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English Pages [487] Year 2012
FICHTE-STUDIEN
- 978-94-012-0860-4
FICHTE-STUDIEN Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie
Band 36
Begründet von Klaus Hammacher, Richard Schottky (†) und Wolfgang Schrader (†) im Aufrage der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaf herausgegeben von Marco Ivaldo (Neapel) Hartmut Traub (Mülheim an der Ruhr)
in Zusammenarbeit mit Daniel Breazeale (Lexington, Kentucky), Erich Fuchs (München), Helmut Girndt (Duisburg), Karen Gloy (Luzern), Wolfgang Janke (Wuppertal), Reinhard Lauth † (München), Oswaldo Market (Madrid/Lissabon), Kunihiko Nagasawa (Kyoto), Faustino Oncina Coves (Valencia), Marek J. Siemek (Warschau), Térèse Pentzopoulou-Valalas (Tessaloniki) und Xavier Tilliette (Paris)
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Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph (Hrsg.) unter Mitarbeit von Stefan Lang, Lars-Tade Ulrichs, Katja Crone, Tomas Cabi und Danaë Simmermacher
Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert Beiträge des sechsten internationalen Kongresses der Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaf in Halle (Saale) vom 3. - 7. Oktober 2006 Bd. II: Sektionen 2-6
Amsterdam - New York, NY 2012
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Die Fichte-Studien erscheinen in unregelmäßiger Folge. Publikationssprachen sind Deutsch, Englisch und Französisch. Adressen des Vorsitzenden des Wissenschaflichen Beirats: Dr. Hartmut Traub, Otto-Pankok-Str. 42, Mülheim an der Ruhr, Email: [email protected] Für den Rezensionsteil der Fichte-Studien zuständig: Dr. Christoph Binkelmann, Technische Universität Berlin, Franklinstraße 28/29, FR 5-12, D-10587 Berlin Manuskripte werden erbeten an die Adresse von Hartmut Traub.
Typographie und Satz: Christoph Asmuth (Berlin) ISBN: 978-90-420-3585-0 E-Book ISBN: 978-94-012-0860-4 ISSN: 0925-0166 E-ISSN: 1879-5811
Te paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2012 Printed in Te Netherlands
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Inhaltsverzeichnis
Sektion 2: Metaphysik Patrick Grüneberg (Berlin) Ein analytisches Missverständnis – Zum Verhältnis von Ontologie und Möglichkeitsbedingungen ............................................................................ 3 Tom Rockmore (Pittsburgh) Remarks on Fichte and Realism ........................................................................................... 21 Alfred Langewand (Koblenz-Landau) Von Fichte über Kant zu Schmid ......................................................................................... 33 Carla De Pascale (Bologna) Fichtes Einfluss auf Schopenhauer ...................................................................................... 45 Harald Münster (München) Oui-dire und reines Wollen − Derrida mit Fichte lesen ................................................... 61
Sektion 3: Logik, Mathematik, Naturwissenschaften Hiroshi Kimura (Nagasaki) Das faktische Wissen und der minor im Syllogismus – Fichtes Einsicht in der »transscendentalen Logik« ........................................................... 79 Ulrich Fritz Wodarzik (Worms) Fichte als Begründer der dreiwertigen Logik. Zur transklassischen Reflexionslogik und Günthers Ich-Du-Es-Trinität ...................... 91 Toshio Honda (Kobe) Die philosophische Begründung der naiven Mengenlehre durch das Prinzip der Fichteschen späten Wissenschaftslehre ....................................... 111
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Inhaltsverzeichnis
Norman Sieroka (Zürich) Hermann Weyl und Fritz Medicus: Die Zürcher Fichte-Interpretation in Mathematik und Physik um 1920 ..................... 129
Sektion 4: Theologie Peter Grove (Århus) Ichbewusstsein. Zu Schleiermachers Fichte-Rezeption .................................................. 147 Georg Sans SJ (Rom) Georg Hermes und die Offenbarung – Eine Fallstudie zum Fortwirken Fichtes im katholischen Denken des 19. Jahrhunderts ...................... 165 Georg Neugebauer (Halle/Saale) Freiheit als philosophisches Prinzip – Die Fichte-Interpretation des frühen Tillich .................................................................... 181 Christian Danz (Wien) Theologischer Neuidealismus. Zur Rezeption der Geschichtsphilosophie Fichtes bei Friedrich Gogarten, Paul Tillich und Emanuel Hirsch ............................... 199 Roderich Barth (München) Ethische Mystik. Albert Schweitzers Fichterezeption ...................................................... 217 Kazimir Drilo (München) Hansjürgen Verweyens Fundamentaltheologie im Anschluss an Fichte ...................... 235 Björn Pecina (Falkensee) Der analoge Gott. Przywaras Analogia-entis-Lehre und Fichtes Ontologie ................ 253
Sektion 5: Ästhetik Alessandro Bertinetto (Udine) Bild. Fichte und der »Iconic Turn« .................................................................................... 269 Elvira Gareewa (Ufa) Lebensfreude als Haupttendenz bei Fichte, Novalis, Dostojewski und den russischen Symbolisten ....................................................................................... 285 Ulrich Seeberg (Berlin) Fichte und der Beginn der modernen Kunst ................................................................... 303
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Inhaltsverzeichnis
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Sektion 6: Praktische Philosophie, Politik, Recht Marc Maesschalck (Louvain) The Late Fichte and the Contemporary Legal Theory .................................................... 321 Joachim Renzikowski (Halle/Saale) Fichtes Notstandslehre und ihre Rezeption in der deutschen Strafrechtswissenschaft .................................................................................... 339 Endre Kiss (Budapest) Über die von Fichte ausgehende Typologie des Nation-Building ................................. 357 Marco Rampazzo Bazzan (Paris) Leibholz et Fichte: le concept moderne de démocratie .................................................. 387 Marina F. Bykova (Raleigh) Fichte: Bildung as a True Vocation of Man ...................................................................... 403 Katja Taver (Basel) Fichtes Bildungsideal in den Reden an die deutsche Nation (1808) und der Rückgriff auf Pestalozzis Lehren ......................................................................... 417 Alexander Aichele (Halle/Saale) Philosophie zur Herstellung der Wehrtüchtigkeit: Der Weltkriegsfichteanismus Ernst Bergmanns .............................................................. 431 Jai-jeong Choi (Seoul) Fichtes Wissenschaftslehre von 1801/02 und das Nationalismusproblem .................... 451 Robert Marszałek (Warschau) Persönliche Selbständigkeit und gemeinschaftliche Souveränität. Fichte, Heidegger und die weltanschaulichen Voraussetzungen des faschistischen Denkens ................................................................................................ 467
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Sektion 2: Metaphysik
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Ein analytisches Missverständnis – Zum Verhältnis von Ontologie und Möglichkeitsbedingungen Patrick Grüneberg
Die Rezeption der Philosophie Fichtes bzw. des transzendentalphilosophischen Denkens im Ausgang von Kant in der Strömung, die man gemeinhin die Analytische (Sprach)Philosophie nennt, ist von einigen basalen Missverständnissen geprägt, die eine kritische Auseinandersetzung von vornherein fast ausschließen. In der folgenden Untersuchung möchte ich anhand des transzendentalen Status der Fichteschen Theoriebildung eines dieser Missverständnisse klären. Vertreter der analytischen Sprachphilosophie stoßen sich bei einer Annäherung an das Fichtesche Denken beispielsweise an den Begriffen des Ich und Nicht-Ich. Die Verständnisprobleme rufen das Missverständnis hervor, dass es sich bei den beiden Begriffen um eine ontologische Fundierung sprachlicher Kategorien handelt. Als wichtiger Vertreter der analytischen Sprachphilosophie bzw. des Wiener Kreises hat insbesondere Rudolf Carnap (1891–1970) intensive Kritik an aller nicht empiristisch fundierten Wissenschaft geübt. Vor allem jeglicher Form von klassischer Philosophie, die Carnap recht undifferenziert als ›Metaphysik‹ bezeichnet, attestiert er eine generelle Bedeutungslosigkeit ihrer Begriffe: diese seien lediglich Scheinbegriffe, mit denen eine ›Begriffschieberei‹ betrieben wird. Letztlich sei jegliche Form von Philosophie außerhalb der empiristischen Tradition literarischer Ausdruck eines Lebensgefühls.1 Diese generelle Begriffsphobie zeigt sich auch gegenwärtig
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Vgl. Carnap, 1931, S. 238 ff.
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noch in analytischen Ansätzen, wie diese in der Philosophie des Geistes immer noch Anwendung finden.2 Diese Problemlage beinhaltet aber mehr als nur den Vorwurf der Begriffsschieberei. Wie in der Analyse des Carnapschen Verfahrens zu zeigen sein wird, liegt der logischen Analyse ein extrem eingeschränktes ontologisches Verständnis zugrunde. Unter Rückgriff auf Holger Jergius lässt sich diese Einschränkung so fassen: Die sprachliche Prädikation ist letztlich »das Grundfaktum, welche sich für den Sprachanalytiker in seiner spezifischen Diesseitigkeit nicht mehr weiter begreifen, sondern nur beschreiben läßt.« (Jergius, 1975, S. 159). Die Verabsolutierung sprachlicher Gehalte veranlasst den Sprachanalytiker dazu, jegliche Bedeutungszuschreibung notwendig an einen eindeutig zu bestimmenden sprachlichen Ausdruck zu koppeln, dessen Fundierung wiederum an empirische Bedingungen geknüpft ist. Auch Quine kann dieses Paradigma nicht grundlegend erweitern, wenn er die »Aktivierung unserer Sinnesrezeptoren« (Quine, 1985, S. 11) als den eigentlichen Realitätsgehalt der Begriffe proklamiert. In der innigen Verbindung von Spracheanalyse und Empirismus muss sich zwangsläufig ergeben, dass eine Theoriebildung, die auf den Geltungsanspruch empirischer Objektivität abzielt, unmöglich wird. Denn es darf nicht vergessen werden, dass der Empiriker auf Basis seiner empirischen Daten nur beschreiben kann. Fragt man ihn allerdings nach den Kriterien dieser Beschreibbarkeit oder gar dem Geltungsanspruch, so muss er passen. Dieses Verhalten kann ihm auch gar nicht angelastet werden, denn es liegt in der Struktur empirischer Daten, dass diese, um einen Geltungsanspruch überhaupt anmelden zu können, immer schon eine Theoriesprache verlangen, die diese Aufgabe für sie übernimmt. Was sich auf der zunächst wissenschaftstheoretischen Ebene als der notwendige Zusammenhang von empirischen Daten und Theoriesprache hinsichtlich der Verwendung ersterer, um einen Geltungsanspruch zu erheben, darstellt, verweist auf die umfassendere Frage nach dem Status empirischer Wirklichkeit überhaupt. Die entscheidende wissenschaftstheoretische Beziehung empirischer Daten zu deren theoretischer Aufbereitung zeigt sich auch im Kontext der Gegebenheit empirischer Realität überhaupt. Die Position des (naiven) Realismus übersieht – allgemein gesagt –, dass jegliche Wirklichkeit nur für ein Subjekt sein kann. Das endliche menschliche We-
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Vgl. dazu z. B. Metzinger 1999.
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sen kann nicht von sich und seinen Erkenntnisstrukturen abstrahieren, um eine an sich gegebene Wirklichkeit zu erkennen. Vielmehr verfügt es über diese Wirklichkeit immer nur dadurch, dass es sich auf sie bezieht (ob nun im Denken oder Handeln sei dahingestellt). Wissenschaftliche Theoriebildung muss dann diese Bezugnahme derart ausdeuten, dass sie zu Ergebnissen kommt, die von den individuell-subjektiven Umständen unabhängig sind. Die allgemein-subjektiven Umstände, die aber erst eine für viele einzelne Wesen gemeinsame räumlich-zeitliche Welt konstituieren, sind dabei immer schon vorausgesetzt. Für den Realitätsbezug insgesamt (also nicht nur innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses) heißt dies, dass die dem Subjekt gegebene und insofern objektive Wirklichkeit nie ohne das Subjekt gedacht werden kann. Um es in einer bekannten Formel auszudrücken: Sein ist nie ohne (Selbst)Bewusstsein, (Selbst)Bewusstsein nie ohne Sein. Dem Empiriker und mit ihm dem Sprachanalytiker ist diese allgemein-subjektive Seite aber fremd. Folglich kann er Begriffe, die sich auf diese Seite beziehen, nicht verifizieren und erklärt sie zu Scheinbegriffen. In diesem Zusammenhang gilt es auch das Missverständnis auszuräumen, es handele sich bei einer expliziten Betonung der allgemein-subjektiven Seite um eine streng idealistische und insofern realitätsrelativierende oder gar -abweisende Konzeption. Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass die Gegebenheit empirischer Wirklichkeit einerseits und die subjektive Bezugnahme auf diese Gegebenheit andererseits nur mit einer dialektischen Konzeption, die beide Strukturelemente in ihrer Wechselbeziehung aufschließt, verstanden werden kann.3 Eine solche philosophische Theorie gibt sich eben auch nicht mit bloßen Beschreibungen und Übersetzungen zufrieden, sondern will wissen, wie wir überhaupt dazukommen, uns etwas mit dem Anspruch auf Objektivität zuzuschreiben und was dies ebenso in praktischer Hinsicht bedeutet. Im Folgenden werde ich im ersten Schritt die These des ontologischen Fehlschlusses, die das Missverständnis begründet, in Bezug auf die Fichteschen Begriffe des Ich und Nicht-Ich darstellen und unter Rückgriff auf Carnaps Methode der logischen Analyse eine theoretische Fundierung der Fehlschlussthese entwickeln. Im nächsten Schritt stelle ich dann die strukturellen Schwierigkeiten der sprachanalytischen Position heraus, die letzt-
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Vgl. zur Konzeption und Methodik der idealrealistischen Dialektik vom Verfasser 2007a, b.
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lich zu dem Missverständnis führen. Mittels einer vergleichenden Unterscheidung beider Positionen – der sprachanalytischen und der transzendentalphilosophischen – formuliere ich dann im Rahmen einer Kritik an der Fehlschlussthese den genuin transzendentalen Status der Fichteschen Theorie anhand der Begriffe des Ich und Nicht-Ich, so dass sich am Ende auch das analytische Missverständnis klärt.
1 Die These des ontologischen Fehlschlusses Berücksichtigt man den umfassenden Anspruch einer logisch-empiristischen Fundierung – also die Auflösung begrifflich-philosophischer Probleme als Scheinprobleme4 –, dann kann man diesen Anspruch auch auf Fichtes Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, die er beide als notwendige bzw. irreduzible Momente in der apriorischen Struktur des Wissens veranschlagt, beziehen. Die Fehlschlussthese hat dann folgende Struktur: (a) ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ sind sprachliche Unterscheidungen. (b) ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ sollen einen ontologischen Status in einer wissenschaftlichen Theorie haben. (c) Der ontologische Status von ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ ist aus sprachlichen Unterscheidungen nicht ableitbar. (d) Sprachliche Unterscheidungen begründen kein ontologisches Verhältnis. (e) Fichte macht sich des ontologischen Fehlschlusses schuldig, indem er den ontologischen Status von ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ auf eine sprachliche Unterscheidung gründet. Der sprachanalytischen Position zufolge liegt mit beiden Begriffen zunächst eine Unterscheidung auf sprachlicher Ebene vor, auf der man die Negation bzw. die Entgegensetzung des einen Begriffes (des Ich) in Gestalt des Gegenbegriffs (des Nicht-Ich) formulieren könne. Allerdings könne Fichte, so die Kritik, mittels der begrifflichen bzw. genauer: sprachlichen Unterscheidung keine Aussagen auf der ontologischen Ebene, für die seine Theorie doch gelten solle, treffen, da mit einem Ich im Sinne einer ontologischen Entität nicht notwendig ihr Gegenteil bzw. ihre Negation gesetzt sei. Der ontologische Fehlschluss bestehe nun letztlich darin, dass Fichte
4 Vgl. dazu Carnap, 1931, passim.
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ungerechtfertigterweise ontologische Entitäten wie das Ich und das NichtIch aus sprachlichen Bestimmungen ableiten wolle und somit übersehe, dass sprachlich unterschiedene Elemente nicht notwendig eine Entsprechung auf der ontologischen Ebene hätten. Im Resultat werden das Ich und das Nicht-Ich in der sprachanalytischen Perspektive als leere Worte aufgefasst, mit denen eine Theoriebildung von vorn herein ausgeschlossen erscheint. Für eine kritische Analyse der ontologischen Fehlschlussthese sind insbesondere die Punkte 2. und 4. von weitreichender Bedeutung. Es wird nämlich noch zu zeigen sein, dass die ontologische Fundierung zumindest für Fichte unzutreffend ist. Weiterhin führt Punkt 4 der Fehlschlussthese, nämlich dass rein sprachliche Unterscheidungen nicht zu einer ontologischen Fundierung führen, zum eigentlichen Ursprungsort des analytischen Missverständnisses. Dieses liegt in der ausschließlichen Zugrundelegung eines empiristischen Sinnkriteriums für die Bedeutungszuschreibung an Wörter, die in einer wissenschaftlichen Theorie auftreten. Daher werde ich im nächsten Abschnitt die logische Analyse als das sprachanalytische Verfahren darstellen, Wörtern Bedeutung zuzuschreiben, um dann zu zeigen, inwiefern die Fehlschlussthese in der logischen Analyse begründet liegt. Eine kritische Analyse von 2. wird dann die Aufklärung des analytischen Missverständnisses vorbereiten, da dieses nicht nur im Verfahren der logischen Analyse, sondern damit zusammenhängend auch noch durch ein unzureichendes Verständnis des ontologischen Status der in Frage stehenden theoretischen Konzepte (Ich und Nicht-Ich) begründet ist.
2 Die logische Analyse Mittels des Verfahrens der logischen Analyse, das maßgeblich Carnap und Friedrich Waismann5 entwickelt haben, soll es Carnap zufolge möglich sein, »den Erkenntnisgehalt der wissenschaftlichen Sätze und damit die Bedeutung der in den Sätzen auftretenden Wörter (›Begriffe‹) klarzustellen.« (Carnap, 1931, S. 219). Schon hier zeigt sich Carnaps sehr distanziertes Verhältnis zur Begriffswissenschaft – also der wissenschaftlichen Untersu-
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Vgl. Waismann, 1939/1940.
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chung mittels logisch-begrifflicher und nicht empirisch fundierter Argumente: Er thematisiert die Begriffe bzw. Argumente ausschließlich als sprachliche Aussagen – als Wörter – hinsichtlich ihres Bedeutungsgehaltes. Ein Verständnis transzendentaler Theoriebildung hängt aber ganz wesentlich von der Art der Begriffsklärung ab. Ersetzungsregeln, wie sie der Sprachanalytiker verwendet, um einen Begriff zu bestimmen, führen im transzendentalen Kontext zu keinen Resultaten,6 da sich Fichte Funktionsbegriffen bedient, die gerade nicht durch eine Ersetzung anderer Wörter bestimmbar sind. Der Funktionsbegriff will demgegenüber eine spezifische notwendige Struktur des Wissens bzw. des Bewusstseins funktional herausstellen. Gegenüber einem gegenstandsbezogenen Objektbegriff, der dem alltäglichen Sprachgebrauch zu Grunde liegt und die Referenz eines Wortes zu einem sinnlich gegebenen Gegenstand regelt, also ein Referenzbegriff, muss eine die Klasse der Funktionsbegriffe aufgestellt werden. Carnaps pauschalisierende Kritik an jeglichen Modellen begrifflicher Theoriebildung »auf dem Gebiet der Metaphysik (einschließlich aller Wertphilosophie und Normwissenschaft)« (Ebd., S. 220) im Allgemeinen und den für die Fichtesche Philosophie grundlegenden Begriffen des Ich und Nicht-Ich im Besonderen nimmt also ihren Ausgang auf dem sprachlichen Niveau: Ich und Nicht-Ich werden zunächst als »Wort« (Ebd., S. 221) kategorisiert, von dem es auszumachen gilt, ob es eine Bedeutung mit sich führt, und somit als Begriff auftreten kann. Die Bedeutung eines Wortes bestimmt Carnap anhand der »Bestimmung über Ableitbarkeit« (Ebd., S. 222) aus sogenannten »Elementars[ä]tz[en]« (Ebd., S. 221).
Die Bedeutung eines Wortes Die Analyse liefert insgesamt entweder ein positives oder ein negatives Ergebnis: Im ersteren Falle klären sich auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaften die »einzelnen Begriffe der verschiedenen Wissenschaftszweige« (Ebd., S. 219), indem »ihr formal-logischer und erkenntnistheoretischer Zusammenhang aufgewiesen wird.« (Ebd., S. 220). Für die sogenannte Metaphysik wird demgegenüber festgestellt, »dass die vorgeblichen Sätze dieses Gebiets [d. i. die Metaphysik; P.G.] gänzlich sinnlos sind.«
6 Vgl. Jergius, 1975, S. 178.
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(Ebd.) Nachdem nun die Logik »zu einem Werkzeug von hinreichender Schärfe geworden ist« (Ebd.), offenbart sie die Sinn- und Bedeutungslosigkeit rein begrifflicher Wissenschaft. Mit ›sinnlos‹ wird dabei eine Wortreihe bezeichnet, »die innerhalb einer bestimmten, vorgegebenen Sprache gar keinen Satz bildet.« (Ebd.) Treten derlei Wortreihen allerdings in Gestalt eines Arguments in einer philosophischen Theorie – also als sinnvolle Aussagen – auf, dann sind sie mittels der logischen Analyse als Scheinsätze zu entlarven. Erstens legt die »Syntax des Wortes […], d. h. die Art seines Auftretens in der einfachen Satzform, in der es vorkommen kann« (Ebd., S. 221), die Bedeutung eines Wortes fest. Der daraus folgende Elementarsatz S des jeweiligen Wortes dient zweitens in der Ableitung dann sowohl als terminus a quo als auch terminus ad quem: Es muss gezeigt werden, »aus was für Sätzen S ableitbar [ist], und welche Sätze aus S ableitbar [sind]« (Ebd.). In logischer Hinsicht stellt sich diese Anforderung als Wahrheitskriterium dar, in der Erkenntnistheorie als Verifikationsmethode und in der insgesamt als Philosophie betitelten Phänomenologie als Sinnkriterium, so Carnap. Die Bedeutung wird also durch Zurückführung »auf die in den sog. ›Beobachtungssätzen‹ oder ›Protokollsätzen‹ vorkommenden Wörter« (Ebd., S. 222) reduziert. Letztlich liegt der logischen Analyse somit ein Empirismus zugrunde, demzufolge »Inhalt und Form der ersten Sätze« (Ebd.) durch das Gegebene bestimmt werden. Für dieses Gegebene führt Carnap verschiedene Quellen an, die allerdings noch nicht zu einer »endgültige[n] Beantwortung« (Ebd.) der Frage nach diesem Gegebenen geführt haben: Als da wären einfache Sinnes- und Gefühlsqualitäten, Gesamterlebnisse und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen diesen sowie Dinge. Somit »[hat] ein Wort nur dann Bedeutung, wenn die Sätze, in denen es vorkommt, auf Protokollsätze zurückführbar sind.« (Ebd., S. 223). Dieses zugrundeliegende empirische Kriterium bestimmt die Bedeutung eines Wortes also durch »die Ableitungsbeziehungen des Elementarsatzes, durch die Wahrheitsbedingungen [und] durch die Methode seiner Verifikation.« (Ebd.). Das Kriterium selbst verweist auf die analytische Fundierung der Bedeutung eines Wortes, indem die implizit im Kriterium liegende Bedeutung explizit gemacht werden soll. Ist dies unmöglich, weil das Wort nicht eindeutig auf Protokollsätze zurückzuführen ist, und somit »kein Kriterium für das neue Wort festgesetzt [ist], so besagen die Sätze, in denen es vorkommt, nichts, sind bloße Scheinsätze.« (Ebd.). Versucht sich der Metaphysiker mit einer nicht »wahrnehmbare[n] Eigenschaft« (Ebd., S. 224) als
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Kriterium zu retten, kann er den empirischen Verifikationsbedingungen allerdings nicht genügen. Zusammengefasst: »Die hinreichende und notwendige Bedingung dafür, dass ›a‹ [d. i. das Wort; P.G.] eine Bedeutung hat« (Ebd.), lautet: »1. Die empirischen Kennzeichen sind für ›a‹ bekannt. 2. Es steht fest, aus was für Protokollsätzen ›S(a)‹ abgeleitet werden kann. 3. Die Wahrheitsbedingungen für ›S(a)‹ liegen fest. 4. Der Weg zur Verifikation von ›S(a)‹ ist bekannt.« (Ebd.). Bevor ich im nächsten Abschnitt diese vier Kriterien im Hinblick auf die problematischen Konsequenzen für eine Beurteilung des Fichteschen Ansatzes wieder aufgreife, sei noch kurz auf den Absatz Metaphysische Wörter ohne Bedeutung eingegangen.7 Am Beispiel des Begriffs des Prinzips illustriert Carnap die logische Analyse. Der Begriff des Prinzips trägt üblicherweise die Bedeutung eines »Kausalverhältnis[ses] im Sinn einer gesetzmäßigen Aufeinanderfolge« (Ebd., S. 225), die empirisch feststellbar ist. Wird der Metaphysiker allerdings nach einem Kriterium für die Bedeutung des Prinzips im Rahmen seiner Theorie gefragt, benennt er kein »Zeitfolge- und Bedingungsverhältnis« (Ebd.), sondern verweist auf ein nicht empirisch feststellbares Kriterium »in metaphysiche[r] Hinsicht« (Ebd.), die Carnap zufolge nie deutlich angegeben wird. Wie eine solche vermeintlich metaphysische und nicht deutlich anzugebende Hinsicht aussehen kann, werde ich in Abschnitt 5 vorstellen.
3 Das Begründungsverhältnis der logischen Analyse zur Fehlschlussthese Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die ontologische Fehlschlussthese im Kontext der logischen Analyse zu begründen, damit deutlich wird, wie man aus einer streng sprachanalytischen bzw. logisch-empiristischen Perspektive zu dem Schluss kommt, Fichte hantiere mit Scheinbegriffen. Dieser Zusammenhang lässt sich folgendermaßen darstellen: (a) Begriffe werden als Wörter interpretiert, die auf beobachtbare Sinnesdaten (Carnap) bzw. sensorische Stimuli (Quine) zurückzuführen sind. (b) Fichtes ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ sind nicht auf beobachtbare Sinnesdaten (bzw. sensorische Stimuli) zurückzuführen.
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Siehe Carnap, 1931, S. 224 ff.
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(c) Die Wörter ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ sind leer bzw. im philosophischen Kontext Scheinbegriffe. Vor dem Hintergrund des zugrundeliegenden Empirismus sollen letztlich alle begrifflichen Unterscheidungen ontologisch fundiert werden, was für die analytische Sprachphilosophie eine Fundierung auf empirische Beobachtungssätze bedeutet. Daraus folgt: Die logisch-begriffliche Notwendigkeit bzw. Irreduzibilität, die Fichte dem Ich und Nicht-Ich zuspricht, müsste letztlich ontologisch bzw. empirisch fundiert werden können, wenn die Termini Bedeutung haben sollen. Eine solche Fundierung ist allerdings aus sprachanalytischer Perspektive nicht gegeben, da keine der von Carnap genannten Bedingungen erfüllt ist: Es gibt keine feststellbaren empirischen Kennzeichen für die Wörter ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ , sowie Fichte diese verwendet wissen will, nämlich im Kontext der Tathandlung. Die beiden den oben genannten Wörtern zugeschriebenen Elementarsätze (S(Ich): »Das Ich setzt schlechthin sein eigenes Sein.«; S(Nicht-Ich): »Dem Ich wird schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich.«) sind gerade als Grundsätze nicht ableitbar aus anderen Sätzen oder gar aus Protokollsätzen einer Beobachtung. Weiterhin sind die Wahrheitsbedingungen für S(Ich) und S(Nicht-Ich) nicht empirisch einzulösen. Die Tathandlung verweist eben auf eine solche Bestimmung, »die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstsein zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.« (GA I.2, S. 255). Fichte weist somit schon am Beginn der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre explizit auf den apriorischen Status seiner Theorie hin, womit zugleich gesagt wird, dass eine Bedeutungserklärung mittels Referenz, wie dies bei empirischen bzw. gegenstandsbezogenen Begriffen der Fall ist, hier nicht anwendbar ist. Carnaps vernichtendes Urteil über so genannte metaphysische Begriffe rührt demgegenüber vielmehr daher, dass er nur Referenzbegriffe kennt. Und schließlich ist der Weg zur Verifikation von S(Ich) und S(Nicht-Ich) Fichte zufolge zwar bekannt, wird aber in der sprachanalytischen Perspektive aus den letztgenannten Gründen nicht anerkannt. Den Termini Ich und Nicht-Ich kann somit kein gültiges Bedeutungskriterium zugeordnet werden, so dass sie leer bzw. Scheinbegriffe sind und auch in ihrer Absolutheit nicht gerechtfertigt werden können. Da Fichte beide aber dennoch so veranschlagt, begeht er Begriffsschieberei.
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4 Schwierigkeiten des logisch-empiristischen Bedeutungsbegriffes Die sprachanalytische Fundierung von Bedeutung scheitert letztlich – wie jetzt zu zeigen sein wird – an der Selbstbegründungsproblematik. Das unhinterfragte Voraussetzen einer empirischen Ontologie, die uns realistisch gegeben ist, so dass wir mittels Beobachtungssätzen wissenschaftlich gültige Aussagen über diese gegebene Wirklichkeit treffen können, wird dabei als das strukturelle Problem bzw. als Ursache des Missverständnisses offenbar. Der ersten Bedingung Carnaps für die Bedeutung eines Wortes – nämlich dass die empirischen Kennzeichen für ›a‹ bekannt sind –, kommt dabei besondere Bedeutung zu. Zum einen bildet der auf Basis von ›a‹ formulierte Elementarsatz ›S(a)‹ die Grundlage für die weiteren Bedingungen der Ableitungsbeziehungen, der Wahrheit sowie der Verifikationsmethode und entscheidet somit über deren Erfüllbarkeit. Zum anderen offenbart sich aber das Fehlen eines eindeutigen empiristischen Sinnkriteriums als das zentrale Problem der sprachanalytischen Position. Sinnvolle Aussagen müssen dem logischen Empirismus zufolge intersubjektiv überprüfbar, d. h. hier auf Beobachtungssätze zurückzuführen sein. Diese Reduktion sämtlichen empirischen bzw. wissenschaftlichen Wissens auf Beobachtungsgegebenheiten scheitert aber im besonderen Fall der Dispositionsbegriffe. Damit ist die intensionale Bedeutung solcher Termini gemeint, die nicht unmittelbar exemplarisch (durch Beispiele und Gegenbeispiele: ›dehnbar‹) bestimmt werden können bzw. zweistellig auftreten (›härter als‹). Beide setzen ein elementares Kausalwissen voraus, an dem eine empiristische Definition der Dispositionsbegriffe letztlich scheitern muss, da ein Kausalwissen nicht nur mittels einer Zusammensetzung von auf Wahrnehmungshandlungen basierenden Termini möglich ist. Würde man sich nur einer solchen empirisch fundierten Zusammensetzung bedienen, so entstünde das Problem, dass »außerhalb der die jeweils beobachtbaren Folgen zeitigenden Bedingungen kein Kriterium gewonnen werden [kann]« (Lorenz, 1995, S. 493), um das Kausalverhältnis zu beschreiben. Die mit den Dispositionsbegriffen einhergehende Geltung einer Aussage über die kausalen Beziehungen zwischen Gegenständen führt einen Notwendigkeitscharakter in der Verknüpfung von Ursache und Bewirktem bei sich, der nicht-empirisch fundiert ist, sondern vielmehr das empirische Wissen kategorial strukturiert. Lautet ein Beobachtungssatz: »Wenn innerhalb eines Zeitintervalls T der Zug an zwei Fadenenden eine Verlängerung
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des Fadens nach sich zieht, soll der Faden ›dehnbar‹ heißen« (Ebd.), dann liegt damit zunächst nur die Beschreibung von ›dehnbar‹ als zeitliche Bestimmung innerhalb eines Intervalls vor, die aber nur unter Voraussetzung einer Kausalbeziehung zu verallgemeinern ist, wobei die Kausalbeziehung in ihrer Notwendigkeit durch Beobachtung nur exemplarisch realisiert ist. Die Notwendigkeit in der Beziehung von Ursache und Bewirktem liegt demgegenüber auf der Ebene des Wissens, das aus einem Einzelfall eine allgemeine Regel ableitet. Ohne hier die umfassendere Problematik der Kausalität besprechen zu können, reicht es für eine kritische Reflexion auf den logisch-empiristischen Ansatz zunächst aus, dass Beobachtungssätze die Allgemeinheit der Fälle, so wie dies in der Kausalbeziehung der Fall ist, nicht enthalten können. Hier zeigt sich die generelle Induktionsproblematik empirischer Fundierung insofern, als dass Aussagen mit einem Anspruch auf Notwendigkeit eben nicht nur auf Basis empirischer Beobachtungen getroffen werden können, da der Übergang von dem beobachteten Einzelfall zur Allgemeinheit aller Fälle mit ausschließlich empiristischen Mitteln strukturell unmöglich ist. Carnap sah sich gezwungen, die Beobachtungssprache durch eine Theoriesprache zu ergänzen, mittels derer die Dispositionsbegriffe als theoretische Begriffe, d. h. axiomatisch bestimmt werden können.8 In der Notwendigkeit einer Theoriesprache zur theoretischen Verwertbarkeit bzw. Begründung von Beobachtungssätzen zeigt sich wiederum ein Bestand von Sätzen, der unabhängig von den Beobachtungssätzen Geltung beansprucht. Damit ist zunächst einmal der ausschließlich logisch-empiristisch fundierte Erklärungsanspruch ausgehebelt. Die mit den Dispositionsbegriffen bzw. die mit Blick auf die generelle Induktionsproblematik einhergehende Notwendigkeit einer Theoriesprache aufgrund des Fehlens eines eindeutigen empiristischen Sinnkriteriums begründet sich letztlich darin, dass die logische Analyse nicht für alle Formen sprachlicher Beobachtungsaussagen ein Bedeutungskriterium angeben kann. In dem Versuch einer logisch-empiristischen Reduktion aller wissenschaftlichen Bedeutungen auf Beobachtungssachverhalte in Form von Aussagen in Elementar- bzw. Protokollsätzen tritt die begriffliche Ebene, von der aus diese Reduktion vorgenommen wird, deutlichst in ihrem Scheitern hervor: Sie scheitert an der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung, für deren Be-
8 Vgl. Lorenz, 1995, S. 493.
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antwortung das lediglich logisch-empiristisch bestimmte Gegebene nicht ausreicht, um eine Rechtfertigung des eigenen Erklärungsanpruches und somit auch der strikten Ablehnung anderer philosophischer Begründungsmodelle zu erreichen. Die Formulierung von Protokollsätzen fragt nämlich ebenso nach einer Rechtfertigung des Begründungsanspruches, der mittels dieser Sätze erhoben wird, und nicht nur nach einer Ableitung aus diesen Protokollsätzen. Wenn unter diesen Voraussetzungen allerdings dennoch der Versuch unternommen wird, jegliche Theoriesprache ausschließlich auf Protokollsätze zu reduzieren, werden die aporetischen Momente in den methodologischen Voraussetzungen des logischen Empirismus offenbar, indem Carnap letztlich nämlich doch wieder auf eine unabhängig von Beobachtungssätzen bestehende Theoriesprache rekurriert. An diesem Punkt angekommen, tritt die Selbstbegründungsproblematik auf den Plan. Innerhalb einer ausschließlich empirischen Ontologie können nämlich ohne den Rekurs auf eine nicht-empirisch fundierte Theoriesprache keine Aussagen über die Gültigkeit der aus dieser Ontologie gewonnenen Aussagen getroffen werden. Während Kant diese Notwendigkeit mit dem synthetischen Apriori zu erfassen sucht, setzt Fichte an diesem Punkt an, indem er die Voraussetzungen wissenschaftlicher Theoriebildung selbst bzw. der Wissensbildung im Allgemeinen expliziert, um daraus nicht nur die Struktur des Wissens, sondern auch dessen Anspruch auf Objektivität zu begründen. Im Folgenden werde ich anhand von Fichtes Ausführungen zum Ich und Nicht-Ich den transzendentalphilosophischen Ansatz im Hinblick auf dessen Verhältnis zur genannten empirischen Ontologie darstellen, um zu zeigen, dass in sprachanalytischer Perspektive nur eine unzureichende Beschreibung der transzendentalphilosophischen Theorieebene möglich ist.
5 Klärung des analytischen Missverständnisses Gemäß der ontologischen Fehlschlussthese folgert Fichte ungerechtfertigterweise aus den sprachlichen Bestimmungen des ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ entsprechende ontologische Entitäten. Die logische Analyse wiederum, die zu diesem Resultat führt, will ihre Aussagen demgegenüber mittels empirischer Protokollsätze ontologisch fundieren. Die genannte Selbstbegründungsproblematik führt allerdings in transzendentalphilosophischer Perspektive zu einer methodenkritischen Reflexion auf die Ebene der Wis-
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sensbildung: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Wissen überhaupt möglich und gültig ist? Die alleinige Berufung auf ein logisch-empiristisch aufgeschlossenes ontologisches Substrat beruht auf einem Missverständnis der spezifischen Form des Wissens – nämlich, dass jeder Wissensinhalt nicht nur ausschließlich durch empirische Daten, sondern auch notwendigerweise durch apriorische bzw. nicht-empirische Bestimmungen begründet ist. (Im vorherigen Abschnitt hat sich die doppelte Struktur des Wissens in der Unvermeidbarkeit einer Theoriesprache gezeigt. Setzt man das empirisch Gegebene ausschließlich als das Konstituens des Wissens an, dann übersieht man den idealen Charakter des Wissens, nämlich dass jeder Inhalt, um überhaupt gewusst werden zu können, bestimmten (allgemein-subjektiven) Strukturen unterliegt, die auf Basis der zu beobachtenden Gegebenheiten überhaupt erst sinnvolle Sätze ermöglichen.) Die transzendentale Untersuchung ihrerseits zielt nun mittels der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen auf diese Bestimmungen ab. Als Ergebnisse dieser Untersuchung formuliert Fichte u. a. die Begriffe des Ich und Nicht-Ich als Möglichkeitsbedingungen von Wissen und eben nicht als ontologische Entitäten, womit sie eindeutig auf der Ebene der Theoriesprache angesiedelt sind. Beide werden auf der transzendentalen Ebene als zwei irreduzible Strukturmomente des Wissens veranschlagt und üben eine transzendentallogische Begründungsfunktion für die auf dem ontologischen Niveau als faktische Bestände – als Fakta – vorausgesetzten empirischen Wissensinhalte (zu denen u. a. auch die Beobachtungsgegebenheiten zählen) aus. Durch diese Verschiebung der Wissensbegründung hin zu einer Begründung nicht nur einzelner Sachverhalte oder Aussagen, sondern des Wissens als einer Totalität bzw. als Gesamtkomplex zeigt sich der genuine Unterschied der hier miteinander verglichenen Positionen. Es geht bei Fichte nicht primär um die wissenschaftstheoretisch motivierte Frage der Absicherung einzelwissenschaftlicher Ergebnisse, die sich auf konkrete Sachverhalte beziehen, sondern um eine Begründung des jedem Wissensakt zugrundeliegenden Wissensbegriffes. Das Fichtesche Ich erhält im ersten Grundsatz der Grundlage die Formulierung: »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.« (GA I.2, S. 261). Eine ontologische Beschreibungsebene spielt in Fichtes Theorie höchstens noch im Ausgang der Untersuchung von »Tatsache[n] des empirischen Bewußtseins« (GA I.2, S. 256) eine Rolle. Allerdings gilt es hier gleich einschränkend anzumerken, dass es sich dabei nicht um ontologische Entitäten im Sinne von res, sondern um faktische Wissensbestände
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handelt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie dem »Vermögen […], etwas schlechthin zu setzen« (Ebd.), entstammen. Durch eine Setzung wird etwas derart bestimmt, dass es »völlig gewiß und ausgemacht« (Ebd.) ist. Dazu führt Fichte als Beispiel den Satz »A = A« (Ebd.) an, dessen Gewissheit vorausgesetzt wird. Im weiteren Verlauf unterzieht Fichte diese Tatsache (d. i. die Gewissheit) einer »abstrahierenden Reflexion« (GA I.2, S. 255), um die zugrundeliegende apriorische Struktur des Bewusstseins zu verdeutlichen, wodurch die Tatsache gesetzt wird. Ohne diese Reflexion hier nun im Einzelnen nachvollziehen zu können, ist es entscheidend, dass das Ich im Akt des Setzens die »Handlungsart des menschlichen Geistes überhaupt« (GA I.2, S. 261) repräsentiert. Dieses Setzen kann näher als Produktion bezeichnet werden, da Fichte an verschiedenen Stellen von »Produkt[en] der Handlung« (GA I.2, S. 259) des Ich spricht. In einer funktionalen Deutung erhält der Begriff des Setzens bei Fichte eine »protokognitive Konnotation der Selbstzuschreibung oder des Dafürhaltens ebenso wie die proto-praktische Konnotation von Tätigkeit oder Tun.« (Zöller, 1996, S. 182). Dieses setzende Ich bildet nun insofern ein irreduzibles Grundmoment des Wissens, als dass in keinem Wissensakt von diesem Ich abstrahiert werden kann, da es innerhalb der apriorischen Struktur des Wissens den Subjektpol des Bewusstseins bildet. Um einen Wissens- bzw. Bewusstseinsvollzug zu generieren, muss das Subjekt selbst immer schon angelegt sein bzw. »vor allem Setzen im Ich [muss; P.G.] vorher das Ich selbst gesetzt sei[n].« (GA I.2, S. 258). Auf Grundlage einer weiteren abstrahierenden Reflexion gewinnt Fichte den zweiten Grundsatz: »[D]em Ich [wird] schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich.« (GA I.2, S. 266). Gegenüber §1 ist hier von einem Gegensetzen die Rede, das ebensowenig wie das Setzen aus einem höheren Grund abgeleitet werden kann und daher auch der Form nach unbedingt ist. Der Materie nach ist es allerdings bedingt, da es sich als ein Entgegensetzen auf die vorherige Setzung bezieht, indem es »das Gegenteil« (Ebd.), d. h. das, was das Ich nicht ist, bezeichnet. Hinsichtlich des empirischen Bewusstseins wird so mit dem §2 die prinzipielle Möglichkeit eines NichtIch eröffnet. Ohne dass dieses Nicht-Ich hier näher bestimmt werden muss, bildet es die Bedingung der Möglichkeit, »um nur irgendeinen Gegenstand setzen zu können[.]« (GA I.2, S. 267). Um ein Vorzustellendes (den Gegenstand) als ein solches a priori vom Vorstellenden überhaupt unterscheiden zu können, veranschlagt Fichte diese apriorische Differenz zweier ursprünglicher Handlungsarten, erstens des Identifizierens und
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zweitens des Negierens. Obwohl es der Absolutheit des Ich des §1 zu widersprechen scheint, muss dieses Entgegensetzen dennoch als ein konstitutives Element des empirischen und insofern endlichen Bewusstseins veranschlagt werden. Der zweite Grundsatz ist »dem [zu deduzierenden; P.G.] Bewusstsein gänzlich unverzichtbar, weil es eben daran die Bedingung der Möglichkeit eines Gegenstandes hat.« (Boeder, 1980, S. 539). Die Begriffe des Ich und Nicht-Ich erhalten ihre transzendentallogische Begründungsfunktion daher über ihre Stellung im Bedingungsgefüge von Wissen: Sie statuieren »unsre Endlichkeit« (GA I.2, S. 410) bzw. die Struktur eines endlichen Vernunftwesens, d. h. zunächst erstmal eines in seinem eigenen subjektiven und insofern idealen Handeln freien Wesens, das sich aber nur unter Hinzunahme einer realen bzw. objektiven Einschränkung seiner eigenen Tätigkeit empirisch realisiert. Holger Jergius zufolge »[will Fichte], weit entfernt [davon], die ursprüngliche Faktizität des ›schon immer‹ zu leugnen, daß wir uns also schon immer in einer erschlossenen Welt mit anderen finden, vielmehr nur dies ursprüngliche Faktum genetisch verständlich machen.« (Jergius, 1975, S. 121). Daher erklärt sich der Rekurs auf die Ebene der Möglichkeitsbedingungen, die letztlich auch eine Selbstbegründung ermöglichen, da die philosophische Theorie selbst auch einen Bestandteil des Wissens bildet. Die faktische Ebene empirischer Gegebenheit stellt so einerseits den Ausgangspunkt der Untersuchung dar, liefert das Material für die Gewinnung des Untersuchungsgegenstandes auf der Ebene der philosophischen Untersuchung. Andererseits dienen die Fakta aber nicht zur Begründung des intendierten Geltungsanspruches, da die transzendentalen Argumente ihren Geltungsanspruch gerade aus ihrem apriorischen Verhältnis zu den Fakta generieren. Die Begriffe des Ich und Nicht-Ich sollen sich demnach gar nicht auf empirische Gegebenheiten beziehen, also nicht als Referenzbegriffe fungieren. Als Funktionsbegriff zeigen sie, wie sich ein Subjekt unter der Voraussetzung, dass etwas gegeben ist, überhaupt auf dies Etwas beziehen kann. Während der Referenzbegriff die Beziehung der Vorstellung (bzw. des Beobachtungssatzes) zum Gegenstand, der dem Subjekt gegeben ist, ausdrückt, zielt die »transzendentale Fragestellung [auf] die Frage nach dem gemeinsamen Grund von Vorstellung und Gegenstand.« (Jergius, 1975, S. 155). Es soll gar nicht der prädikative Gehalt von Begriffen zugunsten metaphysischer Gebilde aufgegeben werden, sondern aufgewiesen werden, »wie Prädikation überhaupt möglich ist, [d. h.] was bei der Prädikation als solcher immer schon vorausgesetzt wird und werden
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muß.« (Ebd.). Dieses transzendentallogische Begründungsverhältnis kann der Sprachanalytiker aufgrund des ausschließlichen Gebrauchs der Prädikation – also dem Zuschreiben von Eigenschaften in Protokollsätzen –, die für ihn »unhintergehbar [ist]« (Jergius, 1975, S. 159), nicht erreichen. Die Prädikation ist letztlich »das Grundfaktum, welches sich für den Sprachanalytiker in seiner spezifischen Diesseitigkeit auch nicht mehr weiter begreifen, sondern nur beschreiben läßt.« (Ebd.).
6 Schlussbemerkung Der analytischen Sprachphilosophie entgeht aufgrund des logischen Empirismus das transzendentale Theorieniveau. Ein Zugang ist erst dann möglich, wenn die empirisch-ontologische Fundierung relativiert wird. Somit liegt das Missverständnis letztlich darin, dass sich die analytische Sprachphilosophie hinsichtlich des transzendentalen Theorieniveaus selbst des ontologischen Fehlschlusses und zwar in umgekehrter Richtung schuldig macht, indem sie einen Seinsbestand veranschlagt, ohne darauf zu reflektieren, dass die Inanspruchnahme solcher ontologischer Entitäten nie ohne eine Theoriesprache, eine begriffliche Vermittlung bzw. damit letztlich nie unabhängig von der apriorischen Form des Wissens zu haben ist. Beachtet werden muss, dass jegliche Ontologie spezifischen Möglichkeitsbedingungen unterliegt. Im Rahmen einer notwendigen theoretischen Einholung des Geltungsanspruches der Prädikation und der daraus abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten, also einer Selbstbegründung, gilt es, diese Bedingungen zu explizieren und in der Begründungsargumentation zu berücksichtigen, solange ein Anspruch der eigenen Begründung bzw. Kritik auf Geltung bestehen bleiben soll.
Literaturverzeichnis Boeder, Heribert (1980): Topologie der Metaphysik. Freiburg im Breisgau u. a. (= Orbis academicus). Carnap, Rudolf (1931): Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2, S. 219–241. Fichte, Johann Gottlieb (1969): Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. In: Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe. Hrsg. v. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaf-
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ten. Bd. I.2: Hrsg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob. Stuttgart/Bad Cannstatt, S. 249– 451. Zitiert als »GA«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Grüneberg, Patrick (2007a): Grundlagen und Voraussetzungen der Leib-Seele-/KörperGeist-Dichotomie in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes. In: Christoph Asmuth (Hg.): Transzendentalphilosophie und Person. Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung. Bielefeld, S. 23–40. — (2007b): Fichtes transzendentalphilosophische Methode und die Leib-Seele-/Körper-Geist-Dichotomie, a.a.O., S. 90–106. Jergius, Holger (1975): Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik. Bemerkungen zu Fichtes Wissenschaftslehren. Freiburg/München. Lorenz, Kuno (1995): »Dispositionsbegriff«. In: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Stuttgart, S. 492–493. Metzinger, Thomas (1999): Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektivität phänomenalen Bewußtseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation. Parderborn. Van Orman Quine, Willard (1985): Theorien und Dinge. Frankfurt a. M. Waismann, Friedrich (1939/1940): Was ist logische Analyse? In: Erkenntnis 8, S. 265–289. Zöller, Günter (1996): Setzen und Bestimmen in Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. In: Erich Fuchs/Ives Radrizzani (Hg.): Der Grundansatz der ersten Wissenschaftslehre Johann Gottlieb Fichtes. Neuried, S. 179–196
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Important thinkers are always interpreted in different ways. Recently, a steadily increasing number of observers have been concerned to bring together Hegel and a recognizably »analytic« approach to epistemology.1 Some of them have suggested that Kant and also Hegel subscribe to metaphysical realism (see Westphal, 2004). My limited aim in this paper is to make some remarks about the concept of realism in German idealism, especially as concerns the early Fichte. In this connection, I will make three related points. First, I will show that Kant’s so-called Copernican turn excludes metaphysical realism. Second, I will argue that in at least this particular respect Fichte remains very close to Kant. Third, I will emphasize the importance of Fichte’s concern for empirical realism in remarks intended to clarify the disputed question of Fichte’s philosophical contribution.
On types of realism We can begin by addressing the problem of realism. »Realism« is currently hotly disputed with nothing resembling agreement on the main issues. Everything happens as if the term were a mere placeholder, a word without content indicating a dispute with nothing central at stake. Perhaps the only safe claim about realism is that it is at least tacitly and very often explicitly a central element of any epistemological theory over the centur-
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See, in no particular order, e.g., Dietmar Heidemann, Klaus Vieweg, Wilfrid Sellars, John McDowell, Robert Brandom, Frederick Beiser, Pirmin Stekeler-Weithofer, Michael Quante, Wolfgang Welsch, Robert Pippin, Rüdiger Bubner, Alexander Grau, Kenneth Westphal.
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ies from the origins of Western philosophy in ancient Greece up to the present. All claims for knowledge are at least tacitly committed to some form of realism, to knowing »what is real«, but what that means is understood in many different ways. In recent debate, there has been a tendency to focus on the opposition between realism and so-called anti-realism. Here realism is understood as a semantic claim, a term that for present purposes I will take as undefined, and anti-realism is understood as an anti-semantic claim. Anti-realism is sometimes defended on the grounds that no decision procedure exists sufficient to make out Platonism broadly construed. Dummett, who exemplifies this approach, has attempted to focus the debate between realists and others with respect to the concept of truth. He argues that realism implies accepting a view of truth as bivalent and »evidence-transcendent« whereas on the contrary, anti-realism, which he favors, argues on behalf of knowable truth. Dummett applies this approach to the dispute between intuitionism and Platonism in mathematics in contending that no decision procedure exists to make out Platonic claims. This approach to realism through the debate between realists and antirealists provides a distorted idea of the problem of realism in general. The debate is wider, hence more complicated, than the specialized controversy between realism and anti-realism suggests. It is not limited merely to the analytic debate, but runs throughout many forms of the discussion of knowledge. There are many kinds of realism. A short list, which by no means exhausts the many varieties, might include realism with respect to foreign policy, aesthetics, ordinary individuals, metaphysics, science and the empirical world, and so on. Realism in foreign policy means respecting power and downplaying the internal nature of other regimes, including with respect to human rights. This is the kind of view Henry Kissinger favors, but which is neglected in the neo-conservatism currently in fashion in the US. Aesthetic realism, which rejects naturalism and other styles, is an approach to art and art works favored by Marxists, for instance the Marxist philosopher Georg Lukács, as a privileged source of social knowledge. The realism of ordinary, philosophically unsophisticated individuals is the belief of the person that we have knowledge and when we know we in fact know the way the world is. Metaphysical realism concerns a philosophical formulation and defense of ordinary realism. It corresponds to the widespread philosophical conviction that under proper conditions at least
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some of the time some individuals can through the use of appropriate procedures reliably claim to grasp the mind-independent world as it is. This is correctly construed as a claim that to know is to grasp what is in independence from us. The metaphysical realist philosopher can be said to »redeem« the belief of the ordinary individual. Metaphysical realism, which has long been popular goes all the way back in the tradition until Parmenides, who can be read as arguing for an identity between knowing and being, which partly anticipates Kant. We owe to Parmenides, who is perhaps the first recognizably »modern philosopher«, the view that to know is to grasp what Kant later called things in themselves. Scientific realism is associated with scientism, or the belief that science is not only the main, but also finally the only reliable source of knowledge in our time. Scientific realists, who accord great weight to scientific progress, typically believe that science slowly but progressively reveals the way the mind-independent world really is. Empirical realism is, in comparison, the more modest claim, which draws the limits of knowledge at the limits of experience in claiming contending there is no reliable way to know which takes us beyond the limits of experience. An empirical realist limits claims to know merely to what is given in conscious experience.
Kant and realism Realism is a central, but not often debated theme running throughout German idealism, beginning with Kant. It is not sufficiently noticed that Kant is simultaneously committed to metaphysical realism and empirical realism. These twin realist commitments are associated in the critical philosophy with incompatible approaches to the theory of knowledge, which Kant never clearly distinguishes but to which he appeals in different passages in his writings. Kant’s famous letter to Herz (21 February 1772) written early in his socalled critical period points toward views of knowledge, which respectively feature what I will be calling, though Kant never uses these terms, representationalism and constructivism. These two approaches differ with respect to their strategies as well as their normative conceptions of knowledge. By representationalism, I will have in mind an epistemological approach in which knowledge consists in uncovering, discovering or revealing what is as it is. This epistemological approach is correlated with meta-
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physical realism. For a representationalist, knowledge consists in correctly representing mind-independent external objects, not as they appear, but as they really are. By constructivism, I will have in mind an epistemological approach in which knowledge consists in making, producing, or constructing the epistemological object. Constructivism, which is correlated with empirical realism, differs from representationalism in confining itself merely to phenomena, which, after we dispose of noumena, are not taken to be appearances, which in turn refer beyond themselves. Kant’s view of knowledge develops from representationalism to constructivism, and from metaphysical realism to empirical realism. In the letter to Herz, Kant is committed to representationalism but not yet to constructivism. His initial approach to knowledge concerns a claim to know objects through representations that grasp them as they are. Later, as he becomes aware of the limitations of making a claim for knowledge based on metaphysical realism, he becomes interested in the so-called Copernican revolution, a term he never uses to designate his own position. As concerns the critical philosophy, the Copernican revolution can be abbreviated as the claim that we can reliably claim to know only what we in some sense construct. In the Critique of Pure Reason, Kant seems to be pursuing both epistemological projects simultaneously. There is no doubt that in the Critique of Pure Reason, which contains his mature theory of knowledge, Kant simultaneously aims at correctly representing, as suggested in his letter, what is, or the mind-independent world, but also at exploring the hypothesis that is the basis of the Copernican revolution: we know only the (empirical) objects of experience and knowledge that we construct. Commentators, who overlook this distinction, who do not discern the difference between representing an independent real object, or, on the contrary, constructing an empirical object, sometimes see both projects as consistent or again as belonging to a single overall project.2
2
See Hanna, Robert (2001), p. 22: »Kant’s Copernican Revolution is in this way an all-things considered answer to the fundamental semantic question he raised in 1772: how can mental representations—and more specifically necessary a priori mental representations—refer to their objects. And the answer is that mental representations refer to their objects because ›objects must conform to our cognitions‹; hence our true a priori judgments are necessarily true independently of all sense experience because they express just those cognitive forms or structures to which
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This distinction is further often conflated in recent phenomenology. Husserl scholars sometimes claim he discovered phenomenology. At most, he invented a variation on the phenomenological theme, which is older than his position. Husserl and, following him, Heidegger both write frequently about going to what they refer to as the things themselves. Heidegger develops this theme in his so-called alethic theory of truth as the selfshowing of the object. They and others overlook the crucial distinction between theories based on noumena, or things in themselves, and theories based on phenomena, or what is given in consciousness, without any further claim to the appearance of what is. Kant’s Copernican turn points to a phenomenological approach to knowledge of the empirically real without any reference to the metaphysically real. Rather than pursuing the insight in the form of a theory of knowledge based merely on phenomena, Husserl and other »phenomenologists« influenced by him »close the door« on this approach in conflating the difference between things in themselves and phenomena.
On the interpretation of German idealism »Idealism« is understood in different, often incompatible ways. Though there are different idealisms (e.g. Platonic idealism, the new way of ideas, German idealism, British idealism), it seems they do not overlap in significant ways. It follows that there is probably no common position called idealism (see Rockmore, 2007). Controversy surrounds even the identification of the main German idealists. Since Strawson (see Strawson, 1966), analytic writers often approach Kant as if he were an unusual kind of empiricist but not an idealist, or again as if his idealism could be separated from what is still valid in his position. The main post-Kantian German idealists are usually identified as Fichte, Schelling and Hegel. Elsewhere I have argued that according to all the main criteria Marx is also a German idealist (see Rockmore, 2002). I will not repeat that argument here.
all the proper objects of human cognition automatically conform.«
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Fichte, Schelling, Hegel and Marx share at least four commitments, which together identify post-Kantian German idealism. They include an emphasis on system, a commitment to epistemological constructivism, a turn to phenomenology, and an emphasis on empirical realism. The concept of system already inspires Reinhold, the first thinker to undertake the project of reformulating the critical philosophy. Epistemological constructivism is the conceptual core of Kant’s Copernican revolution. A switch to a constructivist approach to knowledge requires a switch away from representations (or appearances) and toward phenomena, as well as a shift away from metaphysical realism toward empirical realism. Fichte’s oft-repeated assertion that he invariably follows Kant without significant deviation from the critical philosophy, which he probably believed, was extremely influential in the context of German idealism. In a crowd of claims to be the only one to interpret Kant correctly, his own claim to interpret Kant’s position correctly was accepted by Schelling and Hegel. They in turn read Kant in part directly but mainly through Fichte’s eyes. If, as I believe, post-Kantian German idealism consists in a series of reactions to Kant, we can infer that his reading of the critical philosophy played a crucial role in determining the specific reactions of these major figures. That does not mean that he interprets Kant correctly, since the very idea of providing a correct interpretation of any particular position seems questionable. What would it mean after several hundred years of effort to finally get Kant right? Fichte’s Kant may have been necessary, or at least useful at a time when he was still unknown. Yet it unfortunately tends to obscure his own highly original contribution, made in his own distinctive voice in drawing attention away from ways in which Fichte disagrees with or modifies Kant. Fichte’s interpretation of Kant according to the spirit of the critical philosophy follows Kant’s reintroduction of the ancient biblical distinction between the spirit and the letter. Not surprisingly, since he was always an independent thinker, even when he was unknown, Fichte differs from Kant on a number of central issues. They include but are not limited to, in no particular order, (1) the concept of the subject, (2) the thing in itself, (3) the relation between the a priori and the a posteriori, (4) the difference between moral heteronomy and moral autonomy, and the stress on (5) empirical realism instead of metaphysical realism. Surprisingly, these are not differences that only later develop as Fichte works out his position.
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They are rather present very early in Fichte’s thought as he is stating his view for the first time. (1) Elsewhere I have argued in detail that Fichte’s revised conception of the subject as finite human being, which leaves behind Kant’s transcendental unity of apperception, is a central contribution, which strongly shapes the post-Kantian German idealist tradition, including Marx. If the subject is not an epistemological principle, but a finite human being, then »transcendental idealism« cannot have the same meaning in Fichte and in Kant. The shift to a finite human subject points toward philosophical anthropology and beyond familiar Kantian claims for apodicticity. In the later German idealist tradition, Marx was influenced by Fichte’s view of the subject, which he made the basis of his own position (see Rockmore, 1980). (2) Like many of Kant’s contemporaries, perhaps most famously Jacobi, Fichte sharply rejects the thing in itself, which he associates, correctly I believe, with dogmatism. He could hardly be clearer in his view that, as he says, the thing in itself is a pure invention without any reality at all (Fichte, 1797, § 4). By »real« Fichte means what is given in experience. If things in themselves, or mind-independent external objects, are not real, then one cannot base a theory of knowledge on them. Fichte’s effort to work out a post-Kantian version of transcendental philosophy dispenses with any claims of the relation of representations to mind-independent objects. (3) Kant bases the conditions of the possibility of objects of experience and knowledge on a priori knowledge. For Kant, the interest of philosophy lies in its claim to be a so-called teleologia rationis humanae, roughly the idea that a priori reason is intrinsically concerned with the interests of human being (Kant, 1787, B 867). Fichte’s more modest but more interesting claim is that theory studies problems, which arise within the life. (4) This modifies the relation of the a priori to the a posteriori. For Kant the former grounds the latter. But for Fichte, each underlies, as well as derives from, the other. (5) The change Fichte introduces in Kantian morality makes it possible to understand it as functioning not merely as an unrealizable ideal but within ordinary human life. In inventing the concept of moral striving (Streben), Fichte goes beyond the stark distinction between moral autonomy and moral heteronomy that led Kant to the »unrealistic« view that there may never have been a moral individual.
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Realism in Fichte’s early position Fichte’s commitment to empirical realism is linked to his view of the subject as finite human being always already situated in the social context. Philosophy is concerned solely with the analysis of the contents of consciousness of ordinary individuals. Its aim is to explain experience, which he defines as representations within consciousness accompanied by a feeling of necessity (Fichte, 1797, § 1). Fichte proposes to solve the problem by discovering the ground of all experience, which lies outside experience (Fichte, 1797, § 2). This ground can be interpreted in two ways: as the object, which is the cause of experience; or again as the subject, which has experience. The former approach is roughly the same as traditional British empiricism, which features a causal theory of perception, or theory in which perceptions, or ideas in the mind, are derived from, but do not resemble external objects.3 Fichte denies explanation on the basis of an independent object in insisting on the role played by the subject. For Fichte, a finite rational being, that is, a person, in his own words, has nothing beyond experience. With that in mind, it follows we cannot aim to know what lies beyond it in the form of an object (Fichte, 1797, § 3). It further follows that for Fichte as for Kant one cannot seek to know the thing in itself, which lies outside experience. If that were the aim of philosophy, then it would not end in knowledge but in utter and total skepticism. In this simple claim, Fichte removes the thing in itself as even a possible object of investigation. With respect to the critical philosophy, which he claims to follow, three consequences follow for Fichte’s very different position. First, he gives up metaphysical realism for empirical realism. Though sophisticated thinkers continue to believe that to know we must reliably grasp the mind-independent world as it is, Fichte simply rules this out as belonging to the philosophical task. Kant did so as well. One can suppose, though I cannot argue this point here, that Kant’s later awareness of the tension between the representationalist effort to know mind-independent reality as it is,
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»The fundamental principle of [the modern] philosophy is the opinion concerning colors, sounds, tastes, smells, heat and cold, which it asserts to be nothing but impressions in the mind, derived from the operation of external objects, and without any resemblance to the qualities of the objects.« David Hume, A Treatise of Human Nature, Book I, part iv, sec. 4.
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and the impossibility of knowing it, was a factor in his turn to constructivism. Second, in effect, and despite his retention of Kantian terminology, as well as the Kantian project of deducing representations, Fichte simply abandons representations, hence representationalism. It follows he cannot subscribe to the concept of a representation as Kant understands it. For Kant, representations and appearances are synonymous terms. Appearances, as Kant reminds us, relate by definition to something that appears (see Kant, 1787, B xxvii). A phenomenon becomes an appearance if and only if there is something that appears. If one gives up the thing in itself, then experience is composed of phenomena only, not representations, since there are no appearances. Third, in ruling out a mind-independent object as an explanatory principle, for instance in a causal theory of epistemology, an approach popular throughout modern times, on pain of falling into skepticism Fichte’s only remaining recourse is to appeal to the subject, or in his terminology the self. The result, as Fichte quickly points out, is an important simplification of the problem of knowledge. There is a clear difference in Fichte’s position with respect to Kant’s understanding of the problem of knowledge. Kant’s familiar statement of the problem in the Herz letter, in which he talks about the analysis of the relation of the representation to the object, is triadic. But in Fichte, as a result of his turn away from the thing in itself, the relation becomes dyadic. In Fichte, the Kantian triadic relation of subject, representation, object, where a representation is both an appearance and an object of experience and knowledge, turns into a dyadic relation between a subject and an object, where the object is no longer an appearance, hence not a representation, but merely a phenomenon.
On Fichte’s philosophical contribution It is well known that Kant’s contemporaries understood his position as incomplete, hence as needing to be developed beyond the point at which he left it. Fichte, more than any other thinker, is the key to the later effort to interpret, carry forward and to bring to an end Kant’s critical philosophy. This task should be understood not as, as is often suggested, as working out an acceptable form of representationalism (see Longuenesse, 2005), hence as making sense of metaphysical realism. It should rather be understood as carrying out the Kantian project, suitably reformulated, in terms
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of empirical realism, hence on a phenomenological basis after a turn away from representationalism and a turn toward constructivism. An assessment of Fichte’s accomplishment is key to understanding German idealism. If Fichte has already completed the critical philosophy, then Hegel neither completes nor even further develops it. It would be more accurate to say that Fichte completed, or at least contributed to the completion of, a version of the Kantian program, which Hegel, who is critical of both Kant and Fichte, but influenced by both, further develops under the influence of Schelling and others, in his own position. Certainly Fichte’s own estimate of his contribution is widely short of the mark. His claims that his position is the basis of Kant’s, and again that it does not depart from the critical philosophy are both simply false. Depending on how one interprets Kant, Fichte is actually very far from the critical philosophy. On even a charitable interpretation, one can argue that Fichte rejects a number of key Kantian doctrines, hence cannot qualify as a seamless Kantian. This general question is joined in different ways by a number of observers (see Thomas-Fogiel, 2000, pp. 12–15). They include (1) Kroner’s teleological interpretation of German idealism, in which Fichte is a mere transitory moment, culminating in Hegel (see Kroner, 1921, 1924; Lask, 2002); (2) Philonenko’s reading of a supposedly non-idealist Fichte as bringing Kant to a higher and final level (see Philonenko 1984); (3) Henrich’s view according to which Fichte is not a more radical idealist or a philosopher of intersubjectivity since his view of the relation of a subject to itself is a model of reflection (see Henrich, 1967); and (4) Thomas-Fogiel’s claim that Fichte provides a theory of knowledge and »infinity« based on a critique of representation (see Thomas-Fogiel, 2000). This problem is extremely complicated since we do not know what we mean by the basic terms »German idealism« and »Kant’s critical philosophy,« which receive very different readings depending on the observer. A response to this question would at a minimum presuppose getting clear about how to understand German idealism, Kant, Fichte and Hegel, which goes beyond our task here. Yet we can at least furnish a partial response based on the present remarks on Fichte and realism. This paper has argued that Fichte differs from Kant i.A. in abandoning his representationalism and in developing his constructivism. On this minimal basis, I disagree with Kroner’s teleological interpretation in which Fichte constitutes no more than a transitory moment culminating in
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Hegel. For beginning with Fichte all the later German idealists adopt empirical realism and, for this reason, epistemological constructivism.4 I also disagree with Philonenko, since Fichte participates fully in the constructivist epistemological movement following from Kant’s empirical realism. The constructivist movement, which does not end with Fichte, undergoes further development in later German idealism in Hegel and Marx. Henrich is in my view incorrect that Fichte is not a philosopher of intersubjectivity but correct that his conception of the self is based on reflection. Yet this line of argument simply omits other features of his thought, such as his emphasis on empirical realism at the expense of metaphysical realism. Finally, for reasons expressed above, I am tempted to agree with Thomas-Fogiel that Fichte provides a theory of knowledge based on a critique of reflection. Yet a reasoned defense of this agreement must be postponed to another occasion.
Bibliography: Fichte, J. G., (1971): »Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre.« In: Fichtes Werke, Bd. I, Herausgeber I. H. Fichte, Berlin, S. 417–450. Hanna, Robert (2004), Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, Oxford. Heidemann, Dieter (2002), »Hegels Realismus-Kritik«. In: »Philosophisches Jahrbuch« 109, S. 129–147. Henrich, Dieter (1967). Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a. M. Hume, David (1968). A Treatise of Human Nature, Oxford. Kant, Immanuel (1975). Kritik der reinen Vernunft. In: Kant Werke, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bände III, IV, Darmstadt. Kroner, Richard (1921, 1924). Von Kant bis Hegel, 2 Bände, Tübingen. Lask, Emil (2002). Fichtes Idealismus und die Geschichte, Jena. Longuenesse, Béatrice (2005), Kant on the Human Standpoint, Cambridge. Philonenko, Alexis (1984), L’Oeuvre de Fichte, Paris. Rockmore, Tom (1980). Fichte, Marx and German Philosophy, Carbondale. — (2002) Marx After Marxism, Oxford. — (2007) Kant and Idealism, New Haven.
4 According to Dietmar Heidemann, Hegel, who discusses realism in the Phenomenology and especially in the skepticism article, was already aware of and sharply criticized metaphysical realism in the form of Schulze’s attempt to base strong realism on the facts of consciousness=Tatsachen des Bewusstseins. See Heidemann, 2002, S. 129–147.
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Strawson, Peter F., (1966), The Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London. Thomas-Fogiel, Isabelle (2000), Critique de la representation. Etude sur Fichte, Paris. Westphal, Kenneth R. (1989), Hegel’s Epistemological Realism : a study of the aim and method of Hegel’s Phenomenology of Spirit, Boston. — (2004), Kant’s Transcendental Proof of Realism, New York.
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In einer seiner ersten Publikationen am Anfang des 19. Jahrhunderts entwirft der junge Johann Friedrich Herbart die folgende Kantlesart, die in dem Bewusstsein einer gegenüber Kant und seinen Anhängern überlegenen Position formuliert ist, die es erlaubt, jene Autoren einer summarischen, auf argumentative Feinheiten nicht mehr achtgebenden Kritik zu unterziehen, die von spöttischen und sarkastischen Tönen durchaus nicht frei ist. »Gesetzt auch nur, es wäre bloß von der sittlichen Bildung im engsten Sinne die Rede; man mag davon alles Wissenschaftliche, alle Uebungen, alle Stärkungen der geistigen und physischen Energie, so weit man es immer möglich glaubt, abstreifen, und für andere Betrachtungen zurücklegen: – ist nun dasjenige, was sich dem Philosophen darbietet, indem er nur den Begriff der Sittlichkeit vor sich nimmt, auch dem Erzieher gegeben? Findet auch er den guten Willen vor, so daß er denselben nur gegen die Neigungen zu richten, nur auf die rechten Gegenstände durch den Vortrag der Moral hinzuweisen brauchte? Fließt etwa auch ihm die intelligible Quelle, – darf auch er den Strom, dessen Ursprung er nicht weiß, getrost vom Himmel ableiten? In der Tat, für denjenigen, der unsern neuern Systemen anhängt, ist nichts consequenter, als ruhig zu erwarten, dass sich wohl etwa ganz von selbst das radicale Gute, – oder vielleicht auch das radicale Böse bei seinem Zögling äußern werde; – nichts consequenter, als die Freyheit, die er in demselben, als in einem Menschen, doch voraussetzen muss, still zu respectieren, sie nur durch gar keine verkehrte Mühe zu stören, – wobey man fragen müsste, ob die Freyheit denn überhaupt gestört werden könne?; und so den wichtigsten Teil seines Geschäffts ganz aufzugeben, und am Ende seine ganze Sorge auf bloße Darreichung von Notizen zu beschränken.« (Herbart I, S. 260).
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Herbarts Kantlesart lautet: Wenn moralisch gutes Handeln eine Wirkung einer Kausalität aus transzendentaler Freiheit ist, kann das Eintreten oder Nichteintreten von moralisch guten Handlungen nicht am Nichtvorliegen oder Vorliegen störender empirischer, also gegebener Randbedingungen liegen, denn im gegenteiligen Fall würde die Freiheit ihrem Begriffe bei Kant zum Trotz nicht transzendentale Freiheit sein, sondern nur Erscheinung. Wenn nun aber bei einer und derselben Person einmal die moralisch gute Handlung eintritt, ein andermal aber eben nicht, kann, so der junge Herbart weiter, von Seiten der phänomenalen Welt der Grund bzw. die Ursache der ausbleibenden Handlung nicht erkannt werden, was das erste ist, es kann aber sehr wohl begriffen werden, dass der Grund oder die Ursache allein in der intelligiblen Verfassung des moralischen Subjekts liegen muß. Die Konsequenz daraus lautet, dass Moralität ein »gesetzloses Wunder« ist, dessen Eintreten man nun allenfalls ungeduldig erwarten kann. Herbart formuliert diese Kantlesart nun allerdings in einem pädagogischen Kontext. Er fragt, ob der Erzieher mit einer solchen Vorstellungsart etwas anfangen könne und verneint die Frage. Insofern Herbart die skizzierte Kantlektüre auf das »Geschäft der Erziehung« bezieht bzw. von diesem her formuliert, könnte man die Sache philosophisch auf sich beruhen lassen: Pädagogen müssen eben, weil sie überall hilfreich und allezeit bereit sein wollen, die ganze Welt von ihrem Standpunkt aus betrachten. Abgesehen aber davon, dass sich ein pädagogischer Standpunkt genauso wenig von selbst versteht wie ein moralischer, – der Herbartsche Text von 1804 »Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung«, auf den ich mich beziehe, kommt so naseweiß oder blauäugig nun doch nicht daher. Denn Herbart schreibt seine Kantlektüre durchweg mittels einer Parallelisierung von pädagogischen und vorausgesetzten philosophischen Argumentationen her, indem er überall ein »auch« einfügt. Er fragt also, ob dem Pädagogen die Moralität auch so gegeben sei, wie sie dem Philosophen dem Begriff nach vorliege, ob auch er, wie der Philosoph offenbar, auf die übergesetzlichen Wunder der intelligibel bewirkten moralischen Handlungen warten müsse usw. Damit aber ist klar, dass noch vor allem educational point of view unser Autor bereits eine philosophische Kantinterpretation für ausgemacht hält. Wir haben es also in jedem Fall mit einer originären Kantlesart zu tun. Herbert geht im Einzelnen so vor, dass er zunächst das, was er für den Inhalt der Moralphilosophie Kants hält, summiert – das moralische Ge-
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setz, seine Erkenntnis, die Tugend, die moralische Urteilskraft usw.1 Erst nach dieser Aufzählung kommt er darauf zu sprechen, wie diese einzelnen Bestimmungsstücke der Moralphilosophie systematisch miteinander zusammenhängen. Man darf dieses abgestufte Verfahren als Anschluss an den Zeitgeist verstehen, – als solcher ist er auch wohl gemeint, wenn Herbart von »gewöhnliche(n) […] nächste(n) Gedanke(n)« spricht, – um so pointierter stellt sich dann im übernächsten Schritt die Kritik an der »philosophisch« – »üblichen« Interpretation des Zusammenhangs dieser Alltagsbegriffe dar. Man kann also zunächst Folgendes festhalten: Herbart argumentiert in einem zweistufigen Gedankengang, der die Inhalte von Kants Philosophie und ihre systematische Deutung trennt. Er unterscheidet den erzieherischen und den diesem vorausgesetzten philosophischen Gesichtspunkt. Er tut dies aber so, dass er im Hinblick auf den Gedanken der moralischen Nötigung oder moralischen Motivierung fragt, ob das, was der Philosoph begrifflich festlege, dem Erzieher in der Erfahrung gegeben sei. Er entwickelt mithin eine genau bestimmbare Deutung der Philosophie des moralischen Gesetzes. Die Kantlesart, die Herbart vorbringt, dient ihm zur Abweisung des Kantianismus insgesamt. Das interessante aber ist nun dies, dass die Kantkritik Herbarts mit einer Kantdeutung identisch ist, die keineswegs als Kantkritik, sonder vielmehr umgekehrt als die in sich konsistenteste Interpretation der Kantschen Moralphilosophie angetreten ist, – es ist die Interpretation, die Carl Christian Erhard Schmid zum ersten Mal im Jahre 1790 in seinem »Versuch einer Moralphilosophie« vorgetragen hat. Schmid fragt 1790, ebenso wie Herbart 14 Jahre später, von dem Umstand her, dass wir bei einem und demselben Menschen bisweilen moralisch gebotene, bisweilen aber auch unmoralische Handlungen feststellen oder mindestens vermuten könnten. Im selben Sinne fragt übrigens auch Fichte in seinen Meditationen zur Elementarphilosophie: »Jede Willensäußerung ist bestimmt. – Aber warum ist nun nicht jede Willensäußerung moralisch, u. legal bestimmt? Woher kommt das Entgegenstreben, das auch ein Streben ist. Sollte es wohl noch dahin kommen; daß wir ein ursprüngliches sinnliches Streben annehmen müsten. Es scheint, Schmid dürfte Recht behalten mit seinem sinnlichen Fatalismus; wenn wir ein sol-
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Hier fehlt im Übrigen, neben anderem, die Achtung für’s Gesetz; mit Blick auf Herbarts »ästhetische« Fundierung der Ethik vermutlich kein Zufall.
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ches nicht annehmen. Und selbst Schmid muß es annehmen: denn die bloße Hinderung der Ohnmacht der Wirksamkeit ist’s nicht; die das Wollen verhindert, sondern ein entgegengeseztes Streben.« (J. G. Fichte, Gesamtausgabe, II/3, S. 184) Warum handelt ein Mensch unmoralisch? Kants Antwort in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«2 lautet: Wir sind frei im moralischen, determiniert durch pathologische Affizierung im unmoralischen Handeln. – Aber dann müsste man zugeben, dass es empirische Hindernisse für die Äußerung der transzendentalen Freiheit gibt, und das ist von den Prämissen her natürlich unsinnig. Schmids Antwort auf dieses Problem lautete: »Die Vernunft ist also frey in Absicht auf alles, was in der Zeit geschieht; aber eingeschränkt durch dasjenige, was die Begebenheiten in der Zeit bestimmt. Sie ist frey, und hat keinen Einfluß empfangen in Absicht auf alles, was sie würklich thut, so wie auf alle ihre Urtheile, der Form nach; aber abhängig und eingeschränkt in Absicht auf das, was sie nicht tut. Sie konnte, für diesen Fall, nicht würken.« (Schmid, 1790, S. 209 f.) Im Zentrum von Schmids Kant-Deutung steht der Begriff der moralischen Notwendigkeit oder Nötigung, dessen Gegenüber bei Kant und bei Schmid der Begriff des Zufalls ist. Das moralische Handeln kann nur widerzufälliges durch Vernunft notwendig bestimmtes Handeln sein. Zufälliges Handeln und Moralität schließen sich aus.3 Schmid denkt »Notwendigkeit« stets als kausale Notwendigkeit, das Handeln wird im guten Fall (seiner Moralität) durch die reine Vernunft bewirkt, und er muss Moralität auf diese Weise konzipieren, weil er für eine überzufällige Relation, die nicht kausale Nötigung bedeutete, keinen Begriff im Rahmen der Kantschen Philosophie zur Verfügung gestellt sieht. Schmid ist also davor gefeit, die Freiheit der Vernunft empirisch zu kontaminieren, – ein Vorwurf, den bekanntlich Fichte in seiner Creuzer-Rezension von 1793 (vgl. Fichte VIII, S. 411 ff.) gegen Reinhold erhebt. Aber der Preis, den Schmid zu zahlen hat, ist hoch: Alle Vorstellungen von Zurechnung meiner Handlungen auf mich als Person werden nichtig. Aus diesem Grund hat Reinhold in seiner Antwort auf Schmid die Vernunft
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Das Sollen ist ein Wollen, »das unter der Bedingung für jedes Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre« (vgl. Kant, 1965, S. 74). Ein Seitenstück zu diesen Theorien bildet die Diskussion im Braunschweigischen Journal in den Jahren 1789 und 1790 über die Frage, ob, nach Kant, Kinder moralisch gut handeln können (vgl. Langewand, 2003).
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und den Willen getrennt. Die Vernunft ist nach ihm praktisch nicht, sofern sie Wille ist, sondern sofern sie das Sittengesetz als einen möglichen veranlassenden Grund für das Handeln neben die durch Eigennutz veranlassenden Gründe stellt, zwischen denen, also zwischen Vernunft oder Eigennutz, der freie Wille seine Wahl trifft, und zwar grundlos, und insofern unbedingt, aber gebunden durch die Objekte, die gewählt werden (vgl. Reinhold, 1923, S. 518 f.). Fichtes Einwand in der Creuzer-Rezension lautete: Reinhold ziehe ein »Intelligibles in die Reihe der Naturursachen herab«, und nehme mithin ein Intelligibles an, das kein Intelligibles sei (vgl. Fichte VIII, S. 414). Zudem ergibt sich bei Reinhold die andere Schwierigkeit, dass nicht mehr verständlich ist, dass wir im Moralischen das Bewusstsein der Verpflichtung bzw. das Bewusstsein einer Verbindlichkeit haben, das sich wohl kaum aus dem bloß veranlassenden Grund dieses und jenes Zwecks ergibt. Durch die grundlose Freiheit der Wahl kommt Verbindlichkeit jedenfalls nicht in die Person. Für eine Philosophie, die sich in allen ihren Teilen als eine der Freiheit verstand, ist die Schmidsche Kantinterpretation natürlich eine ruinöse Schlussfolgerung, die auch nicht dadurch gemildert wird, dass Schmid den »praktischen Standpunkt des Handelnden« vom spekulativen Ergebnis seines intelligiblen Fatalismus trennen möchte (vgl. Schmid, 1790, S. 390 und den Kommentar von Creuzer, 1978, S. 195 f.). Und in der Tat kann man sagen, dass Schmids These vom »intelligiblen Fatalismus« wirklich Skandal gemacht hat. Den Fatalismus insgesamt hatte Kant selbst schon in seiner Rezension von Schulzens Sittenlehre den ärgsten Feind aller Freiheitslehre genannt und die kontroverse Kantliteratur in den 90er Jahren ist vielleicht sogar in der Hauptsache damit beschäftigt gewesen, nach Alternativen zu suchen, die den Intentionen Kants besser gerecht zu werden vermöchten. Spätestens an dieser Stelle ist die Frage nur schwer abweisbar, warum sich Herbart Anfang des 19. Jahrhunderts als repräsentative Kantinterpretation ausgerechnet Schmids Fatalismus vorgeben lässt; zumal eine Position der moralphilosophischen Diskussion der 90er Jahre von Herbart nicht erwähnt wird, die, wenn man es einmal an bloßen Äußerlichkeiten festmachen will, immerhin durch den »Übertritt Reinholds« zu Fichtes System geadelt war. Gemeint ist natürlich die moralphilosophische Position der frühen Wissenschaftslehre Fichtes. Fichte hat in den 90er Jahren zwei Vorschläge zur Umgehung des Fatalismus gemacht. Sein erster Vorschlag, noch in der Creuzer-Rezension, lau-
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tet: Das reine, durch absolut freie Selbsttätigkeit sich Bestimmen und Bestimmtwerden, das als Sittengesetz erscheint, ist zu trennen vom empirischen Bestimmtsein durch äußere Kausalität der Natur; ihr Zusammenbestehenkönnen aber ist für uns Sache einer unerforschlichen »vorherbestimmten Harmonie« (Fichte VIII, S. 415), eines unerforschlichen höheren Beistandes (ebd. S. 416). Diesen Rückgriff auf den Gedanken einer prästabilierten Harmonie hat der junge Jenenser Student Herbart bereits 1796 als nicht zu beanstandende (!) Konsequenz der Philosophie der Subjektivität charakterisiert, – freilich nicht ohne den Geltungsvorbehalt, alle Schwierigkeiten auch der Moralphilosophie seien gelöst, nicht aber die Schwierigkeiten des die Moralphilosophie fundierenden Begriff des Ichs selbst. Von Herbarts intellektueller Biographie her betrachtet führt ein sachlicher, also gerade nicht biographisch, und das hieße ja hier: kontingent vermittelter Weg zu den Grundlagen des transzendentalen Idealismus im Begriff des Ichs. Ab 1796 war es, das sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt, Ziel der gesamten Anstrengungen Herbarts, zur philosophischen Destruktion des Ichs als des Grundes der Philosophie im Sinne des Idealismus zu gelangen.4 – Fichtes zweiter Lösungsvorschlag, im System der Sittenlehre von 1798, hat eines seiner Motive fraglos in der Durchkreuzung aller kausalistischen Deutungen des Verhältnisses von reiner praktischer Vernunft (= freier Wille) und phänomenalen Handlungen in der Erscheinung. Das Beispiel Kants und Schmids hatte jeweils gezeigt, dass die Interpretation der moralischen Verbindlichkeit mittels des Schemas der Kausalität ein Kurzschluss ist. Im System der Sittenlehre von 1798 unterscheidet Fichte nun die Freiheit der Reflexion von der Freiheit, die reflektiert wird. Die Reflexion selbst ist für mich als Reflektierenden unhintergehbar mit dem Gedanken ihrer Ungehindertheit und Freiheit verbunden; in der Reflexion meines Naturtriebes entdecke ich die transitorische Abhängigkeit meines Wollens von je konkreten Objekten. Wenn ich begehre oder will, will ich stets etwas, aber ich kann statt dieses Etwas ein anderes Etwas begehren oder wollen. Hier bin ich zwar nicht materialiter frei, aber doch formal, nämlich wegen meiner Nichtdeterminiertheit gerade immerzu dieses eine wollen zu müssen. Von diesem einzelnen Wollen erreichen wir nun den Gedanken des Willens durch eine zweite Reflexion auf die erste Reflexion,
4 Zur Selektivität des Herbartschen Zugriffs auf Fichtes Philosophie vgl. Langewand, 1997.
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also auf die Einsicht in die »Verschiebbarkeit« der Willensobjekte und die Möglichkeit, überhaupt durch die Vorstellung der Freiheit handeln zu können. Denn nun resultiert ein Begriff des Willens, der eine reine Selbstbestimmung bezeichnet, die im Sittengesetz erscheint (vgl. Fichte IV, S. 51 f.); – genetisch muss die Deduktion des Systems der Sittenlehre natürlich von hier ihren Ausgangspunkt nehmen. Der reine freie Wille selbst geht nicht in die phänomenal gegebenen Objekte meines Wollens ein, – hier ist die Stelle, an der Fichte das Schmidsche Problem des intelligiblen Fatalismus klar und deutlich als fehlgehende Spekulation skizziert. Wenn man übrigens das System der Sittenlehre unter dem Aspekt liest, was Fichte zur praktischen Vermeidung des Fatalismus, also zur realen Situation der moralischen Verblendung einer Personen anfügt, erhält sein Text einen leicht paränetischen Charakter: Reflektiere andauernd! ist sein Ratschlag. Dieser zweite Ansatz von Fichte zur Moralphilosophie, um wieder auf Herbart zurückzukommen, wird aber im Text Herbarts von 1804 so wenig erwähnt wie der erste aus der Creuzer-Rezension. Fichte fehlt überhaupt in Herbarts summarischer Behandlung der kritisch-idealistischen Moralphilosophie. Wir als Interpreten können natürlich sehen, wie sehr Herbarts Arbeiten seit 1796, vor allem aber seit 1798, sich samt und sonders um die Kritik an Fichtes Philosophie drehen. Aber ein zeitgenössischer Leser konnte das natürlich nicht. Überprüft man noch einmal den Text, ergibt sich freilich doch ein starker Hinweis Herbarts auf den Grund der Abwesenheit von Fichte im Herbartschen Text. Denn Herbart nimmt eine berühmte Formulierung in seinen Text auf, die für den kundigen Zeitgenossen signalisierte, wie es in Herbarts Perspektive mit der Fichteschen Ich-Philosophie insgesamt stehen mochte: »Der Wille, der nichts will, ist ein Widerspruch« (Herbart I, S. 109),5 – das ist fast wörtlich die Formulierung von Friedrich Heinrich Jacobi in seinem Streit mit Fichte. Bezogen auf den Text von 1804 heißt das: Die strikte Trennung von noumenaler und phänomenaler Welt durch Vermeidung einer kausalen Relation zwischen beiden gelingt auch dann nicht, wenn man den Geltungsbereich des freien Willens auf die noumenale Welt begrenzt, weil dann unklar wird, was »Wille« überhaupt noch bedeuten soll. Das Schmidsche Problem lautet also, einfach formuliert: Diejenige Relation, die die Unterscheidung von noumenaler und phänomenaler Welt in
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Ein Wille, der nichts will, ist ein Unding (vgl. Jacobi III, S. 37 f.)
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eine die Moralität ermöglichende Synthese überführt, ist die Kategorie der Kausalität. Aus einer anderen Perspektive, nämlich derjenigen des Handelnden, lässt sich dann auch sagen, dass die moralische Nötigung, das moralische Sollen, als ein Müssen begriffen werden muss. In diesem Fall ist die gedankliche Vermeidungsalternative, der das moralische Müssen zu trotzen hat, der (moralische) Zufall. Spätestens seit Creuzers an Kants Kategorientafel angelehnten »Skeptischen Betrachtungen« (vgl. die Übersicht des Freiheitsproblems bei Creuzer, 1793, S. 30–38) und seit seinem im Grundsatz durchaus zwiespältigen Lob Schmids (vgl. ebd. S. 183) ist diese Zusammenstellung von Moralität und kausaler Notwendigkeit ein Gemeingut der Kant-Diskussion. Entsprechend dieser Konturierung des Konzeptes der moralischen Nötigung läuft Fichtes (und ebenso später Herbarts) Bemühen, im Falle Fichte spätestens seit den »eignen Meditationen«, darauf hinaus, die Kausalität als Interpretation der Relation noumenal/phänomenal zu vermeiden, was im Übrigen, wie Fichte stets betont, dem Sinn der Kategorien im Deduktionskapitel der Kritik der reinen Vernunft von Kant entspräche, und durch eine »Kausalität, die nicht wirkt« zu ersetzen, durch das »Streben«, durch den »Trieb«, die beide als »Vorstellung des Wirkens« verstanden werden. Die Schlussfolgerung daraus ist mithin: Wodurch immer die Unterscheidung phänomenal/noumenal synthetisch verknüpft wird, es bleibt dabei, dass Schmids Fatalismus, sei er nun in »intelligibler« oder »sinnlicher« Variation gemeint, die in sich konsequenteste Interpretation der Kantischen Moralphilosophie darstellt. Tatsächlich hat ausgerechnet Fichte dies in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 selbst so formuliert: Der intelligible Fatalismus sei das »konsequenteste System über Freiheit, das vor der Begründung einer Wissenschaftslehre möglich war« (Fichte I, S. 263, Anmerkung). Ganz offensichtlich hat Herbart in dem kleinen Aufsatz von 1804 diese Sichtweise übernommen, und sie kritisch gegen Kant und die Kantianer gewendet. Schmids Interpretation, die Kausalität sei die Art von Synthese der phänomenalen und noumenalen Welt, die »Moralität« ergebe, wird von ihm zurückgewiesen, die Differenz von noumenaler und phänomenaler Welt selbst aber beibehalten, und nun statt einer logisch, physisch oder moralisch interpretierten Notwendigkeit die ästhetische Notwendigkeit ins Spiel gebracht, die, so Herbart, »in lauter absoluten Urteilen ganz ohne Beweis spricht, ohne übrigens Gewalt in ihre Forderungen zu legen«, – in diesem letzten Halbsatz liegt die Verabschiedung der Kausalitätssynthese
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in Sachen Moralität. »Also als findend eine Notwendigkeit erscheint er sich. – Oder vielleicht erscheint Er sich gar nicht, denn die Notwendigkeit könnte er ja finden, ohne den Blick auf Sich zu richten? Diese Frage wird, ein wenig weiter unten, sich von selbst genauer beantworten. Zuerst frägt sich: welche Notwendigkeit wird gefunden? Keine theoretische; man kennt den Unterschied zwischen Sollen und Müssen; und einen Befehl würdigen, heißt nicht, sich nach dem Unabänderlichen bequemen. Also auch keine logische; denn diese ist, an sich, ebenfalls ein Müssen; sie verweis’t überdas auf einen höhern Grundsatz, und verschiebt also nur die Frage: wie und warum denn Er notwendig sei. – Also Nichts Geschlossenes, Nichts Gelerntes, Nichts in der Erfahrung Gegebenes oder durch die Naturlehre Erforschtes! So weit behält Kant durchaus recht, der das Empirische der reinen Vernunft streng entgegensetzt. – Man wird aber hoffentlich hier nicht etwa antworten: eine moralische Notwendigkeit! Denn es ist nur eben zuvor gezeigt, dass wir hier ganz außer dem Gebiet der Moral sind. Die Rede ist von dem UrsprünglichNotwendigen, was erst dann etwa sittlich – notwendig werden wird, wenn es, im Gegensatz gegen die Neigung, den Gehorsam regiert. Unter den bekannten Notwendigkeiten ist nur noch die ästhetische übrig.« (Herbart I, S. 263 f.). Man kann daher in der Abwesenheit der Fichteschen Sittenlehre in Herbarts moralphilosophischer Synopse aus dem Jahre 1804 eine heftige polemische Spitze gegen Fichtes Philosophie erblicken: Sie ist in Herbarts Augen schlechterdings unzuständig für die theoretische Erörterung der Moralität; sie hatte dem Schmidschen Problem des intelligiblen Fatalismus nicht wirklich etwas entgegen zu setzen und bedarf daher keiner Erwähnung. Will man nun wissen, worin diese Unzuständigkeit begründet ist, muss man, nach Lage der Dinge, also nach der Situation der vorhandenen Texte, mit einem scheinbaren Paradoxon antworten: Weil Fichtes Philosophie entweder nicht idealistisch (genug) ist, oder sie in den kantianischen Schwierigkeiten stecken blieb. Dass Fichtes Philosophie des Idealismus ermangelt, ist nun freilich eine als eine dem jungen (oder alten) Herbart zugeschriebene Position auf den ersten Blick ganz widersinnige Behauptung, denkt man an das vorherrschende übliche Bild von Herbart als dem scharfen Kritiker der idealistischen Ich-Philosophie. Und doch ergibt sich diese Charakterisierung aus der Sache selbst, so wie Herbart sie analysiert hat: In der Diskussion nämlich, die Herbart im Jahr 1796 mit Fichte über die beiden Arbeiten des jungen Schelling »Über die Form« und »Vom Ich« ge-
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führt hat, hat der junge Jenenser Student die Ausführungen Schellings über die praktische Philosophie und den Freiheitsbegriff ausdrücklich, und sicherlich auch ohne Hintersinn, gelobt: »Die Probleme von der transcendentalen Freyheit, der prästabilierten Harmonie, u.s.w. sind sehr consequent aufgelöst; und scheinen durch SCH.s System sogar von aller Schwierigkeit befreyt zu seyn.« (Herbart I, S. 33). »Die Probleme der transcendentalen Freiheit und der prästabilierten Harmonie«, – man denkt natürlich sofort an die Stellung von Fichtes Creuzer-Rezension in der Freiheitsdiskussion der frühen 90er Jahre, in der Fichte, so die Position Herbarts, das Freiheitsproblem im Sinne eines Spinozismus des reinen Ichs lösen wollte. Nimmt man hinzu, dass Herbart die Änderungen der Fichteschen Rezension von der Creuzer-Rezension hin zur Position der Wissenschaftslehre von 1794/95 und zur Wissenschaftslehre nova methodo, die Herbart in Jena gehört hat, bekannt waren, ergeben sich aber die alternierenden beiden Schlussfolgerungen: Entweder ist Fichte nicht Idealist genug, Idealist im Sinne Schellings, oder er ist Idealist im Sinne Kants.6 Im ersten Fall ist die moralphilosophische Position in sich konsistent, aber, so Herbart weiter, freilich sind nun alle Probleme in den Prinzipien konzentriert (vgl. Herbart I, S. 33), im zweiten Fall ist das Freiheitsproblem seit den frühen 90er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht von der Stelle gekommen. Und deshalb verläuft in beiden Fällen Herbarts vermeintlich pädagogische Diagnose seiner zeitgenössischen Moralphilosophie von Fichte über Kant zu Schmid.
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6 Zum Verhältnis Schelling-Herbart vgl. die gegenläufigen Interpretationen von Lauth, 1975, S. 205–211 und Langewand, 1991, S. 128–153.
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I. Die Fragestellung Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Fichtes Philosophie in engem Bezug zu Kants Kritizismus steht und dass Fichte sich zugleich darum bemühte, sowohl sein eigenes Denken definitiv von Kants Philosophie abzukoppeln als auch diejenigen Elemente von Kants Lehre, die er in seine eigene Konzeption übernehmen wollte, umzuformen, zu korrigieren und zu vervollkommnen. Ebenso bekannt ist es, dass Schopenhauers Philosophie (obwohl sie sich bewusst abseits der Verbindungslinie zwischen kritischer Philosophie und Idealismus stellt und, nolens aut volens, zu einem guten Teil antiakademisch ist) starke Anleihen bei Kant gemacht hat, besonders in der Erkenntnistheorie, und dass trotzdem ein erheblicher Teil seines Gedankengebäudes die Kritik an Kant zur Grundlage hat, auf dem Gebiet der praktischen nicht minder als auf dem der theoretischen Philosophie. Es kann unter diesen Umständen nicht erstaunen, dass Schopenhauer bei der Auseinandersetzung mit Kant auch in positiver wie negativer Weise von Fichtes Umformung Kantischer Konzeptionen Gebrauch machte.1
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Vgl. v. a. Schopenhauer, Nachlass 2, S. 251–304 (Kant). Die Auffassung des Willens ist das auffälligste Beispiel für eine von Fichte ausgebaute und vertiefte Lehre Kants, von der Schopenhauer in ›positiver‹ Weise Gebrauch macht: Obwohl der Wille bei allen drei Autoren einen erheblichen Stellenwert besitzt, konnte er die zentrale Rolle, die er bei Schopenhauer einnimmt, erst im Durchgang durch Fichte erhalten. Ein Beispiel für eine ›negative‹ Verwendung von Reflexionen Fichtes über entscheidende Punkte von Kants Philosophie ist Schopenhauers Konzeption des erkennenden Subjekts: Ein genauerer Vergleich zeigt zwar, dass Schopenhauer mit
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Abgesehen von einzelnen strittigen Fragen wird Kant jedenfalls von Schopenhauer als der Lehrmeister schlechthin betrachtet: Kants Denken – so schreibt er – ist die »wichtigste[…] Erscheinung, welche seit zwei Jahrtausenden in der Philosophie hervorgetreten ist«,2 und diese »Erscheinung« wird zum initialen Impetus für Schopenhauers eigene Arbeit. Die Angelpunkte von Kants Erkenntnistheorie – die Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, die Unterscheidung zwischen ›phainomenon‹ und ›noumenon‹, zwischen Verstand und Vernunft und das Verhältnis der reinen Anschauungen a priori, der Kategorien, Ideen usw. zueinander – bilden die Ausgangspunkte von Schopenhauers Philosophie und erlauben es ihm, durch die Einführung wohlüberlegter Korrekturen zu einer neuen ›Metaphysik‹ zu gelangen, die sich als Endergebnis eines gezielt transformierten Kritizismus präsentiert. – Ganz anders Schopenhauers Verhältnis zum Idealismus. Seit der Vorrede zur ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung geht die ausdrückliche Anerkennung der historischen Rolle Kants nicht nur mit einer konzentrierten Kritik am Idealismus einher, sondern verbindet sich zudem mit zahllosen ironischen Seitenhieben und beißenden, ja gehässigen Bemerkungen gegen die berühmtesten Vertreter des Idealismus. Und der Hass auf den zu dieser Zeit am hellsten strahlenden Stern am philosophischen Himmel – Hegel – wirkte sich wahrscheinlich auch auf Schopenhauers Einschätzung anderer Autoren ähnlicher philosophischer Ausrichtung und Provenienz aus. Trotz alledem bleibt es eine Tatsache, dass Schopenhauers Denken demselben philosophischen Nährboden entwachsen ist wie die Philosophie Fichtes und Schellings. Und nicht allein dies. Das eingangs bereits konstatierte ambivalente Verhältnis Fichtes und Schopenhauers zu Kant, das – vor allem beim ersteren – stark ausgeprägte Streben nach Emanzipation von Kant, um zu einer eigenständigen Philosophie zu gelangen, zugleich aber auch die Absicht, den von Kant eröffneten ›transzendentalen‹ Weg erneut zu beschreiten (trotz aller notwendigen Modifikationen): all dies musste fast zwangsläufig zu einer Annäherung von Fichte 3 und Scho-
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seiner Auffassung näher bei Kant als bei Fichte steht, doch konnte er erst auf dem Weg über Fichtes Umgestaltung der Kantischen Lehre zu seinem Resultat gelangen (vgl. auch Welsen, 1997, S. 31–61). Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, S. XI. Der mehr als alle anderen daran interessiert ist, den ›kritischen‹ wie den ›transzendentalen‹ Ausgangspunkt zugleich zu bewahren. Nur aus Gründen der räumlichen
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penhauer führen. Bei diesen beiden Autoren lassen sich deswegen spezifischere wie allgemeinere Momente der Konvergenz feststellen: Die spezifischeren resultieren daraus, dass beide das Projekt einer selbständigen Kritik und Umformung von Kants Philosophie verfolgen; die allgemeineren ergeben sich aus der gemeinsamen philosophischen Atmosphäre, in der sich beide Protagonisten bewegen.4 In diesem geistigen Ambiente werden beide mit ähnlichen philosophischen Fragestellungen konfrontiert, und selbst wenn sie dabei zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Lösungen gelangen, so bilden doch immerhin dieselben Themen den Gegenstand ihrer Reflexion oder die Folie ihres Denkens. Die Untersuchung über einen möglichen Einfluss Fichtes auf Schopenhauer muss also zwei Gesichtspunkte berücksichtigen: einmal die besondere Stellung von Schopenhauers Philosophie dem Idealismus gegenüber und zum anderen die Vielzahl gemeinsamer Themen im Denken dieser beiden Autoren, für die – aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise – Kant der unverzichtbare Bezugspunkt war. Schopenhauers besonderes Verhältnis zu Fichte erklärt, wieso wir in seinem Werk nur spärliche Hinweise auf Fichte finden und dass diese wenigen Hinweise dann weitgehend von Kritik, ja von Spott geprägt sind, während eine ernsthafte und sachliche Auseinandersetzung ganz zu fehlen scheint. Von Ausnahmen abgesehen, ist es deswegen nicht möglich, in Schopenhauers Denken einzelne Elemente zu isolieren, die sich direkt auf Fichte zurückführen ließen, oder bei bestimmten Fragestellungen und Lösungsansätzen kausale Beziehungen herzustellen. Wer mit dem Werk eines der beiden Autoren vertraut ist, hat dennoch häufig den Eindruck, auf Themen zu stoßen, mit denen sich auch der andere beschäftigt. Unmittelbar drängt sich das Bild eines Horizonts gemeinsamer Interessen auf, einer von den-
Beschränkung wird der wesentliche Beitrag der Philosophie Schellings hier vernachlässigt; zumindest hinweisen möchte ich jedoch auf seine zentrale Rolle für die Naturphilosophie in Schopenhauers System (vgl. dazu die Pionierarbeit von Wapler, 1905, bes. S. 381 ff.), vor allem aber auf den selten erwähnten, meines Erachtens jedoch wirklich bedeutenden Einfluss seiner Philosophie der Kunst auf Schopenhauers Ästhetik (dabei geht es nicht nur um die Übernahme einzelner charakteristischer Begriffe durch Schopenhauer, beispielsweise des Begriffs der Potenzen, sondern um die gesamte Architektonik der verschiedenen Künste und ihrer Beziehungen zueinander). 4 Dies braucht hier nicht weiter ausgeführt werden, da hierzu eingehende Untersuchungen von G. Zöller vorliegen (Zöller, 2000; 2003; 2006).
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selben Lektüreerlebnissen ausgehenden philosophischen Entwicklung (von der Forschung wurde unter anderem Spinoza genannt), einer Auseinandersetzung mit denselben Gesprächspartnern (man denke etwa an G. E. Schulze, der Schopenhauers Lehrer wurde und zugleich ein wichtiger Gesprächspartner des jungen Fichte war), obwohl sich aufgrund des Altersunterschieds nicht von derselben Schule oder gemeinsamen Lehrern sprechen lässt. Was ich im Folgenden vorstellen möchte, ist eine Auswahl von Fragestellungen, die sich bei beiden Philosophen finden und für die beide entweder gleiche oder ähnliche – oder auch voneinander abweichende Lösungen gefunden haben. Schwieriger scheint mir dagegen, wie gesagt, der Versuch, einen kausalen Zusammenhang oder jedenfalls eine engere Verbindung zwischen einzelnen Lehren beider Denker herzustellen. Dies zeigt sich auch bei den bisher unternommenen vergleichenden Untersuchungen beider philosophischen Konzeptionen, die zwar durchaus wichtige Resultate erbracht haben, im Allgemeinen aber nicht darüber hinausgelangt sind, mögliche Anklänge festzustellen oder gemeinsame Ausgangspunkte herauszuarbeiten, die beide dann zu ihren unterschiedlichen Schlussfolgerungen führten. Das sind m. E. die Grenzen, die einer Untersuchung dieser Art notwendig gesetzt sind, und dieser Eindruck wird durch die gedruckten wie handschriftlichen Quellen erhärtet, denn diese belegen zwar, dass Schopenhauer mit Sicherheit viele Schriften Fichtes kannte, ja sogar einige der Berliner Vorlesungen in Fichtes letzter Lebensphase hörte (1811/1812), lassen andererseits aber niemals sonderliche Begeisterung oder auch nur intensiveres Interesse erkennen.5
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Vgl. Schopenhauer, Nachlass 2, S. 338–360 ([Zu Fichte]) und Nachlass 5, S. 45–58. Die Studienhefte 1811–1818 belegen, dass Schopenhauer sich mit folgenden Schriften Fichtes beschäftigt hat: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Die Anweisung zum seligen Leben, außerdem mit der Sittenlehre, dem Naturrecht und der Kritik aller Offenbarung. Nach der Analyse und Kommentierung einiger Seiten des Systems des transcendentalen Idealismus unterzieht Schopenhauer darüber hinaus die Naturphilosophien Schellings und Fichtes einem interessanten Vergleich. In Nachlass 2, S. 29–216 findet sich die Nachschrift von Fichtes Kolleg Ueber die Tatsachen des Bewußtseyns und die Wissenschaftslehre, das Schopenhauer im Herbst 1811 hörte (vgl. Nachlass 2, S. XV u. S. 16–29).
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II. Einige Aspekte dieses Einflusses 1. Der Wille Das erste Thema, das sich bei einem Vergleich der Philosophien Fichtes und Schopenhauers aufdrängt, ist der Begriff des Willens oder, genauer, der für die Lehre beider Denker charakteristische Voluntarismus: Der Wille ist das logische primum beider Systeme, und für beide Philosophen liegt der wahre Ursprung jeder möglichen moralischen Umkehr im Willensentschluss.6 Die Autorität, die hier ganz unverkennbar im Hintergrund steht, ist wiederum Kant mit seiner Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, dem Vorrang der praktischen Vernunft vor der theoretischen, der Identifikation der praktischer Vernunft mit dem Willen und schließlich dem Korollarium, dass es in der Welt nichts unbedingt Gutes außer dem guten Willen gibt. Auf diesem Gebiet ist Fichte sehr viel kantianischer als Schopenhauer es im Grunde ist – und das obwohl Fichte sich beständig darum bemühte, den kantischen Dualismus zu überwinden und das »Ding an sich« aus seinem System zu verbannen, während für Schopenhauer, vereinfacht gesagt, letztlich der Wille mit dem Ding an sich zusammenfiel, das er, genauso wie Kant, bewahrt wissen wollte. Kant hat zwar den Königweg für die Analyse des Willens erschlossen (den er fast ausschließlich als »reinen Willen«, also in der Reinheit seiner Beweggründe betrachtete), doch ein vollständiges und geschlossenes Bild des Willens hat erst Fichte gezeichnet: Er macht ihn zu einem der unbestrittenen Protagonisten seines Systems und erkennt ihm eine wesentlich größere, differenziertere und facettenreichere Rolle zu, als er sie bislang besaß. Bei Fichte fällt der Wille nicht allein zum Teil (wenn er nämlich in seiner Reinheit betrachtet wird) mit der Vernunft zusammen, sondern be-
6 Wapler, 1905, S. 378: »[…] unter dem sehr starken Einfluß der Ethik Fichtes« begann (in der zweiten Hälfte des Jahres 1812) Schopenhauers Willenslehre »sich zu gestalten«. Es ließe sich hinzufügen, dass Schopenhauer für Anregungen durch Fichtes Sittenlehre besonders empfänglich sein musste, nachdem er die Kritik der praktischen Vernunft zumindest zum Teil (die Rolle der Ideen) zustimmend gewürdigt und sich eingehender mit Schellings Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit beschäftigt hatte (vgl. Schopenhauer, Nachlass 2, insbes. Anmerkungen zum ersten Band von Schellings philosophischen Schriften, S. 306–313, und Ueber den ganzen Aufsatz über die Freiheit, S. 314).
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sitzt auch die Bedeutung der Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse, also der Willkür. Diese Erweiterung der Kantischen Perspektive erlaubt es, eben das intentionale und damit verantwortliche Handeln eines Menschen zu untersuchen – auch wenn dieser nicht in der unrealistischen Situation einer ausschließlich rationalen Bestimmtheit betrachtet wird (so dass die Figur des »als ob« bemüht werden müsste), sondern in der Ganzheit seiner vernünftigen und natürlichen Dimension akzeptiert wird. Fichte berücksichtigt diese natürliche Dimension in weitem Umfang: Sie bedingt unmittelbar das Verhalten der Menschen, aber sie hat Auswirkungen auch für das Urteil des Philosophen über ihre Handlungen und damit für dessen gesamte Theorie des menschlichen Handelns. In diesem Punkt besteht eine ziemlich markante Differenz zwischen den Konzeptionen Fichtes und Kants – wobei freilich auch Kant um die starke Bedingtheit durch die natürliche Komponente weiß, aber gerade deswegen ihren Einfluss aus seiner Theorie des sittlichen Handelns vollständig auszuschließen sucht. Schopenhauer seinerseits nähert sich diesem Fragenkomplex aus einer ganz anderen, nämlich der deterministischen Perspektive. Der Wille ist nicht frei, sondern der Notwendigkeit unterworfen – mit diesem Axiom eliminiert er aus seiner Lehre jegliche Möglichkeit einer freien, bewussten und verantwortlichen Entscheidung des gewöhnlichen Menschen und beseitigt damit radikal auch die Möglichkeit der Willkür. Der Wille ist jetzt nur mehr eine Kraft, die als natürliches Urelement jedem Bestandteil der »Welt« innewohnt, von der untersten und am wenigsten strukturierten Stufe des Anorganischen bis zur höchsten Stufe des Organischen, dem Menschen. Auch im Menschen wirkt diese Kraft, diese qualitas occulta, mit strikter Notwendigkeit. Sie ist eine blinde Kraft – blind wie der Naturtrieb bei Fichte. Mit einem Unterschied: Fichtes Naturtrieb kann von der Vernunft, die stets wirksam ist, sobald der Reflexionsprozess einsetzt, in eine andere Richtung gelenkt und erzogen werden. Überflüssig zu bemerken, dass für Fichte die Aussage ›die Vernunft ist wirksam‹ gleichbedeutend ist mit der Aussage ›der Wille des vernünftigen Wesens ist wirksam‹. Damit wird dieser Wille zum privilegierten Zugang zur Freiheit, einer Freiheit, die praktisch und theoretisch zugleich ist – und praktisch, noch bevor sie theoretisch ist. Kant hatte gesagt: Zugang zur Freiheit als dem ›Ding an sich‹; Fichte eliminiert die Unterscheidung zwischen Erkennen und Denken und sagt einfach: Zugang zur Freiheit. Schopenhauer wiederum glaubt an der Kantischen Unterscheidung zwischen phainomenon und Ding an sich festhalten zu müssen, beseitigt zu-
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gleich aber, wie Fichte, die Unterscheidung zwischen Erkennen und Denken; er siedelt das Ding an sich nicht in einem über dem Himmel gelegenen ›Jenseits‹ der Welt an, sondern in jener qualitas occulta, die er gewiß nicht zufällig »Willen« nennt, und findet im Leib den unmittelbaren Zugang zum Ding an sich und seiner unmittelbarsten Objektivation, eben dem Willen (der Leib wird von ihm als »die Objektität des Willens« bezeichnet; vgl. Welt als Wille und Vorstellung, S. 120).
2. Der Leib Und dies ist das zweite Thema, bei dem sich eine große Nähe zwischen den Philosophien Fichtes und Schopenhauers feststellen lässt. Der Leib, für den es in Kants transzendentaler Theorie keine Heimat gab, wird bei Fichte konstitutives Element nicht nur jeder Sitten- und Rechtslehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, sondern der Wissenschaftslehre selbst als philosophia prima; und dies allein schon deswegen, weil der Leib das erste Nicht-Ich ist, dem das Ich bei seiner Tätigkeit begegnet: Er ist das erste unmittelbare Objekt7 – genau so wie er für Schopenhauer das erste unmittelbare Objekt des erkennenden Subjekts darstellt. Wie für Fichte der Wille im Leib unmittelbar Kausalität besitzt und der Wille sich des Leibes bedient, um auf alle anderen Dinge zu wirken, so ist für Schopenhauer die Erkenntnis des Leibes der Zugang zur Erkenntnis der gesamten übrigen Welt, ja mehr noch: der Schlussstein dieser Erkenntnis. (Diese von so zahlreichen Berührungspunkten zwischen beiden Philosophien gekennzeichnete anfängliche Problemstellung8 kann natürlich nicht die au-
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Eben weil der Leib das erste Objektive, also das erste Nicht-Ich ist, mit dem es das erkennende Subjekt zu tun hat, nenne ich als Vorläufer von Schopenhauers Auffassung des Leibes lieber Fichte als Schelling, denn trotz aller späteren Differenzen zwischen diesen beiden Philosophen bildet die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) zweifellos den Ausgangspunkt der Geschichte des Idealismus. Der Vierte Lehrsatz der Grundlage des Naturrechts und die Einleitung zum System der Sittenlehre sind die anderen wichtigen Bezugspunkte für die Konzeption des Leibs als eines Ichs, das materiell und damit unmittelbar erkennbares Objekt geworden ist (vgl. Fichte, Sittenlehre, S. 29: »Der Wille ist in diesem Verhältnisse das subjective, und der Leib das objective«; vgl. aber v. a. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, S. 22 f.). 8 Aus Platzgründen kann ich mich hier nicht mit Fichtes Überlegungen zum Leib
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ßerordentliche Divergenz der Resultate verhindern, die auf die Unterschiede in der Entfaltung der theoretischen Konstruktion zurückzuführen ist: Während für Schopenhauer der Leib den unmittelbaren Zugang zum Ding an sich bildet – nämlich zum Willen in der spezifischen Bedeutung, die dieser Begriff in seinem System annimmt –, ist für Fichte der Wille – der in seiner Philosophie zudem eine wesentlich andere Bedeutung hat – der unmittelbare Zugang nicht zum Ding an sich, sondern zur Freiheit, als praktischer und dann auch theoretischer Freiheit.) Bei Schopenhauer ist die gesamte übrige Welt nur mittelbar Gegenstand der Erkenntnis – sie wird erkannt mittels der Figur der Analogie, denn ihre Erkenntnis erfolgt nach Analogie des einzigen unmittelbar erkennbaren Objekts: des Leibes.9 Dieses Resultat wird über einige Zwischenschritte erreicht, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Von Kants kritischer Philosophie und Fichtes Transzendentalphilosophie hatte Schopenhauer gelernt, dass die »empirische Realität« der Welt mit deren »transcendentale[r] Idealität« nicht nur nicht kollidiert, sondern sogar einträchtig koexistiert (vgl. Welt als Wille und Vorstellung, S. 17). Denn wenn Schopenhauer der Welt als Gesamtheit der Erfahrung eine empirische Realität zuschreibt, dann will er damit keineswegs die Position eines naiven Realismus einnehmen, sondern sagen, dass (1) in der Relation zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt kein Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht10 und (2) Objekt und Vorstellung genau zusammenfallen; deswegen ist »jene ganze wirkliche, d. i. wirkende Welt […] als solche immer durch den Ver-
auseinandersetzen und verweise dafür auf Schöndorf, 1982, S. 39 ff., und De Pascale, 2003, S. 149 ff. u. S. 205 ff. 9 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, S. 125: »Wir werden demzufolge die nunmehr zur Deutlichkeit erhobene doppelte, auf zwei völlig heterogene Weisen gegebene Erkenntniß, welche wir vom Wesen und Wirken unseres eigenen Leibes haben, weiterhin als einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur gebrauchen […].«; vgl. auch S. 130 f. u. S. 144 f. 10 Weil das erkennende Subjekt immer außerhalb der Gesamtheit der erkannten Objekte steht (die dem Satz vom zureichenden Grund in seinen verschiedenen Formen unterworfen sind, während das Subjekt außerhalb des Herrschaftsbereichs dieses Prinzips liegt: vgl. Welt als Wille und Vorstellung, S. 16 f.; zwischen Subjekt und Objekt besteht eine vollkommene Diskontinuität: vgl. ebd. S. 5 f. u. S. 15 f.) und weil sich die Erkenntnisrelation immer zwischen »unmittelbarem« Objekt (S. 6) und »mittelbaren« Objekten herstellt.
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stand bedingt und ohne ihn nichts« (Welt als Wille und Vorstellung, S. 17).11 In völliger Selbständigkeit gegenüber den genannten philosophischen Konzeptionen hat Schopenhauer dagegen die zweite Hälfte seines Gedankengebäudes entwickelt, die um die These kreist, dass das, was Objekt der Erkenntnis – und folglich »Vorstellung« – ist, zwar der empirischen Realität angehört, dass seine Realität aber »in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt« wird; als solche ist sie letztlich nicht mehr als ein »Schein«, ein »Traum«, da die Vorstellung das »Wesen« des Objekts, sein »An sich« nicht zu erreichen vermag. Glücklicherweise ist der Mensch kein bloßer »geflügelter Engelskopf ohne Leib«, ist nicht allein »erkennendes Subjekt«, und kann sich deswegen vom Schleier der Maja befreien. Nun ist zwar richtig, dass diese zweite Hälfte von Schopenhauers Lehre nur dann standhält, wenn die erste Hälfte sie stützt, aber auch das Umgekehrte gilt, ja, diese zweite Hälfte bedingt die Tragfähigkeit und Tragweite der ersten und balanciert deren Konsequenzen aus; nur die Summe beider Komponenten ergibt den definitiven Sinn der Konstruktion (entsprechend der besonderen Bedeutung, die die Konzeption eines »Systems« der Philosophie für Schopenhauer hat12 – auch dies ein genuin kritisch-idealistisches Thema). Da die mit der Erkenntnis der empirischen Objekte befassten Wissenschaften der »Morphologie« und der »Aetiologie« (Welt als Wille und Vorstellung, S. 114) uns nichts zu sagen wissen über das »innere Wesen […]
11 »[D]ie Erkenntniß der Wirkungsart eines angeschauten Objekts [erschöpft] eben auch es selbst […], sofern es Objekt, d. h. Vorstellung ist, da außerdem für die Erkenntniß nichts an ihm übrig bleibt« (Welt als Wille und Vorstellung, S. 17). Es sei daran erinnert, dass die Vorstellungen für Schopenhauer im Gegensatz zu Kant anschauliche Vorstellungen sind. 12 Ich bin der Überzeugung, dass Schopenhauer nicht weniger ernsthaft als Fichte eine in sich geschlossene und kohärente philosophischen Konstruktion anstrebte, unabhängig davon, zu welchen Resultaten er dann tatsächlich gelangt ist. Es ist deswegen unangemessen, bei der Interpretation seiner Philosophie eine einzelne Perspektive – die epistemologische, die ethische oder die ästhetische – zu privilegieren. Nicht nur in seinem Hauptwerk, sondern in seinem gesamten Gedankengebäude zeigt sich unbestreitbar eine systematische Anlage, die auf der – unverwechselbar von Fichte geprägten, aber natürlich auch bei Schelling und, mutatis mutandis, bei Hegel präsenten – Idee eines Systems des Wissens basiert, dessen Teile ein unauflösliches Ganzes bilden. Trotzdem bevorzugt Schopenhauer schon in den ersten Zeilen der Welt als Wille und Vorstellung anstelle des Begriffs »System« die Formel: »ein einziger Gedanke« (S. VIII).
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der Erscheinungen«13 (Welt als Wille und Vorstellung, S. 116) – das mit jener »Naturkraft« identisch ist, die Schopenhauer »Wille« nennt –, müssen ihnen andere Organe, andere Vermögen zur Seite gestellt werden, die die Erfassung dieses Wesens ermöglichen.14 Hier sei vorerst nur bemerkt, dass das zur Erfassung des Wesens der Erscheinungen bestimmte Organ das Gefühl ist.
3. Das Gefühl Bei diesem wichtigen Punkt müssen wir uns etwas aufhalten, nachdem die Untersuchung zur Rolle des Leibes und zu jener besonderen Art von ›Erkenntnis‹ abgeschlossen ist, die in Funktion tritt, wenn es nicht mehr um die »Welt als Vorstellung« geht, sondern um die »Welt als Wille«. Seit dem § 6 von Die Welt als Wille und Vorstellung heißt es, der menschliche Leib sei sozusagen das exemplum für das Wesen der Erscheinungen und den auschließlichen Zugang zu diesem Wesen. Und er ist das, weil er seine eigene innere Kraft unmittelbar zu erfassen vermag. Die oben erwähnte Analogie funktioniert in dem Maß, in dem das erkennende Subjekt, das seine eigene Kraft wahrzunehmen vermag, eben mittels der Analogie begreift, dass jedem anderen Objekt – von der Pflanze bis zum Kristall und dem Magneten – eine Kraft innewohnt, die der seinem eigenen Leib innewohnenden analog ist – eben der Wille (Schopenhauer spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von »Wahlverwandtschaften«; vgl. Welt als Wille und Vorstellung, S. 131, s. a. S. 156 f.).
13 »Sollten nun aber die in diesen Formen [den Formen von Raum, Zeit und Kausalität] erscheinenden Objekte nicht leere Phantome seyn, sondern eine Bedeutung haben: so müßten sie auf etwas deuten, der Ausdruck von etwas seyn, das nicht wieder wie sie selbst Objekt, Vorstellung, ein nur relativ, nämlich für ein Subjekt, Vorhandenes wäre; sondern welches […] ein Ding an sich wäre« (Welt als Wille und Vorstellung, S. 142). 14 Sonst besteht die Gefahr, dass der geordnete Komplex der Erfahrungen (geordnet, weil von bekannten und klaren Naturgesetzen regiert – die als Gesetze notwendig und allgemein sind: die »Unfehlbarkeit der Naturgesetze« besitzt etwas »Ueberraschendes, ja, bisweilen fast Schaudererregendes«; vgl. Welt als Wille und Vorstellung, S. 158) aus einem anderen Blickwinkel als ein Kaleidoskop flüchtiger Bilder und leerer Träume betrachtet werden kann, ja: betrachtet werden muss.
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Dazu bedarf es einer anderen und neuartigen Form von Bewusstheit für diese innere Kraft. Hätte Schopenhauer sich in diesem so entscheidenden Punkt nicht von Kants Philosophie absetzen wollen oder hätte die Atmosphäre der Romantik sein Denken nicht so stark geprägt, dann hätte er jenes Vermögen zur Verfügung gehabt, das traditionellerweise in der Philosophie dafür zuständig war, ein Objekt unmittelbar zu ›erfassen‹, zu ›ergreifen‹, das diskursiv nicht erkannt werden konnte oder sollte: die Anschauung. Doch da er die Anschauung so unauflöslich an den Verstand und indirekt auch an die Vernunft geknüpft hatte, blieb ihm kein anderes Organ für diese Art des Erfassens als das Gefühl. Nach einem flüchtigen Verweis auf Schleiermacher und Tennemann bemüht er sich sogleich energisch um den Nachweis, daß es sich um ein Gefühl sinnlichen, ja körperlichen Ursprungs handelt. Unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt ist das Gefühl »der eigentliche Gegensatz des Wissens«; sein Begriff hat einen durchaus »negativen« Inhalt, »nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtseyn gegenwärtig ist, nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntniß der Vernunft sei« (Welt als Wille und Vorstellung, S. 61). Mit dem Wort ›Gefühl‹ können also die unterschiedlichsten Dinge bezeichnet werden, deren gemeinsamer Nenner lediglich darin besteht, dass sie in keiner Beziehung zu abstrakten Begriffen stehen. Es muss an dieser Stelle nicht eigens daran erinnert werden, wie sehr diese Sichtweise vom Geist der Romantik beeinflusst ist, die insbesondere die beherrschende Rolle der Abstraktion in der rationalistischen Weltanschauung bekämpfte. Wichtiger ist die Frage, welche Alternative es für Schopenhauer zur abstrakten, durch den anschauenden Verstand und die Vernunft erlangten Erkenntnis gibt, um den Willen zu erfassen. Unter Verweis auf seine Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde bezeichnet er das Wissen um die Identität von Leib und Wille als unableitbare, »unmittelbarste« Erkenntnis, als »eine Erkenntnis ganz eigener Art«, deren Wahrheit er ›kat exochen philosophische Wahrheit‹ nennt (Welt als Wille und Vorstellung, S. 121 f.); in der »vierte[n] Klasse der Objekte für das Subjekt«15 ist der »Aufschluß«, die
15 Die bereits in der Dissertation Ueber die vierfache Wurzel behandelt wurde: vgl. Schopenhauer, Werke 1, bes. S. 143 zum »Wunder« der philosophischen Wahrheit, das darin bestehe, dass durch das Gesetz der Motivation des Handelns (principium rationis sufficientis agendi) die Identität zwischen dem Subjekt des Wollens und dem erkennenden Subjekt erfasst werden könne.
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»Enträthselung« der ersten Klasse zu finden (Welt als Wille und Vorstellung, S. 122; vgl. auch S. 152). Und noch wichtiger ist die Frage, wie Schopenhauer den zum Teil bereits zurückgelegten erkenntnistheoretischen Weg weiterverfolgt, weil weder die Welt als Vorstellung noch die Welt als Wille sich in den beiden bislang behandelten ›Wahrheiten‹ erschöpfen – der von der Reflexion und der vom Gefühl erlangten. Diese erreichen auf ihrer höchsten Stufe16 eine noch andere und höhere Art von Wahrheit, eine unmittelbar erfasste Wahrheit von intuitiver Evidenz, deren Protagonist wiederum das Vermögen der Anschauung ist – wodurch die gesamte Konstruktion freilich nicht gerade an Klarheit gewinnt. Hier zeigt sich das Paradox von Schopenhauers Philosophie: Um eine Erkenntnis zu erlangen, die über die Vernunft als Sphäre der Begriffe hinauszugehen vermag, muss das erkennende Subjekt sich einerseits durch die Kunst über seinen eigenen Willen erheben und »reines, willenloses Subjekt der Erkenntniß« werden. Damit ist die Individualität bereits vergessen, das Subjekt bleibt »als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend« (Welt als Wille und Vorstellung, S. 209 f.).17 Wenn der Wille bis zu diesem Moment die einzige wahre Wirklichkeit zu sein schien, erweist sich von nun an, dass es eine ziemlich andere Wirklichkeit ist, derer die Philosophie bedarf. Andererseits genügt nicht einmal mehr auf der Ebene einer erneuerten Moralphilosophie oder auch nur einer Philosophie des Handelns der Rekurs auf den Willen, um aus dem Käfig des Satzes vom zureichenden Grunde zu entkommen. Um die Spirale des Leidens und der Langeweile zu unterbrechen, die von den einander unablässig abwechselnden Wünschen erzeugt wird, muss der Wille zum Leben vernichtet werden (vom 3. Buch an geht es immer weniger um den bloßen Willen, sondern vielmehr um diesen
16 Auch wenn sie ihre höchste Stufe auf unterschiedliche Weise erreichen: die Welt als Vorstellung, wenn die Vorstellung »unhabhängig vom Satze vom Grund« ist (3. Buch), und die Welt als Wille, wenn jegliches principium individuationis vollkommen überstiegen wird (4. Buch). 17 »Durch die Kraft des Geistes gehoben«, vermag man »die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge« aufzugeben (Welt als Wille und Vorstellung, S. 210); die Erkenntnis der Ideen ist nicht nur eine anschauende Erkenntnis, sondern zeichnet sich auch durch eine interesselose Haltung den Objekten gegenüber aus. Außerdem ist in diesem Bereich die Phantasie wirksam. Wenn ich Schopenhauers Differenzierung richtig interpretiere, bezeichnet er die unwandelbare und zeitlose Idee deswegen als »Objektivation des Willens«, um sie vom Leib, der »Objektität des Willens«, zu unterscheiden – der ein (wenn auch unmittelbares) Objekt bleibt.
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Willen zum Leben – er ist das unsterbliche Leben der Natur, wie es zu Beginn des 4. Buches heißt; es ist in diesem Zusammenhang an die im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts florierende ›Lebensphilosophie‹ zu erinnern, die Fichte zweifellos wichtige Impulse verdankt). Auch die Verneinung des Willens kann nur einer anschaulichen Erkenntnis entspringen, denn nur diese vermag das »endlose […] Streben« des Willens zu beenden (Welt als Wille und Vorstellung, S 195; vgl. auch S. 364). Dieser Übergang von der Tugend zur Askese erfordert also sowohl eine Art der Erkenntnis, die der reflexiven Erkenntnis entgegengesetzt ist, als auch eine Wirklichkeit, die der des Willens entgegengesetzt ist, auch wenn sie hier unter dem Aspekt des Handelns betrachtet wird. Hervorheben möchte ich deswegen abschließend zwei Punkte: (1) Die Ethik besitzt innerhalb von Schopenhauers System einen hohen Stellenwert, und dem Begriff des Willens kommt dabei eine ganz besondere Rolle zu. Das wahrhaft moralische Handeln besteht für Schopenhauer nicht in der Realisation des Willens, sondern in seiner Negation: dieser Weg steht im Gegensatz sowohl zu Fichtes Konzeption einer Reinigung und sittlichen Erziehung des Willens als auch zur Verherrlichung des guten (wenn auch nicht heiligen) Willens bei Kant. Doch es ist leicht zu sehen, dass es sich hier nur um verschiedene Antworten auf ähnliche Probleme handelt. Seine spezifische Lösung dieser Frage erlaubte es Schopenhauer zudem, alle Elemente, die er aus der kritischen und idealistischen Tradition nicht übernehmen konnte, aber möglichst übernehmen wollte, wieder in Umlauf zu bringen: vom Begriff des intelligiblen Charakters des Menschen als Gegensatz des empirischen Charakters bis zum Begriff der Verantwortung, um schließlich wieder zu einer vom Willen befreiten – und diesmal sogar endgültig vom Willen emanzipierten – Erkenntnis zu gelangen.18
18 Die Andeutung einer Widerlegung von Kants Prinzip der Moral findet sich auch in Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 99 f., wo Schopenhauer seine Aufsätze Die beiden Grundprobleme der Ethik (in: Schopenhauer, Werke 4) verweist. Auf S. 101 der Welt als Wille und Vorstellung heißt es, dass Kant den »reinen, unmittelbar bei Erkenntniß der Umstände ansprechenden und zum Rechtthun und Wohlthun leitenden guten Willen als bloßes Gefühl und Aufwallung für werth- und verdienstlos erklärte«. Die unmittelbar darauf folgenden Seiten zeigen, dass Schopenhauer einem solchen tugendhaften Verhalten großen Respekt entgegenbringt. Zur Unfreiheit des Willens vgl. Welt als Wille und Vorstellung, S. 126 ff.
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(2) Schon vom 3. Buch an misst Schopenhauer der Erkenntnis ein außerordentlich hohes Gewicht bei. Obwohl es bei ihm um intuitive Erkenntnis geht, muss es ihn beeindruckt haben, in Fichtes Werken und Vorlesungen eine ähnliche Omnipräsenz und Omnipotenz des Wissens zu finden. Folgt man Schopenhauers Empfehlung und beginnt nach einer vollständigen Lektüre der Welt als Wille und Vorstellung wieder von vorne, dann entdeckt man, dass die Welt nicht nur aus Vorstellung und Wille besteht, sondern dass es auch eine intuitive metaphysische Erkenntnis gibt, die der Philosoph bewusst auf eine irrationale Grundlage gestellt hat – eine Erkenntnis, die in der Betrachtung der Ideen besteht und daher einerseits nichts zu tun hat mit dem anderen Pol, dem Willen (da die Ideen doch von der Vernunft hervorgebracht werden und darum notwendig in enger Beziehung zum Wissen stehen), andererseits aber Verbindungen mit ihm besitzen muss, wenn die Ideen Stufen der Objektivation des Willens sein sollen.
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Fichtes Einfluss auf Schopenhauer
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Oui-dire und reines Wollen – Derrida mit Fichte lesen* Harald Münster
I. 1984 hielt Jacques Derrida aus Anlass des Neunten Internationalen James Joyce Symposiums in Frankfurt am Main einen Vortrag über Joyce’ Roman Ulysses, der den Titel trägt: Ulysse Gramophone: L’Oui-dire de Joyce. Derrida geht es darin um »Joycens Ja-sagen« (Derrida, 1988, S. 57), wie es sich vor allem im inneren Monolog Molly Blooms im achtzehnten und letzten Kapitel findet. Der Hinweis Derridas, dass jenes »Oui-dire« nicht nur als »Ja-sagen« verstanden werden muss, sondern im Französischen als »Ouï-dire«1 (mit einem Trema geschrieben) immer auch »Hörensagen« *
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Die Idee zu diesem Aufsatz ist der eindringlichen Deutung der Philosophie Fichtes durch Franz Bader sowie den hilfreichen Kommentaren John Caputos zum Werk Derridas sehr verpflichtet. Ihnen gilt deshalb mein besonderer Dank. Derrida bemerkt zur Wahl seines Titels: »l’oui dire de Joyce, Joycens Ja-sagen. Ja, Sie hören richtig: das ja-Sagen von Joyce, aber auch das Sagen oder das ja, das sich zuhört, das ja Sagen, das wie ein Zitat oder wie ein wanderndes Gerücht umgeht, durch das Labyrinth das umsegelt, was man nur vom Hörensagen [ouï-dire], hearsay, kennt. Das klappt nur im Französischen, in der wirren und babelschen Homonymie des oui, ein Punkt auf dem i, das ist alles, und des ouï, Trema oder zwei Punkte. Die unübersetzbare Homonymie ist mehr hörbar (durch ouï-dire, Hörensagen also), als mit den Augen lesbar, with the eyes, dieses letzte Wort, eyes, sei im Vorbeigehen bemerkt, gibt selbst das Graphem yes eher zu lesen als zu hören. Yes kann also in ›Ulysses‹ nur eine zugleich gesprochene und geschriebene Markierung sein, als Graphem vokalisiert und als Phonem geschrieben, ja, in einem Wort, grammophoniert. Das ouï dire schien mir also ein guter Titel zu sein, genügend unüber-
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bedeutet, führt uns sogleich ins Zentrum der Ausführungen Derridas, die sich – so die These – mit Fichte als grund-legende, d. h. transzendentalphilosophische Erörterung über Wirklichkeit verstehen lassen. Konkret soll im Folgendem aufgezeigt werden, inwiefern zentrale Behauptungen Derridas mit Hilfe der Transzendentalphilosophie Fichtes, besonders seiner Wissenschaftslehre nova methodo (1798/99), rekonstruiert werden können, so dass Derrida gleichsam als Fichteaner inkognito erscheint. Auf diese Weise will die vorliegende Arbeit – dem Motto des Kongresses folgend – die Leistungskraft und Anschlussfähigkeit der Philosophie Fichtes mit Bezug auf die Philosophie der Gegenwart unter Beweis stellen.
II. Das Thema des Ja-sagens kann grundsätzlich als das Zentrum von Derridas Denken aufgefasst werden, wie er selbst erklärt: »Seit sehr langer Zeit mobilisiert oder durchquert die Frage des ja alles, was ich mich zu denken, zu schreiben, zu lehren oder zu lesen bemühe.« (Derrida, 1988, S. 85). In erster Linie geht es Derrida darum, »über den Sinn, die Funktion, vor allem die Voraussetzung des ja: vor der Sprache, in der Sprache, aber auch in einer Erfahrung der Pluralität der Sprachen« (ebd., S. 99) nachzudenken: Warum können wir überhaupt ja (und damit auch nein) sagen? Oder allgemein mit Leibniz gefragt: »Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts?« (Leibniz, 2000, S. 427). Derridas Antwort besteht darin, das ja als die »transzendentale Bedingung jeder performativen Dimension« (Derrida, 1988, S. 101) und damit jeglichen Tuns in Wirklichkeit zu bestimmen: »Ein Versprechen, ein Schwur, ein Befehl, eine Verpflichtung implizieren immer ein ja, ich unterschreibe. Das ich des ich unterschreibe sagt und sagt sich ja, selbst wenn es ein Simulakrum unterschreibt, Jedes von einer performativen Markierung erzeugte Ereignis, jede Schrift im weiten Sinn verpflichtet ein ja, ob es nun als solches phänomenalisiert, das heißt verbalisiert oder adverbalisiert ist oder nicht.«
setzbar und potentiell fähig, das, was ich zum ja von Joyce sagen wollte, zu legendieren« (Derrida, 1988, S. 57 f.).
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Wir befinden uns im ja somit – um mit Reinhard Lauth zu sprechen2 – auf der Ebene der Primärreflexion, die jenseits aller Unterscheidungen die Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit (verstanden als Diskursivität, sei es in Form von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis oder in Form von Signifikant und Signifikat in der Sprache oder sei es in Form von Vorher und Nachher in der Zeit oder in Form von Nebeneinander und Auseinander im Raum) überhaupt ausmacht: »Wir befinden uns hier an einem Ort, der noch nicht der Raum ist, wo sich die großen Fragen nach dem Ursprung der Negierung, der Bejahung oder Verneinung entfalten können und müssen.« Denn das ja ist »absolutely originary« (Derrida, 2003, S. 27), wie Derrida an anderer Stelle betont, und als solches »the moment of institution, of the origin«, dem »nothing precedes«: »Bevor das Ich des Ich bin bejaht oder ablehnt, setzt es sich vor: nicht als ego, bewußtes oder unbewußtes Ich, männliches oder weibliches Subjekt, Geist oder Fleisch, sondern als vor-performative Kraft, die in der Form des ›ich‹ zum Beispiel markiert, daß ich sich an andere adressiert, so unbestimmt er oder sie auch sei: ›Jaich‹, ›ja-ich-sage-dem-anderen‹, selbst wenn ich ›nein‹ sagt und sogar wenn ich sich adressiert, ohne etwas zu sagen.« (Derrida, 1988, S. 102). Im ja ist somit jene »Selbst-Setzung seiner selbst« (Derrida 1988, S. 106) begründet, ohne die kein Erkennen, kein Denken, kein Sprechen, schlichtweg keine Wirklichkeit möglich ist, wenngleich kein Erkennen, kein Denken und kein Sprechen sie (diskursiv) zu fassen vermag ohne nicht selbst paradox zu werden, indem sie Differenz als Einheit erkennt, denkt oder kommuniziert3: »Die Selbstsetzung im ja oder Ay ist jedoch weder tautolo-
2 3
S. Lauth, 2002, S. 117 ff. Weil Erkennen, Denken oder Sprechen immer auf einer Unterscheidung (sei es der von Erkenntnissubjekt und erkanntem Objekt, Denken und Sein oder Begriff und Gegenstand) basiert, ist keinem der genannten diskursiven Vermögen möglich, die momentan benutzte Unterscheidung selbst noch einmal zu erkennen, denken oder kommunizieren, wie Niklas Luhmann betont: »Wie uns die heute weitgehend akzeptierte operative Epistemologie lehrt, findet alles Beobachten in der Welt statt als ein seinerseits beobachtbarer Vorgang; setzt alles Beobachten eine Grenzziehung voraus, über die hinweg der Beobachter etwas anderes (und gegebenenfalls sich selber als anderen) beobachten kann; konstituiert alles Beobachten also die Unvollständigkeit von Beobachtungen, indem es sich selbst und die für es konstitutive Differenz der Beobachtung entzieht; muß Beobachten sich also auf einen blinden Fleck einlassen, dank dessen es etwas (aber nicht alles) sehen kann. Eine Welt, die
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gisch noch narzißtisch, ebensowenig ist sie egologisch, selbst wenn sie die Bewegung der zirkulären Wiederaneignung einleitet, die Odyssee, die all diesen bestimmten Modalität Statt geben kann. Sie hält den Kreis offen, den sie anbricht. Auch sie ist noch nicht performativ, noch nicht transzendental, obwohl sie von jeder Performativität, a priori von jeder konstativen Theoriezität, von jedem Wissen und jeder Transzendentalität vorausgesetzt bleibt. Aus dem gleichen Grund ist sie vor-ontologisch, wenn die Ontologie sagt, was ist oder das Sein dessen sagt, was ist.« (Derrida, 1988, S. 107). Damit greift Derrida implizit Fichtes Lehre vom reinen Willen als Wollen des Wollens4 auf und wiederholt zugleich Fichtes These vom Primat der praktischen Vernunft als »Wurzel aller Vernunft« (Fichte, BdM, S. 265). Bereits Fichte hat im Rahmen seiner Erörterungen über die Wissenschaftslehre – gegen Schelling und Hegel – deutlich gemacht, daß »kein Wissen sich selbst begründen und beweisen [kann]«; denn »jedes Wissen
darauf eingerichtet ist, sich selber zu beobachten, zieht sich in die Unbeobachtbarkeit zurück. Oder in traditioneller Terminologie formuliert: Die Unbeobachtbarkeit der Operation des Beobachtens ist die transzendentale Bedingung seiner Möglichkeit.« (Luhmann, 1997, S. 95 f.). Dies bedeutet aber, dass die Einheit der jeweils benutzten Unterscheidung immer nur als Paradoxie denkbar ist: Die Identität der Differenz, d. h. das »Tertium« (Drittes), um mit der klassischen, aristotelischen Logik zu sprechen, ist immer nur abwesend anwesend – sie ist das »eingeschlossene ausgeschlossene Dritte«, wie Luhmann sagt. Die Unterscheidung selbst ist jenes »Dritte«, welches es nach der klassischen, zweiwertigen Logik nicht geben darf, wie Aristoteles in seiner Metaphysik betont: »Ebenso wenig aber kann es zwischen den beiden Gliedern des Widerspruchs etwas geben, sondern man muß notwendig jeweils Eines von Einem entweder bejahen oder verneinen« (Aristoteles, 1995, 1011b23). Insofern zeichnet sich Erkenntnis durch eine paradoxale Struktur von Ermöglichung und Verunmöglichung aus: Beobachtung gibt es nur aufgrund der Verdeckung der sie ermöglichenden Unterscheidung, so dass sich mit Quine von einem »veridical, or truthtelling paradox« sprechen ließe: »Such a paradox is not simply a logical contradiction (A is non-A) but a foundational statement: The world is observable because it is unobservable. Nothing can be observed (not even the ›nothing‹) without drawing a distinction, but this operation remains indistinguishable. It can be distinguished, but only by another operation. […] Obviously, this makes no sense. It makes meaning. It makes no common sense; it uses the meaning of ›para-doxon‹ to transgress the boundaries of common sense to reflect what it means to use meaning as a medium.« (Luhmann, 2002, S. 87 f.). 4 Vgl. etwa Lauth, 2006, S. 58 sowie Stolzenberg, 1998, S. 638.
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setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende« (ebd., S. 257). Ausdruck dieses infiniten Regresses der Begründung der Wirklichkeit eines jeden Wissens ist für Fichte die totale Skepsis, in der uns die Wirklichkeit sowie schließlich wir selbst vollkommen unwirklich, d. h. zu bloßen Bildern werden: »Es giebt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eignen. Es ist kein Sein. Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: Bilder die vorüberschweben, ohne daß etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einem Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken, die Quelle alles Seyns, und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke, ist der Traum von jenem Traume.« (Fichte, BdM, S. 251). Kein Wissen kann die Wirklichkeit bzw. Wahrheit seiner selbst wissen, weil jegliches Wissen (als Wissen) immer schon eine diskursive, d. h. auf der Unterscheidung von Wissen und Gewusstem basierende Struktur in Anspruch nimmt, die ihr jegliches Wissen des Zusammenhangs bzw. der Einheit von Wissen und Gewusstem per se unmöglich macht. Die Diskursivität des Wissens begründet – als sein transzendentaler Ermöglichungsgrund – somit zugleich jene »Tragödie des Wissens«, die darin besteht, dass es das, was es zu ergreifen versucht (nämlich die Einheit der Differenz von Theorie und Wirklichkeit) gerade dadurch zerstört, dass es dies ergreift, wofür wohl Narziss das prominenteste Beispiel ist: »Küsse gab er, wie oft! Vergebens der trügenden Quelle,/Tauchte die Arme, wie oft! Den erschauten Hals zu umschlingen,/mitten hinein in die Flut und kann sich in dieser nicht greifen« (Ovid, 1997, III, 427 ff.)5. Theorietechnisch gesprochen scheitert somit grundsätzlich jegliches diskursives Verfahren (sei es Wissen oder Sprechen) daran, das fundamen-
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Ich verdanke diesen Hinweis Si-Hong Lin.
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tale Problem jeglicher Theorie der Wirklichkeit, nämlich das der Selbstbegründung ihres eigenen Wahrheitsanspruches, aufzulösen. Demgegenüber bemerkt Fichte in der Bestimmung des Menschen: »Ich habe das Organ gefunden, mit welchem ich diese Realität, und mit dieser zugleich wahrscheinlich alle andere Realität ergreife. Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen; jedes Wissen setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende. Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall gibt, und das, was ohne ihn bloße Täuschung seyn könnte, zur Gewißheit, und Überzeugung erhebt. Er ist kein Wissen, sondern ein Entschluß des Willens, das Wissen gelten zu lassen.« (Fichte, BdM, S. 257). Dieser »Entschluß des Willens« verweist dabei auf jenen prädeliberativen Willen oder reinen Willen, der implizit immer schon dem deliberativen Wollen der Wahlfreiheit vorausgeht, indem er dieses als gewolltes will, wie Franz Bader bemerkt: »Wesentlich ist dabei, daß der Wille in der Wahl des bestimmten Inhalts zugleich sich will, also sich bestimmt, zu wollen, und nur im Horizonte dieses Sichbestimmens, das Fichte die in sich zurückgehende Tätigkeit des Ichs nennt, einen Inhalt will. Nur im reflexiven Wollen des Wollens also wird ein bestimmter Inhalt gewollt, nie wird ein Inhalt bloß und rein inhaltsbezogen gewollt. […] Gegenüber diesem deliberativen Willen ist der prädeliberative Wille nach Fichte ein nicht-übergeordneter Wille, ein immer schon durch sich bestimmter (bzw. ein sich immer schon bestimmender) Wille. Er ist – negativ gesprochen – kein beratschlagender, kein erwägender, kein das Wollen als alternativ-freien Zweck entwerfender Wille, kein Wille also, der erst nach vorhergehender Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit will, sondern dessen Wesen und Sein es ist – positiv gesprochen –, zu wollen und sich zu wollen; ein Wille, der schon konstitutiv will oder, wie man in der Antike sagte, von Natur aus (physei) bzw. substantiell will und sich will. – Weil dieser Wille zu seinem Selbstbestimmungsakt nicht erst über-geht, sondern dieser ist, bedarf er auch nicht der Zeitform zu seiner Realisierung, sondern ist ein vor- und überzeitlicher Vollzug.« (Bader, 1989, S. 214 f.). Mit anderen Worten: Jedes Wollen ist als solches immer schon gewollt und somit Wollen des Wollens bzw. jedes ja ist immer schon ein ja, ja, wie Derrida bemerkt: »Man sollte sich fragen, warum das ja immer als ein ›ja,
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ja‹ ankommt. Ich sage, das ja, und nicht das Wort ›ja‹; denn es kann ja geben ohne ein Wort. PS. (2. Januar 1987.) Ein ja ohne Wort kann also kein Urwort sein. Dennoch gleicht es ihm, und das ist das ganze Rätsel, so wie man Gott gleichen kann. Und es ist wahr, daß das ja, von dem zum Beispiel Rosenzweig spricht, nur die Ursprünglichkeit eines Urwortes hat, um ein stilles, stummes Wort zu sein, eine Art Transzendental der Sprache, vor jedem affirmativen Satz und jenseits von ihm. Es ist das Ja Gottes, das Ja in Gott: Das ist die Kraft des Ja, daß es überall haftet, daß unbegrenzte Möglichkeiten von Wirklichkeit in ihm liegen. Es ist das Urwort der Sprache, eines von denen, durch die – nicht etwa Sätze, sondern erst einmal überhaupt satzbildende Worte, die Worte als Satzteile, möglich werden. Ja ist kein Satzteil, aber ebensowenig das kurzschriftliche Sigel eines Satzes, obwohl es als solches verwendet werden kann, sondern es ist der stille Begleiter aller Satzteile, die Bestätigung, das ›Sic‹, das ›Amen‹ hinter jedem Wort. Es gibt jedem Wort sein Recht auf Dasein, es stellt ihm den Sitz hin, auf dem es sich niederlassen mag, es ›setzt‹. Das erste Ja in Gott begründet in alle Unendlichkeit das göttliche Wesen. Und dies erste Ja ist ›im Anfang‹.« (Derrida, 1988, S. 98). Dieses reine Wollen des Ja ja (Oui oui) kann deshalb jedoch nicht diskursiv gewusst oder kommuniziert werden, sondern ist uns vielmehr unmittelbar bewusst – es »trägt sein Auge schon in sich« (Fichte, DdWL, S. 26), wie Fichte sagen würde, denn als yes führt immer schon seine eyes mit sich, wie Derrida betont: »Das letzte Yes, das letzte Wort, die Eschatologie des Buches schenkt sich nur dem Lesen, weil es sich nur durch eine unhörbare Majuskel, als unhörbarer, nur sichtbarer Rest, von den anderen unterscheidet, als die buchstäbliche Einverleibung des ja im Auge der Sprache, des yes in die eyes. Augensprache [Langue d’œil].« (Derrida, 1988, S. 67). Insofern ist der prädeliberative Wille und wird nicht, wie Franz Bader betont: »Er wird nur intellektuell angeschaut, das heißt hier im negativen Sinne: er wird nicht sinnlich angeschaut, und da Zeit apriorische Form der Versinnlichung ist, er wird nicht verzeitet angeschaut« (Bader, 1989, S. 218). Fichte fasst dies in seiner Wissenschaftslehre nova methodo wie folgt zusammen: »[Das] Übergehen u[nd] Fließen – muß daher in jenem Wollen als intellectuell angeschaut ganz und gar weg gedacht werden; es bleibt uns also blos die Anschauung unserer [konstitutiven Selbst-]Bestimmtheit übrig, die da ist aber nicht wird. (Fichte, WLnm, S. 134.5–8) Erst durch das discursive Denken [und Wollen] wird dieses [prädeliberative] Wollen dau-
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ernd, und dadurch entsteht uns die Zeit, obgleich mein [prädeliberatives] Wollen in keiner Zeit ist, denn es ist nicht [durch zeitlich vorhergehende Faktoren] bedingt. (ebd., S. 126.8–10) Denn: Ich selbst bin nicht in der Zeit, Ich dehne mich erst durch das [diskursive] denken [und wollen] in der Zeit aus u[nd] mache dadurch eine Zeit. […] Hier ist der Punkt wo klar wird daß alles [diskursive] denken [und wollen …], in welchem zu folge der Denkgesetze [ein] mannigfaltiges liegt, [nämlich] ein Zweckbegriff u[nd] ein [übergehendes] Handeln, in die Zeit fällt.« (ebd., S. 187.23–24/31– 34).6
III. Die unmittelbar ethische Dimension (als eigentliche Dimension) dieser Überlegungen macht Fichte deutlich, wenn er über den prädeliberativen Willen rückblickend meint: »Die Schwierigkeit war ein Wollen zu erklären ohne Voraussetzung der Erkenntniß des Objekts desselben – ein reines wollen – das an sich da ist – also ursprünglich und Bedingung alles [empirischen] Bewußtseyns ist. Es mußte ein solches wollen möglich seyn, weil in [dem] Wollen nur als ein empirisches betrachtet die Erkenntniß des Objekts schon mit darin lag: empirisch wird nemlich das wollen als Übergehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten. Daher wurde ein reines wollen postulirt, das die Erkenntniß seines Objekts nicht erst voraussetzt sondern gleich bey sich führt, dem kein Objekt gegeben ist sondern das es sich selbst giebt, das auf keine Berathschlagung sich gründet, sondern das ursprünglich u[nd] reines wollen ist – u[nd das] ohne alles unser Zuthun als empirische[n] Wesen [ein immer schon] bestimmtes wollen [ist], es ist [in seiner Erscheinung] ein Fodern [Sollen] – aus diesem wollen geht alles empirische wollen erst hervor. Man sagt gewöhnlich ich kann nicht wollen ohne eine Erkenntniß des Objekts schon [vorweg] zu haben. Hier aber ist die Antwort: Nein sondern es giebt auch ein wollen, das sich sein Objekt selbst giebt, dem also kein Objekt voraus gegeben ist. Dies sagen wir zur Erklärung alles [empiri-
6 Hinzufügungen aus Bader, 1989, S. 218.
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schen] Bewußtseyns überhaupt, und Kant sagt das nehmliche zur Erklärung des Bewußtseyns unserer Pflicht.« (Fichte, WLnm, S. 134 f.).7 Jene Forderung, jenes Sollen, Wirklichkeit diskursiv, d. h. als Relationalität bzw. Beziehung (sei es in Form von Subjekt und Objekt, Signifikant und Signifikat oder sei es in Form von Ich und Anderem) zu realisieren (d. h. das Wissen als Relation »gelten zu lassen«, wie es bei Fichte in der Bestimmung des Menschen heißt), begründet somit unmittelbar Interpersonalität, der zufolge wir immer schon aufgefordert sind, in uns das Andere (in Form des Sollens) sowie uns selbst im Anderen (in Form der Anerkennung des Anderen als alter ego, d. h. freier Selbstzweck) zu bejahen. Derrida versteht dies in gleicher Weise, wenn er hervorhebt, dass das Ja das »Sich-an-den-anderen-adressieren« (Derrida, 1988, S. 102) markiert: »Ja, Bedingung jeder Unterschrift [und somit jeder Identität; H.M.] und jeden Performativs, richtet sich an anderes, das es nicht konstituiert, und das es nur zu fragen anfangen kann, als Antwort auf eine immer vorgängige Frage, es zu fragen, ja zu sagen. Die Zeit erscheint erst von dieser singulären Anachronie her. Diese Verpflichtungen können fiktiv, trügerisch, immer umkehrbar bleiben, die Adresse teilbar oder unbestimmt, das ändert nichts an der Notwendigkeit der Struktur. Sie bricht a priori jeden möglichen Monolog. […] Aber man versteht, warum der Anschein eines Monologs sich hier aufdrängen kann, eben aufgrund des ja, ja. Das ja sagt nichts und fragt um nichts anderes als um ein anderes ja, das ja eines anderen, von dem wir sehen werden, daß es analytisch – oder durch Synthese a priori – in dem ersten ja enthalten ist.« (Derrida, 1988, S. 103). An anderer Stelle formuliert Derrida deshalb prägnant: »Ist die Intentionalität nicht die Achtung selbst? Die ewige Irreduzibilität des Andern auf das Selbst, des Andern aber, der dem Selbst als anders erscheint? Ohne dieses Phänomen des Andern als Andern nämlich gäbe es die Möglichkeit der Achtung nicht. Das Phänomen der Achtung setzt die Phänomenalität und die Ethik der Phänomenologie voraus.« (Derrida, 1976, S. 184).
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Hinzufügungen aus Bader, 1989, S. 232. – Wenngleich Derrida die Möglichkeit eines reinen Ja im Gespräch mit Michail Ryklin ausdrücklich verneint (Ryklin, 2006, S. 26 f.), so widerspricht dies doch nicht unserer These von der strukturellen Gleichheit vom reinen bzw. prädeliberativen Wollen bei Fichte und dem Oui oui Derridas; denn auch das reine Wollen ist – wie Fichte deutlich macht – nur als Manifestation im Sollen und somit niemals absolut unabhängig davon, d. h. rein im Sinne Derridas.
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Denn »würde der Andere nicht als transzendentales alter ego anerkannt, ginge er vollständig in der Welt unter und wäre, wie ich selbst, nicht Ursprung der Welt. Ihm in diesem Sinne ein ego abzustreiten, ist in der Ordnung der Ethik die Geste selbst jeder Gewalt. Würde der Andere nicht als ego anerkannt, bräche seine Andersheit zusammen« (Derrida, 1976, S. 190). Zusammenfassend gilt für Derrida somit, dass »der Andere als Anderer ein Phänomen des ego [ist]: Phänomen einer bestimmten für das ego als ego im allgemeinen […] irreduziblen Nicht-Phänomenalität. Es ist nämlich unmöglich, dem alter ego […] zu begegnen, es ist unmöglich, es in der Erfahrung und in der Sprache zu achten, ohne daß dieser Andere in seiner Andersheit für ein ego (überhaupt) erscheint. Man wäre nicht imstande zu sprechen oder irgendeine Vorstellung vom schlechthin Andern zu haben, gäbe es kein Phänomen des schlechthin Andern als solchen« (Derrida, 1976, S. 187 f.). Jene konstruktivistische Einsicht (sowohl Fichtes als auch Derridas), dass der Andere immer als alter ego erscheint, ist somit keine Unterdrückung oder gar Reduzierung des Anderen auf das Ich (wie etwa Levinas meint8), sondern vielmehr echte Anerkennung des Anderen als ebenso freies Vernunftwesen, das – wie auch ich – sich selbst Zweck ist und niemals bloß Mittel zum Zweck (wie dies der kategorische Imperativ 9
8 »Die abendländische Philosophie war meistens eine Ontologie: Indem sie einen mittleren und neutralen Terminus, der das Seinsverständnis gewährleistet, einschiebt, reduziert sie das Andere auf das Selbe. Dieser Primat des Selben war die Lektion des Sokrates. Vom Anderen nur annehmen, was in mir ist, als ob ich von Ewigkeit her besäße, was mir von außen zukommt! […] Erkennen läuft darauf hinaus, das Seiende von nichts her zu packen oder es auf nichts zurückzuführen, ihm seine Andersheit zu nehmen. […] Was die Dinge angeht, so vollzieht sich eine Auslieferung, in ihrer Konzeptualisierung. Was den Menschen betrifft, so kann der Terror, der einen freien Menschen unter die Herrschaft eines anderen bringt, zur Auslieferung führen. Für die Dinge besteht das Werk der Ontologie darin, das Individuum – nur das Individuum existiert – nicht in seiner Individualität, sondern in seiner Allgemeinheit – von der allein es Wissenschaft gibt – zu ergreifen. Hier vollzieht sich die Beziehung zum Anderen nur durch einen dritten Terminus hindurch, den ich in mir finde. Das Ideal der sokratischen Wahrheit beruht also auf der essentiellen Genügsamkeit des Selben, auf seiner Identität als Selbst, auf seinem Egoismus. Die Philosophie ist eine Egologie.« (Levinas, 1987, S. 51 ff.). 9 Vgl. die zweite Vorstellungsart des kategorischen Imperativs bei Kant: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden an-
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von uns fordert): »Die Rede über das Sein setzt die Verantwortung des ja voraus: ja, was gesagt wird, wird gesagt, ich antworte, oder es wird der Interpellation des Seins geantwortet, etc. Den telegraphischen Stil beibehaltend, werde ich also die Möglichkeit des Ja und des Ja-lachens an jenem Ort situieren, an dem die transzendentale Egologie, die Onto-Enzyklopädie, die große spekulative Logik, die Fundamentalontologie und das Seinsdenken sich auf ein Denken der Gabe und der Sendung öffnen, die sie voraussetzen und nicht in sich schließen können. […] Die Selbstaffirmation des ja kann sich nur an den anderen adressieren, wenn sie sich zu sich zurückruft, wenn sie sich ja, ja sagt. Der an sich reichlich komische Kreis dieser universalen Voraussetzung ist wie eine Sendung an sich selbst, eine Rücksendung von sich zu sich, die sich niemals verläßt und sich zugleich niemals ankommt.« (Derrida, 1988, S. 107 f.). Gerade die Ichheit des Anderen macht ihm somit zu einem eigenständigen Gegenüber (auf gleicher Augenhöhe) und nicht zu einem bloßen, verfügbaren Objekt10: »Der Andere als alter ego bedeutet der Andere als Anderer, der auf mein ego irreduzibel ist, eben weil er ego, weil er die Gestalt des ego besitzt. Die Ichheit des Andern macht es möglich, daß er, wie ich, ›ego‹ sagt; deshalb ist er Anderer, nicht aber ein Stein oder ein sprachloses Wesen in meiner reellen Ökonomie.« (Derrida, 1976, S. 191). Im Zentrum von Derridas Denken wirkt somit eine »pure and unconditional affirmation« (Caputo, 2004, S. 7), die – als Gerechtigkeit – undekonstruierbar11 ist, weil sich aus ihr jegliche Dekonstruktion überhaupt erst speist bzw. ihren drive erhält, wie Derrida selbst betont: »Justice, if it has to do with the other, with the infinite distance of the other, is always unequal
dern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (Kant, 1968, S. 429). 10 Die Frage, warum ich etwa einem Tisch diese »Ichheit« nicht zuschreibe, lässt sich mit Edmund Husserl dahingehend beantworten, dass ich ihm – im Gegensatz zu einem Mitmenschen – aufgrund der Unähnlichkeit der Bewegung und des Verhaltens keinerlei Bewußtsein appräsentieren kann. S. Husserl, 1963, § 50. 11 »The undeconstructible is the subject matter of pure and unconditional affirmation – ›viens, oui, oui‹ (come, yes, yes) – something unimaginable and inconceivable by the current standards of imagining and conceiving. The undeconstructible is the stuff of a desire beyond desire, of a desire to affirm that goes beyond a desire to possess, the desire of something for which we can live without reserve.« (Caputo, 2004, S. 7). Vgl. dazu auch die Äußerungen Derridas im Gespräch mit Michail Ryklin in Ryklin, 2006, S. 26.
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to the other, is always incalculable. You cannot calculate justice. Levinas says somewhere that the definition of justice – which is very minimal but which I love, which I think is really rigorous – is that justice is the relation to the other. That is all. Once you relate to the other as the other, then something incalculable comes on the scene, something which cannot be reduced to the law or the history of legal structures. That is what gives deconstruction its movement, that is, constantly to suspect, to criticize the given determinations of culture, of institutions, of legal systems, not in order to destroy them or simply to cancel them, but to be just with justice, to respect this relation to the other as justice.« (Derrida, 2003, S. 17 f.). Deswegen kann Derrida auch an anderer Stelle sagen: »Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit. […] Die Dekonstruktion ist in dem Maße/dort als unmögliche mögliche, in dem/wo es X (Undekonstruierbares) gibt; sie ist also in dem Maße/dort möglich, in dem/wo es gibt (dies ist das Undekonstruierbare).« (Derrida, 1991, S. 30/31).
IV. Weil jedoch die im ja bzw. reinen Willen begründete Einheit der Differenz von Denken und Sein immer nur »Einheit des Separaten« (Fichte, DdWL, S. 151) ist, wird in ihm zugleich die »unendliche Theilbarkeit« (ebd., S. 152) der Wirklichkeit begründet; es öffnet – im wahrsten Sinne des Wortes – den Raum (als Unterscheidung von Nebeneinander und Auseinander) und auch die Zeit (als Differenz von Vorher und Nachher) der Wirklichkeit, der mit zahllosen Unterscheidungen immer wieder neu geschaffen werden kann, geschaffen werden muss sowie de facto geschaffen wird – sei es im alltäglichen Kommunizieren (etabliert durch die Unterscheidung von Wort und Gegenstand), im alltäglichen Tagesablauf (konstituiert durch die Differenz von Tag und Nacht), im alltäglichen Umgang miteinander (für den etwa die Unterscheidung von Groß und Klein, Alt und Jung oder Mann und Frau wichtig sein kann), oder sei es in den Wissenschaften (grundgelegt durch die Unterscheidung von Theorie und Wirklichkeit), den Religionen (begründet durch die Differenz von Gott und Welt), den Künsten (basierend auf der Unterscheidung von Sinnlichkeit und Intelligibilität), in der Philosophie (die immer schon die Differenz von Ich und Nicht-Ich in Anspruch nimmt) oder aber im Handeln (das
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erst aufgrund der Unterscheidung von Bestimmbarem und Bestimmten möglich ist). Das Ja des prädeliberativen Wollens (als Wollen eines empirischen, diskursiven Wollens) enthält somit in sich zugleich die Möglichkeit sowie die Notwendigkeit der Wiederholung jener Bejahung des Anderen, wie Derrida hervorhebt: »Das ja der Versicherung, der Zustimmung oder Beistimmung, des Bündnisses, der Verpflichtung, der Unterzeichnung oder der Gabe muß die Wiederholung in sich selbst tragen, um zu gelten, was es gilt. Es muß sofort und a priori sein Versprechen bekräftigen und seine Bekräftigung versprechen. Diese unabdingbare Wiederholung läßt die wesentliche Drohung in sich spuken, das innere Telephon, das sie als ihr mimetisch-mechanisches Double, als ihre unaufhörliche Parodie parasitiert. […] Das ja kann sich nur sagen, wenn es sich die Erinnerung seiner selbst verspricht. Die Bejahung des ja ist die Bejahung der Erinnerung. Ja muß sich bewahren, also sich wiederholen, seine Stimme archivieren, um sie wieder zu hören zu geben. Das ist es, was ich den Grammophoneffekt nenne. Ja grammophoniert und telegrammophoniert sich a priori.« (Derrida, 1988, S. 69 f.)12. Die Praxis moralischen Handelns ist im Gegensatz zum Akt des Wissens somit kein einmaliger Akt (der mit dem Gewussten zu einem Ende kommt), sondern wird dynamisch gedacht als »unendliche Aufgabe« (Fichte, SdS, S. 126), zu der sich kein Partizip Perfekt Passiv bilden lässt und die somit nie berechenbar bzw. Routine wird, wie Derrida abschließend betont: »Nun aber muß das Verhältnis eines ja zum Anderen [l’Autre], eines ja zum anderen und eines ja zum anderen ja derart sein, daß die Ansteckung der beiden ja verhängnisvoll bleibt. Und keineswegs
12 Aus diesem Grunde benutzt Derrida im Zusammenhang mit jenem transzendentalen Ja auch die Metapher des Telephons: »Vor der Tat oder der Rede, das Telephon. Im Anfang war das Telephon. Diesen Telephoncoup, der mit scheinbar zufälligen Ziffern spielt, über die aber viel zu sagen wäre, hören wir also endlos klingen. Und er verspricht in sich das ja, zu dem wir langsam, um es kreisend, zurückkommen. Es gibt mehrere Modalitäten oder Tonalitäten des telephonischen ja, aber eine unter ihnen läuft darauf hinaus, ohne irgendetwas zu sagen, lediglich zu markieren, daß man da ist, anwesend, am Hörer, am anderen Ende der Leitung, bereit zu antworten aber im Moment noch ohne etwas anderes zu antworten, als die Vorbereitung zu antworten (Hallo, ja: ich höre, ich höre, daß du da bist, bereit zu sprechen in dem Moment , wo ich bereit bin, mit dir zu sprechen). Im Anfang, das Telephon, ja, am Anfang des Telephonanrufs.« (Derrida, 1989, S. 62 f.).
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nur als Drohung: auch als Chance. Mit oder ohne Wort, in seinem minimalen Ereignis gehört, fordert ein ja a priori seine Wiederholung, seine Einlagerung ins Gedächtnis, und daß ein ja zum ja der Ankunft des ›ersten‹ ja innewohnt, das also niemals einfach ursprünglich ist. Man kann nicht ja sagen, ohne zu versprechen, es zu bestätigen und sich an es zu erinnern, es in einem anderen ja gegengezeichnet zu bewahren, ohne das Versprechen und die Erinnerung, das Versprechen der Erinnerung. […] Ein ja muß sich dem Gedächtnis anvertrauen. Schon vom anderen gekommen, in der Dissymmetrie der Frage, und zwar von dem anderen, der gefragt wurde, um ja zu fragen, vertraut sich das ja dem Gedächtnis des anderen, des ja des anderen und des anderen ja an. Und der erste Atem hängt am Atem des anderen, ist schon, immer ein zweiter Atem.« (Derrida, 1988, S. 110 f.).
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Sektion 3: Logik, Mathematik, Naturwissenschaften
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Das faktische Wissen und der minor im Syllogismus – Fichtes Einsicht in der »transscendentalen Logik« Hiroshi Kimura
Im vorliegenden Aufsatz möchte ich auf Folgendes näher eingehen: (1) Der Schwerpunkt in Fichtes Schlusslehre liegt auf dem minor. (2) Der minor drückt das faktische Wissen aus. (3) Das faktische Wissen entspricht dem Schema II in Fichtes Schematheorie der WL 1812. Bekanntlich ist die transzendentale Logik nicht Teil der WL selbst, sondern nur eine Einleitung in dieselbe. Aber insofern sie vom faktischen Wissen aus zu dessen transzendentalem Grund weitergeht und vom letzteren auf das erstere zurückblickt, kommt sie schon in der WL selbst vor. Anders gesagt, indem sie das faktische Wissen als Bild begreift und in diesem Bild das über das Bild Hinausliegende sichtbar macht, hat sie dieselbe Aufgabe wie die WL zum Objekt. Sie behandelt ebenfalls ein Wissen vom Wissen. Zwar beschäftigt sich auch die gemeine Logik mit der Konstruktion von Begriffen und Vorstellungen. Aber der Unterschied zwischen der gemeinen Logik und der transzendentalen Logik besteht in der Behandlungsmethode. Die gemeine Logik abstrahiert von den vorausgesetzten und gegebenen Einzelvorstellungen und begreift eine neue Einheit derselben, während die transzendentale Logik denkt, dass die Einzelvorstellungen selbst schon die Einheit enthalten. Also ist es sehr wichtig, »das faktische Wissen zu prüfen in Rücksicht dessen, was darin Sache der reinen Anschauung ist, und was des Denkens«1. In diesem Sinn ist die Aufgabe der transzendentalen Logik im Grunde die Analyse und Rekonstruktion des faktischen Wissens.
1
Fichte, TL/12, IX, S. 316. Vgl. auch Fichte, 1982.
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Hier muss man die Aufmerksamkeit darauf richten, dass schon dem faktischen Wissen die Schlussstruktur immanent ist. Ein Beispiel dafür: »das erste und einzige Bild, das da ist, müßte wieder schlechthin sich sehen, objektiviren, ein Bild seiner selbst sein, Anschauung; und zwar müßte es sich anschauen als Bild, nicht als die Sache selbst; es müßte also zugleich sein sein Begriff« (TL/12, IX, S. 160). Hier lassen sich deutlich drei Bestandteile des faktischen Wissens erkennen: »1) das Sein eines Bildes; 2) Anschauung dieses Bildes; 3) ist die Anschauung zugleich das Sich=Begreifen als Bild« (TL/12, IX, S. 160). Nach Fichte muss man sich also, »was in seinem ursprünglichen faktischen Wissen liegt, durch Reproduktion in der Form des Syllogismus« (TL/12, IX, S. 385) klar machen. Diese Ansicht Fichtes hat ihren Grund in der WL 1812, insbesondere in deren Schematheorie. In seiner Schlusslehre spielt der minor als das faktische Wissen eine wichtige Rolle. Meiner Meinung nach hat der minor seinen Grund im Schema II. Nach diesem Ansatz suche ich die untrennbare Beziehung zwischen dem faktischen Wissen und dem minor im Syllogismus 2. Mein Schluss ist der folgende: Der minor ist das Feld3, wo der maior den minor trifft, und die beiden übereinstimmen. Dies ist eine neue Einsicht in der »transscendentalen Logik«.
I. Das faktische Wissen und das Schema II Wie schon gesagt, war die Aufgabe der transzendentalen Logik die Analyse und Rekonstruktion des faktischen Wissens. Die transzendentale Logik fasst das faktische Wissen in seiner Genesis und stellt das so Gefasste als Bild dar. Diese Ansicht ermöglicht es, die Bilderwelt als Erscheinung nicht von außen, sondern von innen her zu erschließen und zu beleuchten. Sie ist in der Schematheorie begründet. Meiner Meinung nach zeigt das Schema II das faktische Wissen und repräsentiert die besondere Position. Nach dem Gesichtspunkt der Schematheorie formuliert Fichte das Schema I so: »die Erscheinung erscheint« (Fichte, WL/12, S. 348). Das Schema II heißt: »die Erscheinung erscheint
2 3
Vgl. dazu auch Matsumoto, 2002, S.335 ff. Zum Problem des Felds in Fichtes Philosophie vgl. Kimura, 2006.
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sich« (WL/12, X, S. 348). Das Schema I ist das Urschema oder das Urbild. Das Schema II ist das des Schemas I. Im Schema I stellt sich die Eine unveränderliche Erscheinung, d. h. die keinen Gegensatz akzeptierende reine Identität dar. Im Schema II stellt sich die das Werden und Mannigfaltige akzeptierende Erscheinung dar. In dem ersten gibt es keinen Wandel. In dem zweiten, dem neuen Bilde von dem dauernden Urbild, kann es einen unendlichen Wandel geben. Hier zeigt sich ein unvermeidliches Problem, nämlich »wie in der Erscheinung, und diese als Grundlage gesetzt, die Einheit und Unveränderlichkeit mit der Mannigfaltigkeit […] beisammen stehen kann« (WL/12, X, S. 338 f.). Es scheint zwar, dass die Einheit des Schemas I als des Urbildes und des Schemas II als des Bildes vom Bilde durch das Schema III als Bild eines Bildes von einem Bilde bestimmt ist. Das Schema III bedeutet : die Erscheinung erscheint sich, als sich erscheinend. Aber, genauer gedacht, enthält das Schema II den Grund, warum das Schema III nötig wird. Die Für-sich-Struktur des Schemas II: »die Erscheinung erscheint sich« – anders gesagt: »die Erscheinung ist schlechthin für sich« (TL/12, IX, S. 209) – erklärt nämlich selbst den Grund, warum das Schema III erfordert ist. Zuerst muss man darauf achten: Alles Wissen geht schlechthin aus von dem absoluten Faktum, dass die Erscheinung sich erscheint. Kein Sich-Erscheinen, kein Sich-Erkennen. Ohne dieses Sichdarstellen des faktischen Wissens ist auch die WL unmöglich. Im Schema II ist die Beziehung der Erscheinung zu sich betont, während sich die reine Identität im Schema I zeigt. »Sie [= die Erscheinung] erscheint sich: sie wird darum in dieser Form eine, der erscheint Etwas, sie selbst; und eine, die erscheint Einem, eben sich selbst« (WL/12, X, S. 348). Hier zeigt sich eine untrennbare Duplizität von Erscheinung selbst und sich selbst, und zwar durch das Sich-Erscheinen. Dieses Sich-Erscheinen macht das Erscheinen der Erscheinung im Schema I sichtbar. Denn die Duplizität ist nichts anderes als »die subject-objektive Form« (WL/12, X, S. 349). Das SichErscheinen ist subjektiv das, dem erscheint, und objektiv das, was erscheint. Im Sich-Erscheinen liegt eins, dem erscheint, und eins, das erscheint. Das, dem erscheint, heißt die Subjektivität als Sehen, und das, was erscheint, heißt die Objektivität als Gesehenes. Das erste ist die Erscheinung als Subjektivität, und das zweite ist die Erscheinung als Objektivität. »Subjekt, Objekt ist durchaus dasselbe, und nur als Subjekt, Objekt verschieden« WL/12, X, S. 349). Wie schon gezeigt, ermöglicht das
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Sich-Erscheinen der Erscheinung im Schema II die subjekt-objektive Form als Sehen-Gesehenes-Verhältnis. Zweitens erzeugt das Schema II zwei verschiedene Bilder, nämlich der Anschauung und des Begriffs, durch dasselbe Sich-Erscheinen. Der Begriff ist die Form, d. h. »das bloße formale Dasein, ohne allen Inhalt« (WL/12, X, S. 352), und die Anschauung ist das innere Wesen und qualitativer Inhalt des Schemas I. Dagegen im Schema II steht der Begriff im Vordergrund, und die Anschauung bleibt verborgen. Es stellt die Begriffsform als »die in sich zurückgehende Form der Erscheinung« (WL/12, X, S. 353) dar, aber der Inhalt, der die Erscheinung gibt, bleibt verborgen. Hier liegt der Grund, warum der subjekt-objektive Inhalt der Anschauung gegen die subjekt-objektive Form des Begriffs erfordert ist. Also kann man sich wie folgt ausdrücken: Das Schema I und das Schema II stehen nicht direkt im Gegensatz, sondern innerhalb des Schemas II unterscheiden sich voneinander und beziehen sich aufeinander die Einheit und die Mannigfaltigkeit. Dieses Verhältnis im Schema II begründet das Schema III. Wie Fichte sagt, zeigt die bestimmte Formel für das faktische Wissen dies: »die Erscheinung erscheint sich eben schlechtweg und unmittelbar« (WL/12, X, S. 342). Dagegen zeigt die bestimmte Formel für die WL dies: »die Erscheinung erscheint sich, als sich erscheinend« (WL/12, X, S. 355). Schon damit ist klar, dass das Schema II das faktische Wissen und das Objekt der transzendentalen Logik und das Schema III das Objekt der WL als der eigentlichen Philosophie ist. Die transzendentale Logik erschließt das faktische Wissen von innen her, also hält sie den minor für wichtig. Denn dem faktischen Wissen als dem minor ist die untrennbare Beziehung zu einem Wissen vom Wissen immanent.
II. Das faktische Wissen und die transzendentale Logik Wie schon gesagt, drückt die transzendentale Logik in ihrer Wesenheit die WL aus. Was zu der transzendentalen Logik wirklich im Gegensatz steht, ist also die gemeine Logik. Diese hat zwar auch zum Objekt das Wissen, insofern sie Logik ist. Aber die transzendentale und die gemeine Logik, die doch dasselbe Objekt haben, unterscheiden sich von Grund aus durch ihre Ansichten desselben Objekts. In der anderen Ansicht besteht der unvergleichbare Vorzug der transzendentalen Logik.
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Nach Fichte erfasst die gemeine Logik erst den allgemeinen Begriff, indem sie von dem einzelnen Gegenstand abstrahiert. Anders gesagt, vorausgesetzt sind zuerst die einzelnen Vorstellungen, dann werden dieselben zu einer neuen Einheit verbunden. Dieses Verbinden ist also nichts anderes als das Abstrahieren des so betrachtenden Ich. Ohne diese logische Operation kann man zu dieser neuen Einheit nicht kommen. »Das Erzeugen allgemeiner oder abstracter Begriffe« (TL/12, IX, S. 113) ist vom Verbinden des logischen Ich abhängig. Dagegen achtet die transzendentale Logik darauf, dass in der Vorstellung selbst schon eine Einheit und Verbindung ist: »Jede Vorstellung ist selbst Einheit eines Mannigfaltigen.« (TL/12, IX, S. 113). Die gemeine Logik sagt ferner, »ich solle, was das Einzelne als solches bestimmt, liegen lassen, und nur aufnehmen das, was die Gattung bestimmt« (TL/12, IX, S. 119). Im Einzelwesen wie z. B. einer Pflanze gibt es mehrere Merkmale, die das logische Ich sondert und unterscheidet. Das vorliegende Einzelwesen wird in dieselben zerlegt, z. B. »in Ort, wo sich die Pflanze befindet, in Zeit der Wahrnehmung, Größe des Ganzen und der einzelnen Theile gegen einander und gegen das Ganze; Tüchtigkeit der Materie, Gesetz, nach welchem sie zu einem Ganzen vereinigt ist, u. dgl.« (TL/12, IX, S. 117). Natürlich sind die einzelnen Merkmale unmittelbar nicht ein solches der Gattung entsprechendes Bild. Um darüber hinauszugehen und das Bild des Einzelwesens zum allgeneinen Bild zu erheben, muss man von denjenigen Merkmalen, die nur das Einzelne als Einzelnes charakterisieren, z. B. »Ort, Zeit, bestimmte Größe« (TL/12, IX, S. 117), abstrahieren, und die allgemeinen Merkmale, z. B. »die bestimmte Tüchtigkeit der Materie, Verhältniß und Proportion der Theile, zu einander, das Gesetz der Genesis, hier das Wachsen« (TL/12, IX, S. 117), in das zu erzeugende Bild aufnehmen. Also entsteht der Grundbegriff der Pflanze nur durch diese Operation des logischen Ich. Nach Fichte besteht zwar in dieser Operation der gemeinen Logik der Zirkel, dass sie das, was sie erklären will, schon voraussetzt. Für das Problembewusstsein interessanter ist hier aber etwas anderes, nämlich Fichtes Hinweis, »daß die Einzelwesen nicht erst durch eine freie Handlung des Ich, innerhalb des Lebens unter ihre Allgemeinbegriffe aufgenommen werden, sondern daß sie gleich in der unmittelbaren Wahrnehmung unter denselben befaßt werden; daß eine Erscheinung nicht erst hinterher unter den Begriff des Körpers, der Pflanze, des Thiers, der selbst erst durch freie
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Erzeugung entstehe, untergeordnet, sondern unmittelbar in der Wahrnehmung darunter gefaßt werde« (TL/12, IX, S. 119). Hier ist es klar, dass das logische Ich kein Träger der freien Abstraktion ist. Anders gesagt, es fällt hier diejenige Voraussetzung weg, »daß der Mensch oder das Ich denke« (TL/12, IX, S. 120). In dieser Beziehung denkt das Wissen durch sich und durch sein Wesen, und kann anders nie denken. Aus dem Obigen kann man den Unterschied der Ansichten zwischen der transzendentalen und der gemeinen Logik bestätigt finden. Nach der transzendentalen Logik denkt nicht das Ich, sondern das Wissen. Nach der gemeinen Logik denkt nicht das Wissen, sondern das Ich. Die erste weiß, dass das, was das Ich treibt, bloße Reproduktion des ursprünglichen Wissens ist. Die zweite aber meint, »es sei das erste und ursprüngliche Denken selbst« (TL/12, IX, S. 121). Die transzendentale Logik geht vom Faktum aus und erklärt dies, denn in ihm liegt eine Äußerung des ursprünglichen Lebens des Wissens. Also ist ihre Aufgabe die Analyse und Rekonstruktion des faktischen Wissens. Von diesem Gesichtspunkt aus beleuchtet sie einen neuen Horizont, indem sie im Faktum das über das Faktum Hinausliegende sichtbar macht. Bekanntlich besteht die Bedingung der Sichtbarkeit darin, dass sich ein Bild in der Erscheinung bildet, denn ohne Bild kann man nichts erkennen. Nun besteht das Bild darin, »ein bloßes Nachbild und abgesonderte[r] Reflex« (TL/12, IX, S. 194) zu sein. Indem es solch ein Reflex ist, entsteht erst das Bild als solches. Also ist es nicht selbständig. Solche Unselbständigkeit spiegelt, im Gegenteil, einen schlechthin untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Bilde und dem im Bilde Abgebildeten wider. Das Bild geht durch sein Wesen als Projektion »unaufhaltsam aus sich selbst« heraus. Es hat das Abgebildete nicht außer sich, sondern immer in sich. Wenn das im Bilde Abgebildete auch das über das Bild Hinausliegende ist, drückt das Bild doch dieses im Zusammenhang mit sich selbst aus. Das über das Bild Hinausliegende wird im Bilde sichtbar.4 Es ist also klar, dass die Bildlehre auch in der transzendentalen Logik zur Anwendung gebracht wird.
4 Vgl. dazu Kimura, 2003, S. 220.
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III. Das faktische Wissen und der minor im Syllogismus Die Analyse des Schemas II: »die Erscheinung erscheint sich«, ist, wie schon gesagt, die eigentliche Aufgabe der transzendentalen Logik. Nach Fichte bedeutet »transscendentale Logik« die von der Philosophie aus betrachtete Logik. Diese realisiert in diesem Punkt dieselbe Aufgabe, die auch die WL hat. Von dem Charakteristikum der WL als »Erscheinungslehre«, nicht als »Seinslehre«, her gesagt, erklärt sie so die Entfaltung der Erscheinung. Sie erklärt, wie die Erscheinung sich erscheint. Also hält sie den minor im Syllogismus für wichtig. Denn der minor ist nichts anderes als das faktische Wissen, und diesem ist die untrennbare Beziehung zu einem Wissen vom Wissen immanent. Zwar konnte Fichte seine Theorie des Syllogismus nicht hinreichend entwickeln. Aber der auf den minor sich richtende Blick zeigt seine tiefe und neue Einsicht. Das Sich-Erscheinen der Erscheinug, das das Schema II zeigt, ist die Für-sich-Struktur der Erscheinung. Also sieht sich die Erscheinung. Sie sieht sich, das heißt, sie erkennt sich. Sie erkennt sich, das heißt, sie bildet ihr Bild. Von dem Charakteristikum des Bildes her gesagt, ist das Bild immer schlechthin im Bilde seiner selbst. Wenn die mannigfaltigen Bilder sind, sind sie vom einem Bilde begleitet, und sind »in einem Bilde« (TL/12, IX, S. 184). Also sind sie ihr allgemeines Bildwesen. Dies ist »zufolge des absoluten Grundsatzes von der Seinsform der Erscheinung überhaupt: sie kann nirgends und nimmer, und in keiner Gestalt sein, ohne daß sie sich erscheine als Bild« (TL/12, IX, S. 184). Aber diese Einheit bleibt nur »eine bloß formale Einheit des Mannigfaltigen« (TL/12, IX, S. 184). »Eine materiale Einheit, eine Geschlossenheit des Mannigfaltigen ist noch nicht nachgewiesen« (TL/12, IX, S.184). Dies zeigt sich auch in der Frage, wie die Erscheinung in der formalen Einheit die materiale Einheit nicht als etwas Fremdes, sondern als sie selbst sehen kann, anders gefragt, wie sie ihr Bild an dem Inhalt unter der Form des Werdens haben kann. Indem man auf diese Frage eine Antwort sucht, kann man bestätigt finden, dass die Erscheinung sich selbst als das Prinzip ihrer selbst sieht. Aber dieser Nachweis hat eine besondere Schwierigkeit. Nach der bisherigen Beschreibung gab es ein Grundprinzip: »kein Sein der Erscheinung, das nicht begleitet sei von dem Bilde desselben« (TL/12, IX, S. 184). In der Tat hat man vom Bilde des Werdens gesprochen. Zum Beispiel hat
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man gesagt vom Bilde des Werdens a und vom Bilde b, dass es in seinem gesamten Wandel Bild sei, und hat die Beziehung der beiden gezeigt. Aber »daß sie, die Erscheinung, das Werdende ist in diesem Werden, ist vom keinem Bilde begleitet« (TL/12, IX, S. 185). Es entsteht »ein Hiatus«. Anders gesagt findet sich hier »ein nicht Angeschautes als Princip und Seinsgrund einer Anschauung« (TL/12, IX, S. 185). Also muss man den Hiatus überbrücken und das nicht Angeschaute durch einen neuen Bildbegriff fassbar machen. Sonst wird der Rahmen des Bildbegriffs vernichtet. Also muss man den gesuchten Bildbegriff »auf eine ganz andere Weise« (TL/12, IX, S. 185) konzipieren, als man ihn bis jetzt konzipiert hatte. Um diese Schwierigkeit zu lösen, stützt sich Fichte auf den Syllogismus, insbesondere seinen minor. Fichte gibt folgendes Beispiel für den Syllogismus: »Der maior: Die Erscheinung schaut nur das an, was sie selbst ist. Der minor: Nun schaut sie das Werden an. Der Schluss: Also ist das Werdende im Werden die Erscheinung selbst.« (Vgl.TL/12, IX, S. 186) Hier muß man darauf achten, dass der maior zwar ein allgemeines Gesetz zeigt, aber dies als ein apriorisches Wissen nicht schon vollendet ist. Das Gesetz wird nur an dem Faktum sichtbar. Das Gesetz ohne Sichtbarkeit ist schlechthin Nichts. Also muss man folgenden Weg gehen. Der maior drückt das Wissen des Gesetzes, durch das die Erscheinung beherrscht wird, aus. Die Erscheinung kann zu der Selbstanschauung des Werdenden im Werden kommen, indem sie sich auf dem Feld der Anschauung des Werdens in dem minor »als das sehende« (TL/12, IX, S. 187) erscheinen lässt. Man muss nämlich »nicht bloß, wie bisher, ein Sichanschauen der Erscheinung, sondern auch ein geschlossenes und bloß formales Bild derselben von sich setzen, und in dieses Bild sie sich zuerst erscheinen lassen als das sehende« (TL/12, IX, S. 187). Anders gesagt, der Schlüssel zur Antwort auf die Frage besteht darin, dass man unter dem absoluten Werden als Prinzip, das nur wird und nie ist, das abgeschlossene Werden als »ein einzelnes Bild eines solchen wirklichen Werdens« (TL/12, IX, S. 187) findet.
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Es ist klar, dass Fichte hier seinen Bildbegriff von Neuem erweitert.5 Dadurch tritt man »in ein ganz neues Gebiet der Ansicht von Anschauung« (TL/12, IX, S. 187). Aufgrund des Obigen kann man wie folgt sagen: Der minor ist das Feld, wo das absolute Werden das geschlossene Werden trifft, und die beiden sich zusammenschließen. Um diesen Kernpunkt zu bestätigen, möchte ich Fichtes eigene Worte zitieren. Fichte hält die absolute Form des Wissens für den Syllogismus. Nämlich, »der urspüngliche Eine Grundsyllogismus, durch den das ursprüngliche Wissen zu Stande kommt«, ist uns bekannt: »1) Anschauung eines Gesetzes: die Erscheinung bringt schlechthin mit sich ihr Bild; 2) faktische intellectuelle Anschauung eines vorhandenen als Bildes; 3) die Einsicht, daß darum dieses Bild Accidens der Erscheinung sei, ihr angehöre: das Sich = Verstehen als Bild. Dies ist der absolute formale Syllogismus in aller Fakticität des Wissens.« (TL/12, IX, S. 367 f.) Dieser Grundsyllogismus entspricht dem obigen Syllogismus. Der obige Syllogismus brachte eine Frage zum Ausdruck, nämlich wie die Erscheinug das Werdende im Werden als sich selbst erkenne, und antwortete darauf durch die Vereinigung des absoluten Werdens und des geschlossenen Werdens, die einen neuen Bildbegriff bezeigte. Auch der vorliegende Grundsyllogismus stellt dieselbe Sache dar. Die Anschauung des Gesetzes im maior zeigt das absolute Werden im obigen Syllogismus, und die faktische Anschauung des Gesetzes im minor ist das Werdende. Die Vereinigung der beiden gründet sich auf die synthetische Einheit der faktischen Anschauung im minor. Diesen Kernpunkt erklärt Fichte im faktischen Syllogismus ausführlicher. Fichte ordnet zwar den faktischen Syllogismus dem Grundsyllogismus unter. Aber dadurch ist die bedeutende Rolle des minor trotzdem klar ausgedrückt. Das Charakteristikum des faktischen Syllogismus besteht darin, das, was im ursprünglichen und faktischen Wissen liegt, in der Form des Syllogismus zu reproduzieren. Das faktische Wissen ist zwar durch das Gesetz bestimmt. Aber zugleich wird das Gesetz nur an dem Faktum sichtbar. Also handelt es sich hier um die synthetische Wechselbestimmung zwischen Faktum und Gesetz. In dieser Beziehung ist der faktische
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Vgl. dazu Matsumoto, 2002, S. 369.
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Syllogismus die Reproduktion »der ursprünglichen faktischen Erkenntniß« (TL/12, IX, S. 381). Nun ist das Merkmal des minor zwar »die Subsumtion des Faktums unter das Gesetz« (TL/12, IX, S. 379). Aber nach Fichte geschieht die Subsumtion »schlechthin« (TL/12, IX, S. 379), nicht durch einen vermittelnden Schluss. Es ist darum mit Recht die Frage zu stellen: »wie ist denn die unmittelbare Subsumtion des Faktums unter das Gesetz möglich?« (TL/12, IX, S. 379 f.) Darauf antwortet Fichte folgendermaßen: »dem mittelbaren Schlusse liegt ein absolut unmittelbarer zu Grunde, und jener wird durch diesen allein möglich« (TL/12, IX, S. 380). Diese ursprüngliche Erkenntnis kommt im Schluss in einem Bild vor. »Dieses Bild nämlich ist der minor des Syllogismus« (TL/12, IX, S. 380). Was die Konklusion hinzusetzt, liegt also schon in der Subsumtion des minor. Hier muss man darauf achten, dass die Subsumtion nicht nur eine eingleisige Anwendung bedeutet. Denn sie ist ein Urteil, nämlich das folgende, »daß das in der Anschauung Gegebene übereinstimmt mit dem nach dem Gesetze zu Construirenden« (TL/12, IX, S. 380). Diese Übereinstimmung bedeutet auch, dass am bestimmten und faktischen Wissen das unendliche Gesetz sich findet. Der minor ist darum das Feld, wo der maior den minor trifft und die beiden übereinstimmen. Dies ist eine radikale Einsicht in der »transscendentalen Logik«. – Der Schwerpunkt des faktischen Syllogismus, insofern er die Reproduktion der ursprünglichen und faktischen Erkenntnis in der Form des Syllogismus ist, besteht im minor. »Dagegen der maior und die Conclusion Theile sind aus der Analyse der Erkenntniß« im minor (WL/12, IX, S. 381).
Literaturverzeichnis Fichte, Johann Gottlieb (1971 a): Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik. In: Fichtes Werke. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte Bd. IX: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie I. Berlin. Zitiert als »TL/12«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. — (1971 b): Die Wissenschaftslehre 1812. In: Fichtes Werke. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte Bd. X: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie II. Berlin. Zitiert als »WL/12«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. — (1982): Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik 1812. H. v. R. Lauth u. P. K. Schneider. Hamburg.
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Kimura, Hiroshi (2003): Sehen und Sagen. Das Sehen sieht das Aussagen seines Grundes. In: Fichte-Studien 20, S. 215–228. — (2006): Fichte und Tekirei Edo. Bild und Feld. In : Fichte-Studien 30, S. 233–242. Matsumoto, Masao (2002): Das transzendentale Ich im Deutschen Idealismus. Das groß geschriebene Ich (= Doitsu Kan’nenron ni okeru Chouetsurontekizigaron). Tokio.
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Fichte als Begründer der dreiwertigen Logik . Zur transklassischen Reflexionslogik und Günthers Ich-Du-Es Trinität Ulrich Fritz Wodarzik
Insofern der Geist das Oberste ist, denkt er sich selbst, und das Denken ist da Denken über das Denken. Aristoteles, Metaphysik Alles Bewusstsein ist bedingt durch das unmittelbare Bewußtsein unserer selbst. Fichte, 2. Einleitung in die WL
I. Einführung in die Thematik – klassische Logik versus transklassische Logik Die Absicht dieser Arbeit besteht darin, die prinzipiellen Grundlagen der dialektischen Subjektivitätstheorie des deutschen Idealismus in Hinblick auf ihre logische Struktur spekulativ zu beleuchten. Das eigentliche Wesen des Idealismus ist die Entdeckung des Problembereichs einer nicht-Aristotelischen Logik, die implizit mit Kant anhob, von Fichte erkannt1 und von Hegel und Günther fortgesetzt wurde.
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Wie aus den Entwürfen der Berliner Darstellungen der WL von 1812 zu ersehen ist und bereits in der Jenaer WL ihren Anfang nahm. Der Titel zu diesem Essay soll nicht als eine Behauptung verstanden werden, sondern eher als ein Forschungsprogramm.
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In der »Revolution der Denkart«, von Kant in seiner Kritik inauguriert, ist es die »Logik, wo die Vernunft es nur mit sich selbst zu tun hat« (KrV, B XI), die den Menschen in Verwirrungen bringt. Diese Tatsache führt zu der These, dass die klassisch-axiomatische Logik zurückgewiesen werden muss, weil sie die Reflexion nicht thematisieren kann. Wir wissen, dass es ein universelles Verhältnis des Ichs zum Ding vor allem Denken nicht gibt, wie es die klassische Logik annimmt. Fichte sagt, das Objekt wird erst im Denken bestimmt – vorher existiert es einfach nicht – und bekommt vermittels des genetischen Bewusstseins seinen eigenen positiven Charakter des So-und-nicht-anders-Seins. »Nach der transcendentalen Logik ist das Denken das ursprüngliche Bestimmen des schlechthin Faktischen; […]: das Denken macht sich selbst, das Wissen denkt: (ein sehr wichtiger Satz)« (SW, IX, S. 122). Nach idealistischer Auffassung bleibt es ausschließlich dem Ich-Bewusstsein überlassen, wie es sein Verhältnis zu den Dingen (Sein) und anderen Pseudodingen (Sinn, Subjekte, Intersubjektivität) gestaltet und deutet. Das ist genuin die »Urhandlung« der Ich-Subjektivität, die aus Freiheit erfolgt. Kant bemerkte, dass »seit dem Aristoteles« die Logik »keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen«, aber »daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können«, und zwar deswegen, weil sie »geschlossen und vollendet zu sein scheint« (KrV, B VIII). Fichte und Hegel erkannten die logischen Probleme, die in der Aristotelischen Logik auftauchten. »Wenn die Logik seit Aristoteles keine Veränderung erlitten hat […], so ist daraus eher zu folgern, daß sie um so mehr einer totalen Umarbeitung bedürfe; denn ein zweitausendjähriges Fortarbeiten des Geistes muß ihm ein höheres Bewußtsein über sein Denken und über seine reine Wesenheit in sich selbst verschafft haben« (Hegel, 5, S. 46). Die Logik war für Hegel der anfangslose Anfang: »Es fühlt sich bei keiner Wissenschaft stärker das Bedürfnis, ohne vorangehende Reflexionen von der Sache selbst anzufangen, als bei der logischen Wissenschaft« (Hegel, 5, S. 35). Klassisch existiert zwischen uns als erlebendem Ich und der Wirklichkeit kein Drittes. »Man vergesse nicht, jenes »Dritte«, das durch das Tertium non datur aus dem logischen Formalismus ausgeschlossen wird, ist ja, nach Hegel, der Grund oder das Urmotiv, das uns überhaupt dazu verleitet die Anstrengung des Denkens auf uns zu nehmen« (Günther, IuG, S. 231). Die »gemeine Logik« ist determiniert durch die Disjunktion Entwederoder. Jede Disjunktion ist eine Konfrontation, logisch gesehen muss eine
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Entscheidung getroffen werden. Das unreflektierte Denken verwickelt sich in Wiedersprüche, denn die monothematische Zweiwertigkeit führt ihrem logischen Wesen nach immer zum antagonistischen Denken. »Die mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts sind aus der Perspektive der transklassischen Logik nichts anderes als krampfhafte Endspiele der Zweiwertigkeit, militante Verweigerungen des Komplexitätsdenken« (Sloterdijk, SuT, S. 354). Die Fichte-Hegel Logik hat den inhärenten Charakter eines triadisch metalogischen Denksystems2 und weist auf eine völlig neue Problemintuition des Logischen hin. Für Hegel fällt die Logik mit der Metaphysik zusammen (Hegel, 8, S. 81), und schon Kant bemerkte: »also muß die Metaphysik vorangehen, und ohne sie kann es überall keine Moralphilosophie geben« (Kant, GMS, S. 6).3 Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Reflexion oder Selbstbezüglichkeit der Subjektivität, die sich durch »zwei entgegengesetzte Momente des Verstehens [zeigt]: Verstehen des Seins […] und Verstehen des Verstehens des Seins« (SW, IX, S. 410). Diese Zirkularität der Subjektivität bildet den philosophischen Kern des deutschen Idealismus. Die Selbstbezüglichkeit und die transzendentale Struktur der Subjektivität erzwingen die Duplizität der Subjektivität, die Fichte als erster erkannte, aber von Kant bereits in seinen »Paralogismen der reinen Vernunft« thematisiert wurde. Fichte spricht von den »zwei sehr verschiedenen Reihen des geistigen Handelns: die des Ich, welches der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen. […] Es liegt ein Hauptgrund des Missverständnisses […] gegen die Wissenschaftslehre darin, dass man diese zwei Reihen entweder gar nicht unterschied, oder was in die eine gehörte, mit dem, was in die andere gehörte, verwechselte […]« (SW, I, S. 454).4
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Oder eine primordiale trichotome Ordnungsstruktur des Geistes, die bereits im Staat bei Platon angelegt ist. »Daß die Dreiheit das Gesetz der Geistes sei, ist ächt Platonisch; die ganze Republik hat eine triadische Construktion. Hegel bezog die Triplizität vorzüglich auf den Unterschied des Subjects vom Object in der Identität des Subjects« (Rosenkranz, Hegels Leben, S. 158). 3 Daher ist moralisches Denken ohne eine Erweiterung der zweiwertigen Logik nicht möglich. 4 Diese bedeutsame Eigenschaft der Verdoppelung der Subjektivität, in der Form »handelndes Ich« und »beobachtender Philosoph« sei hier durch die Begriffe Akteur (als Urheber einer Handlung) und Beobachter festgehalten. Der Mensch ist Akteur oder Beobachter in der umgebenden Welt. Niemals kann er zugleich Beob-
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In der klassischen Logik des Aristoteles gibt es »nur eine Reihe des Denkens, die der Gedanken des Philosophen; da sein Stoff selbst nicht als denkend eingeführt wird« (Ebenda). In seinem nachgelassenen Berliner Vorlesungstext vom Winter 1812, Ueber das Verhältnis der Logik zur Philosophie oder transscendentalen Logik,5 erläutert Fichte seinen Hörern das Prinzip der sich gegenseitig ausschließenden Reflexionssysteme. Die Universalität der »Reflexion-in-Anderes« und der »Reflexion-in-sich« zeigt Fichte am Beispiel der Wahrnehmung und Vorstellung eines Ofens. Wir sehen den Ofen und haben ein Bild, eine Vorstellung vom Ofen. Fichte macht nun durch eine weitere Reflexion darauf aufmerksam, dass wir zwischen dem Vorgestellten als Erscheinung und der Vorstellung als Bild unterscheiden können. Wir wissen vom »Bild des Bildes« (SW, X, S. 347). Woher kommt das Wissen des Bildes vom Ofen? »Die Sache ist so, und ich ersuche Sie es scharf zu fassen: […] Das, woran a [der Ofen] als Bild erkannt wird, muß etwas ganz Anderes, in dem qualitativen Inhalte gar nicht Liegendes, sondern demselben ganz und gar Entgegengesetztes sein, […]« (SW, IX, S. 146). Der Unterschied kann, so Fichte, weder in der Erscheinung, noch im Inhalt des Ofenbegriffs liegen. Subjektivität basiert also auf dem Gegensatz zwischen dem irreflektiven Sein und der Reflexion als das Verhältnis des Bildes zum Abgebildeten. Für Fichte ist es eine »Tatsache des Bewusstseins«, dass wir fähig sind eine Vorstellung von der Vorstellung derselben Vorstellung zu differenzieren. Diese Erfahrung des Selbstbewusstseins nennt Fichte ein »absolutes fiens, Genesis eben« (SW, IX, S. 147) und verweist damit auf die spekulative Prozessualität, auf die »Tathandlung« des selbstbewussten Denkens. Die bewusste Trennung zwischen Gegebenem (Dinge, Sein) und Gesetztem (Gedachtes, Sinn) macht
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achter und Akteur sein, aber er kann bewusst oder unbewusst zwischen diesen beiden Subjektzuständen hin und her wechseln. Empirisches und transzendentales Bewusstsein sind Kantische Begriffe dafür. »Fichtes bevorzugter Terminus für die konstitutive doktrinale Biform seines Denkens ist der Ausdruck ›Duplizität‹, der seit den Jenaer Arbeiten und bis in die letzten Ausarbeitungen aus der Berliner Zeit ein Grundwort Fichtes bildet und die Zweiheit als Grundstruktur allen Denkens wie Gedachten, einschließlich des philosophischen Denkens, benennt« (Zöller, 2006, S. 13). Es liegen wohl keine Texte in Ansehung an eine mögliche Fichte-Hegel Kontroverse bezüglich der transzendentalen Logik vor. Das muss mit dem viel zu frühen Tod Fichtes zu tun haben. Vgl. dazu die interessante Studie von Reinhard Lauth in den Kant-Studien 1998.
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die WL zu einer Theorie der Reflexion. In § 6. Wie verhält sich die allgemeine Wissenschaftslehre zur Logik? (SW, I, S. 66–70) spricht Fichte 1794 an, dass in der erweiterten Logik neben dem Begriff der Abstraktion – der die gesamte klassische Logik beherrscht – ein weiteres theoretisches Denkprinzip hinzugefügt werden muss, nämlich das der Reflexion. »Keine Abstraction ist ohne Reflexion; und keine Reflexion ohne Abstraction möglich« (SW, I, S. 67). Das Unterscheidungsbewusstsein ist bei Fichte »etwas noch höheres« (SW, I, S. 466), bei dem das personelle Selbst seinen ontologischen Ort hat. In diesem höheren sinngebenden Bewusstsein besitzt das beobachtende Subjekt ein absolutes Gewissen um seine Selbstständigkeit. Es weiß durch Freiheit und aus sich selbst, sich selbst dem absoluten Wissen und der moralischen Tätigkeit verpflichtet. Das Denken über das Denken geht nicht in Seinsbestimmungen auf, es verbleibt ein reflektorischer Rest. Dieser vermittelt dem Menschen seine eigene höhere Bestimmung, die als sein Gewissen zu ihm spricht. »Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende« (Goethe, MuR, S. 78). Das zweiwertige dogmatisch-monologische Denken, das keinen Unterschied zwischen handelndem und beobachtendem Bewusstsein macht, verläuft in der Sackgasse und versagt, wenn es um das ganze Menschsein geht. »Es ist ganz offensichtlich, daß es gerade diese Unterscheidung ist, in der sich das logische Subjekt des Denkens konstituiert – und sich sowohl von der Welt wie von seinen Gedanken als Drittes absetzt« (Günther, Beiträge 2, S. 85). Die zweiwertige, zeitlose6 Logik fordert, dass, wenn eine Vorstellung »wahr« ist, sie auch prädikativ identisch mit dem Vorgestellten ist. Ist sie das nicht, dann ist sie »falsch« und betrifft etwas anderes. Sein und Denken stehen sich in der Aristotelischen Logik wie Objekt und Subjekt monothematisch als ein Umtauschverhältnis gegenüber. Das metaphysische Schema der klassischen Logik beherrscht unser gesamtes theoretisches Wissen und klammert das von sich selbst wissende und reflektierende Subjekt als ausgeschlossenes Drittes aus. Deshalb ist diese Logik in den naturwissenschaftlich-technischen Gebieten, jenseits historisch-spekulativer, politischer, religiöser oder sittlicher Fragestellungen, so erfolg-
6 Den tiefen Zusammenhang zwischen Zeit und Logik hat schon Aristoteles gesehen. Vgl. Peri Hermeneias, 9. Kapitel. Nach Aristoteles sind Aussagen über die Zukunft weder wahr noch falsch; für sie gilt also der Satz des ausgeschlossenen Dritten nicht.
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reich. Als Konsequenz dessen betrachte ich das folgende Hegelzitat als das Grundmotiv für eine transklassische Logik: »Das Bedürfnis, die Logik in einem tieferen Sinne als dem der Wissenschaft des bloß formellen Denken zu erfassen, ist veranlasst durch das Interesse der Religion, des Staats, des Rechts und der Sittlichkeit« (Hegel, 8, S. 71). Zur Vertiefung dieses Hegelschen Denkmotivs sei hier eine Bemerkung von Glockner hinzugefügt: »Goethe hatte vollkommen recht. In der Tat würde Hegel niemals Dialektiker geworden sein, wenn er seinen Ausgang nicht von theologisch-politischen, sondern von naturwissenschaftlichen Problemen genommen hätte. Im Natur-Organismus besteht zwischen dem Ganzen und dem Individuellen kein Widerspruch. Solcher erwacht erst im menschlichen Geiste, insoferne sich derselbe innerhalb der Gemeinschaftsorganisationen als Individuum setzt und seine Selbstständigkeit behauptet« (Glockner, Hegel, S. 163).7 Die Subjektivität distribuiert sich systematisch in Beobachter (der spekulierende Philosoph) und Akteur (das lebendige Ich). In dem Kapitel Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch die Verwechselung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem Transzendentalen weist Kant darauf hin, dass sich das Subjekt maskieren muss, wenn es sich selbst als Objekt zum Thema machen will. Das ist die subjektive Zirkularität (KrV, B 404) im transzendentalen Gewand, die im Rahmen der klassischen Logik zu Widersprüchen führt,8 so dass Kant von zwei Formen der Subjektivität spricht, die er aber nicht zu erklären vermochte:9 »Ich bin mir meiner selbst bewußt, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält, das Ich als Subjekt, und das Ich als Objekt. Wie es möglich sei, daß ich, der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der Anschauung) sein, und so mich von mir selbst unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifeltes Faktum ist; […]. Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persönlichkeit gemeint, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist eine Person, das Ich aber des Objektes, was von mir angeschaut wird, ist gleich anderen Gegenständen außer mir, die Sache« (Kant, Fortschritte, S. 601).
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Was Glockner hier sagt, gilt ebenso auch für Fichte: ja, es ist eine der charakteristischsten Behauptungen des transzendentalen Idealismus. 8 Die selbstreferentiellen oder reflektiven Eigenschaften der Vernunft erkannte Kant in seinen Untersuchungen über Paralogismen und Antinomien. 9 Es ist die aporetische Selbstobjektivierung des Subjekts.
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Die klassische Logik fand ihre endgültige Formulierung durch G. Boole, in seinem epochalen Werk An Investigation of the Laws of Thought (1854)10 und gilt universell und ausschließlich für die Mathematik und alle Naturwissenschaften.11 In der Logiktrias12 des Aristoteles, d. h. Identität, Widerspruchsverbot und tertium non datur, spiegelt sich im Prinzip unser urphänomenales, objektiv mitteilbares und für jedermann streng verbindliches (zweiwertiges) Denken allen vernünftigen erkenntnistheoretischen Erlebens wider. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei festgestellt, dass es sich hier nicht um formale Erweiterungen der in der Mathematik gültigen zweiwertigen Logik13 handelt. Die formale Aristotelische Logik ist durch starre Denkregeln gekennzeichnet; die transzendentale oder dialektische Logik dagegen ist durch reflexive Strukturen beweglicher. Letztere beherrscht die Idealisten und erstere, ganz im Sinne Fichtes, die Dogmatiker.14 »Der Dogmatismus geht von einem Seyn, als Absolutem, aus, und sein System erhebt sich sonach nie über das Seyn. Der Idealismus kennt schlechterdings kein Seyn, als etwas für sich bestehendes. Mit anderen Worten: der erstere geht von der Notwendigkeit aus, der letztere von der Freiheit. Beide befinden sich daher in zwei ganz voneinander verschiedenen Welten« (SW, I, S. 509). Die Welt der Dogmatiker – das sind heute ausnahmslos alle Wissenschaftler15 – wird durch eine Sachlogik und die Welt der Idealisten durch eine Sinnlogik strukturiert. Sinn lässt sich nicht durch »wahr« oder
10 Fichte und Hegel standen zu ihrer Zeit keine Logikkalküle zur Verfügung. Daher sind ihre impliziten dreiwertigen Ansätze einer erweiterten Logik in ihren Werken so schwer zu lesen. 11 In der Quantentheorie führt die zweiwertige Logik zu Interpretationsproblemen, was denn eigentlich die physikalische Realität ist. 12 Formal ist das: 1. A = A, 2. A nicht A, 3. A = nicht (nicht A), wenn A eine beliebige Aussage ist. 13 Z. B. die dreiwertigen Logiken von Tarski oder Reichenbach, die alle probabilistische Erweiterungen in der Mathematik darstellen. Sie basieren auf der Zweiwertigkeit »wahr« oder »falsch«, da sie seinsthematische Wissenschaften behandeln und jeden subjektiven Sinn oder Zweck ausklammern. 14 Die Dogmatiker haben den »Einfall, sich hinter die allgemeine Logik zu verschanzen, und den Schatten des Stagiriten zu beschwören« (SW, I, S. 499). 15 Das ist nicht abwertend gemeint. Dogmatistisches Denken kann nur zweiwertig sein und ist daher antagonistisch.
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»falsch« charakterisieren, denn die menschliche Wirklichkeit ist widerspruchsvoller, verschlungen und durch Kontexte bedingt. Eine zweiwertige Logik, die nur den Akteur dem Sein gegenüberstellt, ist dieser Wirklichkeit völlig unangemessen. »Das Verhältnis zwischen freien Wesen ist Wechselwirkung durch Freiheit, keineswegs Causalität durch mechanisch wirkende Kraft« (Ebenda). Die Formulierung einer transklassischen Reflexionslogik entwickelte Gotthard Günther aus Elementen der Wissenschaftslehre und Hegels »Großer Logik«. »Hegel ist der erste Denker [auf Fichte aufbauend], der völlig klar gesehen hat, daß alle Bemühungen der bisherigen Philosophie, die eine Weltanschauung als »wahr« und die andere als »falsch« zu erweisen, auf einer irrtümlichen Auffassung der logischen Funktionsweise des Bewußtseins beruhen« (Günther, IuG, S. 256). Günther erkannte, dass das Bewusstseinsproblem, wie es Fichte und Hegel behandelten, im Grunde das Problem der Mehrwertigkeit des Ichs bedeutet. Dieses Problem kehrt im Gewand der Zirkularität wieder. Denkern war das bereits in der Kybernetik unter dem Begriff des »feedback« (Rückkoppelung) bewusst. Um die Mitte des letzten Jahrhunderts wurde eine semantische Verwandtschaft zwischen dem transzendentalen Idealismus und dem kybernetischen Denken entdeckt. Die kybernetische Theorie der Reflexionssysteme geht überraschenderweise in die gleiche Richtung wie die transklassische Logik. Damit kommt der Transzendentalphilosophie die Aufgabe einer wissenschaftsbegründenden Funktion zu (Schneider, wFT). Zusammen mit Grundprinzipien der Kybernetik,16 erbrachte Günther durch seine Theorie der Subjektivität den Nachweis, dass die aristotelische Metaphysik mit ihrem zweiwertigen Denken einer grundlegenden Revision bedarf.17 So entwickelte er als erster ein Logikkal16 Das Prinzip der Zirkularität ist in der Kybernetik die Rückkoppelung in einem sich selbst steuernden System mit Umgebung. Eine Soll-Größe wird mit einer Ist-Größe in einem wechselwirkenden System verglichen. Hier liegt tatsächlich ein technisches Korrelat oder ein Modell der selbstbezüglichen Subjektivitätstheorie des deutschen Idealismus vor. Die Kybernetik und die Informatik sind exzellente technisch-wissenschaftliche Bestätigungen des transzendentalen Idealismus im Sinne der »Revolution der Denkart«. 17 »Wir verdanken Gotthard Günther den Nachweis, daß die klassische Metaphysik, die auf der Verbindung von einwertiger Ontologie (Sein ist, Nicht-Sein ist nicht) und zweiwertiger Logik (Wahres ist nicht falsch, Falsches ist nicht wahr; tertium
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kül, das auf dem Reflexionsprinzip des Denkens basiert. »Die bisherige Annahme der aristotelischen Metaphysik, daß sich das Wesen der Wirklichkeit und der menschlichen Existenz aus zwei, und nur zwei metaphysischen Realitätskomponenten, nämlich Materialität und Spiritualität, erklären lasse, beruht auf einem Irrtum« (Günther, BdM, S. 59). 18 Stellt man sich einmal die Frage, »was eigentlich jenes mysteriöse Dritte sein mag, das durch das Tertium non datur ausgeschlossen werden soll«, so ist die Antwort: »Die sich weiter reflektierende Reflexionskraft des Bewusstseins« (Günther, IuG, S. 217). Das Denken »als geschlossene Totalität und konkrete Realität« erschöpft sich nicht im Sein der Dinge, »weil alle Subjektivität im Sein immer nur ein Verhältnis zu sich selbst gewinnen will. Das bedeutet metaphysisch Reflexion« (Günther, Beiträge 1, S. 63). In der klassischen Logik existieren zwei primordiale metaphysische Komponenten, die dinghafte Seinsidentität und die nichtdinghafte Subjektivität. Die traditionelle zweiwertige Logik stellt dem Subjekt (Ich) nur die Objekte (Es) gegenüber. Andere Subjekte in Form der Du-Subjektivität können in dieser Logik nicht thematisiert werden.19 Bisher wurden alle Subjektformen, die sich in anderen Menschen verbergen, in der einen idealen Subjektivität schlechthin aufgehoben. Ich erlebe mich als eine innerlich subjektive Existenz (Ich), einen anderen dagegen als eine objektive Existenz in der Welt (als ein Du). Nur objektive Erkenntnisse über den anderen sind mir zugänglich, nicht seine subjektiven Bekenntnisse. Das Subjekt-Du kann nur eine gedachte (anerkannte) Subjektivität sein und ist daher leicht zu einem Es zu degradieren, wenn wir an der zweiwertigen Logik festhalten.
non datur) beruhte, in vielen Hinsichten nach einer Revision verlangt. Es lassen sich mit ihrer Hilfe weder die heute gültigen Grundansichten über die Verfassung von Naturgegenständen noch jene über den Status von kulturellen Tatsachen angemessen artikulieren« (Sloterdijk, Der operable Mensch, S. 62). 18 Dieser Irrtum besteht, »weil unser traditionelles zweiwertiges Weltbild nur über zwei Transzendenzmotive, das der objektiven Sein-Transzendenz und das der subjektiven Introszendenz verfügte« (ebd., 119). 19 Die Wissenschaften, wie die Sozialwissenschaften, Neurowissenschaften (Hirnforschung), die Anthropologie und die politische Philosophie z. B. haben die Subjektivität in ihren Forschungsmethoden als Untersuchungsobjekt auserkoren und erforschen sie nach Regeln, die eine zweiwertige Logik voraussetzen. Darum geht es auch nicht voran bei der Erforschung der psychischen oder sozialen Welt.
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Zum methodischen Vorgehen in Ansehung der Duplizität der Subjektivität ist es von großer Bedeutung zu wissen, dass durch Abtrennung eines Bereichs der Subjektivität eine dritte metaphysische Dimension neben der Objekt-Subjekt-Dualität freigelegt wird.20 Der abgetrennte Subjektivitätsbereich ist die Information oder Kommunikation produzierende Verstandesleistung, die keinen gemeinsamen Durchschnitt mit der introszendenten reinen Innerlichkeit besitzt. Die klassische Idee der Objektivität bleibt dabei unangetastet.
II. Die Trichotomie Objektivität – Reflexionsprozess (Information) – Subjektivität Das Wesen des transzendentalen Idealismus ist die Duplizität der Subjektivität in der Form Verstand-Vernunft, Akteur-Beobachter, Denken-Idee und Informationsprozess-Bedeutung (Wert) in der objektiven Welt. Die Information, d. h. der Reflexionsprozess ist die dritte primordiale metaphysische Komponente neben der Objektivität und der Subjektivität. Es ist nicht so, dass die Kybernetik das dreiwertige Denken begründet, sondern die Kybernetik mit der Trias Wechselwirkung (Objekt)-Information (Reflexion)-Bedeutung (Subjekt) folgt als ein mögliches technisches Korrelat aus dem transzendentalphilosophischen Denken.21 Bewusstsein ist stets durch das Sein vermittelte Subjektivität, die von sich selbst ein Wissen hat. Die reine Ich-Subjektivität kommt zum Sein nur durch Information verarbeitende Prozesse (Denken). In seiner arteigenen Transzendenz gehört der
20 Das aristotelische System des zweiwertigen Denkens wird »nun aber gerade angesichts der Ergebnisse der Kybernetik gesprengt durch einen eigengesetzlichen Informationsbereich, der sich durch eine Negation von dem Objektiv-Dinglichen und durch eine zweite von dem Subjektiv-Innerlichen scharf abgrenzt« (Schneider, wFT, S. 165). 21 Damit hier kein Missverständnis entsteht: Die Kybernetik macht die selbstständige Existenz der Subjektivität oder des Selbstbewusstseins zur unabdingbaren Voraussetzung. Die Pointe besteht darin, dass die Kybernetik, wie auch die Informatik, Bewusstseinsprozesse, die wir als subjektive, psychische oder spirituelle Vorgänge denken, als objektivierbare Funktionen oder Mechanismen entlarvt hat. »Eine solche Entlarvung ist aber eben gerade nur unter der Voraussetzung möglich, daß ein subjektives, ichhaftes Bewußtsein vorhanden war, das sich in jenem Mechanismus falsch nämlich subjektiv statt objektiv interpretiert hat« (Günther, BdM, S. 61).
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Informations- oder Reflexionsprozess weder vollständig zur Objektivität noch zur Subjektivität. Dem Informationsprozess fehlt die Eigenschaft der Ding- oder Ichhaftigkeit. Verstandesleistung ist immer Information und daher objektivierbar. Beispiele sind heute im Zeitalter der Informatik und Kybernetik die Erinnerung, das Sprechen, Lesen und ferner die Selbststeuerung von Systemen. Auch die Mathematik als subjektive Gedankenleistung kann mechanisiert und damit objektiviert werden; unsere gesamte Technik und alle Naturwissenschaften basieren darauf.22 Es sind im Prinzip, wie die Sprache, spezielle Objektivationen des menschlichen Geistes (W. v. Humboldt). Zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Subjektivität existiert der intelligente Information und Kommunikation produzierende Reflexionsprozess als dritte protometaphysische Komponente. Auch Fichte wusste schon, dass reine Verstandesleistung, d. h. seinsbezogenes Denken, mechanisierbar ist: »Das reine Ich […] liegt allem […] Denken zu Grunde, und kommt in allem […] Denken vor, indem alles Denken nur dadurch zu Stande gebracht wird. Soweit geht alles mechanisch. Aber die soeben behauptete Nothwendigkeit einzusehen, dieses Denken wieder zu denken, liegt nicht im Mechanismus; dazu bedarf es der Erhebung durch Freiheit zu einer ganz anderen Sphäre, in deren Besitz wir nicht unmittelbar durch unser Daseyn versetzt werden« (SW, I, S. 506, Hervorhebung von UFW). Durch die Verdoppelung der Subjektivität ist es möglich, den Teil des »Ich denke«, nämlich den mechanischen Teil, bedingt durch die beiden Erkenntnisstämme Sinnlichkeit und Verstand, abzuspalten. Subjektivität wird dadurch teilweise objektiviert.23 Davon völlig unabhängig ist der Bereich der Subjektivität, den wir Vernunft nennen. In ihm sind moralische,
22 Die mechanisch-elektronische Grundstruktur des Computers (Hardware) ist die direkte Realisierung der Booleschen Algebra. Man denke an die sprachliche und institutionelle Vernetzung weltweit durch das Internet. Kulturleistungen werden massiv objektiviert. Der Mensch als Subjekt des Denkens setzt sich selbst als ein Objekt, d.h. er veröffentlicht sich teilweise. 23 Das ist die Teilnehmersubjektivität (Akteur) im Gegensatz zur Beobachtetsubjektivität (selbstbewusste Vernunft). Wenn auch sattsam bekannt, so passt hier die Trias Sein-Bewusstsein-Selbstbewusstsein. Das Bewusstsein als Archetyp aller Reflexion sei der »mechanische« oder objektivierbare öffentliche Teil der Subjektivität. Im Bewusstsein sind der Information produzierende Prozess als Verstandesleistung und die objektiven Modelle der Bewusstseinsfunktionen enthalten. Das Selbstbewusstsein ist privat, für den anderen absolut unerreichbar und daher transzendent.
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religiöse und rechtliche Maximen zu Hause. Fichte spricht von einer »ganz anderen Sphäre« jenseits aller Erfahrung. Die zweiwertige aristotelische Seinslogik (Ontologie) ist mit der dreiwertigen transzendentalen Denklogik nicht deckungsgleich. Deutlich kommt hier die Mächtigkeit des Denkens über das Denken gegenüber dem Denken des Seins zum Vorschein. Ich nenne das letztere das Denken erster Ordnung (der »gewissenlose« Akteur) und das erstere das Denken zweiter Ordnung (der »gewissenhafte« Beobachter: Denken des Sinns, des Wertes, des Zwecks, des Ziels). In Folge der Duplizität der Subjektivität liegen drei protometaphysische Komponenten vor. Günther bezeichnet sie mit Objekt, Reflexion (der Denkprozess) und Subjekt. Diese drei Begriffe als Eckpunkte eines Dreiecks betrachtet, implizieren drei Relationen, zunächst rein formal bezeichnet mit, »ES«, »ICH« und »DU«: (a) Objekt-ES-Reflexion sei die zweiwertige Reflexion auf das Seiende mit dem Thema Objekt. (Hegel: Reflexion in Anderes, Fichte: Qualität); (b) Reflexion-ICH-Subjekt sei die zweiwertige Selbstreflexion des Bewusstseins auf sich in Ansehung eines fremden Seins mit dem Thema Reflexion. (Hegel: Reflexion in sich, Fichte: Bild); (c) Subjekt-DU-Objekt ist die transzendentale Reflexion der gegensätzlichen Reflexionen von (1) und (2) mit Thema Subjekt als Selbstbewusstsein. (Hegel: Reflexion in sich der Reflexion in sich und Anderes, Fichte: Bild-Sein des seienden Bildes und gebildeten Seins). (vgl. Schneider, wFT, S. 166). Eine dreiwertige Logik enthält als Darstellung des totalen Bewusstseinsumfanges genau drei – aber hinsichtlich der Negation nicht vergleichbare – zweiwertige Logiken, die unmittelbare Bewusstseinslagen darstellen. »Das Ich besitzt zwei fundamentale Negationsattitüden. Einmal der ersten Fremdheit des Dinges gegenüber und überdies vis-a-vis der zweiten Fremdheit, die es im Denken selbst entdeckt. Zwei Negationen erfordern eine dreiwertige, nicht-aristotelische Logik« (Günther, IuG, S. 106).
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1. Die Duplizität der Subjektivität und die Anerkennung, Ich- und Du Subjektivität Zum Sein – bei Fichte das Nicht-Ich24 – gehören neben den dinglichen Gegenständen aber auch andere menschliche Subjekte, beide sind uns bloß objektiv physisch gegeben. Der Andere begegnet mir als ein Pseudoobjekt und seine (von mir) gedachte innere Subjektivität ist mir unzugänglich. Es ist meine Option, ob ich den anderen bloß als Ding oder als würdevollen Menschen anerkenne. Jede andere, mir fremde Subjektivität, die mir bloß als Sache erscheint, muss durch einen kognitiven Akt als eine Person (als ein Du25) anerkannt werden. Die Du-Subjektivität taucht zuerst bei Fichte auf, und zwar in seiner Erläuterung um die Synthesis des Begriffs der Person. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass das triadische Relationsgefüge ICH-DU-ES mit ein wenig Gedankenarbeit direkt aus der bedeutsamen Textstelle des 9. Abschnitts aus der Zweiten Einleitung von 1797 folgt: »Die Ichheit […] wird ursprünglich dem Es, der blossen Objectivität, entgegengesetzt; und das Setzen dieser Begriffe ist absolut, durch kein anderes Setzen bedingt, thetisch, nicht synthetisch. Auf etwas, das in diesem ersten Setzen als ein Es, als blosses Object, als etwas ausser uns gesetzt worden, wird der in uns selbst gewordene Begriff der Ichheit übertragen, und damit synthetisch vereinigt; und durch diese bedingte Synthesis erst entsteht uns ein Du. Der Begriff des Du entsteht aus der Vereinigung des Es und des Ich. Der Begriff des Ich in diesem Gegensatze, also der Begriff des Individuums, ist die Synthesis des Ich mit sich selbst« (SW, I, S. 502). Das Urmotiv für eine dreiwertige Logik ist das doppelte Subjektsein gegenüber dem Sein an sich. Jedes Subjekt verdoppelt sich durch iterative Reflexion; es ist ein (subjektives) Subjekt, das denkt und sich selbst als (s)ein Gedachtes denkt. Im Gegensatz zur klassischen Logik wird in der dreiwertigen transklassischen Logik die Subjektivität durch eine Ich- und eine Du-Komponente, nicht existentiell, sondern bloß reflektorisch, repräsentiert. Die Relation, also die durch das Denken reflektierte Welt, wird
24 Die zweiwertige Logik des Aristoteles »ignoriert die nicht abzuleugnende Tatsache, daß der Begriff des Nicht-ich zweideutig ist. Nicht-ich ist erstens: das Du und zweitens: das Ding« (Günther, IuG, S. 66). 25 In der englischen Sprache kommt das Du feierlicher und ernster zum Ausdruck als in der deutschen: »I-Thou« im Gegensatz zu »I-Object«, vgl. MacKay, 1962.
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selbst zum Denkobjekt. Es wird also auf das Reflektieren reflektiert. »Das Denken des Denkens aber ist auf Grund seiner Selbstreferenz ›transzendental‹« (Günther, IuG, S. 333). Die Reflexion teilt sich auf, erstens in eine unmittelbare »Reflexion-inAnderes« und zweitens in eine ebenso unmittelbare »Reflexion-in-sich«. Diese »höhere« Reflexion, also das Denken über das Denken, ist aber jetzt ein vermittelndes Denken. Vermittelt wird die Reflexion des »objekthaftigen« An-sich-sein mit der Reflexion des »subjekthaftigen« Für-sich-sein im absoluten An-und-für-sich-sein. »Das Denken des Denkens ist also eine doppelte Reflexion, die auf die Reflexionssituation des in der Welt seienden und von Gegenständen konfrontierten Ichs reflektiert« (ebd., S. 333). Es erfolgt hier gleichermaßen eine Reflexion auf Objektivität und Subjektivität, durch die beobachtende Subjektivität. Die klassische Trennung von Sein und Denken ist im Denken »aufgehoben«. Das irreflexive Ding ist für jedes Subjekt gleich irreflexiv, wir »besitzen« das Ding objektiv. Es ist »für uns« alle da, es ist das »mit-sich-selbstidentisch-sein« der Dinge. Das selbstbewusste Denken als zweites logisches Thema dagegen ist nicht für uns alle da, sondern ist relativ vom reflektierenden Subjekt abhängig.26 Denken ist immer eigenes Denken, daher hat jeder Mensch sein Bild oder seinen Wert der Gegenstände, Zustände oder Prozesse. »Das Denken denkt sich selber und macht damit seinen eigenen Reflexionsprozeß zum »zweiten« Gegenstand« (Günther, IuG, S. 335). Der »zweite« Gegenstand »ist ein Bild der Reflexion, die sich selber auf der Gegenstandsebene spiegelt«. Dieses Bild ist von einem ichhaften Denkprozess produziert und nur für dieses Ich präsent. Denkende Subjektivität ist immer die eigene und die gedachte immer das Fremde. Fremdheit, so behauptet Günther, ist nun das generelle Kriterium von Gedachtem überhaupt, unabhängig davon, ob das Denkobjekt als irreflexives Sein oder als bewusste Reflexion interpretiert wird. Die Reflexion ist jetzt selbst Denkobjekt und daher fremde Reflexion. Der Begriff Ich meint immer das aktiv denkende Subjekt im Gegensatz zum gedachten Ich, dem Du. »Wir erleben das Du nämlich weder als Ich – ich bin nämlich einzig und allein für mich selbst Ich – auch erleben wir es nicht als Ding von gleichem Status wie die anderen unbelebten Dinge. Das Du ist auch nicht
26 Man kann hier von einer Relativitätstheorie der Subjektivität sprechen.
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ein ichhaftes Objekt. […] Es ist vielmehr ein Drittes, das aus der zweiwertigen Struktur des Denkens prinzipiell ausgeschlossen ist.« Das Du drängt sich uns auf, weil »es uns mit selbstständigen Denkvollzügen begegnet, die wir in unserer eigenen Reflexion parieren müssen«, daher »zählt es ebenfalls als ein Grund und Motiv unseres Denkens« (Günther, IuG, S. 277). Jedes Ich muss seine Subjektivität durch Anerkennung in andere setzen, dadurch erfährt es die »Einheit seiner selbst in seinem Anderssein«. Ich bin immer auf ein anderes Selbst angewiesen, denn Hegel behauptet: »Jedes ist wohl seiner selbst gewiß, aber nicht des anderen, und darum hat seine eigene Gewißheit von sich noch keine Wahrheit; denn seine Wahrheit wäre nur, daß sein eigenes Fürsichsein sich ihm als selbständiger Gegenstand oder, was dasselbe ist, der Gegenstand sich als diese reine Gewißheit seiner selbst dargestellt hätte. Dies aber ist nach dem Begriffe des Anerkennens nicht möglich […]« (Hegel, 3, S. 148, Hervorhebung von U. F. W). Also liegt die Wahrheit in der Anerkennung27 der Subjekte untereinander, wodurch ein intersubjektiver Diskurs möglich wird. Ich kann mir meiner selbst allein durch mich nicht gewiss sein, denn das ist eine logische Unmöglichkeit.28 Natürlich kann ich mir einbilden, dass ich mir meiner selbst gewiss bin, doch das ist kein wahres Wissen, sondern bloß ein eingebildetes. Die Abwesenheit der symmetrischen Anerkennung ist die logische Ursache des moralischen Irrtums und Übels, daher bildet das Anerkennungsprinzip die Grundlage einer intersubjektiven und interobjektiven Sittenlehre. Ein Ich-Subjekt kann Subjektivität durch Selbstreflexion nur über seine Pseudoobjektivität erfahren. Die Beobachtung meiner selbst ist logisch gleich der Beobachtung anderer Subjekte, die mir als Pseudoobjekte oder als objektive Du-Subjekte erscheinen. Ich-Subjektivität und Du-Subjektivität können sich nur physisch in der gemeinsamen Umwelt begegnen, niemals jedoch in Form von intrasubjektiven Erkennt-
27 Der Anerkennungsbegriff stammt von Fichte, vgl. Grundlage des Naturrechts 1796 und Vernunftrecht 1812. Die Anerkennung ist ein Trieb wie der Naturtrieb, er kann von uns unterdrückt werden oder nicht. 28 So wie ich mich physisch nicht an meinem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, so kann ich mir meiner kognitiv nicht durch mich selbst gewiss sein. Ich nenne diese Unmöglichkeit der Selbstgewissheit ohne Anerkennung durch ein anderes Selbstbewusstsein den »mentalen Münchhauseneffekt«.
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nis- oder Bekenntnisprozessen. Der innergeistige Prozess der freien Willens- und Entscheidungsbildung oder der seelischen Motivation beim Du sind dem Ich nicht zugänglich. Nur Willenshandlungen, die sich in der Welt objektivieren, werden vom Ich bzw. vom Du wahrgenommen. Wie ist nun aber die Anerkennung einer anderen Subjektivität möglich, wenn die gegenseitigen Bewusstseinsinhalte und -gehalte von Ich- und Du-Subjektivität prinzipiell unzugänglich sind? Günther beantwortet diese Frage dergestalt, dass die Du-Erfahrung, die ein Ich macht, darauf beruhe, »daß das Ich in der Selbst-Reflexion einen Akt vollzieht, in dem es die Fremd-Reflexion […] als fremde Selbst-Reflexion anerkennt« (Günther, BdM, S. 163). Dieses Anerkennen zwischen der Ich- und Du-Subjektivität ist zwingend, weil das Du bzw. das Ich diese Anerkennung – wenn Wahrheit oder das Ganze im Vordergrund stehen soll – bestätigt haben will. Denn wenn, »das Ich die subjektive Selbst-Gewißheit seines Denkens nie auf das Du übertragen kann und von dem Du dasselbe gilt, dann erstreckt sich diese Unübertragbarkeit auch auf jenes »Moment« der Wahrheit, das als Erlebnisevidenz an die private Introszendenz des isolierten Subjektes angeschlossen ist« (Günther, BdM, S. 166). Die intersubjektive Ich-Du-Relation entstammt aus der intrasubjektiven Ich-Du-Relation, die in jedem Zirkularitätsakt in der Ich-Subjektivität ruht. »Das Ich kann gar nicht isoliert angesetzt werden, weil es als Ich in und unter der Forderung zugleich und in eins sein Du ist, Du für sich und angesprochenes Du in der absoluten Forderung. Ich bin aufgrund meiner Rückbeugung [Reflexion] ebenso Du für mich selbst wie ich Ich in meinem eigenen Wollen unter der Kritik meines Willens bin. Die Transzendentalphilosophie konjugiert [flektiert] ineins von der zweiten Person, wenn sie von der ersten Person aus konjugiert« (Lauth, 2006). Es ist Günthers genuines Verdienst, gezeigt zu haben, dass das Du überhaupt ein logisches Thema ist. Ohne ein Du kann Ich mir logisch niemals selbst gewiss sein. Wird diese Behauptung zurückgewiesen, bin ich dem Irrtum verhaftet und lebe in Unwahrheit.
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2. Die logische Trinität Ich-Du-Es Subjektives Denken vollzieht sich im Ich und objektives Denken vollzieht sich im Du. Zwischen diesen beiden Denkweisen existiert ein Reflexionsgefälle von Ich auf Du. Das irreflexive Sein hat keinen Einfluss auf das Denken durch das es gedacht wird. »Es gibt jedoch nur eine Reflexion, die selber Reflexionsprozess ist und zugleich dem »eigenen« Denken fremd ist, das ist das Denken im Du relativ zum Denken im Ich« (Günther, IuG, S. 337). Unser Identitätsbewusstsein bedeutet uns, dass ein Unterschied zwischen einem Ding und uns existiert und ferner, dass wir auch nicht identisch mit anderen Ichs sind. Daraus folgen drei Identitätsdifferentiale: »Erstens, das zwischen dem Ding und dem Ich, das das eigene ist. Zweitens, das zwischen dem eigenen Ich und einem beliebigen anderen, das für uns immer ein Du ist. Nun wissen wir aber auch mit der gleichen Evidenzkraft, mit der wir uns selbst von der Dingwelt distanzieren, daß das Du, obwohl es in unserer Dingwelt als eine objektive Größe auftritt, sich ebenso von den Gegenständen und Ereignissen dieser Welt als personelle Identität absetzt, wie wir es tun. Es existiert also außer den beiden bisher angeführten noch ein drittes Identitätsdifferential. Nämlich das zwischen dem Du und den Objekten« (Günther, BdM, S. 77). Die Relation »ES« bezeichnet Günther mit »Seinsidentität«,29 die klassische Sein-Denken Beziehung. Die Relation »ICH«, die »Reflexionsidentität« ist natürlich das Personalpronomen Ich.30 Es ist das denkende Ich, das den Akt des Denkens vollzieht. Die letzte Relation »DU«, die »Transzendentalidentität« schließlich, wird mit Du,31 dem gedachten Ich, bezeichnet. Das Objekt steht dem Ich, die Reflexion steht dem Du und die Subjektivität steht dem Es unvermittelt gegenüber. Dieses ICH-DU-ES Relationsgefüge ist als eine Dreiecksrelation zirkulär und der Reflexionskreisprozess, der die totale Reflexion als ein Absolutes formt, ist geschlossen. Das Denken bewegt sich im Kreis. Das transklassische Denken differenziert sich in das denkende Ich, in das gedachte
29 Das Subjekt oder die Innerlichkeit ist in dieser Relation nicht involviert. Reine Subjektivität spielt in dieser Situation die Rolle des ausgeschlossenen Dritten. 30 Der Grund des Denkens ist das Ich, aber das Ich selbst ist keine Substanz sondern eine lebendige Relation, wie Hegel bemerkt: »Ich ist nur die Identität des Verhaltens meiner selbst als Subjekt zu mir als Objekt« (Hegel, 9, S. 113). 31 Vgl. Anm. 24 u. 25.
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Ich (Du) und Es (Welt). Das Du ist in diesem Sinne ein Zwitterwesen, bestehend aus Objektivität und Subjektivität. Das Ich ist die unmaskierte private Subjektivität, ihm stehen beliebig viele Ding-Objekte und Du-Objekte gegenüber. Ein Du erscheint dem Ich zunächst immer nur als ein objektives öffentliches Ding in der Welt und zugleich als Subjekt. »Das Du ist dem Ich ebenso Negation wie das Ding« (Günther, IuG, S. 107). 32 Subjektivität distribuiert sich vom Ich auf das Du und umgekehrt, jedes Du ist ein mögliches Ich. Der Denkakt, den das Ich spekulativ vollzieht, besteht aus dem Bestimmen der Ding-Objekte und der Ich-Objekte und deren Relationen. Zwei Ichs sind logisch verschieden, weil im logischen System das eine Ich stets das denkende und das andere Ich stets das gedachte ist. Wenn ein Pseudoobjekt ein autonom denkendes Ich sein soll, so erfolgt das durch den kognitiven Akt der Anerkennung. Die Ich-Du-Es Trinität bildet strukturell eine Dreieinheit, in der alle metaphysischen Komponenten gleichberechtigt sind.33 »Das Absolute [muß] sich zu einem Kreise runden […], der die drei Elemente »Ich«, »Du« und »Es« enthält« (Günther, BdM, S. 117). Die »Ich-Du-Es Trinität« bildet keine hierarchische, sondern eine heterarchische Struktur. Der Unterschied zwischen Ich- und Du-Subjektivität existiert nicht in der Aristotelischen Logik, weil dort ein »universelles Subjekt« dem Sein zeitlos gegenübersteht. Alle Seinsaussagen in einer dreiwertigen Logik werden doppelsinnig. Die Identität von Subjekt und Objekt kann Identität der IchSubjektivität oder der Du-Subjektivität bedeuten, aber nicht beides gleichzeitig. Diese Identitätsaussagen haben verschiedene logische Orte in einer triadischen Logik.
32 Die Wahrheitstafeln bezüglich der Negation, der Konjunktion bzw. Disjunktion können hier nicht angegeben werden. 33 Pathetisch äußert sich Günther: »Mit dieser Trinität nicht ineinander überführbarer Begriffskomplexe werden letzte Grundvoraussetzungen unseres bisherigen Weltbildes erschüttert. Unsere ganze geistige Tradition, ja die gesamte objektive Struktur unserer abendländischen Kultur ruht auf einigen Kernmotiven der auf die Griechen zurückdatierenden Identitätsmetaphysik und der ihr korrespondierenden klassischen Logik, die unser Denken auch heute noch fast ausschließlich beherrscht« (Günther, BdM, S. 62).
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III. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung Fichtes Grundgedanke ist, dass jedes Du aus der Gemeinsamkeit von Ich und Es hervorgeht. Daher behaupte ich mit Günther, dass »der philosophische Ursprung der Mehrwertigkeit [der Logik] auf die absolute Differenz zwischen Ich-Subjektivität und Du-Subjektivität zurückgeht und auf die Unmöglichkeit [infolge des Anerkennungsprinzips], ihre Distribution in einem absoluten Subjekt aufzuheben« (Günther, Beiträge 3, S. 88). Wenn nämlich das Ich sich selbst im Denken entgegensetzt, so kann keine der beiden Entgegensetzungen Subjekt des Denkens sein. Das Subjekt (Beobachter) des Denkens ist vielmehr »das Dritte«, nämlich das Selbstbewusstsein. Die Logik der Selbstreflexion erzwingt eine primordial-triadische Grundstruktur: Setzen, Entgegensetzen und die Synthesis. Die klassische Objekt-Subjekt Dyade geht in eine Triade von subjektivem Subjekt, objektivem Subjekt und Objekt über. Die logische Tradition irrt, wenn sie annimmt, dass die klassische Logik das Denken erschöpft. Das Wesen der Transzendentalphilosophie fordert die Einsicht, dass das spekulative Denken – historisch und antizipatorisch – mächtiger ist als das Sein.34 Der deutsche Idealismus muss seinen logisch-spekulativen Grundgedanken35 operationell in die menschliche Realität einbringen und fruchtbar machen, indem er zum dreiwertigen, nicht antagonistischen, Denken aufruft.
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34 »Der Idealismus kann nie Denkart seyn, sondern er ist nur Speculation« (SW, I, S. 455). 35 Darunter verstehe ich die Duplizität der Subjektivität und das Anerkennungsprinzip. Das zweifache Subjektsein in der Ich- und Du-Form neben dem Sein (Es) ist das Motiv für dreiwertiges Denken, das sich auch in der Trichotomie Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität zeigt.
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Die philosophische Begründung der naiven Mengenlehre durch das Prinzip der späten Wissenschaftslehre Fichtes Toshio Honda
1. Einleitung Die naive Mengenlehre, die Cantor und Dedekind begründet haben, hatte großen Erfolg, weil durch sie das Unendliche als das unendliche System1 mathematisch und wissenschaftlich behandelt werden konnte. Dedekind erklärt in seiner Schrift Was sind und was sollen die Zahlen?:2 »Indem ich die Arithmetik (Algebra, Analysis) nur einen Theil der Logik nenne, spreche ich schon aus, daß ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vorstellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, daß ich ihn vielmehr als einen unmittelbaren Ausfluß der reinen Denkgesetze halte.« (Dedeking, 1923, Vorwort zur ersten Auflage) Seine Schrift wäre infolgedessen ein Versuch, diese Eigenschaft [Wenn ein System S einem echten Theile seiner selbst ähnlich ist, heißt es unendlich (Dedekind, 1923, 64)] als Definition des Unendlichen anzunehmen
1
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Hier kann man statt der Bezeichnung »das unendliche System« die Bezeichnung »die unendliche Menge« verwenden, weil Dedekind Wörter wie System, Gesamtheit, Menge, Inbegriff und Mannigfaltigkeit synonym verwendet. (Dedeking, 1923, 2) Dedekind gibt jedem Satz eine Nummer. Wenn wir einen Satz aus diesem Buch zitieren, benutzen wir diese Satz-Nummer und fügen sie in der Klammer am Ende des Zitates an. Dedekind, 1923.
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und auf dieser Grundlage die Wissenschaft von den Zahlen streng logisch aufzubauen. Durch diese Definition könnte man eine Menge der Mengen unendlich und unbedingt erzeugen. Dedekind behauptete, dass bisher weder Cantor noch Bolzano3 diesen Versuch unternommen hätten. Dedekind dachte damals, dass es unendliche Systeme wirklich gibt (Dedekind, 1923, 66). Er versicherte, dass meine Gedankenwelt, d. h. die Gesamtheit S aller Dinge, welche Gegenstand meines Denkens sein können, unendlich ist. Dabei stützt mein eigenes Ich als ein wirklich existierendes Element meiner Gedankenwelt das ganze Sein meiner Gedankenwelt, weil mein eigenes Ich sich nicht in der Fähigkeit unseres Geistes, sich in sich selbst abzubilden, (Reflexion in sich selbst) erschöpft. Dedekind wurde aber allmählich klar, dass die Mengenlehre verschiedene fatale Paradoxien impliziert. Von einigen Paradoxien haben Cantor und Dedekind selbst schon gewusst, ein anderes hat Bertrand Russell aufgezeigt. Bis in die Gegenwart ist es niemandem gelungen, diese Paradoxien vollständig zu lösen, sondern man kann nur sie vermeiden, indem man zusätzliche Bedingungen einführt. Zum Beispiel indem man irgendeine Beschränkung bei der Benutzung des Begriffs von einer Menge der Mengen ansetzt oder indem man die Typen der Begriffe, wie etwa individuals, classes und comprehensive class unterscheidet. Wir sind der Ansicht, dass diese Paradoxien dadurch resultieren, dass Dedekinds Begriffe »mein eigenes Ich« und »meine Gedankenwelt« nicht hinreichend begründet wurden. In dieser Veröffentlichung versuchen wir diesen Begriff ausgehend von dem Standpunkt der Fichteschen Transzendentalphilosophie zu begründen. Auf diese Weise können wir den Weg darstellen, wie man verschiedene in der naiven Mengenlehre enthaltene Paradoxien vermeiden und die originale naive Mengenlehre verteidigen kann.
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Bernard Bolzano (1781–1848).
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2. Dedekinds Mengenlehre 2.1 System, sein Element, Teil eines Systems und der echte Teil Dedekind schreibt: »Es kommt sehr häufig vor, daß verschiedene Dinge a, b, c … aus irgend einer Veranlassung unter einem gemeinsamen Gesichtspunkte aufgefasst, im Geiste zusammengestellt werden, und man sagt dann, daß sie ein System S bilden; man nennt die Dinge a, b ,c… die Elemente des Systems S, sie sind enthalten in S; umgekehrt besteht S aus diesen Elementen.« (Dedekind, 1923, 2). Er behauptet weiter: »Im Folgenden verstehe ich unter einem Ding jeden Gegenstand unseres Denkens.« (Dedekind, 1923, 1). Daraus folgt, dass »ein solches System S (oder ein Inbegriff, eine Mannigfaltigkeit, eine Gesammtheit) […] als Gegenstand unseres Denkens ebenfalls ein Ding [ist].« (Dedekind, 1923, 2). In diesem Fall kann man sehr leicht folgendes vermuten: Jedesmal wenn wir einen Gegenstand denken, haben wir ein weiteres Denken, welches dieses Denken zu seinem Gegenstand hat. Und auf diese Weise können wir unendlich fortfahren, da es nicht möglich ist, diese Selbstreflexion an einem Punkt abzubrechen. Dedekind definiert die zwischen verschiedenen Systemen bestehenden Beziehungen folgendermaßen: »Ein System A heißt Theil eines Systems S, wenn jedes Element von A auch Element von S ist.« (Dedekind, 1923, 3) Diese Beziehung drückt er durch das Zeichen A ⊂ S4 aus. »Ein System A heißt echter Theil von S, wenn A Theil von S, aber verschieden von S ist.« (Dedekind, 1923, 6) In diesem Fall, »gibt es in S ein Element, welches kein Element von A ist.« (Dedekind, 1923, 6) »Da ferner jedes Element s eines Systems nach (2) selbst als System aufgefaßt werden kann, so können wir auch hierauf die Beziehung s⊂S anwenden.« (Dedekind, 1923, 3).5
4 Dedekind benutzte eigentlich ein anderes Zeichen, und zwar das Zeichen ℨ anstatt des Zeichens ⊂. Das Zeichen ℨ wird aber nicht mehr verwendet. Wir verwenden im Folgenden daher das Zeichen ⊂. 5 In der naiven Mengenlehre unterscheidet man verschiedene Typen wie Element und System nicht, so dass man das Zeichen s ⊂S statt s∈S benutzen kann.
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2.2 Abbildung φ, Abbildung in sich selbst, Bild, Ähnlichkeit, Kette und das Unendliche In seiner Schrift erwähnt Dedekind nur eine Fähigkeit des Geistes: die Abbildung. Er sagt: »Verfolgt man genau, was wir bei dem Zählen der Menge oder der Anzahl von Dingen thun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt, Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Dinge ein Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden, ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist.« (Vorwort zur ersten Auflage,iv). In Was sind und was sollen die Zahlen?6 bestimmt er diese Definition genauer: »Unter einer Abbildung φ eines Systems S wird ein Gesetz verstanden, nach welchem zu jedem bestimmten Element s von S ein bestimmtes Ding gehört, welches das Bild von s heißt und mit φ(s) bezeichnet wird; wir sagen auch, daß φ(s) durch die Abbildung φ aus s entsteht oder erzeugt wird, daß s durch die Abbildung φ in φ(s) übergeht.« (Dedekind, 1923, 21) Zugleich soll das System, welches aus allen Bildern φ(s) besteht, das Bild von S heißen und mit φ(S) bezeichnet werden.7 Auch bezeichnet er φ(s) mit s' und φ(S) mit S'.8 Dedekind definiert ›Ähnlichkeit‹ folgendermaßen: »Eine Abbildung φ eines Systems S heißt ähnlich (oder deutlich), wenn verschiedenen Elementen a, b des Systems S stets verschiedene Bilder a' = φ(a), b' = φ(b) entsprechen« (Dedekind, 1923, 26). Und: »[W]ir nennen φ eine Abbildung des Systems S in sich selbst, wenn φ(S) ⊂ S ist« (Dedekind, 1923, 36). Er nennt ein solches System S Kette, wenn die Beziehung φ(S)⊂S oder S'⊂S besteht.9 Warum kann man dieses System eine Kette nennen? Vermutlich aus folgendem Grund: Wenn wir in der Formel S'⊂S S durch S' ersetzen, dann entsteht die neue Formel S''⊂S'. Wenn wir nochmal in der
6 Dedekind, 1923, 21. 7 Vgl. Dedekind, 1923, 21. 8 »Der Bequemlichkeit halber wollen wir in den folgenden Sätzen, die sich auf eine beliebige Abbildung φ eines beliebigen System S beziehen, die Bilder von Elementen s und Theile T entsprechend durch s' oder T' bezeichnen; außerdem setzen wir fest, daß kleine und große lateinische Buchstaben ohne Accent immer Elemente und Theile dieses Systems S bedeuten sollen.« (Dedekind, 1923, 21). 9 Vgl. Dedekind, 1923, 37.
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Formel S''⊂S' S' durch S'' ersetzen, dann entsteht wieder eine neue Formel S'''⊂S'' … ad infinitum. Auf diese Art und Weise könnten wir unendlich fortfahren, insofern wir die Abbildung des Systems S in sich selbst weiter fortsetzen würden. Deshalb kann man die Beziehung φ(S)⊂S oder S'⊂S als Kette bezeichnen. Was tun wir eigentlich sobald wir S durch S' ersetzen? Wie können wir von S zu S' übergehen? Wenn wir einen Gegenstand S denken, haben wir ein Bild von ihm als φ(S) oder S'. Sobald wir diesen neuen Gegenstand φ(S) oder S' haben und uns dessen bewusst werden, haben wir ein neues Bild φ(φ(S)) oder S''. Sobald wir uns noch einmal dessen bewusst werden, haben wir dann … S, S', S'' … ad infinitum. Auf diese Art und Weise könnten wir unendlich fortfahren, insofern wir fortsetzen würden, dies in uns selbst abzubilden. Wir glauben daher, dass Dedekind diese unendliche Kette nur aus unserer Fähigkeit des Geistes zur ›Abbildung in sich selbst‹ herleitet. Wir vermuten, dass diese Fähigkeit, die Abbildung in sich selbst, Fichtes Begriff »eines Handeln auf ein Handeln« (Fichte, 1970, 213) oder der »Wiederholung des Setzens« (Fichte, 1969, 409) entspricht. Dies werden wir später näher erörtern.
2.3 Dedekinds Beweis der Existenz eines einfachen unendlichen Systems Es gibt die sehr berühmte Definition des Unendlichen: »Ein System S heißt unendlich, wenn es einem echten Theile seiner selbst ähnlich ist; im entgegengesetzten Falle heißt S endliches System.« (Dedekind, 1923, 64) Auch in der Gegenwart hat sie nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Nach Dedekind kann man aus den Begriffen ›System und sein Element‹ die Reihe der natürlichen Zahlen deduzieren. Denn wenn Elemente a, b, c… unter einer bestimmten Regel geordnet werden, können diese Elemente a, b, c … durch 1, 2, 3 … ersetzt werden. Dies folgt aus Dedekinds Erklärung: »Ein System N heißt einfach unendlich, wenn es eine solche ähnliche Abbildung φ von N in sich selbst giebt, daß N als Kette eines Elementes erscheint, welches nicht in φ(N) enthalten ist. Wir nennen dies Element, das wir im Folgenden durch das Symbol 1 bezeichnen wollen, das Grundelement von N und sagen zugleich, das einfach unendliche System N sei durch diese Abbildung φ geordnet. […] so besteht mithin das Wesen eines einfach unendlichen Systems N in
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der Existenz einer Abbildung φ von N und eines Elementes 1, die den folgenden Bedingungen α, β, γ, δ genügen: α. N'⊂N β. N = 10 i10 γ. Das Element 1 ist nicht in N' enthalten. δ. Die Abbildung φ ist ähnlich.« (Dedekind, 1923, 72) Er fügt hinzu: »In jedem unendlichen Systeme S ist ein einfach unendliches System N als Theil enthalten.« (Dedekind, 1923, 72) Es ist zu beachten, dass Dedekind seine Theorie von der Reihe der natürlichen Zahlen aus dem Grundelement 1 entwickelt, dessen Existenz als allgemein bekannt vorausgesetzt wird, so dass Dedekind den Begriff des Grundelements von dem der Abbildung unterscheidet und beide Begriffe nicht ineinander übergehen lässt. Einerseits stützt das Grundelement als Grundstein die Existenz der ganzen Reihe und andererseits produziert die Abbildung die ganze Struktur der unendlichen Reihe. Warum muss er jedoch voraussetzen, dass das Grundelement 1 außerhalb der durch die Abbildung in sich selbst dargestellten Welt existiert? Wenn dies nicht der Fall wäre, bestünden S' ⊂ S und zugleich auch S⊂S'. Infolgedessen würden alle Dinge und auch die Existenz des Grundelements gleichsam ein Traum (S') sein und sich in einen grundlosen Albtraum verwandeln. Deshalb soll es außer der Abbildung in sich selbst φ mindestens ein Element geben. Daher unterscheidet Dedekind die Funktion φ von dem Grundelement 1 und hält an diesem Unterschied fest. Es wäre ihm nie eingefallen, dass diese Zwei sich gegenseitig zu Einem synthetisieren. Gibt es wirklich solch ein unendliches System? Dedekind sagt: Ja. Als ein reales Beispiel des unendlichen Systems stellt Dedekind ›meine Gedankenwelt‹ vor. Er sagt: »Es gibt unendliche Systeme.« (Dedekind, 1923, 66) »Meine Gedankenwelt, d. h. die Gesammtheit S aller Dinge, welche Gegenstand meines Denkens sein können, ist unendlich. Denn wenn s ein Element von S bedeutet, so ist der Gedanke s', daß s Gegenstand meines Denkens sein kann, selbst ein Element von S. Sieht man dasselbe als Bild φ(s) des Elementes s an, so hat daher die hierdurch bestimmte Abbildung φ von S die Eigenschaft, daß das Bild S' Theil von S ist; und zwar ist S' ech-
10 10 bedeutet die Gemeinheit aller Ketten von 1. Ein System T heißt Gemeinheit von A, B, C… , wenn T Theil von jedem dieser Systeme ist. (Dedekind, 1923, 44, 17)
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ter Theil von S, weil es in S Elemente giebt (z.W. ›mein eigenes Ich‹), welche von jedem solchen Gedanken s' verschieden und deshalb nicht in S' enthalten sind.« (Dedekind, 1923, 66) Nach obigem ist klar, dass die Existenz meiner Gedankenwelt von meinem eigenen Ich als dem Grundelement 1 abhängt und ihre Struktur von einer ähnlichen Abbildung in sich selbst φ. In diesem Fall muss, so möchten wir hier anmerken, diese ähnliche Abbildung φ in sich selbst nichts anderes als die Reflexion des Ich in sich selbst sein.11 Doch hat Dedekind die Existenz meines eigenen Ichs tatsächlich bewiesen? Eigentlich nicht. Er appelliert nur an ›den gesunden Menschenverstand‹.12 Dass er den Begriff meines eigenen Ichs nicht hinreichend erklärt und begründet hat, ist die erste Ursache der historischen Tatsache, dass seine naive Mengenlehre sich nicht durchsetzen konnte, insofern sie die Paradoxien, welche sie in sich selbst unvermeidlich enthält, aufweist. Auf diesen Punkt werden wir später näher eingehen.
3. Der Beweis der Existenz eines einfach unendlichen Systems als die Reihe der natürlichen Zahlen Im Folgenden wollen wir durch den Rückgriff auf den Begriff der Tathandlung (Ich bin Ich) ein einfach unendliches System deduzieren. Wir entfalten die ganze Theorie aus einem leeren System, welches kein Element enthält. Auf diese Weise kann man besser das Wesen des unendlichen Systems verstehen, weil man den Zahlbegriff als einen unmittelbaren Ausfluss der reinen Denkgesetze unabhängig von Anschauungen oder Vorstellungen und ohne eine weitere Voraussetzung beweisen kann. Dedekind schließt demgegenüber in seiner Schrift den Begriff des leeren Systems aus einem von ihm nicht erläuterten Grund aus.13 Um die Reihe der
11 Der Reflexion des Ich in sich selbst entspricht der Begriff der ›Wiederholung des Setzens‹ oder ›ein Handeln auf ein Handeln‹. 12 »Diese Schrift kann Jeder verstehen, welcher das besitzt, was man den gesunden Menschenverstand nennt«. (Dedekind, 1923, Vorwort zur Ersten Auflage, ⅳ) 13 Er vermutete vielleicht, dass dieser Begriff die Existenz eines unendlichen Systems fragwürdig werden lässt. (Dedekind, 1923, 2)
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natürlichen Zahlen in unserem Geist zu erzeugen, müssen wir anstatt Dedekinds Idee die Idee von Gaishi Takeuchi benutzen.14 Nach Takeuchi können wir ohne Voraussetzung irgendeines Daseins die Reihe der natürlichen Zahlen erzeugen. Zuvor nannten wir ein System, das kein Element enthält, das leere System. Von nun an bezeichnen wir es mit { }. Wir können schlechthin ein leeres System denken. Daraus folgt, dass wir unmittelbar unser Denken als solches denken können, auch wenn es keinen wirklichen Gegenstand gäbe. Also, wenn wir in uns ein leeres System { } entstehen lassen und uns unmittelbar dessen bewusst sind, lassen wir zusätzlich ein anderes System {{ }} in uns entstehen. Und sogleich wenn wir uns dieses neuen Systems {{ }} in uns bewusst werden, lassen wir ein weiteres System {{{ }}} entstehen. Also handeln wir unendlich fort: { }, {{ }}, {{{ }}} …. Das heißt, es gibt in uns ein freies Handeln, das von Fichte ›ein Denken auf ein Denken‹ oder ›die Wiederholung des Setzens‹ genannt wurde. Nach Dedekind können wir ein jedes solches Denkobjekt ›Ding‹ nennen, weil er in seiner Mengenlehre unter dem Ding jeden Gegenstand unseres Denkens versteht.15 Takeuchi verlangt von uns, jedesmal wenn wir ein neues System schaffen, alle bisher geschaffenen Systeme zusammenzufassen. Durch diese Operation haben wir eine bestimmte Reihe der Systeme { } {{ }} { { }, {{ }} } { { }, {{ }}, {{ }, {{ }}} } 0 1 2 3 {0} {0, 1} {0, 1, 2} {0, 1, 2, 3}
…… . n ………
Er nennt diese Systeme sukzessiv 0, 1, 2, 3 …. Natürlich geht dies unendlich weiter. Durch diese Operation können wir in uns selbst immer wieder eine neue, nächste Nummer erzeugen und schließlich die ganze Reihe der natürlichen Zahlen hervorbringen. Diese Operation ist nichts anderes als
14 Takeuchi, 2001. Professor Takeuchi erwähnt in seiner Schrift mit keinem Wort die Tathandlung. Seine Überlegungen sind seine originäre Leistung und frei von Einflüssen Fichtes. Wir verbinden hier die Gedanken beider. 15 »Im Folgenden verstehe ich unter einem Ding jeden Gegenstand unseres Denkens. […] Ein Ding ist vollständig bestimmt durch alles das, was von ihm [man] ausgesagt oder gedacht werden kann.« (Dedekind, 1923, 1)
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eine bestimmte Abbildung φ in sich selbst, die man mit +1 bezeichnen kann. Wir behaupten, dass man diese Abbildung in sich selbst genauer mit φ(φ) bezeichnen kann. Denn alles, was wir in uns selbst getan und beobachtet haben, ist nichts anderes als die Wiederholung der Abbildung in sich selbst φ. Das Besondere an dieser Operation ist, dass in diesem Fall der Gegenstand der Operation diese Operation selbst ist. D.h. ein eigentlich nur fließendes Handeln φ ist zu dem Gegenstand eines neuen Handelns φ und zugleich begriffen worden. Nach Dedekind ist die Abbildung φ kein Gegenstand, sondern nur eine Funktion. Wir aber behaupten, dass hier zugleich zweierlei zu denken ist: Teils ist es der Gegenstand, teils die Funktion. Beim Bezeichnen φ(φ) bezeichnet das φ in der Klammer den Gegenstand und das φ neben der Klammer die Funktion, das Handeln oder Setzen. Wir bezeichnen das φ in der Klammer als φ als gesetzt und das φ neben der Klammer als φ als setzend.16 In der Wissenschaftslehre Fichtes haben wir den Begriff der Tathandlung des Ich kennengelernt. Sie ist zugleich ein Handeln und dessen Produkt. In der Erzeugung der Reihe der natürlichen Zahlen aus dem leeren System stellen sich beide, die Abbildung φ und das Grundelement 1, als Tathandlung dar. Deshalb brauchen wir nicht vorauszusetzen, dass das Grundelement 1 existiert und wir benötigen den gesunden Menschenverstand nicht mehr als Stütze. Auf dem Boden der Wissenschaftslehre Fichtes entwickelt das Ich sich selbst und seine Gedankenwelt vollständig.
4. Die Überwindung der drei Paradoxien der Mengenlehre 4.1 Das Paradox der größten Kardinalzahl17 Wir wollen willkürlich zwei Ordinalzahlen α, β nehmen. Zwischen ihnen besteht nur eine von diesen drei Beziehungen αβ.
16 Fichte selbst unterscheidet in dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre »als gesetzt« von »als setzend«. Dies habe ich in meiner Schrift Vom Tun zum Sehen erörtert. Vgl. Honda, 2000. 17 Die größte Kardinalzahl bedeutet hier Mächtigkeit. [In der Mengenlehre wird die Größe von Mengen auch als Mächtigkeit bezeichnet. Vgl. http://de.wikipedia.org/ wiki/Mengenlehre.]
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(a) Erzeugen wir eine Menge aller bisher geschaffenen Ordinalzahlen, nennen wir sie A. (b) A muss eine Ordinalzahl sein, weil A eine Menge aller bisher geschaffenen Ordinalzahlen ist. Infolgedessen können wir es noch einmal α nennen. (c) Da α eine Ordinalzahl ist, α⊂A,18 d.h. α∈α (∵A = α), dann α