielsweise Fragen hinsichtlich der Repräsentativität der Kettenwanderung und der darauf basierenden Aussagen über Siedlungsmuster sowie sozioökonomische und kulturelle Adaptationen der Migranten offen. Die dichtere Datenbasis ermöglicht es heute, die Bestimmungsfaktoren räumlicher und sozialer Mobilität und damit auch Umfang und Bedeutung von Kettenwanderung und Siedlungsbildung präziser herauszuarbeiten und zu analysieren.28 Die digitale Revolution verbesserte die Durchführbarkeit von mikrohistorischen Verknüpfungsstudien29, die die Erforschung der Ansiedlungsmuster einer Migrantenpopulation aus einem kleinen Untersuchungsraum im nationalen Rahmen des Einwanderungslandes möglich machten. Die transatlanti-
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17–57. Zitat: „there still appears to be a salt-water curtain inhibiting understanding of European origins“ (S. 20). Drei transnationale Studien, die auf in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an amerikanischen Universitäten entstandenen Dissertationen basieren, verdienen hier besondere Beachtung: Kamphoefner, The Westfalians [dt.: Westfalen in der Neuen Welt]; Ostergren, A Community Transplanted; Gjerde, From Peasants to Farmers. Den Ansatz, Migration im Lichte breitangelegter transatlantischer Verknüpfungsstudien zu reevaluieren, verfolgt auch Kamphoefner, zuletzt in seinem auf der XV. Internationalen Tagung Historischer Geographen in Prag am 9. August 2012 gehaltenen Vortrag: „Chain Migration, Locational Factors, and Transatlantic Social Mobility of German Immigrants: A Nationwide Perspective.“ Hier sind insbesondere zwei von der akademischen Welt bislang wenig rezipierte, jedoch detailreiche und sorgfältig recherchierte transatlantische linkage-Studien zu nennen, denen gemeinsam ist, in einem kleinen Untersuchungsraum möglichst viele Nordamerikamigranten zu identi¿zieren und deren Siedlungsorte in Amerika über ZensusListen aus¿ndig zu machen. Der Genealoge Udo Thörner, Venne in Amerika, hat auf Basis einzelner Familien die gesamte Nordamerikamigration aus einem Kirchspiel im Osnabrücker Raum untersucht und die Siedlungsbildung dieser Migranten in Nordamerika skizziert. Bei Michael-CaÀisch, Schamser Auswanderung, wurden auf einer sehr gesättigten Quellenbasis, die mehr als hundert Auswandererbriefe umfasst, die transozeanischen Migrations- und Siedlungsbildungsprozesse der Bevölkerung einer Talschaft aus dem schweizerischen Graubünden untersucht. Gegenwärtig arbeitet Kamphoefner an einer transatlantic linkage study über das Siedlungsmuster Osnabrücker Migranten in den gesamten USA im 19. Jahrhundert.
1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen
17
sche historische Migrationsforschung verlagerte ihren Schwerpunkt darauf, Migration in einen breiteren Kontext zu setzen. Einerseits wuchs die Anzahl divergenter Studien, die die Migrantenpopulation eines Herkunftsgebietes an zwei verschiedene Zielgebiete verfolgte und analysierte30, andererseits entstanden weitere Arbeiten, die die Anpassung von Einwanderern unterschiedlicher Ethnien in einem nationalen Bezugsrahmen erforschten.31 Darüber hinaus wurde in der neueren Forschung das Konzept von Migrationssystemen als transnationale Kommunikations- und Aktionsräume von der regionalen32 über die transatlantische33 konsequent auf die globale34 Ebene ausgeweitet. In der aktuellen Forschung wird die Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis der Migrationstypen Auswanderung, Einwanderung und Binnenwanderung wieder aufgegriffen.35 Für die induktiv-empirische Methode der vorliegenden Arbeit sind vier Hauptquellen beiderseits des Nordatlantiks wichtig und ergiebig, die im Folgenden genauer vorgestellt werden, wobei erst deren gemeinsame Nutzung bei einem großen Teil der Migranten die Verknüpfung von Personendaten aus der Herkunftsregion mit denen des Einwanderungskontinents ermöglicht, wie das Schema der Abb. 1 zeigt. In Nordamerika bilden die Zensuslisten der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanadas die erste Hauptquelle. Mit der Erschließung der seit 1790 auf bundesstaatlicher Ebene im Zehnjahresabstand angelegten US-amerikanischen Volkszählungslisten (U. S. Manuscript Census)36 durch einen bundesweiten elektronischen Personenindex37 lässt sich heute erstmals theoretisch 30 31
32 33 34 35
36 37
Hier sei auf Baily, Immigrants, hingewiesen – oder aktuell auf McCook, Borders of Integration. Hierzu in sozial- bzw. kulturgeschichtlicher Perspektive Doerries, Iren und Deutsche. Unter wirtschaftshistorischem Blickwinkel und im nationalen Rahmen des Einwanderungslandes steht der Vergleich von deutschen, irischen und englischen Einwanderern von Ferrie, Yankeys Now. Exemplarisch für die Ansätze stehen die Arbeiten von Lucassen, Migrant Labour, – oder neuer, die seines Schülers van Lottum, Across the North Sea. Nugent, Crossings, setzt die wichtigsten Herkunfts- und Zielländer der transatlantischen Wanderungen miteinander in Beziehung. Proponent eines systemischen Ansatzes ist auch Hoerder, Migration in the Atlantic Economies. Richtungsweisend Lucassen/Lucassen/Manning, Migration History. Nach der klassischen Studie von Klaus J. Bade, „Massenwanderung und Arbeitsmarkt in deutschen Nordosten von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg. Überseeische Auswanderung, interne Abwanderung und kontinentale Zuwanderung“, neu abgedruckt in Bade, Migrationsforschung, 89–156, hat vor allem Steidl u. a. (Hg.), European Mobility, diesen Forschungsansatz wiederentdeckt. Der Auftrag zu einer nationalen Bevölkerungszählung im zehnjährigen Turnus zwecks Wahlkreiseinteilung für das Repräsentantenhaus ist seit 1787 in Artikel I, Absatz 2 der amerikanischen Verfassung festgeschrieben. Ancestry (www.ancestry.com) bietet seit 2001 den gesamten frei verfügbaren U. S. Manuscript Census (1790–1930) digitalisiert im Internet an. Dazu werden fortlaufend prä-
berufliche Hauptbeschäftigung aller Personen über 15 Jahre Immobilien- [USA 1850–1870] und Mobiliarvermögen [USA 1860–1870]) Fam ilien- und H aushaltsstruktur Kirchenzugehörigkeit [nur in Kanada angegeben]
Abb. 1: Schema der Verknüpfung von Personendaten anhand der Hauptquellen zur württembergischen Nordamerikamigration
Indikatoren sozioökonomischer Mobilität: Erlernter bzw. ausgeübter Beruf Beruf (meistens nur nach Sektor) Ausgef. Vermögen; öffentl. Unterstützung Kajüte oder Zwischendeck Fam ilienstand W anderungsart (einzeln, Fam ilie) Konfession —
Abfahrtshafen/Ankunftshafen
Aufenthaltsort am Zensustag (Bundesstaat; Stadt/Land; Haus/Etagenwohnung)
2 054 Migranten 4 804 in Amerika geborene Kinder
Zensus1880/81
Indikatoren räumlicher Mobilität: Heimatgemeinde (Stadt/Dorf)
2 037 Migranten 3 242 in Amerika geborene Kinder
Zensus 1870/71
Name Alter am Zensustag ggf. im Haushalt lebende, miteingewanderte Angehörige Geburtsland (Deutschland oder Württemberg) ungefähres Einwanderungsdatum, gefolgert aus dem Alter der in Amerika geborenen Kinder
1 428 Migranten 1 251 in Amerika geborene Kinder
Zensus 1860/61
Personenidentifizierung über Vergleiche von: Name Name Geburtsdatum Alter am Einreisetag ggf. mitauswandernde Angehörige ggf. mitreisende Angehörige Heimatgemeinde (Staatsangehörigkeit) Herkunftsland (ggf. Wohnort) Datum der Auswanderungsgenehmigung Tag der Ankunft in Amerika
1 972 Migranten aus 20 Kirchenbüchern, wovon 886 mit dem Zensus 1850–1880 verknüpft werden konnten
Kirchenbücher
5 749 Passagierankünfte 530 Migranten zwischen 1830 und 1914 130 in Amerika [davon 2 983 in W ürttemberg geborene Kinder amtlich verzeichnete Auswanderer, 1 341 aus den Kirchenbüchern ermittelte Migranten und 1 425 Migranten, deren Herkunftsort aus den Schiffspassagierlisten hervorgeht]
3 824 Personen aus 2 148 Auswanderungsfällen zwischen 1830 und 1880
Zensus 1850/51
Schiffspassagierlisten
Auswanderungsverzeichnisse
Einwanderungshalbkontinent Nordamerika (USA und Kanada) [ca. 1 000 Orte in 430 Counties in 37 Bundesstaaten der USA und 34 Orte in 14 Distrikten in 2 Provinzen Kanadas]
Seehäfen Europa / Nordamerika [15 Häfen / 7 Häfen]
Auswanderungsgebiet 2 württembergische Oberämter [44 Gemeinden, darunter 4 Städte und 40 Dörfer]
18 1 Einleitung
1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen
19
ab 185038 der Aufenthaltsort eines jeden gezählten freien Individuums in den Vereinigten Staaten von Amerika am Stichtag des Zensus bestimmen. Dasselbe gilt für Kanada seit 1851. Praktisch stößt der Zensus aber da an seine Grenzen, wo einzelne Vertreter hoch mobil und/oder prekär lebender, d. h. auch kürzlich eingewanderter Bevölkerungsschichten, gar nicht gezählt oder aber einzelne Personen – wie in fremden Haushalten Arbeitende, Kostgänger oder auch Anstaltsinsassen – unter Umständen doppelt verzeichnet wurden. Die Zensuslisten beider Staaten enthalten seit 1850/51 jeweils detaillierte Angaben zu Familien-, Berufs- und Besitzverhältnissen (in Kanada zusätzlich zur Konfession) einer Person, die es durch die Verknüpfung mit Personenangaben aus den anderen Hauptquellen – den württembergischen Auswanderungsverzeichnissen und Kirchenbüchern sowie den Passagierlisten der in den Häfen der Vereinigten Staaten aus dem Ausland eingetroffenen Schiffe (kurz: Schiffspassagierlisten) – möglich machen, Migrationspfade und Lebensweltwechsel einer gesamten Migrantenpopulation darzustellen und zu analysieren. Diese auch als individual-level tracing39 oder individual record linkage40 bezeichnete Methode verknüpft die in diesen Hauptquellen enthaltenen Personendaten anhand individueller Merkmale wie Name, Alter (bei Migration im Familienverband ggf. auch Namen und Alter der mitausgewanderten Angehörigen), Geburtsland bzw. Heimatgemeinde sowie Aus- bzw. Einwanderungsdatum miteinander. Da der nordamerikanische Bevölkerungszensus aufgrund seiner zehnjährigen Intervalle nur punktuell Einblicke in die Lebensverhältnisse gewährt, ist die Einwanderungsgeschichte der Migranten von der Schwäbischen Alb im zeitlichen Längsschnitt nur unter Hinzuziehung zusätzlichen Quellenmaterials auf der Einwanderungsseite umfassender darstellbar. Dazu gehören in den Vereinigten Staaten von Amerika neben staatlichen Geburts-, Heirats- und Sterberegistern auch entsprechende Kirchenakten sowie vor allem die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts landesweit aufgekommenen Lokalgeschichten (county histories) mit ihren biographischen Abschnitten, in denen 82 Biographien von Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet gefunden werden konnten.41
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39 40 41
zisierte und mit variablen Suchfunktionen ausgestattete Online-Indizes ins Netz gestellt, die zudem den Index mit der entsprechenden digitalisierten Abbildung der jeweiligen Zensusliste verbinden. Zwischen 1790 und 1840 war im Zensus lediglich der Haushaltungsvorstand oder das Familienoberhaupt namentlich genannt, dazu Anzahl, Altersklasse und Geschlecht, aber nicht die Namen der im Haushalt lebenden Personen, was eine genaue Identi¿kation erschwert. Kamphoefner, Problems and Possibilities. Newcombe, Handbook of Record Linkage. Zum Quellenwert der Biographien in den county histories: Für die Aufnahme in eine Biographie musste man durch eine Subskription bezahlen. Die meisten Biographien in
20
1 Einleitung
Darüber hinaus wird für Migranten, die sich in Nordamerika in gemeinsamen ländlichen und städtischen Siedlungen niederließen, auf weiteres Quellenmaterial zurückgegriffen, das die Entstehung solcher Siedlungen, aber auch die Lebensweltwechsel – besonders im Hinblick auf die sozioökonomische Entwicklung – der Einwanderer von der Schwäbischen Alb verdeutlicht. Bei Siedlungen auf dem Land sind dies Grundbesitzkarten (township maps) und den allgemeinen Bevölkerungszensus in Form von detaillierten Agrarverzeichnissen bzw. Erntestatistiken für Farmer ergänzenden agricultural census.42 Für die Erforschung räumlicher und sozialer Mobilität im städtischen Nordamerika bilden die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jährlich neu aufgelegten Adressbücher (city directories), welche die erwachsenen Einwohner einer Stadt mit Namen, Adresse, Beruf und Angaben zum Arbeitsplatz aufführen, eine exzellente Quelle. Für Eigentümer nichtlandwirtschaftlicher Betriebe mit einer Jahresproduktion im Wert von mehr als fünfhundert Dollar existieren Industriezählungen (industrial censuses)43. Den Wert eines Betriebes und seine Bonität, aber auch das Geschäftsgebaren bis hin zu persönlichen Eigenschaften des Eigentümers („failed once, will fail again“) schätzte die
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43
den county histories haben deshalb af¿rmativen Charakter und sind unkritische Erfolgsgeschichten. Die brauchbarsten Teile sind die Angaben über die zeitliche und örtliche Abfolge des Einwanderungsverlaufes, Berufswechsel, Teilnahme am öffentlichen Leben sowie die Zugehörigkeit zu Kirchen, gesellschaftlichen und politischen Vereinigungen. County histories neigen immer dazu, den Pioniercharakter einer Siedlung herauszustreichen. Für die südwestdeutschen Einwanderer bedeutet dies, dass sie in den Staaten, deren Besiedlungsgeschichte mit den Hochphasen südwestdeutscher Einwanderung wie z. B. zur Mitte des 19. Jahrhunderts zeitlich zusammen¿el (Oberer Mittelwesten, Präriestaaten, Westen), auch bei im Landesvergleich bescheideneren Karrieren eher genannt wurden als in Staaten, in denen sie eine spätere Siedlergeneration darstellten (Neuengland oder Mittelatlantikstaaten). „Pionierbiographien“ trug der Verfasser aus 18 US-Bundesstaaten zusammen. Statistisch war die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person zu den distinguierten Bürgern eines County zählte, deren Biographie in einer county history verewigt wurde, um so größer, je weniger Einwohner diese Counties hatten. NARA, RG 29 (Records of the Bureau of the Census). Hier verwendet: Manuscripts of the 1850, 1860, 1870, 1880 U. S. Agricultural Census. Diese Agrarverzeichnisse, die zwischen 1850 und 1880 als Teil des Zensus angelegt wurden, enthalten auf der Basis einzelner Farmen im Wert von über hundert Dollar (1850) bzw. über fünfhundert Dollar (1870) Angaben über die Größe des kultivierten bzw. unkultivierten Landes, den Geldwert und die Maschinenausstattung des Betriebs, den Viehbestand, die landwirtschaftliche Jahresproduktion sowie detaillierte Ernteaufstellungen. 1880 wurden die Listen um weitere Rubriken erweitert, so dass für jeden Getreideertrag auch die AnbauÀächen angegeben sind. NARA, RG 29. Hier verwendet: Manuscripts of the 1850, 1860, 1870, 1880 U. S. Industrial Census. Diese Verzeichnisse der Industrieproduktion, die zwischen 1850 und 1880 als Teil des Zensus angelegt wurden, geben auf der Basis einzelner Betriebe im Wert von über fünfhundert Dollar den Typus des Betriebes, seine Produkte, das investierte Kapital sowie Menge und Art der Rohstoffe, Art der Antriebskraft und Anzahl der Angestellten an.
1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen
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Rating-Agentur R. J. Dun & Co. seit Mitte der 1860er Jahre halbjährlich ein.44 Diese ergänzenden Quellen bieten zusätzliche Einblicke in die sozioökonomische Lebenswelt derjenigen Einwanderer, die in Amerika zu Geschäftsleuten wurden. Eine ergiebige sozialhistorische Quellengattung, die zusätzlichen biographischen Kontext liefert, bilden die aus verschiedenen Archiven, aus Privatbesitz, Publikationen und dem Internet zusammengetragenen 73 Auswandererbriefe45, die aus Nordamerika in die alte Heimat gesandt wurden und meist im Zusammenhang mit Erbschaftsangelegenheiten entstanden. Inhaltlich liegen die Schwerpunkte der Briefe auf den Schilderungen der Arbeitsbedingungen und des Verdiensts des Schreibers sowie von Preisen und Kaufkraft im Einwanderungsland. Dazu kommen zuweilen Beobachtungen über Politik, Gesellschaft, Kultur und Religion in Amerika. Etwa jeder dritte Brief enthält Schilderungen über den Wanderungsverlauf und ggf. die gemeinsame Siedlungsbildung („wir sind jetzt unser fünf von Wurmlingen hier“46) oder Beschreibungen des Lebensweltwechsels („Es ist hier nicht wie Deutschland, hier heißt es helf dir selber.“47) Sie dokumentieren und illustrieren damit den individuellen Einwanderungs- und Adaptationsprozess.48 Für potentielle Migranten waren diese Briefe die verlässlichsten Informationsquellen über die Lebensbedingungen in Amerika. Sie spielten daher für das Zustandekommen 44 45
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R. G. Dun & Co. Collection, Baker Library Historical Collections, Harvard Business School. Es handelt sich hierbei um Manuskripte, welche die Grundlage der veröffentlichten formelhaften Bewertungen der einzelnen Betriebe bildeten. Es handelt sich hierbei um zwölf Briefserien mit zusammen 46 Briefen und weitere 27 Einzelbriefe, die zwischen 1848 und 1907 von Migranten aus Nordamerika in das Untersuchungsgebiet geschickt worden sind. Ein Zeitungsaufruf des Kreisarchivs Tuttlingen, für die vorliegende Arbeit Auswandererbriefe aus Privatbesitz zur Verfügung zu stellen, hatte kaum Erfolg. Indes wurden dem Verfasser 52 unveröffentlichte Briefe aus Nordamerika von dem Gemeindearchiv Aixheim, dem Gewerbemuseum Spaichingen, dem Stadtarchiv Trossingen, dem Hohner-Firmenarchiv an der Universität Hohenheim und dem Stadtarchiv Villingen-Schwenningen zur Verfügung gestellt. Bereits publiziert lagen 21 Auswandererbriefe vor, angefangen vom Abdruck eines tendenziell auswanderungsfreundlichen Briefes im Heuberger Boten von 1849 über die Veröffentlichungen zweier Briefserien in den Tuttlinger Heimatblättern 1964 und 1994 bis hin zu einer privaten Familiengeschichte im Internet: www.genealogy.com/users/g/w/i/Sandy-Gwin/ FILE/-0001page.html (kontaktiert am 8.1.2009), der die englische Übersetzung eines Auswandererbriefes von 1849 aus Muscatine, Iowa, nach Tuttlingen beigefügt ist. Brief des Johannes Butsch vom 19. März 1860 aus Schenectady, New York, an seine Eltern und Geschwister in Wurmlingen, Oberamt Tuttlingen (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 202). Ebd. Wolfgang Helbich, Begründer der Bochumer Auswandererbriefsammlung, warnt vor überhöhten Erwartungen, die viele Forscher an den Auswandererbrief als Quelle stellen. Zu Wert und Grenzen der Nutzung von Auswandererbriefen als sozialhistorische Quelle vgl. Helbich, Rheinische Auswandererbriefe. Zum Problemhorizont der Auswertung persönlicher Korrespondenz in der ethnic history siehe Gerber, Epistolary Ethics.
22
1 Einleitung
von Kettenwanderungen eine wichtige Rolle. Unter Zuhilfenahme solcher Briefe als qualitative sozialhistorische Quelle lassen sich die makroperspektivischen Daten, die aus den quanti¿zierenden Quellen wie beispielsweise den württembergischen Auswanderungsverzeichnissen und den nordamerikanischen Zensuslisten gewonnen werden, nach Einordnung in den historischen und biographischen Kontext durch weitere Details ergänzen. Die wichtigste Quellengattung für die zeitlich exakte, personenbezogene Erfassung der europäischen Einwanderung nach Nordamerika im Zeitalter der transatlantischen Massenmigration sind die Passagierlisten49 der Schiffe, die aus dem Ausland kommend in Häfen der Vereinigten Staaten von Amerika einliefen. Die Kapitäne waren seit 1820 verpÀichtet, derartige Listen anzulegen.50 Sie verzeichneten neben Abfahrts- und Ankunftshafen sowie dem Ankunftsdatum des Schiffes für jeden Passagier idealerweise Name, Vorname, Geschlecht, Alter, Beruf, Herkunfts- und Zielland. Tatsächlich sind die Passagierlisten der Segelschiffe, die von ausländischen Häfen wie Le Havre, Liverpool, London oder Antwerpen in See stachen und die gerade in der Hochphase der württembergischen Nordamerikamigration am häu¿gsten von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet genutzt wurden, oft ungenau. Aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten oder der schieren Masse der Passagiere wurden nicht selten Familiennamen verballhornt, Vornamen lediglich mit dem Initial abgekürzt, Berufsangaben („farmer“) und Herkunftsland („Germany“) nur sehr generisch verzeichnet. Nichtsdestotrotz dokumentieren Schiffspassagierlisten nicht nur Wege, Umfang und zeitlichen Verlauf der transatlantischen Migration, sondern lassen auch Rückschlüsse auf die Sozialpro¿le der Migranten (ermittelt aus Alter, Geschlecht und Beruf) und die Wanderungsarten (Einzel-, Familien-, Gruppen-, Ketten-, Pendel- oder Rückwanderung)
49
50
Schiffspassagierlisten lassen sich nach Art ihrer Entstehung in zwei verschiedene Kategorien einteilen. Schon im europäischen Abfahrtshafen wurden exakte Passagierabfahrtslisten angelegt, die neben Namen, Alter, Beruf, Herkunfts- und Zielland oft auch die Heimatgemeinde des Passagiers verzeichneten. Passagierabfahrtslisten liegen lückenlos nur für Hamburg zwischen 1850 und 1913 vor, für Antwerpen nur für 1855, für Le Havre und die englischen Häfen nicht mehr. Auch die Bremer Abfahrtslisten sind noch im 19. Jahrhundert Aktenausscheidungen zum Opfer gefallen. Passagierankunftslisten waren im Zeitalter der Segelschifffahrt oft ungenaue Abschriften der Abfahrtslisten, bei denen die Heimatgemeinde des Passagiers unerwähnt blieb. Passagierankunftslisten der Dampfschiffe waren wegen der besseren Organisation des transatlantischen Linienverkehrs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dagegen oft exakter und enthielten häu¿ger Herkunftsangaben der Passagiere. Vgl. das Gesetz vom 2. März 1819, wonach ab dem 1. Januar 1820 die VerpÀichtung bestand, der US-amerikanischen Zollbehörde eine Passagierliste auszuhändigen. Diese Listen waren die Grundlage von Statistiken und Berichten, die quartalsweise zusammen mit den Abschriften dieser Listen an das Außenministerium weitergeleitet werden mussten. Von dort aus wurden sie dem Kongress vorgelegt.
1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen
23
zu.51 Dadurch vermitteln sie ein kompletteres und akkurateres Bild über demographische, ökonomische und soziale Aspekte der transatlantischen Massenmigration als staatliche Aus- und Einwanderungsstatistiken. In ihnen wurden alle in den Vereinigten Staaten von Amerika eintreffenden Passagiere – seien es zur Ansiedlung entschlossene Migranten, temporäre Arbeitswanderer, Geschäftsreisende, Missionare oder Besucher – unabhängig vom Zweck ihrer Reise und der Dauer des geplanten Aufenthalts vermerkt. Derartige personenbezogene Daten aus den Schiffspassagierlisten erhöhen, sofern sie mit Angaben aus Auswanderungsverzeichnissen oder Zensuslisten verknüpfbar sind, die Möglichkeit, Wanderungsverläufe und Siedlungsbildungen fundiert zu untersuchen. Wichtigste Quelle auf der Auswanderungsseite und damit Grundlage für die Erfassung der amtlichen Nordamerikamigration aus dem Untersuchungsgebiet sind die oberamtlich angelegten Auswanderungsakten, darunter vor allem die in Listenform geführten Auswanderungsverzeichnisse, in denen die auf Gemeindebasis registrierten Auswanderungsfälle jahrweise eingetragen wurden. Sie enthalten bei Einzelauswanderern neben dem Datum des Auswanderungsantrages und dem Auswanderungsziel (zumeist allerdings nur der stereotype Eintrag „Amerika“) Angaben über Heimatgemeinde, Name, Alter, Familienstand, Konfession, Beruf, mitgeführtes Vermögen und ggf. aus öffentlichen Kassen erhaltene ¿nanzielle Auswanderungsunterstützung. Bei Auswanderungen im Familienverband beziehen sich solche Angaben nur auf das Familienoberhaupt, nennen aber zusätzlich noch Anzahl und oft auch Namen und Alter aller mitauswandernden Angehörigen.52 Tab. 1 gibt die Verknüpfungsraten von Personendaten aus württembergischen Auswanderungsverzeichnissen und nordamerikanischen Zensuslisten zwischen 1850 und 1880 an. Hierbei wird deutlich, dass ausgewanderte Familien aufgrund der spezi¿schen Reihenfolge von Vornamen, Altersangaben und Geburtsstaaten mit größerer Wahrscheinlichkeit erfasst und daher wesentlich 51
52
Zu den Begründern des Forschungsansatzes, anhand von Schiffspassagierlisten die transatlantische Massenmigration zu dokumentieren und zu analysieren, zählen die schwedischen Forscher Harald Runblom, Hans Norman, Sune Akerman und Lars Olsson. In England war es Charlotte Erickson, Passenger Lists, und Leaving England, die Stichproben britischer Auswanderer in den Passagierlisten untersuchte. Robert Swierenga, Faith and Family, war der erste, der eine gesamte nationale Migrantenpopulation (Niederländer) in den Passagierlisten untersuchte. Dieser Ansatz wurde von Ira Glazier, Germans to America, auf Iren, Deutsche, Italiener und Migranten aus dem russischen Zarenreich ausgeweitet. In Deutschland wurde im Umfeld von Günter Moltmann in Hamburg, Dirk Hoerder in Bremen und Wolfgang Helbich in Bochum mit Passagierlisten gearbeitet. Während die Auswanderungsverzeichnisse für 29 Gemeinden der östlichen Baar, der Baaralb, der Oberen Donau und des südwestlichen Albvorlandes vom Verfasser exzerpiert wurden, konnte für 15 Gemeinden des Heubergs auf die Auswertung bei Waibel, Heuberg, zurückgegriffen werden.
24
1 Einleitung
häu¿ger und zweifelsfreier mit den Zensusangaben verknüpft werden konnten als einzeln ausgewanderte Personen, und dass sich Männer eher als Frauen wieder¿nden ließen.53 Tab. 1: Verknüpfungsraten von Personendaten aus württembergischen Auswanderungsverzeichnissen 1830–1880 und nordamerikanischen Zensuslisten 1850–1880
Anzahl der Auswanderungsfälle
Anzahl der ausgewanderten Personen
% der in mindestens einem Zensus wiedergefundenen Auswanderungsfälle
% der davon vorliegenden Berufsangaben
Auswanderung von Verheirateten oder Verwitweten im Familienverband … mit männlichem Vorstand
389
1.853
73,0
95,4
… mit weiblichem Vorstand
52
139
46,2
38,5
Auswanderung von ledigen Einzelpersonen, alleinreisend oder mit Kindern … ledige Männer, alleinreisend
1.337
1.337
43,6
84,4
… ledige Frauen, alleinreisend
284
284
17,6
0
… ledige Frauen mit Kindern
86
211
10,5
0
2.148
3.824
SUMME
Quelle: Ausgezählt und verknüpft vom Verfasser anhand von Auswanderungsverzeichnissen (StAS) und den Manuscripts of the U. S. Population Census.
Auf der Auswanderungsseite wurden außerdem die oft umfangreichen, innerhalb eines Oberamtes alphabetisch, nach Auswanderungsjahren oder nach Gemeinden geordneten Einzelakten durchgesehen. Dies war deshalb lohnend, weil etwa jeder zehnte Auswanderungsantrag rückwirkend, z. B. über ein württembergisches Konsulat in den Vereinigten Staaten von Amerika, gestellt wurde und Rückschlüsse auf den Aufenthaltsort des betreffenden Migranten 53
Unter Einzelauswanderern ließen sich männliche Auswanderer aufgrund der in etwa neunzig Prozent der Fälle aus Württemberg bekannten Berufsangaben erheblich besser im Zensus wieder¿nden als weibliche, was zudem auf den Namenswechsel ledig ausgewanderter Frauen nach der Heirat im Einwanderungsland zurückzuführen ist. Durch die Wiederverheiratungsmöglichkeit von im Familienverband ausgewanderten Witwen war die Verknüpfungsrate bei diesen ebenfalls kleiner als bei den gemeinsam mit Ehefrau und Kindern ausgewanderten Familienvätern.
1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen
25
in Nordamerika zulässt. Oftmals war von Familien zunächst nur ein Mitglied, zumeist der Vater oder ein älterer Sohn, nach Amerika vorausgegangen und forderte die übrigen Familienmitglieder per Brief zum Nachkommen auf. In einigen solchen Kettenwanderungsfällen lagen dem Auswanderungsantrag der Restfamilie Briefe aus Amerika bei. Weitere Hinweise auf die Aufenthaltsorte der württembergischen Nordamerikamigranten fanden sich auch im Aktenbüschel „Vermögensausfolge an Deutschamerikaner“54 der staatlichen Auswanderungsakten, in denen verzeichnet ist, welche Migranten sich Geld – zumeist aus Erbschaften – nach Amerika schicken ließen. Größter Nachteil der amtlichen Auswanderungsakten ist, dass alle grenzüberschreitenden Wanderungsprozesse, die nicht durch die Aufgabe der Staatsbürgerschaft legitimiert wurden, nicht dokumentiert wurden. Wer unter Beibehaltung der württembergischen Staatsbürgerschaft nach Amerika ging, fand keinen Niederschlag in diesem Aktenbestand, weshalb es nötig ist, zur Erfassung der gesamten Migrantenpopulation zusätzliche Quellengattungen hinzuzuziehen. Neben Gemeinden und Oberämtern vermerkten auch die meisten württembergischen Pfarrämter im 19. Jahrhundert Migrationsfälle in den Familienregistern der Kirchenbücher55. Hier wurden neben amtlich registrierten Auswanderungen vielfach auch Wegzüge nach Amerika ohne das Einholen einer Auswanderungsgenehmigung – die sogenannten „heimlichen“ oder „illegalen“ Auswanderungen – notiert und zuweilen durch zusätzliche Angaben („Abiit, excessit, erupit, evasit nach Nordamerika familia relinquens et debita“)56 ergänzt. Auf solche pfarramtlichen Familienregister bzw. auf deren Auswertungen konnte in 25 Fällen zurückgegriffen werden.57 Die namentliche Erfassung von Migranten, die in den staatlichen Auswanderungsakten nicht registriert waren, und deren familiäre Zuordnung waren daher auf der Auswanderungsseite in vielen Fällen erst anhand der Familienregister der 54 55 56
57
StAS Wü 65/32, Bü 38. Die in Württemberg zwischen 1808 und 1875 angelegten Familienregister erleichtern es dem genealogisch arbeitenden Migrationsforscher, die familiären Zusammenhänge zwischen einzelnen Migranten einer Gemeinde herzustellen. Eintrag von Pfarrer Eyth im Frittlinger Kirchenbuch über den 1853 entwichenen Anton Wenzler. Dieser Hinweis stammt von Ulrich Fiedler, Frittlingen, der dem Verfasser freundlicherweise seine umfangreiche Materialsammlung zu seinem Aufsatz zur Bevölkerungsgeschichte Frittlingens überlassen hat. Die Familienregister der vier evangelischen Baardörfer Trossingen, Talheim, Hausen ob Verena und Aldingen wurden vom Verfasser auf „heimliche Auswanderer“ durchgesehen. Für sechs Heubergdörfer (Böttingen, Deilingen, Gosheim, Reichenbach, Renquishausen und Wehingen) konnte sich der Verfasser auf die Exzerpte der amerikanischen Genealogin Karen Glass stützen, deren Vorfahren aus Wehingen stammen. Für Aixheim und Neuhausen ob Eck liegen Ortssippenbücher vor. Für weitere 13 Orte (Bubsheim, Egesheim, Kolbingen, Obernheim, Spaichingen, Frittlingen, Ratshausen, Schura, Durchhausen, Fridingen, Mühlheim, Stetten, Irndorf) konnte auf von Lokalhistorikern aus den Kirchenbüchern angefertigte Listen „heimlicher Auswanderer“ zurückgegriffen werden.
26
1 Einleitung
Kirchenbücher möglich. Verglichen mit den staatlichen Auswanderungsakten haben diese allerdings auch Nachteile. So bleibt das Wegzugsjahr einer Person oft unklar. Ebenso fehlen bei Unverheirateten stets die Berufsangaben, so dass sich ihr Sozialpro¿l lediglich aus dem Beruf des Vaters erschließen lässt. Die Heranziehung der Kirchenbücher zur möglichst vollständigen Erfassung einer Migrantengesamtheit ist jedoch notwendig, weil es für die Erforschung von Kettenwanderungen unabdingbar ist, die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Migranten zu kennen. Außerdem spielten Migranten, die keine „of¿ziellen Auswanderer“ waren, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anteilmäßig in der Nordamerikamigration aus dem Untersuchungsgebiet eine immer größere Rolle. Ein Abgleich der Schiffspassagierlisten, auf denen der letzte Wohnort des Migranten angegeben ist, mit den württembergischen Auswanderungsverzeichnissen zeigt exemplarisch, dass auf jeden amtlich registrierten Auswanderer aus dem Untersuchungsgebiet mit dem Ziel Nordamerika zwischen den 1840er und den 1870er Jahren etwa zwei und in den 1880er und 1890er Jahren mehr als vier sogenannte „heimliche Auswanderer“ kamen.58 Ihren Anteil zu ignorieren würde daher bedeuten, nur einen kleinen Teilausschnitt der württembergischen Nordamerikamigration zu erforschen. Um die Wanderungs- und Anpassungsprozesse in ihrer Komplexität zu erfassen, müssen die sozialen, wirtschaftlichen, demographischen, politischen und religiösen Bedingungen nicht nur in Nordamerika analysiert werden, sondern auch im württembergischen Untersuchungsgebiet. Einblicke in das lokale Geschehen in den Gemeinden des Untersuchungsgebietes im 19. Jahrhundert bieten vierzig Heimatbücher bzw. Ortschroniken, die teilweise von Historikern verfasst wurden oder in Zusammenarbeit mit dem Kreisarchiv Tuttlingen entstanden und nicht alle wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.59 Anhand lokaler Primärquellen, etwa Gemeinderatsprotokollen oder Gerichtsakten, wird darin oft sehr anschaulich das Milieu, aus dem die Migranten stammten, geschildert. So machen sie u. a. die sozialen Spannungen innerhalb der Einwohnerschaft deutlich, die sich auch auf das Wanderungsgeschehen auswirkten. Eine weitere aussagekräftige Quelle sind die damals im Untersuchungsgebiet erschienenen Zeitungen. Für den Zeitraum der stärksten Auswande58
59
Diese Aussagen beruhen auf Berechnungen des Verfassers auf Grundlage der vierbändigen Kompilation von Zimmermann/Wolfert (Hg.), German Immigrants (Bd. 1: 1847– 1854; Bd. 2: 1855–1862; Bd. 3: 1863–1867; Bd. 4: 1868–1871) und nach den mit einem Online-Index versehenen Hamburg Passenger Lists 1885–1914 (www.ancestry.com), die beide den letzten Wohnort eines Passagiers angeben. Ein Abgleich mit den württembergischen Auswanderungsverzeichnissen ergab, dass diesen in den Bremer Passagierlisten zwischen 1847 und 1871 nur neunzig von 281 und in den Hamburger Passagierlisten zwischen 1885 und 1892 nur zehn von 54 mit letztem Wohnort im Untersuchungsgebiet registrierten Passagieren zugeordnet werden konnten. Beispielhaft weil quellennah: 1200 Jahre Dürbheim.
1.3 Methodische Vorgehensweise, Forschungsstand, benutzte Quellen
27
rung von 1845 bis 1855 ist dies zunächst der seit 1831 in Tuttlingen herausgegebene Gränzbote, der auch als Amtsblatt fungierte und in den 1840er Jahren dreimal wöchentlich im Umfang von vier Seiten erschien. Die andere im Untersuchungsgebiet herausgegebene Zeitung war der seit 1838 ebenfalls dreimal wöchentlich in Spaichingen erscheinende Heuberger Bote, der 1848 den Rottweiler Anzeiger als Amtsblatt für den Oberamtsbezirk Spaichingen ablöste. Als solche zeigten sowohl der Gränzbote als auch der Heuberger Bote beispielsweise amtliche Verordnungen über das Auswanderungswesen oder Fahndungen nach militärpÀichtigen Rekruten oder Zwangsversteigerungen an. Sie druckten aber auch private Inserate zu bevorstehenden Güterverkäufen oder Abschiede von zur Auswanderung entschlossenen Bürgern ab, ebenso großÀächige Annoncen von Auswanderungsagenten und Schiffsmaklern, die Preise und Abfahrtszeiten für die nächsten Schiffspassagen anzeigten. Bei der Durchsicht des Gränzboten fällt die Zunahme von Nachrichten aus Amerika („Goldland Californien“) und von Berichten und Inseraten zur Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Dies zeigt, wie allgegenwärtig die Nordamerikamigration damals im öffentlichen Bewusstsein war.60 Für das Königreich Württemberg liegen schließlich Àächendeckend auf der Basis seiner 64 Oberämter seit 1818 die Württembergischen Jahrbücher61 vor, die u. a. Ergebnisse der Landesstatistik zu Bodennutzung, Viehbestand, landwirtschaftlichen Betriebsgrößen und Berufs- und Gewerbezählungen enthalten.62 Daneben wurde 1824 vom Königlich Statistisch-topographischen 60
61
62
Bei der Auszählung vollständiger Jahrgangsbände stichprobenhaft ausgewählter Erscheinungsjahre des in etwa hundert Ausgaben jährlich erschienenen Gränzboten hat der Verfasser von Beiträgen zu den Themenfeldern „Amerika“ oder „Auswanderung“ folgende Verteilung ermittelt: 1845: 19 Nennungen; 1846: 80; 1847: 92; 1848: 35; 1849: 98; 1853, 1. Halbjahr: 89. Die Württembergischen Jahrbücher (im folgenden: WJB) wurden vom Königlich Statistisch-topographischen Bureau (dem Vorgänger des heutigen Statistischen Landesamtes) zwischen 1818 und der Gründung des Bundeslandes Baden-Württemberg 1952 unter den Namen Württembergisches Jahrbuch (1818–1821), Württembergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie (1822– 1862) und Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde (1863–1940, 1952) herausgegeben. Zuverlässigste Quelle für Angaben über jede einzelne Gemeinde der insgesamt 64 württembergischen Oberämter ist seit 1834 die Zollvereinsstatistik und ab 1871 die Reichsstatistik (beide im Staatsarchiv Ludwigsburg Bestand E 258 VIII). Darin detaillierte Ergebnisse der Bevölkerungszählungen 1834, 1837, 1840, 1843, 1846, 1849, 1852, 1855, 1858, 1861, 1864, 1867, 1871, 1875, 1880, 1885, 1890, 1895, 1900, 1905, 1910. Ergebnisse der Viehzählungen auf Oberamtsbasis liegen u. a. für die Jahre 1843, 1853, 1856, 1858, 1861, 1865, 1868, 1873, 1882, 1883, 1895, 1897, 1907 vor; landwirtschaftliche Betriebsgrößenklassen wurden 1857, 1873, 1882, 1895, 1907 ermittelt. Gewerbezählungen fanden 1835/36, 1852, 1861, 1875 statt, Berufszählungen 1882, 1895, 1907; Arbeitsstättenzählungen (auch außerhalb der Landwirtschaft) 1895 und 1907.
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1 Einleitung
Bureau in Stuttgart mit der sukzessiven Herausgabe detaillierter Oberamtsbeschreibungen63 begonnen, von denen Band 57 für das Oberamt Spaichingen 1876 und Band 58 für das Oberamt Tuttlingen 1879 erschienen.
63
Vgl. die Beschreibung des Oberamts Spaichingen (im Folgenden: OAB Spaichingen); Beschreibung des Oberamts Tuttlingen (im Folgenden: OAB Tuttlingen). Die württembergischen Oberamtsbeschreibungen enthalten Angaben zur natürlichen Beschaffenheit (Relief, Böden, Klima) des untersuchten Raumes und stellen deskriptiv, z. T. auch tabellarisch-statistisch, die Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Lebensweise seiner Bewohner dar. Von besonderem Interesse ist hier die detaillierte Bevölkerungsstatistik auf Oberamts- bzw. Gemeindebasis (neben Geburten, Trauungen, Todesfällen auch Angaben zu Altersaufbau, Heiratsalter, Zivilstand, Religion; ferner Ortsangehörigkeit und Ortsgebürtigkeit). Auch ¿nden sich darin auf der Basis von Einzelgemeinden Angaben über Vermögensverhältnisse (Grundeigentum) und Erwerbstätigkeit (Gewerbezählungen; Ackerbau – mit Bodennutzung – und Viehzucht) sowie Charakteristika der Einwohner („Volkscharakter“, Mundart, Gebräuche) und ihrer Wohnorte (Anzahl und Gattung der Gebäude, Bauart und Material).
2 BEDINGUNGEN VON MIGRATION IN WÜRTTEMBERG Das 19. Jahrhundert war für Deutschland das Zeitalter der Massenauswanderungen. Allein aus Württemberg emigrierten zwischen 1815 und 1871 etwa vierhunderttausend Menschen, drei Viertel davon in die Vereinigten Staaten von Amerika.1 Weitere hunderttausend folgten ihnen in den viereinhalb Dekaden bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Damit gehörte das Königreich Württemberg, dessen Bevölkerung zwischen dem Ende des Wiener Kongresses 1815 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 von knapp 1,4 Millionen auf etwa 2,5 Millionen Menschen anwuchs, bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 zu den von der transatlantischen Massenmigration am stärksten betroffenen deutschen Staaten. Im Vergleich zu den mehr als siebenhunderttausend Binnenwanderern zwischen 1840 und 1870 tritt die Zahl der Nordamerikamigranten allerdings in den Hintergrund.2 Mit dem Benennen von sozialen, ökonomischen, demographischen und politischen Auswanderungsgründen im über weite Strecken des 19. Jahrhunderts von Not- und Krisenjahren geprägten deutschen Südwesten lassen sich zwar die Migrationen in ihrer zeitlichen Abfolge, kaum aber in ihren unterschiedlichen Intensitäten und Ausprägungen erklären.3 Ergiebiger ist es, sich auf die lokalen Auswirkungen der großen Modernisierungsprozesse wie demographischer Übergang, Agrarmodernisierung, Frühindustrialisierung, Urbanisierung, Streben nach politischer Partizipation sowie auf den Liberalismus zu konzentrieren, welche die europäische Massenmigration nach Nordamerika als Teil der großen Wanderungen im 19. Jahrhundert überhaupt erst hervorgerufen bzw. möglich gemacht haben.4
1 2
3 4
Angabe nach v. Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 115, Anm. 1. Zahlen vom Verfasser zusammengestellt aus den WJB. Zwischen 1840 und 1870 verzeichnete das Königreich Württemberg zwar 173.000 Auswanderer, wovon etwa 130.000 nach Nordamerika gingen, aber mehr als siebenhunderttausend Binnenwanderer. Zum Ursachendiskurs vgl. den gründlichen Forschungsüberblick bei Fertig, Lokales Leben. Vgl. Hansen, Atlantic Migration, 17–24. Vgl. ebenso den Entwurf eines makrostrukturellen Rahmens im Einleitungskapitel: Five Global Revolutions. The Macrostructural Dimensions of Emigration in Spain, in: Moya, Cousins and Strangers, 13–44. Siehe dazu auch die Zusammenfassung des Forschungsstandes bei Gjerde, New Growth.
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2 Bedingungen von Migration in Württemberg
2.1 AGRARSOZIALER WANDEL UND KAPITALISIERUNG DER LANDWIRTSCHAFT Das im 19. Jahrhundert noch weitgehend landwirtschaftlich geprägte Untersuchungsgebiet mit seinen Teilräumen Baar, Albvorland, Heuberg, Hegaualb, Baaralb und Oberem Donautal gehört nach seiner naturräumlichen Gliederung zur Schwäbischen Alb.5 Am Durchbruch der Donau durch die Südwestalb
Karte 2: Teilräume und Gemeindegrenzen des württembergischen Untersuchungsgebietes Quelle: Vom Verfasser erarbeitet anhand der Grundkarte des Historischen Atlas von BadenWürttemberg. Erläuterung: Die verschiedenen Grautöne dienen lediglich der besseren Unterscheidbarkeit der Teilräume. Die drei hellgrauen Flächen nördlich des Heubergs gehören zum Albvorland. Die Teilräume Heuberg und Albvorland entsprechen in etwa dem Oberamt Spaichingen, die übrigen Teilräume in etwa dem Oberamt Tuttlingen.
liegt die Stadt Tuttlingen, die als Eckpfeiler der Schwäbischen Alb gilt. Im Donautal liegen mit Mühlheim und Fridingen zwei weitere Städte. Gegen den Schwarzwald hin liegt in der Baarhochmulde, dem westlichen Teil des Oberamtes Tuttlingen, die Gemeinde Trossingen, deren Höhenlage ein raues Klima bedingt und wo die Böden bearbeitungsintensiv sind. Östlich 5
Vgl. Historischer Atlas von Baden-Württemberg, 3–7 (Beiwort zur Karte II,4: Naturräumliche Gliederung von Baden-Württemberg).
2.1 Agrarsozialer Wandel und Kapitalisierung der Landwirtschaft
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von Tuttlingen liegen die HochÀächen der Eck und der Hardt mit den Dörfern Neuhausen und Irndorf. Nördlich von Tuttlingen öffnet sich im Primtal hinter den beiden Erhebungen Lupfen und Hohenkarpfen das fruchtbarere Albvorland um die Stadt Spaichingen. Östlich von Spaichingen und nordöstlich von Tuttlingen erhebt sich in steilem Relief der Große Heuberg, der ein Teil der Hohen Schwabenalb ist und auf dem die meisten Gemeinden des Oberamtes Spaichingen liegen. Die HochÀäche des bis über tausend Meter hohen Heubergs ist verkarstet und arm an Wasser. Aufgrund des rauen Klimas ist die Vegetationsperiode kurz. Die steilen Hangpartien des Heubergs sind landwirtschaftlich nicht nutzbar. Nur das Àachere Gelände wird vorwiegend für den Ackerbau genutzt, wobei die Böden karg und steinig und die Bodenerträge gering sind. Die agrarsoziale Ausgangslage zum Jahrhundertbeginn war wesentlich durch die Vererbungsformen geprägt. Die Südwestalb war Altsiedelland und damit Realteilungsgebiet, während die Mittlere Alb, die Ostalb und die Baar Anerbengebiete bildeten. Bei der Realteilung6 werden Boden und Betriebsinventar gleichmäßig unter alle Erben verteilt; Wohn- und Wirtschaftsgebäude fallen jedoch nur einem Erben zu, der die übrigen dafür durch ein „Gleichstellungsgeld“ entschädigt. Daraus resultierten mit der Zeit eine Verkleinerung und damit eine Vermehrung der landwirtschaftlichen Betriebe. Bei der geschlossenen Vererbung nach Anerbenrecht7 dagegen verpachten oder verkaufen die „weichenden“ Erben ihren Landanteil an den Landwirt unter den Erben, womit die Betriebsgrößen unverändert bleiben. Da auf der Südwestalb karge Böden und raues Klima die Ernteerträge gering hielten und für die Bauern unter solchen Bedingungen eine rentable Bewirtschaftung von Flächen unter fünf Hektar nicht mehr möglich war, wurde in einigen Teilen des Untersuchungsgebietes von der vollen Realteilung abgewichen. In Teilen der Baaralb, wo früher die geschlossene Vererbung vorherrschende Erbsitte gewesen war, bestanden im 19. Jahrhundert Misch- oder Übergangsformen, die zwar einen Erben bevorzugten, aber auf der Freiteilbarkeit basierten. Dagegen blieb die Realteilung vor allem auf dem Heuberg in unveränderter Form bestehen.
6 7
Vgl. Historischer Atlas von Baden-Württemberg, 5 ff. (Beiwort zur Karte IX,6: Vererbungsformen und Betriebsgrößen in der Landwirtschaft, Erläuterungen). Ebd.
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2 Bedingungen von Migration in Württemberg
Karte 3: Höhenlagen der Gemeinden des Untersuchungsgebietes
Der agrarsoziale Strukturwandel auf der Schwäbischen Alb wurde bis ins 19. Jahrhundert durch die Vererbungsformen erheblich beeinÀusst: Während die geschlossene Vererbung nach Anerbenrecht konservierenden EinÀuss auf die Betriebsgrößenstruktur hatte, wirkte die Realteilung als Triebkraft einer dynamischen Entwicklung. Die Aufteilung des Ackerlandes in eine große Anzahl einzelner, kleiner Gewanne (Flurstücke) trug zur Flurzersplitterung sowie zu einer hohen Grundstücksmobilität8 bei, denn einzelne kleinere Parzellen waren – auch angesichts der geringen Kaufkraft der Bevölkerung – leichter handelbar als große, zusammenhängende Grundstücke. In Realteilungsgebieten wurde durch die Teilung der Höfe die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe vermehrt, die Bevölkerung nahm zu, und die Siedlungen wuchsen. Wo jedoch nach Aufsplitterung der Höfe die Landwirtschaft nicht mehr als 8
Vgl. beispielsweise E¿nger, Ortssippenbuch Aixheim.
2.1 Agrarsozialer Wandel und Kapitalisierung der Landwirtschaft
33
Karte 4: Bodenerträge und Preise für den Morgen Ackerland (in Gulden) im Untersuchungsgebiet zur Mitte des 19. Jahrhunderts Quelle für beide Karten: Vom Verfasser erarbeitet anhand des Historischen Atlas von BadenWürttemberg, Zahlenangaben zusammengestellt bzw. berechnet aus den OAB Tuttlingen und Spaichingen.
alleinige Existenzgrundlage ausreichte, wandten sich bäuerliche Bevölkerungsteile außeragrarischen Wirtschaftszweigen wie dem Bergbau, dem Handwerk oder dem ländlichen Kleingewerbe und gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Industrie zu, deren Entwicklung sich in Württemberg vorwiegend auf das Arbeitskräfteangebot in den Realteilungsgebieten gründete.9 Im Untersuchungsgebiet war als Folge der Realteilung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine weithin kleinbäuerlich geprägte Agrarstruktur entstan9
Vgl. Historischer Atlas von Baden-Württemberg, 3–7 (Beiwort zur Karte II,4: Naturräumliche Gliederung von Baden-Württemberg, Erläuterungen).
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2 Bedingungen von Migration in Württemberg
den. In der Folgezeit wurden zwar die wenigen verbliebenen mittel- und großbäuerlichen Betriebe von über zwanzig Hektar weiterhin aufgeteilt. Gleichzeitig kam es aber zu einer Abnahme der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe von weniger als fünf Hektar10, da diese Kleinbauern wirtschaftlich nicht mehr konkurrenzfähig waren. In dieser durch agrarsozialen Wandel und Missernten geprägten Zeit erreichte die transatlantische Migration aus dem Untersuchungsgebiet zwischen 1845 und 1855 in den Jahren der Teuerungs- und Hungerkrisen ihre intensivste Phase. Der Bodenmarkt im Untersuchungsgebiet konsolidierte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die im Nebenerwerb Landwirtschaft betreibenden Handwerker ihre Kleinbetriebe aufgaben und Arbeitsplätze in der Industrie – in anderen Teilen des Landes oder im Untersuchungsgebiet selbst – fanden. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse veränderten Ackerbau und Viehzucht grundlegend. Der durch die AuÀösung der Allmenden, Einführung der Stallfütterung, Umstellung auf Fruchtwechselwirtschaft und technische Verbesserungen gekennzeichnete Übergang von der Subsistenzwirtschaft zur marktorientierten (kapitalistischen) Landwirtschaft, der in England bereits im 18. Jahrhundert begonnen hatte, setzte sich im Untersuchungsgebiet im 19. Jahrhundert nur langsam und zum Teil gegen erhebliche Widerstände der Bevölkerung durch.11 Die AuÀösung der Allmenden, die im Untersuchungsgebiet im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatte, führte in einigen Baargemeinden bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu erheblichen sozialen Spannungen innerhalb der Einwohnerschaft und manifestierte sich in zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen.12 So forderten die Tagelöhner in Trossingen die Aufteilung der Allmende zum Anbau von Hackfrüchten (Kartoffeln und Rüben) und schnitten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, dem weidenden Zugvieh der Bauern nachts die Zungen heraus.13 Besitzzersplitterung, Anwachsen der Unterschichten und daraus erwachsende soziale Spannungen führten zu einem „Zustand unaufhaltsamer Desintegration“ der dörÀichen Gesellschaft am Ausgang des 18. Jahrhunderts.14 Am Anfang des 19. Jahrhunderts begann auch in Württemberg die AuÀösung der feudalen Agrarverhältnisse. Mit dem Edikt König Wilhelms I. (1816–1864) vom 18. November 181715 wurde die Leibeigenschaft aufgeho10 11 12 13 14 15
Abzulesen in den WJB an den Tabellen landwirtschaftlicher Betriebsgrößenklassen auf Basis der württembergischen Oberämter (hier: Tuttlingen und Spaichingen) nach den Zählungen von 1857, 1873, 1882, 1895 und 1907. Schuster, Landwirtschaft und Dorfhandwerk. Vgl. Tuttlingen. Beschreibung und Geschichte, 176. Ausführlich zu den Allmendestreitigkeiten in Trossingen zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und dem späten 18. Jahrhundert: Wilhelm, Trossinger Heimat, 117–131. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, 172. Edikt über die Aufhebung der Leibeigenschafts-Gefälle und über die Gestattung der Ablösung der sogenannten Feudal-Abgaben vom 18. November 1817.
2.1 Agrarsozialer Wandel und Kapitalisierung der Landwirtschaft
35
ben. Aufgrund weiterer staatlicher Reformen konnten die Bauern daraufhin ihre Grundlasten (Großzehnt, Kleinzehnt und Viehzehnt) durch Zahlung einer bestimmten Geldsumme an die Grundherren ablösen. Viele Kleinbauern konnten allerdings durch diese Ablösezahlungen, die Praxis der Realteilung und die Agrarkrise der 1820er Jahre der Schuldenlast nicht standhalten und mussten ihre Höfe aufgeben, so dass eine Schicht besitzloser Landarbeiter entstand.16 Nach der AuÀösung der Allmenden setzte sich im Untersuchungsgebiet im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich die Stallfütterung auf Kosten der Weidewirtschaft durch.17 Das Vieh wurde nun nach der Heu- bzw. Öhmdernte18 nicht mehr zum Weiden auf die Allmenden, die brachliegenden Äcker oder die Wiesen getrieben, sondern ganzjährig im Stall gehalten, wobei der dort anfallende Mist zur gezielten Düngung der Äcker verwendet werden konnte und damit die landwirtschaftlichen Erträge steigern half. Die Dreifelderwirtschaft wurde von der Fruchtwechselwirtschaft abgelöst, wobei der Brachösch19 durch verstärkten Anbau von Kartoffeln, Rüben und FutterpÀanzen genutzt wurde. Die landwirtschaftliche NutzÀäche dehnte sich im Untersuchungsgebiet seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stetig aus.20 So wurden z. B. auf dem Heuberg die Wiesen umgebrochen und für einige Jahre als Wechselfelder mit Gerste, Hafer und Kartoffeln bestellt, bevor man sie wieder als Grünland nutzte. Während die Wiesen bis ins 19. Jahrhundert hinein nach der Heuernte beweidet worden waren, wurden sie nun durch einen zweiten Schnitt zur Gewinnung von Öhmd intensiver genutzt. Durch die Verbesserung der Grünlandbewirtschaftung und den vermehrten Anbau von Futterkräutern und Hackfrüchten nahm auch die Viehhaltung im 19. Jahrhundert einen starken Aufschwung. Durch Aufforstung von Teilen des Allmendelandes vergrößerte sich auch der Waldbestand im Untersuchungsgebiet. Insgesamt bewirkten diese Maßnahmen eine Intensivierung von Bodennutzung und Tierhaltung und damit eine höhere Ef¿zienz und Produktivität von Ackerbau und Viehzucht und kamen damit vor allem den größeren Bauern zugute. Für die klein- und unterbäuerlichen Schichten der ländlichen Gesellschaft bedeuteten diese im Zuge der Kapitalisierung der Landwirtschaft 16 17 18 19 20
Historischer Atlas von Baden-Württemberg, 5 ff. (Beiwort zur Karte IX,6.: Vererbungsformen und Betriebsgrößen in der Landwirtschaft, Erläuterungen). Vgl. dafür die Beispiele aus der Pfarrchronik Böttingen bei Hans-Joachim Schuster, Verhältnisse im 18./19. Jahrhundert, in: Schuster/Speck, Böttingen, 41 f. Öhmd ist der zweite Schnitt des Grases nach der Heuernte. In der Dreifelderwirtschaft wurden die Felder in drei Ösche (Flure) eingeteilt: Sommerösch, Winterösch, Brachösch. Abzulesen jeweils auf Basis der Einzelgemeinden in den Ergebnissen der württembergischen Landesvermessung 1839/40 in den Oberamtsbeschreibungen (z. B. OAB Tuttlingen, 586 f. [Tab. II]), an den Tabellen landwirtschaftlicher Betriebsgrößenklassen nach der Zählung von 1893 (Abgedruckt in WJB 1895) und nach der Zählung von 1905 (abgedruckt in: Württembergische Gemeindestatistik 1907).
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2 Bedingungen von Migration in Württemberg
erfolgten Veränderungen hingegen oft schwere Brüche und nicht selten das wirtschaftliche Aus in der Heimat und damit einen Stimulus zur Migration. 2.2 BEGINNENDE INDUSTRIALISIERUNG Die Industrialisierung Südwestdeutschlands setzte in größerem Umfang erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein. Vorläuferin der Industrie waren die aus Handwerksbetrieben hervorgegangen Kleingewerbe. Auf der Südwestalb hatte sich auf der Grundlage der durch die Realteilung entstandenen Bevölkerungsdichte und der ländlichen Gewerbe in den Bereichen Textil- und Metallwarenherstellung bereits früher eine stark spezialisierte Kleinindustrie entwickelt. In weiten Teilen des Untersuchungsgebiets bildete jedoch noch bis ins 20. Jahrhundert hinein die von den meisten Handwerkern im Nebenerwerb betriebene Landwirtschaft die wichtigste Erwerbsquelle, die zwischen dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und den 1880er Jahren oft mit dem Heimgewerbe verzahnt war und vor allem auf dem Heuberg im gesamten 19. Jahrhundert mit saisonaler Arbeitswanderung einherging. Als Konsequenz aus dem Bevölkerungswachstum seit dem 18. Jahrhundert und den schlechten naturräumlichen Bedingungen eröffnete sich im Untersuchungsgebiet für die landarme oder landlose dörÀiche Unterschicht in der Heimarbeit eine weitere wichtige Unterhaltsquelle, zu der auch Frauen und Kinder beitragen konnten. Außerdem hatten sich auf dem Heuberg, wo es an ausreichender Arbeit in der Landwirtschaft am Ort mangelte, regionaltypische Formen der saisonalen Arbeitswanderung von Bau- und Erntearbeitern entwickelt. Vor allem bei den Bauhandwerkern spielte diese im 19. Jahrhundert neben dem Heimgewerbe eine bedeutende Rolle. Im Frühjahr zogen viele ortsansässige Bauhandwerker, insbesondere Maurer, Zimmerleute und Gipser, in die Schweiz oder nach Frankreich und kehrten im Spätherbst zu ihren Familien auf den Heuberg zurück.21 Eine ganz eigene Wanderungstradition entwickelten junge Männer aus Trossingen und Tuningen, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Arbeiter in den Londoner Zuckersiedereien verdingten, „von wo sie meist nach 8–10 Jahren mit einem Vermögen von 600–800 À. in ihre Geburtsorte zurückkehren“.22 Seit dem Spätmerkantilismus waren im Untersuchungsgebiet der Bergbau und die Eisenerzverhüttung – vor allem die Eisenerzgrube sowie das Hüt21
22
Die außerordentliche Bedeutung der saisonalen Arbeitswanderung für den Heuberg gibt ein Oberamtsvisitationsprotokoll für Bubsheim wieder. Dort heißt es: „Der Wohlstand der hiesigen Gemeinde ist ein mittelmäßiger insofern die Hälfte der hiesigen Einwohner den Sommer über ihr Brot als Maurer oder Gipser in der Fremde suchen müssen, während der andere Theil zu ¾ Landwirtschaft und zu ¼ Gewerbe treibt.“ (zit. n. Schuster, Landwirtschaft und Dorfhandwerk, 253). Tuttlingen. Beschreibung und Geschichte, 171.
2.2 Beginnende Industrialisierung
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ten- und Hammerwerk Ludwigsthal23 und das Schmelzwerk Harras – neben den ländlichen Kleingewerben der einzige außeragrarische Wirtschaftszweig. Dieser blieb im Zeitalter der aufkommenden Eisenindustrie im 19. Jahrhundert so lange rentabel, bis die Erzgruben der Umgebung ausgebeutet waren, was in Ludwigsthal 1861 zur Betriebseinstellung führte. Bis dahin wurde dort Roheisen produziert, das für die Waffenfabrik in Oberndorf sowie die Tuttlinger Hammerwerke bestimmt war, die den zahlreichen Nagelschmieden der Umgebung Zaineisen24 lieferten. Die Jahresproduktion hatte 1837 bei 15.000 Zentnern gelegen25. Als Ersatz musste nun Roheisen aus England importiert werden. Damit wurde in Ludwigsthal seit den 1860er Jahren unter der Verwendung von Kokskohle eine Gießerei betrieben, in der Gusswaren wie Öfen, Platten und Kochgeschirre hergestellt wurden.26 Nachdem die Randlage Tuttlingens an der württembergischen Staatsgrenze zu Baden die Entwicklung der lokalen Wirtschaft lange Zeit gehemmt hatte, zeigten sich kurz nach dem Beitritt Badens zum Deutschen Zollverein und dem Wegfall der Zollschranken auch im Untersuchungsgebiet erste Ansätze der Industrialisierung. Diese nahm im Donautal mit der mechanisierten Textilindustrie ihren Anfang. In den Städten Tuttlingen, Fridingen und Mühlheim wurden Woll- und Baumwollspinnereien sowie Bleichen gegründet. So erbauten 1836 sechs Tuttlinger KauÀeute an einem Seitenkanal der Donau eine fünfstöckige mechanische Wollspinnerei und Tuchschererei nebst Walkund Schleifmühle, in der 1839 bereits 58 Arbeiter beschäftigt waren. In Fridingen entstand eine Kammgarnspinnerei, in Wurmlingen 1866 eine weitere Wollspinnfabrik. Die Stadt Tuttlingen entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Schuhproduktion, die seit 1874 mit ihren Fabriken und Zuliefererindustrien – Strumpfwebereien, Nagelschmieden (für Schuhnägel) und Gerbereien (für Schuhleder) – das Obere Donautal industriell prägte. Seit dem späten 18. Jahrhundert spielten in der Textilproduktion und bei der Fertigung von Bekleidung im Untersuchungsgebiet vor allem heimgewerbliche Tätigkeiten im Verlagswesen eine Rolle. 1764 errichtete der Basler Bankier Johann Jakob Thurneisen eine Florettseidenmanufaktur in Villingen, die vielen ärmeren Familien in der Stadt Tuttlingen und mehreren Amtsorten wie Schwenningen, Tuningen und Talheim durch das Spinnen und Kämmen der Florettseide Verdienst brachte. Ähnliche Textilmanufakturen Schweizer Verleger entstanden 1775 und 1779 in Rietheim und Tuttlingen. Die Produktion setzte sich bis mindestens 1786 fort und kam bald darauf in den Wirren der Revolutionskriege zum Erliegen. Auch in Spaichingen gründete Thurneisen um 1790 eine Florettseidenfaktorei und ließ jährlich ca. hundert Zentner 23 24 25 26
Vgl. Schuster, Wurzeln der Industrie; Woll, Schmelze in Ludwigstal. Lange Eisenstäbe aus zähem Nageleisen. Tuttlingen. Beschreibung und Geschichte, 54. Vgl. OAB Tuttlingen, darin Unterabschnitt „Ludwigsthal“, 256–265.
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2 Bedingungen von Migration in Württemberg
Florettgarn in den Landgemeinden spinnen. 1811 ging der Betrieb Bankrott. Spaichinger KauÀeute starteten Anfang des 19. Jahrhunderts erneut Versuche mit der Florettspinnerei und vergaben Aufträge an ländliche Haushalte. Sie importierten die Rohseide, brachten sie in die umliegenden Orte und ließen sie dort zu Garn verspinnen, um dieses anschließend auswärts zu verkaufen. Seit den 1820er Jahren kamen diese Heimgewerbe durch die industrielle Konkurrenz aus England jedoch zum Erliegen. Ende der 1830er und in den 1840er Jahren bemühte sich die württembergische Regierung nochmals, das Spinnen von Seide für Schweizer Fabriken auf dem Heuberg anzusiedeln, allerdings ohne anhaltenden Erfolg. In den 1820er Jahren betrieben mehrere Familien auf dem Heuberg die Musselinstickerei. Um 1850 kam dort die Weißstickerei – ebenfalls für Schweizer Firmen – auf. Diese Form von textilgewerblicher Heimarbeit bot für rund drei Jahrzehnte den ärmeren Schichten eine Beschäftigungsbasis. Um 1890 verdienten beispielsweise in Böttingen immer noch etwa zwanzig Personen durch Stickerei ein Zubrot.27 Jacken- und Kittelstrickerei sowohl für auswärtige KauÀeute als auch für heimische Verleger war auf dem Heuberg ebenfalls eine Nebenverdienstquelle. Der Verdienst in diesen Branchen war allerdings sehr gering, und die meisten dieser Beschäftigungsangebote existierten nur kurzzeitig. Der Beruf des Leinewebers, der bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Heuberg wie auch im ganzen Untersuchungsgebiet relativ häu¿g vorkam, verschwand gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast vollständig, da die Handarbeit am Webstuhl mit der maschinellen Fertigung in Fabriken nicht konkurrieren konnte. Auch auf der weitgehend bäuerlich geprägten Baar standen bis in die 1830er Jahre in allen Tagelöhner- und in vielen Bauernhäusern Webstühle, weil für den größeren Teil der bäuerlichen Bevölkerung der Ackerbau allein zur Ernährung der Familie nicht ausreichte, so dass viele Haushalte auf das Heimgewerbe als Nebenerwerb angewiesen waren. Nachdem die Textilherstellung als Hausindustrie im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Fabrikkonkurrenz verdrängt worden war, begannen im südlichen Schwarzwald Weber, Tagelöhner und Kleinbauern mit einer zunächst laienhaften Uhrmacherei, die über die badische Baar auch in das Untersuchungsgebiet Einzug hielt. Dadurch entstanden in Gemeinden wie Schwenningen, Tuningen, Talheim und Trossingen Uhrenfabrikationen, in denen Wand- und Taschenuhren sowie Kuckucksuhren hergestellt wurden. Uhrmacher und Uhrenhändler zogen, wenn im Herbst die Feldarbeit getan war, im Hausierhandel in die Hauptabsatzgebiete, das württembergische Unterland, Oberschwaben, Vorarlberg und Tirol. Wegen des Niedergangs der Handweberei durch industrielle Konkurrenz und wegen Schwierigkeiten beim Uhrenabsatz begannen in Trossingen ver27
Vgl. Schuster, Verhältnisse im 18./19. Jahrhundert, in: Schuster/Speck (Hg.), Böttingen, 45.
2.2 Beginnende Industrialisierung
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armte Handwerker in den Notjahren zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Mundharfenmacherei.28 Mundharfen waren schon seit den 1820er Jahren bekannt. Die ersten Instrumente aus Wien und dem Erzgebirge wurden im Hausierhandel in die Schweiz, nach Deutschland und Frankreich verkauft. In Trossingen war der Leineweber und Uhrmacher Christian Messner der erste Mundharfenhersteller. Dieses feinmechanische Gewerbe baute der Trossinger Webersohn Matthias Hohner, ein gelernter Uhrmacher, der 1855 den Uhrenhandel aufgegeben hatte, weiter aus. Wie andere im Ort tüftelte und bastelte er an Mundharmonikas, zuerst in der Messnerschen Werkstatt, dann als Stückwerker daheim, schließlich im eigenen Unternehmen, womit er zum weltweit führenden Hersteller von „Bläslen“ wurde. Bis in die 1860er Jahre wurden diese Instrumente ausschließlich in Handarbeit produziert. Die heimische Mundharmonikaproduktion wie auch die Uhrmacherei bewirkte in Trossingen die Herausbildung eines spezialisierten Werkzeugmaschinenbaus. Uhrmacher und Mundharfenmacher bezogen bis in die 1860er Jahre Werkzeuge wie Zangen, Hämmer oder Feilen von einem Kupferschmied in Spaichingen. In den 1860er und 1870er Jahren wurden in Trossingen Werkstätten gegründet, in denen für die Harfenmacher Stanzen, Pressen und zunächst einfache Maschinen, später auch Spezialmaschinen für die Harmonikafabrikation gebaut werden konnten. Der Aufschwung der Harfenmacherei seit den 1860er und 1870er Jahren – 1875 hatten die inzwischen sechs Trossinger Harmonikafabriken 243 Beschäftigte – zog eine Veränderung der Produktionsmethoden nach sich: Hohner, in dessen neues Fabrikgebäude 1880 die erste Dampfmaschine im Ort Einzug gehalten hatte, war der erste, der den vergrößerten Betrieb auf Maschinenarbeit umgestellte. Auch führte er arbeitsteilige Produktionsmethoden ein, wobei spezialisierte Fabrikarbeiter nur einzelne Handgriffe versahen, während die Mundharmonikas früher von Anfang bis Ende von ein- und demselben Arbeiter hergestellt worden waren. Eine weitere industrielle Neuerung bestand darin, dass Hohner, der bislang Hunderte früherer Gesellen als Heimarbeiter beschäftigt hatte, denen er Maschinen, Werkzeuge und Material zur Verfügung stellte, zwischen 1887 und 1914 in den umliegenden Ortschaften in der Baar und auf dem Heuberg Filialfabriken errichtete. Auf dem Heuberg, dem wirtschaftlich rückständigsten Teil des Untersuchungsgebietes, hielt die Industrie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erst durch die Filialen der Trossinger Harmonikafabriken Einzug. Die mechanisierte Textilindustrie löschte die Heimweberei auf der Alb aus und führte zur Proletarisierung von Handwerkern und zur Verschlechterung der Lebensbedingungen der dortigen Bevölkerung. Später setzte der Arbeitskräftebedarf der Fabriken die Binnenwanderung in Gang. Die Binnenwanderung in Industriegebiete und die Auswanderung nach Übersee waren Teile desselben Verlagerungs- und Neuverteilungsprozesses, der durch die im 28
Dazu ausführlich Berghoff, Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt.
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2 Bedingungen von Migration in Württemberg
19. Jahrhundert im Untersuchungsgebiet einsetzende Industrialisierung und Urbanisierung verursacht worden war. 2.3 NATÜRLICHE BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG, ABWANDERUNG UND URBANISIERUNG Neben der von Boden und Klima geprägten Landesnatur sowie den traditionellen Siedlungs- und Vererbungsformen hatte das im 18. Jahrhundert einsetzende und über das 19. Jahrhundert anhaltende Bevölkerungswachstum auf der Schwäbischen Alb starken EinÀuss auf die Wirtschaftsweise und das Wanderungsverhalten der dortigen Bevölkerung in der zunächst noch agrarischen Gesellschaft. Die starken Bevölkerungsverluste, die der Südwesten Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg erlitten hatte, konnten durch natürliches Bevölkerungswachstum und Einwanderung – vor allem aus der Schweiz29 – erst im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts wieder ausgeglichen werden. Wie mit Abb. 2 beispielhaft für die natürliche Bevölkerungsbewegung des schwäbischen Bauerndorfes Aixheim zwischen 1750 und 1925 gezeigt werden kann, war die Zahl der Geburten in diesem Zeitraum stets höher als die Zahl der Sterbefälle, es bestand also ein natürliches Bevölkerungswachstum. Dieses war im Zeitraum nach dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 bis zum Beginn der wirtschaftlichen Krisenjahre Mitte der 1840er Jahre auf einen steilen Anstieg der Geburtenrate zurückzuführen. In der zweiten Wachstumsphase zwischen 1855 und den 1870er Jahren spielte die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgrund von erhöhter Produktivität in der Landwirtschaft und Fortschritten in der Medizin deutlich gesunkene Sterberate eine wichtige Rolle. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte die Bevölkerung Württembergs durch Geburtenüberschüsse Wachstumsraten von einem Prozent und mehr pro Jahr. Die Einwanderung blieb in diesem Zeitraum sehr gering. Das katholische Neuwürttemberg verzeichnete zu dieser Zeit ein schwächeres Bevölkerungswachstum als das evangelische Altwürttemberg. Zwischen 1812 und 1843 – dem Jahr der letzten Volkszählung vor Beginn der transatlantischen Massenmigration zur Jahrhundertmitte – erzielte die Bevölkerung jährliche Wachstumsraten von + 0,9 %, wobei das überwiegend von Protestanten bewohnte Oberamt Tuttlingen mit seinen Teilräumen Oberes Donautal (+ 1,06 %) und östliche Baar (+ 0,99 %) jährliche Wachstumsraten von rund + 1,0 % aufwies. Das Oberamt Spaichingen, das eine fast ausschließlich katholische Bevölkerung hatte, kam dagegen nur auf geringere jährliche Wachstumsraten von knapp + 0,8 %. Auf dem Heuberg, wo die Eheleute durch die 29
Zur Migration aus den reformierten Kantonen der Schweiz in die protestantischen Länder Süddeutschlands siehe P¿ster, Wanderungsbeziehungen.
2.3 Natürliche Bevölkerungsentwicklung, Abwanderung und Urbanisierung
41
Natürliche Bevölkerungsbewegung in Aixheim, 1750–1925 7
6 Geburten
Rate in % p.
5
4
3 Sterbefälle 2
1
5 92
5 19
06
/1
90
5
/1 96 18
/8
86 18
76 18
/9
5
5 /7
4 18
65
/6
5 18
56
/5
3 18
44
/4
4 /3
35
/1
13 18
/1
07 18
18
2
6 80
0 /9
91 17
61 17
17
51
/6
0
0
Abb. 2: Natürliche Bevölkerungsbewegung in Aixheim Quelle: Berechnet vom Verfasser nach Zahlen bei Eugen E¿nger, Heimatbuch von Aixheim, 156.
saisonale Arbeitswanderung getrennt waren und die Geburtenrate dadurch niedriger war, lag das Bevölkerungswachstum zu dieser Zeit bei nur + 0,82 %, im Albvorland bei + 0,80 %. Das kontinuierliche Bevölkerungswachstum setzte sich bis in die 1840er Jahre fort, bis im Zuge der Krisen zur Jahrhundertmitte (Kartoffelkrankheit 1846/47, Missernten 1846/47 und 1851/52, dadurch Teuerungen, dazu revolutionäre Unruhen 1848/49) ein starker Einbruch erfolgte. Im Königreich Württemberg lag der Tiefstand der Bevölkerung am 1. Dezember 1855 bei 1,66 Millionen Ortsanwesenden, im Untersuchungsgebiet bei 41.075 Personen.30 Im Vergleich zu 1849 bedeutete dies für Württemberg einen Bevölkerungsverlust von mehr als siebzigtausend Einwohnern – über vier Prozent der Bevölkerung – binnen sechs Jahren. Das Untersuchungsgebiet büßte in diesem Zeitraum sogar knapp acht Prozent seiner Bevölkerung ein, darunter das Oberamt Spaichingen fast zwölf Prozent. Dieser Bevölkerungsschwund ist 30
Berechnet nach Tab.: Uebersicht über den Stand der Bevölkerung in allen Gemeinden des Bezirks, in: OAB Tuttlingen, 86 f. und Tab.: Uebersicht über den Stand der Bevölkerung in sämtlichen Gemeinden des Bezirks, in: OAB Spaichingen, 64 f.
42
2 Bedingungen von Migration in Württemberg
auf außerordentlich hohe Wanderungsverluste zurückzuführen, erst in zweiter Linie auf den Rückgang der Geburten während der Wirtschaftskrise.31 Der Wanderungsverlust lag 1846/56 in Württemberg bei 160.000 Menschen und war damit etwa doppelt so hoch wie der Geburtenüberschuss. Trotz des deutlichen Geburtenüberschusses nahm in den meisten Teilen des Untersuchungsgebietes die Bevölkerung zwischen 1834 und 1871 wenig oder kaum zu, was bedeutet, dass das natürliche Bevölkerungswachstum durch Wanderungsverluste fast vollständig aufgezehrt wurde. Einzig die Stadt Tuttlingen sowie das Industriedorf Trossingen konnten in diesem Zeitraum ihre Bevölkerung um etwa ein Drittel bzw. ein Viertel steigern. 0
1813/34
1835/43
1844/55
1856/64
1865/71
1872/80
1881/90
-0,2 -0,4 -0,6 -0,8 -1 -1,2 -1,4
hellgrau: Auswanderung dunkelgrau: Binnenwanderung
Abb. 3: Jährliche Wanderungsbilanz der Gemeinde Aixheim 1813–1890 Quelle: Berechnet nach E¿nger, Heimatbuch Aixheim, 156.
Zwischen der Reichsgründung und dem Beginn des Ersten Weltkrieges war die Bevölkerungsentwicklung einzelner Orte bzw. zwischen den einzelnen Teilräumen des Untersuchungsgebiets gegenläu¿g: Während in Tuttlingen und Trossingen in der ersten Hälfte der 1870er Jahre die Bevölkerung überwiegend durch den Geburtenüberschuss und die längere durchschnittliche Lebenserwartung bei gleichzeitigen Wanderungsverlusten zunächst langsam zugenommen hatte, wuchs sie seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre vor allem durch Zuwanderung aus dem Umland und anderen Landesteilen rasch und verdoppelte sich damit zwischen 1871 und 1910. Die Gemeinden in der unmittelbaren Umgebung Tuttlingens, d. h. die Orte im Donautal und in der Baaralb, konnten ebenfalls Bevölkerungszuwächse verzeichnen. Dagegen 31
Vgl. den Abschnitt: Geburten, in: OAB Tuttlingen, 100–105 bzw. OAB Spaichingen, 77–82.
2.3 Natürliche Bevölkerungsentwicklung, Abwanderung und Urbanisierung
43
verloren der Heuberg, die katholische Baar und die Hegaualb trotz Geburtenüberschüssen etwa zehn Prozent ihrer Bevölkerung durch Abwanderung. Wie in Abb. 3 für das im Albvorland gelegene Bauerndorf Aixheim exemplarisch dargestellt, war die Schwäbische Alb im gesamten 19. Jahrhundert ein Abwanderungsgebiet, das Oberamt Spaichingen stärker als das Oberamt Tuttlingen. Das Untersuchungsgebiet speiste zur Jahrhundertmitte vor allem die Überseeauswanderung nach Nordamerika und, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Württemberg besserten und sich den Menschen Lebensmöglichkeiten im eigenen Land boten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Urbanisierung Südwestdeutschlands. Die Auswanderung ging daher im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zurück. Nur die Industriestandorte Tuttlingen und Trossingen, in denen die Schaffung von Arbeitsplätzen im industriell-gewerblichen Sektor die Basis für ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum bot, verzeichneten seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Wanderungsgewinne, konnten also ihrerseits von der Binnenwanderung pro¿tieren. Die Bevölkerung des Untersuchungsgebiets lebte in vierzig Dörfern und vier Städten. Von herausgehobener politischer und wirtschaftlicher Bedeutung war allein die Stadt Tuttlingen. Sie gehörte 1834 zu elf weiteren württembergischen Städten, die damals zwischen fünf- und zehntausend Einwohner hatten, hinter der württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart mit 35.000 Einwohnern und Ulm, Reutlingen, Heilbronn und Ludwigsburg mit je zehn bis 15.000 Einwohnern. Tuttlingen war damit noch vor Ebingen und Balingen die größte Stadt der Schwäbischen Alb und ebenfalls bevölkerungsreicher als die nordwestlich nächstgelegenen Städte, die württembergische Oberamtsstadt Rottweil und die badische Bezirksstadt Villingen. Der Oberamtssitz Spaichingen wurde 1828 zur Stadt erhoben, die ländlichen Siedlungen Schwenningen und Trossingen, die durch ihre industrielle Entwicklung gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine massive Bevölkerungszunahme erfuhren, erst 1907 bzw. 1927. Demgegenüber waren die an der Donau gelegenen, für den deutschen Südwesten typischen sogenannten Zwergstädte Mühlheim und Fridingen mit im 19. Jahrhundert kaum tausend Einwohnern mittelalterlichen Ursprungs und schon im Alten Reich durch das Stadtrecht privilegiert. Rechtlich waren sie daher zwar von Landgemeinden abgrenzbar, sozioökonomisch dagegen kaum. Die folgende Abb. 4 basiert daher nicht auf dem rechtlichen Stadtbegriff, sondern auf der 1822 eingeführten quanti¿zierenden Einteilung in Gemeindegrößenklassen.32
32
In Württemberg wurden mit dem Verwaltungsedikt von 1822 die Gemeinden nach der Einwohnerzahl in drei Klassen eingeteilt: I. Klasse über 5.000, II. Klasse 5.000–1.000, III. Klasse unter 1.000 Einwohner. Die Gemeinden der III. Klasse wurden Landgemeinden genannt, auch wenn es sich um sogenannte Zwergstädte handelte.
44
2 Bedingungen von Migration in Württemberg
100% 1
90%
1 1
2
80%
2
Einwohner
70%
1 10
60%
1
11
50% 10
40% 30% 19
20
18
12
10
13
1834
1871
1910
20% 10% 0%
Die Zahlen in den Feldern geben die Anzahl der Gemeinden an.
unter 500
500–999
1000–1999
2000–4999
5000–9999
10000–19999
Abb. 4: Verteilung der Bevölkerung des Untersuchungsgebietes nach Gemeindegrößen-klassen 1834–1910 Quelle: Erstellt vom Verfasser nach Bevölkerungszählungen in den WJB 1834–1910.
Abb. 4 spiegelt wider, dass es zwischen 1834 und 1871 auch in den Oberamtsstädten Tuttlingen und Spaichingen kein nennenswertes Bevölkerungswachstum gab und dass die Bevölkerung in den kleinen und kleinsten Gemeinden stagnierte oder sogar zurückging. Die Bevölkerungsvermehrung wirkte sich also in diesem Zeitraum im Untersuchungsgebiet gleichmäßig aus, denn die industrielle Entwicklung, die in anderen Teilen Württembergs in den 1860er Jahren stärker einsetzte, beeinÀusste die Bevölkerungsentwicklung im Untersuchungsgebiet, dessen Struktur damals noch weitgehend von der Landwirtschaft bestimmt war, bis 1871 kaum. Der Zeitabschnitt zwischen 1871 und 1910 war in Württemberg durch die volle Entfaltung der industriellen Wirtschaft gekennzeichnet. Die damit einhergehende starke Bevölkerungszunahme wirkte sich daher ganz überwiegend auf das Wachstum der Industrieorte und der Städte aus, wie hier in Abb. 4 für das Untersuchungsgebiet zu sehen ist. Der Anteil der drei größeren Gemeinden von über zweitausend Einwohnern (Tuttlingen, Spaichingen und Trossingen) an der Gesamtbevölkerung, der sich von 1834 zu 1871 mit jeweils ca. 25 % kaum verändert hatte, stieg bis 1910 auf ca. 45 %. Durch die Gründung des Deutschen Reiches wurden die südwestdeutschen Staaten in einen größeren Wirtschaftsraum einbezogen. Der zügige Ausbau des Verkehrsnetzes, insbesondere der Eisenbahnen, förderte das wirtschaftliche Wachstum und die Konzentration auf güns-
2.4. Politische Repression und kommunale Auswanderungsförderung
45
tige Standorte. Der Anteil der städtischen an der Gesamtbevölkerung Württembergs wuchs von 24,1 % 1834 über 29,9 % 1871 auf 43,2 % 1910.33 2.4. Politische Repression und kommunale Auswanderungsförderung 2.4 POLITISCHE REPRESSION UND KOMMUNALE AUSWANDERUNGSFÖRDERUNG Das „Recht des freien Zuges“ war in Württemberg erstmals bereits 1514 im Tübinger Vertrag34 anerkannt worden. Dieser garantierte den freien und unentgeltlichen Abzug von Untertanen. Die merkantilistische Politik ging jedoch noch im 18. Jahrhundert davon aus, dass der Reichtum eines Landes in seiner Bevölkerung liege, und ließ deshalb Personen (und mit ihnen Güter) nicht gerne ziehen und erschwerte Auswanderungen durch Abzugssteuern (sogenannte Manumissionen). Im 19. Jahrhundert bereitete die Idee des Liberalismus, die sich in Europa von Nordwesten nach Südosten ausbreitete, der kaum eingeschränkten Auswanderungsfreiheit, die eine der Voraussetzungen zur Massenemigration war, auch in Württemberg den Weg. Nach dem Ende des Alten Reiches wurde mit der Gründung des Deutschen Bundes die allgemeine Auswanderungsfreiheit für alle Mitgliedstaaten 1815 in der Bundesakte festgeschrieben und einzelstaatlich in der Württembergischen Verfassung von 1819 verankert.35 Damit galt das Recht zur Auswanderung für jeden württembergischen Staatsbürger, der diese Absicht bei seiner Heimatgemeinde angezeigte, wenn er auf sein Staats- und Ortsbürgerrecht verzichtete und etwaige Schulden beglichen hatte.36 Waren diese Bedingungen erfüllt, fügte der Gemeinderat dem Antrag eine Stellungnahme bei, „dass der Auswanderung des Antragstellers unseres Wissens kein Hindernis im Wege steht“, und leitete die entsprechenden Papiere an das zuständige Oberamt weiter, das über „die nachgesuchte Entlassung aus dem württembergischen Staats- und Gemeindeverband“ zu beschließen hatte. Einschränkungen bestanden nur, soweit die WehrpÀicht 33
34 35
36
Vgl. das Beiwort zur Karte XII,3: Bevölkerungsentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Städte 1834–1970, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg, Erläuterungen, 4 (Tab. 1: Die städtische Bevölkerung in den ehemaligen Landesteilen von 1834 bis 1919). Vertrag zwischen Herzog Ulrich von Württemberg als Landesherrn und den Prälaten und der Landschaft von Württemberg als Vertreter der Landstände vom 8. Juli 1514; abgedruckt bei Reyscher (Hg.), Württembergische Gesetze, Bd. 2, 42. Verfassungs-Urkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819, § 24: Der Staat sichert jedem Bürger Freiheit der Person, Gewissens- und Denk-Freiheit, Freiheit des Eigenthums, und Auswanderungs-Freiheit; abgedruckt bei Gaupp, VerfassungsUrkunde für das Königreich Württemberg. Vgl. Verfassung § 32 und „Bekanntmachung des Oberamtes an die Schultheißenämter die Behandlung der Auswanderungsgesuche betreffend“; abgedruckt in: Gränzbote Nr. 22 vom 19.3.1847.
46
2 Bedingungen von Migration in Württemberg
tangiert wurde, wobei allerdings solche Auswanderungsbeschränkungen gerade für junge Männer schwer durchzusetzen waren, wie Fahndungsbekanntmachungen nach Rekruten im Gränzboten zeigen.37 Nachdem 1817 bei der ersten großen Auswanderungswelle des 19. Jahrhunderts verarmte Württemberger in den europäischen Hafenstädten „gestrandet“ waren, da sie ihr Reisegeld bereits aufgezehrt hatten – der Frittlinger Schneider Alois Zimmerer („ein äußerst armer Mann“) war damals mit seiner neunköp¿gen Familie gar nur bis Köln gekommen38 – baute der württembergische Staat durch die Entsendung von Konsuln ein System der Auswanderungsfürsorge auf. Merkantilistisches Denken war aber auch noch im Zeitalter des Liberalismus in der württembergischen Regierung weit verbreitet. Auswanderung wurde als nationale Tragödie gesehen, wobei die Heimat Menschen (Humankapital) und Geldvermögen (Finanzkapital) verlor. In Württemberg wurde z. B. das ausgeführte Vermögen während des ganzen 19. Jahrhunderts in den Auswanderungsakten notiert. Nationalisten fanden darüber hinaus die Emigration unpatriotisch. Auswanderung, besonders die zunehmende Emigration junger, unverheirateter Frauen, wurde moralisch kritisch gesehen. Beispielsweise erschienen im Untersuchungsgebiet Zeitungsartikel mit Warnungen von Pfarrern, die mangelnde soziale Kontrolle beklagten und Emigration im Zusammenhang mit Prostitution sahen.39 In der Praxis versuchten die Kommunen vielfach, die Auswanderung als eine spezi¿sche Form der ArmenpÀege zu handhaben. Während die württembergische Regierung die Auswanderungspolitik gesetzlich festlegte, oblag den Gemeinden die ArmenpÀege. Auf lokaler Ebene waren die Folgen von Malthus’ Gesetz – Verelendung breiter Schichten durch exponentielles Bevölkerungswachstum – daher am frühesten spürbar, weswegen die kommunalen Amtspersonen die Auswanderung gezielt zu fördern begannen. Als die Zahl der Ortsarmen und damit die Kommunalausgaben für Armenunterstützung in den krisenhaften 1840er Jahren immer weiter anstieg, entstand in Württemberg – ähnlich wie im benachbarten Baden – ein Modell, das Auswanderung und ArmenpÀege miteinander verband. Neben der Einführung des StrohhutÀechtens als Armengewerbe in der Baar40 und den gescheiterten Versuchen, in Notstandsgebieten wie dem Heuberg eine Uhrenindustrie an-
37
38 39 40
Beispielhaft folgender Vorgang: „Die beiden militärpÀichtigen Rekruten Christian Hauser, Gerbergeselle, und Simon Vosseler, Bauernknecht, beide im 21. Lebensjahre stehend und von Thuningen, welche sich eigenmächtig aus ihrer Heimat entfernt haben, werden auf das Rathaus vorgeladen.“ (Gränzbote Nr. 25 vom 31.3.1847). Vier Wochen später wird nach ihnen gefahndet. (Gränzbote Nr. 33 vom 28.4.1847). StAS Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 36, 39, 41. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Bü 192 „Auswanderungs-Agenten“. OAB Tuttlingen, 328.
2.4. Politische Repression und kommunale Auswanderungsförderung
47
zusiedeln41, wurde die Förderung der Auswanderung nach Übersee auf öffentliche Kosten als weiteres sozialpolitisches Instrument eingesetzt. Die Gemeinden gingen dabei von dem Kalkül aus, dass sie die einmalige Zahlung von Reisegeld im Endeffekt billiger zu stehen käme, als mittellose Gemeindeglieder längerfristig mit Armenunterstützung zu versorgen. Neben verarmten Familien wurde auch anderen sozial Stigmatisierten wie ledigen Müttern oder Kleinkriminellen die Auswanderung nach Amerika durch einen Reisekostenbeitrag aus öffentlichen Kassen erleichtert. Die unterschiedlichen Positionen von Kommunen, Oberamt und Innenministerium zur öffentlichen Förderung der Nordamerikaauswanderung lassen sich exemplarisch am Schriftwechsel zwischen dem Königlichen Ministerium des Innern in Stuttgart, dem Oberamt Spaichingen und der Gemeinde Mahlstetten aus dem Januar und Februar 1853 ablesen, wo es um die Kostenübernahme der Auswanderung von sechs Familien mit 28 Personen aus Mahlstetten nach Nordamerika ging. Die Gemeinde stellte die Übernahme eines Drittels der Reisekosten von 2.080 À in Aussicht, wenn der Staat die restlichen zwei Drittel übernähme. Dieser sah sich jedoch dazu nicht in der Lage, so dass diese Auswanderung nicht zustande kam.42 Die Kommunen waren am stärksten daran interessiert, Gemeindeglieder auf öffentliche Kosten nach Amerika zu befördern und begründeten dies offen mit langfristiger Kostenersparnis durch den Wegfall der Armenunterstützung und (bei Familien) mit der Übernahme von Allmende und Bürgernutzen. Das Innenministerium dagegen war restriktiv bei der Vergabe öffentlicher Reisemittel und lehnte Anträge auf Zuschüsse oft ab. Der Tuttlinger Oberamtmann, der dem Innenministerium unterstellt war und die Maßnahmen der Regierung in seinem Amtsbezirk durchsetzen musste, stand der Amerikaauswanderung ebenfalls kritisch gegenüber.43 Dennoch wurde im Untersuchungsgebiet zwischen 1845 und 1871 die Auswanderung von 287 Personen – das entsprach in diesem Zeitraum rund acht Prozent aller amtlich registrierten Nordamerikaauswanderer – größtenteils von den Kommunen, aber auch von privaten oder kirchlichen Stiftungen, in Einzelfällen auch vom Staat, gefördert.44 Neben dieser Förderung freiwilliger Auswanderung wurden in mehreren Gemeinden des Untersuchungsgebietes – verstärkt seit den 1840er Jahren, in denen sich die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse krisenhaft zuspitzten – Arbeits- und Zuchthausinsassen zwangsweise nach Nordamerika abgeschoben. So wurde 1846 der Häftling Maurus Merkle aus Fritt41
42 43 44
Zum „Plan zur VerpÀanzung eines neuen Gewerbezweiges in die Gegend des Heubergs“ des „Ausschusses der Gesellschaft für die Beförderung der Gewerbe in Württemberg“ von 1831 und dessen endgültiger Ablehnung durch das Königliche Ministerium des Innern 1837 detailliert Meyer, Gewerbe und Industrie, 38 f. HStAS E 143, Bü 545 [11]. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 198. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Bü 190–224; StAS Wü 65/32, Bü 35–57.
48
2 Bedingungen von Migration in Württemberg
lingen, der wegen zweier Diebstähle zu drei Jahren Arbeitshaus in Ludwigsburg verurteilt worden war, zur Auswanderung nach Amerika begnadigt, nachdem er um Nachlass seiner Strafe „behufs Auswanderung nach Amerika“ gebeten hatte.45 Diese Abschiebungspraxis wurde von den Behörden im Zuge der politischen Säuberungen in Württemberg nach der gescheiterten 1848er Revolution auch auf politische Gefangene ausgeweitet und damit als Instrument eingesetzt, die restaurativen Tendenzen im Königreich zu stärken.46 Die Revolution von 1848 war ein europäisches Ereignis, das sich von Frankreich ausgehend schnell ins benachbarte Baden ausbreitete und von dort auch nach Württemberg übergriff. Ihre Auswirkungen waren daher auch in dem an der badischen Grenze gelegenen Untersuchungsgebiet zu spüren.47 Das Königreich Württemberg hatte sich 1819 eine Verfassung gegeben, die liberale Reformen zwar versprach, aber nicht einlöste. Stattdessen setzte in den 1820er Jahren und insbesondere nach dem Hambacher Fest 1832 eine Periode der Repression und Reaktion ein, welche die liberalen Reformversuche und -hoffnungen weitgehend erstickte. Forderungen nach Pressefreiheit, Volksbewaffnung, Gewaltenteilung, Geschworenengerichten, Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament verhallten ungehört. Daraufhin wuchs angesichts der immer schwieriger werdenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den 1840er Jahren die Bereitschaft, durch offene, auch gewaltsame Aktionen Veränderungen herbeizuführen.48 Obwohl das ländlich geprägte württembergische Untersuchungsgebiet 1848/49 nicht im Zentrum des revolutionären Geschehens stand, kam es auch dort zu Unruhen. Dabei handelte es sich neben dem „Renquishauser AuÀauf“49 gegen die Grundherrschaft und den Frittlinger Unruhen, die sich während der Faschingszeit 1848 in tätliche Angriffe auf den Ortspfarrer auswuchsen50, vor allem um die Aktivitäten von Einzelpersonen wie des Buchhändlers Sixt Ludwig Kapff sowie einiger Gastwirte und KauÀeute in Tuttlingen51 und andernorts im Untersuchungsgebiet.52 Sie wurden von weiten Teilen der Bevölkerung, vor allem Handwerkergesellen und Angehörigen ländlicher Unter45 46
47 48 49 50 51 52
StAS Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 39 und 43. Im Untersuchungsgebiet kam es unter etwa 3.900 Auswanderungen des Zeitraumes 1830–1880 zu 18 Abschiebungen von SträÀingen oder Arbeits- und Zuchthausinsassen zwischen 1846 und 1870. Diese geschahen schwerpunktmäßig in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre (acht Personen), in den späten 1850er Jahren (drei Personen) sowie in den 1860er und 1870er Jahren (vier bzw. drei Personen). StAS Wü 65/37, Bd. 1 Bü 190– 224; StAS Wü 65/32, Bü 35–57. Näheres zur 1848er Revolution im Untersuchungsgebiet in Bilgen, Revolution 1848/49. Ebd. 5 f. Vgl. Schuster, Renquishausen, 9–19. Näheres zur Revolution von 1848 in Frittlingen bei Rottler, Geschichte des Dorfes, 43– 53. Zur Revolution in der Stadt Tuttlingen vgl. Forderer, Tuttlingen im Wandel, 221–231. Vgl. die Einzelheiten bei Bilgen, Revolution von 1848/49, 9–12.
2.4. Politische Repression und kommunale Auswanderungsförderung
49
schichten, unterstützt. Im März 1848 kamen in Tuttlingen die Bürger zu einer Volksversammlung zusammen, zu der wenige Tage vorher der vom Buchhändler Kapff gegründete Bürgerverein aufgerufen hatte. Kapff, der Mühlheimer Kaufmann Franz Anton Leibinger und der Tuttlinger Dreikönigswirt Johannes Reichle wurden daraufhin als vehemente Befürworter von Republik und Demokratie verhaftet und später unter der Bedingung, nach Amerika auszuwandern, freigelassen.53 Nach der gescheiterten Revolution trat in Württemberg eine Phase der Restauration ein, die von politischen Säuberungen und der Zurücknahme einiger unter Druck gegebener Freiheitsrechte, wie z. B. der Pressefreiheit, gekennzeichnet war. So hatten beispielsweise der Gränzbote und der Heuberger Bote, die unter der Zensur des Innenministeriums gestanden und politische Nachrichten stets aus dem regierungsfreundlichen überregionalen Blatt Schwäbischer Merkur übernommen hatten, 1848 die Pressefreiheit erlangt. Nach dem Scheitern der Revolution und der Niederschlagung des bis ins angrenzende Württemberg ausstrahlenden badischen Volksaufstandes im folgenden Jahr wurde ihr Inhalt jedoch wieder vom Oberamtmann überwacht. Dieser konstatierte im Dezember 1849 in einem Bericht an die Kreisregierung, dass die Lokalblätter „wahre Pestbeulen für das Volk“ seien und „im ganzen Bezirke, besonders von der niederen Volksclasse Àeißig gelesen“ würden.54 Es verwundert daher nicht, dass die Gemeindeverwaltungen ganz im Sinne ihrer auf Auswanderungsförderung angelegten „Sozialpolitik“ durch den Abdruck von positiv gestimmten Briefen oder Nachrichten aus Amerika eine auswanderungsfreundliche Stimmung schufen, die besonders die Emigration von Angehörigen der Unterschichten favorisierte.55
53 54 55
Ebd. 22–37. Staatsarchiv Ludwigsburg, E 177 Büschel 570. Zit. n. Kramer, Amtsblätter und Zeitungen, 75. Vgl. Gränzbote Nr. 62 vom 6.8.1848; Gränzbote Nr. 16 vom 29.2.1848; Gränzbote Nr. 9 vom 30.1.1849.
3 FORMEN DER MIGRATION AUF DER SCHWÄBISCHEN ALB Zwischen 1815 und 1914 verließen schätzungsweise zehntausend Migranten1 aus dem Untersuchungsgebiet unter rund vierhunderttausend Württembergern2 bzw. fünfeinhalb Millionen Deutschen3 ihre Heimat und überquerten den Atlantik, während eine weitaus größere Anzahl ihrer Zeitgenossen die Binnenwanderung bevorzugte und die große Mehrheit der übrigen Einwohner ein Leben lang an ihren Geburtsorten verblieb. Im Untersuchungsgebiet, das damals zu den von der transatlantischen Migration und der sonstigen Abwanderung stärker betroffenen Regionen Württembergs gehörte, ist diese Koexistenz verschiedener Wanderungsverläufe deutlich festzustellen. Ein Vergleich des Migrationsverhaltens zeigt die unterschiedliche Beteiligung von Angehörigen einzelner Personengruppen an der Migration zu verschiedenen Wanderungszielen. Schließlich lassen sich in den Teilräumen des Untersuchungsgebietes spezi¿sche Migrationsmuster nachweisen. 3.1 KOEXISTENZ VERSCHIEDENER WANDERUNGSVERLÄUFE Um das Nebeneinander verschiedener Wanderungsverläufe im damaligen Königreich Württemberg zu zeigen, wird in Abb. 5 die Auswanderung zunächst zur Einwanderung und Binnenwanderung in Beziehung gesetzt.4 1
2 3
4
Diese Zahl beruht auf Schätzungen des Verfassers anhand in Schiffspassagierlisten identi¿zierter Migranten aus dem Untersuchungsgebiet. Danach konnten zwischen 1830 und 1914 5.749 Personenankünfte nachgewiesen werden. Da in der stärksten Phase der transatlantischen Massenmigration von der Schwäbischen Alb zwischen 1846 und 1855 die Schiffspassagierlisten in der Regel keine Heimatorte angeben, ist davon auszugehen, dass etliche Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in den Schiffspassagierlisten nicht identi¿ziert werden konnten. Zur Problematik der Zahlenangaben vgl. v. Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, 115 (Anm. 1). Vgl. Nugent, Crossings. Nugent gebührt das Verdienst, die transatlantischen Migrationen des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig und inhaltlich in einen Gesamtzusammenhang gestellt zu haben. Zwischen 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges waren die USA für zwei Drittel der insgesamt knapp 37 Millionen Europäer, die den Atlantik überquerten, das Ziel. Das andere Drittel – mehr als zwölf Millionen Menschen – ging nach Kanada, Argentinien und Brasilien. (Zahlenangaben ebd. 14). Vgl. den Forschungsüberblick von Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 79, wo es heißt: „In der Geschichte der transnationalen Migrationen aus und nach Deutschland sind einige Fragen offen geblieben. Dies betrifft vor allem die Verbindung von Auswanderung und
52
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000
Auswanderung
1895
1899
1891
1883
1887
1875
1879
1871
1863
Einwanderung
1867
1859
1855
1851
1847
1843
1839
1835
1827
1831
1823
1819
0
1815
5.000
Binnenwanderung
Abb. 5: Wanderungsverläufe in Württemberg 1815–1895 Quelle: Vom Verfasser anhand der WJB zusammengestellt. Die Lücken in den Kurven beruhen auf der Quellenlage. Über 1895 hinaus ¿nden sich in den WJB keine Zahlen zur Auswanderung mehr.
Im Vergleich zum wellenförmigen Verlauf der Auswanderung aus Württemberg blieb die Einwanderung dorthin bis in die zweite Hälfte der 1880er Jahre auf niedrigem Niveau konstant, um erst dann leicht anzusteigen. Die Aus- und Einwanderung übertraf im 19. Jahrhundert die Binnenwanderung um ein Vielfaches und steigerte sich besonders durch die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung einzelner württembergischer Landesteile – z. B. des Neckarraumes – von der Jahrhundertmitte an mit hohen Wachstumsraten. Abb. 6 zeigt den aus den oberamtlichen Auswanderungsverzeichnissen gewonnenen zahlenmäßigen und zeitlichen Verlauf der Auswanderungen aus dem Untersuchungsgebiet seit 1815, der im Wesentlichen dem allgemeinen Muster der württembergischen Emigration im 19. Jahrhundert5 folgte. Der Begriff „Auswanderung“ wird hier im staatsrechtlichen Sinne verwendet, so dass die Gra¿k nicht diejenigen Migrationsbewegungen anzeigt, die ohne Aufgabe der württembergischen Staatsbürgerschaft vonstatten gingen, sich also nicht auf die sogenannte „heimliche Auswanderung“ erstreckten oder an-
5
Einwanderung. Der Anspruch, die drei Typen von Migration – Einwanderung, Binnenwanderung und Auswanderung – als wechselseitig verbunden anzusehen, ist ganz überwiegend Forschungsprogramm geblieben und bisher kaum empirisch eingelöst worden.“ Vgl. Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, 149 (Abb. 8): Of¿ziell erfasste Auswanderung aus dem Kgr. Württemberg und Entwicklung des Dinkelpreises.
3.1 Koexistenz verschiedener Wanderungsverläufe
53
Personen
1200 1000 800 600 400 200 0
Auswanderer nach deutschen und europäischen Staaten
Auswanderer nach Nordamerika
Abb. 6: Auswanderungen aus dem Untersuchungsgebiet nach europäischen Zielländern und nach Nordamerika zwischen 1815 und 1882 Quelle: Ausgezählt vom Verfasser nach: StAS Wü 65/37 Bd. 1 Nr. 191–199 und Wü 65/32 Bd. 1 Nr. 36–41.
dere Wanderungsformen wie z. B. zirkuläre oder temporäre Migrationen erfassten. Den Beginn der Auswanderungen markiert in der Gra¿k das Jahr 1815, als auf dem Wiener Kongress der Deutsche Bund ins Leben gerufen wurde, in dessen Bundesakte für alle Mitgliedstaaten die allgemeine Auswanderungsfreiheit festgeschrieben wurde.6 Zu diesem Zeitpunkt gehörten alle 44 der vorher in (alt)württembergischen, vorderösterreichischen, reichsstädtischen, geistlichen oder reichsritterschaftlichen Territorien gelegenen Gemeinden des Untersuchungsgebietes nach der im Zuge der Säkularisierung und Mediatisierung erfolgten Napoleonischen Neuordnung Südwestdeutschlands zu dem territorial stark erweiterten württembergischen Staatsgebiet.7 Das Ende der Gra¿k auf das Jahr 1882 zu legen, hat praktische Gründe, denn das amtlich geführte Auswanderungsverzeichnis8 endet für das Oberamt Tuttlingen in diesem Jahr. Auffällig an der Gegenüberstellung beider Auswanderungsverläufe ist, dass nach der singulär hohen Auswanderungsspitze 1817 die Auswanderung aus dem Untersuchungsgebiet nach deutschen und europäischen Staaten, vor 6
7 8
Verfassungs-Urkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819, § 24: Der Staat sichert jedem Bürger Freiheit der Person, Gewissens- und Denk-Freiheit, Freiheit des Eigenthums, und Auswanderungs-Freiheit; abgedruckt bei Gaupp, VerfassungsUrkunde. Zu den territorialen Verhältnissen um 1800 im heutigen Kreisgebiet Tuttlingen siehe die Karte bei Waibel, Auswanderungen vom Heuberg, 13. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191–199 und Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 36–41.
54
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
allem nach dem benachbarten Baden und der nahen Schweiz, in einem relativ stetigen Strom verlief, während die Auswanderung nach Nordamerika im Laufe des 19. Jahrhunderts deutliche Spitzen aufwies und damit im Zeitablauf ganz unterschiedliche Intensitäten hatte. Die erste Massenauswanderung aus Württemberg setzte schlagartig im Krisenjahr 1817 ein, als infolge zweier Missernten der Getreidepreis schwindelerregende Höhen erreichte und eine Hungersnot auslöste.9 In Trossingen z. B. verdarben im Jahr 1816 das Getreide und die Kartoffeln infolge dramatischer Witterungsverhältnisse. Das Vieh konnte nicht mehr ausreichend gefüttert werden, die Kühe gaben keine Milch mehr. Im Frühjahr 1817 war die Hälfte des Viehbestandes an einer Seuche eingegangen. Die ärmeren Schichten der Trossinger Bevölkerung ernährten sich von mit Sägemehl gestrecktem Kleiebrot. Die Trossinger Gemeindeverwaltung reagierte auf die Not der Bevölkerung bereits im Herbst 1816 mit der Aufstellung von öffentlichen Suppenküchen und der leihweisen Verteilung von Brot- und Saatgetreide an Bedürftige.10 Die zweite große Auswanderungswelle aus Württemberg begann 1846 und hielt bis 1855 an. Unmittelbar ausgelöst wurde sie – wie schon 1817 – von Missernten infolge von Hagelschäden und anderen widrigen Witterungsbedingungen. Dazu kamen noch die Folgen der in den 1840er Jahren in weiten Teilen Europas grassierenden Kartoffelfäule, woraufhin die Gemeinden abermals Suppenküchen einrichteten.11 Wieder setzte die Auswanderungswelle in den Jahren 1846/47 abrupt ein, ging zwischen 1848 und 1851 zurück, um dann in den Jahren zwischen 1852 und 1854 auf ein nie mehr erreichtes Niveau anzuwachsen. Allein 1854 wanderten knapp fünfhundert Personen und damit knapp 1,5 % der Bevölkerung aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Nordamerika aus. Die Krisenjahre 1846 bis 1855 bildeten somit die Höhepunkte der großen Auswanderungswelle zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als Hunderte von Menschen aus der Baar, dem Albvorland, dem Oberen Donautal und vom Heuberg „in der Hoffnung auf besseres Glück“ nach Nordamerika zogen.12 Die Auswanderungswelle verlor 1855 an Schwung, als erste Berichte aus Amerika eintrafen, dass die neuen Einwanderer dort Schwierigkeiten hätten, Arbeit zu ¿nden. So heißt es in einem von einem württembergischen Konsularbeamten aus Philadelphia an das Außenministerium nach Stuttgart gesandten Brief im Februar 1855: 9 10 11 12
Zur Massenauswanderung 1817 vgl. Moltmann (Hg.), Aufbruch nach Amerika. Vgl. dazu Wilhelm, Trossinger Heimat, 131–141. Ebd. 141–147. Hippel, Auswanderungen aus Südwestdeutschland, 115, geht davon aus, dass zumindest bis in die 1850er Jahre „überwiegend die materielle Not im Ursprungsland die Massenauswanderung geprägt hat – sei es auch nur in der Form, dass man sich befürchteter oder drohender Verarmung zu entziehen suchte“.
3.1 Koexistenz verschiedener Wanderungsverläufe
55
Ich halte es für geboten, über einen Übelstand, unter dem hier so viele eingewanderte Württemberger wie andere Deutsche leiden, eine berichtliche Äußerung ehrerbietigst zu unterbreiten. […] Wie Eurem Hohen Ministerium bekannt seyn wird, haben wir in Amerika eine Geschäfts- und Geldkrisis, in Folge der viele große industrielle und comercielle Unternehmungen wenn nicht geradezu ganz aufhörten, doch sehr schwach fortbetrieben werden, so daß Hunderttausende von Arbeitern und Arbeiterinnen seit Monaten entweder ganz beschäftigungslos oder oft nur wenige Tage in der Woche beschäftigt sind.13
In den 1860er Jahren war diese Rezession zwar überwunden, doch wirkte sich der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) zunächst hemmend auf die Einwanderung nach Nordamerika aus. Nach Kriegsende kam es zu einer dritten Auswanderungswelle aus Württemberg, die von 1865 an etwa acht Jahre lang anhielt und bei der sich die Auswanderung aus dem Untersuchungsgebiet in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre bei etwa zwei- bis dreihundert Personen pro Jahr einpendelte, ohne jedoch das Niveau der Jahrhundertmitte zu erreichen. 1873 erfolgte ein abrupter Rückgang der Nordamerikaauswanderung, als eine wirtschaftliche Depression 1873 in den Vereinigten Staaten von Amerika die Einwanderung nahezu versiegen ließ. Anfang der 1880er Jahre schließlich kam es zur vierten und letzten größeren Auswanderungswelle aus Württemberg nach Nordamerika im 19. Jahrhundert. Auch diese schwächte sich jedoch 1893 deutlich ab, als sich in den Vereinigten Staaten von Amerika das wirtschaftliche Klima verschlechterte und sich gleichzeitig die wirtschaftlichen Verhältnisse in Württemberg verbesserten. Insgesamt wanderten zwischen 1815 und 1882 nach den behördlichen Auswanderungsverzeichnissen rund 4.500 Menschen aus dem Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Nordamerika aus. Im Vergleich mit den anderen Landesteilen des Königreiches Württemberg zählten die jährlichen Auswanderungsraten des Untersuchungsgebietes zu den höheren im Lande, blieben aber immer unter denen des dicht besiedelten Neckarraumes. Sie waren aber auch nicht so gering wie im traditionell dünner besiedelten Oberschwaben.14 Mitte der 1880er Jahre wuchs die Wirtschaft infolge der Industrialisierung stark an, so dass die Einwanderung nach Württemberg die Auswanderung erstmals zahlenmäßig übertraf. Mitte der 1890er Jahre Àaute die württembergische Nordamerikaauswanderung wieder ab, versiegte aber nicht völlig. Aus dem Auswanderungsland Württemberg war an der Wende zum 20. Jahrhundert ein Einwanderungsland geworden.15 Jedoch spielte die Ein13 14 15
HStAS Wü 65/32, Bü 35. Vgl. v. Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, 197 (Abb. 33: Wanderungsverluste bzw. -gewinne der württembergischen Oberämter 1846 bis 1855; Jahresdurchschnitt, in Prozent). Vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, 36 f.
56
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
wanderung in das Untersuchungsgebiet im gesamten 19. Jahrhundert nur eine untergeordnete Rolle. Wie gering sie bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 war, zeigt die Kategorisierung der Geburtsorte der ortsanwesenden Bevölkerung nach der Zollvereinszählung vom 1. Dezember 1871.16 Demnach waren 88,9 % der männlichen und 88,6 % der weiblichen Bevölkerung des Untersuchungsgebietes am Ort ihrer Zählung geboren worden, weitere 9,3 % bzw. 9,7 % in anderen württembergischen Gemeinden, jedoch nur 1,6 % bzw. 1,4 % im Zollverein und nur jeweils 0,3 % im Ausland. Von der damals aus 43.429 Personen bestehenden Gesamtbevölkerung des Untersuchungsgebietes waren also nur 765 keine gebürtigen Württemberger. Mit Ausnahme der Stadt Tuttlingen, in der ein Viertel der im Ort gezählten Männer zugezogen war, waren 1871 in allen Teilräumen des Untersuchungsgebiets mehr als neunzig Prozent der Wohnbevölkerung ortsgebürtig. Bei der Zählung von 1895 traf dies nur noch für 81,1 % der Männer und 81,8 % der Frauen im Untersuchungsgebiet zu.17 Im Gegensatz zu 1871 zeigen nun die Teilräume unterschiedliche Einwanderungsintensitäten: Neben der Stadt Tuttlingen, wo auf drei ortsgebürtige Männer nun zwei zugezogene kamen und sich auch unter der weiblichen Einwohnerschaft schon dreißig Prozent Zugezogene befanden, hatten auch die von der Industrialisierung und Urbanisierung Tuttlingens pro¿tierenden Städte und Dörfer des Oberen Donautales einen höheren Anteil Zugezogener als z. B. der noch nicht industrialisierte Heuberg. Das Albvorland, die Baaralb und die bis auf Trossingen noch wenig industrialisierte Baar verzeichnen 1895 trotz natürlichen Bevölkerungswachstums und eines höheren Anteils von Zuwanderern als in den Jahrzehnten zuvor eine niedrigere Gesamtbevölkerung als 1871. Dies zeigt deutlich, dass die Abwanderung während des gesamten 19. Jahrhunderts weite Teile des Untersuchungsgebiets prägte. 3.2 KOMPARATIVE ANALYSE DES MIGRATIONSVERHALTENS Obwohl die Auswanderung aus Württemberg im 19. Jahrhundert seit 1815 für jeden Untertanen erlaubt war, machte nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung von dieser Möglichkeit Gebrauch. Um herauszu¿nden, welche Charakteristika den mobilen Bevölkerungsteil kennzeichnen, werden die Auswanderer in einem ersten Schritt strukturell nach ihren Berufen mit der Wohnbevölkerung im Untersuchungsgebiet verglichen.18 16 17 18
Vgl. Zollvereinsstatistik 1834–1871, die für alle Gemeinden der insgesamt 64 württembergischen Oberämter in Form der sog. Oberamtsmappen gesammelt vorliegt (Staatsarchiv Ludwigsburg Bestand E 258 VIII). WJB 1895, Ergänzungsband II, 112, 118, 124. Da der beruÀiche Nebenerwerb in Württemberg im 19. Jahrhundert weit verbreitet war – die Zahl der Grundbesitzer und Viehhalter im Untersuchungsgebiet nach der Berufs-
3.2 Komparative Analyse des Migrationsverhaltens
57
Der Vergleich der Berufe der exakt zweitausend männlichen Auswanderer19 aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach allen Zielländern zwischen dem Beginn der transatlantischen Massenmigration aus dem Untersuchungsgebiet 1845 und dem Ende der Auswanderungsverzeichnisse des Oberamtes Tuttlingen 1882 mit dem Ergebnis der Berufszählung von 187120 in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen ergibt folgendes Bild: Unter allen Auswanderern waren die Beschäftigten im produzierenden Gewerbe, hier vor allem die Handwerker, im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung ebenso überrepräsentiert wie die abhängig in der Landwirtschaft beschäftigten Tagelöhner und Bauernknechte. Die selbstständigen Bauern dagegen nahmen zu einem geringeren Anteil an der Auswanderung teil als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach. Dasselbe gilt in einem noch größeren Maße für die Angehörigen des Dienstleistungssektors, also die in Handel, Verkehrswesen und im Gastwirtschaftsgewerbe Tätigen wie auch besonders für die Angehörigen freier Berufe sowie des Staats- und Kirchendienstes, die sich kaum an der Auswanderung beteiligten.21 Innerhalb der am stärksten an der Gesamtauswanderung aus dem Untersuchungsgebiet beteiligten Berufsangehörigen des sekundären Sektors22, also unter den Handwerkern und Fabrikarbeitern, sind im Vergleich zur Berufsstruktur des Untersuchungsgebietes in den Jahren 1861 und 1882, also in der Mitte bzw. am Ende der beobachteten Auswanderungsperiode nach Tab. 2 einige Branchen über- bzw. unterrepräsentiert. In der Entwicklung der einzelnen Branchen des sekundären Sektors zwischen 1861 und 1882 fällt der Niedergang der Textilindustrie auf, die im Untersuchungsgebiet binnen zwanzig Jahren mehr als zwei Drittel ihrer Beschäftigten verlor. Trotzdem waren die Angehörigen dieser Branche, worunter auch
19 20 21
22
zählung von 1871 lag etwa viermal so hoch wie die Zahl der selbstständigen Landwirte nach der Landwirtschaftszählung von 1873 – und die Abgrenzung von Haupt- und Nebenberuf bei den Berufsangaben in den Auswanderungslisten, Gewerbe- und Berufszählungen nicht nach identischen Kriterien de¿niert sein müssen, kann es in diesem Abschnitt zu Unschärfen bei der Einordnung in die entsprechenden Kategorien gekommen sein. Ungeachtet dessen dürften die hier gemachten Aussagen in ihrer Grundtendenz davon kaum berührt werden. Es handelt sich hierbei um männliche Einzelwanderer oder Familienoberhäupter. WJB 1876, IV, 16 f. (Tab. 1): Die ortsanwesende Bevölkerung nach Haupt-Berufs-Erwerbsklassen nach der Aufnahme vom 1. Dez. 1871. Vgl. Wegge, Occupational Self-selection. Auch Wegges Analyse von zehntausend hessischen Auswanderern zwischen 1852 und 1857 nach den Kriterien Beruf, Alter und ausgeführtem Geldvermögen belegt, dass die zwar vermögensschwachen, aber gut ausgebildeten Handwerker in der Nordamerikaauswanderung zur Mitte des 19. Jahrhunderts überrepräsentiert waren. Die Volkswirtschaftslehre unterscheidet üblicherweise drei Wirtschaftssektoren: primärer Sektor: Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei; sekundärer Sektor: Produktion materieller Güter mit Ausnahme der Urproduktion; tertiärer Sektor: Dienstleistungen.
58
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
die zahlreichen (Hand)Weber ¿elen, nur unterdurchschnittlich an der Auswanderung beteiligt. Dagegen konnte die Bekleidungsbranche in diesem Zeitraum – vor allem durch die Gründung von Schuhfabriken in Tuttlingen – ihren Beschäftigtenanteil verdoppeln. Schon vorher waren ihre Angehörigen – vor allem Schuster und Schneider – stärker an der Auswanderung beteiligt gewesen als es ihrem Anteil an der Bevölkerung 1861 entsprach. Tab. 2: Vergleich der Berufsstruktur der Auswanderer des sekundären Sektors aus dem Untersuchungsgebiet nach allen Zielen 1845–1882 mit der Berufsstruktur der Wohnbevölkerung der Oberämter Tuttlingen und Spaichingen
Branche im sekundären Sektor
N
Auswanderer nach allen Zielen 1845–1882 [in %]
Gewerbezählung 1861
Berufszählung 1882
[in %]
[in %]
1.391
7.284
7.009
Bau, Steine, Erden
19,0
17,2
17,4
Metallverarbeitung
12,7
10,8
9,9
Feinmechanik Holzverarbeitung Textilindustrie Bekleidung
7,6
3,3
10,9
11,8
8,7
5,9
8,8
28,3
8,4
22,1
17,0
35,4
Leder, Papier, Chemie
3,9
3,7
3,0
Nahrungs- und Genussmittel
13,6
10,6
8,7
Graphisches u. künstlerisches Gewerbe
0,5
0,4
0,4
100,0
100,0
100,0
Summe
Quellen: Gewerbezählung 1861 und Berufszählung 1882 nach den WJB.
Eine weitere gravierende Veränderung in Industrie und Handwerk, die sich in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts vollzog, war das Aufkommen feinmechanischer Betriebe im Untersuchungsgebiet, vor allem der chirurgischen Instrumentenmacher in Tuttlingen und der Mundharmonikamacher in Trossingen. Durch ihr rapides Wachstum – ihr Beschäftigtenanteil unter den Erwerbstätigen im sekundären Sektor hatte sich zwischen 1861 und 1882 mehr als verdreifacht – überÀügelte die Beschäftigtenzahl der feinmechanischen Industrie in den 1880er Jahren die der metallverarbeitenden Industrie, wobei
3.2 Komparative Analyse des Migrationsverhaltens
59
beide Branchen überproportional viele Auswanderer stellten. Dasselbe gilt auch für die Beschäftigten der zahlenmäßig bedeutenden, aber noch ganz der traditionellen handwerklichen Fertigungsweise verhafteten holzverarbeitenden Industrie, der Nahrungsmittelproduktion und des Bauhandwerks. In einem zweiten Schritt erfolgt eine differenzierte, auf einzelne Zielländer der Migration bezogene Berufsanalyse von zweitausend männlichen Auswanderern aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in den Jahren zwischen 1845 und 1882. Mehr als drei Viertel davon zogen als Überseewanderer nach Nordamerika, ein knappes Viertel als Nah- und Fernwanderer etwa zu gleichen Teilen nach anderen deutschen oder europäischen Staaten. Der Vergleich der Auswanderungszielländer zeigt, dass die Angehörigen bestimmter Berufe spezi¿sche Wanderungsziele bevorzugten: Nordamerika und Baden waren mit großem Abstand unter den in der Landwirtschaft Beschäftigten die bevorzugten Zielgebiete. So stammten im Untersuchungsgebiet 37,6 % aller Männer, die of¿ziell nach Baden „auswanderten“, aus der Landwirtschaft, knapp drei Viertel von ihnen selbstständige Bauern. Daneben wanderten noch etliche Müller aus dem Untersuchungsgebiet ins angrenzende Baden ab, was belegt, dass dieses Nachbarland vor allem der dörÀichen Mittel- und Oberschicht, auch im Rahmen von Heiratsverbindungen, eine gute Zukunft bot. 26,3 % der Nordamerikaauswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen kamen aus dem Agrarsektor. Allerdings war hier der Anteil der Bauernknechte und der in der Landwirtschaft beschäftigten Tagelöhner nahezu gleich hoch wie der Anteil der Bauern. Nordamerika bot demnach auch abhängig in der Landwirtschaft Beschäftigten eine Perspektive. Aus- oder Abwanderungen aus der Landwirtschaft in andere Zielgebiete wie die übrigen Staaten des Deutschen Bundes, die Schweiz, das Elsass, Österreich und Ungarn oder in andere überseeische Länder spielten dagegen kaum eine Rolle. Zwischen 1845 und 1882 stammten knapp drei Viertel der berufstätigen Männer, die aus dem Untersuchungsgebiet in das bis 1871 zum französischen Staatsgebiet gehörende Elsass auswanderten, aus dem Baugewerbe, allen voran Maurer und Gipser. Die Schweiz wiederum, die damals einen höheren industriellen Entwicklungsstand als das württembergische Untersuchungsgebiet hatte, zog überproportional viele Wirte, KauÀeute und Feinmechaniker sowie Bau- und Holzhandwerker an. Österreich, das bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Landesherrschaft des ehemaligen Hohenberger Amtes mit dem Amtssitz Spaichingen war, sowie das im 19. Jahrhundert zur Habsburger Monarchie gehörende Ungarn hatten den höchsten Anteil an Bierbrauern, Fabrikanten, FreiberuÀern sowie Personen aus dem Staats- oder Kirchendienst unter den Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet. Bei der Auswanderung nach deutschen und europäischen Zielländern war die beruÀiche Spezialisierung der Auswanderer umso größer, je weiter die Auswanderungsziele vom Untersuchungsgebiet entfernt lagen. Dies zeigt
60
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
sich vor allem an den schwäbischen Uhrmachern und Tuttlinger Messerschmieden23, deren Handwerk vielerorts gefragt war. So gingen beispielsweise Uhrmacher aus der Baar und vom Heuberg nach Ungarn, Dänemark, in die Niederlande und nach Ostasien, wie Anträge zur Auswanderung nach Hongkong, China und Japan belegen.24 Andere wanderten vom Heuberg nach England und Schottland aus, wo sie weiterhin das Uhrmacherhandwerk ausübten.25 Uhrmacher aus dem Untersuchungsgebiet fanden sich vereinzelt aber auch sowohl im südbadischen Uhrengebiet, hier vor allem in den Bezirksämtern Donaueschingen und Villingen, als auch in den Schweizer Kantonen Bern und Neuchâtel im Herzen der Schweizer Uhrenindustrie um die Stadt La Chaux-de-Fonds. Einen großen Aktionsraum innerhalb Europas hatten auch die renommierten Tuttlinger Messerschmiede, wie die Auswanderungsziele Paris, Dänemark, die Niederlande, die Schweiz, oder weiter entfernte Gebiete innerhalb des Deutschen Bundes (Holstein, Oldenburg und Preußen) zeigen. Unter den Auswanderern nach Nordamerika waren im Vergleich zu anderen Auswanderungszielen – wie auch zur Gesamtbevölkerung des Untersuchungsgebietes – neben den in der Landwirtschaft abhängig Beschäftigten überproportional viele Schuster, Schneider, Schreiner, Bierbrauer und Beschäftigte des metallverarbeitenden Gewerbes, dagegen nur wenige Bauhandwerker. Auch wanderten dorthin anteilsmäßig deutlich mehr Weber aus. An der Überseewanderung von der Schwäbischen Alb beteiligten sich also vorwiegend Angehörige ländlicher Unterschichten oder in Württemberg stark besetzter Massengewerbe, weniger Spezialhandwerker oder Bauern. Der Vergleich des Migrationsverhaltens von Angehörigen verschiedener Berufe nach verschiedenen Zielländern zeigt den hohen Anteil der im ländlichen Bedarfshandwerk bzw. in landwirtschaftlichen Hilfsberufen tätigen unterbäuerlichen Schichten an der Nordamerikaauswanderung aus dem Untersuchungsgebiet. Zugleich macht er die Ausnahmestellung Nordamerikas in der Wanderungsgeschichte deutlich, und begründet, warum dieses schon zu Kolonialzeiten als „best poor man’s country“ beschrieben wurde.26
23 24 25 26
Zur breiten geographischen Streuung von Angehörigen dieser Berufsgruppen siehe auch Streng, Auf der Walz, 13, 20, 25. Vgl. den Auswanderungsfall des Wurmlinger Uhrmachers Matthias Kupferschmied, der im April 1854 einen Auswanderungsantrag zur Ansiedlung in China einreichte (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191). Siehe die Zensusangaben der beiden Bubsheimer Uhrmacher Michael Stier und Joseph Kuolt als „watch and clock maker“ im 1881 Census of England, Somerset County, Bath, St. Michael’s Parish, 19 New Bond Street (www.ancestry.com). Vgl. etwa den Buchtitel: Lemon, The Best Poor Man’s Country.
3.3 Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen
61
3.3 SPEZIFISCHE MIGRATIONSMUSTER IN DEN TEILRÄUMEN Obwohl die Bevölkerung auf der Schwäbischen Alb als Nachkommen der Alemannen nach ethnischer Herkunft, Sprache bzw. Mundart, und agrarischer Lebensweise im 19. Jahrhundert viele Gemeinsamkeiten aufwies27, bestan-
Karte 5: Jährliche Intensität der behördlich erfassten Gesamtauswanderung aus dem Untersuchungsgebiet 1830–1882 bezogen auf den Bevölkerungsstand vom 3.12.1834 Quelle: Vom Verfasser erarbeitet anhand des Historischen Atlas von Baden-Württemberg; Zahlenangaben nach den Auswanderungsakten StAS und den WJB. 27
In der OAB Tuttlingen, 118–166, schreibt Oberamts-Wundarzt Dr. Kapff im Abschnitt „Stamm und Eigenschaften der Einwohner“ von einem „Àeißigen, sparsamen und nüchternen Volkscharakter“ und einer „einfachen und genügsamen Lebensweise“ der Bewohner des Oberamtsbezirks. Vgl. dazu auch OAB Spaichingen, 103. Dieses Stereotyp des armen, aber durch ehrliche und harte Arbeit seine Lebenssituation meisternden Württembergers trifft man als Topos immer wieder in den heimatgeschichtlichen und populärwissenschaftlichen Darstellungen württembergischer Selbstbespiegelung.
62
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
den doch charakteristische Unterscheidungsmerkmale, die bei der Ausprägung spezi¿scher Wanderungsmuster in den Teilräumen des Untersuchungsgebietes eine Rolle spielten. Bei einem Blick auf die Intensität der behördlich erfassten Nordamerikaauswanderung auf Gemeindebasis in Karte 5 wird deutlich, dass die Wanderungsbewegungen im 19. Jahrhundert schon im lokalen Ursprung erhebliche Unterschiede aufwiesen. Dabei fällt besonders auf, dass sich nur Menschen bestimmter Orte an der transatlantischen Massenmigration beteiligten, während andere Orte vornehmlich kleinräumigere Wanderungsmuster hervorbrachten oder aber kaum von Migrationsbewegungen ergriffen wurden. Selbst innerhalb der Orte mit den stärksten Auswandererzahlen zeigt sich, dass die Migration nur Angehörige bestimmter Familien erfasste.28 Aus diesem Grund kann ein präzises Bild der Gemengelage an Motiven und Faktoren, die zur Auswanderung führte, nur auf lokaler Ebene und nicht aus großräumig aggregierten Statistiken gewonnen werden. Da die Diskussion von Auswanderungsgründen für das gesamte Untersuchungsgebiet die sehr unterschiedlichen Migrationsmuster der Einzelgemeinden nicht hinreichend erklärt, werden die Daten systematisch nach Teilräumen gruppiert. Das Untersuchungsgebiet ist zwar kleinräumig, seine Teilräume können aber dennoch nach ihren naturräumlichen Gegebenheiten, die wiederum Auswirkungen auf die lokale Wirtschafts- und Bevölkerungsweise hatten, sowie nach ihren historisch-politischen und konfessionellen Entwicklungslinien voneinander abgegrenzt werden. Tab. 3 zeigt die Gesamtauswanderung aus dem Untersuchungsgebiet zwischen 1830 und 1882 auf der Basis der nach natürlichen Teilräumen gruppierten Einzelgemeinden und der aus der jährlichen Auswanderungsrate (in Promille bezogen auf den Bevölkerungsstand von 1834) errechneten Auswanderungsziffer. Daraus ergibt sich zum einen, dass in diesem 52 Jahre dauernden Zeitraum die Gesamtauswanderung aus der Baar mit einer jährlichen Auswanderungsziffer von 4,9 ‰ – gefolgt vom Albvorland mit 3,1 ‰ – am höchsten war und die Auswanderung aus der Baaralb und dem Oberem Donautal (2,5 ‰) sowie vom Heuberg (2,3 ‰) um das Doppelte übertraf. Sie zeigt zum anderen, dass selbst innerhalb der Teilräume des Untersuchungsgebietes die Auswanderungsraten sich wesentlich unterschieden. Die Gesamtauswanderung wurde ferner auf die drei wesentlichen Zielgebiete – Staaten des Deutschen Bundes, andere europäische Staaten und Nordamerika – aufgeteilt.29 Hierbei wird deutlich, dass innerhalb der auswanderungsstarken Baar unterschiedliche Migrationsmuster vorlagen: Während die Auswanderung aus den katholischen Baarorten nach Staaten des Deutschen 28 29
Siehe Familienbeschreibungen bei E¿nger, Ortssippenbuch Aixheim. Die sonstigen Überseewanderungen von 16 Personen zu Zielen wie Australien, China und Japan können vernachlässigt werden.
3.3 Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen
63
Tab. 3: Gesamtauswanderung aus dem Untersuchungsgebiet 1830–1882 sowie jährliche Auswanderungsrate (in ‰) bezogen auf den Bevölkerungsstand von 1834
Quelle: Vom Verfasser erarbeitet aus Auswanderungsverzeichnissen (StAS) und Zollvereinsstatistik (WJB).
64
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
Bundes – hier vor allem in die badischen Nachbargemeinden – ebenso stark war wie die Auswanderung nach Nordamerika, hatten achtzig Prozent aller Auswanderungen aus den evangelischen Baargemeinden des Untersuchungsgebietes ihre Ziele in Nordamerika. Während aus dem südwestlichen Albvorland mehr als zwei Drittel aller Auswanderer nach Nordamerika gingen und auch aus dem Oberen Donautal mehr Auswanderer die Überseewanderung wählten, beschränkte sich sowohl die Auswanderung von der Baaralb als auch die vom Heuberg zum größeren Teil auf Nahwanderungsziele im deutschen bzw. europäischen Ausland. Die Nordamerikaauswanderung begann im westlichen Teil des Untersuchungsgebietes in der Baar, setzte sich dann im zeitlichen Ablauf ostwärts über das Albvorland und das Donautal fort und erreichte den Heuberg erst mit der dritten und vierten Auswanderungswelle in den 1860er und 1880er Jahren. In dem von der Nordamerikamigration zuerst betroffenen Teil des Untersuchungsgebietes, der evangelischen Baar, lag die jährliche Auswanderungsziffer nach Nordamerika mit 3,7 ‰ am höchsten, gefolgt von der katholischen Baar (2,3 ‰) und dem südwestlichen Albvorland (2,2 ‰). Die Nordamerikaauswanderung aus diesen Teilräumen war mehr als doppelt so stark wie die aus der Stadt Tuttlingen (1,6 ‰), den übrigen Gemeinden des Oberen Donautals (1,5 ‰) oder der Hegaualb (1,5 ‰) und mehr als viermal so hoch wie die vom Heuberg (0,9 ‰) oder von der Baaralb (0,7 ‰). Diese lokal unterschiedlichen Ausprägungen des Wanderungsverhaltens lassen sich auf die aus den unterschiedlichen naturräumlichen Bedingungen resultierenden Wirtschafts- und Bevölkerungsweisen zurückführen. Die Baar und das Albvorland waren aufgrund besserer naturräumlicher Bedingungen kinderreicher als der Heuberg. Die Bevölkerungsdichte lag im 19. Jahrhundert in der evangelischen Baar im Gegensatz zu ihren katholischen Nachbargemeinden, wo Auswanderungen während des 18. Jahrhunderts nach Südosteuropa ein frühes Korrektiv zum Anwachsen der Bevölkerung gebildet hatten, etwa doppelt so hoch wie auf dem Heuberg oder im Donautal ohne die Stadt Tuttlingen. Aus der evangelischen Baar fand zwischen den 1840er und den 1870er Jahren eine starke Familienauswanderung nach Nordamerika statt, während es sich in demselben Zeitraum bei den wenigen Amerikaauswanderern vom Heuberg fast ausschließlich um männliche Einzelauswanderer handelte. Das Vorherrschen der bäuerlichen Familienwirtschaft mit der von starkem natürlichem Bevölkerungswachstum begünstigten Ausbildung ländlicher Gewerbe in den Dörfern der hochgelegenen Baarebene um Trossingen und im südwestlichen Albvorland um die Amtsstadt Spaichingen begünstigte ebenfalls die Nordamerikaauswanderung. Besonders in der Baar waren durch die Besitzzersplitterung aufgrund der Realteilung ländliche Gewerbe, vor allem im Textilsektor, entstanden, die nach dem Niedergang der Handweberei bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in die Krise geraten waren und deren Protago-
3.3 Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen
65
nisten sich der materiellen Not im Heimatland oder auch nur drohender Verarmung durch Auswanderung zu entziehen suchten. Dabei existierten für die Menschen in der Baar und im Albvorland lokal keine alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten, während bei den im Binnenvergleich frühen Anfängen der Industrialisierung im Oberen Donautal um die Stadt Tuttlingen, die auf der Nutzung von Wasserkraft als Antriebsquellen für Maschinen basierten, in den 1830er Jahren erste Fabrikarbeitsplätze entstanden waren. Der ökonomisch rückständige Heuberg hingegen hatte eine Wirtschaftsweise herausgebildet, die – neben Hausindustrie und Verlagswesen – vor allem auf saisonaler Arbeitswanderung beruhte und sich als nicht so „anfällig“ für die Auswanderung erwies wie die in den ausschließlich landwirtschaftlich geprägten Gemeinden.30 Den Zusammenhang von wirtschaftlichem Entwicklungsstand und Migrationsmuster verdeutlichen Umfang und Ausbreitung der Nordamerikaauswanderung im Zeitablauf in Tab. 4 verglichen mit dem Industrialisierungsgrad im Untersuchungsgebiet 1895 in Karte 6, also nach Ende der stärksten Auswanderungsperioden. In der Tabelle wird die jährliche Auswanderungsziffer für drei Auswanderungsperioden (1845/55; 1856/65; 1866/73) angegeben und auf die Zahl der ortsanwesenden Bevölkerung der jeweils letzten Zollvereinszählung bezogen. Die Karte zeigt den Industrialisierungsgrad der Gemeinden, der vom Verfasser nach dem Erwerbstätigenanteil in den beiden Sektoren Landwirtschaft und Industrie ermittelt wurde. Anhand Tab. 4 wird deutlich, dass die Auswanderung nach Nordamerika während der Hauptperiode der transatlantischen Massenmigration zur Jahrhundertmitte zwischen 1845 und 1855 in mehreren Orten aller Teilräume des Untersuchungsgebietes bereits stark ausgeprägt war, während sich andere Orte in denselben Teilräumen noch kaum daran beteiligten. In der Tendenz nehmen die Auswanderungsziffern der Periode 1845 bis 1855 den gesamten Auswanderungsverlauf bis 1882 vorweg, denn in der Aggregation prägten die Auswanderungen die Gemeinden der Baar und des südwestlichen Albvorlandes schon hier nahezu doppelt so stark wie die des Oberen Donautales, des Heubergs oder der Baaralb. Während aber die Nordamerikaauswanderung aus der Baar, hier besonders aus den evangelischen Gemeinden, in den beiden folgenden Auswanderungsperioden von 1856 bis 1865 und von 1866 bis 1873 stark blieb, ebbte sie in der Baaralb, mit Ausnahme der Gemeinde Nendingen, sowie auch im Donautal und vor allem in der Stadt Tuttlingen ab. Bei einem Vergleich mit dem Industrialisierungsgrad der Einzelgemeinden 1895 in Karte 6 fällt auf, dass in den am frühesten industrialisierten Gebieten in der Baaralb und im Donautal die Auswanderung auch am frühesten wieder ab30
Dieser Befund spiegelt die Beobachtung wider, dass in den von Hausindustrie und saisonaler Arbeitswanderung geprägten Orten eine schwächere räumliche Mobilität vorhanden war; vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 83.
66
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
Tab. 4: Jahresraten der Nordamerikaauswanderung auf Gemeindebasis 1845–1872
Quelle: Vom Verfasser erarbeitet aus Auswanderungsverzeichnissen (StAS) und Zollvereinsstatistik (WJB).
3.3 Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen
67
ebbte, während sie in den spätindustrialisierten Gemeinden der Baar und des südwestlichen Albvorlandes am längsten anhielt. Aus den im 19. Jahrhundert weitestgehend kaum industrialisierten Heuberggemeinden, in denen 1895 der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten noch über achtzig Prozent und der der Industriebeschäftigten unter 15 % lag, beschränkte sich die – insgesamt schwache – Auswanderung nach Nordamerika nur auf wenige Gemeinden.
Karte 6: Wirtschaftlicher Entwicklungsstand der Gemeinden des Untersuchungsgebietes am Ende des 19. Jahrhunderts; berechnet nach dem Beschäftigtenanteil der Erwerbsbevölkerung in Landwirtschaft und Industrie nach der Berufszählung von 1895
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3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
Karte 7: Jährliche Intensität der behördlich erfassten Auswanderung nach Nordamerika zwischen 1845 und 1873, bezogen auf den Bevölkerungsstand vom 3.12.1843 Quellen für beide Karten: Vom Verfasser erarbeitet anhand des Historischen Atlas von Baden-Württemberg; Zahlenangaben nach den Auswanderungsakten (StAS) und der Berufszählung von 1895 in den WJB.
Das regionale Ungleichgewicht in der industriellen Entwicklung beeinÀusste auch den beruÀichen Hintergrund und die Quali¿kation der Migranten. Unquali¿zierte Kräfte, wie in der Landwirtschaft beschäftigte Tagelöhner, Bauernknechte und andere Angehörige unterbäuerlicher Schichten, stammten vorwiegend aus kaum industrialisierten Gemeinden, Fachkräfte dagegen, wie z. B. die Tuttlinger Messerschmiede, aus stärker industrialisierten Gebieten. So stammten beispielsweise etwa vierzig Prozent der Nordamerikaauswanderer von der Baar aus der Landwirtschaft, aber nur weniger als zehn Prozent von der Baaralb und aus dem Oberen Donautal. Neben den sozioökonomischen Faktoren, die zu den unterschiedlichen Migrationsmustern der Auswanderer aus dem Untersuchungsgebiet im
3.3 Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen
69
19. Jahrhundert beitrugen, lässt sich eine weitere Erklärung dafür in den unterschiedlichen historisch-politischen und konfessionellen Entwicklungslinien der Region ¿nden. Die Stadt Tuttlingen und acht vor allem in der östlichen Baar gelegene Dörfer hatten im gesamten 19. Jahrhundert eine weitgehend homogene evangelische Bevölkerung, da sie zu den von der Reformation erfassten altwürttembergischen Stammlanden gehörten. Hier war der Protestantismus im geistigen Leben der Bevölkerung durch die Nähe zur Schweiz eher durch Zwingli als durch Luther geprägt, und der schwäbische Pietismus hatte mit gemeinsamen Bibelstunden ohne Beteiligung der Amtskirche in viele Haushalte Einzug gehalten. Dagegen hatten 35 Gemeinden des Untersuchungsgebietes im Albvorland, auf dem Heuberg, der Baaralb und im Oberen Donautal im 19. Jahrhundert fast ausschließlich katholische Bevölkerung31 und waren erst durch den Reichsdeputationshauptschluss aus österreichischer Landesherrschaft herausgelöst und als neuwürttembergischer Landesteil dem von Napoleon zum Königreich erhobenen und territorial vergrößerten vormaligen Herzogtum Württemberg zugeschlagen worden. Wie Abb. 7 anzeigt, bildeten die protestantischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes konfessionelle Enklaven in einem Teil des deutschen Südwestens, der von überwiegend katholischer Bevölkerung geprägt war. Im 18. Jahrhundert war die Auswanderung aus Teilregionen des Untersuchungsgebietes hinsichtlich der Zeitpunkte von den staatlichen oder privaten Werbeaktivitäten, die in Südwestdeutschland neue Phasen der Kolonisation bekannt machten, sowie bei der Wahl der Zielgebiete von der konfessionellen Übereinstimmung zwischen Auswanderern und neuem Landesherrn bestimmt.32 Die Besiedelung schwach bevölkerter, vom jeweiligen Landesherrn neu eroberter Gebiete in Ungarn durch Katholiken aus dem Untersuchungsgebiet bzw. in Polen durch Siedler aus den evangelischen Gemeinden des alten Amtes Tuttlingen verlief im 18. Jahrhundert nach dem politischen Konzept der Peuplierung.33 Durch das Gewähren z. T. großzügiger Privilegien für Neusiedler gelang es den Habsburgern und Preußen, Migrationsbewegungen aus dem dicht bevölkerten Südwestdeutschland, wo gezielt geworben wurde, anzuregen. Daneben wurde Nordamerika seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Auswanderungsziel für die Bevölkerung der evangelischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes. 31 32 33
Zur konfessionellen Homogenität innerhalb der Einzelgemeinden der Oberämter Tuttlingen und Spaichingen vgl. die Zollvereinsstatistik (1858–1871) und die Statistik des Deutschen Reiches (1875–1910). Für die Gemeinden des Untersuchungsgebietes herausgearbeitet bei Waibel, Auswanderungen vom Heuberg; Krebber, Auswanderungen aus der östlichen Baar. Unter „Peuplierung“ versteht man bevölkerungspolitische Maßnahmen zur Besiedlung leerer oder bevölkerungsarmer Gebiete. Dies sollte zum wirtschaftlichen Gedeihen des Landes beitragen, den allgemeinen Wohlstand erhöhen und den Reichtum des Landesherrn vermehren.
70
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
Abb. 7: Die konfessionelle Gliederung des Untersuchungsgebietes und seiner badischen, württembergischen und hohenzollerischen Nachbarregionen auf Gemeindebasis um 1820 Legende: Anteil der dominanten Konfession unter der Gemeindebevölkerung nach Farben. Dunkel: Katholiken > 90 %; hell: Evangelische > 90 %. Quelle: Ausschnitt aus dem Historischen Atlas von Baden-Württemberg, Karte VIII, 12.
Das Jahr 1817 bildete die Schnittstelle zwischen den Auswanderungsbewegungen des 18. und des 19. Jahrhunderts, denn dort lassen sich sehr deutlich die auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Auswanderungstraditionen34 ablesen. Die im westlichen Teil des Untersuchungsgebietes gelegenen evangelischen Baargemeinden hatten bereits im 18. Jahrhundert eine Auswanderungstradition nach Nordamerika ausgebildet, die sich im 19. Jahrhundert über 1817 und 1846/47 fortsetzte. Die Verbindung zu bereits emigrierten Verwandten oder Bekannten mochte hierbei dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass die Auswanderungen aus diesen Gemeinden vorwiegend über den Atlantik verliefen. Bei den katholischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes, hier vor allem in den Heubergorten, fehlte diese ins vorige Jahrhundert zurückge-
34
Auswanderungstraditionen sind zu verstehen als Akkumulation einzelner Kettenwanderungen.
71
3.3 Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen
hende Auswanderungstradition nach Übersee völlig, weshalb auch in den Krisenzeiten des 19. Jahrhunderts zunächst nur wenige Menschen nach Nordamerika auswanderten. Stattdessen setzte sich hier die kontinentale Wanderung fort, wobei sich vier von fünf Auswanderungen nach Ost- und Südosteuropa richteten. Im erneuten Krisenjahr 1846 beantragte ein großer Teil der auswanderungswilligen Katholiken vom Heuberg die Auswanderung ins ungarische Siebenbürgen35, während Auswanderer aus den evangelischen Baargemeinden und erstmals in größerem Maße auch aus ihren katholischen Nachbargemeinden nach Nordamerika zogen. Tab. 5, Tab. 6 und Tab. 7 unterscheiden die Auswanderungen aus dem Untersuchungsgebiet zwischen 1815 und 1892 nach der Konfession der Auswanderer. Hierbei fällt auf, dass die Gemeinden mit evangelischer Bevölkerung sich im gesamten 19. Jahrhundert etwas stärker an der Auswanderung beteiligten als die mit katholischer Bevölkerung, wobei die evangelischen Migranten im Vergleich zu den katholischen mehr als doppelt so häu¿g nach Nordamerika auswanderten, während die Katholiken Auswanderungsziele in Südosteuropa oder in den deutschen bzw. europäischen Nachbarstaaten bevorzugten. Tab. 5: Zielländer der Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1817 nach Konfession
Anteil der Auswanderer mit dem Zielland USA. Anteil der Auswanderer mit anderen Zielländern als den USA (meistens Russland oder Ungarn)
Protestanten (ev. Baar, Stadt Tuttlingen und Hegaualb)
Katholiken (Heuberg, Albvorland, kath. Baar, Donautal, Baaralb)
59,0 %
21,0 %
41,0 %
79,0 %
Quelle: Ausgezählt vom Verfasser nach: StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191–199 und Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 36–41.
35
So beantragten 14 Familien mit 63 Personen aus Irndorf, Obernheim, Wehingen, Mühlheim und Spaichingen im Februar 1846 ihre Auswanderung nach Siebenbürgen (StAS Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 39).
1,6 %
29,7 %
Fernwanderung nach Südosteuropa (Russland, Ungarn, Österreich)
Nahwanderung in deutsche oder westeuropäische Nachbarstaaten 49,8 %
6,0 %
44,2 %
20,2 %
2,6 %
77,2 %
Auswanderung von Protestanten (Gesamtzahl der Auswanderer)
Quelle: Ausgezählt vom Verfasser nach: StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191–199 und Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 36–41.
68,7 %
Überseewanderung (beinahe ausschließlich nach Nordamerika)
Auswanderung von Auswanderung von Protestanten Katholiken (Familienvorstände und (Familienvorstände und ledige Einzelauswanderer) ledige Einzelauswanderer)
40,5 %
13,4 %
46,1 %
Auswanderung von Katholiken (Gesamtzahl der Auswanderer)
Tab. 6: Wanderungsarten und -ziele der Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1815–1892 nach Konfession
72 3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
22,9 %
0,8 %
6,0 %
Auswanderer nach Nordamerika, 1815–1892, bezogen auf die Bevölkerungszahl 1812
Auswanderer nach Südosteuropa, 1815–1892, bezogen auf die Bevölkerungszahl 1812
Auswanderer in deutsche und europäische Nachbarstaaten, 1815–1892, bezogen auf die Bevölkerungszahl 1812 9,3 %
3,1 %
10,7 %
23,1 %
Katholiken (Heuberg, Albvorland, kath. Baar, Donautal, Baaralb)
Quelle: Ausgezählt vom Verfasser nach: StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191–199 und Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 36–41.
29,7 %
Alle Auswanderer, 1815–1892, bezogen auf die Bevölkerungszahl 1812
Protestanten (ev. Baar, Stadt Tuttlingen und Hegaualb)
65
25
214
129
Verhältnis Ausgewanderte Protestanten bezogen auf 100 ausgewanderte Katholiken
Tab. 7: Auswanderer in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1815–1892 bezogen auf die Bevölkerungszahl 1812
3.3 Spezi¿sche Migrationsmuster in den Teilräumen
73
74
3 Formen der Migration auf der Schwäbischen Alb
Tab. 8: Kommunale ¿nanzielle Förderung der Nordamerikaauswanderung in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1845–1871
Anteil der Gemeinden, die Auswanderungsunterstützung gewähren Unterstützte Auswanderer in % von allen Auswanderern Gesamtsumme der öffentlichen Unterstützung Durchschnittlicher Geldbetrag pro gefördertem Auswanderer
Evangelische Gemeinden
Katholische Gemeinden
88,9 % (8 von 9)
65,7 % (23 von 35)
9,2 %
7,6 %
13.169 À
7.776 À
100 À
68 À
Quelle: Ausgezählt vom Verfasser nach StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191–199 und Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 36–41.
Schließlich war die in Tab. 8 dargestellte unterschiedliche Handhabung der Auswanderungsförderung in den verschiedenen Gemeinden des Untersuchungsgebietes ebenfalls ein Faktor, der zu den unterschiedlichen Auswanderungsintensitäten der einzelnen Gemeinden beitrug. In den Not- und Krisenjahren im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts bestand in 31 von 44 Gemeinden die Tendenz, Auswanderungsförderung als Mittel der Sozialpolitik einzusetzen, indem die Auswanderung von Ortsarmen und anderen „sozialen Störenfrieden“, wie z. B. ledigen Müttern, Kleinkriminellen, Zucht- und Arbeitshäuslern oder politisch unliebsamen Mitbürgern, ganz oder teilweise von der Kommune ¿nanziert wurde. Die katholischen Gemeinden gaben dabei vorwiegend Auswanderungszuschüsse an Einzelpersonen, während die evangelischen Baargemeinden in einigen Fällen die Auswanderung ganzer Familien komplett ¿nanzierten. Es ist interessant zu sehen, dass in den Gemeinden, die die Auswanderung ihrer Gemeindeglieder nach Nordamerika anfangs aktiv unterstützten, die Bevölkerung auch in den Folgejahren eine stärkere Auswanderungsintensität zeigte als in ¿nanziell restriktiveren Gemeinden, weil dadurch Anknüpfungspunkte für Kettenwanderer bestanden.
4 MIGRATIONSPFADE UND LEBENSWELTWECHSEL DER NORDAMERIKAMIGRANTEN Die Etappen des Überganges der Migranten aus dem württembergischen Untersuchungsgebiet in die Neue Welt umfassen die Organisation der Abreise, das Verlassen der Heimat, die Reisewege zu den Abfahrtshäfen, die Einschiffung in einem europäischen Hafen, die Transatlantikpassage, die Ankunft in Nordamerika und die Weiterwanderung in die Niederlassungsgebiete. Dabei wird deutlich, dass die Wahl der Migrationsrouten nicht allein von den eigenen Wünschen der Migranten oder den Fortschritten in der Verkehrstechnik abhing, sondern auch von der sozialen Wirklichkeit der Migranten determiniert war.1 Dieser Befund wird durch die Lebensweltwechsel und Ansiedlungsmuster der untersuchten Migranten von der Schwäbischen Alb auf dem nordamerikanischen Kontinent erhärtet. 4.1 TRANSATLANTISCHE WANDERUNGSROUTEN 4.1.1 Reiseorganisation und Wege zu den Abfahrtshäfen In einer Annonce im Heuberger Boten vom 7. Juni 1853 vermeldeten zwanzig junge Burschen aus Spaichingen sowie den Heubergdörfern Böttingen, Bubsheim und Deilingen öffentlich ihre Ankunft in Amerika und sagten ihrem Auswanderungsagenten, dem Spaichinger Lehrer Hauser, für die geglückte Überfahrt Dank. Dies ist typisch für die damalige Zeit, in der Migranten für die organisatorische Durchführung ihrer Auswanderung – von Informationen über die günstigste Reiseroute sowie über Unterbringung und VerpÀegung während der Anreise zum Abfahrtshafen bis zur Vermittlung eines Überfahrtsplatzes für die Nordatlantikpassage – die Dienste von Auswanderungsagenten in Anspruch nahmen. Emigrantenwerbung sowohl von staatlicher als auch von privater Seite hatte es im Untersuchungsgebiet schon im 18. Jahrhundert gegeben.2 Die Nordamerikamigration war bis ins frühe 19. Jahrhundert vom sogenannten Redemptioner-System geprägt, in dem im Volksmund „Seelenverkäufer“ ge1
2
Moya, Cousins and Strangers, 5, schreibt über Zusammenspiel und EinÀuss individueller und struktureller Faktoren auf die Wanderungsentscheidung: „It became increasingly apparent that emigration represented more than the sum of personal decisions. Departures did not peak in Spain when they did because people decided to leave.“ Dazu Krebber, Auswanderungen aus der östlichen Baar, 26 ff.
76
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
nannte Agenten Auswanderungswillige, welche die Überfahrtskosten nicht aufbringen konnten, an Kapitäne der Auswanderungsschiffe vermittelten. Die Kapitäne ließen sich als Gegenleistung für den Transport dieser mittellosen Migranten Rechte an deren Arbeitskraft vertraglich garantieren und verkauften diese Rechte in den Ankunftshäfen weiter.3 Nach dem Ende des Redemptioner-Systems bildete sich in Deutschland in den 1830er Jahren ein dreigliedriges Agentensystem heraus, das von Großagenten in den Hafenstädten (Schiffsmaklern) über mit ihnen geschäftlich verbundene Hauptagenten in größeren Städten – in Württemberg beispielsweise Stuttgart, Reutlingen, Leonberg und Heilbronn – bis zu Unteragenten in Bezirken, Kleinstädten und Dörfern reichte. Die Organisation der Auswanderung verbesserte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter. Nachdem die Auswanderungswelle von 1817 einen unorganisierten Verlauf genommen hatte, verrechtlichten die deutschen Einzelstaaten das Auswanderungswesen durch Dekrete und Verordnungen. Eine wesentliche Neuerung bestand darin, Auswanderungsagenten nicht ohne staatliche Konzession tätig werden zu lassen. So benötigten Schiffsmakler für das Königreich Württemberg eine Erlaubnis des Innenministeriums zum Führen ihres Gewerbes, waren damit württembergischem Recht unterworfen. Sie konnten sich nur von einem in Württemberg ansässigen Hauptagenten vertreten lassen und mussten in den einzelnen Oberämtern gemeldet sein.4 Zudem mussten sie alle Auswanderer, mit denen sie Verträge abschlossen, namentlich verzeichnen und ihre Unterlagen staatlichen Stellen vorlegen, damit überprüft werden konnte, ob sich unter ihren Klienten Àüchtige MilitärpÀichtige befanden.5 Die Auswanderungsagenten besorgten also Vermittlungstätigkeiten zwischen den ausreisewilligen Migranten und Reedern oder einzelnen Kapitänen in den Hafenstädten. Sie konnten mit einzelnen Auswanderungswilligen sogenannte Akkorde abschließen, d. h. ihnen gegen Bezahlung eine Reisemöglichkeit zu einem bestimmten Seehafen und dort die Mitnahme auf einem nach Nordamerika auslaufenden Handelsschiff garantieren. Dabei waren sie verpÀichtet, den Auswanderern ausreichende VerpÀegung zuzuteilen. Durch ihre Informationsangebote und Dienstleistungen trugen die Agenten dazu bei, dass
3 4
5
Zum Redemptioner-System vgl. Grabbe, Vor der großen Flut, 333 ff. Siehe den im Tuttlinger Amtsblatt Gränzbote Nr. 7 vom 27.1.1847, 26, veröffentlichten „Oberamtlichen Erlass in Betreff des Gewerbe-Betriebes der Schiffsmaeckler und anderer Personen, welche sich mit der Vermittlung des Transports von Auswanderern aus dem Königreiche befassen.“ Vgl. den im Gränzboten Nr. 42 vom 27.5.1853, 165, geschilderten Fall des Mainzer Auswanderungsagenten Dr. Strecker, in dessen Geschäftsbüchern und Papieren wegen des Verdachts der Begünstigung heimlicher Auswanderung – allerdings ergebnislos – nach heimlich Ausgewanderten gesucht wurde.
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
77
die Auswanderung einfacher und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich zur Routine wurde.6 Der erste Auswanderungsagent, der 1834 im Tuttlinger Gränzboten im Auftrag zweier in Frankreich ansässiger Handelshäuser seine Dienste anbot, war der Verwaltungs-Aktuar Kayser in Tuttlingen.7 Wie dieses Beispiel zeigt, handelte es sich bei den Unteragenten, wie sie in der Region um Rottweil, Tuttlingen, Schwenningen und Balingen, später auch in Spaichingen tätig wurden, vorwiegend um Personen öffentlichen Ansehens – Verwaltungsangestellte, Lehrer, Buchhändler, KauÀeute, Wirte –, die das Vertrauen der Bevölkerung genossen und gleichzeitig wussten, wie sie am gezieltesten für ihre Dienste werben konnten. In den 1840er Jahren warben die Auswanderungsagenten vermehrt für nordamerikanische Kolonisationsprojekte deutscher oder europäischer Auswanderungsvereine oder -gesellschaften. So folgten zum Beispiel im Frühjahr 1846 drei Familien und einige ledige Personen aus zwei Gemeinden des Untersuchungsgebietes den in dortigen Zeitungen veröffentlichten Aufrufen des Texas-Kolonisationsvereins in Antwerpen8 und schlossen mit einem Agenten in Rottweil Überfahrtsverträge ab.9 Seit den Krisenjahren 1846/47 erschienen in zunehmender Regelmäßigkeit – in den 1850er Jahren schließlich mehrmals wöchentlich – im Tuttlinger Gränzboten und nach seiner Gründung im Jahr 1848 auch in dem in Spaichingen erscheinenden Heuberger Boten Anzeigen verschiedener Auswanderungsagenten, die sich an die Bevölkerung richteten und die Vorzüge der beworbenen Überfahrtsmöglichkeiten darstellten. Gleichzeitig wandten sich einige Agenten direkt an die Kommunen mit dem Angebot, die damals als sozialen Sprengsatz eingeschätzten Ortsarmen sowie Arbeits- oder Zuchthäusler nach Amerika zu deportieren. Zu den besonders ¿ndigen, aber umstrittenen und später wegen Unregelmäßigkeiten mit dem Entzug der Konzession bestraften Hauptagenten, die in das „Sträflingsgeschäft“ eingestiegen waren, gehörte der Notar Stählen in Heilbronn. Er bot 1846 den Frittlinger Gemeinderäten an, „abgesondert von den soliden Auswanderern und gesichert durch einen eigenen Kondukteur lästige Subjekte ihrer Gemeinde mittelst freiwilliger Deportation auf die sicherste und billigste Weise nach Amerika zu befördern“. „Ich glaube“, so Stählen an anderer Stelle, „einer vortrefÀich guten Sache hiebei zu dienen, wenn ich unsere Straf-Anstalten, Kriminal-Gefängnisse, polizeiliche Beschäftigungs-Anstal6 7 8 9
Zu Agentenwesen und Einwandererwerbung allgemein siehe Schöberl, Amerikanische Einwandererwerbung, und Bretting, Funktion und Bedeutung der Auswanderungsagenturen. Gränzbote Nr. 25 vom 22.6.1834, 108. Beispielsweise im Gränzboten Nr. 20 vom 13.3.1846, 80. Vgl. z. B. den Überfahrtsvertrag des Andreas Kraus, Ziegler aus OberÀacht, StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191.
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4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
ten […] und die Gemeinden selbst von einem moralisch ganz gesunkenen und für die Gemeindekassen fortwährend verderblichen Gesindel säubern helfe.“10 Die Agenten spielten darüber hinaus für Organisation und Abwicklung der Auswanderung armer Gemeindemitglieder, die durch Zuschüsse der öffentlichen Hand gefördert bzw. überhaupt erst ermöglicht wurde, eine bedeutende Rolle. Weil bei solchen Geschäften allein schon die Zahl der zu befördernden Menschen viel größer war als in anderen Auswanderungsfällen, konkurrierten oft mehrere Agenten um diese Aufträge. In den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen wurden zwischen 1845 und 1854, in der Hochphase der transatlantischen Massenmigration, Auswanderungen von mehr als zweihundert Personen (also etwa jedes zehnten Auswanderers) mit öffentlichen Zuschüssen gefördert. Beispielsweise wurde erst nach einem Schriftwechsel zwischen der Gemeinde Trossingen und dem Oberamt Tuttlingen der Agent Mayer in Rottweil 1847 mit dem Transport von zehn bedürftigen Trossinger Familien nach Nordamerika beauftragt.11 Im gleichen Jahr setzte sich der Reutlinger Auswanderungsagent Beck gegen drei weitere Anbieter von Überfahrtsakkorden durch und schloss einen Vertrag mit der Gemeinde Schwenningen, in dem er sich zur Beförderung einer zweihundertköp¿gen Auswanderergruppe auf Gemeindekosten verpÀichtete. Diese Auswanderung nahm jedoch einen ungewöhnlichen Verlauf12: Da anscheinend nicht für alle Schwenninger Auswanderer gemeinsam auf dem vorab gebuchten Postschiff in London Überfahrtsplätze zur Verfügung standen, wurde die Gruppe bereits in Mainz geteilt. Während der erste Teil zügig über Rotterdam und London nach New York weiterreiste, saß der andere Teil eine Woche lang in Mainz fest. Als diese zweite Gruppe schließlich in London eintraf, hatten sich die Überfahrtspreise verteuert. Daraufhin brachte sie der Agent, ohne die Gemeinde Schwenningen oder die Auswanderer zu informieren, in London auf einem Schiff nach Quebec unter, anstatt sie – wie vertraglich vereinbart – nach New York zu transportieren. In Quebec muss er sich vermutlich um den Weitertransport gekümmert haben, denn nachdem Migranten aus beiden Teilgruppen an ihrem gemeinsamen Zielort in Ohio angelangt waren, schickten sie eine Danksagung an die Gemeinde Schwenningen, in der sie den Ablauf ihrer Reise schilderten, von Schuldzuweisungen an den Agenten Beck aber ausdrücklich absahen.13 Von seinem Agenten betrogen fühlte sich dagegen 1849 der Tuttlinger Aus-
10 11 12 13
Zit. n. Fiedler, Bevölkerungsentwicklung der Gemeinde Frittlingen, 118. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 198. Zu Vorgeschichte und Verlauf dieser gemeinde¿nanzierten Gruppenauswanderung aus Schwenningen 1847: Benzing, Schwenningen, 336–338. Englische Übersetzung des Briefes unter http://www.deesnetworks.com/karl/histories/ WAPAKONETA.doc (Kontaktiert am 22.4.2009).
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
79
wanderer Georg Jakob Rübelmann, der in einem offenen Brief im Gränzboten dazu aufrief, nicht mehr mit Herrn Ratzen jr. „zu akkordieren“.14 Ein bürokratisches Nachspiel für den verantwortlichen Agenten hatte die Auswanderung dreier Migranten aus OberÀacht und Durchhausen im Jahr 1853, welche „sich bei dem Konsulat in Amsterdam über brutale Behandlung und ungenügende Beköstigung auf ihrer Reise von Rotterdam nach dem Nieuwediep, von wo aus die Einschiffung erfolgte, beschwert haben.“ Das württembergische Innenministerium stellte daraufhin Nachforschungen an, verhängte eine Geldstrafe gegen die Agentur und wies das Oberamt Tuttlingen an, die in der Heimat verbliebenen Angehörigen der misshandelten Auswanderer – „da uns der Aufenthalt dieser Personen in Amerika unbekannt ist“ – mit 75 Gulden zu entschädigen.15 Der Höhepunkt des EinÀusses der Agenten auf das Wanderungsgeschehen ¿el zur Mitte des 19. Jahrhunderts zeitlich mit der stärksten Phase der Massenauswanderung aus Südwestdeutschland zusammen, da zu dieser Zeit noch die meisten Migranten auf unregelmäßig fahrenden Handelsseglern oder den nach und nach an Bedeutung gewinnenden und immer regelmäßiger über den Nordatlantik segelnden Postlinienschiffen nach Nordamerika gelangten und französische, belgische, niederländische, deutsche und englische Häfen miteinander um Auswanderer konkurrierten. Mit dem Aufkommen von Dampfschiffverbindungen schwand die Bedeutung der Auswanderungsagenten. Einige wenige große Unternehmen bauten eigene Verkaufssysteme auf, die sie seit Ende der 1850er Jahre verstärkt förderten. Bis in die 1840er Jahre begannen die Auswanderer aus dem Untersuchungsgebiet ihre Wege aus der Baar, dem Oberen Donautal, vom Heuberg und von der südwestlichen Schwäbischen Alb zu den Abfahrtshäfen gewöhnlich entweder mit Pferdefuhrwerken oder zu Fuß durch den Schwarzwald nach Offenburg. Seit dem 1. Juni 1845 bot der „Pferde-Omnibus“ von Donaueschingen durch das Kinzigtal nach Offenburg Reisegelegenheiten für vier Gulden pro Person an.16 Auch manche Bauern verstanden es, aus der Beförderung der Auswanderer ein Geschäft zu machen. So ist von Matthäus E¿nger aus Aixheim bekannt, dass er mit seinem Gespann oft mehrere Wochen zu diesem Zweck unterwegs war.17 Erst Jahrzehnte später erleichterte der Anschluss an die Eisenbahn, der im äußersten Südwesten des Königreichs Württemberg sehr spät erfolgte, die Wege aus dem Untersuchungsgebiet zu den Häfen erheblich: 1869 wurden Tuttlingen und Spaichingen an das Eisenbahnnetz angeschlossen und mit der Strecke Stuttgart-Zürich verbunden. Der letzte Streckenabschnitt der Schwarzwaldbahn wurde erst 1873 fertiggestellt, die Heubergbahn sogar erst in den 1920er Jahren gebaut. 14 15 16 17
Gränzbote Nr. 37 vom 8.5.1849, 149. Dokumentation des gesamten Vorganges in: StAS Wü 65/37, Bd. 1 Bü. 192. Vgl. Anzeige der „Omnibus-Gesellschaft“ im Gränzboten Nr. 48 vom 25.6.1845. Vgl. E¿nger, Heimatbuch von Aixheim, 160.
80
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Dagegen war in Baden schon in den 1840er Jahren eine Eisenbahnstrecke entlang des Rheins eröffnet worden. So bestand von Offenburg aus seit 1845 eine Eisenbahnverbindung nach Karlsruhe und Heidelberg, die mit der schon früher fertiggestellten Strecke nach Mannheim verbunden war. Von dort konnten die Reisenden auf Frachtkähnen rheinabwärts über Mainz (mit Übernachtungen in Köln – von wo aus bereits eine Zugverbindung nach Antwerpen bestand – und Nijmegen) in drei Tagen den holländischen Hafen Rotterdam erreichen. Dort konnten die Migranten sich entweder direkt nach Nordamerika einschiffen oder mit Küstendampfern nach Le Havre oder London als alternative Ausgangshäfen für den Transatlantikverkehr weiterreisen. Ebenfalls von Rotterdam fuhr, wer von Liverpool aus die Atlantiküberquerung antrat. Die Reisenden wurden dazu mit Dampfschiffen über die Nordsee an die ostenglische Küste nach Hull und von dort mit der Eisenbahn per Direktzug quer durch England nach Liverpool gebracht.18 Eine Alternative zu der Rheinstrecke auf dem Binnenschiff nach Rotterdam war die Eisenbahnverbindung von Offenburg über Appenweier nach Kehl, die ebenfalls 1845 eröffnet worden war. Dort überquerten die Reisenden den Rhein in Richtung Straßburg, von wo aus sie mit der französischen Eisenbahn über Paris nach Le Havre, den seit den 1840er Jahren bis Mitte der 1860er Jahre für die Nordamerikamigration aus Südwestdeutschland bedeutendsten Abfahrtshafen, gelangten. Eine zweite Eisenbahnroute dorthin verlief über die nahegelegene und vielen Migranten aufgrund ihrer regionalen Arbeitswanderungen bekannte Schweiz und das Elsass. So brachen z. B. 1848 zwei junge Männer vom Heuberg nach Zürich auf, wechselten dort auf die Eisenbahn und reisten über die Strecke Basel-Mülhausen-Paris nach Le Havre.19 Die Verteilung der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet auf die verschiedenen europäischen Abfahrtshäfen zeigte im Laufe des 19. Jahrhunderts deutliche Unterschiede. Während im Hungerwinter 1816/17 die niederländischen Häfen für die südwestdeutschen Auswanderer vorherrschend waren, erlangte Bremen in den 1830er Jahren eine Monopolstellung bei der Verschiffung von Auswanderern aus dem Untersuchungsgebiet, ehe es in der Jahrhundertmitte zeitweilig von Le Havre abgelöst wurde. Da Seeschiffe damals wegen zunehmender Versandung der Weser nicht mehr bis nach Bremen fahren konnten, wurde 1827 etwa sechzig Kilometer Àussabwärts nahe der Wesermündung Bremerhaven als Tochterhafen gegründet und 1830 fertiggestellt. Durch die Bremer Gesetzgebung, die die Auswanderung regelte und z. B. den Reedern vorschrieb, Proviant für neunzig Tage auf ihren Schiffen vorzuhalten, wurde die Gefahr von sogenannten Hungerfahrten gebannt. Um in Süddeutschland konkurrenzfähig zu sein und Migranten von 18 19
Vgl. Evans, Indirect Passage. Vgl. dazu den Brief des Mahlstetter Auswanderers Jakob Aicher vom 29.10.1848 aus Philadelphia; abgedruckt im Heuberger Boten Nr. 296 ff., 23.12.–30.12.1989.
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
81
Karte 8: Hauptabfahrtshäfen von Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet Legende: Ɣ Benutzte Überseehäfen, ż Transithäfen, Ŷ Ausgewählte Landeshauptstädte Quelle: Vom Verfasser bearbeitet Wyman, Round-Trip, 9.
der Rheinroute nach Rotterdam abzuhalten, waren die Reisen über Bremen/ Bremerhaven bis zum Zielort durchorganisiert. So galten die Fahrscheine vom Wohnort des Auswanderers bis zum Ankunftshafen in Nordamerika, und den Migranten war jeweils ein Platz auf einem bestimmten Schiff reserviert.20 In den 1840er Jahren überÀügelte das damals von Südwestdeutschland mit der Eisenbahn am günstigsten zu erreichende Le Havre Bremen bei der Beförderung württembergischer Auswanderer und konnte sich auch gegen die konkurrierenden Häfen Rotterdam, Antwerpen, Liverpool und London behaupten. Erst mit dem fortschreitenden Ausbau des deutschen Eisenbahnnetzes und der Eröffnung von transatlantischen Linienverbindungen mit Dampfschiffen für den Personenverkehr, welche die Hamburg-Amerikanische Pa20
Dazu detailliert Hoerder, Emigration via Bremen, 69–101.
0 0 0 0 0
0 0
0
0 0 0
0 0,0 0 0,0 10 100,0
England London Portsmouth Southampton Liverpool Glasgow
Niederlande Amsterdam Rotterdam
Belgien Antwerpen
Frankreich Le Havre Cherbourg Boulogne
andere Häfen keine Angaben Gesamtsumme
0,0 9,6
8,5 0,8 0,0 9,1 0,0
0,0 0,0 6,0 0,0
1,4 0,0 9,8 0,0
9,1
0,9 2,6
794 50,0 0 0,0 0 0,0
144
15 41
263 16,6 0 0,0 0 0,0 151 9,5 0 0,0
22 0 156 0
0,6
0,0 0,2
6,6 0,0 0,0 3,8 0,0
283 22,2 0 0,0 0 0,0
8
0 2
84 0 0 49 0
189 14,8 0 0,0 659 51,7 0 0,0
7 1,1 1 0,1 0 0,0 3 0,5 1 0,1 0 0,0 636 100,0 1.588 100,0 1.274 100,0
245 38,5 22 3,5 0,0
143 22,5
0 61
54 5 0 58 0
0 0 38 0
0,5 0,0 0,0
2,4
0,0 0,5
2,1 0,0 0,0 8,8 0,0
1 0,2 0 0,0 616 100,0
3 0 0
15
0 3
13 0 0 54 0
174 28,2 0 0,0 353 57,3 0 0,0
Quelle: Vom Verfasser anhand der Schiffspassagierlisten zusammengestellt.
0,0 0,0 0,0
0,0
0,0 0,0
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0
0 0,0 0 0,0 10 100,0 0 0,0
Deutschland Hamburg Cuxhaven Bremen Wilhelmshaven
3,2 5,2
0,0 0,0 0,0 4,1 0,3
3,7 0,0 0,0 0 0,0 0 0,0 712 100,0
26 0 0
81 11,4
23 37
0 0 0 29 2
87 12,2 0 0,0 427 60,0 0 0,0
6,6 0,0 0,0
7,7
0,4 6,6
0,0 0,0 1,5 0,0 0,0
0 0,0 0 0,0 272 100,0
18 0 0
21
1 18
0 0 4 0 0
64 23,5 2 0,7 132 48,5 12 4,4
0,0 4,8
0,0 0,0 0,3 0,0 0,0
2 0,6 0 0,0 353 100,0
37 10,5 7 2,0 2 0,6
44 12,5
0 17
0 0 1 0 0
47 13,3 37 10,5 159 45,0 0 0,0
6,2 0,6 1,1
9,6
0,0 3,4
0,0 0,0 1,1 0,0 0,0
2 1,1 0 0,0 177 100,0
11 1 2
17
0 6
0 0 2 0 0
47 26,6 9 5,1 80 45,2 0 0,0
1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1914 N % N % N % N % N % N % N % N % N %
Tab. 9: Abfahrtshäfen der Nordamerikamigranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1830–1914
8,4
0,7 3,3
7,3 0,1 0,1 6,0 0,0
13 0,2 4 0,1 5.638 100,0
1.417 25,1 30 0,5 4 0,1
473
39 185
414 5 7 341 2
630 11,2 48 0,9 2.014 35,7 12 0,2
Summe 1830–1914 N %
82 4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
83
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
ketfahrt Aktiengesellschaft (HAPAG) und der in Bremen ansässige Norddeutsche Lloyd Ende der 1850er Jahre einrichteten, erlangten die deutschen Nordseehäfen Hamburg und vor allem Bremen mit Bremerhaven als Abfahrtshäfen württembergischer Migranten wieder eine überragende Bedeutung. Bremen konnte an seine frühere Vorrangstellung anknüpfen und blieb während des gesamten restlichen Jahrhunderts der mit Abstand größte Abfahrtshafen für Migranten aus dem Untersuchungsgebiet. Die soziostrukturelle Analyse der Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen zwischen 1845 und 1854 nach deren in den Auswanderungsanträgen angegebenem Geldvermögen (bereinigt um öffentliche Zuschüsse) zeigt, dass mittellose Auswanderer, die auf Kosten der öffentlichen Hand ausreisten, überwiegend die Häfen Liverpool und Antwerpen benutzten. Migranten, deren durchschnittliches Vermögen über den mit rund 120 Gulden angesetzten Reisekosten lag, verteilten sich vor allem auf die Häfen Le Havre und London, von denen regelmäßige Verbindungen nach New York auf komfortableren Postschiffen bestanden, sowie in weitaus geringerem Maße auf Bremen und Rotterdam. Der Transit nach Le Havre, dem von Württemberg aus nächstgelegenen Atlantikhafen mit regelmäßiger Personenbeförderung nach Nordamerika, war den ärmeren südwestdeutschen Auswanderern damals allerdings von der französischen Regierung versperrt worden, weil diese die Einreise nach Frankreich an die Vorlage eines gesandtschaftlichen Visums geknüpft hatte, das wiederum nur bei Nachweis eines Reisegeldes von dreihundert französischen Francs (umgerechnet 140 Gulden) oder eines gültigen Überfahrtsvertrages nach Nordamerika erteilt wurde.21 Tab. 10: Geldvermögen (nach Auswanderungsanträgen, bereinigt um öffentliche Zuschüsse) der Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Abfahrtshäfen in der ersten Periode der transatlantischen Massenmigration (1845–1854)
Geldvermögen Abfahrtshäfen Le Havre Bremen Rotterdam London Antwerpen Liverpool Alle Abfahrtshäfen
N
Arithmetisches Mittel (in Gulden)
Median (in Gulden)
462 59 43 210 169 124 1.067
189 168 165 160 110 103 159
150 150 121 198 88 66 133
Anteil der Migranten ohne eigenes Vermögen 6,3 % 5,1 % 9,3 % 3,3 % 41,4 % 33,9 % 14,9 %
Quelle: Vom Verfasser berechnet aus Auswanderungslisten und Schiffspassagierlisten. 21
Siehe dazu beispielsweise den Gränzboten Nr. 32 vom 29.4.1846, 125 und Nr. 38 vom 13.5.1853, 149.
84
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Von den bestehenden Handelsverbindungen zwischen Nordamerika und Europa, die die transatlantische Massenmigration im 19. Jahrhundert überhaupt erst möglich gemacht hatten, pro¿tierten die englischen Häfen Liverpool und London in besonderem Maße. Das an der Irischen See gelegene Liverpool, über das in den 1840er Jahren der größte Teil der irischen Nordamerikaauswanderung verlaufen war, löste 1851 London als größten europäischen Frachthafen ab und wurde zum bedeutendsten europäischen Auswanderungshafen.22 Obwohl die Überfahrtspreise nach Nordamerika von Liverpool aus am billigsten waren, reisten in dieser Zeit nur knapp zehn Prozent der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, darunter große Familien, über Liverpool, was daran lag, dass die Anreise von Südwestdeutschland dorthin am langwierigsten war und die Schiffe durchgängig mit irischen Passagieren überbelegt waren. Antwerpen dagegen konnte günstige Überfahrtspreise bieten, weil es die wenigsten Kontrollen und Vorschriften hatte. Wie Liverpool bot Antwerpen nur wenig komfortable Schiffspassagen an. Wohlhabendere Migranten und Einzelwanderer reisten deshalb vorzugsweise über Bremen, da dort schon seit den 1830er Jahren die Auswanderung staatlich kontrolliert wurde und die Rechtssicherheit und der Komfort am höchsten waren. 4.1.2 Überfahrt nach Nordamerika Die Überfahrt nach Nordamerika war zur Mitte des 19. Jahrhunderts für die Mehrzahl der Migranten gleichwohl ein beschwerliches Unterfangen. Exemplarisch für die Strapazen der Überfahrt ist die Schilderung eines Tuttlinger Auswanderers aus dem Jahr 1851: Den 23. wurden wir eingeschifft auf dem Paketschiff Patrick Hendrick. Wir wurden von dem Dampfschiff gezogen, bis wir auf hoher See waren. Wir hatten immer ziemlich guten Wind, doch es war immer kalt auf der See. Den 5. Juni bekamen wir Sturm, doch nicht so stark, nur einige Tage. Wir mußten unsere Koffer festbinden, sonst würden sie uns Hals und Bein abgeschlagen haben, so tanzten sie im Schiff herum. Wir mußten uns immer festhalten, daß wir nicht rum und num purzelten, und das war am P¿ngstmontag am heftigsten, da haben wir etwas mitgemacht; was man aß, mußte man wieder von sich geben. Hatte man Appetit, so konnte man wegen dem starken Schaukeln nicht kochen. Es waren nur einige, die von der Seekrankheit verschont blieben. Ich mußte mich auf der ganzen Reise nur viermal übergeben, einige konnten das Bett nie verlassen, fünf kleine Kinder und ein Mann starben von London weg. Trinkwasser hatten wir genug, aber stinkendes. Leuten, die ekelhaft sind, rate ich nicht zu dieser Reise. Wir Passagiere waren im Zwischendeck, d. h. im mittleren Schiffsraum. Da hatten wir nur zwei Öffnungen, welche in unseren Keller frische Luft gaben. Ich kochte mir immer selber. Endlich, als wir am 27. morgens erwachten, sahen wir Land, fünf Wochen waren wir gerade auf dem Wasser. Um 9 Uhr holte uns das Dampfschiff, um 2 Uhr waren wir in Neujork.23 22 23
Vgl. Read, Liverpool. Vgl. Auswanderer-Briefe des Bäckergesellen Johann Gottfried Stengelin, Tuttlingen, in: THB 1964, 69–74. Hier Brief vom 1. Juli 1851 aus New York, 71 f.
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
85
Zwei Drittel der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen überquerten in der ersten Hochphase der transatlantischen Massenmigration zwischen 1845 und 1854 den Nordatlantik auf Handelsseglern, die durch Einzug eines Zwischendecks teilweise für den Personentransport umfunktioniert wurden. Diese Schiffe pendelten unregelmäßig über den Atlantik und transportierten ohne feste Fahrpläne nordamerikanische Massengüter wie Getreide, Baumwolle und Tabak zu europäischen Häfen, wo sie Fertigwaren wie z. B. Textilien aufnahmen und ihr Zwischendeck mit menschlicher Fracht auffüllten, die sie dann über den Nordatlantik schafften. Daneben spielten im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts Paket- oder Postschiffe für den Migrantentransport eine wichtige Rolle. Seit den 1820er Jahren segelten sie zu regelmäßigen Abfahrtsterminen auf festen Routen zwischen New York und einzelnen europäischen Hafenstädten und beförderten Postsäcke, Geldsendungen (Goldmünzen), Fracht und Passagiere. Ursprünglich 1818 von amerikanischen KauÀeuten auf der Strecke zwischen New York und Liverpool, später auch nach London und Le Havre mit dem Ziel eingerichtet, den Baumwollexport von New Orleans, Mobile, Savannah oder Charleston über New York nach Europa zu erleichtern, wurden die neueren größeren Dreimastsegler von einem Drittel der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet zur komfortableren Überfahrt nach Nordamerika genutzt. Obwohl Robert Fulton bereits 1807 das Dampfschiff erstmals kommerziell eingesetzt hatte und es rasch in die Binnen- und Küstenschifffahrt Eingang fand, kamen regelmäßige Nordatlantikverbindungen auf eigens für den Personentransport konstruierten Dampfschiffen für Kontinentaleuropa erst seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahre zustande. Bevor 1856 die HAPAG und 1858 der Norddeutsche Lloyd von Hamburg bzw. Bremen – das seit 1862 Migranten auf der Eisenbahn nach Bremerhaven beförderte – Liniendienste auf Dampfschiffen nach New York eröffneten, waren regelmäßige Transatlantikpassagen auf Dampfschiffen nur von englischen Häfen aus möglich gewesen.24 Ein französisches Konkurrenzunternehmen, das vier Dampfschiffe zwischen Cherbourg und New York pendeln lassen wollte, stellte nach technischen Problemen auf den ersten Überfahrten noch im Gründungsjahr 1847 diesen Betrieb wieder ein.25 Wie aus Abb. 8 hervorgeht, lösten Dampfschiffe 24
25
Die erste regelmäßige Dampfschiffverbindung zwischen Europa und Nordamerika – die allerdings aus Kostengründen von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet nicht genutzt wurde – war bereits 1839 mit fünf Postdampfern zwischen Liverpool und Boston eingerichtet worden, nachdem der kanadische Unternehmer Samuel Cunard mit der britischen Regierung einen Vertrag über eine regelmäßige Postschiffverbindung abgeschlossen hatte. Seit 1846 pendelten die Cunard-Dampfer auch zwischen Liverpool und New York (vgl. New York Times vom 20.3.1864). Nichtsdestotrotz gehörten vier Familien (mit insgesamt 22 Köpfen) aus den Gemeinden Aldingen und Frittlingen zu den ersten Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die per
86
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
42
44 18 46 18 48 18 50 18 52 18 54 18 56 18 58 18 60 18 62 18 64 18 66 18 68 18 70 18 72 18 74 18 76 18 78 18 80
18
18
18
40
100 90 80 70 60 % 50 40 30 20 10 0
Überfahrtsjahr
Abb. 8: Anteil der Dampfschiffüberfahrten am Nordatlantikverkehr für Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1840–1880 Quelle: Vom Verfasser anhand der Schiffspassagierlisten zusammengestellt.
die langsameren Segelschiffe bei der Beförderung von Überseemigranten erst im Verlauf der 1860er Jahre endgültig ab. Als am 6. Juni 1873 in New York der letzte Segelschiff-Auswanderer aus dem Oberamt Tuttlingen von Bord der Bremer Bark Atalanta ging, war die Ära der Segelschiffe für die württembergischen Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet beendet. Seit den 1830er Jahren waren etwa 1.800 Personen aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen auf mehr als dreihundert verschiedenen Handelsseglern und rund 850 Personen auf fünfzig verschiedenen Paket- oder Postschiffen nach Nordamerika gesegelt. Durch Gründung neuer Dampfschifffahrtsgesellschaften in England, Frankreich, Belgien und den Niederlanden sowie Hafenausbauten in Antwerpen und Rotterdam bzw. den Kanaldurchstich zwischen Amsterdam und der Nordsee nahm der Konkurrenzkampf zwischen einzelnen Häfen bzw. Schifffahrtsunternehmen seit Ende der 1870er Jahre wieder zu. Trotzdem transportierten Dampfschiffe des Norddeutschen Lloyd und der HAPAG seit den späten 1860er Jahren bis 1914 konstant jeweils drei von vier Migranten aus dem Untersuchungsgebiet nach Nordamerika. Der technologische Wandel vom Segel- zum Dampfschiff und der Bau von Eisenbahnstrecken zu den europäischen Abfahrtshäfen bzw. von den nordamerikanischen Ankunftshäfen ins Landesinnere verkürzten im Laufe des 19. Jahrhunderts die Reisezeiten der Migranten zwischen europäischen Auswanderungs- und nordamerikanischen Einwanderungsregionen erheblich. Mussten zur Mitte des 19. Jahrhunderts für die Atlantikpassage nach Dampfschiff den Atlantik überquerten. Als der Dampfer L’Union mit 43 Passagieren in der ersten Klasse und 96 im Zwischendeck am 9. Juli 1847 in New York einlief, hatte er für die Atlantiküberquerung von Cherbourg aus 16 Tage benötigt. Vgl. New Brunswick Courier vom 17.7.1847.
87
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
Nordamerika auf dem Segelschiff noch zwischen dreißig und 45 Tage einkalkuliert werden – was für die Migranten einen Verdienstausfall von mindestens zwei Monatslöhnen bei gleichzeitig anfallenden VerpÀegungskosten bedeutete –, reduzierte sich die Überfahrtsdauer per Liniendampfer für etwa neunzig Prozent der Passagiere bis zum Ersten Weltkrieg auf sieben bis zwölf Tage. Tab. 11: Überfahrtsdauer von Paketsegelschiffen von den drei wichtigsten europäischen Abfahrtshäfen nach New York 1833–1857 in kumulierten relativen Häu¿gkeiten
Europäische Häfen Dauer 3 Wochen oder weniger
Liverpool 1833–1857 N
%
29
2,0
London 1833–1857
F(cum) 2,0
Le Havre 1833–1857
N
%
F(cum)
N
%
F(cum)
12
1,5
1,5
14
1,4
1,4
4 Wochen oder weniger
270 18,3
20,3 119 15,0
16,5
100
10,2
11,6
5 Wochen oder weniger
594 40,3
60,6 294 37,1
53,6
328
33,5
45,1
6 Wochen oder weniger
396 26,9
87,5 238 30,0
83,6
328
33,5
78,6
7 Wochen oder weniger
128
8,7
96,2
80 10,1
93,7
147
15,0
93,6
8 Wochen oder weniger
42
2,8
99,0
35
4,4
98,1
40
4,0
97,6
9 Wochen oder weniger
7
0,5
99,5
11
1,4
99,5
14
1,4
99,0
10 Wochen oder weniger
3
0,2
99,7
2
0,2
99,7
5
0,5
99,5
11 Wochen oder weniger
1
0,1
99,8
0
0,0
99,7
2
0,2
99,7
12 Wochen oder weniger
1
0,1
99,9
2
0,2
99,9
3
0,3
100,0
13 Wochen oder weniger
1
0,1
100,0
1
0,1
100,0
0
0,0
100,0
Quelle: Berechnet vom Verfasser nach Albion, Square-riggers, 318 f.
88
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Tab. 12: Überfahrtsdauer von Liniendampfschiffen von den drei wichtigsten europäischen Abfahrtshäfen für Migranten aus dem Untersuchungsgebiet nach New York 1897–1914 in kumulierten relativen Häu¿gkeiten
Europäische Häfen Dauer
Bremen 1897–1914 F(cum)
N
%
2
0,9
0,9
0
7 Tage oder weniger
56 24,1
25,0
8 Tage oder weniger
54 23,3
9 Tage oder weniger
%
Antwerpen 1897–1914
F(cum)
N
0,0
0,0
0
0,0
0,0
2
2,1
2,1
0
0,0
0,0
48,3
11
11,4
13,5
3
4,6
4,6
32 13,8
62,1
9
9,4
22,9
15 23,1
27,7
10 Tage oder weniger
20
8,6
70,7
20 20,9
43,8
27 41,6
69,3
11 Tage oder weniger
22
9,5
80,2
15 15,6
59,4
16 24,6
93,9
12 Tage oder weniger
27
11,6
91,8
20 20,9
80,3
3
4,6
98,5
13 Tage oder weniger
10
4,3
96,1
12 12,5
92,8
1
1,5
100,0
14 Tage oder weniger
5
2,2
98,3
2
2,1
94,9
0
0,0
100,0
15 Tage oder weniger
2
0,9
99,1
1
1,0
95,9
0
0,0
100,0
16 Tage oder weniger
2
0,9
100,0
1
1,0
96,9
0
0,0
100,0
17 Tage oder weniger
0
0,0
100,0
0
0,0
96,9
0
0,0
100,0
18 Tage oder weniger
0
0,0
100,0
2
2,1
99,0
0
0,0
100,0
19 Tage oder weniger
0
0,0
100,0
1
1,0
100,0
0
0,0
100,0
6 Tage oder weniger
N
Hamburg 1897–1914
%
F(cum)
Quelle: Berechnet vom Verfasser nach NARA, RG 85, T 715 Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at New York, New York (1897–1957).
Die stark verkürzten Überfahrtszeiten bei der Reise auf Liniendampfern hatten zur Folge, dass die Nordatlantiküberquerungen für die Migranten nun müheloser vonstatten gingen und weniger häu¿g eine „Einbahnstraße“ darstellten, sondern leichter wiederholbar waren. Während zu Zeiten der Segelschiffe
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
89
nur sporadisch Rückwanderungen aus Nordamerika vorkamen26 und auch transatlantische Pendelwanderungen selten waren, nahm in Zeiten des Dampfschiffes die Quote derer, die den Atlantik dreimal oder öfter überquerten, d. h. nach einem Zwischenaufenthalt in der alten Heimat wieder nach Nordamerika zurückkehrten, stetig zu. Zwischen 1897 und 1914 wurde in den Schiffspassagierlisten verzeichnet, ob der jeweilige Reisende schon einmal in den Vereinigten Staaten von Amerika gewesen war. Danach überquerten 31 % der 550 Nordamerikamigranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen den Nordatlantik mehrfach. Rückfahrten nach Europa sind auch durch Reisepassanträge von in den Vereinigten Staaten von Amerika naturalisierten Einwanderern belegt.27 Amerikanische Staatsbürger waren verpÀichtet, bei Reisen ins Ausland einen Reisepass mit sich zu führen. Wer also, wie zwischen 1853 und 1914 in mehr als 250 Fällen für aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen stammende US-Bürger dokumentiert, zu Besuchs- oder Geschäftszwecken nach Europa reiste, wurde registriert. Mit dem Wechsel von der Segel- zur Dampfschifffahrt und dem Anschwellen der europäischen Nordamerikaauswanderung seit den 1880er Jahren wurden im Auftrag der Schifffahrtsgesellschaften, die damals den Personentransport über den Nordatlantik unter sich ausmachten – HAPAG, Norddeutscher Lloyd, Red Star Line, Holland-Amerika Line, Cunard Line und Compagnie Générale Transatlantique, – große Dampfschiffe für den Personenverkehr gebaut, die die Überfahrten für die Passagiere viel komfortabler werden ließen. Die „Kaiser Wilhelm der Große“ z. B. – 1897 auf der VulkanWerft in Stettin für den Norddeutschen Lloyd gebaut und das größte Passagierschiff ihrer Zeit – war fast 190 m lang, hatte eine Wasserverdrängung von 13.500 Bruttoregistertonnen und Plätze für 1.760 Passagiere; davon 590 in der ersten, 370 in der zweiten Klasse und achthundert im Zwischendeck. Im Vergleich dazu waren fünfzig Jahre früher die größten Paket- oder Postschiffe – Handelssegler, die zwischen Liverpool und New York kreuzten – maximal sechzig Meter lang, hatten eine Wasserverdrängung zwischen achthundert und 1.400 Bruttoregistertonnen und transportierten im Zwischendeck bis zu tausend Passagiere.
26 27
Dazu Schniedewind, Begrenzter Aufenthalt; dies., Migrants Returning, 35–55; Kamphoefner, Rückwanderung. Vgl. U. S. Passport Applications, 1795–1925 (Online-Datenbank Ancestry.com). Provo, UT, 2007. Originaldaten: (a.) Passport Applications, 1795–1905; NARA, RG 59 (General Records of the Department of State) M1372, 694 Mikro¿lmrollen; (b.) Passport Applications, January 2, 1906 – March 31, 1925; M1490, 2740 Mikro¿lmrollen (c.) Registers and Indexes for Passport Applications, 1810–1906; M1371, 4 Mikro¿lmrollen; (d.) Emergency Passport Applications (Passports Issued Abroad), 1877–1907; M1834, 56 Mikro¿lmrollen.
90
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Mit ihrer Größe stieg auch stetig der Komfort, den die Liniendampfer boten: Alle Passagiere wurden nun auf der Überfahrt in Speisesälen von Köchen verpÀegt, während früher im Zwischendeck der für den Personentransport nur provisorisch eingerichteten Frachtsegler jeder Passagier seine Kost selbst zubereiten musste. Zwar reiste auf den Dampfschiffen in den 1890er Jahren immer noch die große Mehrheit der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen auf der Fahrt nach New York im Zwischendeck – der Anteil der Kajütpassagiere war in dieser Zeit auf knapp zwanzig Prozent angewachsen28 –, aber die Verkürzung der Reisezeit, die Verbesserung von Unterbringung und VerpÀegung und nicht zuletzt auch der Hygiene an Bord machten die Überfahrt im Zeitalter der Dampfschifffahrt für alle Passagiere weitaus ungefährlicher. Unter den mehr als 5.500 Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen sind nach den Eintragungen in den Schiffspassagierlisten (mindestens) 34 Personen während der Überfahrt – vermutlich an Infektionskrankheiten – gestorben; sechs Säuglinge wurden geboren. In den 1840er und 1850er Jahren war die Sterblichkeit der Migranten auf der Atlantikpassage mit 1,5 % am höchsten, im Zeitalter der Dampfschiffe sank sie auf weniger als 0,3 %. Besonders gefährdet waren neben kleineren Kindern vor allem Säuglinge, von denen jeder Vierte auf der Überfahrt starb. Unter den Verstorbenen waren aber auch Familienväter, Mütter und ledige Einzelpersonen jeden Alters.29 Von einer Migrantengruppe aus Frittlingen ist bekannt, dass auf ihrem Segelschiff zu Beginn der Fahrt von Rotterdam nach New York noch auf der Nordsee die Cholera ausgebrochen war, woraufhin ihr Schiff umkehrte und die Passagiere in das Niederländische Marinehospital zur Quarantäne eingewiesen wurden, bevor sie ihre Reise fortsetzen konnten.30 Zweifellos war das Risiko, auf einem Schiff an einer Krankheit zu sterben, wesentlich höher, als bei einem Schiffbruch umzukommen. Dieses Schicksal ereilte einen jungen Burschen aus der Gemeinde Dürbheim gemeinsam mit weiteren 185 Württembergern, die 1849 mit dem Segler Floridian in
28 29
30
Berechnet anhand der Hamburg Passenger Lists, 1850–1934 (www.ancestry.com). Originale im Staatsarchiv Hamburg, Bestand: 373-7 I, VIII (Auswanderungsamt I). Mikro¿lmrollen K 1701–K 2008, S 17363–S 17383, 13116–13183. Unter den Passagieren aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen gab es auf der Nordatlantikpassage zwischen 1845 und 1854 folgende Sterblichkeitsraten: Säuglinge unter einem Jahr: 24,6 % (14 Tote); Kleinkinder von einem bis unter sechs Jahren: 3,1 % (5 Tote); Kinder von sechs bis unter 14 Jahren: keine Todesfälle; Jugendliche und junge Erwachsene von 14 bis unter 30 Jahren: 0,3 % (3 Tote); Erwachsene von 31 bis unter 45 Jahren: keine Todesfalle; Erwachsene von 46 bis unter 60 Jahren: 2,1 % (2 Tote); Erwachsene ab 60 Jahren: 7,1 % (1 Toter). Vgl. Biographie des Frittlinger Auswanderers Anton Zimmerer, in: Portrait and Biographical Album of Otoe and Cass Counties, 518 f.
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
91
der Nordsee untergingen.31 Die Passage durch den stark befahrenen Ärmelkanal war der gefährlichste Reiseabschnitt, die Atlantiküberquerung nach New York sicherer als die Strecke entlang der amerikanischen Küste zwischen New York und New Orleans, wie die Versicherungssummen der Schiffe für diese Strecken in der damaligen Zeit zeigen.32 Nicht ganz ungefährlich war die Überfahrt nach Nordamerika auch noch aus anderen Gründen. Während der mehrwöchigen Reise kam es unter den ins Zwischendeck eingepferchten Migranten immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppen, bei denen beispielsweise in den 1850er Jahren auch zwei Auswanderer aus dem Oberamt Tuttlingen ums Leben kamen.33 4.1.3 Anlandung und Erstaufenthalte in Nordamerika Rund 95 % der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen gingen im 19. Jahrhundert im Hafen von New York an Land. In der Stadt New York, die schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Metropole mit mehr als einer halben Million Einwohnern war und die Oberamtsstadt Tuttlingen um das Hundertfache oder die württembergische Landeshauptstadt Stuttgart um das Zwanzigfache übertraf, manifestierte sich der Lebensweltwechsel für die Migranten am unmittelbarsten. Dabei gilt es zu bedenken, dass es sich bei den meisten europäischen Einwanderern um Angehörige der ländlichen Bevölkerung handelte, in deren Kosmos große Städte selten vorkamen. Nicht verwunderlich ist deshalb das Staunen der Neuankömmlinge über die nordamerikanischen Metropolen, wie es in einem Brief des Jakob Aicher vom 29. Oktober 1848 an seine Familie in Mahlstetten nur zehn Tage nach der Anlandung in New York zum Ausdruck kommt: Jetzt war alles Widerliche vergessen beim Anblick dieser Stadt. Bei Euch hat man einen ganz anderen Begriff von Amerika, man glaubt nämlich, nichts als Blockhäuser zu sehen, statt dessen aber stellt Euch vier, fünf, sechs, ja sogar bis auf zehn Stock hohe Häuser vor, diese sind mit lauter Ziegelsteinen aufgemauert, und die Dächer sind meistens Àach. Die Straßen in Neu-York sind sehr schmutzig, denn sie werden wenig gereinigt, und es herrscht die ganze Woche hindurch so ein fürchterliches Gewühl mit Wagen und Karren, dass man nicht auf der Straße laufen kann, sondern auf den Nebenwegen, Trottoir genannt, gehen muß. So arg aber das Gewühl die ganze Woche hindurch ist, so 31
32 33
Gränzbote Nr. 25 vom 27.3.1849, 97. Darin ist eine Liste des württembergischen Innenministeriums mit allen württembergischen Opfern des Schiffsunglücks der Floridian veröffentlicht. Zusätzlich wird in derselben Ausgabe des Gränzboten der Brief eines Überlebenden dieses Schiffsuntergangs abgedruckt, worin der Schreiber den Reiseverlauf ab Mannheim, den Untergang des Schiffes und die Aufnahme als Schiffbrüchiger in England ausführlich schilderte. Vgl. Albion, Square-riggers, 202 f. Lang, Auswanderung Neuhauser Bürger, 43.
92
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten streng wird auch der Sonntag gehalten, die ganze Stadt ist wie tot, alle Läden sind geschlossen, nicht einmal eine Zigarre kann man in einem Laden kaufen. 34
In New York sowie in der Nachbarstadt Brooklyn lebten am 1. Juni 1850 mindestens 55 Personen aus allen Teilen des Untersuchungsgebietes. Zu diesem Zeitpunkt machte dies etwa zehn Prozent aller im U. S. Manuscript Census von 1850 wiedergefundenen Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen aus. Diese Vorgewanderten spielten bei der Nachwanderung von Verwandten, Freunden, Bekannten oder Nachbarn aus ihren Heimatdörfern als erste Anlaufstation eine wichtige Rolle. So wurde beispielsweise die siebzehnköp¿ge Migrantengruppe aus der Stadt Tuttlingen, mit der Johann Gottfried Stengelin im Jahr 1851 gemeinsam mit zwei Familien, einem Ehepaar und einer ledigen Frau über London nach New York gereist war, nach Anlandung ihres Schiffes von einem bereits in New York ansässigen Tuttlinger abgeholt und untergebracht. Drei Tage nach seiner Ankunft berichtete der Neuankömmling am 1. Juli 1851 aus New York in die Heimat: Um 9 Uhr holte uns das Dampfschiff, um 2 Uhr waren wir in Neujork. Wir wurden von dem Waidele abgeholt, wo wir dann auch logierten. Die Base Barbara und Bokshammer und Waidele wohnen nicht weit voneinander, der Grieb wohnt in der Barbara ihrem Haus, sie be¿nden sich sehr gut. […] Der Bartenbach war auch schon bei mir und Messerschmied Teufel, Reismüller und sein Schwager. Die E¿nger Amerei wurde sehr gut aufgenommen von ihrem Bräutigam, sie geht schon per Hut und Sonnenschirm. Gestern sind sie nach Williamsburg abgereist, ihr Mann arbeitet im Akkord. Alle von unserer Gesellschaft arbeiten hier in der Umgegend. Der Streng, Kronenwirt Müller und seine Frau gehen nach Detroit, Nagelschmied Huber und Nusskern arbeiten in Williamsburg. […] Ich habe auch Arbeit hier bei einem Becken [Bäcker, J. K.], des Monats habe ich 5 Taler Lohn und Wasch und alles frei. Jeden Monat bekomme ich einen Taler mehr, es ist so bei jedem Handwerk, die Neuangekommenen bekommen nie mehr Lohn, weil alles anders gearbeitet wird. Es ist hier viel heißer als in Deutschland, man muß alle Tag 2 Hemden anziehen, so muß man hier schwitzen.35
Aus diesem Brief geht hervor, dass Stengelin und seine Gruppe nicht nur unmittelbar nach ihrer Anlandung wertvolle Hilfe von Vorgewanderten aus der Heimatstadt erfuhren, sondern auch, dass er, der Tuttlinger Bäckergeselle, nur drei Tage nach seiner Ankunft bereits eine Arbeitsstelle (inklusive Kost und Logis) in seinem erlernten Beruf gefunden hatte. Die Tuttlinger Familien Streng und Müller, die zu Stengelins Reisegruppe gehörten, hatten bereits Pläne für eine Weiterwanderung nach Detroit geäußert, trennten sich also bald sowohl von ihren Tuttlinger Mitreisenden als auch von den bereits in New York ansässigen Einwanderern aus ihrer Heimatstadt, von denen sie drei Tage zuvor empfangen worden waren.
34 35
Zit. n. Neuabdruck im Heuberger Boten Nr. 296 ff., 23.12.–30.12.1989. Vgl. Auswanderer-Briefe des Bäckergesellen Johann Gottfried Stengelin, in: THB 1964, 71 f.
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
93
Immer wieder ¿nden sich in Auswandererbriefen Hinweise darauf, dass Neuankömmlinge schon in New York Kontakt zu Vorgewanderten aufnahmen.36 In den meisten Fällen verließen sie die Stadt aber kurz darauf wieder, wie es z. B. zwei junge Männer vom Heuberg taten, die vier Tage nach ihrer Anlandung in New York, wo sie Einwanderer aus dem nahegelegenen Mühlheim an der Donau besuchten, nach Philadelphia weiterreisten.37 Eine auf Schiffspassagier- und Zensuslisten beruhende quantitative Analyse der unmittelbaren Anfangsphase von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die zwischen Mitte Mai und Anfang Juni 1850 in New York eintrafen, zeigt, dass sich weniger als ein Viertel dieser Einwanderer, die in beiden Quellen gefunden wurden, am Zensusstichtag38 1. Juni 1850 noch in New York aufhielt und ein weiteres Viertel in den nahegelegenen Städten Newark im benachbarten Bundesstaat New Jersey und in Philadelphia im Bundesstaat Pennsylvania gezählt wurde. Die andere Hälfte war innerhalb dieser Zweiwochenperiode bereits zu ihren Ansiedlungsorten in Ohio und Wisconsin weitergereist und wurde dort gezählt.39 Die gleiche Untersuchung von Passagierankünften zwischen dem 30. April 1849 und dem Zensusstichtag 1. Juni 1850 ergibt, dass sich von 67 Personen nur sechs – also jeder Elfte – innerhalb von 13 Monaten nach ihrer Einwanderung noch in New York aufhielten. Dass New York für die allermeisten Einwanderer nur Durchgangsstation war, gilt auch für spätere Perioden, als sich in der Stadt schon längst deutsche Einwandererviertel gebildet hatten. So blieb beispielsweise von allen 38 Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die innerhalb des Zweimonatszeitraumes vor dem Zensusstichtag 1. Juni 1870 in New York an Land gegangen waren und deren Aufenthaltsorte an jenem Tag ermittelt werden konnten, kein Einziger in New York.40 36 37 38
39
40
Siehe Brief des Simon Bilger vom Herbst 1867 nach Trossingen: „Endlich am 10. Mai kamen wir nach New York und abends 6 Uhr habe ich dort den Lambert Kohler erfragt.“ Abgedruckt bei Zepf, Goldene Harfe, 101–104. Vgl. den Brief des Mahlstetter Auswanderers Jakob Aicher vom 29.10.1848 aus Philadelphia; neu abgedruckt im Heuberger Boten Nr. 296 ff, 23.12.–30.12.1989. Der Zensus von 1850 (wie auch der von 1860, 1870, 1880) sollte den Stand des Stichtages 1. Juni reÀektieren. Oft wurden die Listen aber noch im Laufe des ganzen Sommers aufgenommen und spiegeln nicht immer rückwirkend die Situation des 1. Juni wider. Gerade 1850 wurde vielerorts noch bis in den September hinein gezählt. Nichtsdestotrotz ändert sich dadurch kaum etwas an der oben getroffenen Aussage, dass die meisten Neuankömmlinge New York sehr schnell wieder verließen. Von 34 seit dem 18. Mai 1850 in New York aus dem Untersuchungsgebiet angekommenen Migranten wurden am Zensusstichtag 1. Juni 1850 18 Personen in den Zensuslisten wiedergefunden: Vier von ihnen wurden in New York City gezählt, drei in Newark, NJ, zwei in Philadelphia, einer in Buffalo und jeweils eine vierköp¿ge Familie in Ohio bzw. Wisconsin. Von 66 seit dem 1. April 1870 in New York angekommenen, aus dem Untersuchungsgebiet stammenden Migranten, wurden am Zensusstichtag 1. Juni 1870 38 Personen in den Zensuslisten in acht verschiedenen US-Bundesstaaten wiedergefunden, davon
94
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Die überwältigende Mehrheit der Migranten, die über New York eingewandert waren, verließ also innerhalb kürzester Zeit die Stadt wieder. Dieser quantitativ aus den Zensuslisten gewonnene Befund lässt sich durch das Hinzuziehen von Einwandererbiographien aus den U. S. County Histories untermauern, in denen in Einzelfällen die Einwanderungsgeschichte detailliert beschrieben wird. Daraus geht hervor, dass die meisten Migranten direkt nach der Anlandung in New York zu anderen Zielorten in Nordamerika weiterreisten. In vielen Fällen werden neben dem Zielort auch die Personen genannt, die sie dort antrafen. Dabei handelte es sich meistens um Verwandte, wie im Falle von Johannes Mattes aus Nendingen, der 1866 in die Vereinigten Staaten von Amerika einwanderte und dort zu seinen Brüdern nach Des Moines in Iowa ging.41 Auf direktem Wege folgte ihm dorthin 1879 ein zwanzigjähriger Neffe, der dann in der Brauerei seines Onkels Arbeit fand.42 Ein Blick auf die nordamerikanischen Einwanderungsrouten ins Landesinnere zeigt, dass es bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts für Migranten, die über New York ins Land gekommen waren, eine Weiterreise bequem möglich war. Mit dem Eriekanal war in den 1820er Jahren ein Binnenverkehrsweg von den Großen Seen über den Hudson nach New York City geschaffen worden, auf dem Agrarprodukte aus dem Mittleren Westen der Vereinigten Staaten von Amerika zum bedeutendsten Ausfuhrhafen Nordamerikas in New York verschifft werden konnten. Seit der Eröffnung des Eriekanals 1825 und vor allem in den Zeiten der transatlantischen Massenmigration in den 1840er und 1850er Jahren benutzten europäische Migranten die Strecke in umgekehrter Richtung und konnten mit Flussdampfern über Albany, Utica und Buffalo den Eriesee erreichen. Von dort aus konnten über die Großen Seen dann die Staaten des oberen Mittelwestens wie Michigan und das 1848 als neuer Bundesstaat aufgenommene Wisconsin besiedelt werden. Viele Migranten siedelten sich allerdings schon entlang des Eriekanals an. Eine zweite, beinahe ebenso populäre Einwanderungsroute über New York verlief seit den 1840er Jahren ebenfalls über den Eriekanal nach Buffalo und von dort aus weiter an die am südlichen Ufer des Eriesees gelegene Stadt Erie in Pennsylvania, von wo aus über das pennsylvanische Kanalsystem und den Allegheny River die Stadt Pittsburgh oder über den Beaver-and-Erie-Kanal direkt der Ohio erreicht werden konnten. Die Route per Dampfschiff ohioabwärts ins Landesinnere wurde damals von den Migranten bevorzugt, die sich in den Staaten Ohio, Kentucky, Indiana oder im südlichen Illinois ansiedeln wollten.
41 42
zwanzig in Pennsylvania (davon vier in Philadelphia), sechs in Connecticut, sechs in New York (davon fünf in Buffalo), zwei in Ohio (Cincinnati) und je einer in Kentucky, Michigan, Iowa und Missouri. Vgl. die Biographie des Nendinger Auswanderers John Mattes, in: Portrait and Biographical Album of Otoe and Cass Counties (Nebraska), 441 f. Eiboeck, Die Deutschen von Iowa, 654.
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
95
Karte 9: Ankunftshäfen von Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet Quelle: Vom Verfasser bearbeitete Grundkarte der Vereinigten Staaten von Amerika von 1860.
Neben der Atlantikpassage nach New York nutzte – besonders in den 1840er Jahren, aber auch noch darüber hinaus bis zum Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges 1861 – ein kleiner Teil der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet die direkte Überfahrt von Europa nach New Orleans. Verglichen mit der Passage nach New York war dieser Weg weiter und teurer. Wer aus dem Untersuchungsgebiet in dieser Zeit die Route nach New Orleans wählte, führte im Durchschnitt rund hundert Gulden mehr Geldvermögen mit als derjenige, der über New York einwanderte.43 Unter den in New Orleans Angelan43
Der durchschnittliche Geldbetrag, den sechzig Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen zwischen 1845 und 1854 auf der Strecke nach New Orleans mit sich führten, lag nach dem arithmetischen Mittel bei 246 Gulden. Der durchschnittliche Geldbetrag, den 1.002 Auswanderer damals auf der Strecke nach New York mit sich führten, lag nach dem arithmetischen Mittel bei 153 Gulden. 206 von 1.002 Überfahrten nach New York wurden von mittellosen und/oder auf öffentliche Kosten geförderten Auswanderern durchgeführt, das entspricht einer Quote von 20,5 %.
0
5 50,0
0
0
0
10 100,0
Philadelphia
Baltimore
New Orleans
Galveston
San Francisco
Gesamtsumme
0,0
12 0,8
0 0,0
0,6
0,0
0,0
0,9 0
24
46
5
0
0,0
1,5
2,9
0,3
0,0
0
8
6
19
0
0,0
0,6
0,5
1,5
0,0
636 100,0 1.588 100,0 1.274 100,0
0
6
84 13,2
4
0
542 85,2 1.501 94,5 1.241 97,4
0 0,6
0,0
0,0
0,0
1,3
0,5
616 100,0
0
0
0
8
3
601 97,6
4
Quelle: Vom Verfasser anhand der Schiffspassagierlisten zusammengestellt.
0,0
0,0
0,0
0,0
5 50,0
New York
0,0
0
Boston 0,7
0,0
0,0
0,0
2,2
0,1
712 100,0
0
0
0
16
1
690 96,9
5 0,0
0,0
0,0
0,0
3,7
0,4
272 100,0
0
0
0
10
1
261 96,0
0 0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
353 100,0
0
0
0
0
0
353 100,0
0 0,6
0,6
0,6
0,0
0,0
0,0
177 100,0
1
1
0
0
0
174 98,3
1
1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1914 N % N % N % N % N % N % N % N % N %
Tab. 13: Ankunftshäfen der Nordamerikamigranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1830–1914
0,4
0,0 5.638 100,0
1
0,7
2,4
136 39
1,2
0,1 67
5
5.368 95,2
22
Summe 1830–1914 N %
96 4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
4.1 Transatlantische Wanderungsrouten
97
deten aus dem Untersuchungsgebiet befand sich kein mittelloser oder auf öffentliche Kosten geförderter Auswanderer, wogegen jeder fünfte Auswanderer auf der Strecke nach New York die Reisekosten nicht alleine aufgebracht hatte. Der Vorteil der Anlandung in New Orleans lag darin, dass die Migranten über den Mississippi, auf dem damals schon Dampfschiffe verkehrten, direkten Zugang zu dem Einwanderungsknotenpunkt St. Louis erhielten, der das Tor zur Besiedelung des amerikanischen Westens war. New Orleans selbst hatte ein feuchtwarmes Klima. Im Sommer 1849 brach dort eine CholeraEpidemie aus, nachdem 1847 bereits eine Gelb¿eberepidemie grassiert hatte. In diesen Jahren blieben mit einer Ausnahme keine Auswanderer aus dem Untersuchungsgebiet dort. Allein der Talheimer Bauernsohn Andreas Kattler ist im Zensus von 1850 in New Orleans verzeichnet; nach einem Eintrag in den Talheimer Kirchenbüchern ist er aber kurz darauf „laut Todtenschein den 7. November 1850 im Charity Hospital in New Orleans im Staat Louisiana an der Cholera gestorben“.44 Diese Cholera-Epidemie, von der auch im Tuttlinger Gränzboten berichtet wurde45, breitete sich entlang des Mississippi ins Landesinnere bis nach St. Louis aus und hatte auch Auswirkungen auf die Erstaufenthalte der Migranten entlang des Flusslaufes. Von sechzig der 84 Personen aus dem Untersuchungsgebiet, die zwischen 1847 und 1849 über New Orleans einwanderten, sind die Aufenthaltsorte aus dem Zensus von 1850 bekannt.46 Nur vier von ihnen sind darin in St. Louis verzeichnet. Die Familie Rübelmann aus Tuttlingen beispielsweise durfte wegen der Seuche in St. Louis gar nicht erst von Bord ihres Dampfschiffes gehen und siedelte dann dreihundert Meilen mississippiaufwärts in Iowa.47 Von der Nendinger Familie Wax ist aus autobiographischen Aufzeichnungen bekannt, dass sie nach einem zweijährigen Zwischenaufenthalt in St. Louis von dort vor der Cholera nach Wisconsin Àoh.48 Die Haupteinwanderungsroute der damals über New Orleans nach Nordamerika eingereisten Migranten führte vier von fünf Einwanderern aus dem
44 45 46
47 48
Kirchenbuch Talheim, 1850, Sterberegister, Rubrik „Auswärts gestorbene Talheimer“. Gränzbote Nr. 66 vom 17.8.1849, 267. Von den sechzig im US-Zensus von 1850 wiedergefundenen Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet, die zwischen 1847 und 1849 über New Orleans ins Land gekommen waren, siedelten vierzig im Staat Ohio (22 in Cincinnati, 18 in Portsmouth), acht in Muscatine, Iowa, je vier in St. Louis, Missouri, und Pendleton County, Kentucky, drei in Madison, Indiana, einer in Buffalo, NY. Auswandererbrief Georg Jakob Rübelmann vom 26.6.1849 aus Bloomington, Iowa, an seinen Schwager Joh. Georg Henke in Tuttlingen. www.genealogy.com/users/g/w/i/ Sandy-Gwin/FILE/0001page.html (kontaktiert am 8.7.2008). Reminiscences of a Pioneer.
98
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Untersuchungsgebiet über die Flüsse Mississippi und Ohio wieder nach Osten in die Bundesstaaten Illinois, Indiana, Kentucky und vor allem Ohio, wo sich zwei Drittel von ihnen niederließen. Ihr Ziel dort war meistens die Stadt Cincinnati, wie ein weiteres Beispiel aus den Talheimer Kirchenbüchern illustriert: Johannes Kattler ist „laut Totenschein 6ten März 1849, abends 9½ Uhr, auf der Reise von New Orleans nach Cincinnati in der Nachbarschaft New Albany’s (Staat Indiana), indem er von Bord des Dampfschiffes Washington abglitt, im Ohio Fluße ertrunken und nicht mehr aufgefunden worden.“49 Wenngleich zahlenmäßig unbedeutender als New Orleans, war auch der zweite im Golf von Mexiko gelegenen Hafen, das texanische Galveston, für Migranten eine bloße Durchgangsstation auf der Reise ins Landesinnere. Die Anlandung in Galveston – die Kosten für die Atlantikpassage dorthin lagen um etwa 25 % höher als der normale Überfahrtspreis nach New York – diente allen 38 Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die zwischen 1846 und 1869 dort ankamen, einzig und allein dazu, von dort aus auf dem Landweg über San Antonio ihr Siedlungsgebiet in Medina County, Texas, zu erreichen. Anlandungen in den Häfen Baltimore, Boston und Philadelphia, die zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen, hängen eher mit der Existenz einzelner Schifffahrtsrouten zu diesen Häfen zusammen als mit der Präferenz der Migranten, sich in einer dieser Hafenstädte oder in deren Nähe niederzulassen.50 Baltimore unterhielt im 19. Jahrhundert enge Handelsschiffsverbindungen nach Bremen, weshalb die meisten der aus dem Untersuchungsgebiet stammenden Migranten, die in Baltimore anlandeten, von Bremen aus auf Handelsseglern und seit der Eröffnung einer Linienschiffsverbindung auf Überseedampfern des Norddeutschen Lloyd mit dem Dampfschiff dorthin gekommen waren. Philadelphia als Anlandungshafen spielte erst seit der Gründung der Red Star Line in den 1870er Jahren eine geringe Rolle, als durch dortige KauÀeute eine Dampfschiffslinienverbindung nach Antwerpen eingerichtet wurde. Die Migranten, deren Einwanderung über Boston verlief, pro¿tierten von den häu¿gen Schiffsverbindungen zwischen Liverpool und Boston.
49 50
Kirchenbuch Talheim, 1850, Sterberegister, Rubrik „Auswärts gestorbene Talheimer“. Die einzigen über einen der drei genannten Häfen eingewanderten Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die sich dort auch niedergelassen haben, waren die 1833 über Baltimore eingereisten Angehörigen der Familie Storz aus Neuhausen ob Eck.
4.2 Lebensweltwechsel in Nordamerika
99
4.2 LEBENSWELTWECHSEL IN NORDAMERIKA 4.2.1 Einwanderungsland USA51 – Gegenentwurf zum damaligen Europa Seit ihrer im späten 18. Jahrhundert gewaltsam erzwungenen Unabhängigkeit vom britischen Mutterland hatten sich die Vereinigten Staaten von Amerika innerhalb dreier Generationen von einem Hinterwäldlerstaat zu einer aufstrebenden Industrienation gemausert, deren Industrieproduktion um 1870 nur noch von der englischen übertroffen wurde. Unterstützt wurde diese Entwicklung von einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung, die in liberalen Gesetzen ihren Ausdruck fand und dadurch auch ausländisches Investitionskapital anzog. Nicht zuletzt trug zu dieser rasanten wirtschaftlichen Entwicklung auch der im gesamten 19. Jahrhundert stetige und ab den 1880er Jahren rasch anschwellende Strom europäischer Einwanderer bei, der die amerikanische Wirtschaft mit den in der Phase der Hochindustrialisierung benötigten Arbeitskräften versorgte. Vor allem durch Einwanderung, aber auch aufgrund eines starken natürlichen Wachstums nahm die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von knapp vier Millionen 1790 auf 92 Millionen im Jahr 1910 zu. Das Staatsgebiet verdreifachte sich durch verhandelte oder erzwungene Gebietsabtretungen von Frankreich, Spanien und Mexiko in diesem Zeitraum von 864.000 auf 2.970.000 Quadratmeilen. Als stabile Demokratie, die auf der Überzeugung fußte, alle Menschen seien gleich – wovon freilich der in Sklaverei lebende schwarze Teil der Bevölkerung ausgenommen war –, und die ihren Einwohnern unabänderliche Freiheitsrechte, unter anderem die freie Religionsausübung, garantierte, galt Amerika als ein veritabler Gegenentwurf zu einem Europa, das zur Mitte des 19. Jahrhunderts für viele Menschen durch politische Unterdrückung, MilitärpÀicht, Gängelung durch allgegenwärtige Bürokratie, Heiratsbeschränkungen, wirtschaftlichem Mangel bis hin zu elementarer Not, unsichere Erwerbslage und allgemeine Perspektivlosigkeit gekennzeichnet war. Nach den von den württembergischen Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in ihren Auswanderungsanträgen selbst am häu¿gsten für ihre Auswanderung angegebenen Begründungen „Verbesserung der ökonomischen Lage“ bzw. „besseres Fortkommen“ waren es die im Vergleich zur Heimat erwarteten besseren persönlichen und wirtschaftlichen Chancen in Nordamerika, welche die transatlantische Massenmigration zwischen den 1840er und den 1880er Jahren zu einer erfolgversprechenden Option für ambitionierte Europäer werden ließen. 51
Diese aufgrund der bezweckten Knappheit der Darstellung bewusst gewählte, zweifellos eher idealbildliche Schilderung der Situation in den USA im 19. Jahrhundert sollte ergänzt werden durch eine der klassischen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der USA, z. B. Wala, USA im 19. Jahrhundert oder die sechste AuÀage von Heideking/ Mauch, Geschichte der USA.
100
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Die transatlantische Massenmigration aus Südwestdeutschland zur Mitte des 19. Jahrhunderts ¿el in den Vereinigten Staaten mit einer neuen Welle der territorialen Expansion zusammen. Die Annektierung der „Freien Republik Texas“ führte zum Krieg mit Mexiko und weiteren Gebietsgewinnen nördlich des Rio Grande, woraufhin 1845 Texas und 1850 Kalifornien als neue Bundesstaaten in die Union aufgenommen wurden. An der damaligen nordwestlichen Siedlungsgrenze der Vereinigten Staaten kamen 1846 mit Iowa und 1848 mit Wisconsin ebenfalls zwei neue Bundesstaaten hinzu. Die Gebiete nordwestlich des Mississippi hatten damals den Status von Territorien, waren 1850 verkehrsmäßig kaum erschlossen und dementsprechend schwach besiedelt. Östlich des Mississippi bestanden dagegen 1850 schon 15.000 Kilometer Eisenbahnstrecken. Die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung wurde im Mai 1869 fertiggestellt – zwei Monate bevor die Stadt Tuttlingen an das württembergische Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Die amerikanische Wirtschaft basierte damals noch überwiegend auf der Agrarwirtschaft. Die Industriezentren des Landes lagen an der Ostküste, und hier besonders in den Neuenglandstaaten Massachusetts und Connecticut, wo es Textilfabriken gab, sowie in den Mittelatlantikstaaten New York und Pennsylvania, wo mit Kohle und Eisen Stahl erzeugt wurde. Dazu war die Stadt New York das bedeutendste Handelszentrum des Landes und wurde weltweit nur von London übertroffen. Der Mittlere Westen der Vereinigten Staaten war im Wesentlichen ein Agrargebiet, wo viele freie Farmer vor allem Getreide und Fleisch für den Markt produzierten. Die Ökonomie der Südstaaten basierte auf von Sklaven bewirtschaftetem landwirtschaftlichen Großgrundbesitz; dort wurde vor allem Baumwolle und Tabak für den Export nach Europa angebaut.
4.2.2 Ansiedlungsmuster und Binnenwanderung Um die den verschiedenen Ansiedlungsprozessen und Wanderungsbewegungen zugrundeliegenden Muster aufzuzeigen, ist es höchst aufschlussreich, sich auf die intensivste Phase der transatlantischen Migration aus Südwestdeutschland zur Mitte des 19. Jahrhunderts – namentlich auf die Periode zwischen dem Beginn der Massenauswanderung in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre und ihrem AbÀauen zur Mitte der 1850 Jahre – zu konzentrieren. In diesem Zeitraum verließ nicht nur die größte Anzahl von Migranten die Schwäbische Alb mit dem Ziel Nordamerika, um auf der anderen Seite des Nordatlantiks Arbeit und eine neue Heimat zu ¿nden, die Vereinigten Staaten von Amerika führten im Jahr 1850 auch ihren ersten modernen Zensus durch, der zusätzliche Informationen über die erfassten Personen enthielt. Der Befund in Tab. 14 ist deutlich: 87 % der Migranten ohne mitgebrachtes Geldvermögen blieben an der Ostküste, dagegen nur 22 % der Migranten
101
4.2 Lebensweltwechsel in Nordamerika
Tab. 14: Verteilung der Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach mitgebrachtem Geldvermögen auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensusstichtag 1. Juni 185052
Region Ostküste Mittel-Atlantik [NY, NJ, PA] ONTARIO [kanadische Provinz] Mittlerer Westen Große Seen [OH, IN, IL, MI, WI] Prärie [IA, MO] Südstaaten „Upper South“ [VA, KY] „Deep South“ [TX] Westen [CA] Ȉ Nordamerika
Migranten Migranten % % mit ohne Migranten Migranten N ExportExportmit ohne Exportvermögen vermögen Exportvermögen vermögen 31 11 20 22,0 87,0 27 11 16 22,0 69,6 4 34
0 32
4 2
0,0 64,0
17,4 8,7
30 4 7 5 2 1 73
28 4 6 4 2 1 50
2 0 1 1 0 0 23
56,0 8,0 12,0 8,0 4,0 2,0 100,0
8,7 0,0 4,3 4,3 0,0 0,0 100,0
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl der männlichen Einzelwanderer und der Familienoberhäupter.
mit Vermögen, die vor allem in den Mittleren Westen zogen. Die Wahl des inneramerikanischen Einwanderungspfades war also von der sozioökonomischen Position der Einwanderer im Herkunftsgebiet abhängig. Das wird auch von der weiteren Beobachtung gestützt, dass – wie in Tab. 15 angegeben – 63,6 % der Bauernfamilien aus dem Untersuchungsgebiet bis 1850 in den Mittleren Westen zogen, 71,4 % der Tagelöhnerfamilien jedoch im Osten blieben. Zwei Drittel der eingewanderten Handwerkerfamilien siedelten 1850 im Landesinneren, die meisten von ihnen im Gebiet um die Großen Seen. Für die Angehörigen des tertiären Sektors – hier die im Familienverband eingewan52
Insgesamt konnten in 18 US-Bundesstaaten sowie in vier Distrikten der kanadischen Provinz Ontario 527 bis zu diesem Datum aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderte Württemberger zweifelsfrei im Zensus von 1850 lokalisiert werden. Dazu kommen aus literarischen Quellen (wie Familiengeschichten und Auswandererbriefen) noch Nachweise über die Aufenthaltsorte von etwa 25 weiteren vor 1850 eingewanderten Personen, die nicht im Zensus aus¿ndig zu machen waren. Von den zwischen 1830 und 1850 aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Nordamerika ausgewanderten 123 Familien konnten Mitglieder von 93 dieser Familien im Zensus wiedergefunden werden, was einer Trefferquote von etwas über 75 % entspricht.
102
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
derten Wirte, KauÀeute und früher im Staats- oder Gemeindedienst gewesenen Lehrer und Musiker – war der Osten des Landes, wo Dienstleistungen eher nachgefragt wurden, anziehender als das Landesinnere oder die Gebiete jenseits des Mississippi. Tab. 15: Verteilung der verheirateten, im Familienverband eingewanderten Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Berufsgruppen auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensusstichtag 1. Juni 1850
% % Wirte, alle KauÀeute; Gemeinde- Berufe bedienstete [N = 85] [N = 11] [N = 7] [N = 62] [N = 5] 31 18,2 71,4 32,3 80,0 36,5 1 0,0 0,0 1,6 0,0 1,2 26 18,2 42,8 27,5 80,0 30,6
Berufssektor N Württemberg Region Nordamerika Ostküste Neuengland [CT] Mittel-Atlantik [NY, NJ, PA] ONTARIO Mittlerer Westen Große Seen [OH, IN, IL, MI, WI] Prärie [IA, MO] Südstaaten „Upper South“ [MD, KY] „Deep South“ [TX] Westen [CA] Ȉ Nordamerika
% Bauern
% Tagelöhner
% Handwerker
4 45 42
0,0 63,6 63,6
28,6 28,6 28,6
3,2 56,4 51,6
0,0 20,0 20,0
4,7 52,9 49,4
3 8 6
0,0 18,2 9,1
0,0 0,0 0,0
4,8 9,7 8,1
0,0 0,0 0,0
3,5 9,5 7,1
2 9,1 1 0,0 85 100,0
0,0 0,0 100,0
1,6 1,6 100,0
0,0 0,0 100,0
2,4 1,1 100,0
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl der Familienoberhäupter.
Tab. 16 dokumentiert, dass die in den 1840er Jahren von der Schwäbischen Alb immigrierten ledigen Einzelwanderer – hier angegeben nach Berufsgruppen – zum Zensusstichtag 1850 eher an der Ostküste, und hier besonders in den Mittelatlantikstaaten, blieben als ihre im Familienverband ins Land gekommenen Dorfgenossen. Besonders unter den ledigen Handwerkern war die Verweilquote im Osten doppelt so hoch wie bei den verheiratet ins Land gekommenen, während bei den Bauern keine Unterschiede im Siedlungsverhalten nach ihrem Familienstand bestanden. Unter den ledigen Einwanderern des tertiären Sektors – hier vor allem den Klerikern im Missionsdienst des Evangelischen Kirchenvereins des Westens – war das Niederlassungsgebiet schon vom Mutterhaus der Mission in Basel festgelegt worden.
103
4.2 Lebensweltwechsel in Nordamerika
Tab. 16: Verteilung der ledigen, einzeln eingewanderten Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Berufsgruppen auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensusstichtag 1. Juni 1850
Berufssektor Württemberg Region Nordamerika Ostküste Neuengland [MA] Mittel-Atlantik [NY, PA] ONTARIO Mittlerer Westen Große Seen [OH, IN, IL, MI, WI] Prärie [IA, MO] Südstaaten „Upper South“ [MD, VA] „Deep South“ [LA] Westen Ȉ Nordamerika
N 25 1 23 1 25 17
% % % Bauern Bauern- Handknechte werker [N = 6] [N = 5] [N = 39] 16,7 40,0 56,4 0,0 0,0 2,6 0,0 40,0 53,8 16,7 0,0 0,0 66,6 40,0 41,0 66,6 20,0 28,2
% % alle KauÀeute, Berufe Kleriker [N = 3] [N = 53] 0,0 47,2 0,0 1,9 0,0 43,4 0,0 1,9 100,0 47,2 33,3 32,1
8 3 2
0,0 16,7 0,0
20,0 20,0 20,0
12,8 2,6 2,6
66,7 0,0 0,0
15,1 5,6 3,7
1 0 53
16,7 0,0 100,0
0,0 0,0 100,0
0,0 0,0 100,0
0,0 0,0 100,0
1,9 0,0 100,0
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl der männlichen Einzelwanderer.
Tab. 17 bestätigt die bisher gemachten Aussagen, dass in der Anfangsphase der transatlantischen Massenmigration Migrationspfade und Lebensweltwechsel in den ersten Jahren nach der Einwanderung vom sozialen Status und dem damit eng in Zusammenhang stehenden eingeführten Geldkapital der Einwanderer abhängig waren. Von den mittellosen Auswanderern, von denen fünf von sechs an der Ostküste blieben, hatte nur jeder sechste Migrantenhaushalt dort Grundbesitz erworben, während jeder zweite Haushalt von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die im Landesinneren (Mittlerer Westen oder Südstaaten) ansässig wurden, dort Grund besaß. Eine zentrale Rolle für das Siedlungsverhalten der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet spielte auch ihre Konfession. Tab. 18 zeigt, dass die Protestanten zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine deutlich höhere Neigung hatten, im ländlichen Amerika zu siedeln, als ihre katholischen Landsleute, die dreimal so häu¿g in amerikanischen Großstädten anzutreffen waren. Dieses konfessionelle Ansiedlungsmuster ist nur durch genaueres Hinsehen auf die Ansiedlungsorte in Nordamerika und durch eine Vergegenwärtigung der damaligen religiösen Landkarte Nordamerikas zu verstehen. Die katholischen Migranten aus dem Untersuchungsgebiet konnten zur Mitte des
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4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Tab. 17: Verteilung der Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Grundbesitz der Haushaltungsvorstände in den USA auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensustag 1. Juni 1850
Region Ostküste Neuengland [CT] Mittel-Atlantik [NY, NJ, PA] Mittlerer Westen Große Seen [OH, IN, IL, MI, WI] Prärie [IA, MO] Südstaaten „Upper South“ [VA, KY] „Deep South“ [TX] Westen [CA] Alle US-Regionen
Migranten Migranten % der % der mit Grundohne Migranten Migranten besitz in den Grundmit ohne USA besitz in Grundbesitz Grundbesitz N den USA in den USA in den USA 52 9 43 17,3 82,7 1 0 1 0,0 100,0 51 9 42 17,6 82,4 70 57
34 31
36 26
48,6 54,4
51,4 45,6
13 12 9
3 6 4
10 6 5
23,1 50,0 44,4
76,9 50,0 55,6
3 1 135
2 0 49
1 1 86
66,7 0,0 36,3
33,3 100,0 63,7
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl der männlichen Einzelwanderer und der Familienoberhäupter. Tab. 18: Verteilung der Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach dem U. S. Zensus vom 1. Juni 1850 und dem kanadischen Zensus vom 1. April 1851 nach ihrer Konfession und der Einwohnerzahl ihrer Ansiedlungsorte
Nordamerika Württemberg Katholiken [N = 261] Protestanten [N = 266] Alle Migranten [N = 527]
Groß- und Kleinstädte Ländliche darunter Mittelstädte Gebiete Metropolen [ 15.000 Ew.] [ 75.000 Ew.] [< 15.000 Ew.] [< 2.500 Ew.] 42,9 %
34,5 %
24,5 %
32,6 %
22,2 %
12,8 %
25,6 %
52,2 %
32,5 %
23,5 %
25,0 %
42,5 %
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl aller aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Personen.
4.2 Lebensweltwechsel in Nordamerika
105
19. Jahrhunderts kaum mit der Àächendeckenden Bereitstellung kirchlicher Infrastruktur auf dem Lande rechnen, weil die römische Zentrale damals gerade erst die amerikanischen Städte mit Pfarreien und Priestern ausgestattet hatte. Die eingewanderten Protestanten hatten dagegen die Freiheit, auch ohne Pfarrer in der Wildnis Bibelstunden abzuhalten, woraus später Gründungen von Kirchengemeinden folgen konnten. Laien oder Missionare aus der Stadt Tuttlingen und den evangelischen Gemeinden des gleichnamigen Oberamts gründeten in den 1840er Jahren in ländlichen Gebieten von Ontario, Illinois, Iowa, und Kentucky, in den 1850er Jahren in Südwesttexas und im Norden des Staates New York sowie in den 1860er Jahren im Nordwesten von Pennsylvania protestantische Kirchen. Dass dieses konfessionelle Ansiedlungsmuster nicht von der Größe der Herkunftsorte der Migranten abhängig war, belegt Tab. 19. Hier wird deutlich, dass sowohl zwischen städtisch als auch zwischen großdörÀich geprägten katholischen Migranten eine zwei- bis zweieinhalbfach höhere Af¿nität zum Leben in den Metropolen bestand als bei ihren evangelischen Landsleuten. Dabei hatten die Migranten städtischer Herkunft aus Tuttlingen, Spaichingen, Mühlheim und Fridingen den geringsten Anteil an der Ansiedlung im ländlichen Amerika. Die Größe der Herkunftsdörfer der württembergischen Migranten spielte aber im Ansiedlungsverhalten eine höchst uneinheitliche Rolle. Während die aus großen Bauerndörfern stammenden landwirtschaftlich geprägten Migranten in Nordamerika eine erhöhte Neigung zur Siedlung auf dem Land aufwiesen, zog es die Einwanderer aus mittelgroßen Dörfern überproportional in Großstädte. Auch wer aus kleinen Dörfern stammte, wo der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten am geringsten war, ging zu zwei Dritteln ins städtische Amerika. Die Af¿nität von Handwerkern zum groß- und mittelstädtischen Nordamerika wird auch in Tab. 20 bekräftigt: Danach waren 1850 knapp zwei Drittel der aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Handwerker städtisch orientiert. Bei den ländlich geprägten Migranten bestätigt sich der Befund, dass es in den ersten Jahren nach ihrer Einwanderung vornehmlich den Bauern gelang, in ländlichen Gebieten Fuß zu fassen, während sich die Tagelöhner (und ihre Familien) und mehr noch die (ledigen) Bauernknechte im städtischen, vor allem kleinstädtischen Nordamerika niederließen, um dort die ¿nanziellen Mittel zu erwirtschaften, die ihnen als Angehörigen der landlosen württembergischen Unterschichten zum unmittelbaren Aufbau einer eigenen Existenz als Farmer in Nordamerika zunächst fehlten. Tab. 21 zeigt allerdings, dass das 1850 festgestellte Ansiedlungsmuster im Einwanderungsland nicht allein von der beruÀichen Herkunft der Migranten abhängig war. Demnach bestand kein offensichtlicher Zusammenhang zwischen beispielsweise dem Anteil der aus verschiedenen Teilräumen des Untersuchungsgebietes eingewanderten Handwerker und der Niederlassungsquote der Migrantengesamtheit dieses Teilraumes an der Ostküste. Ebenso
106
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
Tab. 19: Verteilung der Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach dem US Zensus vom 1. Juni 1850 und dem kanadischen Zensus vom 1. April 1851 nach der Größe ihrer Herkunftsorte53 und der Einwohnerzahl ihrer Ansiedlungsorte
Nordamerika Württemberg Städter [N = 99] Evangelische [N = 75 Evangelische] Katholische [N = 24] GroßdörÀer [N = 230] Evangelische [N = 191] Katholische [N = 39] MitteldörÀer [kath.] [N = 141] KleindörÀer [kath.] [N = 57] Alle Migranten [N = 527]
Groß- und Mittelstädte [ 15.000]
darunter Metropolen [ 75.000]
Kleinstädte [< 15 000]
Ländliche Gebiete [< 2.500 Ew.]
41,4 %
26,3 %
44,4 %
14,2 %
40,0 %
21,3 %
52,0 %
8,0 %
45,9 %
41,6 %
20,8 %
33,3 %
16,5 %
11,7 %
22,2 %
61,3 %
15,2 %
9,4 %
15,2 %
69,6 %
23,1 %
23,1 %
56,4 %
20,5 %
50,3 %
37,6 %
14,2 %
35,5 %
36,9 %
31,6 %
29,8 %
33,3 %
32,5 %
23,5 %
25,0 %
42,5 %
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl aller aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Personen.
wenig lässt sich in dieser Hinsicht eine Korrelation zwischen den jeweiligen Migrantenanteilen mit landwirtschaftlichem Hintergrund und dem Siedlungsraum Mittlerer Westen ziehen. Stattdessen weist die Tabelle darauf hin, dass die Migranten jedes Teilraumes des württembergischen Untersuchungsgebietes im Verlauf der Nordamerikamigration im Einwanderungsland eigene regionale Ansiedlungsmuster ausprägten. Ein typisches Ansiedlungsmuster von Migranten gemeinsamer lokaler Herkunft zeigt sich beispielsweise für die Einwanderer aus dem katholischen Bauerndorf Aixheim, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Untersuchungsgebiet in den Vereinigten Staaten von Amerika eingetroffen waren. Die 53
GroßdörÀer stammen nach De¿nition des Verfassers aus Landgemeinden von über tausend Einwohnern, KleindörÀer aus solchen mit weniger als sechshundert, MitteldörÀer aus zwischen sechshundert und tausend Einwohnern zählenden Landgemeinden gemessen nach dem Bevölkerungsstand vom 1.12.1843, der letzten Zählung vor Beginn der transatlantischen Massenmigration aus dem Untersuchungsgebiet.
107
4.2 Lebensweltwechsel in Nordamerika
Tab. 20: Verteilung der Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach ihrer beruÀichen Herkunft nach dem US Zensus vom 1. Juni 1850 und dem kanadischen Zensus vom 1. April 1851 bezogen auf die Größe der Niederlassungsorte
Nordamerika Württemberg Bauern [N = 17] Tagelöhner [N = 8] Bauernknechte [N = 4] Handwerker [N = 99] Wirte, KauÀeute [N = 4] FreiberuÀer [N = 4] Alle Berufe [N = 136]
Groß- und Kleinstädte Ländliche darunter Mittelstädte Gebiete Metropolen [ 15.000 Ew.] [ 75.000 Ew.] [< 15.000 Ew.] [< 2.000 Ew.] 23,5 %
17,6 %
5,9 %
70,6 %
12,5 %
12,5 %
37,5 %
50,0 %
50,0 %
0,0 %
50,0 %
0,0 %
44,4 %
27,3 %
19,2 %
36,4 %
25,0 %
25,0 %
50,0 %
25,0 %
75,0 %
75,0 %
25,0 %
0,0 %
40,4 %
25,7 %
20,6 %
39,0 %
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl der männlichen Einzelwanderer und der Familienoberhäupter. Tab. 21: BeruÀiche Herkunft nach Wirtschaftssektoren der bis Juni 1850 aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen eingewanderten Migranten* bezogen auf einzelne Teilräume des Untersuchungsgebiets verglichen mit der am 1. Juni 1850 an der Ostküste Nordamerikas siedelnden Migrantengesamtheit aus dem Untersuchungsgebiet
Teilräume des Untersuchungsgebietes Heuberg Albvorland Baar Baaralb und Donautal Alle [N = 123]
Migranten aus der Landwirtschaft
Migranten aus dem Handwerk
Migranten aus Handel und Dienstleistung
Anteil der Migranten, die in Nordamerika an der Ostküste siedeln 58,1 % 27,9 % 40,3 %
14,3 % 24,2 % 35,0 %
71,4 % 72,8 % 62,5 %
14,3 % 3,0 % 2,5 %
0,0 %
89,7 %
10,3 %
32,5 %
20,3 %
73,2 %
6,5 %
37,2 %
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl der männlichen Einzelwanderer und der Familienoberhäupter.
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4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
kombinierte Auswertung von Auswanderungs- und Schiffspassagierlisten mit den amerikanischen Zensuslisten für den 1. Juni 1850 hat ergeben, dass nicht nur die Migranten aus einer Region, sondern auch aus einem einzelnen Dorf verschiedene Einwanderungspfade und Ansiedlungsorte wählten.54 Der Steindrucker Robert Häring, 1838 zusammen mit seiner Ehefrau von Bremen aus im Hafen von New York angekommen, lebte 1850 mit seiner Frau, vier in New York geborenen Kindern und seinem achtzigjährigen verwitweten Vater, der 1841 zur Familie gestoßen war, als Lohnarbeiter in der Stadt New Haven im Neuenglandstaat Connecticut. Drei seiner Geschwister, Maria, Clemens und David Häring, wohnten 1850 in New Yorks am dichtesten besiedelten Wohnviertel, dem der Lower West Side zugehörigen Vierten Bezirk, wo sich auf einer Fläche von einem Drittel eines Quadratkilometers 23.250 Menschen drängten. Dort arbeiteten beide Brüder als Lithographen. Denselben Beruf übte jenseits des East River in Brooklyn-Williamsburg mit Georg Häring auch ein weiterer Verwandter aus. Der Aixheimer Bauer Martin Nester hatte sich im Spätherbst 1845 mit seiner schwangeren Frau und einer kleinen Tochter über Antwerpen auf den Weg nach Texas gemacht, traf nach dreimonatiger Atlantikpassage mit dem Neugeborenen im texanischen Hafen Galveston ein und zog nach einem Zwischenaufenthalt in der Stadt San Antonio weiter westwärts nach Medina County, einem unbesiedelten Gebiet jenseits der Siedlungsgrenze am Rande der Wüste, wo ihm von einer Kolonisationsgesellschaft Landbesitz zugeteilt worden war. Dort gründete er eine Farm, musste jedoch wegen widriger Ausgangsbedingungen und Missernten seine Familie in den ersten Jahren zusätzlich mit Lohnarbeiten über Wasser halten. Ähnlich schwierig sah der Neubeginn in Nordamerika für die siebenköp¿ge Aixheimer Bauernfamilie Schellinger und die Bauernwitwe Gulden mit ihren neun Kindern aus, die, 1846 bzw. 1847 über New York ein- und über die Großen Seen weiterwanderten und von der amerikanischen Regierung in zwei benachbarten Counties in Wisconsin achtzig acres (ca. 32 Hektar) „Farmland“ erwarben. Dieses Gelände entpuppte sich bei Ankunft als dicht bewaldet. 1850 hatten beide Familien jeweils etwa ein Fünftel ihres Landes gerodet und urbar gemacht und bauten darauf Weizen, Roggen, Mais, Hafer und Kartoffeln an. An Viehbesitz wies die Familie Schellinger ein Paar Zugochsen, zwei Milchkühe, vier Kälber und zwölf Schweine auf; der Viehbestand der ein Jahr später ins Land gekommenen Familie Gulden betrug die Hälfte davon. Mit demselben Schiff wie die Familie Schellinger war 1846 von Aixheim über Liverpool und New York auch die Familie Gruler ins Land gekommen. Ihre Wege trennten sich aber bald, denn im Sommer 1850 wurde der Schnei54
Wegen der Vielzahl von Einzeldaten aus Auswanderungsverzeichnissen, Kirchenbüchern, Schiffspassagier- und Zensuslisten werden in diesem Abschnitt die jeweiligen Fundstellen nicht einzeln angegeben.
4.2 Lebensweltwechsel in Nordamerika
109
dermeister Johannes Gruler als Schneider im Elften Bezirk von Cincinnati im Staat Ohio aufgelistet. Sein ältester Sohn Eduard war bereits im Februar 1847 – nur acht Monate nach seiner Einwanderung – in Cleveland in die U. S. Army eingetreten und verbrachte die nächsten fünf Jahre im Westen des Landes. In einem anderen Einwandererviertel der Stadt wohnte der Schreiner Franz E¿nger, der in Amerika eine Bürgertochter aus Aixheims Nachbargemeinde geheiratet hatte und nun Zimmermannsarbeiten verrichtete. Unter der einheimischen Bevölkerung Cincinnatis lebte die Tagelöhnertochter Theresia Wenzler, die vier Jahre zuvor mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder Aixheim verlassen und bei einer angloamerikanischen Familie als Dienstmädchen Anstellung gefunden hatte. In der Stadt Dayton 75 Kilometer nördlich von Cincinnati hatte der Schreinermeister Wilhelm Nester ein Wohnhaus erworben. Er war mit Frau und zwei Töchtern 1846 über Le Havre und New York ins Land gekommen und verdiente sein Geld in Amerika nun als Zimmermann. Mit Rupert Mauch arbeitete seit einem Jahr noch ein zweiter Aixheimer Migrant in Dayton; er war vermögenslos und wohnte in einem anderen Viertel der Stadt. In Louisville, der 230 Kilometer Àussabwärts von Cincinnati gelegenen, größten Stadt Kentuckys, fand die Aixheimer Familie Holl ein neues Zuhause. Schustermeister Joseph Holl, 1846 eingewandert, wird im Zensus 1850 als Lohnarbeiter geführt. Weitere 290 Kilometer Àussabwärts hatte sich die neunköp¿ge Familie des Tagelöhners Johannes E¿nger unweit der Stadt Evansville im südwestlichen Indiana angesiedelt. Vier Jahre nach seiner Einwanderung im Jahre 1846 betrieb E¿nger Ackerbau und Viehzucht auf einer vierzig acre großen Farm. Westlich des Mississippi, im Städtchen Herman in Gasconade County, Missouri, arbeitete der 1846 eingewanderte Aixheimer Maurer Engelbert Dreher in seinem erlernten Beruf. Diese Einwanderer stammten sämtlich aus dem katholischen TausendSeelen-Dorf Aixheim aus dem Teil des Untersuchungsgebietes, der dem südwestlichen Vorland der Schwäbischen Alb zugerechnet wird. Sie hatten an der ersten Welle der Auswanderungsbewegung nach Nordamerika teilgenommen. Obwohl ein Großteil von ihnen im Familienverband oder gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern zwischen dem Frühjahr 1846 und dem Sommer 1847 über New York City ins Land gekommen war, gingen viele von ihnen in Amerika eigene Wege: Die zehn geschilderten Familien und vier Einzelpersonen, die nach den württembergischen Auswanderungsverzeichnissen bis zu diesem Zeitpunkt neunzig Prozent aller Aixheimer in Nordamerika ausmachten55, 55
Von den 63 Aixheimern, die nach den württembergischen Auswanderungsverzeichnissen 1838 und in den 1840er Jahren nach Nordamerika gezogen waren, sind im USZensus von 1850 lediglich zwei unverheiratete Männer und vier ledige Frauen unauf¿ndbar. Das bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt über neunzig Prozent der Aixheimer Migranten an ihren jeweiligen Aufenthaltsorten im Einwanderungsland identi¿ziert werden konnten.
110
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
hatten sich innerhalb weniger Jahre nach ihrer Ankunft im Hafen von New York auf zehn sehr verschiedenartige Orte in acht Bundesstaaten zwischen Connecticut und Missouri, Texas und Wisconsin verteilt. Dass es sich bei den hier skizzierten unterschiedlichen Migrationspfaden von Einwanderern gemeinsamer lokaler Herkunft um keinen Einzelfall, sondern eher um ein typisches Muster zu Beginn der transatlantischen Massenmigration handelt, belegt auch die räumliche Verteilung von Migranten aus zwei weiteren Gemeinden des Untersuchungsgebietes, die in den 1840er Jahren die meisten Nordamerikaauswanderer verzeichneten: Von 22 Familien und acht Ledigen, die aus dem Dorf Talheim in der Baar in den Jahren 1846 und 1847 nach Nordamerika eingewandert waren, konnten im Zensus von 1850 insgesamt 15 Familien und sechs Einzelpersonen an 15 verschiedenen Orten in elf Counties in sechs US-Bundesstaaten und im kanadischen Ontario aufgespürt werden.56 Angehörige von elf (von insgesamt 13) Familien aus der Stadt Tuttlingen und 15 (von insgesamt 27) ledigen Tuttlingern wohnten 1850 dem USZensus zufolge in zwölf Städten in neun verschiedenen Bundesstaaten.57 Personenbezogen verknüpft mit den beiden anderen bedeutendsten Hauptquellen zur Nordamerikamigration im 19. Jahrhundert, den amtlichen Auswanderungsverzeichnissen sowie den Schiffspassagierlisten, geben die amerikanischen Zensuslisten aber nicht nur über die Migrationspfade einzelner Familien bzw. Personen Auskunft, sondern auch über grundlegende sozioökonomische Aspekte des Lebensweltwechsels – wie Berufswechsel und Kapitalakkumulation – im Zuge des Wanderungsprozesses. Für sechs von zehn, also eine knappe Mehrheit der hier geschilderten Aixheimer Immigranten, für die Berufsangaben bei ihrer Auswanderung sowie im ersten Zensus nach ihrer Einwanderung vorliegen, war die Migration mit einem Berufswechsel verbunden. Dieser bedeutete aber nur in dem Fall eines Tagelöhners, der sich in Amerika als Farmer niederließ, sozialen Aufstieg, während ein Bauer und 56
57
Die Talheimer Einwanderer verteilten sich am Zensustag 1. Juni 1850 wie folgt: zwei Familien mit neun Personen in Newark, New Jersey; drei Familien mit 15 Personen nach Utica, Deer¿eld und Whitestown in Oneida County, NY; eine Person in Seneca County, NY; zwölf Personen aus drei Familien nach Wyoming County, NY; eine Person nach Genesee County, NY; zwei Personen nach Haldimand bzw. Waterloo County, Ontario, Kanada; drei Familien mit 15 Personen nach Auglaize County, Ohio; eine Familie mit neun Personen nach Spencer County, Indiana; zwei Familien mit sieben Personen nach Saginaw, Michigan und eine Person in New Orleans. Die Tuttlinger Einwanderer wurden am Zensustag 1. Juni 1850 in folgenden Städten gezählt: eine Person in Ware, Massachusetts; eine fünfköp¿ge Familie in Newark, New Jersey; eine vierköp¿ge Familie in New York City und zwei Personen in Buffalo; zwei Personen in Philadelphia, eine sechsköp¿ge Familie und eine weitere Person in Reading sowie eine Person in Wilkes-Barre, Pennsylvania; eine siebenköp¿ge Familie und zwei weitere Personen in Cincinnati, Ohio; eine sechsköp¿ge Familie in Madison, Indiana; zwei Familien mit 13 Köpfen und eine weitere Person in Ann Arbor, Michigan, und drei Familien mit zusammen 16 Köpfen plus sieben weitere Personen in Muscatine, Iowa.
111
4.2 Lebensweltwechsel in Nordamerika
zwei Handwerker nach ihrer Einwanderung zu Lohnarbeitern abstiegen und die beiden Schreiner als Zimmerleute zwar immer noch Holz bearbeiteten, dabei aber ins Baugewerbe gewechselt waren. Nur zwei Bauern, einem Schneider und einem Maurer war es gelungen, kurz nach der Einwanderung in ihrem erlernten Beruf Fuß zu fassen. Ihr mitgeführtes Kapital – die ausgewanderten Familien hatten in Aixheim Grundstücke und Wohnhäuser besessen und keine Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln zu ihren Reisekosten erhalten – konnten bis 1850 nur vier von zehn Einwandererfamilien in Grundbesitz investieren, was gemeinsam mit der hohen Rate der Berufswechsel darauf hindeutet, dass die ersten Jahre in Nordamerika für die Mehrzahl der Einwanderer von sozialem Abstieg, ökonomischer Unsicherheit und ständig notwendigen Anpassungen an die neue Lebenswelt geprägt waren. Wie bereits an der Verteilung der aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Migranten in Nordamerika am Zensustag 1. Juni 1850 gezeigt werden konnte, beeinÀussten Besitz, Beruf und Konfession sowohl den Typus des Niederlassungsortes (Stadt/Land) als auch die regionalen Ansiedlungsmuster dieser Migranten. Dagegen spielte die Größe ihrer Herkunftsorte kaum eine Rolle dafür, wo sich die einzelnen Migranten niederließen. Das Gesamtbild der Ansiedlungsmuster, welches sich nach dem Auf¿nden eines Großteils der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in den amerikanischen Volkszählungen der Jahre 1850–1880 ergab und in Tab. 22 abgebildet ist, zeigt, dass sich Tab. 22: Regionale Verteilung der Migranten* aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika an den Zensusstichtagen 1850–1880
Ostküste Neuengland [u. a. NH, MA, CT] Mittel-Atlantik [NY, NJ, PA, DE, MD, DC] ONTARIO [kanadische Provinz] Mittlerer Westen Große Seen [OH, IN, IL, MI, WI] Prärie [MN, IA, MO, ND, Dakota, NE, KS] Südstaaten „Upper South“ [VA, WV, KY, TN] „Deep South“ [u. a. TX, LA, SC] Westen [u. a. CA, OR, WA, MT, CO, AZ, NM] Nordamerika [N]
1. Juni 1850 37,2 0,9 32,3
1. Juni 1860 43,0 1,0 35,7
1. Juni 1870 43,2 2,0 35,9
1. Juni 1880 42,8 2,6 35,6
4,0 53,7 46,1 7,6
6,3 49,2 40,4 8,8
5,3 50,8 39,9 10,9
4,6 50,4 36,2 14,2
8,7 6,6 2,1 0,4
6,1 3,3 2,8 1,7
4,5 2,4 2,1 1,5
4,1 2,3 1,8 2,6
530
1.428
2.037
2.054
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der württembergischen Quellen mit dem Zensus zusammengestellt. * Gemessen an der Anzahl aller aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Personen.
112
4 Migrationspfade und Lebensweltwechsel der Nordamerikamigranten
die regionale Verteilung der Migranten in den Jahrzehnten nach 1850 sowohl durch Einwanderungen aus dem Untersuchungsgebiet als auch durch nordamerikanische Binnenwanderungen nur unwesentlich veränderte. Hauptfaktoren für die unterschiedliche regionale Verteilung der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet sind Wanderungstraditionen und Kettenwanderungen.
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
5 MIGRANTENSIEDLUNGEN IN NORDAMERIKA1 Entstehung und Entwicklung von Siedlungen württembergischer Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika lassen die räumliche und soziale Mobilität der Migranten erkennen und ermöglichen die Analyse ihres Lebensweltwechsels. Das Hauptaugenmerk ist auf die Adaptationsprozesse von Einwanderern gerichtet, die nicht nur gemeinsam siedelten, sondern durch die bewusste Nutzung persönlicher Primärbeziehungen – wie die Aufnahme von Neuankömmlingen durch Vorgewanderte, Arbeitsplatzvermittlung, Heiratsverbindungen, gemeinsame Kirchenzugehörigkeit und gemeinsames Vereinsleben – auch engere soziale Gemeinschaften bildeten. Fünfzehn solcher Migrantensiedlungen in Nordamerika, die von mindestens 25 erwachsenen Einwanderern gleicher lokaler Herkunft aus einzelnen Orten des Untersuchungsgebietes über einen Zeitraum von bis zu zwei Generationen besiedelt wurden, werden auf Charakteristika einer solchen Gemeinschaftsbildung untersucht.2 Es handelt sich um sechs größere Siedlungen in Agrargebieten in Texas, Ontario, Wisconsin, Ohio, New York und Minnesota, zwei Siedlungen in Industriegebieten in Michigan und Pennsylvania sowie gemeinschaftliche urbane Ansiedlungen in den fünf Klein- bzw. Mittelstädten Troy in Ohio, Muscatine in Iowa, Madison in Indiana, Utica in New York und Detroit in Michigan sowie in den beiden Metropolen Cincinnati und New York City. 5.1 AGRARGEBIETE Rund zwei Fünftel der im US-amerikanischen und kanadischen Zensus „wiedergefundenen“ Nordamerikamigranten aus den württembergischen Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen ließen sich in ländlichen Gebieten der Vereinigten Staaten oder Kanadas nieder. Bei der weitgehend dörÀichen Herkunft dieser Migranten verwundert es nicht, dass viele von ihnen in Nordamerika auf dem Lande siedeln, dort Grund und Boden erwerben und ihren Lebensunterhalt als Farmer oder traditionelle Handwerker mit eigenem Betrieb verdienen wollten. Bei der Realisierung dieser Absichten standen die meisten Einwanderer aber zunächst vor wirtschaftlichen Hindernissen: Die amerikanische Bundes1 2
Wegen der Vielzahl biographischer Einzeldaten werden in diesem Kapitel bei den ungedruckten Quellen (Auswanderungsverzeichnisse, Kirchenbücher, Schiffspassagier- und Zensuslisten) die jeweiligen Fundstellen nicht einzeln angegeben. Zum Konzept der Gemeinschaft vgl. Conzen, Historical Approaches, 9 ff.
114
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Karte 10: Die untersuchten Siedlungen württembergischer Migranten von der Schwäbischen Alb in Nordamerika im 19. Jahrhundert Quelle: Vom Verfasser bearbeitete Grundkarte der Vereinigten Staaten von Amerika von 1860.
regierung verkaufte zwar unbebautes, zumeist bewaldetes Land an der damaligen nordwestlichen Siedlungsgrenze in Iowa, Wisconsin, Minnesota, Kansas und Nebraska – Bundesstaaten, die zwischen der zweiten Hälfte der 1840er Jahre und den 1860er Jahren neu in die amerikanische Union aufgenommen wurden – als „Kongressland“ für 1,25 Dollar pro acre sehr preiswert an Siedler. Jedoch war nur der kleinere Teil der Einwanderer von der Schwäbischen Alb kurz nach der Ankunft in Amerika ¿nanziell in der Lage, Land zu kaufen und einen landwirtschaftlichen Betrieb zu gründen. Neben dem Geldbetrag für den Erwerb von Grund und Boden kamen auf den künftigen Farmer für den Aufbau einer Farm zusätzliche Ausgaben für Baumaterial, Werkzeuge, landwirtschaftliche Arbeitsgeräte, Saatgut und die Anschaffung eines Viehbestandes (Mindestausstattung waren ein Paar Zugochsen und eine Milchkuh) zu. Das dafür erforderliche Startkapital dürfte pro Familie (inklusive Reisekosten) bei mindestens vierhundert Dollar gelegen haben, denn von den Ein-
5.1 Agrargebiete
115
wanderern aus dem Untersuchungsgebiet, die bereits im U. S. Census von 1850 als Farmeigentümer verzeichnet wurden, war niemand mit einem geringeren Vermögen als den diesem Betrag entsprechenden tausend Gulden ausgewandert. Reisemittel und Startkapital in diesem Ausmaß konnte in der Regel aber nur derjenige aufbringen, der Haus und Hof in Württemberg verkauft hatte und damit von den hohen Bodenpreisen in der Heimat – die zur Entscheidung für die Auswanderung beigetragen haben mochten – pro¿tierte. Der Bodenpreis in den im Albvorland gelegenen Gemeinden hatte zur Beginn der Auswanderungswelle 1845/46 etwa beim Hundertfachen dessen gelegen, was damals in Amerika für „Kongressland“ verlangt wurde.3 Für tausend Gulden hätten sich die Menschen zur Jahrhundertmitte in Württemberg selten mehr als einen Hektar Ackerland kaufen können. Bis zu den 1870er Jahren verdoppelte sich der durchschnittliche Verkaufspreis für mittleres Ackerland in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen noch einmal nahezu4; in den Vereinigten Staaten von Amerika aber blieb der Preis für „Kongressland“ stabil, auch wenn die betreffenden Siedlungsgebiete nun weiter westlich des Mississippi in den Great Plains lagen. Das immense Gefälle der Bodenpreise zwischen Württemberg und Nordamerika begünstigte also unmittelbar die Migrantengruppe, die bereits vor ihrer Auswanderung Land besessen hatte, so dass sie bereits kurz nach ihrer Ankunft in Nordamerika Farmen in der respektablen Größenordnung von vierzig bis hundertsechzig acres ihr Eigentum nennen konnte. Obwohl Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen, wie Tab. 23 zeigt, in allen Regionen Nordamerikas – vor allem im Mittleren Westen und an der Ostküste – Land erwarben und Farmer wurden, kam es nur vereinzelt in ländlichen Gebieten Nordamerikas zu größeren gemeinsamen Siedlungsbildungen von Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet.
3 4
Berechnet vom Verfasser aus den Grundstückstransaktionen in Aixheim in den 1830er und 1840er Jahren, die den Aixheimer Geschlechterbeschreibungen (GA Aixheim, A 1046) entnommen sind. Vgl. die Preise eines Morgens Ackerland in den 1870er Jahren im Untersuchungsgebiet in OAB Tuttlingen, 178 f. bzw. OAB Spaichingen, 124 f.: Die Preise für mittleren Boden schwankten damals pro Morgen zwischen hundert Gulden auf dem Heuberg (Gemeinde Böttingen) und tausend Gulden im Donautal (Gemeinde Stetten). Vgl. auch Karte 4 auf S. 33 in dieser Arbeit.
116
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Tab. 23: Regionale Verteilung der Farmen von Einwanderern aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika an den Zensusstichtagen 1850–1880
Ostküste Neuengland [MA, CT] Mittel-Atlantik [NY, NJ, PA, MD] ONTARIO5 Mittlerer Westen Große Seen [OH, IN, IL, MI, WI] Prärie [MN, IA, MO, KS, NE, Dakota] Südstaaten „Upper South“ [KY, TN] „Deep South“ [TX, AL] Westen [CA, OR, CO] Nordamerika
1. Juni 1850 10 0 9
1. Juni 1860 47 0 24
1. Juni 1870 79 1 38
1. Juni 1880 86 5 42
1 37 34
23 83 62
40 138 96
39 192 114
3
21
42
78
3 2 1 0 50
12 6 6 1 143
12 4 8 3 232
15 5 10 4 297
Quelle: Vom Verfasser durch Verknüpfung der Auswandererlisten (StAS) und Kirchenbücher mit dem Zensus zusammengestellt. 5
5.1.1 Medina County, Texas Eines der abgelegensten Gebiete, in dem sich die ersten Migranten aus der Baar, dem Albvorland und vom Heuberg niederließen, war Medina County im südwestlichen Texas, rund 25 Meilen westlich der Stadt San Antonio gelegen.6 Zwischen 1845 und 1892 wanderten dorthin mindestens 66 Personen aus den Dörfern Aixheim, OberÀacht, Mahlstetten und Aldingen aus. Obwohl diese Siedler aus derselben württembergischen Herkunftsregion stammten, ja im Falle von Aixheim und Aldingen sogar in benachbarten Dörfern gelebt hatten, gab es bei den Katholiken aus OberÀacht, Aixheim und Mahlstetten einerseits und den Protestanten aus Aldingen andererseits zwei völlig verschiedene Siedlungsmuster. Die Auswanderung württembergischer Katholiken nach Texas in den Jahren 1845 und 1846 geht auf das 1842 initiierte Kolonisationsprojekt des französisch-portugiesischen Unternehmers, Spekulanten und Abenteurers Henri
5 6
In Kanada lagen die Zensusstichtage im April des auf den jeweiligen U. S. Census folgenden Jahres, d. h. 1851, 1861, 1871 und 1881 und damit jeweils zehn Monate später als in den USA. Vgl. The History of Medina County, Texas; Hudson, D’Hanis.
5.1 Agrargebiete
117
Castro zurück.7 Texas war damals noch nicht Teil der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern eine junge, unabhängige Republik. 1836 hatten texanische Freischärler unter der Führung von General Sam Houston die mexikanischen Truppen unter General Santa Anna in der Schlacht von San Jacinto besiegt und damit die Herrschaft Mexikos, das 1821 von Spanien unabhängig geworden war, in diesem Gebiet gebrochen. Texas war nun eine unabhängige Republik mit einer weitestgehend unbesiedelten LandÀäche von 643.000 Quadratkilometern, stand aber wirtschaftlich auf schwachen Füßen. Dies war die Ausgangslage, als es zwischen dem Unternehmer Castro und der Republik Texas 1842 zu folgendem Handel kam: Castro verpÀichtete sich, innerhalb der nächsten fünf Jahre mindestens dreitausend europäische Bauern ins Land zu bringen, denen nach Erfüllung verschiedener Bedingungen nach drei Jahren von der texanischen Regierung Land übertragen werden sollte: Jede Familie sollte 320 acres, jeder ledige Mann über 16 Jahren 160 acres Land erhalten, wenn sie in den ersten drei Jahren darauf ein Wohnhaus bauten und eine Fläche von 15 acres drei Jahre lang bewirtschafteten. Castro, der die Durchführung dieses Siedlungsprojektes in organisatorischer und ¿nanzieller Hinsicht zunächst auf sein alleiniges Risiko übernahm, sollte, sobald er die vereinbarte Anzahl von Kolonisten ins Land gebracht hatte, dafür ebenfalls mit Land belohnt werden. Er sollte mit 320 acres pro Familie und 160 acres für jeden ledigen Mann ebenso viel erhalten wie die von ihm angeworbenen Kolonisten zusammen. Nachdem Castro den Kolonisationsvertrag mit der Republik Texas unterzeichnet hatte, begann er, in Frankreich Siedler anzuwerben. Ihm gelang es, noch im November des Jahres 1842 die ersten französischen Ackerbauern nach Texas einzuschiffen. Sein Kolonisationsprojekt geriet aber schon innerhalb der ersten Monate in ernsthafte Schwierigkeiten, weil das Land, das ihm von der Republik Texas übertragen wurde, damals noch jenseits der Siedlungsgrenze im Indianerland lag. Dort, zwischen San Antonio im Osten und dem Rio Grande im Westen, mussten erst neue Siedlungen angelegt werden. Selbst nachdem zwanzig elsässische Familien 1844 das Örtchen Castroville gegründet hatten, war das Leben für die ersten Siedler immer noch sehr unsicher, ja nahezu unerträglich, weil sie mit Seuchen, ständigen Indianerüberfällen, dem ungewohnten Klima und der unwirtlichen Natur des Landes zu ringen hatten. Durch Tod, Krankheit und Abreise vieler Siedler stand Castros Kolonisationsprojekt 1844 vor dem Scheitern. Da Castro die vertraglich festgelegte Anzahl von sechshundert Siedlern im Jahr nicht mehr alleine erreichen konnte, suchte er sich in Baden und Belgien Geschäftspartner, die – da mehr Siedler mehr Pro¿t bedeuteten – die Werbekampagne für Castros Kolonie von Innerfrankreich zunächst ins Elsass und später auch in die dicht besiedelten Gebiete östlich des Rheins nach Ba7
Vgl. Waugh, Castro-ville and Henry Castro; Weaver, Castro’s Colony.
118
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
den und Württemberg ausdehnten. Weil kapitalkräftige Landwirte nicht so leicht als Siedler gewonnen werden konnten, warben Castro und seine Geschäftspartner ab 1844 auch Migrationswillige mit anderen beruÀichen Quali¿kationen – vor allem Handwerker – zur Ansiedlung in Texas an. Die Kosten für die Atlantikpassage nach Galveston – dem zum texanischen Siedlungsgebiet nächstgelegenen, aber immer noch 250 Meilen davon entfernten Hafen – lagen um etwa 25 % über dem normalen Fahrpreis nach New York, weshalb die Auswanderung nach Texas nur Personen möglich war, die diese höheren Reisekosten aufbringen konnten. Texas blieb somit den ärmsten Migrationswilligen als Auswanderungsziel verschlossen, da die württembergischen Behörden, wenn sie schon die Auswanderung von Untertanen ¿nanzierten (oder mit¿nanzierten), nur für die preisgünstigste Route nach New York bezahlten. In den Jahren 1845 und 1846 ließen Castros Geschäftspartner unter anderem im Tuttlinger Gränzboten einige Male eine Werbeanzeige zur Auswanderung nach Castroville abdrucken8, die offensichtlich ihren Zweck nicht verfehlte. Diese verheißungsvolle Zeitungsanzeige bewirkte wohl die Entscheidung zur Auswanderung von acht Partien aus dem Untersuchungsgebiet. Im Staatsarchiv Sigmaringen be¿nden sich die Verträge zwischen drei OberÀachter Familien und Castros Generalagenten Ludwig Huth aus Neufreystädt im Badischen.9 Diese Verträge belegen, dass der Ziegler Andreas Kraus mit Frau und vier Kindern, der Schneider Ignaz Reiser mit Frau und Sohn sowie die ledige Jovita Hermann, Reisers Schwägerin, mit ihrem Sohn sich dazu verpÀichteten, nach Castroville verschifft zu werden, wofür sie schon den halben Reisepreis angezahlt hatten. Diese Gruppe war – im Vergleich zu den anderen Auswanderern des Jahres 1846 – nicht allzu bedürftig, besaß sie doch nach dem Verkauf von Haus und Hof in Württemberg zusammen fast 1.300 Gulden Geldvermögen. Da nicht mehr alle Schiffspassagierlisten für den texanischen Hafen Galveston existieren10, ist die Ankunft der OberÀachter Auswanderer 8
9 10
Vgl. etwa den Gränzboten Nr. 20 vom 13.3.1846, 80. Nach einer dort abgedruckten Auswanderungsanzeige von C. E. Held in Rottweil bot dieser als Agent des in Antwerpen ansässigen „Texas-Colonisationsvereins“ bis 15.4.1846 eine Passage von Antwerpen nach Texas für 81 À an. Jeder Familie, die sich in Castroville oder Umgebung niederlassen wollte, garantierte er die unentgeltliche Überlassung von 640 acres an Grund und Boden. In derselben Ausgabe des Gränzboten bot der Agent Held in einer anderen Annonce „Schiffsakkorde nach allen Landungsplätzen in Nordamerika für 52 À ab Mannheim“ an. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191 und 210. Beispielsweise be¿ndet sich in der Auswanderungsakte des Andreas Kraus von OberÀacht eine Kopie des Vertrages mit dem Auswanderungsverein. Zur Archivsituation der Schiffspassagierlisten von Galveston siehe Blaha, Passenger Lists. Vgl. auch Ships Passenger Lists, Port of Galveston, Texas, 1846–1871; Geue/ Geue, New Land; Abschriften von Schiffspassagierlisten mit Aldinger Migranten bei Geue, New Homes.
5.1 Agrargebiete
119
in Texas nicht feststellbar. Am Zensustag 1850 lebte jedoch Ignaz Reiser mit seiner Familie in der Stadt San Antonio und arbeitete dort in seinem erlernten Beruf als Schneider. Grundbucheinträge in Medina County belegen, dass ihm als Familienvater am 23. April 1850 das von Castro versprochene Land von 640 acres rechtlich übertragen wurde, er dieses aber im darauf folgenden Jahr für hundert Dollar weiterverkaufte, da er dort offensichtlich keine Wurzeln geschlagen hatte.11 Im Gegensatz zu den Migranten aus OberÀacht, deren Verbleib in Nordamerika nur teilweise ermittelt werden konnte, kann die Spur des Aixheimer Bauern Martin Nester mit Frau und Tochter von deren Auswanderungsantrag im Jahr 1845 über Schiffspassagier- und Volkszählungslisten generationenlang bis zur Gegenwart verfolgt werden. Die Familie Nester bestellt gegenwärtig das ihr ursprünglich zugewiesene Land in der fünften Generation und züchtet immer noch Rinder. Im November 1845 hatte Martin Nester, Bauer und Landbesitzer, beim Schultheißenamt in Aixheim den Antrag gestellt, mit seiner Familie nach Castroville in Texas auswandern zu können12. Er gehörte mit 450 Gulden für drei Personen zu den mittelmäßig vermögenden Auswanderern seiner Zeit. Im Frühjahr 1845 hatte er in Aixheim noch Felder gekauft, und im Frühsommer desselben Jahres war seine Frau schwanger geworden. Dennoch wanderte er im Herbst 1845 aus. Die schnelle Auswanderung trotz kurz zuvor getätigten Landkaufs und bestehender Schwangerschaft deutet darauf hin, dass die Familie Nester angesichts der in Aussicht gestellten 320 acres Land entschlossen war, das durch das baldige Auslaufen von Castros Kolonisationsprojekt begrenzte Zeitfenster zu nutzen, in Texas Land in einer Größenordnung zu erwerben, die einem Vielfachen dessen entsprach, was ein Landwirt im heimischen Aixheim jemals hätte besitzen können. Die Passagierliste der Bark Talisman, eines kleineren Segelschiffes, das die Familie Nester am 2. Januar 1846 in Antwerpen bestieg, zeigt, dass außerdem die 28-jährige Dienstmagd Rosa Honer, die ebenfalls aus Aixheim stammte, und der 33-jährige Bauer Conrad März aus OberÀacht mit an Bord waren.13 Von beiden verlieren sich in Texas jedoch die Spuren, was – wie im Fall der anderen OberÀachter – darauf hindeutet, dass die Einwanderer bei der Besiedlung von Medina County nach der langen und beschwerlichen Überfahrt nach Galveston und der Weiterreise per Ochsenkarren zur Siedlungsgrenze mit vielerlei Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Im Jahre 1851 kam die Mahlstetter Witwe Euphrosina Sauter mit vier erwachsenen Kindern nach Medina County. Nach dem Auslaufen von Castros 11 12 13
Vgl. die 13 Seiten starke Grundbuchakte von Ignaz Reiser digitalisiert online beim General Land Of¿ce unter: https://scandocs.glo.state.tx.us/web¿les-/landgrants/ pdfs/1/5/6/156191.pdf (Kontaktiert am 29.1.2009). StAS Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 39. Ship Passenger Lists, departing 1846, Texas State Library and Archives Commission, Austin, Texas.
120
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Vertrag im Jahr 1847 war dort Land immer noch preiswert zu haben: Der Hektar kostete umgerechnet acht Gulden. Familie Sauter emigrierte mit einem gemeinsamen Geldvermögen von sechshundert Gulden. Ihre Entscheidung, nach Texas zu gehen, ist wohl darauf zurückzuführen, dass Regina Sauter, das älteste Kind der Familie, 1846 einen Elsässer geheiratet und sich kurz darauf gemeinsam mit ihrem Mann Castros Kolonisten angeschlossen hatte und nach Texas gegangen war. Medina County bestand zu dieser Zeit aus dem 1844 gegründeten Hauptort Castroville, den Dörfern Quihi und Vandenberg (beide 1846 gegründet) und dem 1847 gegründeten, nach einem belgischen Geschäftspartner Castros benannten Dorf D’Hanis. Nach der Volkszählung von 1850 hatte Medina County 881 Einwohner; zehn Jahre später hatte sich die Bevölkerung bereits mehr als verdoppelt. Die Nesters und Sauters siedelten im abgelegenen Dörfchen D’Hanis, dem letzten Außenposten der Zivilisation, und erlebten in den ersten zwanzig Jahren eine unruhige Zeit an der Siedlungsgrenze. Die Indianer des kriegerischen Stammes der Comanchen bildeten eine ständige Gefahr für die zunächst völlig überforderten Europäer. Von Indianerhand zu sterben war bis in die 1870er Jahre neben den üblichen Krankheiten wie Gelb¿eber oder Ruhr die häu¿gste Todesursache von Erwachsenen.14 Auch Jacob Sauters Schwiegervater wurde von Indianern getötet.15 Die Indianer hatten es besonders auf die Pferde der Siedler abgesehen. Schadensersatzforderungen einzelner Siedler an den Staat Texas aus dem Jahr 1861 zeigen, dass beispielsweise die Familie Sauter in den ersten zehn Jahren für den Verlust von 14 gestohlenen Pferden und vier getöteten Rindern aus staatlichen Kassen eine Entschädigungssumme von 1.100 Dollar erhielt.16 Vielen Widrigkeiten zum Trotz – auch das semiaride Klima mit seinen Trockenperioden und Hitzewellen bedrohte die Existenz der Siedler – waren schon die ersten Generationen der Familien Nester und Sauter als Landwirte und besonders als Viehzüchter erfolgreich. Ein Reisebericht aus den 1850er Jahren vermittelt einen authentischen Eindruck der damaligen Situation in Medina County: D’Hanis, das etwa 25 Meilen von Castroville entfernt liegt, stellt sicherlich das außergewöhnlichste Schauspiel am Rande der großen Amerikanischen Wildnis dar: Es wirkt wie einer der kleinsten und schäbigsten europäischen Flecken. Es besteht aus etwa 20 Hütten und Bretterbuden, alle im selben Stil gebaut: Ihre Wände bestehen aus vertikal zusammengesetzten Pfosten und unbehauenen Baumstämmen, abgedichtet durch Lehm und Ton. Der Boden ist ausgetretene Erde, die Fenster haben kein Glas, das Dach steht nach allen Seiten über und ist mit einem GeÀecht aus einem dünnen, braunen Gras in einer seltsamen Art und Weise gedeckt. Der Dach¿rst ist mit Kreuzen oder Wetterhähnen ge-
14 15 16
Vgl. Manuscripts of the 1860 and 1870 U. S. Population Census, Mortality Schedules für Medina County, Texas. Santleben, Texas Pioneer. Texas State Archives.
5.1 Agrargebiete
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schmückt. Es gibt eine sonderbare kleine Kirche, und die Einwohner sind strenge Katholiken, der Priester unterrichtet die Kinder. Dies war die zweite Kolonie von Herrn Castro die dieser 1846 angelegt hat; allerdings erscheint es, dass dieser nicht viel mehr gemacht hat, als ihnen diesen Platz zu zeigen und das Land an die Siedler zu übertragen.17
Die Einwanderung und Ansiedlung von 34 Protestanten aus Aldingen im Oberamt Spaichingen in Medina County folgten einem ganz anderen Muster als die der Katholiken aus den Nachbarorten Aixheim, OberÀacht und Mahlstetten: Der erste Aldinger, der seinen Fuß auf texanischen Boden setzte, war im Jahre 1851 Christian Ö¿nger, ein Weber, der drei Jahre lang in der Pilgermission von St. Chrischona in der Nähe von Basel zum Missionar ausgebildet worden war. Er wurde mit fünf anderen frisch ordinierten Missionaren von der Basler Missionsgesellschaft nach Texas entsandt.18 Da die Protestanten dort eine kleine Minderheit waren und in Basel um geistlichen Beistand nachgesucht hatten, wurde Ö¿nger als Pastor nach Medina County geschickt, wo er 1852 in Castroville und Quihi zwei lutherische Kirchen gründete. Wenige Monate später setzte die Auswanderung aus Aldingen nach Medina County ein. Ende der 1850er Jahre waren 25 Männer und Frauen, darunter viele ledige und miteinander verwandte Personen, Pastor Ö¿nger nach Quihi gefolgt; nur einer von ihnen hatte sich in Castroville niedergelassen. Ihnen folgende Einwanderer aus Aldingen kamen 1869, 1886, und 1892 nach Medina County. Der letzte war Matthias Rath, der in der Bezirkshauptstadt Hondo eine Bäckerei eröffnete. Während die als Kolonisationsprojekt entstandene katholische Siedlung in D’Hanis schon bald keinen weiteren Zuwachs aus der Heimat mehr erhielt, wuchs die durch Kettenwanderungen entstandene evangelische Siedlung in Quihi durch weitere Zuzüge aus der Heimat über mehr als vierzig Jahre. Wie die Schiffspassagierlisten zeigen, waren auch die Protestanten direkt aus Europa gekommen. Im Unterschied zu Castros Siedlern, bei denen es sich zum Großteil um Familien handelte, kamen die meisten Aldinger als ledige Einzeleinwanderer nach Medina County und heirateten dort innerhalb kürzester Zeit in der Kirche von Pastor Ö¿nger andere, ebenfalls aus Aldingen stammende Migranten19: von zwanzig Aldingern heirateten zehn innerhalb der ersten drei Jahre untereinander. Nahezu alle Aldinger schlossen sich Pastor Ö¿ngers lutherischer Bethlehemskirche an, wo ein Bruder des Pastors Diakon war. Diese evangelischen Aldinger Einwanderer in Medina County hatten einen außerordentlich engen Zusammenhalt: Als vormalige Tagelöhner oder Weber entstammten sie mehrheitlich der besitzlosen Unterschicht und hatten den Atlantik in kleinen Gruppen überquert. Die meisten von ihnen kamen in 17 18 19
Olmstead, Journey through Texas (Übersetzung des Zitats durch den Verfasser). Vgl. Ziehe, Churches Serving German Immigrants. Vgl. Kirchenakten der Bethlehem Lutheran Church, Quihi, Texas.
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den 1850er Jahren; bis auf einen siedelten sie alle in Quihi. Viele von ihnen hatten benachbarte Grundstücke, die Hälfte von ihnen heiratete untereinander, fast alle gehörten derselben Kirchengemeinde an und viele waren an der Gründung eines örtlichen Gesangsvereins beteiligt. Keiner der württembergischen Einwanderer nahm in Medina County ein öffentliches Amt an oder trat im öffentlichen Leben in Erscheinung; nur in ihrer Kirchengemeinde spielten sie eine wichtige Rolle. Beide Siedlungen, D’Hanis wie auch Quihi, waren bis in die 1920er Jahre von außerordentlicher personaler Stabilität. Damals machte eine Ungezieferplage die gesamte Baumwollernte zunichte und die Weltwirtschaftskrise tat ein Übriges, die prosperierenden Ortschaften wirtschaftlich schwer zu schädigen. Bis dahin war das Leben in Medina County zwar hart, aber dennoch für die württembergischen Einwanderer erfolgreich. Die meisten von ihnen stiegen, auch wenn sie ohne große Vermögen ins Land gekommen waren, innerhalb von zehn Jahren zu Farmern und Landbesitzern auf, nachdem sie die ersten Jahre als Knechte oder Landarbeiter tätig gewesen waren. Diejenigen, die es nicht zu Grundbesitz brachten, verließen Medina County innerhalb kurzer Zeit wieder. Einige von ihnen zogen in die nächste Stadt nach San Antonio, einer nach New Orleans, um dort sein erlerntes Handwerk als Büchsenmacher auszuüben. Als die erste Farmergeneration sich auf das Altenteil zurückzog, wurden die Farmen zumeist den ältesten Söhnen übergeben. Die anderen Kinder bekamen ihre Anteile in Geld ausbezahlt, womit sie sich wiederum ein Stück Land kaufen konnten. Nicht selten besaßen drei oder vier Söhne der ersten Einwanderer eigene Farmen. Diese Tradition setzte sich bis in die dritte Einwanderergeneration fort. Die unverheiratet ins Land gekommene Pioniergeneration der württembergischen Siedler in Medina County hatte dort im Durchschnitt acht bis zehn Kinder, von denen die älteren Söhne schon früh auf der elterlichen Farm mitarbeiteten, während die jüngeren Söhne zumeist ein Handwerk erlernten. Diese ergriffen – mit Ausnahme der Weberei – oftmals die früheren Handwerksberufe ihrer Väter, für die in ländlichen Gebieten Nachfrage bestand, und wurden Zimmerleute, Wagner, Schreiner oder Blechschmiede. Söhne, die nicht in Medina County blieben, gingen nach San Antonio, wo sie Saloons (Schankwirtschaften) oder Lebensmittelgeschäfte eröffneten. Die jüngeren oder weniger quali¿zierten unter ihnen fanden Beschäftigung in ungelernten Berufen, etwa als Steinsetzer, Fuhrleute oder Boten. Viele Töchter gingen im Alter von etwa zwanzig Jahren nach San Antonio, wo sie in Büros oder in der Textilfabrik arbeiteten. Die Angehörigen der dritten Einwanderergeneration, die die längste Ausbildung erhielten und auch keine Schwierigkeiten mehr mit der englischen Sprache hatten, fanden in der Stadt quali¿zierte Anstellungen als Lehrer, Buchhalter, Versicherungsagent oder Geschäftsführer. In Medina County existierten zwei konfessionell unterschiedlich geprägte Siedlungen von Einwanderern aus dem Oberamt Spaichingen nahe beieinan-
5.1 Agrargebiete
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der. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen dafür, dass die Aldinger Protestanten in Quihi mit den Katholiken aus dem Nachbardorf D’Hanis interagiert hätten, obwohl einige von diesen aus Aldingens schwäbischer Nachbargemeinde Aixheim stammten. Die konfessionellen Trennlinien, die in der Heimat bestanden, konnten also auch durch den Migrationsprozess nicht überwunden werden. Dieses Ergebnis spiegelt ein Verhaltensmuster von Migranten wider, das bereits für drei ethnisch homogene, aber konfessionell unterschiedliche Ansiedlungen in Ohio aufgedeckt wurde.20 5.1.2 Haldimand County, Ontario, Kanada Folgender Auszug eines zwölfstrophigen Gedichtes, in dem 1877 der Trossinger Maurersohn Jakob Kauth das Leben seiner 1847 im Familienverband nach Kanada eingewanderten Mutter beschreibt, eröffnet einen neuen Blickwinkel auf die zahlenmäßig starke Trossinger Migration nach Ontario: Kaum acht Jahr’ später reisten wir Vom Vaterlande dann Und kam’n nach dreißig Tagen hier In New York’s Hafen an. Dies war nun Nord Amerika Das Land, wo Freiheit blüht; Von hier ging’s dann nach Canada In’s britische Gebiet. Achtzehnhundert sieben und vierzig Kamen wir am Dritten Tag Im Monat Oktober glücklich Bei den Verwandten an. Hier hab ich im Herz erfahren Als ich drang durch die Pfort. Also ward ich neugeboren Durch Gottes Geist und Wort.21
Zwar entspricht die Familie Kauth, die zu den zehn vermögenslosen Maurerbzw. Tagelöhnerfamilien gehörte, denen die Gemeinde Trossingen im Januar 1847 vollständig die Fahrtkosten nach Nordamerika bezahlte, vom Sozialpro¿l her dem Typus des sozioökonomisch motivierten Amerikaauswanderers. Die angesprochene Freiheit und die hier erwähnte „Wiedergeburt“, die im Pietismus eine Lebenswende bezeichnet, nach der Christus persönlich in das Leben des Einzelnen aufgenommen wird, legen jedoch nahe, dass, wenn nicht 20 21
Vgl. Aengenvoort, Siedlungsbildung. Abdruck des Gedichts in Auszügen in Häffner/Ruff/Schrumpf, Trossingen, 75. Gesamtes Gedicht im Stadtarchiv Trossingen (Urkunden, Gemeinderatsprotokolle und „Sachakten vor 1907“).
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gleich die Wanderungsentscheidung, so doch zumindest die Auswahl des Siedlungsgebietes religiösen Präferenzen folgte. Die Einwanderung von 66 Personen aus den stark evangelisch-pietistisch geprägten Orten Trossingen, Talheim und Schura nach Haldimand County, Ontario, zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde neben den zeittypischen sozioökonomischen Gründen wohl auch von dem Wunsch württembergischer Pietisten nach ungehinderter Religionsausübung in der Neuen Welt beeinÀusst. Dass zwischen 1846 und 1878 aus dem gesamten Untersuchungsgebiet 159 Protestanten, aber nur sechs Katholiken in das ländliche Ontario eingewandert sind, suggeriert, dass dort für die bewusst vom Menschen erlebte Gotteserfahrung und die vollzogene Hingabe an Gottes Wort, die den Pietismus ausmachen, die Bedingungen günstig waren. Als Bewegung, die die Reformation vollenden und dem mündigen Laien sein Recht in der Kirche verschaffen wollte, hatte der Pietismus gegen Ende des 17. Jahrhunderts Eingang in das Herzogtum Württemberg gefunden. Seit etwa 1680 trafen sich die Pietisten in der „Stunde“; sie wollten selbst die Bibel studieren und die Frömmigkeit im Alltag praktizieren. Obwohl die Kirchenleitung zu Reformen bereit war, ging das bereits im 18. Jahrhundert nicht ohne Zwischenfälle, Maßregelungen, Separierungen und Verbitterung ab. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts endete die Französische Revolution, von der sich gerade pietistische Gruppen mehr Freiheit erhofft hatten, in einem Strom von Blut. Nachdem Napoleon Europa mit Kriegen überzogen und neu geordnet hatte, regierte in der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress in Württemberg König Friedrich I. (1806–1816) mit harter Hand Staat und Kirche und griff auch kräftig in innerkirchliche Belange ein.22 Deshalb wanderten beispielsweise aus dem Oberamt Tuttlingen in den Hungerjahren 1816/17 einzelne Gruppen nach Russland oder Amerika aus; in den Akten werden sie als Schwärmer oder Separatisten bezeichnet.23 Neben wirtschaftlichen Gründen war die ersehnte Freiheit von obrigkeitlicher Bevormundung – nicht zuletzt in religiöser Hinsicht – eine Triebfeder für die Auswanderung. Obwohl König Wilhelm I. (1816–1864) im Jahr 1819 mit der Gründung von Korntal und Wilhelmsdorf für die Pietisten zwei freie Siedlungen schuf und Württemberg durch seine Verfassung zur konstitutionellen Monarchie wurde, blieb die Kirche in den Staat integriert. Noch im gesamten 19. Jahrhundert gab es deshalb – auch aus dem Untersuchungsgebiet – weiterhin religiös-pietistisch motivierte Auswanderungen württembergischer Protestanten. So schrieb zu Anfang der 1840er Jahre ein Talheimer Bauer in sein Haushal-
22 23
Darstellung nach der Geschichte der Württembergischen Landeskirche in: http://www. elk-wue.de/landeskirche/zahlen-und-fakten/geschichte-der-landeskirche/. Vgl. den Auswanderungsantrag der Anna Maria Link aus Hausen ob Verena von 1816. (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191 und 194). Als Auswanderungsgrund wird „Anschluß an eine Separatistengesellschaft“ genannt.
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tungsbuch: „Wieder ist eine Gruppe unserer Glaubensbrüder abgereist. Zum Abschied sangen wir christliche Lieder.“24 Wie aus dem Vergleich der Auswanderungsverzeichnisse mit dem kanadischen Zensus 1851, 1861, 1871 und 1881 hervorgeht, der die Konfessionszugehörigkeit der Bevölkerung erfasste, schlossen sich die in den 1840er Jahren aus dem Oberamt Tuttlingen eingewanderten Württemberger in Kanada zunächst etwa zu gleichen Teilen lutherischen wie reformierten Kirchengemeinden an. Bis 1881 verschob sich jedoch die konfessionelle Zugehörigkeit von etwa vierzig Prozent dieser Migranten zu den Methodisten, einer in England entstandenen Erweckungsbewegung innerhalb des Protestantismus, die zeitgleich zum Hallenser Pietismus entstanden war. Die 147 Trossinger und Talheimer Protestanten, die zwischen 1846 und 1878 nach Kanada eingewandert sind, verteilten sich dort auf elf der insgesamt 22 Bezirke im Südwesten von Ontario – ein Gebiet, das im Osten vom Ontariosee, im Süden vom Eriesee und im Westen vom Huronsee begrenzt wird. Jedoch kam es nur an einzelnen Orten zu Siedlungsbildungen. Das ausschlaggebende Moment für Ansiedlung und Niederlassung scheint die Existenz von reformierten Kirchengemeinden vor Ort gewesen zu sein: Ein Vergleich der verschiedenen Ansiedlungsorte zeigt, dass sich Talheimer und Trossinger in größeren Gruppen nur dort niederließen, wo Gemeinden der „Evangelical Association“ – eine Art evangelische Brüdergemeinde – bestanden, nämlich in Rainham und South Cayuga Townships in Haldimand County, Hay und Stephen Townships in Huron County und Carrick Township in Bruce County. Dem Zensus von 1881 zufolge waren von 77 Talheimer und Trossinger Einwanderern in Ontario nur noch 24 Mitglied einer solchen Gemeinde. Viele Migranten hatten sich einer methodistischen Kirche angeschlossen, wodurch die Gemeinden der „Evangelical Association“ inzwischen zahlenmäßig ins Hintertreffen geraten waren. Die erste und auch vier Jahrzehnte nach der Einwanderung immer noch größte und bedeutendste württembergische Siedlung auf kanadischem Boden, die von Migranten aus Talheim und Trossingen gegründet worden war, hatte ihren Nukleus in den Gemeinden Rainham und South Cayuga in Haldimand County. In Rainham hatten sich bereits 1846 drei Geschwister der Trossinger Familie Kauth niedergelassen. Zu dieser am Nordufer des Eriesees, etwa fünfzig Meilen westlich der Stadt Buffalo gelegenen Landgemeinde, folgten weitere Migranten aus dem Untersuchungsgebiet nach. Buffalo an der Einmündung des Eriekanals in den Eriesee und als Grenzstadt zu Kanada spielte durch seine geographische Lage bei der Besiedlung Ontarios eine bedeutende Rolle, da die meisten Siedler durch die Stadt kamen. Das ländlich geprägte Gebiet im westlichsten Zipfel des Staates New York und damit östlich von Buffalo gelegen war auf US-amerikanischer Seite bereits in den späten 1840er 24
Kreisarchiv Tuttlingen, Nachlass Ernst Vosseler.
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Jahren von Migranten aus Talheim besiedelt worden, die dort im Laufe der Zeit zu Farmern wurden. Der erste Talheimer in Kanada war der 1822 geborene Martin Kohler, der später zu einem der größten Viehhändler der Gegend avancierte. Nach ihm ist in North Cayuga Township sogar eine Ortschaft benannt. Martin Kohler gehörte zu denjenigen Talheimern, die ihre Gemeinde ohne Auswanderungsantrag verlassen hatten. Aus kanadischen Quellen geht hervor, dass Kohler 1850 in North Cayuga Township in Haldimand County sesshaft wurde.25 Im Jahr 1851 war er bereits mit einer Deutschen verheiratet und bewohnte mit seiner Frau und deren aus einer vorherigen Ehe stammenden Kindern eine Blockhütte; sein Beruf wird als Lohnarbeiter (laborer) angegeben. Zehn Jahre später war er schon zum Landbesitzer und Farmer aufgestiegen. Nach Martin Kohler wurde der Bauernknecht Ulrich Kreutter 1852 als zweiter Talheimer in Haldimand County ansässig. Die Auswanderungsakten zeigen, dass Kreutter den Atlantik (mindestens) dreimal überquerte.26 Seine Rückkehr nach Talheim hatte vermutlich den Grund, Eltern und Geschwistern persönlich von den Verhältnissen in Kanada zu berichten. Diese müssen im Vergleich zu den damaligen Lebensbedingungen in Talheim ungleich besser gewesen sein, denn aus den Auswanderungsakten sowie aus den Schiffspassagierlisten geht der schrittweise Wanderungsvorgang der gesamten Familie hervor. Nach Ulrich Kreutters Auswanderung im Oktober 1852 kam im Februar 1854 sein jüngerer Bruder Martin, ein Schneider, im New Yorker Hafen an. Der Rest der Familie, die Eltern Martin und Anna Christina Kreutter mit den fünf jüngeren Geschwistern, folgte dann im Januar 1855. In Rainham Township, Haldimand County, Ontario, war die Familie dann wieder vereint. In der Volks- und Landwirtschaftszählung von 1861 werden die Kreutters als Farmer aufgeführt, die innerhalb weniger Jahre nach ihrer Ankunft ein etwa achtzig Hektar großes Grundstück erwerben konnten, auf dem sie Weizen, Gerste, Hafer, Buchweizen, Erbsen, Kartoffeln, Flachs und Hanf anbauten. Eigene Apfelbäume ermöglichten eine jährliche Mostproduktion von etwa hundertzwanzig Litern. Der Viehbestand der Familie wuchs bis 1861 auf zwei Pferde, vier Milchkühe, acht weitere Rinder, elf Schweine und 23 Schafe an. Die aus der AuÀistung der Getreidearten und der Zusammensetzung des Viehbestandes ersichtliche Vielfalt in Ackerbau und Viehzucht deutet auf Subsistenzwirtschaft hin. Neben den Kreutters wanderte 1856 auch die Familie des Tagelöhners Martin Kunz ins ländliche Ontario ein und baute dort in South Cayuga in unmittelbarer Nachbarschaft der Farm John Kohlers, eines weiteren Talheimer Migranten, eine Blockhütte. In den ersten Jahren nach seiner Einwanderung führte Martin Kunz Lohnarbeiten aus. Von seinem Verdienst konnte er sich in 25 26
Vgl. Illustrated Historical Atlas of the County of Haldimand, Ont. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191 und 211.
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den 1860er Jahren schließlich ein kleineres Grundstück kaufen, auf dem er zusammen mit seinem Sohn Landwirtschaft betrieb. Aus den Angehörigen der landlosen Schichten Talheims waren also in Kanada Farmer geworden. Die Agrarsiedlung in Haldimand County wuchs aber nicht nur durch Direkteinwanderung aus dem Untersuchungsgebiet, sondern auch durch inneramerikanische Binnenwanderungen Talheimer Migranten. So zogen die Brüder Andreas und Christian Otto, die im Zensus 1860 als Landarbeiter bei ihrem Bruder Gottlieb Otto in Niagara County im Staat New York verzeichnet waren, kurz darauf in das schon von den Talheimer Familien Kohler, Kunz und Kreutter besiedelte Haldimand County nach Kanada weiter. Andreas Otto heiratete dort 1861 Christina Kreutter aus Talheim, die 1855 mit Eltern und Geschwistern nach Kanada gekommen war, dort geheiratet hatte, aber inzwischen verwitwet war. Christian Otto hatte bereits in Talheim Barbara Braun aus Tuningen geehelicht und kam mit ihr 1860 nach Nordamerika. Die Gebrüder Otto, ursprünglich Tagelöhner in Talheim, kurzzeitig Landarbeiter im Staate New York, konnten in den 1860er Jahren in Rainham bzw. South Cayuga in Haldimand County Land in einer Größe erwerben, die als alleinige Existenzgrundlage durch Ackerbau und Viehzucht ausreichte. Die skizzierten Lebensumstände der Talheimer in Kanada, die anfangs den Bau eines Blockhauses, das Roden von Wald und die Urbarmachung von Land umfassten, waren sicherlich in den ersten Jahren mühselig. Da die nach Kanada eingewanderten Talheimer – wie auch die Trossinger Migranten – ohne größere ¿nanzielle Mittel ins Land gekommen waren, dauerte es ungefähr fünf Jahre, bis sie sich einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb aufgebaut hatten. Hatten sie aber diese Farm, landwirtschaftliche Geräte, Saatgut und Vieh erst einmal gekauft, war der Grundstein zu prosperierenden landwirtschaftlichen Familienbetrieben gelegt. Dies waren Möglichkeiten, die sie in Talheim aufgrund ihrer sozialen Stellung im Dorf und der hohen Bodenpreise niemals gehabt hätten.
5.1.3 Dodge und Washington Counties, Wisconsin Im Gegensatz zur Immigration von Angehörigen ländlicher Unterschichten aus dem Untersuchungsgebiet nach Texas bzw. Ontario handelt es sich bei der Ansiedlung von 96 Personen aus neun Orten der Oberämter Tuttlingen und Spaichingen in vier benachbarten, in den beiden Counties Dodge und Washington gelegenen Townships im Südosten von Wisconsin im Wesentlichen um eine bäuerliche Familienauswanderung an die in den späten 1840er Jahren geöffnete nordwestliche Siedlungsgrenze der Vereinigten Staaten von Amerika. Wisconsin wurde 1848 als neuer Staat in die amerikanische Union aufgenommen und war auf dem Wasserweg über die Großen Seen und den Eriekanal von der Atlantikküste aus erreichbar. Dementsprechend waren es nicht nur
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amerikanische Binnenwanderer aus New York und Neuengland, die den neuen Staat vorwiegend besiedelten, sondern auch über New York eingewanderte Europäer, allen voran Deutsche, Iren und Engländer. Die Öffnung der westlichen Siedlungsgrenze ¿el in die bis dahin intensivste Periode transatlantischer Massenmigration. Das hatte zur Folge, dass Wisconsin 1850 der amerikanische Bundesstaat mit dem höchsten Immigrantenanteil war – jeder dritte Einwohner des Staates war außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika geboren.27 Wisconsin bot ein den Mitteleuropäern vertrautes Klima, fruchtbare Böden und vor allem billiges, aber bewaldetes, d. h. noch urbar zu machendes Land. Für 1,25 Dollar pro acre konnten die Siedler damals in einem der zahlreichen für Wisconsin zuständigen bundesstaatlichen Land Of¿ces von der amerikanischen Regierung angebotenes sogenanntes Kongressland günstig kaufen, wofür nicht nur innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch in Europa (z. B. durch Zeitungsanzeigen) geworben wurde. Diesem Angebot folgten damals vorwiegend Familien aus dem Untersuchungsgebiet. In den späten 1840er Jahren gründeten hundert Meilen weiter nördlich in Manitowoc County vier junge Männer aus Mühlheim an der Donau Farmen. Nach kurzer Zeit gab einer von ihnen das bäuerliche Leben wieder auf und ging nach New York City zurück, der zweite verschwand spurlos, der dritte verzog später nach San Francisco. Weder Verwandte noch Bekannte noch sonstige Mühlheimer zogen nach Wisconsin nach. Ganz anders erging es in dieser Zeit einigen Familien, die ebenfalls aus dem Untersuchungsgebiet stammten und vorwiegend aus dem zur Gemeinde Spaichingen gehörigen Weiler Hofen und dem Heubergdorf Obernheim ausgewandert waren. Sie bildeten in den vier benachbarten Townships Herman und Rubicon in Dodge County und Addison und Wayne in Washington County eine stabile Farmsiedlung, die auch ihren Kindern und Kindeskindern noch eine bäuerliche Existenz bot. Die ersten Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet lassen sich 1848 in Washington County nachweisen. Dort heiratete am 13. Januar 1848 die Obernheimer Maurertochter Ludmilla Gehring einen aus Hessen-Darmstadt stammenden Farmer, der kurz zuvor in Addison, Washington County, 160 acres Kongressland für zweihundert Dollar gekauft hatte und darauf siedelte. Zusammen mit Ludmilla Gehring hatten im Herbst 1845 24 weitere Personen aus Obernheim und drei aus dem benachbarten Wehingen die gemeinsame Überfahrt nach New York unternommen, darunter auch ihr älterer Bruder Paul.28 27
28
Nach dem Compendium of the Seventh Census of the United States, 1850, 61 (Tab. XL: Nativities of White Population) waren im gleichen Jahr 36,2 % der Einwohner Wisconsins im Ausland geboren, in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika betrug die Quote damals 11,5 %. Ein Vergleich von Passagier- und Zensuslisten zeigt, dass nur fünf dieser 28 Passagiere nach Wisconsin kamen; die übrigen gingen zu anderen Orten in New York, Pennsylvania oder Ohio.
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Nach der Familiengeschichte29 hatte sich Ludmilla Gehring noch ein Jahr in New York aufgehalten, bevor sie nach Milwaukee weiterzog, wohin im Herbst 1847 der verwitwete Vater und drei weitere Geschwister aus Obernheim nachfolgten. Am 10. Februar 1848 kaufte der älteste Sohn Paul Gehring beim U. S. General Land Of¿ce in Milwaukee vierzig acres Land in Addison, Washington County und heiratete dort ein halbes Jahr später. Das Land überließ er dann seinem Vater zur Besiedlung und kaufte am 1. August 1849 beim Land Of¿ce in Green Bay achtzig acres in Herman Township, Dodge County, dazu. An demselben Tag unterzeichneten bei demselben Land Of¿ce die Aixheimer Bauernwitwe Gulden, der Aldinger Weber Johannes Irion und der Obernheimer Maurer Thomas Schnee Kaufverträge für Nachbargrundstücke in Herman, Dodge County.30 Neben diesen zum Teil großen Familien kamen weitere Einwanderer vom Heuberg in die Counties Dodge und Washington, so dass sich dort im Zensus von 1850 bereits 43 Personen aus dem Untersuchungsgebiet nachweisen lassen. Danach besaßen alle acht aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Familien dort zwischen vierzig und 160 acres Land und waren im Zensus als Farmer verzeichnet. Von den insgesamt 96 Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die zwischen den späten 1840er Jahren und 1869 nachweislich in die Counties Dodge und Washington kamen, siedelten sich drei Viertel in dem kurzen Zeitraum zwischen 1848 und 1851 dort an. Dieses Ansiedlungsmuster ist charakteristisch für die Öffnung der Siedlungsgrenze, als von den Land Of¿ces innerhalb kurzer Zeit die designierten Land-Trakte an Erstsiedler verkauft wurden. Die letzten drei im Staatsbesitz be¿ndlichen Grundstücke in Rubicon Township, Dodge County, gingen 1855 an Siedler.31 Im Verlauf der 1850er Jahre und in geringerem Umfang in den Jahren nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges folgten noch vereinzelt Verwandte in die württembergische Siedlung nach Wisconsin nach. So erreichte beispielsweise 1852 der 79-jährige Greis Bruno Merkt zusammen mit einer seiner Töchter Herman Township in Dodge County, wo er 1861 starb. In seinem Auswanderungsantrag hatte er den Behörden in Spaichingen mitgeteilt, er möchte sein Leben bei seinen Kindern in Amerika beschließen.32 Wie es für die Siedlungswanderung ins ländliche Nordamerika in der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg als typisch gilt33, wanderten achtzig dieser 96 Migranten aus den Oberämtern Spaichingen und Tuttlingen im Familienverband nach Wisconsin aus. Von insgesamt 16 Familien unternahmen 29 30 31 32 33
Vgl. The Family History of the Gundrum Family: http:/www.hnet.net/~jgundrum/the family history.htm (kontaktiert am 11.12.2008). Vgl. General Land Of¿ce (GLO) online. Vgl. Rubicon Township, 36. StAS Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 39. Vgl. Hoerder/Nagler (Hg.), People in Transit.
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13 die Überfahrt gemeinsam mit allen Angehörigen, was auf ausreichend vorhandene Reisemittel schließen lässt. In einem Fall ging der Vater voraus und ließ seine Familie drei Jahre später nachkommen. In den beiden anderen Fällen waren jeweils der älteste Sohn und die älteste Tochter die Pioniere, die dann Eltern und Geschwister nachkommen ließen. Die meisten dieser Einwanderer kamen ohne Zwischenaufenthalte direkt nach Washington und Dodge Counties.34 Lediglich in drei Fällen konnten im Zensus anhand von Geburtsorten der Kinder frühere Aufenthalte in anderen US-Bundesstaaten nachgewiesen werden. An der Einwanderung in die Counties Dodge und Washington waren vor allem Familien beteiligt. Diese waren mit anderen dorthin eingewanderten Migrantenfamilien verwandt und festigten diese Beziehungen in Wisconsin durch Heiraten ihrer Kinder noch weiter. Von den 25 Migranten aus Obernheim beispielsweise, die in fünf Familien und in vier Fällen als ledige Einzeleinwanderer gekommen waren, standen 18 in einem nahen Verwandtschaftsverhältnis zueinander oder waren miteinander verheiratet. Ähnliches gilt auch für die 28 Einwanderer aus Spaichingen, die im Kern aus miteinander verwandten Mitgliedern der Familien Merkt, Hauser und Memhölzler bestanden. Von den aus dem Untersuchungsgebiet als ledige Einzeleinwanderer oder im Familienverband als Jugendliche oder junge Erwachsene nach Dodge und Washington Counties Eingewanderten schlossen dort 18 von insgesamt 54 Personen Ehen mit ebenfalls aus den württembergischen Oberämtern Spaichingen und Tuttlingen stammenden Migranten. Auch sechs von 38 in Wisconsin bis zum Jahr 1880 verheirateten Kinder dieser Einwanderer wählten Ehepartner unter den Nachfahren der aus dem Untersuchungsgebiet stammenden Einwanderer. Das schnelle Wachstum der Siedlungen in den Counties Dodge und Washington kam nicht nur deshalb zustande, weil die amerikanische Regierung nach Öffnung der Siedlungsgrenze die Einwanderung durch günstige Landangebote systematisch förderte, sondern weil diese auf Menschen trafen, die willens und in der Lage waren, die darin liegenden Chancen zu ergreifen, sprich: die auch die Mittel hatten, überhaupt nach Wisconsin zu reisen, um dort Land zu erwerben und einen landwirtschaftlichen Betrieb aufzubauen. Nicht von ungefähr waren es also nicht nur Bauernfamilien, die durch Verkauf von Haus und Hof in Württemberg mit ausreichendem Vermögen nach Wisconsin auswanderten, sondern auch Angehörige solcher Berufe, die eine Af¿nität zur Landwirtschaft hatten und für die Pionierarbeiten an der Siedlungsgrenze wie das Roden von Wald, den Bau eines Hofes und das Kultivieren von Ackerland geeignet waren. Dies waren vor allem Familien von Bauhandwerkern, deren mitausgewanderte Kinder schon im jungen Erwachsenenalter standen, also arbeitsfähig waren und mit „anpacken“ konnten. Neben einer 34
Z. B. Biographie des Nikolaus Klink in Rubicon Township, 521–523.
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Bauernwitwe mit ihren neun Kindern waren unter den 15 eingewanderten Familienvätern vier Bauern, vier Maurer, ein Tagelöhner, drei Weber und drei andere Handwerker. Die Berufe der sechs ledigen Einzeleinwanderer, die nach Wisconsin kamen, spiegelten dieses Muster ebenfalls wider. Unter ihnen waren ein Bauer, ein Weber, zwei Bauhandwerker und mit dem erwähnten 79-jährigen Bruno Merkt ein Schneider im Greisenalter. Von den Schwierigkeiten des Lebens an der Siedlungsgrenze zeugt ein Brief des Aixheimer Bauernsohnes Fidel Schellinger jr., den er 1878, mehr als dreißig Jahre nach der Ankunft seiner Familie in Wisconsin, geschrieben hat. Sein gleichnamiger Vater hatte am 10. Februar 1848 beim Land Of¿ce in Milwaukee ein 85 acres großes Grundstück in Wayne Township, Washington County, gekauft, nachdem er zwei Jahre zuvor in Aixheim im Zuge seiner Auswanderung Ackerland, Wiesen und Gärten in der Größe von etwa zweieinhalb Hektar für knapp 1.900 Gulden und sein Wohnhaus für 1.050 Gulden veräußert hatte. Wir [haben] auch viel Hartes durchgemacht. Du hast keinen Begriff von einem amerikanischen Urwald, und in einen solchen sind wir gekommen. Was das zu bedeuten hat, in einen Urwald ohne Geld zu kommen und eine Existenz zu gründen, kann der Freund Burger erzählen. Ich habe meinen Vater das erstemal weinen sehen, als uns jemand das Land zeigte, welches er vom Gouvernement für 105 Dollar gekauft hat. Er sagte zu mir, Bub, in diesem Wald müssen wir alle Hunger[s] sterben.35
Aus den Preisangaben lässt sich berechnen, dass der acre Land in Wisconsin exakt ein Hundertstel einer vergleichbaren Fläche, ein Morgen, damals in Aixheim kostete. 1850 zeigt eine amerikanische Agrarstatistik36, dass die Familie Schellinger innerhalb von gut zwei Jahren etwa ein Fünftel ihres Landes gerodet und urbar gemacht hatte und darauf Weizen, Roggen, Mais, Hafer und Kartoffeln anbaute. An Viehbesitz sind ein Paar Zugochsen, zwei Milchkühe, vier Kälber und zwölf Schweine verzeichnet. Mühsam war auch die Anfangszeit der aus Spaichingen eingewanderten Tagelöhnerfamilie Hauser37: Ende September 1851 ins Land gekommen, führte sie ihr Weg direkt nach Wisconsin, wo der Vater in Dodge County vierzig acres Wald kaufte. Die Hausers rodeten eine Lichtung und bauten ein Blockhaus, in dem die Familie viele Jahre lebte. Im Sommer verdingten sich die beiden älteren Söhne als Landarbeiter auf den benachbarten Farmen oder gingen als Saisonarbeiter nach Illinois, in den Wintermonaten rodeten sie weitere Waldstücke. Mit dem im Amerika verdienten Geld konnte die Familie am Ende des zweiten Jahres nach ihrer Einwanderung ein Gespann kaufen, was die Rodung ihres Grundstücks und das Wegschaffen des Holzes erheblich er35 36 37
Zit. n. E¿nger, Aixheimer Geschlechterbeschreibungen, 992. Vgl. Manuscripts of the 1850 U. S. Agricultural Census für Wayne Township, Washington County, Wisconsin und Herman Town, Dodge County, Wisconsin. Vgl. Memorial and Genealogical Record of Wisconsin, 470–472.
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leichterte. Nach einem weiteren Sommer Saisonarbeit in Illinois kaufte der älteste Sohn Conrad ein vierzig acres großes Grundstück in Farmington, Washington County, was er kurze Zeit darauf zugunsten eines ebenso großen bewaldeten Grundstücks in Rubicon, Dodge County, wieder abstieß. Mittels Brandrodung und durch herkömmliches Fällen rodete er die Hälfte seines Waldes und sägte die Stämme zu Bauholz, das er mit seinem Fuhrwerk an die durch Rubicon führende Bahnlinie schaffte und an die La Crosse and Milwaukee Rail Road verkaufte. Anfänglich aufgrund des Holzverkaufs, später verstärkt durch eine Àorierende Rinderzucht konnte Conrad Hauser durch Zukauf von weiteren Grundstücken seinen Besitz von sechzig acres 1860 über 350 acres 1870 auf 920 acres 1880 vergrößern. Er wurde im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte zum größten Grundbesitzer des Bezirks. Wie die Gebrüder Hauser verdingten sich in der Anfangszeit auch andere württembergische Einwandersöhne in den Dodge und Washington Counties auf den Farmen ihrer angloamerikanischen Nachbarn. Der durchschnittliche Monatslohn eines Landarbeiters lag hier 1850 inklusive Kost und Logis bei zehn Dollar, der Tageslohn ohne Kost und Logis zwischen 75 Cent und einem Dollar.38 Einige Einwanderertöchter arbeiteten zwischen dem vierzehnten Lebensjahr und ihrer Heirat in der nahen Umgebung als Dienstmädchen, die damals einen Dollar pro Woche inklusive Kost und Logis bekamen. Aus dem Agricultural Census von 1880 geht hervor, dass in den Counties Dodge und Washington 19 von 24 aus den Oberämtern Spaichingen und Tuttlingen eingewanderten Württembergern, die in Wisconsin zu Farmern geworden waren, zusätzlich zu ihrer eigenen Arbeitskraft oder der ihrer Kinder bei der Bewirtschaftung ihrer Farmen auch die Dienste von Landarbeitern in Anspruch nahmen. Conrad Hauser, der in den 1850er Jahren als Jugendlicher auf den Farmen der Nachbarn gearbeitet hatte, bezahlte im Jahr 1879 für seine fast tausend acres große Farm beispielsweise tausend Dollar an Löhnen für zweihundert Arbeitswochen Landarbeit. 5.1.4 Auglaize County, Ohio Die Ansiedlung württembergischer Protestanten aus dem Oberamt Tuttlingen in den 1840er Jahren in Auglaize County im Westen Ohios trug in vielerlei Hinsicht vergleichbare Züge zu der Ansiedlung von Katholiken aus dem Oberamt Spaichingen in Dodge und Washington Counties in Wisconsin. Auch in Auglaize County lässt sich mit den beiden benachbarten Townships Duchouquet und Pusheta ein enges Zielgebiet der Einwanderer identi¿zieren, das im Wesentlichen innerhalb weniger Jahre zwischen 1846 und 1848 neben einer Bauernfamilie ausschließlich von Handwerkerfamilien aus den drei 38
Ebd.
5.1 Agrargebiete
133
evangelischen Baardörfern Trossingen, Talheim und Schwenningen39 besiedelt wurde. Die kinderreichen, nach Verkauf von Grund und Boden in ihrem Heimatdorf Talheim ¿nanziell gut ausgestatteten Familien des Bauern Friedrich Kohler, des Küfers Christian Vosseler und der beiden Dreher Michael und Johannes Vosseler (Vater und Sohn), die als Gruppe an Bord des französischen Seglers Ferriere am 1. November 1847 von Le Havre kommend gemeinsam im New Yorker Hafen eingetroffen waren, zogen geschlossen in den US-Bundesstaat Ohio weiter, wo sie sich in Auglaize County in drei aneinandergrenzenden Townships in der Gegend von Wapakoneta niederließen und Farmen erwarben. Diese Talheimer Einwanderer befanden sich von Anfang an in vertrauter sozialer Umgebung, da dort vor ihnen schon die 1840 bzw. 1846 ausgewanderten Angehörigen der Trossinger Familien Birk und Koch Land gekauft hatten und darauf siedelten. Diese Agrarsiedlung im ländlichen Ohio blieb während der 1850er und 1860er Jahre Anziehungspunkt für die Einwanderung weiterer Familien aus Trossingen sowie aus anderen evangelischen Orten der östlichen Baar, den Trossinger Nachbargemeinden Schura, Tuningen und Aldingen. In das Städtchen Wapakoneta, den Verwaltungssitz von Auglaize County, wanderten in den 1850er Jahren auch zwei Brüder und eine Familie aus dem nahe Trossingen gelegenen katholischen Dorf Aixheim ein. Diese siedelten aber getrennt von den evangelischen Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet und übten auch keine landwirtschaftlichen Berufe aus. Anders als in Wisconsin waren die württembergischen Siedler in Auglaize County aber keine Pioniere im Sinne von Erstsiedlern. Vielmehr war Auglaize County – Ohio war seit 1803 ein Staat der amerikanischen Union – zum Zeitpunkt der Ankunft der ersten Trossinger Einwanderer im Jahr 1840 schon seit einer Generation von Farmern besiedelt, so dass Teile des Landes bereits urbar gemacht waren und die Farmen dadurch einen größeren Wert besaßen, also teurer zu erwerben waren als die in Wisconsin. Demzufolge kauften die Trossinger und Talheimer Einwandererfamilien, von denen die meisten mit mehr als tausend Gulden Geldvermögen ausgewandert waren, zuerst in Auglaize County nur vierzig acres große Grundstücke und vergrößerten diesen Besitz erst später durch Zukäufe. Der Agricultural Census zeigt, dass die Farmen Trossinger und Talheimer Siedler in den beiden benachbarten Townships Duchouquet und Pusheta bereits im Jahr 1850 zur Hälfte kultiviert waren, die württembergischen Farmer in Ohio folglich früher höhere Erträge erwirtschafteten als die in Wisconsin.
39
Da die Gemeinde Schwenningen im Jahr 1842 vom Oberamt Tuttlingen an das Oberamt Rottweil abgegeben wurde, beziehen sich Zahlen- und sonstige statistische Angaben nur auf Trossingen und Talheim.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Die Auswanderung dieser Württemberger nach Ohio war aber möglicherweise nicht allein ökonomisch motiviert, denn die evangelischen Familien aus der Baar gehörten in Auglaize County in anderer Hinsicht doch zu den Pionieren: Kaum ein paar Monate im Land, gründeten 1848 die Talheimer Friedrich Kohler und Christian Vosseler sowie die Trossinger Paulus Kratt und Christian Koch sowie der Schwenninger Friedrich Schlenker zusammen mit 14 weiteren Männern in Wapakoneta, dem Hauptort von Duchouquet Township, die deutsche lutherische St. Pauls-Gemeinde (St. Paul’s German Lutheran Church), die anfangs einen unierten Charakter hatte. Im Jahr 1868 spaltete sich diese Kirchengemeinde in einen reformierten und einen lutherischen Zweig. Die Reformierten nannten ihre Kirchengemeinde German Evangelical St. Paul’s Church, während die Lutheraner mit St. Mark’s Lutheran Church einen neuen Namen wählten. Aus den Biographien der Talheimer Einwanderer Christian Vosseler und Andreas Kohler geht hervor, dass beide Familien Mitglieder der lutherischen Kirche blieben.40 5.1.5 Wyoming County, New York Eine der größten und zugleich unbeständigsten Agrarsiedlungen von Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet war das dreißig Meilen östlich der Stadt Buffalo im Westen des Staates New York gelegene Wyoming County. Dorthin zogen zwischen 1846 und 1873 sechzig Personen aus dem evangelischen Bauerndorf Talheim in der Baar im Oberamt Tuttlingen. Dabei handelte es sich um neun Familien mit 49 Köpfen, acht ledige junge Männer und zwei ledige Frauen, von denen eine ein Kind hatte. Talheim war mit 370 Auswanderern nach Nordamerika zwischen 1846 und 1880 unter den 44 Gemeinden des Untersuchungsgebietes diejenige, deren Anteil an der Nordamerikaauswanderung (bezogen auf seine Einwohnerzahl von rund tausend Personen) prozentual am höchsten war und in der absoluten Anzahl der Nordamerikamigranten lediglich hinter dem zweieinhalbmal größeren Dorf Trossingen und der Stadt Tuttlingen zurückstand. Aus Talheim bildeten sich schon zu Beginn der transatlantischen Massenmigration in den Jahren 1846/47 verschiedene Wanderungsketten zu unterschiedlichen Zielen in ländlichen Gebieten, darunter – wie bereits beschrieben – nach Haldimand County, Ontario, und Auglaize County, Ohio. Daneben gründeten Talheimer Einwanderer in Saginaw County, Michigan, und Spencer County, Indiana, ebenfalls schon vor 1850 Farmen.41 40 41
Vgl. Portrait and Biographical Record of Auglaize, Logan and Shelby Counties, Ohio, 211 f. bzw. 256 f. Während es sich im letztgenannten Fall um die Niederlassung einer einzelnen Familie handelte, die keine weiteren Nachwanderungen zur Folge hatte, wuchsen die drei erstgenannten Ansiedlungen durch Zuwanderungen aus der Heimatgemeinde und Einwan-
5.1 Agrargebiete
135
Den Anfang der Siedlung in Wyoming County – und der Talheimer Auswanderungswelle nach Nordamerika überhaupt – machten 35 Angehörige der ländlichen Unterschichten, die in sieben Familien bzw. als Ledige am 28. November 1846 aus Liverpool kommend in New York von Bord eines Segelschiffes gingen. Vier Jahre später hatten sich drei dieser gemeinsam eingereisten Familien und eine ledige Mutter in Wyoming County im Bundesstaat New York niedergelassen, zwei Familien waren in der Stadt Utica ansässig geworden und eine war unweit ihres Anlandehafens in Newark, New Jersey, geblieben.42 Während in den Folgejahren der Nachzug aus Talheim nach Newark gering blieb, wuchsen sowohl die städtische Siedlung in Utica im Staat New York als auch die ländliche in Wyoming County durch Zuwanderung weiterer Talheimer Migranten über die nächsten drei Jahrzehnte etwa gleichzeitig und nahezu ähnlich stark an. Die Nachwanderung nach Wyoming County hatte ihren Höhepunkt durch den Zuzug weiterer Talheimer Familien in den frühen 1860er Jahren und hielt bis 1873 an. Im Gegensatz zu Utica, das als industrielles Fertigungszentrum vor allem Talheimer Handwerker lockte, stammten etwa zwei Drittel der Talheimer Einwanderer in Wyoming County als Tagelöhner und Weber aus der landlosen Unterschicht. Diese hatten in ihrer Heimatgemeinde – wie in vielen anderen umliegenden Baarorten zu Anfang des 19. Jahrhunderts – unter dem Niedergang der Heimweberei sowie unter der Aufteilung der Allmende gelitten, was zu scharfen Auseinandersetzungen mit den landbesitzenden Bauern und letztlich nach der dramatischen Zuspitzung der wirtschaftlichen Verhältnisse in den 1840er Jahren zur Auswanderung geführt hatte. Wyoming County, ein an der Eisenbahnstrecke von New York City nach Buffalo gelegener, ländlich geprägter Bezirk mit fruchtbarem Boden und gutem Weideland, wurde in den späten 1840er Jahren von Talheimer Einwanderern der Familien Irion, Leibring, Möst, Mauthe und Vosseler besiedelt, die sich dort gemeinsam in Sheldon Township niederließen und im Zensus von 1850 als Farmer notiert wurden, wenngleich nur einer von ihnen damals Grundbesitz zu verzeichnen hatte. Die sozialen Beziehungen der Talheimer Gemeinschaft in Wyoming County wurden kurz darauf durch die Eheschließung zwischen einer ledigen Mutter aus Talheim und dem ebenfalls von dort stammenden Vater ihres Kindes gefestigt. Die Heiratsbeschränkungen in Württemberg bedeuteten bis in die 1860er Jahre faktisch Heiratsverbote für Unterschichtenangehörige. Im
42
derungen aus dem nahegelegenen Trossingen in der Folgezeit zu größeren gemeinschaftlichen Agrarsiedlungen von Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet heran. In Saginaw County siedelten zwischen 1847 und 1867 neun Familien mit 45 Personen aus Talheim und Trossingen. Aufgrund ihrer geringeren Personenzahl im Vergleich zu den beiden anderen Agrarsiedlungen wird dieser Siedlung kein eigener Abschnitt gewidmet. Die siebte Familie konnte in nordamerikanischen Quellen nicht gefunden werden.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
krisenhaften mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts wurden nämlich die nach dem Vorbild des napoleonischen Code Civil verkündete Verehelichungsfreiheit rückgängig gemacht und der obrigkeitliche Ehekonsens wieder an Bürgerrecht und Grundbesitz geknüpft. Deshalb versprach die Auswanderung nach Nordamerika nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Sinn Freiheit.43 Während in den 1850er Jahren die Familien Leibring und Mauthe von Sheldon etwa zehn bzw. 15 Meilen weiter westlich ins benachbarte Erie County zogen, wo sie in zwei aneinandergrenzenden Townships Grundbesitz erwarben und Farmen gründeten, wanderten mit den Brüdern Heinrich und Ulrich Kreutter zwei Talheimer Handwerker neu nach Wyoming County ein, wo sie als Wagner bzw. Grobschmied im ländlichen Bedarfsgewerbe Arbeit fanden. Farmgründungen fanden in den 1850er Jahren nun eher im fünfzig Meilen westlich Buffalos gelegenen Haldimand County im kanadischen Ontario statt, wohin weitere den unterbäuerlichen Schichten zugehörige ländlich orientierte Familien aus Talheim eingewandert waren. Die Siedlung in Wyoming County wurde auf dem Weg dorthin praktisch „links liegengelassen“. Die Zuwanderung aus Talheim konzentrierte sich erst Anfang der 1860er Jahre wieder auf Wyoming County, als Ulrich Kreutter nach Talheim zurückkehrte, um seine Eltern und Geschwister nachzuholen. Im März 1862 holte er drei seiner Geschwister und seine zukünftige Ehefrau Anna Barbara Schweizer aus Talheim über den Nordatlantik nach Wyoming County. Ein halbes Jahr später folgten seine Eltern. Während der Bruder Gottlieb bis 1870 eine Farm erwerben konnte, arbeitete der Vater – ein vormaliger Weber – acht Jahre nach seiner Einwanderung als Bauernknecht. Auch bei der achtköp¿gen Familie Irion, die 1862 nach Wyoming County auswanderte, war ein Familienmitglied – die älteste Tochter – zwei Jahre früher nach Nordamerika vorausgegangen, bis Eltern und Geschwister nachzogen. 1864 wanderte der verwitwete Talheimer Strumpfweber Gottlieb Kohler mit seinen fünf heranwachsenden Kindern nach Wyoming County ein. Aber nicht nur aus der Heimat erhielt die Talheimer Siedlung in Wyoming County Zuwachs. Andere Talheimer Einwanderer, die sich in den 1840er und 1850er Jahren etwa dreißig Meilen nördlich im angrenzenden Genesee County niedergelassen hatten, dort aber kein Land erwerben konnten, sondern als Bauernknechte arbeiten mussten, zogen in den 1860er Jahren nach Wyoming County und gründeten dort Farmen. Der 1847 nach Buffalo gegangene Uhrmacher Conrad Ulrich, der 1860 eine Farm in Erie County betrieben hatte, zog Ende der 1860er Jahre ebenfalls über die Bezirksgrenze hinweg nach Wyoming County und wurde dort in dem von Talheimer Einwanderern bevorzugt besiedelten Sheldon Township Farmer. 1869 kam der älteste Sohn des Rotgerbers Storz nach Nordamerika. Vier Jahre später folgten dessen Eltern und Ge43
Vgl. Boelcke, Sozialgeschichte Baden-Württembergs, 139.
5.1 Agrargebiete
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schwister als letzte Direkteinwanderer aus Talheim nach Wyoming County, wo sie ebenfalls Farmer werden konnten. In den 1870er Jahren setzte jedoch die Abwanderung von Farmern aus Wyoming County ein. Der wenige Jahre vorher zugezogene Conrad Ulrich verkaufte abermals seine Farm, zog mit seiner Familie nach Mecosta County in Michigan weiter und erwarb dort – zum dritten Mal innerhalb von zwanzig Jahren – eine Farm. Mit ihm nach Michigan ging sein Schwiegervater Johann Jakob Irion, der dort im Alter von über siebzig Jahren auch noch einmal eine Farm aufbaute. Der Strumpfweber Gottlieb Kohler, dessen Tochter nach Michigan geheiratet hatte, zog mit seinem jüngsten, schon erwachsenen Sohn ebenfalls nach Michigan weiter, wo er in Saginaw County in der Nähe anderer Talheimer Einwanderer eine Farm betrieb. Zwei seiner Söhne, von denen sich einer in Wyoming County als Müller etabliert hatte, blieben im Staat New York zurück. Gottlieb Kreutter, den sein Bruder Ulrich 1862 nach Wyoming County nachgeholt hatte, verkaufte ebenfalls seine dortige Farm und zog nach Kansas weiter, wo er Farmer blieb. Seine Schwester Anna heiratete nach Buffalo, zwei Irion-Töchter nach Niagara County an die kanadische Grenze. In Wyoming County waren 1880 nur noch 22 von sechzig dorthin eingewanderten Talheimern verblieben und betrieben dort acht Farmen. Diese Entwicklung verdeutlicht, wie durch Kettenwanderungen Siedlungen entstehen, aber auch wieder vergehen konnten. Dass, wenn es die Situation erforderte, auch etablierte Farmer am inneramerikanischen Binnenwanderungsprozess teilnahmen, zeigen nicht nur die Talheimer Beispiele aus Wyoming County, sondern auch zwei dorthin eingewanderte Bauernfamilien aus der Talheimer Nachbargemeinde Tuningen, die in Wyoming County in den 1850er Jahren ebenfalls Farmen gegründet hatten, bevor sie in den 1860er Jahren nach Minnesota weiterzogen, wo sie Grund und Boden erwarben und aufs Neue als Farmer an¿ngen.
5.1.6 Goodhue County, Minnesota Die neben Dodge und Washington Counties in Wisconsin zweite größere Siedlung württembergischer Katholiken aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen entstand in den späten 1850er Jahren in Goodhue County in Südost-Minnesota. Dort, in der am Oberlauf des Mississippi rund fünfzig Meilen südöstlich von St. Paul und Minneapolis gelegenen Bezirkshauptstadt Red Wing und den drei umliegenden ländlichen Townships Florence, Hay Creek und Zumbrota, siedelten sich zwischen 1858 und 1892 68 Personen aus dem am westlichen Rand der Schwäbischen Alb gelegenen 700-Seelen-Dorf Ratshausen an. Minnesota war im Mai 1858 als zweiunddreißigster Staat in die amerikanische Union aufgenommen worden und hatte damals – die 36.000 Dakota,
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Sioux und Chippewa mit eingerechnet – 150.000 Einwohner. Nach einem zeitgenössischen deutschen Lexikoneintrag bildete Minnesota „die Grenze zwischen dem wilden u. civilisirten Leben; beide durchdringen sich daselbst noch vielseitig“44. Es gibt es keine Anzeichen dafür, dass die ersten Ratshausener Einwanderer in Goodhue County, die bereits 1854 und 1855 nach Nordamerika gekommen waren, sich noch zu Territorialzeiten in Minnesota niedergelassen haben. Die Besiedlung von Goodhue County erfolgte also – anders als die Immigration in die zuvor beschriebenen fünf anderen ländlichen Siedlungsgebiete – nicht auf direktem Wege, sondern als Ergebnis nordamerikanischer Binnenwanderungen über Zwischenetappen. In den 1850er Jahren waren neben dem Großraum der Metropole New York und ländlichen Gebieten in Pennsylvania vor allem die Städte Cincinnati in Ohio und Milwaukee in Wisconsin bevorzugte Ansiedlungsorte Ratshausener Einwanderer. Albert Staiger, der mutmaßliche Ratshausener Pioniersiedler in Goodhue County, hatte sein Heimatdorf 1854 verlassen und war nach seiner Ankunft in New York direkt nach Ohio gekommen, wo er im in der Umgebung Cincinnatis gelegenen Ort Glendale in einem Internat Arbeit annahm.45 Nach seiner Hochzeit mit einer eingewanderten Irin im August 1858 zogen die Eheleute Staiger – kurz nachdem Minnesota Bundesstaat geworden war – nach Goodhue County weiter, wo sie nahe der gemeindefreien Ortschaft Frontenacs 190 acres Farmland besiedelten. Innerhalb von zwei Jahren folgten ihnen dorthin fünf weitere junge ledige Männer im Alter zwischen 25 und dreißig Jahren aus Ratshausen nach, von denen nur einer in Württemberg seine Auswanderung behördlich angemeldet hatte, und erwarben in Goodhue County ebenfalls innerhalb kürzester Zeit Grundbesitz. Die Landvergabe in Minnesota erfolgte seit 1854 nach der Log Cabin Bill des amerikanischen Kongresses von 1841. Danach konnte ein Siedler das Vorkaufsrecht auf ein Stück Land von maximal 160 acres zum Preis von 1,25 Dollar pro acre erwerben, wenn er männlich, älter als 21 Jahre und im Besitz der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft war oder diese beantragt hatte und sich auf dem betreffenden Landstück niederließ, es bearbeitete und mit einer Behausung bebaute. Da diese Bedingungen auf die Ratshausener Einwanderer zutrafen, ist davon auszugehen, dass sie auf diese Weise in Goodhue County zu Grundbesitz kamen. Etwa zeitgleich mit der Ansiedlung in Goodhue County hatten in den 1850er Jahren andere Ratshausener Einwanderer in zwei Counties im Osten Wisconsins sowie in Houston County im äußersten Südosten Minnesotas Farmen gegründet, was jedoch keine Folgewanderungen aus Ratshausen an diese Orte oder von diesen Orten nach Goodhue County auslöste. Es handelte sich 44 45
Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 11, 301. Vgl. History of Goodhue County, 565.
5.1 Agrargebiete
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dabei also um parallele Einwanderungspfade, die nicht zu Siedlungsbildungen führten. Goodhue County war in den 1850er Jahren bereits auf dem Mississippi über regelmäßige Dampfschiffverbindungen zwischen St. Louis, Missouri bzw. Galena, Illinois und Minnesotas Hauptstadt St. Paul zu erreichen. Die Zuwanderung von Cincinnati dorthin war also auf dem Wasserweg des Ohiound Mississippi-Flusssystems problemlos zu bewältigen. Von Osten her bestanden 1860 bereits Eisenbahnverbindungen von Wisconsin und Michigan aus nach Minnesota, so dass die Einwanderung in den Staat in den 1860er und 1870er Jahren stetig zunahm. Die zweite große Einwanderungswelle setzte 1866 ein und hielt bis 1873 an. In diesem kurzen Zeitraum nach der Beendigung des Amerikanischen Bürgerkrieges zogen – teils einzeln, teils in kleineren, anhand der Schiffspassagierlisten identi¿zierten Reisegruppen – weitere 48 Migranten aus Ratshausen direkt nach Goodhue County nach. Zu diesen Kettenwanderern zählten auch Geschwister der bereits eingewanderten jungen Männer der Familien Sauter, Staiger und Koch. Bis zu diesem Zeitpunkt waren damit insgesamt 21 ledige junge Männer verschiedener Handwerksberufe sowie 14 ledige junge Frauen nach Goodhue County eingewandert. In den Jahren 1869 und 1872 zogen als einzige Familienväter die Gebrüder Franz-Xaver und Josef Schäfer mit ihrem elf- bzw. zwölfköp¿gen Familien nach Minnesota und ließen sich dort in Red Wing bzw. Zumbrota Township nieder. Franz-Xaver Schäfer war von Beruf Maurermeister und übte sein erlerntes Handwerk im Folgejahr seiner Einwanderung im Städtchen Red Wing, dessen Häuser vorwiegend aus Backsteinen errichtet wurden, weiter aus. In der Nähe der Stadt hatte sich aufgrund örtlicher tonhaltiger Lehmvorkommen eine Ziegel- und Keramikindustrie entwickelt. Schäfers ein Jahr vor ihm nach Goodhue County gekommene Söhne Lambert und Moritz, in deren Auswanderungsanträgen das Zielland Frankreich angegeben war, waren ebenfalls Maurer von Beruf.46 Da von den insgesamt 68 Ratshausener Einwanderern nur zehn junge Männer unterhalb des militärpÀichtigen Alters von 21 Jahren in Württemberg einen Auswanderungsantrag gestellt hatten, lässt sich die Ratshausener Nordamerikamigration nach Goodhue County in den Zeiten der schnelleren und günstigeren Dampfschiffverbindungen als eine Ausweitung der in Gebieten starker saisonaler Arbeitswanderung typischen zirkulären Migrationsmuster, die vormals vor allem auf die europäischen Nachbarstaaten beschränkt waren, nach Nordamerika interpretieren. Ratshausener Maurer suchten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur im Elsass oder in der Schweiz Arbeit, sondern erweiterten ihren Aktionsraum nach Nordame46
Das Maurerhandwerk, das im 19. Jahrhundert in Ratshausen fast ausschließlich als Saisonarbeit im nahen Ausland ausgeübt wurde, hatte in Ratshausen seit jeher eine so dominante Stellung, dass in dem Gemeindewappen einzig eine silberne Maurerkelle auf rotem Grund abgebildet ist.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
rika. Die geringe Zahl der of¿ziellen Auswanderungen aus den von saisonaler Arbeitswanderung geprägten Heubergorten lässt auf die Absicht der Migranten schließen, nach einiger Zeit in ihre württembergische Heimat zurückzukehren. Die meisten württembergischen Einwanderer aber hatten in Amerika ökonomischen Erfolg und blieben in Amerika. Josef Schäfer, der in Zumbrota Township 1880 eine 140-acre-Farm besaß, war in Ratshausen ein Seldner (Kleinbauer) gewesen, wie überhaupt die in dieser kleinÀächigen, zwischen zwei Albbergen gelegenen Gemeinde ausgeübte Landwirtschaft kleinbäuerlich geprägt war. Galten dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 15 bis zwanzig Morgen Land als das Maß für die wohlhabendsten Bauern und sechs bis acht Morgen für die Mittelbauern47, besaßen die vorwiegend aus dem Kleinhandwerk stammenden Ratshausener Einwanderer in Goodhue County, die in Württemberg lediglich die Allmende bewirtschaftet hatten, Farmen in der Größenordnung zwischen hundertzwanzig und hundertneunzig acres. Dies entsprach nahezu dem Zehnfachen an Grundeigentum, was die größten Bauern damals in der württembergischen Heimat hatten. Wie aus dem Zensus hervorgeht, nahmen die vorgewanderten Ratshausener Migranten, die es bis 1870 schon zu eigenen Farmen gebracht hatten, ihre nachgewanderten Landsleute dort auf und setzten sie in den ersten Jahren oft als Landarbeiter ein. Die Ratshausener in Goodhue County gehörten im Vergleich zu den anderen Einwanderern aus dem württembergischen Untersuchungsgebiet in nordamerikanische Agrarsiedlungen zu den fortschrittlichsten Farmern, was den Einsatz von Maschinen und die Beschäftigung von Arbeitskräften auf ihren Farmen anging. Dies und die dortigen hervorragenden naturräumlichen und klimatischen Bedingungen dürften dazu beigetragen haben, dass damals in Goodhue County landesweit die höchsten Hektarerträge in der Weizenproduktion erzielt wurden. Der Hafen von Red Wing am Mississippi war zu dieser Zeit der größte Weizenumschlagplatz der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Einwanderer von der Schwäbischen Alb lernten den Wert dieses bedeutenden Marktgetreides schnell zu schätzen und widmeten ihm 1880 bereits vier Fünftel ihrer AnbauÀächen. Zu diesem Zeitpunkt waren 16 von 17 Ratshausener Haushaltungsvorständen im Zensus als Farmer aufgelistet. Die engen sozialen Beziehungen der Ratshausener Einwanderer in Goodhue County lassen sich neben dem Verwandtennachzug und der Aufnahme von diesen und anderen Dorfgenossen in ihre Haushalte bzw. auf ihre Farmen ebenfalls am lokalen Heiratsmuster erkennen. Bis 1880 heirateten acht der 51 ledig und im heiratsfähigen Alter nach Goodhue County eingewanderten Ratshausener dort untereinander. Die ledig eingewanderten jungen Frauen hatten bis zur Hochzeit in Goodhue County als Dienstmädchen gearbeitet. 47
Vgl. OAB Spaichingen, 365.
5.2 Klein- und Mittelstädte
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Zur Religionsausübung an ihrem Einwanderungsort existierte schon vor der Gründung der katholischen St.-Josephs-Kirche in Red Wing 1865 eine katholische Kirchengemeinde, die von einem Priester aus dem vierzig Meilen Àussabwärts gelegenen Wabasha mitbetreut wurde. Von Albert Staiger, der in Goodhue County den Schulbezirk mitaufbaute und einer seiner ersten Direktoren war, ist bekannt, dass er in Goodhue County einer katholischen Kirchengemeinde angehörte.48 Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die katholisch getauften Ratshausener Einwanderer in Goodhue County konvertiert wären, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche ein weiteres, ihre Gemeinschaft festigendes Band war. Die Migration von Ratshausen nach Goodhue County setzte sich zu Anfang der 1880er Jahre noch einmal fort, als innerhalb von zehn Jahren weitere 14 Personen nachfolgten. Etwa zu dieser Zeit begann die Abwanderung einiger Ratshausener und ihrer in Goodhue County geborenen Nachkommen in Städte oder in andere Farmgebiete – wie z. B. nach Wisconsin oder in andere Landesteile Minnesotas. Hauptbinnenwanderungsziel war dabei St. Paul, die nur etwa vierzig Meilen Àussaufwärts gelegene Hauptstadt Minnesotas, wohin etwa ein Dutzend Männer und Frauen zogen, um eine Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft zu suchen. Bis 1900 zogen Abwanderer aus Goodhue County außerdem nach Missouri, North Dakota und an den Pazi¿k in den Bundesstaat Washington. 5.2 KLEIN- UND MITTELSTÄDTE „Small-town America“, das kleinstädtische Amerika, verkörpert nach der stereotypen Sichtweise des ausgehenden 20. Jahrhunderts den Ort, an dem Werte wie Familie, Glaube, Gemeinschaft und harte Arbeit am authentischsten gelebt wurden, gilt also als das „eigentliche“ Amerika. Hier, in den Kleinst- und Kleinstädten unter zehntausend Einwohnern, war die Quote derer am höchsten, die körperlich hart in Steinbrüchen, Fabriken oder auf dem Bau arbeiteten, wie die Zensuslisten für die Migranten aus dem Untersuchungsgebiet bestätigen. Demnach arbeiteten dort 1860 über vierzig Prozent aller Erwerbstätigen als ungelernte oder Hilfsarbeiter, auf dem Land und in größeren Städten lag dieser Anteil bei etwas über dreißig Prozent, in Metropolen bei nur 17 %. „Small-town America“ hatte aber noch eine andere Seite, nämlich die der kleinen Selbstständigen im Handel und Gastgewerbe mit ihren Familienbetrieben. Das örtliche Lebensmittelgeschäft und der Saloon waren damit ebenso fester Bestandteil des kleinstädtischen Lebens wie die Kirchengemeinde oder der Verein.
48
Vgl. History of Goodhue County, 565.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
5.2.1 Troy, Ohio Ein Ort, der die gewählten Kriterien zur Gemeinschaftsbildung erfüllt, und in dem es zu einer Ansiedlung von mehr als 25 Personen aus einer Herkunftsgemeinde kam, ist die Kleinstadt Troy in Ohio. Hier siedelten sich zwischen den 1840er und den 1870er Jahren vierzig Migranten aus dem evangelischen Bauerndorf Neuhausen ob Eck im Oberamt Tuttlingen an. Troy, der Verwaltungssitz von Miami County, liegt 75 Meilen nördlich von Cincinnati und zwanzig Meilen nördlich der Stadt Dayton im Tal des Great Miami River und am Miami-und-Erie-Kanal, der den Ohio mit dem Eriesee verbindet. Aufgrund der Fertigstellung dieses Kanals 1845, auf dem vorwiegend Agrargüter aus der Umgebung gen Süden nach Cincinnati oder gen Norden nach Toledo transportiert wurden, war die Einwohnerzahl Troys zwischen 1840 und 1850 von 1.351 auf knapp zweitausend Einwohner angewachsen. 1880 gehörte Troy als regionaler Umschlagplatz für Agrarprodukte mit kaum mehr als 3.800 Einwohnern zu den kleinsten städtischen Gemeinden, in denen Migranten aus dem Untersuchungsgebiet siedelten. Als die ersten Migranten aus Neuhausen 1848 nach Troy kamen, hatte die Stadt sechs Kirchen, eine Versammlungshalle der Freimaurer, zwei Zeitungsbüros, eine Filiale der Ohio State Bank, sechs Lagerhäuser, drei Getreidemühlen, fünf Sägemühlen, eine Eisengießerei, eine Maschinenwerkstatt, eine Fabrik für PÀüge und eine Dachschindelfabrik.49 Dort fand der Neuhauser Pioniersiedler Johannes Reichle Arbeit, denn laut Zensus von 1850 bezeichnete er sich als Schindelmacher. Von den neun Neuhauser Migranten, die sich vor 1850 in Troy ansiedelten, arbeiteten zwei zu diesem Zeitpunkt als Schuhmacher und zwei als Lohnarbeiter. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen weitere Fertigungsbetriebe in der Stadt hinzu, von denen die Wagenfabrik Troy Buggy Works in den 1880er Jahren zum größten lokalen Arbeitgeber avancierte. Dort fanden einige der in Amerika geborenen Kinder der Neuhauser Auswanderer Beschäftigung. In den 1850er Jahren folgten weitere 29 Einwanderer aus Neuhausen nach Troy, in den 1860er Jahren nur noch zwei. Wie sich an den Laufziffern ihrer Wohnstätten im Zensus ablesen lässt, siedelten sie im Städtchen Troy, das 1870 nur ca. dreitausend Einwohner hatte und deshalb noch nicht in Stadtbezirke aufgeteilt war, nahe beieinander. Bei den Neuhauser Migranten handelte es sich zum überwiegenden Teil um Handwerker wie Schmiede, Schuster, Schreiner und Zimmerleute. Nur ein Drittel hatte in Württemberg in der Landwirtschaft gearbeitet, zu gleichen Teilen als Bauern oder Tagelöhner. In Troy übten die Handwerker in der Regel 49
Vgl. den Eintrag „Troy, Ohio“, in Ohio History Central. An Online Encyclopedia of Ohio History: http://www.ohiohistorycentral.org/entry.php?rec=2018 (kontaktiert am 3.5.2009).
5.2 Klein- und Mittelstädte
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ihre erlernten Berufe aus; die beiden Bauern eröffneten im zweiten Jahrzehnt nach ihrer Einwanderung in Troy Lebensmittelgeschäfte. Angehörige der Tagelöhnerfamilien arbeiteten in Miami County als Steinhauer oder als abhängig Beschäftigte in der Landwirtschaft in den umliegenden Gemeinden. Schon in den 1860er Jahren kam es parallel zur Ansiedlung Neuhauser Migranten in Troy zur Abwanderung aus der Stadt. Dies belegt das Heiratsregister von Miami County. Demnach verzogen einige der Neuhauser, die in Troy geheiratet hatten, kurz darauf in andere Gebiete Westohios, die sie über das dortige Kanalsystem erreichen konnten. Zu den neuen Niederlassungsorten dieser Weiterwanderer zählten die Städte Cincinnati und Dayton im Südwesten Ohios sowie De¿ance County im Nordwesten des Staates. In einem Falle zog ein in Miami County getrautes Neuhauser Paar westwärts in die Metropole St. Louis nach Missouri weiter. Einige andere Neuhauser Migranten, die in der Landwirtschaft Fuß fassen wollten, verließen ebenfalls in den 1850er Jahren die Stadt Troy, um in angrenzenden Townships zunächst als Landarbeiter Beschäftigung zu suchen und sich dort später als Farmer eine Existenz aufzubauen. Die Mehrheit der Neuhauser Migranten verblieb jedoch in Troy, wo sie Grundbesitz erwarben und ein Leben als Kleinhandwerker führten. Etwa die Hälfte ihrer in Amerika geborenen Söhne hatte laut Zensus von 1880 einen Beruf im produzierenden Gewerbe, hier vor allem in den in der Stadt entstandenen Fabriken, die andere Hälfte im lokalen Dienstleistungssektor als Schullehrer, Verkäufer, Barkeeper oder Gepäckträger gefunden. Die durch die Niederlassung mehrerer Einzelpersonen Ende der 1840er Jahre entstandene Siedlung Neuhauser Einwanderer in Miami County hatte sich durch den starken Zuzug weiterer Migrantengruppen aus dem Heimatdorf – einesteils Familien, anderenteils gemeinsam reisende Unverheiratete – in den Jahren 1854 und 1857 vergrößert und durch Heiratsverbindungen auch sozial weiter „verdichtet“: In Miami County stammten in den 1850er Jahren bei sechs von zwölf Eheschließungen, an denen Einwanderer aus Neuhausen beteiligt waren, beide Partner aus Neuhausen. Überwiegend handelte es sich dabei um Erstehen. Nur in einem Falle heiratete ein dreißigjähriger Bauernsohn aus Neuhausen in Troy die Witwe eines Zimmermannes, die ihren Ehemann auf der Überfahrt von London nach New York verloren hatte und gleich nach der Ankunft zu den bereits eingewanderten Dorfgenossen nach Troy weitergereist war. Die auf diese Weise durch Kettenwanderung entstandene Neuhauser Gemeinschaft in Troy hatte durch die Einwanderung von vierzig Migranten innerhalb eines Zeitraumes von weniger als zehn Jahren zwischen 1848 und 1857 und den durch den Zensus von 1880 belegten Verbleib von bis dahin vierzig in Ohio geborenen Kindern Neuhauser Einwanderer in der Stadt eine so breite Basis, dass der soziale Zusammenhalt bis ins 20. Jahrhundert gesichert war. Die Zuwanderung aus Neuhausen nach Troy und Miami County versiegte, als in den 1880er und 1890er Jahren großstädtische Ziele an der Ost-
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küste in den Vordergrund rückten.50 Dort lagen die größten Niederlassungsorte Neuhauser Einwanderer in den Nachbarstädten New York und Brooklyn. Im Mittleren Westen waren nun Cincinnati und Indianapolis die Hauptsiedlungsorte von Neuhauser Nordamerikamigranten. 5.2.2 Muscatine, Iowa Die Siedlungsbildung von 38 evangelischen Tuttlingern in der am westlichen Ufer des Mississippi im Staate Iowa gelegenen Kleinstadt Muscatine ist scheinbar auf das Zusammenspiel von Kirchengründungen an der amerikanischen Siedlungsgrenze durch württembergische Missionare und der Einwanderung von Württembergern aus der jeweiligen Herkunftsgemeinde dieser Kirchenmänner an deren neue Wirkungsstätte in Nordamerika zurückzuführen. Wie in der texanischen Siedlung Castroville und im nicht weit davon entfernten Dörfchen Quihi im ländlichen Medina County stammten auch in Muscatine Pfarrer und Teile der Kirchengemeinde aus demselben württembergischen Herkunftsort. Bei näherer Überprüfung dieses Siedlungsmusters stellt sich allerdings die Frage, ob es sich dabei eher um eine religiös bedingte Migration handelte, oder ob nicht vielmehr die persönliche Bekanntschaft oder Verwandtschaft zu dem aus der Heimat stammenden Kirchengründer (im Sinne des „herkömmlichen“ Musters der Kettenwanderung) bei der Wahl des Ansiedlungsortes die entscheidende Rolle spielte. Um dies beantworten zu können, müssen zum einen die Siedlungsplätze, bei denen eine solche Koinzidenz vorliegt, näher untersucht und zum anderen diejenigen Orte in Nordamerika auf Nachwanderungen aus den württembergischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes überprüft werden, in denen Missionare aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen als Pfarrer dienten. Die evangelische Gemeinde in Muscatine, einer Kleinstadt von damals rund 2.500 Einwohnern, wurde am 10. Februar 1849 von Konrad Rieß gegründet. Dieser, geboren 1809 in der württembergischen Kleinstadt Tuttlingen, gehörte zu den Pionieren des Evangelischen Kirchenvereins des Westens, den sein Bruder Johann Jacob Rieß gemeinsam mit fünf anderen deutschen Missionaren 1840 in Nordamerika ins Leben gerufen hatte. Konrad Rieß hatte im schweizerischen Beuggen nahe Basel Pädagogik studiert und war 1839 auf Bitte seines Bruders Johann Jacob, der damals als Pfarrer in mehreren Gemeinden in St. Clair County im südlichen Illinois wirkte, nach Amerika gekommen, um ihn bei der spirituellen und pädagogischen Betreu50
Vgl. Liste der „Ziel- und Lebensorte der von Neuhausen ausgewanderten Bürger, nachgewiesen überwiegend in den Inventur- und Teilungslisten der Gemeinde und in den Büchern der Ev. Kirchengemeinde Neuhausen ob Eck“ bei Stritzel, Ortssippenbuch Neuhausen ob Eck, 63–66.
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ung seiner Gemeinden zu unterstützen. Einige Jahre später erhielt Konrad Rieß von der Zions-Gemeinde in Centreville im Staat Illinois die Erlaubnis zu predigen; seine Ordination als Pastor des Kirchenvereins erfolgte aber erst im Jahr 1850. Im Juli 1848 wurde Konrad Rieß nach Muscatine gerufen, wo kurz vorher eine größere Gruppe württembergischer Einwanderer angekommen war. Mit 18 Familien organisierte Rieß dort die evangelische Gemeinde, der er bis zum Jahre 1852 als Lehrer und Pfarrer vorstand. Zusätzlich predigte er außerhalb von Muscatine auf der Prärie. Da er als Pfarrer kein regelmäßiges Einkommen hatte, arbeitete er nebenbei noch als Flickschuster, um sich, seine Frau und seine vier Adoptivkinder ¿nanziell über Wasser zu halten. Die Einwanderung Tuttlinger Familien nach Muscatine begann im Frühsommer 1848. Die ersten 25 Tuttlinger, die 1850 im Zensus von Muscatine zu ¿nden waren, hatten im Januar 1848 ihre Auswanderung beantragt und trafen Mitte Mai desselben Jahres in New Orleans ein. Sie waren also früher als Konrad Rieß in Muscatine angekommen und gehörten zu der Gruppe, auf deren Bitte hin Rieß in diese Stadt berufen wurde. Bis zum Jahr 1870 folgten noch weitere 25 Tuttlinger Migranten nach Muscatine. Die ersten Tuttlinger Einwanderer in Muscatine entstammten allesamt städtischem Handwerksmilieu und hatten in Nordamerika in ihren erlernten Berufen als Gerber, Schuhmacher, Metzger, Bäcker oder Brauer sehr schnell ökonomischen Erfolg. Die meisten von ihnen konnten innerhalb kürzester Zeit Grundeigentum erwerben und betrieben eigene Werkstätten oder Geschäfte, die sie nach und nach zu größeren Betrieben (Brauerei Dold; Brauerei Binz & Stengele; Saloon Dold & Hintermeister; Lederhandlung Rübelmann) ausbauen konnten. Vier Tage nach seiner Ankunft in Muscatine am 22. Juni 1849 berichtete der Rotgerbermeister Jacob Rübelmann seinem Schwager Johann Georg Henke nach Tuttlingen51: There are many people here from our hometown, Tuttlingen. Our Preacher of the Evangelical Church is Mr. Conrad Ries. You have no idea of the friendly reception we got from all the people. Especially Pfarrer Ries. He offered us living quarters until we ¿nd a house. I will start here a Tannery and I am sure that I will be more successful than at home. There is not a tanner near or far, and it will be easy to sell the ¿nished product. The raw hides are very cheap. I have been offered raw hides for less than two cents the pound. My children will have here great opportunities, if they stay healthy and God is with us. […] From Tuttlingen are the following, Pfarrer Ries, the two Martin boys, and carpenter Dold. The Martin boys rented a farm and do very well. Butcher Stenglin has a successful business. All in all, the emigrants from Tuttlingen are very happy here.
51
Dieser Brief vom 26. Juni 1849 ist von seiner Tochter Maria Elisabeth Rübelmann, vh. Köberlin, geb. am 2.1.1837 in Tuttlingen, gestorben am 20.4.1920 in Saint Louis, Missouri, ins Englische übertragen worden und liegt dem Verfasser nur in dieser Übersetzung vor. Fundstelle: www.genealogy.com/users/g/w/i/Sandy-Gwin/FILE/-0001page. html (kontaktiert am 8.1.2009).
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Diese Zeilen betonen eher wirtschaftliche als religiöse Emigrationsmotive und machen gleichzeitig die engen Primärbeziehungen zu den anderen Tuttlinger Einwanderern deutlich. Die Tuttlinger Familien und Junggesellen waren zu etwa gleichen Teilen of¿ziell wie „heimlich“ ausgewandert. Wenig deutet darauf hin, dass sie andere Motive für ihre Auswanderung hegten als wirtschaftlichen Aufstieg in politischer Freiheit. Zwar war niemand unter den Tuttlingern, die nach 1848 nach Muscatine kamen, in Württemberg als Revolutionär aktenkundig geworden (die Protagonisten der 1848er Revolution in Tuttlingen gingen 1852 nach New York City), aber die liberale und republikanische Gesinnung unter den Tuttlinger Einwanderern manifestierte sich in der Bildung des Muscatine Turnverein im Jahre 1856, bei dem fünf Tuttlinger zu den 45 Gründungsmitgliedern gehörten. Muscatine scheint seit den frühen 1850er Jahren ein Anziehungspunkt deutscher Intellektueller gewesen zu sein: Karl von Rotteck, Sohn des gleichnamigen prominenten geistigen Führers des frühen Liberalismus in Baden, dilettierte zuerst in Iowa als „Latin Farmer“52 und arbeitete dort zwischenzeitlich als Schuhmacher, bevor er 1857 die erste deutsche Zeitung Muscatines herausgab. Der Zensus von 1850 zeigt, dass die Tuttlinger Familien in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander und auch in der Nähe von Pfarrer Rieß wohnten, dessen evangelischer Gemeinde sie angehörten. Bis zu den frühen 1850er Jahren existierten in Muscatine weder eine lutherische noch eine reformierte Kirche, dagegen bereits methodistische, episkopale, katholische, baptistische, mennonitische und kongregationalistische Kirchengemeinden. Obwohl es in Tuttlingen eine starke pietistische Strömung gab, erscheint eine vornehmlich religiöse Motivation der Migration von Tuttlingen nach Muscatine aus verschiedenen Gründen nicht wahrscheinlich: Der Zeitablauf der Migration zeigt, dass die ersten Tuttlinger noch vor Konrad Rieß nach Muscatine gekommen waren, also noch gar nicht sicher sein konnten, ob dort eine evangelische Gemeinde entstehen würde. Konrad Rieß war zum Zeitpunkt seiner Berufung nach Muscatine schon zehn Jahre lang nicht mehr in Tuttlingen gewesen, so dass es fraglich erscheint, ob er genügend EinÀuss gehabt hätte, seine ehemaligen Tuttlinger Mitbürger schriftlich davon zu überzeugen, einer Verbesserung ihrer religiösen Freiheiten wegen nach Muscatine zu kommen. Auch ein Brief des Tuttlinger Bäckergesellen Johann Gottfried Stengelin vom 8. Februar 1852 aus Muscatine erweckt nicht den Eindruck, als sei es Pfarrer Rieß gewesen, der ihn zur Weiterreise an den Mississippi bewogen habe: Nach einer ausführlichen Beschreibung seiner eigenen Lebens- und Arbeitssituation in Muscatine („ich arbeite hier beim Stengele als Putscher oder Metzger, ich komme aber in einigen Tagen in einen Platz als Beck“) und der seiner dortigen Tuttlinger Landsleute erwähnt Stengelin am 52
Akademiker, der mehr von alten Sprachen als von der Landwirtschaft versteht.
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Ende seines Briefes nur beiläu¿g: „Pfarrer Rieß ist auch hier, er geht aber wieder von hier ab.“53 In einem Brief an die Oberen des Kirchenvereins vom 28. April 1852 aus St. Louis rechtfertigt Konrad Rieß nur kurz, warum er seine Gemeinde in Muscatine verlassen hatte: „Als ich bei den Ungläubigen in Muscatine nichts Gutes ausrichten konnte, ging ich zu den verstreut siedelnden Deutschen in Iowa und Illinois und wandte mich denjenigen zu, die ein Verlangen nach dem Wort Gottes hatten.“ Ob und inwieweit auch die Lebensweise der Tuttlinger Einwanderer beim Scheitern des religiösen Auftrags von Rieß eine Rolle spielte, kann nur vermutet werden. Als gestrengem Zuchtmeister seiner Gemeinde allerdings, der z. B. schon das Tanzen als ein Werk des Teufels verdammte, wird Rieß nicht gefallen haben, was Johann Gottfried Stengelin in seinem erwähnten Brief über die ehelichen Verhältnisse seiner Tuttlinger Nachbarn zu berichten wusste: „[Der Rübelmann] hatte sich verheiratet mit einer Amerikanerin, sie ist aber wieder von ihm, weil er ziemlich wunderlich ist. […] Schuhmacher Dold ist auch hier, er hat jetzt die dritte Frau…“54 Die Anziehungskraft des Evangelischen Kirchenvereins des Westens auf Einwanderer aus den protestantischen Gemeinden der württembergischen Oberämter Tuttlingen und Spaichingen muss daher als gering eingeschätzt werden, insbesondere deshalb, weil es mit Ausnahme von Muscatine zu keiner Zeit Einwanderungen aus dem Untersuchungsgebiet an Orte im Mittleren Westen gab, in denen der Kirchenverein seine Bastionen hatte: Eine Überprüfung der Orte, an denen Gemeinden von Pfarrern des Kirchenvereins betreut wurden, zeigt folgendes Bild: Pfarrer Johann Jacob Rieß, geboren 1811 in Tuttlingen, ausgebildet zwischen 1830 und 1835 in Basel, war 1835 der erste ordinierte Pastor des späteren Kirchenvereins, der amerikanischen Boden betrat. Nach einem kurzen Aufenthalt bei einem seiner Basler Kommilitonen in Ann Arbor, Michigan, traf Rieß im Winter 1835/36 in seinem designierten Wirkungsgebiet in St. Clair County im südwestlichen Illinois ein, wo er zwischen 1836 und 1846 in einem Radius von etwa dreißig Meilen deutsche evangelische Kirchengemeinden in den Orten Centreville, Dutch Hill und Neu Aargau (alle drei werden später zu Millstadt), Belleville, Prairie du Long (später Red Bud) betreute. Keine der von Rieß ins Leben gerufenen Gemeinden wurde zum Anziehungspunkt von anderen Tuttlingern mit Ausnahme von Konrad Rieß, Johann Jacobs älterem Bruder. Als Johann Jacob Rieß 1846 nach St. Louis ging, um die dortige, drei Jahre zuvor gegründete deutsche evangelische Kongregation zu übernehmen, löste dies ebenfalls keine Nachwanderung Tuttlinger Landsleute aus, obwohl Rieß exakt in der Dekade der transatlantischen Massenemigration aus Württemberg in den Jahren 1846 bis 1855 in St. Louis tätig war. In dieser Periode wird St. Louis nur in einem Fall 53 54
Auswanderer-Briefe des Bäckergesellen Johann Gottfried Stengelin, 72 f. Ebd. Hier der Brief vom 8. Februar 1852 aus Muscatine, Iowa.
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von einem Tuttlinger Auswanderer als Reiseziel angegeben. Im Zensus von 1850 tauchen neben Pfarrer Rieß keine weiteren Tuttlinger in St. Louis auf. 1860, fünf Jahre nach Rieß’ Tod, ist neben dem von Muscatine zugezogenen Lederwarenhändler Rübelmann nur ein weiterer Tuttlinger Einwanderer in St. Louis verzeichnet. Dies ist kein schlagender Beweis dafür, dass Pfarrer Rieß’ evangelische Gemeinde eine große Anziehungskraft auf seine früheren Tuttlinger Mitbürger ausgeübt hätte. Ähnliches lässt sich für die weiteren Stationen von seinem Bruder Konrad Rieß sagen, der nach seinem gescheiterten Engagement in Muscatine von 1853 an in Fort Madison, Iowa, und dann von 1861 bis 1868 in Holstein, Missouri, Gemeinden des Kirchenvereins vorstand. Ihm folgte kein Tuttlinger. Die Migration aus Tuttlingen nach Muscatine war also nicht religiös bedingt, sondern ein Fall von Kettenwanderung. 5.2.3 Madison, Indiana Die Besiedlung der Kleinstadt Madison im Bundesstaat Indiana durch württembergische Migranten aus dem Untersuchungsgebiet begann – ähnlich wie in Utica und Muscatine – schon in den späten 1840er Jahren. Madison lag im Flusstal des Ohio 75 Meilen südwestlich von Cincinnati und damit an einer der drei Haupteinwanderungsrouten zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Es wurde sowohl von Einwanderern, die über New Orleans über den Mississippi und den Ohio Àussaufwärts gekommen waren, wie auch von über New York gereisten Migranten aus dem Untersuchungsgebiet über den Eriekanal und den Ohio Àussabwärts besiedelt. Der erste der insgesamt mindestens 45 Migranten aus dem schwäbischen Bauerndorf Frittlingen, die sich zwischen den 1840er und den 1880er Jahren in Madison niederließen, war der Schlosser Sinesius Anger. Er war im Juni 1847 mit seiner Frau und einem Sohn im Säuglingsalter in New Orleans eingetroffen und 1848 zunächst nach Kentucky gegangen, wo ein weiterer Sohn geboren wurde. Bis zum Sommer 1850 zog er nach Madison weiter und war dort im Zensus der einzige Frittlinger in der Stadt. In den Jahren 1852 und 1853 trafen weitere 14 Frittlinger – eine sechsköp¿ge Schreinerfamilie und acht Ledige – in Madison ein, darunter auch ein Bruder und zwei Schwestern von Sinesius Anger. Diese beiden Schwestern hatten in einer Gruppe von acht jungen Frauen und drei jungen Männern aus Frittlingen, alle zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Lebensjahr, die Überfahrt von Holland nach New York unternommen und waren dann gemeinsam nach Madison weitergereist. Dort verstarben zwei von ihnen binnen weniger Jahre nach ihrer Ankunft.55 Einige, die 55
Kath. Kirchenbuch Frittlingen, Familienregister: Wilhelm Seifried, geboren 1836 in Frittlingen, nach Amerika gezogen 1853, gestorben in Madison 1855. Afra Zepf, geb. 1829, ausgewandert 1853, gestorben in Indiana 1856.
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in dieser Reisegruppe im November 1853 direkt nach Madison gekommen waren – wie beispielsweise der Frittlinger Schneider Anton Zimmerer –, zogen nach kurzem Zwischenaufenthalt wieder weiter, wurden also nicht in Madison sesshaft. Von Zimmerer ist bekannt, dass er in Madison mit 75 Dollar Schulden eintraf, da sich seine Überfahrt wegen eines Cholera-Ausbruchs an Bord seines Schiffes in der Nordsee und der daraufhin durchgeführten Quarantäne der überlebenden Reisenden in einem niederländischen Spital verzögert hatte, so dass sein mitgeführtes Geld aufgebraucht war.56 Nachdem Zimmerer eine Arbeitsstelle und Verdienst als Schneider in Madison gefunden und dort die nächsten neun Monate im Kreise seiner Dorfgenossen verbracht hatte, zog er weiter nach Cincinnati und siedelte später in Nebraska. Madison, das 1853 etwa zwölftausend Einwohner hatte, scheint also Mitte der 1850er Jahre eine wichtige Anlaufstelle der Frittlinger Einwanderer in den Vereinigten Staaten von Amerika gewesen zu sein, von denen bis 1860 etwa zwei Drittel über den Ohio den Mittleren Westen erreichten und sich dort in der Nähe des Flusses in den Bundesstaaten Ohio, Kentucky, Indiana und Illinois niederließen. Die Kleinstadt Madison und die nicht weit davon entfernte Großstadt Cincinnati, die damals als Tor zum Westen galt, standen in einem regen Bevölkerungsaustausch. Der Schreiner Johannes Schnell beispielsweise blieb nach seiner Einwanderung im November 1852 ein knappes Jahr in Cincinnati, bevor er nach Madison, wo in der Zwischenzeit weitere Frittlinger eingetroffen waren, weiterzog.57 In den 1860er Jahren gab Johannes Ef¿nger sein Kaffeehaus in Cincinnati auf und eröffnete in Madison eine Kneipe. In demselben Zeitraum verließ Paul Braun Cincinnati, wo er in seinem erlernten Beruf als Schlosser gearbeitet hatte, und zog nach Madison, wo er später eine Eisenwarenhandlung eröffnete. In die Gegenrichtung von Madison nach Cincinnati zogen in den 1870er Jahren die Familie des Ignaz Zepf, der sein dortiges Kurzwarengeschäft aufgab, um in Cincinnati als Küster zu arbeiten, und die Witwe Ursula Mauch, deren erwachsener Sohn allerdings in Madison blieb. Die Einwanderung von einigen anderen Frittlinger Migranten nach Tennessee nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges verlief ebenfalls über Madison, wo z. B. der Schuster Roman Braun die Schreinertochter Walburga Schnell heiratete, bevor er mit ihr nach Memphis zog. Auch der Tagelöhner Cassian Wenzler, der laut Eintrag im Frittlinger Kirchenbuch 1857 „nach Amerika durchgebrannt“ war58, lebte zusammen mit seinem jüngeren Bruder einige Jahre in Madison, bevor auch er in den 1860er Jahren nach Tennessee weiterwanderte. 56 57 58
Vgl. Portrait and Biographical Album of Otoe and Cass Counties, 518 f. Vgl. den Nachruf auf John Schnell im Madison Daily Courier vom 5.12.1882. Vgl. Eintrag im Kath. Kirchenbuch Frittlingen, zitiert nach der Auswandererkartei von Ulrich Fiedler im GA Frittlingen.
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Obwohl nicht alle Frittlinger Migranten, die in den 1850er und 1860er Jahren nach Madison kamen, dort blieben, bildete sich hier eine Gemeinschaft, die durch stetige Nachwanderung einzelner Migranten aus Frittlingen in den 1860er und 1870er Jahren weiter anwuchs. Die Mehrzahl dieser Frittlinger kam jung und ledig nach Madison – 26 ledigen Einzeleinwanderern standen fünf eingewanderte Familien gegenüber – weshalb viele von ihnen wenige Jahre nach ihrer Ankunft dort heirateten. Dabei wählten zehn von dreißig Frittlingern in Madison den Ehepartner unter anderen Einwanderern aus dem Heimatdorf. Die Frittlinger Gemeinschaft in Madison wurde also durch Heiratsverbindungen am neuen Ansiedlungsort weiter gefestigt. Dazu kam, dass die Migranten aus Frittlingen alle katholischen Glaubens waren und dies in Amerika auch blieben. Das bedeutet, dass sie auch in religiöser Hinsicht eine Gemeinschaft bildeten. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor für die Gemeinschaftsbildung im Einwanderungsland ist das Vorhandensein sozioökonomischer Homogenität innerhalb der Migrantengruppe. Die Frittlinger in Madison entstammten Handwerkerfamilien, nur ein einziger einer Bauernfamilie. Ebenso waren Angehörige der ländlichen Unterschichten, die etwa ein Drittel aller Frittlinger Nordamerikamigranten im 19. Jahrhundert ausmachten, in Madison mit nur einem Tagelöhner und einem Weber spärlich vertreten. Unter den aus Frittlingen eingewanderten Handwerkern waren die auf dem nordamerikanischen Arbeitsmarkt gefragten Berufe wie Schuster, Schneider, Schlosser und Schreiner die häu¿gsten. Die meisten Frittlinger in Madison fanden dort deshalb sogleich Beschäftigung in ihren erlernten Berufen und konnten sich von dem dadurch erwirtschafteten Einkommen in der Stadt Grundbesitz in Form eines eigenen Wohnhauses zulegen. Nach dem Zensus von 1860 hatten vier von sieben, 1870 alle neun Frittlinger Haushaltungsvorstände Grundbesitz in der Stadt. Zum wohlhabendsten unter ihnen war der Bauernsohn John Maier aufgestiegen. 1863, als er bereits in Ohio lebte, erhielt er aus einer Erbschaft in Frittlingen sechshundert Gulden. Er kam damit nach Madison und übernahm dort das William Tell House. In diesem Hotel waren nach dem Zensus von 1870 drei jüngst eingewanderte junge Männer aus Frittlingen einquartiert und erhielten dort Kost und Logis, bevor sie sich eigene Wohnungen anmieteten. Der einzige Handwerker, dessen Quali¿kation in Nordamerika nicht nachgefragt wurde, war der Weber Jakob Zepf, der aber kurz nach seiner Einwanderung in einer der zahlreichen Fabriken für hölzerne Sattelrahmen in Madison eine Anstellung fand und diese Tätigkeit jahrelang ausübte. Der Tagelöhner Cassian Wenzler, 1860 noch als Lohnarbeiter aufgeführt, meldete sich neben weiteren Frittlinger Immigranten in Madison in den ersten Tagen des Amerikanischen Bürgerkrieges als Freiwilliger und ließ sich als Militärmusiker in das 6. Infanterieregiment von Indiana aufnehmen. Zwei Wochen vor der verlustreichen Schlacht von Shiloh, in der seine Kameraden in den
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Wäldern Tennessees kämpften, war Wenzler ausgemustert worden und nach Madison zurückgekehrt. Einige Jahre später kam er als Zivilist zusammen mit einem jüngeren Bruder nach Tennessee zurück, wo er im Städtchen Clarksville zum wohlhabenden Bierhändler aufstieg. Frittlinger Einwanderer beteiligten sich in Madison neben ihrer Mitgliedschaft in der katholischen St. Mary’s Kirchengemeinde auch aktiv am gesellschaftlich-politischen Leben. Dieses Engagement mag sich in einigen Fällen auch wirtschaftlich ausgezahlt haben. Sinesius Anger beispielsweise, der Frittlinger Pioniersiedler in Madison, der dort für die Demokratische Partei zwei Legislaturperioden lang im Stadtrat saß, konnte als Schlosser und Blechschmied mit eigenem Betrieb sicherlich von diesem ehrenamtlichen Engagement auch geschäftlich pro¿tieren: Von der Stadt Madison erhielt seine Firma den Großauftrag, die Leitungen für die städtischen Wasserwerke zu verlegen.59 Johannes Maier, der wie Cassian Wenzler und Johannes Schnell am Amerikanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte, stand als Hotelier ohnehin schon in der Öffentlichkeit und weitete seinen Bekanntheitsgrad durch Mitgliedschaften in vielerlei wohltätigen und gemeinnützigen Vereinen noch aus.60 Auch Johannes Schnell war Gründungsmitglied eines kirchlichen Wohltätigkeitsvereins und eines berufsständischen Unterstützungsvereins in Madison.61 Der in einer Sattelrahmenfabrik beschäftigte Jacob Zepf war ebenfalls aktiv in Kirchen- und Geschäftskreisen.62 Die Frittlinger Siedlung in Madison bestand in der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – trotz relativ hoher Fluktuation ihrer Mitglieder – aus einem festen Stamm von Migranten, die dort sesshaft geworden waren und durch ihre Nachkommen die Gemeinschaft wachsen ließen. Zur gesunden Struktur dieser Siedlung trugen zum einen die stetige Zuwanderung von jungen, ledigen Migranten aus Frittlingen bei, die dort schnell heirateten und Kinder zeugten, und zum anderen auch die breite Beteiligung der Frittlinger Nordamerikamigranten an der Siedlungsbildung in Madison, wo sich zwischen 1847 und 1880 Mitglieder aus 14 verschiedenen Frittlinger Geschlechtern niederließen. Zudem hatte Madison als am Ohio gelegene Handelsstadt Anschluss an die beiden wichtigsten amerikanischen Wasserwege, den Eriekanal und den Mississippi, auf denen bis zum Aufkommen der Eisenbahn Menschen und Güter bequem transportiert werden konnten. Nicht zuletzt dieser günstigen geographischen Lage verdankte es Madison, dass es bei der Einwanderung von Württembergern eine große Rolle spielte und die dortige Frittlinger Siedlung auf diese Weise Zuwachs bekam, bis sie sich auf biologischem Weg selbst erhalten konnte. 59 60 61 62
Nachruf auf Sinesius Anger im Madison Daily Courier vom 4.2.1890. Nachruf auf John Mayer im Madison Daily Courier vom 28.12.1891. Nachruf auf John Schnell im Madison Daily Courier vom 5.12.1882. Nachruf auf Jacob Zepf im Madison Courier vom 7.12.1938.
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5.2.4 Utica, New York Migranten aus Talheim in der Baar zogen erstmals 1846 in den Industriegürtel entlang des Hudson und des Eriekanals im Staat New York. Sie waren ohne ¿nanzielle Reserven nach Amerika aufgebrochen. In Deer¿eld und Whitestown, den industriell geprägten Vororten der Kleinstadt Utica in Bundesstaat New York, ließen sich der Schlosser Michael Irion und der Uhrengestellmacher Johannes Irion mit ihren Familien nieder; später zogen sie in die Stadt Utica. Dort konnten beide Familienväter in ihrer jeweiligen Branche Arbeit und Verdienst ¿nden. Während Johannes Irion seinem sehr speziellen Handwerk als Gestellmacher für Schwarzwälder Uhren nicht mehr nachzugehen vermochte und stattdessen als Zimmermann arbeitete, konnte Michael Irion von Anfang an seinen erlernten Beruf als Schlosser weiter ausüben. Die Stadt Utica, deren Einwohnerzahl zwischen 1850 und 1880 von 17.500 auf 33.000 stieg und wo die Deutschen nach den Iren die größte Einwanderergruppe bildeten, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur größten Talheimer Siedlung in Nordamerika. Neben Michael Irion, der weiterhin seinen Lohn als Schlosser verdiente, und dessen drei Söhnen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die inzwischen als Zigarrenmacher bzw. Schmied arbeiteten, wurden bis 1860 neun weitere Talheimer in Utica ansässig. Interessanterweise handelt es sich neben einem einzigen registrierten Auswanderer – dem Schuhmachergesellen Johann Friedrich Kohler – bei den anderen Talheimern um Migranten, deren Ausreise nach Amerika in der Heimat nicht aktenkundig geworden war. Ihre Namen ¿nden sich aber in den Passagierlisten der Auswandererschiffe, so z. B. vom Schreiner Matthias Kreutter, der zusammen mit seiner Frau Magdalena und Matthias Bissikummer am 7. Oktober 1852 von Le Havre kommend in New York eintraf. Kurz darauf müssen die Kreutters nach Utica weitergezogen sein, denn schon 1853 wird Matthias Kreutter dort im städtischen Adressbuch als Schreiner aufgeführt. In diesem Beruf arbeitete er auch noch 1860. Neben dem Ehepaar Kreutter waren die Talheimer Einwanderer in Utica vorwiegend ledige Männer und Frauen im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Nach den Zensusangaben von 1860 arbeitete Matthäus Stocker, inzwischen verheiratet, als Schuhmacher; Anna Stocker war als Dienstmädchen in einem amerikanischen Haushalt beschäftigt. Die Schwestern Anna und Maria Möst heirateten aus Deutschland stammende Schlosser. Anna Maria Ulrich hatte einen badischen Zigarrenmacher geehelicht und ihren Bruder August, der 1860 in Utica Tagelöhnerarbeiten ausführte, in ihre Wohnung aufgenommen. Allen Talheimer Immigranten in Utica war gemeinsam, dass sie in ihrer neuen Heimat rasch Arbeit in ihren erlernten Berufen fanden, was Verwandte und Bekannte zur Nachwanderung stimulierte. Dies galt auch für ledige Frauen, die auf dem amerikanischen Arbeits- und Heiratsmarkt gute Chancen hatten. So fanden drei der vier eingewanderten Talheimerinnen in Utica inner-
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halb weniger Jahre süddeutsche Ehepartner, die ¿nanziell besser gestellt waren als die in den 1850er Jahren eingewanderten Talheimer Männer. Junge Frauen, die in amerikanischen Haushalten als Dienstmädchen Beschäftigung gefunden hatten, waren unter ihren eingewanderten Landsleuten vor allem auch deshalb sehr begehrt, weil sie mit der Sprache und den sozialen Gewohnheiten in der neuen Umgebung schneller und besser vertraut waren als ihre männlichen Landsleute, die sich oftmals – am Arbeitsplatz, am Wohnort, im Verein und in der Kneipe – in rein deutschsprachigen Kreisen bewegten. Diejenigen Talheimer Männer, die als Ledige in Amerika eingetroffen waren, fanden ihre erste Unterkunft entweder bei bereits ausgewanderten Familienangehörigen oder als Kostgänger bei fremden Familien oder in Wohnheimen. Verheiratete Paare oder Familien wohnten anfangs in den schlechteren Stadtvierteln zur Miete. Bis zur Volkszählung von 1860 hatte es unter den Talheimer Einwanderern nur der 1846 mit Frau und fünf Kindern eingewanderte Michael Irion geschafft, ein Wohnhaus in Utica zu erwerben. Je länger sie aber im Einwanderungsland lebten, desto eher kamen sie in die Lage, Grundbesitz zu erwerben. Die 1846/47 einsetzende Talheimer Auswanderung, die sich in den 1850er Jahren auf leicht schwächerem Niveau fortsetzte, schwoll in den 1860er Jahren zu einem Strom an, als weitere 164 Personen bei der Talheimer Gemeindeverwaltung ihre Anträge auf Auswanderung nach Nordamerika einreichten. Einige wenige von ihnen taten dies auf schriftlichem Wege nachträglich von Amerika aus; die große Mehrheit aber erledigte dies vor ihrer Ausreise. Die Gründe für eine so hohe Auswandererzahl zu einer Zeit, in der sich die politischen und vor allem wirtschaftlichen Verhältnisse in Talheim nach den Not- und Krisenjahren von 1846/47 und 1852/54 wieder stabilisiert hatten, ergeben sich aus den Wanderungszielen und der damals in Württemberg praktizierten kommunalen Auswanderungspolitik. Etwa jede fünfte Talheimer Auswanderung in den 1860er Jahren endete in Utica, womit der dortigen Talheimer Diaspora frisches Blut zugeführt wurde. Vermutlich war das an einer der Haupteinwanderungsrouten in Nordamerika gelegene Utica aber noch für eine viel größere Anzahl von Talheimer Männern und Frauen eine Etappe auf der Weiterreise in andere Siedlungsgebiete. Beispielsweise hielt sich der 1865 aus Talheim eingewanderte Wagnergeselle Johannes Kreutter drei Jahre lang in Utica auf, wo er in der nahegelegenen Waffenfabrik der Firma Remington Gewehrschäfte schnitzte, bevor er 1868 nach Iowa weiterzog.63 Andere Talheimer Migranten folgten im angesprochenen Zeitraum ihren bereits in Ontario lebenden Angehörigen dorthin. Mit der Nachwanderung in die schon von Talheimern besiedelten Gebiete Nordamerikas lässt sich ein guter Teil der neuerlichen Talheimer Massenauswanderung in den 1860er Jahren erklären: Nicht mehr elementare Not in der Heimat, 63
Vgl. Oelke, Kreutter Family, 7 f.
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sondern die Verwandten und Bekannten, die durch Briefe und persönliche Kontakte von den besseren Lebensbedingungen in Nordamerika berichteten, dürften in dieser Periode die Auswanderung aus Talheim neuerlich beÀügelt haben. In vielen Fällen schickten, wie das oberamtliche Auswanderungsverzeichnis zeigt, in Amerika ansässige Verwandte oder Bekannte Reisegeld nach Talheim, um weniger bemittelten Angehörigen oder Freunden die Überfahrt nach Amerika zu ermöglichen. 1860 beispielsweise waren 15 von 19 Auswanderungen auf diese Weise fremd¿nanziert. In den 1860er Jahren wurden 38 % aller Talheimer Nordamerikaauswanderungen von Dritten bezahlt. Es handelte sich also um eine Vielzahl von Kettenwanderungen. Wie zu dieser Zeit in vielen Kommunen Südwestdeutschlands üblich, betrieb auch die Talheimer Gemeindeverwaltung aktiv und im größeren Stil eine auswanderungsfördernde Politik, indem sie erstmals 1860 innerhalb von zwei Monaten eine dreizehnköp¿ge Gruppe von missliebigen Gemeindeangehörigen mit einer aus der Gemeindekasse ¿nanzierten Reisekostenübernahme über den Atlantik schickte. Zu diesen Abgeschobenen gehörten in vier Fällen Frauen mit unehelichen Kindern, in drei Fällen ehemalige Zuchthäusler bzw. mehrfach vorbestrafte Kleinkriminelle. Bei den drei auf diese Weise nach Amerika beförderten jungen Männern handelte es sich ausnahmslos um vermögenslose Tagelöhner. Im gleichen Jahr wurde vom Talheimer Gemeinderat die Auswanderung Martin Schneckenburgers, der immerhin der frühere Geometer des Oberamtes Tuttlingen war, betrieben, indem sie ihm „kein gutes Prädikat“ ausstellte, da „er als ein Mensch bekannt ist, welcher sich gerne dem Trunk und dem Leicht-Sinn hingibt“64. Schneckenburger starb zweieinhalb Monate nach seiner Auswanderung aus Talheim in Michigan an einem Herzinfarkt. Die aus Gemeindemitteln nach Amerika beförderten Talheimer waren also sozial Stigmatisierte, derer sich die Gemeinde – wie zu dieser Zeit in Württemberg und in noch größerem Maße in Baden üblich – durch die Bezahlung der Überfahrtskosten für die Auswanderung nach Nordamerika ein- für allemal entledigte. Oftmals war das Kalkül für diesen Schritt ein eiskalt ökonomisches, denn die Gemeindeverwaltung befürchtete, dass der Gemeinde durch jahrelange Armenunterstützung und Sozialfürsorge, die jedem Gemeindeglied rechtlich zustand, größere Kosten entstehen könnten als durch die einmalige Zahlung des Reisegeldes zur Auswanderung. Damit war die Gemeinde von weiteren FürsorgepÀichten entbunden, denn der Erhalt einer Auswanderungsgenehmigung setzte die Aufgabe des Orts- und Staatsbürgerrechtes voraus. Ausgewanderte konnten damit gegenüber ihrer ehemaligen Heimatgemeinde keinerlei Ansprüche mehr geltend machen. Diese aus heutiger Sicht fragwürdige Praxis des Menschenexportes zwecks Entschärfung sozialer Probleme und zur Haushaltssanierung, an der sich die Gemeinde Talheim in den 1860er Jahren in nicht unerheblichem Maße betei64
StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191.
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ligte, ist also ein weiterer Grund für die hohen damaligen Talheimer Auswanderungszahlen. Die meisten Talheimer, die in den 1860er Jahren nach Amerika auswanderten, taten das im Familienverband – ein Umstand, der sich deutlich auf die im Vergleich mit den anderen Gemeinden der insgesamt auswanderungsstarken östlichen Baar ungewöhnlich hohen Auswandererzahlen ausgewirkt hat. Zwischen 1860 und 1869 verließen 102 Talheimer ihre Heimatgemeinde im Familienverband. Dem stehen nur 62 Einzelauswanderer gegenüber, unter ihnen 39 Männer. Jede dritte ledige Frau, die zu dieser Zeit auswanderte, hatte ein oder mehrere eigene Kinder bei sich. Ein Vergleich dieser Quote mit der Anzahl der zwischen dem 1. Januar 1855 und dem 30. Juli 1871 in Talheim außerehelich Geborenen (142 unehelich Geborene unter insgesamt 765 Geborenen, die in einer separaten Rubrik in den Talheimer Kirchenbüchern verzeichnet sind) zeigt deutlich, dass ledige Mütter unter den Auswanderern der damaligen Zeit im Verhältnis sehr stark vertreten waren, was auf ihre soziale Stigmatisierung hindeutet. Bei der Berufsstruktur der verheirateten Talheimer Auswanderer zeigt sich eine Überrepräsentation von Angehörigen bestimmter Berufe. Bei den landwirtschaftlichen Berufen ¿nden sich übermäßig viele Tagelöhner unter den Nordamerikaauswanderern, während die verheirateten Bauern unter allen Erwerbstätigen die Bevölkerungsschicht ausmachten, die im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl am seltensten auswanderte. Unter den Handwerkern waren die Berufsangehörigen der Metall- und Textilverarbeitung leicht überrepräsentiert, während sich Bauhandwerker und Beschäftigte der holzverarbeitenden Industrie ebenso wie des Lebensmittelgewerbes vergleichsweise selten unter den Nordamerikaauswanderern fanden. Beschäftigte des Tertiärsektors (Handel, Verkehr, Gastwirtschaft; Staats- oder Kirchendienst) wanderten so gut wie gar nicht aus, da ihre soziale Stellung in der Heimat generell hoch war und sie ihre Fertigkeiten am schwierigsten auf die Bedürfnisse des nordamerikanischen Arbeitsmarktes übertragen konnten. Die Berufsangaben derjenigen Talheimer, die in den 1860er Jahren nach Nordamerika auswanderten, bestätigen den Befund, dass sich vor allem die Angehörigen der landlosen Schichten – seien es in landwirtschaftlichen Hilfsberufen Beschäftigte oder Handwerker – an der Auswanderung beteiligten. Unter den in dieser Zeit aus Talheim emigrierten Familienvätern befanden sich acht Tagelöhner mit einem durchschnittlichen Vermögen von 150 Gulden pro Familienmitglied, acht Handwerker, davon vier aus dem Textilgewerbe, mit 250 Gulden pro Kopf, aber nur zwei Bauern, die ein Prokopfvermögen von 375 Gulden besaßen. Die 37 ledigen Talheimer Auswanderer der Periode von 1860 bis 1869, für die Berufsangaben vorliegen, verstärken diesen Befund noch. Fünf Tagelöhnern und fünf Bauernknechten standen sechs ledige Bauern gegenüber, und unter den emigrierten Handwerkslehrlingen oder -gesellen hatte jeder zweite einen Beruf in der Bekleidungsherstellung erlernt,
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Abb. 9: Anzeige der Talheimer Migranten aus Utica im Gränzboten 1870 Quelle: Gränzbote Nr. 141 vom 30.11.1870, 560.
darunter sechs von zehn das Schuhmacherhandwerk. Nach der Tuttlinger Oberamtsbeschreibung von 1879 waren die Schuster das in Talheim am stärksten vertretene Handwerk.65 Einige von ihnen arbeiteten in der Schuh65
Vgl. OAB Tuttlingen, 444.
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stadt Tuttlingen, andere wanderten nach Nordamerika aus, wo ihnen der dortige Arbeitsmarkt gute Verdienstmöglichkeiten bot. Nicht von ungefähr ließ sich jeder zweite in den 1860er Jahren ausgewanderte Talheimer Schuster in Utica nieder – einem Zentrum der nordamerikanischen Schuhindustrie. Die Talheimer Immigranten in Utica vermehrten sich in den 1860er Jahren nicht nur durch kontinuierlichen Zuzug aus der Heimat sondern auch durch in Amerika geborene Kinder, zudem waren sie untereinander sozial gut „vernetzt“ und organisiert: Das Talheimer Zusammengehörigkeitsgefühl und eine nationale Loyalität zu ihrem Heimatland lässt sich deutlich an einer am 30. November 1870 im Tuttlinger Gränzboten erschienenen Anzeige ablesen, in der 24 in Utica lebende Talheimer namentlich genannt werden, die anlässlich des Deutsch-Französischen Krieges, der im Sommer des Jahres 1870 ausgebrochen war, für die im Felde stehenden Talheimer Soldaten untereinander Geld gesammelt hatten und dieses dann kollektiv spendeten. In Hinsicht auf die Kettenwanderung belegt diese Anzeige zum einen, dass die Talheimer Einwanderer in Utica miteinander in engem Kontakt standen, und zum anderen, dass ihre Verbindung zur Heimat nicht abgerissen war. Beides waren typische Begleitumstände der europäischen Einwanderung nach Nordamerika im 19. Jahrhundert. Diese sozialen Netzwerke, die einerseits zwischen Immigranten untereinander und andererseits zwischen den in der Heimat Verbliebenen und den Ausgewanderten bestanden, machen die Mechanismen klar, durch die Kettenwanderer an bestimmte Siedlungsorte gelenkt wurden. Die Migration von Talheimern nach Utica war indes nicht etwa ein Automatismus, sondern das Ergebnis rationaler Entscheidungsprozesse wohlinformierter Menschen. Dies erklärt, dass sich in Zeiten ökonomischer Stagnation oder gar Rezession in Nordamerika (1855–1859 und 1873–1879) der Strom der Migranten beträchtlich abschwächte, in Perioden wirtschaftlichen Wachstums in Nordamerika im 19. Jahrhundert (1845–1855, 1865–1873 und 1879– 1892) dagegen anschwoll. In den Jahren des Amerikanischen Bürgerkrieges trat eine eigentümliche Situation ein: Obwohl sich die amerikanische Wirtschaft im Zuge des Krieges abgeschwächt hatte, waren die Chancen für neue Einwanderer auf einen gutbezahlten Arbeitsplatz in den Unionsstaaten in dem Maße gestiegen, in dem die Armee Soldaten rekrutierte. Auch damit lässt sich die hohe Talheimer Nordamerikamigration in den Bürgerkriegsjahren erklären. Viel unmittelbarer noch pro¿tierten vom Amerikanischen Bürgerkrieg einige der mit nur geringen ¿nanziellen Mitteln eingewanderten Talheimer. Aus der U. S. Civil War Collection66 sowie einer speziellen, 1890 in den Vereinig66
Online-Datenbank bei www.ancestry.com. Diese enthält als wichtigste Datensätze die U. S. Civil War Soldier Records and Pro¿les, die U. S. Civil War Soldiers, 1861–1865 sowie die American Civil War Soldiers, aus denen für die meisten Bürgerkriegssoldaten Staat und Ort des Diensteintritts, Freiwilligenmeldung oder WehrpÀicht, Regiments-
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ten Staaten von Amerika bundesweit durchgeführten Volkszählung67 für Kriegsteilnehmer und ihre Witwen geht hervor, dass sich neun von 17 der damals in Utica wohnhaften und im militärfähigen Alter stehenden Talheimer zum freiwilligen Dienst im Heer der Union gemeldet hatten. Darunter waren neben Martin Vosseler die Gebrüder Christian und Johannes Kohler, die erst vor zwölf Monaten mittellos ins Land gekommen waren, als sie im Mai 1861 in das 26. New Yorker Infanterieregiment einrückten. Der 1860 gemeinsam mit ihnen eingereiste jüngste Bruder, Friedrich Kohler, musste noch seine Volljährigkeit abwarten, ehe er sich im Oktober 1861 im Alter von 18 Jahren und zehn Tagen zum Militärdienst meldete. Der monatliche Sold von etwa 13 Dollar, den Soldaten der Union in dieser Zeit bekamen, sowie die seit dem zweiten Kriegsjahr gezahlte Kriegseintrittsprämie waren für Mittellose wie die Talheimer Einwanderer sicherlich sehr attraktiv. Dies wird gerade bei den neu eingetroffenen Migranten, die viel zu kurz im Land waren, um eine tiefere Loyalität für die Vereinigten Staaten von Amerika entwickelt zu haben, der entscheidende Anreiz zum freiwilligen Kriegseinsatz gewesen sein. Die meisten Talheimer Kriegsfreiwilligen verpÀichteten sich zu einer zweijährigen, einige auch zu einer dreijährigen Dienstzeit. Bis auf die Brüder Friedrich und Johannes Kohler, die im Laufe ihres Dienstes in den Unterof¿ziersrang eines Corporal bzw. eines Sergeant befördert wurden, begannen und beendeten alle Talheimer Freiwilligen ihren Militärdienst im niedrigsten Mannschaftsrang eines Private. Außer Martin Vosseler, bei dem nach dem Krieg Blutungen und chronischer Rheumatismus festgestellt wurden, wie in der Veteranenzählung von 1890 minutiös vermerkt ist, und Matthias Kreutter, der durch eine Schusswunde an der Hand und die Folgen seiner Kriegsgefangenschaft nach dem Krieg permanent auf Hilfe angewiesen war, wie aus seinem Antrag auf Invalidenrente hervorgeht68, scheinen die anderen Talheimer Infanteristen den Krieg heil überstanden zu haben. Finanziell genützt hat ihnen ihr freiwilliger Einsatz sicherlich. Denn die Gebrüder Kohler und Martin Vosseler waren 1860 ohne ¿nanzielle Mittel nach Amerika gekommen, 1870 gehörten sie jedoch zu denen, die ihrerseits Geld an Talheimer Kameraden gaben, die aus Deutschland gen Frankreich marschierten.
67 68
und Kompaniezugehörigkeit, Eintritts- und Entlassungsdatum, Dienstränge und Beförderungen, Verwundungen, Gefangennahmen und Todesfälle hervorgehen. Schedules of the Eleventh Census (1890) Enumerating Union Veterans and Widows of Union Veterans of the Civil War (NARA, M123). Vgl. Familiengeschichtliches Material zu Matthew Kreutter, zur Verfügung gestellt von Ms. Charlotte Schmidt Rogers, Jeannette, PA.
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5.2.5 Detroit, Michigan Der Staat Michigan übte auf die Nordamerikamigranten der Stadt Tuttlingen große Anziehungskraft aus, so dass sich dort zwischen den späten 1840er Jahren und 1880 etwa ein Drittel aller Migranten aus dieser Stadt niederließen.69 Dabei nahm Detroit, das zwischen 1850 und 1880 von einer Mittelstadt mit 21.000 zu einer Großstadt mit 116.000 Einwohnern anwuchs und wo die Deutschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die stärkste Einwanderergruppe bildeten, eine besondere Stellung ein: Bis zu diesem Zeitpunkt waren dort seit den frühen 1850er Jahren 55 Tuttlinger ansässig geworden, weitere 39 in den Nachbarstädten Ann Arbor und Royal Oak und 13 weitere in anderen Orten im von starker württembergischer Einwanderung geprägten Südosten Michigans. Dass die Stadt Detroit, wo schon in den 1850er Jahren bedeutende Maschinenfabriken sowie Gerberei- und Brauereibetriebe bestanden70, eine so bedeutende Rolle in der Siedlungsbildung Tuttlinger Migranten spielen würde, war bei einem Blick auf den Zensus von 1850 nicht zu erwarten: Die bis dahin ausgewanderten 75 Tuttlinger verteilten sich auf zwölf verschiedene Städte in neun amerikanischen Bundesstaaten. Ein Drittel von ihnen war am westlichen Ufer des Mississippi in Muscatine und St. Louis ansässig geworden. Ein weiteres Drittel hatte sich in Ostküstenstädten (Ware in Massachusetts, New York City und Buffalo im Staat New York; Newark in New Jersey; Philadelphia, Reading und Wilkes-Barre im südöstlichen Pennsylvania) niedergelassen. Das übrige Drittel lebte im städtischen Mittelwesten in Cincinnati im Staat Ohio, Madison in Indiana und Ann Arbor in Michigan, jedoch keiner in Detroit. Die Kleinstadt Ann Arbor bildete also bei der Besiedlung Michigans durch Tuttlinger Einwanderer eine Art „Brückenkopf“. Der Rotgerber Heinrich Ulrich Schneckenburger war erstmals im Juni 1845 nach Nordamerika gegangen und holte zweieinviertel Jahre später seine Ehefrau und die sieben Kinder aus Tuttlingen nach. 1850 wohnte er mit weiteren Tuttlinger Einwanderern – der siebenköp¿gen Familie des Lackierers Johann Rudolf Schneckenburger und dem Kaufmann Gottlieb Friedrich Hauser – in Ann Arbor, vierzig Meilen westlich von Detroit. Die beiden Schneckenburger-Brüder, von denen jeder mindestens dreitausend Gulden Geldvermögen nach Amerika mitgebracht hatte, arbeiteten dort als Gerber, Gottlob Friedrich Hauser als Brauer. Die Einwanderung Tuttlinger Bürger nach Detroit und in das nur 15 Meilen entfernte Landstädtchen Royal Oak setzte 1851 parallel zu weiteren Nachzügen nach Ann Arbor ein und war 1854 bereits weitgehend abgeschlossen. In 69 70
Von den 478 namentlich verzeichneten Tuttlinger Nordamerikamigranten zwischen 1830 und 1880 konnten 351 (~75 %) in einem U. S. Census zwischen 1850 und 1880 lokalisiert werden, 107 (~30 %) davon in Michigan. Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 4, 876 f.
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diesem kurzen Zeitraum kamen mindestens 48 Personen aus der Stadt Tuttlingen (und einige andere aus weiteren Gemeinden der Oberamtes Tuttlingen) nach Detroit, zwölf weitere nach Royal Oak. Von diesen sechzig Einwanderern aus der Stadt Tuttlingen waren fünfzig im Familienverband eingetroffen. Die Schiffspassagierlisten zeigen, dass sich nur auf zwei Atlantiküberfahrten Tuttlinger – in einem Fall zwei Familien, im anderen Fall drei junge Männer – befanden, die gemeinsam nach Detroit weiterreisten. Achtmal dagegen kamen die im Familienverband oder einzeln ausreisenden Tuttlinger alleine in Detroit an. Die meisten ließen sich dort in zwei benachbarten Stadtbezirken nieder. In zwei Fällen gab es sogar gemeinsame Überfahrten Tuttlinger Migranten, deren Wege sich erst nach Ankunft in New York in Richtung Detroit und Muscatine gabelten. Einwanderungsströme zu diesen beiden Hauptzielen der Tuttlinger Nordamerikamigration existierten zu Beginn der 1850er Jahre also eine ganze Zeitlang nebeneinander und speisten sich zum Teil sogar aus Personen gleichen Familiennamens.71 Die ersten Tuttlinger in Detroit waren 1851 der Kaufmann Christian Streng mit Frau und acht Kindern. Gemeinsam mit dem ehemaligen Tuttlinger Kronenwirtsehepaar Müller hatten sie den Atlantik überquert und, nach dem Brief des Tuttlinger Bäckergesellen Johann Gottfried Stengelin vom 1. Juli 1851 aus New York, die Absicht geäußert, nach Detroit weiterzureisen.72 Während Stengelin nach Muscatine ging, landete Müller bei den Tuttlingern in Ann Arbor, wo er laut dem Zensus von 1860 Bier braute. Streng, der laut County Biography in Tuttlingen ein nicht näher genanntes politisches Amt bekleidet hatte73, ging nach Detroit. Mit einem weiteren Tuttlinger Auswanderer, dem 1853 aus Buffalo gekommenen Gerbergesellen Louis Dihlmann, der in Detroit Strengs älteste Tochter geheiratet hatte, betrieb dieser dort später eine Lederwarenhandlung und führte außerdem ein Hotel. Dihlmann war als Sohn des früheren Oberamtmannes von Friedrichshafen in die in Tuttlingen zum Teil heftig ausgefochtene 1848er-Revolution verwickelt und nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand im Mai 1849 in die Vereinigten Staaten von Amerika gekommen. Von Detroit aus hielt er Kontakt zum 1852 nach New York City ausgewanderten Anführer der Tuttlinger Aufständischen, dem Buchhändler Sixt Ludwig Kapff, bei dessen in Amerika geborenem Sohn er Taufpate war.74 Die an der Tuttlinger Auswanderung nach Detroit Beteiligten stammten also nicht aus ländlichen Unterschichten, sondern waren Angehörige des städ71 72 73 74
Unter 22 Tuttlinger Familien, deren Angehörige nach Detroit gingen, und 14, die nach Muscatine zogen, gab es acht, von denen Mitglieder in beide Orte auswanderten. Auswanderer-Briefe des Bäckergesellen Johann Gottfried Stengelin, 71 f.; hier Brief vom 1. Juli 1851 aus New York. Vgl. die Biographie seines Schwiegersohnes Col. Frederick Schneider in: Portrait and Biographical Album of Ingham and Livingston Counties, Michigan, 215 ff. Vgl. Familiengeschichtliches Material zur Familie Kapff im Stadtarchiv Tuttlingen.
5.2 Klein- und Mittelstädte
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tischen Bürgertums. Unter ihnen befanden sich beispielsweise zwei Gastwirte, drei KauÀeute, ein Chirurg, vier Gerber und ein Bierbrauer. Auch Angehörige der städtischen Unterschichten wie Tagelöhner, Dienstboten, oder Weber kamen nicht nach Detroit. Die meisten Tuttlinger Einwanderer – beim Zensus von 1860 waren es 15 von 18 – übten in Detroit ihre erlernten Berufe aus und führten zum Teil eigene Geschäfte, manche mit großem wirtschaftlichen Erfolg. So verdiente der Tuttlinger Chirurg im deutschen Viertel von Detroit ein kleines Vermögen als Barbier. Nur der Bäcker arbeitete einige Jahre als Tagelöhner und der Schneider war einige Jahre Lastenträger, bevor beide in ihre alten Berufe zurückfanden. Unter der Bezeichnung „Tuttlingen Health Water“ lieferten Tuttlinger um die Jahrhundertwende Quellwasser aus dem nahe gelegenen Örtchen Royal Oak mit Pferd und Wagen nach Detroit.75 Detroit als eines der bedeutendsten Fertigungszentren des Mittleren Westens und wichtiger Handelsplatz an den Großen Seen wurde in dieser Region in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Einwohnerzahl und Industrieproduktion nur von Chicago übertroffen. Es konnte die Tuttlinger Facharbeiter deshalb gut aufnehmen, da mit der zunehmenden Industrialisierung der Vereinigten Staaten nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg dort vor allem Arbeitskräfte außerhalb des Agrarsektors gefragt waren. Das nahezu exponentielle Bevölkerungswachstum Detroits – innerhalb von dreißig Jahren übertraf die Einwohnerzahl diejenige Tuttlingens nicht mehr nur um das Dreieinhalbfache (1850) sondern um das Fünfzehnfache (1880) – bewirkte aber keine Verstärkung der Einwanderung aus Tuttlingen. Vielmehr war das Gegenteil der Fall, denn in den 1860er und 1870er Jahren kam es nur noch vereinzelt zu Nachwanderungen. Dies hatte verschiedene Gründe: In Tuttlingen verbesserte sich die Wirtschaftslage in der Zeit zwischen der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 wesentlich durch den Ausbau von handwerklich geführten Kleinbetrieben – z. B. in der Schuhproduktion und im Messerschmiedehandwerk – zu Fabriken, in denen mit industriellen Fertigungsmethoden Schuhe oder chirurgische Instrumente produziert wurden. Nach der 1871 durchgeführten Berufsklassenzählung lag der Anteil der in Industrie, Bergbau und Bauwesen Beschäftigten in der Stadt Tuttlingen bei 79,3 %.76 Nach der Berufszählung von 1895 hatten 80,9 % aller Tuttlinger Erwerbstätigen einen Arbeitsplatz im produzierenden Gewerbe, also außerhalb des Landwirtschaftsoder Dienstleistungssektors.77 Die Stadt Tuttlingen, die in der Hauptauswanderungsperiode zwischen 1846 und 1854 noch jährlich 0,4 % ihrer Bevölke75 76 77
http://www.royaloakhistoricalsociety.com/timeline.html. Vgl. WJB 1876, IV, 16 f. (Tab. 1: Die ortsanwesende Bevölkerung nach Haupt-BerufsErwerbsklassen nach der Aufnahme vom 1. Dez. 1871). Gezählt wurden hier nicht nur die Erwerbstätigen, sondern auch ihre Familien. Vgl. WJB: 3.996 der 4.939 Arbeitsplätze in der Stadt Tuttlingen wurden von Erwerbstätigen in der Industrie eingenommen, ¿elen also in den sekundären Sektor.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
rung durch Auswanderung nach Nordamerika verloren hatte, verzeichnete in den 1890er Jahren erstmals eine positive Wanderungsbilanz, d. h. es zogen mehr Menschen aus anderen Gemeinden, besonders aus dem Umland, zu, als Tuttlinger in andere württembergische, deutsche oder ausländische Orte abwanderten.78 Der Industrialisierung in Tuttlingen ist es also u. a. zuzuschreiben, dass der Migrantenstrom von dort nach Nordamerika im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts abebbte. Zudem waren in Detroit gerade Geschäftsleute, d. h. Handwerksmeister mit eigenen Betrieben und Selbstständige in Handel und Dienstleistung (hier vor allem im Gastwirtschaftsgewerbe) härter von der wirtschaftlichen Depression von 1873 betroffen als Migranten, die sich andernorts in Nordamerika im Agrarsektor als Farmer selbstständige Existenzen aufgebaut hatten. Das Mercantile Agency Reference Book der New Yorker Rating-Agentur R. J. Dun & Co. (einem Vorläufer der heutigen Auskunftei Dun & Bradstreet) gibt seit 1867 jährlich und seit 1875 vierteljährlich Auskunft über die Finanzkraft einzelner Betriebe (und damit über die Kreditwürdigkeit ihrer Inhaber) in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Kanada.79 Es belegt das Ausmaß der damaligen Krise für die Tuttlinger Geschäftsleute in Detroit. So wurde die geschätzte Finanzkraft der Gerberei von Georg Andreas Bartenbach 1875 von der Kategorie „F“ (10.000–25.000 Dollar) im Jahr 1870 über „H“ (2.000– 5.000 Dollar) 1872 auf nun „L“ (unter tausend Dollar) abgewertet, Bartenbach galt also nicht mehr als kreditwürdig. Wie dieser verloren in demselben Zeitraum auch der Tuttlinger Gerber Henry Renz sowie der Schankwirt Louis Dihlmann ihre Kreditwürdigkeit, nachdem ihre Betriebe innerhalb von fünf Jahren vier Fünftel ihres Wertes eingebüßt hatten. Dagegen konnte der Messerschmied Johann Friedrich Baisch mit seinem Reparaturbetrieb für Messer und Bestecke seine Finanzkraft in den krisenhaften 1870er Jahren erhöhen. Interessanterweise stiegen in den Jahren der nordamerikanischen Wirtschaftskrise die Betriebe der Tuttlinger Migranten in Muscatine in ihrem Wert, darunter die Brauerei Dold und das Lederwarenhandelshaus Rübelmann. Auch die Talheimer Geschäftsleute in Utica waren nicht so hart betroffen wie die Tuttlinger Geschäftsleute in Detroit. Wie der Zensus von 1880 zeigt, verlor jedoch niemand der Tuttlinger Einwohnerschaft Detroits in den krisenhaften 1870er Jahren seinen Arbeitsplatz oder musste den Beruf wechseln.
78 79
Zwischen 1871 und 1876 lag die Wanderungsbilanz der Stadt Tuttlingen bei - 0,5 % p. a. Zwischen 1896 und 1905 lag sie bei + 0,6 % p. a. Vgl. The Mercantile Agency Reference Book. Darin heißt es: „This institution [the Mercantile Agency] supplies information in detail as to the antecedents, character, capacity, capital, and credit of every Business Man in the United States and in the British Provinces. It also undertakes the collection of Past Due Debts, for which it has the last facilitator. The Mercantile Agency has ca. 80 branches and associate of¿ces in North America and 5 in Europe.“
5.3 Industriegebiete
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Die Tuttlinger Gemeinschaft in Detroit blieb stabil, obwohl etwa jeder vierte Tuttlinger Einwanderer in den 1860er und 1870er Jahren die Stadt wieder verließ. Die meisten dieser aus Tuttlingen stammenden deutschamerikanischen Binnenwanderer gingen in nahegelegene ländliche Gebiete Michigans, wo sie heirateten und eine Landwirtschaft führten oder ein Handwerk ausübten. Den Fortbestand der Tuttlinger Gemeinschaft in Detroit sicherte die Nachkommenschaft der dort verbliebenen Einwanderer. Bis 1880 wurden in Detroit etwa einhundert Kinder Tuttlinger Eltern geboren. Wie auch die erste Generation, von denen viele im Amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten, bekleideten einige Tuttlinger in der zweiten Einwanderergeneration hohe Ämter in der Kommunalverwaltung: Louis Dihlmann gab bis 1880 seine Gastwirtschaft auf und wurde zum City Clerk ernannt. Der 1883 in Detroit geborene John William Smith, dessen Mutter aus dem Tuttlinger Nachbarort Nendingen stammte, meldete sich 1898 zum Spanisch-Amerikanischen Krieg und war von 1924 bis 1928 und nochmals für einige Monate 1933/34 Bürgermeister von Detroit.80 5.3 INDUSTRIEGEBIETE Hinter der Migration von der Schwäbischen Alb in nordamerikanische Agrargebiete und Städte spielte die Immigration in industrielle Räume Nordamerikas zahlenmäßig eine weitaus geringere Rolle. Dies mag zum einen daran liegen, dass die transatlantische Migration in Südwestdeutschland im innerdeutschen und innereuropäischen Vergleich früher einsetzte und ihre Höhepunkte 1846 bis 1854 und 1864 bis 1873 hatte, als die Siedlungsgrenze in den Vereinigten Staaten von Amerika noch offen und Farmland noch verfügbar war. Zum anderen hatten die Württemberger, und zwar nicht nur die städtischen Handwerker, sondern auch die Landbevölkerung mit ihrer traditionellen Verzahnung von Nebenerwerbslandwirtschaft und Gewerbe, einen guten schulischen Ausbildungsstand und solide handwerkliche Quali¿kationen, was mit dazu beitrug, dass sie selbst entscheiden konnten, ob sie in Nordamerika auf dem Land oder in den Städten siedeln und in einem handwerklichen Kleinbetrieb oder in der Fabrik arbeiten wollten. Die weitaus meisten Württemberger aus dem Untersuchungsgebiet suchten und fanden ihre Arbeitsstellen außerhalb der Fabriken. Diejenigen aber, die in Amerika Fabrikarbeit verrichteten, taten dies weniger als ungelernte Kräfte, sondern eher als Facharbeiter, die ihre in der Heimat erlernten und „auf der Walz“ innerhalb Deutschlands oder Europas verfeinerten berufsspezi¿schen Quali¿kationen in die nordamerikanische Arbeitswelt einbrach80
Vgl. Familiengeschichtliches Material zur Familie Wax im Stadtarchiv Tuttlingen. Siehe auch den Nachruf auf John W. Smith in der New York Times vom 18.6.1942, 21. Vgl. ebenfalls Holli/Jones (Hg.), Biographical Dictionary of American Mayors, 334.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
ten.81 Neben der Migration von Facharbeitern aus der württembergischen Textilindustrie in industrielle Räume Neuenglands, wo schon einige vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg Eingewanderte aus dem Untersuchungsgebiet in Textilfabriken Tuche färbten, Teppiche webten oder Seile herstellten, kam es in den 1870er und verstärkt in den 1880er Jahren zur Einwanderung von Feinmechanikern (Messerschmieden und Instrumentenmachern) aus dem Oberamt Tuttlingen, die z. B. in Franklin County im Staat Massachusetts in Fabriken Taschenmesser und Bestecke herstellten. Auch arbeiteten einige aus Trossingen eingewanderte Harmonikamacher seit den 1870er Jahren in Neuengland in ihren erlernten Berufen in der Musikinstrumentenfertigung. Fabrikarbeit spielte aber nicht nur in der Textilindustrie und in der Feinmechanik, sondern auch in einigen Bereichen der metallverarbeitenden Industrie eine große Rolle. Aber auch hier wählten beispielsweise Schmiede aus dem Untersuchungsgebiet ihre Arbeitsplätze eher auf dem Land oder in der Kleinstadt als in der Fabrik. Demgegenüber hatten Schlosser in mechanischen Werkstätten in Kleinstädten oder im Maschinen- und Fahrzeugbau (Lokomotiven) in Mittel- und Großstädten Ohios, Pennsylvanias und New Yorks gute Arbeitsmöglichkeiten. Auch der Anteil der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen, die in der nordamerikanischen Schwerindustrie arbeiteten, war gering. Nur 41 von über tausend dieser Migranten aus dem Untersuchungsgebiet hatten einen Arbeitsplatz in Eisenschmelzen, Gießereien oder Stahlwerken in Städten wie Cleveland, Cincinnati, Youngstown in Ohio, Wheeling in West Virginia oder New York City, Rochester und Buffalo im Staat New York. Den relativ größten Anteil an Industriearbeitsplätzen für Migranten aus dem Untersuchungsgebiet boten die Industriegebiete Pennsylvanias, wo sich z. B. in der Stadt Erie, etwa hundert Meilen südwestlich von Buffalo gelegen, in den 1860er und 1870er Jahren sieben Eisengießer aus dem Dorf Nendingen ansiedelten und an den Hochöfen arbeiteten. Die genannten industriellen Räume in Neuengland oder Pennsylvania zogen insgesamt zu wenige Migranten aus dem Untersuchungsgebiet an, als dass es zu größeren Siedlungsbildungen wie in Agrargebieten oder in kleinen oder mittleren Städten hätte kommen können. Dasselbe gilt auch für die Kohlenbergbaugebiete in Pennsylvania und Ohio, wo insgesamt neun Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die meisten von ihnen vom Heuberg, in verschiedenen Gruben arbeiteten. Obwohl die Migration von der Schwäbischen Alb in industrielle Räume Nordamerikas also zahlenmäßig eher unbedeutend war, entstand die größte Siedlung von Württembergern aus dem Untersuchungsgebiet auf amerikanischem Boden genau dort. 81
StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191. Hier Beispiel des Tuttlinger Tuchmachers Adam Bartenbach, der vor seiner Nordamerikaauswanderung in Sachsen gearbeitet hatte.
5.3 Industriegebiete
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5.3.1 Copper Country, Michigan Insgesamt 122 Personen kamen aus dem schwäbischen Bauerndorf Trossingen in das Copper Country82, eine abgelegene Bergbauregion auf der Keweenaw-Halbinsel, dem nördlichsten, etwa sechzig Meilen in den Oberen See hereinragenden Zipfel Michigans, wo zwischen den 1860er Jahren und dem Ersten Weltkrieg der größte Kupferabbau der Welt stattfand. Im Gegensatz zur Einwanderung quali¿zierter Textilarbeiter und Feinmechaniker aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in industrielle Räume Neuenglands war dies die Wanderungsbewegung einer großenteils unquali¿zierten Landbevölkerung zu Arbeitsplätzen im Bergbau in den Kupferminen am Oberen See. Zwei Drittel der Trossinger Migranten entstammten Tagelöhner- oder Weberfamilien. Nachdem die amerikanische Bundesregierung aufgrund einer Landvermessung auf Keweenaw Kupferlagerstätten vermutete, kaufte sie die Halbinsel Anfang der 1840er Jahre den Chippewa-Indianern ab und schützte sie sogleich durch einen Militärposten (Fort Wilkins). 1843 verkaufte die U. S. Mineral Agency dann erstmals Schürfrechte an private Firmen. Diese Firmen benötigten Arbeitskräfte für den Kupferabbau und warben zunächst in der englischen Grafschaft Cornwall Bergleute an, wo in dieser Zeit die größten Zinnminen der Welt in Betrieb waren. Nach wechselhaften Erfolgen in der Anfangszeit wurden in Michigans Copper Country nach und nach große Vorkommen massiven (metallischen) Kupfers erschlossen und gefördert. Mit Hilfe von Investoren aus Boston wurden neue Minen in Betrieb genommen, weshalb der Arbeitskräftebedarf im Copper Country zwischen den 1840er Jahren und den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stetig zunahm. Unter den Tausenden von ausländischen Arbeitskräften, die der Kupferabbau in diesem Außenposten der amerikanischen Zivilisation damals anzog, befanden sich neben den ersten Bergleuten aus Cornwall auch Deutsche, zu denen gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt Migranten aus anderen Teilen Europas, vor allem aus Finnland, Italien und Polen, hinzukamen. Die ersten Württemberger gelangten gegen Ende der 1850er Jahre ins Copper Country.83 Anfang der 1860er Jahre setzte die Einwanderung von 82
83
Als Copper Country werden die in den Oberen See hereinragende Landzunge der nördlichen Halbinsel von Michigan sowie die nahe gelegenen Gebiete der Counties Ontonagon, Houghton, Keweenaw und Baraga wegen ihrer reichhaltigen Kupfervorkommen bezeichnet. Aus Teilen von Houghton County waren 1861 Keweenaw County und 1875 Baraga County gebildet worden. Dies geht aus dem Michigan State Census von 1884 hervor, der die Aufenthaltsdauer der gezählten Personen im Staate Michigan angibt. Bei einem Vergleich mit den württembergischen Auswanderungslisten und den Schiffspassagierlisten ergibt sich beispielsweise, dass diejenigen Trossinger Migranten, die zwischen 1854 und 1857 nach Nordamerika auswanderten, erst 1859 im Staat Michigan eintrafen.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Dutzenden junger Männer aus Trossingen zu den Kupferminen auf die Keweenaw-Halbinsel ein, als dort wegen des Amerikanischen Bürgerkrieges Arbeitskräfte knapp wurden und die Firmen durch Werber gute Löhne boten. Bis 1880, als einzelne Firmen in der Nähe der Minen Werkssiedlungen anlegten, waren nachweislich 122 Trossinger ins Copper Country gezogen, um dort im Bergbau zu arbeiten. Unter Berücksichtigung der evangelischen Trossinger Kirchenbücher84, des staatlichen Zensus von Michigan für 1884 und 1894, des U. S. Census von 1900 sowie der Migranten, die in den 1880er und 1890er Jahren eingewandert sind, lassen sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mindestens zweihundert Migranten aus Trossingen im Kupferabbau in Michigan nachweisen. Bis zur Mitte der 1860er Jahre waren aus Trossingen nicht etwa nur junge ledige Männer dorthin gegangen, sondern auch einige zwischen dreißig und vierzig Jahren alte Familienväter. Diese hatten zunächst Frauen und Kinder in Trossingen zurückgelassen und waren nur auf Heimatschein nach Amerika gekommen. Sie hatten also weder ihre württembergische Staatsangehörigkeit noch das Trossinger Bürgerrecht aufgegeben, um so nach einigen Jahren im Bergbau in Michigan problemlos wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Dass 85 von 122 Trossinger Migranten auf Heimatschein in das Copper Country gingen, also im rechtlichen Sinne keine Auswanderer waren, zeigt, dass die meisten nicht die Absicht hatten, sich auf Dauer in Michigan niederzulassen. Den Charakter der Arbeitswanderung in die Kupferminen unterstreicht ebenfalls der sehr geringe Familienanteil unter den Migranten: Den 75 ledigen männlichen Einzeleinwanderern aus Trossingen standen kaum Frauen und lediglich 14 verheiratete Männer gegenüber, von denen nur sechs später ihre Familien nachholten. Ein Vergleich des U. S. Census der Jahre 1860, 1870, 1880 und 1900 mit dem Michigan State Census der Jahre 1864, 1874, 1884 und 1894 ergibt eine hohe Fluktuation der Trossinger Arbeitskräfte im Copper Country. Diese ist zum einen auf die harten Arbeitsbedingungen im dortigen Bergbau, zum anderen auf die mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten vor Ort zurückzuführen. Laut Zensus von 1870 und 1880 arbeiteten jeweils zwei Drittel der 74 bzw. 93 Trossinger Migranten, die in dem jeweiligen Jahr dort gezählt wurden, als Bergarbeiter in den Kupferminen, da es andere Berufe dort kaum gab. Die wenigsten Migranten konnten es sich leisten, ihre Arbeitsplätze im Bergbau aufzugeben und sich beispielsweise der Landwirtschaft zuzuwenden. Eine solche Ausnahme bildete Michael Messner, der 1864 aus Trossingen in das Copper Country gekommen war und dort jahrelang im Bergbau gearbeitet
84
Vgl. etwa den Eintrag im Familienregister des Ev. Kirchenbuches Trossingen über Heinrich Hohner: „Stirbt am 12. Aug. 1889 in Calumet (Michigan) infolge eines Sturzes beim Grubengeschäft.“
5.3 Industriegebiete
167
hatte. Ihm wurden 1880 nach dem Homestead Act85 hundertsechzig acres Land in Adams Township in Houghton County übertragen, woraufhin er dort eine Farm gründete, auf der er wiederum nachgewanderte Migranten aus der Heimat aufnehmen konnte. Nach dem Zensus von 1880 wohnten bei ihm neun binnen Jahresfrist eingewanderte Männer aus Trossingen, die allesamt als Arbeiter bezeichnet wurden. Zur Siedlungsbildung von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet kam es im Copper Country erst in der zweiten Hälfte der 1860er und verstärkt seit den 1870er Jahren, als einige Trossinger Familienväter nur noch vorübergehend in die Heimat zurückkehrten, um ihre Familien nachzuholen. Andere hatten ihre Löhne gespart und schickten Geld heim, um ihre Ehefrauen und Kinder nachkommen zu lassen. Im Zuge dieser Familienzusammenführung, die parallel zur anschwellenden Arbeitswanderung junger Männer aus Trossingen nach Michigan verlief und der sich Witwen und ledige Mütter aus Trossingen – im damaligen Württemberg randständige Existenzen – anschlossen, kamen erstmals Frauen und Kinder aus dem Untersuchungsgebiet auf die Keweenaw-Halbinsel. Mit dem Nachzug von Frauen war in dieser abgelegenen Industrieregion nicht nur biologisch, sondern auch psychosozial eine wichtige Voraussetzung für die Bildung einer Gemeinschaft entstanden, denn während die Männer im Bergbau tätig waren, arbeiteten die Frauen nahe den Minen in Kosthäusern und Saloons, die wiederum zum Anziehungspunkt für neu eingewanderte Dorfgenossen wurden. In einem Kosthaus nahe der Cliff Mine in Keweenaw County, das von der Trossinger Witwe Maria Kohler betrieben wurde, waren am Zensustag 1870 zwei Männer aus ihrem Heimatdorf untergebracht. 1880 befanden sich fünf Saloons im Copper Country unter der Leitung von Trossinger Einwanderern. Diese Saloons hatten eine erhebliche Bedeutung im sozialen Leben der Migranten. Zum einen gab es kaum Freizeitangebote und zum anderen lag die Bergbauregion sehr isoliert und war über weite Strecken des Jahres nicht erreichbar, weil der Schiffsverkehr auf dem Oberen See jeweils zwischen Anfang Oktober und Mitte Mai eingestellt wurde. Zudem dienten sie als Umschlagplatz von Nachrichten aus der Heimat und für Neuankömmlinge als wichtige Informationsbörse über Arbeitsangebote und Unterbringung in der Gegend. Neben den Saloons waren im Copper Country auch die Kirchen Zentren des sozialen Lebens. Soweit es aus Todesanzeigen und Nachrufen zu erfahren ist, schlossen sich die Trossinger Migranten dort der lutherischen Kirche an. Interessanterweise waren die Württemberger aus Trossingen im Copper 85
Der Homestead Act war ein vom amerikanischen Kongress 1862 verabschiedetes Gesetz, das die Erschließung bundesstaatlichen Landes außerhalb der 13 Gründerkolonien durch Privatleute fördern sollte. Wer bei einem örtlichen Land Of¿ce einen Antrag auf 160 acres Land stellte und das Land dann bebaute, dem wurden später die Besitzrechte dafür urkundlich übertragen.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Country nicht die einzige Migrantengruppe, die in religiöser Hinsicht und in ihrer Lebensführung pietistisch geprägt waren: Angehörige des Volkes der Samen, die am Ende des 19. Jahrhunderts massenhaft aus Finnland ins Copper Country einwanderten, gründeten als Laestadianer86 – Anhänger einer pietistischen Erweckungsbewegung innerhalb der lutherischen Kirchen Skandinaviens – in der Diaspora 1872 in Minnesota und 1873 in Copper Country im Ort Calumet von Laien geleitete Gemeinden außerhalb der lutherischen Kirche, wie es auch die Trossinger Migranten in ihren ländlichen Agrarsiedlungen in Ontario und Ohio getan hatten. Die Trossinger Arbeitsmigranten waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Copper Country als Gruppe so präsent, dass im Michigan State Census von 1884 der Geburtsort einiger dieser Migranten nicht wie üblich mit „Germany“ oder „Wurttemberg“, sondern mit „Truslingen“ angegeben wurde. 5.3.2 Altoona, Pennsylvania Als am 28. September 1865 elf junge Männer aus Aldingen in New York das Hamburger Dampfschiff Bavaria verließen, kannten sie nur ein Ziel: die Stadt Altoona in den Allegheny Mountains. Sie waren in Begleitung von Christian Hauser, einem Mann, der knapp zwanzig Jahre früher von Aldingen nach Pennsylvania gegangen war und sich in Blair County niedergelassen hatte. Dort hatte er 1846 zunächst in der Eisenschmelze in Allegheny Furnace, dem späteren Altoona, und kurze Zeit darauf im Eisenbahnbau bei der Allegheny Portage Railroad in Hollidaysburg Arbeit gefunden.87 Der Ort Altoona verdankte seine Gründung 1849 einer Eisenbahngesellschaft. Die Pennsylvania Railroad legte ihn in Zentral-Pennsylvania auf halber Strecke zwischen Harrisburg und Pittsburgh als Stützpunkt zum Ausbau ihrer Ost-West-Verbindung durch die Allegheny Mountains an. In Altoona, wohin bis 1850 die aus dem hundertzwanzig Meilen südöstlich gelegenen Harrisburg führende Eisenbahnlinie fertiggestellt worden war, entstanden in den 1850er Jahren ein riesiges Bahninstandsetzungswerk88, Lokomotivwerkstätten und ein Verschiebebahnhof der Pennsylvania Railroad. 1857 wurde 86
87 88
Die Samen Skandinaviens standen seit dem 17. Jahrhundert unter dem EinÀuss des lutherischen Pietismus in Nordschweden, der die dortige Bevölkerung bis ins 18. Jahrhundert hinein aktiv missionierte. Unter dem in Lappland wirkenden schwedischen Erweckungsprediger Lars Levi Laestadius (1800–1861) entstanden aus seiner Anhängerschaft die Laestadianer, eine politisch und gesellschaftlich konservative Gruppe, die ihre Religion nach Nordamerika exportierte und dort außerhalb der lutherischen Kirche eigene Gemeinden bildete. Vgl. Nachruf auf Christian Hauser in: Hollidaysburg Morning Tribune vom 8.12.1899. „Altoona Works“ war seinerzeit die größte Werkstätte für die Instandsetzung und den Neubau von Lokomotiven, die die Pennsylvania Railroad hier vor Ort in Eigenregie baute.
5.3 Industriegebiete
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die Teilstrecke zwischen Altoona und dem hundert Meilen weiter westlich gelegenen Pittsburgh vollendet, womit die Pennsylvania Railroad durch diesen einzigen Korridor die Metropolen an der Ostküste (New York, Philadelphia und Washington) mit den Eisenbahnknotenpunkten des Mittleren Westens (Chicago und St. Louis) verband. Auf die Pennsylvania Railroad als größten Arbeitgeber der Stadt ist es zurückzuführen, dass sich die Bevölkerung Altoonas zwischen 1854 und 1880 auf knapp zwanzigtausend Einwohner verzehnfachte. In den örtlichen Maschinenwerkstätten, Schreinereien und Schmieden arbeiteten laut Zensus von 1870 auch 15 Männer aus Aldingen. Die meisten von ihnen stammten als Handweber aus der heimischen Textilproduktion oder hatten als Bauern- oder Tagelöhnersöhne ebenfalls keinen Bezug zum Eisenbahnwesen. Dies führte dazu, dass die meisten von ihnen entweder als Hilfsarbeiter, Lastenträger oder Frachtfuhrmänner Beschäftigung fanden, also ungelernte Arbeiten ausführten. Unter den insgesamt 34 Aldingern, die bis 1870 nach Altoona gekommen waren, hatte bis dahin nur der ehemalige Tuchmacher Gottlob Hauser in der Stadt Grundbesitz erwerben können. Bis 1880 folgten weitere 17 Aldinger nach Altoona nach, von denen zwei Drittel Hilfsarbeiter und ein Drittel Facharbeiter in den metall- und holzverarbeitenden Werkstätten der Pennsylvania Railroad wurden. In den 1880er und 1890er Jahren setzte sich die Zuwanderung aus Aldingen nach Altoona fort. Nach einer biographischen Skizze über Gottlob Hauser, der zeit seines Lebens bei der Eisenbahn arbeitete, war diesem allerdings das Streben nach materiellen Dingen fremd. Darin heißt es über ihn sibyllinisch: Während der Idealist die schönen materiellen Dinge des Lebens nicht verachtet, sondern, im Gegenteil, ihren maßvollen Gebrauch eifrig genießt, ist er erfreulicherweise über das Elend hinaus, das den Menschen an eine ärmliche Umwelt kettet, und er möchte seine Macht nicht für materielle Erwägungen feilbieten oder seine Seele für einen Teller Suppe verkaufen. Er glaubt, dass die Mittel zu seinem Auskommen irgendwie die seinen sein werden, und er legt keinen Wert auf Reichtum oder Macht. 89
Dass Aldinger Migranten wie Gottlob Hauser oder die anfangs erwähnte Gruppe junger Männer nach Altoona kamen, hatte also auch spirituelle Gründe: Im altwürttembergisch-evangelischen Bauerndorf Aldingen, wo im 19. Jahrhundert die pietistische Bewegung eine große Rolle spielte und in ihrer Hochzeit in den 1840er Jahren etwa hundertfünfzig Anhänger90 hatte, konvertierten während einer Erweckungsversammlung, die von einem aus Penn89 90
Gottlob Hauser, Thinker, Teacher, in: Tillard, Pen Pictures (Übersetzung des Zitats vom Verfasser). Zit. n. http://¿les.usgwarchives.org/pa/blair/bios/jnt/haussergpen.txt (kontaktiert am 3.2.2009). Vgl. Manuskript des Festvortrags, gehalten anlässlich der 1200-Jahr-Feier Aldingens von Hans-Joachim Schuster, Kreisarchivar in Tuttlingen. Zit. n. www.aldingen.de/ mcms.php?_view=document&_oid=bb9615b-6030-179a-000e-63d01e7e38dc8 (kontaktiert am 3.2.2009).
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
sylvania gesandten Missionar der Evangelischen Gemeinschaft (Evangelical Association, einer deutschsprachigen protestantischen Freikirche methodistischen Typs) geleitet wurde, zehn Personen zum Methodismus und wanderten später nach Altoona aus. Der Initiator dieser missionarischen Bewegung, das Wort Gottes aus Nordamerika zurück nach Europa zu tragen, war Sebastian Kurz aus Bonlanden bei Stuttgart, der Anfang der 1830er Jahre nach Pennsylvania ausgewandert war, dort unter den EinÀuss der Evangelischen Gemeinschaft kam und seine Bekehrung erlebte. 1845 kehrte er als Laienprediger nach Württemberg zurück und begann, im Sinne der Evangelischen Gemeinschaft missionarisch tätig zu werden.91 Unterstützt wurde er dabei von Johann Conrad Link, der 1851 als Missionar von der Westpennsylvanischen Konferenz der Evangelischen Gemeinschaft nach Deutschland geschickt wurde und in Stuttgart gegen den Widerstand der württembergischen Landeskirche, aber mit Rückendeckung zweier einÀussreicher dortiger Fürsprecher – des amerikanischen Konsuls Charles Louis Fleischmann und des pietistischen Stiftspredigers Sixt Karl Kapff – eine Mission gründete, von wo aus er bis 1865 seinen Wirkungsraum auch bis nach Aldingen im Oberamt Spaichingen ausgeweitete.92 Von dort stammten nicht nur der reformierte Kirchenvater Berthold Haller, der als Lehrer in Bern zu Zeiten der Reformation in der Schweiz zum Mitstreiter Zwinglis wurde, sondern auch einige junge Männer, die sich im 19. Jahrhundert in der Basler Chrischona-Mission zu Missionaren ausbilden ließen und dann u. a. auch in Nordamerika wirkten. Dass der Methodismus in Aldingen jedoch keinen leichten Stand hatte, zeigte 1877 die Reaktion der Aldinger Bevölkerung auf die Niederlassung einer evangelisch-methodistischen Gemeinschaft aus der Schweiz in ihrem Dorf. Gegen diese regte sich bald Widerstand, der in der Bedrohung ihres Predigers auf dem Gang zum Versammlungshaus durch eine lärmende Menge Aldinger und Steinwürfe auf das Fenster des Versammlungshauses seinen Ausdruck fand.93 In Altoona dagegen konnten sich die Aldinger Konvertiten frei entfalten. Zehn von ihnen gehörten 1884 zu den 21 Gründungsmitgliedern der evangelischen Emanuels-Gemeinde.94 Andere Einwanderer aus Al91 92 93
94
Vgl. Eintrag zu „Sebastian Kurz“ von Karl-Heinz Voigt in: Biographisches-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 5 (1993), Sp. 92–94. Zit. n. der Online-Version bei www. bautz.de/bbkl (kontaktiert am 19.8.2008). Vgl. Eintrag zu „Johann Conrad Link“ von Karl-Heinz Voigt in: Biographisches-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 4 (1992), Sp. 840. Zit. n. der Online-Version bei www. bautz.de/bbkl (kontaktiert am 19.8.2008). Vgl. Manuskript des Festvortrags, gehalten anlässlich der 1200-Jahr-Feier Aldingens von Hans-Joachim Schuster, Kreisarchivar in Tuttlingen. Zit. n. www.aldingen.de/ mcms.php?_view=document&_oid=bb9615b-6030-179a-000e-63d01e7e38dc8 (kontaktiert am 3.2.2009). Vgl. Wolf, Blair County’s First Hundred Years. Darin Kapitel IX: The Churches of Blair County, 179–230, hier Harry J. Kleffel, The Evangelical Church in Blair County, 194–197.
5.4 Metropolen
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dingen schlossen sich in Altoona zwei lutherischen Gemeinden – der seit 1805 bestehenden First Lutheran Church bzw. der 1861 gegründeten St. James Lutheran Church – an oder traten reformierten Kirchengemeinden bei. Michael Oef¿nger, der 1865 zu der ersten Gruppe Aldinger in Altoona gehört hatte, zählte 1888 zu den Gründungsmitgliedern der Trinity Reformed Church, die sich von der reformierten Christ Church abgespalten hatte. Sein fünf Jahre nach ihm eingewanderter Bruder Friedrich schloss sich der Third Presbyterian Church an. Trotz der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kongregationen heirateten Aldinger Immigranten in Altoona untereinander und pÀegten soziale Kontakte, beispielsweise im Gesangsverein Frohsinn, wo Angehörige der Familien Hauser, Haller, Gruhler und Oef¿nger Mitglieder waren. Die Migration von Aldingen nach Altoona verstärkte sich noch einmal in den 1880er und 1890er Jahren, als neben Ledigen abermals ganze Familien einwanderten, deren Männer und Söhne nach Angaben in den städtischen Adressbüchern (City Directories) von Altoona in den Betrieben der Pennsylvania Railroad Arbeit fanden. Von den früher Eingewanderten blieben bis auf die Brüder Michael und Friedrich Oef¿nger, die 1880 gemeinsam einen Lebensmittelhandel eröffneten, und Friedrich Haller, der in Altoona ein Hotel betrieb, die meisten Aldinger diesem größten Arbeitgeber der Region treu, der noch 1925 14.000 der 17.000 Industriearbeiter in Altoona und den umliegenden Gemeinden beschäftigte.
5.4 METROPOLEN Von den acht Metropolen Nordamerikas hatten für die Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen im 19. Jahrhundert nur New York und Cincinnati überragende Bedeutung. Die übrigen sechs Metropolen – Philadelphia, das zu Kolonialzeiten als Anziehungspunkt für die südwestdeutsche Einwanderung nach Pennsylvania bedeutend war, die anderen beiden am Atlantik gelegenen Hafenstädte Boston und Baltimore, New Orleans an der Mündung des Mississippi, St. Louis in Missouri als das Tor zum Westen sowie die Boomtown Chicago im Mittleren Westen – spielten weder als Einwanderungshäfen noch als Niederlassungsorte für Immigranten von der Schwäbischen Alb in der stärksten Phase der südwestdeutschen Nordamerikamigration zwischen den 1840er und 1880er Jahren eine besondere Rolle. Die Siedlungsgeschichte jeder dieser Städte wurde im Lauf der europäischen Einwanderung von bestimmten ethnischen Gruppen mitgeprägt. Boston beispielsweise wurde durch die irische Einwanderung in den 1840er Jahren so stark dominiert, dass deutsche Einwanderer die Stadt mieden. Auch die Arbeitsplätze in den Textilfabriken Neuenglands übten keine besondere Anziehungskraft auf die im Vergleich zu den Iren beruÀich besser ausgebildeten deutschen Einwanderer aus. Chicago, das 1840 mit 4.500 Einwohnern noch
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
kleiner als Tuttlingen war, entwickelte sich durch rasante Zuwanderung nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges aufgrund seiner Rolle als wichtigster Eisenbahnknotenpunkt und Handelsplatz des Mittleren Westens bis 1880 zur Halbmillionenstadt und 1890 zur Millionenstadt. Seine Expansionsphase ¿el also in einen Zeitraum, als sich die wichtigsten Siedlungsorte der Württemberger in der Städtelandschaft Nordamerikas schon herauskristallisiert hatten. Ebenso spielte St. Louis, das seit den 1830er Jahren vorwiegend von Einwanderern aus anderen Gegenden Deutschlands besiedelt wurde, als Ansiedlungsort für Immigranten von der Schwäbischen Alb keine große Rolle.
5.4.1 Cincinnati, Ohio Für die württembergischen Einwanderer, die vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg nach Nordamerika kamen, hatte die Stadt Cincinnati als Durchgangsund Siedlungsplatz überragende Bedeutung, was an dessen verkehrsgünstiger Lage am Ohio lag. Cincinnati war die Metropole, die von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet sowohl über den Ohio als auch über den Mississippi besiedelt wurde. Über diese beiden großen Flusssysteme Nordamerikas liefen in der frühen Hochphase der transatlantischen Massenmigration aus Südwestdeutschland Ende der 1840er und Anfang der 1850er Jahre, also noch vor dem Ausbau der Eisenbahnstrecken in den Mittleren Westen, die Haupteinwanderungsrouten. In Cincinnati waren bis 1850 mehr Menschen aus dem Untersuchungsgebiet ansässig geworden als in New York City, obwohl 85 % der Migranten von der Schwäbischen Alb hierüber ins Land gekommen waren. Wie schon gezeigt, kehrten die meisten württembergischen Neuankömmlinge in den 1840er Jahren New York sehr schnell den Rücken und reisten ins Landesinnere weiter. Wer nicht entlang des Eriekanals siedelte, in die kanadische Provinz Ontario ging oder über die Großen Seen nach Michigan oder Wisconsin weiterreiste, nutzte den Ohio als damals wichtigste Ost-West-Achse zur Weiterreise per Dampfschiff in den Mittleren Westen. Die meisten Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen wählten bis in die 1850er Jahre diesen Weg und kamen so durch Cincinnati. Die „Königin des Westens“, wie Cincinnati genannt wurde, war aber nicht nur die bedeutendste Fabrik- und Handelsstadt am Ohio, sondern auch ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt an der Mündung des Miami-und-ErieKanals in den Ohio. Cincinnati war daher für viele Migranten Zwischenetappe auf dem Weg zu den Farmgebieten des Umlandes in Westohio, Südostindiana und Nordkentucky oder in die weiter entfernt gelegenen Agrarregionen des Mittleren Westens und jenseits des Mississippi. Ein Teil der Migranten ließ sich jedoch endgültig in Cincinnati nieder und trug dort zur Bildung ethnisch dominierter Viertel bei.
5.4 Metropolen
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Cincinnati zog – im Gegensatz zu den Städten an der Ostküste – unter den württembergischen Einwanderern vor allem Handwerkerfamilien aus der Metall- und Holzverarbeitung an. Handwerksmeister oder -gesellen aus den metallverarbeitenden Berufen fanden in den Fabriken Cincinnatis im Fahrzeugbau oder in feinmechanischen Werkstätten schnell quali¿zierte Arbeit. Holzhandwerker arbeiteten entweder in der eigenen Werkstatt oder in einer der zahlreichen Möbelfabriken der Stadt. Bauhandwerker waren entweder an der Ostküste geblieben oder in die Kleinstädte des Mittleren Westens weitergezogen. Schuhmacher und vor allem Schneider kamen kaum nach Cincinnati, da sie meist schon nach ihrer Anlandung in New York City Arbeit fanden. Württembergische Bierbrauer und Küfer trafen in Cincinnati – wie in vielen Städten des Mittleren Westens – auf genügend Landsleute, die ihre Art von Bier schätzten, während die Brauereien in den Städten an der Ostküste eher englisches Ale oder irisches Stout produzierten, das dem deutschen Gaumen fremd war. Durch die fast vollständige Abwesenheit von Tagelöhnern oder Hilfsarbeitern und anderen Unterschichtenangehörigen unter den Württembergern Cincinnatis – in der untersuchten Periode zwischen 1850 und 1880 gab es in Cincinnati mehr Einwanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen, die Bier brauten als solche, die Lohnarbeiten verrichteten –, lässt sich die württembergische Bevölkerung Cincinnatis mit dem Begriff „Kleinbürgertum“ am treffendsten charakterisieren. Etwa ein Drittel der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet erwarb in Cincinnati Grundbesitz, war also Eigentümer seiner Wohn- oder Geschäftshäuser geworden. Zu diesen Geschäftsleuten gehörten in Cincinnati Gast- und Schankwirte, Lebensmittelhändler, Besitzer von Kurzwarengeschäften und ein Juwelier. Der wirtschaftlich erfolgreichste Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet in Cincinnati war Franz Xaver Buschle, Sohn eines Nagelschmiedes aus Stetten an der Donau, der nach einer Schreinerlehre in Cincinnati und einigen Jahren in der Möbelfabrik das Gastwirtschaftsgewerbe von der Pike auf erlernte und zwanzig Jahre nach seiner Einwanderung einen Àorierenden Weinhandel eröffnete. 1870 waren seine Weinkeller mit angeschlossenem Restaurant über zwei Etagen schon 25.000 Dollar wert.95 Neben der ethnischen ist es auch auf die sozioökonomische Homogenität dieser Einwanderer zurückzuführen, dass es innerhalb der deutschen Bevölkerung Cincinnatis zu gemeinschaftlichen landsmannschaftlichen Ansiedlungen in bestimmten Stadtvierteln kam. So entstand in den 1860er Jahren beispielsweise eine Ansiedlung von 53 Einwanderern aus Tuningen (nahe Schwenningen), die nach dem großen Brand in ihrem Heimatdorf 1860, durch den knapp die Hälfte aller Gebäude im Ort vernichtet und etwa tausend Personen obdachlos geworden waren96, nach Cincinnati zogen. Diese Stadt war 95 96
Vgl. Tenner, Cincinnati, 116 f. Vgl. Martin, Der große Brand von 1860, in: Tuningen, 58–70.
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ihnen bekannt, weil dort bereits in den 1850er Jahren Tuninger ansässig geworden waren. Zu ihnen gehörte eine der drei Familien, die sich Ende der 1840er Jahre im 35 Meilen südlich von Cincinnati gelegenen Pendleton County in Kentucky niedergelassen hatten, aber später nach Cincinnati weiterzogen, sowie einige verheiratete und unverheiratete Männer. Den Kern der Tuninger Gemeinschaft in Cincinnati bildeten neun Familien, unter ihnen vier große Bauernfamilien. Durch Briefe aus Amerika, die sie per Post verschickten, oder – wie im Falle der Tuninger Bauersfrau Anna Link97 – einem nach Württemberg zurückkehrenden Migranten („er ist von Schwenningen, sein Name ist Mauthe, er ist ein guter Bekannter von uns“98) – mitgaben, hielten sie Kontakt in ihr Heimatdorf. Aus einem Brief der Anna Link geht hervor, dass es den Verwandten in Cincinnati gut ging und ein Schiffsbillet für einen weiteren Nachwanderer aus Tuningen gelöst werden konnte. Es heißt hier: Ich muss die Feder ergreifen, um Euch ein bar Zeilen zu schreiben, lieber Vatter und Geschwister, Schwager und Schwägerin. […] Der Werner wird jetzt akordiert für seinen Bruder. Es wird nicht mer lang gehen, so wird er bey uns sein. Ihr könnet ihm vieles mintlich sagen, er kann alles ausrichten. Wir und der Werner u. seine Fammilie wohnen in einem Haus bey unserem Fritz; er hat ein großes Haus. Ich will Euch kurz das Verhältniß unserer Familie schreiben, wir sind Gott sey Dank alle gesund; es geht bey allen ziemlich gut.
Da die Familie Link – wie auch die anderen Tuninger Bauernfamilien – mit einigem Geldvermögen nach Cincinnati gekommen war, konnte der Sohn Fritz schon einige Jahre nach seiner Einwanderung eine Wirtschaft mit angeschlossenem Lebensmittelmarkt betreiben. Vater und Bruder arbeiteten in einer Geldschrankfabrik. Obwohl es der Familie in der Stadt „ziemlich gut“ ging, blieben nicht alle Mitglieder in Cincinnati. Die Eltern Link folgten mit Tochter, Schwiegersohn und einer anderen Tuninger Familie dem Aufruf der Kolonisationsgesellschaft des deutschen Kaufmanns Johann G. Cullmann, der von einer Eisenbahngesellschaft in Alabama 350.000 acres unerschlossenes Land zu einem Preis von einem Dollar pro acre gekauft hatte und dasselbe nun für das Doppelte an Kolonisten weiterzuverkaufen gedachte.99 1873 legte Cullmann in Norden von Alabama den nach ihm benannten, aber amerikanisiert buchstabierten Ort Cullman an und gründete dort im Folgejahr eine reformierte Kirchengemeinde, der Glaubensrichtung der eingewanderten Tuninger, die sich kurze Zeit später in Cullman County niederließen. Die Tuninger Siedlung in Cincinnati konnte diesen Abgang aber zahlenmäßig verkraf-
97 98 99
Brief der Anna Link aus Cincinnati, Ohio, vom 10.8.1871 an ihre Verwandten in Tuningen (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 224). Ebd. Vgl. Vortrag „The Founding of Cullman and Cullman County“ von Philip G. Hartung. http://chs.cullmancats.net/cullman.htm (kontaktiert am 3.2.2009).
5.4 Metropolen
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ten, da die nachfolgende Einwanderergeneration das städtische Leben dem ländlichen vorzog und die Gemeinschaft durch Geburten anwuchs. Die Bevölkerung Cincinnatis setzte sich aber nicht nur aus weitgehend sesshaften Migrantengruppen wie den Tuningern zusammen, sondern war in erheblichem Maße durch Zu- und Abwanderung ständig im Austausch begriffen. Durch den Zensus mit seinem Zehnjahresraster lässt sich diese Fluktuation nicht detailliert erfassen. Trotzdem bieten die Zensuslisten der Jahre 1850, 1860, 1870 und 1880 einen Einblick in die Rolle Cincinnatis bei der Binnenmigration württembergischer Einwanderer. Zwei unterschiedliche Tendenzen sind festzustellen: Cincinnati hatte durch seine Stellung als zentrales Handels- und Fabrikzentrum im unteren Mittelwesten erheblichen EinÀuss auf das Umland, mit dem es Waren und Dienstleistungen austauschte. Anhand der Niederlassungsorte von Württembergern aus dem Untersuchungsgebiet in zwei folgenden Zensuserhebungen wird deutlich, dass das Hinterland dieser Metropole bis nach Indiana und Kentucky reichte. Mit den im Umkreis von etwa hundert Meilen gelegenen Städten Madison in Indiana, Louisville und Covington in Kentucky und Hamilton in Ohio sowie dem 35 Meilen südlich gelegenen Pendleton County in Kentucky tauschte Cincinnati Migranten aus, d. h. die Migration mit dem Umland verlief in beide Richtungen. Andere Binnenwanderer, die sich in einer Zensusperiode in Cincinnati niedergelassen hatten, stammten z. B. aus dem Einzugsgebiet der OhioZuÀüsse in Pennsylvania. Bei den Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Cincinnati betrug das Verhältnis von Zu- und Abwanderung eins zu zweieinhalb, d. h. elf Zuzüge standen 26 Wegzügen gegenüber. Das liegt daran, dass neben der Weiterwanderung der Migranten ins erweiterte Umland Ziele angesteuert wurden, denen die Stadt Cincinnati ihren Spitznamen „Königin des Westens“ verdankte. Zu allen Zeiten war Cincinnati auch Etappe auf dem Weg in die Farmgebiete jenseits des Mississippi. So war es 1851 der Ausgangspunkt für einen Treck nach Kalifornien, dem sich die beiden Aldinger Brüder Elias und Jacob Gruhler mit ihren Familien und mit ihrem Schwager Andreas Rath und dessen Familie anschlossen. Mit acht Ochsenkarren begaben sie sich auf eine 105-tägige Überlandreise nach Sacramento, wo sie nach zweijähriger Anstellung in einem Lebensmittelgeschäft und einer Brauerei eine eigene Brauerei eröffneten.100 In Cincinnati hatte Jacob Gruhler dafür eine gut gehende Kaffeewirtschaft aufgegeben, sein Bruder Elias in Pendleton County, Kentucky, seine Farm verkauft. Die Weiterwanderung der Migranten von der Schwäbischen Alb aus Cincinnati führte aber nur in Einzelfällen über die Rocky Mountains, sondern viel häu¿ger in den Weizengürtel jenseits des Mississippi im oberen Mittelwesten 100 Vgl. die Biographien von John und Elias Gruhler in: Sacramento County History, 567 f., 793 f.
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und in den Great Plains. Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet, die einige Jahre in Cincinnati verbracht hatten, zogen in den 1850er Jahren in ländliche Gebiete in Iowa weiter, später auch nach Kansas oder North Dakota. So wanderten beispielsweise fünf Familien von Bauhandwerkern aus dem Dorf Ratshausen im Oberamt Spaichingen, die 1869 nach Nordamerika gekommen waren und zehn Jahre lang in Cincinnati gelebt und gearbeitet hatten, Ende der 1870er Jahre nach Kansas weiter, um dort Farmer zu werden. 5.4.2 New York City In einem noch viel größeren Maße als Cincinnati war New York als Tor zur Neuen Welt Durchgangsstadt für württembergische Einwanderer. Von den mehr als viertausend Migranten aus dem Untersuchungsgebiet, die bis 1880 im New Yorker Hafen eintrafen, wurden nur etwa dreihundert in einem Zensusjahr zwischen 1850 und 1880 dort als Einwohner gezählt. Wie beschrieben, verließ der Großteil der Neuankömmlinge die Stadt binnen weniger Tage wieder und zog ins Landesinnere weiter. Diejenigen, die in der Stadt New York blieben, gehörten nicht zu den agrarisch geprägten Migranten, denn diese gingen zumeist sofort in ländliche Gebiete oder Kleinstädte, wo sie durch Lohnarbeit Geld für den Aufbau einer Farm verdienen konnten. New York hatte bereits 1850 über eine halbe Million Einwohner und wurde in den 1870er Jahren zur Millionenstadt. Unter den Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet gab es – wie in den anderen Großstädten an der Ostküste Nordamerikas – den geringsten Anteil an anoder ungelernten Arbeitskräften.101 Generell wurden die nordamerikanischen Metropolen von Angehörigen württembergischer Unterschichten gemieden. Zu stark war gerade in New York City die Konkurrenz irischer Einwanderer in den untersten Segmenten der beruÀichen Hierarchie, also der unquali¿zierten körperlichen Arbeit. Stattdessen bot die größte Stadt Nordamerikas als Fertigungszentrum zahlreicher Industrien gerade quali¿zierten Facharbeitern unter den württembergischen Einwanderern viele Arbeitsplätze, vor allem in der Bekleidungsindustrie und im Maschinenbau. Von Schuhmachern und Schneidern heißt es in einem Auswandererbrief, dass diese gar nicht bis ins Landesinnere ziehen müssten, weil sie in der Stadt direkt nach ihrer Ankunft schon Arbeit fänden.102 Die geringe Anzahl von Württembergern aus dem Untersuchungsgebiet, die sich in den 1840er Jahren in New York City ansiedelten und bei der Nach101 Umgekehrt galt: Je kleiner die nordamerikanische Stadt war, desto größer war der Anteil der ungelernten Arbeiter unter den württembergischen Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet. 102 Vgl. dazu den Brief des Mahlstetter Auswanderers Jakob Aicher vom 29.10.1848 aus Philadelphia, abgedruckt im Heuberger Boten Nr. 296 ff., 23.12.–30.12.1989.
5.4 Metropolen
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wanderung von Familienmitgliedern oder Dorfgenossen eine erste Anlaufstelle waren, nahm in den 1850er Jahren stark zu. 1860 hatte New York City Cincinnati den Rang als bedeutendstem Siedlungsort der Migranten von der Schwäbischen Alb abgelaufen. Der Zusammenhalt der New Yorker Einwandererschaft aus dem Untersuchungsgebiet beruhte jedoch mehr auf der Wahl eines bürgerlich-urbanen Lebensstils als auf gemeinsamen Herkunftsorten. Es verwundert daher kaum, dass die Auswanderer aus der Stadt Tuttlingen den größten Anteil daran hatten. Die Oberamtsstadt war schließlich die größte Gemeinde des Untersuchungsgebietes und hatte nur einen sehr kleinen agrarisch orientierten Bevölkerungsteil. Zudem hatte das Tuttlinger Bürgertum in der gescheiterten Revolution von 1848/49 eine Niederlage erlitten und suchte nun eine andere Wirkungsstätte, wo es seine freiheitlich-demokratischen Vorstellungen besser umsetzen konnte. Eine der dominierenden Persönlichkeiten der siebzigköp¿gen Tuttlinger Einwanderungsgruppe war der Buchhändler Sixt Ludwig Kapff – ein jüngerer Bruder des Prälaten Sixt Karl Kapff, der in der Stuttgarter Stiftskirche predigte. 1848 hatte er den Volksaufstand in Tuttlingen organisiert und war nach dessen Niederschlagung durch preußische Truppen als Führer der Tuttlinger Bürgerwehr verhaftet worden.103 Seinen zahlreichen Anhängern gelang es, ihn aus dem Tuttlinger Stadtgefängnis zu befreien, woraufhin er sich zunächst in der nahen Schweiz versteckt hielt. 1852 wanderte er mit seiner Frau und fünf Kindern nach Amerika aus und wählte New York City als Ansiedlungsort. Dort wurde er Hotelier und Besitzer der Lion Park Brewery in der Bowery in Manhattan, einem Gravitationspunkt deutscher Einwanderer und auch Anlaufstelle von Tuttlinger Nachwanderern, von denen einige bei ihm Unterkunft und VerpÀegung erhielten und in seinem Hotelbetrieb Beschäftigung fanden. Tuttlinger Erstsiedler in New York City war der Säcklermeister Jakob Andreas Grieb, der mit Ehefrau und zwei Töchtern im Frühjahr 1848 nach Nordamerika auswanderte und in der Ankunftsstadt verblieb. Dort arbeitete er 1850 als Schneider, verzog aber in den 1850er Jahren vorübergehend über den East River nach Brooklyn. Seine jüngere Tochter heiratete dort 1859 Jakob Georg Hunzinger, einen 1855 ausgewanderten Tuttlinger Schreiner, der in New York City zu einem bedeutenden Möbelfabrikanten aufstieg.104 Als dieser 1865 in die amerikanische Staatsbürgerschaft aufgenommen wurde, bezeugte mit dem Schuhmacher Martin Henke ein Anfang der 1850er Jahre eingewanderter anderer Tuttlinger in New York City die Richtigkeit der gemachten Angaben.105 Bei Henkes Einbürgerung 1859 war Sixt Ludwig Kapff der 103 Vgl. Bilgen, Der Sturm, 29 f. 104 Harwood, Furniture of George Hunzinger. 105 www.ancestry.com: Index to Petitions for Naturalization ¿led in Federal, State, and Local Courts located in New York City, 1792–1989. Hier: Einbürgerung von George Hunzinger vom 16.10.1865 vor dem Superior Court, New York County, vol. 149 no. 123.
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Zeuge gewesen.106 Aus seinen Antragspapieren geht hervor, dass Henke und Kapff dieselbe Adresse aufwiesen. Diese Beispiele verdeutlichen den engen Zusammenhalt unter den Tuttlinger Migranten in New York City und belegen gleichzeitig, dass es in einer Großstadt wie New York City ebenso zu einer gemeinschaftlichen Siedlungsbildung kommen konnte wie in einer Kleinstadt wie Muscatine oder in einer Mittelstadt wie Detroit. 5.5 SYNOPTISCHE ANALYSE DER SIEDLUNGSBILDUNGSPROZESSE Bei jeder der dargestellten nordamerikanischen Siedlungen konnte ein „Pioniersiedler“ festgestellt werden, der dort als Erster Fuß fasste und durch brieflichen oder persönlichen Kontakt zu den in der Heimat Zurückgebliebenen Nachwanderungen initiierte. In einigen Fällen wie in Altoona oder bei der Besiedlung von Detroit über Ann Arbor kehrten Vorgewanderte nach Württemberg zurück, um Familienmitgliedern oder Dorfgenossen den Weg zu ihrem amerikanischen Niederlassungsort selbst zu weisen. In den meisten anderen Fällen, wie z. B. in Muscatine oder Cincinnati, dürfte der Kontakt brieÀicher Art gewesen sein. Es ist auffällig, dass keiner der untersuchten Ansiedlungsorte von einer gemeinsam ins Land gekommenen Migrantengruppe erstbesiedelt wurde. Stattdessen kam es wie bei den Siedlungen in Wisconsin oder Ontario erst dann zu Gruppen- oder Familiennachwanderungen, nachdem sich der Pioniersiedler an seinem amerikanischen Niederlassungsort fest „verankert“ hatte. Es handelte sich also durchweg um „klassische“ Kettenwanderungen. Der Pioniersiedler wählte seinen Niederlassungsort aufgrund der zum Einwanderungszeitpunkt bestehenden Transport- und Niederlassungsmöglichkeiten jeweils weitgehend zufällig oder nach persönlicher Präferenz. Die wichtigste Rolle spielte dabei zunächst das nordamerikanische Verkehrssystem. Die meisten Erstansiedlungsorte lagen in den 1840er Jahren an wichtigen Binnenwasserstraßen und damit an den damaligen Haupteinwanderungsrouten. Dazu gehörten der Eriekanal (für die Besiedlung von Utica und Wyoming County, New York, sowie Haldimand County, Ontario), die Großen Seen (Dodge und Washington Counties, Wisconsin, und Detroit), der Ohio (Cincinnati, Madison), der diesen mit den Großen Seen verbindende Miamiund-Erie-Kanal (Troy und Auglaize County, Ohio) und der Mississippi (Muscatine und Goodhue County, Minnesota). Daneben spielten private Kolonisationsprojekte (Castros Colony in Medina County) oder staatlich organisierte Landverkäufe (als „Kongressland“ z. B. in Wisconsin oder durch die Canada 106 Ebd., hier: Einbürgerung von John Martin Henke vom 22.4.1859 vor dem Common Pleas Court, New York County, vol. 228 no. 434.
5.5 Synoptische Analyse der Siedlungsbildungsprozesse
179
Company in Ontario) für die Ortswahl eine Rolle. Bei den Industriegebieten gaben Arbeitskräftewerbung und Infrastrukturmaßnahmen (Errichtung von Werkssiedlungen durch privatwirtschaftliche Unternehmungen, wie die Minengesellschaften im Copper Country oder die Pennsylvania Railroad in Altoona) den Impuls zur Ansiedlung. Ländliche Gebiete Charakte- Herkunft und ristika Sozialpro¿l der Migranten in Württemberg Siedlungsorte Agrargebiete Medina County, Aldingen (ev.) Texas Kolonisa- ländliche tionsprojekt in Unterschichten Südwest-Texas (Tagelöhner oder Weber) Haldimand County, Ontario, Kanada ländliches Gebiet am nördlichen Ufer des Eriesees
Dodge und Washington Counties, Wisconsin Agrargebiet westlich der Großen Seen
Auglaize County, Ohio Farmgebiet am Miami-und-ErieKanal im westlichen Ohio
Trossingen (ev.) und Talheim (ev.) ländliche Unterschichten (Tagelöhner, Bauhandwerker, Schuster); nur wenige Bauern Spaichingen (kath.) und kath. Nachbarorte v. a. Bauern und Bauhandwerker (viele Maurer); einige Weber, ein Tagelöhner; wenige andere Handwerker; Mägde Trossingen (ev.) und Talheim (ev.) viele Handwerksmeister und ihre Familien, nur ein Bauer unter zehn Migrantenfamilien
FamilienSozialpro¿l der struktur, Siedler in Einwanderungs- Nordamerika verlauf
mehr Ledige als Familien; mehr Männer als Frauen; später Nachzug von Witwen nahezu ausschließlich Familien, z. T. in Etappen eingewandert
zuerst Landarbeiter, später alle Farmer bzw. Rancher
zumeist kinderreiche Familien, Familienquote bei über 80 %; drei Viertel der Migranten bis 1851 eingewandert
Farmer, viele sofort
Siedlungsentwicklung, weitere Migrationspfade
stabile Siedlung, Einwandererkinder gehen später in die nächste Stadt (San Antonio) fast alle besitzen Ausbreitung in mittelgroße westliche Farmen (50 acres Nachbarcounties und mehr); auch zum Landerwerb, einige ländliche BevölkerungsHandwerker austausch mit der Stadt Buffalo
Familienquote Farmer, viele bei über 80 %; in sofort drei von zehn Fällen Nachwanderung; Hauptansiedlungsperiode 1846–1848
Mitglieder von Großfamilien nach Minnesota oder in andere Farmgebiete in Wisconsin
stabile Siedlung; einige Söhne siedeln in Missouri
180
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Charakte- Herkunft und ristika Sozialpro¿l der Migranten in Württemberg Siedlungsorte Wyoming Talheim (ev.) County, New zwei Drittel York gehören als ländliches Gebiet Tagelöhner oder 30 Meilen östlich Weber den der Stadt Buffalo Unterschichten im Westen des an; ein Drittel ist Staates New York dem ländlichen Bedarfshandwerk zuzurechnen (Schreiner, Wagner, Schmied) Goodhue County, Minnesota Agrargebiet an der nordwestlichen Siedlungsgrenze
Ratshausen (kath.) Migranten vorwiegend Kleinbauern, Maurer und Weber, auch andere ländliche Handwerker (Küfer, Metzger, Zimmermann)
FamilienSozialpro¿l der struktur, Siedler in Einwanderungs- Nordamerika verlauf
Familienquote bei über 80 %, auch einige Witwer; viel Step-Migration mit Familiennachzug, hohe Auswandererquote bei 95 %; Einwanderungszeitraum 1846–1873, Schwerpunkt in 1860er Jahren nur zwei Familien mit 25 Köpfen, von denen die ältesten Söhne schon vorgewandert waren; ansonsten von 1850er bis 1890er Jahren sehr viele ledige Männer und Frauen; 1866–1872 Jahre Hauptperiode der Einwanderung
Siedlungsentwicklung, weitere Migrationspfade
Farmer innerhalb einiger Jahre, z. T. über „Ochsentour“ als Landarbeiter; einige ländliche Handwerker
Siedlung geprägt durch Zu- und Abwanderung mit umliegenden ländlichen Bezirken; in den 1870er Jahren verstärkte Binnenwanderung in weiter entfernte Farmgebiete in Kansas oder Minnesota. Farmer mit Pioniersiedler großen Farmen, hatten Zwischeangestellten netappen in landwirtschaftli- Städten in 1850er chen Arbeitskräf- Jahren; direkte ten und hohen Zuwanderung Erträgen der seit den 1860er Weizenmonokul- Jahren, Abwanturen derung in die nächste Stadt St. Paul setzt verstärkt in den 1880er Jahren ein, z. T. auch in entferntere ländliche Gebiete im Westen
Städtische Gebiete Charakte- Herkunft und ristika Sozialpro¿l der Migranten in SiedlungsWürttemberg orte Kleinstädte Troy, Ohio Neuhausen (ev.) Agrarstädtchen in vorwiegend Südwestohio ländliche Bedarfshandwerker (Schmiede, Schuster, Schreiner)
FamilienSozialpro¿l der struktur; Siedler in Einwanderungs- Nordamerika verlauf
Siedlungsentwicklung, weitere Migrationspfade
je zur Hälfte Familien mit Kindern und Einzelpersonen; Besiedelung seit 1848, in den 1850er Jahren fast abgeschlossen
Migration nach Dayton und Cincinnati; als Farmer in andere Gebiete Westohios
viele kleinstädtische Kleinhandwerker, wenig Geschäftsleute, wenig Beschäftigte in der Landwirtschaft
5.5 Synoptische Analyse der Siedlungsbildungsprozesse
Charakte- Herkunft und ristika Sozialpro¿l der Migranten in SiedlungsWürttemberg orte Muscatine, Iowa Tuttlingen (ev.) Kleinstadt am Städtisches Oberlauf des Bürgertum Mississippi (Gerber, Brauer) Madison, Indiana Kleinstadt am Ohio
Frittlingen (kath.) fast ausschließlich Handwerker, kaum Bauern, kaum Unterschichtenangehörige
FamilienSozialpro¿l der struktur; Siedler in Einwanderungs- Nordamerika verlauf
Siedlungsentwicklung, weitere Migrationspfade
zuerst in den 1840er Jahren große Familien mit erwachsenen Kindern, später ledige Männer viele Ledige, kaum Familien; Haupteinwanderung in 1850er und 1860er Jahren
führende Geschäftsleute in der Stadt (Brauereien, Gerberei)
businessmen verlassen die Stadt gen Süden (St. Louis, Tennessee)
viele Handwerker und Fabrikarbeiter, wenige Geschäftsleute
Wechselbeziehung mit Cincinnati; Abwanderung auch in die Südstaaten
kleine Geschäftsleute Handwerker; Fabrikarbeiter
andere Städte in Upstate-NY (Syracuse); ländliches Iowa, Wisconsin
„Big Business“, Eigentümer von Hotels, Brauereien, Gerbereien oder Beschäftigte darin
vereinzelt Wegzüge in andere Kleinstädte in Michigan (Ann Arbor, Oakland, Jackson)
Mittelstädte Utica, New York Talheim (ev.) mittelgroße Stadt Angehörige der am Eriekanal ländlichen Unterschichten
Detroit, Michigan Großstadt an der kanadischen Grenze Metropolen Cincinnati „Königin des Westens“, Boomtown am Ohio
New York City „Gotham“, größte Stadt Amerikas, nach London zweitgrößte Handelsstadt der Welt, Ankunftsort von 85 % der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet
181
lang anhaltende Einwanderung zwischen 1846 und 1880; je zur Hälfte Familien mit Kindern und Einzelpersonen Tuttlingen (ev.) starke Einwandestädtisches rung in den Bürgertum 1850er Jahren; (Gerber; Brauer); große Familien Metallverarbeimit älteren tung Kindern, aber auch viele Ledige
Tuningen (ev.) Handwerkerfamilien aus Metallund Holzverarbeitung; kaum Unterschichtenangehörige
Hauptperiode der Besiedlung in 1860er Jahren; hoher Familienanteil
Tuttlingen (ev.) Handwerkerfamilien aus den Sparten Bekleidung und Feinmechanik; kaum Unterschichtenangehörige
schwache Ansiedlung in den 1840er Jahren, in den 1850er Jahren stark; Familien und Einzeleinwanderer
Facharbeiter in Metall- und Holzverarbeitung, kaum Hilfsarbeiter
Zwischenetappe bei Weiterwanderung in den oberen Mittelwesten oder ins Umland Cincinnatis nach Indiana und Kentucky kaum BerufsWeiterwanderung wechsel bei selten auf das Handwerkern, Land, sondern einige wohlhaeher in andere bende Geschäfts- Großstädte leute
182
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Industriegebiete Charakte- Herkunft und ristika Sozialpro¿l der Migranten in SiedlungsWürttemberg orte Altoona in Blair Aldingen (ev.) County, viele UnterPennsylvania schichtenangehöEisenbahngrünrige aus dung in Textilindustrie Zentral-Pennsyl- und Tagelöhner; vania wenig Angehörige von Bauernfamilien Houghton und Trossingen (ev.) Keweenaw je ein Drittel aus Counties, der LandwirtMichigan schaft (alle ohne („Copper Landbesitz), Country“) Textilindustrie abgelegene und MetallindustIndustrieregion rie (Harmoam Oberen See; nikamacher) seinerzeit das größte Kupferabbaugebiet der Welt
FamilienSozialpro¿l der struktur; Siedler in Einwanderungs- Nord-amerika verlauf
Siedlungsentwicklung, weitere Migrationspfade
Pioniersiedler 1846, holt 1865 Gruppe von Migranten nach, lang anhaltende Einwanderung in 1880er und 1890er Jahren
fast alle ¿nden im Eisenbahnwesen Beschäftigung
wenige Personen gehen in ländliche Townships in Blair County und arbeiten dort in Fabriken
drei Viertel der Migranten ohne Familien, Arbeitswanderer ausschließlich Männer, viele von ihnen im mittleren Lebensalter (30–40 Jahre) und auf Heimatschein ausgewandert; später z. T. Familiennachzug
Arbeit im Bergbau über und unter Tage (49 Personen als copper miners); kaum Handwerker, aber zwei Farmer und fünf saloonkeeper
Verbleib im Bergbau vor Ort oder Rückkehr nach Trossingen; selten in der Gegend als Farmer oder Homesteading in North Dakota; Weiterwanderung später nach Minnesota, Wisconsin und Montana
Abb. 10: Erforschte Siedlungsorte und Charakteristika der Migranten Quelle: Zusammengestellt vom Verfasser
Die meisten Siedlungen von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika waren in den 1840er Jahren initiiert worden und wuchsen durch Einwanderungen während der Hauptphase der transatlantischen Massenmigration bis zur Mitte der 1850er Jahre schnell. Die damals vor allem durch Einwanderung von der Schwäbischen Alb, teilweise aber auch durch Binnenwanderungen württembergischer Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet stark angewachsenen städtischen Siedlungen in Muscatine, Madison, Utica, Detroit und Cincinnati erreichten um 1870 mit der ersten Generation der Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet ihren Bevölkerungshöhepunkt und erhielten sich danach vornehmlich durch Geburten, während die Erstsiedler verstarben oder durch Binnenwanderungen verzogen. In ländlichen Siedlungen, wo aufgrund der gängigen Vergabepraxis nach Öffnung der Siedlungsgrenze Grund und Boden nur eine kurze Zeit zu einem Preis von 1,25 Dollar pro acre zu haben waren und damit das Zeitfenster der Kolonisation viel kürzer offenstand als in den Städten, kam es innerhalb weniger Jahre
5.5 Synoptische Analyse der Siedlungsbildungsprozesse
183
zur geballten Direkteinwanderung vorwiegend von Familien und dann nur noch vereinzelt zur Nachwanderung von Verwandten aus Württemberg. Wo die Besiedlung erst in den 1860er Jahren begann (Altoona und Copper Country) und sich der industrielle Boom bis in das 20. Jahrhundert fortsetzte, hielten die massenhafte Einwanderung bis in die 1880er und 1890er Jahre und die Nachwanderung bis zum Ersten Weltkrieg an. Die Besiedlungsgeschichte, die hier in 15 Fällen exemplarisch dargestellt wurde, folgte also diesem Zyklus: Nach der Pionieransiedlung kam es kurze Zeit später zur intensiven Zuwanderung, worauf eine Phase der Stagnation und schließlich Ab- oder Weiterwanderung folgten. An dieser letzten Phase war die zweite Einwanderergeneration besonders in den ländlichen Siedlungen wesentlich stärker beteiligt als die erste, obwohl es, wie beispielsweise für Wisconsin gezeigt werden konnte, von dort auch schon nach wenigen Jahren zur Abwanderung von Farmerfamilien nach Minnesota kam. Jede der beschriebenen Agrarsiedlungen hatte enge Beziehungen zu einer nahegelegenen Stadt, über die ein Teil der Einwanderer gekommen war. Eine Generation später nahm sie die Kinder auf, die nicht im Agrarsektor bleiben konnten oder wollten. Diese Rolle spielten Buffalo für die Siedlungen in Ontario und San Antonio in Texas für Medina County. Nur wenige Siedlungsbildungen „scheiterten“, d. h. die Siedlungen lösten sich nach wenigen Jahren durch Wegzug ihrer Bewohner auf. Zu diesen Einzelfällen gehörte die Ansiedlung von Migranten aus mehreren Gemeinden der Oberämter Tuttlingen und Spaichingen in Pendleton County in Kentucky südlich von Cincinnati. Trotz gemeinschaftlicher Kirchengründung der protestantischen Siedler am Ort schwächte die Abwanderung in die nahegelegene Metropole Cincinnati und nach Kalifornien die Siedlung so nachhaltig, dass sie während der 1850er Jahre nur noch schrumpfte, bevor ihr der Amerikanische Bürgerkrieg den Garaus machte. Die Konfession der Migranten spielte nicht nur eine Rolle für das Ausmaß der Beteiligung einzelner Gemeinden aus dem Untersuchungsgebiet an der Nordamerikamigration, sondern auch dabei, ob bzw. wie oft es zu gemeinsamer Siedlungsbildung kam. Es ist auffällig, dass es unter den 15 beschriebenen Siedlungen nur drei gab, die von katholischen Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet gegründet worden waren, obwohl sich die katholischen und evangelischen Nordamerikaauswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen im 19. Jahrhundert zahlenmäßig die Waage hielten. Laut Zensus von 1880 lebten sie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu jeweils knapp 64 % in Orten mit mehr als 2.500 Einwohnern. Dabei siedelten die eingewanderten Katholiken eher vereinzelt oder in Kleingruppen, die sich meist aus erweiterten Familienverbänden zusammensetzten und breit über das Land verstreut waren. Sie siedelten viel zahlreicher an der nordwestlichen Frontier (Wisconsin, Minnesota, Kansas, Nebraska) und waren ebenfalls in Pennsylvania, Indiana und Missouri gegenüber ihren protestantischen Miteinwanderern stark überrepräsentiert. Von diesen hatte sich etwa jeder Fünfte in
184
5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
Michigan niedergelassen, ebenso waren sie in der kanadischen Provinz Ontario und zunehmend in den Neuenglandstaaten stark vertreten. In den urbanen Räumen des Staates New York, wo Protestanten aus Talheim und Tuttlingen in Utica bzw. in der Stadt New York zwei große gemeinschaftliche städtische Siedlungen gebildet hatten, lebten zwar mehr Katholiken aus dem Untersuchungsgebiet als Protestanten, sie verteilten sich aber auch auf deutlich mehr Städte, so dass es dort zu keiner gemeinschaftlichen Siedlungsbildung dieser Katholiken kam. Unter den zehn Großdörfern des Untersuchungsgebietes mit über tausend Einwohnern zu Beginn der Auswanderungswelle von der Schwäbischen Alb zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten fünf eine fast ausschließlich katholische und fünf eine nahezu homogene evangelische Bevölkerung.107 Zusammen mit den beiden Oberamtsstädten, dem evangelischen Tuttlingen und dem katholischen Spaichingen, gab es also unter den 44 Gemeinden des Untersuchungsgebietes zwölf größere Herkunftsgemeinden mit zur Jahrhundertmitte über tausend Einwohnern. Von diesen hatten nur die Katholiken aus Frittlingen in Madison und aus Spaichingen in Wisconsin jeweils eine Siedlungsbildung auf nordamerikanischem Boden zu verzeichnen108, während alle fünf evangelischen Großdörfer und die Stadt Tuttlingen größere gemeinsame Siedlungen in Nordamerika hervorbrachten, im Falle von Aldingen, Talheim, Trossingen und Tuttlingen sogar mehrere. Gerade die verschiedenen, gleichzeitigen, d. h. konkurrierenden Migrationen von Trossingern nach Auglaize County in Ohio, Haldimand County in Ontario und Copper Country in Michigan zeigen, dass in einem Dorf mehrere Wanderungsströme ihren Ursprung nehmen konnten und sich die Migranten dabei ihrer sozialen Position in der Heimatgemeinde gemäß entweder den Wanderungsketten der besitzenden oder der besitzlosen Schichten anschlossen. Derartige Beobachtungen lassen sich jedoch für die Siedlungen des Tuttlinger Bürgertums in Muscatine, Detroit und New York City nicht machen, ebenso wenig wie für die der ländlichen Unterschichtenangehörigen aus Aldingen in Texas oder in Altoona. Hier war wohl die Zugehörigkeit zu einzelnen Verwandtschaftsverbänden dafür ausschlaggebend, welcher Kette die Migranten folgten. In fast allen der zwölf untersuchten Ansiedlungen evangelischer Einwanderer kam es entweder zu Kirchengründungen, oder die Migranten traten bestehenden Kirchengemeinden bei. Zwei Kirchengründungen an Orten, die zu 107 Vgl. Zollvereinsstatistik. Hier Bevölkerungszählung des Zollvereins 1858 in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen. In den Großdörfern lag die konfessionelle Homogenität der Bevölkerung zwischen 98,0 % in Wurmlingen und 100 % in den Heubergdörfern Denkingen und Deilingen. Die Stadt Tuttlingen hatte damals 94,3 % evangelische Einwohner, Spaichingen zu 96 % katholische. 108 Die dritte Siedlungsbildung katholischer Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet geht auf das nur rund siebenhundert Einwohner große Dorf Ratshausen zurück.
5.5 Synoptische Analyse der Siedlungsbildungsprozesse
185
Siedlungsplätzen für Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet wurden (Quihi und Castroville in Medina County sowie Muscatine in Iowa), erfolgten durch württembergische Missionare, die aus den Heimatorten der jeweiligen Siedler stammten. Dabei mögen sich persönliche Momente des Verwandtschaftsnachzugs mit religiösen Auswanderungsmotiven vermengt haben. In der Langzeitbetrachtung ist jedoch festzustellen, dass es an den meisten Orten, wo evangelische Missionare aus Tuttlingen, Tuningen, Talheim oder Aldingen wirkten, nicht zu Nachwanderungen kam. Die freie Religionsausübung nach pietistisch-evangelikalem Ritus – also in einem Gemeindehaus unter Leitung eines Laienpredigers – konnten die protestantischen Migranten ohnehin am besten abseits einer dominierenden Institution wie der württembergischen Landeskirche oder auch des nordamerikanischen Evangelischen Kirchenvereins des Westens praktizieren, der für die Migranten, die neue Freiheiten erwarteten, wie der verlängerte Arm der freudlos-abstinenten heimatlichen Kirchenoberen gewirkt haben mag. Aufnahme fanden die evangelischen Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika vor allem in den deutschsprachigen Erweckungsbewegungen wie der Evangelischen Gemeinschaft (Evangelical Association), die dem schwärmerischen Methodismus näherstanden als dem asketischen Calvinismus. Auf den im Vergleich zum römischen Katholizismus schwächeren institutionellen Rahmen der einzelnen protestantischen Kirchen ist es wohl zurückzuführen, dass Protestanten aus dem Untersuchungsgebiet immer wieder ländliche Ansiedlungen (Auglaize County, Ohio; Haldimand County, Ontario; Copper Country, Michigan) bevorzugten, die nicht durch kirchliche Organisationsformen, sondern durch die Klammer der gemeinsamen Glaubensüberzeugungen von außerordentlicher Stabilität waren. Neben der gemeinsamen Glaubensausübung trugen vor allem Eheschließungen von Migranten aus demselben Herkunftsort zur Stabilität der Siedlungen bei. Dabei richtete sich die Wahl des Partners in den Gemeinschaftssiedlungen im Einwanderungsland wesentlich häu¿ger nach dem Geburtsort als unter den verstreut siedelnden Migranten: Während jeder fünfte gemeinschaftlich siedelnde Württemberger in Nordamerika einen Ehepartner aus seinem Heimatort heiratete, war das bei den verstreut (oder in kleineren Siedlungen) lebenden Eingewanderten nur bei jedem dreizehnten der Fall. Stattdessen heirateten dort 19 % einen gebürtigen Amerikaner, was in den großen Gemeinschaftssiedlungen in Kanada oder den USA nur bei 13 % aller Eheschließungen vorkam. Da viele Einwanderer in gemeinschaftlichen Siedlungen schon in der Heimat miteinander verwandt waren und sich als Familien- und Verwandtschaftsverbände an der Migration beteiligt hatten, wurden so die persönlichfamiliären Bande einer Gemeinschaftssiedlung noch verstärkt. Die Migranten waren dadurch in Nordamerika in ein Netzwerk familiärer Beziehungen eingebettet, das wiederum für Nachwanderer aus der Heimat gute Anknüpfungs-
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5 Migrantensiedlungen in Nordamerika
punkte bot. Die Existenz solcher „Migrationsfelder“109 perpetuierte die Nachwanderung an einzelne Siedlungsorte, bis entweder Wirtschaftskrisen oder Kriege diese Wanderungsbewegungen abrupt stoppten oder demographischer und wirtschaftlicher Wandel, z. B. das Entstehen neuer Arbeitsplätze diesseits oder der Niedergang einzelner Industriezweige jenseits des Atlantiks, die Zuwanderung zu einigen der württembergischen Siedlungen in Nordamerika versanden ließen.
109 Vgl. Gjerde, Following the Chain, 1, 8.
6 ANPASSUNG AN DIE NEUE UMWELT Das Verhalten von Migranten im Einwanderungsland ist stets von ihrer Herkunft geprägt. Die Wissenschaft spricht hier von cultural baggage1, also Normen, Wertvorstellungen und Erfahrungen, die Immigranten aus der Heimat mitbringen und die ihre Verhaltensweisen in der neuen Umwelt beeinÀussen. Am eindrücklichsten zeigt dies das Zögern württembergischer Einwanderer in Kanada, als es darum ging, dem im staatlichen Auftrag vorgehenden Volkszähler (census taker) Angaben über ihre Agrarproduktion zu machen. Sie fürchteten eine Besteuerung, wie sie im Heimatland jahrhundertelang in Form des „Zehnten“ üblich war.2 Bevor die Lebensweltwechsel der gesamten Migrantenpopulation von der Schwäbischen Alb in Nordamerika in sozioökonomischer Hinsicht quantitativ analysiert werden, soll hier die Anpassung der württembergischen Einwanderer an ihre neue Umwelt in verschiedenen Lebensbereichen in ihrer qualitativen Bedeutung erfasst und systematisch auf Anzeichen von kulturellem Wandel oder Kulturerhalt untersucht werden. Im Einzelnen soll überprüft werden, welche Wohn- und Arbeitsbedingungen die Migranten vorfanden, inwieweit und wie schnell sie ihre ökonomischen Verhaltensweisen sowohl in der Landwirtschaft als auch in der städtischen Arbeits- und Geschäftswelt Nordamerikas den Erfordernissen des Marktes anpassten, in welchem Maße sich durch den Lebensweltwechsel ihre Familienbeziehungen veränderten, inwieweit ihr religiöses Leben und ihre Muttersprache einen Hort der kulturellen Beharrung bildeten und inwiefern sie am gesellschaftlichen und politischen Leben des Aufnahmelandes partizipierten. Dabei wird herausgearbeitet, welche Lebensweltbrüche die Migration für den Einzelnen nach sich zog, aber auch welche Kontinuitäten es gab.
1
2
Vgl. Rutman/Rutman, A Place in Time. Der Begriff des „cultural baggage“ wurde von Darrett B. Rutman in seiner Arbeit über europäische Siedler im kolonialen Nordamerika in der wissenschaftlichen Diskussion thematisiert. „Cultural baggage“ bezieht sich in der Migrationsforschung auf die Tendenz, dass Denken, Sprache und Verhalten von der Herkunftskultur so unbewusst durchdrungen sind, dass bei einem Wechsel in eine andere Kultur die aus der eigenen Kultur stammenden, unbewusst tradierten Grundannahmen die Interaktion mit der neuen Kultur erschweren können. 1861 Census of Ontario, District Huron South, Subdistrict Hay, 4th Ward, Agricultural Schedules (Micro¿lm roll C-1038), 159: „As a general thing, I think the quantities [of the crops, J. K.] nearly correct, if anything the number of bushels are rather below than above the actual numbers as I have had a great deal of trouble in convincing them that it is not for purposes of taxation.“ (Kommentar des census taker, Hervorhebung des Verfassers).
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6 Anpassung an die neue Umwelt
6.1 LEBENS- UND ARBEITSBEDINGUNGEN Nach ihrer Ankunft in Nordamerika wurde etwa die Hälfte der eingewanderten württembergischen Landbevölkerung zu städtischen deutschamerikanischen Arbeitskräften3, von denen sich nicht wenige erst an die modernen Fertigungsmethoden der industriellen Arbeitswelt gewöhnen mussten. Für einige gehörte auch die Enge einer überbelegten Mietwohnung eines mehrstöckigen Hauses in den dicht besiedelten Einwanderervierteln amerikanischer Großstädte oder einer Barackensiedlung am Rande amerikanischer Metropolen zur Realität ihrer neuen Lebenswelt. Wieder andere Migranten zogen in ländliche Gebiete Nordamerikas in der Absicht, dort einen bäuerlichen Lebensstil fortzusetzen bzw. zu führen, und waren trotzdem gezwungen, sich an veränderte Gegebenheiten anzupassen. Auf der Schwäbischen Alb hatten sie als Teil der Dorfgemeinschaft in geschlossenen Siedlungen in einer alten Kulturlandschaft gelebt, und viele von ihnen hatten die für die meisten Gebiete Südwestdeutschlands typische Form der Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben. In Nordamerika war etwa ein Viertel der eingewanderten Deutschen im Agrarsektor tätig, davon wiederum waren drei Viertel Farmer geworden.4 Dies konnte bedeuten, dass sie nun z. B. weit entfernt vom nächsten Nachbarn in einer Blockhütte an der Siedlungsgrenze auf einem großen Stück Land lebten, das für den Anbau erst urbar gemacht werden musste. Auch war der wirtschaftliche Erfolg mitunter von der Einführung neuer Produkte oder der Anpassung an veränderte Arbeits- und Anbaumethoden abhängig. Eben noch der traditionellen Subsistenzwirtschaft verhaftet, betrieben die Einwanderer aus den schwäbischen Dörfern in Nordamerika jetzt marktorientierte Landwirtschaft. So kultivierten beispielsweise in Goodhue County, Minnesota, die Einwanderer aus Ratshausen in noch größerem Maße als ihre angloamerikanischen Nachbarn auf achtzig Prozent der AnbauÀächen ihrer Farmen Weizen.5 Nach dem Zensus vom 1. Juni 1850 lebten 85 % der US-amerikanischen Bevölkerung auf dem Land, wohingegen etwa die Hälfte der deutschen Ein-
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Nach dem Zensus von 1850 waren 218 von 428 Einwanderern aus den Landgemeinden des Untersuchungsgebietes (also den Dörfern ohne die Städte Tuttlingen, Spaichingen, Fridingen und Mühlheim) in amerikanischen Orten mit mehr als 2.500 Einwohnern ansässig geworden. Das entspricht einer Quote von 51,0 %. Etwa die Hälfte (45,5 %) dieser im urbanen Nordamerika ansässig gewordenen Einwanderer – und damit ein knappes Viertel der 428 aus dem ländlichen Württemberg stammenden Gesamteinwanderer – lebte im Einwanderungsland in Metropolen mit über 75.000 Einwohnern. Berechnet vom Verfasser aus dem Compendium of the Ninth Census 1870, 604 f. Demnach waren 224.531 (= 26,8 %) der 836.418 unter 1.611.781 deutschen Einwanderern, für die Berufsangaben im Zensus vorlagen, im Agrarsektor beschäftigt, 159.114 (= 70,8 %) davon als „farmers and planters“. Manuscripts of the 1880 U. S. Agricultural Census für Goodhue County, Minnesota.
6.1 Lebens- und Arbeitsbedingungen
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wanderer in Städten lebte.6 In Anbetracht der Tatsache, dass im 19. Jahrhundert die Landbevölkerung das Gros der deutschen Nordamerikaauswanderer ausmachte, für eine große Zahl der eingewanderten Deutschen die Anpassung an das Leben in der Neuen Welt aber in den nordamerikanischen Städten begann, traten bei den meisten von ihnen Brüche und Diskontinuitäten in vielen Lebensbereichen – vor allem beim Wohnen und Arbeiten – auf. Der folgende Briefauszug eines schwäbischen Einwanderers aus der Kleinstadt Schenectady im Staat New York von 1860 zeigt dies: Der Johan mußte erst eine harte Zeit durch machen. Er wahr noch nicht lange hier im Land, da lagen auf einmahl alle Fabriken still, und ein jeder Arbeitsmann war auser Verdienst. Bei dieser so schlechte Zeit, wahr mancher Handwerker froh, wenn er Arbeit bekahm, die er noch nie gethan hatte, wen er nur sein Eßen verdienen konnte. So war es auch mit Johan. Er war die Sprache nicht mächtig, kein Geld hatte er nicht mehr, kein Verdienst auch nicht, und so mit war er gezwungen Arbeit zu thun die er in seinem Leben noch nicht gethan hatte, aber dennoch ehrlich und redlich, den wer fromm, verständig, threu und redlich ist, dem darf es nicht bange sein, wen er auch sein Vaterland verlaßen, und in fremde Länder ziehen muß.7
Trotz der hohen Immigration in städtische Gebiete zeigt in Tab. 24 ein Vergleich der Bevölkerungsdichte im Ursprungsgebiet auf der Schwäbischen Alb mit der in den Counties, in denen die Migranten aus dem Untersuchungsgebiet laut Zensus von 1850, 1860 und 1870 wohnten, dass rund zwei Drittel dieser Migranten im Einwanderungsland in teilweise deutlich schwächer besiedelten Gebieten lebten als in Württemberg. Während das Untersuchungsgebiet 1849 eine Bevölkerungsdichte von 84 Einwohnern auf den Quadratkilometer hatte – die Extreme waren hier die Gemeinde Irndorf mit 38 Einwohnern pro Quadratkilometer und die Stadt Tuttlingen mit 154 Einwohnern pro Quadratkilometer –, lebten 1850 drei Viertel der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in US-amerikanischen Counties oder kanadischen Distrikten mit einer Bevölkerungsdichte von unter fünfzig Einwohnern pro Quadratkilometer. Trotz rapiden Bevölkerungswachstums innerhalb Nordamerikas stiegen die Anteile derjenigen Migranten, die in schwach bevölkerten Gebieten siedelten, im Zeitablauf zwischen 1850 und 1870 nur langsam an, da viele Neueinwanderer und vor allem viele bereits in Nordamerika be¿ndlichen Binnenwanderer von der Schwäbischen Alb in die Farmgebiete des schwächer besiedelten Westens oder sogar bis an die Siedlungsgrenze zogen. 6
7
Vgl. Compendium of the Seventh Census 1850, 123. Hierin ist der Anteil der deutschen Einwanderer, der sich am Zensusstichtag 1. Juni 1850 in 38 ausgewählten US-amerikanischen Mittel- und Großstädten mit über 15.000 Einwohnern aufhielt, mit 36,4 % angegeben. Dabei wurden bedeutende Städte mit einem teilweise großen deutschen Bevölkerungsanteil wie z. B. Brooklyn, Buffalo, Rochester, Pittsburgh, Utica und San Francisco nicht berücksichtigt. Brief des Johann Evangelist Butsch und seiner Frau Maria vom 19.3.1860 aus Schenectady, New York, an Vater und Geschwister in Wurmlingen, Oberamt Tuttlingen (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 202).
190
6 Anpassung an die neue Umwelt
Tab. 24: Verteilung der Migrantenpopulation aus dem Untersuchungsgebiet nach der Bevölkerungsdichte ihrer Niederlassungsorte in Nordamerika auf der County-Ebene
Einwohner pro § Einwohner 1850/51 1860/1861 1870/1871 BevölkerungsQuadratkilometer pro dichte [EW pro km²] square mile [in %] [in %] [in %] unter 2,5
unter 6
4,3
6,2
3,7
niedrig
2,5 – 10
6 – 26
24,8
17,9
16,3
niedrig
10 – 25
26 – 65
30,8
34,2
28,1
niedrig
25 – 50
65 – 129
12,8
20,0
16,7
niedrig
50 – 75
129 – 194
2,1
5,2
12,9
mittel
75 – 100
194 – 259
2,1
2,8
1,8
mittel
100 – 200
259 – 518
11,8
1,9
3,3
mittel
200 – 500
518 – 1295
3,6
4,8
8,5
hoch
500
1295
7,6
7,0
8,9
sehr hoch
Quelle: Vom Verfasser zusammengestellt nach dem U. S. Manuscript Census, Census of Ontario bzw. Census of Canada.
Auch auf dem Land hatten sich Einwanderer, selbst jene ländlichen Ursprungs, in großem Maße auf neue Lebens- und Arbeitsbedingungen einzustellen. Die Solidarität der heimischen Dorfgemeinschaft war teilweise der Vereinzelung und individuellen Eingewöhnung an die Zustände an der Siedlungsgrenze gewichen. Dort hatten viele Einwanderer nicht nur mit den Herausforderungen der ungewohnten Landesnatur und den Widrigkeiten des Klimas zu kämpfen – in Texas beispielsweise bedrohte das semiaride Klima mit seinen Trockenperioden und Hitzewellen die Existenz der Siedler, andernorts waren es Schneestürme, Tornados, Überschwemmungen oder Heuschreckenplagen8 –, sondern sie sahen sich zum ersten Mal in ihrem Leben mit den Folgen der Abwesenheit staatlicher Institutionen konfrontiert. So erlebten die württembergischen Einwanderer in Texas an der militärisch noch unzureichend geschützten Siedlungsgrenze bis in die 1860er Jahre unruhige Zeiten, weil immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Indianern aufÀackerten.9 Im ländlichen Nordamerika, wo im 19. Jahrhundert die Entfernungen zu den Nachbarn weit und die Kommunikation deswegen schwierig war, waren die Primärbeziehungen innerhalb der Familie oder des Haushalts wichtiger als 8 9
Vgl. die Biographie des Aldinger Einwanderers Andrew Hengstler im Compendium of History, 731 f. Für Viehverluste durch Diebstahl oder Tötungen, welche die Siedler in Texas glaubhaft auf Indianerangriffe zurückführen konnten, wurden diese vom texanischen Staat entschädigt.
6.2 Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken
191
in der Stadt. Man war viel mehr auf sich selbst gestellt.10 Hier bot die gemeinsame Ansiedlung den Einwanderern eine starke Gemeinschaft, zumal durch den geringeren Grad an Arbeitsteilung auch die soziale Differenzierung nicht so ausgeprägt war. Auch konnten sie einander beistehen, da kirchliche oder gesellschaftliche Institutionen seltener vorhanden waren. Nach Tab. 24 lebten 1850 nur 11,2 % der aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Württemberger in dichter besiedelten Gebieten als in der Heimat. Dazu gehörten damals die Großstädte an der Ostküste wie New York, Brooklyn und Philadelphia sowie deren Vorstädte. Diese Einwanderer von der Schwäbischen Alb, die in der Heimat oft noch mit ihrem Vieh unter einem Dach zusammengelebt hatten, wohnten nun in Großstädten in aufgemauerten mehrstöckigen Wohnhäusern mit teilweise bis zu zwanzig Familien unter einem Dach. Die Enge des Wohnraumes in den amerikanischen Metropolen oder die Weite und Einsamkeit der Prärie zu ertragen, waren die Extreme der veränderten Lebensbedingungen, an die sich europäische Einwanderer in Nordamerika anpassen mussten. 6.2 ETHNOSPEZIFISCHE UND ADAPTIERTE AGRARPRAKTIKEN Wer die vorzugsweise von Deutschen bewohnten Ansiedlungen durchwandert, erstaunt über die zum Theil großen, mit europäischer Sorgfalt und Accuratesse gehaltenen Farmen, die üppigen Saatfelder und Wiesen, den zahlreichen kräftigen Viehstand; alles deutet hier auf solide Wohlhabenheit; […] alles arbeitet, aber nicht in der althergebrachten Weise, welche die Arbeit zur aufreibenden Plackerei macht. Die eigenthümliche Art des Feldbau’s [sic!], die VortrefÀichkeit der vielen dabei gebrauchten Ackerbaugeräthe erleichtern die Mühe unendlich. […] Die Bewohner dieser reichen, im Sommer großen prangenden Gärten gleichenden Farmdistricte sind nicht als Kapitalisten herübergekommen, aber es jetzt vielfach geworden.11
Diese Beschreibung deutscher Ansiedlungen in Wisconsin stammt aus einer Werbe- und Informationsschrift, mit der das staatliche Einwanderungsbüro in Milwaukee 1868 den nach Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges wieder anschwellenden Strom deutscher Immigranten nach Wisconsin zu lenken versuchte. Deutsche Sorgfalt gepaart mit der innovativen Technik und dem kapitalistischen Geist Amerikas, so wurde dabei glauben gemacht, verhießen das Paradies auf Erden – oder wenigstens das Eden zwischen Michigansee und Mississippi. Dass in der Neuen Welt „der arme Einwanderer“ zum „wohlhabenden Farmer“ werden konnte und vielfach auch geworden ist, wie das Einwanderungsbüro konstatierte12, ist bereits untersucht und belegt worden. Hier soll 10 11 12
Vgl. Conzen, Historical Approaches, 5. Wisconsin, 3. Ebd. 4.
192
6 Anpassung an die neue Umwelt
auf die im einleitenden Zitat angedeuteten unterschiedlichen landwirtschaftlichen Praktiken eingegangen werden, die in Nordamerika zwischen kontinentaleuropäischen Einwanderern und ihren angloamerikanischen Nachbarn immer wieder festgestellt wurden.13 Aber war es wirklich so, dass Einwanderer, die 1868 nicht länger als zwanzig Jahren im Lande gewesen sein dürften, nicht mehr in der traditionellen Subsistenzwirtschaftsweise arbeiteten, sondern stattdessen nach Pro¿t strebten? Die Urlisten14 des U. S. Agricultural Census für 1850, 1860, 1870 und 1880 geben auf Basis einzelner Farmen detailliert Auskunft über Geldwert des Besitzes, Zusammensetzung des Viehbestandes, Bodennutzung und Ernteerträge. Daher ist es nicht nur möglich, ethnospezi¿sche Agrarpraktiken – also Unterschiede im Betreiben der Landwirtschaft zwischen deutschen Einwanderern und ihren angloamerikanischen Nachbarn –herauszuarbeiten, sondern auch die Anpassungsprozesse der württembergischen Farmer an dortige landes- oder regionalspezi¿sche Agrarpraktiken im Zeitablauf zu analysieren. Die hierzu herangezogene Untersuchungseinheit ist die eines township15. Dessen Kleinräumigkeit soll Umweltfaktoren (wie Schwankungen in Klima und Bodenbeschaffenheit) sowie EinÀüsse der Politik oder des Marktes (Abnahmepreise und Produktionskosten) stabil halten, so dass die ethnische Zugehörigkeit der Farmer und die Anzahl der Jahre, die sie zum Zeitpunkt des Zensus im Lande sind, die einzigen unabhängigen Variablen bilden. Für die beiden hier näher untersuchten Townships, Duchouquet in Auglaize County im westlichen Ohio und Herman in Dodge County im südöstlichen Wisconsin, sind die Einwanderungsjahre der dortigen Farmer im Einzelnen nicht bekannt. Aus der jeweiligen Besiedlungsgeschichte lässt sich aber ableiten, dass sich seit 1809 mit der Gründung einer Quäkermission auf dem Gebiet des späteren Duchouquet Township dort permanent weiße Siedler niedergelassen haben. Die Einwanderung Deutscher setzte dort in den 1830er Jahren ein. Seit 1840 siedelten in Duchouquet und einem benachbarten Township Württemberger aus dem Oberamt Tuttlingen. Damit waren angloamerikanische Farmer in Duchouquet Township bereits eine Generation länger vor Ort als deutsche. Angesichts der Tatsache, dass nur ein knappes Drittel der in die Untersuchung einbezogenen angloamerikanischen Farmer in Duchouquet Township im Staat Ohio geboren war, während die anderen größtenteils aus 13
14 15
Gutman u. a., German-origin Settlement. Für einen Vergleich zwischen Norwegern und Angloamerikanern siehe Gjerde, From Peasants to Farmers. Für einen Vergleich zwischen (Russland-)Deutschen und Angloamerikanern siehe Baltensperger, Agricultural Change. Für einen Vergleich zwischen Deutschen, Angloamerikanern und angloamerikanischen Sklavenhaltern siehe Jordan, German Seed in Texas Soil. Diese Urlisten (U. S. Manuscript Census) sind die originalen handschriftlich geführten Listen als (mikrover¿lmte) Primärquelle, also keine Quellenedition. Gebietskörperschaft unterhalb der County-Ebene, einer württembergischen Gemeinde vergleichbar.
6.2 Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken
193
Pennsylvania und Virginia stammten, wird deutlich, dass sich unter dem angloamerikanischen Bevölkerungsteil viele Binnenwanderer befanden. In Wisconsin begann die Besiedelung des südöstlichen Landesteiles, in dem auch Herman Township liegt, für Amerikaner wie Deutsche in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre etwa gleichzeitig mit der Öffnung der nordwestlichen Siedlungsgrenze. Wegen seiner Aufnahme in die Union im Jahr 1848 ¿ng die amerikanische Regierung an, dort bundesstaatlichen Landbesitz (public domain) zu sehr günstigen Bedingungen abzugeben. Wisconsin wurde zu einem der begehrtesten Ziele für deutsche Immigranten wie auch für amerikanische Binnenwanderer, die den Staat vom Osten des Landes aus bequem auf dem Wasserweg über den Hudson, Eriekanal und die Großen Seen erreichen konnten. Nach dem Zensus von 1850 waren knapp fünf Sechstel der amerikanischen Farmer in Herman Township im Staat New York geboren, die restlichen in den Neuenglandstaaten. Anhand eines Vergleiches der württembergischen mit den angloamerikanischen Farmen im Hinblick auf Größe und Ausstattung, Zusammensetzung des Viehbestandes und landwirtschaftliche Produktion soll in den nachfolgenden Tabellen die zunächst unterschiedliche, später sich einander annähernde Art und Weise herausgestellt werden, in der Angloamerikaner und Württemberger in Nordamerika Landwirtschaft betrieben. Vorab sei zum besseren Verständnis der Tabellen auf Folgendes hingewiesen: Solange nicht anders angezeigt, handelt es sich bei den in den Tabellen angegebenen einzelnen Werten stets um den Median. Ist die ganze Zeile kursiv gesetzt, handelt es sich um das arithmetische Mittel. Sind zwei Werte pro Spalte aufgeführt, gibt die linke Zahl den Median an, die eingeklammerte Prozentangabe rechts den Prozentsatz der Farmen, für die in der jeweiligen Kategorie überhaupt ein Wert ermittelt werden konnte. „Wert der Obstgärten: $10 (50 %)“ bedeutet zum Beispiel, dass der mittlere Wert (oder Median) der Obstgärten bei zehn Dollar lag, dass aber nur fünfzig Prozent der Farmen einen Obstgarten hatten. Das Sonderzeichen „*“ (wie in „Württemberger*“) bedeutet, dass die hier genannten Württemberger ausschließlich aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen, also aus dem Untersuchungsgebiet stammten. Ansonsten ist die in diesem Kapitel verwendete, freilich generalisierende Bezeichnung „Deutsche“ der dünnen Datenbasis geschuldet, da es im Agricultural Census der hier untersuchten Counties zu wenig deutsche Migranten mit präzise benannter landsmannschaftlicher Herkunft gab. Dass hier Nord- und Süddeutsche – trotz der oft erheblichen Spannungen untereinander – unspezi¿sch zu „Deutschen“ aggregiert wurden, ist also eine methodische Vereinfachung, die die komplexen Diskussionen um den Begriff der Ethnizität nicht ignoriert, aber ihr in dem Zusammenhang dieses Kapitels nicht gerecht werden kann. Das Sonderzeichen „†“ bedeutet, dass zwar Rohdaten dieser Kategorie vorliegen, diese aber nicht aufgenommen oder statistisch verarbeitet wurden.
194
6 Anpassung an die neue Umwelt
Alle Daten in den nachfolgenden Tabellen stammen aus den Urlisten des U. S. Manuscript Census (Agricultural Schedules) 1850, 1860, 1870, 1880 bzw. aus den „Field Product“ und „Live Stock“ Schedules des Census of Ontario, 1861 und 1871. Die Geburtsorte der einzelnen Farmer wurden durch Vergleich mit den jeweiligen „Population Schedules“ ermittelt. Alle Tabellen beruhen auf Auswertungen des Agricultural Census durch den Verfasser. Tab. 25: Größe und Wert der mittleren württembergischen und angloamerikanischen Farm und ihrer Produkte in Herman Township, Dodge County, Wisconsin, und Duchouquet Township, Auglaize County, Ohio (Median)
Herman Township Dodge County, Wisconsin Landbesitz (in acres) gesamter Landbesitz davon kultivierte Fläche Kapital (in $) Geldwert der Farm Geldwert der Gerätschaften Geldwert des Viehbestandes Wert einzelner Produktionen (in$) Wert der Heimproduktion Einnahme aus Viehverkäufen Wert der Farm pro acre Wert der Geräte pro kultiv. acre Anteil der Viehverkäufe am Viehwert Anteil Viehwert am Farmwert
1850 (unspezif.) Deutsche N = 65
1850 Angloamerikaner N = 30
1860 Württemberger N = 15
1860 Angloamerikaner N = 29
80
80
60
80
12
20
40
40
$ 300
$ 600
$ 1.400
$ 1.800
$ 15
$ 35
$ 65
$ 75
$ 85
$ 100
$ 150
$ 200
–
–
$ 15 (13 %)
$ 20 (7 %)
†
†
$ 30 (100 %)
$ 40 (97 %)
$ 4,19
$ 6,99
$ 20,98
$ 23,21
$ 2,50
$ 2,20
$ 1,61
$ 1,61
†
†
26 %
20 %
20 %
15 %
12 %
10 %
6.2 Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken
Duchouquet Township Auglaize County, Ohio
1850 (unspezif.) Deutsche N = 32
Landbesitz (in acres) gesamter Landbesitz 40 davon kultivierte 25 Fläche Kapital (in $) Geldwert der Farm $ 500 Geldwert der $ 55 Gerätschaften Geldwert des $ 150 Viehbestandes Geldwert aller † Farmprodukte Wert einzelner Produktionen (in $) Wert der $ 14 (44 %) Heimproduktion Einnahme aus $ 15 (100 %) Viehverkäufen Wert der Obstgärten – (0 %) Wert der † Forstproduktion Wert der Farm $ 10,38 pro acre Wert der Geräte $ 2,34 pro kultiv. acre Wert des Vieh$ 2,37 bestandes pro acre Anteil der Viehverkäufe am Viehwert Anteil Viehwert am Farmwert
1850 Angloamerikaner N = 39
1870 Württemberger* N = 10
195 1870 Angloamerikaner N = 13
80
97
98
35
55
60
$ 1.000
$ 3.600
$ 4.800
$ 65
$ 125
$ 150
$ 150
$ 445
$ 528
†
$ 870
$ 915
$ 12 (46 %)
$ 18 (20 %)
$ 22 (8 %)
$ 25 (100 %)
$ 148 (90 %)
$ 125 (100 %)
– (0 %)
$ 10 (50 %)
$ 10 (62 %)
†
$ 96 (40 %)
$ 148 (38 %)
$ 9,84
$ 39,23
$ 52,19
$ 2,33
$ 2,54
$ 2,11
$ 1,47
$ 4,48
$ 4,67
12 %
19 %
26 %
34 %
22 %
15 %
11 %
9%
196
6 Anpassung an die neue Umwelt
Tab. 26: Viehbestand und tierische Produktion auf württembergischen und anglo-amerikanischen Farmen in Herman Township, Dodge County, Wisconsin, und Duchouquet Township, Auglaize County, Ohio, im Vergleich (Median)
Herman Township Dodge County, Wisconsin Geldwert des Viehbestandes Einnahme aus Viehverkäufen Viehbestand (Stückzahl) Pferde Zugochsen Esel und Maulesel Milchkühe Rinder Schafe Schweine Tierische Produktion (in lbs.) Wolle Butter Duchouquet Township Auglaize County, Ohio
Geldwert des Viehbestandes Erlös aus Viehverkäufen Viehbestand (Stückzahl) Pferde Zugochsen Esel und Maulesel Milchkühe Rinder Schafe Schweine
1850 (unspezif.) Deutsche N = 65
1850 Angloamerikaner N = 30
$ 85
$ 100
$ 150
$ 200
†
†
$ 30 (100 %)
$ 40 (97 %)
3 (3 %) 2 (72 %) – (0 %) 1 (94 %) 2 (57 %) 5 (8 %) 6 (95 %)
2 (10 %) 2 (77 %) – (0 %) 1 (97 %) 2 (67 %) – (0 %) 6 (100 %)
2 (40 %) 2 (93 %) – (0 %) 2 (100 %) 4 (80 %) 3 (33 %) 5 (93 %)
2 (69 %) 2 (45 %) – (0 %) 3 (100 %) 2 (76 %) 12 (69 %) 3 (76 %)
8 (3 %) 100 (75 %)
– (0 %) 100 (77 %)
15 (27 %) 150 (100 %)
30 (66 %) 250 (97 %)
1850 (unspezif.) Deutsche N = 32
1850 Angloamerikaner N = 39
1870 Württemberger* N = 10
1870 Angloamerikaner N = 13
$ 150
$ 150
$ 15 (100 %)
$ 25 (100 %)
2 (94 %) – (0 %) – (0 %) 2 (100 %) 4 (91 %) 7 (59 %) 8 (97 %)
3 (90 %) 2 (8 %) – (0 %) 3 (100 %) 5 (74 %) 7 (64 %) 12 (97 %)
1860 Württemberger* N = 15
$ 445
1860 Angloamerikaner N = 29
$ 528
$ 148 (90 %) $ 125 (100 %)
3 (100 %) – (0 %) – (0 %) 3 (100 %) 2 (70 %) 9 (60 %) 11 (100 %)
4 (100 %) – (0 %) 2 (15 %) 3 (100 %) 2 (85 %) 13 (46 %) 12 (100 %)
6.2 Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken
Duchouquet Township Auglaize County, Ohio
1850 (unspezif.) Deutsche N = 32
Tierische Produktion (in lbs.) Wolle 17 (63 %) Butter 100 (100 %) Bienenwachs 23 (6 %) Seidenraupenkokons 1 (3 %)
1850 Angloamerikaner N = 39
1870 Württemberger* N = 10
22 (67 %) 100 (100 %) 8 (8 %) – (0 %)
30 (50 %) 152 (100 %) – (0 %) – (0 %)
197 1870 Angloamerikaner N = 13
33 (69 %) 150 (92 %) 110 (15 %) – (0 %)
Tab. 27: Getreide- und sonstige landwirtschaftliche Produktion württembergischer und angloamerikanischer Farmen in Herman Township, Dodge County, Wisconsin, und Duchouquet Township, Auglaize County, Ohio, im Vergleich (Median)
Herman Township Dodge County, Wisconsin Getreideproduktion (in bushels) Weizen Roggen Gerste Hafer Mais Buchweizen sonstige Produktion Kartoffeln (in bushels) Heu (in Tonnen) Klee (in bushels) Gras (in bushels) Ahornzucker (in lbs.) Melasse (in Gallonnen)
1850 (unspezif.) Deutsche N = 65
1850 Angloamerikaner N = 30
1860 Württemberger* N = 15
1860 Angloamerikaner N = 29
30 (92 %) 16 (40 %) 19 (6 %) 12 (46 %) 30 (83 %) 8 (14 %)
50 (100 %) – (0 %) 35 (10 %) 33 (60 %) 75 (87 %) 17 (27 %)
300 (100 %) 60 (7 %) 55 (73 %) 100 (93 %) 50 (93 %) – (0 %)
208 (97 %) – (0 %) 18 (75 %) 100 (90 %) 50 (76 %) – (0 %)
50 (98 %)
60 (97 %)
30 (100 %)
30 (97 %)
3 (29 %) 4 (5 %) – (0 %)
8 (27 %) 3 (27 %) – (0 %)
3 (100 %) – (0 %) 6 (13 %)
5 (86 %) – (0 %) 4 (17 %)
75 (69 %)
400 (90 %)
55 (40 %)
300 (76 %)
5 (22 %)
20 (30 %)
10 (33 %)
20 (10 %)
198
6 Anpassung an die neue Umwelt
Duchouquet Township Auglaize County, Ohio Getreideproduktion (in bushels) Weizen Roggen Gerste Hafer Mais Buchweizen sonstige Produktion Kartoffeln (in bushels) Süßkartoffeln (in bushels) Hülsenfrüchte (in bushels) Heu (in Tonnen) Klee (in bushels) Gras (in bushels) Hopfen (in lbs.) Ahornzucker (in lbs.) Melasse (in Gallonnen)
1850 (unspezif.) Deutsche N = 32
1850 Angloamerikaner N = 39
1870 Württemberger* N = 10
1870 Angloamerikaner N = 13
30 (84 %) 11 (44 %) 14 (9 %) 40 (75 %) 78 (94 %) 10 (13 %)
78 (95 %) – (0 %) – (0 %) 64 (67 %) 200 (97 %) 7 (3 %)
225 (100 %) 23 (30 %) 200 (90 %) 200 (100 %) 200 (100 %) – (0 %)
200 (100 %) 8 (8 %) 190 (46 %) 100 (92 %) 200 (100 %) 10 (8 %)
20 (97 %)
15 (90 %)
15 (90 %)
19 (92 %)
4 (3 %)
11 (5 %)
2 (10 %)
1 (8 %)
2 (6 %)
2 (26 %)
– (0 %)
– (0 %)
4 (84 %) 2 (16 %) 1 (22 %) 3 (3 %)
5 (82 %) 4 (8 %) 1 (5 %) 6 (5 %)
8 (100 %) 6 (40 %) – (0 %) – (0 %)
6 (86 %) 2 (15 %) – (0 %) – (0 %)
15 (19 %)
135 (51 %)
95 (10 %)
15 (23 %)
3 (19 %)
5 (46 %)
12 (70 %)
9 (69 %)
Wie aus Tab. 25 zu ersehen ist, schlägt sich der Zeitpunkt der Besiedlung deutlich in der Größe des Landbesitzes nieder: In Duchouquet Township, wo die angloamerikanische Einwanderung zweieinhalb Jahrzehnte vor der deutschen eingesetzt hatte, war die mittlere angloamerikanische Farm im Jahr 1850 doppelt so groß wie die mittlere Farm deutscher Einwanderer, während in Herman Township, wo Yankees und Deutsche mit der Staatwerdung Wisconsins etwa zum gleichen Zeitpunkt vom General Land Of¿ce16 Parzellen zu kaufen begonnen hatten, 1850 kein Unterschied in der mittleren Grundstücksgröße bestand. Innerhalb einer Dekade verkleinerte sich der Landbesitz der mittleren deutschen Farm in Herman Township von der initialen StandardÀäche von achtzig acres auf sechzig acres, was mit dem privaten Weiterverkauf von Teilen der ursprünglichen Grundstücke an neue (deutsche) Siedler zu er16
Das General Land Of¿ce, gegründet 1812, war die dem Finanzministerium unterstehende Behörde, die den Verkauf der „Public Domain“ (Bundesstaatlicher Landbesitz) in den Staaten des Mittleren Westens sowie westlich des Mississippi regelte.
6.2 Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken
199
klären ist. Wisconsin erlebte in den 1850er Jahren einen massiven Zuzug deutscher Immigranten. Die größere kultivierte Fläche bei den Angloamerikanern in Herman Township deutet auf höheres Startkapital hin, mit dem sie sich bessere (sprich: weniger stark bewaldete) Grundstücke sowie in größerem Maße Produktivkräfte wie Zugtiere oder Gerätschaften leisten konnten als ihre deutschen Nachbarn. Mit der Ausweitung der kultivierten Fläche stieg auch der Wert der Farmen, weshalb die mittlere amerikanische Farm bis 1850 sowohl in Herman als auch in Duchouquet Township den doppelten Wert der deutschen erreichte. Die deutschen Farmer, von denen die meisten traditionell an kleine Grundstücke gewöhnt waren, kompensierten in Nordamerika die im Verhältnis zu ihren angloamerikanischen Nachbarn kleineren Parzellen durch intensivere Nutzung. Obwohl den Angloamerikanern zur Mitte des 19. Jahrhunderts pro Farm mehr und bessere (oder zumindest wertvollere) Ackerbaugeräte zur Verfügung standen als den deutschen Einwanderern, setzten diese pro acre kultivierter Fläche mehr Gerätschaften ein. Was hier für zwei Townships in Wisconsin und Ohio gilt, spiegelt auch die Ergebnisse einer größerÀächigen Untersuchung für zwei Counties in Missouri wider.17 Im Umkehrschluss kann man aus derselben Tabelle freilich auch herauslesen, dass die deutschen Einwanderer mit der ihnen zur Verfügung stehenden geringeren Anzahl an Ackerbaugeräten insgesamt weniger LandÀäche kultivierten als die Angloamerikaner, die ihnen anfangs technologisch überlegen waren. Mit der fortschreitenden Mechanisierung der Landwirtschaft in Nordamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten sich jedoch die deutschen Einwanderer dem amerikanischen Standard in der maschinellen Ausstattung ihrer Farmen weiter annähern. Immer größer wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der technologische Vorsprung der nordamerikanischen Landwirtschaft gegenüber der europäischen. Vergleicht man den Mechanisierungsgrad der nordamerikanischen Landwirtschaft mit dem in den Herkunftsregionen der deutschen Einwanderer, offenbart sich der mehr auf den Einsatz der Technik als auf die menschliche Arbeitskraft ausgerichtete, „moderne“ Charakter des farming gegenüber dem traditionellen mitteleuropäischen Ackerbau. Im Oberamt Spaichingen18 beispielsweise erntete man das Getreide noch immer mit der Sichel, als Farmer in Dodge County, Wisconsin, bereits mit Mäh- und Erntemaschinen wie dem Mc-
17
18
Vgl. Kamphoefner, Westfalians, 127 (Tab. 4.12). Der Wert der Geräte, die die Farmer (N = 1.805) in St. Charles und Warren Counties 1850 zur Bearbeitung eines acre Ackerlandes einsetzten, lag bei deutschen Einwanderern bei $ 2,27, bei Amerikanern – Sklavenhaltern oder Nicht-Sklavenhaltern – bei $ 1,74 bzw. $ 1,70. Vgl. OAB Spaichingen, 122 f.
200
6 Anpassung an die neue Umwelt
Cormick Reaper19 oder dem Minneapolis Self-Binder experimentierten.20 Auf dem bergigen Terrain und den steinigen Böden des Heubergs wurde immer noch der einfache deutsche WendepÀug eingesetzt, vor den mangels ausreichender Zugtiere auch schon einmal die „Familienkuh“ gespannt wurde, während die von Heuberg stammenden Immigranten in Wisconsin den Sulky Plow, einen von drei oder vier Pferden gezogenen PÀug mit Fahrersitz, einsetzten.21 Während im Oberamt Spaichingen Dreschmaschinen, die Eigentum der Gemeinden waren, nur in fünf Orten existierten22, kamen unter den deutschen Einwanderern in Wisconsin spätestens seit den 1880er Jahren in der Landwirtschaft Dampfmaschinen zum Dreschen von Getreide und Schneiden von Viehfutter zum Einsatz. Zu einer Zeit, in der „in den meisten Orten“ im Oberamt Spaichingen die Heuernte nicht zur Erhaltung des Viehbestandes ausreichte und durch Futterkräuteranbau und Futterzukauf kompensiert werden musste23, hatte der Spaichinger Tagelöhnersohn Conrad Hauser in Rubicon, Dodge County, Wisconsin, zwei Silos errichtet, in denen er bis zu zweihundert Tonnen Futtermais für seinen sechzigköp¿gen Rinderbestand lagern konnte.24 Kehrt man wieder zu den Unterschieden zwischen den angloamerikanischen und den deutschen Farmern in Herman und Duchouquet Township zurück, fällt auf, dass die deutschen Einwanderer trotz anfänglicher deutlicher Nachteile in der Grundstücksgröße und im Ackergerätebesitz gegenüber den Angloamerikanern bereits 1850 einen fast ebenbürtigen, im Verhältnis zum 19
20
21 22 23 24
Der McCormick Reaper, eine von Pferden gezogene Schneidemaschine für die Weizenernte, war die erste kommerziell erfolgreiche Mähmaschine der Welt. Erfunden vom amerikanischen Industriellen Cyrus H. McCormick (1809–1884) und produziert von der McCormick Harvesting Machine Company in Chicago seit 1848, fand der McCormick Reaper bei der ersten Weltausstellung 1851 im Londoner Kristallpalast starke Beachtung und galt als Symbol für den technologischen Fortschritt Amerikas. Vgl. die Wisconsiner Lokalzeitung Hartford Press vom 25.7.1884, in der ein Wettbewerb junger Farmer in der Erprobung von Mähmaschinen verschiedener Fabrikate beschrieben wird: „It seems that Mr. E. Bloor, who owns a Minneapolis self-binder, went into his ¿eld of badly tangled rye and essayed to harvest the same with his machine. After repeated trials to cut the grain one way, he was obliged to give up. His brother Fred then took a McCormick self binder and succeeded in going quite around the ¿eld, doing very credible work.“ Zit. n. Rubicon Township Sesquicentennial, 293 f. Ebd. 302, dort Photographie „Roethle brothers’ 3-horse-hitch“. Vgl. OAB Spaichingen, 22: „Dreschmaschinen haben die Orte Aldingen, Böttingen, Deilingen, Frittlingen und Gosheim.“ Ebd. Vgl. Hartford Press vom 14.9.1888: „At the farm of Conrad Hauser we halted to witness the project of „¿lling the silo“, then in operation. He has two immense silos, capable of holding 200 tons, and the doors open conveniently to a large stable with stalls for 60 head of cattle. He was cutting ordinary corn ears and all. His large feed-cutter is driven by a new engine that he recently bought in Watertown. This is Mr. Hauser’s second year’s experience in the silo business, and he professes to have great faith in the method.“ Zit. n. Rubicon Township Sesquicentennial, 294.
6.2 Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken
201
Gesamtwert ihrer Farmen und zur kultivierten Fläche sogar wertvolleren Viehbestand hielten. Tab. 26 schlüsselt den Viehbestand auf und offenbart unterschiedliche Präferenzen in der Viehhaltung: Die favorisierten Zugtiere der angloamerikanischen Farmer waren Pferde, die von diesen häu¿ger und in größerer Zahl gehalten wurden als von deutschen. In Herman Township, Wisconsin, blieben Zugochsengespanne unter deutschen Einwanderern länger im Ackerbau im Einsatz als bei den einheimischen angloamerikanischen Farmern, was neben dem ökonomischen Realitätssinn – Pferde waren teurer als Ochsen und daher nicht gleich für alle Einwanderer erschwinglich – vor allem auf aus der Heimat mitgebrachte kulturelle Präferenzen schließen lässt: Auf der Schwäbischen Alb waren Ochsen die gewöhnlichen Arbeitstiere. Im Oberamt Spaichingen gab es nach der Viehzählung 1873 anderthalbmal so viele Zugochsen wie Pferde.25 Auf die Haltung von Milchkühen konnten weder Angloamerikaner noch deutsche Einwanderer verzichten, wobei die angloamerikanischen Bestände leicht größer waren. Auf allen deutschen und fast allen amerikanischen Farmen wurde die überschüssige Milch verbuttert, später in Wisconsin auch an Käsereien verkauft. Uneinheitlich war der Trend in der Schafzucht in Herman und Duchouquet Townships. Zieht man die Beobachtungen Kamphoefners26 für deutsche und angloamerikanische Farmen in St. Charles und Warren Counties in Missouri sowie eigene Berechnungen zum Viehbestand in Medina County hinzu, lässt sich feststellen, dass die Unterschiede nicht so sehr in der Zahl der Schafhalter, sondern in der Anzahl der gehaltenen Schafe lagen. Angloamerikaner hatten deutlich größere Herden als deutsche Farmer, was auf eine kommerzielle Ausrichtung der Schafzucht in englischer Tradition schließen lässt, während bei den deutschen Einwanderern in Nordamerika wohl noch weiter der Subsistenzgedanke, also die Selbstversorgung mit Wolle zur häuslichen Weiterverarbeitung zu Textilien, vorherrschend war. Die Schweinezucht behielt für die Deutschen in Nordamerika die starke Bedeutung bei, die ihr traditionell in der Heimat zugekommen war: Nahezu jeder deutsche Farmer in Herman Township, Wisconsin, Duchouquet Township, Ohio, und St. Charles und Warren Counties, Missouri, hielt genügend Schweine, um einerseits die Fleischversorgung seiner Familie sicherzustellen (Subsistenzwirtschaft), andererseits darüberhinaus durch den Verkauf der „überschüssigen“ Schweine – lebendig oder gepökelt – eine laufende Einnahmequelle zu erschließen. Für viele Deutsche in Nordamerika bedeutete die Schweinezucht den ersten Einstieg in eine pro¿torientierte Viehwirtschaft, wie sie in der Schweinemast von zugezogenen amerikanischen Südstaatlern 25 26
Vgl. OAB Spaichingen, 410 f.: auf je tausend Menschen kamen 1873 im gesamten Oberamtsbezirk nur 34 Pferde, aber 51 Zugochsen. Vgl. Kamphoefner, Westfalians, 127 (Tab. 4.12). 54 % aller Deutschen hielten im Mittel sechs Schafe, 61 % aller Amerikaner hielten im Mittel 16 Schafe (N = 1.805).
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6 Anpassung an die neue Umwelt
beispielsweise in Duchouquet Township, Auglaize County, Ohio, Medina County, Texas, und St. Charles und Warren Counties, Missouri, schon lange erfolgreich vorexerziert wurde.27 Für die Yankees in Herman Township, Wisconsin, dagegen spielte die Schweinehaltung nach kürzester Zeit hinter der Schaf- und Rinderzucht nur noch eine untergeordnete Rolle. Viel schärfer als bei der Zusammensetzung des Viehbestandes treten in Tab. 27 bei den Ernteerträgen von Getreide und anderen Ackererzeugnissen die Unterschiede zwischen angloamerikanischen und deutschen Agrarpraktiken zutage: Schon die Vielfalt der angebauten Getreidesorten auf den Farmen deutscher Einwanderer lässt darauf schließen, dass auch hier der Subsistenzgedanke vorherrschend war. Die Entscheidung, neben Weizen in Nordamerika unübliche und damit kommerziell wertlose Getreidesorten wie Roggen, Gerste oder Buchweizen anzubauen, deutet auf das Auswahlkriterium Eigenverbrauch (und nicht Marktorientierung) hin – ein Paradebeispiel für kulturelle Beharrlichkeit. Dasselbe gilt für die höhere Bereitschaft der Deutschen, Heu zu machen, Wiesenbau zu betreiben oder Futterkräuter wie Klee anzubauen. Letzteres war eine Praktik der damals noch in weiten Teilen Württembergs üblichen Dreifelderwirtschaft, wobei die Brache mit Luzerne, Klee oder Wicken bestellt wurde, die einerseits dem Boden Nährstoffe zuführten und andererseits als zusätzliches Viehfutter dienten. Die Fruchtbarkeit der Böden zu erhalten war dagegen die Sorge der Angloamerikaner nicht, und da für sie neben dem Hafer vor allem der Mais das typische Futtermittel war, verzichteten sie weitgehend auf die Aussaat von Klee oder Gras und waren nicht im gleichen Maße am Heumachen interessiert wie die Deutschen. Äußerst anpassungsfähig an weit verbreitete amerikanische Praktiken im Feld- und Waldbau zeigten sich die deutschen Einwanderer bei der Nutzung von zwei ihnen aus der Heimat wenig vertrauten oder sogar unbekannten Produkten, dem Anbau von Mais und der Gewinnung von Ahornzucker. Wie Kamphoefner für deutsche Farmer in Missouri festgestellt hat28, bauten auch Immigranten aus dem württembergischen Untersuchungsgebiet schon sehr bald nach ihrer Ankunft in Herman Township, Wisconsin, und Duchouquet Township, Ohio, Mais in derselben Häu¿gkeit an wie ihre Englisch sprechenden Nachbarn. Jordan führt diese schnelle und universale Übernahme des Maisanbaus durch deutsche Immigranten auf die einschlägigen Empfehlungen vieler Auswanderungsratgeber und, damit im Zusammenhang stehend, auf das gute Gedeihen dieses Getreides auf durch Brandrodung urbar gemach-
27 28
Ebd. 94 % aller Deutschen hielten im Mittel 15 Schweine, 95 % aller Amerikaner hielten im Mittel 25 Schweine. Vgl. Kamphoefner, Westfalians, 127 (Tab. 4.12). 92 % aller Deutschen produzierten im Mittel 201 bushels Mais, 93 % aller Amerikaner produzierten im Mittel 501 bushels Mais (N = 1.805).
6.2 Ethnospezi¿sche und adaptierte Agrarpraktiken
203
ten Böden zurück.29 Die Ernteerträge beim Mais lagen bei den deutschen Farmern 1850 in den beiden hier untersuchten Gebieten in Wisconsin und Ohio sowie in Missouri bei etwa vierzig Prozent der amerikanischen Produktion, was auf die Unerfahrenheit der Deutschen mit diesem Getreide und die kleineren MaisanbauÀächen zurückzuführen ist. Später glich sich die Maisproduktion zwischen Deutschen und Amerikanern nahezu an, obwohl angloamerikanische Farmer weiterhin höhere Hektarerträge erzielten. Wie ein Vergleich zwischen deutschen, angloamerikanischen und skandinavischen Farmern in Goodhue County, Minnesota, zeigt, lag der durchschnittliche Maisertrag angloamerikanischer Farmen pro acre etwa 16 % über dem deutscher und sechs Prozent über dem skandinavischer Farmen.30 Eine beinahe ebenso schnelle, wenn auch nicht ubiquitäre Adaptation an landesspezi¿sche Agrarpraktiken zeigt sich in der weit verbreiteten Produktion von Ahornzucker durch deutsche Einwanderer. In Herman Township, Wisconsin, hatten nach dem Zensus von 1850 immerhin sieben von zehn deutschen Farmern (im Gegensatz zu neun von zehn angloamerikanischen) im wahrsten Sinne des Wortes völliges Neuland betreten und aus dem in den nördlichen Laubwäldern der Vereinigten Staaten massenhaft vorkommenden Zuckerahornbaum einen Saft gewonnen, aus dem sie Zucker und Melasse bereiteten. Obwohl ihre Ahornzuckerproduktion mengenmäßig stark hinter der der Yankees zurückstand, die mit der Nutzung des Zuckerahornbaumes aus ihren Herkunftsgebieten in New York und Neuengland schon vertraut waren, ist hier der hohe Anpassungsgrad deutscher Einwanderer an landesübliche Produkte bemerkenswert. Mit der fortschreitenden Abholzung des Baumbestandes auf den Farmen zugunsten der Urbarmachung weiteren Ackerlandes, der wachsenden Popularität und Verbreitung von Sorghumhirse, der zunehmenden Spezialisierung der Landwirtschaft und der Ausweitung des Handels im Zuge einer pro¿torientierten Wirtschaftsweise verlor allerdings der Ahornzucker allmählich seine Bedeutung. Nicht annähernd so erfolgreich wie der Ahornzucker, die Mägen deutscher Farmerfamilien zu erobern, war die Süßkartoffel, eine weitere für europäische Einwanderer unbekannte Feldfrucht. So baute in St. Charles County, Missouri, die Batate zwar jeder dritte Angloamerikaner, aber nur jeder fünfzigste Deutsche an.31 Auch in Duchouquet Township, Ohio, und Herman Township, Wisconsin, fand die Süßkartoffel unter deutschen Einwanderern kaum bzw. gar keine Verbreitung.
29 30 31
Vgl. Jordan, German Seed, 123–127. Jordans Interpretation bezieht sich zwar nur auf deutsche Siedlungen in Texas, kann m. E. aber ohne Weiteres auf ganz Nordamerika ausgedehnt werden. Vom Verfasser errechnet aus den Manuscripts of the 1880 U. S. Agricultural Census von Goodhue County, Minnesota. Vgl. Kamphoefner, Westfalians, 130 (Tab. 4.13).
204
6 Anpassung an die neue Umwelt
Ein Grund für das eifrige Adaptieren des einen und das nahezu vollkommene Ignorieren des anderen amerikanischen Gewächses mag in der jeweils unterschiedlichen Bedeutung für die Immigranten sowie im Fehlen bzw. im Vorhandensein von Alternativen gelegen haben. Vermutlich waren die eingewanderten Deutschen froh, wohlschmeckenden Zucker relativ mühelos aus Bäumen gewinnen zu können, und verzichteten deshalb gerne auf den Anbau von Zuckerrüben. Andererseits schien den Deutschen in Nordamerika unklar zu sein, welchen Nutzen der Anbau von Süßkartoffeln hatte, wenn sie ohnehin ihren Bedarf an Stärke durch den täglichen Genuss von (weißen) Kartoffeln und den sporadischen Anbau von Wurzelgemüsen wie Möhren oder (roten) Rüben decken konnten.32 Die Kartoffel, die ursprünglich aus der Neuen Welt nach Europa eingeführt worden war und dort wegen ihres hohen Nährwertes eine außerordentlich große Bedeutung in der Ernährung breiter Bevölkerungsschichten erlangt hatte, behielt für die deutschen Einwanderer in Amerika anfangs ihre überragende Bedeutung bei. Dies sieht man nicht nur am Speisezettel deutscher Immigranten – in Dodge County, Wisconsin, kamen Kartoffeln dreimal täglich auf den Tisch33 –, sondern vor allem an der starken Kartoffelproduktion deutscher Farmer in Wisconsin, Ohio und Missouri: Mehr Deutsche als Amerikaner bauten die vielseitige Knolle an und widmeten ihr nahezu die doppelte AnbauÀäche.34 Die hohen Ernteerträge gerade in neu besiedelten Gebieten wie Herman Township, Wisconsin, 1850, unterstreichen die anfänglich immense Bedeutung der Kartoffel als Grundnahrungsmittel für die Immigranten. Mit der Zunahme des Viehbestandes und der Ausweitung der Getreideproduktion verlor die Kartoffel in der Folgezeit allerdings immer mehr an Bedeutung, wie an den Ernteerträgen in den beiden untersuchten Townships in Wisconsin und Ohio zu sehen ist. Hinsichtlich des Einsatzes von Ackerbaugeräten, der Zusammensetzung des Viehbestandes und der Natur und des Umfangs der landwirtschaftlichen Produktion können zwei der drei eingangs zitierten Behauptungen des Einwanderungsbureaus von Wisconsin als richtig bestätigt werden: Deutsche 32
33 34
Vgl. die detaillierte AuÀistung in den Agricultural Schedules des Census of Ontario 1861 und 1871: In Haldimand County, Ontario, bauten in den beiden Zensusjahren 25 % bzw. 18 % der württembergischen Einwanderer aus der Baar weiße Rüben (turnips), 19 % bzw. 18 % Möhren und 13 % bzw. 21 % rote Rüben (mangelwurzel bzw. beets) an. Vgl. Rubicon Township Sesquicentennial, 290. Dies lässt sich aus den Ergebnissen der Kartoffelproduktion in den genannten Gebieten schließen: Der durchschnittliche Ertrag dürfte damals bei rund hundert bushels pro acre gelegen haben (in Haldimand County, Ontario, waren es 1861 nach dem Zensus 1.210 bushels auf 12.625 acres). Man kann daher davon ausgehen, dass die mittlere deutsche sowie die mittlere angloamerikanische Farm in Herman Township, Wisconsin, einen halben acre ihres Ackerlandes dem Kartoffelanbau widmeten. Daran, dass die mittlere kultivierte Fläche amerikanischer Farmen aber fast doppelt so groß war wie die deutscher (zwanzig gegenüber zwölf acres), kann man die unverhältnismäßig große Bedeutung der Kartoffel für die deutschen Einwanderer ersehen.
6.3. Arbeits- und Geschäftspraktiken außerhalb der Landwirtschaft
205
Farmer in Amerika arbeiteten in der Tat nicht mehr in der „althergebrachten Weise“, sondern hatten die „eigentümliche Art des Feldbaus“, wie sie in Amerika von Angloamerikanern betrieben wurde, zumindest teilweise übernommen. 6.3. Arbeits- und Geschäftspraktiken außerhalb der Landwirtschaft 6.3 ARBEITS- UND GESCHÄFTSPRAKTIKEN AUSSERHALB DER LANDWIRTSCHAFT Auch außerhalb der Landwirtschaft standen die Einwanderer von der Schwäbischen Alb in der nordamerikanischen Arbeitswelt vor neuen Herausforderungen. So existierten für Handwerker dort beispielsweise keine Zünfte, was zwar einerseits den eingewanderten Handwerksgesellen die Möglichkeit gab, ohne Weiteres einen eigenen Betrieb zu gründen, andererseits aber ihre Mitglieder vor Wettbewerbern geschützt hätte. Viel stärker als in Württemberg war in Nordamerika bereits die Konkurrenz durch Fabriken. Diese boten zwar Facharbeitern und ungelernten Einwanderern Arbeitsplätze, bedrohten aber die Existenz selbstständiger Handwerker durch die Massenproduktion billigerer Fertigwaren. In Württemberg arbeiteten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die meisten Handwerker als sogenannte Alleinmeister selbstständig; 1835 beschäftigten nur 29 % der Handwerksbetriebe zusätzliche Gehilfen.35 Im Untersuchungsgebiet standen 1852 im traditionellen Handwerk – also ohne die Beschäftigten in Textilfabriken, Ziegeleien und Brauereien – 3.280 Meister 1.701 Gehilfen und Lehrlingen gegenüber.36 1871 kamen im Untersuchungsgebiet im gesamten sekundären Sektor auf 5.871 Selbstwirtschaftende 3.010 Gehilfen.37 Erst in der Berufszählung 1895 übertraf in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen die Zahl der unselbstständig Beschäftigten des sekundären Sektors (4.971) die der Selbstständigen (3.188).38 Auf die europäische Tradition des selbstständigen Handwerksmeisters, der allein oder mit zumeist nur einem Gehilfen in sorgfältiger Handarbeit mit einem auf hohe Qualität seiner Produkte ausgerichteten Arbeitsethos Stücke fertigte, mag es zurückzuführen sein, dass die württembergischen Handwer35 36 37 38
Vgl. Ergebnisse der Gewerbestatistik für Württemberg 1835/36 in: WJB 1839, Bd. 2, Heft 2. Quelle: WJB 1874, 1. Teil, 95 (Tab. XIV b). „Nach der Gewerbe-Aufnahme von 1852 und der Volkszählung vom 3. Dezember 1852 wurden gezählt in den hienach bezeichneten Landestheilen und Bezirken.“ Quelle: WJB 1876, IV, 16 f. (Tab. 1). „Die ortsanwesende Bevölkerung nach Haupt-Berufs-Erwerbsklassen nach der Aufnahme vom 1. Dez. 1871“. Unter Gehilfen sind hier Gesellen, Lehrlinge und Arbeiter verzeichnet. Vgl. die Ergebnisse der Berufs- und Gewerbezählung 1895 in Württemberg: in WJB Ergänzungsbände 1,1–1,3 1898–1900.
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6 Anpassung an die neue Umwelt
ker auch in Nordamerika eher die Selbstständigkeit suchten und in traditioneller Handarbeit in der eigenen Werkstatt Produkte anfertigten, als in Fabriken Arbeit anzunehmen und dort nach industriellen Methoden Massenwaren herzustellen. Die deutschen Handwerker lieferten dabei bessere Produkte als ihre amerikanischen Konkurrenten, sie arbeiteten aber auch langsamer als diese.39 Die Gewöhnung an die Befriedigung des Massenmarktes gelang den eingewanderten traditionellen Handwerkern nur langsam, so dass sie oft eher als Selbstständige einen Reparaturbetrieb oder einen Verkaufsladen führten, als sich in der Warenproduktion der einheimischen Konkurrenz zu stellen. Ein Beispiel eines solchen eingewanderten Handwerkers, der in Nordamerika in seiner Branche zum Geschäftsmann wurde, ist Gottlieb Grimm aus Böttingen im Oberamt Spaichingen. Nach dreijähriger Buchbinderlehre in seinem Heimatdorf zog er 1849 mit 18 Jahren nach Nordamerika. Nach seiner Ankunft in New York ging er nach Sandusky, Ohio, wo er eine Anstellung in der dortigen Buchbinderei Weed, Eberhard and Fesner fand. Nur wenige Monate später begleitete er seinen Arbeitgeber Charles Weed nach Madison in Wisconsin, wo beide die ersten Buchbinder in der Stadt wurden. Grimm arbeitete dort fünf Jahre lang für Charles Weed, bis er 1855 mit einem anderen Geschäftspartner die Madison New Bookbindery gründete. In der Rezession von 1857 waren beide allerdings gezwungen, die Buchbinderei an die Firma Atwood, Calkins & Webb zu verkaufen, von der er daraufhin als Vorarbeiter angestellt wurde. Nach ein paar Jahren wechselte Grimm zur Buchbinderei B. W. Suckow, wo er nach zehn Jahren als Vorarbeiter 1874 zum Geschäftsführer aufstieg. Dies zeigt, dass Grimm seinen in Württemberg erlernten Beruf nach seiner Einwanderung immer ausüben konnte, jedoch je nach wirtschaftlicher Lage als einfacher Mitarbeiter, leitender Angestellter oder Selbstständiger.40 Es war charakteristisch für deutsche Handwerker, die in den Vereinigten Staaten von Amerika zu Geschäftsleuten geworden waren, sich auf Produkte für ihre Landsleute als potentielle Kunden zu spezialisieren und somit in der nordamerikanischen Volkswirtschaft Nischen zu besetzen. So gingen viele Brauereien in Nordamerika auf die Gründungen deutscher Einwanderer zurück, wie überhaupt die Deutschen in Nordamerika in Lebensmittelhandwerk und -handel ebenso wie im Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe stark überrepräsentiert waren.41 Viele Lebensmittelhandwerker aus dem Untersuchungsgebiet, besonders Brauer und Metzger, konnten in Nordamerika ihre alten Berufe weiterführen 39 40 41
Vgl. Conzen, Immigrant Milwaukee. Biographie des Gottlieb Grimm nach www.grimmbindery.com/aboutus.html (Kontaktiert am 2. 2. 2009). Errechnet vom Verfasser aus den Angaben des Compendium of the Ninth Census, 604 f. (Tab. LXV: Occupations: The United States, by Classes, and severally, with the Periods of Life and Nationality, [Selected,] of Persons occupied – 1870).
6.3. Arbeits- und Geschäftspraktiken außerhalb der Landwirtschaft
207
und auf diese Weise mit der Zeit prosperierende Geschäfte aufbauen.42 Ein für das Ausmaß des geschäftlichen Erfolges deutscher Einwanderer eher untypisches Beispiel bildet der Tuttlinger Metzger Jacob Dold, der durch seine Verbindung von handwerklichem Können, Risikobereitschaft und geschäftlicher Weitsicht zum Millionär aufstieg. Dold entstammte einer traditionellen Tuttlinger Metzgerfamilie, half seit seinem zehnten Lebensjahr beim Schlachten und Wurstmachen, ging beim größten Tuttlinger Metzger in die Lehre und war danach im Schlachtviehhandel tätig. Diese vielseitigen Kenntnisse und Fähigkeiten halfen ihm, nach seiner Einwanderung in der Stadt Buffalo im Staat New York 1848 zwei bis drei Jahre lang als Metzger bei einem amerikanischen Arbeitgeber eine Anstellung zu ¿nden. Mit seinem Verdienst von 15 Dollar pro Monat machte sich Dold bald mit der Herstellung von Würsten selbstständig, die er von Haustür zu Haustür gehend – später von einem Pferdewagen aus – unter der deutschen Bevölkerung der Stadt verkaufte. Bereits Anfang der 1850er Jahre baute er in Buffalo sein erstes Schlachthaus, in dem er zehn Schweine pro Tag verarbeiten konnte. 1860 eröffnete er unter einem Dach ein neues Schlachthaus, eine Konservenfabrik für Schweine- und RindÀeisch und einen Fleischverkauf. Durch Lieferverträge mit der Unionsarmee gedieh das Geschäft, so dass Dold 1873 ein noch größeres Schlachthaus nahe der Viehhöfe am größten Verschiebebahnhof in Buffalo errichten ließ. 1880 und 1885 machte Dold zwei weitere Fleischverarbeitungsfabriken in Kansas City, Missouri, und Wichita, Kansas auf. 1909 wurden in seinen drei Fabriken eine Million Stück Schlachtvieh umgesetzt. Seit 1888 war seine Firma Jacob Dold Company als Aktiengesellschaft eingetragen.43 Dolds Erfolgsgeschichte belegt den Nutzen einer im Heimatland erworbenen fundierten handwerklichen Berufsausbildung und bestätigt am konkreten Beispiel, dass die Realisierung des American Dream keine Utopie bleiben musste. Der ökonomische Erfolg hatte sich für Dold vielleicht auch deshalb eingestellt, weil er mit der Herstellung von Fleisch- und Wurstkonserven eine innovative Geschäftsidee hatte und außerdem, wie der Wettbewerb um Staatsaufträge zeigt, alle Chancen ergriff, die sich ihm boten. Der stetige Ausbau seiner Betriebe zeugt von kalkulierter Risikobereitschaft und strategischem Weitblick, also Geschäftspraktiken, die er sich in Nordamerika wenn nicht angeeignet, so doch geschärft hatte. Während viele traditionelle deutsche Handwerker nach der Einwanderung in Nordamerika ihren gewohnten Arbeitsstil beibehielten und damit höchstens zu einem kleinen Werkstatt- oder Ladenbesitzer aufstiegen, nutzte 42
43
Vgl. folgende drei Beispiele aus den County Histories: Biographie des Trossinger Metzgers Jacob Kratt in Orange, NJ, in: Biographical and Genealogical History, Bd. 2, 359 f.; Biographie des Mahlstetter Metzgers Frank X. Aicher in Denver, Colorado, in: Portrait and Biographical Record of Denver, 247 f.; Biographie des Trossinger Bierbrauers Christian Kern in Port Huron, Michigan, in: Biographical Memoirs. Vgl. Eintrag „Jacob Dold“ im Dictionary of American Biography, Bd. 5, 1943, 356 f.
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6 Anpassung an die neue Umwelt
der eingewanderte Tuttlinger Schreinermeister Georg Jakob Hunzinger im beginnenden Maschinenzeitalter den technologischen Fortschritt der US-amerikanischen Industrie für Möbeldesign und -herstellung und erzielte durch die Übernahme amerikanischer Arbeitstechniken einen ebenso großen geschäftlichen wie künstlerischen Erfolg.44 Zwischen 1860 und seinem Tod 1898 erhielt er in den USA 21 Patente für Möbeler¿ndungen (Klappstühle, Ausziehtische, Schaukelstühle, etc.), bei deren massenhafter Herstellung er sich industrielle Fertigungsmethoden zunutze machte.45 Hunzinger hatte in Tuttlingen beim Vater eine Schreinerlehre absolviert und danach für zwei Jahre als Schreinergeselle in Genf gearbeitet, bevor er 1855 nach Nordamerika auswanderte. Nach seiner Einwanderung in New York ließ er sich unter anderen deutschen Immigranten in New Yorks Nachbarstadt Brooklyn nieder, wo er eine Zeitlang für den berühmten französischen Kunsttischler Auguste Pottier arbeitete, bevor er sich 1860 als Möbelschreiner selbstständig machte. Zwischen 1861 und 1873 zog er mit seinem Laden vier Mal um, was auf ein expandierendes Geschäft schließen lässt. 1877 verlor er in einem verheerenden Feuer Waren im Wert von fünfzigtausend Dollar, baute jedoch seine Fabrik nach drei Zwischenquartieren in einem eigenen Gebäude in Brooklyn wieder auf und zu einem Unternehmen mit fünfzig Beschäftigten aus. Bis auf wenige Ausnahmen führten die aus dem Untersuchungsgebiet stammenden deutschamerikanischen Geschäftsleute ihre Betriebe ohne familienfremde Mitarbeiter allein. Oftmals rekrutierten sie sich – wie die Beispiele zeigen – aus eingewanderten Handwerkern, bei denen nach zuvor unselbstständiger Beschäftigung in ihrem erlernten Beruf die Selbstständigkeit im eigenen Handwerksbetrieb die höchste Stufe der Karriereleiter bedeutete. Wegen ihrer Af¿nität zur Landwirtschaft spielten sowohl die mit ihren Familien von der Schwäbischen Alb eingewanderten Bauern als auch die Tagelöhner in der außeragrarischen Geschäftswelt nur eine untergeordnete Rolle. Nur etwa jeder dreizehnte Bauer und jeder zwanzigste Tagelöhner aus dem Untersuchungsgebiet war zwischen dem zehnten und zwanzigsten Jahr nach der Einwanderung im Zensus als Geschäftsinhaber verzeichnet. Ledig eingewanderte württembergische Bauernsöhne und mit zeitlicher Verzögerung auch Bauernknechte nahmen dagegen sogar in einem höheren Ausmaß als Handwerker am außeragrarischen nordamerikanischen Geschäftsleben teil. So waren jeder sechste Bauernsohn und jeder siebte Bauernknecht nach über zwanzig Jahren in Nordamerika Geschäftsinhaber geworden. Der berufliche Schwerpunkt dieser Einwanderer lag in den Bereichen Lebensmittelhan-
44
45
Vgl. Eintrag „George Jacob Hunzinger“ in: American National Biography, 24 Bde., 1999, Bd. 11, 553. Das Brooklyn Museum in New York widmete unter dem Titel „The Furniture of George Hunzinger: Invention & Innovation in 19th-Century America“ dem in Tuttlingen geborenen Kunsttischler 1997/98 eine eigene Ausstellung. Harwood, Furniture.
6.3. Arbeits- und Geschäftspraktiken außerhalb der Landwirtschaft
209
del sowie Gast- und Schankwirtschaft, für die sie aus der Landwirtschaft genügend Vorkenntnisse mitbrachten. Etwa jeder Vierte der aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten KauÀeute und Gastwirte konnte schon recht schnell, etwa fünf Jahre nach der Einwanderung, in der amerikanischen Geschäftswelt in den Bereichen Handel und Gast- oder Schankwirtschaft Fuß fassen. Auch sie waren mitarbeitende Geschäftsinhaber, die eher mit Gütern handelten als mit Dienstleistungen. So waren z. B. unter den eingewanderten Geschäftsleuten von der Schwäbischen Alb in Nordamerika mehr Schuh-, Spirituosen- und Musikinstrumentenhändler als BankkauÀeute oder Versicherungsvertreter zu ¿nden. Wie die Passagierlisten belegen, waren unter den württembergischen KauÀeuten in Nordamerika viele Handlungsreisende, die nach getätigten Geschäften wieder nach Württemberg zurückkehrten. Ein solcher Handlungsreisender der aufblühenden Trossinger Mundharmonikaindustrie war der Uhrmacher Simon Bilger, der von dem nach neuen Märkten strebenden Fabrikanten Matthias Hohner den Auftrag erhalten hatte, zu eruieren, ob in Nordamerika ein Absatzmarkt für Mundharmonikas bestünde. Nach einem halben Jahr berichtete Bilger im Herbst 1867 nach Trossingen: Fast alle Landsleute habe ich besucht und habe ihnen auch Deine Musik sehen lassen. Der Lambert meint, das Bläsle kaufe kein Teufel in New York. Ihr solltet Uhren machen statt dieser Kinderei. Aber das ist nicht richtig. Ich habe in einem Wirtshaus, wo Amerikaner waren, einmal Dein Bläsle herausgezogen, und dann haben die Amerikaner darum gestritten. Sie haben einander den Ranzen verschlagen, dann bin ich gegangen. […] Den [Landsleuten] mußt Du einmal Dein Bläsle zeigen, die sind verrückt darauf. Die Deutschen täten sie hier gerne kaufen. Weißt, Mattheis, das sind die Menschen, wo immer Heimweh haben. Dann müssen sie weinen oder singen. Wenn ich auf Deinem Bläsle gespielt habe und gesagt habe, das sei in Trossingen gemacht worden, sind sie still geworden und haben mir zugehört. Jeder möchte so eine Musik haben und man könnte viele verkaufen. Den Amerikanern ist das Bläsle ein Spielzeug. Sie haben eine große Freude daran, die Alten mehr noch als die Jungen. Du könntest hier ein gutes Geschäft machen. Zwei Ladengeschäfte möchten viele kaufen. Ich schreib Dir die Adressen, dann kannst solche hierher schicken. Hier gibt es aber keine gleichen Preise wie in Deutschland. Der eine, wo viel Geld hat, muß viel bezahlen, der Arme bekommts billiger. Und der verkaufts dann wieder an andere teurer. Viele betrügen einander auch. Jetzt weißt Du alles.46
Die Geschäftsaussichten für Mundharmonikaverkäufe waren in Nordamerika also von Anfang an gut. Aufgrund der großen Nachfrage nach ihren Produkten eröffnete die Firma Hohner in den 1880er Jahren in New York eine Handelsvertretung.
46
Zit. n. Zepf, Die Goldene Harfe, 101–104.
210
6 Anpassung an die neue Umwelt
6.4 HEIRATSVERHALTEN UND FAMILIENBEZIEHUNGEN Auch das Heiratsverhalten und die innerfamiliären Beziehungen der württembergischen Migranten waren in Nordamerika im Zuge des Lebensweltwechsels soziokulturellen Brüchen ausgesetzt, die Anpassungsprozesse an die Normen und kulturellen Praktiken der Aufnahmegesellschaft nach sich zogen. So bestanden beispielsweise weder in den USA noch in Kanada für die weiße Bevölkerung Heiratsbeschränkungen, so dass Eheschließungen anders als in Württemberg, wo im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts der obrigkeitliche Ehekonsens an Bürgerrecht und Grundbesitz geknüpft war, ohne rechtliche Hindernisse möglich waren, was ein generell niedrigeres Heiratsalter der nordamerikanischen Bevölkerung zur Folge hatte. In Württemberg bestand im 19. Jahrhundert noch das vorindustrielle mitteleuropäische Heiratsmuster fort, das von später Heirat und hoher Unverheiratetenquote gekennzeichnet war.47 Im Oberamt Tuttlingen lag 1861 das durchschnittliche Heiratsalter bei Erstehen (also Eheschließungen von Ledigen) bei 29 Jahren für Männer und Frauen und ging erst in den 1870er Jahren leicht um ein bzw. zwei Jahre zurück.48 Gleichzeitig waren dort nur vierzig Prozent der 25- bis dreißigjährigen Männer und 49 % der Frauen derselben Altersgruppe (bereits) verheiratet. Das Beobachtungsjahr 1861 fällt noch in die von 1852 bis 1863 andauernde Periode der stärksten Heiratsbeschränkungen im Königreich Württemberg, die als Reaktion auf die allgemeine Wirtschaftskrise zur Mitte des 19. Jahrhunderts erlassen worden waren und sich in den Heiratsverboten für Unterschichten manifestierten.49 Diese Maßnahmen, die die eheliche Fertilität und damit das Bevölkerungswachstum im Zeitalter des Pauperismus beschränken sollten, hatten nicht nur eine erhöhte Illegitimitätsrate bei Geburten zur Folge – bis zum Erlass der Heiratsverbote war im Oberamt Tuttlingen auf zwölf eheliche Geburten eine uneheliche Geburt gekommen50 –, sondern bewirkten auch, dass einige der von den Heiratsbeschränkungen betroffenen Paare nach Nordamerika auswanderten und dort die Ehe schlossen. Dies war beispielsweise beim Talheimer Tagelöhner Konrad Irion und der ledigen Regina Schweizer der Fall. Da den beiden, die zwei gemeinsame Kinder hatten, in ihrer württembergischen Heimatgemeinde der Ehekonsens verwehrt worden war, beantragten sie im März 1860 die Auswanderung.51 Bereits bei Ankunft des Schiffes in New York im November desselben Jahres ¿rmierte die
47 48 49 50 51
Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 47. OAB Tuttlingen, 101. Zu dieser Thematik vgl. auch Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Ebd. 102. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191.
6.4 Heiratsverhalten und Familienbeziehungen
211
vierköp¿ge Reisegruppe unter dem Familiennamen Irion.52 Auch der Gosheimer Schneider Wenzeslaus Hermle und die Frittlingerin Maria Schnell entzogen sich in den 1850er Jahren den württembergischen Heiratsverboten und heirateten in Nordamerika. Als Hermle 1862 von Pennsylvania aus zur Erlangung einer Erbschaft seine heimliche Auswanderung nachträglich schriftlich bei der Heimatgemeinde legitimieren wollte, wurde in seine Antragspapiere der Vermerk notiert: „Sie haben in Amerika ungesetzlicherweise sich verheurathet.“53 Durch die Aufhebung der bestehenden Heiratsbeschränkungen zu Beginn der Regentschaft von König Karl I. (1864–1891) konnten seit 1864 in Württemberg auch wieder Arme ohne behördliche Erlaubnis heiraten. Dass die Verheiratungswahrscheinlichkeit hier aber immer noch verhältnismäßig niedrig war, zeigt die Alterskohorte der 1867 im Oberamt Tuttlingen zwischen dem vierzigsten und fünfundvierzigsten Lebensjahr stehenden Bevölkerung, wonach immer noch 16 % der Männer und 18 % der Frauen unverheiratet waren.54 Demgegenüber lag unter den württembergischen Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet die Verheiratungswahrscheinlichkeit in Nordamerika weitaus höher und das Eheschließungsalter erheblich niedriger, wie Tab. 28 zeigt. Während im Oberamt Spaichingen 1861 bei beiden Geschlechtern erst ab der Alterskohorte der 31- bis 35-jährigen der Anteil der Verheirateten (zuzüglich der verheiratet Gewesenen) den der Ledigen überstieg, heiratete der Großteil der im US-amerikanischen Zensus 1860 oder im kanadischen Zensus 1861 wiedergefundenen Migranten aus dem Untersuchungsgebiet bei den Männern fünf und bei den Frauen zehn Jahre eher. Daraus folgt, dass der Anteil der heiratsfähigen Ledigen pro Alterskohorte im Oberamt Spaichingen erheblich höher lag als unter den Nordamerikaauswanderern. So waren im Oberamt Spaichingen beispielsweise zwei Drittel aller Männer im Alter zwischen 26 und dreißig Jahren noch unverheiratet, während es unter den Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika nur noch jeder Vierte dieser Altersgruppe war. Bei den Frauen war der Abstand noch deutlicher: Während in Württemberg (im Oberamt Spaichingen) noch sechzig Prozent der im heiratsfähigen Alter be¿ndlichen Kohorte der 26- bis dreißigjährigen ledig waren, war in Nordamerika laut Zensus nur jede zwanzigste Migrantin von der Schwäbischen Alb in dieser Altersgruppe unverheiratet geblieben. Das frühe Heiratsalter von Männern und Frauen in Nordamerika führte zu einer höheren Geburtenrate, die im ländlichen Raum noch größer war als in den Städten. Für viele ledig eingewanderte Frauen wie auch für viele Einwanderertöchter bedeutete das frühe Heiratsalter in Nordamerika vor allem ein 52 53 54
Passagierliste des Paketseglers Devonshire von London nach New York, Ankunft am 21.11.1860. StAS Wü 65/32, Bd. 1 Nr. 39. OAB Tuttlingen, 101.
Bevölkerung des Oberamtes Spaichingen am 3. Dezember 1861 Verheiratete oder Ledige verheiratet Gewesene m w m w 1.197 1.185 0 0 813 792 0 0 1.001 986 0 0 927 1.096 0 1 620 804 7 79 370 466 167 303 320 444 167 225 68 173 428 514 42 89 458 451 30 91 468 482 18 67 425 443 19 50 381 364 15 41 300 256 8 27 205 196 5 27 126 109 1 12 89 57 1 1 37 24 0 0 5 5 0 0 0 1 5.302 6.132 3.416 3.729 2.291 3.169 3.416 3.729 744 1.269 3.409 3.649
Migranten aus Untersuchungsgebiet in Nordamerika 1860/61 Verheiratete oder Ledige verheiratet Gewesene m w m w 3 0 0 0 35 30 0 0 65 64 0 0 80 47 0 10 35 83 26 43 114 36 3 65 11 3 111 49 11 2 123 63 3 0 55 33 2 1 41 34 2 2 22 23 1 0 25 13 0 0 10 11 0 0 10 6 0 0 3 2 0 0 3 2 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 332 178 560 346 229 84 560 346 66 11 517 301
Quelle: Vom Verfasser erarbeitet aus Zollvereinsstatistik und US-Zensuslisten.
unter 5 6–10 11–15 16–20 21–25 26–30 31–35 36–40 41–45 46–50 51–55 56–60 61–65 66–70 71–75 76–80 81–85 86–90 über90 Summe Personen > 15: Personen > 25:
Personen im Alter von Jahren
100,0 98,9 68,9 34,3 13,7 8,4 6,0 4,1 4,8 4,8 3,8 3,8 1,1 2,6 0,0 0,0 60,8 40,1 17,9
99,9 91,1 60,6 33,6 25,2 16,5 15,9 13,1 12,1 13,8 12,1 19,9 17,4 4,0 0,0 0,0 62,2 45,9 25,8
100,0 65,9 24,0 9,0 8,2 5,2 4,7 8,3 3,8 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 37,2 29,0 11,3
82,5 42,6 4,4 5,8 3,1 0,0 2,9 8,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 34,0 19,5 3,5
Oberamt Nordamerika Spaichingen 1861 1860/61 Anteil der heiratsfähigen Ledigen pro Alterskohorte m w m w
Tab. 28: Altersklassen der ortsanwesenden Bevölkerung des Oberamtes Spaichingen 1861 nach Geschlecht und Zivilstand im Vergleich zu den Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika nach dem dortigen Zensus 1860/61
212 6 Anpassung an die neue Umwelt
6.4 Heiratsverhalten und Familienbeziehungen
213
kürzeres Dienstmädchendasein. Nach der Einwanderung bzw. nach dem obligatorischen Schulbesuch bis zum vierzehnten oder fünfzehnten, manchmal auch bis zum sechzehnten Lebensjahr, folgten für viele dieser Mädchen oder jungen Frauen mehrjährige Anstellungen in amerikanischen Privathaushalten, wo sie sich mit Sprache und Kultur ihrer Aufnahmegesellschaft vertraut machen konnten und damit für ihre Landsleute als Ehepartner interessant wurden. In Württemberg dagegen arbeiteten unverheiratete Frauen oft lebenslang als Gesinde. In Nordamerika aber hatten sie gute Chancen, schon mit Anfang zwanzig eine Ehe einzugehen. So schrieb der im Februar 1848 nach Nordamerika gegangene Philipp Reichmann am 1. Januar 1849 aus Pittsburgh, Pennsylvania, an seine Angehörigen in Mühlhausen bei Schwenningen in Württemberg: Am besten haben es ledige Mädchen, denn sie haben pro Woche 1¼ Dollar und die Kost. Sie brauchen auch keine harte Arbeit tun, denn sie gehen nicht aufs Feld, tun bloß kochen, waschen und dergleichen Hausgeschäfte. Sie müssen zwar auch Àink sein, denn umsonst gibt man ihnen auch keinen Lohn, das denkt ihr euch gewiß auch. Sie dürfen auch nicht glauben, daß sie nur nach Amerika zu gehen brauchen, um einen Baron oder einen steinreichen Mann zu heiraten und in Wollust zu leben. Auch das ist nicht der Fall, denn die Frauenzimmer sind hier auch nicht mehr so selten, wie man bei euch noch erzählt. Ein Frauenzimmer, die einen Arbeiter heiratet, die hat’s ganz gut, wenn der Mann Arbeit hat. Sie kommen auch günstiger durch wie Ledige, denn die Kost kommt nicht so teuer, und die Frau verrichtet bloß das Hauswesen ihres Mannes, und sie sind dabei vergnügt und zufrieden.55
Noch in demselben Jahr folgten Reichmann zwei seiner Schwestern nach Nordamerika. Wie die Siedlungsbildungsprozesse württembergischer Migranten aus dem Untersuchungsgebiet im ländlichen Goodhue County in Minnesota sowie Städten wie Utica im Staat New York und Madison im Staat Indiana gezeigt haben, folgten weibliche Auswanderer ihren männlichen Verwandten oder Bekannten oft an die Siedlungsorte nach und nahmen dort – sowohl in der Stadt als auch auf dem Land – für einige Jahre als Dienstmädchen in Privathaushalten eine Stellung an. Nach der Heirat arbeiteten sie nicht, wie in Württemberg üblich, auf dem Feld, sondern führten den Haushalt und erzogen die Kinder. Der 1865 nach Nordamerika gegangene Schneidergeselle Jakob Bilger teilte 1867 folgende Beobachtungen über die veränderte Rolle der Frau nach Trossingen mit: Etwas will ich Dir noch schreiben über die Amerikaner Mädchen und Frauen: Nämlich die Frauen sind sehr stolz, und wenn sie heiraten, ist der Mann verpÀichtet, sie gänzlich zu ernähren, und wenn irgend möglich, müssen feine Kleider auf den Leib, und großartig im Hauswesen muß alles eingerichtet sein. Aber so, wie die Leute in Deutschland glauben, daß es zu wenig Frauenzimmer hier hat, das ist nicht wahr; sie sind hier bereits soviel im Durchschnitt wie draußen. Ein wenig mehr Recht haben sie als in Deutschland, aber dennoch halte ich es nicht für übertrieben: denn in einem solchen Land, wo
55
Zit. n. Frühbeis (Hg.), Amerika-Briefe, 11.
214
6 Anpassung an die neue Umwelt gut und schlecht untereinander sind – und auch von allen Nationen – muß anders regiert werden als in Deutschland.56
In einigen Fällen, wie beispielsweise bei dem Wurmlinger Auswanderer Johann Baptist Butsch in der Stadt Schenectady in New York, waren die eingewanderten Frauen nach der Hochzeit berufstätig. So Butschs Ehefrau, die vor ihrer Hochzeit bei einer angloamerikanischen Herrschaft als Dienstmädchen angestellt war und nach der Heirat gemeinsam mit ihrem Ehemann als Näherin Bekleidung anfertigte und auf eigene Rechnung verkaufte.57 Auch der Tuttlinger Schuster Johann Michael Held konnte von der Arbeitskraft seiner Frau, die in Philadelphia auch nach der Hochzeit als Schneiderin weiterarbeitete, pro¿tieren. Nachdem das Ehepaar Held nach Ohio verzogen war, eröffnete es in der Kleinstadt Johnsville eine eigene Schusterwerkstatt, wo er Schuhe und Stiefel herstellte bzw. reparierte und sie die Schäfte und Oberteile der Schuhe vernähte.58 Laut Zensus waren aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderte Frauen in Nordamerika nicht nur als Hausangestellte oder Waschfrauen in niedrigen Dienstleistungsberufen tätig, sondern neben vielerlei Tätigkeiten in der Bekleidungsindustrie (vor allem als Näherinnen) auch als selbstständige Unternehmerinnen wie z. B. als Ladenbesitzerinnen im Handel oder Betreiberinnen von Kosthäusern, Kneipen oder Restaurants in der Gastronomie. So war beispielsweise die Kolbinger Immigrantin Fortunata Stehle, die in St. Clair Boro, Schuylkill County, Pennsylvania, ihren Dorfgenossen Stephan Wachter geheiratet hatte, laut Zensus von 1870 dort Inhaberin eines Bierladens, während ihr Mann eine Bäckerei betrieb.59 Daneben arbeiteten einzelne Einwanderinnen von der Schwäbischen Alb in Nordamerika als Krankenschwestern, Hebammen oder Lehrerinnen. Wie aus Tab. 29 abzulesen ist, hatte sich der Frauenanteil unter ledigen Einzeleinwanderern an der württembergischen Nordamerikamigration zwischen 1840 und 1914 nahezu verdoppelt. Für viele ledige Frauen aus dem Untersuchungsgebiet bedeutete der durch den Migrationsprozess bewirkte Lebensweltwechsel den Ausbruch aus dem patriarchalischen Familiensystem. Durch kommerzielle, kulturelle und politische Chancen in Nordamerika, denen viele württembergische Frauen im Verlauf des Migrationsprozesses begegneten, veränderten sich die Geschlechterbeziehungen. So mussten Württembergerinnen in Amerika nicht länger Feldarbeit leisten und in der heimischen Stube am Webstuhl sitzen, sondern konnten, da Nahrung ausreichend
56 57 58 59
Brief aus Buffalo vom 14.7.1867 an Matthias Hohner; in Kopie erhalten in: Wirtschaftsarchiv Hohenheim, Firma Hohner, B 35, Nr. 108 StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 202. Vgl. Biographie des John M. Held in: History of Morrow County, 810 f. Manuscript of the 1870 U. S. Population Census: Pennsylvania, Schuykill County, St. Clair Boro, 663b, line 28 f.
215
6.4 Heiratsverhalten und Familienbeziehungen
zur Verfügung stand und die tägliche Fleischmahlzeit gesichert war60, ihr Leben eigenverantwortlicher gestalten als in Württemberg, wo teilweise bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein die existenzielle Not die Handlungsspielräume der Frauen stark einschränkte. Tab. 29: Familienanteil und Frauenanteil Lediger an der Nordamerikamigration aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen zwischen 1830 und 1914
Anteile Dekade
Familienanteil an der Nordamerikamigration [in %]
Frauenanteil an der Nordamerikamigration lediger Einzeleinwanderer [in %]
1830–1839
70,0
0,0
1840–1849
70,9
22,7
1850–1859
47,5
27,1
1860–1869
36,4
27,5
1870–1879
43,5
24,4
1880–1889
37,1
25,9
1890–1899
31,4
37,3
1900–1909
26,4
38,1
1910–1914
39,8
40,4
Quelle: Von Verfasser verknüpft und ausgezählt aus den Auswanderungs- und Schiffspassagierlisten.
Die durch den Lebensweltwechsel als Folge der Migration veränderte Rolle der Frau – statt Feldarbeit Schaukelstuhl und schöne Kleider – war für manchen männlichen Beobachter unter den Migranten gewöhnungsbedürftig. So berichtete der Uhrmacher Simon Bilger 1867 ein halbes Jahr nach seiner Einwanderung nach Trossingen: Die Landsleute sind sonst nicht die feinsten in Amerika. Von den deutschen Mädchen sind die meisten keinen Schuß Pulver wert, weil sie ihre Landsleute nicht angucken. Die Weibsbilder in Amerika haben den Himmel auf dieser Welt, denn hier haben sie nichts zu schaffen. Wenn sie verheiratet sind, tun sich kochen und waschen und sich selbst
60
Aus dem Brief der Maria Butsch von 1860: „An Lebensmittel, haben wir auch kein Mangel, Gott sei Dank. Wier haben diesen Winter schon 130 lbs RindÀeisch gehabt, beseits SchweineÀeisch, Schaf, und KalbÀeisch, Fisch und GeÀügel, der Johan sagt, Fleisch wär das beste Gemüß. Auch haben wir von der besten Qualität Weizen Mehl 200 lbs. So kann ich meinem Mann Spätzele, Schupfnudeln und Krazete, und dergleichen Sachen kochen, welches er mir im Anfang gelernt hatt, weil er doch die Kost, die ihm die Mutter gekocht, hatt, am besten gefält.“ StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 202.
216
6 Anpassung an die neue Umwelt füttern. Wenn sie dies getan haben, häkeln sie den Schal um den Hut und gehen spazieren oder wiegen sich wie in Deutschland die kleinsten Kinder.61
Auf den höheren Männeranteil unter den ledigen Einzeleinwanderern und auf die veränderte Rolle der Frau in Nordamerika ist es wohl zurückzuführen, dass die von der Schwäbischen Alb eingewanderten Frauen – sowohl auf dem Land als auch in den Städten – eher als eingewanderte Männer in höhere Schichten einheirateten. Dies geht zum einen aus den Berufsangaben und dem höheren Grundbesitz und Geldvermögen der angeheirateten Ehemänner hervor und lässt sich zum anderen an Fällen wie diesem ablesen, wo der angeheiratete amerikanische Schwiegersohn der Familie Streng in Michigan in einer County History Erwähnung fand, die Einwandererfamilie Streng selbst aber darin nicht erwähnt wurde.62 Schließlich dokumentiert das Heiratsverhalten der von der Schwäbischen Alb eingewanderten Württemberger, dass zwischen ihnen und der Bevölkerung des Aufnahmelandes lang anhaltende persönliche Kontakte bestanden, d. h. eine Interaktion über ethnische Gruppengrenzen hinweg und damit letztlich eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes stattgefunden hat. Interethnische Ehen, also Einheirat württembergischer Migranten in die angloamerikanisch geprägte Aufnahmegesellschaft, gelten als zentrale Indikatoren der gesellschaftlichen Integration. Das aus dem Zensus ermittelte Heiratsmuster der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet besagt, dass – wie im Falle des Spaichinger Schulprovisors und späteren Tierarztes Constantin Merkt – die Heiratshäu¿gkeit mit Einheimischen umso größer war, je höher der soziale Rang des Einwanderers war. Ökonomisch erfolgreiche Migranten heirateten eher einheimische Frauen, als es Angehörigen einfacherer Schichten möglich war. Bei der Wahl des Ehepartners öffnete sich das Heiratsverhalten der württembergischen Immigranten in ethnischer Hinsicht immer mehr der Exogamie. Am Zensus lässt sich für die Migrantenpopulation von der Schwäbischen Alb ablesen, dass bei 67 von 77 ihrer im Einwanderungsland bis 1850 geschlossenen Ehen Partner gewählt wurden, die in Deutschland geboren waren, wovon 22 aus dem württembergischen Herkunftsort bzw. -oberamt stammten. Unter den in Nordamerika geschlossenen Ehen der württembergischen Einwanderer, die 1880 Bestand hatten, waren 710 von 1.040 Ehen, die mit anderen deutschen Immigranten geschlossen wurden, darunter stammten 126 Ehepartner aus dem heimatlichen Oberamt, wenn nicht sogar aus der früheren Heimatgemeinde. Die Quote ethnischer Endogamie bei den Heiraten anderer deutscher Einwanderer war in den dreißig Jahren zwischen 1850 und 1880 von 87 % auf 68 % gesunken, bei der Wahl von Ehepartnern aus ihrem enge61 62
Brief zit. n. Zepf, Die Goldene Harfe, 101–104. Biographie von Col. Frederick Schneider, Ehemann der Tuttlinger Einwanderertochter Elisabeth Streng, in: Portrait and Biographical Album of Ingham, 215 ff.
6.5 Religiöses Leben
217
ren Lebensbereich (Ort, Oberamt) von 33 auf zwölf Prozent. Gleichzeitig vervierfachte sich in demselben Zeitraum die Quote derer, die in die amerikanische Aufnahmegesellschaft einheirateten, von sechs auf 24 %. Fast jede vierte Ehe von Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet, die 1880 bestand, war mit gebürtigen Amerikanern geschlossen worden, darunter zu einem Drittel mit solchen, deren amerikanische Wurzeln bereits über die Elterngeneration hinausgingen. In konfessioneller Hinsicht setzte sich dagegen im Einwanderungsland bis 1880 eine Veränderung des angestammten endogamen Heiratsverhaltens kaum durch. Gemischtkonfessionelle Ehen kamen im württembergischen Untersuchungsgebiet, wo zwischen 1900 und 1909 knapp 3.500 Ehen geschlossen wurden, vor dem Ersten Weltkrieg außerhalb der Stadt Tuttlingen kaum vor. Im Oberamt Spaichingen lag damals der Anteil solcher „Mischehen“ bei 2,2 %, im Oberamt Tuttlingen unter Ausnahme der Stadt Tuttlingen bei 5,2 %, in Tuttlingen selbst bei 22,2 %.63 Konfessionell gemischte Ehen zwischen württembergischen Einwanderern in Nordamerika konnten dort aufgrund einer uneinheitlichen Quellenlage nicht systematisch untersucht werden. Nur in wenigen Einzelfällen konnten „Mischehen“ nachgewiesen werden. So heiratete z. B. in Michigan ein Protestant aus Tuttlingen eine katholisch getaufte Immigrantin, die aus dem bei Tuttlingen gelegenen Ort Stetten an der Donau stammte. In Medina County, Texas, wo württembergische Katholiken und Protestanten in unmittelbarer Nähe zueinander siedelten, aber kaum interagierten, kamen gemischtkonfessionelle Eheschließungen erst in der dritten Einwanderergeneration vor. Dort war lange Zeit die Wahrscheinlichkeit größer, dass württembergische Katholiken Iren heirateten als württembergische Protestanten, denen ihrerseits reformierte Ostfriesen als Ehepartner genehmer waren als katholische Elsässer. Die Religion in ihren verschiedenen konfessionellen Ausprägungen bedeutete also bei der Anpassung an die neue Umwelt ein schweres „kulturelles Gepäck“. 6.5 RELIGIÖSES LEBEN Die Religion gilt in der historischen Migrationsforschung als wichtiges, wenn auch selten behandeltes Forschungsfeld.64 Im Ringen von Tradition und Moderne spielte die Religion auch im Leben der württembergischen Nordamerikamigranten von der Schwäbischen Alb eine zentrale Rolle. Die Migranten aus den württembergischen Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen, die im 19. Jahrhundert nach Nordamerika einwanderten, hatten in ihren Heimatgemeinden als getaufte Protestanten oder Katholiken weitge63 64
WJB. Vgl. Gjerde, New Growth.
218
6 Anpassung an die neue Umwelt
hend in konfessioneller Segregation gelebt.65 Nur im evangelischen Tuttlingen, der Oberamtsstadt, die als einzige Gemeinde des Untersuchungsgebietes im gesamten 19. Jahrhundert Zuwanderungen verzeichnete, lebte eine mehrere hundert Personen zählende katholische Minderheit, für deren Gemeinde zwischen 1868 und 1872 auch eine eigene Kirche gebaut wurde.66 Mit der Einwanderung nach Nordamerika nahmen die Migranten von der Schwäbischen Alb auch ihre religiösen Überzeugungen und Werte in die dortige Aufnahmegesellschaft mit. Nordamerika war bis ins 19. Jahrhundert hinein vorwiegend protestantisch geprägt, wurde im weiteren Verlauf des Jahrhunderts durch die Masseneinwanderung von Iren und deutschen Katholiken aber zu einer gemischtreligiösen Gesellschaft.67 Die religiöse Landkarte der Vereinigten Staaten von Amerika hatte sich also durch die Immigration verändert. Wie aber veränderte sich das religiöse Leben der Migranten durch den Wechsel ihrer Lebenswelt? Um ihre Religionsausübung im institutionellen Rahmen einer Kirche in Nordamerika fortzuführen, hatten Immigranten die beiden Möglichkeiten, entweder bestehenden Kirchengemeinden beizutreten oder neue Gemeinden zu gründen. Für die in den 1840er Jahren eingewanderten Katholiken von der Schwäbischen Alb gab es damals in Nordamerika außerhalb der Städte und bestimmter ländlicher Bezirke an der Siedlungsgrenze nur wenige Möglichkeiten, ihre Religion innerhalb einer Kirchengemeinde auszuüben, weshalb sie diese ländlichen Gebiete anfangs mieden. Durch die massenhafte Immigration irischer und deutscher Katholiken hatte die römisch-katholische Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika in den folgenden Jahren aber so viele neue Mitglieder gewonnen, dass sie bis 1870 hinter den protestantischen Kirchen der Methodisten, Baptisten und Presbyterianer nach ihrer Mitgliederzahl zur viertstärksten Kirche des Landes wurde und inzwischen auch in vielen ländlichen Siedlungsgebieten vertreten war. Wie aus einzelnen Biographien von aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Katholiken in den amerikanischen County Histories hervorgeht, behielten die meisten von ihnen (14 von 17) ihren angestammten Glauben bei, auf den sie in der Heimat getauft worden waren, und blieben auch in Nordamerika als Mitglieder katholischer Kirchengemeinden Teil der römisch-katholischen Kirche. Nur in drei von 17 dieser Biographien lässt sich nachweisen, dass eingewanderte Katholiken zum Protestantismus konvertierten und einer reformierten, lutherischen oder baptistischen Kirchengemeinde beitraten. Die Gründe für die Konvertierung mögen pragmatischer Natur gewesen sein, wie z. B. im Fall des Obernheimer Einwanderers Peter Kille, der in den 65 66 67
Dies belegen die Konfessionsangaben auf Gemeindebasis der Zollvereinszählungen seit 1858 (Quelle: WJB). OAB Tuttlingen, 240. Vgl. dazu auch Rothan, German Catholic Immigrant.
6.5 Religiöses Leben
219
1870er Jahren im südwestlichen Minnesota eine Norwegerin heiratete. Zuvor hatte er ihren Glauben angenommen und war Mitglied der lutherischen Kirche geworden.68 Pragmatismus gilt als ein wesentliches Kennzeichen amerikanischer Religiosität.69 Der nicht-katholische Ehepartner war wohl auch bei dem Frittlinger Einwanderer Christian Wenzler, der aus einer katholischen Familie stammte und dessen amerikanische Ehefrau Baptistin war, der Grund, in Illinois mit der German Reformed Church einer protestantischen Kirche beizutreten.70 Rudolph Zepf, der 1851 als Dreijähriger zusammen mit seiner Familie aus Frittlingen ins Land gekommen war – im Gegensatz zu den beiden anderen Konvertiten also im Einwanderungsland sozialisiert –, schloss sich ebenso in Illinois der baptistischen Kirche an und wurde später Lehrer.71 Ebenfalls zum Protestantismus konvertierte der aus dem katholischen Rottweil eingewanderte Kaspar Herbst, dessen Ehefrau aus Aixheim stammte. Herbst machte sich 1865 in einem Brief aus Fairview, Pennsylvania, an seine Eltern über die religiöse Ignoranz unter deutschen Einwandererkindern Luft, die er dem laizistischen amerikanischen Schulsystem zuschrieb: Es kam einmal ein deutsches, in Amerika gebohrenes Medchen, etwa 18 Jahre alt, in unser Haus. Es betrachtete das Kruzi¿x-Bild bedeutend welch wir ober dem Tisch an der Wand hängen haben. Es fragte sodann: Was dies für ein gehängter Mann wäre; Wir sagten ihm: Es sey das Dank- und Vorbild unseres Erlösers. Hierauf gab es zur Antwort: Dies sey ihm unbekannt und sagte: Dies würde Es hinausschaffen, dies gucke nicht hübsch, so ein gehängten Mann möchte es nicht vor den Augen haben. Und so unwissend ist bereits die ganze Jugend. In der Schule wird Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt und Bosheit und Üppigkeit, von Religion kommt kein Wort vor und wie können solche Eltern ihre Kinder in der Religion unterrichten, die selbst nicht von einem Erlöser wissen oder wissen wollen. Deswegen schicken wir unsere Kinder in keine Schule, sondern lehren ihnen selbst, was ihnen zu wissen nötig ist.72
Zeichen tiefer Frömmigkeit bestanden auch darin, in Nordamerika in einen religiösen Orden einzutreten und sich einem Leben im Kloster zu verschreiben. Gottlieb Grimm, eingewanderter Buchbinder aus dem Heubergdorf Böttingen, war beispielsweise in seinem Wohnort in der Stadt Madison in Wisconsin stark in der dortigen Holy Redeemer Church engagiert. Er war dort Organist und spendete seiner Kirchengemeinde für den Aufbau einer katholischen Schule Grundbesitz. Fünf seiner zehn in Nordamerika geborenen Töchter wurden später Nonnen.73 Auch die als Kind aus Böttingen eingewanderte Catharina Reiser trat in Wisconsin in ein Kloster ein. Paul Huber, ein 1867 aus 68 69 70 71 72 73
Vgl. Illustrated History, 668. Maron, Römisch-Katholische Kirche, 282. Vgl. Portrait and Biographical Record of Christian County, 358 f. Vgl. die Erwähnung in der Biographie seiner Eltern Nicholas Zepf [„Zeph“] und Franciska Zimmerer in: Portrait and Biographical Album of Livingston County, 962–965. Brief im Privatbesitz. Familiengeschichtliches Material zur Grimm Family, Böttingen to Madison, WI, zur Verfügung gestellt von Ann C. Nennig, Kewaunee, WI.
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6 Anpassung an die neue Umwelt
Nendingen im Oberamt Tuttlingen eingewanderter Schuster, der in Nordamerika wohl Theologe geworden war, leitete laut dem Zensus von 1880 bzw. 1900 in Baltimore, Maryland, als Rektor die St. Michael’s Church. Die evangelischen Einwanderer, die aus dem Untersuchungsgebiet nach Nordamerika gekommen waren, hatten dort eine andere Ausgangsposition als die Migranten aus ihren katholischen Nachbargemeinden aus der Baar, dem Donautal oder vom Heuberg, denn ihnen waren zum Teil bereits Missionare aus ihren Heimatdörfern nach Amerika vorausgegangen. Zu den ersten von insgesamt einem knappen Dutzend evangelischer Kleriker aus dem Untersuchungsgebiet zählte der Tuttlinger Säcklersohn Johann Jacob Rieß, der als Heranwachsender nach einem Blitzschlag in Tuttlingen74, bei dem er drei Verwandte verlor, eine innere Umkehr erfuhr und 1830 ins Missionsinstitut Basel eintrat, wo er 1835 ordiniert wurde. Von dort wurde er noch im gleichen Jahr nach Dutch Hill in St. Clair County in das ländliche Illinois geschickt, um unter den eingewanderten deutschen Glaubensgenossen die evangelische Kirche aufzubauen und zu fördern. Seit 1835 predigte Rieß wechselweise an verschiedenen Orten im ländlichen Illinois. Dort wurde er Gründungsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenvereins des Westens75, eines Zusammenschlusses lutherischer und reformierter Kirchen deutscher Einwanderer auf amerikanischem Boden nach dem Vorbild der preußischen Unionskirche, und später Pastor der Zionsgemeinde in Centreville. Im Oktober 1846 folgte er einem Ruf an die deutsche Evangelische Gemeinde nach St. Louis, wo er bis zu seinem Tod 1855 Pfarrer blieb. An Rieß’ Tagebuch lässt sich ablesen, dass er von kirchlichen Widersachern stark angefochten wurde und welche Spannungen es zwischen seinem vom asketischen Protestantismus geprägten Amtsverständnis und den Anschauungen der von ihm betreuten deutschen Einwanderer in Illinois und St. Louis gab. Verstärkt von der dortigen antiklerikalen Presse der deutschen Einwandererschaft, deren Sprachrohr das Organ Der Antipfaff in St. Louis war, nahm die Opposition zu Pfarrer Rieß Auswüchse an, an denen er schließlich zerbrach. So wurde er beispielsweise während eines Gottesdienstes auf der Kanzel mit einem Messer bedroht oder musste mitansehen, wie Gotteslästerer auf dem Altar seiner Kirche einen Hund mit Wasser übergossen, während sie den Abendmahlswein austranken.76 Diese Auseinandersetzungen zeigen das Spannungsfeld, in dem der Missionar Rieß, wie auch viele andere deutsche Einwanderer in Nordamerika damals standen. Nicht nur der staatlichen, sondern auch der kirchlichen Obrigkeit durch ihre Auswanderung entzogen, suchten sie ihren neuen Platz in der 74 75 76
Unsterblich gemacht durch Gustav Schwabs Gedicht „Das Gewitter“. Vgl. dazu Schneider, German Church on the American Frontier; Gelzer, Mission to America. Verbatim Transcript of the Diary of J. J. Riess Which was in Possession of his Grandson, John J. Riess of Red Bud, Illinois (Eden Theological Archives).
6.5 Religiöses Leben
221
Aufnahmegesellschaft und waren zwischen traditionellem Gehorsam dem Pfarrer gegenüber und der moderneren religiösen „Selbstbestimmung“ zerrissen. Wie schon bei der Besiedlung der Stadt Muscatine in Iowa durch Tuttlinger Migranten erwähnt, führte das dortige Verhalten der Einwanderer, sich z. B. über die Tanz- und Alkoholverbote ihres vergnügungsfeindlichen Pfarrers, des ebenfalls aus Tuttlingen stammenden Schulmeisters Konrad Rieß – eines Bruders von Johann Jacob – hinwegzusetzen, zur Bitte des Pfarrers um Versetzung. Diesen drastischen Beispielen zum Trotz war das religiöse Leben der evangelischen Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet aber vielerorts von Respekt gegenüber ihrem Pfarrer geprägt. Ein Beispiel für die gelungene Kooperation zwischen einem aus der Heimatgemeinde stammenden Missionar und seiner Kirchengemeinde in der Neuen Welt war in Medina County, Texas, zu sehen, wo der ebenfalls von der Basler Mission entsandte Christian Ö¿nger als Pfarrer von Castroville und Quihi mit seinen ihm aus Aldingen gefolgten Geschwistern und ehemaligen Dorfbewohnern einvernehmlich zusammenlebte und diese in spiritueller Hinsicht betreute. Während die Tätigkeit der insgesamt mindestens acht aus evangelischen Gemeinden der Oberämter Tuttlingen und Spaichingen stammenden Basler Missionare77 in Nordamerika an reformierten oder lutherischen Kirchengemeinden in der Kontinuität zu der in Württemberg praktizierten Religionsausübung stand, gab es auch Fälle, in denen evangelische Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika zu einer in der angelsächsischen Traditionslinie stehenden protestantischen Erweckungsbewegung gestoßen waren, so dass sie sich berufen fühlten, als Prediger das Wort Gottes zu verkünden. Dies war beispielsweise beim 1853 aus Hausen ob Verena im Oberamt Tuttlingen eingewanderten Maurer und Medizinstudenten Matthias Klaiber der Fall. Er trat 1856, zwei Jahre nachdem er in Amerika eine junge Frau aus seinem Heimatdorf geheiratet hatte, in Portsmouth, Ohio, der Methodist Episcopal Church bei. Nach einem Umzug innerhalb Ohios nach Independence besuchte er dort in Ermangelung einer methodistischen Kirche am Ort die Evangelical Church. Im Wunsch, Menschen zu bekehren, ließ er sich zum Pfarrer ausbilden und wurde 1857 ordiniert. Als Prediger war er anschließend in mehreren Orten in den Staaten Indiana, Illinois, Kentucky und Ohio tätig, bevor er wegen gesundheitlicher Beschwerden 1878 nach Colorado umzog. Nach seiner Ankunft in Denver, wo er eine Praxis als deutscher Arzt eröffnete und sich der dortigen German Methodist Episcopal Church anschloss, wurde er noch im Ankunftsjahr zu deren Pfarrer bestellt.78 77
78
Zu den aus dem Untersuchungsgebiet stammenden Basler Missionaren gehörten neben Johann Jakob Rieß (IL/MO), Conrad Rieß (IL/IA/IL), Andreas Irion (MO), dessen Neffe Jacob Irion (MO), Christian Ö¿nger (TX/PA), Jakob Gruhler (PA), Martin Kratt (MD) und Martin Otto (LA). Vgl. Bruyn, Matthias Klaiber, 488.
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6 Anpassung an die neue Umwelt
Mit der Gründung eines deutschsprachigen Zweiges der Methodistenkirche in den Vereinigten Staaten von Amerika in den 1830er Jahren durch den schwäbischen Einwanderer Wilhelm Nast79 brauchten evangelisch-pietistische Einwanderer wie Klaiber den deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht zu verlassen, wenn sie sich in Nordamerika einer ihren Vorstellungen entsprechenden Kirche anschließen wollten und damit dem Methodismus zuwandten. Einen ähnlichen Weg schlug der Tuttlinger Einwanderer Heinrich Hilzinger ein. 1874 ins Land gekommen, nahm er noch in demselben Jahr an der deutschen Abteilung des Theologischen Seminars der Universität Rochester – einer Lehranstalt baptistischen Ursprungs im Staat New York – ein Studium auf. Nach seiner Ordination 1875 wirkte er an zehn verschiedenen baptistischen Gemeinden in sechs verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten und auch im kanadischen Ontario. Unter anderem war er zwischen 1884 und 1890 in Muscatine, Iowa, und danach vier Jahre lang in Carrick in Ontario tätig. An beiden Orten gab es damals eine große Migrantenpopulation, die aus der Stadt bzw. dem Oberamt Tuttlingen stammte.80 Im loser organisierten Protestantismus kam es in Nordamerika viel mehr als im Katholizismus auf die Persönlichkeit des Pfarrers an, weil hier der Beitritt zu einer anderen Kirchengemeinde jederzeit eine Option blieb. Wie bereits an den Trossinger Einwanderern in Ontario gezeigt, blieben die meisten Migranten auch in der neuen Heimat ihrer gewohnten evangelisch-reformierten Tradition treu, wenngleich der in Nordamerika stark verbreitete Methodismus für Einwanderer eine zunehmend attraktivere Alternative wurde. Nach den Biographien der aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen stammenden Einwanderer in den County Histories geht hervor, dass von zwanzig evangelisch getauften Einwanderern in den Vereinigten Staaten zehn einer lutherischen Kirchengemeinde beitraten, jeweils vier der German Evangelical Church und der methodistischen Kirche, je einer der Congregational Church und den Baptisten. Während Religion und Kirche in den vorliegenden 73 Auswandererbriefen aus dem Untersuchungsgebiet, die zwischen 1848 und 1907 geschrieben worden sind, im Allgemeinen kaum thematisiert wurden, zeigt ein Brief der aus dem evangelischen Trossingen eingewanderten Agathe Quattländer von 1893 aus Buffalo, dass Konvertiten unter den deutschen Einwanderern in religiösem Eifer mitunter Verachtung entgegengebracht wurde: Jetzt vom Lantsleut wollen wihr nicht viel wissen; geth eim gut, so vergönnen sis eim, geth eim schlecht, so freuen sie sich, solche Leute wo sich umteufen lassen zu Baptich-
79 80
Vgl. Eintrag zu „Wilhelm Nast“ in: Biographisches-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. IV (1993), Spalten 464–468. Zit. n. der Online-Version bei www.bautz.de/bbkl (kontaktiert am 4.5.2009). Vgl. Portrait and Biographical Album of Muscatine County, 634–653.
6.6. Vereinsleben, politische Partizipation und der Amerikanische Bürgerkrieg
223
ten will ich nichts wissen. Die Oegglinger und die Kratting, dies sind zwei gute für diese Kirche, jetzt mich könn sie Gift geben, aber sie sollen in die Hölle gehen.81
Eine Alternative zum Beitritt zu in Nordamerika bestehenden Kirchengemeinden war für einzelne Einwanderer auch die Gründung einer eigenen Kongregation. Diese Option haben einige evangelische Migranten von der Schwäbischen Alb in ländlichen Siedlungsgebieten Nordamerikas wahrgenommen, wie z. B. die Gründung einer reformierten Kirche in Auglaize County, Ohio, durch Trossinger und Talheimer Einwanderer zeigt. Kirchengründungen unter Beteiligung evangelischer Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet gab es außerdem im ländlichen Nordamerika ebenfalls um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Pendleton County in Kentucky, Allegany County in New York und Jefferson County in Missouri. Hier stand der Wunsch der Migranten im Vordergrund, ihr religiöses Leben in einer möglichst ähnlichen Art und Weise fortzuführen, wie sie es aus der württembergischen Heimat gewohnt waren. Gerade in homogenen ländlichen Einwanderersiedlungen stellte die Religion einen Faktor der Gemeinschaftsbildung und eine Kraft der kulturellen Beharrung dar. 6.6. Vereinsleben, politische Partizipation und der Amerikanische Bürgerkrieg 6.6 VEREINSLEBEN, POLITISCHE PARTIZIPATION UND DER AMERIKANISCHE BÜRGERKRIEG Wie gezeigt werden konnte, entstanden parallel zum Verlauf der transatlantischen Massenmigration von der Schwäbischen Alb seit den 1840er Jahren in Nordamerika Siedlungen, wohin im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitere Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nachfolgten. Durch die gemeinsame Siedlungsbildung federten die Migranten von der Schwäbischen Alb die Brüche des durch die Nordamerikamigration vollzogenen Lebensweltwechsels ab und lebten auch im Einwanderungsland in einer vertrauten Gemeinschaft, die über den Zusammenhalt des eigenen Familienverbandes hinausging. Über solche, auf gemeinschaftlichen Ansiedlungen von Verwandten, Bekannten, Nachbarn und Dorfgenossen beruhende Sozialverbände hinaus waren die Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika auf landsmannschaftlicher Ebene Teil eines größeren Ganzen. Als Deutschamerikaner lebten die eingewanderten Württemberger häu¿g nicht nur in denselben ethnisch geprägten Wohnvierteln zusammen, besetzten bestimmte Wirtschaftszweige, lasen dieselben deutschsprachigen Zeitungen oder waren mit anderen deutschen Einwanderern Glieder einer bestimmten Kirchengemeinde, son-
81
Brief der Agathe Quattländer aus Buffalo vom 18.6.1893 an ihre Schwester Maria in Trossingen (Stadtarchiv Trossingen, RB 939/L 690).
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6 Anpassung an die neue Umwelt
dern nahmen auch in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht am Leben in ihrer Aufnahmegesellschaft teil. Neben der Mitwirkung in ihrer Kirchengemeinde waren es Vereine verschiedener Art, denen Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet beitraten, wie aus ihren Biographien in den County Histories hervorgeht. Bei den von diesen württembergischen wie auch von anderen deutschen Einwanderern bevorzugten bzw. gegründeten Vereinen handelte es sich neben berufsständischen Vereinigungen um soziale Clubs – insbesondere Gesangvereine, Wohltätigkeitsclubs und Unterstützungsvereine, die rudimentär die Funktion einer Krankenversicherung erfüllten – sowie Geheimbünde oder Logen. Gerade in der Mitgliedschaft in solchen säkularen Bruderschaften offenbarte sich für viele Zeitgenossen der Antagonismus zwischen den „Vereinsdeutschen“ und den „Kirchendeutschen“.82 Neben 37 Einwanderern von der Schwäbischen Alb, in deren Biographien nach den County Histories eine Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde am Wohnort explizit vermerkt war, gab es eine Mehrheit von 45 Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet, bei denen die Kirchenzugehörigkeit in Amerika nicht aus dieser Quellengattung hervorgeht. Für einen Teil von ihnen sind stattdessen Mitgliedschaften in Freimaurerlogen, Geheimbünden und anderen säkularen Bruderschaften erwähnt, in denen sie unabhängig von religiösen Bekenntnissen Gemeinschaft zu erfahren hofften. Die Freimaurerei z. B. vereinte Menschen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften und verstand sich daher nicht als Religion. In Nordamerika erwartete sie jedoch mindestens das deistische Bekenntnis zu einem „höheren Wesen“ und grenzte sich in der Regel vom reinen Atheismus ab. Überschneidungen von Kirchen- und Logenmitgliedschaft kamen in den untersuchten Biographien neunmal vor, etwa bei der Hälfte der aus den evangelischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes stammenden Einwanderer, die in Nordamerika einer protestantischen Kirche beigetreten waren, aber bei keinem einzigen Einwanderer, der sich in Amerika zum Katholizismus bekannte, da die Mitgliedschaft in einer Loge für Katholiken of¿ziell verboten war. Dagegen waren fünf eingewanderte Katholiken, die in ihrer Biographie keine Aussagen zu ihrer Kirchenmitgliedschaft machten, Mitglieder einer Loge. Mit Beitritten zu solchen bis an den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zurückgehenden und später von angelsächsischen Einwanderern nach Nordamerika importierten Bruderschaften wie den Freimaurern oder dem Internationalen Orden der Odd Fellows (I. O. O. F), der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England als eine Art Notgemeinschaft von Handwerkern entstanden war, suchten die europäischen Migranten in Nordamerika in der
82
Vgl. Kathleen Neils Conzen, Germans, in: Harvard Encyclopedia of American Ethnic Groups, 417 ff.
6.6. Vereinsleben, politische Partizipation und der Amerikanische Bürgerkrieg
225
Zeit der beginnenden Industrialisierung eine Solidarität zu schaffen, die ihnen das Zunftsystem in der Heimat Jahrhunderte lang geboten hatte. Da in den Vereinigten Staaten von Amerika im 19. Jahrhundert kein staatliches Sozialsystem bestand, war es Aufgabe und Ziel solcher Vereinigungen, den Solidaritätsgedanken zu stärken und ihren Mitgliedern gegenseitige Hilfe und Unterstützung zuteil werden zu lassen. Der 1868 in Pennsylvania als „Brüderlicher Wohltätigkeitsverband für weiße Männer“ zur Unterstützung verarmter Arbeiter und Einwanderer gegründete Ancient Order of United Workmen, dem auch Migranten aus dem Untersuchungsgebiet beigetreten sind, war die erste Freimaurer-Bruderschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika, die den Hinterbliebenen ihrer Mitglieder Sterbegeld zahlte. Neben Mitgliedschaften in diesen in Nordamerika schon bestehenden, angelsächsisch geprägten Bruderschaften und Vereinigungen traten Migranten von der Schwäbischen Alb aber auch im 19. Jahrhundert von deutschen Einwanderern in den Vereinigten Staaten gegründeten Geheimbünden wie z. B. der Schiller Loge oder der Teutonia Loge und Unterstützungsvereinen wie der German Aid Society oder dem Wittwen und Waisen Fond bei. Eine Vereinigung amerikanischer Bürger deutscher Abstammung, der auch Migranten von der Schwäbischen Alb beitraten, war beispielsweise der 1840 in New York gegründete Orden der Hermann Söhne. Mitglieder dieses Ordens machten es sich zur Aufgabe, deutsche Sitten, Gebräuche und Kultur zu pÀegen, worunter zum Erhalt der Muttersprache die deutsche Sprache in den Schulen der neuen Heimat gefördert werden sollte. Nach dem Motto „Wir alle umschließen den Einen, und der Eine umschließt uns alle“, war der Orden der Hermann Söhne dem Humanitätsgedanken, nicht aber der Politik oder einer bestimmten Religion bzw. Konfession verpÀichtet. Die Entstehung und Entwicklung württembergischer Siedlungen auf dem Lande und in den Städten hat gezeigt, dass in den ländlichen Siedlungsgebieten für die Einwanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen die Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde die wichtigste – und oft auch die einzige – Form des Gemeinschaftslebens war. In den Städten dagegen war es stärker das Vereinsleben, das mit seinen Versammlungen, Tänzen, Oktoberfesten und Picknicks mit typischer deutscher Gemütlichkeit den württembergischen Einwanderern vertraute Geselligkeit vermittelte. Anziehungspunkt für das gesellige Leben vieler deutscher Einwanderer in Nordamerika und Versammlungsort vieler Vereine waren die Kneipen (saloons), von denen etwa einhundert in Klein- und Mittelstädten sowie in den deutschen Vierteln der Großstädte von Einwanderern von der Schwäbischen Alb betrieben wurden. Im puritanisch geprägten Amerika mit seinem latenten Hang zur Abstinenz und der vielerorts strikten Einhaltung des Sonntags als Tag des Kirchgangs und der Erholung waren KonÀikte mit den deutschen Einwanderern, die den Sonntag gerne mit ihrer gesamten Familie in der Wirtschaft oder im Biergarten verbrachten, vorprogrammiert. Als Sixt Ludwig
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6 Anpassung an die neue Umwelt
Kapff, der zum Gastwirt gewordene Revolutionär, in den 1850er Jahren in New York City wegen der Sonntagswirtshausregelung mit dem lokalen Gesetz in KonÀikt kam, verlegte er seine Kneipe kurzerhand in den Nachbarstaat New Jersey. Von einem Prohibitionsgesetz des Staates Iowa betroffen, mussten die Brüder Paul und John Mattes aus Nendingen im Oberamt Tuttlingen, die in Des Moines die East Side Brewery gegründet hatten, 1884 den Brauereibetrieb einstellen.83 John Mattes verzog daraufhin in den Nachbarstaat Nebraska und kaufte sich dort 1886 in eine bestehende Brauerei ein, um seinen Beruf weiterhin ausüben zu können.84 Als Kneipier reüssieren konnte dagegen Franz Xaver Huber aus dem Heubergdorf Böttingen, der in einem Brief vom 30. Juni 1862 aus San Francisco seinen Eltern und Geschwistern seine beruÀiche Entwicklung vom Eisendreher in Böttingen über die ersten Jahre voller wechselhaften Glückes als Goldsucher in Kalifornien bis hin zu seinem einträglichen und angesehenen Beruf als Betreiber einer Wirtschaft in San Francisco beschreibt und dabei die enge Verbindung zwischen dem Wirtsberuf und dem Vereinsleben dokumentiert: Es wird Euch sicher wundern, wie es mir geht oder was ich treibe. Die ersten paar Jahre, seit ich in dem Goldland Californien bin, ging es mir herzlich schlecht, denn ich suchte nach Gold, was ich auch fand, aber wieder verlohr durch Spekulation, wie es einmal hier zugeht, hier macht man schnell viel Ge[ld], verliert es aber manchmal wieder so schnell, besonders beim Goldgraben. Ich hatte einmal über tausend Dollar, und in 6 Monath hatte ich alles verlohren. Ich habe sehr hart gearbeitet dafür, aber das kann einmal nicht helfen. Da ging ich in die Stadt San Franzisko, wo ich jetzt meine Heimath habe und wirklich recht gut zufrieden bin. Hier habe ich eine Wirthschaft, die wirklich sehr gut geht; ich habe nun in einem Jahr mehr zurückgelegt als sonst in den Jahren, denn ich habe einen der Hauptplätze in der Stadt und eigne mich bessonders zum Wirth. Auch ist mit der Dreherei hier nichts zu machen, und hier giebt man nichts darum, was man treibt, wenn es nur ein erliches Geschäft ist; ja ich kann Euch wirklich sagen, daß ich, solang ich in Amerika bin, noch nie so zufrieden gewesen bin wie jetzt, denn ich brauche nicht hart zu arbeiten und verdiene dennoch mehr, ich habe eine schöne Wirtschaft, eine noble Kundschaft und schmeichle mir zu sagen, daß ich sehr angesehen bin bey Deutschen u. Amerikaner. Ich gehöre zu Gesangsvereinen und sonstigen Gesellschaften, was meinem Geschäft sehr zuträglich ist. Das schlimmste von der Geschichte ist, daß ich noch ledig bin, ich muß jedoch gestehen, das es mich nicht viel grämt, aber doch wenn man ein eigenes Geschäft hat, sollte man verheirathet sein, und ohne zu prahlen, es stehen mir auch viele zur Verfügung, wenn ich heirathen wollte, und wir wollen noch sehen.85
Auch der Talheimer Einwanderer Michael Ulrich, der in der Stadt Buffalo eine Wirtschaft führte, war als Kneipier in das deutschamerikanische Vereins83 84 85
Vgl. die Biographie von Paul Mattes in Annals of Polk County, 1035 f. Vgl. auch Eiboeck, Die Deutschen von Iowa, 612. Vgl. die Biographie von John Mattes in Portrait and Biographical Album of Otoe, 441 f. Brief des Franz Xaver Huber vom 30.6.1862 aus San Francisco an seine Eltern und Geschwister in Böttingen. Privatbesitz.
6.6. Vereinsleben, politische Partizipation und der Amerikanische Bürgerkrieg
227
leben seines Wohnortes integriert. In seiner Biographie sind Mitgliedschaften in der Schwäbischen Unterstuetzungsgesellschaft von Ost-Buffalo, im Schwäbischen Gesangsverein, im Teutonia Liederkranz, in der Valhalla-Sektion der Bayerischen Nationalversammlung, im Adlerorden, bei den Pythiasrittern und den Pirolen aufgeführt.86 Das Vereinsleben der deutschen Einwanderer zeigt die Anpassung der Migranten an ihre neue Umgebung in der Aufnahmegesellschaft. Durch ihren Beitritt zu bzw. die Neugründung von säkularen Bruderschaften und Unterstützungsvereinen stellten besonders die Deutschen in den nordamerikanischen Städten ein Stückweit die Solidarität wieder her, die ihnen in der Heimat als Teil der Dorfgemeinschaft zuteil geworden war, die ihnen aber im Zuge des Lebensweltwechsels infolge der Auswanderung – gerade bei Niederlassung abseits des Verbandes ihrer ehemaligen Dorfgenossen – verloren gegangen war. Andere Vereine, zu denen in besonderem Maße auch die Schützen- und Gesangvereine zählten, deren Mitgliedschaften in den Biographien der Einwanderer von der Schwäbischen Alb an häu¿gsten genannt wurden, dienten ebenfalls dem sozialen Zusammenhalt und dokumentierten die Af¿nität der Deutschen zur Verbindung von Musik und Geselligkeit. In Altoona, Pennsylvania, gründeten beispielsweise 1864 deutsche Einwanderer, unter ihnen Aldinger Immigranten, die Frohsinn Singing Society. In der Stadt Utica in New York besteht seit 1865 der Utica Maennerchor, in dem sich damals viele der dortigen Talheimer Immigranten versammelten. Solche Vereine kannten die württembergischen Einwanderer auch aus ihren Heimatdörfern. So war z. B. 1863 in Aldingens Nachbarort Trossingen der Gesangverein „Harmonie“ aus der Taufe gehoben worden. 1864 wurden in Trossingen die freiwillige Feuerwehr, 1872 der Veteranenverein, 1875 der Militärverein und 1879 die Turngemeinde gegründet.87 Der Musikverein Aldingen stammt aus dem Jahr 1876. Ein weiterer Grund für die gute Integration der deutschen Einwanderer in die amerikanische Aufnahmegesellschaft lag in der vollständigen Akzeptanz des politischen Systems ihres Aufnahmelandes, das gegenüber den im 19. Jahrhundert autokratischen politischen Strukturen in Württemberg bzw. später auch im Deutschen Kaiserreich von den meisten Migranten als überlegen empfunden wurde. Dies lässt sich zum einen daran ablesen, dass die meisten Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet, wie aus dem U. S. Census hervorgeht, nach der obligatorischen fünfjährigen Wartezeit nach Abgabe ihres Antrags auf Verleihung der US-amerikanischen Staatsangehörigkeit dem württembergischen König abschworen und sich verfassungsmäßig auf den Boden ihres Gastlandes stellten.
86 87
Vgl. Buffalo und sein Deutschtum, 321–325. Vgl. Häffner/Ruff/Schrumpf, Trossingen, 112 f.
228
6 Anpassung an die neue Umwelt
Das politische Interesse der Einwanderer von der Schwäbischen Alb lässt sich auch an den County Histories ablesen, nach deren Biographien sich 27 von 82 Personen – jeder Dritte – als Anhänger der Demokratischen oder der Republikanischen Partei bezeichneten. Die württembergischen Einwanderer von der Schwäbischen Alb in Nordamerika nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ihrer Adoptivheimat stärker am politischen Prozess teil, als sie es in Württemberg in Zeiten der politischen Restauration hätten tun können. Dass sie ihre Loyalität zu den Vereinigten Staaten von Amerika ernst meinten, sieht man daran, dass die deutschen Einwanderer – wenngleich sich einige auch ¿nanzielle Vorteile versprochen haben mögen– wie keine zweite Immigrantengruppe bereit waren, die Einheit der Union mit ihrem Leben zu verteidigen.88 Der Amerikanische Bürgerkrieg mit seiner vierjährigen Dauer, einer Beteiligung von mehr als 3,5 Millionen Soldaten und seinen Opferzahlen von mehr als 600.000 Toten war auch für viele Einwanderer ein einschneidendes Ereignis. Obwohl damals nur weniger als fünf Prozent der württembergischen Immigranten auf dem Territorium derjenigen Bundesstaaten lebten, die seit Dezember 1860 aus der Union ausgetreten waren und sich im Frühjahr 1861 zu den Konföderierten Staaten von Amerika zusammengeschlossen hatten, war die gesamte Nation vom Bürgerkrieg betroffen. Dies galt am unmittelbarsten für die insgesamt 140 (unter 1.354 im U. S. Census von 1860 wiedergefundenen) Einwanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen, die sich damals entweder als Ansässige in den Confederate States of America (CSA) von DienstverpÀichtungen an der Waffe bedroht sahen (die Konföderation führte 1862 die erste allgemeine WehrpÀicht auf nordamerikanischem Boden ein) oder die zu Beginn des Bürgerkrieges in einem der unionstreuen „Sklavenhalterstaaten“ (hier vor allem in Missouri und Kentucky) residierten und sich dort innerstaatlichen Spannungen und teilweise gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen für und wider den Abfall von der Union ausgesetzt sahen. Ebenso hatten diejenigen stärker zu leiden, auf deren Territorium der Krieg ausgetragen wurde (vor allem die Bevölkerung von Tennessee, Virginia, Maryland). Gemessen am Anteil ihrer dortigen während des Krieges im militärdienstfähigem Alter (18 bis fünfzig Jahre) stehenden Männer beteiligten sich württembergische Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet in den Konföderierten Staaten (vor allem Louisiana und Virginia) und in den umkämpften Grenzstaaten (vor allem Missouri und Maryland) am stärksten am Krieg, während diejenigen Einwanderer, die zu Kriegsbeginn in den erst in den 1840er Jahren in die Union aufgenommenen Staaten Wisconsin und Iowa lebten, am Kriegseinsatz zahlenmäßig unterrepräsentiert waren. Auch entsprach die Kriegsbeteiligung der in Illinois und Pennsylvania ansässig gewordenen Württemberger bei weitem 88
Vgl. Helbich/Kamphoefner (Hg.), Deutsche im Amerikanischen Bürgerkrieg, 39 ff.
6.6. Vereinsleben, politische Partizipation und der Amerikanische Bürgerkrieg
229
nicht ihrem Bevölkerungsanteil, weshalb die württembergischen Kriegsteilnehmer in den Mittelatlantikstaaten stärker unterrepräsentiert und in der Region der Großen Seen auch nicht überrepräsentiert waren, wiewohl die meisten von der Schwäbischen Alb stammenden Kriegsfreiwilligen in Regimentern aus New York und Ohio dienten. Der pazi¿sche Westen des Landes wurde vom Amerikanischen Bürgerkrieg vorwiegend nur mittelbar durch Preissteigerungen betroffen. Von den württembergischen Einwanderern, die sich zu Kriegsbeginn in den Confederate States of America wiederfanden, trug jeder Dritte im dienstfähigen Alter stehende Mann (zwölf von 33) die Uniform, davon zehn von denen, die sich in Medina County, Texas, in New Orleans, Tennessee oder Virginia niedergelassen hatten, die graue der CSA. Unter ihnen war nur Tobias Sauter aus Medina County, Texas, dienstverpÀichtet worden; die meisten der anderen, die auf Seiten der Konföderation in den Krieg zogen, hatten sich in den ersten Kriegsmonaten freiwillig gemeldet. Demgegenüber hatten zwei in Tennessee bzw. Virginia ansässige Württemberger im Sommer 1861 ihre Wohnorte verlassen und sich in Missouri bzw. in Maryland freiwillig zum Kriegsdienst auf Seiten der Union gemeldet. Andere Württemberger, die in der Antebellum-Periode in den Süden verzogen waren und dort Handwerksbetriebe führten – wie es die zwei Söhne der nach Cincinnati eingewanderten OberÀachter Schusterfamilie Reiser in der Gegend von Nashville, Tennessee, taten –, kehrten nach Kriegsausbruch nach Ohio zurück. Die von Muscatine, Iowa, ins westliche Tennessee verzogene Tuttlinger Gerberfamilie Rübelmann war 1861 gezwungen, den Staat zu verlassen, nachdem ihre offen artikulierte Haltung gegen die Sklaverei dort nach der Sezession zu gefährlich schien. Auch in Medina County, wo im Februar 1861 rund sechzig Prozent der vorwiegend elsässischstämmigen Bevölkerung gegen die Sezession votierte, steckten die unionstreuen württembergischen Siedler nach dem Beitritt von Texas zur Konföderation in einem Dilemma. Wer dort der seit 1862 herrschenden MilitärpÀicht entkommen wollte, setzte sich für die Dauer des Krieges nach Mexiko ab. Mit nur vier Kriegsteilnehmern unter 24 im militärpÀichtigen Alter stehenden württembergischen Männern in Medina County hatte Texas eine im Vergleich zu den anderen Staaten der Konföderation nur schwache Kriegsbeteiligung unter seinen württembergischen Einwanderern. Insgesamt konnten nach Abgleich mit der U. S. Civil War Collection89 191 aus dem württembergischen Untersuchungsgebiet eingewanderte Männer 89
Online-Datenbank bei www.ancestry.com. Diese enthält als wichtigste Datensätze die U. S. Civil War Soldier Records and Pro¿les, die U. S. Civil War Soldiers, 1861–1865 sowie die American Civil War Soldiers, aus denen für die meisten Bürgerkriegssoldaten Staat und Ort des Diensteintritts, Freiwilligenmeldung oder WehrpÀicht, Regimentsund Kompaniezugehörigkeit, Eintritts- und Entlassungsdatum, Dienstränge und Beförderungen, Verwundungen, Gefangennahmen und Todesfälle hervorgehen.
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6 Anpassung an die neue Umwelt
zwischen 18 und fünfzig Jahren ermittelt werden, die sich aktiv in Uniform am Krieg beteiligten, 181 von ihnen auf Seiten des Nordens. Sieben von ihnen traten während des Bürgerkrieges als Berufssoldaten in die U. S. Army ein, 178 davon als Freiwillige in die Infanterie-, Kavallerie- oder Artillerie-Regimenter oder Milizen ihrer nordamerikanischen Heimatstaaten, davon drei als Of¿ziere. Dem freiwilligen Dienst an der Waffe standen in den Unionsstaaten nur drei Konskriptionen gegenüber. Diesen hier untersuchten 191 gebürtigen Württembergern, die sich am Amerikanischen Bürgerkrieg beteiligten, stehen 980 männliche Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet im Alter zwischen 18 und fünfzig Jahren gegenüber, die zwar im U. S. Census gefunden werden konnten, deren Beteiligung am Bürgerkrieg sich in den Akten aber nicht nachweisen lässt. Auf einen württembergischen Kriegsteilnehmer kamen damit etwa fünf Zivilisten. Von diesen Zivilisten unterschieden sich die württembergischen Kriegsteilnehmer nach ihrer Konfession, Einwanderungsdekade und der Größe ihrer amerikanischen Niederlassungsorte im Zensus von 1860 kaum. Die württembergischen Protestanten nahmen in einem etwas höheren Maße am Bürgerkrieg teil, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprach, auch die vor 1860 Eingewanderten waren unter den Kriegsteilnehmern gegenüber den zwischen 1860 und 1864 Eingewanderten, und die im städtischen Amerika lebenden Einwohner gegenüber den auf dem Land siedelnden unter den Bürgerkriegsteilnehmern leicht überrepräsentiert. Deutlicher jedoch sind die Unterschiede nach Haushaltsstatus bzw. Familienstand in Württemberg. Hier nahmen diejenigen Württemberger, die verheiratet bzw. als Familienväter eingewandert waren, nur knapp halb so oft am Bürgerkrieg teil, wie es ihrer Position unter der Einwanderungsbevölkerung entsprach, während ihre im Kindes- oder Jugendalter miteingewanderten Söhne unter den Bürgerkriegsteilnehmern deutlich überrepräsentiert waren und die ledigen Einzelwanderer ihrem Anteil entsprechend vertreten waren. Unter den Berufen der eingewanderten Familienväter, die am Bürgerkrieg teilnahmen, waren die Bauern bzw. die Geschäftsleute sowie diejenigen Einwanderer, die früher im Staats- oder Kirchendienst gestanden haben, überrepräsentiert – die Of¿ziere unter den Württembergischen Einwanderern wie der Tuttlinger Buchhändler Sixt Ludwig Kapff, sein Bruder Eduard, die als Sprösslinge eines alten schwäbischen Pfarrergeschlechts ebenso einen bürgerlich-intellektuellen Hintergrund hatten wie Ludwig Dihlmann, der Sohn des Friedrichshafener Oberamtmannes, gehörten hier dazu –, während Handwerker unterrepräsentiert waren. Unter den ledig ins Land gekommenen Einzeleinwanderern dagegen waren Geschäftsleute oder Akademiker bis auf die Ausnahme des Böttinger Lehrers Flad nicht unter den Bürgerkriegsteilnehmern. Auch hier waren die Handwerker unterrepräsentiert, die ledigen Bauern (also Bauernsöhne) sowie die Angehörigen abhängig beschäftigter landwirtschaftlicher Berufe wie Tagelöhner und Bauernknechte dagegen überrepräsentiert.
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Anhand des Sozialpro¿ls von 175 im württembergischen Untersuchungsgebiet geborenen Kriegsfreiwilligen des Nordens im Mannschaftsrang (fast immer der eines einfachen Gefreiten), von denen 120 im Zensus von 1860 identi¿ziert wurden, lässt sich die Motivation dieser Männer herausarbeiten. Dass 18 von ihnen den Krieg nicht überlebten – nur sechs von ihnen ¿elen auf dem Schlachtfeld, die anderen zwölf starben an Krankheiten oder Seuchen, wurden verwundet und erlagen ihren Verletzungen, starben im Hospital oder in der Gefangenschaft – zeigt das erhebliche Risiko, das diese Freiwilligen einzugehen bereit waren. Aber warum? Wurden sie von einem Patriotismus für ihre neue Heimat erfasst oder ergriffen sie die ökonomische Chance einer Kriegseintrittsprämie im Wert von dreihundert Dollar und des guten Soldes beim Schopfe? Exakt die Hälfte dieser 120 Kriegsfreiwilligen des Nordens waren zum Zeitpunkt des Zensus im Sommer 1860 verheiratete Haushaltsvorstände, bei einem Viertel handelte es sich um abhängige Familienangehörige (vor allem miteingewanderte, inzwischen erwachsen gewordene Söhne oder Brüder), bei dem anderen Viertel um Kostgänger. Damit hatte die Hälfte der württembergischen Kriegsteilnehmer am Vorabend des Amerikanischen Bürgerkrieges noch keinen eigenen Hausstand. Im Vergleich zu den württembergischen Einwanderern in den Staaten der Union, die im Krieg Zivilisten blieben, waren sie bei den ledigen Angehörigen um das anderthalbfache und unter den Kostgängern in fremden Haushalten um das Doppelte überrepräsentiert. Wiewohl 55 verheiratete Kriegsteilnehmer 65 Nichtverheirateten gegenüberstanden, waren Letztere gemessen an der zivilen Vergleichsgruppe unter der württembergischen Bevölkerung des Zensus stark überrepräsentiert. Vom Lebensalter her waren die 52 unter 25-Jährigen, die sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, um das Doppelte überrepräsentiert, während die nur knapp darunter liegende Anzahl von 47 der 25- bis unter 35-Jährigen anteilig genau der Anzahl an Zivilisten dieser Altersklasse entsprach. Unter den 35 bis 50-Jährigen war der Anteil der Kriegsteilnehmer halb so groß wie der entsprechende Zivilistenanteil. Unter den 120 hier untersuchten freiwillig in den Krieg eingetretenen Unionssoldaten württembergischer Herkunft waren nach dem Zensus von 1860 kaum Geschäftsleute und keine FreiberuÀer vertreten. Auch waren diejenigen, die 1860 laut Zensus einen Handwerksberuf ausübten und sich dann zum Krieg meldeten, leicht unterrepräsentiert. Dagegen waren es auf der elterlichen Farm mithelfende erwachsene Söhne sowie ungelernte bzw. angelernte Tätigkeiten ausübende Männer, die zwar in ähnlicher Anzahl wie die Handwerker, aber in einer nahezu doppelten Entsprechung ihres Anteils an der Zivilbevölkerung in ein Freiwilligenregiment eintraten. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Teilnahme am Kriegsdienst vor allem für diejenigen interessant war, die nicht viel besaßen und sowohl von ihrem derzeitigen Lebensstandard als auch von ihrem Lebenszyklus
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6 Anpassung an die neue Umwelt
durch den Kriegseintritt zumindest keine Verschlechterung ihrer derzeitigen Lebenssituation erwarteten. Wer ohnehin schon in Ermangelung eines eigenen Haushaltes bei fremden Leuten logierte und dazu lediglich eine semioder unquali¿zierte Tätigkeit ausübte, für den war den Eintritt in die Armee mit stattlichem Handgeld und gutem Sold Anreiz genug, sein Leben für sein neues Heimatland zu riskieren. Ebenso war der Kriegsdienst für noch im Elternhaus lebende Söhne kinderreicher Familien, auf deren Mitarbeit im elterlichen Betrieb verzichtet werden konnte, eine gute Gelegenheit, „herauszukommen“ und sich auch ¿nanziell von den Eltern zu emanzipieren. Etwa ein Viertel der hier untersuchten württembergischen Teilnehmer am Amerikanischen Bürgerkrieg waren Immigranten, die innerhalb von weniger als fünf Jahren vor Kriegsbeginn in die Vereinigten Staaten von Amerika gekommen waren, also erst wenig Zeit hatten, einen Patriotismus für ihre Wahlheimat zu entwickeln. Auch dies stützt die Vermutung, dass materielle Anreize bei den meisten Einwanderern die ideellen übertrafen. Und doch darf man diese ideellen Erwägungen auch bei einfachen Mannschaftsgraden und Unterof¿zieren nicht ausklammern: Immerhin ein Viertel der Bürgerkriegsteilnehmer war älter als 35 Jahre und keineswegs bedürftig. Wenn in ihrem vierten bzw. fünften Lebensjahrzehnt stehende grundbesitzende Farmer wie z. B. Martin Honer aus Upstate New York, Andrew Bubser aus Pennsylvania oder Friedrich Bippus Haus, Hof und Familie verließen, um in den Krieg zu ziehen, scheidet materielle Not als Triebfeder zunächst einmal aus. Desgleichen deutet die rege Beteiligung am Amerikanischen Bürgerkrieg seitens der Talheimer Migranten in Utica (neun von 17) oder der Frittlinger Einwanderer in Madison, Indiana (sechs von 14), wo jeder zweite in ein Freiwilligenregiment eintrat, auf ein dort eher vorhandenes patriotisches Milieu hin. Dasselbe gilt in abgeschwächter Form auch für Detroit (sechs von dreißig). Demgegenüber griff in den meisten Agrargebieten wie Dodge und Washington Counties in Wisconsin (drei von 42) oder von den Talheimer Einwanderern in Wyoming County (zwei von 19) in New York nur etwa jeder zehnte zur Waffe. Auch bei den Trossinger Arbeitern in den Kupferminen am Oberen See (zwei von 44) war die Bürgerkriegsteilnahme unüblich; sie pro¿tierten stattdessen von Lohnsteigerungen, die einen kriegsbedingten Arbeitskräftemangel geschuldet waren. Der Bürgerkriegseinsatz war, obschon er eine klare sozioökonomische Komponente hatte, also in einigen Milieus üblicher als in anderen. Die Konfession der württembergischen Kriegsteilnehmer spielte hier weniger eine Rolle als die politische Gesinnung. Unter den 47 Einwanderern aus dem schwäbischen Untersuchungsgebiet, die vor dem Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges ins Land gekommen waren und für die Biographien in den County Histories vorliegen, gaben 15 ihre Parteipräferenz an. Demnach waren neun selbsterklärte Anhänger der Republikaner, sechs sympathisierten mit den Demokraten. Von den acht Bürgerkriegsteilnehmern gaben vier eine repu-
6.6. Vereinsleben, politische Partizipation und der Amerikanische Bürgerkrieg
233
blikanische, zwei eine demokratische und zwei keine parteipolitische Gesinnung an. Das zeigt, dass der Bürgerkriegseinsatz mit einer starken politischen Partizipation korrelierte und unter den Anhängern der Republikanischen Partei Abraham Lincolns besonders populär war. Der Effekt der Bürgerkriegsteilnahme lässt sich am Census von 1870 ablesen: Neunzig Prozent der Kriegsteilnehmer überlebten zwar den Krieg, einige waren aber von den Kriegsfolgen – Behinderungen und chronische Krankheiten – gezeichnet, worüber die Militärakten detailliert Auskunft geben. In den National Homes for Disabled Volunteer Soldiers verbrachte mancher Veteran seinen Lebensabend. Verglichen mit der württembergischen Bevölkerung, die nicht am Krieg teilnahm, ergibt sich bei der geographischen und sozioökonomischen Mobilität folgendes Bild. Etwa siebzig Prozent der Bürgerkriegsveteranen kehrten nach dem Krieg an ihren Wohnort von 1860 zurück, unter den Zivilisten der Geburtsjahrgänge 1810–1847 lag die Sesshaftenquote zwischen 1860 und 1870 bei knapp achtzig Prozent. Fast jeder zweite Veteran (47,5 %) übte nach dem Krieg einen anderen Beruf aus als davor im Vergleich zu 37,9 % bei den Zivilisten. Knapp zwei Drittel der Berufswechsel bei Veteranen und Zivilisten bedeuteten zugleich einen sozialen Aufstieg. Veteranen waren also mobiler und dynamischer als Zivilisten, hatten aber auch als Vertreter der Unterschicht eine schlechtere Ausgangsposition. Exemplarisch für die dynamische Karriere eines württembergischen Bürgerkriegsteilnehmers steht hier die Biographie des Trossinger Bauernsohnes Andreas Messner, der 1858 über New York ins Land gekommen war. Im Juni 1860 zeigt ihn der Zensus als Gehilfen in einer Drogerie in Chicago, wo er Kost und Logis von seinem Arbeitgeber erhielt. Nach einem Zwischenaufenthalt in Traverse City in Michigan kehrte er nach Illinois zurück, wo er 1861 in Du Page County, etwa dreißig Meilen westlich von Chicago, auf einer Farm Arbeit fand. Am 19. September – fünf Monate nach Kriegsausbruch, als der Militärführung klar wurde, dass Dreimonatsregimenter nicht ausreichten – meldete er sich an seinem Wohnort Naperville freiwillig zum Kriegsdienst und trat als Gefreiter ins 55. Infanterieregiment von Illinois ein. Nach seiner Ausmusterung in Little Rock, Arkansas, am 14. August 1865 kehrte er nach Chicago zurück, arbeitete dort weitere 14 Monate in einem Betrieb und begründete dann mit seinem angesparten Sold von achthundert Dollar eine Mehl- und Futtermittelhandlung in Chicago, ging aber kurze Zeit später Bankrott. Zwischen 1867 und 1869 nahm er in Grundy County, Illinois, eine Beschäftigung als Lagerhausarbeiter an, zog dann nach Colorado weiter, wo er in den Blackhawk Mines vierzig Meilen außerhalb von Denver zwei Monate lang arbeitete. Im Zensus von 1870 ist er bereits in Douglas County, Colorado, als Farmer mit einem Geldvermögen von 645 Dollar verzeichnet. Von seiner dortigen Homestead ausgehend, vergrößerte er seinen Landbesitz nach und nach auf über 1.100 acres und verdiente sich damit einen Eintrag in die County History.
234
6 Anpassung an die neue Umwelt
Im Vergleich zur Zivilistengruppe übten die Bürgerkriegsveteranen nach dem Zensus von 1870 etwas weniger häu¿g semi- oder unquali¿zierte Tätigkeiten und auch etwas weniger häu¿g handwerkliche Berufe aus. Letzteres kann damit erklärt werden, dass württembergische Handwerker ohnehin unter den Kriegsteilnehmern unterrepräsentiert waren. Ersteres zeigt, dass die Bürgerkriegsteilnahme auf die Migranten in sozioökonomischer Hinsicht zumindest keine negativen Effekte hatte. Der Anteil derer unter den Bürgerkriegsveteranen, die im Vergleich zur Zivilistengruppe Farmer und besonders Geschäftsleute in Gast- und Schankwirtschaft oder im Einzelhandel wurden, lag hier deutlich über der Vergleichsgruppe. Bürgerkriegsveteranen standen dadurch im Leben ihrer Gemeinden mehr in der Öffentlichkeit als ihre zivile Vergleichsgruppe. Auch das weitere politische Engagement von Veteranen und das Ergreifen öffentlicher Ämter lag deutlich über dem derjenigen württembergischen Einwanderer, die 1861 im militärdienstfähigen Alter gestanden hatten, sich aber nicht am Krieg beteiligten. Die Teilnahme am Amerikanischen Bürgerkrieg war für viele Migranten von der Schwäbischen Alb auch Ausdruck und Ausgangspunkt einer politischen Partizipation, die sich in der Annahme von Ämtern auf der kommunalen Ebene fortsetzte. Auffällig dabei ist, dass, wer am Amerikanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte, später viel häu¿ger politische Ämter an seinem Wohnort übernahm. Für einige Einwanderer wie den Frittlinger Schneider Anton Zimmerer ging die politische Partizipation über die lokale Ebene hinaus. 1868 wurde er ins Abgeordnetenhaus von Nebraska gewählt, wo er dem Einwanderungsausschuss angehörte.90 Gregor Amman aus dem Heubergdorf Kolbingen war von 1873 bis 1882 Bürgermeister der Stadt Hiawatha in Kansas.91 Der Nendinger Einwanderer John Mattes – ein Neffe des bereits erwähnten in Nordamerika ansässigen Bierbrauers gleichen Namens – wurde 1893 von Präsident Grover Cleveland zum auswärtigen Vertreter des Landwirtschaftsministeriums ernannt und verbrachte zwei Dienstjahre in Europa.92 John W. Smith, in Detroit geborener Sohn einer Migrantin aus Nendingen im Oberamt Tuttlingen, der als Halbwaise in einfachen Verhältnissen aufgewachsen war und 1898 am Spanisch-Amerikanischen Krieg teilgenommen hatte, begann seine politische Karriere 1906 in seiner Heimatstadt Detroit. Zwischen 1924 und 1928 und noch einmal von 1933 bis 1934 war er Bürgermeister von Detroit, das zu dieser Zeit mehr als eine Million Einwohner hatte.93 90 91 92 93
Vgl. Portrait and Biographical Album of Otoe, 517 ff. Vgl. Biographie von Gregory Amann in Cutler (Hg.), History of the State of Kansas, pt. 5. http://www.kancoll.org/books/cutler/brown/brown-co-p5.html#BIOGRAPHICAL_ SKETCHES_-ALLEM-BUSSING (kontaktiert am 3.2.2009). Vgl. Eiboeck, Die Deutschen von Iowa, 654–657. Vgl. Holli/Jones (Hg.), Biographical Dictionary, 334. Vgl. Familiengeschichtliches Material zur Familie Wax im Stadtarchiv Tuttlingen. Siehe auch den Nachruf auf John W. Smith in der New York Times vom 18.6.1942, 21.
7 SOZIOÖKONOMISCHE ANALYSE DES AMERICAN DREAM In ihren Auswanderungsanträgen begründeten die Migranten aus dem Untersuchungsgebiet ihre Emigration häu¿g mit Formulierungen wie „Verbesserung der ökonomischen Lage“ oder „besseres Fortkommen“.1 Es waren also die im Vergleich zum Verbleib in ihrer württembergischen Heimat erwarteten besseren wirtschaftlichen Chancen in Nordamerika, die die transatlantische Massenmigration zwischen den 1840er und den 1880er Jahren zu einer erfolgversprechenden Option für landhungrige, an sozioökonomischem Aufstieg interessierte, risikobereite Bewohner der Schwäbischen Alb werden ließen. Oder ist die Auswanderung, wie es der Tuttlinger Oberamtmann Hörner 1847 formulierte, eher als ein krisenhaftes Abbild einer Zeit zu sehen, „wo der Wahn, über dem großen Ocean goldene Berge zu ¿nden, sich so vieler Gemüther zu bemächtigen beginnt“?2 Die nachfolgende Analyse fokussiert daher auf die materiellen Aspekte des durch die Migration hervorgerufenen Transformationsprozesses. Dabei wird untersucht, ob und in welchem Maße sich der Bruch der Lebenswelt für die Migranten von der Schwäbischen Alb in sozioökonomischer Hinsicht ausgezahlt hat. Aufgrund der multilokalen Ausrichtung der Untersuchungen, der zeitlich langen Dauer der Beobachtungen sowie der Breite und Tiefe der Datenbasis können der Mythos Amerikas vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Topos des Selfmademan in der amerikanischen Volkskultur und die Vorstellung der leicht durchdringbaren amerikanischen Sozialordnung mit Àießenden Grenzen3 – kurz: der American Dream – an der Gesamtheit der Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet hinsichtlich seiner so1
2
3
In den eingesehenen Auswanderungsverzeichnissen StAS Wü 65/32, Bü 35–57 und Wü 65/37, Bd. 1 Bü 190–224 befanden sich in der Rubrik „Auswanderungsgründe“ in 1.379 Fällen Eintragungen. Neben allgemeinen Formulierungen wie „Niederlassung“ oder „Ansiedlung“ (insgesamt 978mal) waren in 372 Fällen ökonomische Gründe wie „Verbesserung der ökonomischen Lage/Verhältnisse“, „besseres Auskommen/Fortkommen, besserer Erwerb“ angegeben, davon allerdings nur dreimal explizit elementare Not („keine Ernährungsgrundlage“, „Verdienstlosigkeit und Armut“, „Mangel an Arbeit und Verdienst“). In 18 Fällen war die Auswanderung eine Abschiebung, achtmal war „Heirat“ als Auswanderungsgrund verzeichnet, ebenfalls achtmal „Vereinigung mit Verwandten“ und einmal „Neugier“. Die Pathologisierung der Auswanderung aus der Perspektive von Politik und Verwaltung im 18. Jahrhundert war auch noch im Denken des 19. Jahrhunderts präsent, wie dieser Kommentar des Tuttlinger Oberamtmannes belegt (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 198). Vgl. Thernstrom, Poverty and Progress, 1.
236
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
zioökonomischen Aspekte überprüft werden. Als ideale Untersuchungsgruppe bieten sich dafür diese Württemberger auch deshalb an, weil sie das Stereotyp des Àeißigen, sparsamen, nüchternen Menschenschlages verkörpern.4 Wie realistisch oder illusorisch war für sie die Partizipation am American Dream – die Verheißung, dass jedermann die Möglichkeit habe, mit Fleiß und Sparsamkeit nach oben zu kommen? Hier werden die sozioökonomischen Adaptationsprozesse der Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet im ländlichen und städtischen Nordamerika analysiert. Um den durch den Migrationsprozess hervorgerufenen Lebensweltwechsel der gesamten Migrantenpopulation von der Schwäbischen Alb in seinem zahlenmäßigen Umfang und seiner qualitativen Bedeutung zu erfassen, werden in den Bereichen Wohnen und Arbeiten Besitz (Grundeigentum und bewegliches Vermögen) und Beruf (ausgeübte Tätigkeit und Arbeitsplatz) als sozioökonomische Indikatoren untersucht, die Hinweise auf die materielle Entwicklung der Migranten im Wanderungsverlauf geben. Sozialer Auf- oder Abstieg als Folge des Einwanderungsprozesses wird anhand von Berufs- und Sozialstatuswechseln erfasst und für die gesamte untersuchte Migrantenpopulation von der Schwäbischen Alb in Nordamerika aggregiert sichtbar gemacht. Schließlich wird die sozioökonomische Mobilität der württembergischen Einwanderer innerhalb Nordamerikas im Zeitablauf untersucht. Hierbei steht die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen räumlicher und sozioökonomischer Mobilität im Vordergrund, die konkret lautet, ob diejenigen Migranten, die innerhalb einer Zensusperiode ihre Wohnorte gewechselt haben, stärkeren sozioökonomischen Veränderungen ausgesetzt waren als diejenigen, die nach ihrer Einwanderung an ihrem Siedlungsort sesshaft geworden sind. 7.1 BERUFS- UND SOZIALSTATUSWECHSEL IN VERSCHIEDENEN WIRTSCHAFTSSEKTOREN Berufs- und Sozialstatuswechsel als Ergebnis des überseeischen Wanderungsprozesses können nur dann untersucht werden, wenn der letzte Beruf im Auswanderungsland mit dem ersten Job im Einwanderungsland in Beziehung gesetzt werden kann. Dieser Vergleich ist durch die gute Quellenlage möglich. Auf der einen Seite enthalten die im 19. Jahrhundert in Württemberg geführten Auswanderungsverzeichnisse für 95 % der ausgewanderten Familienväter und für 85 % der ledigen männlichen Einzelauswanderer Berufs- und Besitzangaben.5 Auf der anderen Seite geben auch die US-amerikanischen bzw. ka4 5
Vgl. OAB Tuttlingen, 129, wo es im Abschnitt „Über den Volkscharakter“ von P. Hartmann, Pfarrer in Hausen ob Verena, heißt: „Der Volkscharakter ist im allgemeinen gutartig und zeigt sich in Fleiß, Sparsamkeit, religiösem Sinn, Stetigkeit in der Sitte und Muth.“ Hierbei handelt es sich um das in den Auswanderungsakten vermerkte Geldvermögen, das die Antragsteller bei ihrer Auswanderung nach Nordamerika mitzuführen planten.
7.1 Berufs- und Sozialstatuswechsel in verschiedenen Wirtschaftssektoren
237
nadischen Zensuslisten seit 1850/1851 für jeden über 15 Jahre alten Einwohner dessen Beruf an. Zusätzlich enthalten die Population Schedules des U. S. Manuscript Census in den Jahren 1850, 1860 und 1870 sowie der Census of Ontario 1861 und 1871 auch Besitzangaben.6 Auf diese Weise konnten die Sozialpro¿le von 64 % der Auswanderer aus den beiden württembergischen Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika erfasst werden, wodurch die nachfolgenden Aussagen statistisch robust sind. Tab. 30: Repräsentationsindex der Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet (1830–1880) nach Wirtschaftssektoren im Vergleich zur Wirtschaftsstruktur im Untersuchungsgebiet
Berufsgruppen nach Wirtschaftssektoren in Württemberg
Erwerbsbevon dort völkerung des Auswanderer Untersuchungs- nach Nordamegebietes rika 1830–1880 [Anteile in %]
primärer Sektor Bauern und Bauernsöhne Bauernknechte Tagelöhner sekundärer Sektor Handwerker und Gewerbetreibende tertiärer Sektor Handel, Transport, Gastwirtschaft FreiberuÀer* Andere Gesamt
28,6
[Anteile in %]
Repräsentationsindex [100 = genaue repräsentative Entsprechung] überunterrepräsentiert repräsentiert 54
15,3 6,6 5,2 119
58,0
68,9
5,3
2,6
50
4,6 3,5 100,0
1,4
29
100,0
Quelle: Erstellt vom Verfasser nach der Berufszählung 1861 (WJB) und Auswanderungsakten (StAS) * Der Bezeichnung des FreiberuÀers entspricht hier und im Folgenden der De¿nition „Akademiker oder vergleichbare Ausbildung“ oder nach der „Historical International Standard Classi¿cation of Occupations“ der Kategorie „Professional, technical and related workers“.
Ziel der Tab. 30 ist die gewichtete Darstellung der Verteilung der Gesamtbevölkerung des Untersuchungsgebietes und der Nordamerikaauswanderer von 6
In den Jahren 1850, 1860, und 1870 wird im U. S. Census der Wert des Grundbesitzes angegeben, 1860 und 1870 zusätzlich auch das Mobiliarvermögen. Im kanadischen Zensus von 1861 und 1871 ist der Wert des Grundbesitzes von Farmern in den Agricultural Schedules angegeben.
238
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
dort auf die drei ökonomischen Sektoren (Primärer Sektor: Urproduktion, hier Landwirtschaft; sekundärer Sektor: Gewerbe, Handwerk und Industrie; tertiärer Sektor: Handel und Dienstleistungen). Dadurch wird auf sektoraler Ebene die Berufsstruktur der Nordamerikaauswanderer von der Schwäbischen Alb mit der Berufsstruktur der württembergischen Gesamtbevölkerung im Untersuchungsgebiet verglichen. Dabei zeigt sich, dass die Angehörigen des primären und des tertiären Sektors an der Nordamerikaauswanderung unterdurchschnittlich beteiligt waren. Dagegen waren die Angehörigen des sekundären Sektors unter den Nordamerikaauswanderern überrepräsentiert. Was ist der Grund dafür, dass gerade Handwerker und Gewerbetreibende, also Angehörige des sekundären Sektors, eine stärkere Neigung hatten, nach Nordamerika zu gehen? Liegt es daran, dass es sich bei ihnen – wie beispielsweise bei den Maurern vom Heuberg – ohnehin um die mobilsten Bevölkerungsteile handelte oder hatte ihre hohe Beteiligung an der Nordamerikaauswanderung eine andere Ursache? In Tab. 31 wird deshalb der sekundäre Sektor – aufgespalten in Wirtschaftszweige – in den Mittelpunkt gerückt. Der Fokus liegt hier auf dem Verhältnis von ökonomischer Situation in Württemberg zur Auswanderungsrate nach Amerika. Die wirtschaftliche Situation der Handwerker, Gewerbetreibenden und Industriearbeiter (davon gab es im 19. Jahrhundert erst wenige) auf der Schwäbischen Alb wird nach dem Gewerbesteuerkataster von 1835 bestimmt, der letzten gedruckten Aufstellung vor der ersten großen Auswanderungswelle aus Württemberg in der Mitte der 1840er Jahre. In der vorletzten Spalte wird die wirtschaftliche Lage der einzelnen Handwerke/Gewerbe als „arm“ oder „reich“ vereinfacht dargestellt. Demgegenüber wird die Auswanderungsrate einzelner Branchen bzw. Berufe im Repräsentationsindex ebenfalls vereinfacht mit „hoch“ bzw. „niedrig“ vereinfacht angegeben. Aus dieser Tabelle geht hervor, dass bestimmte Wirtschaftszweige wie das holz-, leder- und metallverarbeitende Gewerbe stärker an der Nordamerikaauswanderung beteiligt waren als andere wie z. B. die Textilproduktion oder die Bauwirtschaft. Bezogen auf einzelne Handwerke ist ersichtlich, dass z. B. die Weber unterdurchschnittlich oft auswanderten, die Schneider und Schuhmacher dagegen stark überrepräsentiert waren. Desgleichen emigrierten die Bierbrauer häu¿ger als es ihrem Anteil an der württembergischen Gesamtbevölkerung im Untersuchungsgebiet entsprach; bei den Bäckern traf das Gegenteil zu. Aus der Gegenüberstellung von ökonomischer Situation und Auswanderungsrate ist Folgendes ersichtlich: Entweder beteiligten sich die Angehörigen der ärmsten Berufe ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechend kaum an der Nordamerikaauswanderung (Bäcker, Maurer, Weber) oder aber überdurchschnittlich häu¿g (Schreiner, Schneider, Wagner). Dasselbe inkonsistente Bild bieten die reicheren Handwerker, unter denen z. B. die Bierbrauer, Sattler und Gerber viel stärker an der Nordamerikaauswanderung teil-
7.1 Berufs- und Sozialstatuswechsel in verschiedenen Wirtschaftssektoren
239
Branche in Württemberg Steine und Erden Glaser Steinhauer Bauhandwerker Maurer Zimmerleute Maler Metallerzeugung und -verarbeitung Grob- und Hufschmiede Nagelschmiede Messerschmiede Schlosser Eisendreher Eisengießer Blechschmiede Feinmechaniker Klavier- und Orgelbauer Mundharmonikamacher Uhrmacher Textilproduktion Weber Bekleidungsindustrie Schneider Schuhmacher Leder- und Papierindustrie Gerber Sattler und Säckler Buchbinder Chemische Industrie
niedriger
gleichbleibend
höher
Beibehaltung des Berufes in den ersten fünf Jahren
Beibehaltung des Berufes zu irgendeiner Zeit
(stark bis Beibehaltung schwach) des Berufes
Auswanderungsrate
Wirtschaftliche Situati in Württemberg
Tab. 31: Berufswechsel und sozioökonomische Mobilität der Migranten des sekundären Sektors aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika 1850–1880
sozioökonomische Mobilität innerhalb der ersten 5 Jahre
niedrig niedrig hoch niedrig niedrig mittel
--+ -++ =
% 25,0 0,0 60,0 44,2 29,5 68,8 50,0
% 33,3 0,0 66,7 42,5 37,5 53,8 33,3
N
arm arm reich arm arm arm
6 3 3 40 24 13 3
50 100 0 13 17 8 0
33 0 67 53 42 62 100
17 0 33 35 42 31 0
mittel
hoch
+
56,1
37,2
43
12
53
35
mittel arm mittel mittel
hoch
63,6 55,6 18,8 0,0 33,3 0,0 73,7 33,3 42,9 20,0 100,0 100,0 70,0 100,0 36,2 19,0 100,0 100,0 6,3 0,0 42,3 14,3 11,8 7,4 8,1 4,2 71,3 62,7 81,0 73,1 67,0 54,5
9 8 6 6 5 4 4 21 3 11 7 27 24 59 26 33
11 0 0 17 40 0 25 24 0 18 43 4 4 7 4 9
56 38 33 67 40 100 50 43 100 27 43 33 29 71 81 64
33 63 67 17 20 0 25 33 0 55 14 63 67 22 15 27
mittel mittel reich
hoch hoch
mittel arm arm arm arm arm
hoch niedrig niedrig hoch hoch hoch
++ --++ ++ ++ -+ ---++ ++ ++
reich
hoch
+
59,3
54,5
11
18
73
9
reich mittel mittel reich
hoch hoch
++ ++ +
69,2 40,0 75,0 60,0
60,0 50,0 50,0
5 4 2 3
20 25 0 100
80 75 50 0
0 0 50 0
niedrig
Branche in Württemberg Holzverarbeitung Schreiner Küfer Drechsler Wagner Nahrungsmittelproduktion Bäcker Müller Metzger Bierbrauer Summe
arm arm arm
hoch hoch hoch
arm
hoch
arm reich arm reich
niedrig hoch hoch hoch
+ ++ = -=
% 56,7 66,0 50,0 16,7 50,0
% 57,1 68,4 20,0 33,3
N 28 19 5 3 1
-
47,8
32,0
--+ + =
22,2 19,0 60,0 58,1 51,1
niedriger
gleichbleibend
höher
Beibehaltung des Berufes in den ersten fünf Jahren
Beibehaltung des Berufes zu irgendeiner Zeit
(stark bis Beibehaltung schwach) des Berufes
Auswanderungsrate
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
Wirtschaftliche Situati in Württemberg
240
sozioökonomische Mobilität innerhalb der ersten 5 Jahre 14 11 20 33 0
71 74 60 67 100
14 16 20 0 0
25
12
52
36
0,0 1 14,3 7 80,0 5 33,3 9 42,2 263
0 0 0 11 13
0 57 80 56 56
100 43 20 33 31
Quelle: Vom Verfasser erarbeitet aus WJB, Auswanderungsverzeichnissen und US-Zensuslisten.
nahmen als die ebenso vermögenden Ziegler oder Seifensieder. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass sich durch den Vergleich von ökonomischer Situation im Heimatland und Auswanderungsrate nach Nordamerika allein keine eindeutigen Aussagen über die sektorale Auswanderungsintensität gewinnen lassen. Die komparative Analyse des Migrationsverhaltens zeigt, dass Angehörige der ländlichen Unterschichten sowie bestimmte Handwerker und Gewerbetreibende eine stärkere Neigung hatten, nach Nordamerika auszuwandern. Überprüft werden soll bei den Handwerkern die Übertragbarkeit von Fähig- und Fertigkeiten auf die Arbeitswelt in Nordamerika, gemessen in dem Prozentsatz, zu dem die Migranten von der Schwäbischen Alb ihren Beruf in Nordamerika weiterhin ausüben konnten. Aus der vergleichenden Tab. 31 geht hervor, dass eine hohe Auswanderungsrate von beispielsweise Schneidern, Schuhmachern, Schreinern und Hufschmieden mit einer hohen Rate beruÀicher Kontinuität einherging, während Handwerker wie Weber, Bäcker, Messer- und Nagelschmiede, die in Amerika ihren gelernten Beruf nicht fortführten konnten, weniger stark an der Nordamerikaauswanderung teilnahmen. Warum aber wanderten auch diejenigen Handwerker nach Nordamerika aus, an deren Arbeitstechniken dort andere Ansprüche gestellt wurden, so dass
7.1 Berufs- und Sozialstatuswechsel in verschiedenen Wirtschaftssektoren
241
ihre deutsche Ausbildung dort keinen großen Wert hatte? Besonders diejenigen Handwerke, die in Württemberg noch traditionell, in den Vereinigten Staaten aber schon industriell ausgeübt wurden, ließen ihren Angehörigen kaum Chancen zur beruÀichen Kontinuität. So hatten z. B. die Weber ihren Arbeitsplatz auf der Schwäbischen Alb in der häuslichen Stube, in Amerika aber hätte dieser in einer Textilfabrik gelegen. Wollten sie durch Berufswechsel sozial aufsteigen und etwa als Farmer am American Dream teilhaben, mussten sie wie die der ländlichen Unterschicht zugehörigen Bauernknechte und Tagelöhner einen Umweg einschlagen und vor dem Erwerb einer eigenen Farm Lohnarbeit im städtischen oder ländlichen Nordamerika leisten. Von ihrer sozioökonomischen Stellung in der heimischen Dorfgemeinschaft her bedeutete der Erwerb einer eigenen Farm in Nordamerika für die meisten Immigranten einen höchst attraktiven Aufstieg. Die in Württemberg zu den ländlichen Unterschichten zählenden Bauernknechte, Tagelöhner und ländlich geprägten Handwerksgesellen (vor allem die im Baugewerbe und der Textilproduktion, hier besonders die Weber) konnten in Nordamerika in der Regel Grundbesitz in einer Größenordnung erwerben, der ihnen das Betreiben der Landwirtschaft als ausschließlicher Existenzgrundlage ermöglichte. Für die selbstständigen Handwerker und die auf eigene Rechnung im Dienstleistungssektor (vor allem Handel, Transport und Gastwirtschaft) Tätigen, von denen in Württemberg immerhin 82,2 %7 neben ihrem Handwerk bzw. Gewerbe eine mit dem Begriff „Zwergwirtschaft“ passend charakterisierte Form der Nebenerwerbslandwirtschaft führten und zugleich als Viehhalter registriert waren, stellte der Schritt zum Vollbauerntum durch Auswanderung nach Nordamerika ebenfalls einen sozialen Aufstieg dar. Für die Schicht der Bauern und ihrer Familien, die an der Nordamerikaauswanderung teilnahmen, war die Entscheidung zur Migration ins ländliche Nordamerika mit dem größten Aufwand und Risiko verbunden, da sie auf der Schwäbischen Alb begütert waren und am ehesten etwas zu verlieren hatten. Andererseits hatten sie aber auch die beste Ausgangsposition, denn sie konnten ihre bäuerlichen Betriebe in Württemberg zu den dort üblichen hohen Bodenpreisen verkaufen, deren Erlöse ihnen und ihren Familienmitgliedern nicht nur die Überfahrt nach Amerika ermöglichten, sondern bei Ankunft in der Neuen Welt genügend ¿nanzielle Mittel ließen, um dort für einen verhältnismäßig kleinen Betrag ein Stück Land in einer Größe zu erwerben, die auch den mitausgewanderten Söhnen und der in Nordamerika geborenen nachfolgenden Generation die Möglichkeit bot, als Farmer ihr Auskommen zu ¿nden, d. h. allein vom Betrieb der Landwirtschaft zu leben. Für ledige Bauernsöhne stellte die Auswanderung nach Nordamerika eine realistische Alternative zum Verbleib auf dem 7
Vgl. OAB Tuttlingen, 93 (Tab.: Aufnahme der Viehhaltung und des Grundbesitzes vom 10. Januar 1873 im Oberamt Tuttlingen). Die Werte beziehen sich auf das Oberamt ohne die Stadt Tuttlingen.
242
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
elterlichen Hof in der Heimat und das ungewisse Warten auf das Eintreten des Erbfalles dar. Durch die in weiten Teilen des Untersuchungsgebietes praktizierte Realteilung konnten sich die Söhne ohnehin ausrechnen, wie bescheiden ihr zukünftiger Betrieb einmal ausfallen würde. Diese vier Gruppen (ländliche Unterschichten, selbstständige Handwerker, Bauern mit ihren Familien und ledige Bauernsöhne) machten den Großteil der Migranten aus, die sich im ländlichen Nordamerika niederließen. Tab. 32 zeigt links die in Württemberg im Agrarsektor Beschäftigten, abgestuft nach sozialem Rang: Grundbesitzende Bauern (allesamt Familienväter mit eigenem Hof), ihre ledigen Söhne (von ihrem Selbstverständnis her der dörÀichen Oberschicht zugehörig, bis zum Eintreten des Erbfalls aber ohne Grundbesitz), Bauernknechte (ledige junge Männer, die bei Bauern Anstellung gefunden hatten) und Tagelöhner (ohne nennenswerten Grundbesitz, zumeist verheiratet und mit oft großen Familien). Die Tabelle zeigt weiterhin rechts den beruÀichen Werdegang dieser landwirtschaftlich geprägten Migranten in Nordamerika, differenziert in sieben verschiedene Sozialkategorien, zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach ihrer Einwanderung. Tab. 33 verdeutlicht, dass die starke soziale Differenzierung, die im ersten Jahrfünft nach der Einwanderung unter den vier Gruppen der im Agrarsektor Beschäftigten bestand – jeder zweite Bauer, aber nur jeder sechste Bauernsohn und Tagelöhner und nur jeder achte Bauernknecht hatte in Amerika eine Farm erwerben können –, mit zunehmender Aufenthaltsdauer eingeebnet wurde, bis schließlich im dritten Jahrzehnt nach der Einwanderung beim Farmbesitz keine statistisch signi¿kanten Unterschiede mehr zwischen Bauern und Tagelöhnern oder Bauernsöhnen und Bauernknechten bestanden. Allerdings waren in demselben Zeitraum mehr als doppelt so viele Tagelöhner wie Bauern als Lohnarbeiter beschäftigt. Für die in jüngerem Lebensalter nach Amerika gekommenen Bauernsöhne eröffneten sich, ebenso wie für die Bauernknechte, auch jenseits der Landwirtschaft Berufschancen, sei es als Handwerker oder Industriefacharbeiter oder – mit zunehmender Aufenthaltsdauer – als Geschäftsinhaber. Auch für die Angehörigen der ländlichen Unterschichten boten sich also in Amerika reale Aufstiegsmöglichkeiten. Der American Dream war somit für die erste Einwanderungsgeneration von Bauernknechten und Tagelöhnern realisierbar. Aus diesem Grund ist es plausibel, dass es auch für diejenigen ländlich geprägten Handwerker, die ihre in Deutschland erworbenen beruÀichen Fertigkeiten in der Neuen Welt nicht umsetzen konnten, keinen Grund gab, nicht nach Amerika zu gehen, denn auch für sie war eine Farm, wenn auch über Umwege, erreichbar. Den Prinzipien des amerikanischen Arbeits- und Bodenmarktes folgend, waren Einwanderer, die ohne oder mit nur geringem Vermögen ins Land gekommen waren, erst einmal gezwungen, dort Lohnarbeiten auszuführen, wo die meisten Arbeitsplätze zur Verfügung standen und der Verdienst im guten Verhältnis zu den Ausgaben für Kost und Logis stand, nämlich in den Städten. Dass das Ziel einer Farm erreichbar war, zeigen auch
Bauernsöhne Bauernsöhne Bauernsöhne Bauernsöhne
Bauernknechte Bauernknechte Bauernknechte Bauernknechte
Tagelöhner Tagelöhner Tagelöhner Tagelöhner
2 2 2 2
3 3 3 3
4 4 4 4
verh., verw. verh., verw. verh., verw. verh., verw.
ledig ledig ledig ledig
ledig ledig ledig ledig
verh., verw. verh., verw. verh., verw. verh., verw.
0–5 6 – 10 11 – 20 21 – 30
0–5 6 – 10 11 – 20 21 – 30
0–5 6 – 10 11 – 20 21 – 30
0–5 6 – 10 11 – 20 21 – 30
12 15 21 11
8 17 32 27
25 39 67 34
15 18 27 14
N
0,0 0,0 0,0 0,0
0,0 0,0 3,1 0,0
0,0 0,0 1,5 2,9
0,0 0,0 4,8 0,0
0,0 0,0 0,0 3,7
0,0 0,0 3,0 5,9
0,0 6,7 4,8 0,0
0,0 0,0 6,3 14,8
8,0 7,7 16,4 17,6
25,0 29,4 34,4 29,6 8,3 33,3 14,3 0,0
16,7 26,7 42,9 54,5
44,0 38,5 35,8 20,6
12,5 23,5 31,3 40,7
16,0 25,6 26,9 41,2
8,3 0,0 0,0 0,0
0,0 5,9 3,1 0,0
0,0 5,1 1,5 2,9
66,7 33,3 33,3 45,5
62,5 41,2 21,9 11,1
32,0 23,1 14,9 8,8
Berufsgruppenzugehörigkeit in Nordamerika, unterteilt nach Aufenthaltsdauer FreiberuÀer, niedrige Geschäfts- Vollbauern Handwerker angelernte ungelernte (Farmer) und Industrie- Arbeiter und Arbeiter Akademiker Angestellte inhaber oder (fach)-arbeiter niedrige vergleichbare Dienstleister Ausbildung 53,3 33,3 0,0 0,0 0,0 13,3 0,0 50,0 27,8 0,0 0,0 5,6 11,1 5,6 44,4 29,6 0,0 3,7 7,4 14,8 3,7 57,1 21,4 0,0 0,0 7,1 14,3 0,0
Quelle: Vom Verfasser erarbeitet aus Auswanderungsverzeichnissen, Schiffspassagier- und Zensuslisten.
Bauern Bauern Bauern Bauern
1 1 1 1
Sozialer Status in Württemberg BerufsgruppenFamilienAufenthaltszugehörigkeit stand dauer in in Württemberg Nordamerika (in Jahren)
Tab. 32: Quantitative Sozialanalyse der Auswanderer des primären Sektors aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika 1850–1880
7.1 Berufs- und Sozialstatuswechsel in verschiedenen Wirtschaftssektoren
243
Quelle: Vom Verfasser erarbeitet aus Auswanderungsverzeichnissen, Schiffspassagier- und Zensuslisten.
Tab. 33: Sozioökonomische Entwicklung der Einwanderer des Primärsektors von der Schwäbischen Alb nach ihrer Aufenthaltsdauer in Nordamerika 1850–1880
244 7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
7.1 Berufs- und Sozialstatuswechsel in verschiedenen Wirtschaftssektoren
245
Tab. 34 zeigt die Sozialstruktur der Nordamerikamigranten von der Schwäbischen Alb im sekundären (Handwerk bzw. produzierendes Gewerbe) sowie im tertiären Sektor (Dienstleistungen, hier vor allem Wirte, KauÀeute, im Staats- und Kirchendienst stehende Personen sowie FreiberuÀer) nach ihrer Einwanderung. Hierbei wird bei den Angehörigen des sekundären Sektors deutlich, dass der Großteil von ihnen bereits innerhalb des ersten Jahrfünfts nach ihrer Ankunft in Nordamerika einen Beruf als Handwerker oder Industriefacharbeiter in der nordamerikanischen Wirtschaft gefunden hatte. Etwa ein Viertel war in den Status der un- bzw. angelernten Arbeiter oder niedriger Dienstleistungsberufe abgerutscht. Nur wenige Handwerker konnten kurz nach ihrer Einwanderung eine Farm erwerben oder ein Geschäft eröffnen. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Nordamerika aber wuchs unter den aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Handwerkern in Nordamerika durch Berufswechsel, die zugleich Sozialstatuswechsel waren, der Anteil der Farmer und Geschäftsinhaber auf Kosten des Anteils im produzierenden Gewerbe an. Auch die Quote derjenigen Handwerker, die sich kurz nach ihrer Ankunft in Amerika zunächst mit weniger quali¿zierten Arbeiten über Wasser halten mussten, nahm mit zunehmender Aufenthaltsdauer immer weiter ab. Diese im Ganzen für die Nordamerikamigranten von der Schwäbischen Alb positiven sozioökonomischen Entwicklungen belegen, dass der Wanderungsprozess für viele Migranten aus dem sekundären Sektor in einen sozialen Aufstieg münden konnte. Ein solcher Aufstieg war für diejenigen Migranten, die in Württemberg im tertiären Sektor beschäftigt gewesen waren, also Wirte, KauÀeute, Geistliche, Gemeindebedienstete sowie FreiberuÀer, schwerer zu erreichen, denn viele von ihnen gehörten bereits in der Heimat zu den oberen Schichten. Aber auch hier endete nur für etwa zwanzig Prozent dieser Migranten die Auswanderung in einem beruÀichen Misserfolg und sozialem Abstieg. Nach einer ersten, etwa fünfjährigen Orientierungsphase hatten etwa zwei Drittel der Angehörigen dieser Berufsgruppen entweder wieder in ihren alten Berufen Fuß gefasst oder neue selbstständige Berufe als FreiberuÀer oder Geschäftsleute gefunden. Da diese Gruppe der bestausgebildeten Migranten keine Af¿nität zur Landwirtschaft hatte, waren die Angehörigen des tertiären Sektors in den seltensten Fällen nach der Einwanderung Farmer geworden. Auch in Handwerksberufen oder als Industriefacharbeiter waren sie kaum zu ¿nden. Wie die Einwanderungsgeschichte des Spaichinger Kaufmannssohnes Constantin Merkt exemplarisch belegt, hatten die Angehörigen des tertiären Sektors nicht nur das meiste Humankapital (FreiberuÀer), sondern oft auch das meiste Geldvermögen (KauÀeute), so dass sie sich in Nordamerika auf eine Weise helfen konnten, die schlechter ausgebildeten bzw. weniger vermögenden Migranten verwehrt blieb. Merkt hatte nach der Volksschule drei Jahre lang zur Vorbereitung eines Universitätsstudiums ein Gymnasium besucht und war danach in Württemberg Lehrer und Schulinspektor geworden. Einer
Quelle: Vom Verfasser erarbeitet aus Auswanderungsverzeichnissen, Schiffspassagier- und Zensuslisten.
Tab. 34: Sozioökonomische Entwicklung der Einwanderer von der Schwäbischen Alb des sekundären und tertiären Sektors nach ihrer Aufenthaltsdauer in Nordamerika 1850–1880
246 7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
7.2 Ländliche Gebiete
247
seiner Brüder wurde 1848 nach der niedergeschlagenen Revolution zum Verlassen des Landes gezwungen und forderte von Ohio aus wiederholt den Vater auf, mit der übrigen Familie nach Amerika auszuwandern. Ohne Englischkenntnisse zum Bruder nach Thompson, Ohio, gekommen, nahm Constantin Merkt privaten Englischunterricht im Austausch gegen Musikstunden, denn er war ein hochtalentierter Pianist, der in Deutschland schon Konzerte gegeben hatte. Mit Musikstunden und Konzerten vor jungen Damen konnte er sich in Ohio seinen Lebensunterhalt verdienen und wurde gleichzeitig in die Gesellschaft der Stadt eingeführt. Mit seinem Verdienst nahm er im Jahr 1856 ein Abendstudium der Medizin an der Universität Cincinnati auf, heiratete 1858 und ließ sich als Arzt in Hamilton nieder. Später betrieb er dort neben seiner Arztpraxis auch noch eine Apotheke (Drugstore).8 7.2 LÄNDLICHE GEBIETE Mehr als ein Drittel der im U. S. Census oder im Census of Ontario wiedergefundenen Nordamerikamigranten aus den beiden württembergischen Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen haben sich in ländlichen Gebieten der USA oder Kanadas niedergelassen, erwarben dort Landbesitz und verdienten ihren Lebensunterhalt als Farmer. Dies bedeutete für die meisten von ihnen einen sozioökonomischen Aufstieg, weil sie die Landwirtschaft nicht mehr wie in der Heimat mangels ausreichender Größe des Grundbesitzes nur im Nebenerwerb betreiben und mit der Ausübung eines Handwerks oder Gewerbes verbinden mussten. Für den Untersuchungszeitraum, der mit den 1840er Jahren bis 1880/81 die beiden stärksten Phasen der württembergische Massenmigration nach Nordamerika umfasst, lässt sich deshalb folgern: Das Streben nach eigenem, schuldenfreien, zum Betreiben der Landwirtschaft als ausschließlicher Existenzgrundlage ausreichenden Grundbesitz kann als einer der vorherrschenden Motivationsfaktoren für die Nordamerikamigration von der Schwäbischen Alb angesehen werden. Um diese These vom erhofften sozialen Aufstieg durch Erwerb einer eigenen Farm als Migrationsmotiv belegen zu können, muss zum einen untersucht werden, von welchen Faktoren der Erwerb von Landbesitz zum Betreiben eines landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebes für die württembergischen Einwanderer abhängig war. Zum anderen soll anhand eines Vergleiches von württembergischen und nordamerikanischen Agrarstatistiken untersucht werden, in welchem Sinne das Betreiben einer Farm in Amerika für die Einwanderer erstrebenswerter war als das Verbleiben im traditionellen Wirtschaftssystem im heimatlichen Württemberg. Die Untersuchung beschränkt sich hier auf die sozio8
Vgl. die Biographie des Constantin Merkt in: A History and Biographical Cyclopaedia of Butler County Ohio, 360 f.
248
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
ökonomische Entwicklung nach der Einwanderung in nur zwei der sechs beschriebenen ländlichen Siedlungsgebiete, Medina County in Texas und Haldimand County in Ontario. Im Gegensatz zu Dodge und Washington Counties in Wisconsin und Auglaize County in Ohio, wohin die reicheren Bauern aus dem Untersuchungsgebiet der Schwäbischen Alb einwanderten, zogen hierher vorwiegend Angehörige ländlicher Unterschichten. Diese „Habenichtse“ konnten nicht sofort nach ihrer Ankunft Farmen gründen, ihr wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg vollzog sich langsamer und kann daher besser beobachtet werden. Für diese beiden ländlichen Siedlungen in Texas und Ontario, in die jeweils etwa sechzig Personen aus dem Untersuchungsgebiet eingewandert sind, wurden, wie aus der nachfolgenden Tab. 35 ersichtlich, zunächst die Bestimmungsfaktoren für den sozialen Aufstieg näher untersucht. Dazu wurden die Einwanderer für jedes der beiden Siedlungsgebiete danach unterteilt, ob sie es von ihrer Ankunft bis zum nächsten Zensus entweder als Farmer oder als Handwerker/Gewerbetreibender zu Grundeigentum (in Form einer eigenen Farm bzw. eines eigenen Hauses oder Geschäftes) gebracht hatten, oder ob sie im Zensus als grundbesitzlose Handwerker oder Lohnarbeiter geführt wurden. Wie bereits gezeigt werden konnte, haben sich die Einwanderer unmittelbar nach ihrer Ankunft in Nordamerika gezielt auf den Weg in die ländlichen Siedlungsgebiete nach Texas bzw. nach Ontario begeben. So trafen sie binnen eines Monats nach ihrer Landung in Galveston in Medina County ein. Nur wer auf dem Land nicht Fuß fassen konnte, wanderte später in die nächsten Städte (San Antonio bzw. New Orleans) ab. Auch die Besiedlung von Haldimand County verlief nach der Landung in New York auf direktem Wege und in den meisten Fällen ohne einen längeren Aufenthalt in einer der an der Strecke liegenden Städte. Dies zeigt sich auch daran, dass von den 73 Kindern der württembergischen Einwanderer in Haldimand County nach Angaben des kanadischen Zensus von 1871 nur eines zuvor in den USA geboren worden war. Ein Blick auf die Tab. 35 macht klar, dass der entscheidende Faktor für den Erwerb von Grundbesitz in Nordamerika die Aufenthaltsdauer im Lande war. In der Regel gelang es den württembergischen Einwanderern in beiden nordamerikanischen Siedlungsgebieten etwa ab dem sechsten oder siebten Jahr nach ihrer Ankunft in Nordamerika einen genügend großen Grundbesitz zu erwerben, um im Zensus als Farmer gezählt zu werden. Die einzige Ausnahme bildete in Ontario der mit einem beträchtlichen Vermögen von viertausend Gulden aus Trossingen eingewanderte Maurer Johannes Strom, dem es bereits innerhalb von vier Jahren gelang, für sich und seine Familie eine 50-acre-Farm zu kaufen. Umgekehrt blieb keiner der untersuchten Einwanderer viel länger als fünf oder sechs Jahre Lohnarbeiter oder Handwerker ohne Grundbesitz. Eine Untersuchung des elften bis neunzehnten Jahres nach der Einwanderung hat ergeben, dass zwei Drittel der vormaligen Lohnarbeiter inzwischen Farmer geworden waren, während das restliche Drittel das ländliche Siedlungsgebiet verlassen hatte, um sich in einer Stadt anzusiedeln.
249
7.2 Ländliche Gebiete
Tab. 35: Bestimmungsfaktoren für den sozialen Aufstieg der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in zwei ausgewählten ländlichen Siedlungsgebieten 1850–1880 Untersuchungsgebiet
Untersuchungskriterium Aufenthaltsdauer im Land beim nächsten Zensus (in Jahren)
Medina Co. Haldimand Co. Medina Co. (Texas) (Ontario) (Texas) „Farmer“ „Laborer“ oder „Laborer“ oder oder HandwerHandwerker Handwerker ker mit ohne Grundbeohne Grundbesitz Grundbesitz sitz [N = 7] [N = 6] [N = 8]
Haldimand Co. (Ontario) „Farmer“ oder Handwerker mit Grundbesitz [N = 8]
1, 1, 1, 4, 6, 6, 7
6, 7, 7, 9, 9, 9
2, 3, 3, 4, 4, 4, 5, 5 4, 6, 7, 7, 7, 8, 8, 9
Anzahl und Quote in dieser Spalte
7 von 13 (54 %)
6 von 13 (46 %)
8 von 16 (50 %)
8 von 16 (50 %)
Einwanderungsjahr (Mittelwert/Median)
1856/1854
1852/1852
1860/1862
1855/1854
Familienstand bei Einwanderung
3 x ledig 4 x verheiratet
6 x ledig
4 x ledig 4 x verheiratet
4 x ledig 4 x verheiratet
Alter bei Einwanderung (Mittelwert/Median)
27 J./27 J.
24 J./24 J.
26 J./23 J.
32 J./32 J.
Alter bei nächstem Zensus (Mittelwert/Median)
30 J./31 J.
32 J./32 J.
30 J./26 J.
39 J./39 J.
exportiertes 320 À/300 À Gesamtvermögen pro Auswanderungsfall (Mittelwert/Median)
117 À/150 À
393 À/200 À
875 À/275 À
exportiertes Prokopfvermögen der Auswanderer (Mittelwert/Median)
137 À/150 À
117 À/150 À
180 À/183 À
278 À/161 À
Berufssektor in Württemberg
1 x LWS 5 x Handwerk 1 x unbekannt
1 x LWS 3 x Handwerk 1 x Kirche 1 x unbekannt
5 x Handwerk 3 x unbekannt
3 x LWS 5 x Handwerk
Sektor in der Landwirtschaft
1 Bauer
1 Tagelöhner
–
1 Bauer 2 Bauernknechte
Sektor im Handwerk
1 x Metall 3 x Textil 1 x Nahrung
2 x Metall 1 x Holz
1 x Bau 2 x Metall 2 x Textil
2 x Bau 1 x Holz 2 x Textil
Art der Auswanderung
6 x of¿ziell 1 x heimlich
3 x of¿ziell 3 x heimlich
7 x of¿ziell 1 x heimlich
8 x of¿ziell
Beruf in Nordamerika im nächsten Zensus
4 Lohnarbeiter 4 Farmer 1 Landarbeiter 1 Wagner 1 Waffenschmied 1 Kleriker
6 Lohnarbeiter 1 Landarbeiter 1 Schuhmacher
6 Farmer 1 Schuhmacher 1 Schankwirt
Vermögen an Grundbesitz in Nordamerika im nächsten Zensus (Mittelwert/Median)
$ 24/$ 0
keines
CAN-$ 1.409/ CAN-$ 960 68 acres/ 50 acres
$ 413/$ 300
250
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
Untersuchungsgebiet
Untersuchungskriterium Geldvermögen in Nordamerika im nächsten Zensus (Mittelwert/Median) Haushaltsstatus in Nordamerika im nächsten Zensus Familienstand in Nordamerika im nächsten Zensus Männliche erwachsene Verwandtschaft in Nordamerika am Ort
Medina Co. Haldimand Co. Medina Co. (Texas) (Ontario) Haldimand Co. (Texas) „Farmer“ „Laborer“ oder (Ontario) „Laborer“ oder oder HandwerHandwerker „Farmer“ oder Handwerker ker mit ohne Grundbe- Handwerker mit ohne Grundbesitz Grundbesitz sitz Grundbesitz [N = 7] [N = 6] [N = 8] [N = 8] $ 73/$ 43 $ 297/$ 236 [nicht angege[nicht angegeben] ben]
3 x Haushaltsvorstand 4 x Kostgänger 3 x ledig 3 x verheiratet 1 x geschieden 7 x nein
6 x Haushalts- 4 x Haushaltsvorstand vorstand 4 x Kostgänger 6 x verheiratet 4 x ledig 4 x verheiratet 6 x ja (6 x Brüder)
5 x nein 3 x ja (2 x Brüder, 1 x Onkel)
8 x Haushaltsvorstand 1 x ledig 7 x verheiratet 2 x nein 6 x ja (4 x Brüder, 1 x Vater, 1 x Sohn)
Hinweise: „N“ gibt die Anzahl der erwachsenen Männer an, bei denen das Auswanderungsjahr bekannt ist, und die im ersten Zensus nach ihrer Ankunft im hier untersuchten ländlichen Siedlungsgebiet wiedergefunden wurden. Mit „Mittelwert“ ist das arithmetische Mittel gemeint. Quelle: Vom Verfasser erarbeitet anhand Auswanderungsverzeichnissen, Kirchenbüchern und Zensuslisten.
Der zweite für das rasche Gelingen des sozialen Aufstiegs wichtige Faktor lag im Zeitpunkt der Einwanderung. Die Migranten, die in Texas bzw. Ontario rasch zu Landbesitzern aufstiegen, waren durchschnittlich vier bis fünf Jahre früher ins Land gekommen als die laut erstem Zensus grundbesitzlosen Migranten. Dies kann damit erklärt werden, dass die Preise für Grund und Boden in Nordamerika im Laufe der Zeit angestiegen waren und es folglich für die mit ebenso viel oder wenig Geld später angekommenen Einwanderer entsprechend länger dauerte, Grundbesitz zu erwerben. Uneinheitlich ist der EinÀuss von Familienstand und Alter bei der Einwanderung zu bewerten. In Medina County Texas, das nach der Atlantiküberquerung damals erst auf einem längeren Reiseweg per Ochsenkarren erreicht werden konnte, scheint es von Vorteil gewesen zu sein, wenn man in jüngeren Jahren noch vor der Gründung einer eigenen Familie ins Land gekommen war. In Ontario scheinen die Familien mit älteren, heranwachsenden Kindern gegenüber denen mit kleinen Kindern im Vorteil gewesen zu sein. Ausschlaggebend für den sozialen Aufstieg mag hierbei vor allem gewesen sein, dass eine neu angekommene Einwandererfamilie möglichst viele Arbeitskräfte (Erwachsene und Jugendliche) und möglichst wenige zu versorgende Mitglieder (Kinder und Alte) hatte. Einen sehr deutlichen EinÀuss in diesem Sinne
7.2 Ländliche Gebiete
251
hatte bei der Einwanderung auch die Anwesenheit von männlicher, erwachsener Seitenverwandtschaft am Ansiedlungsort. Wo Väter, Onkel, Vettern und vor allem Brüder in der Nähe waren, gelang dem Migranten der soziale Aufstieg schneller als demjenigen, der ohne dieses Netzwerk an arbeitsfähigen Verwandten seine Existenz aufbauen musste. Von überraschend geringem EinÀuss auf den sozialen Aufstieg in Amerika war – zumindest für die hier untersuchten Angehörigen der ländlichen Unterschichten – das mitgebrachte Geld, denn für die breite Masse der Einwanderer, die mit durchschnittlich 150 bis zweihundert Gulden ins Land kamen, spielten diese geringfügigen Beträge für die Geschwindigkeit ihres sozialen Fortkommens keine nennenswerte Rolle. Nur wenn jemand, wie im geschilderten Fall des Maurers Strom, mehrere Tausend Gulden mitbringen konnte, war es von großem Nutzen.9 Auch der erlernte Beruf hatte offensichtlich keinen großen EinÀuss auf den Erwerb einer eigenen Farm. Freilich schadete es nicht, wenn der Einwanderer landwirtschaftliche Vorkenntnisse mitbrachte, aber solche hatten ja auch die meisten ländlichen Handwerker aus Württemberg. Es bleibt daher festzuhalten, dass Handwerker, die in der Heimat Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben hatten, ebenso wie Bauernknechte und Tagelöhner nahezu dieselben Chancen wie Vollbauern hatten, innerhalb der ersten zehn Jahre nach Ankunft in Nordamerika als Farmer Vollerwerbslandwirte zu werden – ein Ergebnis, das von nicht zu unterschätzender Auswirkung auf die Auswanderungsneigung der ländlichen Unterschichten auf der Schwäbischen Alb gewesen sein dürfte. Diese Aussage wird durch einen Blick auf die Größenordnung des Landbesitzes in der Alten und der Neuen Welt in Tab. 36 erhärtet: War 1873 in der Baar etwa die Hälfte aller Landwirtschaftsbetriebe kleiner als eineinhalb Hektar (ca. dreieinhalb acres), ein gutes weiteres Drittel zwischen eineinhalb und fünf Hektar (ca. zwölf acres) und ein weiteres Zehntel zwischen fünf und zehn Hektar (ca. 25 acres) groß10, so hatten die Farmen der württembergischen Migranten in Ontario 1871 ansehnliche Größen von durchschnittlich 63 acres (ca. 25 ha) nach dem arithmetischen Mittel bzw. fünfzig acres (zwanzig Hektar) nach dem Median. Von 25 dieser Farmen standen zwanzig im Eigentum der württembergischen Einwanderer, fünf waren von Migrantensöhnen gepachtet. Die von den Söhnen gepachteten Farmen waren allerdings in der Regel doppelt so groß wie die im Eigentum der Väter be¿ndlichen Farmen, wenngleich auch (noch) weniger entwickelt. Tab. 37 zeigt, dass es sich bei den durchschnittlichen 50-acre-Farmen der Trossinger Migranten in Ontario keineswegs um kleinere AckerÀächen und 9 10
Vgl. auch Kamphoefner, Westfalians, 140 f. Vgl. OAB Tuttlingen, 90 f. Diese Statistik nimmt Bezug auf den westlichen Teil des Oberamtes Tuttlingen, dessen größte Gemeinde Trossingen war.
252
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
Tab. 36: Größenklassenvergleich der Farmen der Trossinger Migranten in Haldimand County, Ontario, 1871 mit den landwirtschaftlichen Betrieben in der Gemeinde Trossingen 1873 Fläche des LWS < 1½ ha Betriebes (in ha) (~ Entsprechung < 3½ acres in acres) westlicher Teil des Oberamtes Tuttlingen 1873 49,8% (alle Landbesitzer in %) [N = 2.888] Grundstücke der Trossinger Migranten in Ontario1871 0,0 % (alle Landbesitzer in %) [N = 25] Fläche der Grundstücke der Trossinger Migranten in Ontario (in acres) [N = 25]
1½–5
5–10
10–20
20–100
> 100 ha
3½–12
12–24½
25–49
50–246
> 247 acres
36,8%
9,9 %
2,8 %
0,6 %
0,1 %
4,0 %
4,0 %
16,0 %
76,0 %
0,0 %
25, 44 47, 49 acres
50, 50, 50 50, 50, 50 50, 52, 55 60, 60, 60 77, 80 100, 100 120, 121 150 acres
5 acres
15 acres
Quelle: Vom Verfasser zusammengestellt nach den Agricultural Schedules des Census of Canada 1871 und der Württembergischen Landwirtschaftszählung 1873. Tab. 37: Bodennutzungsvergleich der Trossinger Farmen in Haldimand County, Ontario, 1871 mit den Bauernhöfen der Gemarkung Trossingen 1873 Bodennutzung
Ort Trossingen [1873] Landbesitz der Trossinger Einwanderer in Haldimand Co. [1871]
GesamtÀäche (in ha)
Äcker
Wiesen und Weiden
Gärten
Waldungen
Ortschaften, Straßen, Wege, Öden
1993 ha
58,4 %
16,0 %
1,8 %
18,1 %
5,7 %
642 ha
50,0 %
11,4 %
3,0 %
34,6 %
1,0 %
Quelle: Vom Verfasser zusammengestellt nach Agricultural Census 1871 und Landwirtschaftszählung 1873.
viel Wildnis handelte, sondern dass das Verhältnis von kultiviertem Land zur GesamtÀäche des Landbesitzes beinahe ebenso groß war wie das Verhältnis von landwirtschaftlicher NutzÀäche im heimatlichen Trossingen zur Größe der dortigen Gemarkung.
253
7.2 Ländliche Gebiete
Tab. 38: Vergleich der durchschnittlichen Hektarerträge der drei wichtigsten Getreidearten auf den Farmen der Trossinger Migranten in Haldimand County, Ontario 1861 mit den Bauernhöfen in der Gemeinde Trossingen 1873 Durchschnittliche Erträge einzelner Getreidearten (in Liter pro Hektar) Haldimand Co. 1861 (nur Ergebnisse der württembergischen Einwanderer) [N = 9] OA Tuttlingen 1873 (Durchschnittsangabe berechnet nach der Oberamtsbeschreibung) Ertrag Ontario in % des Ertrages im OA Tuttlingen
Weizen (in Liter/ha)
1861: 1.468 Liter/ha
Hafer (in Liter/ha)
Gerste (in Liter/ha)
2.577 Liter/ha
2.056 Liter/ha
2.249 Liter/ha
3.936 Liter/ha
3.374 Liter/ha
1861: 65,2 %
65,5 %
60,9 %
1871: 1.240 Liter/ha
1871: 55,1 %
Quelle: Vom Verfasser zusammengestellt nach Agricultural Census 1861 und Landwirtschaftszählung 1873.
Zieht man in Betracht, dass die durchschnittlichen Hektarerträge der drei wichtigsten Getreidearten Weizen, Hafer und Gerste in Haldimand County nach zehnjähriger Bebauung, wie Tab. 38 zeigt, 1861 immerhin knapp zwei Drittel des Wertes der durchschnittlichen Hektarerträge in der Baar erreichten, dass aber die Grundstücke und auch die landwirtschaftlichen NutzÀächen in Ontario um ein Vielfaches größer waren als im Oberamt Tuttlingen, sieht man, dass die württembergischen Einwanderer auch bei den ungewohnten klimatischen Verhältnissen Kanadas erfolgreich Subsistenzwirtschaft betreiben konnten. Wenn man außerdem bedenkt, dass in Ontario zu dieser Zeit viel weniger Arbeitskräfte pro Hektar Ackerland zur Verfügung standen als in Württemberg, sind die im Einwanderungsland erzielten Ernteerträge als Erfolg zu werten. So verwundert es nicht, dass 1871 unter den württembergischen Farmern in Ontario nur in drei von 25 Fällen das Führen der Landwirtschaft mit dem Betreiben eines Handwerks bzw. Gewerbes verbunden war, während im Oberamt Tuttlingen im Jahr 1875 noch 87 % der selbstständig tätigen Bevölkerung neben der Landwirtschaft ein Handwerk bzw. Gewerbe ausübten.11 Nicht nur an der landwirtschaftlichen NutzÀäche, sondern auch an der Zahl und Zusammensetzung des Viehbestandes lässt sich in Tab. 39 ablesen, dass die Landwirtschaft in Haldimand County zu dieser Zeit weiter fortgeschritten war als im württembergischen Trossingen. Während man sich in 11
Vgl. OAB Tuttlingen, 93.
254
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
Tab. 39: Vergleich von Einwohnerzahl, landwirtschaftlicher NutzÀäche und Viehbestand der Trossinger Siedlung in Haldimand County, Ontario, 1871 mit der Gemeinde Trossingen 1873 Einlandwirt- Pferde Zugwohner schaftliche ochsen NutzÀäche (in ha) Trossingen 1875 Trossinger Migranten in Haldimand Co. (inkl. Kinder) 1871 auf 100 Einwohner kommen in Trossingen auf 100 Einwohner kommen in Haldimand Co.
Milchkühe
Hornvieh
Schweine Schafe
2.573
1.519 ha
124
115
734
304
1.011
129
131
416 ha
54
4
72
93
107
215
59 ha
5
5
29
12
39
5
318 ha
41
3
55
71
82
164
Quelle: Vom Verfasser zusammengestellt nach Agricultural Census 1871 und der Landwirtschaftszählung 1873.
Trossingen z. B. 1875 mangels ausreichender Anzahl von Pferden zum Bestellen der Felder noch mit Zugochsen behalf, standen den Trossinger Einwanderern in Kanada zu dieser Zeit Pferde in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Für die Versorgung mit Milch und Fleisch besaßen sie in Kanada pro Kopf etwa doppelt so viele Milchkühe und Schweine wie die Bevölkerung in Trossingen. Zusätzlich betrieben sie in Kanada viel intensiver Schafzucht als ihre in Trossingen gebliebenen ehemaligen Dorfgenossen. Dies alles wäre von weitaus geringerer Bedeutung für die Motivation zur Migration von Trossingen nach Ontario gewesen, wenn sich in Württemberg alternative Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Wirtschaftssektoren aufgetan hätten. 1879 bestanden aber in Trossingen auch zu dieser Zeit noch „die Hauptnahrungsquellen der Einwohner in Feldbau und Viehzucht“.12 Die Mundharmonikafabrikation in Trossingen beschäftigte zu dieser Zeit gerade einmal 120 Personen. Ansonsten bestanden hauptsächlich traditionell betriebene Handwerke wie die Schuhmacherei und die KorbÀechterei. Aus den Tabellen lässt sich schlussfolgern, dass erstens der Erwerb von Grundbesitz in Nordamerika (zumindest bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein) grundsätzlich für jedermann möglich war, und dass zweitens der erworbene Grundbesitz in der Größe einer durchschnittlichen 12
Vgl. OAB Tuttlingen, 473.
7.3 Städte
255
50-acre-Farm zur Selbstversorgung ausreichte, ohne dass daneben noch ein Handwerk oder Gewerbe betrieben werden musste. Anhand dieser zwei Befunde erscheint die Entscheidung zur Migration von 34 Familien aus dem württembergischen Trossingen (und aus dem benachbarten Talheim) in das kanadische Haldimand County im Zeitraum von 1847 bis 1869 auch im ökonomischen Sinne gerechtfertigt. Im sozialen Sinne war die Immigration in ländliche Gebiete Nordamerikas eher eine Transplantation heimatlicher Nachbarschaften als eine Entwurzelung von Individuen, wie die hohe Konzentration von Einwanderern aus demselben Ursprungsgebiet auf relativ dichtem Raum in den einzelnen Niederlassungsgebieten zeigt. Bei einem Blick auf die Grundkarte von Haldimand County erkennt man, dass die Einwanderer aus Trossingen und Talheim oftmals aneinandergrenzende Grundstücke besaßen, was belegt, dass sie entweder zu derselben Zeit ins Land gekommen waren oder aber Teile ihres Grundbesitzes an nachfolgende Migranten aus dem Heimatdorf verkauft hatten.13 Das Bestehen von Wanderungsketten beweisen auch Untersuchungen der Passagierlisten14 und Angaben in den Auswanderungsanträgen.15 Schließlich haben persönliche Berichte über die besseren Lebensverhältnisse in Nordamerika die Auswanderungsbewegung nicht nur gelenkt, sondern auch angeregt. 7.3 STÄDTE Insgesamt 1.753 von 2.868 der im US-amerikanischen oder kanadischen Zensus zwischen 1850/51 und 1880/81 wiedergefundenen Migranten aus dem Untersuchungsgebiet waren innerhalb der ersten Dekade nach ihrer Einwanderung in Orte mit mehr als 2.500 Einwohnern – also in städtische Siedlungen16 – gezogen. Während über neunzig Prozent dieser Migranten in ihren Heimatgemeinden auf der Schwäbischen Alb zur Landbevölkerung gehört und in Dörfern gelebt hatten, wohnten damit mehr als sechzig Prozent von ihnen im städtischen Amerika. Gerade in den dicht besiedelten Einwanderer13 14 15
16
Vgl. Illustrated Historical Atlas of the County of Haldimand, Ontario. Abzulesen an den mindestens zehn verschiedenen Überfahrten zwischen 1846 und 1868 von Trossinger Migranten auf ihrem Weg nach Haldimand County. Vgl. den rückwirkend aus Nordamerika gestellten Auswanderungsantrag des Trossinger Schuhmachers Martin Hux (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191). Dieser lebte 1856 gemeinsam mit seinem Bruder Jakob Hux in Buffalo und ließ seinen Neffen, den Schuhmachergesellen Johannes Strohm, dorthin nachkommen. 1861 lebten Schuhmacher Hux und sein Neffe in Walpole Township, Haldimand County, Ontario und arbeiteten beide als Schuhmacher. Der Stadtbegriff in den Vereinigten Staaten von Amerika ist im Gegensatz zu dem deutschen schlicht an die Bevölkerungszahl einer Gebietskörperschaft gekoppelt. Orte mit 2.500 oder mehr Einwohnern gelten als städtische Gemeinden.
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7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
vierteln amerikanischer Großstädte waren für diese Migranten die veränderten Realitäten der neuen Lebenswelt in den Bereichen Wohnen und Arbeiten am deutlichsten, der Lebensweltwechsel als Lebensweltbruch am krassesten spürbar. Als Wohnraum kamen für viele Einwanderer in Metropolen wie New York oft nur einfachste Mietwohnungen in mehrstöckigen Häusern (tenements) infrage, die durch die Aufnahme weiterer Verwandter oder Bekannter oft überbelegt waren. Die Arbeitsplätze lagen in dem im Vergleich zur Schwäbischen Alb industriell fortgeschritteneren mittel- und großstädtischen Nordamerika häu¿g in Werkstätten, in denen sich die eingewanderten Arbeitskräfte erst an die modernen Fertigungsmethoden einer industriellen Arbeitswelt gewöhnen mussten. Interessant ist vorab ein Vergleich der nichtlandwirtschaftlichen Berufe, die von Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet im städtischen und ländlichen Nordamerika am häu¿gsten ausgeübt wurden. Tab. 40 zeigt eine Auswahl der häu¿gsten Berufe nach den Angaben des Zensus der Jahre 1850 bis 1880. Daran fällt auf, dass die eingewanderten Württemberger, die in Nordamerika als ungelernte Arbeiter ihren Platz auf der niedrigsten Stufe der dortigen Volkswirtschaft einnahmen, eher auf dem Land oder in der Kleinstadt als in einer Mittel- oder Großstadt zu ¿nden waren. Auch traditionell arbeitende Handwerker wie Wagner und Grobschmiede waren eher im dörÀichkleinstädtischen Nordamerika anzutreffen. Dagegen waren die Migranten von der Schwäbischen Alb als Angehörige industriell ausgeübter Berufe – beispielsweise als Maschinenschlosser – nahezu ausschließlich in urbanen Räumen, und hier vorwiegend in den Großstädten, vertreten. Auf die Konzentration der Bekleidungsindustrie in der Metropole New York ist es zurückzuführen, dass ebenfalls die Mehrheit aller in Nordamerika als Schneider arbeitenden Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in der Großstadt Arbeit gefunden hatten.17 Zu etwa gleichen Teilen im mittel- bzw. großstädtischen wie im ländlich-kleinstädtischen Amerika fanden von der Schwäbischen Alb eingewanderte Württemberger als Schuhmacher, Brauer, Wirte oder Zimmerleute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Arbeitsplätze. Während bei der Ausübung von Handwerken zur Herstellung von ländlichen Bedarfsgütern, wie z. B. als Sattler, Hufschmied oder Wagner, im ländlichen Nordamerika im Vergleich zur württembergischen Heimat kaum Unterschiede in der Ausstattung mit Werkzeugen oder in den Arbeitsabläufen bestanden, verlangten die Anforderungen für die in den Städten arbeitenden Handwerker teilweise ein deutliches Umlernen. Diese Anpassung an neue Arbeitsgeräte – hier eine Nähmaschine – belegt ein Brief des zehn Jahre zuvor 17
Vgl. dazu den Brief des Mahlstetter Auswanderers Jakob Aicher vom 29.10.1848 aus Philadelphia; abgedruckt im Heuberger Boten Nr. 296 ff., 23.12.–30.12.1989. Darin heißt es: „Wären wir Schuhmacher oder Schneider oder auch eine ledige Weibsperson, wir hätten in New York gleich Arbeit bekommen, denn als wir aus dem Schiff stiegen, wurden wir gleich gefragt, ob wir keine Schuhmacher oder Schneider wären.“
257
7.3 Städte
Tab. 40: Von männlichen Einwanderern* aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika ausgeübte nichtlandwirtschaftliche Berufe nach Ortsgrößenklassen18 1850–1880
Großstadt
Mittelstadt
Kleinstadt
Land
100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Quelle: Vom Verfasser zusammengestellt nach dem U. S. Manuscript Census 1850–1880. * Bezugsgröße sind Männer von 15 Jahren oder älter. Die Anzahl der Beobachtungen für die hier untersuchten neun Berufe liegt bei 1.255.
in die Kleinstadt Schenectady im Staat New York eingewanderten Wurmlinger Schneiders Johann Evangelist Butsch, der 1860 schrieb: Wenn einer so in die Land komt wie ich, und hatt niemand der sich seiner annimd, dan ist es hart. Es ist hier nicht wie Deutschland hier heißt helf dir selber – Deßhalb habe ich mich auch verheurathet, denn bei dießer Profeßion ist es besser, es ist überhaupt alles ganz anders. […]. Seitdem ich verheurathet bin ist es mir zimlich gut gegangen. Ich habe an einer Nähmaschin gearbeittet und bin nun willens mir auch eine zu kaufen und für mich (selbst zu) arbeiten. Den hier wird bereits alles mit der Maschine gemacht.19
Die Berufsangaben im Zehnjahresabstand nach den Zensuslisten sind nur ein grobes Raster, wodurch sich die sozioökonomische Dynamik der Einwanderungsprozesse nur teilweise an Wohnungs- und Berufswechseln ausmachen lässt. Ein detaillierteres Bild der sozioökonomischen Lebensverhältnisse 18
19
Die Größeneinteilung unterscheidet hier die Orte nach ihrer Einwohnerzahl wie folgt: Orte unter 2.500 Einwohnern sind als Land bezeichnet, Orte unter 15.000 Einwohnern als Kleinstadt, Orte zwischen 15.000 und 75.000 (1850) bzw. 100.000 Einwohnern (1860–1880) als Mittelstadt, Orte mit über 75.000 (1850) bzw. über 100.000 Einwohnern (1860–1880) als Großstadt. StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 191/202.
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7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
württembergischer Einwanderer lässt sich aber gewinnen, wenn man diese personenbezogenen Angaben der amerikanischen Volkszählungen20 um Einträge in den städtischen Adressbüchern21 und den halbjährlichen Kreditwürdigkeitsberichten für Geschäftsinhaber22 ergänzt. Exemplarisch seien hier unter Ausschöpfung der eben erwähnten Quellen23 die sozioökonomischen Lebensverhältnisse der Talheimer Migranten in der Stadt Utica im Staat New York anhand der auf einer im heimatlichen Gränzboten24 (und auf S. 156 in diesem Buch) erschienenen Spenderliste für den Deutsch-Französischen Krieg 1870 verzeichneten Personen näher dargestellt. Johs. Kohler 10 Dollar, Friedr. Kohler 5, Barth. Leibring 5, Elias Mauthe 5, Anna Kübler geb. Möst 5, Elias Irion 5, Anna Gebhardt geb. Stocker 3, Johs. Ulrich 5, Johs. Irion 5, Matthias Kreutter 3, Marie Hanush geb. Möst 3, Anna Marie Dietrich geb. Ulrich 3, Ursula Vogt geb. Kohler 3, Eugen Simmerer 3, Marie Meyn geb. Ulrich 3, Jakob Kattler 3, Jakob Hermann 3, Frau Hellwich geb. Kunz 3, Christian Kohler 3, Lene Kohler 2, Christine Kohler 2, Lucia Kreutter 2, Marie Konradi 2, Michael Vosseler 2, Mm. Beisigel (ein Freund) 1 Dollar.
Der 1860 eingewanderte Johannes (John) Kohler, ein gelernter Schumacher, hatte nach seiner freiwilligen Teilnahme am Amerikanischen Bürgerkrieg eine Anstellung in einer der führenden Textilhandlungen Uticas gefunden. Mit einem zusammengesparten Startkapital von vierhundert Dollar eröffnete er 1868 im Stadtzentrum sein eigenes Bekleidungsgeschäft, wo er neben einem Sortiment anderer Textilien vor allem Damenhüte feilbot. Zu seiner Kundschaft zählten viele Deutschamerikaner, die er per Annonce in der Utica deutsche Zeitung seine Angebote wissen ließ: „Unsere Frühjahrs-Moden von Hüten sind eingetroffen.“ Zwischen 1870 und 1875 steigerte er den Wert seines Unternehmens von weniger als zweitausend auf über zehntausend Dollar; er hatte mehrere Beschäftigte und zuhause ein Dienstmädchen. Anfang der 1880er Jahre wurde der Wert seines Unternehmens auf 15.000 bis 20.000 Dollar geschätzt. In der Geschäftswelt Uticas war Kohler als intelligenter, ehrlicher und konservativer Deutscher bekannt, der seinen Betrieb vorsichtig, aber stetig vergrößert hatte und gut führte. Kohler besitze ein Haus, lebe selbst bescheiden und zahle, wie die Auskunftei R. G. Dun & Co. angab, alle seine Rechnungen prompt. Diesen aufgelisteten Eigenschaften und Fähigkeiten hatte es John Kohler wohl zu verdanken, dass er in den 1870er Jahren zum Stadtkämmerer von Utica gewählt wurde. Dieses Amt 20 21 22 23 24
U. S. Manuscript Census, Utica, Oneida County, New York, 1850, 1860, 1870, 1880, 1900. Vgl. Utica City Directories 1848–1890. Vgl. R. G. Dun & Co., 1867–1885. Wegen der Vielzahl von biographischen Einzeldaten werden nachfolgend die Einzelquellen nicht angegeben. Gränzbote Nr. 141 vom 30.11.1870, 560.
7.3 Städte
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füllte er offenbar kompetent aus, denn er wurde für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt. Daneben war Kohler öffentlicher Notar und Vorsitzender der Columbia Brewing Company. Er hatte außerdem noch mehrere Ehrenämter inne; so war er z. B. Präsident des Utica German Männerchor und Vorsitzender der German Free School Association. Er war nicht nur der größte Spender, sondern zählte zu den führenden Köpfen unter der deutschamerikanischen Bevölkerung Uticas. Johann Friedrich (Frederick) Kohler, jüngerer Bruder von Johannes und in Talheim wohl auch mit dem Schuhmacherhandwerk vertraut, machte in Utica eine nicht ganz so steile Karriere. Auch er hatte freiwillig am Amerikanischen Bürgerkrieg teilgenommen und nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst in Utica verschiedene Jobs angenommen: In einem Jahr fertigte er Zigarren, im nächsten polierte er Schuhe und im Jahr darauf fertigte er Schuhe und Stiefel. 1870, zehn Jahre nach seiner Einwanderung, eröffnete er mit geringfügigem Kapital in einem Kellerraum eine Bierwirtschaft (saloon); sein Vermögen belief sich in diesem Jahr auf vierhundert Dollar. Innerhalb von acht Jahren ist Fritz Kohlers Saloon unter fünf verschiedenen Adressen verzeichnet, was wohl die Schwierigkeiten widerspiegelt, in den Jahren der wirtschaftlichen Depression in Nordamerika (1873–1879) mit einem eigenen Betrieb Fuß zu fassen. Kohlers Saloon gehörte zweifellos zu den kleineren in Utica, das geschätzte Geschäftskapital betrug stets weniger als zweitausend Dollar. Fritz Kohler galt als ehrlicher, Àeißiger, intelligenter und vorsichtiger Geschäftsmann. Er blieb zeit seines Lebens Schankwirt in Utica. Neben Bier führte er auch Weine und Branntweine im Sortiment. Ende der 1870er Jahre betrieb er eine Flaschenabfüllung für Lagerbier, in den 1880er Jahren einen Saloon, dann ein Hotel und schließlich wieder einen Saloon. Die Utica deutsche Zeitung vom 13. Januar 1891 enthält eine Anzeige von Fritz Kohler, dem Eigentümer des Steuben-House: „In der Restauration sind stets die besten Weine, Liköre, frisches Lagerbier und alle Erfrischungen zu haben.“ Es ist offensichtlich: auch er hatte es in Amerika zu etwas gebracht. Bartholomäus Leibring, der 1860 nach Amerika gekommen war, tauchte zwischen 1869 und 1871 als Schneider Charles Leibring in den Adressbüchern Uticas auf. Laut Zensus von 1870 arbeitete er in einem Bekleidungsgeschäft und war vermögenslos. Elias Mauthe, der 1864 mit Frau und drei Kindern eingewandert war, gehörte wie die Gebrüder Kohler zu denjenigen Talheimer Einwanderern, die in Utica Verwandte angetroffen hatten: Seine Schwester Magdalena, die Ehefrau des Schreiners Matthias Kreutter, lebte seit 1852 dort. Während Mauthe in Talheim Tagelohnarbeiten ausgeführt hatte, verdiente er sein Geld in Utica als Hausierer, Schrotthändler und Fuhrmann. Diese Tätigkeiten verhalfen ihm anscheinend zu gutem Verdienst, denn nach der Volkszählung von 1870 besaß die Familie Mauthe in Utica ein eigenes Haus und hatte ein Gesamtvermögen von 3.500 Dollar.
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7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
Anna Kübler, geborene Möst, hatte in Utica einen württembergischen Maschinenschlosser geheiratet und wohnte mit diesem in einem eigenen Haus. Das Vermögen der Familie belief sich 1870 auf 5.500 Dollar. Elias Irion ist der einzige Talheimer Einwanderer, der in der 1896 veröffentlichten Geschichte von Oneida County erwähnt wird, vermutlich aber nur deshalb, weil seine Frau Rachel Wolf, die er 1863 in Utica geheiratet hatte, aus einer bekannten New Yorker Familie stammte. Elias Irion, dessen Vater und Geschwister ebenfalls nach Amerika eingewandert waren und im Staat Wisconsin siedelten, kam 1860 ins Land und lebte für einige Jahre in Deer¿eld nahe Utica, wo er in einem Gartenbaubetrieb Beschäftigung fand. 1865 zog er nach Utica, wo er viele Jahre als Sägenschleifer arbeitete. Im Zensus von 1870 ist er allerdings als grundbesitzender Landarbeiter verzeichnet; sein Vermögen betrug 3.100 Dollar. Später arbeitete Elias Irion als Schuhmacher. Anna Gebhardt, geb. Stocker, wohnte 1870 zusammen mit ihrem Ehemann Jacob Gebhardt, ihrem Vater Johannes Stocker und ihrem Neffen Johannes Irion zusammen in einer Wohnung. Der Ehemann war Schuhmacher, der Vater Arbeiter im Ruhestand und der Neffe Metzger. Das Gesamtvermögen der Familie betrug 1.900 Dollar. In den 1870er Jahren kamen zwei weitere Neffen und eine Nichte von Anna Gebhardt nach Utica und fanden Aufnahme in ihrer Wohnung. Johannes Ulrich war in Talheim ein Uhrengestellmacher gewesen, bevor er 1869 nach Utica kam. Dort arbeitete er zwanzig Jahre lang als Zimmermann, bevor er 1890 sein eigenes, Àorierendes Bauunternehmen gründen konnte. Johannes Irion war, wie bereits erwähnt, der Neffe von Anna Stocker, verheiratete Gebhardt. Im Jahr 1866 als erstes von fünf Geschwistern nach Utica gekommen, fand er dort kurz nach seiner Ankunft in seinem erlernten Handwerk als Metzger Arbeit. Später führte er in Utica einen Feinkostladen, in dem er drei Mitarbeiter beschäftigte. Matthias Kreutter, ein Schreinermeister, gehörte zu den ersten Talheimern in Utica. Mit seiner Frau Magdalena, geb. Mauthe 1852 nach Utica gekommen, hatte er dort sofort Anstellung in seinem erlernten Beruf gefunden. 1870 besaß er ein eigenes Haus und hatte ein Gesamtvermögen von 650 Dollar. 1872 verzog die Familie Kreutter von Utica nach Albany und später nach Elmira im Staat New York. Marie Hanusch, geb. Möst, war mit einem aus dem Herzogtum Nassau stammenden Schlosser verheiratet. 1870 besaß die Familie tausend Dollar Vermögen, wohnte aber zur Miete. In ihrer Wohnung hatten sie zu dieser Zeit zwei junge Männer als Kostgänger aufgenommen. Maria Mösts Schwester Anna lebte ebenfalls in Utica. Anna Marie Dietrich, geb. Ulrich, hatte in Utica einen badischen Zigarrenmacher geheiratet und bewohnte mit ihm ein eigenes Haus, in dem auch ihre Schwester Anna Ulrich lebte. Das Gesamtvermögen der Familie belief sich 1870 auf 2.500 Dollar.
7.3 Städte
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Ursula Vogt, geb. Kohler, war 1860 als vierte von insgesamt sieben Geschwistern nach Utica gekommen. Dort war sie zunächst als Dienstmädchen angestellt, bis sie 1868 einen badischen Zimmermann heiratete, mit dem sie 14 Kinder großzog. Die Familie lebte in einem eigenen Haus in ¿nanziell gesicherten Verhältnissen. 1870 belief sich ihr Vermögen auf insgesamt 3.200 Dollar. Eugen Simmerer, ein Schuhmacher aus Talheim, war der Schwager der Kohler-Geschwister in Utica und diesen im Jahr 1864 mit Frau und drei Kindern dorthin gefolgt. In Utica war er für den Rest seines Lebens in einer Schuhfabrik beschäftigt, wo später auch seine Kinder arbeiteten. 1870 ist er in der Volkszählung ohne Vermögen verzeichnet, später aber konnte die Familie Simmerer ein eigenes Haus in Utica erwerben. Marie Meyn, geb. Ulrich, hatte in Utica einen aus Preußen stammenden Schneider geheiratet. Das Gesamtvermögen der Familie betrug 1870 spärliche zweihundert Dollar; nach 1872 verlieren sich die Spuren der Familie Meyn in Utica. Jakob Kattler gehört zu den wenigen Talheimern, die in Utica schwere Zeiten und eine wechselhafte Karriere erlebten. Als Flaschner mit 19 Jahren 1866 nach Nordamerika gekommen, fand er seine erste Anstellung in Utica als Schmied. 1870 machte sich Kattler zusammen mit einem Kollegen ohne große ¿nanzielle Mittel, selbstständig und eröffnete in Utica eine eigene kleine Werkstatt, in der man Zink-, Kupfer- und Eisenbleche schmiedete. In den ersten Jahren schien der Betrieb leidlich gut zu laufen, ohne allerdings große Gewinne abzuwerfen; den beiden Inhabern wurde indes bezeugt, ehrliche und Àeißige Männer zu sein. 1872 wurde Jakob Kattler, der inzwischen den Betrieb alleine weiterführte, noch einmal bestätigt, ein „ehrlicher und vertrauenswürdiger Geschäftsmann“ zu sein, der einen kleinen, aber feinen Betrieb im Wert von vier- bis sechshundert Dollar führe und „ohne Zweifel“ Erfolg haben werde. Dieser Einschätzung widerspricht der Kommentar aus dem Folgejahr zu Beginn der Wirtschaftskrise in den USA drastisch: Kattler, der statt seiner Werkstatt inzwischen eine Bierwirtschaft führte, sei „ein fauler Kerl“, der bereits einmal gescheitert sei und der nun kaum Kundschaft habe. Später heißt es über ihn und seine Wirtschaft nur noch: „Keine Mittel, kein Kredit.“ 1878 kehrte Kattler wieder zum Blechschmiedehandwerk zurück, sah aber schnell alte Forderungen gegen sich erhoben und hatte außerdem bei seinen Lieferanten sämtlichen Kredit verspielt: „Wertloser Kerl, der schon einmal gescheitert ist. Führt einen sehr kleinen Betrieb, der kaum zum Leben ausreicht. Hat früher einen Saloon geführt. Lieferungen nur gegen Barzahlung.“ Kattler starb 1884 in Utica im Alter von nur 37 Jahren. Jakob Hermann wiederum gehörte neben den Brüdern Kohler zu den Talheimer Immigranten in Utica, die geschäftlich Erfolg hatten und sozial Achtung fanden. Als 17-jähriger Bauernsohn 1869 nach Nordamerika gekommen, arbeitete er zunächst als Schmied in Utica. 1876 eröffnete er dort mit einem
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7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
Kapital von 1.500 bis zweitausend Dollar ein Lebensmittelgeschäft, das er in den nächsten vier Jahrzehnten sehr erfolgreich betrieb. Seinen Erfolg kann man nicht nur in ökonomischer Hinsicht am steigenden Wert seines Geschäftes und an seinem zunehmenden Grundeigentum ablesen, sondern auch in sozialer Hinsicht an der Tatsache, dass Hermann in den 1880er Jahren zum Vorsitzenden des „Industrieverbandes Germania“ (Germania Industrial Association), einer berufsständischen Vereinigung deutsch-amerikanischer Geschäftsleute in Utica, gewählt wurde. Frau Hellwich, geb. Kunz, konnte in der Volkszählung von 1870 nicht gefunden werden. Christian Kohler war das erste von sieben Geschwistern, die von Talheim nach Utica auswanderten. 1860 in Amerika angekommen, verdiente Kohler in der Anfangszeit als Arbeiter in einem Sägewerk in Utica seinen Lohn. Mehr als zehn Jahre lang vermaß er dort Holz, bevor er zum Handlungsreisenden im Holzhandel aufstieg. In diesem Beruf blieb er – mit einer einjährigen Unterbrechung als Hotelier – mehr als zwanzig Jahre lang. Zum Ende seiner Karriere sank Christian Kohler in der wirtschaftlichen Krisenzeit der 1890er Jahre allerdings zum Tagelöhner ab. Während er der Volkszählung von 1870 zufolge ein eigenes Haus im Wert vom tausend Dollar besaß, wohnte er später wieder zur Miete. Magdalena („Lene“) Kohler war 1870 zusammen mit ihrer Schwester Christine Kohler als Dienstmädchen im Haushalt eines wohlhabenden New Yorker Tabakhändlers angestellt. Sie heiratete später den bayerischen Schuster Adam Beisiegel. (Anna) Christine Kohler ehelichte 1874 in Utica den hessischen Schuhmacher Christian Weber, der später bei ihrem Bruder John Kohler in dessen Textilgeschäft mitarbeitete. Lucia Kreutter war die Tochter von Matthias und Magdalena Kreutter, die 1852 nach Amerika gekommen waren. Zwischen 1868 und 1874 war sie Dienstmädchen. Im Volkszählungsjahr 1870 war sie im Haushalt eines sehr vermögenden New Yorker Geschäftsmannes in Utica angestellt. Marie Konradi ist zwischen 1868 und 1871 als Dienstmädchen in Utica verzeichnet. 1870 hatte sie eine Anstellung im Haushalt eines New Yorker Immobilienmaklers. Michael Vosseler war Arbeiter in Utica und lebte 1870 im Haushalt seines Bruders Martin Vosseler, der als Schumacher beschäftigt war. Nach 1870 verliert sich seine Spur. Adam Beisiegel, ein bayerischer Schuhmacher, wurde in den 1870er Jahren der Ehemann von Magdalena Kohler. Seine Verbindung zur Talheimer Gruppe in Utica bestand aber anscheinend schon etwas länger, wie seine Spende an die Talheimer Soldaten 1870 zeigt. Verallgemeinernd lässt sich anhand dieses Beispiels der Talheimer Gemeinschaft in Utica festhalten: Die zum Teil häu¿gen Berufs- und Wohnort-
7.3 Städte
263
wechsel belegen die Dynamik der Einwanderungsprozesse in den Städten, die schneller und zugleich widersprüchlicher, also weniger gradlinig verliefen als auf dem Land. Nur eine Minderheit der württembergischen Migranten arbeitete im städtischen Amerika seit ihrer Einwanderung ununterbrochen in ihrem in der Heimat erlernten Beruf. Die meisten städtisch orientierten Einwanderer bewegten sich beruÀich zwischen der Ausübung ihres erlernten Handwerksberufes, kurzzeitigen unquali¿zierten Tätigkeiten und oft mehrmaligen Versuchen, in der amerikanischen Geschäftswelt – auch als Selbstständige – Fuß zu fassen. Für die meisten Migranten von der Schwäbischen Alb war dies entweder die Eröffnung einer eigenen Gast- oder zumindest Schankwirtschaft, in selteneren Fällen auch eines Hotels oder Einzelhandelsgeschäftes, dessen Spezialisierung oft von der heimatlichen Berufsausbildung beeinÀusst war. Das Lebensmittelgeschäft eines gelernten Metzgers oder die Kleiderhandlung eines württembergischen Schuhmachers sind Beispiele dafür. In der Regel handelte es sich bei den württembergischen Geschäftsleuten im städtischen Amerika jedoch mangels genügenden Kapitals um mitarbeitende Geschäftsinhaber. Insgesamt konnten vier von fünf Talheimer Einwanderern in Utica ihren Sozialstatus halten oder verbessern. Nur in etwa zwanzig Prozent der Fälle waren Statusverluste zu beobachten. Der typische Migrationspfad lediger Frauen führte in Nordamerika in die Nähe ihrer männlichen Verwandtschaft oder anderer Vertrauter aus der Heimat. In den Städten boten sich für diese weiblichen Migranten Stellungen als Dienstmädchen, oft in den Haushalten vermögender angloamerikanischer Geschäftsleute. Da diese Frauen in Nordamerika als Dienstmädchen eher und unmittelbarer mit der Sprache und den Gebräuchen des Einwanderungslandes in Berührung kamen als viele Männer, waren sie für andere Migranten als Ehefrauen begehrt. Dies lässt sich einerseits an der nur wenige Jahre dauernden Dienstmädchentätigkeit bis zur Heirat ablesen, und andererseits mit dem im Vergleich zu ihren männlichen Mitauswanderern aus Talheim in Utica durchweg höheren Grundbesitz und Geldvermögen ihrer Ehemänner belegen. Während sich Einwanderer auf dem Land mit dem Erwerb einer eigenen Farm den American Dream voll erfüllen konnten, war für die meisten nichtlandwirtschaftlich orientierten Migranten in der Stadt ökonomisch maximal ein eigenes Geschäft erreichbar. Exemplarisch dafür steht die Einwanderungsgeschichte des Trossinger Sattlerlehrlings und Bauernknechtes Jakob Birk, der im Mai 1853 in New York eintraf. Dort arbeitete er in den ersten fünf Monaten als Sattler, ging danach nach Bridgeport, Connecticut, wo er ein Jahr lang in seinem Beruf arbeitete. Im November 1854 zog er nach Chicago, wo er zunächst wieder als Sattler arbeitete. Fünf Monate später wechselte er zu einer Firma, die bessere Löhne zahlte. Bereits 1857 hatte er genügend Geld angespart, um sich in seinem Beruf selbstständig zu machen. 1868 vergrößerte er seinen Betrieb, den er bis 1882 weiterführte, als er mit zwei Geschäftspartnern eine Brauerei gründete. 1888 verkaufte er seinen Anteil daran
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7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
und kaufte als Alleineigentümer eine andere Brauerei, die er später seinen Söhnen vermachte.25 7.4 INDUSTRIEGEBIETE Im Gegensatz zu den Städten mit ihrer gemischten Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur und vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten in verschiedenen Wirtschaftsbereichen boten die Gebiete der nordamerikanischen Schwerindustrie im 19. Jahrhundert durch ihre räumliche Abgeschiedenheit und ihre Konzentration auf jeweils einen einzigen Wirtschaftszweig ihren Beschäftigten nur geringe Aufstiegschancen. Dies traf besonders auf die Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet in den Kupferminen am Oberen See – ebenso wie die im Kohlebergbau in den Appalachen – zu. Da die Arbeitsplätze der Erschließung neuer Tagebaue folgten, zeichneten sich die dort beschäftigten Migranten zwar durch hohe örtliche Mobilität aus, hatten aber angesichts ihrer meist ungelernten Tätigkeiten als Bergleute und Minenarbeiter wenig Chancen auf einen sozialen Aufstieg. Mangels beruÀicher Ausbildung durch die Minengesellschaften, von denen sie angeheuert, untergebracht und verpÀegt wurden, gab es für sie auch später kaum Aufstiegschancen. Da im Copper Country Holzfäller, Bauhandwerker, Steinbrucharbeiter, Schmiede und Fuhrleute ebenfalls Beschäftigte der Minengesellschaften waren, Werksunterkünfte und sogar Kneipen in der Hand dieser Betreiber¿rmen waren und außerdem das Abbaugebiet schwach mit Einheimischen besiedelt war, ¿el mangels entsprechender Nachfrage der Anreiz weg, sich beruÀich selbstständig zu machen. Nur in Einzelfällen übernahmen vormalige Bergleute oder Minenarbeiter Anstellungen in Kneipen, Pensionen oder Wohnheimen und wechselten dadurch in den Dienstleistungssektor. Da diese Geschäfte, die Gebäude sowie Grund und Boden der Minengesellschaften gehörten, konnten sie nur Betreiber, nicht aber Eigentümer dieser Wirtschaften werden. Sozialer Aufstieg war deshalb nur außerhalb einer Tätigkeit im Bergbau und damit in der Regel auch nur außerhalb des Bergbaugebietes möglich. Einige Migranten, die in den Kupferminen am Oberen See beschäftigt waren, kehrten deshalb in ihre württembergischen Heimatdörfer zurück. Andere zogen in die Great Plains weiter, um dort Farmer zu werden.26 Der Aldinger Bauernsohn Jakob Andreas Hengstler kombinierte beide Optionen: Nachdem er drei Jahre lang in den Kupferminen von Michigan gearbeitet hatte, kehrte er 1867 für ein halbes Jahr in sein schwäbisches Heimatdorf zurück und reiste 25 26
Vgl. Biographie des Jacob Birk in: History of Illinois – Being a General Survey of Cook County History, Bd. 2, 701 f. Unveröffentlichtes familiengeschichtliches Material zur Messner Family, Trossingen nach Dakota Territory, zur Verfügung gestellt von Jean R. Williams, Tacoma, WA. Vgl. auch Dakota State Census 1885.
7.5 Wechselbeziehungen räumlicher und sozioökonomischer Mobilität
265
im Herbst desselben Jahres von dort mit fünf Männern und zwölf Frauen wieder nach Amerika. Die Gruppe verweilte für kurze Zeit in Cincinnati, zog dann weiter nach Madison, Ohio, und erreichte im November 1867 Nebraska, wo die Männer in Cottonwood Springs, Lincoln County, mit Holzfäller- und Frachtfuhrarbeiten für das nahegelegene Fort Geld verdienten und die Frauen für die Frachtfahrer und Holzfäller kochten. Dort heiratete Hengstler eine junge Frau aus dem seinem Heimatdorf benachbarten Frittlingen, die mit zu seiner Reisegruppe gehört hatte. Zwischen Oktober 1869 und 1872 wohnten beide auf einer Farm nahe Fremont in Saunders County, Nebraska. Danach beantragten sie eine Landzuteilung nach dem Homestead Act nahe Creighton, welche sie wieder verkauften, um südlich Creightons erneut Waldland zu beantragen. Nach und nach vergrößerte das Ehepaar Hengstler seinen Besitz und kaufte später noch 540 acres Land in Knox und Antelope County hinzu.27 Auch in Altoona, Pennsylvania, gab es mit der Pennsylvania Railroad einen das lokale Wirtschaftsleben dominierenden Arbeitgeber. Die beruÀiche Entwicklung der Aldinger Migranten, von denen zwei Drittel als Hilfsarbeiter und ein Drittel als Facharbeiter in den metall- und holzverarbeitenden Werkstätten der Pennsylvania Railroad beschäftigt waren, verlief hier in der Regel durch internen Aufstieg, wie er sich anhand der City Directories dokumentiert. Mit zunehmender Betriebszugehörigkeitsdauer waren einige bei der Pennsylvania Railroad beschäftigte Migranten dort zu Vorarbeitern geworden, wie es beispielsweise Jakob Gruhler nach mehr als zwanzig Jahren Beschäftigung als einfacher Bahnarbeiter gelungen war.28 Der 1873 eingewanderte Aldinger Dienstknecht Jacob Weiss, der lange Zeit in Altoona als Schmied beschäftigt gewesen war, brachte es in den 1890er Jahren zum stellvertretenden Werkmeister einer Schmiedewerkstatt.29 Gottlob Hauser stieg während seiner über zwanzigjährigen Betriebszugehörigkeit bei der Pennsylvania Railroad in Altoona vom Lastenträger und ungelernten Arbeiter zum Büroangestellten auf.30 7.5 Wechselbeziehungen räumlicher und sozioökonomischer Mobilität 7.5 WECHSELBEZIEHUNGEN ZWISCHEN RÄUMLICHER UND SOZIOÖKONOMISCHER MOBILITÄT Aufschlussreich ist die Analyse des Zusammenspiels von räumlicher und sozialer Mobilität innerhalb Nordamerikas bei den Migranten von der Schwäbischen Alb. Wie hingen Wohnorts- und Berufswechsel zusammen? Kamen Migranten in der Stadt schneller zu Wohlstand als auf dem Lande? Wie stark 27 28 29 30
Vgl. die Biographie des Andrew Hengstler im Compendium of History, Reminiscence and Biography of Nebraska, 731 f. Vgl. Altoona City Directory 1895. Ebd. Ebd.
266
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
waren die gegenseitigen Beziehungen von städtischem und ländlichem Amerika angesichts des Befundes, dass Einwanderer nach oft mehrjährigem Aufenthalt in der Stadt auf das Land zogen, oder aber dass nicht im Agrarbereich verbliebene Kinder der deutschamerikanischen Landbevölkerung im jungen Erwachsenenalter Arbeitsstellen in der Stadt annahmen? Tab. 41 dokumentiert im Zehnjahresabstand des Zensus die inneramerikanischen Wohnort- und Berufswechsel der aus dem Untersuchungsgebiet eingewanderten Württemberger. In dieser Tabelle werden die Veränderungen zwischen zwei aufeinander folgenden Zensusstichtagen (1850–1860; 1860– 1870; 1870–1880) pauschal zusammengefasst, bevor in Tab. 42 dieses Pauschalergebnis weiter nach Einwanderungsdekaden und ledig bzw. im Familienverband eingewanderten Migranten aufschlüsselt wird. Tab. 41: Wohnorts*- und Berufswechsel** von Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen innerhalb Nordamerikas 1850–1880
Berufswechsel** nein
Veränderung des Sozialstatus
ja höher
nein
50,3 %
27,7 % gleich
Wohnortswechsel* ja
18,6 %
niedriger
20,2 %
höherer
57,5 %
10,0 %
12,0 % gleich
60,3 %
39,7 %
niedriger N = 1.628
61,2 %
23,3 %
78,0 %
22,0 %
19,2 % 100,0 %
Quelle: Vom Verfasser ermittelt nach US- und kanadischen Zensuslisten. * Gemessen in Umzügen über Countygrenzen hinweg zwischen zwei aufeinander folgenden Zensusstichtagen. ** Gemessen in Wechseln zwischen Branchen zwischen zwei aufeinander folgenden Zensusstichtagen.
Tab. 41 zeigt pauschal, dass rund die Hälfte der im Zensus wiedergefundenen Migranten nach zehn Jahren noch in denselben Amtsbezirken (Counties) wohnte und beruÀich unverändert in denselben Branchen beschäftigt war, während in demselben Zeitraum knapp vier von zehn Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet ihren Beruf über die Branchengrenzen hinweg wechselten. Mehr als zwei Drittel dieser Berufswechsel erfolgten am Wohnort, das restliche Drittel war mit einem Umzug über Countygrenzen hinweg verbunden. Zieht man in Betracht, dass insgesamt nur 22 % der untersuchten Migrantenbevölkerung zwischen zwei aufeinander folgenden Volkszählungen im
7.5 Wechselbeziehungen räumlicher und sozioökonomischer Mobilität
267
Zeitraum zwischen 1850 und 1880 innerhalb Nordamerikas weitergewandert waren, die Sesshaftenquote also bei 78 % lag, wird deutlich, dass gut die Hälfte der Wohnortwechsel mit Berufswechsel verbunden waren. Differenziert man innerhalb der Berufswechsel nach sozialem Aufstieg, Gleichstand oder Abstieg wird deutlich, dass ungefähr sechzig Prozent der Berufswechsel einen sozialen Aufstieg bewirkten, in 23 % der Berufswechsel das bestehende soziale Niveau gehalten wurde und nur etwa 18 % der Fälle einen sozialen Abstieg bedeuteten. Dieses Muster gilt in etwa gleichermaßen für diejenigen Migranten, die in Nordamerika sesshaft geblieben waren, wie für diejenigen, die dort an Binnenwanderungen teilgenommen hatten. Die leicht durchdringbaren Sozialgrenzen, die einen wesentlichen Teil des American Dream ausmachen, bestanden für die württembergischen Einwanderer im Nordamerika des 19. Jahrhunderts also tatsächlich. Differenziert man – wie in Tab. 42 geschehen – innerhalb der von der Schwäbischen Alb stammenden Migrantengesamtheit einerseits nach Familienvätern und ledigen Einzelauswanderern und andererseits nach dem Zeitpunkt ihrer nordamerikanischen Binnenwanderung, wird Folgendes deutlich: Knapp die Hälfte der in den 1840er Jahren eingetroffenen Einzelauswanderer wechselte zwischen 1850 und 1860 den Wohnort über Countygrenzen hinweg, während dies nur für ein Viertel der damals eingewanderten Familienväter zutraf. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer im Einwanderungsland nahm für beide Gruppen die Wahrscheinlichkeit eines Ortswechsels ab. So halbierte sich etwa die Rate der Ortswechsel zwischen dem zehnten und zwanzigsten Jahr nach Einwanderung sowohl bei den in den 1840er als auch in den 1850er Jahren ins Land gekommenen Württembergern, und zwar sowohl bei den Familienvätern als auch bei den ledigen, allein ins Land gekommenen Einwanderern. Obwohl für beide Migrantengruppen galt, dass aufgrund des höheren Sesshaftenanteils die meisten inneramerikanischen Berufswechsel vor Ort stattfanden, lag die Wahrscheinlichkeit höher, dass Berufswechsel innerhalb Nordamerikas prozentual häu¿ger im Zuge von Wohnortwechseln geschahen. In beiden Fällen zahlte sich die Mehrzahl der Berufswechsel im Sinne eines sozioökonomischen Aufstiegs zu einem höheren Sozialstatus aus. Dabei verliefen Berufswechsel am Wohnort in höherem Maß erfolgreich als die mit einem Ortswechsel verbundenen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die große Mehrzahl der Migranten aus dem Untersuchungsgebiet im 19. Jahrhundert am American Dream partizipieren konnten, es sich dabei also nicht um eine Illusion handelte. Sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch Kanada boten diesen Einwanderern nicht nur eine Verheißung, sondern die realistische Chance, durch Fleiß und Sparsamkeit „nach oben“ zu kommen. Der sozioökonomische Aufstieg war bereits für die Angehörigen der ersten Einwanderergeneration möglich. Dabei wurden die meisten Statuswechsel der in der Alten Welt beruÀich exzellent vorgebildeten württembergischen Migranten in eine höhere Sozial-
268
7 Sozioökonomische Analyse des American Dream
Tab. 42: Berufs- und Sozialstatuswechsel innerhalb Nordamerikas mobiler und sesshaft gewordener Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1850–1880 Merkmale Migrantentyp Zensusjahre Familienväter 1850–1860 Einzeleinwanderer 1850–1860 Familienväter 1860–1870 Einzeleinwanderer 1860–1870 Familienväter 1860–1870 Einzeleinwanderer 1860–1870 Familienväter 1870–1880 Einzeleinwanderer 1870–1880 Familienväter 1870–1880 Einzeleinwanderer 1870–1880
Einwanderungsdekade
N
Orts- – davon – davon Kein – davon – davon wechsel Berufs- Auf- bzw. Orts- Berufs- Auf- bzw. wechsel Abstieg wechsel wechsel Abstieg
1840–1849
58
25,9 %
60,0 %
1840–1849
35
45,7 %
50,0 %
1840–1849
43
11,6 %
20,0 %
1840–1849
50
26,0 %
46,2 %
1850–1859
91
22,0 %
55,0 %
1850–1859 182
25,3 %
52,2 %
1850–1859
78
12,8 %
60,0 %
1850–1859 218
14,2 %
25,8 %
1860–1869
36
25,0 %
55,6 %
1860–1869 117
30,8 %
61,1 %
Ÿ 66,7 % Ź 0% ź 33,3 % Ÿ 37,5 % Ź 62,5 % ź 0% Ÿ 100 % Ź 0% ź 0% Ÿ 50,0 % Ź 16,7 % ź 33,3 % Ÿ 54,4 % Ź 27,4 % ź 18,2 % Ÿ 54,2 % Ź 20,8 % ź 25,0 % Ÿ 83,3 % Ź 0% ź 16,7 % Ÿ 37,5 % Ź 12,5 % ź 50,0 % Ÿ 60,0 % Ź 0% ź 40,0 % Ÿ 63,6 % Ź 13,7 % ź 22,7 %
74,1 %
54,3 %
88,4 %
74,0 %
78,0 %
74,7 %
87,2 %
85,8 %
75,0 %
69,2 %
Ÿ 41,9 % Ź ź Ÿ 42,1 % Ź ź Ÿ 15,8 % Ź ź Ÿ 29,7 % Ź ź Ÿ 25,4 % Ź ź Ÿ 33,1 % Ź ź Ÿ 13,2 % Ź ź Ÿ 28,3 % Ź ź Ÿ 48,1 % Ź ź Ÿ 34,6 % Ź ź
55,6 % 16,6 % 27,8 % 62,5 % 25,0 % 12,5 % 50,0 % 16,7 % 33,3 % 54,5 % 18,2 % 27,3 % 50,0 % 22,2 % 27,8 % 82,2 % 6,7 % 11,1 % 66,7 % 11,1 % 22,2 % 56,6 % 18,9 % 24,5 % 69,2 % 7,7 % 23,1 % 71,4 % 7,2 % 21,4 %
Quelle: Vom Verfasser ermittelt nach US- und kanadischen Zensuslisten.
kategorie nicht unmittelbar nach Ankunft in der Neuen Welt, sondern erst mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Nordamerika als Ergebnis des Einwanderungsprozesses erreicht.
8 SCHLUSSBETRACHTUNGEN Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zur Nordamerikamigration von der Schwäbischen Alb im 19. Jahrhundert basieren auf einer sehr hohen, in der historischen Migrationsforschung bisher nicht erreichten Verknüpfungsrate von 64,9 %1 einer Auswanderergesamtheit von 3.824 Personen, die aus einem Vergleich von württembergischen Auswanderungsverzeichnissen und nordamerikanischen Zensuslisten gewonnen wurde. Konkret bedeutet dies, dass 2.483 Auswanderer erfasst worden sind, einschließlich 369 auf der Überfahrt bzw. in Nordamerika vor dem nächsten Zensus Verstorbener.2 Diese Zahlen beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum 1830–1880, der nach Quellendichte und Auswanderungsintensität besonders repräsentativ ist. Zusätzlich ließen sich in zwanzig Kirchenbüchern aus dem Untersuchungsgebiet für den gleichen Zeitraum 1.972 Nordamerikamigranten ermitteln, wovon jedoch nur 886 mit dem Zensus verknüpft werden konnten. Ausgehend von 2.483 Personen abzüglich 369 Verstorbener, erhöht sich dadurch die Gesamtzahl von 2.114 auf exakt dreitausend Personen, die im Zensus wiedergefunden wurden. Insgesamt konnten jedoch 6.049 Verknüpfungen der Daten auf der Auswanderungsseite mit dem Zensus der Einwanderungsländer hergestellt werden, da rund zwei Drittel dieser Migranten durch Beobachtungen in mindestens zwei verschiedenen Zensusjahren mehrfach zu verknüpfen waren.3 Dass allein durch die Verknüpfung der Angaben der Auswanderungsverzeichnisse mit den Zensuslisten die Nordamerikamigration von der Schwäbischen Alb nur teilweise erfasst werden kann, ist darauf zurückzuführen, dass in Württemberg jeder nicht mehr im militärpÀichtigen Alter stehende Mann und jede Frau, sofern sie keine Reisemittel aus öffentlichen Kassen bean-
1
2 3
Vgl. beispielsweise Reich, Aus Cottbus und Arnswalde in die Neue Welt. Reich hat eine Verknüpfungsquote von 6,8 % zwischen den Auswanderungsanträgen von 6.644 aus dem Kreis Arnswalde im Nordosten der preußischen Provinz Brandenburg zwischen 1848 und 1893 nach Nordamerika ausgewanderten Personen und dem U. S. Manuscript Census 1880 und 1900 für Wisconsin erreicht. Für denselben Zeitraum verknüpfte er von den 3.927 allein nach Wisconsin ausgewanderten Personen 454 Einwanderer aus dem Kreis Arnswalde mit dem U. S. Manuscript Census. Darunter waren vielfach Kleinkinder oder Alte, deren Todesfälle teilweise anhand der Mortality Schedules des U. S. Population Census oder lokaler kirchlicher bzw. staatlicher Sterberegister nachgewiesen werden konnten. Diese Verknüpfungen erfolgten einfach bei 1.101 Personen, zweifach bei 1.003 Personen, dreifach bei 702 Personen, vierfach bei 209 Personen.
270
8 Schlussbetrachtungen
spruchten, mit einem vom Oberamt ausgestellten Heimatschein4 ins Ausland, also auch nach Nordamerika gehen, aber auch jederzeit in die alte Heimat zurückkehren konnte.5 Für alle anderen Nordamerikamigranten wäre die mit der Auswanderung verbundene Aufgabe der württembergischen Staatsangehörigkeit und des Bürgerrechts in der Heimatgemeinde mit dem Nachteil verbunden gewesen, im Falle eines Scheiterns in der Neuen Welt nicht mehr problemlos nach Württemberg zurückkehren und in eine dortige Gemeinde wiederaufgenommen werden zu können. Die große Zahl der behördlich nicht erfassten Migrationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegen nicht nur die Kirchenbucheinträge über Nordamerikamigranten im Untersuchungsgebiet, sondern auch die Kompilationen Bremer bzw. Hamburger Schiffspassagierlisten, bei denen der letzte Wohnort der Migranten angegeben ist. Durch namentliches Abgleichen dieser beiden Quellen mit den behördlichen Auswanderungsverzeichnissen erschließt sich, dass in den 1860er und 1870er Jahren rund jeder zweite und in den 1880er und 1890er Jahren nur etwa jeder vierte Nordamerikamigrant bei den württembergischen Behörden einen Auswanderungsantrag gestellt hatte.6 Ein Sozialstrukturvergleich der ohne amtliche württembergische Auswanderungsgenehmigung oftmals nur mit einem Heimatschein nach Nordamerika gegangenen, oft als „heimliche“ oder „illegale“ Auswanderer bezeichneten Migranten mit den in den behördlichen Auswanderungsverzeichnissen eingetragenen of¿ziellen Auswanderern zeigt, dass es sich dabei keineswegs vorwiegend um junge Männer handelte, die sich durch die Überfahrt nach Nordamerika ihrer MilitärpÀicht entzogen, sondern vor allem um unverheiratete junge Frauen und um ledige oder verheiratete, in ihrem dritten oder vierten Lebensjahrzehnt stehende Männer, die im Zeitalter der Dampfschifffahrt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den nordamerikanischen Wirtschaftsraum verstärkt als Zielgebiet in ihre temporären, d. h. auf Rückkehr nach Württemberg angelegten, Arbeitswanderungen einbezogen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich eine deutliche Veränderung des Wanderungsverhaltens der untersuchten Migrantengesamtheit. Die bis in die 1870er Jahre vorherrschende dauerhafte Migration, meist im Familienverband und mit fester Siedlungsabsicht, wurde vielfach durch temporäre, teils 4 5
6
Mit dem Heimatschein wurde das Heimatrecht in der Gemeinde bescheinigt. Er war eine Art Vorläufer des heutigen Personalausweises. Freilich gab es auch Personen, für die es günstiger war, bei Nacht und Nebel abzureisen, d. h. ohne Auswanderungskonsens und Heimatschein nach Nordamerika zu gehen. Dies geht z. B. in wenigen Einzelfällen aus Fahndungen nach Rekruten im Gränzboten hervor. Das klammheimliche Verschwinden wurde auch von Migranten bevorzugt, die unter Zurücklassung ihrer Schulden und/oder ihrer Familienangehörigen den Atlantik überquerten. In den ausgewerteten Quellen konnten solche Fälle aber nur sehr vereinzelt nachgewiesen werden. Belegt durch Hamburg Passenger Lists bei www.ancestry.com und Zimmermann/Wolfert, German Immigrants.
8 Schlussbetrachtungen
271
mehrjährige, teils nur saisonale Arbeitswanderungen und damit zirkuläre Formen der Migration abgelöst. Diese Veränderung des Migrationsmusters ist zum einen an US-Reisepassanträgen naturalisierter Einwanderer von der Schwäbischen Alb ablesbar, welche die Verwandtschaft in der Heimat besuchten oder aus Geschäftsgründen nach Europa reisten. Zum anderen belegen die seit 1897 detaillierten Schiffspassagierlisten der amerikanischen Einwanderungsbehörde, dass ein Drittel der zwischen 1897 und 1914 ins Land gekommenen, ursprünglich auf der Schwäbischen Alb beheimateten Passagiere schon zu einem früheren Zeitpunkt in die Vereinigten Staaten von Amerika eingereist waren.7 Das häu¿ge Vorkommen von Kettenwanderungen, die ganz überwiegend auf dem Nachzug von Verwandten basierten, wird für die Nordamerikamigranten von der Schwäbischen Alb im 19. Jahrhundert durch den personenbezogenen Vergleich von 4.261 Eintragungen in den Schiffspassagierlisten zwischen 1830 und 1880 mit 6.049 Zensusdaten im Zeitraum von 1850 bis 1880 belegt. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Wanderungsketten aus einem Herkunftsgebiet im Wesentlichen nur zwischen Migranten gleicher Konfession und ähnlichem sozialen Status bestanden. Nicht jede Kettenwanderung von Migranten gleicher Herkunft führte allerdings im Einwanderungsland zu gemeinschaftlicher Siedlungsbildung. Vielmehr hatten sich nur etwa dreißig Prozent der in ihrem Einwanderungsprozess untersuchten Württemberger von der Schwäbischen Alb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der ersten zehn Jahre nach ihrer Einwanderung bis zum nächsten Zensus in größerer Zahl, d. h. zu mindestens 25 erwachsenen Personen, in gemeinsamen ländlichen oder städtischen Siedlungen niedergelassen. Rund siebzig Prozent der Migranten siedelten dagegen entweder mit wenigen engeren Verwandten gemeinsam oder lediglich mit der eigenen Familie oder aber allein. Kettenwanderungen gehen umfangmäßig also deutlich über Siedlungsbildungen hinaus. Die Zerstreuung der Migranten einzelner württembergischer Herkunftsorte aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach ihrer Einwanderung über den nordamerikanischen Kontinent zeigt im Zeitablauf, dass aus einem Migrationsursprung viele Wanderungsketten, die ihren Nukleus in einzelnen Familienverbänden hatten, ausgehen konnten, diese aber bereits auf der Überfahrt nach Sozialstatus und Konfession im Herkunftsgebiet differenziert waren. In Nordamerika angekommen, waren die Migranten den zentrifugalen Kräften des dortigen Arbeits- und Bodenmarktes ausgesetzt, was bedeutet, dass sie häu¿g den Schutzraum der Gemeinschaft oder die Vertrautheit der Gruppe verließen, um in der Diaspora sozioökonomische Chancen wahrzunehmen. Generell war es für Einwanderer von der Schwäbischen Alb gut 7
Bei 560 Passagierankünften gebürtiger Württemberger aus dem Untersuchungsgebiet zwischen 1897 und 1914 waren 181 Personen vorher schon einmal in Amerika gewesen.
272
8 Schlussbetrachtungen
möglich, im amerikanischen Wirtschaftsleben Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die auf die deutschamerikanische Bevölkerungsgruppe zugeschnitten waren. Den größten ökonomischen Erfolg in Nordamerika hatten jedoch diejenigen Immigranten, die sich entweder fernab anderer Einwanderer niederließen und dort rasch ein integraler Teil der amerikanischen Geschäftswelt wurden, oder diejenigen, die unter der deutschamerikanischen Bevölkerung lebten und mit innovativen Produkten den amerikanischen Massenmarkt bedienten. Um ihres eigenen wirtschaftlichen Fortkommens willen scherten diese Migranten, die häu¿g als Kettenwanderer nach Nordamerika gekommen waren, zumeist schon innerhalb der ersten Monate nach der Ankunft aus ihrer Gruppe aus. Diese Befunde zeigen, dass Wanderungsketten häu¿g instabil und kurzlebig, also weniger weitreichend und einÀussreich waren, als bisher angenommen. Umfang und Bedeutung von Kettenwanderungen wurden in der bisherigen Forschung häu¿g überschätzt8, weil angesichts relativ geringer Personendaten-Verknüpfungsraten die „stille Mehrheit“ der außerhalb der untersuchten Siedlungen lebenden Migranten nicht berücksichtigt wurde. Wichtig waren Kettenwanderungen vor allem für das Erreichen der ersten Zielorte, wobei nahe Verwandtschaftsbeziehungen für das Zustandekommen von Wanderungsketten am bedeutendsten waren. Diese Wanderungsketten waren in der neuen Umgebung jedoch raschem Wandel unterworfen, denn sie konnten aufgrund von Binnenwanderungsprozessen innerhalb des Ziellandes mit den Migranten „weiterwandern“, d. h. von der Ursprungssiedlung zu Tochterkolonien führen oder auch abbrechen. Die Kettenwanderung konnte in der Regel jedoch konfessionelle Barrieren und soziale Statusunterschiede unter den Migranten ebenso wenig überwinden wie sie beruÀich quali¿zierte und ambitionierte Migranten davon abhielt, ihre Chancen auf den Märkten des Einwanderungslandes fernab familiärer oder landsmannschaftlicher Bindungen zu suchen.9 Das bisher meist ubiquitär angewandte Erklärungsmuster der Kettenwanderung wird daher durch die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit quantitativ und qualitativ relativiert, so dass sein Stellenwert in der Migrationswissenschaft künftig wesentlich differenzierter einzuschätzen sein wird.10 Zu gemeinsamen, aber nicht notwendigerweise gleichzeitigen Ansiedlungen von 25 oder mehr erwachsenen württembergischen Einwanderern gleicher lokaler Herkunft aus dem Untersuchungsgebiet über einen Zeitraum von ein bis zwei Generationen war es, wie die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, in sechs Agrar-, zwei Industriegebieten und sieben Städten Nordamerikas gekommen. Dabei fällt auf, dass nur drei dieser Siedlungen von aus dem Untersuchungsgebiet stammenden Katholiken gebildet wurden, während die zah8 9 10
Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand bei Aengenvoort, Siedlungsbildung, 159 f. Vgl. dazu Krebber, Creed, Class, and Skills. Vgl. Krebber, Kettenwanderung als migrationshistorisches Paradigma, 43 ff.
8 Schlussbetrachtungen
273
lenmäßig etwa gleich stark an der Nordamerikamigration aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen beteiligten Protestanten zwölf gemeinsame Siedlungen dieser Größenordnung begründeten. Die Katholiken, die sich 1850 noch dreimal so häu¿g wie die Protestanten im städtischen Amerika niedergelassen hatten, büßten bis 1880 diesen „Vorsprung“ an urbanen Siedlern ein. Im Vergleich zu den eingewanderten Protestanten, welche sich besonders stark an Siedlungsplätzen in Michigan und Ontario konzentrierten, verteilten sich die katholischen Einwanderer auf viele verschiedene Niederlassungsorte an der nordwestlichen Siedlungsgrenze, wo sie in Wisconsin, Minnesota, Missouri, Kansas und Nebraska stark vertreten und überrepräsentiert waren. Auch Indiana und Pennsylvania wiesen eine deutliche Mehrheit an katholischen Siedlern auf. Zwei der agrarischen Siedlungen, in denen sich Katholiken von der Schwäbischen Alb niederließen, waren auf die mit der Öffnung der amerikanischen Siedlungsgrenze zusammenhängende Ansiedlungspolitik durch Immigrantenwerbung zurückzuführen. Durch den innerhalb eines kurzen Zeitfensters erfolgten Migrantenzuzug hatte sich dabei ein charakteristisches Siedlungsmuster von Farmen gleicher Größe und ähnlichen Entwicklungsstandes herausgebildet. Die anderen 13 Siedlungen, von denen zwölf von evangelischen Migranten aus dem Untersuchungsgebiet gebildet wurden, waren nach der Niederlassung eines „Pioniers“ durch Verwandtschaftsnachzug aufgrund von Kettenwanderungen entstanden und durch Folgewanderungen über ein bis zwei Einwanderergenerationen gewachsen. Bei allen diesen Siedlungen ging der Zusammenhalt der Migranten über das gemeinsame Siedeln am Ort hinaus und kann daher als „Gemeinschaft“ charakterisiert werden.11 Ausschlaggebend dafür waren persönliche Primärbeziehungen – wie die Aufnahme von Neuankömmlingen durch Vorgewanderte, Arbeitsplatzvermittlung, Heiratsverbindungen, gemeinsame Kirchenzugehörigkeit und gemeinsames Vereinsleben – aufgrund gemeinsamer Identität, die auf einem gemeinsamen ethnisch-kulturellen Hintergrund beruhte, und nicht äußere Faktoren wie etwa die Öffnung der Siedlungsgrenze. Die herausragende Bedeutung von Gemeinschaftsbildungen evangelischer Württemberger auf dem Land, aber auch in Klein- und Mittelstädten Nordamerikas, belegt, dass ethnoreligiöse Faktoren12 sowohl die Migrationsprozesse als auch die Siedlungsbildungen aus verschiedenen Gründen entscheidend beeinÀusst haben: Zum einen reichte die Auswanderungstradition der evangelischen Bevölkerung des württembergischen Untersuchungsgebietes bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in die damals noch britischen Kolonien Nordamerikas zurück und hatte auch im 19. Jahrhundert weiterhin Bestand. Während die Ver11 12
Vgl. Conzen, Historical Approaches, 9 ff. Vgl. Swierenga, Religion and Immigration Patterns, 22 ff.
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8 Schlussbetrachtungen
einigten Staaten von Amerika im gesamten 19. Jahrhundert das Hauptzielland für die Auswanderung aus den evangelischen Gemeinden der Schwäbischen Alb waren und sich infolgedessen die dortigen Migrationsprozesse auf Nordamerika konzentrierten, konkurrierte die erst nach 1815 neu aufgekommene Nordamerikamigration aus den katholischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes mit älteren Auswanderungstraditionen ins benachbarte Ausland oder nach Südosteuropa und mit einem stetigen Strom saisonaler Arbeitswanderungen in angrenzende Regionen europäischer Nachbarstaaten. Zum anderen wirkte im württembergischen Untersuchungsgebiet die in evangelischen und katholischen Gemeinden unterschiedlich gehandhabte Praxis der Förderung der Nordamerikaauswanderung – besonders zu Anfang der transatlantischen Massenmigration in den Jahren 1846 und 1847 – auf die Siedlungsbildung in Nordamerika auf unterschiedliche Weise. Katholische Gemeinden im Untersuchungsgebiet gaben damals in den Regel nur auswanderungswilligen Einzelnen einen ¿nanziellen Zuschuss zur Auswanderung und handelten damit nicht so stark auswanderungsfördernd wie die evangelischen Gemeinden, die überwiegend für ganze Familien die gesamten Reisekosten zur Auswanderung in das protestantisch geprägte Nordamerika übernahmen. Diese kommunale „Anschubhilfe“ für die evangelischen Migranten trug dazu bei, dass sich die dadurch zahlenmäßig stärkere und sich nach dem Muster der Kettenwanderung selbst weiter verstärkende Nordamerikamigration aus diesen Gemeinden fortsetzte. Eine große Anzahl von Familien, die bei ihrer Auswanderung unterstützt worden waren, zog infolgedessen innerhalb kürzerer Zeit vermehrt in einzelne ländliche Siedlungsgebiete Nordamerikas. Schließlich begünstigte die Missionarstätigkeit schwäbischer Pietisten aus dem Untersuchungsgebiet, die seit den 1830er Jahren aktiv an der Nordamerikamigration teilnahmen und in ländlichen und städtischen Gebieten des amerikanischen Mittelwestens Kirchengemeinden deutscher Protestanten aufbauten bzw. betreuten, die Siedlungsbildungsprozesse der aus den evangelischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes stammenden Migranten, indem sie an einigen Orten eine „spirituelle Infrastruktur“ vorhielten. Zusätzlich stimulierten vorausgegangene evangelische Missionare die Nachwanderung von Familienangehörigen oder anderen Protestanten aus ihren Heimatgemeinden nach dem Muster der Kettenwanderung. Wo keine Missionare wirkten, nahmen evangelische Einwanderer von der Schwäbischen Alb in Nordamerika vielerorts das Heft des Handelns selbst in die Hand und gründeten eigene Kirchengemeinden, die wiederum zum Nukleus für Siedlungen und Gemeinschaftsbildungen weiterer württembergischer Protestanten wurden. Den protestantischen Gemeinschaftsbildungen, insbesondere in ländlichen Gebieten Nordamerikas, steht oft die Dislokation der katholischen Einwanderer von der Schwäbischen Alb in den Städten und auf dem Land gegenüber. Da diese auch in Nordamerika größtenteils Glieder der global agieren-
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den römisch-katholischen Kirche blieben und somit weniger auf den eigenen Kirchturm ¿xiert waren, mischten sie sich dort, wo bereits katholische Kirchengemeinden bestanden, unter andere eingewanderte Katholiken und lebten deshalb stärker von ihren miteingewanderten katholischen Dorfgenossen isoliert als die in großen Gruppen in die Diaspora gezogenen Protestanten. Die Mehrheit der katholischen Migranten siedelte oft nur im engeren Familienverband oder auch völlig vereinzelt und integrierte sich auf diese Weise schneller als die evangelischen Migranten in die amerikanische Aufnahmegesellschaft. Etwa vierzig Prozent der Einwanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen wurden in den Zensusjahren zwischen 1850 und 1880 in Gemeinden mit weniger als 2.500 Einwohnern, also im ländlichen Nordamerika, gezählt, wo zwei Drittel von ihnen in der Landwirtschaft tätig waren.13 Die Af¿nität dieser württembergischen Migranten zur Landwirtschaft lässt sich einerseits mit ihrer ländlichen Herkunft und der in ihrer Heimat üblichen Verbindung von Kleinbauerntum und gleichzeitiger Ausübung eines Handwerks erklären. Andererseits lockte sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in Kanada bis in die 1890er Jahre hinein preiswertes, wenngleich oft noch nicht urbar gemachtes Land. Da der Weg zu einer eigenen Farm nicht nur für eingewanderte Bauern, sondern – mit einer zeitlichen Verzögerung von etwa zehn Jahren – auch für Angehörige ländlicher Unterschichten realisierbar war, schlugen viele württembergische Einwanderer aus der Landwirtschaft und deren Hilfsberufen den Weg in ländliche Siedlungsgebiete Nordamerikas ein. Insgesamt speisten evangelische Migranten aus den großen Bauerndörfern des Untersuchungsgebietes die Einwanderung in das ländliche Nordamerika besonders stark, während sich die Einwanderer aus der Stadt Tuttlingen sowie aus den eher handwerklich-gewerblich orientierten kleineren katholischen Landgemeinden in größerer Zahl den nordamerikanischen Städten zuwandten. Die Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen räumlicher und sozialer Mobilität im Einwanderungsland hat gezeigt, dass die meisten Berufswechsel der württembergischen Migranten von der Schwäbischen Alb an ihren jeweiligen Siedlungsorten stattfanden und nicht mit einem inneramerikanischen Ortswechsel verbunden waren. Aufstiegsmöglichkeiten im ländlichen Amerika waren im 19. Jahrhundert also auch für eingewanderte „Habenichtse“ vorhanden. Dies erklärt, warum im Gegensatz zu Joseph P. Ferries Zahlen14 nur ein knappes Viertel der in zwei aufeinanderfolgenden Volkszäh13 14
1850/51 waren 42,6 % von 528 Einwohnern im ländlichen Nordamerika wohnhaft, 1860/61 waren es 44,9 % von 1.416 Einwohnern, 1870/71 und 1880/81 je 38,9 % von 2.029 bzw. 2.042 Einwohnern. Vgl. Ferrie, Yankeys Now, 139 ff. Zwischen 1850 und 1860 blieben von 4.271 Einheimischen 57,2 % innerhalb ihres County sesshaft, unter 1.176 Einwanderern waren es nur 31,1 %.
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8 Schlussbetrachtungen
lungen wiedergefundenen württembergischen Migranten in einer solchen Zehnjahresperiode ihren Wohnsitz über Countygrenzen hinweg verlegte, also innerhalb Nordamerikas weiterzog. Zwar bestätigte sich auch bei den Migranten von der Schwäbischen Alb der generelle Binnenwanderungstrend von Ost nach West sowie von der Stadt auf das Land. Zwischenaufenthalte in der Stadt auf dem Weg zur eigenen Farm dauerten aber – wie die Einwandererbiographien belegen – eher Wochen oder Monate als Jahre und spiegeln sich deshalb im Zensus nur selten wider. In der zweiten Einwanderergeneration nahmen dann die Städte wiederum die Söhne und Töchter von Einwanderern auf, die nicht in der Landwirtschaft blieben. Diejenigen Einwanderer, die nicht in die Landwirtschaft gingen, wählten ihre Ansiedlungsorte danach aus, ob sie in ihren erlernten Berufen in der Stadt oder auf dem Land bessere Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten sahen. Dabei kristallisierte sich der Trend heraus, dass die Migranten, die in den Groß- und Mittelstädten siedelten, in der Regel dort quali¿ziertere Berufe ausübten als ihre Landsleute in nordamerikanischen Kleinstädten oder auf dem Land. Besonders deutlich wird dies in den Metropolen, wo nicht nur der Anteil der württembergischen Geschäftsmänner und FreiberuÀer am höchsten war, sondern auch der ungelernter Arbeiter am geringsten. So lag in den Zensusjahren 1870/71 beispielsweise der Anteil württembergischer FreiberuÀer im städtischen Raum doppelt so hoch wie im ländlichen Nordamerika. Der Anteil deutschamerikanischer Geschäftsleute (vor allem KauÀeute und Wirte) und Handwerker unter den von der Schwäbischen Alb Eingewanderten lag in der Stadt zweieinhalbmal so hoch wie auf dem Land. Während in der Stadt 1870/71 knapp ein Viertel aller Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet un- oder angelernte Arbeiten ausführte, waren es auf dem Land etwa drei von zehn. Die Sozialstruktur unter den eingewanderten Württembergern in den städtischen Gebieten Nordamerikas war damit stärker strati¿ziert als die auf dem Land, wo damals nahezu jeder zweite der dort sesshaft gewordenen Einwanderer von der Schwäbischen Alb Farmer geworden war. Die höhere soziale Heterogenität der städtischen Einwanderer bestätigt auch ein Blick auf die im US-Zensus ausgewiesenen Vermögensverhältnisse der eingewanderten Württemberger in Stadt und Land. Diese lagen beim Geldvermögen der in die Städte Eingewanderten um ein Drittel und beim Grundbesitz um sechzig Prozent höher als bei den Migranten in ländlichen Gebieten. Umgekehrt war die Quote der Grundbesitzer in den Städten deutlich kleiner als auf dem Land. Je größer die amerikanischen Städte waren, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass württembergische Einwanderer dort Grundbesitz erwerben, also zu den Eigentümern ihrer Wohn- oder Geschäftshäuser werden konnten. Immerhin hatte 1870 in den städtischen Gebieten der Vereinigten Staaten von Amerika knapp die Hälfte aller Haushaltungsvorstände der aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen stammenden Einwanderer Grundbesitz. Auf dem Land lag in demselben Jahr der Anteil der
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Grundbesitzer, schon allein durch die hohe Anzahl der Farmer, mit mehr als drei Vierteln deutlich höher, was sich auf die soziale Schichtung der Einwanderer nivellierend auswirkte. Die hohe Grundbesitzrate auf dem Land stabilisierte auch im sozioökonomischen Sinn. So erwiesen sich etwa die württembergischen Einwanderer in den nordamerikanischen Farmgebieten während der wirtschaftlichen Depression zwischen 1873 und 1879 als weniger krisenanfällig als ihre Landsleute in den Städten, wo viele Geschäftsleute einen deutlichen Rückgang ihres Vermögens verzeichneten. Auch in immaterieller Hinsicht verliefen die Adaptationsprozesse der Einwanderer von der Schwäbischen Alb in Stadt und Land unterschiedlich: Aus den insgesamt 82 Biographien von Migranten aus dem Untersuchungsgebiet in den County Histories geht hervor, dass auf dem Land knapp zwei Drittel der Migranten als Mitglieder einer Kirchengemeinde bezeichnet wurden, in der Stadt aber nur ein Drittel. In den Städten waren fünfmal mehr Württemberger Mitglieder von laizistischen Geheimbünden und Bruderschaften als auf dem Land, wo eher die traditionellen „Kräfte der Beharrung“ vorherrschend waren. Die konservativeren „Kirchendeutschen“ fanden sich also eher auf dem Land, während im städtischen Nordamerika die Kirche stärker in Konkurrenz zu sozialen Clubs und Geheimbünden stand, also mehr „Vereinsdeutsche“ zu ¿nden waren. Mitgliedschaften in solchen Gesellschaften wurden in einem guten Drittel der Biographien der fünfzig städtisch orientierten Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet genannt, bei den 32 auf dem Lande siedelnden Immigranten jedoch nur in einem einzigen Fall. Zu den Kontinuitäten gehörte auch der Gebrauch der deutschen Sprache, die sich immer dort lange erhielt, wo es zu gemeinschaftlichen ländlichen Siedlungen gekommen war, wie z. B. in Medina County, Texas, wo die Kirchenbücher der Bethlehem Lutheran Church in Castroville noch in den 1930er Jahren in deutscher Sprache geführt wurden. Die im ländlichen Nordamerika siedelnden württembergischen Einwanderer waren nicht nur stärker auf ihre Kirchengemeinden ausgerichtet, sondern auch politisch aktiver als die städtisch orientierten Einwanderer. Knapp die Hälfte der auf dem Land, aber nur ein Viertel der in der Stadt siedelnden Württemberger bezeichnete sich nach den Biographien in den County Histories als Anhänger einer der beiden großen politischen Parteien. Auf dem Lande partizipierte fast die Hälfte, in den Städten aber nur jeder Vierte der in diesen Biographien genannten württembergischen Einwanderer durch die Übernahme eines Wahlamtes aktiv am politischen Leben. Interessanterweise schauten die in Landgemeinden Nordamerikas wohnenden Württemberger in ihrer politischen Teilhabe nur selten über den eigenen Kirchturm hinaus, d. h. sie beteiligten sich überwiegend in der Schulpolitik ihrer Kommunen und ließen sich daneben in nur zwei Fällen zum Bürgermeister bzw. Gemeinderat ihrer Heimatgemeinde wählen. Städtisch orientierte Württemberger waren zu einem geringeren Grad politisch aktiv. Wenn sie sich aber engagierten, taten
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sie dies auch über die Lokalpolitik hinaus auf Ebene des Counties oder – wie z. B. Anton Zimmerer in Nebraska – als Abgeordnete einzelstaatlicher Parlamente. Alles in allem verlief die Akkulturation der württembergischen Einwanderer von der Schwäbischen Alb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im städtischen Nordamerika schneller, weil gerade in den Metropolen die wirtschaftliche und kulturelle Dynamik die Einwanderer rasch erfasste. Sie pro¿tierten zuerst ¿nanziell und dann sozioökonomisch davon, wenn sie sich den dortigen Lebens- und Geschäftsbedingungen anpassten. Wo die Religion, die die stärkste Kraft „kultureller Beharrung“ darstellte, also konservativ wirkte, durch gesellschaftliche Vereinigungen mit ihren eigenen Ritualen als gemeinsame Klammer abgelöst wurde, verlief die Integration in die angloamerikanisch geprägte Aufnahmegesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika oder Kanadas schneller und tiefgreifender als auf dem Land, wo die Religion in ihrer jeweiligen spezi¿schen konfessionellen Ausprägung die Migranten gemeinsamer Herkunft eher an ihre Heimatkultur gebunden hielt. Fragen nach dem zeitlichen Verlauf, dem Durchdringungsgrad und der Nachhaltigkeit der Akkulturation europäischer Einwanderer in Nordamerika gehören zu den aktuellen Desideraten der migrationshistorischen Forschung. Stets sind sie verknüpft mit der Erkenntnis von Kontinuitäten und Brüchen, von gegenseitigen BeeinÀussungen zwischen den Neuankömmlingen, anderen ethnischen Einwanderergruppen und der Aufnahmegesellschaft, von sozialen Nivellierungen und den Unterschieden zwischen Stadt und Land. Sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in Kanada fanden die württembergischen Migranten von der Schwäbischen Alb Bedingungen vor, welche die Brüche ihres Lebensweltwechsels abmilderten. Dazu gehörten eine liberale Einwanderungspolitik, günstig zu erwerbendes Land, eine leistungsfähige Infrastruktur, eine liberale Wirtschaftspolitik (bei der sich der Staat hauptsächlich auf die Gestaltung der Wirtschaftsordnung beschränkte, während die Wirtschaftsprozesse weitgehend durch die Marktteilnehmer gesteuert werden sollten) sowie nicht zuletzt eine Kultur, die den Wettbewerb förderte, harte Arbeit belohnte und das Ergreifen neuer Chancen begrüßte. Die gedankliche Wahlverwandtschaft zwischen den asketischen Spielarten des Protestantismus, namentlich des württembergischen Pietismus und des amerikanischen Calvinismus, im Blick auf den Kapitalismus, äußerte sich in einem rastlosen Streben und einer dadurch erhöhten Leistungsbereitschaft. Das Arbeitsethos der als nüchtern, sparsam und Àeißig geltenden Württemberger, das viele Übereinstimmungen mit der in Nordamerika vorherrschenden angloamerikanisch-protestantischen Ethik aufwies, trug dazu bei, dass die Württemberger von der Schwäbischen Alb zu den Einwanderergruppen gehörten, bei denen die Eingliederung in das nordamerikanische Wirtschaftsleben und die dortige Aufnahmegesellschaft im 19. Jahrhundert in vielfacher Hinsicht rasch, nachhaltig und erfolgreich verlief.
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In soziökonomischer Hinsicht konnten sich die württembergischen Migranten aufgrund ihrer ausgezeichneten praktisch-beruÀichen Vorbildung nach relativ kurzer Zeit (innerhalb weniger Monate oder Jahre) als Handwerker oder Facharbeiter in ihren erlernten Berufen in den amerikanischen Arbeitsmarkt eingliedern. Für viele Migranten von der Schwäbischen Alb bedeutete das Dasein als selbstständiger Handwerksmeister mit eigenem Verkaufsladen in Nordamerika das Fortführen eines Lebensstils, den sie in Württemberg aufgrund struktureller Verwerfungen im Zuge der Industrialisierung vielfach nicht mehr oberhalb des Existenzminimums hätten beibehalten bzw. erreichen können. Aber auch für die meisten Angehörigen ländlicher Unterschichten (wie etwa Weber, Tagelöhner und Bauernknechte), die ohne im außeragrarischen Bereich praktisch verwertbare beruÀiche Quali¿kationen eingewandert waren, war es möglich – wenngleich deutlich langsamer und mühsamer als für Bauern, die in Württemberg begütert gewesen waren –, nach der vorübergehenden Ausübung landwirtschaftlicher Hilfsdienste durch den Erwerb einer eigenen Farm die Existenz der Familie zu sichern. Die durch die Gesetzgebung des amerikanischen Kongresses erleichterte Möglichkeit der Landnahme machten sich auch mittellos eingewanderte Migranten von der Schwäbischen Alb zunutze. Sie führte bei ihnen innerhalb der ersten Einwanderergeneration zu einer ähnlich hohen Quote an Farmbesitzern wie unter den in Württemberg reicher gewesenen eingewanderten Bauern. Für die meisten württembergischen Einwanderer war der migrationsbedingte Lebensweltwechsel mit sozialer Mobilität verbunden. Für knapp zwei Drittel der von der Schwäbischen Alb eingewanderten Handwerker verlief diese Mobilität horizontal, da sich mit der Veränderung ihres Berufs oder ihrer Tätigkeit die Zugehörigkeit zur sozialen Klasse oder Schicht nicht veränderte. Für etwa jeden fünften Handwerker sowie für zwei Drittel der Angehörigen der ländlichen Unterschichten, die in Württemberg in landwirtschaftlichen Hilfsberufen tätig gewesen waren, zog die soziale Mobilität Statusverbesserungen nach sich, d. h. sie verlief vertikal. Dies manifestierte sich z. B. bei vielen Tagelöhnern, Bauernknechten oder ledigen Bauernsöhnen in einem Aufstieg aus einer landlosen Bevölkerungsschicht zur Klasse grundbesitzender Landwirte. Nur etwa ein Viertel der Angehörigen dieser eingewanderten ländlichen Unterschichten konnte ihren sozialen Status im Laufe ihres Einwanderungsprozesses auch über die Jahre hin nicht verbessern. Als wichtiges Ergebnis der vorliegenden Arbeit bleibt insoweit festzuhalten, dass im 19. Jahrhundert der sozioökonomische Aufstieg für die Mehrheit der untersuchten Migranten von der Schwäbischen Alb in Nordamerika innerhalb eines Menschenlebens, d. h. in der ersten Einwanderergeneration, real war. Diese Intragenerationenmobilität bestätigt die leichtere Durchdringbarkeit der weniger stark festgelegten Sozialgrenzen innerhalb der Aufnahmegesellschaft. Die nordamerikanische Gesellschaftsordnung setzte sich damit – für die meisten Migranten im positiven Sinne – von der stärker festgelegten,
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vornehmlich auf der sozialen Herkunft basierenden europäischen Sozialordnung, ab, wo sich die soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft von einer Generation auf die nächste übertrug. Die zeitlich parallele Migration von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten aus dem Untersuchungsgebiet nach Nordamerika hatte zur Folge, dass die vormaligen württembergischen Landbesitzer und die Angehörigen der landlosen Unterschichten, denen die soziale Differenzierung in der Heimat noch „unter der Haut steckte“, im Einwanderungsland voneinander getrennt siedelten, obwohl sich die Lebensverhältnisse beider Schichten aneinander anglichen, was im Laufe des Einwanderungsprozesses eine soziale Nivellierung der vormaligen „Herren“ und „Knechte“ bewirkte. Dass in Nordamerika „kein Hut geruckt“ und nicht „Persie gesprochen“ wurde15, war für die württembergischen Einwanderer, die aus der ländlichen Unterschicht stammten, positiv, während die in Württemberg aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres Habitus und ihres Besitzes das Gemeindeleben dominierenden Bauern sich erst daran gewöhnen mussten, dass ihnen diese Landsleute, die nun eigene Farmen bewirtschafteten, nicht mehr wie in Württemberg für landwirtschaftliche Hilfsarbeiten zur Verfügung standen. Der daraus resultierende Arbeitskräftemangel in manchen Farmgebieten Nordamerikas bewirkte dort eine stärkere Mechanisierung der Landwirtschaft. Die menschliche Arbeitskraft ersetzenden Maschinen und das Führen der Landwirtschaft nach kapitalistischen Grundsätzen (marktorientierter Getreideanbau statt traditioneller Subsistenzwirtschaft) waren für die meisten württembergischen Einwanderer Neuerungen, die sie aber rasch annahmen. Ebenso übernahmen sie im außeragrarischen Bereich von der angloamerikanischen Mehrheitsgesellschaft kapitalistische Geschäftspraktiken wie das Gewinnstreben und den kaufmännischen Wagemut, der mit Fleiß und Mäßigkeit gepaart ihr sozioökonomisch erfolgreiches Fortkommen begründete. In einzelnen Wirtschaftszweigen wie der Feinmechanik (Fertigung von chirurgischen Instrumenten oder Mundharmonikaherstellung) oder der Möbelproduktion gelang es Immigranten aus dem württembergischen Untersuchungsgebiet, dessen heimische Industrie ansonsten in vielen anderen Branchen einen erheblichen Entwicklungsrückstand zu der nordamerikanischen aufwies, ihren Er¿ndergeist und ihr praktisches Know-how innovativ zu nutzen, so dass sie sich zur Warenproduktion vorher ungekannter industrieller Fertigungsmethoden bedienten. Das der protestantischen Ethik innewohnende Motiv, Widrigkeiten durch harte Arbeit zu überwinden und durch Konstanz und Entschlossenheit zu reüssieren, lässt sich auch an biographischen Quellen der württembergischen Einwanderer in Nordamerika ablesen, wonach diese Pla15
Zitiert aus einem Brief des Schneidermeisters Anton Storz vom 12.8.1855 aus Olive Furnace in Ohio an seine in Seitingen zurückgebliebene Frau und Kinder (StAS Wü 65/37, Bd. 1 Nr. 219).
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gen geradezu biblischen Ausmaßes (Viehsterben, Hagel, Heuschreckenschwärme u. ä.) zu überwinden hatten. Hinsichtlich der immateriellen Kultur lassen sich bei den württembergischen Einwanderern von der Schwäbischen Alb Kontinuitäten und Brüche beobachten. Zu den Konstanten zählte die Rolle der Religion in ihrer jeweiligen konfessionellen Ausprägung. Nahezu unbehelligt von Migrationsprozessen und Lebensweltwechseln spielte diese im Leben der württembergischen Einwanderer in Nordamerika weiterhin eine zentrale Rolle. Dort blieben auch neunzig Prozent der von der Schwäbischen Alb eingewanderten Katholiken Teil der römisch-katholischen Kirche und schlossen sich – anfangs vorwiegend im städtischen Nordamerika, mit der schnelleren Verbreitung des Katholizismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch im ländlichen Amerika – bereits bestehenden Gemeinden an. Die aus den evangelischen Gemeinden des Untersuchungsgebietes stammenden Einwanderer konnten mangels einer zentralen Hierarchie der einzelnen protestantischen Kirchen und Denominationen in Nordamerika weniger auf eine kirchlich-organisatorische Infrastruktur zurückgreifen; sie taten sich vielerorts im ländlichen oder kleinstädtischen Nordamerika als Mitbegründer protestantischer Kirchengemeinden hervor. Dies hatte zur Folge, dass sich württembergische Protestanten in einem wesentlich höheren Grad in gemeinschaftlichen Siedlungen niederließen als ihre katholischen Landsleute. Die pietistisch geprägten evangelischen Einwanderer aus dem Untersuchungsgebiet schlossen sich in den Vereinigten Staaten von Amerika und im ländlichen Kanada mit zunehmender Aufenthaltsdauer verstärkt angloamerikanischen Erweckungsbewegungen wie den Methodisten an, während die Mehrheit der in Württemberg landeskirchlich orientierten Migranten sich in Nordamerika lutherischen Kirchen zuwandte. Wo, wie im Evangelischen Kirchenverein des Westens, eine neue kirchliche Hierarchie die Selbstbestimmung der einzelnen Kirchengemeinden einzuengen drohte, reagierten sie jedoch mit Protest oder schlossen sich einer anderen Kirchengemeinde an. Ihre Religiosität behielten diese württembergischen Migranten in Nordamerika also bei, einer Gängelung durch die Institutionalisierung eines Kirchenapparates widersetzten sie sich aber. Die neu erlangte Emanzipation führte auch in vielen anderen Lebensbereichen – von der Rolle der Frau bis zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation – zu vielerlei positiven Brüchen in den Einwandererbiographien. Durch bessere ökonomische Chancen für Frauen in der amerikanischen Gesellschaft verloren die in Württemberg üblichen patriarchalischen Familienstrukturen unter den Einwanderern an Bedeutung. Ein im Vergleich zu Württemberg deutlich niedrigeres Heiratsalter änderte die Familienverhältnisse, so dass in Nordamerika mehr und jüngere Kinder mit den Eltern unter einem Dach lebten. Zwar lebten auch in Nordamerika in einigen württembergischen Familien Dienstmädchen oder Bauernknechte, aber Gesinde und alte oder unverheiratete Verwandte, die in Europa das „ganze Haus“ (Otto Brunner) kon-
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stituierten, existierten in den meisten württembergischen Haushalten in Nordamerika in diesem Maße nicht. Das freiere politische System in den Vereinigten Staaten von Amerika zeitigte unter den Einwanderern von der Schwäbischen Alb ein viel höheres Maß an politischer Teilhabe, als es im restaurativen Württemberg des 19. Jahrhunderts möglich gewesen wäre. Dass sie sich der politischen Idee, die Amerika für viele europäische Einwanderer ausmachte, verpÀichtet fühlten, zeigt nicht nur die rasche Annahme der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft, ihre zahlenmäßig starke Teilnahme am Amerikanischen Bürgerkrieg zum Erhalt der Union, sondern auch die Nutzung ihres aktiven und passiven Wahlrechts. Welch wichtige Rolle auch die Politik für die im Heimatland gegängelten und bevormundeten württembergischen Einwanderer spielte, zeigt sich an den Biographien der Auswanderer, in denen die Parteizugehörigkeit und das Maß der Beteiligung an kommunalen Angelegenheiten stets Erwähnung fanden. Zur neu erwachten Beteiligung am öffentlichen Leben trat unter den württembergischen Einwanderern in Nordamerika auch eine starke, öffentlich sichtbare Mitwirkung im Vereinsleben. Geselligkeitsvereine im musikalischkünstlerischen Milieu konnten sich auf eine breite Beteiligung aller Bevölkerungsschichten unter den württembergischen Einwanderern stützen, während die Mitgliedschaft in laizistischen Geheimbünden für die württembergischen Einwanderer eine Neuerung darstellte. Insgesamt gliederten sich die württembergischen Einwanderer von der Schwäbischen Alb sozioökonomisch und kulturell problemlos in die nordamerikanische Aufnahmegesellschaft ein, da zwischen ihnen und der angloamerikanischen Bevölkerung des Einwanderungslandes wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze bestanden. Als Fazit ist zu ziehen, dass die vorliegende Arbeit aufgrund ihres Forschungsansatzes, eine Migrantengesamtheit in weiten Teilen nahezu vollumfänglich und nicht auf nur ein Zielgebiet beschränkt darzustellen, und aufgrund ihrer Methodik, durch Verknüpfung von sechstausend Personendaten die vielfältigen Wanderwege der Migranten nach der Erstansiedlung individuell bis zum letzten Lebenszeichen an insgesamt rund tausend verschiedene Orte nachzuverfolgen, eine Fülle von Ergebnissen liefert, von denen einige tendenziell als plausibel angenommen wurden, hier aber zum ersten Mal empirisch untermauert sind. Dazu zählen vor allem die Antworten auf die zentrale Frage, ob die Hoffnungen der Einwanderer in Erfüllung gegangen sind, kurz: ob sich die Migration – ökonomisch und insgesamt – gelohnt hat. Die Evidenz des sozioökonomischen Aufstiegs der eingewanderten ländlichen Unterschichten und die Dauer der Anwesenheit in Amerika als entscheidendes Element wurden nun mit feinem analytischen Instrumentarium an einer Migrantengesamtheit belegt, während an vorherigen Studien mit viel unvollkommenerer Datenbasis stets die Aussagekraft und Repräsentativität der so
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gewonnenen Ergebnisse angezweifelt werden konnte. Auch Fragen nach kulturellem Wandel und Kulturerhalt, Brüchen und Kontinuitäten in der Lebenswelt, Art, Ausmaß und Tempo der Anpassung an ökonomische Verhaltensweisen in der Landwirtschaft und im Geschäftsleben konnten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt aufgrund der reich gesättigten Datenbasis umfassender und zugleich differenzierter beantwortet werden als vorher möglich. Durch die Nachverfolgung der transatlantischen wie der inneramerikanischen Migrationswege wird die sozioökonomische und kulturelle Entwicklung einschließlich der Adaptationsprozesse der Einwanderer in ländlichen wie in städtischen Zielgebieten sichtbar gemacht. Hierbei offenbart sich nicht nur der charakteristische EinÀuss, den verschiedene Regionen im Einwanderungsland auf die Siedlungsprozesse haben, sondern auch, in welchem Maße die Wahl der Wanderungsrouten von der ökonomischen Situation der Migranten abhängig ist. Des Weiteren lässt die Beschreibung von 15 Siedlungsgemeinschaften in vier Regionstypen (Agrargebiete, Industriegebiete, Städte, Metropolen) das dynamische Muster der Ansiedlung und die weitere Entwicklung der Gemeinden deutlich werden: Es herrschte dort eine erhebliche Fluktuation der Bevölkerung durch Zuwanderung, die durch Direkteinwanderung, Kettenwanderung oder Binnenwanderung gespeist wurde, bei gleichzeitiger Abwanderung eines Teiles der Bevölkerung. Gleichzeitig stellt die Arbeit als gesichert geltende Thesen in Frage. Bei der bisher nicht empirisch zu klärenden Frage nach der Rolle der Kettenwanderung im transatlantischen Wanderungsgeschehen konnte die vorliegende Arbeit eine trotz gegenteiliger Rhetorik verminderte Bedeutung belegen. Nicht zuletzt darf die vorliegende Arbeit als möglicher und wünschenswerter Ausgangspunkt für weitere Studien von Migrationshistorikern oder Fachleuten anderer Disziplinen gelten, weil mancherorts das Potential der Quellen nicht in vollem Umfang ausgeschöpft werden konnte. Dies gilt zum einen für eine intensivere und statistische raf¿niertere Auswertung des reichhaltigen quantitativen Datenmaterials. Zum anderen bieten sich verschiedene Anknüpfungspunkte zur vertieften Auseinandersetzung mit Themen und Fragestellungen, die hier aus verschiedenen Gründen nur gestreift worden sind, aber weitere, vor allem vergleichende Studien nach sich ziehen könnten: Zwei Forschungsdesiderate möchte ich exemplarisch ansprechen: Erstens die Frage nach der Finanzierung der Auswanderung: Wie viele der Nordamerikamigranten zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren Selbstzahler, wie viele wurden von Freunden und Familien unterstützt, wie viele von der Gemeinde oder vom Staat? Wie viele der Auswanderungen waren freiwillig, wie viele erzwungen?16 Zweitens die Frage nach den Prozentanteilen von ausgewanderten Katholiken 16
Wolfgang Helbich und Walter Kamphoefner haben sich dieses Themas angenommen und arbeiten derzeit an einer Monographie über öffentlich ¿nanzierte Nordamerikaauswanderung im europäischen Vergleich.
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und Protestanten unter allen deutschen Migranten, deren religiösen Leben in den USA und ihre mögliche, aber systematisch schwer zu erfassende Änderung der Kirchenzugehörigkeit. Abschließend ist zu konstatieren, dass der rapide Fortschritt in der Technologie, der Computer und Internet gleichermaßen erfasst hat und sich z. B. in der online-Volltextsuche eingescannter Bücher, der Verbreitung genealogischer Datenbanken im Internet oder in der Onlinestellung ganzer Dossiers für einzelne Personen aus familienhistorischem Quellenmaterial manifestiert, ein neues Kapitel von linkage-Studien eröffnet hat. Neue Werkzeuge für Verknüpfungen von biographischen Informationen und die Vielfalt noch nicht ausreichend beantworteter Fragestellungen lassen für die Zukunft auch über die hier erzielten sechstausend Migrantenverknüpfungen hinaus noch neue, spannende Forschungsergebnisse erwarten.
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Abb. Anm. Bd. Bearb. Bü Diss. dt. ev. f. ff. À GA GB Hg. hg. v. HStAS IND J. JAEH kath. lb., lbs. LWS NARA ND NF Nr. OA OAB o. J. o. O. p. a. RB RG S. StAS Tab. THB WJB Wtb. Wü ZWLG
Abbildung Anmerkung Band Bearbeiter Büschel Dissertation deutsch evangelisch folgende fortfolgende Florin (Gulden) Gemeindearchiv Gränzbote Herausgeber herausgegeben von Württembergisches Hauptstaatsarchiv Stuttgart Industrie Jahr, Jahre Journal of American Ethnic History katholisch Pfund [amerikanische Gewichtseinheit] Landwirtschaft National Archives and Record Administration Neudruck Neue Folge Nummer Oberamt Oberamtsbeschreibung ohne Jahr ohne Ort pro anno [jährlich] Rechnungsbuch Record Group Seite Württembergisches Staatsarchiv Sigmaringen Tabelle Tuttlinger Heimatblätter Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde Württemberg Württembergische Archivbestände Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte
MASSE, GEWICHTE, ZAHLUNGSMITTEL UND IHRE ENTSPRECHNUNGEN acre bushel Dollar Gallone Gulden (À) Kreuzer (xr) Meile Morgen Pfund (lbs) Quadratmeile
0,405 ha Hohlmaß von 32,2 Liter, dementsprechend verschiedene Gewichte bei Getreide, z. B. 27,2 kg Weizen, 25,4 kg Mais und Roggen, 14,5 kg Hafer ~ 2,50 Gulden ~ 3,785 Liter ~ $ 0,40 1/60 Gulden 1,609 km 0,3152 ha (in Württemberg.) 0,454 kg (in den USA) 2,59 Quadratkilometer
VERZEICHNIS DER KARTEN Karte 1: Karte 2:
Die Lage des Untersuchungsgebietes in Südwestdeutschland ...................... Teilräume und Gemeindegrenzen des württembergischen Untersuchungsgebietes .......................................................................................................... Karte 3: Höhenlagen der Gemeinden des Untersuchungsgebietes .............................. Karte 4: Bodenerträge und Preise für den Morgen Ackerland (in Gulden) im Untersuchungsgebiet zur Mitte des 19. Jahrhunderts ............................... Karte 5: Jährliche Intensität der behördlich erfassten Gesamtauswanderung aus dem Untersuchungsgebiet 1830–1882 bezogen auf den Bevölkerungsstand vom 3.12.1834...................................................................................... Karte 6: Wirtschaftlicher Entwicklungsstand der Gemeinden des Untersuchungsgebietes am Ende des 19. Jahrhunderts; berechnet nach dem Beschäftigtenanteil der Erwerbsbevölkerung in Landwirtschaft und Industrie nach der Berufszählung von 1895 ................................................................................ Karte 7: Jährliche Intensität der behördlich erfassten Auswanderung nach Nordamerika zwischen 1845 und 1873, bezogen auf den Bevölkerungsstand vom 3.12.1843...................................................................................... Karte 8: Hauptabfahrtshäfen von Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet ............................................................................................................. Karte 9: Ankunftshäfen von Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet ............................................................................................................. Karte 10: Die untersuchten Siedlungen württembergischer Migranten von der Schwäbischen Alb in Nordamerika im 19. Jahrhundert ..........................
13 30 32 33 61
67 68 81 95 114
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN Abb. 1:
Schema der Verknüpfung von Personendaten anhand der Hauptquellen zur württembergischen Nordamerikamigration ............................................. Abb. 2: Natürliche Bevölkerungsbewegung in Aixheim ............................................ Abb. 3: Jährliche Wanderungsbilanz der Gemeinde Aixheim 1813–1890 ................. Abb. 4: Verteilung der Bevölkerung des Untersuchungsgebietes nach Gemeindegrößen-klassen 1834–1910 ............................................................................ Abb. 5: Wanderungsverläufe in Württemberg 1815–1895 ......................................... Abb. 6: Auswanderungen aus dem Untersuchungsgebiet nach europäischen Zielländern und nach Nordamerika zwischen 1815 und 1882 ............................. Abb. 7: Die konfessionelle Gliederung des Untersuchungsgebietes und seiner badischen, württembergischen und hohenzollerischen Nachbarregionen auf Gemeindebasis um 1820.......................................................................... Abb. 8: Anteil der Dampfschiffüberfahrten am Nordatlantikverkehr für Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1840–1880 ....................... Abb. 9: Anzeige der Talheimer Migranten aus Utica im Gränzboten 1870 ............... Abb. 10: Erforschte Siedlungsorte und Charakteristika der Migranten .......................
18 41 42 44 52 53 70 86 156 182
VERZEICHNIS DER TABELLEN Tab. 1: Tab. 2:
Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10:
Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15:
Tab. 16:
Verknüpfungsraten von Personendaten aus württembergischen Auswanderungsverzeichnissen 1830–1880 und nordamerikanischen Zensuslisten 1850–1880 ................................................................................ Vergleich der Berufsstruktur der Auswanderer des sekundären Sektors aus dem Untersuchungsgebiet nach allen Zielen 1845–1882 mit der Berufsstruktur der Wohnbevölkerung der Oberämter Tuttlingen und Spaichingen ............................................................................................ Gesamtauswanderung aus dem Untersuchungsgebiet 1830–1882 sowie jährliche Auswanderungsrate (in ‰) bezogen auf den Bevölkerungsstand von 1834 ........................................................................................................ Jahresraten der Nordamerikaauswanderung auf Gemeindebasis 1845–1872 ..................................................................................................... Zielländer der Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1817 nach Konfession............................................................... Wanderungsarten und -ziele der Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1815–1892 nach Konfession ............................ Auswanderer in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1815–1892 bezogen auf die Bevölkerungszahl 1812 ....................................................... Kommunale ¿nanzielle Förderung der Nordamerikaauswanderung in den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1845–1871 .................................... Abfahrtshäfen der Nordamerikamigranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1830–1914 ......................................................................... Geldvermögen (nach Auswanderungsanträgen, bereinigt um öffentliche Zuschüsse) der Auswanderer aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Abfahrtshäfen in der ersten Periode der transatlantischen Massenmigration (1845–1854) ......................................................... Überfahrtsdauer von Paketsegelschiffen von den drei wichtigsten europäischen Abfahrtshäfen nach New York 1833–1857 in kumulierten relativen Häu¿gkeiten.................................................................................... Überfahrtsdauer von Liniendampfschiffen von den drei wichtigsten europäischen Abfahrtshäfen für Migranten aus dem Untersuchungsgebiet nach New York 1897–1914 in kumulierten relativen Häu¿gkeiten .............. Ankunftshäfen der Nordamerikamigranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1830–1914 ......................................................................... Verteilung der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach mitgebrachtem Geldvermögen auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensusstichtag 1. Juni 1850 ............................................... Verteilung der verheirateten, im Familienverband eingewanderten Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Berufsgruppen auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensusstichtag 1. Juni 1850 ...................................................................................... Verteilung der ledigen, einzeln eingewanderten Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Berufsgruppen auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensusstichtag 1. Juni 1850 ..........................
24
58 63 66 71 72 73 74 82
83 87 88 96 101
102 103
290 Tab. 17: Tab. 18:
Tab. 19:
Tab. 20:
Tab. 21:
Tab. 22: Tab. 23: Tab. 24: Tab. 25: Tab. 26:
Tab. 27:
Tab. 28:
Tab. 29: Tab. 30:
Verzeichnis der Tabellen Verteilung der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach Grundbesitz der Haushaltungsvorstände in den USA auf geographische Regionen in Nordamerika am Zensustag 1. Juni 1850 .......... Verteilung der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach dem U. S. Zensus vom 1. Juni 1850 und dem kanadischen Zensus vom 1. April 1851 nach ihrer Konfession und der Einwohnerzahl ihrer Ansiedlungsorte ............................................................................................. Verteilung der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach dem US Zensus vom 1. Juni 1850 und dem kanadischen Zensus vom 1. April 1851 nach der Größe ihrer Herkunftsorte und der Einwohnerzahl ihrer Ansiedlungsorte..................................................................................... Verteilung der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen nach ihrer beruÀichen Herkunft nach dem US Zensus vom 1. Juni 1850 und dem kanadischen Zensus vom 1. April 1851 bezogen auf die Größe der Niederlassungsorte .................................................................................. BeruÀiche Herkunft nach Wirtschaftssektoren der bis Juni 1850 aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen eingewanderten Migranten bezogen auf einzelne Teilräume des Untersuchungsgebiets verglichen mit der am 1. Juni 1850 an der Ostküste Nordamerikas siedelnden Migrantengesamtheit aus dem Untersuchungsgebiet ..................................................... Regionale Verteilung der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika an den Zensusstichtagen 1850–1880 .............. Regionale Verteilung der Farmen von Einwanderern aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika an den Zensusstichtagen 1850–1880......................................................................... Verteilung der Migrantenpopulation aus dem Untersuchungsgebiet nach der Bevölkerungsdichte ihrer Niederlassungsorte in Nordamerika auf der County-Ebene .......................................................................................... Größe und Wert der mittleren württembergischen und angloamerikanischen Farm und ihrer Produkte in Herman Township, Dodge County, Wisconsin, und Duchouquet Township, Auglaize County, Ohio (Median)... Viehbestand und tierische Produktion auf württembergischen und anglo-amerikanischen Farmen in Herman Township, Dodge County, Wisconsin, und Duchouquet Township, Auglaize County, Ohio, im Vergleich (Median) ................................................................................... Getreide- und sonstige landwirtschaftliche Produktion württembergischer und angloamerikanischer Farmen in Herman Township, Dodge County, Wisconsin, und Duchouquet Township, Auglaize County, Ohio, im Vergleich (Median) ................................................................................... Altersklassen der ortsanwesenden Bevölkerung des Oberamtes Spaichingen 1861 nach Geschlecht und Zivilstand im Vergleich zu den Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika nach dem dortigen Zensus 1860/61 ............................................................................... Familienanteil und Frauenanteil Lediger an der Nordamerikamigration aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen zwischen 1830 und 1914 ............................................................................................... Repräsentationsindex der Nordamerikamigranten aus dem Untersuchungsgebiet (1830–1880) nach Wirtschaftssektoren im Vergleich zur Wirtschaftsstruktur im Untersuchungsgebiet ................................................
104
104
106
107
107 111 116 190 194
196
197
212 215 237
Verzeichnis der Tabellen Tab. 31: Tab. 32: Tab. 33: Tab. 34: Tab. 35: Tab. 36: Tab. 37: Tab. 38:
Tab. 39: Tab. 40: Tab. 41: Tab. 42:
291
Berufswechsel und sozioökonomische Mobilität der Migranten des sekundären Sektors aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika 1850–1880 ........................................................................... 239 Quantitative Sozialanalyse der Auswanderer des primären Sektors aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in Nordamerika 1850–1880 ... 243 Sozioökonomische Entwicklung der Einwanderer des Primärsektors von der Schwäbischen Alb nach ihrer Aufenthaltsdauer in Nordamerika 1850–1880 ..................................................................................................... 244 Sozioökonomische Entwicklung der Einwanderer von der Schwäbischen Alb des sekundären und tertiären Sektors nach ihrer Aufenthaltsdauer in Nordamerika 1850–1880 ............................................................................... 246 Bestimmungsfaktoren für den sozialen Aufstieg der Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen in zwei ausgewählten ländlichen Siedlungsgebieten 1850–1880 ....................................................................... 249 Größenklassenvergleich der Farmen der Trossinger Migranten in Haldimand County, Ontario, 1871 mit den landwirtschaftlichen Betrieben in der Gemeinde Trossingen 1873 ................................................................. 252 Bodennutzungsvergleich der Trossinger Farmen in Haldimand County, Ontario, 1871 mit den Bauernhöfen der Gemarkung Trossingen 1873......... 252 Vergleich der durchschnittlichen Hektarerträge der drei wichtigsten Getreidearten auf den Farmen der Trossinger Migranten in Haldimand County, Ontario 1861 mit den Bauernhöfen in der Gemeinde Trossingen 1873............................................................................................. 253 Vergleich von Einwohnerzahl, landwirtschaftlicher NutzÀäche und Viehbestand der Trossinger Siedlung in Haldimand County, Ontario, 1871 mit der Gemeinde Trossingen 1873 ............................................................... 254 Von männlichen Einwanderern aus dem Untersuchungsgebiet in Nordamerika ausgeübte nichtlandwirtschaftliche Berufe nach Ortsgrößenklassen 1850–1880 ........................................................................................ 257 Wohnorts- und Berufswechsel von Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen innerhalb Nordamerikas 1850–1880 ................ 266 Berufs- und Sozialstatuswechsel innerhalb Nordamerikas mobiler und sesshaft gewordener Migranten aus den Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen 1850–1880 ................................................................................ 268
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS A.) BENUTZTE ARCHIVE UND UNGEDRUCKTE QUELLEN Archive und Bestände in Deutschland Württembergisches Hauptstaatsarchiv Stuttgart Bestand E 143 Bü 545 Württembergisches Staatsarchiv Sigmaringen (StAS) Bestand Wü 65/37, Bd. 1 Bü 190–224 Bestand Wü 65/32, Bü 35–57 Staatsarchiv Ludwigsburg Bestand E 258 VIII (Zollvereinsstatistik) Wirtschaftsarchiv Hohenheim Firma Hohner, B 35 Nr. 108 Kreisarchiv Tuttlingen Stadtarchiv Tuttlingen Stadtarchiv Spaichingen Gewerbemuseum Spaichingen Stadtarchiv Villingen-Schwenningen Stadtarchiv Trossingen, Rechnungsbücher Gemeindearchiv Aixheim, A 1046 Gemeindearchiv Frittlingen, Auswandererkartei Ulrich Fiedler
Archive und Bestände in Nordamerika National Archives and Record Administration (NARA) Record Group 29 (Records of the Bureau of the Census) M432 Manuscripts of the Seventh Census of the United States, 1850 M653 Manuscripts of the Eighth Census of the United States, 1860 M593 Manuscripts of the Ninth Census of the United States, 1870 T9 Manuscripts of the Tenth Census of the United States, 1880 Record Group 36 (Records of the Customs Of¿ce) M237 Passenger Lists of Vessels Arriving at New York, New York (1820–1897) M255 Baltimore (1820–1891) M259 New Orleans (1820–1902) M277 Boston (1820–1891) M425 Philadelphia (1800–1882) Record Group 59 (General Records of the Department of State) M1371 Registers and Indexes for Passport Applications, 1810–1906 M1372 Passport Applications, 1795–1905 M1490 Passport Applications, January 2, 1906 – March 31, 1925 M1834 Emergency Passport Applications
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Record Group 85 (Records of the Immigration and Nationalization Service) T715 Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at New York, New York (1897–1957) Library of Congress, Washington D. C. New York Public Library, New York, NY Harvard Business School, Baker Library Historical Collections, R. G. Dun & Co. Collection Haldimand-Norfolk Archives, Cayuga, Ontario United Church Archives / Victoria University Archives, Toronto, Ontario Bethlehem Lutheran Church, Quihi, Texas Zion Lutheran Church, Castroville, Texas James Menke Collection, San Antonio, Texas Eden Theological Archives, Webster Groves, Missouri
Archive und Bestände online Staatsarchiv Hamburg Bestand: 373-7 I, VIII (Auswanderungsamt I) General Land Of¿ce
Ungedruckte Quellen Ev. Kirchenbücher Hausen ob Verena Ev. Kirchenbücher Talheim Ev. Kirchenbücher Trossingen Ev. Kirchenbücher Tuttlingen Kath. Kirchenbücher Frittlingen, Familienregister
B.) GEDRUCKTE QUELLEN Agricultural Schedules des Census of Ontario 1861 und 1871 American National Biography Auswanderer-Briefe des Bäckergesellen Johann Gottfried Stengelin, Tuttlingen, in: Tuttlinger Heimatblätter 1964. Beschreibung des Oberamts Spaichingen, hg. vom Königlich Statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1876 (Bd. 57 der württembergischen Oberamtsbeschreibungen). Beschreibung des Oberamts Tuttlingen, hg. vom Königlich Statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1879 (Bd. 58 der württembergischen Oberamtsbeschreibungen). Biographisches-Bibliographisches Kirchenlexikon Blaha, Albert (Bearb.), Passenger Lists for Galveston, 1850–1855, Houston, TX 1985. Vgl. auch Ships Passenger Lists, Port of Galveston, Texas, 1846–1871, hg. von der Galveston County Genealogical Society, Easley, SC 1984. Compendium of the Seventh Census 1850 Compendium of the Eighth Census 1860 Compendium of the Ninth Census 1870 Dictionary of American Biography Eugen E¿nger, Ortssippenbuch Aixheim (Unveröffentlichtes Manuskript im GA Aixheim). Frühbeis, Xaver (Hg.), Die Amerika-Briefe aus Mühlhausen, Deisenhofen ²1988 (Typoskript im Stadtarchiv Villingen-Schwenningen).
Periodika
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C.) PERIODIKA Gränzbote 1845 ff. Heuberger Bote 1849 ff. Friedrich Gerhard’s Wöchentlicher Unentgeldlicher Wegweiser, Adress-Anzeiger und Geschäfts-Empfehler für Deutsche Einwanderer in die Vereinigten Staaten, New York, Ausgabe vom 6. August 1855. Hartford Press, [Wisconsin] 1884, 1888 Hollidaysburg Morning Tribune 1899 Madison Daily Courier 1882, 1890, 1891, 1892 Madison Courier 1938 New Brunswick Courier 1847 New York Times 1864, 1942
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Quellen- und Literaturverzeichnis
D.) GENEALOGIEN UND GENEALOGISCHES MATERIAL (AUSWAHL) Aicher Family, Mahlstetten to Colorado (Inez Aicher, Alaska) Albrecht Family, Wehingen to Rochester, NY (Karen Glass Schell, Naperville, IL) Birk Family, Trossingen to Frankenmuth, MI (Frankenmuth Historical Association, MI) Dannecker Family, Ratshausen to Richardson Co., NB (Dennis Tagney, San Francisco) Dold Family, Tuttlingen to Buffalo, NY (E. E. Hutzel, Ann Arbor, MI) E¿nger Family, Aixheim to Evansville, IN (Carol Anne Ef¿nger) E¿nger Family, Aixheim to Canton, OH (Cheryl Hackman, East Canton, OH) Gehring Family, Obernheim to Washington Co., WI (J. Gundrum) Grimm Family, Böttingen to Madison, WI (Ann C. Nennig, Kewaunee, WI) Haller Family, Schura to Cleveland, OH (Paul M. Hartmann, Cleveland, OH) Hauser Family, Spaichingen to Fremont, NB (Mary Jane Richardson, Phoenix, AZ) Hauser Family, Tuningen to Jefferson Co., MO (Donna Sattley, St. Louis, MO) Irion Family, Aldingen to Dodge Co., WI (Rich Erstad, MN) Irion Family, Tuningen to Marthasville, MO Kapff Family, Tuttlingen to New York, NY (Paul Kapff, Pittsburgh, PA) Kille Family, Obernheim to Sullivan Co., NY Klaiber Family, Hausen ob Verena to Boyd Co., KY (Teresa Martin Klaiber, Rush, KY) Koch Family, Ratshausen to Goodhue Co., MN (Judy Conklin, Kalamazoo, MI) Kohler Family, Talheim to Utica, NY (Eric Weber, Williamsburg, MA) Kreutter Family, Talheim to Utica, NY (Charlotte Rogers, Jeannette, PA) Kupferschmid Family, Wurmlingen to Delaware Co., IN (Shawn Gray) Mauthe Family, Talheim to Utica, NY (Charlotte Rogers, Jeannette, PA) Merkt Family, Spaichingen to Allegany Co., NY (Richard Allen) Link Family, Trossingen to Alpena, MI (Lynn Hollingshead, Sault Ste. Marie, Ontario) Messner Family, Trossingen to Dakota Territory (Jean R. Williams, Tacoma, WA) Messner Family, Trossingen to Dakota Territory (Steve Sebelius) Nester Family, Aixheim to D’Hanis, TX (John J. Nester, D’Hanis, TX) Otto Family, Talheim to Newark, NJ (Kevin Otto, Fair¿eld, CA) Otto Family, Talheim to Haldimand Co., Ontario (D. F. Wilson, Caledonia, Ontario) Ragg, Cosmas, Dürbheim to Potter Co., PA (Brian Burton) Raiser Family, Egesheim to Sheboygan, WI (Mark Vaughan) Riess Family, Tuttlingen to St. Clair Co., IL (Johanna A. Taylor, Webster Groves, MO) Schäfer Family, Ratshausen to Goodhue Co., MN (Carrie Schafer) Sauter Family, Mahlstetten to Medina Co., TX (Earlene Scott, Deatsville, Alabama) Staiger Family, Ratshausen to Goodhue Co., MN (Jill Johnson, Fridley, MN) Vosseler Family, Talheim to Rochester, NY Wachter Family, Kolbingen to Pottsville, PA (Grace Whealan) Wax Family, Nendingen to Placerville, CA (Marie Nelson, Vernal, UT) Wenzler Family, Frittlingen to Seattle, WA (Mr. Siddons) Zisterer Family, Gosheim to Allegany, NY (Kristine McGowan)
Sekundärliteratur
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E.) SEKUNDÄRLITERATUR 1200 Jahre Dürbheim. Festbuch mit Beiträgen zur Vergangenheit und Gegenwart der Gemeinde Dürbheim (hg. v. Gemeinde Dürbheim), Tuttlingen 1986. 900 Jahre Renquishausen, 1092–1992. Geschichte einer Heuberg-Gemeinde (hg. v. Gemeinde Renquishausen), Tuttlingen 1992. Abel, Wilhelm, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen ²1977. Adam, Thomas / Ruth V. Gross (Hg.), Traveling between Worlds. German-American Encounters, College Station, TX 2006. Adams, Willi Paul (Hg.), Die deutschsprachige Auswanderung in die Vereinigten Staaten. Berichte über Forschungsstand und Quellenbestände, Berlin 1980. Aengenvoort, Anne, Migration – Siedlungsbildung – Akkulturation. Die Auswanderung Nordwestdeutscher nach Ohio, 1830–1914, Stuttgart 1999. Akenson, Donald Harman, Ireland, Sweden, and the Great European Migration, 1815–1914, Montreal, Quebec 2011. Albion, Robert Greenhalgh, Square-riggers on Schedule. The New York Sailing Packets to England, France, and the Cotton Ports, Princeton, London 1938. An Illustrated History of the Counties of Rock and Pipestone, Minnesota, Luverne, MN 1911. Annals of Polk County, Iowa, and the City of Des Moines, Des Moines, IA 1898. Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Bade, Klaus J., Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004. Baily, Samuel L., Immigrants in the Lands of Promise. Italians in Buenos Aires and New York City, 1870–1914, Ithaca, New York 2004. Baines, Dudley, Emigration from Europe, 1815–1930, Cambridge 1995. Balderas, J. Ulyses / Michael Greenwood, From Europe to the Americas. A Comparative Panel-data Analysis of Migration to Argentina, Brazil, and the United States, 1870–1910, in: Journal of Population Economics 100.1 (2010), 1301–1318. Baron, Frank, Abraham Lincoln and the German Immigrants. Turners and Forty-Eigthers, Lawrence 2012. Baltensperger, Brad H., Agricultural Change Among Nebraska Immigrants, in: Frederick C. Luebke (Hg.), Ethnicity on the Great Plains, Lincoln, NE, 1980, 170–189. Bank, Michaela, Women of Two Countries. German-American Women, Women’s Rights and Nativism 1848–1890, New York 2012. Beiträge zur Geschichte der Industrie und Industriebauten im Landkreis Tuttlingen (hg. v. Geschichtsverein für den Landkreis Tuttlingen), Tuttlingen 1993. Benzing, Otto, Schwenningen am Neckar. Geschichte eines Grenzdorfes auf der Baar, 30.000 v. Chr. bis 1907 n. Chr., Schwenningen 1985. Berghoff, Hartmut, Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Mundhamonika 1857–1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Paderborn ²2006. Bergquist, James M., Daily Life in Immigrant America, 1820–1870, Westspot 2008. Biesele, Rudolph Leopold, The History of the German Settlements in Texas 1831–1861 [1930], Austin, TX 1964. Bilgen Dirk u. a. (Bearb.), „Der Sturm, der in die Zeit gefahren …“. Die Revolution 1848/49 im Gebiet des heutigen Landkreises Tuttlingen (hg. v. Kreisarchiv des Landkreises Tuttlingen), Tuttlingen o. J. Bilgen, Dirk, Die Revolution von 1848/49 in den württembergischen Oberämtern Tuttlingen und Spaichingen, in: ders. u. a. (Bearb.), „Der Sturm, der in die Zeit gefahren …“. Die
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SACH- UND PERSONENREGISTER Folgende Einträge kommen durchgängig vor und wurden daher nicht in das Sachregister aufgenommen: Migration, Emigration, Immigration, Auswanderung, Einwanderung, desgl. Migrant, Emigrant, Immigrant, Auswanderer, Einwanderer. Das Personenregister verzeichnet nicht die zahlreichen an nur einer einzigen Stelle genannten Migranten. Systematisch erfasst wurde nur der Fließtext, nicht jedoch Titel, Inhalt oder Unterschrift von Karten, Tabellen, Abbildungen oder die Fußnoten. Abschiebung, Abgeschobene 48, 154 Adaptation, Adaptationsprozess 10, 14, 16, 21, 113, 203, 236, 277, 283 Agricultural Census 20, 132 f., 192–194 Akkord, Überfahrtsakkord 76, 78 f. Allmende 34 f., 47, 135, 140 Amerikanischer Bürgerkrieg 10, 55, 95, 129, 139, 149–151, 157, 161, 163 f.,166, 172, 183, 191, 223–234, 258 f., 282 Anerbenrecht 31 f. Ansiedlungspolitik 273 Arbeitswanderung 36, 41, 65, 80, 139 f., 166 f., 270 f., 273 f. Armengewerbe 46 ArmenpÀege, Armenunterstützung 46 f., 154 Atlantikpassage (siehe auch: Transatlantikpassage) 75, 85 f., 90, 95, 98, 108, 118 Auswandererbrief (siehe auch: Brief aus Amerika) 21 f., 25, 49, 91–93, 131, 146 f., 154, 160, 174, 176, 189, 219, 226, 256 Auswandererwerbung (siehe auch: Emigrantenwerbung) 75, 273 Auswandererfürsorge 46 Auswanderungsagenten 27, 75–79 Auswanderungsantrag 23–25, 83, 99, 119, 126, 130, 139, 235, 255, 270 Auswanderungsförderung 45, 47, 49, 74, 274 Auswanderungsfreiheit 45, 53 Auswanderungspolitik 46, 153 Auswanderungsverzeichnis 14 f., 18 f., 21, 23 f., 26, 52 f., 55, 57, 110, 124, 154, 236, 269
Auswanderungswelle 46, 54 f., 65, 76, 115, 135, 184, 238 Basler Missionsgesellschaft 121, 170, 221 Bauhandwerker 36, 59 f., 130 f., 155, 173, 176, 179, 239, 264 Baumwolle 85, 100, 122 Bergbau 33, 36, 161, 164–167, 182, 264 Berufswechsel 110 f., 181, 233, 241, 245, 257, 265–268, 275 Binnenschifffahrt 80, 85, 94, 178 Binnenwanderung 10, 17, 29, 39, 42 f., 51 f., 100, 112, 127 f., 137 f., 141, 163, 175, 180, 182, 189, 193, 267, 272, 276, 283 Blockhaus, Blockhütte 91, 126 f., 131, 188 Bodenpreis 115, 127, 241 Brief aus Amerika (siehe Auswandererbrief) Brunner, Otto 281 Bürokratie 99 Calvinismus 185, 278 Canada Company 179 Castro, Henry 117–121, 178 Castro’s Colony 178 Chippewa 138, 165 Cholera 90, 97, 149 Cleveland, Grover 234 Code Civil 136 Comanchen 120 Confederate States of America (siehe auch: Konföderation) 228 f. City Directories (siehe auch: Städtische Adressbücher) 20, 152, 171, 258 f., 265 County Histories 19, 94, 216, 218, 222, 224, 228, 232 f., 277 Cullmann, Johann G. 174
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Sach- und Personenregister
Dakota 137 Dampfschiff 79–81, 84–86, 88–90, 92, 94, 97 f., 139, 168, 172, 270 Deportation 77 Deutsch-Französischer Krieg 157, 258 Deutschamerikaner 25, 163, 188, 208, 223, 226, 258 f., 266, 272, 276 Deutscher Zollverein 37, 56, 65 Diaspora 11, 153, 168, 271, 275 Dienstmädchen 109, 132, 140, 152 f., 213 f., 258, 261–263, 281 Dihlmann, Ludwig (Louis) 160, 162 f., 230 Einwandererviertel 93, 109, 188 Einwanderungspolitik 278 Einzelwanderer 84, 102, 230 Eisenbahn 44, 79 f., 81, 85 f., 100, 135, 139, 151, 168 f., 172, 174, 182 Emigrantenwerbung (siehe auch Auswandererwerbung) 75, 273 Engländer 128 Erster Weltkrieg 14, 29, 42, 87, 161, 165, 183, 217 Evangelical Association 125, 170, 187 Evangelischer Kirchenverein des Westens 102, 144–148, 185, 220, 281 Fabrik 37–39, 57 f., 65, 100, 122, 141–143, 151–153, 159, 161, 163 f., 171 f., 175, 181 f., 189, 205–208, 241, 261 Ferrie, Joseph P. 275 Flussdampfschiff 94 Französische Revolution 124 Freimaurer 142, 224 f. Friedrich I. (König von Württemberg) 124 Frontier 183 Frühindustrialisierung 29 Fulton, Robert 85 Gesangsverein 122, 171, 226 f. Gränzbote (Zeitung) 27, 46, 49, 77 f., 97, 118, 156 f., 258 Gruppenwanderung 22, 178 Habsburger 59, 69 Haller, Berthold 170 HAPAG (Firma) 83, 85 f., 89 Hausindustrie 38, 65 Heimatschein 166, 182, 270 Heimgewerbe 36, 38 Heimweberei 39, 135 Heiratsalter 210 f., 281 Heiratsbeschränkungen, Heiratsverbote 99, 135, 210 f.
Heiratsmuster 140, 210, 216 Heiratsverbindungen 59, 113, 143, 150, 273 Heiratsverhalten 210, 216 f. Heuberger Bote (Zeitung) 27, 49, 75, 77 Hochindustrialisierung 99 Hohner, Matthias 39 Homestead Act 167, 265 Houston, Sam 117 Hungerwinter 1816/17 80 Huth, Ludwig 118 Indianer 117, 120, 165, 190 Individual-level-tracing 19 Industrialisierung 35–40, 52, 55 f., 65, 161 f., 225, 279 Industrie 33 f., 36, 39, 58, 65, 161, 176, 208, 238, 280, 284 Industriegebiet 39, 113, 163–171, 179, 272 Iren, 10, 128, 152, 171, 217 f. Jacob Dold Company 207 Jordan, Terry G. 203 Kamphoefner, Walter 201 f. Kapf f., Eduard (Edward) 230 Kapff, Sixt Karl 170, 177 Kapff, Sixt Ludwig 48 f., 160, 177 f., 226, 230 Karl I. (König von Württemberg) 211 Kartoffelfäule, Kartoffelkrankheit 41, 54 Katholiken 69–72, 104, 116, 121, 123 f., 132, 137, 183 f., 217 f., 224, 272 f., 275, 281, 284 Katholische Kirche 141, 218, 275 Kettenwanderung 10 f., 16, 22, 25 f., 112, 121, 137, 143 f., 148, 154, 157, 178, 271–274, 283 Kirchenbücher 14 f., 19 f., 25 f., 97 f., 149, 155, 166, 269 f., 277 Kirchengemeinde 105, 122, 125, 134, 141, 144, 146 f., 151, 171, 174, 184, 218 f., 221–225, 274 f., 277, 281 Kolonisation 69, 77, 108, 116 f., 119, 121, 174, 178 f., 182 Kolonisten 117, 120, 174 Konfession 18 f., 23, 62, 69–72, 103 f., 105, 111, 122 f., 125, 183, 217 f., 225, 230, 232, 271 f., 278, 280 Konföderation, Konföderierte Staaten 228 f. Kongressland 114 f., 128, 178 Kurz, Sebastian 170 Laestadianer 168 Latin Farmer 146
Sach- und Personenregister Lebensweltwechsel 11, 19 f., 21, 75 f., 91, 99, 103, 110, 113, 187, 210, 214 f., 223, 227, 236, 256, 278 f., 281 Ledige Mütter 135, 155, 167 Link, Johann Conrad 170 Log Cabin Bill 138 Luther, Martin 69 Lutherische Kirche 121, 134, 167 f., 219, 221 f., 281 Malthus, Thomas Robert 46 Massenmigration 16, 22 f., 29, 40, 57, 62, 65, 78, 83–85, 94, 99 f., 103, 110, 128, 134, 172, 182, 223, 225, 247, 274 McDonald, John und Leatrice 11 Messner, Christian (Mundharfenmacher) 39 Metropole 91, 104–107, 113, 138, 141, 143, 169, 171–178, 181, 188, 191, 256, 276, 278, 283 Migrantensiedlungen 113–186 Migrationsmuster 51, 61 f., 65, 68, 139, 271 Migrationspfade 19, 75–112, 179–182 Militärdienst, MilitärpÀicht 26, 76, 99, 139, 158, 228 f., 234, 259, 269 f. Missionar 23, 105, 121, 144, 170, 185, 220 f., 274 Napoleon I. 69, 124 Napoleonische Kriege 40 Nast, Wilhelm 222 Norddeutscher Lloyd (Firma) 83, 85 f., 89, 98 Ortsarme 46, 74, 77 Paketschiffe 84–87, 89 Passagierliste (siehe Schiffspassagierliste) Pastor 121, 145, 147, 220 Pauperismus 210 Pendelwanderung 22, 89 Peuplierung 69 Pietismus 69, 123–125, 278 Pietisten 124, 274 Politische Repression, Politische Unterdrückung 46, 99 Postschiff 78, 83, 85 f., 89 Pressefreiheit 48 f. Protestanten 40, 71–73, 103–105, 116, 121–125, 132, 184 f., 217, 230, 273–275, 281, 284 Realteilung 31–33, 35 f., 64, 242 Redemptioner-System 75 f. Reeder 76, 80 Reformation 69, 124, 170
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Reformierte Kirche 146, 170, 174 Reisegeld 46 f., 83, 154 Reisekosten 47, 84, 97, 111, 114, 118, 154, 274 Reisemittel 47, 115, 130, 269 Reisepass 89, 271 Reisezeiten 86 Restauration 49, 124, 228, 259 Revolution von 1848 41, 48 f., 146, 160, 177, 226, 247 Rieß, Johann Jakob 144, 147, 220 f. Rieß, Konrad 144–148, 221 Rotteck, Karl von 146 Rottweiler Anzeiger (Zeitung) 27 Rückwanderung 10, 22, 89 Saisonarbeiter 131 Santa Anna, Antonio López de 117 Schiffbruch 90 Schiffsmakler 27, 76 Schwerindustrie 164, 264 Schiffspassagierliste, Passagierliste 14, 18 f., 22 f., 26, 89 f., 108, 110, 118 f., 121, 126, 139, 152, 160, 209, 256, 270 f. Segelschiff, Segler 22, 79, 85–90, 98, 119, 133, 135 Seuche 54, 97, 117, 231 Siedler 69, 114, 116 f., 120–122, 125, 128 f., 133, 138, 142, 151, 177–183, 185, 190, 192, 198, 229, 273 Siedlungsbildung 11, 15 f., 21, 23, 115, 125, 139, 144, 151, 159, 164, 167, 178–185, 213, 223, 271, 273 f. Siedlungswanderung 129 Sioux 138 Sklaven, Sklaverei 99 f., 229 f. Smith, John William (Bürgermeister von Detroit) 163, 234 Sozialpolitik, sozialpolitisch 47, 49, 74 Spanisch-Amerikanischer Krieg 163, 234 Subsistenzwirtschaft 34, 126, 188, 192, 201 f., 253 Suppenküchen 54 Tabak 85, 100, 262 Texas (Republik) 100, 117 Textilindustrie 37, 39, 57 f., 164, 182 Thistlethwaite, Frank 15 Thurneisen, Johann Jakob 37 Transatlantikverkehr, Transatlantikpassage (siehe auch: Atlantikpassage) 75, 80, 85
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Sach- und Personenregister
Tübinger Vertrag 45 U.S. Army 109, 230 Überfahrtsakkord (siehe auch: Akkord) 76, 78 f. Überfahrtsdauer 87 f. Uhrenfabrikation 38 Uhrenhandel, -händler 38 f. Uhrenindustrie 46, 60 Verein 49, 77, 102, 113, 122, 141, 144–148, 151, 153, 171, 181, 185, 220, 223–234, 273, 277, 281 f. Vereinsleben 113, 223–234, 273, 282 Verlagswesen 37 f., 65 Veteranen 158, 227, 233 f. Viehzüchter 120 Volkszählung (siehe auch: Zensus) 15, 17, 40, 111, 119 f., 153, 158, 258 f., 261 f., 266 Wanderungstradition, Auswanderungstradition 36, 70 f., 112, 173 f.
Wanderungsverlauf 13, 21–23, 51–55, 65, 179–182, 223, 236 Wiener Kongress 14, 29, 53, 124 Wilhelm I. (König von Württemberg) 34, 124 Wirtschaftspolitik 278 Zensus / Census (siehe auch Volkszählung) 14 f., 17–20, 22–24, 92–94, 97, 100–104, 106–111, 113, 115 f., 119, 125, 127, 129 f., 132–135, 140–143, 145 f., 148, 150, 152, 159–162, 166–169, 175 f., 183, 187–190, 192–194, 203, 208, 211 f., 214, 216, 220, 227 f., 230 f., 233 f., 236 f., 240, 243 f., 246, 247–250, 252–257, 259 f., 266, 268 f., 271, 275 f. Zuchthausinsassen, Zuchthäusler 47, 74, 77, 154 Zwingli, Ulrich 69, 170 Zwischendeck 84 f., 89–91
REGISTER GEOGRAPHISCHER BEGRIFFE (ORTSREGISTER) Folgende Einträge kommen durchgängig vor und wurden daher nicht in das Register aufgenommen: Schwäbische Alb (inkl. Südwestalb); Württemberg (inkl. Südwürttemberg); Deutschland (inkl. Norwest- oder Südwestdeutschland); Europa (inkl. Südosteuropa); Nordamerika, Amerika (auch: Vereinigte Staaten von Amerika); Alte und Neue Welt; Atlantik (auch: Atlantischer Ozean, Nordatlantik); Übersee; Untersuchungsgebiet. Systematisch erfasst wurde nur der Fließtext, nicht jedoch Titel, Inhalt oder Unterschrift von Karten, Tabellen, Abbildungen oder die Fußnoten. Adams Twp., MI 167 Addison, WI 128 f. Aixheim 40–43, 79, 106, 108–111, 116, 119, 121, 123, 129, 131, 133, 219 Alabama 174 Albany, NY 94, 260 Albvorland 30 f., 41, 43, 54, 56, 62, 64 f., 67, 69, 71, 73, 107, 115 f. Aldingen 116, 121, 123, 133, 168–171, 179, 182, 184 f., 221, 227 Allegany Co., NY 223 Allegheny Mountains 168 Altoona, PA 168–171, 178 f., 182–184, 227, 265 Amsterdam 79, 86 Ann Arbor, MI 147, 159, 160, 178, 181 Antelope Co., NE 265 Antwerpen 22, 77, 80–84, 86, 88, 98, 108, 119 Appalachen 264 Appenweier 80 Ärmelkanal 91 Auglaize Co., OH 132–134, 178 f., 184 f., 192, 202, 223, 248 Baar 30 f., 34, 38–40, 43, 46, 54, 56, 60, 62, 64 f., 67–71, 74, 79, 116, 133 f., 135, 155, 220, 251, 253 Baaralb 30 f., 42, 56, 62, 64 f., 68 f., 71, 73, 107 Baden 37, 46, 48, 54, 59, 80, 117, 146, 154 Balingen 43, 77 Baltimore, MD 96, 98, 171, 220 Basel 80, 102, 121, 144, 147, 220
Beaver-and-Erie-Kanal 94 Belgien 86, 117 Belleville, IL 147 Bern 60, 170 Beuggen 144 Blair Co., PA 168, 182 Bonlanden 170 Boston, MA 96, 98, 165, 171 Boyd Co., KY 9 Böttingen 38, 75, 206, 219, 226 Bremen 80–85, 88, 98, 108 Bremerhaven 80 f., 83, 85 Bridgeport, CT 263 Brooklyn, NY 92, 108, 144, 177, 191, 208 Bruce Co., Ontario 125 Bubsheim 60, 170 Buffalo, NY 94, 125, 134–137, 159 f., 164, 179 f., 183, 207, 222, 226 f. Calumet, MI 168 Carrick Twp., Ontario 125, 222 Castoville, TX 117–121, 144, 185, 221, 277 Centreville, IL 145, 147, 220 Charleston, SC 85 Cherbourg 82, 85 Chicago, IL 161, 169, 171, 233, 263 China 60 Cincinnati, OH 98, 109, 113, 138 f., 142–144, 148 f., 159, 164, 171–178, 180–183, 229, 247, 265 Clarksville, TN 151 Cleveland, OH 109, 164, 234 Colorado 221, 233 Connecticut 100, 108, 110, 263
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Register geographischer Begriffe (Ortsregister)
Copper Country, MI 165–168, 179, 182–185, 264 Cornwall 165 Cottonwood Springs, NE 265 Covington, KY 175 Creighton, NE 265 Cullman, AL 174 Cullman Co., AL 174 Dänemark 60 Dayton, OH 109, 142 f., 180 Deer¿eld, NY 152, 260 De¿ance Co., OH 143 Deilingen 75 Denver, CO 221, 233 Des Moines, IA 94, 226 Detroit, MI 92, 113, 159–163, 178, 181 f., 184, 232, 234 D’Hanis, TX 120–123 Dodge Co., WI 127, 132, 137, 178 f., 192, 199 f., 204, 232, 248 Donau 11, 29, 37, 43 Donaueschingen 60, 79 Douglas Co., CO 233 Duchouquet Twp., OH 132–134, 192, 198–203 Durchhausen 79 Dutch Hill, IL Dürbheim 90 Ebingen 43 Elmira, NY 260 Elsass 59, 80, 117, 120, 139, 217, 229 England 34, 36, 38, 60, 80, 86, 124, 224 Erie, PA 164 Erie Co., NY 136, Eriekanal 94, 125, 127, 148, 151 f., 172, 178 f., 181, 193 Eriesee 94, 125, 142 Erzgebirge 39 Evansville, IN 109 Fairview, PA 219 Farmington, WI 132 Finnland 165, 168 Florence Twp., MN 137 Fort Madison, IA 148 Fort Wilkins, MI 165 Franklin Co., MA 164 Frankreich 36, 39, 48, 77, 83, 86, 99, 117, 139, 158 Fremont, NE 265 Fridingen an der Donau 30, 37, 43, 105
Friedrichshafen 160, 230 Frittlingen 90, 148, 150 f., 181, 184, 200, 219, 265 Frontenac, MN 138 Galena, IL 139 Galveston, TX 96, 98, 108, 118 f., 248 Garner, KY 9 Gasconade Co., MO 109 Genesee Co., NY 136 Genf 208 Glendale, OH 138 Goodhue Co., MN 137–141, 178, 180, 188, 203, 213 Great Miami River 142 Great Plains 115, 176, 264 Green Bay, WI 129 Grundy Co., IL 233 Haldimand Co., Ontario 123–127, 134, 136, 178 f., 184 f., 248–255 Hamburg 81–83, 85, 88, 168, 270 Hamilton, OH 175, 247 Harrisburg, PA 168 Hausen ob Verena 9, 21 Hay Creek Twp., MN 137 Hay Twp., Ontario 125 Hegaualb 30, 43, 64 Heidelberg 80 Heilbronn 43, 76 f. Herman, MO 109 Herman, WI 128 f., 192–194, 196–204 Heuberg 30 f., 35 f., 38–40, 43, 46,49, 54, 56, 60, 62, 64 f., 67, 69–71, 73, 75, 77, 79 f., 92 f., 107, 116, 128 f., 140, 164, 200, 219 f., 226, 234, 238 Hiawatha, KS 234 Hofen 128 Hohenkarpfen (Berg) 31 Holland (auch: Niederlande) 60, 86, 148 Hollidaysburg, PA 168 Holstein 60 Holstein, MO 148 Hondo, TX 121 Hongkong 60 Houghton Co., MI 167, 182 Houston Co., MN 138 Hudson (Fluss) 94, 152, 193 Hull 80 Huron Co., Ontario 125 Huronsee 125
Register geographischer Begriffe (Ortsregister) Illinois 94, 98, 105, 131 f., 139, 144 f., 147, 149, 219–221, 228, 233 Independence, OH 221 Indiana 94, 98, 109, 113, 134, 148–150, 159, 172, 175, 181, 183, 213, 221, 232, 273 Indianapolis, IN 144 Iowa 94, 97, 100, 105, 113 f., 144, 146–148, 153, 176, 181, 185, 221 f., 226, 228 f. Irische See 84 Irndorf 31, 189 Italien 165 Japan 60 Jefferson Co., MO 223 Johnsville, OH 214 Kalifornien (auch: Californien) 27, 100, 175, 183, 226 Kanada 15, 17–19, 113, 123, 125–127, 162, 179, 185, 187, 210, 247, 253 f., 267, 275, 278, 281 Kansas 114, 137, 176, 180, 183, 207, 233 f., 273 Kansas City, MO 207 Karlsruhe 80 Kehl 80 Kentucky 9, 94, 97 f., 105, 109, 148 f., 172, 174 f., 181, 183, 221, 223, 228 Keweenaw, MI 165–167 Keweenaw Co., MI 167, 182 Knox Co., NE 265 Kolbingen 234 Köln 46, 80 Korntal 124 La Chaux de Fonds 60 Le Havre 22, 80–83, 85, 87, 109, 133, 152 Leonberg 76 Lincoln, NE 265 Little Rock, AR 233 Liverpool 22, 80–87, 89, 98, 108, 135 London 22, 36, 78, 80–85, 87, 92, 100, 143, 181 Louisiana 97, 228 Louisville, KY 109, 175 Ludwigsburg 43, 48 Ludwigsthal 37 Lupfen (Berg) 31 Madison, IN 113, 148–151, 159, 175, 181 f., 184, 213, 232 Madison, OH 265 Mahlstetten 47, 91, 116, 121
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Mainz 76, 78, 80 Manitowoc Co., WI 128 Maryland 220, 228 f. Massachusetts 100, 159, 164 Mecosta Co., MI 137 Medina County, TX 98, 108, 116, 119–122, 144, 178 f., 183, 185, 201 f., 217, 221, 229, 248, 250, 277 Memphis, TN 149 Mexiko 98–100, 117, 229 Miami Co., OH 142f Miami (Fluss) 142 Miami-and-Erie-Kanal 142, 172, 178 f. Michigan 93, 113, 134, 137, 139, 147, 154, 159 f., 163, 165–168, 172, 181 f., 184 f., 216 f., 233 Michigansee 191 Milwaukee, WI 129, 131 f., 138, 191 Millstadt, IL 147 Minneapolis, MN 137 Minnesota 133 f., 137–141, 168, 178–183, 188, 203, 213, 219, 273 Mississippi (Fluss) 97 f., 100, 102, 109, 115, 137, 139 f., 144, 146, 148, 151, 159, 171 f., 175, 178, 181, 191 Mobile, AL 85 Mühlhausen (in Württemberg) 213 Mühlheim an der Donau 30, 37, 43, 49, 93, 105, 128 Mülhausen im Elsass 80 Muscatine, IA 113, 144–148, 159 f., 162, 178, 181 f., 184 f., 221 f., 229 Naperville, IL 233 Nashville, TN 229 Nebraska 114, 149, 183, 226, 233, 265, 273, 278 Neckar 12 Nendingen 65, 94, 163 f., 220, 226, 234 Neuchâtel 60 Neuengland 100, 102–104, 108, 111, 116, 128, 164 f., 171, 184, 193, 203 Neufreystädt 118 Neuhausen ob Eck 31, 142–144, 180 New Aargau, IL 147 New Albany, IN 98 New Haven, CT 108 New Jersey 93, 134, 159, 226 New Orleans, LA 85, 91, 95–98, 122, 145, 148, 171, 229, 248
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Register geographischer Begriffe (Ortsregister)
New York (Stadt) 78, 83, 85–98, 100, 108–110, 113, 118, 123, 126, 128 f., 133, 135, 138, 143 f., 146, 148, 152, 159 f., 162, 164, 168, 171 f., 173, 176–178, 181, 184, 191, 206, 208–210, 225 f., 233, 248, 256, 260, 262 f. New York (Staat) 100, 105, 113, 125, 127, 134 f., 137, 152, 158 f., 164, 169, 178, 180 f., 184, 189, 193, 203, 207, 213 f., 222 f., 227, 229, 232, 257 f., 260 Newark, NJ 93, 135, 159 Niagara Co., NY 127, 137 Niederlande (auch: Holland) 60, 86, 148 Nijmegen 80 Nordsee 80, 83, 86, 90 f., 149 North Cayuga Twp., Ontario 125 f. North Dakota 141, 176, 182 Oberer See 165, 167, 182, 232, 264 Oberes Donautal 30, 37, 40, 42, 54, 56, 62, 64 f., 68 f., 71, 73, 79, 107, 220 OberÀacht 80, 116, 119, 121 Oberndorf am Neckar 36 Obernheim 128–130, 218 Oberschwaben 38, 55 Offenburg 79 f. Ohio (Fluss) 94, 98, 148 f., 151, 172, 175, 178 Ohio (US-Bundesstaat) 78, 93 f., 98, 109, 113, 123, 132–134, 138 f., 142 f., 149 f., 159, 164, 168, 172, 175, 178–181, 184 f., 192, 194, 199, 201–204, 206, 214, 221, 223, 229, 247 f., 265 Oldenburg 60 Ontario (Provinz) 101–103, 105, 110 f., 113, 116, 123–127, 134, 136, 153, 168, 172, 178 f., 183–185, 190, 194, 222, 237, 247–254, 273 Ontariosee 125 Österreich 59 Paris 60, 80 Pendleton Co., KY 174 f., 183, 223 Pennsylvania 93 f., 100, 105, 113, 138, 159, 164, 168–171, 175, 179, 182 f., 193, 211, 213 f., 219, 225, 227 f., 232, 265, 273 Pfalz 12 Philadelphia, PA 54,93, 96, 98, 159, 169, 171, 191, 214
Pittsburgh, PA 94, 168 f., 213 Polen 69, 165 Portsmouth, OH 82, 221 Prairie du Long, IL 147 Preußen 60, 261 Primtal 31 Pusheta Twp., OH 132 f. Québec (Stadt) 78 Quihi, TX 120–123, 144, 185, 221 Rainham, Ontario 125–127 Ratshausen 137–141, 176, 180, 188 Reading, PA 159 Red Wing, MN 137, 139–141 Reutlingen 43, 76 Rhein (Fluss) 80, 117 Rheinhessen 12 Rietheim 37, 43, 60 Rio Grande (Fluss) 100, 117 Rochester, NY 164, 222 Rocky Mountains 175 Rotterdam 78–83, 86, 90 Rottweil 43, 77 f., 219 Royal Oak, MI 159–161 Rubicon, WI 128 f., 132, 200 Russland 124 Sacramento, CA 175 Saginaw Co., MI 134, 137 San Antonio, TX 98, 108, 116 f., 119, 122, 179, 183, 248 San Francisco, CA 96, 128, 226 San Jacinto, TX 117 Sandusky, OH 206 Saunders Co., NE 265 Savannah, GA 85 Schenectady, NY 189, 214, 257 Schottland 60 Schura 124, 133 Schuylkill Co., PA 214 Schwarzwald 12, 30, 38, 79, 152 Schweiz 36–40, 54, 59 f., 69, 80, 136, 139, 144, 170, 177, 210 Schwenningen 37 f., 43, 77 f., 133, 173 f., 213 Sheldon Twp., NY 135 f. Shiloh, TN 150 Siebenbürgen 71 South Cayuga, Ontario 125 f. Spaichingen (Oberamt) 12, 15, 27 f., 31, 40 f., 43, 47, 54 f., 57–59, 78, 83, 85 f., 89–92, 99, 113, 115, 121 f., 127, 129 f.,
Register geographischer Begriffe (Ortsregister) 132, 137, 144, 147, 164 f., 170–173, 175 f., 183, 193, 199–201, 205 f., 211, 217, 221–223, 225, 228, 237, 247, 271, 273, 275 f. Spaichingen (Stadt) 27, 31, 37, 39, 43 f., 59, 64, 75, 77, 79, 105, 128, 130 f., 184 Spanien 99, 116 Spencer Co., IN 134 St. Clair Boro, PA 214 St. Clair Co., IL 144, 147, 220 St. Louis, MO 97, 139, 143, 147 f., 159, 169, 171 f., 181, 220 St. Paul, MN 137, 141, 180 Stephen Twp., Ontario 125 Stetten an der Donau 173, 217 Straßburg 80 Stuttgart 12, 28, 43, 47, 54, 76, 79, 91, 170, 177 Talheim in der Baar 37 f., 97 f., 110, 124–127, 133–137, 152–158, 162, 179–181, 184 f., 210, 223, 226 f., 232, 255, 258–263 Tennessee 149, 151, 181, 228 f. Texas 77, 98, 100, 105, 108, 110, 113, 116–121, 179, 183 f., 190, 202, 217, 221, 229, 248–250, 277 Thompson, OH 247 Tirol 38 Toledo, OH 142 Traverse City, MI 233 Trossingen 30, 34, 36, 38 f., 42–44, 54, 56, 58, 64, 78, 123–125, 133–135, 164–167, 179, 182, 184, 209, 213, 215, 222, 227, 248, 252–255 Troy, OH 113, 142 f., 178, 180 Tuningen 36–38, 127, 133, 137, 173 f., 181, 185 Tuttlingen (Oberamt) 12, 14, 28, 30, 40, 43, 53–55, 57–59, 69, 78 f., 83, 85 f., 89–92, 99, 113, 115, 124 f., 127, 129 f., 132, 134, 137, 142, 144, 147, 154, 159, 164 f., 171–173, 175, 183, 192, 205, 210 f., 217, 220–223, 225 f., 228, 234, 236, 247, 253, 271, 273, 276
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Tuttlingen (Stadt) 26 f., 30 f., 37, 42–44, 48 f., 56, 58, 64 f., 69, 71–74, 77, 79, 91 f., 97, 100, 105, 110, 134, 144–148, 156, 159–163, 172, 177, 184 f., 189, 207, 217 f., 220 f., 275 Ulm 43 Ungarn 59 f., 69 Utica, NY 94, 113, 135, 148, 152 f., 156–158, 162, 178, 181 f., 184, 213, 227, 232, 258–263 Vandenberg, TX 120 Villingen 37 Virginia 164, 193, 228 f. Vorarlberg 38 Wabasha, MN 141 Wapakoneta, OH 133 f. Warren Co., MO 201 f. Washington (US-Bundesstaat) 141 Washington Co., WI 127–132, 137, 178 f., 232, 248 Washington, D.C, 169 Wayne, WI 128, 131 Ware, MA 159 Wehingen 128 Wheeling, WV 164 Whitestown, NY 152 Wichita, KS 207 Wien 39 Wilhelmsdorf 124 Williamsburg, NY 92, 108 Wilkes-Barre, PA 159 Wisconsin 93 f., 97, 100, 108, 110, 113 f., 127–133, 137–139, 141, 172, 178 f., 181–184, 191–194, 196–204, 206, 219, 228, 232, 248, 260, 273 Wurmlingen 21, 37 Wyoming Co., NY 134–137, 178 f., 232 Youngstown, OH 164 Zumbrota, MN 137, 139 f. Zürich 12, 79 f.
T R A N S AT L A N T I S C H E H I S T O R I S C H E S T U D I E N Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Washington, DC
Herausgegeben von Hartmut Berghoff, Clelia Caruso, Mischa Honeck und Britta Waldschmidt-Nelson.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0941–0597
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Süden und die Außenpolitik der Konföderation 2009. 470 S. mit 16 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09334-7 Britta Waldschmidt-Nelson Christian Science im Lande Luthers Eine amerikanische Religionsgemeinschaft in Deutschland, 1894–2009 2009. 296 S. mit 7 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09380-4 Thomas Adam / Simone Lässig / Gabriele Lingelbach (Hg.) Stifter, Spender und Mäzene USA und Deutschland im historischen Vergleich 2009. 341 S., geb. ISBN 978-3-515-09384-2 Anke Ortlepp / Christoph Ribbat (Hg.) Mit den Dingen leben Zur Geschichte der Alltagsgegenstände. Aus dem Englischen übersetzt von Dorothea Löbbermann 2010. 339 S. mit 45 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09098-8 Daniel T. Rodgers Atlantiküberquerungen Die Politik der Sozialreform, 1870– 1945. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Böhmer und Karl Heinz Siber 2010. 645 S., 20 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08482-6 Victoria de Grazia Das unwiderstehliche Imperium Amerikas Siegeszug im Europa des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen übersetzt von Karl Heinz Siber 2010. 592 S. mit 45 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09394-1 Maria Alexopoulou Ethnic Foreign Policy und Identitätsbildung Die Griechisch-Amerikaner (1964–1978) 2010. 396 S., geb. ISBN 978-3-515-09629-4
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Als Teil eines globalen Trends wagte im Zeitalter der transatlantischen Massenmigration knapp eine halbe Million Württemberger die Überfahrt nach Nordamerika. Welche Optionen standen ihnen überhaupt zur Verfügung? Welche Strategien verfolgten sie? Wie sah ihr weiterer Lebensweg in Einwanderungsland und -gesellschaft aus? Wo und mit wem siedelten sie, wie und wovon lebten sie? Unter mikrohistorischem Blick auf personenbezogene Quellen wie württembergische Auswanderungsverzeichnisse, Schiffspassagierlisten und amerikanische Volkszählungslisten gelingt es Jochen Krebber, ein umfassendes, vielfältiges und dynamisches Bild von der Nordamerikamigration von 6.000 schwäbischen Migranten von der Südwestalb zu zeichnen, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts an mehr als 1.000 Orten in den USA und Kanada niederließen.
ISBN 978-3-515-10605-4
9
7835 1 5 1 06054
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