Wolf-Dietrich Beecken - Das kleine Buch vom Krebs Die Krankheit verstehen 9783942073189


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Table of contents :
1. Warum und von wem dieses Buch geschrieben wurde
2. Das Krebs-Puzzle
2.1 Am Anfang steht die Angst
2.2 Die Magie der Statistiken
2.3 Krebs und das Gesundheitssystem
2.4 Eine teure Krankheit
2.5 Aufklärung damals und heute
3. Krebs – was ist das?
3.1 So funktioniert das Leben
3.2 So funktioniert der Krebs
4. Von der Diagnose zur Prognose
4.1 Früherkennung
4.2 Abklärung eines Verdachts: Die Diagnostik ausschöpfen
4.3 Alles geprüft und erkannt: Therapieziele und Prognosen
5. Den Krebs bekämpfen: Therapien im Überblick
5.1 Operative Therapien: Entfernen des Tumors
5.2 Bestrahlungstherapien: Bekämpfung durch Energie
5.3 Medikamentöse Therapien: Bekämpfung durch Gifte
5.4 Komplementäre Therapien: Die Bekämpfung optimieren
6. Ein Blick auf die Forschung
7. Plädoyer für aufgeklärtes und rationales Handeln
Glossar: Die Sprache der Ärzte und Wissenschaftler
Bibliographie
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Wolf-Dietrich Beecken - Das kleine Buch vom Krebs Die Krankheit verstehen
 9783942073189

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Wolf-D. Beecken Das kleine Buch vom KREBS Die Krankheit verstehen

Erste Auflage 2013 © SCOVENTA Verlagsgesellschaft mbH Das gesamte Werk ist urheberrechtlich geschützt. © 2013 by Wolf-D. Beecken. Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwendung des vorliegenden Werks, einschließlich aller Grafiken, sowie Auszüge desselben bedürfen der vorherigen schriftlichen Genehmigung durch den Autor. Dies gilt auch für sämtliche Formen medialer Verwendungs- und Aufführungsmöglichkeiten. Lektorat: Christine Nouikat Cover & Satz: Anja Fuchs, www.anjafuchs.com Gesetzt aus der Stempel Garamond ISBN: 978-3-942073-18-9 www.scoventa.de

Inhaltsverzeichnis

1.

Warum und von wem dieses Buch geschrieben wurde

2.

Das Krebs-Puzzle

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Am Anfang steht die Angst Die Magie der Statistiken Krebs und das Gesundheitssystem Eine teure Krankheit Aufklärung damals und heute

3.

Krebs – was ist das?

3.1 So funktioniert das Leben 3.2 So funktioniert der Krebs 4.

Von der Diagnose zur Prognose

4.1 Früherkennung 4.2 Abklärung eines Verdachts: Die Diagnostik ausschöpfen 4.3 Alles geprüft und erkannt: Therapieziele und Prognosen

5.

Den Krebs bekämpfen: Therapien im Überblick

5.1 5.2 5.3 5.4

Operative Therapien: Entfernen des Tumors Bestrahlungstherapien: Bekämpfung durch Energie Medikamentöse Therapien: Bekämpfung durch Gifte Komplementäre Therapien: Die Bekämpfung optimieren

6.

Ein Blick auf die Forschung

7.

Plädoyer für aufgeklärtes und rationales Handeln Glossar: Die Sprache der Ärzte und Wissenschaftler Bibliographie

Ein kleines Buch, gewidmet einer großen Familie Otto-Robert(†) und Ingrid, Nik und Li, Volker und Christiane mit Viktoria und Frederik, Jan-Wilhelm und Catharina mit Fritz, Caspar, Martha, Joseph und Louis, Tobias und Franziska mit Timon, Melchior, Pia und Elias, Nikolaus und Ute mit RosaLi, Jona und Felix, Carsten und Sandra mit Bryan und Ben und ganz besonders Johanna mit Tom, Nik, Finn, Josh und Mia

1.

Warum und von wem dieses Buch geschrieben wurde

Brauchen wir wirklich ein weiteres Buch über Krebs? Nach zwei Jahren intensiver Arbeit an diesem Buch, in denen ich mir genau diese Frage immer wieder gestellt habe, ist meine Antwort ein überzeugtes Ja. Es gibt zahlreiche Gründe, warum dieses Buch notwendig ist – der entscheidende ist allerdings, dass es beim Verstehen einer bedrohlichen Krankheit hilft. Verstehen ist die Grundlage von Wissen, und Wissen wiederum ist die notwendige Bedingung für selbstbestimmtes, rationales und richtiges Handeln. Krebs ist eine Krankheit, die Handeln erfordert – und zwar auf zahlreichen Ebenen. Nicht nur der Betroffene muss handeln; auch seine Angehörigen und sein gesamtes Umfeld sind dazu gezwungen. Wenn man es genau betrachtet, gilt das für jeden von uns. Krebs ist längst nicht mehr nur eine fiktive Gefahr, sondern eine sehr reale. War es Ende des Zweiten Weltkrieges noch so, dass man davon ausgehen konnte, von diesem Schicksal verschont zu bleiben, erkrankt mittlerweile jeder Zweite von uns im Laufe seines Lebens an einer Krebserkrankung; manche sogar mehrfach. Etwa jeder Vierte verstirbt daran. Krebs bedroht uns zu jeder Zeit: im frühen Kindesalter, während wir heranwachsen, im Zenit unseres Daseins und ganz besonders in unserer hart erarbeiteten und wohlverdienten Zeit der Ernte und des Genusses. Jeder von uns wird mit ziemlicher Sicherheit im Laufe seines Lebens ein Mal oder sogar öfter – direkt oder indirekt – von Krebs betroffen sein. Ich finde es deshalb sehr wichtig, dass man sich auch als aktuell gesunder

Mensch mit dieser Thematik auseinandersetzt. Mit meinem Buch möchte ich allen die Schwellenangst vor einem angsteinflößenden Thema nehmen, weil ich der Ansicht bin, dass das Verstehen von Krebs ganz wichtig ist, wenn man sich ihm – sei es als Betroffener, als Angehöriger oder einfach als aufgeschlossener und interessierter Bürger – stellen will. Ich möchte von vornherein festhalten, dass es sich bei Krebs nicht um eine einzelne Erkrankung, sondern um eine Gruppe von mehr als hundert unterschiedlichen Tumorerkrankungen handelt, welche alle zum Tode führen, wenn man sie nicht behandelt – besser gesagt, wenn man nicht handelt. Das Handeln eines Betroffenen – wie ich es im Zusammenhang mit diesen Erkrankungen meine – bezieht sich allerdings nicht nur auf das Therapieren eines Tumors. Der Kampf mit dem Krebs bedeutet viel mehr: Wir werden mit unseren Urängsten (vor Schmerzen, vor Hilflosigkeit, vor dem Sterben) konfrontiert und müssen uns – oft zum ersten Mal in unserem Leben – mit ihnen auseinandersetzen. In dieser Situation dürfen wir die Angst nicht zum handlungsbestimmenden Affekt werden lassen, sonst entscheiden wir falsch. Als Erstes sollten wir unsere Reaktionen – häufig ein Resultat von evolutionär bedingten Verhaltensweisen und Gewohnheiten – richtig einschätzen können. Der zweite Schritt heißt: Wissen über Krebserkrankungen akquirieren, um Abweichungen und Besonderheiten wahrnehmen und einschätzen zu können. Denn jede Krebserkrankung ist individuell und braucht ihre eigene Methode der Behandlung. Als Nächstes sollten wir über das Instrumentarium der Ärzte informiert sein, d. h. über die diagnostischen und therapeutischen Instrumente und Mittel, um sie richtig einschätzen zu können – damit ist „richtig für den Einzelnen“ gemeint. Wir müssen uns außerdem noch mit den Akteuren (Ärzten, Wissenschaftlern, Naturheilpraktikern, Politikern) und Institutionen (Gesundheitssystem, Pharmaindustrie, Krankenhäuser, Praxen) rund um Krebs bekannt machen, mit anderen Worten: Wir müssen deren Vorgaben und Handlungsmotive kennen, um Vorgehensweisen, Beschlüsse und Äußerungen korrekt einschätzen zu können. Krebs zu bekämpfen bedeutet also auch, aufgrund von fundiertem Wissen rationale Entscheidungen zu treffen – in Kooperation mit allen involvierten Parteien.

Diese gemeinsamen Anstrengungen von Betroffenen und jenen, die sie beraten und behandeln, sollen ausschließlich mit dem einen Ziel unternommen werden, dem Patientenwohl zu dienen. In diesem Sinne habe ich mein Buch geschrieben: nicht als Ratgeber für Betroffene, sondern als Werk der Aufklärung. Es will Handlungsweisen und Defizite im System und im Einzelnen bewusst machen, damit diese bewertet und gegebenenfalls beseitigt werden können. Krebs ist ein sehr gefährlicher und effektiver Gegner des menschlichen Lebens, der nur mit vereinten Kräften und rationalen Entscheidungen besiegt werden kann. Die größte Herausforderung bei meinem Anliegen war, der Komplexität des Themas gerecht zu werden, ohne die Ausführungen ausufern zu lassen. Häufig bewegen sich Bücher zum Thema Krebs in der Ein- bis Zwei-Kilo-Klasse und schrecken den Leser schon ob ihrer Dimensionen ab. Bücher mit bescheidenem Titel und überschaubarer Seitenanzahl, die komplexe Themen in Angriff nehmen, sind eher selten – ein Beispiel wäre die 1988 veröffentlichte Kurze Geschichte der Zeit von Stephen Hawking. Es war mein Ziel, in ähnlicher Klarheit und Kürze die Krankheit Krebs in all ihren wichtigen Aspekten zu erfassen: in ihrer einschneidenden Bedeutung für das Leben eines Menschen sowie hinsichtlich der Möglichkeiten des Umgangs mit ihr vor dem Hintergrund der aktuellen medizinischen, psychologischen, wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Erkenntnisse und Gegebenheiten. Krebs ist ein Wort, das unmittelbar Unbehagen, Angst und Ablehnung in uns hervorruft. Alle unter dem Begriff Krebs zusammengefassten Erkrankungen haben eines gemeinsam: Zellwachstum mit bösartigem Charakter. Die Verknüpfung der Begriffe bösartig und Wachstum klingt wie ein Widerspruch in sich. Für einen philosophisch denken Menschen hingegen besteht alles aus Pol und Gegenpol. Es fiele ihm nicht schwer, sich das Zellwachstum – einen der zentralen Prozesse, die das Wunder des Lebens überhaupt erst ermöglichen – auch in einer bösartigen Variante vorzustellen. Weniger philosophisch denkende Menschen empfinden sicher einigen Widerstand bei dem Gedanken, dass Krebs

als „todbringendes“ Wachstum einfach zum Leben dazugehört wie etwa Materie zur Antimaterie. Welchen Sinn hätte denn die parallele Existenz von gutartigem und bösartigem Wachstum? Krebs ist definitiv keine notwendige Bedingung für das Leben. Wissenschaftlich gesehen verfügen Krebszellen jedoch über die Möglichkeit der unbegrenzten Zellteilung, was ihnen quasi Unsterblichkeit verleiht – jene Unsterblichkeit, nach der sich die Menschheit seit ihren Anfängen sehnt. Paradoxerweise verwirklicht sich dieser jahrtausendealte, bisher unerreichte Traum in einer todbringenden Erkrankung. Die Suche nach Klarheit in solchen und ähnlichen Fragen treibt die wissenschaftliche Forschung voran und grenzt sicherlich in einigen Aspekten auch an die Metaphysik. Krebs ist aber auch eine sehr private Angelegenheit. Am 14. Mai 2013 titelte die BILD Zeitung: „Angst vor Krebs! Angelina Jolie ließ sich beide Brüste amputieren“. Diese Sensationsmeldung beherrschte in den darauf folgenden Tagen die Medien und machte die Angst vor Krebs und die damit einhergehenden Verhaltensweisen zum Tagesthema Nr. 1. Sollte man das Verhalten von Jolie nun kritisieren oder befürworten und bewundern? Bei ihrer Entscheidung hat Jolie sicherlich Risiken bewertet. Zum einen das Risiko, ein Mammakarzinom zu bekommen (in ihrem Fall wohl ein sehr hohes); zum anderen das Risiko, auch mit einer intensiven Früherkennungsstrategie den Krebs nicht früh genug zu erkennen, als dass ihm mit einer kurativen Therapie noch beizukommen wäre. Angelina Jolies Entscheidung könnte aber auch der Überlegung geschuldet sein, sich über eine Operation hinausgehenden, eventuell notwendigen Therapien in Form von Chemotherapie, Hormontherapie oder Strahlentherapie nicht aussetzen zu wollen. Das ist eine private, individuelle Entscheidung, die eine andere Person eventuell ganz anders getroffen hätte. Wichtig finde ich jedenfalls, dass eine solche Wahl im vollen Wissen um Risiken und Chancen getroffen wird – und nicht basierend auf einer Panikreaktion. Panik und Konfusion ist in Zusammenhang mit Krebs gar nicht so abwegig: Ein Betroffener, der bis dato sein Leben im Griff hatte, ist plötzlich nicht mehr Herr der Dinge, muss Beratung, Unterstützung und Hilfe durch Ärzte und Angehörige in Anspruch nehmen; er ist ihnen dabei regelrecht ausgeliefert. Gerade deshalb

sollte er die Personen, welche ihn beraten und behandeln, sehr genau aussuchen, denn die Qualität der Beratung und Behandlung steht in engem Zusammenhang mit dem Erfolg einer Krebstherapie. Bei erkrankten Kindern müssen die Eltern diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen; bei älteren oder aus anderen Gründen „schwachen“ Personen Familienangehörige oder besonders enge Freunde. Auch der Leser hat das gute Recht, gleich zu Beginn zu erfahren, wer ihm die in diesem Buch dargelegten Informationen und Einblicke in Krebserkrankungen und die damit verbundenen Umstände vermittelt. Er soll selbst entscheiden, ob er mir und meinen Erfahrungen vertraut – hier also mein Werdegang: Ich wurde 1964 in Hamburg geboren. Mein Vater war Arzt und hatte eine internistische Praxis in unserem Wohnort. Später gründete er mit Partnern eine Dialysepraxis, in der Patienten mit Nierenschäden regelmäßige Behandlungen zur Reinigung des Blutes erhielten. Meine frühe Jugend verlief ohne große Besonderheiten. Ich war ein mäßiger Schüler, liebte Sport und hatte schon immer ein gewisses medizinisches und wissenschaftliches Interesse. Eine drastische Änderung meines unbeschwerten Lebens ergab sich in den Jahren 1982/83. Im November 1982 erkrankte mein Vater an einer schweren Krebserkrankung, deren Behandlung sich zur damaligen Zeit wenig effektiv gestaltete. Nach nur einem Jahr verstarb er. Es war ein Jahr, in dem ich erstmals eng mit dieser Krankheit in Kontakt kam und zusehen musste, wie ein geliebter Mensch trotz unterschiedlicher Therapien von ihr aufgezehrt wurde. Es war eine tragische Erfahrung – und trotzdem empfand ich eine gewisse Faszination angesichts dieser Erkrankung, die meinen Vater umbringen sollte. Ich fragte mich immer wieder, wie es sein könne, dass die hochentwickelten technischen und medizinischen Errungenschaften des späten zwanzigsten Jahrhunderts so wenig gegen Krebs auszurichten vermochten. Die Pest hatten wir besiegt, die Cholera ausgerottet, und chronische Erkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus konnten wir zumindest über einen längeren Zeitraum kontinuierlich behandeln. Und nun kam der Krebs und trumpfte auf? Denn die Tumorzellen im Körper meines Vaters fanden immer wieder einen Weg, die Therapieansätze – egal, wie

ausgefeilt sie waren – „auszutricksen“ und ihr bösartiges Wachstum unbeirrt fortzusetzen. Diese erschütternde Erkenntnis, die sich mir damals offenbarte, hat mich all die Jahre – inzwischen gut zwei Jahrzehnte – begleitet, in denen ich mich mit den verschiedensten Krebserkrankungen befasst habe. Ich habe mich in alle Bereiche der Krebsmedizin „hineingearbeitet“: in schulmedizinische, alternativmedizinische und ganz neue, noch experimentelle Ansätze. Immer wieder musste ich die Erfahrung machen, dass Wissenschaft und Medizin im Hinblick auf das große Ziel – die Heilung von Krebs – noch einen sehr weiten Weg zu beschreiten haben. Ich will nicht in Abrede stellen, dass Etappenziele erreicht wurden, dass wir das Leid des Einzelnen mindern und seine Überlebenszeit verlängern können; hinsichtlich des großen Ziels erscheinen mir die wissenschaftlichen Errungenschaften jedoch eher überschaubar. Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich die größten Erfolge im Bereich der schulmedizinischen Methoden; hier liegen meine Hoffnungen insbesondere bei den sogenannten „zielgerichteten“ Therapieansätzen, die auf genetische und stoffwechselbasierte Veränderungen der Krebszellen zielen. Ich bleibe aber offen für alle Richtungen und Neuentwicklungen, denn niemand kann zum aktuellen Zeitpunkt behaupten, dass uns die aktuelle Richtung der schulmedizinischen Therapie an das Ziel unserer Bemühungen führen wird. Zurück zum November 1983: Die Leidensgeschichte meines Vaters und meine wachsende Faszination für Krebs ließen in mir den Gedanken reifen, mich beruflich dieser Krankheit zu widmen. Hierfür brauchte ich ein gutes Abitur. Meine schulischen Leistungen wurden besser, und ich nahm im Oktober 1986 mein Medizinstudium an der Universität Hamburg auf. Ich begann das Studium mit dem dezidierten Ziel, Onkologe (Krebsfacharzt) zu werden. Studienbegleitend leistete ich Nachtwachen in einer Hamburger Klinik. Wegen des hohen Arbeitsaufkommens in der urologischen Abteilung dieser Klinik wurde ich für meine Nachtdienste hauptsächlich hier eingesetzt. Meine Hauptaufgabe galt der Versorgung von jungen

Hodentumorpatienten, die sich großen Operationen, Bestrahlungsund Chemotherapien unterziehen mussten. Es waren meine ersten professionellen Begegnungen mit Krebs. Bald nahm ich Kontakt zur onkologischen Abteilung der Uniklinik Hamburg auf. Ich begann meine Doktorarbeit, die sich mit der Krebserkrankung befasste, welche meinen Vater umgebracht hatte, und trat nach Abschluss meines Medizinstudiums eine Stelle in der Onkologie der Uniklinik Hamburg an. Nachdem ich ein Jahr lang hier gearbeitet hatte, beschlich mich das Gefühl, etwas ändern zu müssen. Ich hatte den Eindruck, aktiver werden zu müssen. In der onkologischen Klinik begleiteten wir zwar die Patienten, aber der Großteil der diagnostischen und therapeutischen Prozeduren (mit Ausnahme der Chemotherapie) wurde von anderen Abteilungen – wie beispielsweise der Chirurgie oder Radiologie – durchgeführt. Ich erinnerte mich an meine Nachtwachen auf der urologischen Station. Die Urologie beinhaltet extrem viel Onkologie (Tumoren der Nieren, Harnwege, der Blase, Prostata, des Penis und der Hoden), und die Urologen machten in diesem Fachgebiet alles selbst – Biopsien1, Operationen, Chemotherapien, ja sogar Bestrahlungstherapien. Zwar wäre ich damit einerseits auf die urologischen Tumoren festgelegt, hätte jedoch andererseits die Möglichkeit, sämtliche diagnostischen und therapeutischen Schritte selbst managen und durchführen zu können. Ich entschloss mich also zu einem Wechsel in die Urologie. Mein weiterer beruflicher Werdegang führte mich zunächst an die Urologische Universitätsklinik nach Marburg und später an die Urologische Universitätsklinik in Frankfurt am Main. In diesen Kliniken absolvierte ich meine Facharztausbildung zum Urologen. Meine Lehrzeit unterbrach ich für einen dreijährigen Forschungsaufenthalt im Labor von Professor Judah Folkman am Children’s Hospital der Harvard Medical School in Boston. Hier lernte ich das Wesen vom Krebs am besten kennen. An dieser Stelle möchte ich gerne anhand dreier Eigenschaften erklären, was Krebs bzw. bösartiges Wachstum für mich bedeuten: Bösartige oder entartete Zellen sind in uns – immer und zu jedem Zeitpunkt. Ich rede hier ganz bewusst von

bösartigen/entarteten Zellen und nicht von Krebs. Denn Krebs ist die umgangssprachliche Bezeichnung der ausgebrochenen Krankheit, von der wir selbstverständlich nicht zu jedem Zeitpunkt „befallen“ sind. Auch wenn in jedem von uns täglich mehrere Tausend – wahrscheinlich sogar mehrere Millionen – „entarteter“ (nicht mehr normal funktionierender) Zellen entstehen, ist nicht jede davon automatisch eine Zelle, die sich zu einem bösartigen Tumor entwickeln kann. Denn dafür müssten diese fehlerhaften Zellen über eine beträchtliche Ausstattung verfügen. Ein gewisser Teil der entarteten Zellen verfügt allerdings über genau diese Ausstattung. Was aber immer noch nicht heißen muss, dass tagtäglich bösartige Tumoren in uns wachsen. Die Erklärung dafür ist, dass unser Körper über hocheffiziente Reparatur- und Abwehrinstrumente für Krebszellen verfügt. Die Entstehung eines bösartigen Tumors beruht also nicht ausschließlich auf der Produktion „tumorfähiger“ Zellen, sondern auch auf einem Versagen der körperlichen Schutzfunktionen, die der Entwicklung von Krebs aus bösartigen Zellen normalerweise Einhalt gebieten. Bösartige Tumoren sind extrem anpassungsfähig. Was heißt das? Unsere Anpassungsfähigkeit an herausfordernde Lebensumstände (z. B. Kälte, Trockenheit, Dunkelheit etc.) ist eine großartige Fähigkeit, die uns als Spezies Mensch sehr weit gebracht hat. Evolution bedeutet Selektion und erfordert Anpassungsfähigkeit; nicht überlebens-, d. h. nicht anpassungsfähige Lebensformen sterben aus. Wenn bösartiges Wachstum in unserem Körper entsteht, verfügt es – wenn es erst einmal etabliert ist – über eine extrem ausgeprägte Anpassungsfähigkeit. Diese Anpassungsfähigkeit basiert auf der hohen Mutagenität der Krebszellen, die außerdem quasi über eine Art „Schwarmintelligenz“ verfügen: Nicht das Überleben der einzelnen Zelle ist das Ziel des Tumors, sondern das Überleben der Wachstumsform als solcher. Die Anpassungsfähigkeit der Krebszellen ist an mehreren Faktoren erkennbar: etwa an ihrer Wander-Fähigkeit (bösartiges Wachstum findet nicht nur im Ursprungsorgan statt, sondern in Form von Metastasen (Tochtergeschwülsten) auch weit davon entfernt, in völlig

anderen Organen; aber auch an der Kontinuität und Geschwindigkeit des bösartigen Wachstums (das sich anscheinend mit Leichtigkeit an die äußeren und inneren Bedingungen des Tumorwirtes – also „seines“ Menschen – anpassen kann. Die wahrscheinlich effizienteste Anpassungsleistung ist aber die nahezu unbegrenzte Reaktionsmöglichkeit eines Tumors auf externe Einflüsse wie Tumortherapien, sei es eine Tumorreduktion durch Chirurgie, eine Bestrahlung oder eine medikamentöse Therapie. Bösartige Zellen verfügen über „ewiges Leben“. Dadurch, dass sie die Mechanismen der Begrenzung der Zellteilungen, denen eine Normalzelle unterworfen ist, ausschalten können, ist es den Tumorzellen möglich, sich ohne Limit zu reproduzieren. Der Alterungsprozess des menschlichen Organismus beruht auf dem Ausbleiben von Zellersatz2 nach dem Erreichen der jedem Zelltyp vorgegebenen Zellteilungsrate sowie auf der Ansammlung von „Müll“ (Abbauprodukten) in den sich in Seneszenz befindlichen Zellen. Tumorzellen umgehen beide Alterungsmechanismen durch ihre unbegrenzte Teilungsfähigkeit, so dass ein bösartiger Tumor nicht nur über ewiges Leben, sondern auch über einen eingebauten „Jungbrunnen“ verfügt. Zellkulturen aus bösartigen Tumoren von Patienten aus den 1950er Jahren teilen sich heute immer noch. Die „Lebensspanne“ eines bösartigen Tumors wird nach heutigem Wissen einzig und allein durch die komplette Ausrottung der Zellen in seinem Wirt durch innere Faktoren (das Immunsystem) oder äußere Faktoren (eine Therapie) oder durch das Sterben des Wirtes selbst beendet, ohne dessen Existenz die Tumorzellen nur überleben können, wenn sie in einem geeigneten neuen Wirt (per Infektion) landen oder in Zellkultur gepflegt werden. Da die Krebs-Infektion von Wirt zu Wirt extrem unwahrscheinlich ist und auch nicht jeder Tumor in einer Zellkultur am Leben erhalten werden kann, limitiert sich das individuelle bösartige Wachstum in den allermeisten Fällen selbst.

Die drei angeführten Charakteristika machen das Wesen einer Krebserkrankung aus. Durch sie wirken die verschiedenen Tumoren nahezu intelligent. Sie entkommen den therapeutischen Bemühungen der Wissenschaftler und Ärzte immer wieder. Die größten Herausforderungen für den Mediziner bestehen darin, dass Krebszellen körpereigen sind (im Gegensatz zu Bakterien, die man bekämpfen kann, ohne dem eigenen Körper allzusehr zu schaden – das ist bei Krebs bisher kaum möglich) und dass sie immer wieder Resistenzen gegen die angewendeten Therapiemaßnahmen (insbesondere Chemotherapien und Bestrahlungstherapien) entwickeln. Das war früher so und hat sich bis heute nicht wesentlich verändert. Schwenk zurück zu meinem beruflichen Werdegang: Während meiner wissenschaftlichen Arbeit in Boston lernte ich nicht nur das Wesen von Krebs detailliert kennen, sondern auch, was es bedeutet, ein verantwortungsvoller, engagierter und faszinierter Arzt und Wissenschaftler zu sein. Das wurde mir in vielen persönlichen Gesprächen (zumeist tief in der Nacht in unserem Labor) mit meinem damaligen Chef Judah Folkman klar, der mir echtes Berufsethos vorgelebt hat.3 Zurück in Frankfurt, schloss ich meine Facharztausbildung ab, forschte intensiv im Bereich der Onkologie weiter, habilitierte für das Fach Urologie, wurde Oberarzt der Urologischen Universitätsklinik in Frankfurt am Main und praktizierte die „große Tumorchirurgie“: Ich wurde verantwortlicher Operateur für maximale onkologische Eingriffe wie beispielsweise die Entfernung einer krebsbefallenen Prostata oder Harnblase. Dann begann ich mich um Chefarztpositionen in urologischen Kliniken zu bewerben. Bei den Verhandlungsgesprächen wurde mir bald klar, dass die meisten Kliniken keinen Chefarzt im eigentlichen Sinne suchten – also jemanden, der der Abteilung seinen Stempel aufdrückt und in puncto Patientenversorgung, Forschung und Lehre gleichermaßen engagiert und ehrgeizig ist. Viele Kliniken beschränken ihre Ansprüche an einen Chefarzt nämlich auf das Ableisten von Operationen. Eine derartige Einschränkung meines

Aufgaben- und Handlungsspielraumes war für mich keine erstrebenswerte Perspektive. Nach einigen Jahren zog ich die Konsequenzen und machte mich selbstständig. Heute bin ich mit großer Freude Teil eines Teams, das aus fünf engagierten Urologen besteht. Wir versorgen ambulante Patienten, operieren sowohl ambulant als auch stationär und sind wissenschaftlich tätig. Als Krönung meiner „Freiheit“, die ich erstrebt und nun auch bekommen hatte, habe ich dieses Buch geschrieben. Ich fasse meine Ausführungen noch einmal kurz zusammen: Hatte ich selber Krebs? – Nein. Hatte ich engen persönlichen Kontakt zu Krebserkrankten? – Ja. Habe ich Erfahrung mit der allgemeinen Onkologie? – Ja. Habe ich Erfahrung in der Krankenhausarbeit? – Ja. Habe ich Erfahrung im onkologisch-chirurgischen Bereich? – Ja. Habe ich Erfahrung mit der konservativen onkologischen Therapie? – Ja. Habe ich Erfahrung im onkologisch-wissenschaftlichen Bereich? – Ja. Habe ich Erfahrung im onkologisch-ambulanten Bereich? – Ja. Habe ich Erfahrung mit Kommunikation? – Ja. Vertrete ich einen umfassenden, objektiven und vorurteilsfreien Ansatz? – Ja.

Und nun ist der Leser an der Reihe, zu entscheiden, ob er meinen Ausführungen weiterhin folgen will oder nicht. Falls ja: Was erwartet ihn in den einzelnen Kapiteln? Das nächste Kapitel basiert auf meinen theoretischen und praktischen Erfahrungen aus über 20 Jahren Wissenschaft und Tumormedizin. Hier habe ich exemplarische Fakten zusammengetragen, die das Wesen der Krebserkrankungen definieren und den Umgang mit ihnen illustrieren. Außerdem weise ich auf zahlreiche Probleme in den unterschiedlichen Bereichen der Krebsmedizin hin, mit denen Betroffene wahrscheinlich konfrontiert werden. In Kapitel 3 folgt eine Einführung in die biologischen Grundlagen der Tumorerkrankungen. Kapitel 4 beschreibt, wie ein Arzt bei der Diagnosestellung vorgeht. Kapitel 5 beleuchtet die verschiedenen therapeutischen Maßnahmen. Das letzte Kapitel blickt in die Zukunft der Krebsforschung und streift kurz die Psychologie von Handlungsmotivation und Entscheidungsfindung. All diese Informationen sollen dem Leser dazu dienen, Krebs „zu verstehen“. Für einen Betroffenen bedeutet eine schwere Erkrankung im Allgemeinen und Krebs im Besonderen vor allem eines: Entscheidungen zu treffen. Da ich aus meiner täglichen Arbeit mit Patienten weiß, dass schwerwiegende Diagnosen bei vielen zu einer Panikreaktion führen – mit der Konsequenz falscher, oft irrationaler Entscheidungen –, hätte ich bereits viel erreicht, wenn es mir mit diesem Buch gelingt, die Aufmerksamkeit des Lesers für diese fatalen Verhaltensmuster zu schärfen und ihm eventuelle irrationale Reaktionen bewusst zu machen. Ohne profundes Wissen ist es kaum möglich, richtige Entscheidungen zu treffen und seine eigene „Krebs-Strategie“ zu entwickeln. Ich hoffe, mit meinem Buch möglichst vielen Menschen ein „Werkzeug“ in die Hand zu geben, damit sie in derartigen Situationen vom Wissen getragene, rationale Entscheidungen für sich selbst treffen oder anderen bei ihrer Entscheidungsfindung helfen können. Weiterhin soll das Buch einen detaillierten Einblick in unser System der Krebsmedizin – mit all seinen Akteuren und Institutionen – ermöglichen. Schwachpunkte, Widersprüche und Verbesserungsmöglichkeiten werden aufgezeigt und sollen zum Handeln im Sinne der Verbesserung des Systems ermutigen.

1 Die fett gedruckten Begriffe werden im Glossar erläutert. 2 „Seneszenz“ genannt 3 Mehr über ihn und die schwierige Arbeit eines Pioniers der Krebsforschung kann der Leser in Robert Cookes lesenswertem Buch Dr. Folkman’s War erfahren.

2.

Das Krebs-Puzzle

Körper und Geist des homo sapiens gehören zweifelsohne zu den ausgefeiltesten und am besten funktionierenden Errungenschaften der Evolution. Das Instrument, dem wir unsere intellektuellen Fähigkeiten verdanken, ist unser Gehirn und seine Intelligenzleistung. Wir haben zwar, verglichen mit dem Tierreich, nicht die besten Augen, nicht die stärksten Muskeln und nicht die größte Ausdauer, aber unser Intellekt ermöglicht es uns, jedes dieser Defizite durch Denken und Entwerfen, den Gebrauch von Werkzeugen und die Herstellung von Maschinen oder anderen Hilfsmitteln auszugleichen. Andererseits zeigt unser Körper – genau wie unser Denken – allerlei Schwächen. Sowohl Körper als auch Gehirn produzieren regelmäßig „Ausschussware“: organische Krankheiten wie Krebs oder fehlerhafte Denk- und Urteilsleistungen. Wie ich in Kapitel 3 zeigen werden, laufen in den Zellen des menschlichen Körpers in jeder Sekunde unvorstellbar viele Mechanismen ab, die natürlich auch fehleranfällig sind. Theoretisch würde diese Erkenntnis schon genügen, um Erkrankungen wie Krebs zu erklären. Der Mensch ist allerdings deutlich mehr als das: ein denkendes und fühlendes Wesen, das sich auf unterschiedlichen Ebenen an seine Umwelt anpassen muss. Hierzu bedarf es spezialisierter Systeme – etwa der Denkleistungen und der Psyche, die unser Handeln steuern, sowie des Immunsystems, das uns vor Angriffen (sei es von außen oder innen) schützt. Psyche und Immunsystem haben große Bedeutung für die Gesundheit des Menschen. Auch die Psyche kann erkranken – etwa

bei Depressionen oder Schizophrenie – oder bei der Entstehung von psychosomatischen Krankheiten (z. B. Magengeschwüren) mitverantwortlich sein. Das Immunsystem bildet durch ein ausgeklügeltes Netzwerk von zellulären und proteinogenen4 Faktoren eine effektive Abwehrbarriere gegen Krankheitserreger von außen (Bakterien, Viren) und spielt auch eine wichtige Rolle bei der Kontrolle und dem Abbau der täglich entstehenden fehlerhaften Proteine und Zellen (also auch von Krebszellen) in unserem Körper. Nun kann aber auch das Immunsystem in Form von Autoimmunerkrankungen, bei denen es sich paradoxerweise gegen körpereigene, funktionierende Strukturen wendet, erkranken. Schwächen des Immunsystems spielen wahrscheinlich eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entstehung von Krebs. Man hat festgestellt, dass bestimmte Krebserkrankungen bei Menschen mit Immunschwäche5 deutlich häufiger als in der Normalbevölkerung auftreten. Viele Patienten bringen die Entstehung ihrer Krebserkrankung auch mit einer starken emotionalen Belastung in Zusammenhang – wahrscheinlich zu Recht: Seit Mitte der 1970er Jahre ist eine gegenseitige Beeinflussung von Immunsystem, Nervensystem und Psyche definitiv nachgewiesen. Basierend auf diesen Erkenntnissen haben sich Wissenschaftszweige wie die Psychoimmunologie und die Immunonkologie entwickelt.6 Wenn wir über die Funktionsweise des Lebens als Grundlage des Verständnisses von Krankheit sprechen, müssen wir außer den genetischen, proteinogenen und zellulären Faktoren auch das Individuum als Ganzes im Auge behalten. Nur so lässt sich eine so komplexe Erkrankung wie Krebs ergründen und das Wesen von Krebs verstehen. Insbesondere in den Bereichen der Interaktionen und Überschneidungen der unterschiedlichen Felder wie Genetik, Zellbiologie, Immunologie und Psychologie gibt es noch viel zu erforschen. Erst dann können wir von einem Gesamtbild der Funktionen des Lebens sprechen und unsere Suche nach einer adäquaten Therapie wissensbasiert durchführen. Die Probleme der effektiven Behandlung einer Krebserkrankung liegen aber nicht ausschließlich in der Erkrankung an sich, sondern zu einem erheblichen Teil in unserer Verhaltensweise, also darin, wie

wir mit einer bedrohlichen Situation im Allgemeinen umgehen; darüber hinaus machen gewisse Faktoren unseres Gesundheitssystems, beispielsweise wirtschaftliche Konkurrenz oder zeitliche bzw. finanzielle Zwänge, es den Betroffenen nicht leicht, ihr erstrebtes Ziel – die Heilung der Krebserkrankung – zu erlangen. Umso mehr ist es von größter Wichtigkeit, dass jedem, der mit Krebs direkt oder indirekt in Berührung kommt, bewusst wird, warum er gerade so reagiert, wie er reagiert, warum verschiedene Ärzte unterschiedliche Therapien empfehlen und wie das alles mit dem hiesigen Gesundheitssystem zusammenhängt. Um das Wesen vom Krebs zu verstehen, reicht es deshalb nicht – auch wenn das ein sehr wichtiger Faktor ist – sich mit den biologischen Grundlagen der Erkrankung und den diagnostischen und therapeutischen Verfahren auszukennen. Man muss auch die Hintergründe verstehen, also durchblicken, wer die Akteure des Systems sind – Ärzte, Wissenschaftler, Unternehmer etc. In erster Linie sollte man aber sich selbst und seine menschlichpsychischen Limitationen kennen. Jede unserer Handlungen ist positiv motiviert – auch wenn das nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Ein Triathlet, der sich durch wochen- und monatelanges Training quält (was für eine zweite Person nicht nachvollziehbar sein mag), erträgt Schmerzen und Entbehrungen, um irgendwann den Pokal nach Hause zu tragen, den er jetzt schon – während er trainiert und ächzt – vor seinem inneren Auge sieht. Ein anderer Sportler erlebt allein schon durch sein Training so viel positive Rückkopplung, dass er es regelmäßig in seinen Alltag integriert. Warum er das tut, erschließt sich auch nicht jedermanns Verständnis, obwohl es inzwischen zum common sense gehört, dass Sport in gewissem Umfang gesund und vernünftig ist. Abgesehen davon, ob nun aus Vernunftgründen oder um des Pokals wegen geschwitzt wird: Unsere Handlungen sind in der Tat nicht immer so vernünftig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Oft sind sie durch die Evolution oder unsere Gewohnheiten geprägt und geradezu unvernünftig – siehe nächstes Kapitel.

2.1 Am Anfang steht die Angst Zu Beginn jeder Auseinandersetzung mit Krebs steht meistens der vom Arzt ausgesprochene Krebsverdacht. In dieser Sekunde beginnt für den Betroffenen eine schlimme Zeit der Ungewissheit, die sich gelegentlich lange hinziehen kann – so lange, bis der Verdacht ausgeräumt oder bestätigt wird. Diese Ungewissheit ist für die meisten Menschen schwer zu ertragen – genauso aber ist auch die Gewissheit, an Krebs erkrankt zu sein, mit großer Angst verbunden, handelt es sich doch um eine Krankheit mit nicht selten tödlichem Verlauf. Wie soll man sich nun verhalten? Bewusst entscheiden kann man das kaum, denn es sind zuallererst häufig reflexartige und emotionale Verhaltensweisen, mit denen wir auf die Diagnose Krebs reagieren. Die Evolution hat uns nämlich so geprägt, dass wir auf Gefahr und Angst mit einer Fluchtreaktion antworten. Diese wird von unserer Vernunft nicht hinterfragt und kann in gewissen Situationen auch ganz sinnvoll sein. Wenn wir vom Säbelzahntiger gejagt werden, bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken: „Rennen!“ lautet die Devise. Langes Überlegen, in welche Richtung in dieser Situation am besten zu rennen sei, würde das Risiko vergrößern; die automatische, instinktive Fluchtreaktion setzt sofort ein und befiehlt unseren Beinen, ihr Bestes zu geben. Dabei kann es natürlich vorkommen, dass man in eine Sackgasse läuft und trotz neuem Geschwindigkeitsrekord als Frühstück des Säbelzahntigers endet; hätte man jedoch wertvolle Zeit und Energie mit dem Austüfteln der optimalen Fluchtroute vergeudet, wäre die Wahrscheinlichkeit des

Gefressen-Werdens ungleich größer – daher der evolutionäre Vorteil beim unüberlegten Davonrennen. Auch wenn eine schwerwiegende Diagnose kein Säbelzahntiger ist, passiert es doch sehr häufig, dass insbesondere bei Krebserkrankungen so etwas wie „mentale Kurzschlüsse“ auftreten. Rationale, der Situation angemessene Reaktionen sind geradezu die Ausnahme und meistens das Ergebnis einer bewussten geistigen Anstrengung.7 Ein Beispiel für einen Fluchtversuch: Unlängst hatte ich einen Patienten, den ich wegen eines Prostatakarzinoms in meiner Praxis ausführlich beriet. Nach langem Gespräch kamen wir gemeinsam zu dem Ergebnis, dass eine Bestrahlungstherapie der Prostata in seinem Fall die beste Therapiemaßnahme sei. Ich hatte ausreichende Daten zur Verfügung und insgesamt ein gutes Gefühl, dass wir seine Tumorerkrankung in den Griff bekommen würden. Nach sieben Monaten kam ein Anruf vom Hausarzt des Patienten: Dieser stecke in Schwierigkeiten und benötige sofortige Hilfe, traue sich jedoch nicht, zu mir zu kommen. Bei mir läuteten alle Alarmglocken. Ich bat den Hausarzt, den Patienten davon zu überzeugen, dass er dringend bei mir vorstellig werden müsse. Eine Woche später saß Letzterer mir tatsächlich gegenüber. Was war geschehen? Nach unserer gemeinsamen Entscheidung war er guten Mutes gewesen und wollte die empfohlene Strahlungstherapie der Prostata auf jeden Fall durchführen lassen. Nachdem er aber mit einem Bekannten über sein Vorhaben gesprochen hatte und dieser ihm empfahl, sich nach der tollen, „sanften“ Behandlungsmethode zu erkundigen, von der eine entfernte Bekannte dieses Bekannten gehört hatte und die ihn von den „schlimmen Nebenwirkungen“ verschonen würde, kam er vom ursprünglich gewählten Weg ab. Er landete bei einem Behandlungsinstitut, wo sein Prostatakarzinom zwar ohne Nebenwirkungen, dafür aber mit einer nicht komplett evaluierten – also wissenschaftlich überprüften – Methode behandelt wurde. Ich erfuhr nun, dass er zwar keinerlei Komplikationen oder Nebenwirkungen durch die Therapie zu beklagen hätte, seine private Krankenversicherung eine vollständige Übernahme der

Behandlungskosten jedoch ablehnte. Der Patient saß plötzlich auf 7.000 Euro Kosten. Viel schlimmer war jedoch, dass der Verlauf des PSA-Wertes (ein Tumormarker für das Prostatakarzinom, den ich in Kapitel 4 beschreiben werde) ein Weiterbestehen und Wachsen des Prostatakarzinoms anzeigte – die Behandlung des Tumors hatte sich als unzureichend erwiesen. Der Patient saß vor mir wie ein Häufchen Elend, von Angst und vernichtenden Selbstvorwürfen geplagt – dabei handelte es sich keinesfalls um einen einfältigen Menschen, ganz im Gegenteil: Er ist ein hochgebildeter Akademiker. Er hatte sich in seinem persönlichen Netzwerk schlau gemacht – war das falsch gewesen? Sich zu informieren ist meiner festen Überzeugung nach prinzipiell richtig – man muss nur sehr genau auf die Qualität der Information achten. Wie sieht es mit dem Internet als Informationsquelle aus? Im Kontext Krebs ist es nicht immer der beste Berater. Es bietet zwar jede Menge korrekter Informationen zu Krebserkrankungen und therapien; Betroffene tendieren jedoch ohne den Beistand eines erfahrenen Arztes oder profunden Kenners der Materie eher dazu, nach einer Behandlungsmethode zu fahnden, die sanft, unkompliziert und nebenwirkungsfrei zu sein verspricht. Ich sage immer: Dr. Google ist ein mäßiger Arzt. Was aber nicht heißen soll, dass es von der Hand zu weisen ist, wenn Betroffene das Internet oder andere Informationsquellen (Bücher, Fachzeitschriften, wissenschaftliche TV-Sendungen etc.) durchforsten, um sich im Krankheitsfall auf das Gespräch mit dem Arzt8 vorzubereiten. Das kann die Kommunikation zwischen Patient und Arzt beträchtlich verbessern – und diese ist, wie wir gleich sehen werden, von allergrößter Wichtigkeit.

Mit Ärzten reden: Kommunikation rund um Krebs Kommunikation ist ein weit gefasster Begriff, der in viele Aspekte unseres täglichen Lebens hineinwirkt. Nicht umsonst gibt es ganze Wissenschaftszweige, die sich mit dem Thema Kommunikation befassen (Kommunikationstechnik, Kommunikationswissenschaften, Kommunikationsverhalten etc.).

Ich werde mich im Folgenden aber nur auf den Austausch von Information zwischen den von Krebs Betroffenen und ihren Beratern und Behandlern beziehen und diese Auswahl noch einmal einschränken, indem ich hier vor allem auf den mündlichen Aspekt fokussiere. Die Kommunikation zwischen Menschen ist schon an und für sich nicht immer frei von Missverständnissen; in einer Extremsituationen jedoch, wie sie bei schwerwiegenden Erkrankungen gegeben ist, potenzieren sich die Probleme. Vom Moment der Diagnosestellung an leidet ein Betroffener häufig unter starken Angstgefühlen, die sich zu regelrechten Panikattacken steigern können, und empfindet sich nicht selten als Fremdkörper in einer Welt von Gesunden. Trotz dieses deprimierenden Gefühls wünscht er sich in seiner schwierigen Lage wahrscheinlich besonders viel Kontakt zu Angehörigen und Freunden – ein Widerspruch, der durchaus Kommunikationsprobleme herbeiführen kann. Dafür, wie ein Betroffener in dieser Situation anzusprechen und zu behandeln ist, gibt es leider kein Patentrezept – weder für den Arzt noch für Angehörige, Freunde oder Bekannte. Jeder Betroffene braucht aber Unterstützung und Zuspruch. In vielen Fällen ist deshalb eine frühzeitige psychoonkologische Begleitung sinnvoll. Neben der Kommunikation im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis spielt die Kommunikation und gute Verständigung zwischen Arzt und Betroffenem eine essentielle Rolle. Arzt und Patient gehen im Falle einer derart schweren Erkrankung wie Krebs eine längerfristige und sehr enge Beziehung ein. Noch ein Umstand ist hier zu erwähnen: Die Spezialisierung in der Medizin ist der Grund dafür, dass eine Krebserkrankung oft nicht nur von einem Arzt diagnostiziert und behandelt wird. Das bedeutet, dass der Betroffene auf den Rat und die Hilfe von gleich mehreren Medizinern, die er in den meisten Fällen auch noch zum ersten Mal in seinem Leben sieht, angewiesen ist. Mit allen sollte er wirklich gut kommunizieren können. Das Anamnesegespräch9 stellt die Grundlage der Diagnosefindung dar und darf in seiner Bedeutung keinesfalls unterschätzt werden. Hier möchte ich einen weiteren wichtigen Aspekt der Kommunikation hervorheben: Kein Arzt erwartet von seinen Patienten, dass sie zu allem Ja und Amen sagen. Besser wäre

ihre Mitarbeit. Sie bedeutet mehr als die gewissenhafte Einnahme der vom Arzt verordneten Medikamente, was in der Medizin als Compliance (Therapietreue) bezeichnet wird. Sicherlich ist die Compliance des Patienten wichtig – ohne Medikamente keine Wirkung. Da es aber bei einer Krebserkrankung keinesfalls die Regel ist, dass gleich bei der ersten Medikamentengabe die richtige und im individuellen Fall beste Therapie gefunden wird, ist der Arzt auf Signale und Rückmeldungen über das aktuelle Patientenbefinden, über Verbesserungen oder Verschlechterungen durch die verabreichte Therapie und über eventuelle neue Befunde angewiesen. Es ist deshalb von großem Vorteil für den Betroffenen, wenn er die beobachteten und erlebten Veränderungen so objektiv wie möglich beschreiben kann. Für eine gelungene und zielführende Kommunikation ist allerdings nicht der Betroffenene allein verantwortlich. Auch der Arzt muss sich in seinem Kommunikationsverhalten auf den jeweiligen Patienten einstellen. Ärzte beherrschen normalerweise durch die im Laufe der Jahre gesammelten Erfahrungen die Gesprächsführung mit ihren Patienten gut – dennoch ließe sich diese ganz sicherlich durch eine spezielle Aus- und Weiterbildung verbessern. Allerdings gibt es einen weiteren Aspekt, der eine effektive Kommunikation behindert – und zwar: Ein Arzt muss jeden Tag viele Patienten behandeln und sich innerhalb weniger Minuten auf den nächsten Befund, eine neue Situation und eine andere Kommunikationsstrategie einstellen – der eine Gesprächspartner ist temperamentvoll und kann sich gut ausdrücken, der andere ist verschlossen oder unsicher etc. Schafft der Arzt das, ist schon viel gewonnen – vor allem, wenn der Betroffene sich als informierter, ambitionierter und ehrlicher Gesprächspartner erweist. Eine schlechte Compliance hinsichtlich der Medikamenteneinnahme zu haben, diese jedoch nicht zu kommunizieren – sei es aus Angst, falsch verstandenem Respekt oder sonstigen Gründen –, ist die schlechteste Konstellation. Ein Betroffener hat quasi immer einen Grund für eine schlechte Compliance, sollte darüber aber unbedingt mit seinem Arzt sprechen. Es gilt dann, gemeinsam einen Weg zu finden, der für beide akzeptabel ist. Das heißt: Der Betroffene muss von seinem Arzt ganz genau darüber informiert werden, welche Vor-

oder Nachteile die Abkehr von der ursprünglich verordneten Medikation oder Therapie für ihn hat. Dann sollte der Arzt eine alternative Therapie vorschlagen und alle damit verbundenen Vorund Nachteile aufzeigen. Erst mit diesem Wissen kann der Betroffene eine rationale Entscheidung darüber treffen, ob er die zur Non-Compliance (Therapieuntreue) führenden Gründe überwinden oder eine veränderte Therapie aufnehmen möchte. In der Regel sind die Hausärzte10 die primären Ansprechpartner für Menschen, die über eine Veränderung an ihrem Körper oder bezüglich ihres Wohlbefindens (also über einen Befund oder ein Symptom) besorgt sind. Auch bei der Erstdiagnose von Krebserkrankungen spielen Hausärzte eine große Rolle. Mit ihrer Ausbildung sind sie durchaus dazu befähigt, die oft unspezifischen ersten Symptome einer Krebserkrankung als solche zu erkennen. Für die weitere Abklärung auffälliger Befunde ziehen die Hausärzte meistens entsprechende Spezialisten – wie z. B. Fachärzte für Urologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Gynäkologie etc. – hinzu. Manchmal kennen sich Hausärzte aber auch mit einigen speziellen Tumorerkrankungen sehr gut aus; dann können sie die diagnostische Abklärung übernehmen. Wichtig ist in dieser Situation weniger die fachärztliche Ausrichtung des Arztes als die Tatsache, dass er die Befähigung und Erfahrung für die Erstellung der Diagnose besitzt. Ob es sich dabei um den speziell orientierten Allgemeinmediziner oder einen spezialisierten Facharzt handelt, ist unerheblich. Auch ein Facharzt für Urologie muss sich nicht unbedingt besonders gut mit dem onkologischen Teil seines Faches auskennen. Schon ein kleines Fach wie die Urologie – um nur ein Beispiel zu nennen – ist heutzutage so umfangreich, dass es unter den Urologen bereits zahlreiche Subspezialisten gibt. Vielleicht interessiert sich der örtliche Urologe viel mehr für Kinderurologie oder Neurourologie und behandelt zwar auch uroonkologische Patienten, aber eben nicht mit demselben Enthusiasmus und demselben fundierten Wissen wie eventuell der Urologe aus dem Nachbarort, dessen Spezialgebiet die Uroonkologie ist. Bei der heutigen Komplexität der Medizin und dem rasanten Wissenszuwachs in all ihren Bereichen kann man sogar noch weiter gehen und sagen, dass ein Urologe, dessen Hauptinteresse dem Prostatakarzinom gilt, noch lange kein

Spezialist für das Blasenkarzinom sein muss, obwohl beide Erkrankungen demselben Fachgebiet angehören. Man darf hier generalisieren: Onkologen kennen sich mit manchen Krebserkrankungen besser aus als mit anderen. Und zwar nicht, weil der Arzt oder seine Ausbildung zu wünschen übrig lassen, sondern wegen der Menge an medizinischer Information. Wichtig ist lediglich, dass der für die jeweilige Tumorerkrankung geeignete Arzt gefunden wird. Hier einige Richtlinien: Der behandelnde Arzt sollte sich auf jeden Fall mit dem den Patienten betreffenden Bereich sehr gut auskennen und entsprechend viel Untersuchungs- und Behandlungserfahrung aufweisen, um der aufwendigen Diagnostik und Therapie gewachsen zu sein. Dabei ist „viel Erfahrung“ natürlich eine relative Bezeichnung. Ein Anhaltspunkt wäre etwa, dass ein Chirurg eine schwierige Operation erst dann wirklich beherrscht, wenn er sie seit mehreren Jahren regelmäßig durchführt und dabei mehr als 150 solcher Operationen pro Jahr leistet. Diese Information kann und sollte der Betroffene einfach bei seinem Arzt erfragen. In der Frühphase der Abklärung eines Symptoms gibt es praktisch keinen fataleren Fehler, als die Diagnostik nicht konsequent durchzuführen – das heißt z. B., Symptome zu bagatellisieren. Jedes Symptom muss bis zum Beweis des Gegenteils für den Arzt das Symptom einer Maximalerkrankung sein – also des Schlimmstmöglichen. Kann er den Verdacht dann durch die vorgenommene Diagnostik ausschließen, ist es gut. Die ärztliche Kunst besteht hier darin, den Befund einerseits nicht zu bagatellisieren, andererseits aber auch keine übertriebene Abklärung mit aufwendigen und beeinträchtigenden Untersuchungen zu veranlassen. Die Aufgabe des Arztes ist es, die richtige Balance zu finden, und das ist nicht immer einfach.

Die Suche nach dem richtigen Arzt Was bedeutet denn nun Spezialist oder Experte und wie findet ein Betroffener „seinen“ Arzt? Im Internet gibt es zahlreiche

Ärztebewertungsportale, die Patientenbewertungen der Ärzte veröffentlichen. Der Focus gibt jährlich eine Liste der besten Spezialisten für bestimmte Erkrankungen (darunter natürlich auch Krebserkrankungen) heraus, aus der inzwischen ein Buch geworden ist: Deutschlands umfangreichste Ärzteliste (2012). Außerdem verfügt jeder in einer Praxis tätige – also niedergelassene – Arzt über ein Netzwerk von Kollegen aus anderen Fachrichtungen, zu denen er bei speziellen Fragestellungen überweist. Aber wie gut helfen die Ärztebewertungsportale dem Betroffenen wirklich – und garantieren sie, dass er in die richtigen Hände kommt? Ich denke, dass sie einen guten Überblick über die Angebote in der Region oder auch überregional vermitteln. Es zahlt sich jedenfalls aus, Zeit in die Suche nach dem richtigen Arzt zu investieren und nichts zu übereilen. Der beste Arzt für eine Prostataoperation z. B. zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er gut aussieht, nett ist, viel publiziert hat, besonders viele Methoden zur Prostataoperation anbietet oder eine schicke Praxis hat. Das einzige Kriterium, das einen Arzt als guten Prostataoperateur auszeichnet, ist die Qualität, in der er diese Operation durchführt. Aber auch wenn er ein Top-Chirurg auf seinem Gebiet ist, muss das nicht heißen, dass er für den Betroffenen der beste Arzt ist. Abgesehen von der Qualifikation des beratenden und diagnostizierenden Arztes, die außer Frage stehen muss, gibt es zwischenmenschliche Faktoren, die bei der Auswahl des richtigen Arztes wichtig sind. Gerade in der Beziehung zwischen Arzt und Patient sollte die Chemie stimmen. Sind Arzt und Patient völlig unterschiedlicher Natur oder repräsentiert der Arzt einen Charaktertyp, mit dem der Patient überhaupt nicht auskommt, so ist eine Zusammenarbeit verständlicherweise schwierig. Ein Betroffener ist gut beraten, in einer derartigen Situation rasch zu handeln und die Kooperation (was eine Krebsbehandlung immer sein sollte!) zu beenden. Allerdings muss der Arzt genug Gelegenheit erhalten haben, seine Qualitäten unter Beweis zu stellen; der Patient sollte derartige Entscheidungen nicht von der Tagessituation abhängig machen. Jeder hat gute und schlechte Tage – auch ein Arzt. Zur Veranschaulichung: Stellt man sich als behandelnde Ärzte zwei Extreme vor, so gibt es an einem Ende der Skala den etwas introvertierten, unspektakulären Bürokraten und

hundertprozentigen Verfechter der sogenannten leitlinientreuen Medizin11, der gelegentlich schon ungehalten wird, wenn ein Patient die von ihm empfohlenen Behandlungsschemata nicht genauestens befolgt. Am anderen Ende steht der mit Empathie ausgestattete Arzt, der sich optimal in den Patienten hineinversetzen kann und viel Verständnis demonstriert. In den meisten Fälle wird ein Patient den empathischen Arzt vorziehen; ich weiß aber aus meiner ärztlichen Erfahrung, dass dieser die Patienten nicht unbedingt besser vorbereitet, versorgt und behandelt als sein strengerer Kollege. Es wäre ein Fehler, die Empathie eines Arztes mit seiner Kompetenz zu verwechseln – wobei für den anderen Kollegen natürlich dasselbe gilt: Stures Festhalten an den Leitlinien heißt nicht unbedingt Kompetenz. Fazit: Der in meinen Augen perfekte Arzt arbeitet grundsätzlich auf Basis einer vorliegenden Leitlinie (dazu gleich mehr) und ergänzt diese mit aktuellen, wissenschaftlich überprüften Studienergebnissen. Er bezieht den Patienten und dessen Ziele in seine Entscheidungen mit ein; die Kommunikation mit dem Patienten und dessen Angehörigen ist ehrlich und verständlich. Seine Charakterzüge entsprechen den Vorstellungen des Patienten oder erscheinen ihm zumindest akzeptabel. Im Idealfall verfügt der gewählte Arzt sowohl über ein hohes diagnostisches und therapeutisches Wissen als auch über ein gutes Maß an Empathie.

Hilfe für Ärzte: Leitlinien Krebspatienten zu versorgen ist keine Routinearbeit. Jeder Betroffene ist einzigartig, und auch seine Erkrankung ist ganz individuell. Es ist zwar erfreulich, dass sich das onkologische Wissen rasant vermehrt; dies bringt aber auch gewisse Probleme mit sich: Trotz ständigen Engagements in seiner Praxis muss ein Arzt – wissenschaftlich betrachtet – auf dem Laufenden bleiben. Vielleicht spricht ja der Patient, den er gerade behandelt, auf einen neuen Therapieansatz besonders gut an. Wie behält er aber den Überblick über die fast täglich veröffentlichten onkologischen Neuigkeiten?

Eine große Hilfe beim Bestreben, der Flut neuer Informationen Herr zu werden, stellen Behandlungsrichtlinien in Form von Leitlinien dar. Diese Leitlinien sind wahre Wälzer: Die aktuelle Leitlinie zum Bronchialkarzinom12 beinhaltet beispielsweise 164 Seiten, zum Mammakarzinom13 362 Seiten und zum Prostatakarzinom14 mehr als 600 Seiten. Die Leitlinien bilden die neuesten Errungenschaften zu den diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweisen der einzelnen Tumoren in gebündelter Form ab. Leitlinien erscheinen in unterschiedlicher Qualität. Diese Qualität reicht von der reinen „Handlungsempfehlung von Experten“ (S1Leitlinie) über die strukturierte Konsensfindung (S2k-Leitlinie) und die systematische Evidenzbasierung (S2e-Leitlinie) bis hin zur höchsten Qualität, der strukturierten Konsensfindung mit systematischer Evidenzbasierung (S3-Leitlinie). Für die Erstellung insbesondere der S3-Leitlinien setzt sich ein Gremium aus zahlreichen Experten verschiedener, in die Fragestellung der untersuchten Tumorerkrankung involvierter Fachärzte zusammen und diskutiert in unendlichen Sitzungen über die Ausgestaltung der Leitlinie. Dabei wird die aktuelle Literatur zum Thema gesichtet; die wissenschaftlichen Artikel werden nach einem genau vorgegebenen Muster in Evidenzklassen eingeteilt. Basierend auf den Evidenzgraden werden im festgelegten Konsensusverfahren Empfehlungsgrade (A = soll; B = sollte; C = kann) für diagnostische und therapeutische Maßnahmen vergeben und in die Leitlinie aufgenommen.15 Bis zum Erscheinen einer Leitlinie in Schriftform vergehen zumeist Jahre. Das Veröffentlichungsdatum der Leitlinie verzögert sich überdies nicht selten wegen schwieriger Konsensfindung. Sind alle Hindernisse überwunden, wird die Leitlinie üblicherweise von der Fachgesellschaft, in deren Zuständigkeitsbereich der behandelte Tumor fällt, herausgegeben. Leitlinien sind mit einem Verfallsdatum versehen; ab diesem Zeitpunkt muss eine überarbeitete oder aktualisierte Version vorliegen. In der Regel sind Leitlinien etwa drei bis fünf Jahre lang gültig. In Deutschland werden die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften zentral durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

publiziert, verwaltet und betreut. Trotz des aufwendigen Produktionsprozesses sind Leitlinien nicht dafür geeignet, die Ärzte in rechtlicher Hinsicht abzusichern – selbst wenn diese sich in ihren diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweisen strikt daran halten. Leider werden sie daher auch nicht überall in gleichem Maße geschätzt. Während der Dauer ihrer Gültigkeit finden außerdem Weiterentwicklungen statt, die naturgemäß nicht berücksichtigt werden können. Und last but not least stellt die Veröffentlichung mehrerer (von unterschiedlichen Fachgesellschaften herausgegebenen) Leitlinien zum selben Thema ein Problem dar, wenn unterschiedliche Empfehlungen gegeben werden. Die leitlinienbasierte Behandlung der Betroffenen steht aus den genannten Gründen unter Medizinern nicht besonders hoch im Kurs, auch wenn das manchem Patienten zum Nachteil gereicht. Ein Beispiel: Zu den wichtigen Supportivmaßnahmen16 bei der chemotherapeutischen Behandlung von Patienten mit bösartigen Tumoren gehört die medikamentöse Unterdrückung und Behandlung von Übelkeit und Erbrechen. Chemotherapeutische Substanzen haben nämlich unterschiedlich stark ausgeprägte emetogene17 Eigenschaften. Das therapeutische Vorgehen, um diese Nebenwirkung zu verhindern bzw. zu behandeln, ist in mehreren Leitlinien beschrieben. In einer wissenschaftlichen Studie wurde bei über 500 Patienten, die eine hoch emetogene Chemotherapie erhalten hatten, untersucht, ob sie leitlinienkonform hinsichtlich der Verhinderung und der Behandlung von Übelkeit und Erbrechen behandelt wurden. Die Studie zeigte, dass dieses in einigen Therapiezentren bei nur 32,5% der Patienten der Fall war, obwohl diese Supportivmaßnahme für eine bessere Lebensqualität gesorgt hätte. Ob die nicht leitlinienkonform behandelten Patienten mehr durch Übelkeit und Erbrechen geplagt wurden, ließ die Studie offen – es ist allerdings anzunehmen. Tatsache ist, dass ein leitlinienbasiertes Vorgehen eine gute Behandlungsbasis darstellt, auch wenn das „blinde“ Abarbeiten der Leitlinien nicht den Gepflogenheiten der guten ärztlichen Arbeit entspricht, die ja mithin auch als Kunst bezeichnet wird. Ein Arzt muss einen Patienten immer individuell behandeln, also seine aktuelle Situation und seine Wünsche berücksichtigen. Das ist sogar gesetzlich verankert: Die Unversehrtheit des menschlichen

Körpers ist unser höchstes Gut und wird im Art. 2 Abs. 2 unseres Grundgesetzes geregelt.18 Die invasiven ärztlichen Maßnahmen – z. B. Biopsien, Operationen, Bestrahlungs- und Chemotherapien – sind per definitionem „Körperverletzungen“, jedoch solche mit ausdrücklicher Genehmigung des Betroffenen. Nur so können sie gerechtfertigt werden (rechtlich gesehen ist diese Art der Körperverletzung nur zu rechtfertigen und nicht zu legitimieren – aber hier befinden wir uns auf dem Feld juristischer Spitzfindigkeiten). Ein Betroffener, der in medizinischen Fragestellungen zumeist Laie ist, sollte eine Einwilligung zu einer therapeutischen Maßnahme nur in voller Kenntnis ihres Nutzens und ihrer Nebenwirkungen erteilen. Dass der Patient vor der Durchführung einer Maßnahme umfassende Informationen hinsichtlich aller Risiken und Begleiterscheinungen erhält, liegt in der Verantwortung des behandelnden Arztes. Wichtig dabei ist, dass nicht der Arzt den Patienten von der Notwendigkeit einer Maßnahme „überzeugt“ – im Sinne von Überreden –, sondern dass der Patient die Notwendigkeit der Maßnahme selbst erkennt und unter Abwägung aller Vor- und Nachteile eine freie Entscheidung trifft. Kommt der Betroffene unter diesen Voraussetzungen zu dem Schluss, dass er eine medizinische (vielleicht sogar überaus sinnvolle) Maßnahme nicht durchführen lassen will, so hat der Arzt diese Entscheidung zu respektieren und – was ebenfalls wichtig ist – Alternativen vorzuschlagen. Angesichts einer solchen Entscheidungsfreiheit der Betroffenen können Leitlinien immer nur eine Orientierungshilfe für die optimale medizinische Vorgehensweise darstellen und sind in keinem Fall verbindlich. Ob eine medizinische Therapie für einen Betroffenen sinnvoll und optimal war, zeigt sich leider häufig nur retrospektiv. Eine Therapie, die bei dem einen Patienten zu optimalen Ergebnissen führt, kann bei einem anderen Patienten mit demselben Krankheitsbild komplett versagen. Die Ärzte können ihre Entscheidungen immer nur anhand von Zahlen und Statistiken treffen, und diese sind – wie ich im folgenden Kapitel zeigen werde – oft tückisch und fehlerhaft.

2.2 Die Magie der Statistiken Zahlen üben häufig eine geradezu magische Faszination auf uns aus. Aufgrund der Exaktheit der mathematischen Wissenschaften haben wir zu Zahlen vollstes Vertrauen. Zahlen werden selten hinterfragt, und Menschen, die gut mit Zahlen umgehen können, gelten im Allgemeinen als intelligent. Nun ist aber die Medizin keine der Mathematik oder Physik vergleichbare exakte Wissenschaft, sondern eine Erfahrungswissenschaft: Das besagt, dass die beobachteten Gesetzmäßigkeiten mit dem derzeit vorhandenen Wissen erklärt und begründet werden. Sobald es einen Zugewinn oder eine Veränderung von Wissen gibt, entstehen neue Erklärungsansätze. Wegen der fehlenden Exaktheit der Medizinwissenschaft ist es notwendig, die beobachteten Ergebnisse mit statistischen Daten zu „unterfüttern“ und als „medizinische Wahrheit“ oder „Wahrheit in gewissen Grenzen“ zu handhaben. Genau hier liegt die Ursache dafür, dass ein Betroffener im medizinischen Alltag praktisch nie eine diagnostische oder eine therapeutische Aussage zu hören bekommt, die zu 100 Prozent gilt. Eine statistische Aussage ist dadurch kennzeichnet, dass sie, auf große Gruppen angewendet, Gültigkeit besitzt, für den Einzelfall aber nur sehr beschränkt zutrifft. Je größer die betrachtete Gruppe, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass das statistische Ergebnis auch im Einzelfall zutrifft.

Und so sitzt der Mediziner in der Zwickmühle. Im klinischen Alltag behandelt und berät der Arzt immer einen einzelnen Patienten, und für diesen einzelnen Patienten muss die auf statistischen Daten fußende Aussage des Arztes nicht zwingend gelten. Fragt der Betroffene also in der Sprechstunde: „Wie sind meine Überlebenschancen?“ oder „Wie lange habe ich noch zu leben?“, kann der Arzt nur auf der Grundlage von Statistiken antworten. Er könnte z. B. feststellen: „Mit Ihren Tumorparametern leben nach einem Jahr noch 80% der Patienten.“ Oder: „75% der Patienten mit Ihrem Tumor leben damit länger als fünf Jahre.“ Diese Aussagen sind anhand großer Patientengruppen belegt und stellen die „medizinische Wahrheit“ zum Zeitpunkt ihrer Erhebung dar. Aber was bedeutet diese Wahrheit für den Einzelnen? Nur so viel: Wenn der Patient nach einem Jahr noch lebt, gehört er zu den 80%, die überlebt haben; wenn nicht, zu den 20%, die verstorben sind. Oder: Wenn der Patient nach fünf Jahren noch lebt, gehört er zu den 75%, ansonsten zu den 25%. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was diese Aussagen für ihn bedeuten. Auch Angelina Jolie hat aufgrund statistischer Daten, die ihr eine bestimmte Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines Mammakarzinoms – also auch für das damit einhergehende Risiko, daran zu versterben – prognostiziert haben, ihre Entscheidung getroffen, sich vorsorglich die Brustdrüsen entfernen zu lassen. Für sie war die statistische Aussage ausreichend, damit sie ihre Wahl treffen konnte. Für Betroffene ist es also sehr wichtig, zu wissen, wie statistische Aussagen zu verstehen sind, bevor sie einen so radikalen Weg gehen. Der Arzt kann ihnen dabei eventuell helfen – nicht jeder Mediziner ist allerdings auch ein guter Statistiker. Statistisch basierte Aussagen haben jedoch noch ein weiteres Manko: Sie fußen immer auf Studien, die in der Vergangenheit durchgeführt wurden. Je länger die Untersuchungen zurückliegen, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ihre Ergebnisse mit den aktuellen medizinischen Gegebenheiten übereinstimmen. Beim Prostatakarzinom, aber auch beim Nierenzellkarzinom zeichnet sich zurzeit genau dieses Dilemma ab. Zahlreiche neue Wirkstoffe sind innerhalb der letzten Monate und Jahre für die Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms sowie des

metastasierten Nierenzellkarzinoms zugelassen worden. In welcher Kombination und Abfolge diese Medikamente am sinnvollsten und effektivsten einzusetzen sind, ist aber noch völlig unklar. Jeder dieser neuen Wirkstoffe führt – für sich allein genommen – zu einer gewissen Überlebensverlängerung; wie sich die Einzelwirkstoffe bei gemeinsamer oder aufeinanderfolgender Einnahme in ihrer Wirkung addieren oder potenzieren oder ob sie sich gegenseitig wieder aufheben, kann man im Moment noch nicht sagen. Insofern sind wir zum aktuellen Zeitpunkt nicht in der Lage, für diese Tumorentitäten19 eine angemessene, statistisch basierte Aussage zum Gesamttherapieerfolg zu machen. Es drängt sich jedoch die Annahme auf, dass man mit den aktuell zur Verfügung stehenden Therapiemaßnahmen wahrscheinlich um ein Vielfaches erfolgreicher sein wird als mit den älteren Therapieoptionen – auch wenn hierzu noch keinerlei Statistikaussagen vorliegen. Ein extremes Beispiel in diesem Sinne ist die Einführung des Chemotherapeutikums Cisplatin für die Behandlung des metastasierten Hodenkarzinoms im Jahre 1979. Der Hodenkrebs ist ein histologisch uneinheitlicher Tumor20, der vorwiegend junge Männer im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren befällt. In den 1960er und 1970er Jahren galt, dass ein Hodentumor lediglich durch eine komplette operative Entfernung im lokalisierten Stadium (wenn also noch keine Metastasen vorliegen) geheilt werden kann. Bei metastasierten Erkrankungen wurde zusätzlich zur Operation eine Chemotherapie mit Actinomycin D (einem schon länger eingesetzten Chemotherapeutikum) durchgeführt. Diese nebenwirkungsträchtige Therapie führte allerdings nur zu Heilungsraten im einstelligen Prozentbereich. In den Jahren 1974 bis 1976 leiteten Lawrence Eichhorn und John Donohue an der University of Indiana eine Studie mit der neuen Kombinationschemotherapie21 bei 47 Patienten mit metastasierten Hodenkarzinomen. Als die Studiendaten 1977 und weitere Nachbeobachtungen 1979 veröffentlicht wurden, zeigte sich, dass über 90% der Patienten mit dieser Kombinationschemotherapie geheilt werden konnten; die Anwendung dieser Wirkstoffe war also noch ohne jeden statistischen Beleg bezüglich ihrer Wirkung erfolgreich durchgeführt worden. Sollten die Probanden damals Fragen zur Prognose gestellt haben, hätten ihre Ärzte schlicht und einfach passen müssen.

Auch die Statistik selbst hat allerdings ihre Probleme. Wer sein Wissen hierzu vertiefen möchte, dem empfehle ich die Lektüre des Buches Lügen mit Zahlen von Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff. Hier werden vielfältige Gefahren der Statistik aufgezeigt: beispielsweise, dass sich durch die Auswahl ungeeigneter Parameter sehr schnell Fehler in statistische Betrachtungen einschleichen oder dass Daten jeweils so dargestellt werden können, dass genau das dabei herauskommt, was man sich als Forscher insgeheim gewünscht hat. Ein Beispiel für Krebsstatistiken: Überlebenszahlen werden vereinbarungsgemäß in 1-, 5oder 10-JahresÜberlebenswahrscheinlichkeit angegeben. Wird bei einer Therapie eine 2-, 3- oder 7-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit genannt, kann dies zwei Gründe haben – erstens: Die Therapie ist so neu, dass die vereinbarungsgemäß anzugebenden Zahlen noch nicht vorliegen. Zweitens: Die Zahlen sollen besser aussehen, als sie sind. Der Leser darf sich also merken: Auf statistische Daten ist immer nur bedingt Verlass, und Zahlen bedeuten nicht automatisch Sicherheit. Und manchmal kann die Statistik einem sogar ein Schnippchen schlagen.

Paradoxe Statistiken Verschiedene statistische Phänomene können sowohl Patienten als auch Mediziner in die Irre führen. Besondere Erwähnung sollen an dieser Stelle das Will-Rogers-Phänomen sowie das SimpsonParadoxon finden. Das Will-Rogers-Phänomen wurde nach dem amerikanischen Humoristen und Philosophen Will Rogers benannt, dem der Ausspruch „When the Okies left Oklahoma and moved to California, they raised the average intelligence level in both states“ zugeschrieben wird. Es geht um einen tückischen Effekt bei der Erhebung des Durchschnittswertes zweier Gruppen. Durch den Wechsel eines Elementes von einer Gruppe in die andere kann der Durchschnitt in beiden Gruppen steigen oder fallen. Hört sich schon mal komisch an – intuitiv geht man ja davon aus, dass der

Durchschnittswert in der einer Gruppe sinkt, in der anderen jedoch steigt (oder umgekehrt). Zur Verdeutlichung ein Zahlenbeispiel: Ein Kindergarten hat zwei Gruppen mit Kindern unterschiedlichen Alters: Gruppe 1: 3 / 3 / 4 / 5 / 6 Jahre – Durchschnittsalter = 4,2 Jahre Gruppe 2: 5 / 6 / 6 / 6 / 6 / 6 Jahre – Durchschnittsalter = 5,8 Jahre Wechselt das 5-jährige Kind von Gruppe 2 in Gruppe 1, ergibt sich folgendes Bild: Gruppe 1: 3 / 3 / 4 / 5 / 6 / 5 – Durchschnittsalter = 4,33 Jahre Gruppe 2: 6 / 6 / 6 / 6 / 6 – Durchschnittsalter = 6,0 Jahre Somit hat sich das Durchschnittsalter überraschend in beiden Gruppen erhöht! Ist das nun Hexerei oder gibt es eine plausible Erklärung dafür? Das Will-Rogers-Phänomen fand Eingang in die wissenschaftliche Debatte, als A. Feinstein und seine Kollegen den Einfluss neuer diagnostischer Methoden auf die Prognose für Krebspatienten untersuchten. Dabei wurden die Überlebenszeiten zweier Gruppen von Patienten mit Bronchialkarzinom – die eine war nach 1977 behandelt worden, die andere zwischen 1953 und 1964 – analysiert. Die Gruppe, die nach 1977 behandelt wurde, zeigte eine deutlich höhere 6-Monats-Überlebensrate. Es war naheliegend, dass dieser Vorteil einer Verbesserung der Therapiemöglichkeiten zuzuschreiben war. Allerdings gab es nach 1977 auch deutlich bessere diagnostische Methoden als in dem Jahrzehnt zwischen 1953 und 1964. Dadurch konnten die Tumoren in der 1977er-Gruppe viel genauer klassifiziert werden – mit der Konsequenz, dass ein Teil der

Erkrankungen, die man früher einer prognostisch günstigeren Gruppe zugerechnet hatte, nun weniger günstig klassifiziert wurde. Die Prognose der Tumoren, die jetzt genauer klassifiziert werden konnten, war zwar schlechter als die Prognose jener Tumoren, die früher in der prognostisch günstigeren Gruppe landeten, aber doch besser als die Prognose der Tumoren, die sich von vornherein in der prognostisch ungünstigen Gruppe befanden. Dadurch nahm die 6Monats-Überlebensrate in beiden Gruppen zu – ohne dass diese erfreuliche Tatsache auf eine verbesserte Therapie zurückzuführen war! Werner Golder verfasste im Jahre 2009 eine lesenswerte Übersichtsarbeit über das Will-Rogers-Phänomen im 22 Zusammenhang mit diagnostischen Methoden in der Medizin. Er wies nach, dass die Gefahr eines „virtuellen Vorteils“ insbesondere immer dann besteht, wenn historische Vergleichsgruppen zur Beurteilung einer aktuellen medizinischen Fragestellung herangezogen werden – also wenn eine Gruppe von Patienten, die heute mit einem neuen Medikament behandelt wird, mit einer unbehandelten Kontrollgruppe von vor fünf oder zehn Jahren verglichen wird. Das Will-Rogers-Phänomen tritt aber nicht immer ein. Zwei ungünstige Voraussetzungen müssen gegeben sein, wenn sich bei der Verschiebung von einem oder mehreren Elementen aus einer Gruppe in eine andere der Durchschnittswert beider Gruppen erhöht und so das Ergebnis verfälscht wird: 1. Das Element, das verschoben wird, hat einen geringeren Wert als der Durchschnittswert der Elemente der Gruppe, aus der es entfernt wird. 2. Das Element, das verschoben wird, hat einen höheren Wert als der Durchschnittswert der Elemente der Gruppe, in die es verschoben wird. Bei umgekehrten Voraussetzungen verringert sich der Durchschnittswert in beiden Gruppen. Und noch ein statistisches Paradoxon spielt in der Medizin eine Rolle: das Simpson-Paradoxon, das von Edward Hugh Simpson im Jahre 1951 entdeckt wurde. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die Diskriminierungsklage

gegen die University of California, Berkeley. Im Herbst 1973 kam es zu einer offiziellen Untersuchung hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Aufnahmepolitik der Universität. Die Aufnahmezahlen für das Herbstsemester, differenziert nach Frauen und Männern, sahen folgendermaßen aus:

Das bedeutete eine Aufnahmequote von 44% für Männer, aber von nur 35% für Frauen – waren die Frauen also diskriminiert worden? Eine Untersuchung der Qualifikationen der beiden Gruppen erbrachte keinen diesbezüglichen Unterschied. Es schien offensichtlich, dass die Hochschule den männlichen Bewerbern den Vorzug gab. Oder doch nicht? Schaut man sich die Aufnahme- und Ablehnungszahlen hinsichtlich der unterschiedlichen Fachbereiche an, so ergibt sich ein völlig anderes – und überraschendes – Bild. Aus Gründen der Einfachheit stellen wir uns vor, die Universität Berkeley hätte vier Fachbereiche (1, 2, 3, 4), auf die sich die Aufnahmen und Ablehnungen von Frauen und Männern wie folgt verteilen:

(modifiziert nach Bosbach und Korff, Lügen mit Zahlen)

Nimmt man die Zahlen genauer in Augenschein, wird der Fehler schnell offensichtlich. Obwohl die Frauen bei der Gesamtablehnungsquote mit 62,4% (versus 50,0% bei den Männern) deutlich häufiger abgelehnt wurden, werden sie doch bei der Betrachtung der einzelnen Fachbereiche in drei von vier Fachbereichen seltener und in einem genauso oft abgelehnt wie ihre männlichen Kollegen. Die Bewertung der Gruppen (Männer versus Frauen) fällt also unterschiedlich aus, je nachdem, ob man die Ergebnisse der Gruppen in Summe oder ob man sie einzeln betrachtet (alle Fachbereiche vs. einzelne Fachbereiche). Hier entstand die „Verzerrung“, weil sich die weiblichen Bewerber übermäßig häufig in genau jenen Fachbereichen beworben hatten, bei denen eine hohe Ablehnungsquote die Regel ist (die Fachbereiche 3 und 4). Welche Relevanz hat dieses Paradoxon nun für die Medizinstatistik? Wenn eine Untersuchung je nach Beurteilungsweise stark voneinander abweichende Ergebnisse aufweist, so kann dies gegebenenfalls auf Einflussfaktoren beruhen, die nicht beachtet oder erkannt wurden (wie in unserem Berkeley-

Beispiel die Neigung der Frauen, sich insbesondere für jene Fachbereichen zu bewerben, die eine hohe Ablehnungsquote aufweisen). Hält man sich angesichts dieser Fakten die zahlreichen Faktoren, die den Erfolg oder Misserfolg einer Krebstherapie herbeiführen können, vor Augen, wird einem schnell die Tragweite dieses statistischen Phänomens bewusst. Medizinische Statistiken werden außerdem auch durch den sogenannten „systematischen Fehler“ – den Bias23 – verfälscht. Der Bias beschreibt die Tendenz, bei einer Untersuchung Ergebnisse zu erhalten, die regelmäßig in einer bestimmten Richtung von den korrekten Ergebnissen abweichen. Warum kommt es aber dazu? In medizinischen Studien wird zumeist eine Therapieform im Vergleich zu einer anderen untersucht. Das Ergebnis der Studie soll zeigen, welche der untersuchten Therapieformen die bessere ist. Bei der Durchführung einer derartigen Studie muss darauf geachtet werden, dass der einzige wirkliche Unterschied der behandelten Gruppen die Therapieform ist. Ein Bias liegt vor, wenn nicht die Therapieform allein, sondern zusätzliche Faktoren das Ergebnis bedingen – etwa das Alter der Probanden, ihre Vorerkrankungen etc. Wenn beispielsweise ein Studienleiter von einer neuen Therapie überzeugt ist, kann es passieren, dass er unbewusst die Zusammensetzung der Gruppen zugunsten der neuen Therapie verändert. Die Anwendung von Instrumenten, die der BiasVerhinderung dienen (z. B. die „Verblindung“, also die Unkenntlichmachung der verschiedenen Therapiegruppen für die Studienkoordinatoren), ist ein unabdingbares Qualitätsmerkmal für medizinische Studien. Studien ohne angemessene „Biasprotektion“ könnten einen Therapienutzen aufzeigen, wo keiner vorhanden ist – also schlicht und einfach zu Falschaussagen führen. Der Leser dürfte nun die Relativität der statistisch belegten medizinischen Aussagen verstanden haben. Statistische Aussagen werden umso ungenauer, je kleiner die untersuchten Gruppen sind. Vorsicht ist insbesondere bei der Anpreisung neuester Therapieformen angezeigt, deren „beeindruckende“ Ergebnisse auf der Beobachtung einiger weniger Fälle oder gar auf Einzelfallbetrachtungen beruhen.

Bei statistischen Betrachtungen ist es deshalb immer sinnvoll, die Umkehrprobe zu machen oder sich – statt mit Wahrscheinlichkeiten und Prozenten – mit den absoluten Zahlen zu befassen. Betrachtet man 5- und 10-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeiten, so muss einem immer bewusst sein, dass diese Ergebnisse von der Anzahl der diagnostizierten Tumoren abhängig sind. Diagnostiziert man mehr Tumoren bei einer steigenden 5- bzw. 10-Jahres-Überlebensrate, dann kann es sein, dass die Art bzw. das Verhalten der zusätzlich diagnostizierten Tumoren zu diesem Anstieg führt, ohne dass dabei therapeutische Erfolge im Spiel waren.24 Warum dann überhaupt noch statistische Daten verwendet werden, fragt sich der Leser jetzt wahrscheinlich. Weil die Medizin trotz der angeführten Fehleranfälligkeit auf statistische Daten angewiesen ist, wenn es um Therapieeffekte und Prognosen geht. Ärzte wie Betroffene sollten sich also immer die Relativität statistischer Daten vor Augen halten und auf Fehlerquellen achten. Es ist sicherlich nicht notwendig, jedes Studienergebnis in Frage zu stellen oder sich immer die Rohdaten einer Studie vorlegen zu lassen, um versteckte Fehler ausfindig zu machen. Nein, man muss nicht Detektiv spielen – aber besonders beim Einsatz neuer Therapieoptionen kann es auch nicht schaden, die Validität der Ergebnisdaten im Gespräch mit dem empfehlenden Arzt zu hinterfragen. Und auch das reicht zur Beurteilung einer Therapieempfehlung nicht immer aus: Ein Betroffener sollte darüber hinaus wissen, auf Basis welcher Vorgaben der Arzt die Behandlung verschreibt, und dazu ist eine detaillierte Betrachtung unseres Gesundheitssystems mit seinen therapeutischen und finanziellen Rahmenbedingungen unbedingt notwendig. Im nächsten Kapitel darf der Leser einen Blick in die Abläufe, Zwänge und Funktionsweisen unseres Gesundheitssystems werfen.

2.3 Krebs und unser Gesundheitssystem Das deutsche Gesundheitssystem hat Krebserkrankungen durchaus im Fokus seiner Bemühungen. Zu hoch ist die Zahl der jährlich Erkrankten und Verstorbenen, um dieser Krankheit nicht besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Zu groß auch ihre volkswirtschaftlichen Auswirkungen für unser Land. Unser Gesundheitssystem ist solidarisch: Die Last des Einzelnen wird auf die Schultern von vielen verteilt; Erkrankte werden indirekt von den Gesunden unterstützt. Ermöglicht wird das durch die Existenz von Krankenversicherungen: Zum einen gibt es die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), in der über 90% der Gesellschaft versichert sind, zum anderen die private Krankenversicherung (PKV) mit etwa 8 bis 9% der Bevölkerung. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Form von Krankenkassen, die sich selbst verwalten und der staatlichen Aufsicht unterliegen, organisiert. Maßgeblich für die gesetzliche Krankenversicherung sind die Paragraphen und Artikel des Sozialgesetzbuches V (SGB V). Hiernach gliedern sich ihre Aufgaben in vier Bereiche: Der erste Bereich umfasst die Leistungen zur Verhütung von Krankheiten bzw. Verhütung von Verschlimmerung von Krankheiten sowie zur Empfängnisverhütung, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch; zum zweiten Bereich gehören die Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten; im dritten Bereich finden sich die Leistungen zur Behandlung einer Krankheit; im vierten schließlich die Leistungen

der medizinischen Rehabilitation, soweit diese dazu dient, eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen oder zu mindern. Im SGB V (§ 12) ist weiterhin vorgesehen, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung „notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein müssen. Der diagnostische und therapeutische Nutzen sowie die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit einer Leistung müssen nachgewiesen sein, bevor diese in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden darf, sprich von dieser bezahlt wird. Im Jahre 2004 wurde der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) gebildet – das oberste Gremium für die Beurteilung von medizinischen Leistungen hinsichtlich ihrer Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Der G-BA setzt sich aus insgesamt 13 stimmberechtigten Mitgliedern zusammen: fünf Vertretern der Kostenträger (Krankenkassen), fünf Vertretern der Leistungserbringer (z. B. Ärzte- oder Krankenhausorganisationen) und drei unparteiischen Vertretern, wobei einer dieser unparteiischen Vertreter gleichzeitig der Vorsitzende des Gremiums ist. Zusätzlich können bis zu fünf Vertreter von Patientenorganisationen an den Sitzungen des Gemeinsamen Bundesausschusses teilnehmen und Anträge einbringen; sie haben jedoch keine Stimme (was ich bedauerlich finde). Die Bestimmungen des SGB V besagen ganz eindeutig, dass ein Patient nicht unbegrenzt Anspruch auf Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung hat. Leistungsanspruch besteht ausdrücklich nur hinsichtlich der bereits erwähnten „notwendigen, ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen“ Maßnahmen. Wegen der hohen volkswirtschaftlichen Konsequenzen von Krebserkrankungen sind für diese Patientengruppe vereinzelte Ausnahmen von der üblichen Vorgehensweise der GKV vorgesehen. Verpflichtende Zuzahlungen, die sonst von den Erkrankten übernommen werden müssten, fallen ab einer gewissen Höhe weg; außerdem gelten Generikaquoten25 hier nicht. Die behandelnden Ärzte erhalten außerdem zusätzliche Honorare für die ambulante Versorgung krebskranker Patienten. All das entlastet die Erkrankten und ihre Angehörigen und erleichtert die Versorgung der Betroffenen. Trotzdem bedeutet eine Krebserkrankung in den

meisten Fällen eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung des Erkrankten und seiner Familie.26 Unser Gesundheitssystem hat den Krebsbetroffenen also offensichtlich eine Sonderstellung zugewiesen, und das finde ich aufgrund der Schwere der Erkrankung auch angemessen. Vieles erscheint mir allerdings verbesserungswürdig. Die Tatsache etwa, dass die Politik die flächendeckende, schnell erreichbare medizinische Versorgung für ein hochgelobtes Qualitätsmerkmal des deutschen Gesundheitssystems hält, kann ich bei hausärztlichen und notfallmedizinischen Leistungen noch nachvollziehen; wenn es sich allerdings um fach- oder spezialärztliche Versorgung (wie das im onkologischen Bereich der Fall ist) handelt, erachte ich eine hohe Qualität der Versorgung für wesentlich wichtiger. „Flächendeckend“ ist im Falle komplexer Erkrankungen wie Krebs ein wenig aussagekräftiges Kriterium für die Qualität des Gesundheitssystems. Weitaus nützlicher und wahrscheinlich kostengünstiger als die Errichtung zahlreicher „durchschnittlicher“ Zentren wäre die Einrichtung eines geeigneten Transportsystems zum Erreichen gegebenenfalls weiter entfernt gelegener, von der Qualität her aber optimaler Einrichtungen. Die zeitnahe Versorgung ist ebenfalls eines der angestrebten Qualitätsmerkmale des deutschen Gesundheitssystems. Abgesehen davon, dass dieses Ziel insbesondere für die gesetzlich versicherten Patienten ab und zu in weite Ferne rückt, besteht im onkologischen Bereich – außer bei Notfällen – definitiv kein Grund zur übertriebenen Eile hinsichtlich der Einleitung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Wichtiger als eine hektische Abklärung und Behandlung ist ein wirklich durchdachtes Vorgehen, das kein Detail der Erkrankung übersieht. Im Hinblick auf die psychische Belastung eines Betroffenen, der auf eine Klärung der auffälligen Befunde wartet, ist die zeitnahe Diagnosestellung und Therapieeinleitung natürlich sinnvoll. Aufgrund der Überlastung insbesondere der Fachärzte müssen jedoch Betroffene oft wochenund monatelang auf ihre definitive Diagnose, die häufig Untersuchungen bei mehreren Ärzten notwendig macht, warten; hier sind erhebliche Verbesserungen tatsächlich notwendig. Aber auch in anderen Punkten, für die unser Gesundheitssystem zuständig ist,

sehe ich Handlungsbedarf – etwa bei den Zulassungsbestimmungen für neue Wirkstoffe.

Neue Wirkstoffe haben es schwer Die Zulassungsrichtlinien der Arzneimittelaufsichtsbehörden (EMA = European Medicines Agency; das deutsche Pendant ist das BfArM = Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte), die verbindlich sind, kennzeichnen sich durch äußerste Strenge. Jeder medizinische Wirkstoff (ob im onkologischen oder anderen medizinischen Bereichen) muss mit einem aufwendigen Zulassungsverfahren, in dem man seine Sicherheit und Wirksamkeit untersucht, evaluiert werden. Diese Zulassungsverfahren kosten die durchführenden Pharmakonzerne pro zugelassenem Wirkstoff etwa eine Milliarde Euro. Am Ende des Zulassungsprozesses steht, nach entsprechend positivem Votum der zulassenden Kommission, eine begrenzte Zulassung des Wirkstoffes für eine genau spezifizierte onkologische Erkrankung in einer ganz bestimmten Situation, nämlich jener, die für die Zulassungsstudie ausgesucht wurde. Der Einsatz dieses Wirkstoffes bei anderen Indikationen (also bei anderen Tumorentitäten) und in anderen Situationen ist zwar erlaubt, aber nicht zugelassen und wird von den gesetzlichen Krankenkassen daher nicht ohne Weiteres bezahlt. Zusätzlich zu dem aufwendigen und kostspieligem Zulassungsverfahren müssen die Pharmakonzerne seit 2011 einen in Deutschland neu zugelassenen Wirkstoff durch das Bundesgesundheitsministerium (BGM), den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hinsichtlich seines Zusatznutzens im Vergleich zu den schon existierenden Medikamenten bewerten lassen. Dieses Verfahren muss innerhalb von 12 Monaten nach Zulassung des Wirkstoffes abgeschlossen sein (es handelt sich um die sogenannte frühe Nutzenbewertung). Wobei das IQWiG seine Stellungnahme, auf der dann die Empfehlung des

G-BA und die Entscheidung des Bundesgesundheitsministeriums basieren, bereits innerhalb von drei Monaten abgeben muss. Abhängig von den Ergebnissen der Nutzenbewertung wird die Preisgestaltung für den Wirkstoff vorgenommen. Ist ein Zusatznutzen erkennbar, tritt der Pharmakonzern mit dem Bund der Krankenkassen in Preisverhandlungen, deren Grundlage der ursprüngliche Einführungspreis des Wirkstoffes in Deutschland darstellt. Sollte kein Zusatznutzen erkennbar sein, darf der Pharmakonzern den betroffenen Wirkstoff in Deutschland nur zu einem bestimmten Festbetrag anbieten, der sich an den günstigen generischen Vergleichspräparaten orientiert. Prinzipiell dienen solche Einschränkungen bei der Herstellung und Distribution neuer Wirkstoffe durchaus dem Patientenwohl und sind positiv zu bewerten. Bei einem solchen Vorgehen ist allerdings die Möglichkeit politischer Einflussnahme in die Entscheidungen gegeben. Außerdem erscheint mir eine dreimonatige Phase für die Klärung des Zusatznutzens als viel zu kurz27, so dass sich meine Euphorie in Grenzen hält. War ein Pharmakonzern also hinsichtlich der Zulassung eines Wirkstoffes aufgrund der Zulassungsstudiendaten erfolgreich, muss er sich auf eine weitere Unsicherheit hinsichtlich des zu erzielenden Abgabepreises und damit des returns on invest einstellen. Hier sollten die entscheidenden Gremien vorsichtig sein, damit lebensrettende Innovationen in der Krebsmedizin nicht frühzeitig abgewürgt werden bzw. die Konzerne aufgrund der bestehenden Unsicherheiten vor den hohen Investitionen zurückschrecken. Durch die sehr spezifische Zulassungsstrategie der EMA kam es in den letzten Jahren immer wieder zu grotesken Situationen: so beispielsweise bei der medikamentösen Therapie des Prostatakarzinoms, die ich hier kurz beschreiben möchte. Die primäre medikamentöse Therapie eines fortgeschrittenen oder metastasierten Prostatakarzinoms ist die Hormontherapie, bei der die Produktion und Wirkung des männlichen Geschlechtshormons Testosteron gehemmt wird. Erst nach Ausschöpfung dieser im Allgemeinen gut verträglichen und leicht zu applizierenden Behandlung ist eine Chemotherapie angezeigt, die zumeist deutlich aufwendiger ist und von stärkeren Nebenwirkungen begleitet wird. Im Jahre 2011 wurde ein neues, gut wirksames,

einfach zu verabreichendes und nebenwirkungsarmes Medikament zur Erweiterung der bisherigen Hormontherapie des Prostatakarzinoms in Deutschland zugelassen. Die Zulassungsstudien für diesen Wirkstoff fanden an Patienten mit metastasierten Prostatakarzinomen nach Gabe einer Docetaxelhaltigen Chemoterapie28 statt. Deshalb bezog sich die Zulassung der EMA für diesen neuen Wirkstoff ausschließlich auf die Behandlung eines hormonresistenten metastasierten Prostatakarzinoms nach einer Docetaxel-haltigen Chemotherapie. Praktisch musste ein Patient also von der einfachen Hormonbehandlung zunächst durch die aufwendigere Chemotherapie mit Docetaxel geleitet werden, um anschließend von der viel verträglicheren, erweiterten Hormontherapie profitieren zu können. Dieses Vorgehen war lediglich den Zulassungsvoraussetzungen geschuldet und entbehrte – medizinisch betrachtet – jeglicher vernünftigen Basis, was natürlicherweise häufig zu Unverständnis und Verunsicherung bei den Patienten führte. Nach der Durchführung weiterer kostspieliger und zeitaufwendiger Studien hat der Wirkstoff Anfang 2013 (also gut zwei Jahre später!) in Deutschland endlich die erweiterte Zulassung für seine Anwendung vor der Docetaxel-haltigen Chemotherapie erhalten. Solche bürokratischen Umwege sind natürlich keinesfalls im Sinne des Patientenwohles. Auch wenn Sicherheitsmaßnahmen wie die oben beschriebenen von den Zulassungsbehörden zum Zwecke der Patientensicherheit ersonnen wurden, haben die Betroffenen etwa bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen häufig nicht mehr viel zu verlieren, und eine Strategie, die möglichst viel Lebensqualität bietet, sollte bei der Wahl der Therapie ausschlaggebend sein. Im Jahr 2012 hätte die Hormonbehandlung mit dem neuen Wirkstoff vor der Chemotherapie bedeutet, dass man sich im Off-lable-use29 befindet, der eine aufwendige und zeitraubende Beantragung der Finanzierung durch die Krankenkassen und eine zusätzliche detaillierte Aufklärung der Patienten durch den behandelnden Arzt hinsichtlich des Off-lable-use erfordert. Wahrscheinlich haben zahlreiche Betroffene aufgrund dieser Bestimmungen erst nach langer Wartezeit – oder im Extremfall gar nicht – die Möglichkeit einer erweiterten Hormontherapie vor der Docetaxel-haltigen Chemotherapie bekommen. Die Situation bei Patienten mit einer

privaten Krankenversicherung gestaltet sich etwas anders. Nach dem Papier erhalten Privatpatienten durch die Einzahlung deutlich höherer und individueller Beiträge quasi eine „Luxuskrankenversicherung“. Prinzipiell gilt bei den privaten Krankenversicherern die SGB-V-Vorgabe des „notwendigen, ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen“ Leistungsanspruches nicht. Privat versicherte Patienten haben freie Arzt- und Behandlungswahl und müssen nicht zuerst zum Hausarzt pilgern, bevor sie an den Facharzt überwiesen werden. Angesichts der in den letzten Jahren – wahrscheinlich zumindest teilweise – durch gesetzliche Zwangsregelungen30 verursachten Finanzierungsprobleme der Privatversicherer wird der Leistungskatalog der privaten Krankenversicherungen jenem der gesetzlichen Krankenkassen jedoch immer ähnlicher. Der Versicherte, der seine höheren Beiträge (die in den letzten Jahren um durchschnittlich 5% pro Jahr gestiegen sind) im festen Glauben daran einzahlt, eine diesem Preis angemessene und damit umfangreiche Behandlung zu erhalten, ist zu Recht mit dem schrumpfenden Leistungsangebot nicht zufrieden. Zum aktuellen Zeitpunkt empfehle ich Privatpatienten daher, zumindest bei kostenintensiven diagnostischen oder therapeutischen Prozeduren eine schriftliche Kostenübernahmezusage des privaten Versicherers (und zwar vor Durchführung der Maßnahme) einzuholen. Auch im folgenden Kapitel geht es um Kosten, auf die man sich im Falle einer Krebserkrankung einstellen sollte.

2.4 Eine teure Krankheit Trotz aller bisher vorgebrachten Kritik: Das deutsche Gesundheitssystem ist definitiv eines der besten der Welt. Nach der Definition der WHO (Weltgesundheitsorganisation) gehört auch die Lebensqualität zur Gesundheit eines Menschen; die finanzielle Absicherung der Kranken – etwa im Falle von Arbeitsunfähigkeit – ist ein wichtiger Aspekt des Umgangs mit der Krankheit, für die allerdings der Betroffene selbst Sorge tragen muss, denn unser Gesundheitssystem ist in erster Linie für die Behandlung von Krankheiten zuständig. Stark beeinträchtigende und therapeutisch aufwendige Erkrankungen wie Krebs erfordern längerfristige Behandlungen; Verdienstausfall, gewisse Zuzahlungen (die nicht der Befreiung unterliegen und vom Patienten geleistet werden müssen) sowie Mehrkosten der Lebensführung schlagen sich unweigerlich zu Buche. Die diesbezüglichen Stärken und Schwächen des Systems, die ein weises Vorausplanen zwingend notwendig machen, möchte ich im Folgenden kurz beschreiben. Wurde die Krebserkrankung in einem kurativen Stadium31 diagnostiziert, kommt es für gewöhnlich zu einem Arbeitsausfall von mehreren Wochen bis Monaten. Wichtig ist es, dem Arbeitgeber unmittelbar eine Krankschreibung zukommen zu lassen. Nachdem man das Therapiekonzept mit dem behandelnden Arzt auch in zeitlicher Hinsicht überschlagen hat, sollte man unbedingt das Gespräch mit dem Arbeitgeber suchen und mit ihm offen über wahrscheinliche Ausfallzeiten und eventuell zu erwartende Beeinträchtigungen während und nach der Therapie sprechen.

Innerhalb der ersten sechs Wochen der Krankschreibung erfolgt die Lohnfortzahlung in voller Höhe durch den Arbeitgeber. Konnte die Krankheit bereits in dieser Zeitspanne besiegt werden und sind keine posttherapeutischen Beeinträchtigungen zu erwarten, dann hat der Betroffene keine großen finanziellen Einbußen zu befürchten. Sollte aber bereits zum Zeitpunkt der Diagnosestellung absehbar sein, dass dieser Zeitrahmen nicht ausreicht – was relativ häufig der Fall sein dürfte – dann sollte in den ersten sechs Wochen bereits sparsam mit dieser vollen Lohnzahlung verfahren werden. Denn ab der siebenten Woche wird von den gesetzlichen Krankenkassen lediglich ein reduziertes Krankengeld gezahlt: etwa 70 bis 75% des letzten Nettolohns. Bei privaten Krankenversicherern ist die Höhe des Tagessatzes sowie Beginn und Dauer der Zahlungen individuell per Vertrag vereinbart. Für gesetzlich versicherte Patienten soll es auf den Internetseiten der Krankenkassen sogenannte Krankengeldrechner geben, die einem Betroffenen jederzeit eine Berechnung des zu erwartenden Krankengeldes ermöglichen. Ich habe mir jeweils fünf Minuten Zeit gegeben, um auf den Seiten der AOK, DAK und BarmerGEK einen derartigen Rechner zu finden – leider ohne Erfolg. Daher empfehle ich die ohnehin wahrscheinlich professionellere und verbindlichere Auskunft eines Sachbearbeiters bei der entsprechenden Krankenkasse. Die erhaltenen Auskünfte sollte man sich schriftlich bestätigen lassen. Der Krankengeldanspruch besteht über einen Zeitraum von 72 Wochen, also bis zur vollendeten 78. Krankheitswoche. Zu beachten ist die sogenannte Blockfrist: Das bedeutet, dass innerhalb von drei Jahren maximal 78 Wochen Krankengeld für Arbeitsunfähigkeit aufgrund ein- und derselben Erkrankung gezahlt werden. Die Berechnung gilt ab dem Tag der ersten Krankschreibung. Nach Ablauf der 78. Woche wird es problematisch, sofern noch immer Arbeitsunfähigkeit besteht: Ab diesem Zeitpunkt sind die Krankenkassen von weiteren Krankengeld-Zahlungen entbunden, und die Rentenversicherung springt ein – bei voller oder TeilErwerbsunfähigkeit. Der Betroffene muss hierzu einen Antrag bei

seiner Rentenversicherung abgeben. Ob eine volle oder eine TeilErwerbsunfähigkeit vorliegt, wird von einem Arzt der Rentenversicherung im Rahmen eines Gutachtens beurteilt. Auch zusätzlich abgeschlossene private Berufsunfähigkeitsversicherungen greifen in diesem Fall. Handelt es sich um junge Betroffene oder solche mittleren Alters, ist eine Erwerbsminderungsrente für die Abdeckung der Lebenshaltungskosten häufig nicht ausreichend. In diesem Falle sind zusätzliche Leistungen über das Sozialamt zu beantragen. Für besondere Härtefälle haben die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Krebsgesellschaft Härtefonds eingerichtet, deren Mittel über die Deutsche Krebshilfe oder die Landeskrebsgesellschaften beantragt werden können. Jegliche Anträge sollten im Bedarfsfall so früh wie möglich gestellt werden, damit es gar nicht erst zu finanziellen Engpässen kommt. Ich möchte noch einmal betonen: Auch wenn ein Betroffener nach Feststehen einer Krebsdiagnose wichtige Entscheidungen bzgl. Therapie, Arzt, Krankenhaus etc. zu treffen hat, ist er gezwungen, auch den finanziellen Aspekt der neuen Situation zu durchdenken. In dieser prekären Situation ist die Unterstützung Angehöriger, die den Kopf frei haben, buchstäblich Geld wert. Krebs stellt aber nicht nur den Betroffenen und seine Familie vor große finanzielle Herausforderungen, sondern schlägt viel höhere Wellen.

Knopfproduzenten und Goldschmiede Arzneimittelforschung und Zulassungsverfahren sind heute so komplex, dass sie nur noch von Pharmaunternehmen – und auch nur von wenigen Großkonzernen – bewältigt werden können. Chemotherapeutika und andere Wirkstoffe, die in der medikamentösen Behandlung von Tumorerkrankungen zum Einsatz kommen, sind zumindest in der geschützten Patentphase der Zulassung extrem teuer. „Patentphase“ bedeutet, dass das Pharmaunternehmen, welches den Wirkstoff entwickelt und zur Zulassung gebracht hat, für eine bestimmte Zeitspanne (etwa 7 bis 15

Jahre) der einzige Anbieter dieses Wirkstoffes, also konkurrenzlos ist. In dieser Phase hat das Unternehmen die Möglichkeit, die zugegebenermaßen enormen Summen, die es in die Entwicklung und Zulassung eines onkologischen Wirkstoffes investiert hat, zurückzuverdienen. Bekämpft der entwickelte Wirkstoff einen häufig auftretenden Tumor, so ist das investierte Geld meistens nach ein bis zwei Jahren wieder drin – die restlichen Jahre sind Profit. Bei der Behandlung seltener Tumoren sieht es nicht so rosig aus: Durch die bereits erwähnten, sehr strikten gesetzlichen Bestimmungen ist ein Wirkstoff nur für jene Tumorerkrankung und Situation zugelassen, auf welche die Zulassungsuntersuchungen zugeschnitten war. Diese Sachlage erklärt, wieso sich die profitorientierten Pharmaunternehmen wissenschaftlich eher bei den häufigen Tumorarten engagieren. Weniger häufige Krebserkrankungen werden von der Industrie gegebenenfalls als Nebenprodukt mitbedient – wenn z. B. bei einer frühen Untersuchungsphase des auf einen bestimmten Tumor zugeschnittenen Wirkstoffs auffällt, dass auch eine andere, seltene Tumorart damit besonders gut behandelt werden kann. Oder es finden sich kleinere Pharmaunternehmen, die sich auf sogenannte Nischenprodukte spezialisieren. Das sind natürlich keine idealen Voraussetzungen für die Heilung einer komplexen Erkrankung! Eine weitere Schwierigkeit besteht bei Wirkstoffen, bei denen das Patent ausgelaufen ist oder die nicht patentierbar sind, weil es sich beispielsweise um Naturheilstoffe handelt. Diese Wirkstoffe können dann zwar als sogenannte Generika32 deutlich günstiger eingekauft werden; leider findet bei generischen Wirkstoffen aber keine weitere Untersuchung (z. B. in Kombination mit anderen Wirkstoffen) und insbesondere keine weitere Zulassung für andere Tumorerkrankungen statt. Dieses Unterfangen wäre für einen Pharmakonzern viel zu teuer und würde – wegen des ausgelaufenen Patents – den return on invest quasi unmöglich machen. Also befindet man sich bei der Anwendung dieser Substanzen im Falle von Tumorerkrankungen, die nicht im Rahmen des Zulassungsverfahrens untersucht wurden, immer im bereits beschriebenen Off-lable-use.

Nicht nur die Pharmaindustrie verdient an onkologischen Patienten, sondern auch Ärzte, wenn auch in weit geringerem Ausmaß. Der Verdienst bei der Versorgung der gesetzlich versicherten Patienten (wie erwähnt sind das über 90% der deutschen Bevölkerung) ist nämlich aufgrund des niedrigen Honorarniveaus sehr begrenzt. Eine Beispielrechnung: Ein Urologe bekommt für die Behandlung eines 65-jährigen Patienten mit einem metastasierten Prostatakarzinom, der mit einer Hormontherapie behandelt und im Quartal zwei- bis dreimal gesehen wird, etwa 60 € pro Quartal. Das ist nicht viel für die dreimonatige Betreuung eines schwer kranken Patienten. Bei anderen Fachärzten sehen die Umsätze ähnlich aus. Die Versorgung von Privatpatienten hingegen erbringt ein Vielfaches dieser Honorare. In der Gesamtrechnung haben die Ärzte dann ein relativ gutes Auskommen, vorausgesetzt, der Mix aus gesetzlich versicherten Patienten und Privatpatienten stimmt. Und auch wenn der Mix nicht stimmt, gibt es jede Menge sehr engagierter, bewundernswerter Ärzte, die ihre soziale Berufung sehr ernst nehmen und dafür persönliche Einschnitte hinnehmen. Einige Details zu der häufig verzerrt dargestellten finanziellen Situation der niedergelassenen Ärzte in Deutschland: Ein niedergelassener Arzt ist immer auch ein Unternehmer, der seine Praxis gekauft hat. Facharztpraxen (z. B. für Gynäkologie, Orthopädie, Urologie etc.) kosten etwa 200.000 bis 250.000 € in der Anschaffung. Dafür musste der fertig ausgebildete Arzt zumeist einen Kredit aufnehmen, den er über 10 bis 20 Jahre – zusätzlich zu den entstehenden Zinsen – tilgt. Dazu kommen die monatlichen Betriebskosten (Miete, Personal, Verbrauchsmaterialien etc.). Andere Einnahmequellen als die Ausübung seines Berufes in Form der Patientenversorgung hat der Arzt in der Regel nicht. Das bedeutet, dass er seinen Unterhalt ausschließlich mit der Behandlung seiner Patienten verdient, die – ich wiederhole mich – zu ca. 90% aus gesetzlich und zu etwa 9% aus privat versicherten Patienten besteht. In Regionen, in denen die Privatpatientendichte 9% oder sogar mehr beträgt, trägt sich die Mischkalkulation, und der Arzt hat sein Auskommen. In ländlichen Regionen oder sozial schwachen Stadtteilen funktioniert die finanzielle Struktur einer Praxis nur über einen möglichst hohen Patientendurchsatz, was

logischerweise zu Lasten der Versorgungsqualität geht. Dafür hagelt es dann Kritik von allen Seiten. Wer ist nun an dieser Misere schuld? Auf jeden Fall nicht die behandelnden Ärzte! Schuld ist die Vergütungsart für medizinische Leistungen. Unser Gesundheitssystem sieht eine Vergütung für Ärzte vor, die vielleicht bei Knopfproduzenten funktionieren könnte, nicht aber im Falle einer individuellen ärztlichen Leistung. Der Knopfproduzent muss möglichst günstig hohe Stückzahlen produzieren und absetzen, um ein rentables Geschäft zu betreiben. Gelegentlich klopft ein Designerlabel bei ihm an und bezahlt für eine kleine Lieferung einen weit höheren Preis (das wäre der Privatpatient in diesem vielleicht etwas hinkenden Vergleich). Ein Arzt sollte aber eher wie ein Goldschmied entlohnt werden, der jedes einzelne Stück akribisch, zeitintensiv und engagiert bearbeitet und dadurch sein Auskommen findet, dass er jedes seiner „Kunstwerke“ – die Behandlung der einzelnen Patienten – zu einem entsprechend hohen Preis vergütet bekommt. Inwieweit eine solche Finanzierungsart ärztlicher Leistungen umsetzbar und zu realisieren ist, liegt in den Händen unserer Gesellschaft und ihrer politischen Vertreter. Es gibt außerdem noch eine Reihe weiterer Faktoren, die dem Wohl des Patienten nicht gerade dienlich sind – und ihn manchmal sogar gefährden; mehr dazu in den nächsten Kapiteln.

Zwischen den Extremen: Kosten sparen und Therapieexplosion Im Folgenden möchte ich beschreiben, wie sich die Vergütung der Krankenhausversorgung in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat und was das für die Patienten bedeutet. Früher kostete ein Tag Liegezeit im Krankenhaus einen bestimmten Betrag, womit sämtliche Behandlungen abgegolten waren. In den frühen 1990er Jahren wurde dieses einfache und nachvollziehbare System nach und nach durch das System der sogenannten Diagnostic Related Groups

(DRG) ersetzt. Das bedeutet, dass anstatt des einheitlichen Tagessatzes eine Fallpauschale33 implementiert wurde. Hauptmotiv dieser Veränderungen war natürlich – wie meistens – das zentrale Bestreben der Gesundheitspolitik: die Kosteneinsparung. War ein Chefarzt bis dahin daran interessiert, einen Patienten möglichst lange in der Klinik zu behalten (zumindest so lange, bis er vollkommen wiederhergestellt war), führt das nun praktizierte Pauschalsystem, welches erkrankungsspezifische Mindest- und Maximalliegezeiten postuliert und individuelle Abweichungen verleugnet, zu einer möglichst frühzeitigen Entlassung des Patienten (kaum zufällig, dass diese oft gleich nach Ablauf der Mindestliegezeit erfolgt). Dies schafft Freiraum (oder besser gesagt „Freibett“) für den nächsten „Fall“. Nicht zufällig hat sich die durchschnittliche Liegezeit in deutschen Kliniken seit der Einführung der DRGs von etwa 15 Tagen im Jahre 1990 auf aktuell etwas mehr als 7 Tage reduziert. Wurde die Liegezeit zu Beginn der 1990er Jahre trendmäßig verlängert, kann man heute sicher sein, dass die Liegezeit so kurz wie möglich gehalten wird, was erstens sicher nicht immer im Sinne des Patientenwohles geschieht und zweitens die Leistungserbringung vom klinischen in den ambulanten Sektor verschiebt. Auch in puncto ärztliche Hierarchien hat sich in den letzten 20 Jahren einiges geändert – und wieder einmal nicht zum Besten der Patienten. In den Neunzigern war ein Chefarzt noch Herr im eigenen Haus; inzwischen werden den Chefärzten wirtschaftlich ausgebildete Geschäftsführer zur Seite gestellt (oder häufiger sogar vorangestellt), die penibel auf eine ökonomische Führung der Klinik achten und die Bewältigung einer angepeilten „Fallzahl“ einfordern. Da kommt es schon mal vor, dass der Chefarzt bei den niedergelassenen Kollegen um die Zuweisung einiger Fälle nachfragt, um sein Plansoll zu erfüllen. Im Extremfall führt dieses Abrechnungssystem sogar zu sinnlosen Therapien. Eine amerikanische Studie an über 1.200 Probanden im weit fortgeschrittenen Stadium einer Tumorerkrankung etwa hat gezeigt, dass 16% der Erkrankten in den zwei Wochen vor ihrem

absehbaren Tod noch eine aggressive Chemotherapie erhielten. Etwa die Hälfte der untersuchten Patienten erhielt mindestens eine sinnlose Therapie. Wie bereits im Abschnitt Hilfe für Ärzte: Leitlinien erwähnt, sind die Vorgaben des Patienten und seine schriftliche Einwilligung die einzige juristische Grundlage, die eine invasive und nebenwirkungsbehaftete Therapie rechtfertigt – und nicht ein gar nicht so selten vorkommender Aktionismus der Ärzte, die aus medizinischem Übereifer oder aus finanziellen Gründen mehr verschreiben als not tut. Ausgesprochen wichtig ist dabei allerdings, dass der Patient seine Einwilligung in genauer Kenntnis der aktuellen Situation und der mittels der Therapie zu erzielenden Vorteile gibt – ansonsten hat seine Zustimmung keinen Rechtsbestand. Zahlreiche Untersuchungen in den USA, aber auch in Europa haben gezeigt, dass unter den Bedingungen des nahenden Todes, der auch durch eine aggressive Therapie nicht abzuwenden ist, die Betroffenen eine Zusage zu einer solchen eigentlich verwehren würden. Ihre Beratung scheint jedoch nicht immer optimal zu sein, so dass sie oft in die Behandlung einwilligen, ohne über die Sinnlosigkeit dieser Maßnahme ausreichend informiert zu sein. Die dargelegten Zustände sind gängige Probleme des Gesundheitssystems, mit denen sich sowohl die niedergelassenen als auch die in Kliniken tätigen Ärzte arrangieren müssen; nicht wenige ziehen es deshalb vor, der Arbeit am Patienten den Rücken zu kehren. Eine solche Entwicklung heißt aber nichts anderes, als dass in absehbarer Zeit der benötigte Nachwuchs zur Aufrechterhaltung der ärztlichen Versorgung in Deutschland fehlen wird. Dieses in einigen Versorgungsbereichen bereits aktuelle Problem versucht das Gesundheitsministerium neuerdings durch die Anwerbung ausländischer Ärzte zu beheben. Ich bezweifle, dass ein solches Unterfangen die Probleme des Gesundheitssektors lösen wird. Ein ähnliches Modell aus der jüngsten Vergangenheit – die Anwerbung qualifizierter Ingenieure durch die deutsche „Green Card“ – brachte auch nicht den gewünschten Erfolg. Meiner Meinung nach würde eine „Attraktivitätssteigerung“ der ärztlichen Tätigkeit reichen, um der Abwanderung unserer sehr gut ausgebildeten Ärzte entgegenzuwirken. Leider sieht es zurzeit aber eher danach aus, dass durch die stetige Zunahme der bürokratischen Extraanforderungen der Arztberuf weiterhin an Zulauf einbüßen wird.

Qualitätsmanagement und Zertifizierung: Der Weg zur besseren Krebsmedizin? Im Kapitel Hilfe für Ärzte: Leitlinien berichtete ich über den enormen Wissenszuwachs in der Onkologie, der praktisch täglich stattfindet. Dieser Wissenszuwachs führt dazu, dass die onkologische Diagnostik und Therapie immer spezieller und komplexer wird. Diagnostik und Therapie müssen nicht nur auf einen bestimmten Tumor, sondern auf einen bestimmten Tumor mit unterschiedlichen Merkmalsausprägungen zugeschnitten werden. Je zahlreicher diese Merkmale sind (durch genetische Veränderungen, Ausbildungen bestimmter Oberflächenmarker auf den Tumorzellen usw.), desto komplexer wird die Behandlung. Darüber hinaus findet der Wissenszuwachs parallel auf zahlreichen Gebieten statt – beispielsweise der Tumorzellcharakterisierung und – darauf aufbauend – bei der Erforschung spezieller, auf die Tumorzellcharakteristika zugeschnittener medikamentöser Therapieansätze. Die erwähnte Etablierung von Leitlinien, die den Ärzten bei der Erfassung des neuen onkologischen Wissens helfen sollen, ist allerdings nur ein Schritt im Rahmen der Optimierungsbemühungen der onkologischen Diagnostik und Therapie. Weitere Instrumente für die Verbesserung onkologischer Behandlungen bilden die sogenannte zentrumsbasierte Medizin und das Qualitätsmanagement, die sich zumeist auf die Leitlinien beziehen (evidenzbasierte Medizin). Auslöser dieser Entwicklung waren Behandlungsdefizite, die in den frühen 2000er Jahren insbesondere bei Patientinnen mit Mammakarzinom aufgefallen waren. Umfassende Untersuchungen der Versorgungssituation krebskranker Patienten haben zu einem 3Stufen-Modell geführt; es handelt sich dabei um drei Versorgungsstufen, die in unterschiedlichen Zentren angeboten werden. Die erste und breiteste Stufe bezeichnet die Organzentren (C; z. B. Prostatakarzinomzentrum: Hier wird eine bestimmte Tumorart oder ein Fachgebiet behandelt). Die zweite Stufe bezeichnet ein Onkologisches Zentrum (CC; hier werden unterschiedliche Organe und Fachgebiete auf klinischer Ebene behandelt). Die dritte und schmalste Stufe bilden die Onkologischen

Spitzenzentren (CCC), welche sich insbesondere der Erforschung onkologischer Erkrankungen und der onkologischwissenschaftlichen Ausbildung der Ärzte widmen. In Deutschland gibt es zurzeit nur 11 solcher Spitzenzentren. Sinn und Zweck der zentrumsbasierten onkologischen Versorgung ist die interdisziplinäre, multiprofessionelle und leitliniengetreue Behandlung der onkologischen Patienten in jeder Krankheitsphase und jeder Krankheitssituation, und zwar auf jeder der genannten Stufen. Inwieweit finanzielle Aspekte (in erster Linie Kostendämpfungen) hierbei eine Rolle spielen, ist nicht ersichtlich. Im Nationalen Krebsplan (ein umfängliches Koordinations- und Kooperationsprogramm zur Weiterentwicklung der Krebsbehandlung und -forschung, das im Jahre 2008 von dem Bundesministerium für Gesundheit, der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Krebshilfe und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren ins Leben gerufen wurde), in dem auch die Definitionsgrundlage für die Zentrenzertifizierung erarbeitet wurde34, ist als Ziel 10 eine „evidenzbasierte und wirtschaftliche Versorgungspraxis“ und die „Sicherung der Finanzierbarkeit medizinisch notwendiger hochpreisiger Krebsarzneimittel“ deklariert, was zumindest teilweise auch auf einen finanziellen Aspekt hindeutet. Jegliche medizinische Institution, die sich auf einer der drei Stufen als entsprechendes Zentrum etablieren will, muss ein aufwendiges, auf bestimmten Richtlinien basierendes Qualitätsmanagement (QM) implementieren, bestimmte Mengen an Patienten vorweisen, eine ausreichend große Region versorgen und die Arbeitsabläufe sowie das QM-System von einer externen Institution35 durch ein sogenanntes Audit zertifizieren lassen. Das externe Audit muss in regelmäßigen Abständen wiederholt werden. Institutionelle Evaluationen der Erfüllung der Leitlinien bei der Behandlung onkologischer Patienten, die regelmäßig auf Basis von Kennzahlen erhoben werden, zeigen, dass solche Zentren zu einer Verbesserung der leitliniengerechten Behandlung geführt haben. Diese Ergebnisse sind sicherlich erstrebenswert und liegen im Sinne des Patientenwohls. Leider gibt es auch durchaus hinterfragungswürdige Aspekte der zentrumsbasierten Medizin:

Zunächst einmal sind diese Zentren, egal auf welcher Stufe der Versorgung sie angesiedelt sind, allein aufgrund der Mengenvorgaben der Zertifizierungsrichtlinien sehr groß und damit meistens wenig individuell in ihrer Patientenführung. Das urologische Netzwerk, in dem ich tätig bin, ist Teil eines durch die DKG zertifizierten Prostatakarzinomzentrums – ich durfte also den Zertifizierungsprozess quasi hautnah miterleben und kann unsere Arbeitsabläufe vor und nach der Zentrumsbildung vergleichen. Wir haben uns bereits vor der Zentrumsbildung eingehend und intensiv um die Behandlung uroonkologischer Patienten bemüht. Ich kann nicht behaupten, dass sich unsere Arbeitsabläufe oder die Leitlinientreue durch die Teilnahme an der zentrumsbasierten Onkologie bzw. Zertifizierung maßgeblich verändert hätten. Die zeitlichen Aufwendungen für die Zertifizierung und das externe Audit waren allerdings enorm – zumindest in meiner persönlichen Einschätzung und Sicht der Dinge. Den großen Vorteil der zentrumsbasierten Onkologie sehe ich insbesondere in der Standardisierung der Datenerhebung, die eine Kontrolle der Effektivität der onkologischen Therapieverfahren ermöglicht, und in der Verwendung dieser Daten zur stetigen Verbesserung der Behandlungen. Unbestreitbares Faktum ist es allerdings, das Zertifizierungs-, Dokumentationsund Evaluationsprozesse mittlerweile in der Medizin enorme personelle und finanzielle Ressourcen binden und verbrauchen. Ich sage immer: „Die Beratungsindustrie hat die Medizin für sich entdeckt“. Diese Entwicklung hat allerdings nicht erst mit der zentrumsbasierten Onkologie, sondern schon vor etwa zehn bis zwanzig Jahren begonnen, als sich die Gesundheitspolitik im Dienstleistungssektor des Gesundheitssystems – Kliniken, Praxen und Pflegeeinrichtungen – Kosteneinsparungen und Behandlungsoptimierung durch Qualitätsmanagement versprach. Und die Politiker gaben grünes Licht: Gesetze wurden verfügt, Richtlinien erstellt, Normen erarbeitet. Bereits im Jahre 2004 wurden Vertragsarztpraxen36, medizinische Versorgungszentren und Krankenhäuser gesetzlich zur Einführung und Weiterentwicklung eines QM-Systems angehalten37, eine Maßnahme, die auf dem „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen

Krankenversicherung“38 beruht. Die Anforderungen an das Qualitätsmanagement dieser Einrichtungen und der zeitliche Rahmen, in dem es implementiert sein musste, wurden vom ebenfalls 2004 ins Leben gerufenen Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA; siehe auch Krebs und unser Gesundheitssystem) mit einer Richtlinie, die zum 1. Januar 2006 in Kraft trat, vorgegeben. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass es sich lediglich um ein einrichtungsinternes QM ohne Pflicht zur externen Zertifizierung handelt. Das Engagieren einer kostenintensiven Beratung durch entsprechende Anbieter oder eine ebenfalls kostenintensive unabhängige Evaluation in Form eines externen Audits mit Zertifikatsvergabe war also gesetzlich nicht vorgeschrieben. Das hörte sich erst einmal recht harmlos an, und das Wort „Qualität“ klingt ja auch immer sehr vielversprechend. Nach genauerer Lektüre der G-BA-Richtlinie wurde den Einrichtungsbetreibern allerdings schnell klar, dass angesichts der Komplexität der Anforderungen das Hinzuziehen von Beratungsleistungen sowie die Abstellung von speziell ausgebildetem Personal unumgänglich waren. Das neue Gesetz sah zusätzlich vor, dass das eingeführte Qualitätsmanagementsystem ständig gepflegt und weiterentwickelt werden musste; damit lieferte es die Grundlage für den Fortbestand des Geldflusses in Richtung Beratungsindustrie. Alle Krankenhäuser sind nun verpflichtet, jährlich an einer von außen kontrollierten Qualitätssicherung durch die Übergabe standardisierter Daten an das Gesundheitsministerium teilzunehmen. Das von diesem ermittelte Qualitätsniveau einer Klinik wird mit bestimmten Referenzwerten und dem durchschnittlichen Niveau der Kliniken aus den anderen Bundesländern verglichen. Wird dabei ein bestimmtes Qualitätsniveau unterschritten, muss das Krankenhaus schriftlich Stellung dazu beziehen und/oder konkrete Verbesserungsmaßnahmen einleiten. Im ambulanten kassenärztlichen Versorgungsbereich ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) auf Basis der G-BARichtlinie (§ 8) dazu angehalten, jährlich 2,5% der Praxen hinsichtlich des Einführungs- und Entwicklungsstandes des

einrichtungsinternen Qualitätsmanagements zu überprüfen. Die Berichterstattung geht ebenfalls an den G-BA. Diese Anforderungsprofile und regelmäßigen Kontrollen haben dazu geführt, dass inzwischen nahezu jedes Krankenhaus und zunehmend auch die Praxen in Deutschland die „Flucht“ in die kostenintensive externe Beratung und Zertifizierung angetreten haben. Obwohl ich mich zu den glühenden Verfechtern von strukturiertem, reproduzierbarem und kontrolliertem Arbeiten zähle, bin ich der Meinung, dass sowohl Krankenhausärzte als auch ihre ambulant tätigen Kollegen genug damit zu tun haben, ihr tägliches Arbeitspensum in der Patientenversorgung zu bewältigen. Die Aufgaben des Qualitätsmanagements und der Zertifizierung bedeuten zusätzliche Dokumentationsarbeit, die – wenn überhaupt – nur indirekt dem Patientenwohl dient. Man sollte auch bedenken, dass sich zwar Abläufe und Produktqualitäten regeln und kontrollieren lassen, ärztliche Verhaltens- und Vorgehensweisen hingegen eher nicht in zertifizierbare Formen passen. Und trotzdem sind die Qualitätsmanagement-Abteilungen der Kliniken jene Abteilungen, die am schnellsten wachsen und dabei auf bedeutende finanzielle Ressourcen zugreifen. Gleichzeitig muss im ärztlichen und pflegerischen Sektor Personal eingespart werden. Ob diese Verhältnisse die Situation der Krebspatienten verbessern, sollte nicht an den regelmäßig veröffentlichten Qualitätsberichten, sondern an der Patientenzufriedenheit und insbesondere am Erfolg der gesamttherapeutischen Konzepte gemessen werden (also an der Verbesserung der Überlebenszeiten, der Heilungsraten und der Lebensqualität der Betroffenen). Genau das muss das übergeordnete Ziel der neuen Maßnahmen im Gesundheitssektor bleiben – anscheinend wird es aber immer häufiger (insbesondere zugunsten von Einsparungsstrategien und Kostendämpfungsmaßnahmen) aus den Augen verloren. Im Vordergrund vieler Bemühungen des deutschen Gesundheitssystems steht leider wieder mal das liebe Geld. Um Geld – und zwar sehr viel Geld – geht es auch im nächsten Kapitel.

Krebs und Big Business: Der Onkologiemarkt

Krebs und Business in einem Atemzug zu nennen hört sich zunächst einmal grotesk an. Wie ich im Weiteren aufzeigen werde, ist diese Verknüpfung jedoch absolut real und betrifft an Krebs erkrankte Personen mehr oder weniger direkt. Man muss dieses Thema einfach erwähnen – nicht, weil ich denke, dass Scharlatanerie und Profitgier in der Krebsmedizin an der Tagesordnung stehen; es gibt sie jedoch zweifelsohne, und gewisse Zusammenhänge versteht man erst, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass sowohl mit der Versorgung von Krebspatienten als auch mit der Krebsforschung weltweit sehr viel Geld verdient wird. Warum das so ist? Weil es so viele krebskranke Menschen gibt, die eine enorme Zielgruppe bilden. Nach aktuellen Schätzungen der Deutschen Krebshilfe e.V. erkranken jährlich etwa 490.000 Menschen allein in Deutschland an Krebs, und etwa 218.000 sterben daran – beides mit deutlich steigender Tendenz. Die letzten beiden Lebensjahre eines Menschen – egal, ob es sich um einen Zwanzig- oder einen Achtzigjährigen handelt – kommen die Krankenversicherungen am teuersten. Die schulmedizinischen Krebstherapien in Form von Operationen, Bestrahlungen oder medikamentösen Therapien sind aufwendig, häufig kompliziert und zumeist extrem teuer. Mehr als vier Milliarden Euro geben die Krankenkassen in Deutschland pro Jahr allein für Krebsmedikamente aus. Die komplementärmedizinischen Strategien – darunter versteht man sämtliche Behandlungsmethoden, die sich als Alternative oder Ergänzung zur Schulmedizin verstehen39– sind in Deutschland weit verbreitet und werden von den Patienten vielfach in Anspruch genommen, obwohl sie von den Krankenkassen meistens nicht finanziert werden.40 Krebs ist also nicht nur eine schwere Erkrankung, sondern auch ein Milliardenmarkt mit zahlreichen unterschiedlichen Akteuren. Am Krebs „verdienen“ Ärzte und Pflegepersonal, die Medizintechnologie und die Pharmabranche, das Transportwesen, die Wellnessindustrie und viele mehr. Der globale Markt für die Onkologie wird mit 880 bis 890 Milliarden USD pro Jahr beziffert. Aufgrund der stetigen Zunahme der Krebserkrankungen, der effektiveren Therapieoptionen und der besseren Verträglichkeit der Behandlungen beträgt die Wachstumsrate des Krebsmarktes etwa 5– 7% pro Jahr. Aufstrebende Wirtschaftsnationen wie China oder Brasilien und Schwellenländer wie Mexiko und Indien weisen mit

einem jährlichem Wachstum von 15–17% das größte Entwicklungspotential dieses Marktes auf – sie werden gerne auch als „Pharmerging Markets“41 bezeichnet. In einem solch aussichtsreichen Markt gibt es immer Spieler und Gegenspieler. Was der eine erfolgreich vermarktet, ist für den anderen Konkurrenz. Das Medikament, das der eine Apotheker verkauft, verkauft der andere nicht. Jener Patient, den der eine Onkologe behandelt, entgeht dem anderen Onkologen. Von den Kosten, die der einen Krankenkasse entstehen, bleibt die andere verschont. All diese Fakten sind Teil eines Wettbewerbs, der in gewissem Rahmen unvermeidbar ist (auch wenn er meiner Meinung nach in der medizinischen Versorgung einer Gesellschaft nichts zu suchen hat). Zusätzlich gibt es aber auch noch zahlreiche „Querkonkurrenzen“: Ein Gynäkologe und ein Onkologe buhlen um die Patientin mit Mammakarzinom; ein Strahlentherapeut und ein Urologe wetteifern um die Behandlung eines Patienten mit Prostatakarzinom (Bestrahlung oder Operation); die Kliniken konkurrieren mit den niedergelassenen Ärzten um die ambulante Behandlung; die niedergelassenen Ärzte betreiben stationäre Therapien als Belegärzte. Die Alternativmediziner werben um die schulmedizinisch behandelten Patienten; die Schulmediziner eignen sich vermehrt alternativmedizinische Methoden an. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ob diese Art der Querkonkurrenz, die sich durch ein Gegeneinander-Arbeiten auszeichnet, der Gesundung der Kranken dient, bezweifle ich. Das Gesundheitsministerium hat sich seit einigen Jahren die Stärkung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen zum Ziel gesetzt (die Gesundheitsreform von 2007 wurde sogar offiziell als GKVWettbewerbsstärkungsgesetz bezeichnet). Allerdings steht bei dieser Wettbewerbsförderungsstrategie offensichtlich nicht so sehr das Patientenwohl im Mittelpunkt der Bemühungen, sondern wohl eher – wie bei nahezu allen Gesundheitsreformen – die Kosteneindämmung. Und die Maßnahmen scheinen zu greifen. Im Jahre 2011 lag der Überschuss der gesetzlichen Krankenversicherungen bei gut 20 Milliarden Euro; im Jahre 2012 steigerte sich der Überschuss nochmals auf zusammengerechnet 23,5 Milliarden Euro. Sicherlich ist dieser Geldsegen auch der guten

Konjunkturlage der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren zu verdanken, denn die Krankenversicherungsbeiträge der Versicherten sind an die Lohnkostenentwicklung gekoppelt. Wenn also viele Bürger in Arbeit sind und ein sozialversicherungspflichtiges Gehalt beziehen, dann verdient auch die gesetzliche Kassenversicherung daran. Bei den aktuellen Überschüssen muss man sich jedoch fragen, ob die Kostenreduktion im Gesundheitswesen nicht mit Abstrichen in puncto Versorgungsqualität (durch Leistungsbegrenzung und Rabattverträge, insbesondere mit den Arzneiund Hilfsmittelherstellern) „bezahlt“ wird. Auf einem anderen Blatt steht die gewissenhafte und sinnvolle Verwendung solcher Überschüsse. Völlig richtig konstatiert der bekannte Berliner Krebsarzt Professor Wolf-Dieter Ludwig: „Geld einzusparen ist im Gesundheitswesen kein Selbstzweck. Es kommt darauf an, die Mittel, die man hat, am wirkungsvollsten für die Patienten einzusetzen.“ Ob das im Falle der Abschaffung der Praxisgebühr zutrifft, die als medienwirksame Maßnahme nach den gewaltigen Überschüssen der GKV in den Jahren 2011 und 2012 verkündet wurde, sei dahingestellt. Wahrscheinlich hätte man dieses Geld woanders sinnvoller einsetzen können. Zumindest die niedergelassenen Ärzte freuen sich über die Abschaffung der 2004 eingeführten Gebühr42. Denn es handelte sich dabei keineswegs um eine zusätzliche Einnahme für Ärzte, wie man vielleicht annehmen könnte: Die eingenommene Praxisgebühr wurde nämlich von den Quartalsbezügen der Leistungserbringer (also der niedergelassenen Ärzte) wieder abgezogen; mit anderen Worten wurden die Praxen lediglich zu Vollzugsgehilfen der Krankenkassen gemacht, wenn sie einen Teil ihres Honorars direkt von den Versicherten einforderten.

Ungereimtheiten rund um Krebs Grundlage der Honorierung in der Medizin ist die medizinische Leistung, die der Arzt höchstpersönlich erbringt. Keinesfalls sollte ein Arzt durch finanzielle Anreize zur Überweisung eines Patienten an andere Fachkollegen (und Partizipation an deren Honorar)

verleitet werden, da dieses zu unnötigen und im Extremfall sogar für die Patienten schädlichen Handlungen führt. Allerdings gibt es immer wieder Fälle, die genau dieses sinnlose Einleiten von Untersuchungen und Behandlungen dokumentieren: Z. B. war in den vergangenen Jahren eine deutliche Zunahme von Schnittbilduntersuchungen (Computertomographie und Magnetresonanztherapie, siehe Abschnitt Bildgebende Diagnoseverfahren in Kap. 4) zu beobachten, während die konventionellen planen Röntgenaufnahmen stetig abnahmen. Nicht zufällig werden Erstere wesentlich besser vergütet als Letztere. Die Verordnung einer radiologischen Untersuchung darf nur von einem entsprechend ausgebildeten Arzt (z. B. einem Internisten, Urologen etc.) vorgenommen werden; die Röntgenfachärzte benötigen eine solche Verordnung (Überweisung), um die Leistungen, die sie daraufhin erbringen, abrechnen zu dürfen. Daher sind Röntgenpraxen oder -kliniken zumeist Institute, die im Auftrag anderer Ärzte arbeiten; sie haben quasi keine eigenen Patienten. Eine Ausnahme bilden Privatpatienten: Diese können ohne Überweisung in ein radiologisches Institut marschieren und eine Untersuchung (aufgrund eines Behandlungsvertrags zwischen dem Röntgenarzt und dem Patienten) vornehmen lassen – das passiert jedoch eher selten. In keinem Fall darf ein überweisender Arzt an den Vergütungen des Leistungserbringers, der die per Verordnung angeforderte Leistung liefert, beteiligt sein. Dies gilt für jede Art von in Auftrag gegebener medizinischer Leistung. Leider werden immer wieder Fälle von Überweisungen gegen Entgelt von den Staatsanwaltschaften aufgedeckt (hier sind natürlich in erster Linie die auf Zuweisung angewiesenen Labor- und Röntgeninstitute betroffen). Neben dem finanziellen Verlust, der zu Lasten der Kassen geht, muss oft auch noch geklärt werden, ob die angeordnete Untersuchung im Sinne des Patientenwohles stattgefunden hat oder ob sogar der Tatbestand der Körperverletzung vorliegt. Glücklicherweise geht es bei diesen kriminellen Machenschaften definitiv um Einzelfälle. Ausnahmen bestätigen die Regel: Beim Zytostatika-Skandal, der im Frühjahr 2012 durch die Medien ging, handelte es sich um ganz andere Dimensionen des Betrugs. Der Spiegel betitelte seinen

Bericht zu diesem Thema sehr publikumswirksam mit „Die KrebsMafia“. Was war geschehen? Kurz gesagt hatten Apotheken zusätzliche Honorare für die Bestellung von Chemotherapeutika bei bestimmten Firmen erhalten, die auf den Großhandel mit Zytostatika spezialisiert waren. Die Firmen ihrerseits hatten die Wirkstoffe günstig (häufig im Ausland) eingekauft und ebenso günstig an die Apotheken-Großhändler weitergegeben. Die Krankenkassen zahlten aber jeweils den offiziellen Apothekeneinkaufspreis an die Großhändler, der um ein Vielfaches über dem tatsächlichen Einkaufspreis der spezialisierten Firmen lag. Dann erhielten die Apotheker von den Großhändlern als Beraterverträge oder Werbehonorare getarnte zusätzliche Vergütungen. Die Apotheker benötigten jedoch Rezepte von Ärzten, um die bestellten Chemotherapeutika überhaupt absetzen zu können. Deshalb waren auch zahlreiche Ärzte in diese Machenschaften involviert und wurden ebenfalls mit ungerechtfertigten Honoraren „belohnt“. Die finanziellen Dimensionen dieses Skandals gehen wohl in die dreistelligen Millionenbeträge; der Umfang der involvierten Pharmaunternehmen, Apotheken und Praxen scheint immens zu sein. Skandalös ist auch insbesondere die zum Teil schlechte Qualität der im Ausland produzierten und zu Spottpreisen eingekauften Wirkstoffe. Ein weiterer, ähnlicher Fall wurde ebenfalls im Frühjahr 2012 durch die amerikanische Aufsichtsbehörde Food and Drug Administration (FDA) aufgedeckt. Der Krebswirkstoff Avastin™, der über eine ägyptische Firma bezogen wurde, entpuppte sich als „Ente“: Untersuchungen der Präparate zeigten, dass den Medikamentenfläschchen der Wirkstoff vollkommen fehlte. Wenn es auch nicht das Ziel meiner Bestrebungen ist, den Leser hinter jedem therapeutischen Angebot einen Betrug vermuten zu lassen (was auch sicher nicht der Fall ist), wollte ich ihm durch diese Ausführungen doch die Dimensionen der Themen Markt und Business in der Onkologie vor Augen führen. Ein bisschen Aufmerksamkeit, eine gesunde Portion Misstrauen und ein Quantum Rebellion – mit einem Wort: Aufklärung – ist beim Thema Krebs unverzichtbar.

2.5 Aufklärung damals und heute Unser Gesundheitsystem ist ein Bürokratiemonster, das sich gerne unnahbar gibt. Ärzte und Patienten sollen einfach hinnehmen, dass alles nun mal so ist, wie es schon immer war. Das hilft den Patienten aber – und darum geht es in erster Linie – überhaupt nicht. Man kann Dinge verändern: Obsolete Zustände sind im Laufe der Geschichte immer wieder beseitigt worden – umso schneller, je mehr Menschen an einer Veränderung der bestehenden Zustände interessiert waren. Zuerst musste allerdings die Wurzel des Problems erkannt werden – und dafür war es wichtig, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“43. Diese von Kant auf den Punkt gebrachte Erkenntnis hatte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts durchgesetzt und ein jahrhundertelang tradiertes, aber nicht dem Wohle des Volkes dienendes Weltbild ins Wanken gebracht – mit äußerst positiven Konsequenzen für den Einzelnen. Die Rede ist von der Epoche der Aufklärung. Statt wie bisher blind auf die Vorgaben von Staat und Kirche zu vertrauen, in der Hoffnung, im Jenseits eine großzügige Belohnung für lebenslange Entbehrungen zu erhalten, wurden die Menschen in Aufklärungsschriften aufgefordert, ihrem eigenen Verstand zu vertrauen, ihre Freiheit zu erkennen und sich nur von der eigenen Vernunft leiten zu lassen. Diese Denkweise, die uns heute ganz selbstverständlich erscheint, kam damals einer Revolution gleich: Wichtiger noch als die Französische Revolution war die Tatsache, dass unzählige Menschen es lernten, kritisch zu denken, Vorgegebenes zu hinterfragen, nichts mehr einfach hinzunehmen, weil es von einer Autorität propagiert wurde – sie

lernten also, selbstbestimmt zu leben, auch angesichts widriger Umstände. Man sollte meinen, dass die Vorteile dieser neuen Denkweise auf der Hand lagen; trotzdem hatte sie genug Gegner, die den Menschen einreden wollten, dass es mit ihnen ein schlimmes Ende nehmen würde. Aber zahlreiche Philosophen, Schriftsteller, ja sogar Herrscher kündeten unermüdlich von den Vorteilen des Wissens und des unabhängigen Denkens. Sie leisteten im wahrsten Sinne des Wortes Aufklärungsarbeit – mit Erfolg, denn diese geistesgeschichtliche Epoche stellt die Grundlage unseres heutigen Lebensstandards dar. Auch der Beginn seriöser naturwissenschaftlicher und medizinischer Forschung liegt in dieser Epoche begründet; zahlreiche Errungenschaften, die für uns normal sind, damals aber der großen Masse der Bevölkerung unzugänglich waren – wie Lesen und Schreiben, Sozialleistungen oder Hygiene – eroberten den Alltag und ermöglichten es dem Einzelnen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die neue Lebenseinstellung hatte natürlich ihren Preis: Man musste sich informieren, lesen, mit anderen diskutieren, seine Meinung durchsetzen, und man durfte vor allem nicht an den Umständen, in die man hineingeboren wurde, verzweifeln. Sie waren nicht gottgegeben; man konnte zumindest versuchen, sie zu verändern – vor allem hatte man die Freiheit, zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zu wählen. Sieht es heute für die große Gruppe der Krebskranken nicht ähnlich aus? Ärzte und Politik entscheiden an ihrer Stelle, was zu tun ist; nur wenige – viel zu wenige –kommen auf die Idee, den vorgegebenen Weg zu hinterfragen und davon abweichende Entscheidungen zu treffen. Seinem Arzt muss man doch vertrauen und gehorchen, oder? Meine Antwort hierzu lautet: Ja, aber nicht blind! Man darf und soll hinterfragen, andere Meinungen einholen, kritisch reflektieren und das einfordern, wovon man überzeugt ist, dass es einem hilft. In den vorangehenden Kapiteln habe ich schon öfters angedeutet – und im nächsten Kapitel werde ich diese Tatsache vertiefen –, dass Krebs sehr individuell ist und dass auch die Ärzte bei jedem neuen

Krebspatienten – anders als bei den „besiegten“ Krankheiten, denen mit bewährten Therapien beizukommen ist –, es mit einem Tumor aufnehmen, der nicht gänzlich zu durchschauen ist und ein gewisses Geheimnis für sich behält. Die Krebsforschung schreitet voran, aber noch gibt es keinen Arzt und keine Institution, die auch nur annähernd behaupten könnten, die Krankheit im Griff zu haben. Diese allgemeine Unsicherheit lässt sich leicht für unlautere Zwecke benutzen, wenn es gelingt, den Betroffenen von seinem wohlmeinenden Berater oder Arzt zu entfernen; aber auch blindes Gehorchen ist nicht besser – am zielführendsten ist und bleibt die eigene Initiative aufgrund von Wissen sowie selbstbestimmtem Denken und Handeln. Unsicherheit und Unwissenheit sind der Boden, auf dem allerhand Unfug gedeiht, der für einen Krebsbetroffenen äußerst gefährlich ist. Je mehr Wissen, desto weniger Unsicherheit und falsche Strategien; je weniger der von Krebs Betroffene das Gefühl hat, anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, desto mutiger wird er sich der Erkrankung stellen. Ein Arzt weiß sicher mehr als der einzelne Patient; aber je mehr ein Betroffener vom Thema verstanden hat, umso mehr erkennt er, ob das, was ihm vorgeschlagen wird, auch vernünftig und sinnvoll ist. Umso mehr kann er auch ablehnen, was ihm nicht zielführend erscheint, und umso mehr kann er selbstbewusst eine Dienstleistung in Anspruch nehmen, von der er sich eine Besserung seines Zustandes erwarten darf. An Krebs zu erkranken führt, wie bereits dargestellt, zu extremem Stress sowohl beim Betroffenen als auch bei seinem Umfeld. Die nötige Auseinandersetzung mit dem Ungetüm Gesundheitswesen ist sicherlich nicht dazu angetan, das offensive Herangehen an die Thematik zu fördern, sondern schafft zusätzliche Ängste und begünstigt so die bereits aufgezeigten Fluchtund Vermeidungsstrategien. Diese zugegebenermaßen sehr ernüchternden Tatsachen können leicht zu einem Gefühl der Resignation führen: Resignation vor der scheinbar unüberwindlichen Aufgabe, sich selbst oder einen betroffenen Angehörigen durch die unübersichtliche, bürokratisierte und komplizierte Landschaft der Krebsmedizin zu geleiten und sich dabei

so gut zu informieren, dass man bei allen Diagnostik- und Therapiemaßnahmen auf Augenhöhe „mitreden“ kann. Dieses trotzdem zu tun wäre tatsächlich eine neue, revolutionäre Denkweise. In Deutschland leben aktuell etwa 1,4 Millionen Menschen, die krebskrank sind oder Krebs hatten. Jedes Jahr kommen 490.000 Erkrankte hinzu. Rechnet man das Umfeld dieser Menschen dazu, so ergibt sich eine sehr große Gruppe, die, mit einer neuen Denkweise ausgestattet, viel bewegen kann. Auch wenn ich sicherlich nicht so vermessen bin, anzunehmen, dass mein kleines Buch eine Revolution bewirken wird, möchte ich damit doch erreichen, dass möglichst vielen Lesern klar wird, wie wichtig es ist, gerade in Ausnahmesituationen wie einer Krebserkrankung sehr gut über das System, dem man sich anvertraut, informiert zu sein. Und natürlich über die Erkrankung selbst – im nächsten Kapitel erhält der Leser die Gelegenheit, das Wesen von Krebs kennenzulernen. 4 =von Proteinen ausgehend. Bestimmte Proteine haben Schutzfunktionen. 5 z. B. durch AIDS ausgelöst 6 Die Psychoimmunologie untersucht die psychischen Motive der immunologischen Reaktionen und der Entstehung und Abwehr von Krankheiten wie z. B. Krebs. Die Psychoonkologie befasst sich hauptsächlich mit den psychischen Belastungen der Patienten während einer Krebstherapie. 7 Daniel Kahneman, ein amerikanischer Psychologe und Bestsellerautor, setzt sich in seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken ausführlich mit den unterschiedlichen Denk- und Reaktionsleistungen unseres Gehirns auseinander und bietet zahlreiche Beispiele irrationaler und falscher Reaktions- und Verhaltensweisen. Er zeigt, dass lediglich unter Aufwendung enormer Anstrengungen und Energieleistungen das rationale und situationsadäquate Denken, Erkennen und Handeln möglich ist und befasst sich auch mit der Problematik unserer Reaktionen angesichts schwerer Erkrankungen. 8 Wobei hier ganz ausdrücklich gesagt sei, dass ich die Bezeichnung „Arzt“ (genau wie „Spezialist“, „Wissenschaftler“ und „Experte“) sowohl für männliche als auch für weibliche Vertreter dieses Berufsstandes verwende und es hinsichtlich der Qualifikation für die ärztlichen Aufgaben keinen geschlechtsspezifischen Vorteil gibt. 9 Der Arzt fragt hierbei nach Symptomen, Befunden und der Krankheitsgeschichte. Vgl. auch Kap. 4, Abklärung eines Verdachts 10 Allgemeinmediziner oder hausärztlich orientierte Internisten 11 siehe nächstes Kapitel 12 Lungenkarzinom 13 Brustkarzinom bei Frauen, aber auch Männern 14 Prostata = Vorsteherdrüse, eine Geschlechtsdrüse des Mannes im kleinen Becken unterhalb der Harnblase

15 mit der Nennung der Quelle, des Evidenzgrades und des Empfehlungsgrades 16 Das sind sämtliche Maßnahmen, die zur Verhinderung oder Behandlung von Nebenwirkungen der Therapien vorgenommen werden. 17 = Erbrechen auslösend 18 „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ 19 = Tumorarten 20 Hierzu gehören Seminome und die Gruppe der Nicht-Seminome. 21 mit Cisplatin, Etoposid und Bleomycin (auch als Einhorn-Schema bezeichnet). 22 Das Will-Rogers-Phänomen und seine Bedeutung für die bildgebende Diagnostik, in: Radiologe, 2009, 49: 348–354 23 engl. für „Verzerrung“ 24 Das passiert im Falle latenter Tumoren, vgl. das Kap. Früherkennung. 25 Generikaquoten erfordern, dass ein ambulant tätiger Arzt – wenn möglich – einen bestimmten Prozentsatz von generischen Wirkstoffen – also solchen, die nicht mehr unter Patentschutz stehen und daher kostengünstig eingekauft werden können – anstelle von Originalpräparaten, die sehr teuer sind, verschreiben muss. Laut Vorgabe der Kostenträger (also der Krankenkassen) und der Kassenärztlichen Vereinigung soll die Generikaquote bei 80–90% der quartalsweisen Verschreibungen einer Praxis liegen. 26 vgl. auch das Kap. Eine teure Krankheit 27 Die Bewertung erfolgt dann nämlich lediglich aufgrund von Daten aus den Zulassungsstudien und nicht aufgrund praktischer Anwendung des Wirkstoffes in der Bevölkerung – das wäre die Domäne der Versorgungsforschung. 28 Docetaxel ist das zugelassene Chemotherapeutikum für das Prostatakarzinom nach einer Hormontherapie, wenn der Tumor sich als hormonresistent erwiesen hat. 29 D. h., die Therapie findet außerhalb der Zulassung statt. 30 z. B. der Basistarif: eine auf der Gesundheitsreform von 2007 fußende Verpflichtung der Privatversicherer, Bürger ohne Gesundheitsprüfung und Ausschlussmöglichkeiten auf Grundlage der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu versichern 31 Ziel der Therapie ist in diesem Fall die langfristige Heilung des Patienten. 32 So werden sämtliche Wirkstoffe, bei denen das Patent ausgelaufen ist, bezeichnet. 33 eine krankheitsspezifische Vergütung 34 Ziel 5 des Nationalen Krebsplanes 35 z. B. die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG), die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) oder die Deutschen Krebshilfe (DKH) 36 Vertragsarztpraxen sind Praxen mit einer Zulassung der Kassenärztlichen Vereinigung zur Behandlung von Patienten, die in gesetzlichen Krankenkassen versichert sind. 37 SGB V §135a (2) 38 im Rahmen der Gesundheitsreform des Jahres 2003 verabschiedet 39 z. B. Homöopathie, Naturheilverfahren, Akupunktur etc., vgl. auch das Kap. Komplementäre Therapien 40 Es handelt sich hierbei um Selbstzahlerleistungen, auch Individuelle Gesundheitsleistungen = IGEL genannt. 41 abgeleitet von „Emerging Markets“ = sich entwickelnde Märkte

42 Die Einführung der Praxisgebühr basierte auf der Gesundheitsreform von 2003, dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. 43 In der Dezemberausgabe 1784 der Berlinischen Monatsschrift hatte Immanuel Kant zusammengefasst: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

3.

Krebs – was ist das?

Es ist leider eine Tatsache, dass Krebserkrankungen mittlerweile extrem häufig sind. Wie bereits erwähnt, erkrankt heutzutage jeder zweite Deutsche in seinem Leben an einer (oder sogar mehreren) der zahlreichen Krebsformen. Jeder Vierte verliert den Kampf gegen den Krebs. Der menschliche Körper ist eine geniale Schöpfung der Evolution, gleichzeitig aber anfällig für Krankheiten. Zahlreiche Erkrankungen, die früher unweigerlich zum Tode führten, haben wir mittlerweile besiegt – was zu einer deutlichen Steigerung der Lebenserwartung der Spezies Mensch geführt hat. Die Krankheiten, mit denen wir uns heute therapeutisch konfrontiert sehen, scheinen komplizierter und schwerer zu entschlüsseln zu sein. Das darf nicht weiter verwundern, denn gerade durch den Zugewinn an Lebenszeit, der mit den bisherigen medizinischen Errungenschaften erreicht wurde, nehmen jene Erkrankungen an Häufigkeit zu, die mit der Alterung des Körpers und den nachlassenden körperlichen Leistungen und Funktionen einhergehen. Wie bereits festgestellt, erscheint es geradezu grotesk, dass gerade die für das Leben und unsere Entwicklung unverzichtbaren Fähigkeiten der Körperzellen, nämlich Wachstum und Vermehrung, die Grundlage der Krebserkrankungen bilden – wenn auch in Form von bösartigem Wachstum. Die bisherigen eher marginalen Erfolge der etablierten Krebstherapien sowie der verstümmelnde und aggressive Charakter der Krebserkrankungen haben dazu geführt, dass die Krankheit – und oft auch schon die potenzielle Bedrohung, an Krebs zu erkranken – gerne verleugnet werden. Eine rationale Auseinandersetzung mit dieser Gefahr ist in unserer Gesellschaft so

gut wie nicht vorhanden. Kaum jemand beschäftigt sich intellektuell mit Krebs, so lange er nicht indirekt oder direkt davon betroffen ist, und kaum jemand ist sich der Möglichkeit, dass er Krebs bekommen könnte, bewusst. Ich erlebe es nahezu täglich in meiner Praxis, dass die meisten Menschen im Falle eines Krebsverdachts völlig schockiert reagieren. Das ist fürs Erste normal – wenn als nächster Schritt der Wille zur Auseinandersetzung mit dem Thema vorhanden ist, weil nur so die Angst vor der Erkrankung besiegt werden kann. Diese Angst wäre, wie ich schon gezeigt habe, der denkbar schlechteste Ratgeber für den Betroffenen. Hier möchte ich noch einmal kurz das Zeitalter der Aufklärung bemühen, weil ich derzeit durchaus Parallelen zu dieser weit zurückliegenden Epoche erkenne – vor allem in Verbindung mit der Allgegenwärtigkeit und gesellschaftlichen Tragweite der Krebserkrankungen. Ich plädiere dafür, dass heute – ähnlich wie das Allgemeinwissen in der Epoche der Aufklärung – das wissenschaftliche Verständnis in Bezug auf Krebserkrankungen allgemein zugänglich wird und die selbstbestimmte Entscheidungsfindung im Umgang mit Krebs ganz selbstverständlich ist. Noch spielen sich die wissenschaftlichen Entwicklungen zum Thema Krebstherapie in einem fast isolierten Raum ab, der all jenen, die sich mit Krebs auseinandersetzen wollen und müssen, nicht ohne Weiteres offen steht. Die Metapher vom „Elfenbeinturm der Wissenschaft“ ist leider immer noch zutreffend. Viele Betroffene würden aber zweifelsohne davon profitieren, wenn sie sich ohne irgendwelche Hürden über ihre Erkrankung informieren könnten und dadurch imstande wären, ihre eigene Situation zu begreifen und Entscheidungen im vollen Wissen um die Situation zu treffen. Und umgekehrt: Ich bin davon überzeugt, dass viele Tausende Menschen, die ihren Ärzten auf Augenhöhe begegnen, gemeinsam mit ihnen Lösungen suchen und mitdiskutieren können, wenn es gilt, sich für die eine oder andere Therapie zu entscheiden, zu einer deutlichen Steigerung der Effektivität der wissenschaftlichen und ärztlichen Bemühungen beitragen werden. Dann ist endlich das Gegenteil von Fremdbestimmung auf Seiten der Betroffenen der Normalfall geworden. Das wird seine Zeit brauchen – die Epoche der

Aufklärung hat auch nicht von einem Tag auf den anderen zu unseren heutigen Errungenschaften geführt. Auch heute ist Wissen immer noch die wichtigste Grundlage einer solchen Entwicklung in Richtung Selbstbestimmung, durch die von Krebs Betroffene immer mehr „Mitspracherechte“ erwerben und gleichzeitig das Voranschreiten der Krebsforschung mitbestimmen. Neben dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen, den die Information, das Wissen und die gedankliche Auseinandersetzung mit dieser komplexen Thematik meines Erachtens nach hat, hoffe ich, auch einen „stärkenden“ Effekt bei dem Einzelnen hinsichtlich seiner Positionierung und Einstellung zur Krankheit zu erreichen. Sowohl bei direkter als auch bei indirekter Betroffenheit wünsche ich ihm eine auf Wissen basierende, rationale Entscheidungsfindung im Umgang mit Krebs, die nicht von Angst und negativen Emotionen geprägt ist. Bisher habe ich hauptsächlich das Umfeld der Betroffenen unter die Lupe genommen – das heißt das System, von dem sie abhängig sind und das sie brauchen, um ihre Erkrankung zu bekämpfen. In diesem Kapitel möchte ich den Leser „in medias res“ führen und quasi in seinen Körper hineinleuchten, damit er sich eine genaue Vorstellung von all jenen Abläufen machen kann, die beim Entstehen von Krebs eine Rolle spielen.

3.1 So funktioniert das Leben Unser Körper ist ein sehr kompliziertes Gebilde, in dem zahlreiche Prozesse zeitgleich und perfekt aufeinander abgestimmt ablaufen. Die kleinste Funktionseinheit des Lebens ist die Zelle. Sie ist ähnlich aufgebaut wie ein Körper: mit einer Außenschicht (der Zellmembran) und unterschiedlichen Funktionseinheiten44 in ihrem Inneren. Das Herzstück der Zelle ist der Zellkern; hier befindet sich auch ihr Bauplan, das Genom. Dieser Bauplan beinhaltet sämtliche Informationen für die Proteinbiosynthese (das Herstellen von Eiweißen) und für die Replikation (oder Vervielfältigung) der Zelle. Wenn aus einer Zelle zwei entstehen, muss der Bauplan der neuen Zelle „mitgegeben“ werden. Bei mehr als 3 Milliarden Informationseinheiten, die dieser Bauplan enthält und die bei der Zellteilung übertragen werden müssen, und ungefähr 10 Millionen Zellteilungen pro Sekunde in unserem Körper finden in jeder Sekunde unseres Lebens 3 × 1016 (30 Billiarden) Informationsübertragungen statt! Dass dabei Fehler passieren können und auch ständig passieren, leuchtet wohl jedem ein. Dass unser Körper aber trotzdem meistens reibungslos funktioniert, verdanken wir seinen überaus effektiven Überwachungs- und Reparaturmechanismen, die überall – auf Genom-, Protein- und Zellebene – wirksam sind. Gehen wir eine Stufe weiter: Unser Körper ist ein Gebilde aus etwa 1014 Zellen (= 100 000 000 000 000 = 100 Billionen) unterschiedlicher Bauart. Jede einzelne davon besteht auf der

molekularen Ebene aus Wasser, Proteinen, Kohlehydraten und Fetten. Proteine sind die wichtigsten Moleküle der Zelle, die zahlreiche Aufgaben wahrnehmen, etwa Abwehr von schädlichen Stoffen, Formgebung, Informationsübermittlung, Transport von Nährstoffen; außerdem fungieren Proteine als Reservestoffe für die Energieversorgung. Der im Zellkern lokalisierte und bereits oben erwähnte Bauplan ist nichts anderes als eine Matrize45, bestehend aus der sogenannten DNS (= Desoxyribonukleinsäure – oder englisch DNA = desoxyribonucleic acid), mit deren Hilfe alle Proteine, die der Körper benötigt, gebildet werden. Die anderen Grundstoffe des Körpers (z. B. Kohlehydrate, Fette und Spurenelemente) werden über die Nahrung direkt aufgenommen oder unter Mitwirkung bestimmter Proteine aus Grundeinheiten (z. B. aus Fetten und Proteinen, welche sich zu sogenannten Lipoproteinen zusammenschließen) erzeugt. Die DNS besteht aus langen Molekülketten, und zwar aus Zuckermolekülen (Desoxyribose), die durch Phosphatmoleküle miteinander verbunden sind. An diese Zucker-Phosphat-Ketten lagern sich bestimmte Basen an, nämlich Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T), die sich mit anderen Basen einer anderen Zucker-Phosphat-Kette verbinden. Diese Basenpaarbildung entsteht über sogenannte Wasserstoffbrücken zwischen Cytosin und Guanin sowie zwischen Adenin und Thymin. Die Abfolge der vier Basen auf dem DNS-Strang dient letztendlich der Speicherung von Informationen für die Baupläne der Proteine. Durch die Querverbindung zweier Zucker-Phosphat-Ketten mithilfe der Basenpaarbildung entsteht die typische DNS-Struktur: die Doppelhelix, eine wendelförmige Anordnung aus den beschriebenen langen Molekülketten. Die Gesamtheit dieser kleinen Spiralen ergibt das menschliche Genom, das in mehrere dieser Doppelhelices aufgeteilt ist. Aneinandergelegt wäre die DNS einer einzigen menschlichen Zelle knapp zwei Meter lang. Nur durch eine ganz bestimmte, sehr raffinierte Faltung und Verpackung passen die „endlosen“ Molekülstränge in den nur etwa zehn Mikrometer (10-6 m) kleinen Zellkern. Die Information für die Produktion eines bestimmten Proteins ist immer in einem bestimmten Abschnitt des Genoms gespeichert;

dieser Abschnitt wird als Gen bezeichnet. Wissenschaftler drücken das so aus: Ein Gen „codiert“ für ein bestimmtes Protein. Die Information muss während der Proteinproduktion in die Bausteine der Proteine, die Aminosäuren, überführt werden. Der Vorgang der Proteinproduktion (oder Proteinbiosynthese) unterteilt sich in mehrere Schritte: Zunächst wird die Doppelhelixstruktur der DNS aufgebrochen, so dass wieder Einzelstränge entstehen. Einer der nun vorliegenden Einzelstränge (der sogenannte codierende Strang, der den Bauplan für das Protein enthält) wird durch das Enzym RNSPolymerase II in die sogenannte messenger-RNS (m-RNS) überführt. Die Ribonukleinsäure (RNS, englisch: RNA = ribonucleic acid) ist ebenfalls eine der DNS ähnliche, lange Molekülkette, die aus dem Zucker Ribose und den bindenden Phosphatmolekülen besteht. Die Überführung der im Zellkern lokalisierten DNS in m-RNS wird als Transkription bezeichnet. Die m-RNS wird aus dem Zellkern heraus ins Zytoplasma (der Zellraum außerhalb des Zellkerns) transportiert. Im Zytoplasma wird die m-RNS an eine Proteinproduktionseinheit, das Ribosom, angekoppelt. Wie bereits aufgezeigt, liegt in der Abfolge der Basen auf dem codierenden DNS-Strang die Information zur Proteinbiosynthese verschlüsselt. Da Proteine aus im Wesentlichen einundzwanzig verschiedenen Aminosäuren bestehen, würden vier Basen nicht ausreichen, um zu bestimmen, wann und wo eine bestimmte Aminosäure in die Proteinstruktur eingesetzt werden soll (41 = 4). Auch zwei Basen zur Codierung einer Aminosäure wären zu wenig, um einundzwanzig Aminosäuren zu definieren (42 = 4 × 4 = 16). Erst bei drei Basen (einem Basentriplet46) ist eine entsprechend große Kombinationsmöglichkeit vorhanden, um für einundzwanzig Aminosäuren zu codieren (43 = 4 × 4 × 4 = 64) – es ergeben sich sogar deutlich mehr Möglichkeiten als notwendig. Daher kann die Natur es sich leisten, eine bestimmte Aminosäure durch mehrere Basentriplets zu repräsentieren – der genetische Code verfügt also über eine gewisse Redundanz47. Ganz wichtig ist das Startcodon, welches immer durch das Basentriplet Adenin-Uracil-Guanin (AUG) gebildet wird. Es codiert für die Aminosäure Methionin, die den Anfang jeder Aminosäurenkette – also jeder Proteinstruktur –

repräsentiert. Außerdem gibt es noch drei sogenannte Nonsensecodons (UAA, UAG, UGA), die nicht für eine Aminosäure codieren, sondern das Ende der Aminosäurenkette darstellen (Stopcodon). Die m-RNS-Kette, welche vom Zellkern ins Zytoplasma transportiert wurde, wird so in das Ribosom eingespannt, dass ein Basentriplet an einer bestimmten Repräsentationsstelle zu liegen kommt. Im Zytoplasma befindet sich noch eine weitere RNS-Art: die transfer-RNS (t-RNS). Diese t-RNS verfügt über ein Anticodon (also ein zum Codon eines bestimmten Basentriplets auf der m-RNS passendes „reziprokes“ Basentriplet) und eine dem Codon der mRNS entsprechende Aminosäure. Das passende, reziproke Basentriplet lagert sich an dem Basentriplet, welches sich in der Repräsentationsstelle des Ribosoms befindet, an. Durch chemische Prozesse kommt es nun zur Lösung der Aminosäure von der t-RNS und zur Bildung der Aminosäurenkette. Die jetzt „leere“ t-RNS (die Aminosäure wurde ja abgegeben) entfernt sich vom Ribosom. Die mRNS rutscht im Ribosom genau drei Basen (also ein Basentriplet) weiter, und das nächste Codon wird für die nächste t-RNS präsentiert. Die Aminosäurenkette wird auf diese Weise so lange verlängert, bis ein Stopcodon das Ende der Kette markiert und der entstandene Aminosäurenstrang sich vom Ribosom trennt. Die Überführung des m-RNS-Codes in die entsprechende Aminosäurensequenz wird als Translation bezeichnet. Aber nicht der gesamte m-RNS-Strang codiert für die Aminosäuresequenz: Durch sogenanntes Splicing (Herausschneiden) werden codierende und nicht-codierende Abschnitte des m-RNS-Stranges getrennt und die codierenden Anteile in die Aminosäurenkette überführt. Menschliche Proteine bestehen aus Aminosäurenketten, die aus 50 bis 30.000 Aminosäuren bestehen. Die Aminosäuren einer Proteinkette enthalten nun wieder bestimmte Informationen hinsichtlich der Struktur des Proteins. Die in den Aminosäuren gespeicherten Informationen werden durch die sogenannten posttranslationalen Modifikationen der Aminosäurenkette „bewahrt“. Diese Modifikationen bestimmen z. B. die Faltung des Proteins, die Zusammenlagerung von mehreren Proteinketten oder die Anlagerung von bestimmten Molekülen (z. B.

Eisen beim Hämoglobin). Erst nach posttranslationaler Modifikationen ist entstanden.

Abschluss sämtlicher das fertige Protein

Drei Milliarden Basenpaare Im Rahmen des 1990 begonnenen Human Genom Project (HGP)48 wurde in einer weltweiten wissenschaftlichen Aktion das gesamte menschliche Genom entschlüsselt. Man erkannte bald, dass nicht jedes der über drei Milliarden Basenpaare der menschlichen DNS für ein spezifisches Protein codiert. Der größte Teil des Genoms stellt keine für Proteine codierenden Sequenzen – also keine Gene – dar. Nur etwa fünf bis zehn Prozent des Genoms einer Zelle werden aktiv in funktionale Proteine überführt. Nach dem Abschluss des Humangenomprojekts im Jahre 2003 stand fest, dass in den über drei Milliarden Basenpaaren des menschlichen Genoms etwa 20.300 proteincodierende Gene enthalten sind. Das Proteom des menschlichen Körpers (die Gesamtheit all seiner Proteine) umfasst zwischen 500.000 und einer Million dieser wichtigen Bausteine des Lebens. Der Umfang und die Zusammensetzung des Proteoms des menschlichen Körpers ist (im Vergleich zum Genom) extrem variabel und von zahlreichen äußeren49 und inneren50 Faktoren abhängig. Die Diskrepanz zwischen dem aktiven Genom (ca. 20.300 aktive Gene) und dem aktiven Proteom (bis zu 1.000.000 aktive Proteine) erklärt sich durch Mechanismen wie das alternative m-RNS-Splicing (d. h., dass aus der Basensequenz eines Gens durch die unterschiedliche Zusammensetzung der Genabschnitte verschiedene Aminosäurenketten und Proteine gebildet werden können) und die posttranslationalen Modifikationen, die ich bereits beschrieben habe. Die 2003 postulierte, scheinbar unendliche Verschwendung von genetischem Informationsmaterial wurde unlängst als unrichtig erkannt. Bei der Beendigung des Humangenomprojekts ging man noch davon aus, dass die immensen Mengen nicht-codierender DNS (90–95%) keine Funktion hätten – man sprach von „gene junk“

(Genmüll). Allerdings hatte das Humangenomprojekt lediglich die Basenabfolge der DNS identifiziert, ohne Aussagen in Bezug auf die Funktionen der verschiedenen Abschnitte liefern zu können. Das war für die Wissenschaftler ähnlich unbefriedigend wie ein Blick mit bloßem Auge aus den Weiten des Weltraums auf die Erde. Man sieht zwar den Planeten, aber keine Details, und wüsste schon gar nicht, wie die Ökosysteme funktionieren. Ein Folgeprojekt des Humangenomprojekts, das Encode Project, hat sich unter anderem mit den Funktionen dieser großen Mengen nicht-codierender DNS befasst (unter Wissenschaftlern in Analogie zur Dunklen Materie des Universums als „dark matter“ bezeichnet). Im September 2012 wurden in mehreren wissenschaftlichen Fachzeitschriften gleichzeitig zahlreiche Ergebnisse des EncodeProjekts veröffentlicht. Sie zeigten, dass diese großen Mengen von nichtcodierender DNS keineswegs Genjunk ohne jede Funktion sind. Im Gegenteil: Sie scheinen extrem wichtig für die Regulierung der Genaktivitäten zu sein. Innerhalb dieser nicht-codierenden DNS-Abschnitte fanden die Wissenschaftler eine geradezu unglaubliche Anzahl von Informationssequenzen für sogenannte Genschalter (Switches). Nach diesen neuen Erkenntnissen enthält die menschliche DNS mehr als vier Millionen Genschalter, welche die Aktivität, Geschwindigkeit und wahrscheinlich noch viele andere Charakteristika der DNS-Decodierung und -Überführung in Proteine kontrollieren und in Gang setzen. Was bei 20.300 zu kontrollierenden Genen bedeuten würde, dass theoretisch jedes für ein Protein codierende Gen von knapp 200 Schaltern kontrolliert wird. Vergleicht man die Aktionsmöglichkeiten der Switches mit jenen eines Schalters aus der Elektrotechnik („an“ / „aus“ / „dimmen“ / „Wechselschalter“ etc.), so übersteigt – bei ca. 200 Schaltern für ein einzelnes Gen – das Ausmaß der Beeinflussungsmöglichkeiten unsere Vorstellungskraft bei weitem. Über die Switchaktivitäten der Genschalter ist bisher nur sehr wenig bekannt. Man geht aber davon aus, dass durch die Kontrollaufgaben der nicht-codierenden „Gene“ weit über 95% der menschlichen DNS genutzt werden, nicht – wie zuvor angenommen – nur fünf bis zehn Prozent. Erste funktionelle Untersuchungen zeigen, dass viele

Erkrankungen wahrscheinlich mit Fehlleistungen der Switches in Zusammenhang stehen. Die Vielfalt der Switches und die damit einhergehende Variabilität der Genexpression51 stellen quasi einen unendlichen Pool für genetische Fehler und Krankheitsursachen dar, welche die Wissenschaft vor viele bisher ungelöste Fragen stellt, aber gleichzeitig große Hoffnung aufkommen lässt: Mit neuen Wirkstoffen, die genau bei den Switches ansetzen, wären eventuell revolutionäre Krebstherapien möglich. Der menschliche Körper befindet sich in einem ständigen Auf- und Abbau von Proteinen. Dieses Fließgleichgewicht (Homöostase genannt) dient der Anpassung an die jeweilige interne und externe Situation. Wenn man davon ausgeht, dass im Rahmen der Transkription mit einer Fehlerquote von etwa 1/1.000 Basen und bei der Translation mit einer Fehlerquote von 1/10.000 Aminosäuren zu rechnen ist, dann müssten bei der zumindest zeitweise hohen Produktionsrate von Proteinen millionenfach fehlerhafte Aminosäuresequenzen entstehen. Nun führt aber nicht jede Misstranslation oder -transkription zu Krebs oder Krankheit im Allgemeinen. Der Großteil der Fehler ist wahrscheinlich überhaupt nicht relevant, und das Protein oder Gen verrichtet, davon unbeeinträchtigt, seine Funktion. Ein weiterer großer Teil der relevanten Fehler wird durch ein sehr effektives posttranslationales bzw. pottranskriptionales Kontroll- und Modifikationssystem der Proteine oder Gene entdeckt und korrigiert. Proteine, die nicht repariert werden konnten, jedoch so stark beschädigt sind, dass sie ihre spezielle Funktion nicht mehr erfüllen, werden zumeist im Golgi-Apparat der Zelle abgebaut. Ein Protein verrichtet seine Aufgabe ohnehin nur eine gewisse Zeit lang, wird dann abgebaut und durch eine neue Kopie ersetzt. Auch hier findet also ein Fließgleichgewicht statt.

Stammzellen: pluripotent und unsterblich

Damit unser Körper richtig funktionieren kann, müssen sich nicht nur die Proteine, sondern auch die Zellen ständig erneuern. Dies geschieht im Wesentlichen durch Zellteilung. Nicht jede Zelle unseres Körpers kann sich allerdings teilen. Damit trotzdem genügend Zellen nachproduziert werden, gibt es sogenannte Stammzellen. Wie alle vielzelligen Lebewesen bestehen wir am Anfang unseres Lebens aus nur einer einzigen Zelle: der durch den männlichen Samen befruchteten weiblichen Eizelle (auch Zygote genannt). Diese Zelle bezeichnet man als „totipotent“. Das bedeutet, dass sie über einen kompletten und aktiven Gensatz verfügt, der es ihr ermöglicht, durch Zellteilung und -differenzierung alle Zelltypen zu bilden, aus denen der menschliche Organismus besteht. Im Laufe der Teilung der Zygote sinkt das Differenzierungspotential der Zellen; aus der totipotenten Zygote entstehen bereits nach wenigen Zellteilungen die sogenannten embryonalen, pluripotenten Stammzellen, welche in der Lage sind, alle Zelltypen des Embryos zu erzeugen, jedoch keinen kompletten Menschen mehr. In den einzelnen sich nun bildenden Organen gibt es bestimmte sogenannte somatische Stammzellen (auch multipotente oder adulte Stammzellen genannt), die sich in die Zelltypen des jeweiligen Organs differenzieren können, jedoch nicht in Zellen anderer Organe. Ausdifferenzierte Organzellen (z. B. der Leber oder der Bauchspeicheldrüse) haben keine weiteren Differenzierungsmöglichkeiten und können sich auch nicht mehr teilen. Eine Stammzelle teilt sich auf zwei unterschiedliche Arten, um sowohl ihre Entwicklungs- als auch ihre Regenerationsaufgaben wahrnehmen zu können. Die unterschiedlichen Teilungsarten werden als symmetrische bzw. asymmetrische Teilung bezeichnet. Bei der symmetrischen Teilung entstehen aus einer Stammzelle zwei neue Stammzellen mit derselben Differenzierungspotenz. Bei der asymmetrischen Teilung teilt sich eine Stammzelle in eine neue Stammzelle mit der gleichen Differenzierungspotenz wie die Mutterzelle und in eine stärker differenzierte Gewebezelle, die sich nur noch in vorgegebener Form entwickeln und teilen kann. Gelenkt wird diese unterschiedliche Teilung durch die mehr oder weniger ausgeprägte Blockierung von Genabschnitten – je mehr blockiert

wird, desto mehr ist die neu entstandene Zelle auf einen bestimmten Zelltypus festgelegt, also differenziert. Ein besonders wichtiges Charaktermerkmal der Stammzellen ist deren „Unsterblichkeit“: Sie sind in der Lage, sich unendlich zu teilen und zu vermehren – eine Eigenschaft, die den stärker differenzierten und spezialisierten Zellen fehlt. Verantwortlich dafür ist ein bestimmtes Enzym, das nur in den Stammzellen vorkommt – die Telomerase. Die genetische Information einer Zelle enthält auch die Information zur Anzahl ihrer möglichen Teilungen, und zwar im Telomer (= griechisch „End-Teil“), dem Endabschnitt der Chromosomen52. Mit jeder Zellteilung geht ein Stück des Telomers am Ende der Chromosomen verloren; ist das Telomer ganz aufgebraucht, kann sich die Zelle nicht mehr weiter teilen. Sie befindet sich dann in der Phase des permanenten Wachstumsstopps (Seneszenz) und geht – nach einer gewissen Zeit der Ausübung ihrer speziellen Funktionen – in den sogenannten programmierten Zelltod (die Apoptose, auch „Zellsuizid“ genannt) über. Bei Säugetieren wie dem Menschen bestehen die Telomere aus vielen hintereinander geschalteten Sequenzen der Basenabfolge TTAGGG. Verfügt eine Zelle nun über das Enzym Telomerase, so werden nach jeder Zellteilung neue TTAGGG-Repeats (Wiederholungen) an die Telomere angebaut und dadurch Seneszenz sowie Zelltod dauerhaft verhindert. Das ist, wie gesagt, bei den Stammzellen der Fall, nicht aber bei den ausdifferenzierten Gewebezellen.

3.2 So funktioniert der Krebs Wie bereits beschrieben, teilen sich Gewebezellen so lange, bis zunächst Seneszenz und dann der programmierte Zelltod (die Apoptose) eintritt – normalerweise. Im Falle von Krebs funktioniert dieses Programm plötzlich nicht mehr: Die Zellen teilen sich unkontrolliert. Statt gesundem Wachstum oder gesteuertem Fließgleichgewicht kommt es zu einer im genetischen Programm (zumindest für diese Zellart) nicht vorgesehenen ungezügelten Vermehrung: So entsteht ein Tumor. Krebs ist der umgangssprachliche Ausdruck für einen bösartigen (malignen) Tumor, der das Ergebnis von bösartigem Wachstum ist. Nicht alle Tumoren sind bösartig. Eine Schwellung an einer entzündeten Stelle des Körpers ist auch ein Tumor, der durch Einwanderung von Entzündungszellen in den entzündeten Bereich und/oder durch Eiterbildung entstanden ist – so wird die Ursache der Entzündung schließlich durch die Bildung eines Tumors geheilt. Andere gutartige (benigne) Tumoren sind z. B. gutartige Prostatavergrößerungen. Dabei kommt es ebenfalls zu einer Gewebevermehrung durch Wachstum bzw. Vermehrung von Zellen in der Prostata, aber bei diesen Zellen muss man nicht befürchten, dass sie ungebremst weiterwachsen und das umgebende Gewebe zerstören. Auch in der Schilddrüse oder der weiblichen Brust gibt es häufig gutartige Tumoren oder Knoten. Das bedeutet nicht, dass diese Knoten nicht auch Probleme verursachen können; es handelt sich dabei aber nicht um eine Krebserkrankung. Ein Tumor macht also noch lange keinen Krebs.

Auch die gutartigen Tumoren erfordern häufig medizinische Behandlung. Die gutartige Prostatavergrößerung etwa kann zu Problemen beim Wasserlassen führen, was sich in schwachem Harnstrahl, häufigem oder nächtlichem Wasserlassen sowie einer unvollständigen Entleerung der Harnblase äußern kann. Diese Symptome können die Lebensqualität des Betroffenen stark beeinträchtigen und eine medikamentöse oder auch chirurgische Therapie notwendig machen. Eine solche Therapie wäre aber eine ganz andere als eine Prostatakrebs-Therapie. Ein weiteres Beispiel: Gutartige Knoten der Schilddrüse können beispielsweise hormonaktiv sein, also Schilddrüsenhormone produzieren, ohne dabei der Kontrolle bestimmter Regelkreise wie das übrige (normale) Schilddrüsengewebe zu unterliegen.53 Auch dadurch können schwerwiegende Probleme auftreten, so dass diese Knoten die Bezeichnung „gutartig“ eigentlich gar nicht verdienen. Gutartig bezieht sich dabei ausschließlich auf die Wachstumsform, die sich eben vom bösartigen krebsspezifischen Wachstum unterscheidet. Was definiert denn nun die Erkrankung, die wir umgangssprachlich Krebs nennen? Was ist bösartiges oder – im Fachterminus – malignes Wachstum oder ein maligner Tumor? Wie bereits im Anfangskapitel erwähnt, werden unter dem umgangssprachlichen Begriff Krebs sämtliche bösartigen (malignen) Tumoren zusammengefasst. Was einen Tumor letztendlich zu einem malignen Tumor und damit zu Krebs macht, sind im Wesentlichen drei Charakteristika: Die Zellen eines bösartigen Tumors wachsen zerstörend (destruktiv) in ihre Umgebung ein. Das bedeutet, dass sie alles zerstören, was sich um sie herum befindet – darunter lebenswichtige Organe. Die Zellen eines bösartigen Tumors haben die Fähigkeit, sich unendlich zu teilen.

Die Zellen eines bösartigen Tumors haben die Fähigkeit, sich vom Ursprungstumor abzuscheiden und Tochtergeschwülste (Metastasen) in anderen Körperregionen zu bilden. Das also ist Krebs in einem Satz: zerstörerisches, dauerhaftes Zellwachstum und Verbreitung dieser Wachstumsform im ganzen Organismus. Dieses Wachstum kann sich in vielen Formen manifestieren. Deshalb gibt es – wie schon recht häufig in diesem Buch erwähnt – nicht nur eine einzige, exakt zu definierende Erkrankung namens Krebs, sondern eine Vielzahl sehr unterschiedlicher, bösartiger Tumorerkrankungen. Genauso wenig gibt es ein bestimmtes Krebssymptom, einen bestimmten Krebsmarker54 oder eine auf alle Krebserkrankungen in gleicher Weise anzuwendende Krebstherapie. Es gibt hingegen viele unterschiedliche Symptome, verschiedene Tumormarker, zahlreiche Untersuchungsarten und eine ganze Reihe von unterschiedlichen Therapieansätzen. Wir kennen heute mehr als einhundert unterschiedliche bösartige Tumorerkrankungen. In fast jedem Organ unseres Körpers können sich bösartige Tumoren bilden. Damit der Leser ihre Klassifikation versteht, werde ich ihm im Folgenden einen Überblick über die verschiedenen Organe und die darauf aufbauende Tumor-Terminologie geben.

Bösartige Tumoren und ihre Klassifikation Die Organe unseres Körpers mit ihren unterschiedlichen Funktionen sind entweder Gewebeorgane (z. B. Milz, Leber, Nieren) oder Hohlorgane (z. B. Magen, Darm, Harnblase). Erstere sind für Aufgaben wie das Entgiften des Blutes durch die Nieren (die toxischen Substanzen werden dann im Urin ausgeschieden) oder die Produktion von Hormonen, Gerinnungsfaktoren und Verdauungsenzymen in der Leber zuständig; letztere spielen insbesondere beim Transport, bei der Aufnahme, der Speicherung und Ausscheidung von Stoffen und Flüssigkeiten eine Rolle.

Ein weiterer wichtiger Terminus für das Verständnis der Tumorklassifikation ist die Oberfläche. Dieser Begriff hat in der Medizin eine etwas andere Bedeutung als umgangssprachlich – hier ist eine chemisch/physikalische Grenzfläche gemeint. Große Oberflächen im Inneren des menschlichen Körpers grenzen beispielsweise Darm, Lungen oder Harnwege von ihrer Umgebung ab. Auch die Blutgefäße, die Lymphgefäße und die Gallengänge bilden Oberflächen. In einigen Fällen wird die zu transportierende Flüssigkeit von spezialisierten Zellen in der Oberfläche selbst produziert (z. B. von Drüsenzellen in der Prostata oder der Bauchspeicheldrüse). Alle Oberflächen im menschlichen Körper sind mit einem Deckgewebe, dem Epithel, beschichtet. Die Epithelien erfüllen so unterschiedliche Aufgaben wie Schutz (durch Abdichtung und Reißfestigkeit), Transport (z. B. im Falle der Flimmerhärchen, die Schleim aus der Lunge transportieren), Resorption (Aufnahme z. B. von Nahrungsstoffen im Magen oder Darm), Sekretion (etwa bei der Abgabe von Speichel aus der Mundschleimhaut) oder Wahrnehmung (z. B. Tasten und Schmecken durch spezialisierte Zellen in den Epithelien). Da die Aufgaben der unterschiedlichen Organe, Gewebe, Transportleitungen und Oberflächen so vielfältig sind, gibt es auch zahlreiche unterschiedliche Epithelarten. Wir kennen z. B. das verhornende Plattenepithel der Haut (das insbesondere Schutzfunktion hat), die Schleimhaut des Darmes (die Nahrungsstoffe aufnimmt und Schutzschleim produziert), das Übergangsepithel der Harnblase (mit Abdichtungsfunktion) und vieles mehr. Die größte Gruppe von bösartigen Tumoren – die Karzinome – entstehen in den Epithelien, und diese wollen wir gleich am Anfang unserer Tumorklassifikation unter die Lupe nehmen.

Epithelien und Karzinome Karzinome bilden etwa 80% aller bösartigen Tumoren beim Menschen. Da wir nun über die vielen unterschiedlichen Aufgaben der Epithelien Bescheid wissen, leuchtet uns ein, dass ein Karzinom

der Lunge etwas ganz anderes ist als ein Karzinom des Darmes oder der Gallenblase. Analog zu den verschiedenen Funktionen der Epithelien werden Karzinome unterschiedlich bezeichnet: Es gibt z. B. Plattenepithelkarzinome (etwa Tumoren der Haut), Drüsenepithelkarzinome (im Fachjargon Adenokarzinome55 genannt), Übergangsepithelkarzinome (die an den ableitenden Harnwegen entstehen) und zahlreiche andere. In der Regel ist es so, dass bei der fachlichen Benennung der Karzinome die Epithelfunktionen „unterschlagen“ und lediglich die Organlokalisation dem Begriff Karzinom vorangestellt wird. Man spricht also vom Blasenkarzinom, Darmkarzinom, Mammakarzinom (= Brustkarzinom) usw. – dabei sind immer Tumoren der Epithelien gemeint. Andererseits gibt es in den jeweiligen Organen dank unterschiedlicher Epithelien auch verschiedene Karzinomarten: So kann z. B. die Lunge Adenokarzinome (20% der Fälle), Plattenepithelkarzinome (40–45% der Fälle), kleinzellige Karzinome (20–25% der Fälle) und großzellige Karzinome (10–15% der Fälle) hervorbringen. Wenn ein Arzt im Gespräch mit einem Betroffenen den Begriff Karzinom in Verbindung mit einem Organ verwendet, verweist er nur darauf, von welchem Organ (bzw. dessen Epithelien) das Karzinom ausgeht; der feingewebliche (histologische) Subtyp des Tumors ist damit noch nicht beschrieben. Der histologische Subtyp eines Karzinoms ist aber hinsichtlich der Therapiewahl absolut essentiell und muss deswegen auch besprochen werden. Auch hier gilt wieder: Der Betroffene sollte hartnäckig bleiben und alle histologischen Details „seiner“ Tumorerkrankung erfragen. Die Benennung Bronchialkarzinom reicht zur Einschätzung der Situation definitiv nicht aus, denn die Prognose und Therapie eines Plattenepithelkarzinoms der Lunge unterscheidet sich grundlegend von jener eines Adenokarzinoms der Lunge. Hier führt Wissen dazu, die richtigen Fragen zu stellen.

Stützgewebe und Sarkome – und die ganz seltenen Tumoren

Neben den Deckgeweben oder Epithelien gibt es im menschlichen Körper auch Stützgewebe. Dieser Sammelbegriff bezeichnet Gewebetypen wie etwa Bindegewebe, Knochen, Knorpel, Muskeloder Fettgewebe. Auch sie können Ursprungsgewebe von bösartigen Tumoren sein – den Sarkomen. Sarkome treten viel seltener als Karzinome auf und machen nur etwa 1% aller bösartigen Tumoren aus. Wie bei den Karzinomen gibt es auch bei den Sarkomen – abhängig von ihrem Ursprungsgewebe – Untertypen: z. B. die Osteosarkome, die aus den Knochen, oder die Liposarkome, die aus dem Fettgewebe hervorgehen. Anders als bei den Karzinomen verwenden die Ärzte bei der Benennung der Sarkome oft nicht die Organlokalisation, sondern den histologischen Subtyp des Tumors (so z. B. ist das Rhabdomyosarkom ein vom Muskelgewebe ausgehender bösartiger Tumor und das Chondrosarkom ein vom Knorpelgewebe ausgehender bösartiger Tumor). In welchem Muskel oder Knochen der bösartige Tumor sitzt, bleibt in der Bezeichnung verborgen, ist dem Betroffenen aber zumeist klar (weil sein Arzt mit ihm natürlich über die Lokalisation des Tumors gesprochen hat). Insgesamt ist die namentliche Einteilung der Sarkome kompliziert – es gibt zahlreiche Untertypen und Sonderformen, die aufgrund ihrer Seltenheit bisher weniger gut erforscht wurden als die verschiedenen Karzinome. Ein ganz seltenes Sarkom ist beispielsweise das Ewing-Sarkom, ein zumeist im Kindesalter auftretender bösartiger Knochentumor, der nicht nach seinem Ursprungsgewebe, sondern nach seinem Erstbeschreiber, dem amerikanischen Pathologen James Ewing, benannt wurde. Noch komplizierter als bei den Sarkomen ist die Klassifikation und Bezeichnung der ganz seltenen bösartigen Tumoren. Hier ist das Ganze bei weitem nicht mehr so systematisch wie etwa bei den Karzinomen. Gelegentlich ist sogar die Unterscheidung zwischen gutartig und bösartig nicht eindeutig oder nur sehr schwer zu treffen.56 Als Beispiel möchte ich hier die bösartigen Tumoren des blutbildenden Systems (Hämoblastosen) anführen, die sich weiter in Leukämien (bösartige Tumoren der weißen Blutkörperchen) und Lymphome (bösartige Tumoren des Lymphgewebes) unterteilen.

Beide Gruppen haben weitere Unterarten, die bei der Prognoseeinschätzung sowie bei der Wahl der Therapie eine wichtige Rolle spielen und berücksichtigt werden müssen. Man unterscheidet bei den Leukämien zwischen myeloischen und lymphatischen sowie zwischen akuten und chronischen Leukämien. Bei diesen Klassifikationen geht es um die Ursprungszellen der Leukämie (genauer um die myeloische oder lymphozytäre Reihe der weißen Blutkörperchen), aber auch um das Wachstum der Erkrankung (akut = rasch, kontinuierlich; chronisch = langsam, schubweise). Am Beispiel der lymphatischen Leukämien und Lymphome lässt sich die Problematik der Tumorbenennung und -klassifikation sehr gut erklären. Im menschlichen Körper gibt es Lymphgewebe in unterschiedlichen Formen – zum einen als Lymphknoten, die sich an bestimmten Stellen im Körper befinden (z. B. in den Leisten oder den Achselhöhlen) und bei Krankheitsprozessen (Infekten, aber auch Krebs) eine Abwehrfunktion – durch die Aufnahme57 und Bekämpfung der auslösenden Ursache – erfüllen; zum anderen als Lymphozyten, die im Blut zirkulieren und hier verschiedene Abwehrfunktionen wahrnehmen. Nun wird beispielsweise die akute lymphatische Leukämie den Leukämien, die chronische lymphatische Leukämie hingegen den Lymphomen zugeordnet. Derart komplizierte Sachverhalte muss ein Betroffener – mithilfe seines Arztes – erst durchschauen, um seine Erkrankung richtig verstehen und einschätzen zu können. Lymphome werden in zwei Gruppen unterteilt: das HodgkinLymphom58, eine relativ genau definierte Lymphomart, die im Wesentlichen bei Jugendlichen vorkommt, und die große heterogene Gruppe der Non-Hodgkin-Lymphome (so werden alle Lymphome bezeichnet, die keine Hodgkin-Lymphome sind) – z. B. die eben beschriebene chronische lymphatische Leukämie. Noch komplizierter wird es bei einer weiteren Gruppe von malignen Tumoren, den sogenannten neuroendokrinen Tumoren. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Tumoren, die aus sogenannten neuroendokrinen Zellen59 hervorgehen. Da neuroendokrine Zellen auch in Epithelien vorkommen, werden manche dieser Tumoren als Karzinome bezeichnet. Ein Beispiel

hierfür ist das kleinzellige Bronchialkarzinom. Ob es sich bei einem neuroendokrinen Tumor um einen gut- oder einen bösartigen Tumor handelt, ist häufig nicht so einfach festzustellen wie bei den reinen Karzinomen. So ist beispielsweise in praktisch jedem Fall das kleinzellige Bronchialkarzinom ein maligner Tumor, aber nur etwa 10% eines anderen neuroendokrinen Tumors, des Phäochromozytoms (ein hormonproduzierender Tumor, der häufig in den Nebennieren auftritt) zeigen eine maligne Verhaltensweise. Zur letztendlichen Klärung des benignen oder malignen Charakters eines Phäochromozytoms bedarf es sehr aufwendiger histologischer Untersuchungen, und gelegentlich erlauben auch diese keine abschließende Einschätzung; bei der Prognoseeinschätzung solcher Tumoren muss dann gegebenenfalls der klinische Verlauf (mit eventueller Metastasierung) abgewartet werden. Für einen Betroffenen ist es angesichts dieser komplizierten oder teilweise sogar fehlenden Systematik und klinischen 60 Einschätzbarkeit des Tumorverhaltens äußerst schwierig, seine Erkrankung genau zu erfassen – was im ungünstigsten Fall seine Heilungschancen erheblich verringern kann. Ein medizinischer Laie wird wohl kaum Klassifizierungsfragen beantworten können, welche selbst den Experten der Materie Kopfzerbrechen bereiten. Das schönste Beispiel dafür ist die Klassifikation der neuroendokrinen Tumoren, die im Jahre 2006/2007 eingeführt und bereits 2012 revidiert wurde. Ich hoffe jedenfalls, dem Leser eine Ahnung davon vermittelt zu haben, wie kompliziert Krebserkrankungen schon auf der Ebene ihrer Klassifikation sein können (wenn sie auch größtenteils eingeordnet werden können) – einem Betroffenen rate ich, bei seinem Arzt ganz genaue Informationen über „seinen“ Tumor einzuholen und sich auf keinen Fall mit einem nicht sehr aussagekräftigen Terminus – wie z. B. Darmtumor – zu begnügen. Je weniger er im Bilde ist, welche Art von Krebs er zu bekämpfen hat, umso weniger wird er die therapeutischen Möglichkeiten beurteilen können. Die richtige Verwendung der onkologischen Terminologie ist ein wichtiger Faktor bei der Erstellung der Diagnose – und vor jeder Therapie steht zunächst eine korrekte Diagnose. Ohne exakte Diagnose sucht man vergeblich nach der passenden Therapie.

44 Organellen genannt, z. B. Mitochondrien zur Energiegewinnung 45 Eine Matrize ist eine Vorlage. 46 Ein Basentriplet wird aus drei aufeinanderfolgenden Basen eines DNS-Stranges gebildet; es stellt ein sogenanntes Codon dar. 47 So nennt man das Vorhandensein von eigentlich überflüssigen, für die Information nicht unbedingt notwendigen Elementen. 48 Informationen hierzu gibt es auf der offiziellen Webpage: http://www.ornl.gov/sci/techresources/Human_Genome/home.shtml 49 Umweltfaktoren 50 z. B. Krankheit, Ernährungszustand, Entwicklungsphase etc. 51 d. h., welches Gen zu welchem Zeitpunkt wie und in welches Protein übertragen wird 52 Chromosomen sind das Ergebnis der Kondensation (Verdichtung) der Erbinformation zum Zeitpunkt der Zellteilung. Die gesamte Erbinformation des Menschen wird dabei in 46 Chromosomen verpackt. (Zum Vergleich: Bei der Taufliege sind es 8 und beim Goldfisch 94 Chromosomen.) 53 Diese Knoten nennt man daher auch autonome (selbstständige) Knoten. 54 z. B. einen universalen Blutwert oder eine alle Krebsarten erkennende Untersuchung; vgl. auch Die gebräuchlichsten Tumormarker in Kap. 4. 55 Sie entstehen in Lunge, Darm, Prostata und vielen anderen Organen, die eine Drüsenfunktion ausüben. 56 Dies gilt insbesondere für die neuroendokrinen Tumoren. 57 Die Bakterien oder bösartigen Zellen werden in die Lymphknoten aufgenommen und dort zerstört oder zu zerstören versucht. 58 auch Morbus Hodgkin genannt (nach seinem Erstbeschreiber, dem britischen Arzt und Pathologen Thomas Hodgkin) 59 hormonproduzierende Zellen, die an zahlreichen Stellen des menschlichen Körpers vorkommen 60 ob er maligne oder benigne ist

4.

Von der Diagnose zur Prognose

Eine Tumorerkrankung beginnt zumeist völlig unvermittelt. Zunächst fallen dem Betroffenen oder dem Hausarzt kleine Unregelmäßigkeiten auf: Ein Blutwert ist verändert (z. B. ein Tumormarker), ein klinisches Symptom wird auffällig (z. B. ein geschwollener Lymphknoten), oder ein akutes Ereignis macht sich bemerkbar (z. B. Blut im Stuhl oder Urin) – und damit schleicht sich ein erster Verdacht auf Krebs ein. Nicht jedes Symptom und auch längst nicht jeder erhöhte Tumormarker haben tatsächlich eine Krebserkrankung als Auslöser. Daher muss der Hausarzt erst einmal einfache und häufige Ursachen der Veränderungen ausschließen können – etwa eine Entzündung, eine allergische Reaktion, einen grippalen Infekt etc. Da Krebs mittlerweile keine Seltenheit mehr ist, sind die meisten Hausärzte in dieser Hinsicht sensibilisiert. Findet der Arzt also keine „normalen“ Ursachen der aufgetretenen Veränderung, sollte er sich keinesfalls in Warteposition begeben, um zu sehen, was passiert – diese Einstellung kostet eventuell wertvolle Zeit, die man später gerne hätte. Ein Befund, dessen Ursache sich nicht auf einfache Weise erklären lässt, ruft nach unverzüglicher, sehr genauer Abklärung. Man darf sich auch nicht davon trügen lassen, dass eine Veränderung keine Beschwerden verursacht. Schmerz ist nämlich kein typisches Symptom von Krebs! Dennoch passiert immer wieder Folgendes: Sobald ein Arzt die Vermutung äußert, es könne sich um Krebs oder eine andere schwerwiegende Erkrankung handeln, betonen viele Patienten

instinktiv, dass sie gar keine Beschwerden hätten – eine typische Flucht- und Angstreaktion, wie ich sie im zweiten Kapitel beschrieben habe. Mit Beschwerden werden im Allgemeinen Schmerzen gleichgesetzt. In einem frühen Krebsstadium hat ein Betroffener – wie bereits gesagt – meistens keine Schmerzen; allerdings sollte der Leser jetzt nicht dem trügerischen Umkehrschluss unterliegen: Es bestehen Schmerzen, also ist es mit Sicherheit kein Krebs. Aber insbesondere wegen der häufigen Schmerzlosigkeit in frühen Krebsphasen sollten Symptome ohne Schmerzen umso mehr Anlass für eine rasche Beseitigung aller Unklarheiten sein. Da Schmerzen kein typisches Krebsanzeichen sind, deuten Befunde ohne Schmerzen viel eher auf Krebs hin als schmerzhafte Veränderungen. Das diagnostische „Werkzeug“ der Ärzte – auch diagnostisches Armamentarium genannt – ist heutzutage sehr umfangreich. Dazu gehören klinische Untersuchungen, Blut- und Urinanalysen sowie zahlreiche Formen der Bildgebung (also Formen der bildlichen Darstellung des Körperinneren, z. B. mithilfe von Ultraschall, Röntgen, Computertomographie oder Kernspintomographie) bis hin zur Feinnadelbiopsie (Gewebeentnahme durch dünne Nadeln) und zur operativen Freilegung (eine diagnostische Operation, die in erster Linie zur Gewinnung von histologischen Proben aus dem Körperinneren durchgeführt wird). Beim Gebrauch dieses Armamentariums sollte immer eine sinnvolle Abfolge eingehalten werden. Es ist ärztliches Diktum, sich von einfachen (wenig invasiven, also wenig in den Körper eingreifenden) hin zu aufwendigen (komplizierteren und invasiveren Verfahren, welche häufig eine gewisse Vorbereitung und Aufklärung des Patienten voraussetzen) vorzuarbeiten. Ab dem Moment, in dem die Ursache der Veränderung eindeutig geklärt ist, sollten alle weiteren Diagnostikmaßnahmen eingestellt und eine dem Befund und seiner Ursache entsprechende Therapie eingeleitet werden. Generell unterscheidet man zwei Arten von Diagnostik, für die aber weitgehend dieselben Untersuchungsmethoden eingesetzt werden: Zuerst wird die Primärdiagnostik durchgeführt, mit der nach Verdacht auf einen bösartigen Tumor geklärt wird, ob es sich tatsächlich um einen solchen handelt (auch Dignitätsklärung

genannt); bestätigt sich der Verdacht auf einen bösartigen Tumor, folgt die Bestimmung des Stadiums, in dem sich der bösartige Tumor zum Zeitpunkt der Diagnose befindet – das sogenannte Staging. Nach der Entdeckung eines Tumors muss also zuallererst festgestellt werden, ob es sich um einen benignen oder malignen Tumor handelt – im Fachjargon spricht man davon, dass die Dignität des Tumors geklärt werden muss. Wie ich weiter oben beschrieben habe, lässt sich diese Frage im Falle von Karzinomen und Sarkomen anhand einer histologischen Untersuchung von Tumorgewebe zumeist schnell beantworten; bei anderen Krebserkrankungen – insbesondere den neuroendokrinen Tumoren – ist eine eindeutige Antwort schon schwieriger. Nichts ist aber für das weitere Vorgehen so wichtig wie eine klare Antwort auf diese Frage. Generell gilt, dass ein Tumor erst dann genau bezeichnet und klassifiziert werden kann, wenn ein histologisches Ergebnis vorliegt. Dies bedeutet, dass eine Probe (Biopsie, Feinnadelbiopsie, Stanze oder operative Probengewinnung) aus dem Tumor benötigt wird61, die sich der Pathologe unter dem Mikroskop anschaut, um eine genaue Abklärung vornehmen zu können. Die vorhergehenden Untersuchungen (Abtasten, Bestimmen von Tumormarkern aus dem Blut, Computertomographie, Kernspintomographie usw.) haben nur den Verdacht des Vorliegens einer Krebserkrankung erhärtet; den letztendlichen Beweis, dass es sich tatsächlich um eine solche handelt, kann ausschließlich die histologische Untersuchung erbringen. Keinesfalls sollte also das weitere Vorgehen oder gar die Einleitung einer Therapie ohne histologischen Befund geplant werden. Je weiter man in den diagnostischen Bemühungen voranschreiten muss, desto unangenehmer und aufwendiger werden die Untersuchungen für den Patienten. Trotzdem sollten Arzt und Patient keinen Diagnostikschritt unterlassen, solange die Diagnose nicht eindeutig gestellt ist. Dass der Betroffene Angst vor den Untersuchungen hat, ist verständlich – deshalb sollte ihm der Arzt ausführlich den Hergang der Maßnahmen erklären und deren Sinn

verdeutlichen. Viele Betroffene vermeiden eine zielführende ärztliche Abklärung, weil sie Angst davor haben, eine Krebsdiagnose gestellt zu bekommen; da hilft nur, sich ganz nüchtern vor Augen zu halten: Die Erkrankung ist eventuell da und schreitet fort, ob man sie diagnostiziert oder nicht. Effektiv behandeln kann man Krebs aber nur, wenn er diagnostiziert wird – am besten frühzeitig. Die VogelStrauß-Taktik hat noch nie einen Krebs aus der Welt geschafft. Wenn man den Kopf in den Sand steckt, kann man Glück haben, und es liegt kein Krebs vor. Verlassen sollte man sich darauf aber nicht. Früherkennungsuntersuchungen sind hier entschieden die sicherere Alternative.

4.1 Früherkennung Bei dieser Frage handelt es sich um ein aktuell viel diskutiertes Thema. Meiner Meinung nach läuft die Diskussion zum aktuellen Zeitpunkt in die falsche Richtung – nämlich der Suggestion einer absoluten Nutzlosigkeit von Früherkennungsuntersuchungen, die man deshalb am besten vermeidet. Das ist keinesfalls richtig: Die möglichst frühzeitige Entdeckung einer Krebserkrankung steigert nicht nur die Heilungschancen der Betroffenen, sondern reduziert auch den Umfang der notwendigen Therapiemaßnahmen und hilft damit dem Gesundheitssystem, Kosten zu sparen – und dem Patienten, Nebenwirkungen zu reduzieren. Deshalb ist die Früherkennungsuntersuchung62 ein zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen zählender Bereich. Die Früherkennungsmaßnahmen, die von den gesetzlichen Krankenkassen ab einem bestimmten Alter finanziert werden, sind jedoch – wie ich später noch ausführlich darstellen werde – oft nicht ausreichend und deshalb auch nicht sinnvoll. Bei der GKVfinanzierten Prostatakarzinom-Früherkennung beispielsweise, die im Abtasten der Prostata besteht, werden in etwa 70% der Fälle nur die großen, organüberschreitenden Tumoren entdeckt, die meistens nicht mehr kurativ behandelbar sind. Über die Tastuntersuchung der Prostata hinaus kann man einen Tumormarker für das Prostatakarzinom aus dem Blut bestimmen. Dieser Tumormarker heißt PSA (Prostata-spezifisches Antigen) und wird seit über dreißig Jahren in der Diagnostik und der Verlaufsbeurteilung des Prostatakarzinoms angewendet. Allerdings wird die Bestimmung des PSA-Wertes im Rahmen der Früherkennungsuntersuchung für das

Prostatakarzinom nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt, ist also eine Selbstzahlerleistung für den gesetzlich versicherten Patienten. Über die Sinnhaftigkeit der PSA-Wert-Bestimmung in der Früherkennungsdiagnostik des Prostatakarzinoms wird aktuell ebenfalls viel diskutiert. Grund dieser Erörterungen ist die seit der Einführung der PSA-Bestimmung deutlich gestiegene Anzahl der gefundenen und behandelten Prostatakarzinome, der uneinheitliche Daten hinsichtlich der Heilungserfolge gegenüberstehen. Durch die PSA-Wert-Bestimmung werden einerseits deutlich mehr Prostatakarzinome diagnostiziert, was in den letzten Jahrzehnten zu einer Steigerung der Überlebensrate geführt hat; andererseits gibt es für diese Zeitspanne eine relativ konstante Zahl von Patienten, die an ihrem Prostatakarzinom versterben. Ohne einen signifikanten Rückgang der Sterbezahlen drängt sich der Verdacht auf, dass man mittels der PSA-Bestimmung hauptsächlich solche Prostatakarzinome zusätzlich entdeckt, die ihren Trägern nichts anhaben (sogenannte latente Prostatakarzinome). Diese Patienten wurden also einer invasiven und nebenwirkungsträchtigen Krebstherapie unterzogen (Operation oder Bestrahlung), ohne dass dies wirklich nötig gewesen wäre. Ähnlich verhält es sich im Falle der Früherkennungsuntersuchung des Mammakarzinoms bei Frauen, mit dem Unterschied, dass die wesentlich invasivere63 Mammographie zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr von den gesetzlichen Krankenkassen diskussionslos finanziert wird. Der Nutzen dieser Früherkennungsmaßnahme ist jener der Prostata-Früherkennungsuntersuchungen keinesfalls überlegen: Zeigt sich bei der Mammographie ein auffälliger Befund, wird eine Biopsie dieses Befundes durchgeführt. Bei zehn Biopsien findet sich im Durchschnitt lediglich ein Mammakarzinom. Das bedeutet aber, dass neun Frauen aufgrund der GKV-finanzierten Vorsorgeuntersuchung grundlos in Angst versetzt wurden und sich einer invasiven Maßnahme – der Biopsie – unterziehen mussten. Mit den Heilungsraten und Sterbezahlen des Mammakarzinoms verhält es sich ähnlich wie beim Prostatakarzinom.

Das alles beweist, dass unsere diagnostischen Möglichkeiten im Rahmen der Krebsfrüherkennung zum aktuellen Zeitpunkt alles andere als optimal sind. Meiner Meinung nach ist es jedoch geradezu fatal, eine Früherkennungsmaßnahme wie die ProstataTastuntersuchung anzubieten, die im Großteil der Fälle definitiv keine Früherkennung eines Prostatakarzinoms gewährleistet, den Patienten jedoch in einer täuschenden Sicherheit wiegt. Ich bin deshalb der Meinung, dass es indiskutabel Pflicht jedes Arztes ist, seine Patienten über den Verlässlichkeitsgrad solcher Maßnahmen genauestens aufzuklären und ihnen genügend Information zu vermitteln, so dass sie die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen richtig einschätzen können. Es wäre jedoch definitiv der falsche Weg, aufgrund der nicht gerade überzeugenden Fakten hinsichtlich der FrüherkennungsDiagnostikinstrumente wie PSA und Mammographie eine Abkehr von der Früherkennung zu postulieren. Wie eingangs schon erwähnt, läuft die mediale Diskussion zurzeit leider genau in diese Richtung. Dabei ist die heutige Medizindiagnostik durchaus in der Lage, bösartige Tumoren frühzeitig zu erkennen. Das Gebot der Stunde lautet, solche Diagnoseinstrumente zu entwickeln, die im Falle der Entdeckung eines bösartigen Tumors die Notwendigkeit und den Umfang einer Therapie aufzeigen. In Hinblick auf dieses Unterfangen ist beim Prostatakarzinom durch die Einführung des Therapiekonzeptes der Active Survaillance (des „aufmerksamen Zuwartens“) ein wichtiger Schritt unternommen worden. Weitere Marker, welche das zukünftige Verhalten des bösartigen Tumors prognostizieren können, werden dringend benötigt und sollten in entsprechenden Studien untersucht werden. Dies alles bedeutet jedoch ein Festhalten und Erweitern unseres medizinischen Standards, keinesfalls einen Rückschritt in Richtung Abschaffung der Früherkennung. Privatversicherte befinden sich hinsichtlich der Früherkennungsuntersuchungen in einer deutlich besseren Situation und bekommen zumeist die komplette Untersuchung von ihrer Versicherung finanziert. Gelegentlich gibt es aber auch schon private

Versicherer, die ihre Kunden mit einem Vorsorgeheft zum Arzt schicken, in dem genauestens aufgelistet ist, welche Untersuchungen zu welchem Honorar vorgesehen sind. Das sollte sich ein Kunde, der eine sehr hohe monatliche Versicherungsprämie zahlt, auf keinen Fall gefallen lassen. Den gesetzlich Kassenversicherten empfehle ich die Ausarbeitung einer eigenen, auf Informationen, Wissen und Erkenntnissen basierenden Früherkennungsstrategie (bei der man sich am besten ärztlich beraten lässt), auch wenn die für nötig befundenen ExtraLeistungen von der gesetzlichen Kassenversicherung nicht übernommen werden. Das Betreiben von Vorsorge im Sinne einer gesunden Lebensführung ist naturgemäß ebenfalls wichtig.

4.2 Abklärung eines Verdachts: Die Diagnostik ausschöpfen Am Anfang aller diagnostischen Bemühungen steht das ärztliche Gespräch – die Anamnese oder das Diagnostikgespräch: Der Arzt fragt nach Symptomen und früheren Befunden oder Krankheiten und versucht zu ergründen, ob es (über das auffällige Symptom hinaus) irgendwelche Hinweise auf das Vorliegen einer bestimmten Erkrankung gibt, die dem Betroffenen im Alltag vielleicht gar nicht als solche aufgefallen sind. Die Anamnese ist die Basis jeglicher weiterführenden Diagnostik; anhand der in diesem Gespräch erhaltenen Informationen entscheidet der Arzt, welche Schritte zur weiteren Abklärung der auffälligen Veränderungen eingeleitet werden müssen. Angesichts der Tatsache, dass die zeitliche Aufwendung der Ärzte im deutschen Gesundheitssystem nicht adäquat honoriert wird, sollte sich ein Betroffener auf dieses wichtige Gespräch unbedingt vorbereiten, um dem Arzt mit einer kurzen, aber fundierten Beschreibung der aktuellen Befunde und seiner bisherigen Krankengeschichte einen guten Überblick zu gewähren. Fokussierung lautet das Stichwort – und zwar auf die Befunde, die zu diesem Arztbesuch geführt haben. Vorweggenommene Diagnosen bzw. Verharmlosungen, ausschweifende Berichte oder Angstbekundungen („Es wird doch nichts Schlimmes sein …“) bringen nichts und kosten nur Zeit – bei diesem Gespräch ist der Arzt von einer Diagnosestellung sowieso noch weit entfernt und kann derartige Fragen auch nicht beantworten. Aus verschiedenen Studien weiß man, dass ein Patient

nur etwas länger als eine Minute benötigt, um sein Anliegen dem Arzt schlüssig vorzutragen, wenn er sich auf das Anamnesegespräch vorbereitet hat. Ist das der Fall, sollte er allerdings auch streng darauf achten, dass der Arzt genauso gewissenhaft seinen Part des Abkommens erfüllt und dem Patienten die nötige Zeit gewährt. Noch einmal: Der Betroffene muss nichts anderes tun, als das, was ihm aufgefallen ist, klar und deutlich zu formulieren. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass der Arzt weder unnütze Untersuchungen einleitet noch einen verharmlosenden Eindruck von der Ursache der Befunde bekommt. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Ärzte den Patienten beim Anamnesegespräch häufig bereits nach wenigen Sekunden unterbrechen und unverzüglich zur Erstellung eines Diagnostikprogramms (oder gar einer Therapie) schreiten. In diesem Falle sollte der Betroffene darauf bestehen, seine (kurze) Darstellung zu Ende führen zu dürfen. Danach ist der Arzt mit Nachfragen an der Reihe – so kann er die vom Betroffenen festgestellten Veränderungen genauer einkreisen. Solcherart entsteht eine solide Grundlage für die einzuleitende Diagnostik; hat der Betroffene keine Gelegenheit gehabt, seine Beschwerden vollständig darzustellen, oder hat der Arzt diesbezüglich nicht weiter nachgefragt, besteht kaum eine Chance, ein sinnvolles Diagnostikprogramm in Angriff zu nehmen. Bei der Vorbereitung seiner „Kurzgeschichte“ sollte der Betroffene sich auf einige wenige Punkte beschränken und diese am besten aufschreiben. Wichtige Informationen wären: Um was für einen Befund (um welche Veränderungen, Symptome) handelt es sich? Seit wann besteht der Befund? Wie verhält er sich seitdem (zunehmend oder abnehmend)? Gibt es weitere Symptome? Das könnte folgendermaßen aussehen: „Ich habe eine Schwellung in der linken Leiste ertastet. Erstmals ist mir der Befund vor etwa zehn Tagen aufgefallen. Die Schwellung tut nicht weh. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie in diesem Zeitraum größer geworden ist. Weitere Symptome sind mir nicht aufgefallen.“ Diese für den Arzt wichtigen Informationen sind auf den Punkt gebrachte Selbstbeobachtungen des Betroffenen.

Der nächste Schritt besteht in der sogenannten klinischen Untersuchung. In der heutzutage hochtechnisierten Medizin hat die klinische/körperliche Untersuchung zumeist einen nur geringen Stellenwert. Sie umfasst all das, was der Arzt mit seinen Sinnen – gegebenenfalls unterstützt durch einfache Hilfsmittel wie Stethoskop64, Augenlampe, Reflexhammer oder Spatel – am Patienten vornimmt, um einen Befund abzuklären. Zur klinischen Untersuchung gehören das Betrachten (Inspektion), das Abtasten (Palpation), das Abklopfen (Perkussion), das Abhören (Auskultation), die Geruchswahrnehmung und die Funktionsprüfung. Auch wenn z. B. mit einer Computertomographie ein Befund in der Leber deutlich besser dargestellt werden kann als anhand von Palpation oder Perkussion, hat die klinische Untersuchung nach wie vor ihren berechtigten Platz innerhalb der Diagnosestellung: Sie ergibt immer ein gutes Gesamtbild des gesundheitlichen Zustandes und kann frühzeitig auf zusätzliche Befunde hinweisen. Außerdem ermöglicht eine ausführliche körperliche Untersuchung später eine einfache Kontrolle der Befunde. Wichtig ist dabei die nachvollziehbare Dokumentation der Untersuchungsergebnisse, was im ärztlichen Alltag leider nicht immer die Regel ist. Als Nächstes folgen die apparativen Untersuchungen zur Diagnosefindung: Blut-, Urin- und Stuhlanalysen; gelegentlich werden auch andere Körperflüssigkeiten wie Speichel, Liquor (Gehirnwasser) oder Magensaft analysiert. Der medizinische Alltag ist inzwischen von einem wahren Kontrollzwang in Bezug auf Blutwerte kennzeichnet; insbesondere Krebspatienten, die eine Chemotherapie erhalten, werden nahezu täglich „gepiekst“, wie es im Medizinerjargon heißt. Das ist in gewissem Maße auch gerechtfertigt, da man mithilfe der Blutwerte wirklich viele Befunde und Gefahren häufig frühzeitig erkennen und entsprechend reagieren kann. Wenn es beispielsweise im Rahmen einer Chemotherapie zu einer Verschlechterung der Leber- oder Nierenfunktion kommt, kann das frühzeitig an den Blutwerten erkannt werden. Um die Funktionsbeeinträchtigung dieser lebenswichtigen Organe zu verringern, wird beispielsweise die Dosis der Chemotherapeutika bei der nächsten Gabe reduziert – in Verbindung mit Maßnahmen zur

Verbesserung der Organfunktionen werden so irreparable Schäden vermieden. Das sogenannte Basislabor, welches für die eben erwähnten Überprüfungen durchgeführt wird, besteht aus einer relativ überschaubaren Anzahl von seit langem bekannten und in ihrer Interpretation gesicherten Blutwerten. Es handelt sich dabei um die Kontrolle der Leber- und Nierenfunktion, um die Untersuchung der Blutgerinnung, die Messung der Elektrolyten65 und die Bestimmung der sogenannten korpuskularen (körperhaften) Bestandteile des Blutes – das sind z. B. Leukozyten (weiße Blutkörperchen), Erythrozyten (rote Blutkörperchen) und Thrombozyten (Blutplättchen). Durch die Beobachtung dieser Werte lässt sich eine onkologische Therapie gut kontrollieren. Im Rahmen der Diagnosefindung onkologischer Erkrankungen ist das Basislabor für eine erste Abschätzung der Ausdehnung der Erkrankung (also wie viele Organe von der Erkrankung möglicherweise betroffen sein könnten) gut geeignet. Problematischer ist das sogenannte Speziallabor. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren hat ein wahrer Hype in der Entdeckung und Etablierung neuer Labormarker zur Diagnosefindung bei bestimmten Verdachtsdiagnosen, zur Prognoseeinschätzung von Erkrankungen sowie zur Kontrolle bestimmter Körperfunktionen und Erkrankungsverläufe stattgefunden. Aber nur wenige dieser Marker sind in ihrer Interpretationsgenauigkeit dem Basislabor vergleichbar. Was ist also zu tun? Man muss die Ergebnisse wieder einmal statistisch relativieren. Die Grundvoraussetzung jedes medizinischen Testverfahrens ist immer die dem klinischen Einsatz vorausgehende Validierung des Verfahrens. Sie garantiert, dass ein Test auch genau das misst und aufzeigt, was man durch die Messung aufzeigen will. Das Ergebnis einer Untersuchung (dabei muss es sich nicht ausschließlich um Blut- und Laboruntersuchungen handeln) kann auf vier verschiedene Arten ausfallen:

1. Richtig positiv: Der Patient ist krank, und der Marker hat dies richtig angezeigt. 2. Falsch negativ: Der Patient ist krank, aber der Marker hat dies nicht angezeigt. 3. Richtig negativ: Der Patient ist nicht krank, und der Marker hat dies richtig angezeigt. 4. Falsch positiv: Der Patient ist nicht krank, aber der Marker hat fälschlicherweise eine Erkrankung angezeigt. Zur Bewertung der Effektivität bzw. der Qualität eines Testes/Markers muss man wissen, in wie viel Prozent der Untersuchungen der Test „richtig positiv“ und in wie viel Prozent er „richtig negativ“ ausfällt.66 Die Rate der „richtig positiv“ erkannten Fälle wird als Sensitivität des Testes bezeichnet. Demgegenüber steht die Spezifität eines Testes, welche die Rate der „richtig negativ“ erkannten Fälle anzeigt. Zum besseren Verständnis möchte ich ein Beispiel anführen: Zweihundert Personen werden mit einem Test untersucht. Hundert davon sind krank. Der Test zeigt bei den einhundert kranken Personen bei 65 die Erkrankung richtig an, bei 35 nicht: Das Testverfahren hat folglich eine Sensitivität von 65%. Andererseits zeigt der Test im Falle der hundert gesunden Individuen bei 80 richtigerweise keine Erkrankung an, 20 werden jedoch fälschlicherweise als krank eingestuft: Dann haben wir eine Spezifität von 80%. Die meisten Laborparameter, die heute zur Analyse bestimmter Funktionen und Erkrankungen verwendet werden, weisen bei gesunden Menschen einen gewissen Normwert auf. Die Festlegung der Normgrenzen bzw. der pathologischen Werte außerhalb dieser

Normgrenzen ist immer ein Kompromiss zwischen Sensitivität und Spezifität. An diesem Sachverhalt lässt sich wieder einmal die Problematik der Medizin als nicht exakter Wissenschaft aufzeigen. Der menschliche Körper und sein Stoffwechsel sind immer von einer gewissen Variabilität gekennzeichnet. Das bedeutet, dass Werte, die bei einem Individuum noch normal sein können, bei einem anderen bereits pathologisch sind. Diese Werte müssen interpretiert werden; behilflich sind dabei die oben beschriebenen Sensitivitäts- und Spezifitätsniveaus; die Interpretation selbst ist jedoch in großem Maße Erfahrungssache. Aus diesem Grund wird die Medizin auch als eine Erfahrungswissenschaft (also eine Wissenschaft, die auf Beobachtungen, Untersuchungen und damit verknüpften Erfahrungen basiert) bezeichnet, wie ich schon im Kapitel Die Magie der Statistiken gezeigt habe. Dies alles erscheint zunächst einmal recht kompliziert; denkt man sich jedoch ein wenig in die Materie hinein, so lässt sich die Qualität einer Untersuchung anhand von Sensitivität und Spezifität, die man für jede Untersuchungsmethode in Erfahrung bringen kann67, schnell und einfach erfassen. Jedermann kann für sich selber entscheiden, ab welcher Sensitivität oder Spezifität er einem Testverfahren Vertrauen schenkt. Da ich als Arzt keine unangenehmen Überraschungen erleben möchte, ist für mich insbesondere die Sensitivität (also „richtig positiv“) eines Tests ausschlaggebend. Für mich ist wichtig, dass ein Test mir garantiert, dass möglichst wenig Krankheitsfälle übersehen werden. Daher bestehe ich auf einer Sensitivität von über 95%. Bei der Spezifität (also „richtig negativ“) eines Tests gehe ich etwas differenzierter vor. Ich kläre zunächst, welche Konsequenzen ein falsch positives Ergebnis hätte. Muss zur weiteren Abklärung des Testergebnisses lediglich eine einfache Untersuchung – wie z. B. eine Ultraschalluntersuchung – vorgenommen werden, bin ich bei der Spezifität nicht so streng und gebe mich mit Werten um die 75% zufrieden. Ist allerdings eine größere Maßnahme zur Verifizierung des Testergebnisses notwendig – wie beispielsweise eine Biopsie

oder gar eine Operation –, dann verlange ich ebenfalls Spezifitätswerte von mehr als 90%. Erreichen Tests die von mir vorgegebenen Sensitivitäts- und Spezifitätsniveaus nicht, brauche ich sie gar nicht erst anzuordnen – das Ergebnis ist mir sowieso nicht aussagekräftig genug. Ein schönes Beispiel für das Versagen mancher Spezialtests findet sich bei der Früherkennungsuntersuchung des Dick- oder Enddarmkarzinoms (auch Colonkarzinom genannt). Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA)68 herausgegebenen Untersuchungsrichtlinien empfehlen ab dem 50. Lebensjahr eine jährliche Untersuchung auf okkultes (verstecktes, nicht sichtbares) Blut im Stuhl mithilfe von Schnelltestverfahren (sogenannten Stuhlbriefen). Nun müssen Colonkarzinome aber nicht kontinuierlich bluten (auch nicht im mikroskopischen Umfang), was die Relevanz eines solchen Früherkennungstests von vornherein in Frage stellt. Sucht man in der Literatur nach der Sensitivität dieses Schnelltests, changieren die Zahlen zwischen 35 und 79 Prozent. Die Spezifität dieses Tests ist andererseits mit 85–97% relativ gut. Aber was nützt ein Früherkennungstest, der einen Befund in 20–65% der Fälle übersieht? Ich jedenfalls würde mich auf diese Früherkennungsuntersuchung nicht verlassen! Abschließend meine Empfehlung: In der onkologischen Diagnostik und Therapie wird das Basislabor bei Krebsverdacht meistens routinemäßig zu Kontrollzwecken angefertigt. Diese Kontrollen haben ihre Berechtigung. Das Speziallabor, das bei Krebsverdacht häufig in der Bestimmung von Tumormarkern besteht, richtet sich zumeist nach der Art des vermuteten Tumors, und die Ergebnisse müssen unter Einbeziehung weiterer Daten interpretiert werden. Ein Betroffener sollte sich von seinem Arzt ausführlich über die Wertigkeit dieser Tumormarker und Spezialuntersuchungen informieren lassen. Einen Überblick hierzu gibt es im nächsten Kapitel.

Die gebräuchlichsten Tumormarker

Tumormarker sind Eiweiße und andere biologische Substanzen, welche vorwiegend in der Tumordiagnostik verwendet werden. Sie werden aus dem Blut oder anderen Körperflüssigkeiten (z. B. Urin) bestimmt. Verwendung finden diese Marker bei der Früherkennungsuntersuchung, der Primärdiagnostik, dem Staging (siehe Kap. Alles geprüft und erkannt) und der Verlaufskontrolle bösartiger Tumoren. Innerhalb bestimmter Normgrenzen sind Tumormarker auch in den Körperflüssigkeiten gesunder Menschen vorhanden. Leider gibt es keinen einzigen Tumormarker, der einen bösartigen Tumor mit 100%iger Sicherheit nachweisen kann; auch hier gilt es, das bereits beschriebene Verhältnis von Sensitivität und Spezifität zu beachten. In der Regel sind die Sensitivitäten und Spezifitäten für Tumormarker nicht besonders gut, wenn sie für die Früherkennungsuntersuchung herangezogen werden (der aufmerksame Leser merkt, dass die Krebsfrüherkennung besonders problematisch ist). Den höchsten Stellenwert haben die Tumormarker meines Erachtens im Rahmen der Kontrolluntersuchungen einer bösartigen Tumorerkrankung. Wurde bei der Diagnose festgestellt, dass der Tumor einen bestimmten Tumormarker produziert (man sagt auch „exprimiert“), so kann dieser Wert als einfacher und zumeist guter Kontrollparameter für den Erfolg oder Misserfolg der eingeleiteten Therapie verwendet werden (und der Patient muss sich dafür nur einer einfachen Blutabnahme unterziehen). Allerdings sollte man auch hierbei nicht aus den Augen verlieren, dass der Tumormarker nur ein indirekter Kontrollwert des Tumorverhaltens ist. In der Regel geht man davon aus, dass ein sinkender Tumormarker ein Hinweis darauf ist, dass die Tumorzellen zurückgehen und die gewählte Therapiemaßnahme den Tumor effektiv bekämpft. Das ist aber nicht immer der Fall; in Experiment versus gesichertes Wissen im Kapitel Komplementäre Therapien werde ich einen Fall aus meiner Praxis beschreiben, bei dem der Tumormarker „versagt“ hat. Das passiert beispielsweise, wenn der Tumor (z. B. durch Mutation) die Eigenschaft verliert, den Tumormarker zu produzieren. In einer derartigen Situation sinkt der gemessene Tumormarker, ohne dass gleichzeitig ein Rückgang von Tumorzellen stattfindet. Andererseits kann aber auch die

umgekehrte Situation eintreten: Obwohl die Tumorzellen durch die Therapie reduziert wurden, produzieren die verbleibenden Zellen eventuell größere Mengen des Tumormarkers und „unterschlagen“ dadurch den Therapieerfolg. Solche „Maskierungen“ von Therapieerfolg bzw. -misserfolg treten glücklicherweise nicht besonders häufig auf, verdeutlichen jedoch sehr eindrücklich, wie schwierig sich die Therapiekontrolle gestalten kann. Verursacht durch die Tatsache, dass bei den meisten Krebserkrankungen die Tumorzellbelastung des Individuums nicht direkt gemessen werden kann (außer vielleicht bei Leukämien), muss man sich mit sogenannten Surrogatmarkern (Ersatzmarkern) behelfen. Diese Surrogatmarker – in erster Linie Tumormarker aus dem Blut, aber auch Gewichtszu-/abnahme, Größenveränderungen des Tumors in der Computertomographie, der Allgemeinzustand etc. – können und müssen zur Therapiekontrolle herangezogen werden, wobei klar sein muss, dass jeder Surrogatmarker seine Einschränkungen hat. Einem einzigen Marker zu vertrauen ist deshalb nicht empfehlenswert. Bei der Kontrolle des Therapieerfolges oder -misserfolgs sollten grundsätzlich mehrere Parameter einbezogen werden (Blutwerte, bildgebende Verfahren, klinische Parameter etc.). Verdeutlichen lässt sich das erneut am Beispiel des Colonkarzinoms (Dickdarmkarzinoms). Ich habe schon gezeigt, dass die Bestimmung von okkultem Blut im Stuhl keine ausreichende Sicherheit für die Früherkennung des Colonkarzinoms gewährleistet. Das 69 Colonkarzinom erzeugt einen Tumormarker – das CEA –, welcher per Blutananlyse bestimmt werden kann. Immer wieder führen Ärzte in der Früherkennungsuntersuchung des Colonkarzinoms eine CEABestimmung durch. Dabei ist bereits seit vielen Jahren bekannt, dass die CEA-Expression beim Colonkarzinom häufig erst bei fortgeschrittenen Stadien des Tumors auftritt und dass ein frühes Stadium (das ja bei der Früherkennungsuntersuchung gefunden werden soll) nur zu 20 bis maximal 60% mit der Expression von CEA einhergeht. Ergo ist dieser Marker für die Früherkennungsuntersuchung des Colonkarzinoms ungeeignet. Leider sind auch die in den letzten Jahren auf den Markt

gekommenen neuen Marker wie z. B. M2-PK oder Septin-9 im Rahmen der Früherkennungsdiagnostik kaum verlässlicher. Die Liste der ungeeigneten Früherkennungsmarker ließe sich praktisch unbegrenzt weiterführen. Was ich zum Tumormarker CEA und dem Colonkarzinom ausgeführt habe, gilt auch für die meisten anderen Marker – was nicht bedeuten soll, dass sie bei der Kontrolle eines schon entdeckten Tumors (und gelegentlich auch in der Früherkennung) nicht wertvolle Dienste leisten können. Was der Leser also im Hinterkopf behalten sollte: Tumormarker können einen ganz schön an der Nase herumführen und sind immer nur als Surrogatmarker zu betrachten.

Bildgebende Diagnoseverfahren Eine der wichtigsten Sinneswahrnehmungen des Menschen ist das Sehen. Da verwundert es nicht, dass wir viel Energie und Forschung darauf verwenden, krankhafte Befunde bildlich darzustellen, so dass wir sie sehen können, ohne den Körper „öffnen“ zu müssen. Zu diesem Zweck sind in den vergangenen hundert Jahren zahlreiche unterschiedliche Methoden entwickelt worden. Die bildliche Darstellung des Körperinneren ist eines der wichtigsten Verfahren der heutigen medizinischen Diagnostik. Es handelt sich dabei um Methoden, die einen mehr oder weniger detaillierten Blick ins Körperinnere ermöglichen und sowohl bei der Suche nach den Ursachen von Symptomen als auch bei der genaueren Einschätzung von Verdachtsbefunden gute Dienste leisten. Die verschiedenen bildgebenden Methoden möchte ich dem Leser im Folgenden kurz präsentieren.

Ultraschall: Eine dynamische Untersuchung

Durch die Aussendung hochfrequenter Schallwellen und die bildhafte Verarbeitung des dabei erzeugten Echos können heutzutage viele Organe und Strukturen des menschlichen Körpers mit der Ultraschalluntersuchung (Sonographie) sehr gut sichtbar gemacht werden. Ihre Aussagekraft oder diagnostische Qualität ist von der Spezialisierung und der praktischen Erfahrung des jeweiligen Untersuchers abhängig, was für alle bildgebenden Verfahren gilt – hier jedoch besonders stark, da es sich um eine sogenannte dynamische Untersuchung handelt. „Dynamische Untersuchung“ heißt, dass die Bilder, die dabei produziert werden, im Gegensatz zur Computertomographie (CT) oder zur Magnetresonanztomographie (MRT) nicht das Ergebnis der Untersuchung bilden; sie dienen nur der Dokumentation. Der Befund wird bei laufender Untersuchung durch den untersuchenden Arzt erhoben. Wegen des dynamischen Charakters der Untersuchung kann sich allerdings auch ein Befund aufdrängen, der in Wirklichkeit gar nicht vorliegt; ein Ultraschallergebnis sollte daher, und zwar vor allem, wenn es für die weitere Therapie relevant ist, durch eine statische Methode (Röntgen, CT oder MRT) verifiziert und bestätigt werden. Bei den statischen Methoden werden die Bilder unter standardisierten Bedingungen angefertigt (in der Regel durch medizinisches Assistenzpersonal) und im Nachhinein vom Arzt am Bildschirm bewertet. Auch bei den statischen Untersuchungen variiert die Verlässlichkeit der Diagnose je nach Erfahrung des interpretierenden Arztes; es ist jedoch bei diesen Untersuchungen leichter möglich, die Bilder auch von anderen Ärzten beurteilen zu lassen. Daneben gibt es auch Unterschiede in der Qualität der Bilderstellung, die von den verwendeten Materialien und den technischen Parametern abhängig ist, wie wir in den anschließenden Kapiteln sehen werden. Ultraschalluntersuchungen stehen meistens an erster Stelle im chronologischen Ablauf der bildgebenden Diagnoseverfahren. Sie sind schnell verfügbar, nebenwirkungsarm (oft sogar nebenwirkungslos) und nicht allzu teuer. Auch bei der

Therapiekontrolle bietet sich die Ultraschalluntersuchung als leicht zugängliches Verfahren an: So z. B. können Metastasen in der Leber präzise vermessen werden; auch ihre Anzahl lässt sich zumeist genau bestimmen. Ein Nachteil der Ultraschalluntersuchungen ist jedoch auf der anderen Seite gerade auch die Tatsache, dass sie so leicht durchzuführen sind. Jeder Arzt kann sich ein Ultraschallgerät kaufen und damit Untersuchungen durchführen. Auf dem Weg zur Facharztreife müssen die werdenden Ärzte in einigen Fachrichtungen eine gewisse Anzahl von Ultraschalluntersuchungen absolvieren (z. B. Internisten, Urologen oder Gynäkologen), wonach die Kassenärztliche Vereinigung70 die Berechtigung zur Abrechnung von Ultraschallleistungen erteilt. Weder eine festgeschriebene Ausbildung in Ultraschalldiagnostik noch der Nachweis von regelmäßigen Weiterbildungen sind vorgeschrieben. Die Qualitätssicherung wird durch die KV anhand von Stichproben der bildlichen Dokumentation vorgenommen, und die Geräteausstattungen der Praxen werden gelegentlich überprüft. Zu den genannten Unsicherheiten bei der Erstellung einer Ultraschalldiagnose kommt noch hinzu, dass nicht alle Organe mit diesem Verfahren gleich gut bewertet werden können. Paradeorgane für die abdominelle Ultraschalldiagnostik71 sind beispielsweise Leber oder Nieren. Verschiedene Nierenerkrankungen wie Nierensteine, Nierenzysten oder Nierenkarzinome können mit hoher Zuverlässigkeit mittels Ultraschalluntersuchung dargestellt werden. Die sichernden Zusatzuntersuchungen mit Röntgen, CT und/oder MRT werden in erster Linie aus forensischen72 Gründen durchgeführt. Ein nicht weit entfernt davon liegendes urologisches Organ, die Prostata, ist in seiner Ultraschallzugänglichkeit das genaue Gegenteil der Nieren. Die Prostata liegt tief im kleinen Becken, ist relativ klein und von vielen „Störfaktoren“ (Darm und Knochen) umgeben. Mit einer normalen abdominellen Ultraschalluntersuchung kann allenfalls eine Größenbestimmung des Organs vorgenommen werden. Für die genauere Beurteilung des Prostatagewebes hat sich der transrektale Ultraschall73 etabliert.

Allerdings ist die diagnostische Treffsicherheit des transrektalen Ultraschalls der Prostata keinesfalls mit der Genauigkeit der Nierendiagnostik mittels Ultraschall zu vergleichen. Hohlorgane wie Magen oder Darm sind durch Ultraschall ebenfalls nur sehr eingeschränkt zu betrachten, so dass der Ultraschalluntersuchung bei der Tumordiagnostik dieser Organe keine große Bedeutung zukommt. Mit speziellen Ultraschallsonden ist hingegen die Tumordiagnostik des Mammakarzinoms oder zumindest die Verdachtsstellung74 in den letzten Jahren deutliche Schritte vorangekommen. Zusätzliche Röntgenund/oder MRTUntersuchungen sind aber weiterhin auch bei diesem Tumor notwendig. Manche Organe wie z. B. Lunge oder Knochen entziehen sich nahezu komplett der Ultraschalldiagnostik. Die angeführten Beispiele sollen dem Leser noch einmal verdeutlichen, dass die Qualität eines im Ultraschall erhobenen Befundes stark von der Erfahrung des untersuchenden Arztes abhängt und insbesondere der Ausschluss eines pathologischen Befundes, der durch eine Ultraschalluntersuchung erhoben wurde, mit Vorsicht zu bewerten ist. Ganz wichtig ist es, zu verinnerlichen, dass nur bestimmte Organe per Ultraschall gut untersucht werden können.

Computertomographie: Bilder vom Krebs Die nächste Bastion der bildgebenden Diagnostik ist der große Bereich der Röntgenuntersuchungen. Hierbei unterscheidet man grob zwischen einer planen Röntgenaufnahme und dem Schnittbildverfahren (der Computertomographie, kurz CT). Das konventionelle Röntgen der Lunge, ein planes Verfahren, dürfte den meisten Lesern bekannt sein: Man steht vor einem Röntgenschirm, eine Strahlenquelle wird kurzzeitig geöffnet, der Körper wird durchstrahlt (im Fachjargon als „Durchleuchtung“ bezeichnet); die den Körper durchdringende Strahlung wird von einem CelluloidFilm (bei älteren Anlagen) oder in digitaler Form aufgefangen und ergibt so ein Abbild der inneren Organe.

Plane Röntgenverfahren wendet man traditionell zur Beurteilung der Lunge (Röntgenthorax), bei der Früherkennungsuntersuchung von bösartigen Tumoren der weiblichen Brust (Mammographie) und zur Diagnostik von Knochenbefunden (z. B. bei Frakturen = Knochenbrüchen) an. Immer häufiger wird die plane Röntgenuntersuchung heutzutage jedoch durch die deutlich besser auflösende und darstellende Methode der Computertomographie abgelöst. Während die plane Röntgenuntersuchung lediglich Konturen der Organe darzustellen vermag, ermöglicht das CT eine detaillierte Aufschlüsselung der gesamten Gewebestruktur eines Organs. Auch die Gewebeumgebungen (Binde- und Fettgewebe), Blutgefäße und sogar vergrößerte Lymphknoten (ab einer Größe von 5 mm) lassen sich zuverlässig darstellen. Durch die Applikation eines Röntgenkontrastmittels75 wird die Auflösung der CT-Untersuchung noch besser, und bösartige Tumoren können anhand des Kontrastmittelaufnahmeverhaltens (die Art und Weise, wie stark das Kontrastmittel von den verschiedenen Körper- und Gewebeanteilen aufgenommen wird) sehr genau diagnostiziert werden. Die Untersuchung wird üblicherweise in zwei Schritten vollzogen: Begonnen wird mit den sogenannten Nativaufnahmen – ohne Verabreichung des Kontrastmittels (Ausnahme: Bei einer CTAbdomen-Untersuchung wird häufig vor der Untersuchung zur besseren Kontrastierung des Magens und der Darmschlingen schon in diesem Stadium eine Kontrastmittellösung getrunken). Im unmittelbaren Anschluss an die Nativserie wird eine weitere Bilderserie nach der Applikation des Kontrastmittels generiert. Die Untersuchungsdauer der beiden Durchläufe beträgt in der Regel nur wenige Minuten. Nebenwirkungen gehen in erster Linie von den jodhaltigen Kontrastmitteln aus, die zu allergischen Reaktionen und Beeinträchtigungen der Nierenfunktion führen können. Bei Patienten mit einer Schilddrüsenüberfunktion besteht das Risiko einer Verstärkung der Überfunktion durch das jodhaltige Kontrastmittel. Daher werden diese Patienten vor der Kontrastmittelgabe speziell darauf vorbereitet oder mit einem anderen Verfahren untersucht.

Mit einem solch zuverlässigen diagnostischen Instrument in Händen ist es nur nachvollziehbar, dass die plane Röntgenuntersuchung in vielen Bereichen an Bedeutung verliert. Erkauft wird die bessere diagnostische Aussagefähigkeit der CT-Untersuchung allerdings mit einer deutlich höheren Strahlenbelastung des Patienten, die ich im Folgenden kurz erläutern möchte. Röntgenstrahlen sind sehr energiereich: Sie sind in der Lage, Elektronen aus der Schale von Atomen zu „schießen“ und dadurch positiv geladene Ionen zu erzeugen – weshalb man sie auch ionisierende Strahlen oder Photonenstrahlung nennt. Mit ihrer Energie können sie (im Gegensatz zum energiearmen Licht) auch dichte Körper durchdringen. Das ist gut für die Medizin, da wir dadurch die inneren Organe sichtbar machen können, birgt jedoch auch Risiken für den Patienten: Wenn ionisierende Strahlen menschliches Gewebe durchdringen, können sie Schäden am Erbgut der Zellen (also der DNS) verursachen. Energiereiche Strahlung entsteht allerdings nicht nur in Röntgengeräten; sie umgibt uns zu jeder Zeit in Form von kosmischer Strahlung (aus dem Weltall), terrestrischer Strahlung (aus der Erde) und Eigenstrahlung (mit der Nahrung, dem Trinkwasser und der Luft werden auch strahlende Atome vom Körper aufgenommen). Dieser natürlichen Strahlenexposition von etwa 1,6 mSv/Jahr können wir nicht entkommen. Die Energiedosis76, welche pro Masseneinheit von einer Strahlung aufgenommen oder absorbiert wird, gibt man in Gray (Gy) an. Dabei bezeichnet 1 Gy die Energiedosis von 1 Joule pro Kilogramm Gewebe. Es gibt verschiedene energiereiche Strahlungsarten: Röntgenstrahlung, Alphastrahlung (ionisierende Strahlung, bei der Helium-4-Kerne als Teilchenstrahlung freigesetzt werden), Gammastrahlung, Neutronenstrahlung etc., deren schädigende Auswirkungen auf menschliches Gewebe unterschiedlich stark sind. Anhand des Strahlungswichtungsfaktors77 lässt sich die schädigende Wirkung der verschiedenen Strahlenarten einordnen. Röntgen-, Gammaund Elektronenstrahlung haben einen Strahlungswichtungsfaktor von 1, Protonenstrahlung hat den Faktor 5 und Alphastrahlung den Faktor 20. Das bedeutet, das

Alphastrahlung 20-mal so viel Schaden an der DNS anrichtet wie beispielsweise Röntgenstrahlung. Um die unterschiedlichen Strahlungsarten vergleichbar zu machen, wurde die sogenannte Äquivalenzdosis definiert, welche die Energiedosis mit dem Strahlungswichtungsfaktor in einem Wert vereint. Die Äquivalenzdosis wird in Sievert (Sv, 1xJoul/kg) angegeben. Da die Äquivalenzdosis von 1 Sievert einer sehr hohen Dosis entspricht, wird im medizinischen Sprachgebrauch und im Strahlenschutz zumeist von Millisievert (1 mSv = 0,001 Sv) gesprochen. Etwa 2,4 mSv beträgt die natürliche Strahlenexposition, der ein Mensch im Laufe eines Jahres ausgesetzt ist (durch natürliche Umgebungsstrahlung, bei Flügen, durch den Aufenthalt in Betonbauten etc.). Eine konventionelle Röntgenaufnahme geht mit einer Strahlenbelastung von 0,1 bis 0,5 mSv einher – immerhin fast ein Fünftel der natürlichen Strahlenbelastung. Eine Mammographieuntersuchung zur Früherkennung oder Abklärung des Mammakarzinoms der Frau hat eine Strahlenbelastung von 3 mSv, und eine CT-Untersuchung des Bauchraumes eine Strahlenbelastung von bis zu 10 mSv. Das große Risiko jeglicher energiereicher Bestrahlung besteht in der bereits erwähnten Schädigung unseres Erbguts und – damit verbunden – der möglichen Entstehung von Krebs. Dabei handelt es sich um ein Alles-oder-nichts-Phänomen: Entweder es entsteht ein bösartiger Tumor – oder es passiert gar nichts.78 Die am Erbgut entstandenen Schäden werden meistens durch die körpereigenen Reparaturmechanismen beseitigt; zu stark geschädigte Zelle sterben „freiwillig“ ab (Apoptose). In den wenigsten Fällen kommt es aufgrund der eingetretenen Schädigung des Erbguts tatsächlich zur Entwicklung von bösartigen Tumoren. Wie häufig dies passiert, kann (wieder mal) nur statistisch prognostiziert werden – und statistische Aussagen haben, wie schon erwähnt, vor allem Orientierungswert für den Patienten. Was bedeutet das nun in puncto Strahlenrisiko? Statistische Modellrechnungen zeigen, dass etwa 8.400 der 220.000 (= 3%) Krebstoten pro Jahr in Deutschland aufgrund natürlicher Strahlenexposition erkrankt sind. Weitere Berechnungen zeigen,

dass die zusätzliche Strahlenexposition von 1 Sievert das LebenszeitKrebssterblichkeitsrisiko um 5% erhöht. Bestrahlt man also 100 Personen mit 1 Sievert, so versterben zusätzlich fünf von den 100 in ihrem weiteren Leben an Krebs (zusätzlich zu der Krebssterblichkeit, die durch die natürliche Strahlenexposition verursacht wird). Nun ist 1 Sievert, wie bereits oben erwähnt, eine sehr hohe Strahlendosis, die im Allgemeinen durch diagnostische Maßnahmen nicht erreicht wird. Das lineare Herunterrechnen des Risikofaktors auf kleinere Dosen, wie sie in der diagnostischen Radiologie üblich sind, ist umstritten, soll hier aber zur Verdeutlichung des wahrscheinlichen oder möglichen Risikos trotzdem vorgenommen werden. Verwendet man die obigen Risikoberechnungen für radiologische Diagnoseuntersuchungen, so ergibt sich für eine Röntgenuntersuchung der Lunge mit einer Äquivalenzdosis von etwa 0,1 bis 0,5 mSv ein zusätzliches Krebsrisiko von einem Fall pro 100.000 Untersuchungen. Das Bundesamt für Strahlenschutz erhebt seit den frühen 1990er Jahren alljährlich Daten zur Strahlenbelastung der Bevölkerung durch medizinische Maßnahmen. Obwohl die Gesamtzahl der Röntgenuntersuchungen im vergangenen Jahrzehnt stetig gefallen ist, nämlich von etwa 1,8 auf 1,6 Untersuchungen pro Einwohner und Jahr, ist die Gesamtstrahlenbelastung im selben Zeitraum von 1,5 auf 1,7 mSv pro Einwohner und Jahr gestiegen. Dies liegt an einer Verschiebung von den weniger belastenden konventionellen Röntgenuntersuchungen hin zu den deutlich strahlenintensiveren CT- und interventionellen Untersuchungen79. Obwohl CT- und interventionelle Untersuchungen nur etwa 10% der Gesamtuntersuchungszahl ausmachen, summiert sich ihre Strahlungsbelastung auf ca. drei Viertel der jährlichen natürlichen Strahlendosis. Die Anzahl der CT-Untersuchungen hat sich im Zeitraum von 1996 bis 2006 außerdem von 0,06 auf 0,13 Untersuchungen pro Einwohner mehr als verdoppelt. Vor dem Hintergrund der nicht unerheblichen Strahlenbelastung durch CT-Untersuchungen sollte die Indikationsstellung80 für diese Maßnahme sehr gewissenhaft betrieben werden und ihr Nutzen klar ersichtlich sein – und zwar vor der Durchführung der Untersuchung.

Magnetresonanztomographie: Wenn Atome tanzen Eine Alternative zur relativ strahlenintensiven CT-Untersuchung ist die Schnittbilduntersuchung mit der sogenannten 81 Magnetresonanztomographie (MRT) . Bei diesem bildgebenden Verfahren werden die Kerne von Wasserstoffatomen (das sind Protonen) unter der Verwendung von mehreren sehr starken Magnetfeldern zu einer wiederholten Veränderung ihres Kernspins angeregt – sie „tanzen“. Dadurch wird ein elektrisches Signal verursacht, welches zur Bildgeneration verwendet wird. Entscheidend für eine gute Gewebekontrastierung auf dem erhaltenen Bild ist die vom MRT-Tomographen generierte Magnetfeldstärke, die in Tesla ausgedrückt wird. Ein handelsüblicher Hufeisenmagnet verfügt beispielsweise über eine Flussdichte (also Magnetfeldstärke) von 0,1 Tesla. Moderne MRTGeräte (Stand 2013) generieren mit ihren Magneten Flussdichten von bis zu 3,0 Tesla. Die Organkontrastierung der MRT ist jener der Computertomographie überlegen, vor allem durch eine im Vergleich zum CT deutlich höhere Detaillauflösung. Entsprechend der Wichtung der erzeugten Magnetfelder werden Strukturen und Gewebe unterschiedlich dargestellt. So kommt es bei der sogenannten T1-Wichtung (Längsrelaxation) zur hyperintensen (hellen) Darstellung von Fett und fetthaltigen Geweben und Organen. Damit lassen sich Organveränderungen durch Entzündungen oder Tumoren sehr gut darstellen. Die T2-Wichtung (Querrelaxation: Flüssigkeiten erscheinen hell) hingegen eignet sich besonders gut zur Abbildung von Hohlorganen (Harnblase, Gallenblase) oder zur Darstellung von Ergüssen und Ödemen (Wasseransammlungen in Räumen oder Geweben). Die Qualität der mittels MRT produzierten Schnittbilder ist sehr gut, und die Gewebestrukturen, Organe und Leitungsbahnen (Blutgefäße, Nerven etc.) können mit hoher Zuverlässigkeit beurteilt werden. Mit speziellen Untersuchungsverfahren kann man auch die Funktionen der Gewebe oder Organe darstellen: Die MRTElastographie etwa ermöglicht Härtebestimmungen, die PerfusionsMRT Durchblutungsbestimmungen, und die Magnetresonanzangiographie zeigt Gefäßveränderungen an.

Wie bei der Computertomographie werden auch bei der MRT in der Regel zwei Untersuchungsserien „gefahren“: erst ohne und dann mit Kontrastmittel. Im Gegensatz zu den meistens jodhaltigen Kontrastmitteln der Röntgendiagnostik wird bei der MRT das deutlich weniger allergene82 und insgesamt besser verträgliche Gadolinium verwendet. Insbesondere bei der T1-Wichtung kann der Gewebekontrast durch die Kontrastmittelgabe noch einmal erhöht werden – Gewebeveränderungen lassen sich also noch exakter diagnostizieren. Gadolinium hat zusätzlich den Vorteil, dass es auch bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion angewendet werden kann – jodhaltige Röntgenkontrastmittel dürfen in dieser Situation nicht gegeben werden, da sie die Nieren zusätzlich belasten würden. Bei Dialysepatienten, deren Nieren gar nicht mehr funktionieren, darf Gadolinium allerdings auch nicht eingesetzt werden. Ein unumstrittener Vorteil der Magnetresonanztomographie besteht darin, dass keine energiereiche Strahlung (weder Röntgennoch eine andere Strahlung) für die Darstellung der inneren Organe benötigt wird; sie basiert ausschließlich auf den magnetischen Eigenschaften von Molekülen. Die MRT ruft deshalb – nach dem heutigen Stand der Wissenschaft – auch keine Schäden an der DNS und damit in Zusammenhang stehende Krebserkrankungen hervor. Problematisch ist eine MRT-Untersuchung insbesondere in Bezug auf die Respekt einflößenden Geräte. Der MRT-Tomograph verfügt über einen relativ engen Tunnel (Durchmesser: 60–75 cm), in dem der Patient positioniert wird. Für Patienten mit Platzangst ist das eine große Herausforderung; sie benötigen gegebenenfalls eine Sedierung (leichte Betäubung), damit die Untersuchung überhaupt durchgeführt werden kann. Sehr fettleibige Patienten passen gar nicht in den Untersuchungstunnel. Inzwischen gibt es zwar sogenannte offene MRT-Tomographen, die für den Patienten angenehmer sind; bisher bieten sie aber nicht dieselbe Bildqualität. Ein weiterer Wermutstropfen ist die Tatsache, dass während der Untersuchung durch die wechselnden Magnetfelder laute Geräusche produziert werden, die einen Gehörschutz erforderlich machen. Ein Handicap sind auch elektrische Geräte und metallische Gegenstände mit ferromagnetischen Eigenschaften im Körper des Patienten. Bei Patienten mit Herzschrittmachern etwa sind MRT-Untersuchungen

meistens gänzlich ausgeschlossen oder zumindest mit hohen Sicherheitsvorkehrungen verbunden. Knochenschrauben und Hüftprothesen (normalerweise aus Titan) stellen heutzutage kein Problem für die MRT-Untersuchung dar. Metallsplitter oder Gefäßclips an ungünstigen Stellen (z. B. im Auge oder Gehirn) können sich hingegen stark erhitzen; Tätowierungen mit metallhaltigen Farbpigmenten gar zu 2-gradigen Verbrennungen führen. Schmuck und Piercings müssen vor der Untersuchung abgenommen werden, da es sonst ebenfalls zu Verbrennungen kommen kann. Insgesamt gesehen ist die Magnetresonanztomographie eine begrüßenswerte Weiterentwicklung der Schnittbilddiagnostik: Zum einen stellt sie eine strahlungsfreie Alternative zur Computertomographie dar; zum anderen kann sie als Ergänzung zum CT zu einer genaueren Diagnoseaussage führen. Für die Tumordiagnostik ist die parallele und/oder sequentielle Anwendung dieser beiden Verfahren eine deutliche Bereicherung, die allerdings mit höheren Kosten einhergeht.

Szintigraphie: Organe in Aktion beobachten Die Szintigraphie dient hauptsächlich der bildlichen Darstellung funktioneller Abläufe, etwa der Ausscheidungsfunktion der Nieren oder der Stoffwechselaktivität in den Knochen. Bei dieser Untersuchung (es handelt sich dabei um eine sogenannte nuklearmedizinische Untersuchung) wird der Körper nicht durchstrahlt, sondern ein radioaktiv angereicherter Stoff (ein Radiopharmakon oder Tracer) über eine Infusion83 in den Körper eingebracht. Die von dem Stoff ausgehende Strahlung (die den Körper in alle Richtungen verlässt) wird nach einem bestimmten Zeitintervall mit einer sogenannten Gammakamera aufgefangen und bildlich verarbeitet. Je nach Ziel der Untersuchung kommen verschiedene radioaktiv markierte Stoffe zum Einsatz. Die Szintigraphie kann dabei zum einen als Lokalisationsdiagnostikum (zur Lokalisation eines Befundes), zum anderen aber auch als reines Funktionsdiagnostikum (Abklärung einer bestimmten

Organfunktion wie z. B. der Entgiftungsfunktion der Nieren) eingesetzt werden. Ein typisches szintigraphisches Lokalisationsdiagnostikum ist das Skelettszintigramm, eine Darstellung der Knochen. Hierzu werden dem Patienten mit dem radioaktiven Isotop Technetium-99m radioaktiv markierte Bisphosphonate84 infundiert. Diese Bisphosphonate verteilen sich über das Blut im ganzen Körper und reichern sich besonders an Stellen vermehrten Knochenstoffwechsels an, der beispielsweise bei Knochenentzündungen oder Knochenmetastasen stattfindet. Nach einer Latenzzeit (Wartezeit) von mehreren Stunden wird die vom Technetium-Zerfall ausgehende Gammastrahlung einmal von vorne und einmal von hinten von der Gammakamera aufgefangen. Das gesamte Skelett wird dann als feiner Grauschleier abgebildet; Regionen mit vermehrtem Knochenstoffwechsel erscheinen dunkler als die sonstige Knochenumgebung.85 Diese Untersuchung ermöglicht eine genaue Lokalisation von Knochenmetastasen im gesamten Skelett, leider mit sehr geringer Bildauflösung, wodurch die Detailbeurteilung nicht die beste ist. Bei speziellen Fragestellungen (z. B. ob von einer im Skelettszintigramm aufgefallenen Metastase eine Bruchgefährdung für den Knochen ausgeht – was immer geklärt werden sollte) ist daher häufig eine zusätzliche konventionelle Röntgen- oder eine Schnittbilduntersuchung nötig. Der zeitliche Ablauf der Aufnahme bzw. Ausscheidung der strahlenden Moleküle wird bei der Nierenfunktionsszintigraphie z. B. für die Beurteilung der Organfunktion aufgezeichnet. Bei dieser Art der Szintigraphieuntersuchung werden dem Patienten etwa mit Technetium-99m markierte MAG3-Moleküle infundiert, die recht schnell über die Nieren ausgeschieden werden. Nach Applikation der Infusion wird 30 Minuten lang – manchmal auch länger – die Anreicherung und Ausscheidung des Tracers mit der Gammakammera verfolgt. Der zeitliche Verlauf der Ausscheidung des Tracers wird mittels Ausscheidungskurven dargestellt und gibt wichtige Aufschlüsse über eine eventuelle Beeinträchtigung der Nierenfunktion oder Nierenausscheidung. Da die Gammakamera die beiden Nieren getrennt untersucht, kann auch eine Störung an nur einer Niere wahrgenommen werden.

Diese aufgrund der Möglichkeit, die Tätigkeit der Organe zu beobachten, besonders wertvolle diagnostische Methode geht mit einer relativ niedrigen Strahlenbelastung einher (Nierenszintigraphie: etwa 0,8 mSv; Knochenszintigraphie: etwa 0,08 mSv). Nebenwirkungen der Szintigraphie – z. B. allergische Reaktionen, die aber sehr selten sind – stehen in Zusammenhang mit dem verabreichten Radiopharmakon. Weniger erfreulich für die Patienten ist jedoch die Dauer der Untersuchung: Bis der Tracer sich an den zu untersuchenden Stellen angelagert hat bzw. von der zu messenden Organfunktion verarbeitet wurde, kann schon einige Zeit (bis zu mehreren Stunden) vergehen. Die eigentliche Messung mit der Gammastrahlung, also die Positionierung des Patienten vor der Gammakamera, dauert nur etwa 10 bis 30 Minuten lang. Ein bis zwei Tage nach der Verabreichung des Radiopharmakons sollte enger Kontakt zu Kindern und Schwangeren unbedingt vermieden werden; während einer Schwangerschaft sind nuklearmedizinische sowie röntgenologische Untersuchungen nur bei sehr wichtigen Indikationen zu verantworten, da es zu einer Schädigung des ungeborenen Kindes kommen könnte.

Positronen-Emissions-Tomographie: Bildgebung in 3D Die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) ist auch ein nuklearmedizinisches Verfahren, das ähnlich wie die Szintigraphie funktioniert. Dem Patienten werden wiederum radioaktiv markierte Tracer verabreicht, und eine Gammakamera fängt nach einiger Zeit die Emission der Strahlen auf. Zum Unterschied von der Szintigraphie kommt bei der PET eine um den Patienten rotierende Gammakamera zum Einsatz, die ein dreidimensionales Bild ermöglicht. Sowohl die Bildqualität als auch die räumliche Auflösung sind bei diesem Verfahren deutlich besser als bei der normalen Szintigraphie – es können beispielsweise auch kleinere Tumorherde dargestellt werden. Die durch die PET generierten Abbildungen entsprechen, genau wie bei der Szintigraphie, funktionellen Prozessen und nicht morphologischen Strukturen. Wenn beides beurteilt werden soll, kommen heutzutage häufig

Kombinationsgeräte aus Gammakamera und Computertomograph – also ein PET/CT – zum Einsatz. Die PET/CT-Untersuchung kombiniert die morphologischen Schnittbilder der CT-Untersuchung mit den funktionellen Abbildungen der PET. Das am häufigsten bei der PET- oder PET/CT-Untersuchung im onkologischen Bereich verwendete Radiopharmakon ist das 18FluorIsotop (abgekürzt 18F). Da Tumoren besonders viel Zucker (Glukose) verstoffwechseln (also für ihr Wachstum verbrauchen), wird 18F für die Tumordiagnostik häufig in Form von 18FFluordesoxyglukose ([18F]-FDG) verabreicht. Wenn ein Tumor oder eine Metastase besonders viel von diesem Radiopharmakon anreichert (weil sie den Zucker verwerten will), zeigt sich an der Stelle des Tumors/der Metastase ein vermehrter radioaktiver Zerfall des Isotops, der mit der Gammakamera aufgefangen werden kann. Eine zusätzliche CT-Untersuchung (beim PET/CT) erlaubt dann eine genaue anatomische Zuordnung der erhöhten Stoffwechselaktivität zu einer morphologischen Struktur (z. B. zu einem Organ oder den Lymphknoten einer bestimmten Region). Hieraus ergibt sich eine sehr präzise Diagnose. Die Strahlenbelastung der Untersuchung ist allerdings relativ hoch. Die PET-Untersuchung mit [18F]-FDG führt allein schon zu einer Strahlenbelastung von etwa 7 mSv; das CT im Rahmen der PETUntersuchung steuert mit einer Strahlenbelastung von 3 bis 10 mSv (je nach der Größe des untersuchten Körperabschnitts) bei. Die PET/CT-Kombinationsuntersuchung schlägt also mit einer Gesamtstrahlenbelastung von 10 bis 17 mSv zu Buche, die der natürlichen Strahlenexposition von etwa vier bis sieben Jahren äquivalent ist. Wegen dieser hohen Strahlenbelastung sollte die ärztliche Empfehlung für eine PET- oder PET/CT-Untersuchung sehr genau erwogen werden und der aus der Untersuchung resultierende Informationsgewinn äußerst relevant sein. Da die herkömmlichen Schnittbildverfahren (CT und MRT) schon sehr gute Ergebnisse liefern, ist die PET/CT-Untersuchung nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt – etwa wenn man kleinste Tumormengen in einzelnen Lymphknoten nachweisen will. Die Kosten der PET- und insbesondere der PET/CTUntersuchung sind sehr hoch (etwa 1.500 Euro) und werden in

vielen Fällen nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Daher ist es unbedingt notwendig, vor einer derartigen Untersuchung Rücksprache mit der Versicherung bezüglich der Kostenübernahme zu halten (das gilt übrigens auch für Privatversicherungen).

Endoskopie: Nahe am Tumor Die Endoskopie ist ein umfangreiches, dabei aber minimal invasives (also wenig belastendes) diagnostisches und therapeutisches Verfahren. Der Begriff Endoskopie (= Spiegelung) bedeutet in der Medizin immer, dass der Arzt eine Struktur (meistens ein Hohlorgan wie die Harnblase, den Magen oder den Darm) von innen inspizieren möchte. Um genauer einzugrenzen, um welche Art der Endoskopie es geht, wird das Präfix „Endo“ (was nichts anderes als „innen“ bedeutet) durch das zu untersuchende Organ ersetzt – also ist die Coloskopie eine Darmspiegelung, die Gastroskopie eine Magenspiegelung, die Zystoskopie eine Harnblasenspiegelung etc. Die Endoskope – also die Geräte, mit denen die Untersuchungen durchgeführt werden – benennt man ebenfalls mithilfe der entsprechenden Organpräfixe: Das Gastroskop ist das Gerät für die Magenspiegelung, das Koloskop jenes für die Darmspiegelung, und das Zystoskop dient der Harnblasenspiegelung. Alle diese Geräte haben eine den Organen und ihren Zugängen entsprechende Form und Flexibilität. Spiegelungen werden oft mit anderen medizinischen Untersuchungen kombiniert. So kann z. B. die Spiegelung des Magens und Zwölffingerdarms (Gastroduodenoskopie) mit einer radiologischen Untersuchung der Gallenwege (Cholangio) oder der Bauchspeicheldrüsengänge (Pankreasgänge) gekoppelt werden. Dabei wird über den gemeinsamen Ausführungsgang der Gallenund Bauchspeicheldrüsenwege86 eine kleine Sonde in diese Gänge eingeführt und ein Röntgenkontrastmittel verabreicht; danach werden diese Strukturen mithilfe einer beweglichen Röntgenquelle durchleuchtet und dargestellt. Bei dieser Untersuchung können entweder die Gallenwege (ERC = endoskopische retrograde

Cholangiographie) oder die Gallen- und Pankreaswege (ERCP = endoskopische retrograde Cholangiopankreatikographie) untersucht werden. Weiterhin sind endoskopische Biopsien (Gewebeentnahmen), Steinentfernungen, Spülungen und vieles mehr möglich. Die endoskopischen Untersuchungen der verschiedenen Organe unterscheiden sich deutlich hinsichtlich ihres Vorbereitungsaufwandes (organspezifische Vorbereitung, Aufklärung, Narkose etc.). Endoskopie ist also nicht gleich Endoskopie: Der Patient ist wieder auf eine ausführliche Aufklärung durch den Arzt angewiesen – auch wenn es sich dabei um weniger invasive Verfahren handelt. Wichtig ist, dass alle endoskopischen Maßnahmen ausgeschöpft sein sollten, bevor ein Betroffener sich für oder gegen eine Operation entscheidet – diese bedarf in der Regel des größeren Aufwandes. Manchen Krankenhäusern fehlt das notwendige Instrumentarium, um eine endoskopische Untersuchung anstelle einer Operation durchzuführen; in diesem Fall ist die Suche nach einem geeigneten Krankenhaus dringend zu empfehlen. Die Entscheidung sollte keinesfalls vom Vorhandensein des geeigneten Instrumentariums abhängig gemacht werden; das würde nämlich bedeuten, dass der Patient einer eventuell deutlich aufwendigeren diagnostischen Methode zustimmen müsste.

Für den Pathologen: Biopsien und operative Freilegungen Die bisher beschriebenen diagnostischen Untersuchungen waren darauf ausgerichtet, dem Arzt ein Bild des Tumors samt Informationen bezüglich seiner Lokalisation, Größe, eventuell auch seiner Verbreitung im Körper zu liefern. Um die am Anfang dieses Kapitels genannte Dignität des Tumors zu bestimmen, tritt der Pathologe auf den Plan, der eine Probe des Tumors untersucht. Es gibt unterschiedliche Methoden, um Tumorproben zu gewinnen. Im Falle eines Hohlorgans wie der Harnblase reicht

gelegentlich eine Organspülung87; bei Verdacht auf eine Leukämie ist in der Regel eine einfache Blutabnahme ausreichend (wobei zur letztendlichen Gewissheit eine Knochenmarksbiopsie88 notwendig ist). In anderen Fällen ist eine Biopsie (eine Probenentnahme mit kleinen Hohlnadeln) oder Operation (eine operative Freilegung und Probengewinnung) erforderlich, um an eine Probe des Tumors zu gelangen. Das Spektrum der notwendigen Maßnahmen ist also groß und von der Invasivität her sehr unterschiedlich. Was passiert nun mit dem per Spülung, Blutabnahme, Biopsie oder Operation erhaltenen Material? Es wird vom Pathologen entsprechend aufbereitet und unter dem Mikroskop betrachtet. Bei der pathologischen Untersuchung unterscheidet man die Zytologie von der Histologie. Zytologie bedeutet, dass lediglich einzelne Zellen begutachtet werden, welche durch eine Spülung, eine Bürstung, eine Absaugung oder eine Blutabnahme gewonnen wurden. Wird den gewonnenen Zellen, die unter dem Mikroskop inspiziert werden, ein bösartiges Erscheinungsbild zugesprochen, hat man es ziemlich wahrscheinlich mit einer Krebserkrankung zu tun. Die Information darüber, um was für einen Tumor es sich genau handelt, kann aber meistens nur die Histologie liefern. Dies bedeutet allerdings, dass ein Stück Tumor durch eine Biopsie oder durch Herausschneiden im Rahmen eines operativen Eingriffes gewonnen werden muss. Einzelne Zellen reichen nicht aus, um einen histologischen Befund erheben zu können. Die histologische Beurteilung des Biopsates oder des Operationspräparates ermöglicht eine wesentlich genauere Bestimmung der Art und Architektur des Tumors als die zytologische Untersuchung. Die korrekte Krebsdiagnose – mit genauer Bezeichnung der Tumorart – wird immer durch die Histologie gestellt. Eine Sonderform der histologischen Diagnostik ist die sogenannte Schnellschnittuntersuchung. Schnellschnittuntersuchungen werden in erster Linie dann durchgeführt, wenn es schwierig ist, an den Tumor zu gelangen (z. B. nur durch eine Operation in Vollnarkose). In diesen Fällen wird der Tumor zuerst operativ freigelegt, damit eine kleine Tumorprobe entnommen werden kann. Diese kommt zur

Schnellschnittdiagnostik; entpuppt sich der Tumor bei der Schnellschnittuntersuchung als bösartig, führt der Arzt im Rahmen dieser Maßnahme gleich eine definitive Therapie (z. B. die Entfernung des Tumors oder des tumortragenden Organs) durch. Bei solchen Eingriffen ist ein gut organisierter Ablauf sehr wichtig: Das abgetrennte Gewebestück wird sofort schockgefroren (in der Regel mit flüssigem Stickstoff); an den dann angefertigten Gefrierschnitten wird eine Schnellfärbung89 des Gewebes durchgeführt. Ein Pathologe beurteilt das Gewebe innerhalb kürzester Zeit (meistens in deutlich weniger als einer Stunde) und gibt das Ergebnis telefonisch an den Operateur durch. Während der Schnellschnittuntersuchung wird die Operation „pausiert“, der Patient verbleibt jedoch in Narkose. Abhängig vom Schnellschnittergebnis setzt der Chirurg dann die Operation fort. Je nach der Art der Untersuchungsmethode gibt es verschiedene Risiken bei der Gewinnung von Tumorproben. Bei endoskopischen Untersuchungen besteht die Gefahr der Perforation, also der Verletzung der Wandung des zu untersuchenden Hohlorgans. Zusätzlich besteht bei endoskopischen Untersuchungen, genau wie bei Biopsien und operativen Freilegungen, das Risiko von Infektionen und Blutungen. Erfordert die Untersuchung eine Narkose, kommt außerdem das Narkoserisiko hinzu. Generell sollte man zur Diagnosestellung immer den risikoärmsten Methoden den Vorzug geben. Oft sind mehrere unterschiedliche Untersuchungen erforderlich, damit eine genaue Diagnose gestellt werden kann. Dabei sollten die weniger invasiven stets vor den invasiveren Untersuchungen durchgeführt werden. Steht die Diagnose fest – und nur dann –, kann unverzüglich eine Therapie eingeleitet werden. Denn ein Dogma der Medizin lautet: Vor jeder Therapie muss eine gesicherte Diagnose stehen. Auf keinen Fall sollte eine Therapie begonnen werden, wenn die Diagnose histologisch noch nicht gesichert ist. Eine Therapie muss aber immer auch an das biologische Alter des Betroffenen (wie alt der Betroffene „wirkt“), seine gesundheitliche Situation (sie bezieht sich auf das Vorhandensein von Sekundärerkrankungen wie

Diabetes mellitus, Herzerkrankungen, Leberoder Nierenerkrankungen etc.) und die Prognose der bösartigen Erkrankung angepasst werden; zumindest sollte der Betroffene um die Prognose der Erkrankung wissen, die auf den nach der Primärdiagnostik und dem Staging zur Verfügung stehenden Daten basiert. Nur dann können erkenntnisbasierte und rationale Entscheidungen getroffen werden. Wie man zu einer solchen Entscheidungsbasis gelangt, zeigt das folgende Kapitel.

4.3 Alles geprüft und erkannt: Therapieziele und Prognosen Hat sich der Verdacht auf einen bösartigen Tumor anhand der Primärdiagnostik bestätigt, werden die sogenannten 90 Staginguntersuchungen durchgeführt, um das Tumorstadium – also die Ausbreitung des Tumors im Körper – zu bestimmen. Daraus ergeben sich wichtige Entscheidungen für die einzuleitende Therapie. Je nachdem, um welchen Tumor es sich handelt, werden bestimmte Stagingmaßnahmen durchgeführt (z. B. Blutuntersuchungen, Urinuntersuchungen, bildgebende Untersuchungen wie Ultraschall, Röntgen, Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Szintigraphie etc.). Am Ende der Staginguntersuchungen steht ein relativ genaues Bild über die Ausbreitung des Tumors: das klinische Tumorstadium. Folgende Ausbreitungsgrade lassen sich unterscheiden: lokalisiert = auf ein Organ bezogen; lokal fortgeschritten = die Grenzen des Organes überschreitend, jedoch ohne Metastasen; metastasiert = im ganzen Körper verteilt. Mit der Bestimmung des klinischen Tumorstadiums hat man eine gute Grundlage für die Therapie- und Prognoseeinschätzung, auch wenn das Verhalten eines malignen Tumors im Einzelfall extrem schwer vorherzusagen ist. Wie schon in der Einleitung beschrieben, gehört zum Wesen von Krebs die geradezu unendliche Anpassungsfähigkeit der malignen Zellen an innere und äußere Gegebenheiten. Ein perfektes Prognosesystem würde voraussetzen, dass man zu jedem Zeitpunkt die Reaktionen des Tumors auf die

zahlreichen inneren und äußeren Einwirkungen vorhersagen könnte. Das ist unmöglich. Aber durch die jahrzehntelange Beobachtung und standardisierte Aufzeichnung zahlreicher Verläufe von Tumorerkrankungen ist es den Medizinern heute zumindest bei den häufigen Krebserkrankungen möglich, ihren Verlauf mit großer Wahrscheinlichkeit vorauszusagen. Hier haben wir natürlich wieder das Problem statistischer Daten, die auf in der Vergangenheit durchgeführten Studien basieren (abgesehen von der „normalen“ Fehleranfälligkeit der Statistiken). Die neuesten therapeutischen Entwicklungen (neue Bestrahlungstechniken, verbesserte Operationsverfahren, neue Medikamente) konnten überdies für die Verbesserung der Krebsprognose noch nicht ausgewertet werden. Den Ausdruck „Dignität eines Tumors“ hatten wir bereits beleuchtet. Es handelt sich dabei um die Bestimmung seiner Gutartigkeit bzw. Bösartigkeit. Wurde ein Tumor als bösartig identifiziert, geht es nun darum, herauszufinden, wie ausgeprägt seine Bösartigkeit ist. Für die meisten bösartigen Tumorerkrankungen gibt es Klassifikationssysteme, welche das maligne Potential – also die Aggressivität – eines Tumors definieren. Diese Klassifikationssysteme basieren zumeist auf einer Zusammenschau der Ergebnisse der Staginguntersuchungen mit bestimmten Markern – z. B. genetischen und/oder serologischen (aus dem Blut) und/oder histologischen (aus der Gewebeuntersuchung). Am Ende dieser Staging- und Dignitätsuntersuchung hat man genug Informationen, um sowohl in puncto Therapie als auch in puncto Überlebenswahrscheinlichkeit eine realistische Einschätzung und Prognoseaussage machen zu können. Leider lässt die Kommunikation der Ärzte gegenüber den Betroffenen (siehe diesbezüglich auch Kap. 2, Mit Ärzten reden) bereits bei der Dignitäts- und Prognoseaussage sehr zu wünschen übrig. Immer wieder bekommt ein Betroffener die typischen Beruhigungsphrasen zu hören: „Der Tumor ist eingekapselt“ oder „Der Tumor ist noch ganz oberflächlich“ oder „Der Tumor ist nur ganz klein“. Solche Aussagen sind unverbindliche, verharmlosende Floskeln und keine ernstzunehmende Angabe hinsichtlich der Prognoseabschätzung. Damit sollte man sich nicht zufrieden geben, denn genau in der Phase der Dignitäts- und Stagingabschätzung

werden die Weichen für den einzuschlagenden Therapieweg gestellt. Ein Betroffener muss genauestens darüber informiert sein, wie es um seine Erkrankung bestellt ist, wissen, was auf ihn zukommt und insbesondere warum und wofür er welche therapeutischen Strapazen und Risiken auf sich nehmen soll. Aus den bisherigen Ausführungen weiß der Leser beispielsweise schon, dass Nierenkrebs nicht gleich Nierenkrebs ist. Es kann sich dabei z. B. um ein Karzinom (Nierenzellkarzinom) oder um ein Sarkom (Nierensarkom) handeln. Diese primäre Unklarheit kann relativ schnell durch die histologische Untersuchung von Tumormaterial ausgeräumt werden. Liegt die histologische Diagnose vor, gilt es, auf der nächsten Ebene Klarheit zu schaffen, denn auch Nierenzellkarzinom ist nicht gleich Nierenzellkarzinom, um bei unserem Beispiel zu bleiben. Diesbezügliche Fragen sind über die Staging- und Dignitätsuntersuchungen zu klären (wie groß ist der Tumor, welche histologischen Aggresivitätsparameter liegen vor, wie hoch sind eventuelle Tumormarker im Blut etc.). Danach bleibt immer noch eine gewisse Unklarheit bestehen, welche ich als Unklarheit der dritten Ebene bezeichnen möchte und die daher rührt, dass tatsächlich jeder Tumor einen Einzelfall darstellt. Bisher haben wir keinerlei Instrumente in Händen, die diese letzte Unsicherheit komplett ausräumen könnten. Im Folgenden möchte ich mich daher auf die Darstellung der Staging- und Prognosesysteme der zweiten Ebene beschränken, welche jedoch bereits gute Hilfe bei Entscheidungen leisten und in den allermeisten Fällen auch zutreffende Ergebnisse liefern. Als Urologe kenne ich mich naturgemäß sehr gut mit dem Prostatakarzinom aus. Daher möchte ich die Komplexität solcher Systeme anhand dieser Tumorentität aufzeigen. Der Leser sollte sich hier nicht daran stören, dass diese Klassifikation auf den speziellen Fall des Prostatakarzinoms zugeschnitten ist, denn es gibt für die meisten Tumorerkrankungen ähnliche Klassifikationssysteme, welche der Komplexität der jeweiligen Erkrankung gerecht werden und eine relativ zuverlässige Verlaufs- und Prognoseabschätzung erlauben. So könnte ein ganz „normaler“ Fall von Prostatakarzinom aussehen: Ein 56-jähriger Patient ist im Rahmen der

Früherkennungsuntersuchung, bestehend aus dem Abtasten der Prostata91 und dem PSA-Laborwert92, durch einen erhöhten PSAWert von 8,0 ng/ml auffällig geworden. Eine Biopsie der Prostata weist das Bestehen eines Adenokarzinoms93 nach, also eines typischen Prostatakarzinoms (die von den Ärzten im Gespräch verwendete Bezeichnung). In dieser Situation und zu diesem Zeitpunkt liegen Informationen aus der Früherkennungsuntersuchung (PSA-Wert von 8 ng/ml, DRU unauffällig) und die histologischen Informationen aus der Prostatabiopsie vor: z. B. Adenokarzinom der Prostata in 2 von 12 Stanzzylindern (das heißt, 12 Biopsien wurden aus der Prostata entnommen, zwei davon enthielten Krebsgewebe), Gleason-Score 3 + 4 = 7 (siehe S. 177), Grading 2 (siehe weiter unten). Das sind die objektiven Ergebnisse der Erstdiagnose, mit denen man zur Klassifikation und Prognoseeinschätzung übergehen kann. Die erste Abschätzung eines Tumors kann anhand des sogenannten TNM-Systems erfolgen. T steht dabei für Tumor (dieser Befund klassifiziert den Primärtumor, also das Prostatakarzinom in der Prostata oder das Mammakarzinom in der Brust); das N für Nodes (Lymphknoten) klassifiziert das Vorhandensein und die Ausdehnung von Lymphknotenmetastasen; und M steht für Metastasen und klassifiziert das Vorhandensein und die Ausdehnung von Fernmetastasen (z. B. Metastasen in der Lunge, der Leber oder den Knochen). Generell wird das cTNM (klinisches System) vom pTNM (pathologisches System) unterschieden. Das cTNM beruht auf klinischen Werten wie z. B. Röntgenbildern, Blutbefunden und körperlichen Untersuchungsbefunden. Das pTNM bedeutet, dass ein histologischer Befund vom Pathologen aufgrund einer Biopsie oder eines OP-Präparates vorliegt. Das pTNM-System gilt als das genauere und validere System. Sieht man beispielsweise eine Knochenmetastase im Röntgenbild, so befindet man sich in der cTNM-Systematik, hat man dagegen den histologischen Befund einer Knochenbiopsie dieses Herdes vorliegen, welcher die Knochenmetastase bestätigt, befindet man sich automatisch in der pTNM-Klassifikation. Eine solche TNM-Systematik gibt es für jede Tumorart. Allerdings werden die Systematiken der einzelnen Tumorerkrankungen häufig aufgrund neuer Erkenntnisse angepasst und verändert (was eine Betrachtung vor dem Hintergrund neuer

Therapieverfahren ermöglichen soll, dies aber zugleich erschwert, da in diesen Fällen nur wenige und durch die kurzen Beobachtungszeiten nicht immer vollständig gesicherte Daten vorliegen). Ein Betroffener sollte die Basis der Klassifikation für den bei ihm vorliegenden Tumor verstehen und bei Unklarheiten seinen Arzt befragen (die Klassifikationen findet man problemlos im Internet). Für das zuletzt beschriebene Prostatakarzinom wäre die TNMBezeichnung zu diesem Zeitpunkt pT1c, also ein in einer Biopsie nachgewiesenes Karzinom der Prostata. Eine genauere Aussage bezüglich des Primärtumors ist anhand der Gewebezylinder einer Biopsie nicht möglich. Über die Ausbreitung der Erkrankung in Richtung Lymphknoten oder das Vorhandensein von Fernmetastasen kann anhand der vorhandenen Daten noch keine sichere Aussage gemacht werden (daher bezeichnet man diese unklaren Befunde mit Nx und Mx). Die eben erwähnten histologischen Parameter „Grading“ und „Gleason-Score“ bieten hier weitere wichtige Informationen, die für eine umfassendere Prognose benötigt werden. Beim Grading bewertet der Pathologe die Bösartigkeit des mikroskopischen Erscheinungsbildes der einzelnen Tumorzellen durch sein Mikroskop. Gradingsysteme reichen von G1 – für sehr wenig bösartig erscheinende Zellen – bis G3 (selten auch G4) – für sehr entartete, vollkommen entdifferenzierte und sehr bösartig erscheinende Zellen. Gradingsysteme gibt es für nahezu alle bösartigen Tumoren. Der Gleason-Score ist eine auf das Prostatakarzinom beschränkte Spezialklassifikation. Er geht auf den amerikanischen Pathologen Donald Gleason zurück, welcher diese Klassifikation in den 1970er Jahren erarbeitete. Durch den GleasonScore wird die Entartung der Drüsenstruktur der Prostata mikroskopisch beurteilt (im Gegensatz zum Grading, bei dem die Entartung einer einzelnen Tumorzelle bewertet wird). Gleason beschrieb fünf Grade (von eins bis fünf), wobei mit steigender Zahl ein immer aggressiveres Bild der Drüsenstruktur bezeichnet wird. Der Score ergibt sich aus der Addition des am häufigsten und am

zweithäufigsten vorliegenden Grades, z. B. 3 + 4 = 7 (in den neueren Gleason-Klassifikationen ist die Erstellung und Zusammenführung der Gleasongrade zum Gleasonscore komplizierter, soll aber an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden). Zur Beurteilung der Prognose anhand vorliegender Befunde haben sich beim Prostatakarzinom außerdem sogenannte Nomogramme (Diagramme, anhand derer bestimmte Parameter einer Tumorerkrankung mit einem Prognosewert in Beziehung gesetzt werden können) bewährt. Diese Nomogramme versehen die einzelnen Untersuchungsergebnisse mit Punktwerten. Am Ende werden die Punkte der einzelnen Untersuchungen zu einem Gesamtwert addiert, mit dem dann eine Prognoseaussage gemacht werden kann – auch mehrere Aussagen (siehe unten) sind möglich. Nomogramme gibt es inzwischen auch im Internet – mit den entsprechenden Informationen kann jeder sie anwenden. Auf der Webseite94 des Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York findet sich z. B. ein Nomogramm zur Beurteilung der vorliegenden Tumorparameter hinsichtlich der Ausdehnung der Erkrankung und des Progressionsrisikos nach Operations- oder Strahlentherapie. Für unseren Beispielpatienten würden sich anhand der Parameter „56jähriger Patient, PSA-Wert von 8 ng/ml, primärer Gleasongrad 3, sekundärer Gleasongrad 4, Gleason-Score 7, Tumorstadium pT1c, 12 Biopsiezylinder, davon 10 ohne Nachweis von Tumor“ die folgenden Tumor- und Prognosewerte ergeben: 71% Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines organbegrenzten Tumors (das Tumorwachstum hat die Grenzen des Organs noch nicht überschritten) 89% Wahrscheinlichkeit für progressionsfreies Überleben (Überleben ohne Wiederkehren der Tumorerkrankung) nach operativer Therapie nach fünf Jahren

74% Wahrscheinlichkeit für progressionsfreies Überleben nach einer Brachytherapy (eine spezielle Art der Bestrahlungstherapie, siehe Bestrahlungstherapien in Kap. 5) nach fünf Jahren 83% Wahrscheinlichkeit für progressionsfreies Überleben nach operativer Therapie nach zehn Jahren 99% Wahrscheinlichkeit für krebsspezifisches Überleben (benennt die Wahrscheinlichkeit, nicht am Krebs zu versterben) nach zehn Jahren 99% Wahrscheinlichkeit für krebsspezifisches Überleben nach 15 Jahren So bekommt ein Betroffener anhand weniger Daten schon vor Einleitung einer Therapie eine relativ genaue Aussage über die Tumorausdehnung und die damit verbundene Prognose der Tumorerkrankung. Er kann aus dem Nomogramm beispielsweise „herauslesen“, dass für die operative Therapie deutlich mehr Daten vorliegen (5 und 10 Jahre Progressionsfreiheit versus nur 5 Jahre Progressionsfreiheit im Falle der Brachytherapie) und dass die Überlebenschancen bei einer operativen Therapie größer sind (5 Jahre mit 89% Progressionsfreiheit versus 74% Progressionsfreiheit bei Brachytherapie). Mit diesem Wissen ist es wesentlich einfacher, Therapieentscheidungen zu treffen, vor allem, wenn das weitere Verhalten des Tumors je nach der gewählten Therapie relativ genau vorhergesagt werden kann. Dies vermittelt ein gutes Gefühl von Sicherheit und lässt einen Betroffenen häufig wesentlich entschlossener an die Maßnahmen herantreten, als wenn er sich „blind“ in die Hände seiner Behandler begeben würde. Allerdings darf die Therapieentscheidung nicht allein von den Zahlen eines derartigen Nomogramms abhängen. Der Betroffene sollte auch den zeitlichen Ablauf der Therapie, ihre Nebenwirkungen, die gegebenenfalls zusätzlich anfallenden Kosten sowie seine von eventuell bereits bestehenden Erkrankungen bedingte Situation in Betracht ziehen und seine Erwartungen an all

diese Faktoren anpassen. Im Hinterkopf sollte er außerdem immer behalten, dass es sich auch hier um statistische Werte handelt. Statistische Werte können für den einzelnen Patienten immer nur eine Richtung aufzeigen, de facto gelten sie jedoch nie mit hundertprozentiger Sicherheit – Ausnahmen bestätigen halt die Regel. Für die meisten Tumorarten liegen heute ausgefeilte Klassifikationsund Prognosesystematiken vor, die mit relativ wenig Daten eine gute Abschätzung des Krankheitsverlaufes ermöglichen. Diese Prognosen sollten – mit den eben genannten Vorbehalten – vor Einleitung einer aggressiven Therapie unbedingt berücksichtigt werden, nachdem der Patient ausführlich über seine Situation und den zu erwartenden Therapieerfolg aufgeklärt wurde. Erst dann ist der Betroffene mündig und in der Lage, eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen. 61 Mehr darüber im Kap. Eingriffe im Rahmen der Diagnosefindung 62 Zur begrifflichen Klärung: Die Begriffe Vorsorge und Früherkennung werden häufig missverständlich benutzt. Im Falle der Vorsorge ist man bestrebt, eine Krankheit durch bestimmte Maßnahmen wie etwa eine gesunde Lebensführung (Ernährung, Sport) zu verhindern. Eine Früherkennung zielt auf das frühzeitige Erkennen einer bestehenden Erkrankung, also bevor ihre Symptome auftreten. Man geht davon aus, dass man die Erkrankung so in einem frühzeitigen, besser therapierbaren Stadium aufspürt. 63 invasiver wegen der hohen Strahlenbelastung 64 ein Diagnosewerkzeug zum Abhören von Herz, Lunge und Bauch 65 Das sind für den menschlichen Körper wichtige Mineralstoffe wie beispielsweise Natrium, Kalium, Chlorid und Kalzium. 66 Hier handelt es sich wieder um rein „statistisches“ Wissen. 67 Durch Nachfragen beim Untersucher (Labor, Pathologieinstitut etc.) oder Nachlesen in der medizinischen Literatur. 68 dem Gremium zur Beurteilung medizinischer Methoden und Therapien in Deutschland; siehe auch das Kap. Krebs und unser Gesundheitssystem 69 = Carcinoembryonales Antigen, ein bereits 1965 erstmals aus den Zellen von Dickdarmkarzinomen isolierter Tumormarker, der auch bei anderen Karzinomen, wie z. B. Mamma- und Pankreaskarzinom, vorkommt 70 kurz KV: der Verbund der ambulant tätigen Ärzte, die zur Behandlung von Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen ermächtigt sind 71 den Bauchbereich betreffend 72 zur sicheren Dokumentation in Form von statischen Bildern 73 TRUS – dabei wird eine spezielle Sonde in den Enddarm eingeführt

74 Damit ist die erste Abklärung eines verdächtigen Tastbefundes – oft im Rahmen der Früherkennungsuntersuchung des Mammakarzinoms – gemeint. 75 Es handelt sich dabei um sehr dichte, häufig jodhaltige Flüssigkeiten, welche eine bessere Hervorhebung der Organe in ihrer Umgebung ermöglichen. Röntgenkontrastmittel werden getrunken und/oder intravenös verabreicht. 76 ein Begriff aus der Strahlenphysik, der die Energie beschreibt, die von einer ionisierenden Strahlung an einen Körper abgegeben wird 77 Wichtung = Ausrichtung 78 Es entsteht also kein je nach aufgenommener Strahlendosis mehr oder weniger bösartiger Tumor. 79 Das sind Untersuchungen, bei denen während der Röntgenuntersuchung bestimmte Maßnahmen zur Diagnostik und Behebung von Befunden durchgeführt werden, z. B. eine Herzkatheteruntersuchung. 80 Indikation = der Grund für eine medizinische Handlung 81 auch als Kernspinuntersuchung bekannt 82 allergen = Allergien auslösend 83 also intravenös 84 Bisphosphonate sind medizinische Wirkstoffe, die insbesondere in der Therapie und Diagnostik von Knochenstoffwechselstörungen wie Osteoporose oder Knochenmetastasen Anwendung finden, da sie von den Knochen schnell aufgenommen und verarbeitet werden. 85 da diese Regionen Bisphosphonate stärker verstoffwechseln und daher auch stärker strahlen 86 die Papilla vateri im Duodenum (Zwölffingerdarm) 87 Dabei wird eine Spülflüssigkeit in das Hohlorgan eingebracht und nach kurzer Zeit wieder abgesaugt. 88 = die Entnahme von blutbildendem Gewebe aus dem Inneren des Knochens 89 eine Anfärbung des Gewebes, welche die Tumorarchitektur und die Zellkerne erkennen lässt 90 engl. stage = Phase, Stadium 91 Es handelt sich dabei um die schon erwähnte DRU = digitale-rektale Untersuchung, eine klinische Untersuchungsmethode, bei der der Arzt mit dem Zeigefinger den Enddarm austastet und dabei nach Tumoren des Enddarms und der dem Enddarm unmittelbar aufliegenden Prostata sucht. 92 PSA = prostataspezifisches Antigen, ein Tumormarker für das Prostatakarzinom aus dem Blut, siehe Die gebräuchlichsten Tumormarker 93 Adenokarzinom = Drüsenkarzinom 94 http://nomograms.mskcc.org/prostate/pretreatment.aspx

5.

Den Krebs bekämpfen: Therapien im Überblick

Sobald die definitive Diagnose und das Tumorstadium inklusive aller prognostischen Erwägungen gestellt werden konnte, ist der Zeitpunkt der therapeutischen Planung gekommen. Bestand die Aufgabe des Arztes bei der Diagnostik vor allem darin, die vorliegende Erkrankung anhand einer sinnvollen Abfolge der diagnostischen Maßnahmen – d. h. Vermeidung von stark invasiven zugunsten weniger invasiver Methoden – sicher nachzuweisen, geht es bei der Entscheidung für die therapeutischen Maßnahmen um eine genau so sinnvolle und stringent geplante Sukzession der therapeutischen Maßnahmen. Der Tumor soll – entsprechend dem diagnostizierten Stadium und den Präferenzen des Patienten – mit der effektivsten Therapie angegangen werden. Für gewöhnlich stehen zur Behandlung einer Tumorerkrankung verschiedene Therapieangebote zur Verfügung. Idealerweise ist der Patient über sämliche Therapieeffekte und Nebenwirkungen der verschiedenen in Frage kommenden Therapien aufgeklärt und entscheidet gemeinsam mit seinem Arzt, welche davon für ihn die beste ist. Die beste Therapie ist nicht unbedingt die mit der besten Überlebensrate (um es extrem auszudrücken). Nein, ein Betroffener „darf“ sich bei seiner Entscheidung auch vom Nebenwirkungsspektrum, von der zu erwartenden Lebensqualität oder sonstigen Therapiezielen leiten lassen. Es ist immerhin seine Therapie, für seinen Tumor und seine Situation. Wie bereits häufiger angeführt, besteht die ärztliche Aufgabe darin, den Patienten mit

jenen Informationen zu versorgen, die er für seine Entscheidungsfindung benötigt. Im folgenden Kapitel möchte ich die verschiedenen Therapieoptionen zur Behandlung von Krebserkrankungen vorstellen und ihre klinischen, technischen und biologischen Voraussetzungen erläutern. Durch die enormen Forschungsaufwendungen und -aktivitäten der vergangenen Jahrzehnte haben sich insbesondere die medikamentösen Therapiemöglichkeiten deutlich ausgeweitet und sind wesentlich differenzierter geworden. Die Basis jeglicher Krebsbehandlung stellt in der Großzahl der Fälle aber immer noch die chirurgische, also operative Therapie dar. Daher möchte ich meine Ausführungen mit dieser Therapieoption beginnen.

5.1 Operative Therapien: Entfernen des Tumors Die Operation ist – zumindest bei den soliden Tumoren (Organtumoren wie z. B. Colonkarzinom, Mammakarzinom oder Prostatakarzinom) – ein fester und schon traditioneller Bestandteil der onkologischen Therapie. Verschiedene Konzepte kommen bei der operativen Krebstherapie zur Anwendung. Meistens wird dabei der Primärtumor entfernt, was bei einer frühzeitigen Diagnose des Tumors mit kurativer (heilender) Intention durchgeführt wird. Des Weiteren werden auch Metastasen operativ entfernt; auch bei Komplikationen der Erkrankung (wenn beispielsweise Transportwege für Körperflüssigkeiten, etwa die Harnleiter oder Blutgefäße, durch das Tumorwachstum verlegt sind) oder bei Schmerzen (die beispielsweise als Folge von Nervenkompressionen auftreten können) wird häufig eine operative Therapie gewählt. Diese Operationskonzepte sind – im Gegensatz zu der operativen Entfernung des organbegrenzten Primärtumors – als Palliativtherapien anzusehen, was bedeutet, dass eine Heilung der Krebserkrankung durch diese Maßnahmen nicht erreicht werden kann, wohl aber eine Verbesserung der Lebensqualität und eine Verlängerung der Überlebenszeit des Betroffenen. Chirurgische Therapien werden keineswegs nur von Chirurgen, sondern auch von anderen Fachärzten sogenannter operativer Fächer – wie z. B. Orthopäden, Urologen, Gynäkologen, HNO-Ärzten oder Neurochirurgen – durchgeführt. Sie alle operieren dabei Tumorerkrankungen, die in „ihren“ Organbereich fallen. Die

Gynäkologen entfernen also Mamma-, Gebärmutter- und Ovarialtumoren, die Urologen Prostata-, Nieren-, Hoden- und Blasentumoren und die Orthopäden Knochentumoren und Metastasen in den Knochen. Dabei bedienen sich die Operateure verschiedener Operationsmethoden (auch Operationstechniken genannt). Die am längsten praktizierte operative Technik ist die offene Operation, bei der über einen Hautschnitt ein Zugang für die Hände des Operateurs geschaffen wird. Bei der noch relativ neuen laparoskopischen Operation wird der übliche den Zugang schaffende Schnitt durch mehrere kleine Schnitte ersetzt, welche das Einführen einer Optik (also einer kleinen Kamera) und mehrerer kleiner Operationsinstrumente erlauben. Sowohl die Optik als auch die Operationsinstrumente werden vom Operateur (und seinen Assistenten) direkt bedient und ersetzen im Körperinneren die Hände des Operateurs. Dadurch wird eine bessere Bewegungsfreiheit im Körperinneren erreicht. Eine erst seit etwa zehn Jahren verwendete Weiterentwicklung der laparoskopischen Operation ist die roboterassistierte laparoskopische Operation. Hierbei werden Optik und Instrumente nicht mehr vom Operateur gehalten, sondern über einen zwischengeschalteten Roboter bedient, der wiederum mithilfe von Joysticks vom Operateur gelenkt wird. Besonders in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ging der operative Trend weg von der offenen Operation und hin zu den laparoskopischen und roboterassistierten Verfahren. Dies ist insofern erstaunlich, als dass bisher für keines dieser modernen Verfahren ein wesentlicher therapeutischer Vorteil gegenüber der konventionellen Operation nachgewiesen werden konnte. Fakt ist jedoch, dass Kliniken, welche über diese modernen Operationsapparaturen verfügen, einen deutlich höheren Patientenzustrom verzeichnen. Es ist anzunehmen, dass mit den zunehmenden Informationsmöglichkeiten für den Einzelnen (z. B. im Internet) auch Marketingkampagnen nachweisliche Effekte im Medizinbetrieb zeigen, und zwar dahingehend, dass Betroffene sich gezielt Kliniken aussuchen, die roboterassistierte Operationsverfahren anbieten.

Meine Einstellung zu dieser Entwicklung ist die Folgende: Ein Chirurg, der mit einem Messer und seinen eigenen Händen nicht operieren kann, der kann genauso wenig mit einem Laparoskop oder einem robotergeführten Laparoskop glänzen. Die Operation ist ein Handwerk, das durch mehr oder weniger Ausbildung und Übung (je nach Fähigkeiten des Arztes) erlernt werden muss. Ein Operateur beherrscht nur dann eine Operation, wenn er sie häufig und regelmäßig durchführt – also mindestens 150 bis 200 pro Jahr. Da aber die Spezialisierung heutzutage auch in der operativen Medizin Einzug gehalten hat, muss beispielsweise ein Operateur, der sich auf dem Gebiet der Darmoperationen hervorgetan hat, noch lange keine Spezialist für Magen- oder Bauchspeicheldrüsenoperationen sein, obwohl diese Organe zum gleichen Fachgebiet, nämlich der Abdominalchirurgie gehören. Und da es bisher auch keine wesentlichen Unterschiede in der Effektivität und im Nebenwirkungsspektrum zwischen offenen und laparoskopischen oder roboterassistierten Operationsverfahren gibt, sollte ein Patient jener Methode den Vorzug geben, die der ausgewählte Operateur am besten beherrscht. Mit anderen Worten: Nicht die Operationsmethode sollte sich der Betroffene aussuchen, sondern immer den Operateur. Obwohl Operationen schon seit Tausenden von Jahren durchgeführt und in den vergangenen fünfzig bis hundert Jahren deutlich verbessert wurden, ist die Standardisierung und Überwachung der Operationsmethoden vergleichsweise schlecht entwickelt. Auf der einen Seite ist die für die Entwicklung und für den Einsatz beim Menschen erforderliche Zulassung von Medikamenten95 ein extrem aufwendiger, überwachter, standardisierter und teurer Prozess, der durch Gesetze geregelt und durch entsprechende Behörden kontrolliert wird. Ähnlich verhält es sich auch mit der Entwicklung und Zulassung von medizintechnischen Geräten und Produkten. Auf der anderen Seite werden operative Methoden häufig von einzelnen Chirurgen erdacht und entwickelt bzw. verändert und dann in medizinischen Zeitschriften oder operativen Lehrbüchern veröffentlicht. Einen den pharmakologischen Wirkstoffen vergleichbaren Zulassungsprozess gibt es dabei nicht. Kontrollinstanzen, welche das Einhalten der Operationsmethoden überwachen, fehlen ebenfalls. Allerdings ist es

auch relativ schwierig, einen Operateur hinsichtlich des Einhaltens einer bestimmten Operationsmethode zu kontrollieren. Operationen sind ein Handwerk, und dieses Handwerk zu kontrollieren würde so absurd anmuten, als wenn man einem Maurer sagen würde, in welcher Hand er den Hammer zu halten hat. Im Bereich Hygiene werden die Operationsräumlichkeiten, die Aufbereitung des Operationsinstrumentariums und die Operationsvorbereitung vor gewisse Anforderungen gestellt, welche von Hygieneabteilungen (die zumeist an den Kliniken angesiedelt sind) und Regierungspräsidien (das sind die staatlichen Mittelbehörden, die den Ministerien unterstellt sind und in deren Auftrag arbeiten) streng kontrolliert werden. Operativ tätige Fachärzte erlernen ihr Handwerk im Rahmen der Facharztausbildung, in deren Verlauf ein dem Fach entsprechender Operationskatalog96 zu erbringen ist. Diese Kataloge sind zumeist recht überschaubar, da der Großteil der Absolventen der entsprechenden Facharztausbildung nicht im aktiven Operationsbetrieb verbleibt, sondern in den ambulanten Praxisbereich wechselt, wo in der Regel nicht oder nur wenig operiert wird. Am Ende der Facharztausbildung steht eine Facharztprüfung, für welche die Einreichung des absolvierten Operationskataloges Bedingung ist. Die Erfüllung des Operationskataloges wird vom Ausbildungsleiter (für gewöhnlich der Chefarzt der Ausbildungsklinik) bestätigt. Die Facharztprüfung wird dann allerdings in rein theoretischer Form durchgeführt; die operativen Techniken und Fertigkeiten des Arztes sind nicht Gegenstand der Beurteilung. Die nach dem Abschluss der Facharztprüfung im operativen Betrieb (als Oberärzte oder spätere Chefärzte einer Klinik) verbleibenden Fachärzte erlernen das große operative „Geschäft“ in der Regel erst nach Abschluss der Facharztausbildung und dem Eintritt in die Oberarzttätigkeit. Diese Umstände zeigen deutlich, dass eine externe Qualitätskontrolle von Operationsleistungen zu keinem Zeitpunkt – weder während noch nach der Ausbildung – stattfindet. Die beschriebenen Tatsachen sollten einen Betroffenen jedoch nicht entmutigen, denn trotz wenig Standardisierung und

Qualitätskontrolle gibt es in jedem Fach brillante Operateure. Den besten und geeignetsten Chirurgen ausfindig zu machen ist zugegebenermaßen eine schwierige Aufgabe und eine Herausforderung für Patienten und ihre Berater – allerdings sind die operativen Koryphäen eines Faches zumeist bekannt und können häufig in entsprechend ausgerichteten und qualifizierten Zentren (siehe Qualitätsmanagement und Zertifizierung: Der Weg zur besseren Krebsmedizin?) gefunden werden. Verbesserungen in dieser Hinsicht wären natürlich möglich. Wenn das operative Geschick des Operateurs auch keiner Qualitätskontrolle unterworfen werden kann, so wäre es meiner Meinung nach wichtig, die verschiedenen operativen Methoden hinsichtlich ihrer Effektivität miteinander zu vergleichen. Hierzu gibt es noch keine allgemein zugreifbaren Quellen; es wäre sehr zu wünschen, dass den Betroffenen in naher Zukunft diesbezüglich verlässliche Instrumente zur Verfügung gestellt werden.

Von der Primärtumoroperation zur Metastasen- und Komplikationschirurgie Das Grundprinzip einer onkologisch-chirurgischen Therapie besteht in einer kompletten Entfernung des Primärtumors unter Einhaltung eines Sicherheitsabstandes zum Normalgewebe. Früher wurde häufig das gesamte tumortragende Organ entfernt; in den letzten Jahren ist bei zahlreichen Tumorarten ein eindeutiger Trend zu weniger ausgedehnten Operationen erkennbar. Die Devise lautet: Funktionalität vor Radikalität – also möglichst weitgehender Erhalt des tumortragenden Organs und seiner Funktionen. Um die Ausmaße der Operation so gering wie möglich zu halten, werden heutzutage begleitende Maßnahmen wie Bestrahlung oder Chemotherapie – manchmal schon während der Operation – eingesetzt. Diese Entwicklung lässt sich gut am Mammakarzinom nachvollziehen. Vor gut hundert Jahren wurde die radikale operative Entfernung der tumortragenden weiblichen Brust entwickelt. In der

Folge wurde diese Methode immer weiter „radikalisiert“, d. h., die Operationsgrenzen wurden ausgedehnt: Angrenzendes Fettgewebe, Lymphknoten, Teile des Brustmuskels und sogar Rippen wurden in den operativen Umfang eingeschlossen. Erst nach und nach erkannte man, dass eine so ausgedehnte Operation keine Vorteile (z. B. geringere Metastasierungshäufigkeit oder längere Überlebenszeit) im Vergleich zu einem weitaus geringeren operativen Eingriff, der sogenannten Lumpektomie97, aufzuweisen hatte. Wobei man allerdings ganz klar sagen muss, dass beide Methoden eher als gleich schlecht denn als gleich gut zu bezeichnen waren. Heutzutage erreicht man mit einem multimodalen (also vielgestaltigen) Vorgehen, das häufig aus einer relativ kleinen operativen Maßnahme in Kombination mit Bestrahlungs- und/oder Chemotherapie und eventuell einer Hormontherapie besteht, deutlich bessere Überlebensergebnisse. Es hat jedoch viele Jahrzehnte und den enormen Einsatz einzelner enthusiastischer Ärzte gebraucht, bevor sich die Operateure von dem eingeschlagenen Weg der zunehmenden Ausdehnung der Operationsgrenzen abbringen ließen. Auch beim Nierenzellkarzinom, bei dem es noch vor zehn Jahren gang und gäbe war, die tumortragende Niere mit der Nebenniere und den umliegenden Lymphknoten zu entfernen, beschränkt sich die operative Maßnahme gegenwärtig häufig auf eine Tumornukleation (das Herausschneiden des Tumors aus dem Organ) oder eine partielle Entfernung der Niere (z. B. eine Oberoder Unterpolresektion). Mangels weiterer wirksamer Therapiemaßnahmen wird in der Primärtherapie des Nierenzellkarzinoms zum jetzigen Zeitpunkt auch von einer zusätzlichen Chemo- oder Strahlentherapie abgesehen und stattdessen lediglich eine engmaschige Nachsorgekontrolle durchgeführt. Andererseits ist bei Tumorentitäten wie dem Prostatakarzinom oder dem Pankreaskarzinom auch heute noch die komplette Organentfernung üblich – zumeist unter Einbeziehung der in der engen Umgebung des Organs gelegenen Lymphknoten. Bei der Metastasenchirurgie handelt es sich – wie schon öfters erwähnt – um ein palliatives Konzept. Auch hier gilt: Der Erhalt der Funktionalität des betroffenen Organs ist wichtiger als die radikale Entfernung des Tumors und seiner Umgebung. Wenn eine Metastase eines Primärtumors vorliegt, muss man in der Regel davon

ausgehen, dass es sich um eine systemische Erkrankung handelt. „Systemisch“ bedeutet in diesem Fall, dass der Tumor das Ursprungsorgan verlassen hat und sich über das Lymphsystem, den Blutkreislauf und/oder durch kontinuierliches Wachstum im gesamten Körper verteilt hat. Für das systemische Stadium einer Tumorerkrankung ist es charakteristisch, dass die durch die bildgebenden Verfahren sichtbar gewordenen Manifestationen der Erkrankung (Metastasen in unterschiedlichen Organen) nur einen kleinen Teil der verstreuten Tumormasse ausmachen, so dass lokal begrenzte Maßnahmen wie eine Operation oder eine lokale Bestrahlungstherapie (auch wenn sie an mehreren Stellen gleichzeitig durchgeführt werden sollten) nicht mehr kurativ sein können. Typischerweise kommt es nach solchen Metastasenresektionen oder -bestrahlungen zu erneuten Manifestation von Metastasen an anderer Stelle, die sich aus zuvor mikroskopischen (also nicht sichtbaren) Tumorherden (Mikrometastasen) entwickelt haben. Ausnahmen gibt es aber immer wieder: In einigen wenigen Fällen – etwa beim Auftreten einer einzelnen Lungenmetastase eines vor mehr als zwei Jahren operierten Nierenzellkarzinoms – kann auch eine solche Metastasenresektion kurativ sein. Dann sollte die operative Entfernung der Metastase unbedingt den anderen palliativen Therapieoptionen vorgezogen werden. Beim metastasierten Hodenkarzinom geht man hingegen häufig so vor, dass die nach erfolgter Chemotherapie zurückbleibenden Residuen (Überbleibsel) operativ beseitigt werden. Hier handelt es sich aber im Vergleich zur zumeist palliativen Metastasenresektion eher um einen diagnostischen Eingriff – man will in erster Linie herausfinden, ob nach der Chemotherapie noch lebendes Tumorgewebe oder ausschließlich Nekrose (abgestorbenes Tumorgewebe) vorhanden ist, was sich aktuell durch bildgebende Verfahren nicht eindeutig klären lässt. Eine besonders aufwendige Operationsart stellt das sogenannte Debulcking dar. Es handelt sich hierbei um einen chirurgischen Eingriff, durch den bei spät diagnostizierten großen Tumoren

und/oder bei großen Metastasen die Tumormasse vor anderen geplanten Therapiemaßnahmen – wie Bestrahlung und Chemotherapie – erst einmal operativ reduziert wird. Auf eine komplette Tumorentfernung wird hierbei bewusst verzichtet; durch die Reduzierung der Tumormasse erhofft man sich jedoch eine bessere Effektivität der Gesamttherapie. Auch umgekehrte Therapieansätze werden häufig praktiziert: Findet sich ein ausgedehnter Primärtumor, von dem man weiß, dass er im Allgemeinen sehr Strahlen- und/oder Chemotherapie-sensibel ist, wird zur Verkleinerung des Tumors eine sogenannte neoadjuvante (vorgeschaltete) Strahlen- oder Chemotherapie durchgeführt und so versucht, die Operabilität des Tumors zu verbessern. Metastasenresektionen und Debulcking sind – anders als Primärtumorresektionen – in keinem Fall standardisierte Eingriffe und gehören daher in die Hände besonders geübter und erfahrener Operateure. Noch weniger standardisiert als die Metastasenchirurgie ist die Komplikationschirurgie, also die chirurgische Behandlung von Beschwerden und Schmerzzuständen, für die z. B. das Einwachsen von Tumoren in Nervengeflechte, Kompressionen von Strukturen98 oder akute Blutungen bei der Arrosion (dem „Annagen“) von Blutgefäßen durch den Tumor verantwortlich sind. Welche die in diesen Fällen beste Vorgehensweise ist, kann man überhaupt nicht verallgemeinern – zu unterschiedlich sind die Einzelsituationen. Was ich aber nachdrücklich empfehlen möchte: Sofern man in einer derartigen Situation Zeit hat, den behandelnden Arzt auszuwählen, sollte es der erfahrenste Operateur sein, den man bekommen kann. Mir ist durchaus bewusst, dass es sich gerade in solch schwierigen Situationen häufig um Notoperationen handelt und man nicht lange warten kann. Zumindest sollte jedoch die Klinik, an die man sich wendet, nach Möglichkeit eine Klinik der Maximalversorgung sein (das ist meistens die größte Klinik am Ort). Die gängigen operativen Maßnahmen für jede einzelne Tumorentität hier zu beschreiben würde den Rahmen dieses Buches bei weitem sprengen. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass zum aktuellen

Zeitpunkt der Trend hin zu deutlich kleineren Operationen und zur Institutionalisierung einer multimodalen Therapie geht. Als normalerweise wichtigste Therapiemaßnahme bei soliden Tumoren sollte eine Operation auch unbedingt unter Berücksichtigung des vorliegenden Tumorstadiums geplant werden. Die onkologischen Leitlinien (siehe in Kap. 2 Hilfe für Ärzte: Leitlinien), die für nahezu jede Tumorart existieren, geben den stadienadaptierten Umfang und den optimalen Zeitpunkt der operativen Maßnahme sowie weitere Therapieoptionen vor. Natürlich sollten all diese Entscheidungen zusätzlich auf den individuellen Tumor und den Patienten „zugeschnitten“ werden.

5.2 Bestrahlungstherapien: Bekämpfung durch Energie Am 8. November 1895 entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Konrad Röntgen die nach ihm benannte Röntgenstrahlung. Röntgen selbst nannte die Strahlung „X-Strahlung“, und in den Vereinigten Staaten wird weiterhin dieser Name – „x-ray“ – verwendet. Mithilfe der neu entdeckten Strahlung wurden bereits im selben Jahr Menschen zu diagnostischen Zwecken durchleuchtet. Im Folgejahr, 1896, berichteten die Ingenieure G. Stevens und O. Leppin unabhängig voneinander von sonnenbrandähnlichen Schädigungen der Haut nach solchen Durchleuchtungen. Die offensichtlich zerstörerische Wirkung der Röntgenstrahlung führte bald zu der Idee, sie bei der Behandlung von oberflächlichen Krebserkrankungen einzusetzen. Bereits 1899 führten die schwedischen Ärzte Thor Stenbeck und T. Sjögren die erste erfolgreiche Bestrahlungstherapie99 eines oberflächlichen Plattenepithelkarzinoms durch. Seit damals hat sich die Bestrahlungstherapie bösartiger Tumoren in vielen kleinen Schritten bis zum heutigen Standard entwickelt. Ihr Prinzip ist jedoch immer noch das Gleiche – Zerstörung von Krebszellen durch die Einstrahlung hochenergetischer Strahlung in den Tumorbereich. Wie bereits im Kapitel zur radiologischen Diagnostik erwähnt, führen energiereiche Strahlen zu Schäden am Erbgut. Diese Nebenwirkung der diagnostischen Radiologie wird in der Strahlentherapie therapeutisch genutzt. Tumorzellen teilen sich nämlich häufiger als normale Körperzellen, sind also von einer DNS-

Schädigung auch stärker betroffen. Während der Zellteilung ist die DNS nämlich besonders anfällig für Störfaktoren; zusätzlich sind in dieser Phase zahlreiche Enzyme aktiv, die durch die Strahleneinwirkung ebenfalls Schaden nehmen. Außerdem haben die Tumorzellen deutlich schlechtere Reparaturmechanismen als normale Körperzellen und können eine energiereiche Bestrahlung nur schlecht kompensieren. Sie werden teilungsunfähig, und ihr Stoffwechsel wird lahmgelegt. Häufig werden die so geschädigten Tumorzellen dann vom Immunsystem erkannt und zerstört, oder sie leiten sogar ihren „Selbstmord“100 ein, von dem im Kapitel über die Stammzellen schon die Rede war. Eine Strahlentherapie wird von einem Strahlentherapeuten – also einem Arzt, der eine Weiterbildung zum Facharzt für Strahlentherapie absolviert hat – in Zusammenarbeit mit Medizinphysikern und medizinisch-technischen Assistenten durchgeführt. Strahlentherapeutische Abteilungen sind aufwendig und teuer; nicht jedes Krankenhaus verfügt über die erforderliche Ausstattung. Für gewöhnlich gibt es strahlentherapeutische Abteilungen nur an Universitätskliniken oder großen kommunalen Krankenhäusern101. Trotz der Anbindung der strahlentherapeutischen Abteilungen an eine Klinik werden die meisten Bestrahlungstherapien ambulant durchgeführt. Bestrahlungstherapien unterscheiden sich einerseits hinsichtlich der angewandten Strahlung: Man verwendet Röntgenstrahlung, Gammastrahlung, Elektronenstrahlung, Protonenstrahlung und Ionenstrahlung. Aber auch die Applikation der Strahlen kann auf unterschiedliche Weise stattfinden: Zumeist wird sie perkutan (also durch die Haut) durchgeführt – d. h., dass die Strahlen von außen auf die Tumorregion gelenkt werden. Diese Art der Therapie wird als Teletherapie bezeichnet. Gelegentlich werden jedoch auch interne Bestrahlungen durchgeführt – z. B. bei der Brachytherapie (radioaktive Quellen werden in den Tumor eingebracht und dort belassen), der Afterloadingtherapie (das ist eine hochdosierte Bestrahlung, wobei operative Hülsen in die Tumorregion eingebracht werden, die postoperativ nur kurzzeitig mit starken Strahlenquellen beschickt und anschließend komplett wieder entfernt werden), der intraoperativen Bestrahlung (dabei wird z. B.

das Tumorbett während einer Operation mit einer mobilen Bestrahlungseinheit bestrahlt) oder, wie bereits bei der nuklearmedizinischen Diagnostik102 beschrieben, als intravenöse Verabreichung von Radiopharmaka. Die häufigste heutzutage in der Therapie maligner Tumoren verwendete Strahlenart ist die „ultraharte“ Röntgenstrahlung, auch als Photonenstrahlung bezeichnet. Photonen haben den Vorteil, dass sie Gewebe gut durchdringen können, so dass die energiereiche Strahlung auch tiefer gelegene Gewebeschichten erreichen kann – häufig liegen die Tumoren ja tief im Körperinneren. Der Nachteil von Photonenstrahlung liegt in der Gewebeschädigung der vor und hinter dem Tumor liegenden Bereiche. Um dies zu vermeiden, kann man entweder das Strahlenfeld durch bewegliche Blenden (Kollimatoren) einengen – in diesem Fall handelt es sich um eine sogenannte Konformationsbestrahlung – oder eine intensitätsmodulierte Strahlentherapie (IMRT) durchführen: Hierbei rotiert die Bestrahlungsquelle um den Patienten, und auch die Unterlage, auf welcher der Patient platziert wird, ist beweglich, so dass die Energieeinstrahlung aus verschiedenen Richtungen kommt. Bei einem solchen Vorgehen befindet sich der Tumor die ganze Zeit im Strahlenfokus – das benachbarte Gewebe bekommt jedoch deutlich weniger Strahlung ab. Die IMRT sollte heute absoluter Bestrahlungsstandard sein – ein Betroffener tut sicherlich gut daran, eine Klinik aufzusuchen, die solche modernen Bestrahlungsverfahren anbietet. Eine Weiterentwicklung der IMRT stellt die IGRT (Image Guided Radiotherapy) dar. Hierbei wird der Linearbeschleuniger (so wird das Gerät bezeichnet, welches die energiereiche Strahlung produziert) mit einer Röntgendurchleuchtung kombiniert, so dass das Bestrahlungsfeld und die Lage der umliegenden Organe unmittelbar vor und auch während der Bestrahlungstherapie kontrolliert werden können. Diese modernen Vorgehensweisen machten es möglich, dass die applizierten Strahlendosen in den letzten Jahren deutlich erhöht werden konnten, ohne dass sich die Nebenwirkungen der Therapie verstärkt hätten.

Gängiges Prinzip der perkutanen Strahlentherapie mit Photonen ist bereits seit vielen Jahren die sogenannte fraktionierte Bestrahlung (eine in kleinen Einzeldosen applizierte Gesamtdosis). Soll ein Tumor beispielsweise mit 70 Gray bestrahlt werden, so wird diese Dosis nicht innerhalb einer einzigen Sitzung appliziert, sondern in kleine Fraktionen von 1,8 bis 2,5 Gray pro Tag „aufgeteilt“ – und aus Praktikabilitätsgründen meistens von Montag bis Freitag mit Pause am Wochenende verabreicht. Diese Therapie dauert mehrere Wochen lang. Die Fraktionierung hat den großen Vorteil, dass das im Strahlengang befindliche Normalgewebe weniger geschädigt wird (es regeneriert sich schneller als das „getroffene“ Tumorgewebe). Nur so ist es möglich, mit der perkutanen Bestrahlung Gesamtdosen einzustrahlen, die zu einer Tumorvernichtung ausreichen. Die Fraktionierung ist allerdings nicht bei allen Strahlenarten sinnvoll – bei einer Neutronenstrahlung hätte sie beispielsweise keinen gewebeschonenden Effekt. Gammastrahlung ist ebenfalls eine Art ionisierender Strahlung, die beim radioaktiven Zerfall verschiedener Nuklide (das sind bestimmte radioaktive Atomkerne) entsteht. Bei dieser Bestrahlungstherapie werden zumeist Cobalt-60-Nuklide und Telecobaltgeräte verwendet. Bis vor etwa 40 Jahren waren diese Geräte für die meisten strahlentherapeutischen Behandlungen in Verwendung. Da die Gammastrahlung eine vergleichsweise niedrige Energie aufweist und nur wenige Millimeter ins Gewebe eindringen kann, wird sie heute in erster Linie zur Behandlung von oberflächlich gelegenen Tumoren angewendet. Bei der Bestrahlung tiefer liegender Tumoren werden heute besser eindringende Bestrahlungsarten – z. B. mit Photonen – verwendet. Elektronenstrahlung (in der Medizin häufig auch als Betastrahlung bezeichnet) ist ein Teilchenstrom aus Elektronen, die ebenfalls in einem Linearbeschleuniger erzeugt werden und hier ihre hohe Energie erhalten. Der große Vorteil von Elektronenstrahlung besteht darin, dass relevante Energiemengen erst ab einer bestimmten Eindringtiefe der Strahlung im Gewebe abgegeben werden. Nach der

maximalen Energieabgabe – idealerweise im Tumorzentrum – fällt die Energieabgabe ans Gewebe steil ab. Dies bedeutet, dass ein tiefliegender Tumor sehr gezielt bestrahlt werden kann und die vor und hinter ihm liegenden Gewebeanteile auch ohne Anwendung einer IMRT gut geschont werden können. Protonenstrahlung besteht aus den positiv geladenen Kernen von Wasserstoffatomen, deren Elektronenhülle entfernt wurde. Ähnlich verhält es sich bei der Ionenstrahlung (auch Schwerionenstrahlung genannt), die aus den Kernen von schwereren Atomen (z. B. Helium, Kohlenstoff oder Sauerstoff) besteht. Protonensowie Schwerionenstrahlung geben ihre maximale Energie, genau wie die Elektronenstrahlung, in bestimmten Gewebetiefen ab. Allerdings sind diese Strahlungsarten nicht leicht zu erzeugen und daher sehr kostspielig; ihr Einsatz ist nur in wenigen Großkliniken möglich (z. B. an der Universitätsklinik in Heidelberg). Bei der intraoperativen Bestrahlung wird im Rahmen einer Tumoroperation nach der Resektion (d. h. nach der Entfernung) des eigentlichen Tumors die Region, in der sich der Tumor befand (das „Tumorbett“), kurzzeitig hochdosiert bestrahlt. Durch dieses Vorgehen kann die in den meisten Fällen vorgesehene postoperative Strahlentherapie verkürzt werden, denn der normalerweise eingeplante, etwa fünf bis sieben Tage dauernde „Boost“ (die hochdosierte, fokussierte Bestrahlung) auf das Tumorbett entfällt. Dieses Vorgehen kommt beim Mammakarzinom der Frau häufig zur Anwendung. Manche Publikationen vermerken eine verringerte Rate von Lokalrezidiven (so wird das Wiederauftreten des Tumors am Ort seines ersten Erscheinens bezeichnet) sowie eine Reduktion der Nebenwirkungen bei dieser Art der Strahlentherapie. Bei der Brachytherapie103 wird die Strahlenquelle (meistens kurzstreckige Gammastrahler mit kurzer Halbwertszeit wie Iridium192) – anders als bei der Telebestrahlung – direkt in den Tumor eingebracht und dort belassen, was auch als „Spickung“ bezeichnet wird. Durch die kurzstreckige Abgabe hoher Strahlendosen kann der Tumor punktgenau zerstört werden. Da die verwendeten Strahlenquellen nur eine kurze Halbwertszeit haben, können sie

auch problemlos im Gewebe verbleiben. Allerdings sollte in den ersten Tagen nach einer Brachytherapie enger Körperkontakt mit anderen Personen (insbesondere mit Kindern und Schwangeren) vermieden werden. Die Afterloadingtherapie ist eine der Brachytherapie ähnliche Bestrahlungsart. Durch eine Operation werden Hülsen an mehreren Stellen der Tumorregion eingebracht, in die dann starke Strahlenquellen platziert werden. Nach einer intensiven Bestrahlung der Tumorregion (in der Regel nur wenige Minuten) werden sowohl die Strahlenquellen als auch die Hülsen wieder entfernt. Anschließend findet häufig noch eine ergänzende Teletherapie statt, die um den oben beschriebenen Boost reduziert werden kann.

5.3 Medikamentöse Therapien: Bekämpfung durch Gifte Die medikamentöse Therapie stellt den einzigen systemischen, das heißt über den gesamten Körper wirkenden Therapieansatz zur Bekämpfung von Krebs dar. Eine systemische Therapie ist immer dann notwendig, wenn der Tumor seinen Ursprungsort verlassen und in andere Organe (z. B. in Leber oder Lunge) oder Strukturen (z. B. in die Lymphknoten) expandiert ist. Lokalisierte Therapien wie Operationen oder Strahlentherapien, die immer nur am Applikationsort wirksam sind, können in solchen Fällen nur zur Behandlung von Symptomen (z. B. Schmerzen) oder als unterstützende Maßnahme einer Gesamttherapie sinnvoll eingesetzt werden. Zur Kuration führt eine isolierte lokale Maßnahme im systemischen Stadium der Erkrankung nicht. Noch bis vor wenigen Jahren beschränkte sich das Angebot medikamentöser Krebstherapien auf die Gabe von Hormonen bzw. Antihormonen (Wirkstoffe, die die Aktivität bestimmter Hormone hemmen) sowie von Chemotherapeutika. Im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre hat die Krebsforschung neue, spezifischere medikamentöse Ansätze mit Antikörpern und kleinen synthetischen Molekülen104 zur Beeinflussung bestimmter Stoffwechselwege der Tumorzellen entwickelt. Insbesondere in der Weiterentwicklung dieser spezifischen Therapeutika scheint die Zukunft der Krebstherapie zu liegen. Im Folgenden möchte ich kurz darlegen, wie die verschiedenen medikamentösen Therapien funktionieren.

Eine kleine Geschichte der Chemotherapie Am Anfang der Entwicklung der Chemotherapie stand der chemische Kampfstoff Schwefellost (Senfgas), der im Ersten Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt wurde. Über die Wirkungsweise des tödlichen Gases war vorher nicht viel bekannt gewesen. Am 2. Dezember 1943 bombardierte die deutsche Luftwaffe den Hafen von Bari in Italien. Dabei wurde der mit Senfgasgranaten beladene US-amerikanische Frachter John Harvey getroffen und versenkt. Mehr als 1.000 Menschen waren dabei dem Kampfgas ausgesetzt und kamen zu Tode. Dr. Stewart Francis Alexander, ein amerikanischer Militärarzt und Experte in chemischer Kriegsführung, der den Zwischenfall untersuchte, nahm Autopsien105 der Opfer vor und stellte fest, dass es zu einem extremen Abfall der weißen Blutkörperchen (Leukozyten) im Blut und Knochenmark der Verstorbenen gekommen war. In seinem Bericht stellte Dr. Alexander die Theorie auf, dass Senfgas die Teilung von Körperzellen, die sich besonders schnell vermehren – was bei den Leukozyten der Fall ist – hemmt. Alexander äußerte in seinem Bericht nebenbei die Einschätzung, dass der chemische Kampfstoff aufgrund dieses Wirkmechanismus eventuell auch bei der Hemmung von sich schnell teilenden Tumorzellen effektiv sein könnte. Die amerikanischen Pharmakologen Louis S. Goodman und Alfred Gilman führten daraufhin Experimente mit dem weniger reizenden Stickstoff-Lost durch. In Zusammenarbeit mit dem Thoraxchirurgen Gustav Linskog verabreichten sie Patienten mit Lymphdrüsenkrebs (Lymphomen) Infusionen mit Chlormethin (einem flüssigen Stickstofflost-Derivat). Schon nach wenigen Gaben des Giftes zeigte sich ein dramatischer Rückgang der Lymphome. Allerdings wurde bereits während dieser ersten Untersuchungsreihe mit 66 Patienten deutlich, dass der Therapieeffekt nur von kurzer Dauer war und die Tumoren schnell in Form von Rezidiven wiederkehrten. Diese Rezidive sprachen nicht mehr auf die zuvor wirksame Therapie mit Chlormethin an – sie waren also gegen die Chlormethin-Therapie resistent geworden – und die Patienten verstarben an ihrer Tumorkrankheit. Goodman und sein Team veröffentlichten 1946 die Therapieerfolge der Behandlungsserie in einem wissenschaftlichen Artikel – die Chemotherapie war geboren.

Parallel zu den Untersuchungen von Goodman, Gilman und Linskog versuchte der amerikanische Pathologe Sidney Faber im Children’s Hospital in Boston, eine Therapie für leukämiekranke Kinder zu entwickeln. Mit seinem Freund, dem Chemiker Yellapragada Subbarao, behandelte Faber im Sommer 1946 leukämiekranke Kinder mit Folinsäure, einer Substanz des Vitamin-B-Komplexes; dabei kam es zu einer deutlichen Verschlechterung ihrer Blutwerte. Die leukämischen Zellen im Blut waren keinesfalls reduziert worden, im Gegenteil: Es war zu einem schnellen und starken Anstieg der bösartigen Zellen und einer Verschlechterung des Zustands der jungen Patienten gekommen. Faber mutmaßte daraufhin, dass die Leukämiezellen sich eventuell durch einen Gegenspieler der Folinsäure – einem sogenannten Antifolat – in ihrem Wachstum hemmen ließen. Er bat Subbarao, der in seinem Labor über zahlreiche verschiedene Antifolate verfügte, ihm entsprechende Wirkstoffe für weitere Therapieversuche zur Verfügung zu stellen. Am 6. September 1947 begann Faber, den zweijährigen Leukämiepatienten Robert Sandler mit Pteroyl-Asparaginsäure, einem Antifolat, zu behandeln – ohne Erfolg. Der nächste Versuch mit dem Antifolat Aminopterin, den Faber am 28. Dezember desselben Jahres begann, führte innerhalb weniger Tage zu einer deutlichen Reduktion der Leukämiezellen im Blut des kleinen Patienten. Parallel zu diesem Abfall von Leukämiezellen kam es zu einer starken Verbesserung seines Allgemeinzustandes. Leider zeigte sich nach kurzer Zeit – wie vorher schon bei Goodmans Experimenten –, dass auch die Leukämiezellen rezidivierten und dann eine Resistenz gegen die Antifolat-Therapie entwickelten. Robert Sandler verstarb im Frühjahr 1948 nach nur wenigen Wochen des Ansprechens auf die neue Therapie. Nichtsdestotrotz hatten Goodman und Faber unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Substanzen etwas in der bisherigen Geschichte der Medizin Einmaliges erreicht: Das bösartige Wachstum von Tumoren konnte im gesamten Körper zumindest zeitweise durch die Applikation von chemischen Substanzen aufgehalten und sogar zurückgedrängt werden. Sidney Faber war von diesem Ansatz so überzeugt, dass er seine Forschungsarbeiten weiterhin der Entwicklung der Chemotherapie widmete.

Trotz der zunächst nur kurzfristigen Erfolge der Chemotherapie entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren eine aktive Forschung und mit ihr ein Milliardenmarkt für die aufblühende Pharmaindustrie. Zahlreiche Wirkstoffe mit zytotoxischer (die Krebszellen tötenden) und zytostatischer (das Zellwachstum der Krebszellen stoppenden) Wirkung wurden identifiziert und entwickelt – und meistens einzeln verabreicht, obwohl bereits in den ersten Veröffentlichungen zur Chemotherapie darauf hingewiesen wurde, dass die Gabe eines einzelnen chemotherapeutischen Wirkstoffes (also eine Monotherapie) den Krebs nicht heilen konnte, sondern allenfalls eine lebensverlängernde Wirkung hatte. Gewissheit in dieser Hinsicht gewann man erst gut zwanzig Jahre später. In den 1950er Jahren bildeten sich in den USA nationale Kooperationen zur Durchführung und wissenschaftlichen Evaluation von Krebstherapien. Berühmte Kliniken wie beispielsweise das National Cancer Institute in Bethesda, Roswell Park in Buffalo und die Children’s Hospitals in Buffalo und Boston schlossen sich für groß angelegte Studien zusammen. Erfahrene Onkologen wie Sidney Faber, Emil Freireich, Gordon Zubrod, Emil Frei, James Holland und Vincent De Vita, um nur einige zu nennen, planten umfangreiche Studien und behandelten die Patienten an den unterschiedlichen Kliniken nach einem genau vorgegebenen Schema. So konnten die Daten und Ergebnisse aller Patienten und Therapieformen zusammengefasst und ausgewertet werden. 1957 wurde erstmals eine Kombinationstherapie mit zwei verschiedenen Chemotherapeutika (6-Mercaptopurin und Methotrexat) an Kindern mit akuter lymphatischer Leukämie (ALL) durchgeführt. Zwei Arbeitsgruppen um Vincent De Vita und James Holland entwickelten 1963 und 1965 Kombinationsschemata mit mehreren unterschiedlichen Chemotherapeutika (also eine Polychemotherapie), die in einer bestimmten Abfolge appliziert wurden. Trotz der enormen Steigerung der Toxizität durch die Behandlung mit zwei oder mehreren Chemotherapeutika (was mit vielen Nebenwirkungen verbunden war) verzeichnete man in vielen Fällen langfristige Erfolge – erste Patienten überlebten den Krebs.

Seit Ende der 1960er Jahre hat die Chemotherapie in erster Linie von den Verbesserungen der sogenannten supportiven (unterstützenden) Therapiemaßnahmen profitiert. Mit diesen Maßnahmen gelang es, belastende und teilweise tödliche Nebenwirkungen der Chemotherapie wie Übelkeit und Erbrechen, Anämie106, Gerinnungsstörungen des Blutes und eine übermäßige Infektanfälligkeit aufgrund von Beeinträchtigungen des Abwehrsystems effektiver zu behandeln. Durch die Verbesserung der supportiven Therapien konnten auch die chemotherapeutischen Substanzen stärker dosiert sowie die Anzahl der verabreichten Therapiezyklen erhöht werden.107 Dies führte in den vergangenen vierzig bis fünfzig Jahren zu effektiveren Chemotherapien, ablesbar an den besseren Überlebenszeiten und der besseren Lebensqualität der behandelten Patienten. Wie beschrieben, fußten diese Erfolge allerdings weniger auf der Entwicklung neuer Substanzen – das 1979 zugelassene Cisplatin und die Gruppe der sogenannten Taxane, deren erster Vertreter Paclitaxel 1993 zugelassen wurde, bildeten Ausnahmen – sondern eher auf der Verbesserung der unterstützenden Maßnahmen. Bei der Weiterentwicklung der Polychemotherapie etablierten sich neue Medikamentenkombinationen, die teilweise leicht verbesserte Ansprechraten, häufiger jedoch – ebenfalls begrüßenswert – eine im Vergleich zu älteren Kombinationen deutliche Reduktion der Nebenwirkungen zeigten. Auch bei den Erfolgen der Polychemotherapie war die Entwicklung neuer Substanzen also selten ausschlaggebend. Diese ernüchternde Tatsache ist dadurch zu erklären, dass es sich bei der Chemotherapie um eine sehr unspezifische Therapie handelt. Die Wirkstoffe greifen in unterschiedliche Prozesse der Zellteilung ein, so dass sie hauptsächlich Zellen zerstören, die sich durch eine schnelle Teilungsrate charakterisieren. Dieses Charakteristikum ist aber nicht nur Tumorzellen eigen, sondern auch vielen anderen, wichtigen Zelltypen unseres Körpers (z. B. Gerinnungsplättchen im Blut (Thrombozyten), Abwehrzellen (Leukozyten), Schleimhautzellen des Verdauungstraktes etc. Außerdem besteht ein bösartiger Tumor nicht ausschließlich aus Zellen, die sich schnell und häufig teilen – zumindest nicht zu jedem Zeitpunkt ihres

Daseins. Jene Tumorzellen, die sich zur Zeit der Applikation der Chemotherapie in „Teilungsruhe“108 befinden, „überleben“ die chemische Attacke häufig unbeschadet, so dass aus ihnen zu einem späteren Zeitpunkt ein Rezidiv der Tumorerkrankung entstehen kann. Aufgrund ihrer hohen Mutagenität (der Neigung zu Mutationen), welche den normalen Körperzellen fehlt, entwickeln Tumorzellen wie bereits demonstriert häufig Resistenzen gegen die applizierten Chemotherapeutika. Wird derselbe Wirkstoff oder dieselbe Wirkstoffkombination bei der Rezidivbehandlung verwendet, ist seine zerstörerische Wirkung auf die Tumorzellen deutlich schwächer oder gar nicht mehr vorhanden – die Schädigung der normalen Körperzellen ist jedoch dieselbe wie bei der Erstgabe des Wirkstoffes. Aus diesem Grund wurden für zahlreiche Tumorarten sogenannte Erst-, Zweit- und Drittlinientherapien entwickelt, die aus immer neuen Wirkstoffkombinationen bestehen. Um auch die in Teilungsruhe befindlichen Tumorzellen mit der Chemotherapie zu „erreichen“, wurde außerdem das Therapiekonzept der sogenannten Erhaltungstherapie entwickelt. Hierbei werden nach der intensivierten Polychemotherapie (der sogenannten Induktionstherapie), welche in der Regel nur wenige Wochen oder Monate dauert, über einen viel längeren Zeitraum (wir sprechen von Monaten bis Jahren) kleine Dosen eines Chemotherapeutikums verabreicht, um früher oder später auch die quiescenten Tumorzellen (die irgendwann in den Teilungszyklus eintreten) zu zerstören. Durch dieses Vorgehen konnte die Chemotherapie in den vergangenen Jahrzehnten viele zusätzliche Erfolge verbuchen. Ein weiteres sehr wirksames Konzept ist die sogenannte adjuvante Chemotherapie. Nachdem ein solider Tumor operativ entfernt wurde, wird er histologisch klassifiziert. Zeigt sich dabei ein Stadium, welches erfahrungsgemäß (d. h. auf der Basis der statistischen Auswertung vieler Krankheitsverläufe) häufig mit lokalen oder systemischen Rezidiven einhergeht, wird nicht erst die Entstehung des Rezidivs abgewartet, sondern ohne Nachweis von weiteren (z. B. mikroskopischen) Tumormanifestationen eine Chemotherapie verabreicht. Dieses Konzept erwuchs aus der Vorstellung, eine kleine Anzahl von Tumorzellen (eine kleine

„Tumorlast“) effektiver mit einer Chemotherapie (insbesondere wenn diese Chemotherapie-naiv sind) behandeln zu können. Nachteil dieses Vorgehens ist es, dass ein gewisser Teil der Patienten quasi umsonst behandelt wird, da überhaupt keine Tumorabsiedlungen vorliegen – statistische Daten treffen eben nicht auf jeden zu. Da sich jedoch die Prognose bei den riskanten Tumorstadien durch dieses Vorgehen verbessert hat, ist ein solches Vorgehen gerechtfertigt und sinnvoll. Hier muss aber unbedingt wieder der aufgeklärte und informierte Betroffene, der über sein Rezidivrisiko mit und ohne adjuvante Behandlung (natürlich immer auf Basis von statistischen Auswertungen) informiert ist, eine selbstbestimmte Entscheidung treffen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Chemotherapie durch neue Applikationskonzepte, durch bessere Supportivmaßnahmen und durch eine Vielzahl unterschiedlicher (jedoch nicht unbedingt neuer) Wirkstoffe eine effektive Therapie der metastasierten und fortgeschrittenen Krebserkrankungen darstellt. Trotzdem stehen Heilungen metastasierter Tumorerkrankungen durch Chemotherapie weiterhin nicht an der Tagesordnung; bei vielen Tumorerkrankungen im metastasierten Stadium kann aber eine deutliche Verlängerung der Überlebenszeit erreicht werden. Steht eine Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie an, sollte der Betroffene in erster Linie darüber aufgeklärt werden, ob sie mit kurativem oder palliativem109 Ziel verabreicht werden soll. Dieses Ziel ist für den Betroffenen der wichtigste Aspekt seiner Entscheidungsfindung und muss im Gespräch mit dem Arzt ausdrücklich festgehalten werden. Ist das nicht der Fall und hat der Patient also falsche Erwartungen, stellt die Einleitung einer aggressiven, potentiell lebensbedrohlichen Therapie meiner Meinung nach eine Körperverletzung dar. Hier müssen sich die Ärzte bewusst in ihrem „Therapieeifer“ zurücknehmen und ihren Patienten mehr mit Rat als mit Tat zur Seite stehen. Das genaue Wissen über das zu erwartende Ergebnis der Therapie in Verbindung mit den begleitenden Risiken ist die einzige akzeptable Basis, aufgrund derer ein Betroffener eine rationale Entscheidung treffen kann. Wie schon öfters betont, gibt es fast in jeder Situation mehrere Therapieoptionen. Eine weniger aggressive, dafür oft auch weniger effiziente Behandlungsmöglichkeit bei systemischen

Krebserkrankungen bestimmter Tumorarten ist die Hormontherapie – sie wird gleich anschließend vorgestellt.

Hormontherapie: Dem Tumor das Benzin abdrehen Schon vor Einführung der Chemotherapie wurde die Hormonabhängigkeit bestimmter Tumorarten erkannt und therapeutisch genutzt. Klassische Beispiele für homonabhängige Tumoren sind das Prostatakarzinom und das Mammakarzinom. Von vornherein sei gesagt, dass diese Tumoren hormonabhängig sein können, es jedoch nicht in jedem Fall sein müssen. Das bedeutet, dass die Hormonabhängigkeit des Tumors im Einzelfall untersucht und definiert werden muss – was für Pathologen heutzutage keine große Herausforderung darstellt. Ist ein Tumor hormonabhängig, so ist die Hormonbehandlung ein erfolgversprechender therapeutischer Ansatz. Den Effekt von Hormonen auf hormonabhängige Tumoren kann man sich etwa so vorstellen, dass jemand Benzin ins „Feuer“ des Tumorwachstums gießt: Das Tumorwachstum wird durch das entsprechende Hormon deutlich stimuliert. Durch den Entzug der Hormons bzw. dessen Blockade wird das Feuer zwar nicht gelöscht, es brennt jedoch mit kleinerer Flamme. Beim Prostatakarzinom ist in der Regel das männliche Sexualhormon Testosteron involviert. Schon im Jahre 1941 therapierten die amerikanischen Chirurgen C. Huggins und C. Hodges Patienten mit metastasierten Prostatakarzinomen, indem sie ihr Testosteron hemmten. Im Jahre 1966 erhielt Huggins für diese Untersuchungen den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin110. Bis heute bildet die Hemmung des Testosterons einen festen Bestandteil der Behandlung metastasierter Prostatakarzinome. Der Therapiealgorithmus111 beim Mammakarzinom beinhaltet die Hemmung der weiblichen Geschlechtshormone (Östrogen und/oder Progesteron). Welche Geschlechtshormone medikamentös beeinflusst werden, richtet sich nach der prä- oder

postmenopausalen112 Lebensphase der Patientin und nach der Hormonrezeptorausprägung im Tumorgewebe, welches nach Entnahme des Tumors vom Pathologen immunhistologisch untersucht wird. Auch zahlreiche andere Tumorarten wie z. B. das Schilddrüsenkarzinom oder das Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs) sind hormonabhängig – und damit einer Hormontherapie zugängig, die meistens von weitaus weniger Nebenwirkungen begleitet wird als beispielsweise eine Chemotherapie. Wie ich schon schrieb, lohnt der hormonelle Therapieansatz aber nur, wenn eine entsprechende Hormonabhängigkeit des Tumors nachgewiesen ist. Da der Therapieeffekt einer Hormontherapie ausschließlich in einer Reduktion der Teilungsrate der Tumorzellen besteht (das Feuer brennt weniger heftig), kann bei alleiniger Hormontherapie nicht mit einer Heilung der Erkrankung gerechnet werden. Analog zur Resistenzentwicklung bei der Chemotherapie kann ein hormonabhängiger Tumor ab einem gewissen Zeitpunkt eine Hormonresistenz entwickeln: Die Tumorzellen sind durch Mutation nun in der Lage, selbst hormonähnliche Substanzen zu produzieren, oder sie benötigen schlichtweg das Hormon nicht mehr, um ein schnelles Wachstum aufrechtzuerhalten. In diesem Fall wachsen sie trotz Hormontherapie rasch weiter. Diesen Zeitpunkt gilt es zu identifizieren, damit rechtzeitig mit einer Ersatztherapie begonnen werden kann.

Zielgerichtete Therapien: Kleinmolekulare Wirkstoffe für den großen Kampf Der Name dieser medikamentösen Therapie ist etwas irreführend, da im Prinzip jede Therapie zielgerichtet, also gegen eine bestimmte Erkrankung gerichtet ist. Hier ist aber etwas anderes gemeint: In den Krebszellen selbst wird ein bestimmtes Ziel definiert, auf das sich die zerstörerische Wirkung der verwendeten Substanz richtet. Krebszellen sind, wie bereits ausgeführt, entartete Körperzellen. Das bedeutet, dass auch Krebszellen ihre Wahrnehmung (aufgrund von

Signalvermittlung), ihren Stoffwechsel, ihr Wachstum und ihre Ausbreitung mit den „Werkzeugen“ einer normalen Zelle bewerkstelligen. Diese Werkzeuge sind einerseits Signalübertragungswege (auch Signaltransduktionswege, engl.: signaling pathways) und andererseits Stoffwechselwege (Stoffwechsel = Metabolismus, engl.: metabolic pathways). Die Signaltransduktionswege sind definierte Abfolgen von Eiweißaktivierungen – häufig unter Einbeziehung eines Katalysators113 –, die zu bestimmten Stoffwechselreaktionen der Zelle führen. Häufig ist es das Schlüssel-Schloss-Prinzip, mit dem wichtige Abläufe, z. B. bei der Signalübertragung vom Zelläußeren ins Zellinnere, vom Zellinneren in den Zellkern oder zwischen verschiedenen Zellen, ermöglicht werden. Den Schlüssel bezeichnet man in der Biologie als Ligand, das Schloss als Rezeptor. Die „Angriffsorte“ der zielgerichteten Therapien sind meistens diese Liganden und/oder Rezeptoren. Seit Jahrzehnten untersuchen Biochemiker, Molekularbiologen und viele andere Spezialisten die Abfolgen innerhalb der Signal- und Stoffwechselwege bei Tumorzellen und vergleichen sie mit den Abfolgen in Normalzellen.114 Wenn dabei bisher auch kein krebsspezifischer pathway gefunden wurde, so konnten doch Signalund Stoffwechselwege identifiziert werden, die besonders wichtig für das Tumorzellenwachstum und dessen Ausbreitung im Körper sind und häufig auch eine gewisse Veränderung aufweisen. Besonders in den vergangenen fünf bis zehn Jahren wurde damit begonnen, die veränderten pathways von Tumorzellen als potentielle „Ziele“ einer medikamentösen Therapie zu etablieren. Die neuen Therapieoptionen, die aus diesen Bemühungen entstanden, werden deshalb als „zielgerichtete Therapien“ (englisch: „targeted therapy“) bezeichnet. Diese Therapieansätze haben es vor allem auf jene Signal- und Stoffwechselwege der Tumorzellen abgesehen, welche ihr Wachstum unterstützen. Durch sie werden zentrale Zellfunktionen unterbunden – etwa die Bildung neuer Blutgefäße zur Sauerstoffversorgung des Tumors (Angiogenese), die Prozesse des Zellwachstums und der Zellteilung (Proliferation) oder die

Möglichkeit der Tumorzellen, durch das Ablösen von Zellverbindungen aus dem Zellverbund auszuscheren (Adhäsion)115 und Metastasen zu bilden. Ziel einer targeted therapy kann aber auch die Herstellung erhöhter „Aufmerksamkeit“ des Immunsystems für die Tumorzellen oder die Behinderung der „Abfallentsorgung“ in den Tumorzellen sein. In den vergangenen Jahrzehnten konnten zahlreiche veränderte pathways identifiziert werden, mit der Folge einer Vielzahl von vielversprechenden zielgerichteten Therapien. Die Wirkstoffe dieser Therapieform sind von unterschiedlichster Bauart. Hauptvertreter sind die weiter oben genannten kleinmolekularen Wirkstoffe116 (zumeist synthetisch hergestellte kleine Moleküle, die mit bestimmten Proteinen eines pathways reagieren) oder Antikörper (in diesem Fall ebenfalls zumindest teilweise synthetisch hergestellte, auf bestimmte Eiweiße der Reaktionswege fokussierende Immunglobuline). Für die kleinmolekularen Wirkstoffe hat sich die Namensendung -nib (erkennbar z. B. in Sorafinib, Pazopanib, Imatinib etc.) eingebürgert; für die therapeutisch genutzten Antikörper die Endung -mab (z. B. in Bevacizumab, Rituximab, Trastuzumab etc.). Mit der Entwicklung der zielgerichteten Therapien wollte man neben einer effektiveren Heilungswirkung vor allem die extremen Nebenwirkungen der nicht so zielgerichtet arbeitenden Chemotherapie vermeiden. Leider ist es so, dass sich das Nebenwirkungsspektrum zwar deutlich verschoben hat, jedoch weiterhin starke und behandlungsbedürftige Nebenwirkungen auftreten. Dies ist wahrscheinlich darin begründet, dass einerseits die als Zielscheibe ausgewählten Signal- und Stoffwechselwege für die Tumorzellen „lebenswichtig“ sein müssen, damit man durch ihre Blockierung den Tumor schwächen kann, dass andererseits jedoch die gleichen Signal- und Stoffwechselwege auch für die normalen Körperzellen wichtig sind und diese dadurch auch geschädigt werden. Aus diesem Grund haben die zielgerichteten Therapien bisher leider noch nicht den durchschlagenden Therapieerfolg erbracht, den man sich von ihnen versprochen hatte. In den letzten Jahren ist es aber bei vielen Tumorentitäten, bei denen zielgerichtete

Therapieeinsätze in die Therapiekonzepte eingeflossen sind, häufig zu einer Verlängerung und Verbesserung des Therapieerfolges gekommen, wenn auch in den seltensten Fällen allein durch diese spezifischen Therapeutika. Daher werden die zielgerichteten Therapien heute häufig mit herkömmlichen Chemotherapeutika kombiniert. Diese Kombinationen führen insgesamt zu einer deutlichen Verbesserung der Therapieeffekte, allerdings mit dem Nachteil eines beträchtlichen, teilweise sogar erweiterten Nebenwirkungsspektrums. Hoffnung besteht aber weiterhin, denn die zielgerichtete Therapie von Tumorerkrankungen ist eine sehr junge Therapiemodalität, die meiner festen Überzeugung nach eine Menge Potential bietet. Daher ist es überaus sinnvoll, dass sich, trotz aller Schwierigkeiten, viele Wissenschaftler und Ärzte dieser vielversprechenden Forschungsrichtung widmen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die medikamentöse Therapie der unterschiedlichen Krebserkrankungen in den vergangenen zehn Jahren deutliche Fortschritte erzielt hat, auch wenn die erstmals vor über hundert Jahren von Paul Ehrlich117 eingeforderte „Magic Bullet“ – ein Wirkstoff, der dem Patienten nicht schadet, die Krankheit aber besiegt – noch immer nicht entdeckt wurde. Die voranschreitende Erforschung der Tumorbiologie lässt jedoch auf eine Steigerung der Wirkung medikamentöser Therapien in der näheren Zukunft hoffen. Zum aktuellen Zeitpunkt kann man nur aus dem Repertoire der verfügbaren zielgerichteten Therapien schöpfen. Ihre Vor- und Nachteile, ihr Nebenwirkungsspektrum und die individuelle Situation des Betroffenen machen sie mehr oder weniger geeignet für den Betroffenen, und dieser muss sich völlig im Klaren darüber sein, welche Faktoren den Therapieerfolg bedingen und wie groß der zu erwartende Therapieerfolg überhaupt sein kann. Von der medikamentösen Therapie metastasierter und fortgeschrittener Tumorerkrankungen darf man sich aktuell noch keinerlei Wunder erhoffen – ich bin aber zuversichtlich, dass sich schon in naher Zukunft bedeutende Erfolge auf diesem Gebiet einstellen werden.

5.4 Komplementäre Therapien: Die Bekämpfung optimieren Neben den zahlreichen schulmedizinischen Verfahren in der Behandlung von Krebspatienten gibt es auch die sogenannten komplementärmedizinischen und paramedizinischen Methoden118. Unter komplementärmedizinischen Therapien versteht man vor allem Naturheilverfahren119 oder Methoden der Traditionellen Chinesischen Medizin wie Akupunktur, aber auch Maßnahmen wie z. B. Musiktherapie. Paramedizinische Verfahren sind zumeist esoterisch oder spirituell beeinflusste Verfahren wie beispielsweise das Pendeln oder bioenergetische Ansätze. Bei beiden Richtungen handelt es sich um Methoden, deren medizinische Wirksamkeit bisher wissenschaftlich nicht belegt werden konnte. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen komplementären und paramedizinischen Therapien besteht in der Tatsache, dass jedermann diese Methoden verschreiben und anwenden darf – nicht nur ausgebildete Mediziner. Häufig werden die komplementärmedizinischen Therapieverfahren von Heilpraktikern120, aber auch von Ärzten angeboten und durchgeführt. Sie werden – bis auf wenige Ausnahmen – von den Krankenkassen nicht bezahlt, sind aber zumeist nicht übermäßig teuer und als Ergänzung zur schulmedizinischen Therapie häufig durchaus sinnvoll. Wichtig ist dabei allerdings, dass schul- und komplementärmedizinische Therapien aufeinander abgestimmt

sind, damit es zu keinen ungünstigen gegenseitigen Beeinflussungen kommt. Unter den paramedizinischen Therapien (die häufig auch von Ärzten angeboten werden) gibt es extrem teure Verfahren, die als Alternative zur Schulmedizin beworben werden. Besonders die schulmedizinisch austherapierten Patienten121 sind die Zielgruppe dieser leider oft unseriösen Anbieter. Skeptisch sollte ein Betroffener immer dann sein, wenn unverhältnismäßig hohe Honorare in Rechnung gestellt werden oder sogar Vorkasse verlangt wird. Diese Verfahren bringen dem Betroffenen häufig leider keine Verbesserung seiner Erkrankung. Einer der wohl bekanntesten Mediziner in diesem Zusammenhang ist der Urheber der „Germanischen Neuen Medizin“, der ehemalige Arzt Ryke Geerd Hamer, der seit 1981 paramedizinisch umtriebig ist. Inzwischen liegen staatsanwaltliche Ermittlungen zu etwa 100 Todesfällen vor, die im Zusammenhang mit Hamers „Behandlungen“ stehen sollen. Wie viele davon tödlich endeten, kann man nur vermuten. Bereits 1986 wurde ihm die Approbation – die ärztliche Zulassung – in Deutschland entzogen; Hamer praktizierte weiter in Frankreich, Spanien, Österreich und Norwegen. Trotz seines alarmierenden Lebenslaufes mit Haftstrafen, Gerichtsprozessen und Berufsverbot halten ihm weiterhin mehr als 150.000 Anhänger die Treue. Gut und böse zu unterscheiden ist hier sehr schwer. Einen gewissen Schutz vor selbsternannten Wunderheilern kann eventuell die Parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg bieten. Der Gründer und Betreiber dieser 1989 ins Leben gerufenen und staatlich geförderten Institution ist Dr. Dr. Walter von Lucadour. Er hat eine Liste von 15 Punkten konzipiert, die dabei helfen, unseriöse Wunderheiler „auszusortieren“. Ein Fall wie dieser ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisberges. Es gibt zahlreiche Anti-Krebs-Ernährungstheorien, Heilstoffe, Heilverfahren und dergleichen, die unwirksam oder sogar schädlich und meistens extrem teuer sind. Sie alle nützen die Angst und die Ausweglosigkeit der Patienten aus. Wenn die Betroffenen mehr Vertrauen in ihre eigene Urteilsfähigkeit hätten und besser informiert wären, könnten sich solche Profiteure nicht lange halten.

Eine gewisse Mitschuld an der Popularität dieser „Wunderheiler“ ist allerdings auch der Schulmedizin selbst zuzuschreiben. Gerade dann, wenn sich Operation, Bestrahlung und Chemotherapie als unwirksam erwiesen haben, sollte weiterhin nach schulmedizinischen Lösungen gesucht werden, damit die Erkrankten nicht in die Hände von selbsternannten Heilern gelangen. Im Bereich der Palliativmedizin ist das schon passiert – hier hat das Gesundheitssystem viel investiert und konnte erste positive Ergebnisse verzeichnen: Palliativstationen, Hospizplätze, Betreuung zu Hause – so wird den Betroffenen auch bei weit fortgeschrittenen Krebserkrankungen und in der letzten Krankheitsphase ein lebenswertes „Restleben“ und ein erträgliches und betreutes Sterben ermöglicht. Trotzdem muss insbesondere von Schulmedizinern weiterhin viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, damit dieser Weg von den Patienten angenommen wird. Ich bin Schulmediziner, habe mir aber stets die Offenheit für therapeutische Ansätze aus allen Bereichen erhalten. Dabei kann ich den Therapieprinzipien der Naturheilmedizin (Wirkstoffe aus der Natur) deutlich mehr abgewinnen als anderen komplementärmedizinischen oder gar paramedizinischen Ansätzen. Nichtsdestotrotz unterstütze ich meine Patienten bei der Anwendung jeglicher Verfahren, von denen sie den Eindruck gewonnen haben, dass sie ihnen gut tun – solange ich mir sicher sein kann, dass sie keinen Schaden anrichten, indem sie z. B. andere Therapieverfahren, deren Wirkung wissenschaftlich belegt ist, negativ beeinflussen (was definitiv der Fall sein kann). Der Glaube an die Effektivität einer naturheilmedizinisch basierten Therapie ist für mich keineswegs etwas Besonderes. Wieso sollen Wirkstoffe, die aus der Natur kommen, nicht wirksam sein? Viele Chemotherapeutika, die definitiv eine Wirkung haben, sind Naturstoffe. So zum Beispiel die Gruppe der Taxane: Das sind Chemotherapeutika, die ursprünglich aus der Rinde der Nordamerikanischen Eibe gewonnen wurden. Heute werden diese Wirkstoffe größtenteils synthetisch produziert, sind aber – ihrer Zusammensetzung nach – weiterhin Stoffe aus der Natur. Das Trockenextrakt aus Efeublättern wird erfolgreich in der Behandlung von Husten eingesetzt. Meerrettichextrakt wurde bereits im alten

Ägypten zur Behandlung von Infektionen angewendet und hat definitiv eine antibiotische Wirkung. Andererseits ist die garantierte Harmlosigkeit von Naturstoffen ebenfalls in Abrede zu stellen. So sind die stärksten bekannten Gifte Naturstoffe: zum Beispiel das Botulinumtoxin, ein Gift, das vom Bakterium Clostridium botulinum produziert wird und als Botox™ in der Kosmetikindustrie sogar recht populär geworden ist, oder das Cobratoxin der Brillenschlange. Alles Stoffe, die aus der Natur kommen und deren Wirkung keiner bestreitet. Die Grundlage der heilenden Wirkung oder Toxizität dieser Substanzen hat schon der Schweizer Arzt, Mystiker und Philosoph Paracelsus erkannt: „Alle Ding‘ sind Gift und nichts ohn‘ Gift - allein die Dosis macht, das ein Ding‘ kein Gift ist.“ Botulinumtoxin wird z. B. in niedrigen Dosen sehr effektiv in der Behandlung von Falten, Muskelüberaktivitäten und Schmerzen angewendet. Hört sich riskant an, wenn man weiß, dass die mittlere tödliche Dosis von Botulinumtoxin bei 0,03 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht liegt. Naturheilmedizinische Verfahren haben also ihren berechtigten Platz innerhalb der Krebstherapien. Warum ich als „eingefleischter“ Schulmediziner aber auch andere Verfahren, die sich wissenschaftlicher Deutung manchmal geradezu widersetzen, nicht ablehne? Weil Heilungen – oder sagen wir vorsichtshalber Therapieeffekte – komplexe Prozesse mit sehr vielen Unbekannten sind. Bereits während meiner Zeit als Klinikarzt habe ich nicht nur einmal Phänomene beobachten können, die sich jeder rationalen Begründung entziehen. Ich hatte Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren, die einen „Pakt“ mit einer höheren Macht bezüglich eines bestimmten Termins, den sie noch erleben wollten (Einschulung des Enkels, Hochzeit des Sohnes etc.), geschlossen hatten. Nachdem sie auf die Therapie gut ansprachen und den „vereinbarten“ Termin in ausgezeichnetem Gesundheitszustand erlebten, zeigte die zuvor wirksame schulmedizinische Behandlung – und auch neue Therapieregime122 – plötzlich keinerlei Wirkung mehr; die Patienten verstarben häufig nach kurzer Zeit. Wie erklärt sich die unerwartet schnelle Resistenzentwicklung und unaufhaltsame Progression des

Tumors in dieser Situation? Hatte die Therapie vorher überhaupt einen Effekt gehabt, oder war tatsächlich der abgeschlossene Pakt für diese Entwicklung verantwortlich? Der Glaube an eine höhere Macht hat wahrscheinlich eine nicht zu unterschätzende therapeutische Wirkung, die bisher noch nicht erklärt werden konnte. Vielleicht haben komplementärmedizinische Verfahren eine ähnliche Wirkungsweise. Dadurch, dass sich diese Verfahren bisher der wissenschaftlichen Evaluation weitestgehend entziehen, gibt es kaum definitive Daten zu Ansprechraten und Wirkdauer. Anders als bei den schulmedizinischen Verfahren, welche durch die verfügbaren statistischen Daten die Erwartungen der Patienten in bestimmten Grenzen halten, ist ein Betroffener bei alternativen Krebstherapien auf „mehr“ eingestellt – im besten Falle eben auf definitive Heilung. Den alternativen Krebstherapien steht außerdem das Wort Natur zur Seite. Es wird im Allgemeinen mit Gesundheit, Kraft und Stärke in Verbindung gebracht. Meiner Meinung nach kann ein guter Therapieeffekt (sei er nun schul- oder komplementärmedizinisch herbeigeführt) durchaus auch von derartigen subjektiven Beurteilungen und Empfindungen ausgelöst worden sein. Dies werte ich jedoch als ausgesprochen positiv und würde daher jeder Therapieoption die Möglichkeit geben, ihre Wirkung zu demonstrieren – abgesehen von solchen mit erwiesener schädlicher Wirkung.

Experiment versus gesichertes Wissen Im Abschnitt „Statistik“ hatte ich auf die vielen Fehlerquellen, die sogar die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie bewusst oder unbewusst beeinflussen können, hingewiesen. Das Risiko, unerkannte Umstände bei einem bestimmten Therapieeffekt zu übersehen, ist bei der Einzelfallbetrachtung (oder einer auf wenigen Fällen beruhenden Untersuchung) natürlich noch höher. Zudem gibt es sicherlich Effekte, die auf die physiologische oder psychologische individuelle Konstitution zurückzuführen sind und den statistisch gesicherten Daten sogar „widersprechen“ können. Gerade deshalb lege ich als Wissenschaftler (weniger als Therapeut im Einzelfall) bei

der Bewertung komplementärmedizinischer Verfahren genau so viel Wert auf die wissenschaftliche Bestätigung durch Experiment und Kontrolle wie bei den schulmedizinischen Therapien. Denn nur durch Kontrolle können die komplementärmedizinischen Verfahren wissenschaftlich evaluiert und dadurch in größerem Umfang nutzbar gemacht werden. Ich begrüße es sehr, dass in den letzten Jahren an einigen deutschen Universitätskliniken Abteilungen etabliert wurden, die sich klinisch und wissenschaftlich mit komplementärmedizinischen Krebstherapien (häufig in Kombination mit schulmedizinischen Therapien) befassen. Ehernes Ziel dieser Bemühungen ist die effiziente Kombination der schulmedizinischen und komplementärmedizinischen Ansätze zum Wohle des Patienten. Die Anwendung von nicht vollständig evaluierten Methoden kann sowohl im komplementärmedizinischen als auch im schulmedizinischen Bereich zu unerwarteten Überraschungen führen. Unlängst machte ich selbst eine derartige Erfahrung bei der Behandlung eines Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom mit der sogenannten metronomischen Chemotherapie. Bei dieser Art der Chemotherapie wird ein Chemotherapeutikum in niedriger Dosis, dafür aber täglich gegeben (in diesem Fall das seit Jahrzehnten bekannte und angewendete Cyclophosphamid). Durch die Therapie werden nicht die Tumorzellen attackiert, sondern die Endothelzellen123, die dafür sorgen, dass der Tumor mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird. Während meiner Forschungszeit in Boston hatte ich mich intensiv mit derartigen Therapien beschäftigt; in Frankfurt hatte ich einige Patienten im Rahmen eines Studienprotokolls mit dieser Therapie behandelt; später Patienten meiner Praxis im Off-lable-use. Ich verzeichnete gute Therapieeffekte und konnte keine relevanten Nebenwirkungen beobachten. Bei meinem aktuellen Patienten kam es zu einem rapiden Sinken des PSA-Wertes (im Allgemeinen steht ein Abfall des PSA-Wertes mit einem Ansprechen des Tumors auf die Therapie in Zusammenhang); innerhalb von drei Monaten Therapie war er auf kaum nachweisbare Werte gefallen. Der Patient und ich selbst waren begeistert von diesem nebenwirkungsfreien Therapieeffekt. Beim Folgetermin konfrontierte der Patient mich mit

einem PSA-Wert, den er eine Woche nach unserem letzten so erfreulichen Treffen hatte bestimmen lassen. Der nur wenige Tage nach unserem gegen Null strebenden Wert gemessene neue PSAWert lag praktisch beim Ausgangswert, also jenem vor Einleitung der metronomischen Therapie. Umgehend bestimmten wir erneut den PSA-Wert, der jetzt sogar deutlich über dem Ausgangswert lag. Der Patient hat die Therapie dann verständlicherweise abgebrochen. Bis heute habe ich versucht zu ergründen, warum der PSA-Wert nach dreimonatiger, scheinbar erfolgreicher Behandlung so schnell angestiegen war. Oder war er vielleicht nie abgefallen und unsere Messergebnisse waren falsch? Hatte die Therapie vielleicht nur die Produktion von PSA in den Tumorzellen beeinflusst und gar keinen positiven Effekt gehabt? Hatten wir dem Patienten vielleicht sogar mit einer wirkungslosen Therapie geschadet? Die Antworten auf diese Fragen werde ich wohl nie bekommen. Mit Sicherheit weiß ich aber, dass man mit nicht evaluierten Therapien seine Überraschungen erleben kann. Genauso kann man natürlich auch Positives in Form von erstaunlichen Therapieeffekten erleben; nur dass man sich dabei über die ursächliche Verbindung zur verabreichten Therapie genau so wenig sicher sein kann. Ein überaus wichtiger Punkt für die Therapiesicherheit124 bei der Anwendung komplementärmedizinischer Therapien ist die Interaktion – also die Wechselwirkung – zwischen den verschiedenen Wirkstoffen oder Therapieverfahren. Man kann deshalb nicht in jedem Fall einer zusätzlichen komplementärmedizinischen Therapie zustimmen. Z. B. basiert die Wirkung von Bestrahlungstherapien mit ionisierenden Strahlen (vgl. das Kap. Bestrahlungstherapien) zum Großteil auf der Freisetzung von Radikalen125, die zur Schädigung der DNS (also der sensiblen Erbsubstanz) in den Tumorzellen führt. In der Komplementärmedizin werden jedoch häufig Radikalfänger (Antioxidantien wie zum Beispiel Selen oder Vitamin C) zum Schutz der gesunden Zellen vor schädigenden Radikalen angewendet. Durch die Radikalfänger werden zwar die Nebenwirkungen einer Strahlentherapie am Normalgewebe reduziert; im selben Maße verringert sich aber auch die Wirkung der Bestrahlung auf den Tumor – was natürlich nicht zielführend ist.

Mit obigen Beispielen wollte ich veranschaulichen, dass naturmedizinische Therapien erstaunlich oft sehr gut wirken, Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen sind und sie in Kombination mit den schulmedizinischen Therapieverfahren auch einer guten Kontrolle und differenzierten Anwendung bedürfen, damit keine unerwünschten Effekte oder Therapieabschwächungen zustande kommen. Diese Einstellung wurde auch durch den Bericht eines Krebsüberlebenden – Greg Anderson – in mir bestärkt. 1987 wurde bei ihm ein weit fortgeschrittenes Bronchialkarzinom diagnostiziert. Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Wochen zu leben. Entgegen allen Erwartungen besiegte Anderson den Krebs und machte sich danach auf die Suche nach Menschen, denen es ähnlich ergangen war wie ihm. Im Laufe der Zeit befragte er 15.000 Betroffene mit vergleichbarem Krankheitsverlauf. Sie waren alle todkrank gewesen, hatten jedoch den Krebs besiegt. Andersons Buch Cancer: 50 Essential Things to Do wurde ein Bestseller und ist mittlerweile in der dritten Auflage erschienen. Hier kann man nachlesen, dass 97% der von ihm befragten Patienten, die den Krebs überlebt hatten, eine schulmedizinische Therapie (Operation und/oder Bestrahlung und/oder Chemotherapie) absolviert hatten. Ein Teil von ihnen hatte auch komplementärmedizinische Zusatztherapien in Anspruch genommen, aber nicht alle. Für mich ist das der glaubhafteste Beweis dafür, dass schulmedizinische Maßnahmen die essentielle Strategie in der Krebsbehandlung darstellen, will man an Krebs erkrankte Menschen retten. 95 siehe auch Neue Wirkstoffe haben es schwer in Kap. Krebs und unser Gesundheitssystem 96 eine Vorgabe von Eingriffen und Operationszahlen für den werdenden Facharzt 97 die operative Entfernung eines zumeist relativ kleinen tumortragenden Lappens der betroffenen Brust 98 Nerven, Gefäße, Lymphknoten, Harnwege, Verdauungswege etc. 99 auch Strahlentherapie genannt 100 Apoptose oder Zellsuizid, siehe den Abschnitt Stammzellen: pluripotent und unsterblich im Kap. So funktioniert das Leben 101 Das sind von den politischen Kommunen geführte Krankenhäuser. 102 vgl. die Abschnitte über Szintigraphie und Positronen-Emissions-Tomographie im Kap. Abklärung eines Verdachts

103 griech. brachys = kurz, nah. Der Name soll andeuten, dass die Strahlung nur eine kurze Strecke zurücklegen muss. 104 engl.: small molecular drugs. Das sind künstlich hergestellte Wirkstoffe, die nur über ein sehr niedriges Molekulargewicht verfügen. 105 = die zumeist von Pathologen durchgeführte innere Leichenschau zur Feststellung der Todesursache, auch Obduktion genannt 106 Armut an roten Blutkörperchen im Blut 107 Polychemotherapien werden zumeist in Form von standardisierten Zyklen über mehrere Wochen, denen Therapiepausen zwischengeschaltet sind, verabreicht 108 = die einige Wochen oder Monate dauernde Quieszenz oder Dormancy 109 Das Therapieziel bei einer Chemotherapie mit palliativem Charakter besteht in einer Überlebenszeitverlängerung und/oder Lebensqualitätsverbesserung, jedoch nicht in einer Kuration. 110 kurz „Medizin-Nobelpreis“, wobei Alfred Nobel 1895 die Physiologie ausdrücklich mit eingeschlossen hatte 111 = die Therapieabfolge 112 = vor oder nach den Wechseljahren 113 = ein Reaktionsbeschleuniger, in der Biochemie und Medizin als Enzym bezeichnet 114 Im Jahre 1995 hat der 2012 verstorbene Biochemiker Donald Nicholson sämtliche damals bekannten Stoffwechselwege auf einer Übersichtskarte zusammengefasst. Seither wurde diese „Landkarte der Stoffwechselwege“ regelmäßig aktualisiert (bis zur 22. Auflage im Jahre 2003). Um einen Überblick über die Komplexität der Stoffwechselwege zu erlangen, lohnt ein Blick auf die Webpage: http://www.sigmaaldrich.com/lifescience/metabolomics/learning-center/metabolic-pathways.html. Einen guten Überblick über die vergleichbare Komplexität von Signaltransduktionswegen gibt auch die Webseite http://www.sigmaaldrich.com/life-science/cell-biology/learning-center/pathway-slidesand.html. 115 vgl. den Abschnitt über die bösartigen Tumoren im Kap. So funktioniert der Krebs 116 small molecular drugs (modifiers) 117 ein deutscher Arzt und Forscher, der 1908 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie erhielt 118 Beides wird auch unter dem Begriff „alternative Krebstherapien“ zusammengefasst. 119 Hierbei wird mit natürlichen Substanzen „gearbeitet“. 120 eine geschützte Berufsbezeichnung, die erst nach einer Prüfung und der amtsärztlichen Zulassung geführt werden darf 121 „Austherapiert“ nennt man jene Krebspatienten, bei denen sämtliche zur Verfügung stehenden schulmedizinischen Therapieoptionen ausgeschöpft sind und nur noch supportive Maßnahmen, wie beispielsweise eine Schmerztherapie, durchgeführt werden. 122 Das sind sogenannte Zweit- und Drittlinientherapien, auf die ausgewichen wird, wenn der Tumor wegen Resistenzentwicklung auf die Erstlinientherapie nicht mehr anspricht. 123 Die Endothelzellen bilden Blutgefäße. 124 Als „sicher“ gilt eine Therapie dann, wenn es bei ihrer Anwendung zu keiner ungünstigen Entwicklung in Form von gravierenden Nebenwirkungen oder einer Wirkungsverschlechterung kommt. 125 Das sind stark reaktive Moleküle.

6.

Ein Blick auf die Forschung

So wenig wie man sich von den aktuell verfügbaren medikamentösen Therapien die Kuration einer fortgeschrittenen Krebserkrankung erhoffen kann, so intensiv muss die weitere Suche nach effektiveren Therapieansätzen betrieben werden. Lokalisierte Tumorerkrankungen sind mit den heute zur Verfügung stehenden Instrumenten (insbesondere Operation und Bestrahlungstherapie) gut heilbar. Fakt ist jedoch, dass es trotz aller Vorsorgebemühungen und lokal effektiver Therapien immer wieder zum Auftreten von metastasierten und fortgeschrittenen Tumorerkrankungen kommen wird. Die einzige Therapieoption in dieser Situation bleibt eine systemische – also medikamentöse – Therapie, die jeden Winkel des Körpers und jede Tumorzelle erreicht. In der Fokussierung auf die wissenschaftliche Weiterentwicklung der medikamentösen Therapien liegt daher die Hoffnung vieler Ärzte und Betroffener. Wissenschaft und Erfahrung bilden die Grundlagen jeglichen Fortschritts in der Medizin. Dieser Fortschritt ergibt sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Institutionen, die verschiedene Ebenen der Forschung repräsentieren. Die Grundlagenforschung, die sich mit den genetischen, molekularen und zellulären Grundlagen der Krebserkrankungen befasst, ist hauptsächlich an Universitäten und den ihnen angegliederten Forschungsinstituten beheimatet – hierbei handelt es sich um Non-profit-Institutionen. Die Finanzierung dieses Forschungsbereiches basiert vor allem auf öffentlichen Geldern oder Spenden. Die pharmakologische Forschung und insbesondere die Wirkstoffentwicklung (die zumeist auf den Ergebnissen der Grundlagenforschung basiert) liegt

hingegen nahezu vollständig in den Händen der profitorientierten Großunternehmen der Pharmaindustrie. Die ausschließliche Ansiedlung der überaus wichtigen und empfindlichen Wirkstoffentwicklung innerhalb von Unternehmen, die markt- und profitorientiert arbeiten, bringt gewisse Nachteile im Hinblick auf ihre Effektivität im Sinne des Patientenwohles mit sich: Unternehmen sind an vorhersehbaren und möglichst gesicherten Profiten interessiert und entwickeln – den Regeln der Ökonomie folgend – naturgemäß Produkte (in unserem Fall Wirkstoffe) für große Märkte, das heißt für Erkrankungen, die häufig auftreten. Kleinere Märkte, sprich seltenere Erkrankungen, sind allenfalls für kleinere Unternehmen, die sich auf Nischenmärkte spezialisiert haben, von Interesse. Das bedeutet, dass sich viele finanzstarke Unternehmen auf wenige Tumorentitäten konzentrieren; ganz offensichtlich zum Nachteil jener Betroffenen, die an seltenen Tumoren erkrankt sind. Weder die Heilung einer Erkrankung durch eine bestimmte Therapie noch die Einführung eines absolut innovativen Therapieansatzes mit unsicherem Ausgang der Zulassungsstudien ist oberstes Ziel der profitorientierten Wirkstoffentwicklung. Ökonomisch weitaus effizienter ist ein Vorgehen in kleinen Schritten mit besser absehbaren, wenn auch nur minimalen Therapieerfolgen. Als Beispiel möchte ich eine Innovation der vergangenen Jahre in der Behandlung des hormonresistenten Prostatakarzinoms anführen: Seit über sechzig Jahren wird das fortgeschrittene und metastasierte Prostatakarzinom in der Erstlinientherapie mit einer antiandrogenen Hormontherapie, welche die Testosteronproduktion in den Hoden und Nebennieren blockiert bzw. die Wirkung des Hormons am Rezeptor hemmt, behandelt. Wie bereits im Abschnitt über Hormontherapien in Kap. 5 beschrieben, wird dem Tumorwachstum durch diese Therapie lediglich der Benzinhahn abgedreht; dem Tumor selbst kann die Hormontherapie nicht viel anhaben. Nichtsdestotrotz zeigt diese Therapie beim Prostatakarzinom oft viele Jahre lang eine gute Wirkung. Vor einiger Zeit erkannten Wissenschaftler, dass die Prostatakarzinomzellen

auch selbsttätig Androgene126 herstellen können (vgl. wieder Hormontherapie: Dem Tumor das Benzin abdrehen) und daher nicht unbedingt auf die Hormonproduktion der Hoden oder Nebennieren angewiesen sind. Die Pharmaindustrie machte sich also daran, Wirkstoffe zur Blockierung der Tumorzell-eigenen Androgenproduktion zu entwickeln. Mittlerweile sind zwei dieser Wirkstoffe auch in Deutschland zugelassen. Ein Prostatakarzinom ist durch eine Hormontherapie zwar weiterhin nicht heilbar, man erreicht jedoch durch die neuen Hormontherapeutika eine zusätzliche Verzögerung der Tumorprogression und somit eine gute Palliation. Die Überlebenszeitsteigerung, die auf das Konto der neuen Wirkstoffe geht, beträgt etwa drei bis vier Monate; die Kosten für diesen innovativen Therapieansatz belaufen sich auf monatlich mehr als 5.000 Euro. Ob hier der finanzielle Aufwand in einem gesunden Verhältnis zum erbrachten Nutzen steht, ist der eine Aspekt dieser Entwicklung; auf einem anderen Blatt steht die Frage, wieso eine Wirkstoffentwicklung in einem Bereich stattfindet, von dem seit vielen Jahren bekannt ist, dass er nicht zu definitiven Erfolgen im Sinne von Heilung führt (da der Tumor ohne Hormone nur auf kleiner Flamme köchelt, aber nicht verschwindet, und außerdem die Hormonproduktion, die ihn wieder wachsen lässt, dies manchmal sogar selbst bewerkstelligt). Die Antwort auf diese Frage findet man sicherlich in den Managementabteilungen der Pharmakonzerne. Wahrscheinlich konnten derartige Wirkstoffe entwickelt werden, weil das finanzielle Risiko überschaubar blieb. Das Mekka der Innovationen in der klinischen Onkologie ist das jährlich im Mai/Juni stattfindende Meeting der American Society of Clinical Oncology – kurz das ASCO-Meeting. Diese 1964 gegründete amerikanische Mammutgesellschaft mit weltweit über 30.000 Mitgliedern ist die „höchste Instanz“ der klinischen Onkologie. Ihre jährlichen Treffen sprengen die Dimensionen jedes anderen onkologischen Kongresses. Jeder Wissenschaftler, der als Onkologe etwas auf sich und seine Arbeit hält, versucht, seine Neuerungen auf dem ASCO-Meeting zu präsentieren. Nur die besten und innovativsten Arbeiten werden zur Präsentation angenommen. Investmentgesellschaften und Börsianer warten gespannt auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Präsentationen, deren

Veröffentlichung häufig mit einer Nachrichtensperre belegt ist, damit die Aktienkurse nicht vorzeitig beeinflusst werden. Die breite Öffentlichkeit bekommt von diesem weltweit größten onkologischen Meeting allerdings nicht viel mit – was die Isolation der wissenschaftlichen Entwicklungen in diesem wichtigen Bereich unterstreicht. Zusätzlich zum jährlichen Meeting des ASCO trägt auch das Publikationsorgan der Gesellschaft zur Verbreitung von Krebs-News unter Wissenschaftlern bei: das Journal of Clinical Oncology (JCO), die meistgelesene Zeitschrift in der klinischen Onkologie. Nur ausgewählte Artikel mit relevantem Inhalt für alle in der Onkologie tätigen Ärzte werden in diesem monatlich gut 200 Seiten umfassenden Journal veröffentlicht. Seit etwa acht Jahren wird jeweils am Jahresanfang eine Übersichtsarbeit über die signifikanten Neuerungen des vergangenen Jahres veröffentlicht. Aufgeteilt nach Tumorentitäten werden die „Major Advances“ und die „Notable Advances“ (die „wichtigsten“ und die „erwähnenswerten“ Fortschritte der klinischen Onkologie) vorgestellt. Im Übersichtsreferat für das Jahr 2012127, welches am 1. Januar 2013 im JCO veröffentlicht wurde, fanden sich beispielsweise folgende Neuerungen: a) die Bewältigung von Behandlungsresistenzen bei malignen Tumoren durch die Kombination unterschiedlicher zielgerichteter Substanzen (etwa analog zur Entwicklung der Polychemotherapie) und b) die auf genetischen Untersuchungen basierende Erkenntnis, dass es wahrscheinlich keine zwei vollkommen identischen Tumoren gibt – ein neuer Aspekt der Tumormedizin, der das Leitliniengetreue Vorgehen fraglich erscheinen lässt.128 Weiter führt der Bericht aus, dass von der FDA (der amerikanischen Food and Drug Administration) im Jahre 2012 insgesamt sieben Wirkstoffe neu zugelassen und für fünf weitere die Zulassung erweitert wurde. Durch diese insgesamt zwölf Zulassungen stehen nun neue Behandlungsoptionen für insgesamt neun Tumor-entitäten zur Verfügung. In der JCO-Übersichtsarbeit für 2012 (siehe vorige Fußnote) wurden erstmalig in einem Abschnitt mit der Überschrift „Tumorbiologie“ neue Aspekte der Grundlagenforschung beleuchtet, die in den kommenden Jahren wahrscheinlich großen Einfluss auf die klinische Onkologie nehmen werden. Insgesamt ermöglicht die

Lektüre dieser Übersichtsarbeit einen guten Einblick in das gesamte Feld der klinischen Onkologie (und erstmalig auch Ausblicke der Grundlagenforschung), und der Leser hat zusätzlich die Möglichkeit, sich über die Neuerungen einer ihn besonders interessierenden Tumorentität zu informieren. Falls man sich als Laie mit dem „Entziffern“ des wissenschaftlichen Jargons schwer tut, sollte man sich, sofern dies für die Behandlung hilfreich sein könnte, den Abschnitt, der einen betrifft, von seinem Arzt erklären lassen. Ich erwähnte im vorhergehenden Kapitel schon, dass die Entwicklung neuer Wirkstoffe eher selten stattfindet (siehe auch Krebs und unser Gesundheitssystem). Unter den sieben im Jahre 2012 neu zugelassenen Wirkstoffen stellt nur ein einziger eine wirkliche Innovation dar. Hierbei handelt es sich um den Wirkstoff Vismodegib – den ersten zugelassenen zielgerichteten Inhibitor des sogenannten Hedgehog-Signalweges, der eine wichtige Rolle beim Zellwachstum und der DNS-Reparatur spielt. Bei den anderen Neuzulassungen – Axitinib, Pertuzumab, Carfilzomib, Zivafilbercept, Enzalutamid und Regorafenib – handelt es sich um einen Tyrosinkinase-Inhibitor, einen HER-2-Rezeptorblocker, einen Proteasom-Inhibitor, einen VEGF-Inhibitor, ein Zweite-GenerationAntiandrogen und einen weiteren Tyrosinkinase-Inhibitor. Das sind allesamt Wirkkonzepte für die Behandlung maligner Tumoren, welche seit längerem bekannt sind und bereits durch jeweils mehrere zugelassene Wirkstoffe abgedeckt werden. Hier zeigt sich wieder das prinzipielle Vorgehen der profitorientierten Pharmaindustrie, die keine wirklichen Innovationen wagt, sondern in Bereiche investiert, in denen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Zulassung des Wirkstoffes besteht. Andererseits würde sich aber ohne diese Milliarden-investierende Industrie überhaupt kein Fortschritt in der medikamentösen Therapie maligner Tumoren entwickeln, und man kann sicherlich nicht von den Unternehmen verlangen, ihre wirtschaftlichen Konzepte aufzugeben. Deshalb sind vor allem die Gesundheitspolitik und die öffentliche Hand gefragt, finanziell riskante, jedoch definitiv innovative Therapiekonzepte zu fördern und zu entwickeln. Ein

Schulterschluss zwischen Industrie und öffentlicher Hand wäre hier meiner Meinung nach eine zielführende Aktion. Genauso sind aufgeklärte und mündige Bürger gefragt, die derartige Innovationsstrategien einfordern und eine innovationsstrategische Ausrichtung der Wirkstoffentwicklung durch staatlich geförderte Institutionen, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit der Industrie, anstoßen. Welche Innovationen gibt es derzeit in der onkologischen Grundlagenforschung? Das bei weitem spannendste Projekt ist meiner Meinung nach das International Cancer Genom Consortium (ICGC). Ich hatte im Kapitel So funktioniert das Leben bereits das Human Genom Project und das Encode Project erwähnt, die sich beide mit der Entschlüsselung und der Funktionsweise des normalen menschlichen Genoms befassten. Das ICGC ist ein weiteres Folgeproject der HGP, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die krankheitsspezifischen Mutationen im Erbgut der fünfzig häufigsten menschlichen Tumorarten zu identifizieren. Diese Daten werden die Grundlage für weitere Wirkstoffentwicklungen darstellen und die wichtigsten Mutationen unseres Erbgutes, wahrscheinlich unabhängig von den verschiedenen Tumorarten, identifizieren können. Geplant ist, dass die Genome von 500 Tumorproben und 500 Normalproben (Normalgewebe von denselben Patienten, um zufällige genetische Variationen auszuschließen) pro Tumorentität untersucht werden. Bei fünfzig zu untersuchenden Tumorentitäten handelt es sich um die Erforschung von 50.000 Genomen von 25.000 Patienten. Verglichen mit dem einen Genom, welches man im Rahmen des HGP entschlüsseln konnte, eine wahre „Herkulesaufgabe“, wie das Deutsche Ärzteblatt bereits im April 2009 titelte. Über den Fortgang des Projektes, welches seit 2008 läuft und an dem weltweit mehr als fünfzig Forschungsteams beteiligt sind, kann man sich auf der Webpage129 informieren. Im Dezember 2012 waren bereits über 7.300 Tumorproben aus unterschiedlichen Tumorarten erfasst worden. Schon die ersten Untersuchungen im Rahmen des ICGC zeigten eines ganz deutlich: dass die Forscher sich auf nicht erwartete Dimensionen von Genmutationen im Tumorgenom einstellen müssen. Ging man früher von einzelnen genetischen Veränderungen

aus, die bösartiges Wachstum provozieren, weiß man heute von hunderten bis tausenden Mutationen im Gewebe einzelner Tumoren. Eine relevante und zeitaufwendige Aufgabe wird das Erkennen von sogenannten „driver mutations“ sein – also von Mutationen, die immer im Tumorgewebe vorhanden sind und zur Ausbildung des bösartigen Phänotyps (das ist das spezifische bösartige Erscheinungsbild der Tumorzellen) führen – im Vergleich zu den sogenannten „passenger mutations“: Mutationen, die ebenfalls im Tumorgewebe vorhanden, für das bösartige Wachstum aber nicht essentiell sind. Die Relevanz der „passenger mutations“ sollte allerdings insbesondere hinsichtlich der Ausprägung des malignen Phänotyps nicht ignoriert werden. Auch bei den als „gene junk“ bezeichneten DNS-Anteilen (den Switches, siehe So funktioniert das Leben), die heute als wichtige Faktoren für die Genregulation angesehen werden, war es ähnlich: Man hielt sie zunächst für vollkommen irrelevant. Bis zur Fertigstellung dieses ambitionierten Projektes und ganz besonders bis zu einer definitiven Interpretation der Daten werden noch viele Jahre vergehen. Allerdings wird diese sich nach und nach zusammenfügende „Landkarte vom Krebs“ bereits im Laufe ihrer Entstehung Erkenntnisse für zahlreiche neue Ansätze der zielgerichteten Krebstherapien liefern, die eventuell schon in naher Zukunft Leben retten werden. Ein weiterer für die Ursachenbestimmung und Therapieentwicklung bei Krebserkrankungen meiner Meinung nach wichtiger Forschungszweig ist die Stammzellenforschung. In den letzten Jahren hat sich mehr und mehr die Annahme durchgesetzt, dass es auch im Tumorgewebe Stammzellen gibt, in Analogie zu den embryonalen oder adulten Stammzellen – den „Ursprungszellen“ der Organentwicklung und -regeneration. Diese Theorie geht davon aus, dass der bösartige und tödliche Charakter einer Krebserkrankung nicht jeder einzelnen Krebszelle anhaftet, sondern hauptsächlich die Krebsstammzellen charakterisiert. Dieses Konzept könnte allerdings unsere gesamte „Krebsphilosophie“ und auch unsere Bewertungskriterien für das Ansprechen des Tumors auf die verschiedenen Therapien auf den Kopf stellen. Sollte sich die Theorie der Tumorstammzellen bestätigen, müssten Therapien entwickelt

werden, die besonders auf diese Reservezellen des Tumorwachstums zielen. Da man davon ausgehen muss, dass diese Zellen nicht das Gros, sondern eher einen kleinen Teil einer Tumorzellpopulation darstellen, ist ihre Identifizierung in einer Tumorprobe wahrscheinlich überaus schwierig. Es könnte auch passieren, dass z. B. im Rahmen des ICGC-Projektes überwiegend Mutationen von Tumorzellen untersucht werden, die keine Tumorstammzellen sind; dann würden aber nicht jene genetischen oder zellulären Merkmale der Tumorzellen identifiziert werden, auf die es ankommt und die das eigentliche Ziel therapeutischer Entwicklungen sein müssten. Geht man von einer nur kleinen Population von Tumorstammzellen innerhalb eines Tumors aus, müsste man auch in dieser Hinsicht die Einschätzung des Tumoransprechens auf eine Therapie hinterfragen. Bei einer Therapie, die auf die große Menge der – ich nenne sie mal – „Ballasttumorzellen“ zielt, werden wir das „Ansprechen“ des Tumors auf die Therapie anhand der Größenminderung des Tumors (im Falle seiner bildlichen Darstellung) oder am Absinken eines Tumormarkers (im Falle einer Blutprobe) wahrnehmen können. Werden dabei gleichzeitig die eigentlich gefährlichen, jedoch nur in kleinen Quantitäten vorkommenden Tumorstammzellen „mitbehandelt“, ist eine Heilung wahrscheinlich. Werden die Tumorstammzellen nicht mitbehandelt, kommt es zu einem Rezidiv des Tumors aus einem kleinen Tumorstammzell-„Pool“, der sich höchstwahrscheinlich durch weitere Mutationen an die zuvor verabreichte Therapie angepasst hat. Wie sollen dann aber Therapien bewertet werden können? Sollten wir eventuell bereits in der Vergangenheit eine Therapie entwickelt haben, die zwar keine Wirkung auf die Ballasttumorzellen hat, jedoch die Tumorstammzellen behandelt, würden wir das nach unserer jetzigen Definition von Tumoransprechen auf eine Therapie nicht feststellen und die Therapie wahrscheinlich schnell (eventuell zu schnell) wieder absetzen, bevor sie richtig wirken kann, sprich sämtliche Tumorstammzellen auszulöschen vermag. Derartige Überlegungen sollten in die Therapieentwicklungen der Zukunft unbedingt mit einbezogen werden – diesbezüglich muss aber noch sehr viel Grundlagenarbeit geleistet werden.

Insgesamt sieht die Zukunft der Krebstherapieforschung meiner Meinung nach vielversprechend aus, denn wenn man sich die Fortschritte der wissenschaftlichen Grundlagenentwicklung und die zunehmende Anzahl von Therapieangeboten unterschiedlicher Façon in den vergangenen zehn Jahren vor Augen hält, ist eine deutliche Beschleunigung und Diversifizierung der Bemühungen zu verzeichnen. Geht man außerdem davon aus, dass die Ergebnisse der unterschiedlichen Ansätze der wissenschaftlichen Grundlagenarbeit zur Potenzierung der Therapieansätze führt, so sollte die Überführung einer heute noch tödlichen Krebserkrankung in eine chronische Erkrankung (vergleichbar mit HIV bzw. AIDS), die eine regelmäßige Medikation und ihre gelegentliche Anpassung erfordert, in wenigen Jahren möglich und eine letztendliche Kuration zumindest mittelfristig denkbar sein. Hierzu bedarf es aber einer konzertierten Aktion von Politik, Akteuren des Gesundheitswesens, Wissenschaft und Pharmaindustrie, die – wie ich schon dargelegt habe – am ehesten von aufgeklärten Bürgern eingefordert werden kann. 126 testosteronähnliche Substanzen 127 Clinical Cancer Advances 2012: Annual Report on Progress Against Cancer From the American Society of Clinical Oncology, JCO Jan. 1. 2013: 131–161 128 Wir erinnern uns an das schon in der Einleitung und auch im Verlauf des Buches immer wieder beschriebene Wesen von Krebs: Jeder Krebstumor ist absolut individuell und benötigt daher eine individuelle Behandlung. 129 www.icgc.org

7.

Plädoyer für aufgeklärtes und rationales Handeln

Ich hoffe, dem Leser im Rahmen der Möglichkeiten dieses kleinen Buches einen Einblick in das Wesen von Krebs und in die einzelnen Komponenten des Systems, das ihn bekämpft, vermittelt zu haben. Dem Betroffenen muss unbedingt klar sein, dass er an einer schweren Erkrankung leidet, dass er in den meisten Fällen aus mehreren Therapieangeboten wählen kann und dass er zur Zielgruppe eines Milliardenmarktes gehört. Diese Fakten machen es notwendig, dass er sich von wirklichen Experten und Kennern der Materie beraten lässt und aufgrund korrekter Informationen erkenntnisbasierte, rationale und konsequente Entscheidungen trifft. Krebs hat jedoch – worauf ich schon mehrfach hingewiesen habe – (mindestens) drei Komponenten, welche eine rationale Entscheidungsfindung negativ beeinflussen: Krebs ist mit Tod assoziiert – das macht Angst. Krebs ist mit Leid und Schmerz assoziiert – das macht auch Angst. Krebs ist mit nebenwirkungsreichen und gefürchteten Therapien assoziiert (insbesondere die Chemotherapie) – das macht wiederum Angst.

Angst ist ein sehr schlechter Ratgeber. Wie ich schon im Abschnitt Am Anfang steht die Angst in Kap. 2 gezeigt habe, antwortet unser Gehirn auf Gefahr mit einer schnellen und unüberlegten Reaktion – es ist nun einmal so programmiert. Das „Gute“ am Krebs ist, dass es nach der Diagnosestellung keiner Hast oder gar der Einleitung einer Notfallbehandlung – wie etwa beim Herzinfarkt – bedarf. Der Betroffene muss allerdings seine evolutionär geprägten Angst- und Fluchtreaktionen in den Griff bekommen. Er sollte – wie bei jeder sehr wichtigen Lebensentscheidung – verlässliche Informationen einholen und die für ihn und seinen Fall besten Spezialisten/Experten ausfindig machen. Dabei sollte er seine Entscheidungen bei der Auswahl von Beratern und Ärzten sowie der durchzuführenden Diagnostik und insbesondere der anstehenden Behandlung so stringent treffen, dass er ab Beginn der ausgewählten Therapie in eine Einbahnstraße ohne Abzweigungen und ohne Wendemöglichkeit „einfährt“. Am Ende dieser Straße sollte das realistisch eingeschätzte Therapieziel vor dem Hintergrund der in Kauf genommenen Beeinträchtigungen (Nebenwirkungen und Lebenseinschränkungen) stehen. Natürlich steht es einem Betroffenen frei (und ist auch absolut sinnvoll), in diese Einbahnstraße Abzweigungen einzufügen, falls sich die Etappenziele (welche unbedingt definiert werden sollten) nicht in der angestrebten Weise verwirklichen lassen. Auch hierbei sollte er sich schon im Vorhinein festlegen. Der eingeschlagene Weg sollte dann wiederum konsequent begangen werden – mit Unterstützung der ausgewählten Berater. Auf jeden Fall sollte der Betroffene aber zu jedem Zeitpunkt der Behandlung wissen, warum welcher Schritt gegangen wird, und er sollte das Steuer seines Geschicks fest in Händen halten. Hastige, unkontrollierte Lenkbewegungen sind bei dieser Fahrt unbedingt zu vermeiden. Genauso fatal kann die spontane Ernennung weiterer Berater sein, die sich unweigerlich aus der Umgebung des Betroffenen melden, sobald er seine Krebsdiagnose bekannt gibt. „Guten Bekannten“, die an jemanden verweisen, der angeblich besonders viel Ahnung von Krebs hat, ist immer mit Vorsicht zu begegnen.

Wissen und Vorsicht alleine reichen allerdings noch nicht aus. Es sind zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen, wenn die richtigen Entscheidungen an einem so kritischen Wendepunkt des Lebens getroffen werden sollen. Aus dem erworbenen Wissen müssen durch anstrengende Denkleistungen und gegebenenfalls Diskussionen mit den persönlichen Beratern Erkenntnisse hervorgehen. Diese Erkenntnisse sind es, denen wir unser weiteres Handeln und damit unser Schicksal anvertrauen sollten. Wenn wir unser zusammengetragenes Wissen und unsere daraus gezogenen Erkenntnisse allerdings im entscheidenden Moment nicht abrufen können, stehen sie uns praktisch nicht zur Verfügung. Das Wissen um eine notwendige Handlung darf nicht nur ein frommer Wunsch bleiben – es muss in diesem bestimmten Moment zum Willen werden und zum zielgerichteten Handeln führen. Wie der Schweizer Philosoph Peter Bieri in seinem Werk Das Handwerk der Freiheit eindrucksvoll zeigt, besteht ein großer Unterschied zwischen dem Wunsch und dem Willen: Wir haben zu jeder Zeit zahlreiche Wünsche, aber nicht jeder Wunsch wird auch zum Willen. Damit der Wunsch handlungswirksam werden kann, muss der Wünschende eine ungefähre Vorstellung von den Schritten haben, die zu seiner Erfüllung führen. Der Wollende entwickelt die Bereitschaft, all jene Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um das Ziel seines Willens zu erreichen. Oft werden dem Willen von der Realität Grenzen gesetzt, und bestimmte Dinge erweisen sich als nicht durchführbar, aber auch der umgekehrte Fall kommt vor: wenn sich Dinge als machbar erweisen, die zuvor unmöglich erschienen. Die Begrenztheit unseres Willens hat definitiv mit der Begrenztheit unserer Fähigkeiten und unseres Wissens zu tun. Unsere Handlungen sind umso mehr vom eigenen Willen bestimmt, je mehr Fähigkeiten wir haben; diese beruhen aber zu einem großen Teil auf Wissen und den daraus gezogenen Erkenntnissen. Hier schließt sich quasi der Kreis (den ich „Kreis der Aufklärung“ nennen möchte, da ich so viele Parallelen zwischen dem Zeitalter der Aufklärung und dem Thema dieses Buches sehe) – vom Wissen und der Erlangung der notwendigen Erkenntnisse und Fähigkeiten hin zum rationalen, selbstbestimmten Handeln. Willen ist aber immer auch mit positiver Motivation verbunden. Nun gehen uns angenehme, glückbringende Vorhaben erfahrungsgemäß deutlich leichter von der Hand als unangenehme,

gegebenenfalls mit Entbehrung und Schmerz verknüpfte Tätigkeiten. Um das festzustellen, bedarf es nur einer kurzen Betrachtung unseres Alltags. Jeder von uns weiß um die schädlichen Auswirkungen von Fastfood auf unseren Körper. Trotzdem werden an deutschen Imbissbuden täglich Millionen von Currywürsten – am liebsten unter Hinzunahme von Pommes, Majo und Ketchup – mit hohem Genuss verzehrt. Dieses entgegen besserem Wissen gesundheitsschädliche Handeln ist positiv motiviert – es schmeckt einfach. Ganz anders sieht es mit der regelmäßigen körperlichen Ertüchtigung aus, die bekanntermaßen gesundheitsförderlich ist: Frage ich meine Patienten, wie es um ihre sportlichen Aktivitäten steht, ist das Arsenal an Begründungen, warum solche unmöglich im Tages- oder Wochenplan unterzubringen sind, schier unerschöpflich. Verständlich, denn die regelmäßige sportliche Betätigung verlangt Organisation, strengt an und führt eventuell sogar zu Schmerzen in Form von Muskelkater. Dennoch gibt es Millionen unter uns, die sich ein Leben ohne Sport gar nicht vorstellen können – nicht von ungefähr sind es oft dieselben, die einen Bogen um Currywürste machen. Fakt ist, dass auch eine an sich unangenehme Handlung positiv motiviert sein kann, wenn man den Blick nur ein bisschen weiter in die Zukunft richtet – in unserem Beispiel auf einen fitten, gesunden Körper. Wir haben es hier anscheinend mit verschiedenen Sichtweisen zu tun. Für den Currywurstesser besteht die positive Motivation in der geschmacklichen Befriedigung; sein Wissen über den gesundheitsschädigenden Effekt von Fast Food beeinflusst seine Motivation in keiner Weise. Für den Currywurstvermeider ist die positive Motivation die Gesunderhaltung des Körpers, die sogar zu Ekel vor der Wurst führen kann. Sein Wissen ist in seine Motivation eingeflossen und hat seine Sichtweise geändert: Er kann sich unangenehmen oder nicht in derselben Sekunde befriedigenden Handlungen, nämlich dem Verzicht auf die Wurst, unterziehen, weil er ihre langfristigen ungesunden Effekte kennt und buchstäblich über den Tellerrand hinausblickt. Umsetzen von Wissen bedeutet also auch eine Auseinandersetzung mit Motivation und weiter in der Zukunft liegenden Ergebnissen des Handelns.

Als Arzt denke ich in diesem Zusammenhang natürlich auch an Extremsituationen wie die Notwendigkeit einer nebenwirkungsreichen, vielleicht schmerzvollen und eventuell sogar lebensbedrohlichen Krebstherapie, in die ein Betroffener nur dann aus voller Überzeugung einwilligen kann, wenn sie mit positiver Motivation verbunden wird – ein nicht gerade einfaches Unterfangen. Umso fundierter muss die Grundlage seiner Überzeugung sein – dies erfordert intensive Arbeit. Ohne die Erlangung einer positiven Motivation und des festen Willens, gegen die Erkrankung zu kämpfen, wird die Umsetzung der Therapiemaßnahmen nicht gelingen. Jeder Krebsbetroffene hat den Wunsch, gesund zu werden – dieses Ziel erreichen können aber nur jene, die einen handlungswirksamen Willen entwickeln. Den Kampf gegen Krebs willensbestimmt und handlungswirksam aufzunehmen bedeutet Arbeit – anstrengende Arbeit. Das heißt, dass das hier vermittelte Rüstzeug aus Informationen alleine – auch wenn ich versucht habe, sie so klar wie möglich und so umfangreich wie nötig zu formulieren – noch nicht ausreichend ist. Der Betroffene muss positiv motiviert sein, um sein Wissen und seine Erkenntnisse anwenden und rational handeln zu können. Dies ist – unter den Umständen einer Krebserkrankung – extrem schwierig. Kenneth Blanchard, Bestsellerautor und einer der einflussreichsten Kognitionspsychologen weltweit, hat sich ausgiebig mit der Thematik des Umsetzens von Wissen in Handeln auseinandergesetzt. Blanchard beschreibt in seinem ebenfalls knapp gehaltenen Buch Know can do – vom Wissen zum Tun drei Gründe, warum Menschen ihr Wissen nicht umsetzen: 1. wegen der Informationsflut; 2. wegen der negativen Filter; 3. wegen des Mangels an Vertiefung und Nacharbeit. Von diesen Motivationskillern sind auch viele Krebspatienten betroffen. Wie die Informationsflut sie auf ihrem Weg ins Wanken bringen kann? Im Kap. Am Anfang steht die Angst hatte ich über den Fluchtreflex berichtet, der unser Denken gerade angesichts von Extremsituationen wie einer Krebserkrankung stark beeinflussen kann und deshalb zu berücksichtigen und zu kontrollieren ist. Gelingt uns dies und wir wenden uns einer rationalen, auf Wissen basierenden Auseinandersetzung mit unserem Schicksal zu (indem wir unser Schicksal als Aufgabe auffassen), müssen wir uns häufig

auf eine weitere Unwegsamkeit gefasst machen, die unsere Entscheidungsfindung verhindert: Die zu treffende Entscheidung wird aufgrund der Einbildung, man verfüge über zu wenig oder veraltete Informationen, immer wieder aufgeschoben; der Betroffene sucht fieberhaft nach neuen und besseren Informationen, kommt mit dem erhaltenen Wissen zu keinen Erkenntnissen und unterbindet damit sein Handeln – letztendlich setzt er sein Wissen also nicht um. Jeder sollte die Informationsmenge, die er zur Entscheidungsfindung und zum Handeln benötigt, auf ein vernünftiges Maß beschränken. Weniger, dafür aber gut erfasste Informationen sind ausreichend, und dieses Buch ist eine gute Basis für ein fundiertes Krebswissen, das mit einigen weiterführenden Informationen auf den individuellen Tumor „zugeschnitten“ werden kann – Empfehlungen hierzu konnte der Leser in den verschiedenen Kapiteln finden. An zweiter Stelle der handlungsverhindernden Gründe bei Blanchard stehen negative Filter – und gerade bei einem so schwierigen und für gewöhnlich unzugänglichen bzw. tabuisierten Thema wie Krebs ist das negative Denken hinsichtlich der eigenen kognitiven Fähigkeiten vorgezeichnet: Man zweifelt daran, die Krankheit überhaupt verstehen zu können – wie soll sie dann bekämpft werden? Negatives Denken verleitet nicht gerade dazu, sich in die Materie zu vertiefen, und es reduziert auch die Fähigkeit, das erlangte Wissen anzuwenden. Nur durch eine positive Grundeinstellung zu den eigenen Fähigkeiten und den ausgewählten Informationen kann ein Betroffener eventuelle furchtbedingte Handlungshemmungen überwinden. Auch die fehlende Vertiefung des angeeigneten Wissens ist laut Blanchard ein Stolperstein auf dem Weg vom Wissen zur Erkenntnis oder vom Wollen zum Handeln. Mit einem gewissen Informationsfundus, der zum jetzigen Zeitpunkt eine Entscheidung ermöglicht, ist es nämlich nicht getan. Eine Vertiefung des erworbenen Wissens, also eine Nachbereitung der Materie (keinesfalls aber eine lähmende Akquise von mehr und mehr Informationen), verleiht uns die Sicherheit, auch bei eventuell auf unserem Wege auftretenden Komplikationen und Schwierigkeiten die richtige Entscheidung zu treffen. Blanchard hat in seinem Buch ein sehr schönes „Follow-up-Konzept“ erstellt, mit dem man seine

Aufmerksamkeit und Motivation gut kontrollieren kann, was das Umsetzen des Wissens und der erlangten Erkenntnisse sicherlich fördert: „Sag es mir – zeig es mir – lass mich machen – beobachte mich und lobe meine Fortschritte oder bring mich wieder auf Kurs!“ Wobei die kontrollierende Instanz nicht nötigenfalls eine zweite Person sein muss; diese Rolle kann man auch selbst übernehmen. Sollte dem Betroffenen die erfolgreiche Umsetzung von selbstbestimmtem, rationalem Handeln aufgrund von Wissen, Erkenntnissen und positiv motiviertem Willen nicht gelingen – und das ist in seiner Situation keinesfalls eine Besonderheit –, so ist die rechtzeitige Einschaltung einer Beratungsperson (z. B. eines Motivationspsychologen) sehr hilfreich. Eine falsche Entscheidung unter vielen zu treffenden bedeutet zwar einen gewissen Nachteil; nicht getroffene Entscheidungen gefährden jedoch das ganze Projekt – den Sieg über den Krebs. In diesem Sinne sollten sich alle Menschen mit der Entscheidungsfindung im Angesicht dieser immer häufigeren Erkrankung frühzeitig und rational auseinandersetzen und schon jetzt die Rahmenbedingungen für eine unterstützende und zielführende Politik, Medizin und Wissenschaft schaffen. Der Kampf gegen den Krebs darf nicht als medienwirksame Floskel in den Aktenregalen von Politikern und Unternehmern verstauben, sondern muss von allen geführt werden. Kann diese Entwicklung sich durchsetzen, werden aufgrund der ermutigenden wissenschaftlichen Erkenntnisse kurzfristig spürbare Erfolge eintreten. Ich verabschiede mich nun von meinem Leser in der Hoffnung, ihm genügend Wissen zu den verschiedenen Krebserkrankungen zur Verfügung gestellt zu haben, so dass er – sei er nun direkt oder indirekt betroffen – selbstbestimmt agieren kann. Zu einer positiven Motivation seines Handelns habe ich vielleicht auch den einen oder anderen Anstoß geben können. Man kann nicht alles wissen und muss nicht alles verstehen, aber man kann über alles nachdenken und so zu einem Ergebnis kommen. Das Schlimmste wäre, nicht nachzudenken und – als Konsequenz – auch nicht zu handeln. Entscheidungen zum Thema Krebs kann man nur aufgrund von

Wissen auf den unterschiedlichsten Ebenen treffen, und diese komplexen Informationen habe ich in meinem Buch hoffentlich in leicht verständlicher Weise zusammengefasst. Auch auf einer anderen Ebene hoffe ich, mit meinem Buch einen Beitrag zur Optimierung der zukünftigen Krebsforschung im Sinne des Patientenwohles geleistet zu haben: Sowohl mit meiner Analyse des Onkologiemarkts als auch mit meiner Kritik an unserem heutigen Gesundheitssystem habe ich beabsichtigt, eine Verbesserung des Status quo anzuregen, die sehr vielen an Krebs erkrankten Menschen helfen könnte. Die gesellschaftlichen und politischen Anstöße dazu müssen von mündigen Bürgern – also vom Souverän – ausgehen.

Glossar

Die Sprache der Ärzte und Wissenschaftler

Wie jede Berufsgruppe haben auch Mediziner ihre eigene Sprache. Nicht selten als Medizinerlatein bezeichnet, erweist sie sich manchmal tatsächlich als Hürde in der Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten. Ein gewisses Grundverständnis in Bezug auf wichtige Begriffe ist also unabdingbar, wenn man nicht aneinander vorbeireden will. Im Folgenden möchte ich wichtige und häufig verwendete Begriffe erläutern, die in der ärztlichen Praxis im Zusammenhang mit Krebserkrankungen nahezu täglich verwendet werden – wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es ging mir dabei weniger um exakte wissenschaftliche Definitionen als um leicht nachvollziehbare Erklärungen der gebräuchlichsten onkologischen Begriffe. Adjuvant (auch neoadjuvant) Eine adjuvante (von lat. adjuvare = unterstützen) Maßnahme oder Therapie ist eine ergänzende Behandlung. Das Besondere an adjuvanten Maßnahmen ist, dass die Notwendigkeit dieser Therapien nicht nachgewiesen werden kann. Das ist z. B. der Fall, wenn nach der operativen Entfernung eines bösartigen Tumors keinerlei →Metastasen oder →Residuen festgestellt werden können. Die Rechtfertigung einer adjuvanten Therapie basiert in diesen Fällen ausschließlich auf medizinischen Erfahrungen. Wenn

der operierte Tumor sich beispielsweise in einem Stadium befand, in dem 60% der Patienten innerhalb von zwei Jahren Metastasen entwickeln, wird die adjuvante Maßnahme befürwortet, obwohl zum aktuellen Zeitpunkt keinerlei Metastasen vorliegen und bis zu 40% der Patienten übertherapiert werden, weil sie auch ohne adjuvante Therapie keine Metastasen entwickelt hätten. (Die Prozentzahlen sind hier willkürlich gewählt). Der Begriff der neoadjuvanten Maßnahme hat sich für eine prognoseverbessernde Therapie vor der Operation eines bösartigen Tumors eingebürgert. Eine neoadjuvante Strahlen- oder Chemotherapie wird empfohlen, wenn der Arzt aufgrund der prätherapeutischen Diagnostik (dem Staging) den Eindruck hat, dass man den Tumor nur unvollständig operieren kann, oder wenn ein hohes Risiko besteht, dass nach der Operation Metastasen entstehen. Austherapierter Patient In der Onkologie spricht man von einem austherapierten Patienten, wenn die Schulmedizin keinerlei sinnvolle Therapieoptionen mehr bieten kann, also keine therapeutische Maßnahmen, die wissenschaftlich validiert und zugelassen sind. Diesen Patienten wird häufig die Teilnahme an wissenschaftlichen Studien oder eine reine →Supportivtherapie angeboten. Benigne Der Begriff benigne stammt vom lateinischen Wort benignus, was so viel wie „gütig“ oder „freundlich“ bedeutet. In der Onkologie wird der Begriff für die Bezeichnung von gutartigen Tumoren verwendet. Gutartige Tumoren charakterisieren sich insbesondere dadurch, dass sie nicht metastasieren, also keine Tochtergeschwülste absetzen. Biopsie Biopsie ist ein zusammengesetzter Begriff aus den griechischen Wörtern Bios (= Leben) und Opsis (= sehen). In der Medizin wird er als Oberbegriff für die Entnahme einer Probe aus dem lebendigen Körper zur mikroskopischen Untersuchung verwendet. Es gibt

unterschiedliche Arten der Probengewinnung: Das Spektrum reicht von der einfachen Entnahme von Flüssigkeiten durch Absaugen oder Auffangen von Blut oder Urin über das Punktieren von Geweben im Körperinneren mit entsprechend geformten, langen Nadeln (Feinnadelbiopsie, Stanze etc.) bis hin zur operativen Freilegung und direkten Probenentnahme. Proben, die bei einer Biopsie gewonnen werden, können zytologisch (→Zytologie) oder histologisch (→Histologie) untersucht werden und werden dafür vom Pathologen unter dem Mikroskop beurteilt. Doppelhelix Der Begriff Doppelhelix bezeichnet in der Biochemie die im Ruhezustand vorliegende Form der Erbsubstanz DNS. Die menschliche DNS besteht aus langen Ketten von Nukleinsäuren, die durch Phosphatbindungen verbunden sind. Die Anordnung der Nukleinsäuren hintereinander nennt man Primärstruktur. Typischerweise lagern sich zwei sogenannte komplementäre (zueinander passende) DNS-Stränge zu der spiralig verdrillten Doppelhelix zusammen und bilden so die Sekundärstruktur der DNS. Entartet / entdifferenziert Diese beiden Begriffe bezeichnen in der Medizin/Onkologie in der Regel Zellen, die sich in Krebszellen verwandelt haben. Jede Körperzelle hat eine bestimmte Aufgabe, die sie mit einem bestimmten Rüstzeug erfüllt – darin besteht ihre Differenzierung. Aufgrund dieser Differenzierung haben die Zellen – unter dem Mikroskop betrachtet – ein bestimmtes Erscheinungsbild. Geht dieses Erscheinungsbild verloren und die Zelle nimmt untypische und bösartige Charakterzüge an, spricht man von einer Entartung oder Entdifferenzierung. Dabei können die Zellen unterschiedlich stark entarten, sich also mehr oder weniger von der Gestalt der Ursprungszellen entfernen. Dies wird im histologischen Befund (→ Histologie) durch verschiedene Grade der Entdifferenzierung, von G1 bis G4, zum Ausdruck gebracht.

Erhaltungstherapie Ganz allgemein bezeichnet man als Erhaltungstherapie in der Medizin eine Maßnahme – in der Regel die Verabreichung eines Medikaments –, die nach einer Akutbehandlung über längere Zeit (bis zu lebenslänglich) durchgeführt wird, um den Therapieeffekt zu erhalten oder ein erneutes Aufflammen der Erkrankung (in Form eines →Rezidivs) zu verhindern. In der onkologischen Therapie haben sich Erhaltungschemotherapien etabliert, nachdem sich gezeigt hatte, dass es häufig nach erfolgreichem Abschluss einer onkologischen Therapie mit Operation, Bestrahlung und/oder Chemotherapie zu frühen oder auch späteren Rezidiven der Erkrankung kam. Eine Erhaltungstherapie kann kleinere (nicht messbare) Mengen von verbliebenen Tumorzellen in Schach halten oder eliminieren. Zu diesem Zweck werden kleine Dosen eines meist zum Schlucken geeigneten Chemotherapeutikums über einen längeren Zeitraum verabreicht. Evolution Evolution im biologischen Sinne ist die Veränderung und Anpassung der Lebewesen durch die →Mutation vererbter Merkmale und die natürliche Selektion der Merkmalsausprägungen. Weite Verbreitung erlangte die Evolutionstheorie durch den Naturforscher Charles Darwin, der 1859 mit seiner Abhandlung über die „Herkunft der Arten“ die Biologie revolutionierte. Die Evolution funktioniert nach dem Prinzip des Stärkeren und Besseren. Wird eine neue Merkmalsausprägung durch Mutation bestimmter Gene hervorgerufen, wird diese weitervererbt (und bleibt also bestehen), wenn sie dazu führt, dass der Träger dieser Merkmalsausprägung einen Vorteil im Vergleich zu seinen Artgenossen hat, die das Merkmal nicht besitzen. Gibt es keinen Vorteil, so stirbt die neue Merkmalsausprägung aus. Genom Unter Genom versteht man die Gesamtheit aller Erbanlagen, also die genetische Information eines Organismus. Sie ist in einem vollständigen Chromosomensatz im Zellkern jeder Zelle des

Organismus enthalten. Das Genom besitzt Erbinformationen über den Aufbau, die Entwicklung sowie die physiologischen Prozesse eines Lebewesens. Beim Menschen besteht die Erbinformation aus insgesamt 46 Chromosomen, in denen ca. 20.300 Gene enthalten sind. Histologie Die Histologie (Gewebelehre) ist die Lehre von biologischen Geweben. Der Begriff leitet sich von den griechischen Wörtern Histos = Gewebe und Logos = Lehre ab. Die Histologie ist ein Teilgebiet der Anatomie (die Wissenschaft von den gesunden Strukturen des Körpers) und der Pathologie (die Wissenschaft von den kranken Strukturen des Körper) und befasst sich mit dem mikroskopischen Aufbau und der Struktur der gesunden sowie der kranken Gewebe. Hierzu werden die Gewebe in hauchdünne Scheiben geschnitten und nach unterschiedlichen Anfärbungen unter dem Mikroskop betrachtet und bewertet. In der Medizin und im Ärztejargon versteht man unter dem Begriff Histologie in der Regel den histologischen Befund einer Untersuchung. Das bedeutet, dass Gewebeproben, welche dem Patienten durch eine Biopsie oder Operation entnommen wurden, histologisch beurteilt werden. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird dem Patienten dann als histologischer Befund, pathologischer Befund oder „Befund aus der Pathologie“ berichtet. Indikation Der Begriff Indikation leitet sich vom lateinischen Wort indicare = anzeigen ab. Das ärztliche Handeln bedarf immer einer zugrundeliegenden Indikation. Dies ist eines der Grundprinzipien der Medizin, wobei ein bestehender Befund oder eine Krankheit traditionsgemäß mit einem bestimmten Vorgehen verknüpft ist. Das Vorgehen kann entweder in einer weiteren Abklärung (also einem Diagnostikprogramm) oder in einer Behandlung (also einer Therapie) bestehen. Beispiel: Ein Patient kommt mit Fieber und Husten zum Arzt (diese Befunde werden in der Regel durch die Anamnese erhoben). Aufgrund dieser Informationen besteht noch keine Indikation zur Therapie, denn es ist noch nicht eindeutig

geklärt, was diese Symptome auslöst. Es besteht also zunächst die Indikation zur weiteren Diagnostik. Diese Diagnostik kann z. B. im Abhorchen (Auskultieren) der Lungen, der Entnahme eines Rachenabstriches und der Anfertigung eines Röntgenbildes der Lungen bestehen. Je aufwendiger und für den Patienten belastender die diagnostischen Maßnahmen werden (z. B. Strahlenbelastung durch die Röntgenuntersuchung), desto „enger“ (genauer) muss die Indikation zu diesen Untersuchungen gestellt werden. Erbringt die durchgeführte Diagnostik den Krankheitsbefund einer Lungenentzündung (Pneumonie), besteht die Indikation zur Antibiotikatherapie. Vom Patienten sollte die zugrundeliegende Indikation zu bestimmten Maßnahmen, seien sie diagnostischer oder therapeutischer Natur, grundsätzlich verstanden und nötigenfalls hinterfragt werden. Induktionstherapie Induktion leitet sich von dem lateinischen Wort Induktio = Einführung ab. Die Induktionstherapie ist ein Konzept der onkologischen Behandlung, das häufig im Rahmen einer Chemotherapie verwendet wird. Hier bedeutet Induktionstherapie eine einleitende Chemotherapie, die darauf abzielt, den Großteil der Tumorzellen durch eine möglichst aggressive Therapie zu vernichten. Daran schließt sich häufig eine sogenannte Konsolidierungstherapie an, welche die restlichen Tumormengen vernichten soll. Bei einigen Krebserkrankungen hat sich zur Verbesserung des Therapieeffektes eine langfristige Weiterführung der chemotherapeutischen Behandlung in Form der Erhaltungstherapie (siehe oben) bewährt. Invasiv Invasiv leitet sich vom lateinischen Begriff invadere = eindringen ab. Der Begriff hat in der Medizin zwei Bedeutungen: 1. Im ärztlichen und medizinischen Sprachgebrauch werden sämtliche Maßnahmen, welche den Patienten beeinträchtigen, sei es in Form von Schmerz, Risiko und/oder Nebenwirkungen, als invasiv bezeichnet. Generell kann man davon ausgehen, dass jede ärztliche

Maßnahme mit einer gewissen Invasivität verbunden ist. Es ist jedoch grundsätzlich zwischen einer Blutabnahme, die (zumindest für Erwachsene) nur eine geringe Invasivität in Form von Schmerz, Infektionsgefahr und möglicher Hämatomentwicklung (als blauer Fleck erkennbar) darstellt, und einem operativen Eingriff, der unter Umständen lebensbedrohlich sein kann, zu unterscheiden. Im ärztlichen Sprachgebrauch gehen als invasiv bezeichnete Maßnahmen in der Regel mit einer deutlichen Beeinträchtigung einher. In diesem Sinne gibt es keine allgemeingültige Definition von „invasiv“. Daher ist das, was vom einzelnen Arzt als „invasiv“ bezeichnet wird, sehr relativ und individuell zu betrachten. Stärker invasive Maßnahmen bedürfen einer Aufklärung und Zustimmung des Patienten. 2. Invasiv bezeichnet auch das Wachstumsverhalten von Tumoren, wenn diese infiltrierend in ihre Umgebung einwachsen. In der Regel wird ein invasives Wachstumsverhalten nur bei bösartigen Tumoren gefunden; gutartige Tumoren wachsen im Vergleich dazu meistens verdrängend, d. h., sie verdrängen das umliegende Gewebe nur, infiltrieren es aber nicht. Gelegentlich sprechen die Ärzte auch von der Invasivität eines Tumors im Sinne von ausgeprägter Bösartigkeit. Ist ein Tumor sehr invasiv, ist er also sehr bösartig. Kurativ / Kuration Kurativ oder kurieren leitet sich vom lateinischen Wort curare = pflegen ab. In der Medizin wird eine Therapie als kurativ bezeichnet, wenn davon ausgegangen wird, dass nach Beendigung der Therapie eine vollständige Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten (restitutio ad integrum) eintritt, der Patient also von der Krankheit geheilt ist und keine Beeinträchtigungen davonträgt. Neben kurativen Therapien gibt es chronische Therapien (d. h., dass der Patient einer dauerhaften Behandlung bedarf, wie beispielsweise der langfristigen Medikamenteneinnahme bei Bluthochdruck) oder palliative Therapien (mit dem Ziel der Verbesserung der bestehenden Situation, der Lebensverlängerung sowie der Lebensqualitätsverbesserung). Chronische und palliative Therapien haben keinen kurativen Effekt.

Latente Tumoren / Tumordormancy Latent leitet sich vom lateinischen Wort latere = verborgen sein ab. In der Tumormedizin wird dieser Begriff für Tumoren, welche kein aktives Tumorfortschreiten erkennen lassen, verwendet. Latente Karzinome werden sehr häufig als Zufallsbefunde nach dem Tod eines Individuums (aus anderem Grund) bei der Autopsie (offenen Leichenschau) entdeckt. Latente Tumoren stellen ein großes Problem in der heutigen Tumormedizin dar. Aufgrund der sehr feinen Diagnostikinstrumente (Tumormarker, Magnetresonanztomographie etc.) ist die heutige Medizin in der Lage, auch kleine und kleinste Tumoren zu finden. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass man bei Autopsiestudien (auch bei sehr jungen Menschen) oft bösartige Tumoren findet, ohne dass es zu einer Erkrankung gekommen wäre. Daher muss man davon ausgehen, dass bösartige Tumoren nicht in jedem Fall zu einer Erkrankung mit Lebensgefährdung führen. Der englische Begriff Tumordormancy bezeichnet hingegen das unterschiedlich lange „Einschlafen“ eines Tumors. Häufig findet man ein solches Verhalten bei Mammakarzinomen, die teilweise jahrzehntelang keinerlei Progression (Fortschreiten) zeigen und plötzlich – inklusive →Metastasen – „explodieren“. Die Identifikation der Mechanismen von Tumorlatenz und Tumordormancy gehören zu den wichtigsten wissenschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Leitlinien Insbesondere in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren orientiert man sich in der Medizin sowohl in der Diagnostik als auch bei der Behandlung von Patienten an Leitlinien, die den aktuellen, strukturierten Wissensstand zu einem gewissen Thema beinhalten. Dieses Vorgehen ist in erster Linie dem enormen medizinischen Wissenszuwachs der vergangenen Jahrzehnte geschuldet. Die Leitlinien erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind auch nur in gewissem Maße als topaktuell zu bezeichnen. Höhere Priorität als die genaue Befolgung einer Leitlinie hat immer die individuelle Behandlung eines Patienten durch den Arzt. Dieser sollte sich aber bei der Behandlung des Patienten an den Leitlinien orientieren. Im onkologischen Bereich existieren diagnostische und

therapeutische Leitlinien zu den meisten (auf jeden Fall zu den häufigen) Tumorerkrankungen. In Deutschland werden sämtliche medizinischen Leitlinien von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. verwaltet und publiziert. Alle Leitlinien sind kostenfrei auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft einsehbar (www.awmf.org). Lymphatisch Lymphatisch heißt „das lymphatische System betreffend“, nach dem griechischen Wort lymphe = klares Wasser, womit in der Medizin eine bestimmte Körperflüssigkeit gemeint ist, die als Gewebewasser bezeichnet wird. Das lymphatische System gliedert sich in die lymphatischen Organe (Thymus, Knochenmark, Milz, Lymphknoten, Tonsillen = Mandeln etc.) und das Lymphgefäßsystem (ein im Körper verzweigtes Gefäßsystem, ähnlich dem Blutgefäßsystem). Die Aufgaben dieses Systems bestehen in erster Linie im Transport von Gewebeflüssigkeit und der Abwehr innerer und äußerer Krankheitserreger. Spricht der Mediziner von lymphatisch, so meint er Befunde und Erkrankungen, die von diesem System ausgehen. Ein weites Feld der onkologischen Erkrankungen dieses Systems sind die Lymphome (Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphome) und die lymphatischen Leukämien (z. B. die akute lymphatische Leukämie). Maligne Die Bezeichnung maligne leitet sich vom lateinischen Wort malignitas = Bösartigkeit ab. In der Medizin wird der Begriff im Allgemeinen für aggressive, häufig lebensbedrohliche Erkrankungen verwendet – die maligne Hypertonie ist beispielsweise eine schwere Verlaufsform der Blutdruckerhöhung; die maligne Hyperthermie eine lebensbedrohliche Narkosekomplikation, bei der es zu einer Überwärmung des menschlichen Körpers kommt. In der Onkologie wird der Begriff maligne praktisch immer für einen bösartigen Tumor (gelegentlich auch als Malignom bezeichnet) verwendet. Alle Äußerungen des Arztes – wie zum Beispiel malignes Verhalten, maligne Wachstumsform, malignes Potential etc. – beziehen sich dabei auf das bösartige Verhalten dieser potentiell lebensbedrohlichen Tumoren.

Metastasen / Fernmetastasen Metastase ist ein aus den griechischen Worten meta = weg und stella = Ort zusammengesetzter Begriff, im Sinne von „Weggehen an einen anderen Ort“. In der Onkologie bezeichnet der Begriff Metastase (auch als Tochtergeschwulst, Absiedelung, Focus, Rundherd oder Filiarisierung bezeichnet) das ureigenste Malignitätskriterium und häufig zum Tode führende Charakteristikum von Krebs: die Ausbreitung des bösartigen Tumors von seinem Entstehungsort (Primärtumor) aus in den gesamten Körper. Dies geschieht zumeist in Form von Lymphknoten-, Knochen- oder Organmetastasen (z. B. in Leber oder Lunge). Das Vorhandensein von Metastasen zeigt immer eine fortgeschrittene, bei den meisten Tumorarten nicht mehr (oder nur selten) kurativ behandelbare Tumorerkrankung an. Metastasen können zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Tumorerkrankung auftreten. Bei gleichzeitigem Auftreten von Primärtumor und Metastasen spricht man von einer synchronen Metastasierung (auch Frühmetastasierung), beim Auftreten von Metastasen nach Behandlung des Primärtumors handelt es sich um eine metachrone (oder verzögerte) Metastasierung. Kommt es Jahre oder sogar Jahrzehnte nach einer Tumorbehandlung zum Auftreten von Metastasen, spricht man von einer Spätmetastasierung. Die Entstehung von Metastasen basiert auf der Tatsache, dass ein bösartiger Tumor aus einem lockeren Zellverband besteht, sodass sich einzelne oder kleine Verbände dieser Zellen – wenn sie Anschluss an das Lymph- oder Blutgefäßsystem haben – über diese Bahnen im ganzen Körper verbreiten können. Wahrscheinlich sind nur wenige Zellen eines bösartigen Tumors zur Metastasierung befähigt und brauchen dazu ganz bestimmte Voraussetzungen. Daher ist die Annahme, ein bösartiger Tumor könne sich aufgrund von bestimmten Manipulationen – wie einer →Biopsie oder Operation – im Körper verteilen, wissenschaftlich nicht haltbar. Morbus Morbus ist das lateinische Wort für Krankheit. Im medizinischen Sprachgebrauch wird es zur Bezeichnung bestimmter Erkrankungen verwendet – etwa Morbus Basedow, eine Schilddrüsenerkrankung, die nach ihrem Erstbeschreiber, dem Arzt Carl von Basedow,

benannt wurde. Viele Krankheiten haben neben ihrer „Morbus + Eigennamen“-Bezeichnung, die der Ehrung eines verdienten Arztes dient, auch einen lateinischen Namen – der Morbus Basedow z. B. ist eine „Autoimmunthyreoiditis“. Gelegentlich wird der Ausdruck Morbus auch mit einem beschreibenden lateinischen Wort, welches ein Charakteristikum der Erkrankung benennt, verwendet – so z. B. ist Morbus caducus (caducus = lateinisch für Fallsucht) die selten verwendete Benennung der Epilepsie-Erkrankung. Mutagenität Mutagenität bezeichnet die Fähigkeit einer Substanz, einer Strahlung oder eines sonstigen Einflusses, eine Veränderung (→Mutation) am Erbgut (der DNS) hervorzurufen. Mehr dazu unter Mutation. Mutation Mutation kommt von lateinisch mutare = ändern und bezeichnet im medizinischen und biologischen Bereich eine Veränderung des Erbgutes (speziell der DNS). Die Mutation ist eines der Grundprinzipien der →Evolution, welches die Veränderungen von genetisch festgelegten Merkmalen ermöglicht. Im ungünstigen Fall führt eine (oder zumeist mehrere) Mutation(en) aber auch zur Entwicklung von Krankheiten wie Krebs und bestimmten Fehlentwicklungen, die häufig durch eine Mutation der Keimzellen (Ei oder Spermium) hervorgerufen werden, etwa beim Downsyndrom (Trisomie 21). Mutationen unseres Erbgutes passieren wahrscheinlich täglich. Nicht jede Mutation führt jedoch zu relevanten Veränderungen oder einer Erkrankung; sicherlich gibt es wesentlich häufiger komplett unauffällige Mutationen in unserem Erbgut (sogenannte stille Mutationen). Komplexe Erkrankungen wie Krebs gehen zumeist mit einer Vielzahl unterschiedlicher Mutationen in der Erbsubstanz der Tumorzellen einher. Myeloisch

Griechisch myelos = Mark, womit das Knochenmark gemeint ist. Das Knochenmark ist ein Organ, das einen Großteil unserer Knochen ausfüllt. Es dient im Wesentlichen zur Produktion von Blut- und Abwehrzellen. Das →lymphatische Gewebe ist ebenfalls ein Teil dieses Organs. Als myeloische Zellen des Knochenmarks werden alle Zellen bezeichnet, die nicht dem lymphatischen Anteil zugerechnet werden. Der Stammzelltheorie entsprechend gibt es eine myeloische Stammzelle, die sich über bestimmte Zwischenstadien letztendlich in die Granulozyten (bestimmte Abwehrzellen), Monozyten (ebenfalls ein bestimmter Typ von Abwehrzellen), Erythrozyten (die roten Blutkörperchen für den Sauerstofftransport) und Thrombozyten (die Blutplättchen der Blutgerinnung) ausdifferenziert. Naiv Als naiv wird ein Mensch bezeichnet, wenn er von einfachem Gemüt und gutgläubig ist. Naiv kommt vom französischen Wort naif, was so viel wie einfach und ursprünglich bedeutet. Im medizinischen Sprachgebrauch wird das Wort naiv in der Bedeutung „ursprünglich“ verwendet. Ein Tumor, der bezüglich eines gewissen Merkmals (z. B. einer Therapie) als naiv bezeichnet wird, befindet sich also noch in seinem ursprünglichen Zustand. Man spricht z. B. von einem Chemotherapienaiven Tumor bei einem Patienten. Das bedeutet, dass der Tumor bei diesem Patienten noch nicht mit einer Chemotherapie behandelt wurde. Neuroendokrin Neuroendokrin bedeutet wörtlich übersetzt „Nerven und Hormondrüsen betreffend“. Das neuroendokrine System ist ein kompliziertes Signalsystem, das über den gesamten menschlichen Körper verteilt ist und so seine Aufgaben wahrnimmt. Zum neuroendokrinen System gehören das Gehirn mit dem peripheren Nervensystem und zahlreiche Hormondrüsen wie die Hirnanhangsdrüse, die Schilddrüse, die Nebennieren, die Bauchspeicheldrüse und die Eierstöcke bzw. Hoden. Zusätzlich befinden sich einzelne neuroendokrine Zellen als kleine Verbünde in den Wandungen vieler Organe. Als Beispiel seien hier neuroendokrine Zellen in der Darm- und Magenwand erwähnt, die

bestimmte Reize wahrnehmen und darauf mit der Ausschüttung von Botenstoffen (Hormonen, Neurotransmittern) reagieren, die zu bestimmten Anpassungen der Organfunktion an den aufgenommenen Reiz führen. Das neuroendokrine System kann auch zur Bildung bösartiger Tumoren (NET – neuroendokrine Tumoren) führen, die in der Regel sehr aggressiv und schwer zu behandeln sind. Okkult Das Wort okkult leitet sich vom lateinischen Wort occultus = „geheim, verborgen“ ab. In der Medizin wird der Begriff zumeist für die Bezeichnung einer versteckten, jedoch aktiven und fortschreitenden Erkrankung (im Gegensatz zu latent oder dormant, siehe oben) verwendet. Hiermit ist eine zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht bemerkbare Metastasenausbreitung des diagnostizierten Tumors gemeint. Aufgrund einer okkulten Metastasierung kann es bei Tumoren, die primär mit kurativer Absicht behandelt wurden, zu einer metachronen (verzögerten) Metastasenbildung (→Metastasen) kommen. Off-lable-use Off-lable-use kommt aus dem Amerikanischen und bedeutet „Verwendung außerhalb der Kennzeichnung“. In der Medizin ist damit die Verwendung von Arzneimitteln außerhalb der Zulassungsindikation gemeint. Der „Off-lable-use“ ist prinzipiell (gerade bei lebensbedrohlichen Krebserkrankungen) möglich, bedarf allerdings einer formellen Genehmigung durch die Krankenkassen, damit die Finanzierung der Wirkstoffe und Behandlungskosten durch die gesetzliche (und häufig auch die private) Krankenversicherung gewährleistet ist. Diese Genehmigungsverfahren sind meistens langwierig und aufwendig. Von der Verordnungsfreiheit her ist der Arzt nicht an die Zulassungsindikationen gebunden; die Einschränkungen beim Offlable-use beziehen sich einzig und allein auf die Finanzierung des Medikaments. Allerdings muss der Arzt, wenn er ein Arzneimittel

außerhalb der Zulassungsindikation bei einem Patienten anwenden will, den Patienten über diesen Sachverhalt informieren und dessen explizite Genehmigung einholen. Wegen möglicher Regressandrohungen vonseiten der Kassen (wenn diese berechtigt sind, muss der Arzt die Kosten der Arzneiverordnung tragen) besteht – unter den aktuellen Bedingungen unseres Gesundheitssystems – bei den Ärzten nicht besonders viel Bereitschaft, sich außerhalb der Zulassungsindikationen zu bewegen. Palliativmedizin Nach der offiziellen Definition der Weltgesundheitsorganisation befasst sich die Palliativmedizin mit der aktiven, ganzheitlichen Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung, weil die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Linderung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt. Heutzutage umfasst das palliativmedizinische Netzwerk in Deutschland Einrichtungen zur palliativmedizinischen Versorgung (in der Regel sind das Palliativstationen in Krankenhäusern), ambulante Versorgung (häusliche Pflege durch ambulante Anbieter und ambulante Einrichtungen in Praxen und Krankenhäusern) und Hospizversorgung (stationäre Sterbeeinrichtungen). Angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft und der weitgehenden Abkehr der Gesellschaft von generationsübergreifenden Wohngemeinschaften mit Pflegeunterstützung (wie es zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch üblich war), sind die derzeitigen palliativmedizinischen Kapazitäten überlastet. Die Entwicklung der Palliativmedizin in den letzten Jahren in Deutschland ist durchaus positiv zu werten, allerdings werden noch zahlreiche zusätzliche Einrichtungen und insbesondere Personal benötigt. Progressionsfreies Überleben Das progressionsfreie Überleben bezeichnet die Zeitspanne, die nach der Einleitung einer bestimmten Therapie das Fortschreiten der Erkrankung verhindert. Es handelt sich gleichzeitig um ein

Instrument zur Bewertung von Therapieeffekten. Das Fortschreiten der Erkrankung wird dabei durch an die jeweilige Tumorerkrankung angepasste Beobachtungen beurteilt, z. B. die Vermehrung und/oder Vergrößerung von → Metastasen im Röntgenbild, der Anstieg eines Tumormarkers oder die Zunahme von klinischen Symptomen (z. B. Schmerzen). Für die Beurteilung der Progression im Rahmen von Studien sind genaue Definitionen festgelegt. Wenn z. B. eine Metastase im Röntgenbild um mehr als 25% an Größe zunimmt, spricht man von einem Progress. Das progressionsfreie Überleben ist häufig nur von akademischem – also wissenschaftlichem – Interesse, da es nicht nötigenfalls mit einer Verbesserung der Gesamtüberlebenszeit einhergeht (= die Zeit, die von der Einleitung einer Therapie bis zum Tode des Patienten – egal aus welchem Grund – vergeht). Es kann also passieren, dass durch eine Therapie das progressionsfreie Überleben der Patienten (gegenüber den Patienten der Kontrollgruppe) von drei auf sechs Monate gesteigert wird, dass jedoch alle Patienten nach neun Monaten versterben (Therapiegruppe und Kontrollgruppe). Für einen Patienten ist die Steigerung des Gesamtüberlebens zumeist der wichtigere und aussagefähigere Befund. Mit einer Steigerung des progressionsfreien Überlebens kann (muss aber nicht) auch eine Verbesserung der Lebensqualität in der Zeitspanne der Progressionsfreiheit verbunden sein, was durchaus positiv zu bewerten ist. Residuum / Residuen Bei einem Residuum (häufiger wird die Mehrzahl „Residuen“ verwendet) handelt es sich um Restbefunde nach einer Therapie. Nach einer chirurgischen Therapie kann beispielsweise ein Überbleibsel des operierten Tumors im Operationsfeld (Tumorresiduum) verbleiben. Man spricht in diesem Fall von einem nicht „in sano“ (nicht komplett) entfernten Tumor. Tumorüberbleibsel nach einem chirurgischen Eingriff können auch von mikroskopischer Größe sein. Dies wird dann im histologischen bzw. pathologischen Bericht als R1-Befund (Befall der Resektionsränder des Präparates mit Tumorgewebe) dargestellt. Auch nach Bestrahlungs- und Chemotherapien kann es zu

Überbleibseln von Primärtumoren und/oder → Metastasen kommen. Hierbei spricht man dann von einer nur partiellen Remission (ein nur teilweises Ansprechen des Tumors auf die Therapie). Sind die Tumorherde durch eine Therapie vollkommen verschwunden, spricht man von einer kompletten Remission. Resistenz Der Terminus Resistenz leitet sich vom lateinischen Wort resistentia = Widerstand ab. Im medizinischen und onkologischen Sprachgebrauch ist hiermit zumeist ein Nichtansprechen eines Tumors oder seiner → Metastasen auf eine Bestrahlungs- oder medikamentöse Therapie gemeint. Im allgemeinmedizinischen Bereich wird z. B. ein Nichtansprechen von Bakterien auf Antibiotika als Antibiotikaresistenz bezeichnet. Die Entwicklung von Tumorresistenzen gegen zunächst wirksame Therapiemaßnahmen stellt eine der größten Herausforderungen der onkologischen Therapien dar. Die Entstehung von chemotherapieresistenten → Rezidiven ist jener Aspekt einer Tumorerkrankung, der am häufigsten zum Tode des Patienten führt. Rezidiv Der Begriff Rezidiv rührt von dem lateinischen Wort recidere = zurückfallen her. Von einem Rezidiv spricht man, wenn ein primär erfolgreich behandelter Tumor oder → Metastasen eines Tumors nach einer gewissen Zeit erneut auftreten. Rezidive werden z. B. nach ihrem Entstehungsort in Lokal- oder Fernrezidive (am Ort der vorhergehenden Tumor- oder Metastasenmanifestation bzw. an anderer Stelle auftretende Rezidive) eingeteilt. Unter zeitlichem Aspekt unterscheidet man zwischen Früh- und Spätrezidiven (wenige Wochen bis Monate nach Therapieabschluss bzw. bis Jahrzehnte nach der Primärtherapie auftretende Rezidive). Auch die Art, wie ein Rezidiv erkannt wird, kann sehr verschieden sein; dementsprechend spricht man von biochemischen Rezidiven (die durch einen Anstieg eines Tumormarkers im Blut nachgewiesen werden), röntgenologischen Rezidiven (die Tumormanifestationen sind im Röntgenbild sichtbar), klinischen Rezidiven (z. B. durch

Ertasten erkennbar) oder histologisch gesicherten Rezidiven (der Rezidivbefund wurde durch eine Biopsie und eine histologische Untersuchung gesichert). Für einen Rezidivbefund gilt das Gleiche wie für einen Primärtumor: Eine gesicherte Diagnose hat man erst nach dem histologischen Befund. Alle anderen Rezidivformen sind Verdachtsbefunde (Ärzte sprechen in diesem Fall vom Verdacht auf ein Tumorrezidiv), welche durch → Biopsie und → Histologie erst gesichert werden müssen. Supportivtherapie Der Terminus supportiv kommt aus dem Englischen und bedeutet unterstützend. Die Supportivtherapie im onkologischen Bereich ist ein wichtiger Aspekt der Behandlung von Tumorpatienten, der sämtliche Maßnahmen umfasst, die nicht der direkten Tumorzellvernichtung dienen. Im Amerikanischen spricht man von „Best Supportive Care“ (BSC), also von der bestmöglichen unterstützenden Therapie. Eine BSC kann verschiedene Ziele haben: Die Voraussetzungen für die Durchführbarkeit einer onkologischen Therapie sollen hergestellt oder verbessert werden; die Nebenwirkungen der zumeist sehr toxischen onkologischen Therapie sollen vermindert werden; die Lebensqualität der Patienten soll verbessert oder erhalten werden; Krankheitssymptome sollen reduziert werden. Insgesamt führen all diese Maßnahmen, obwohl sie nicht direkt den Tumor behandeln, zu einer Verbesserung der Prognose der Tumorerkrankung. In Deutschland wird zurzeit daran gearbeitet, alle Maßnahmen der Supportivtherapie innerhalb einer Leitlinie abzubilden. Da die Themenvielfalt der Supportivtherapie nahezu unbegrenzt ist, hat man sich auf zehn Punkte geeinigt, die im Rahmen dieser Leitlinie dargestellt werden sollen, und zwar: 1. Tumortherapie-induzierte (hervorgerufene) Anämie (Blutarmut) 2. Antiemese (die Bekämpfung von Erbrechen) 3. Granulopoetische Wachstumsfaktoren (Wirkstoffe zur Verhinderung Leukozytenarmut) 4. Hauttoxizität 5. Schleimhauttoxizität 6. Tumortherapie-induzierte Diarrhoe (Durchfälle) 7. Periphere Neurotoxizität (Nebenwirkungen an den peripheren Nerven)

einer

8. Ossäre Komplikationen (Knochennebenwirkungen) 9. Supportive Maßnahmen in der Radioonkologie (Bestrahlungstherapie) 10. Paravasate (unbeabsichtigtes Eindringen von Chemotherapie ins Gewebe)

Systemische Erkrankung / Tumorerkrankung In der Onkologie versteht man unter einer systemischen Erkrankung, dass die Tumorlast (also die Gesamtmenge der Tumorzellen) sich nicht mehr allein auf das Ursprungsorgan des Tumors – sei es der Darm, die weibliche Brust oder die Prostata – beschränkt, sondern sich in Form von →Metastasen über die Organgrenzen hinaus im Körper verteilt hat. Wenn der Arzt von einer systemischen Erkrankung spricht, handelt es sich immer um eine fortgeschrittene Tumorerkrankung. Etwas schwieriger wird die Definition einer systemischen Erkrankung im Falle sogenannter liquider (flüssiger) Tumoren, nämlich der Leukämien, die ja zumeist bereits in der einfachen Blutabnahme nachweisbar sind. Hier muss man per se davon ausgehen, dass sich der Tumor zum Zeitpunkt der Diagnose über den ganzen Körper ausgebereitet hat. Der Entstehungsort einer Leukämie ist dabei zumeist das blutbildende Knochenmark. TNM-System Das TNM-System ist eine international gültige Stadieneinteilung maligner Tumorerkrankungen. Diese Klassifikation wird seit 1950 von der Union internationale contre le cancer (UICC) herausgegeben und laufend erweitert. Basierend auf den zum Großteil statistisch erhobenen Daten können Voraussagen hinsichtlich der Prognose einer Krebserkrankung gemacht werden. Häufig werden therapeutische Konzepte der Krebserkrankungen an den TNMStadien ausgerichtet. TNM steht für: Tumor – Einteilung in z. B. T1, T2, T3 und T4; die angegebene Zahl beschreibt die Ausdehnung und das Verhalten des Primärtumors; Nodes (Knoten) – Einteilung in z. B. N0, N1, N2; hier wird das Vorhandensein oder Fehlen von regionären Lymphknotenmetastasen anhand einer Zahl angegeben; →Metastasen – Einteilung in z. B. M0, M1; hierbei besagt M0, dass keine Metastasen vorhanden sind, M1 beschreibt den erfolgten Nachweis von Fernmetastasen. Tx, Nx und Mx beschreiben jeweils

einen nicht klärbaren Befund. Das bedeutet, dass zu dem Zeitpunkt der Erstellung der TNM-Diagnose nicht mit Sicherheit gesagt werden konnte, ob z. B. Lymphknotenmetastasen vorliegen. Tumorentität Das Wort Entität leitet sich vom lateinischen Ausdruck entitas = seiend ab. Häufig wird der Begriff Entität in der Philosophie für die Beschreibung des Wesens einer Sache verwendet. In der Onkologie wird der Begriff Tumorentität in erster Linie zur Eingrenzung verwendet: Um welche Tumorentität handelt es sich? Die Antwort auf diese Frage sollte eine genaue Beschreibung des Charakters und Wesens der Tumorerkrankung sein – im Idealfall unter Einbeziehung der Dignität (gutartig oder bösartig), der →Histologie und des Tumorstadiums. Zytologie Der Ausdruck Zytologie leitet sich vom griechischen Wort kytos = Höhlung = Zelle ab. Die Zytologie ist eine vom Pathologen erarbeitete Bewertung von einzelnen Zellen bzw. kleinen, lockeren Zellverbänden, die der Diagnosefindung dient. Der Zytologie übergeordnet ist die →Histologie als diagnostische Beurteilung von Geweben. Obwohl in der Tumordiagnostik ein histologischer Befund notwendig ist, kann auch die Zytologie gute Dienste bei der Früherkennung von Krebserkrankungen leisten und z. B. zur Abgrenzung von Entzündungen herangezogen werden (wie etwa bei der zytologischen Untersuchung eines Abstrichs vom Gebärmutterhals zur Früherkennung des Gebärmutterhalskarzinoms).

Bibliographie

Bücher, die Das kleine Buch vom Krebs inspiriert haben

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