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German Pages [176] Year 2016
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Hiltrud Schwetje-Wagner/Andreas Wagner
Wider die Verplanung der Kindheit Ganztagsschule – oder Raum zum Leben?
Mit Illustrationen von Elisabeth Wagner
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 17 Abbildungen und 6 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-70181-3 Umschlagabbildung: Elisabeth Wagner © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Hase und Igel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. »Investitionen in die Zukunft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3. Individuelle Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4. Hausaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 5. Die Quadratur des Kreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 6. Unternehmergeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 7. Schule als Medienwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 8. Leben im »Ghetto« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 9. Die »neue Lernkultur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 10. Macht Ganztagsschule krank? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 11. Wo ist Bullerbü? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 12. Empirische Bildungsforschung und Ganztagsschule . . . . . . . . . . . . . . . 90 13. Die Ganztagsschul-Lobby . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 14. Die Halbtagsschul-Lobby . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 15. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 16. Familienpolitik und Ganztagsschulfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 17. Demografiepolitik und Ganztagsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 18. Gärtnernde Köche verderben den Brei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 19. 25 Thesen – vier Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
Vorwort
»Schule macht krank!«, »Schule macht dumm!«, »Schule macht depressiv!«. Dann macht Ganztagsschule wohl »ganz krank«, »ganz dumm«, »ganz depressiv«? Wenn es so einfach wäre, bräuchte dieses Buch nicht geschrieben zu werden. Der Sachverhalt liegt viel komplizierter, als uns Slogans weismachen wollen. Das gilt umgekehrt genauso: »Keine halben Sachen machen!«, »Zeit für Mehr!«, »Die Welt erklärt man nicht an einem halben Tag!« Banale Phrasen sollen Stimmung machen. Sie verhindern die tiefergehende Auseinandersetzung mit einer wichtigen gesellschaftlichen Frage, die uns alle betrifft. Seit ca. fünfzehn Jahren wird in Deutschland systematisch das Ganztagsschulsystem ausgebaut, ohne dass es zu einer breiten öffentlichen Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Schulform gekommen wäre. Waren es 2001 gerade einmal 2000 Ganztagsschulen deutschlandweit, so finden sich heute auf http://www.ganztagsschulen.org/ bereits über 10.000. Mächtige Interessengruppen haben das Großprojekt angeschoben, das war von Anfang an klar, auch wenn man zunächst nicht so deutlich die eigentlichen Ziele erkennen konnte. Von PISA und von vorbildhaften Nachbarländern war häufig die Rede. Es ging auch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und es ging hin und wieder um Fragen der Schulkultur.
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Vorwort
Inzwischen sind wir ein gutes Stück weiter und sehen klarer, in welche Richtung der Strom fließt. Wir können wenigstens in Teilen die Mündung sehen. Die Zuflüsse lassen sich schon sehr klar kartieren: Wer trägt aus welcher Motivation heraus in welcher Art zur Ganztagsschulbewegung bei? Wir können auch recht genaue Aussagen über die Wasserqualität machen. Hier bleibt viel zu wünschen übrig. Dennoch wollen alle mitschwimmen, so hat man den Eindruck. Es gibt viel Kritik im Detail, aber im Grundsatz scheint es, als sei das Thema ausdiskutiert, noch bevor es jemals richtig andiskutiert wurde. Damals hieß es allenthalben, ein »Ruck« müsse durch Deutschland gehen. Doch stattdessen wurde »ruckzuck« ein hierzulande neuer Schultyp durchgedrückt, ohne dass überhaupt genau gefragt wurde, wozu dies nutzen solle. Man befand sich Anfang des Jahrtausends im Zustand der Schockstarre: Wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit, PISA-Debakel. So konnte es nicht weitergehen, das war das allgemeine Credo in den verschiedensten Bereichen von Politik und Gesellschaft. In diese Grundstimmung hinein schwappte die Ganztagsschule – eine gigantische Welle, die das deichlose Land im Nu überflutete. Plötzlich und wie aus dem Nichts war sie überall, ohne dass es eine breite gesellschaftliche Bewegung gegeben hätte. Die Idee war nicht verwurzelt, sie war nicht von unten gewachsen, sondern sie sickerte von oben unaufhaltsam in die Gesellschaft ein. Aus diesem Grund haben wir dieses Buch geschrieben. Wir brauchen bei einem so grundlegenden Thema auch eine grundlegende Gegenposition, die nicht nur an ein paar Missständen kratzt. Wir brauchen endlich eine Debatte darüber, ob wir unser Schulsystem und indirekt auch unsere Lebensweise, Freizeit-, Vereins- und Unternehmenskultur tiefgreifend ändern wollen. Oder hat sie sich vielleicht schon irreversibel verändert und wir haben es nur noch nicht gemerkt? Das Thema betrifft alle, die berufsmäßig mit Schule zu tun haben, also in erster Linie Lehrerinnen und Lehrer. Unter anderem für sie ist das Buch geschrieben. Auch wenn die wenigsten von ihnen direkt in Entscheidungsprozesse eingebunden sind, ob ihre Schule nun Ganztagsschule wird oder nicht: Zur Meinungsbildung innerhalb eines Kollegiums sollten auch Argumente berücksichtigt werden, die über ein reines Nützlichkeitskalkül für die eigene Schule oder für den eigenen Arbeitsalltag hinausgehen. Für all diejenigen, die an einer Schule mit bereits bestehendem Ganztagsangebot oder im gebundenem Ganztag arbeiten, ist eine Auseinandersetzung mit der Gesamtthematik insofern wichtig, als Problemstellen angesprochen werden, deren bewusste Berücksichtigung im pädagogischen Handeln von Bedeutung sein kann. Es geht nicht darum, die ideale Schule der Zukunft zu entwerfen. Es geht primär um die Frage, wie viel Raum wir der Schule im Leben der Kinder und Jugendlichen zugestehen wol-
Vorwort
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len. Die Idee der »Schule als Lebensraum«, zurzeit allenthalben sehr en vogue, soll im Folgenden kritisch durchleuchtet werden. Am wichtigsten ist das Thema natürlich für Eltern. Sie stehen eines Tages vor der Frage, an welche Art von Schule sie ihr Kind schicken sollen. Wo kann man neutrale Beratung finden? Die lautesten Stimmen raten: »Tu für dein Kind das Beste – gib es an die Ganztagsschule! Dann lernt es besser, und nebenbei kannst du ungestört deiner Arbeit nachgehen.« Manche lassen sich von diesem Tenor, der mal als undeutliches Gemurmel, mal als penetrantes Rufen hörbar wird, nicht irremachen und melden ihre Kinder trotzdem an der klassischen Halbtagsschule an. Vielleicht sind sie sich in ihrer Entscheidung intuitiv sicher, finden aber nicht die richtigen Argumente, um sich in der Diskussion zu rechtfertigen. Vielleicht suchen sie nur nach der geeigneten Formulierung. Vor allem für diese Eltern ist das Buch geschrieben: als kleine Argumentationshilfe, als Versuch das weite Feld ein wenig systematisch aufzurollen, als große Kiste voll mit Gedanken und Hintergrundinformationen, die man im richtigen Moment hervorholen kann. Als »neutral« versteht sich das Buch keineswegs. Es positioniert sich deutlich für die Halbtagsschule. Ohnehin ist es schwer, hier eine neutrale oder gar emotionsfreie Position einzunehmen, von Kompromissen ganz zu schweigen. Wer für sich eine Kompromisslösung sucht, wird Argumente auf beiden Seiten finden. Wir stehen auf einer der Seiten, das sollte man vor dem Lesen wissen. Insofern ist das Buch natürlich nicht als wissenschaftliches im strengen Sinne zu werten, auch wenn heutzutage in den als »wissenschaftlich« bezeichneten Studien zur Ganztagsschulfrage von Neutralität, Unabhängigkeit und wertfreier Betrachtung ohnehin herzlich wenig zu spüren ist. Davon wird später ausführlich die Rede sein. Wir erheben aber den Anspruch, »aufrichtig« zu schreiben. Überall da, wo Autoren, Medien, Institutionen usw. zitiert werden, ist dies kenntlich gemacht. Wer möchte, kann aufgrund der im Text hinterlassenen Hinweise die originalen Fundstellen ohne Aufwand nachprüfen. »Unwissenschaftlich« gehen wir auch vor, was den Schreibstil angeht. Ab und an wird ein wenig polemisch formuliert. Das hat der aufmerksame Leser vermutlich schon auf der ersten Seite bemerkt. Sicherheitshalber weisen wir aber noch einmal darauf hin, um Missverständnissen vorzubeugen. Der Text liest sich ganz einfach besser, wenn mit spitzer Feder geschrieben wird. Und sollte sich jemand auf den Schlips getreten fühlen, darf er gern zurückschießen. Genau darum geht es ja: Der Stillstand in der Debatte muss überwunden werden. Es fehlt die Reibung, es fehlt an Hitzköpfen, es fehlt an Emotionen. Es fehlt die Diskussion. Wir wollen aber nicht aus Spaß an der Freude debattieren. Das Thema ist im Kern ein ernstes und wichtiges. Und die Argumente im Buch sollen nicht als
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reine Polemik missverstanden werden. Wir machen hier kein Kabarett. Die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft sind aufgefordert, sich mit den Thesen kritisch auseinanderzusetzen. Auch für sie ist das Buch geschrieben, für Parteipolitiker, Schulverwaltungsräte, Funktionäre in Sport- und Musikverbänden, in Kirchen usw. Sie alle geht das Thema etwas an. Eine vertieft geführte Debatte würde der Sache in jedem Fall guttun. Phrasen sind genug gehört worden. Die Gesellschaft muss sich in Fragen hineinarbeiten, die sie betreffen. Wir dürfen sie nicht an »Experten« delegieren, hinter denen letztlich oftmals Interessengruppen im Verborgenen ihre eigenen Ziele verfolgen. Wir müssen uns selbst ein Urteil bilden. Dies gilt für den normalen Bürger wie für den Politiker. Insofern ist das Buch als »politisch« zu verstehen, ohne dass es in irgendeiner Weise parteipolitisch gebunden wäre. Zurzeit gibt es ohnehin keine politische Partei, die sich traut, das Ganztagsschulthema kritisch anzugehen. Schließlich muss noch die Wirtschaft als Zielgruppe genannt werden. Dort wird zwar vielleicht lieber gerechnet als gelesen, aber man sollte dort beginnen, sich von der eigenen bildungsökonomischen Betrachtungsweise auch einmal zu lösen und pädagogische Fragestellungen ernst zu nehmen. Die Wirtschaftsverbände haben sich deutlich pro Ganztagsschule in Stellung gebracht, sollten aber in ihrer Argumentation etwas differenzierter an die Sache herangehen: Lernen Kinder in der Schule tatsächlich genau jene Dinge, die sie später im Berufsleben brauchen? Welche Fähigkeiten braucht man eigentlich, um erfolgreich ein Unternehmen zu führen, innovative Produkte herzustellen, sich am Markt zu behaupten? Wo kann man solche Fähigkeiten am ehesten erwerben? Etwas mehr mathematisches Grundverständnis würde man sich bei der Bewertung der aktuellen Bildungsinvestitionen wünschen: Wohin fließen die knappen Ressourcen? Sparen ist in öffentlichen Kassen notwendiger denn je. Das mahnt ja auch die Wirtschaft immer wieder an. Wenn aber insgesamt gespart wird, gleichzeitig aber im Ganztagsbereich höhere Investitionen notwendig werden, dann stimmt etwas an der Gesamtrechnung nicht. Wo kommt das viele Geld denn eigentlich her? Und vor allem: Wo fehlt im Moment dieses Geld? Diese Fragen müssten auch die Wirtschaft interessieren, sofern sie sich überhaupt dafür interessiert, wie und was unsere Kinder, die Arbeitskräfte von morgen, heute in der Schule lernen. Wir wollen Anstoß geben für neue Ideen, wie unsere Kinder aufwachsen sollen. Wir brauchen frische Gedanken und kreative Lösungen, anstatt unreflektiert auf den Ausbau staatlicher Systeme zu setzen, mit denen wir dann nicht so recht zufrieden sind. Wir brauchen neue Impulse und Positionen in einer Debatte, die seit mehr als zehn Jahren darauf wartet, endlich geführt zu werden.
1. Hase und Igel
So lief der Hase dreiundsiebzigmal, und der Igel hielt immer mit. Und jedes Mal, wenn der Hase oben oder unten am Ziel ankam, sagte der Igel: »Ich bin schon da.« Hase: Ist die Ganztagsschule eigentlich eine Bildungs- oder eine Betreuungseinrichtung? Igel: Beides natürlich. Hase: Wenn es um Bildung geht – werden die Schülerinnen und Schüler durch die GTS schlauer werden? Igel: Es geht ja nicht nur um kognitive Fähigkeiten. Hase: Na gut, fragen wir so: Werden die GTS-Schüler in ihren kognitiven, sozialen und personalen Kompetenzen gestärkt gegenüber den Halbtagskindern? Igel: Im Grundsatz ja. Hase: Das hieße doch, dass die Halbtagskinder benachteiligt wären. Igel: Nein, das kann man so nicht formulieren. Hase: Aber wenn der Staat doch ca. 30 % mehr Geld pro Schüler in der GTS ausgibt, dann muss dies doch durch ein verbessertes Bildungsangebot gerechtfertigt werden. Kommt also durch den Nachmittag in der Schule ein Mehr an Bildung heraus? Igel: Das kann man nicht pauschal beantworten. Es hängt auch von der Einzelsituation ab. Hase: Kann man das an einem Beispiel verdeutlichen? Igel: Ein Kind, das zu Hause optimal gefördert wird, braucht nicht unbedingt die Ganztagsschule. Ein Kind, das sich den ganzen Nachmittag zu Hause allein beschäftigen muss, bei dem vielleicht die alleinerziehende Mutter gerade arbeitet, das soll nicht sich selbst überlassen bleiben, das wollen wir wegbekommen vom Fernseher, vom Computerspiel oder Schlimmerem. Hase: Die Ganztagsschule ist also dazu da, bei sozial benachteiligten Kindern auszugleichen, wozu die Familie nicht in der Lage ist? Igel: Das ist eine ganz wichtige Aufgabe. Hase: Aber müsste dann das GTS-Angebot nicht aus dem Etat der Familienministerien finanziert werden, und müsste die Teilnahme am GTS-Angebot dann nicht an Bedingungen der häuslichen Betreuungssituation geknüpft werden?
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Hase und Igel
Igel: Die Frage der Kinderbetreuung am Nachmittag ist ja längst keine Frage nur der unteren sozialen Schichten mehr. Gerade in Akademikerfamilien ist die Berufstätigkeit beider Elternteile heute ja keine Ausnahme mehr. Viele hoch qualifizierte Frauen brauchen heute die Sicherheit, nach der Babypause wieder voll ins Berufsleben einsteigen zu können. Ansonsten werden sie keine Kinder in die Welt setzen. Hier ist also der Staat gefordert, ein Angebot zu formulieren. Hase: Die Ganztagsschule leistet also einen Beitrag zur Familien- und Arbeitsmarktpolitik. Igel: Ja, und zwar einen ganz wichtigen. Die demografische Entwicklung wird sich ohnehin nicht gänzlich aufhalten lassen. Wer soll in Zukunft die sozialen Systeme finanzieren, wenn wir die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung an Heim und Herd fesseln? Hase: Dann ist die GTS also auch ein Mittel der indirekten Sozial- und Finanzpolitik? Igel: Ja. Hase: Wäre es denn dann nicht notwendig, die Ganztagsschule in der öffentlichen Diskussion auch so darzustellen? Igel: Wie meinen Sie das? Hase: Müsste man denn dann nicht die Ganztagsschule aus der bildungspolitischen Diskussion herausnehmen und ganz allgemein fragen: Wie kann ich in Zeiten veränderter Arbeits- und Familienstrukturen Kindern aller gesellschaftlicher Schichten eine qualitativ hochwertige und verlässliche Betreuung garantieren? Igel: Worin besteht denn hier der Widerspruch zur Ganztagsschule? Hase: Die Ganztagsschule wird in der Öffentlichkeit so dargestellt, als sei sie als Bildungseinrichtung gedacht und nicht als Betreuungseinrichtung. Igel: Aber das stimmt ja auch. Hase: Wenn die Ganztagsschule sich als Bildungseinrichtung definiert, dann müsste sie doch auch zu besserer Bildung führen. Igel: Ja. Hase: Wenn es um Bildung geht – werden denn die Schülerinnen und Schüler durch die GTS schlauer werden? Igel: Es geht ja nicht nur um kognitive Fähigkeiten. Hase: Na gut, fragen wir so: Werden die GTS-Schüler in ihren kognitiven, sozialen und personalen Kompetenzen gestärkt gegenüber den Halbtagskindern? Moment mal: Hier waren doch eben schon. Igel: Richtig. Wollen wir weiter diskutieren? Mitten auf dem Acker fiel der Hase zu Boden, das Blut floss ihm aus der Nase, und er blieb tot liegen. (Frei nach den Gebrüdern Grimm)
2. »Investitionen in die Zukunft«
Über Geld spricht man nicht. Vor allem nicht gleich zu Anfang. Aber was soll man lange um ein zentrales Thema herumreden? Es geht um nicht weniger als um Bildungsgerechtigkeit, und Bildungsgerechtigkeit verlangt auch nach Kostengerechtigkeit. Aber reden wir besser von »Ressourcen«, weil das besser klingt, und auch, weil es noch etwas mehr einschließt als einfach nur blanke Zahlen in Euro und Cent. Für welches Bildungsprodukt der Staat wie viel investiert, ist insbesondere in Zeiten knapper öffentlicher Kassen und angesichts verfassungsrechtlich verankerter Schuldenbremse ein zentrales Thema. Gern wird zwar beteuert, dass beim Thema Bildung nicht gespart werden dürfe, aber die Erfahrung zeigt, dass es sich meist um Lippenbekenntnisse handelt. Wer kennt eine staatliche Schule, die personell und räumlich gut ausgestattet wäre? Gerade beim Thema Bildung muss besonders kritisch hinterfragt werden, ob klug investiert wird oder ob mit vollen Händen Geld für sinnlose Projekte aus dem Fenster geworfen wird. Hase: Wie rechtfertigen sich eigentlich die erhöhten Aufwendungen des Staates für die Ganztagsschulen? Igel: Es handelt sich um Investitionen in die Zukunft. Hase: Erhöhten Aufwendungen für die Ganztagsschule stehen ja gleichzeitig auch verminderte Aufwendungen für die Halbtagsschule entgegen. Werden die Halbtagsschüler da nicht benachteiligt? Igel: Es steht ja prinzipiell jedem Kind frei, eine Ganztagsschule zu besuchen. Das ist zumindest das Ziel: Eine flächendeckende Versorgung mit Ganztagsschulen soll Wahlfreiheit der Eltern herstellen. Hase: Aber Wahlfreiheit macht nur Sinn bei grundsätzlich gleichwertigen Angeboten. Igel: Ja. Hase: Wenn aber die Halbtagsschule nicht grundsätzlich schlechter ist als die Ganztagsschule, wie rechtfertigen sich denn dann die erhöhten Aufwendungen? Igel: Es handelt sich um Investitionen in die Zukunft.
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»Investitionen in die Zukunft«
Hase: Moment mal: Hier waren wir doch eben schon. Igel: Richtig. Wollen wir weiter diskutieren? Mitten auf dem Acker fiel der Hase zu Boden, das Blut floss ihm aus der Nase, und er blieb tot liegen. (Frei nach den Gebrüdern Grimm)
In der öffentlichen Diskussion wird in der Regel mit der Zahl von 30 % Mehrkosten eines Ganztagsschulplatzes gegenüber dem Halbtagsschulplatz gerechnet1. Die Zahl scheint realistisch, auch wenn im Einzelfall eine Berechnung der Mehrkosten schwerfällt2. Zu diesen zählen vor allem die höheren Personalkosten, die den größten Posten ausmachen. Hinzugerechnet gehören eigentlich auch höhere Heizkosten, Beleuchtung, Reinigung. Einmalige Investitionen in Mensa und andere ganztagsspezifische Räume müssten über eine Abschreibung eingerechnet werden. Hier wird es im Einzelfall kompliziert. Nutzen sich nicht auch das Standardmobiliar, Fußböden, Wandfarben und die sonstige Ausstattung stärker ab, wenn sie ganztägig benutzt werden? Schnell vergessen werden die Verwaltungskosten, z. B. durch zusätzliche Funktionsstellen in der Schulleitung oder Unterrichtsbefreiung für die GTS-Leitung usw. Auch im Schulsekretariat entsteht durch jedes GTS-Kind Mehrarbeit. In den seltensten Fällen wurden hier zusätzliche Stunden vom Schulträger bereitgestellt. In der Regel läuft es darauf hinaus, dass das Sekretariat dann eben für andere Dinge weniger Zeit hat. Wie hoch im Einzelfall die Mehrkosten sind, hängt auch entscheidend vom Alter der Kinder ab: Je jünger sie sind, desto früher endet im Durchschnitt die reguläre Unterrichtszeit. Die eigentliche GTS-Betreuungszeit wird dadurch länger, also teurer. Genauso entscheidend ist die Frage nach der Qualifizierung bzw. nach der Besoldungsgruppe des Personals. Es macht einen großen Unterschied, ob ungelernte Kräfte beschäftigt werden oder ob es sich um voll ausgebildete Lehrer handelt, die ganztags die Kinder versorgen. Am Gymnasium kann durchaus auch ein Studiendirektor mit Besoldungsgruppe A15 als Hausaufgabenaufsicht fungieren. An einer anderen Schule ist es vielleicht ein FSJler, Praktikant oder ein Elternteil, das diese Aufgabe fast kostenlos wahrnimmt. Nimmt man die Zahl von 30 % zum Maßstab, liegt man auf keinen Fall zu hoch. In jedem Fall ist diese Zahl erschreckend hoch. Stellen wir uns eine beliebige zweizügige Schule vor: Der Schulleiter würde beschließen, dass in die a-Klasse zukünftig 30 % mehr Geld investiert wird. Er entscheidet sich z. B. für 1
Beispielhaft Klaus Klemm: Bildung und Demografie. DIPF Expertenworkshop am 12. 12. 2008 in Berlin, http://www.bildungsbericht.de/daten/klemm08-ppt.pdf (Alle Abrufe im Oktober 2015). 2 Detaillierte Berechnungen bei Ders.: Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2014.
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einen Förderlehrer oder einen Sozialpädagogen, der in ausgewählten Stunden den Klassen- oder Fachlehrer unterstützt. Es würde keine Woche dauern, bis die Eltern der b-Klasse sich beschweren würden, dass ihre Kinder benachteiligt würden, und dies auch völlig zu Recht. Der Fall ist nicht nur dadurch völlig absurd, dass kein Schulleiter über solche Kompetenzen verfügt. Er ist mindestens genauso absurd in der Sache. Im Allgemeinen stellen wir an den Staat den Anspruch, dass ihm jedes Kind gleich viel wert sei. In dieser Grundaussage scheinen sich alle politischen Parteien einig zu sein. Gilt das aber auch für die Schulausgaben? Im Durchschnitt kostet ein Schulplatz 2012 den Steuerzahler ca. 6.300,– € im Jahr (veröffentlicht vom Statistischen Bundesamt 20153). An den allgemeinbildenden Schulen, also den meisten Schulen, kostet der Platz im Schnitt 6.800,– €. Dabei war ein Grundschulplatz mit ca. 5.400,– € günstiger als ein Platz an einer weiterführenden Schule mit ca. 7.000,– €. Ist das ungerecht? Es entsteht insofern kein Rechtfertigungsdruck, als die unterschiedlichen Schultypen ja zeitversetzt besucht werden. Komplizierter wird es nach Klassenstufe Neun, wenn die Schulpflicht aufhört. Jetzt zahlt der Staat für die einen munter weiter, während die Schulabgänger nichts mehr erhalten und die Lehrlinge im dualen System nur noch mit mageren 2.700,– € weiter gefördert werden. Dies lässt sich damit rechtfertigen, dass der Auszubildende ja jetzt bereits eigenes Geld verdient. Gegenüber dem Akademiker hat der Hauptschulabsolvent ca. zehn Jahre Vorsprung, was das Geldverdienen angeht. Außerdem kann man argumentieren, dass die Jugendlichen, denen der Staat zu höheren Bildungsabschlüssen verhilft, später wiederum der Gesellschaft einen höheren Nutzen erweisen, da sie (zumindest der Idee nach) zu Leistungsträgern werden. Auch wenn nicht alle Akademiker später ein höheres Einkommen erzielen, kann man im Grundsatz argumentieren, dass sie sich die privilegierte Bildungskarriere durch höhere Leistungen selbst verdient haben. Diese Rechtfertigung ist in mancherlei Beziehung nicht ganz unproblematisch, das zeigt sich beispielsweise in der nicht endenden Diskussion um Studiengebühren. Sie liefert aber immerhin einen möglichen Argumentationsansatz, wenn es darum geht, höhere Kosten für einen bestimmten Schultyp zu legitimieren. Es handelt sich um den Gedanken der Leistungsgerechtigkeit: Eine Ausbildung, die ein höheres Bildungsniveau verspricht, verdient auch eine höhere staatliche Zuwendung, v. a. wenn sie gleichzeitig vom Jugendlichen einen höheren Einsatz erwartet. Ähnlich liegt der Fall bei vielen Spezialschulen: Musik- und Sportgymnasien, Hochbegabtenschulen usw. Solche Einrichtungen bieten mehr als 3 Bildungsausgaben. Ausgaben je Schülerin und Schüler 2012. Hg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2015, S. 9.
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gewöhnliche Schulen, also brauchen sie auch mehr Ressourcen. Wer das »bessere« Bildungsangebot nutzen will, muss im Voraus und über Jahre hin nachweisen, dass er über die notwendige Begabung und Anstrengungsbereitschaft verfügt. Gleichwohl stehen derartige »Eliteschulen« ja auch immer wieder in der Kritik. Nicht alle können sich mit dem Gedanken der Leistungsgerechtigkeit anfreunden und geißeln dementsprechend solche Spezialangebote als Beispiel für »Bildungsungerechtigkeit«. Anders liegt der Fall bei den Förderschulen, wo ein Schulplatz deutlich kostenintensiver ist als an einer Regelschule4. Niemand würde hier ernsthaft von fehlender Bildungsgerechtigkeit sprechen wollen. Im Falle von besonderen Benachteiligungen hat der Staat selbstverständlich das Recht bzw. die Pflicht, ausgleichend einzuwirken. Bildungsgerechtigkeit heißt also nicht automatisch Kostenäquivalenz. Aber eine ungleiche Verteilung bedarf der Begründung, z. B. einer besonderen Förderbedürftigkeit. Die höheren Aufwendungen für die Ganztagsplätze lassen sich jedoch in keiner der beiden Argumentationsschienen begründen. Weder handelt es sich bei den Ganztagsschulen um Einrichtungen, die ein erhöhtes Bildungsniveau erhoffen lassen, noch geht es primär um die Kompensation von Benachteiligungen, auch wenn dies gern behauptet wird. Beides lässt sich ganz einfach belegen. Würde die Ganztagsschule gegenüber der Halbtagsschule tatsächlich einen objektiven Bildungszuwachs erzielen, dann wäre sie im doppelten Sinne ungerecht, geradezu verfassungswidrig, denn dann würde ja ein Teil unserer Kinder für sehr viel mehr Geld besser unterrichtet als der andere Teil der Kinder, und dies gänzlich ohne dem Umstand einer erhöhten Leistungsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft Rechnung zu tragen. Dann hätten wir ja genau die gleiche Situation wie an der Fantasieschule mit den Klassen a und b, deren Schulleiter nach Gutdünken die Ressourcen ungleich verteilt. Wäre die Ganztagsschule prinzipiell die bessere Schule, so müsste sie allein aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit für alle Kinder verpflichtend eingeführt werden. Ebenso unlogisch ist die viel vertretene Behauptung, die GTS wäre ein Instrument, um soziale Benachteiligungen auszugleichen. Kinder aus prekären Verhältnissen ohne sozialen Rückhalt in Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft fänden hier einen Ort, an dem sie die gleiche Förderung erfahren könnten wie die Kinder aus stabilen bildungsbürgerlichen Familien. Diese Behauptung lässt völlig unberücksichtigt, dass bei der Frage nach der Zielgruppe von Ganztagsschulen 4
Die Pro-Kopf-Kosten im Förderschulbereich wurden vom Statistischen Bundesamt letztmals für das Jahr 2008 einzeln ausgewiesen. Damals waren es 1.300 € (Bildungsausgaben. Ausgaben je Schülerin und Schüler 2008. Hg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2010, S. 12).
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bewusst der gesamte Gesellschaftsquerschnitt angesprochen wird. Es mag zwar sein, dass im Einzelfall begrenzte Ganztagsplätze jenen Kindern zugeteilt werden, die aufgrund ihrer familiären Situation auf ein Betreuungsangebot angewiesen sind. Im Grundsatz jedoch definierte sich die Ganztagsschule von Anfang an eben nicht als ein Auffangbecken für sozial Bedürftige, als ein Betreuungsangebot für Familien in Problemsituationen, sondern als eine mögliche reguläre Schule für jedes Kind. Genau hierin liegt das logische Kernproblem der aktuellen Ganztagsbewegung. Sie kann sich nicht entscheiden, was Ganztagsschule eigentlich sein will und sein soll. Ist sie die bessere Schule? Dann müsste sie Regelschule für alle sein. Oder ist sie ein Betreuungsangebot für Bedürftige: Dann müsste sie gänzlich anders aufgestellt sein. Dann müsste vor allem die Teilnahme am Ganztagsprogramm an klare soziale Voraussetzungen geknüpft werden, die es erlauben, von Benachteiligung zu sprechen. Ansonsten sind die erhöhten staatlichen Aufwendungen nicht zu legitimieren. Besondere Brisanz erhält die Kostenfrage, wenn man die Bildungsausgaben insgesamt in den Blick nimmt. Stellen wir uns noch einmal die zweizügige Schule vor, diesmal mit einem insgesamt um 30 % erhöhten Budget. Der Schulleiter würde aus der a-Klasse eine Ganztagsklasse machen, während er in der b-Klasse zusätzlich einen Förderlehrer einstellen würde. In welcher Klasse würden die meisten Eltern nun ihr Kind anmelden? Vermutlich in Klasse b, denn vor die Wahl gestellt zwischen Betreuung und Bildung griffen wohl die allermeisten nach der besseren Bildung. Diese Wahlfreiheit in einem kostengerechten System gibt es allerdings keineswegs. Im Gegenteil: Durch Einrichtung der Ganztagsschulen werden den Halbtagsschülern unter dem Strich sogar Ressourcen entzogen. Dieser Umstand wird in der öffentlichen Diskussion beharrlich ausgeklammert. Statistisch gesehen sind die Bildungsausgaben pro Kind im Zeitraum von 1995 bis 2012 von 4.300,– € jährlich auf 6.300,– € angestiegen. Das entspricht einem Zuwachs von ca. 46,5 % innerhalb von 17 Jahren. Was auf den ersten Blick vielleicht beachtlich erscheint, relativiert sich im Vergleich zu anderen Bezugsgrößen: Im selben Zeitraum stiegen die Steuereinnahmen der öffentlichen Haushalte um 44,1 %, die privaten Konsumausgaben um 42,1 %, die verfügbaren privaten Einkommen um 40,4 %5. Der geringe Vorsprung der Pro-Kopf-Bildungsausgaben pulverisiert vollends, wenn man berücksichtigt, dass sich im genannten Zeitraum aufgrund der demografischen Entwicklung und aufgrund des Ansturms auf Gymnasien und Gesamtschulen die Zahlenver5 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Inlandsproduktsberechnung. Lange Reihen ab 1970. Hg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2014.
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hältnisse innerhalb der Schülerschaft verschoben haben: Immer weniger Kinder besuchen die vergleichsweise günstige Grundschule, immer mehr Jugendliche tummeln sich in den vergleichsweise teuren weiterführenden Schulen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass auch rein methodische Fragen die Pro-Kopf-Bildungsausgaben nach 2008 überproportional haben ansteigen lassen. Das Statistische Bundesamt schreibt dazu: »Auf Grund der Änderung der Methodik zur Berechnung der unterstellten Sozialbeiträge für die Altersversorgung der Beamtinnen und Beamten und der daraus resultierenden veränderten Zuschlagssätze ist die Vergleichbarkeit der Ergebnisse mit früheren Veröffentlichungen der Ausgaben je Schülerin und Schüler nur eingeschränkt möglich.«6. Betrachtet man nur die älteren Zahlen bis 2008, ergibt sich ein noch deutlicheres Bild: Einem Anstieg der Bildungsausgaben von 16,2 % innerhalb von 12 Jahren steht ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukt von ca. 25 % entgegen. Noch einmal das Statistische Bundesamt im O-Ton: »Die öffentlichen Bildungsausgaben sind im Bundesgebiet seit 1995 stetig gestiegen, bis 2009 jedoch zumeist unterproportional zur wirtschaftlichen Entwicklung.«7 Gerade im Zeitraum bis 2009 wurden die meisten der heute existierenden Ganztagsschulen eingerichtet. Seither ist der Ausbau etwas ins Stocken geraten8. Man muss also feststellen, dass die Pro-Kopf-Bildungsausgaben im gesamten Zeitraum und in besonderer Weise im Hauptausbauzeitraum bis 2009 insgesamt stagnierten bzw. sogar rückläufig waren, egal welche Bezugsgröße in Relation gesetzt wird. Wie wurden dann die Ganztagsschulplätze mit ihren um 30 % erhöhte Kosten finanziert? Das Geld muss folglich an anderer Stelle wieder eingespart worden sein. Für die zweizügige Fantasieschule würde das z. B. heißen: Der Mehrkostenaufwand der a-Klasse als Ganztagsklasse mit ca. 30 % pro Kind wird in der b-Klasse durch Kosteneinsparung wieder eingefangen. Das Folgeszenario kann man sich unschwer vorstellen: Elternproteste, Beschwerdebriefe an die Schulleitung und die Schulaufsicht, Feindschaft zwischen den Eltern der beiden Klassen. Warum aber protestieren die Eltern der heutigen Halbtagskinder nicht? In der komplexen Realität wird die Transferfinanzierung der Ganztagsschule durch die Halbtagsschüler kaum sichtbar. Im Prinzip
6 Bildungsausgaben. Ausgaben je Schülerin und Schüler 2012. Hg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2015, S. 5. 7 Bildungsfinanzbericht 2012. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2012, S. 42. 8 Klaus Klemm: Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt. Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2014, S. 16 ff.
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aber findet tagtäglich genau dieser Prozess statt. Die Ganztagsschule wird im Endeffekt durch Einsparungen im Kernbereich, also im Unterricht, finanziert. An Einzelbeispielen wird der stille Transfer von Ressourcen punktuell sichtbar: Eine Grundschule führt z. B. ein offenes Ganztagsangebot am Nachmittag ein. Aus Raum- und Personalmangel werden freiwillige Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag gestrichen. Dies ist kein Einzelfall, denn es regiert ja meist ein Zahlenschlüssel. Wenn die Schule z. B. 60 GTS-Kinder hat, bietet sie parallel 3 AGs à 20 Plätzen an. Würden externe Kinder dazukommen, würde die Gruppenmesszahl überschritten. Um vier Gruppen anzubieten, fehlt aber das Geld, denn die Schule bekommt ja nur für 60 Kinder Stunden zugewiesen. Ein anderes Beispiel: Eine weiterführende Ganztagsschule führt einzelne Ganztagsklassen nach dem so genannten rhythmisierten Modell vorwiegend mit eigenem Lehrpersonal auch am Nachmittag. Struktureller oder temporärer Unterrichtsausfall kann nur noch bedingt auf alle Klassen gleichmäßig verteilt werden, da der Ganztagsunterricht an vier Werktagen pro Woche bis 16.00 Uhr stattfinden muss. Die Ausfallstunden werden jetzt unweigerlich den Halbtagsklassen vermehrt zugeordnet. Drittes Beispiel: Ein öffentlicher Schulträger, zum Beispiel ein Landkreis, stellt Mittel für den Schulausbau im Haushalt bereit. Wird nun durch die Einrichtung einer GTS an einem Standort ein Mensa-Neubau notwendig, so bleibt an anderer Stelle der Bau eines Chemie-Labors oder die Anschaffung moderner Kommunikationsmedien auf der Strecke. Entscheidender jedoch als solche Beispielfälle, in denen die Ungleichbehandlung deutlich wird, ist die nackte Zahl, dass eben 30 % höhere Kosten für einen Ganztagsplatz im Endeffekt von allen erwirtschaftet werden. In einzelnen Bildungsministerien wird dieser Umstand inzwischen auch offen eingeräumt, wenngleich er natürlich in beschönigenden Formulierungen verkleidet wird. In einer Presseerklärung zur Unterrichtsversorgung erklärt die zuständige Ministerin, dass »Qualitätsverbesserungen« wie die Ganztagsschule eben auch die Personalsituation beeinflussen würden9. Das Wort »beeinflussen« lässt sich sehr einfach aus dem Politikerdeutsch in Hochdeutsch übersetzen: Ressourcen, die der Ganztagsschule zur Verfügung gestellt werden, sind gleichzeitig an anderer Stelle eingespart worden. Auf eine kritische Nachfrage im rheinland-pfälzischen Landtag, warum denn so viel Unterricht im Land ausfalle, antwortet die 9 »Und Maßnahmen wie der weitere Ausbau der Ganztagsschulen inklusive der G8-Ganztagsgymnasien, der Bildungsangebote im BBS-Bereich – beispielsweise der beruflichen Gymnasien, die Erweiterung des Netzes von Schwerpunktschulen oder der Aufbau der Fachoberschulen beanspruchen natürlich auch Personal und beeinflussen somit die Entwicklung der Unterrichtsversorgung« (Pressedienst des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur. Mainz, 16. 11. 2011).
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Regierung: »Vergessen würden von der Opposition pädagogische Verbesserungen wie Ganztagsschulen, G8-Gymnasien, der Ausbau der Fachoberschulen an den Realschulen plus oder die Leseförderung. Das binde viele Lehrerstellen und erfordere erhebliche finanzielle Mittel«10. In der Debatte springt ein Abgeordneter der Ministerin bei: Neben Ganztagsgymnasien, Schwerpunktschulen und dem Ausbau der Fachoberschulen seit 2001 seien in Rheinland-Pfalz 574 Ganztagsschulen eingeführt worden. Dies habe über 1000 Lehrerstellen gebunden, »das ist der Weg, den wir künftig weitergehen wollen«11. Dass diese Querfinanzierung aber unverblümt als »Qualitätsverbesserung« verkauft wird, zeigt, wie sehr sich das »Qualitätsdenken« in Ministerien von Fragen der eigentlichen Unterrichtsqualität und vom Leitbild der Bildungsgerechtigkeit entfernt hat. Ein Betreuungsangebot für einen Teil der Schülerschaft steht auf der Prioritätenliste höher als der eigentliche Unterricht. Für denjenigen, der Unterricht als die Kernaufgabe von Schule ansieht, ein skandalöser Umstand, der aufgrund der diffusen Diskussionslage nicht ins Bewusstsein gedrungen ist. Im Gegenteil: Die derzeit am häufigsten anzutreffende Kritik an Ganztagsschulen in der öffentlichen Diskussion ist ausgerechnet die der Unterfinanzierung. Vonseiten der Bildungsforschung wurde konstatiert, dass die Ganztagsschulen nur unzureichend in der Lage seien, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Reflexartig rufen sie nach besserer finanzieller Ausstattung, sowohl personell als auch materiell. Vergessen werden dabei wieder einmal die Halbtagsschulen. Was wird aus ihnen, wenn in Zukunft noch mehr Geld in die Ganztagsschulen transferiert werden soll? Dass Ganztagsschulen aber gerade bei Finanzpolitikern nicht unbeliebt sind, erklärt sich aus zu erwartenden indirekten Effekten: Ein Zuwachs an Ganztagsplätzen bedeutet einen Zuwachs an berufstätigen Eltern, bedeutet ein Plus in den Sozialkassen und einen Rückgang an Leistungsempfängern, bedeutet ein Mehr an Steuereinnahmen und gesteigerte Binnennachfrage. Angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels rechnet sich rein ökonomisch betrachtet die Ganztagsschule dann doch. Sie ist finanzpolitisch betrachtet sogar eine sehr billige Investition, da sie durch Einsparungen im Unterrichtsbereich gegenfinanziert wird. Nur so erklärt sich ihr Erfolg quer durch die Parteien. Aber unter dem Gesichtspunkt der Bildung ist jeder Euro, der in die Nachmittagsbetreuung investiert wird, gleichzeitig ein Euro weniger für den Unterricht.
10 Zitiert nach: Trierischer Volksfreund vom 8. 12. 2011. 11 Zitiert nach: Staats Zeitung, Nr. 2/2012 – Staatsanzeiger für Rheinland-Pfalz Der Landtag – Nachrichten und Berichte vom 23. Januar 2012.
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Beim vierundsiebzigsten Male war der Hase nahe der Erschöpfung. Da sagte er sich: Ich laufe nicht mehr blind los, sondern achte darauf, den Igel nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Hase: Wie rechtfertigen sich eigentlich die erhöhten Aufwendungen des Staates für die Ganztagsschulen? Igel: Es handelt sich um Investitionen in die Zukunft. Hase: Erhöhte Aufwendungen für die Ganztagsschule sind ja gleichzeitig auch verminderte Aufwendungen in die Halbtagsschule. Igel: Es steht ja prinzipiell jedem Kind frei, eine Ganztagsschule zu besuchen. Das ist zumindest das Ziel: eine flächendeckende Versorgung mit Ganztagsschulen soll Wahlfreiheit der Eltern herstellen. Hase: Werden die Halbtagsschüler dabei nicht benachteiligt? Igel: Sie behalten ja ihre Halbtagsschule. Daran ändert sich ja nichts. Hase: Für diese Halbtagsschule stehen aber weniger Ressourcen zur Verfügung. Es fehlen die Investitionen in die Zukunft. Igel: Moment mal: Hier wird doch alles auf den Kopf gestellt? Hase: Nein, es wird auf die Füße gestellt. Wollen wir weiter diskutieren? (Frei nach den Gebrüdern Grimm)
3. Individuelle Förderung
Individuelle Förderung ist einer der Schlüsselbegriffe der aktuellen Bildungsdiskussion. Spätestens seit durch die PISA-Studie bekannt wurde, dass wir nach Finnland schauen sollen, um unser eigenes System zu verbessern, frisst sich das Modewort in Lehrpläne, Qualitätsprogramme und Evaluationskommissionsergebnisberichte. Dort oben, im fernen Norden, fände der staunende Besucher zwischen endlosen Wäldern und zahllosen Seen in kleinen Dörfern technisch perfekt ausgestattete Minischulen mit extrem kleinen Lerngruppen, in denen zusätzlich jedem Lehrer weitere pädagogische Fachkräfte zugeordnet werden. Diese Hilfslehrer können sofort reagieren, wenn ein Lernschritt nicht von allen mitvollzogen wird oder andere unterfordert sind. Dann beschreiten sie mit Teillerngruppen eigene Lernwege, die individuell auf die Bedürfnisse der jeweiligen Kinder zugeschnitten seien. Keiner wird vom System aussortiert, jeder bekommt genau die Bildung, die er braucht, und das alles in der inkludierten Gesamtschule. Hier kann gleichzeitig der hochbegabte Zweitklässler sich mit Differentialrechnung beschäftigen, während andere noch einmal die Vokale wiederholen. Hier arbeiten begnadete Pädagogen, die selbst den Bärenkindern noch das Brummen beibringen könnten. So paradiesisch berichten es die »Bildungsreisenden« neuer Prägung, die wie einst die spanischen Entdecker die Welt bereisen und mit allerhand kurzweiligen und erstaunlichen Reiseberichten die Zuhörer in Bann zu ziehen verstehen. Damals waren es grauenhafte Monster auf fernen Kontinenten, von denen das Publikum hören wollte. Heute wollen wir uns selbst gern als Monster sehen, die wehrlose Kinder aussortieren, während der humanere Rest der Welt aus jedem Schüler das für ihn Bestmögliche herauszulocken weiß. Wir müssten jedes Kind dort abholen, wo es steht, anstatt mit vorformulierten Lernzielen einen ganzen Jahrgang zu konfrontieren. Wir sollten den Lehrer nicht mehr zum Punktrichter erklären, der entscheiden darf, wer es später zu etwas bringen wird. Wir vergleichen unser eigenes Schulsystem mit einem Hochsprungwettbewerb, in dem der Lehrer die Kinder nicht trainiert, sondern lediglich die Messlatte kontinuierlich höher legt. Die vorgegebene Höhe ist für alle gleich. Wer sie meistert, kommt weiter. Wer reißt,
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scheidet aus, ist vom Fortgang des Wettbewerbs ausgeschlossen, kann selbst schauen, wo er bleibt. Dieses »deutsche« Denken sei inzwischen überholt, und seine Ineffektivität wäre durch die internationalen Bildungsstudien doch längst nachgewiesen, behauptet die öffentliche Bildungsdiskussion. Schnell verdrängen wir dabei, dass andere PISA-Spitzenreiter, v. a. die aus Fernost, ihre nachwachsende Generation mit Leistungsdruck, Drill und forcierter Konkurrenz ebenso zu Topleistungen bringen wie die individuellen Förderer aus Finnland. So einfach ist die Diskussion offensichtlich nicht. Zunächst sollte man das eigene Schulsystem nicht schwärzer reden, als es ist: Jeder, der schon einmal einen Blick in eine deutsche Schule werfen konnte, wird bestätigen, dass die Pädagogen sich auch hierzulande mit den Leistungen aller ihrer Schüler identifizieren. Sie verstehen sich genauso als Trainer ihrer Schüler, denen es zunächst um den Lernfortschritt geht. Schwache Schüler werden nicht einfach links liegen gelassen. Im Gegenteil: Gerade diejenigen, die im normalen Unterrichtstempo nicht mitkommen, erhalten im Durchschnitt weit größere Aufmerksamkeit als die anderen. Auch die individuelle Förderung der höher Begabten ist keine Erfindung der letzten Jahre. Ganz selbstverständlich haben Generationen von Lehrern versucht, sie mit differenzierten Aufgabenstellungen, zusätzlichen Arbeitsgemeinschaften oder durch Beratung weiterzubringen. Die Existenz einzelner unrühmlicher Ausnahmen kann hier nicht als pauschaler Gegenbeleg dienen. Eine zentrale Problemstelle der Diskussion um die individuelle Förderung sind die Schulnoten. Sobald zensiert wird, kommt die individuelle Betrachtung an Grenzen. Wie soll man verfahren, wenn zwei Schüler z. B. im Diktat sieben Fehler schreiben, der eine als Ergebnis täglichen konsequenten Übens, der andere infolge mangelnder Motivation. Der erste schrieb bis dato vielleicht immer zwanzig Fehler, der zweite könnte vielleicht mit geringem Aufwand fehlerfrei schreiben. Sollen sie jetzt die gleiche Note bekommen? Dies entspricht eigentlich nicht der jeweils individuellen Leistung. Trotzdem ist es kaum möglich, unterschiedliche Noten zu vertreten, auch wenn ein Lehrer grundsätzlich die Möglichkeit hat, in seiner Note auch einen individuellen Lernfortschritt zu dokumentieren. Der individuellen Leistung am gerechtesten würde die verbale Leistungsbewertung: »Du hast dich in diesem Diktat sehr verbessert und schreibst deutlich weniger Fehler als zuvor. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Leistung! Wenn du weiter so konzentriert an deinem individuellen Rechtschreibförderprogramm arbeitest und noch einmal gezielt die Groß- und Kleinschreibregeln wiederholst und übst, kannst du dich noch weiter verbessern.« Eine solche Beurteilung ist in der Tat individueller auf die Leistung zugeschnitten als z. B. die Note »befriedigend«. Gleichwohl entsteht ein neues Problem: So aus-
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sagekräftig der Text für den Schüler und für die Eltern auch ist, die klassische Note setzt die individuelle Leistung in Bezug zu einem allgemeineren Standard, der von außen gesetzt ist und dementsprechend auch von einem Dritten entschlüsselt werden kann. Ein Personaler in einem Unternehmen kann einem Notenzeugnis mit einem Blick wesentliche Informationen entnehmen, auch wenn niemand behaupten würde, diese Noten seien völlig objektiv. Schulnoten stellen den Versuch dar, eine individuelle Leistung möglichst sachlich und möglichst objektiv in einem größeren Vergleichsrahmen zu bewerten. Die verbale Beurteilung ist für den Außenstehenden meist unbrauchbar, es sei denn, sie wird mit allgemeinen und vergleichenden Aspekten angereichert, so dass sie auf eine ausformulierte Note hinausläuft. Wie man es dreht: Schule kommt im Endeffekt nicht darum herum, die Leistungen ihrer Schüler auch vergleichend zu beurteilen. Tut sie es nicht, so wird dieser Punkt nur in die Zukunft verschoben. Dann werden Hochschulen und Unternehmen eben verstärkt eigene Leistungstests durchführen. Und dann werden bildungsorientierte Eltern versuchen, ihre Kinder unabhängig von der Schule auf diese Tests vorzubereiten. Dann würde genau das eintreten, was eigentlich verhindert werden sollte. Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, in welcher Form diese Leistungsbeurteilung geschehen soll. Ein Zweitklässler, der im Diktat ein »Ungenügend« schreibt, obwohl er sich bemüht hat, wird durch diese Note möglicherweise für seine gesamte Bildungslaufbahn verdorben. Ob man aus solchen Extremfällen folgern kann, dass Noten »Körperverletzung« sind, wie es einzelne Landeselternverbände derzeit formulieren, sei dahingestellt. Das Grundsatzproblem ist aber in jedem Fall schwer lösbar. Ein Lehrer, der mit seiner Note auch über den weiteren Bildungs- und Berufsweg eines Schülers mitentscheidet, hat neben dem Aspekt der individuellen Förderung auch immer den allgemeineren Leistungsmaßstab zu berücksichtigen. Ein einfaches und gleichzeitig typisches Beispiel kann diesen Umstand erläutern: In einer zehnten Klasse Realschule haben mehrere Schüler Probleme, dem Mathematikunterricht zu folgen. Zunächst wird der Lehrer natürlich versuchen, im Rahmen seines Unterrichts auf die individuellen Lernschwierigkeiten einzugehen. Er muss aber auch den Rest der Gruppe im Auge behalten. In der gleichen Klasse sitzen Schüler, die in die Oberstufe des Gymnasiums wechseln wollen. Sie erwarten, dass der Stoff durchgezogen wird, damit ihnen keine Grundlagen fehlen, damit sie eine faire Chance haben, an der neuen Schule zu bestehen. Die Berufswelt erwartet dasselbe. Betriebe möchten auf dem Abgangszeugnis erkennen können, ob die jeweiligen Schüler den Realschul-Leistungsstand erreicht haben oder eben nicht. Auch der methodisch versierte Lehrer kommt irgendwann unweigerlich an einen Punkt, an dem er nicht mehr auf die individuellen
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Bedürfnisse aller gleichermaßen reagieren kann, sondern an dem er sich auf den allgemein verbindlichen Lehrplan besinnen muss. Eine Prüfung, in der es kein Scheitern gibt, in der nur der individuelle Lernfortschritt zählt, ist keine Prüfung mehr. Dieses Prinzip ist in unserem Schulsystem tief verankert. Und wer die individuelle Förderung zur obersten Maxime schulischer Pädagogik erheben will, muss sich bewusst sein, dass er damit im Endeffekt das komplette bisherige Schulsystem aus den Angeln hebt. Individuelle Förderung ist ihrem Wesen nach nur bedingt mit dem Grundprinzip schulischen Lernens und Bewertens in Einklang zu bringen. Im Idealfall wird also der Deutschlehrer z. B. unter das Diktat zusätzlich zu Fehlerzahl und Schulnote den auf das Lernindividuum zugeschnittenen, ausformulierten Kommentar schreiben. Der Realschullehrer in Klasse 10b wird alles daran setzen, bis zum Ende noch alle mitzunehmen, aber er bleibt doch an die allgemeinen Richtlinien bzgl. der Mittleren Reife gebunden. Zu den beschriebenen grundsätzlichen Schwierigkeiten einer Individualisierung des Lernprozesses kommen noch die praktischen: Der Klassenverband, in dem schulisches Lernen stattfindet, engt die konkreten Möglichkeiten deutlich ein. Individuelle Förderung ist im Alltag in erster Linie eine Frage der personellen Ressourcen. Wie viele Kinder lernen gemeinsam? Kann Team Teaching praktiziert werden, wo zwei oder mehr Lehrpersonen gleichzeitig den Unter-
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richt gestalten? In Lerngruppen von 30 oder mehr Schülern bleibt der Begriff der individuellen Förderung notgedrungen sehr relativ. Ein Recht auf individuelle Förderung gesetzlich festzuschreiben, hilft hier wenig. Auf geduldigem Papier wird die Forderung so lange überstrapaziert, bis sie zur Unkenntlichkeit ausleiert. Wer »finnische Verhältnisse« einfordert, müsste zunächst versuchen, die personellen Rahmenbedingungen entsprechend zu gestalten. Vom pädagogischen Paradiesgarten sind wir hierzulande allerdings weit entfernt. Schule kann sich also unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht primär als Ort individueller Förderung verstehen. Dieser Ort ist derzeit nach wie vor der außerschulische Raum. Hier kann tatsächlich individuell auf die Lernvoraussetzungen und -bedürfnisse der Kinder eingegangen werden. Dies betrifft durchaus auch den Bereich der Schulbildung. In Absprache mit den Fachlehrern kann Kindern im Einzelfall individuelle Unterstützung und zusätzliche Förderung geboten werden. Dies kann je nach Situation sowohl zu Hause geschehen als auch außer Haus im Rahmen der freien Zeit am Nachmittag. Wer sich mit seinen Kindern ab und an gemeinsam an Aufgaben setzt, wird dadurch noch nicht zum viel gescholtenen häuslichen Nachhilfelehrer. Die Familie ist der effektivste Platz, um feststellen zu können, wo ein Kind Stärken und Schwächen hat. Dabei geht es in erster Linie um den Bereich der Arbeitsmethodik. Individuelle Arbeitstechniken entwickeln sich am ehesten in einem individuellen Arbeitsumfeld. Eltern können sehr aufmerksam beobachten, wie ihr Kind effektiv arbeitet und konzentriert lernt, wie es zu guten Ergebnissen und Erfolgserlebnissen kommt. Sie können individuell einwirken, indem sie kontrollieren, loben oder auch konsequent auf bestimmten Ergebnissen insistieren. Auf diesem Feld kann natürlich auch Schaden angerichtet werden, wenn Eltern beispielsweise ständig ihre Kinder überfordern und stark unter Druck setzen. Genauso schädlich und vielleicht noch weiter verbreitet sind Desinteresse und mangelnde Kontrolle. Es wäre jedoch falsch, aus solchen Erziehungsfehlern zu folgern, dass die Schule grundsätzlich der Familie im Bereich der individuellen Förderung überlegen sei, zumal hier wie dort nur Menschen am Werk sind, die bekanntlich auch Fehler machen. Wenn Eltern mit gesundem Augenmaß die schulische Bildungsarbeit zu Hause unterstützen, erreichen sie mehr als eine Ganztagsschule, der unter der Hand Aufgaben zugewiesen werden, die sie unmöglich erfüllen kann. Die Überlegenheit der Familie gegenüber der Schule hinsichtlich der individuellen Förderung erweist sich am stärksten im Bereich der außerunterrichtlichen Bildung. Persönliche Begabungen und Neigungen können sich in der Freizeit in einer großen Anzahl möglicher Aktivitäten niederschlagen, deren bildende Wirkung kaum überschätzt werden kann. Instrumentalunterricht und
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Musikensembles, Sportvereine, kirchliche Jugendgruppen, gemeinnützige Vereine usw. leisten einen enormen Beitrag gerade zur individuellen Förderung, indem sie Kindern die Möglichkeit bieten, bestimmte Fähigkeiten nach eigener Präferenz besonders auszubilden – und zwar ohne Lehrplan und Notendruck. In diesen wichtigen Bereich sind übrigens auch die meisten schulischen Arbeitsgemeinschaften zu zählen, die als freiwillige Angebote außerhalb der regulären Unterrichtszeit und ohne direkten Bezug zum Vormittagsunterricht angeboten werden. Dieser Typ Arbeitsgemeinschaft integriert sich aber wie die privaten oder vereinsbezogenen Freizeitbildungsangebote sehr leicht in das System der Halbtagsschule. Die Ganztagsschule ist für solche Angebote organisatorisch schlechter gerüstet. Auch wenn es Kooperationsverträge zwischen Ganztagsschulen und außerschulischen Institutionen wie Sportvereinen, Kirchen, Musikschulen u. Ä. gibt, im Ergebnis lässt sich vielerorts nur ein beschränkter AG-Mix aus mehreren Wahlpflichtangeboten zusammenstellen, fast immer verbunden mit einer vordefinierten Gruppengröße, die erreicht sein muss, um dem Betreuungsauftrag der jeweiligen GTS gerecht werden zu können. Melden sich z. B. nur fünf Ganztagsschüler für ein Tischtennisangebot an, so fällt es in der Regel aus, damit nicht die parallele Basketballgruppe 40 Kinder versorgen muss. Stattdessen werden dann z. B. zwei Basketballgruppen gebildet, oder aber die Kinder werden von vornherein in bestimmte Gruppen eingeteilt. Aber selbst, wenn echte Neigungsgruppen durchgeführt werden, ist der Grundsatz der individuellen Förderung weit weniger gewährleistet als bei persönlich zusammengestellten Freizeitaktivitäten am Nachmittag. Allein schon die nahezu zwangsläufige Taktung aus Hausaufgabenbetreuung und Arbeitsgemeinschaft bzw. Neigungsgruppe wird der individuellen Lernsituation nicht gerecht. Jedes Kind braucht unterschiedlich viel Zeit für seine Aufgaben, braucht unterschiedlich viele äußere Anreize, meistert unterschiedlich viel Zusatzprogramm neben dem eigentlichen Unterricht. Diese Problematik ist den Ganztagsschulen zwar teilweise bewusst, und es wird in vielfältiger Hinsicht gegengesteuert. Aber in der Summe bleibt es doch immer ein Kompromiss, ein kleinster gemeinsamer Nenner zwischen echten Förderangeboten, Individualisierung und notwendiger Gruppengröße. Individuelle Förderung zu Hause umfasst zu einem ganz wesentlichen Teil auch Zeit, die nicht durch Termine und Aktivitäten verplant ist. Sinnvoll genutzte Freizeit bildet genauso essentiell wie Unterricht oder angeleitete Aktivität z. B. im Sportverein. Ein Kind, das auf der Straße Fußball spielt, fördert sich quasi selbst. Gerade von Pädagogen, die es gewohnt sind, Lernprozesse für andere zu strukturieren und zu moderieren, wird allzu schnell vergessen, was selbstbestimmtes Lernen eigentlich bedeutet. Überrascht blicken sie hier
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und da auf Fertigkeiten, die sich die Kinder gänzlich selbst angeeignet haben. Normal entwickelte Kinder betrachten von sich aus neugierig die Welt, die sie umgibt, und die Welt, die sie medial vermittelt bekommen. Sie interessieren sich für Hunde, Pferde und Katzen, für Spinnen, Würmer und Dinosaurier. Sie wollen etwas wissen über die alten Kelten, Ägypter oder Römer. Sie lesen über Burgen und Schlösser, über Seefahrer, Entdecker und Astronauten. Sie arbeiten sich ein in die Funktionsweise von Geräten und Maschinen, spielen mit Fernglas, Dampfmaschine und Computer, üben sich in handwerklichen Tätigkeiten, indem sie sägen, schnitzen, basteln, malen und bauen. Daran hat sich im Grundsatz nichts geändert, auch wenn es immer wieder heißt, heutige Kinder würden nur noch vor der Glotze oder der PlayStation hocken. Es bedarf keineswegs bei allem Lernen der professionellen Anleitung. Gerade wenn sich Kinder selbstständig mit den Dingen der Welt auseinandersetzen, entwickeln sie die Fähigkeit, eigenständig zu denken, planvoll vorzugehen, das eigene Handeln in Bezug zur Umwelt zu setzen. Eltern können hier unterstützen. Familien können hier einen gesunden Rahmen geben, Betreuer Aktivitäten schützend überwachen. Für diesen extrem wichtigen Bereich der »individuellen Selbstförderung« bieten Ganztagsschulen einen denkbar ungünstigen Nährboden. Die Kinder gewöhnen sich daran, von außen Impulse zu erhalten und beschäftigt zu werden. Wenn im schulischen Kontext von »selbstständigem und eigenverantwortlichem Lernen und Arbeiten« gesprochen wird, so handelt es sich fast immer um Prozesse, die von außen angestoßen oder vorstrukturiert sind. Meist geht es darum, ein Arbeitsblatt auszufüllen. Das ist an Halbtags- wie Ganztagsschulen so. Ganztagsschulen geben allerdings nicht nur den Zeittakt, den Lernort und die Lerngruppe vor, sie beanspruchen einen besonders großen Teil der wach verbrachten Zeit unserer Kinder. Allein schon die dauernde Anwesenheit eines Aufsicht führenden Erwachsenen erzeugt eine spezifische Erwartungshaltung bei den Kindern. Sie rechnen automatisch mit einem Programm, und ein solches ist auch zwingend nötig, will man eine größere Gruppe eine bestimmte Zeit sinnvoll beschäftigt sehen. Wer den Versuch unternimmt, eine Schulklasse 45 Minuten sich selbst zu überlassen, wird schnell feststellen, dass hier kein fruchtbarer Prozess in Gang kommen kann. Besondere Beachtung verdienen noch jene klassischen Freizeitbeschäftigungen, die aus einer Mischung von selbstgesteuertem Lernen und Unterricht bestehen. Exemplarisch wäre das Instrumentalspiel zu nennen. In der Regel einmal wöchentlich gehen die Kinder in den Unterricht, die übrige Woche üben sie mehr oder weniger freiwillig allein zu Hause. Es gibt vermutlich kaum eine andere Art der Beschäftigung, in der die Kinder so viel Arbeitstechnik und Selbststeuerungsfähigkeit entwickeln können wie beim Erlernen eines Instru-
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ments: Sich selbst kontrollieren, sich selbst immer wieder Aufgaben stellen, eine schwere Stelle so lange wiederholen, bis sie klappt, Problemstellen in Teilprobleme zerlegen und nach und nach systematisch erarbeiten, Konzentration auf Details lenken, das große Ganze dabei nicht aus den Augen verlieren, mit allen Sinnen gleichzeitig arbeiten, kognitive, motorische und emotionale Prozesse miteinander harmonisieren, all dies sind grundlegende Kompetenzen, die sowohl im normalen Schulunterricht wie in der Ganztagsschule niemals in gleicher Intensität gefördert werden können. Hinzu kommen bestimmte persönlichkeitsbildende Auswirkungen des Musizierens, die gerade für das Lernen von Bedeutung sind: Durststrecken und Frusterlebnisse aushalten und verdauen, Erfolge verbuchen, das eigene Spiel genießen und sich vor einem kleinen Publikum präsentieren: Wer diese Lernprozesse am Instrument durchexerziert hat, kann sie leicht auch in andere Lebenssituationen übertragen. Ähnlich persönlichkeitsbildend sind auch sportliche Aktivitäten in einer Mannschaft oder in einer Einzelsportart. Hier erfolgt individuelle Förderung von höchster Qualität. Im Ganztagsschulbereich kann höchstens der Instrumentalunterricht geboten werden, der dann meist auch als Gruppenunterricht nicht mehr mit individuellem Einzelunterricht gleichzusetzen ist. Ungestörtes und konzentriertes Üben aber ist in der GTS fast unmöglich, ähnlich wie ungestörtes Lesen, Malen oder Werken. Ausdehnung der Schulzeit in den Nachmittag hinein bedeutet Ausdehnung der nicht individuellen und Verkürzung der individuellen Lernzeit. Dass dennoch ausgerechnet die Ganztagsschulbewegung den Begriff der individuellen Förderung so stark für sich beansprucht, mag ein Reflex auf unbewusste und keineswegs unbegründete Ängste von Eltern sein, dass die Kinder in der Schule eben nicht genügend individuell gefördert werden. Den Begriff gebetsmühlenartig zu wiederholen und auf jede Fahne zu schreiben, hilft aber den betroffenen Kindern wenig. Ganz schnell und in jedweder Schulform stößt Individualisierung an Grenzen. Dazu ein Beispiel: Wenn ein einziges Kind in der Gruppe nicht Fahrrad fahren kann, kann die Gruppe keinen Fahrradausflug machen. Wenn ein Kind schneller fährt als die anderen, wird es zum Problem, weit mehr noch als jenes, das im Unterricht schneller rechnet. In ähnlicher Weise kann das langsame Kind den Rahmen der Gruppenaktivität sprengen. Allein wegen der Versicherungs- und Haftungsfrage wird sich jeder Aufsicht Führende dreimal überlegen, ob er seine Gruppe den Gefahren der Geschwindigkeit und des Straßenverkehrs aussetzt. Schon wenn ein einziges Elternteil Bedenken äußert, wird der kluge Lehrer oder Betreuer sich für andere Formen der Beschäftigung entscheiden, für solche eben, die großgruppenkompatibel sind. Und diese Aktivitäten sind nun einmal nicht als individuelle Förderung zu verkaufen, wenn man ehrlich bleiben will.
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In Deutschland ist über Jahrzehnte eine Art arbeitsteiliger Bildungskultur gewachsen, in der die individuelle Förderung in erster Linie Aufgabe der Familie war, der sie gemeinsam mit Vereinen und anderen Institutionen nachkam. Schule war demgegenüber der Ort, an dem allgemein verbindliche Inhalte nach allgemein verbindlichen Leistungskriterien in der Gruppe erlernt wurden. Gerade das Nicht-Individuelle, das gesellschaftlich Verbindliche war Markenzeichen der Schulbildung. Individuelle Förderung wurde soweit möglich praktiziert, aber sie war nicht der zentrale Punkt schulischen Selbstverständnisses. Dies war verschmerzbar, da es ja den freien Nachmittag gab. Bildung bestand im Idealfall aus den zwei fast gleich gewichtigen Säulen, und wer heute als Erwachsener auf seine eigene Kindheit zurück schaut, wird vermutlich bestätigt finden, wie wichtig diese zweite individuelle Säule für den eigenen Bildungs- und Berufsweg wurde. Diese Säule zu entfernen bzw. in ihrer Wertigkeit zu beschädigen, ist ein gefährliches Unterfangen, vor allem wenn in der öffentlichen Diskussion der Anschein erweckt wird, als sei gerade die individuelle Förderung in der Schule besser aufgehoben als zu Hause. Es ist richtig, auf die Problematik hinzuweisen, dass heutige Familien dieser Aufgabe nicht immer ausreichend nachkommen. Das kann aber nicht den Umstand überdecken, dass Schule dieser Aufgabe erst recht nicht nachkommen kann. Inzwischen entsteht im Rahmen der öffentlichen Bildungsdiskussion vielfach sogar der Eindruck, als sei die Ganztagsschule per se der Familie überlegen. »Zeit für Mehr« hieß es bereits am Beginn der Ganztagsbewegung. Und ganz gezielt wurde damals bereits die Karte der individuellen Förderung gespielt. Bei Eltern sollte die Hemmschwelle gesenkt werden, die Förderung ihrer Kinder in staatliche Hände zu legen. Es ist Zeit, dass in der Diskussion endlich klargestellt wird, dass selbst in der unvollkommenen Familie individuelle Förderung besser gelingt als in einer guten Ganztagsschule.
4. Hausaufgaben
Der pädagogische Wert von Hausaufgaben ist schon seit langem umstritten. Es gab Untersuchungen, die zeigen sollten, dass der Lernfortschritt durch Hausaufgaben überhaupt nicht signifikant verbessert würde. Kontrollgruppen mit und ohne Hausaufgaben kämen im Endeffekt zu ähnlichen Schulleistungen. Die meisten Lehrer sind aus eigener Überzeugung und Erfahrung anderer Meinung, belasten die ihnen anvertrauten Kinder tagaus tagein mit immer neuen Aufgaben und stören damit nebenbei empfindlich den Familienfrieden in manch einem Haushalt. Sollten Hausaufgaben also besser komplett abgeschafft werden oder haben sie sich als unverzichtbare Übungsphase bewährt? Zunächst wollen wir diese Frage noch ausklammern. Die zurzeit am häufigsten vorgebrachte Kritik an Hausaufgaben ist die, dass sie die sozialen Unterschiede verstärken. Die Argumentation ist unmittelbar einleuchtend. Während in bildungsbürgerlichen Kreisen die häuslichen Schulaufgaben mit großer Sorgfalt kontrolliert und begleitet werden, bleiben Kinder aus bildungsfernen Schichten gänzlich ohne Unterstützung. Oft wird nicht einmal kontrolliert, ob die Aufgaben überhaupt erledigt werden, von fachlicher Hilfe und gezielter Förderung kann keine Rede sein. Niemand schaut nach, ob das Heft auch sorgfältig geführt wird. Vokabellernen? Übungsdiktat? Fehlanzeige. Was macht ihr eigentlich zurzeit in Erdkunde? Keiner, der mit solchen ›Interessefragen‹ den Jugendlichen auf den Zahn fühlt. Mahnende Briefe der Schule über fehlende Aufgaben und Arbeitsmaterialien werden im schlimmsten Fall ignoriert. Folglich geht mit jeder Hausaufgabe die Schere zwischen sozial privilegierten und benachteiligten Kindern wieder ein Stück weiter auseinander. Hier sieht die Ganztagsschulbewegung ein wichtiges Instrument zum Gegensteuern. Werden die »Haus«-Aufgaben nicht mehr zu Hause angefertigt, entfällt zu einem beträchtlichen Teil dieser »häusliche« Faktor. Bevorzugt werden jetzt nicht mehr die Kinder »aus gutem Hause«, bei denen man ja manchmal gar nicht wusste, wer eigentlich die Hausaufgabe machte: Das Kind allein oder das mit Nachhilfe gepuschte Kind oder etwa gleich die Eltern selbst? Alle Kinder erledigen die Aufgaben in der Ganztagsschule jetzt unter den gleichen Bedingungen. Das ist ›gerecht‹. Bleibt nur zu fragen: unter welchen Bedingungen?
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Es müssen zwei verschiedene Modelle unterschieden werden, nach denen die meisten Ganztagsschulen verfahren. Die häufigste Praxis ist die, dass am Nachmittag eine betreute Hausaufgabenzeit eingerichtet wird. Eine Lehrkraft oder sonstige Betreuungsperson beaufsichtigt die Gruppe bei den Aufgaben. Je nach Organisationsstruktur schwankt die Anzahl der Kinder in solchen Gruppen zwischen 10 und 30. Oftmals findet man diese Hausaufgabenbetreuung in Verbindung mit additiven GTS-Strukturen, in denen vormittags Halb- und Ganztagskinder gemeinsam den regulären Unterricht genießen und sich erst zum Mittagessen die Wege der beiden Gruppen trennen. Dieses Hausaufgabenmodell krankt oft an praktischen Problemen: Die meisten Klagen kommen über die Arbeitsatmosphäre. Schwierig ist es für die Aufsichtsführenden, die nötige Ruhe herzustellen. Dabei spielt neben der Gruppengröße der unflexible Zeitansatz oft eine große Rolle. Dauert die Hausaufgabenphase z. B. 45 Minuten, so kann man sicher davon ausgehen, dass ein Teil der Kinder früher fertig ist, einem anderen wiederum die Zeit nicht reicht. Besonders problematisch kann es werden, wenn die Gruppen aus verschiedenen Klassen zusammengewürfelt sind. Dann ist das Aufgabenpensum bereits sehr unterschiedlich. Hier versuchen die Schulen mit unterschiedlichen Methoden und unterschiedlichem Erfolg gegenzusteuern. Das Kernproblem des unterschiedlichen Arbeitstempos innerhalb der Gruppe lässt sich jedoch kaum lösen. Ein zweites praktisches Problem besteht in der Gruppensituation an sich: Vielen Kindern fällt es schwer, sich zu konzentrieren, wenn andere um sie herum sind. Dieser Effekt verstärkt sich automatisch, wenn ein Teil der Kinder sich per se unkonzentriert zeigt oder bereits mit den Aufgaben fertig ist. Für den Rest wie für den Aufsichtsführenden sind die letzten Minuten meist die quälendsten. Bestimmte Aufgaben lassen sich in der größeren Gruppe ohnehin kaum erledigen. Dazu zählt vor allem das Auswendiglernen. Vokabeln, Gedichte, Lieder können gerade jüngere Kinder nur sehr schwer in der inneren Vorstellung üben. Sie müssen sich selbst beim Lernen hören können. Gleiches gilt natürlich für das Lesenüben. Die Gruppensituation lässt allerdings in den meisten Fällen nur Stillarbeit zu. Schwierig ist auch eine angemessene Reaktion darauf, dass Kinder unterschiedliche Rhythmen beim Lernen haben. Vormittags werden sie bereits in ein zeitliches Korsett gezwängt. Am Nachmittag kann zu Hause auf individuelle Bedürfnisse eingegangen werden, z. B. dadurch, dass das eine Kind nach dem Essen erst einmal an die Luft geht, um sich zu bewegen. Ein anderes braucht eher eine kurze Ruhephase. Wieder ein anderes erledigt seine Aufgaben am effektivsten sofort, weil es weiß, dass danach die Spielzeit umso länger ausfallen wird. Auch von Tag zu Tag kann flexibel verfahren werden. Ist das Kind
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etwas matter als gewöhnlich, z. B. nach einer Krankheit, kann die Mittagspause verlängert werden. Ist draußen noch gutes Wetter, für den späten Nachmittag aber Gewitter gemeldet, dann kann das Kind auch zunächst im Freien spielen und die Aufgaben ausnahmsweise später am Nachmittag erledigen. All diese Möglichkeiten bietet die GTS-Gruppe natürlich nicht. Hier ist Hausaufgabenbetreuung von z. B. 14:05 Uhr bis 14:50 Uhr. Ein sehr grundsätzliches Problem der nachmittäglichen Hausaufgabenbetreuung liegt in der Rolle der Aufsichtsperson, insbesondere wenn es sich um eine reguläre Lehrkraft der Schule handelt: Soll sie nur beaufsichtigen? Oder soll sie die Aufgaben auch kontrollieren? Soll sie etwa auch helfen und unterstützen? Letzteres erwarten viele Eltern, wirbt doch die Ganztagsschule ganz bewusst mit dem Fördergedanken. Aber es entstehen dabei schnell problematische Situationen: Werden am folgenden Tag die Hefte eingesammelt und benotet oder werden die Aufgaben am Folgetag mündlich oder schriftlich abgeprüft, so kann die Hausaufgabenhilfe schnell notenrelevant werden. Der Übergang von Hausaufgabenaufsicht hin zu Nachhilfe, die dem jeweiligen Fachlehrer aus gutem Grund per Gesetz nicht gestattet ist, gestaltet sich fließend. Im additiven GTS-Modell ist es kaum möglich, am Nachmittag unterstützende Angebote zu machen, ohne gleichzeitig die Halbtagskinder zu benachteiligen. Dieses Problem stellt sich nicht in gebundenen Modellen, wo häufig im so genannten rhythmisierten Verfahren verschiedene Unterrichts-, Lern- und Rekreationsphasen über den Tag verteilt werden. Dieses Modell lässt sich nur im kompletten GTS-Klassenverband realisieren. Oftmals werden hier die Hausaufgaben durch Stillarbeitsphasen ersetzt. Den verschiedenen Fächern werden zusätzliche Stunden zugeordnet, die individuell ausgefüllt werden können. Gleichzeitig verzichten die Lehrer dann ganz oder zumindest überwiegend auf weitere Hausaufgaben. Dieses Modell hat in Bezug auf die Hausaufgaben gegenüber dem additiven Modell zahlreiche Vorteile, kann aber bei Weitem nicht alle Nachteile gegenüber den klassischen Hausaufgaben ausgleichen. So bleibt das Problem der Großgruppe und der ihr eigenen Gruppendynamik bestehen. Längst nicht alle Kinder finden so zu konzentriertem Einzelarbeiten. Überhaupt neigen viele Lehrer durch die Organisationsstruktur dazu, die spezifischen Einzel- und Stillarbeitsphasen, die als Ausgleich für die klassischen Hausaufgaben gedacht sind, durch andere Arbeitsformen zu ersetzen, die weniger störanfällig sind, z. B. Gruppenarbeit. Dadurch bleiben aber schnell gerade jene Kompetenzen auf der Strecke, die unmittelbar mit der Einzelarbeit verknüpft sind, z. B. das Vokabellernen. Im rhythmisierten Ganztag füllen die den Fächern zugeordneten »Plus-Stunden« oftmals den Stundenplan merklich auf. Statt fünf Stunden Deutsch gibt es dann z. B. sieben oder acht, statt zwei Stunden Bildende
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Kunst sind es drei usw. Damit wird der Raum für echte Rekreationszeiten, für außerschulische Partner, für Angebote ohne Unterrichtsbezug immer dünner. Gleichzeitig klagen die Fachlehrkräfte, dass sie trotz der zusätzlichen Stunden mit ihrem Stoff nicht durchkommen. Was auf dem Papier wie eine zusätzliche Förderung der Kinder daherkommt, entpuppt sich in der Praxis oftmals gerade als Hemmschuh. Im Umkehrschluss wird durch die Mängel der beiden GTS-Modelle wiederum deutlich, welchen positiven Effekt klassische Hausaufgaben auch haben können: An erster Stelle ist zu nennen, dass im täglichen Umgang mit individuell zu lösenden Aufgaben individuelle Arbeitstechniken eingeübt werden, und zwar effektiver als die Schule dies mit ihrem Hang zur Vereinheitlichung kann. Kein schulisches Modell kann leisten, wozu eine effektive Mischung aus häuslicher Arbeitsruhe, individueller familiärer Kontrolle und vorsichtig dosierter Unterstützung in der Lage ist. Wie lese ich einen Sachtext so, dass ich ihn am nächsten Tag mündlich wiedergeben kann? Wie lerne ich ein Gedicht auswendig? Wie finde ich Rechenwege, die mir die mathematischen Denkprozesse erleichtern? Dies können je nach Lerntyp Umwege oder auch Abkürzungen sein. Jedes Kind findet unter günstigen Rahmenbedingungen im Verlauf seiner Schulkarriere seine eigenen Wege und Methoden, mit einfachen wie mit komplexen Aufgaben umzugehen. Es ist ein verbreiteter Irrglaube anzunehmen, dass es »die« Regeln zum Unterstreichen eines Textes gibt. Die einen unterstreichen fast alles, die anderen gar nichts, und beides kann durchaus das Richtige sein. Das Wissen um visuelle, auditive und haptische Lerntypen, um assoziatives, diskriminierendes und begriffliches Lernen erlaubt es dem Lehrer noch keineswegs, eine professionelle und gleichzeitig individuelle Lerntechnik für eine Großgruppe von Kindern und Jugendlichen zu vermitteln. Viel zu komplex ist gerade die Individualität des Lernens an sich. Im pädagogisch didaktischen Diskurs ist inzwischen auch von verschiedenen Interaktionstypen und Lernorganisationstypen die Rede. Altbacken klingt dagegen bereits die Differenzierung nach kognitivtheoretischem Lernen und handlungsorientiert-praktischem. Unabhängig von aller theoretischen Kritik, die an diesen Denkmodellen möglich und sinnvoll erscheint, bleibt zu fragen, wie denn eine Lehrkraft oder eine sonstige Hausaufgaben betreuende Person diesem Lerntypenspektrum Rechnung tragen soll. Professionelles pädagogisches Handeln soll im Idealfall der Komplexität dieses Feldes gerecht werden. Im Endeffekt muss aber doch jeder für sich selbst die geeigneten Lernwege, -methoden und -strategien herausfinden. Paradoxerweise ist gerade die vermeintlich unprofessionelle Familie auf diesem Feld klar im Vorteil. Eltern bzw. die Kinder selbst wissen oft am allerbesten, wie sie sich ein angemessenes Lernumfeld gestalten können. Die Halbtagsschule mit ihrem
Hausaufgaben
35
rhythmischen Wechsel zwischen professionell gesteuertem Lernen am Vormittag und individuellem Arbeiten am Nachmittag hat sich über viele Jahrzehnte bewährt. Oft freilich wissen es weder die Eltern noch die Kinder. Weitere Gründe sprechen für die klassischen Hausaufgaben: Für schwächere Schüler sind Hausaufgaben eine enorm wichtige Chance, zu Hause das aufzuarbeiten, was am Morgen nur halb verstanden wurde. Hier lernen Kinder u. U. schon sehr früh, dass sie mit Fleiß, Ehrgeiz und Konsequenz Begabungsdefizite kompensieren können. In der Hausaufgabenbetreuung von 14:05 bis 14:50 Uhr gibt es genauso wie in integrierten Stillarbeitsphasen innerhalb des Unterrichts dagegen viel weniger zeitliche Pufferzonen, in denen Kinder zusätzlich üben und vertiefen können. Für die schnelleren Schüler bieten klassische Hausaufgaben die Chance, Freiräume für anderes zu schaffen: für persönliche Interessen wie Sport, Schach, Musik, Naturwissenschaft und Technik. Wer die Aufgaben nämlich schnell erledigt hat, hat mehr Zeit für außerschulische Bildung. Gerade unter den begabteren Kindern gibt es nicht wenige, die auf das Anfertigen der Hausaufgaben einfach ganz verzichten oder sie beiläufig zwischen Tür und Angel erledigen. Wie soll man das beurteilen? Wer keine Übungsphase braucht, lernt auf diese Weise z. B. mit einem Minimum an Zeitaufwand die gestellten Erwartungen zu erfüllen, ganz sicher eine der absoluten Kernkompetenzen für nahezu alle anspruchsvollen Berufe. Dies gilt sogar in gewissem Sinne für jene (im Übrigen nicht so selten anzutreffenden) Schüler, die zwar die Hausaufgaben für ihren Lernfortschritt gut gebrauchen könnten, sie aber trotzdem nicht oder nur unzureichend anfertigen. Auch sie lernen zumindest, mit der Stresssituation umzugehen, am nächsten Morgen z. B. an der Tafel zu stehen und wiederzugeben, was nur halb verinnerlicht wurde. Aus einem Minimum an Einsatz soll ein Maximum an Ertrag, sprich: eine möglichst gute Note, erwirtschaftet werden. Wie viele Jugendliche üben genau das ihre ganze Schulzeit lang? Und sie üben es nicht umsonst. Sie werden diese Fähigkeit im späteren Leben noch oft gebrauchen können. Kinder und Jugendliche lernen auf diese Weise auch, ein realistisches Selbstkonzept zu entwickeln. Wie viel Zeit muss ich investieren, um in der Arbeit, in der mündlichen Überprüfung, im Unterricht die nötige Leistung zu bringen? So können sie testen, ob sie wirklich zu den ganz wenigen Spitzenbegabten zählen, die auf die lästigen Hausaufgaben ganz verzichten können. Verantwortung für das eigene Lernen und Zeitmanagement wachsen mit den Jahren und prägen auch das Selbstbewusstsein in Bezug auf die eigene Lernpersönlichkeit entscheidend. All dies entwickelt sich nicht immer von allein. Aber im Zusammenspiel von Selbstverantwortung der Kinder und Jugendlichen, Kontrolle seitens der Eltern und regelmäßigem Feedback der Schule gelingt das schwierige Unter-
36
Hausaufgaben
fangen in den allermeisten Fällen. Hausaufgaben sind ein ideales Instrument der nicht expliziten Leistungsdifferenzierung. Sie tragen den Begabungen und Lerntypen in besonderer Weise Rechnung und sind dadurch ein wichtiges Element individueller Förderung, auch wenn sie für alle Kinder gleich sind. Demgegenüber begünstigen die bislang bekannten Modelle der Festigung in der Ganztagsschule allzu oft die fatale Situation, dass Kinder und Eltern die Verantwortung für den Lernerfolg insgesamt an die Schule übertragen. Stimmen die Leistungen nicht, dann war die individuelle Förderung nicht ausreichend, dann krankte das pädagogische Konzept, dann wurde der individuelle Lerntyp nicht ausreichend berücksichtigt. Von Bedeutung scheint in diesem Zusammenhang auch, dass die Hausaufgabenfrage offenbar zu den typischen großen Konfliktfeldern innerhalb vieler Familie gehört. Eltern kontrollieren und bedrängen ihre Kinder. Diese wiederum sperren sich, was die Kontrolle und den Druck der Elternseite seinerseits wieder steigert. Eine Art Teufelskreis, der in kleine Machtkämpfe innerhalb der Familien münden kann. Empirische Studien haben ergeben, dass sich durch Ganztagsschulbesuch dieses Problemfeld tatsächlich entschärfen lässt12. Ganztagsschulbefürworter führen das Argument gern an, um zu zeigen, dass die Familien und das Familienklima von der Ganztagsschule profitieren. Dies muss jedoch hellhörig machen: Welche Aufgaben hat denn Familie erzieherisch gesehen? Gerade im Zusammenhang von Konflikten zeigt sich, dass im Endeffekt das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern das einzige ist, das auch über die Konfliktsituation hinaus trägt, das wirklich belastbar ist, auch wenn es einmal »geknallt« hat, in dem man auch im schlimmsten Fall nicht vor die Tür gesetzt werden kann. Fast könnte man sagen: Die Familie ist zum Streiten da! Nirgendwo sonst können Kinder und Jugendliche in solch sicherem Umfeld echte Streitkultur lernen. Demgegenüber erfordert das professionelle Verhältnis zwischen Lehrkraft und Kind von der Erwachsenenseite (zumindest dem Ideal nach) die Fähigkeit, sich selbst aus den auftretenden Konflikten herauszunehmen. Lehrkräfte müssen erzieherische Situationen analysieren können und sachgerecht reagieren. Eltern hingegen sind Betroffene. Sie werden im Streit vielleicht auch einmal selbst verletzt. Sie sind nicht neutrale Beobachter, sondern selbst Teil des Streits. Wenn die Aufgaben nicht richtig erledigt werden, fühlen sie sich vielleicht enttäuscht oder getäuscht. Sie werden unter Umständen zornig und greifen zu Maßnahmen, die sie im Nachhinein bereuen. Sie reagieren unprofessionell, aber authentisch. Durch solche Konflikte und die 12 Zusammenfassend Elke Kaufmann: Ganztag ohne Hausaufgaben!? Forschungsergebnisse zur Gestaltung von Übungs- und Lernzeiten. Hildesheim 2012.
Hausaufgaben
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Art, wie sie in der Familie ausgetragen werden, lernen sich Kinder und Eltern gegenseitig kennen, erst durch die emotionale Reibung können Kinder ihre Persönlichkeit entwickeln und Eltern ihre entwickelte Persönlichkeit ab und an einmal infrage stellen. Wer Familienleben auf einen entspannten gemeinsamen Feierabend beschränken will, am besten auf dem Sofa vor dem Fernseher, hat von Erziehung nichts verstanden. Wie mit den Hausaufgaben ist es im Endeffekt ja auch mit vielen anderen erzieherischen Feldern: Tisch abdecken, Geschirr versorgen, Zimmer aufräumen, den Müll rausbringen, die Gabel richtig halten, nicht mit vollem Mund sprechen, deutlich am Telefon antworten, mit dem Hund rausgehen, die Nachbarn grüßen, spülen, einkaufen gehen, das Fahrrad abschließen, Schuhe und Jacke nicht im Flur liegen lassen, das Badezimmer nicht einsauen, die Musik auf angemessene Lautstärke runterdrehen usw. All dies sind keine zentralen Erziehungsaufgaben, aber typische Reibungs- und Übungsfelder, um Konfliktfähigkeit zu entwickeln und am Streit zu wachsen. Welche Schule soll diese Art von Erziehungsarbeit leisten? Übrig bleibt das Argument, dass die Ganztagsschule die Unterschiede des häuslichen Umfelds nivellieren könne. Das tut sie in der Tat, aber eben auf einem sehr niedrigen Niveau. Wollen wir wirklich allen Kindern ein insgesamt ungünstiges Lernumfeld zumuten, nur weil ein kleiner Teil der Eltern seinen Kindern ein noch ungünstigeres Umfeld schafft? Bemerkenswert ist die Feststellung der größten empirischen Studie zur Ganztagsschule, der so genannten StEG-Studie, nach der es der Ganztagsschule keineswegs gelingt, soziale Benachteiligungen auszugleichen: »Für Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen nachweisen – es liegt in dieser Hinsicht also kein kompensatorischer Effekt für bildungsbenachteiligte Schülergruppen vor.«13 Die Nivellierung führt also keineswegs zu mehr Chancengleichheit. Zu dieser Feststellung gelangt ausgerechnet jene große empirische Studie, deren erklärtes Ziel es eigentlich war, den pädagogischen Nutzen der Ganztagsschule zu beweisen. 13 Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkungen. Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen 2005–2010. Hg. v. Konsortium der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Frankfurt/M. 2011, S. 17.
5. Die Quadratur des Kreises
Ganztagsschulen stehen heute vor der enormen Herausforderung, dass die Liste der Erwartungen immer länger wird. Wer alle Forderungen unter einen Hut bringen will, muss wahrlich die Quadratur des Kreises erfinden. Beginnen wir mit dem Fantasiestundenplan eines Fünftklässlers in der traditionellen Halbtagsschule. Je nach Bundesland variieren die Stundentafeln etwas, aber im Prinzip sieht ein durchschnittlicher Stundenplan so oder so ähnlich aus: Mo
Di
Mi
Do
Fr
7:50–8:35
Klassenleiterstunde
Englisch 1. FS
Deutsch
Naturwissenschaft
Mathe
8:40–9:25
Mathe
Englisch 1. FS
Englisch 1. FS
Erdkunde
Religion/ Ethik
9:25–9:40
PAUSE
9:40–10:25
Bildende Kunst
Mathe
Sport
Deutsch
Englisch 1. FS
10:30–11:15
Deutsch
Musik
Sport
Deutsch
Naturwissenschaft
11:30–12:15
Sport
Erdkunde
Mathe
Englisch 1. FS
Deutsch
12:20–13:05
Religion/ Ethik
Naturwissenschaft
Mathe
Bildende Kunst
Musik
11:15–11:30
PAUSE
In der Summe sind das 30 Unterrichtsstunden bzw. 26 Zeitstunden. Rechnet man ca. eine Stunde für Hausaufgaben pro Tag, ergibt sich eine »Wochenarbeitszeit« von 31 Stunden. Die einfachste Möglichkeit, aus diesem Plan einen Ganztagsplan zu machen, bietet das so genannte additive Modell. Der Grundstock bleibt, wie er ist. Am Nachmittag kommt ein Extraprogramm dazu aus Hausaufgaben und Betreuung. Der Freitagnachmittag bleibt meist frei. So sieht jetzt der neue Stundenplan aus.
39
Die Quadratur des Kreises
Mo
Di
Mi
Do
Fr
7:50–8:35
Klassenleiterstunde
Englisch 1. FS
Deutsch
Naturwissenschaft
Mathe
8:40–9:25
Mathe
Englisch 1. FS
Englisch 1. FS
Erdkunde
Religion/ Ethik
9:40–10:25
Bildende Kunst
Mathe
Sport
Deutsch
Englisch 1. FS
10:30–11:15
Deutsch
Musik
Sport
Deutsch
Naturwissenschaft
9:25–9:40
PAUSE
11:15–11:30
PAUSE
11:30–12:15
Sport
Erdkunde
Mathe
Englisch 1. FS
Deutsch
12:20–13:05
Religion/ Ethik
Naturwissenschaft
Mathe
Bildende Kunst
Musik
14:00–15:00
Hausaufgaben
Hausaufgaben
Hausaufgaben
Hausaufgaben
frei
15:00–16:00
Sport, Spiel, AG
Sport, Spiel, AG
Sport, Spiel, AG
Sport, Spiel, AG
frei
13:05–14:00
Mittagessen und PAUSE
frei
Organisatorisch gesehen ist diese GTS-Form auch an weiterführenden Schulen am einfachsten zu realisieren. Der Vormittagsunterricht bleibt unberührt. Hausaufgaben können wie gewohnt erteilt werden. Für den Nachmittag kann geringer qualifiziertes Personal eingesetzt werden, das deutlich günstiger ist. Für die Neigungsgruppen kommen externe Kooperationspartner wie z. B. kirchliche Jugendträger, Sportvereine oder Musikschulen infrage, die ja auch ansonsten zu dieser Zeit ihre Angebote formulieren würden. Kommt ein Kind neu hinzu oder möchte sich eines abmelden, verursacht dies nur geringe organisatorische Folgeprobleme. Es müssen auch keine kompletten GTS-Klassen zusammengestellt werden. Das Modell funktioniert, sobald sich an einer Schule insgesamt genügend Kinder für eine Betreuungsgruppe zusammengefunden haben, also ab ca. 20 Kindern. In manchen Bundesländern besteht die Möglichkeit, nur tageweise das Nachmittagsangebot zu nutzen. Trotz der Vorzüge gerät das Modell zunehmend in die Kritik. Mit Blick auf den Stundenplan liegt das Kernproblem auf der Hand: Es handelt sich eigentlich nicht um eine Ganztagsschule, sondern um eine Halbtagsschule mit Nachmittagsbetreuung. Genau davon wollte die pädagogisch motivierte Ganztagsbewegung weg und erfand das »rhythmisierte Modell«. Kernelement ist die Verteilung des Regelunterrichts über den gesamten Tag, was angeblich der Lern-
40
Die Quadratur des Kreises
prädisposition der Kinder entgegenkommt. Es entstehen jetzt weiße Flächen im Stundenplan, die ausdrücklich gewünscht sind. Dafür muss der Nachmittag in 45-Minuten-Einheiten neu geschnitten werden, sonst funktioniert es schulorganisatorisch nicht, zumindest nicht an weiterführenden Schulen. Mo
Di
Mi
Do
Fr
7:50–8:35
Klassenleiterstunde
Englisch 1. FS
Deutsch
Naturwissenschaft
Mathe
8:40–9:25
Mathe
Englisch 1. FS
9:25–9:40
PAUSE
9:40–10:25 10:30–11:15
Mathe Deutsch
11:15–11:30
Religion/ Ethik
Englisch 1. FS
Sport
Deutsch
Naturwissenschaft
Englisch 1. FS
Deutsch
Naturwissenschaft
Mathe
Musik
Mittagessen und PAUSE Bildende Kunst
14:25–15:10 15:15–16:00
Deutsch
Erdkunde
13:05–13:35 13:35–14:20
Sport
PAUSE
11:30–12:15 12:20–13:05
Religion/ Ethik
Erdkunde Musik
Sport
frei
Englisch 1. FS Mathe
frei frei
Bildende Kunst
frei
Die Stundenzahl bleibt dieselbe, die Mittagspause verkürzt sich, was verschmerzbar ist, da ja jede Menge Freifläche im Tagesverlauf sichtbar wird. Vordergründig bildet sich ein sehr lockeres Raster, das Platz zum Atmen lässt. Es ist klar, dass dieses Modell nur im Klassenverband realisierbar ist. Teilnahme nur an Einzeltagen ist unmöglich. Für externe Kooperationspartner wird es schwer, einen Fuß in die »rhythmisierte« Tür zu bekommen. Andere Probleme sind gewichtiger. Im vorliegenden Fall würde sich der Kunstlehrer vermutlich beschweren, dass seine beiden Stunden nachmittags liegen. Die Erfahrung lehrt, dass trotz der Rhythmisierung eine Nachmittagsstunde in der Ganztagsschule nicht vergleichbar ist mit einer Vormittagsstunde in der Halbtagsschule. Die übrigen Fachlehrer werden ebenfalls geltend machen, dass sie mit ihrem Stoff nicht mehr durchkommen, auch weil das Problem der Hausaufgaben nicht gelöst ist. Niemand in Deutschland wünscht sich eine Ganztagsschule, bei der die Kinder
41
Die Quadratur des Kreises
abends noch Hausaufgaben machen müssen, am wenigsten die Eltern. Würde man aber die Freiflächen mit Hausaufgabenbetreuung füllen, wäre qualitativ nichts gewonnen. Hinzu käme die berechtigte Frage, welche Hausaufgaben denn mittwochs in der zweiten Stunde erledigt werden sollen. Hier könnte eigentlich nur der Deutschlehrer fest einplanen, eine größere Stillarbeit aufzugeben. Er muss seinen Unterricht jetzt so timen, dass er am Mittwoch immer einen größeren Aufsatz aufgeben kann, oder vielleicht auch eine Gruppenarbeit, z. B. eine Theaterszene o. ä. Viele Schulen sind genau in diese Richtung konsequent weitergegangen und haben den einzelnen Fächern die freien Stunden zugeordnet. Die Plus-, Zusatz- oder Z-Stunden dienen der Vertiefung, der Stillarbeit, der fachlich und thematisch gebunden Freiarbeit oder dem projektorientierten Arbeiten. Diese Übephasen ersetzen, so ist es gedacht, die Hausaufgaben. Hauptfächer erhalten natürlich mehr Z-Stunden, aber für die Nebenfächer muss auch mindestens eine abfallen, denn sonst wären diese gegenüber Halbtagsklassen benachteiligt, was der Idee der Ganztagsschule diametral widersprechen würde. Der Stundenplan sieht nun z. B. so aus: Mo
Di
Mi
Do
Fr
7:50–8:35
Klassenleiterstunde
Englisch 1. FS
Deutsch
Naturwissenschaft
Mathe
8:40–9:25
Mathe
Englisch 1. FS
Deutsch-Z
Mathe-Z
Religion/ Ethik
9:25–9:40
PAUSE
9:40–10:25
Naturwissenschaft-Z
Mathe
Sport
Deutsch
Englisch 1. FS
10:30–11:15
Deutsch
Sport-Z
Sport
Deutsch
Naturwissenschaft
11:30–12:15
Englisch 1. FS-Z
Erdkunde
Englisch 1. FS-Z
Englisch 1. FS
Deutsch
12:20–13:05
Religion/ Ethik
Naturwissenschaft
Mathe
Deutsch-Z
Musik
11:15–11:30
PAUSE
13:05–13:35
Mittagessen und PAUSE
frei
13:35–14:20
Bildende Kunst
Deutsch-Z
Religion/ Ethik-Z
Erdkunde
frei
14:25–15:10
Bildende Kunst-Z
Musik
Englisch 1. FS
Mathe-Z
frei
15:15–16:00
Sport
Musik-Z
Mathe
Bildende Kunst
frei
42
Die Quadratur des Kreises
Für Deutsch gibt es jetzt drei Z-Stunden, für die übrigen Hauptfächer je zwei, die Nebenfächer erhalten eine. In unserem Beispiel geht Erdkunde leer aus, denn sonst geht die Rechnung nicht mehr auf. Genauso kann es Musik, Kunst oder Religion treffen. Wie dem auch sei: Wo sind sie hingekommen, die Freiflächen? Hier ist im Handumdrehen eine pralle 38-Stunden-Woche entstanden. Auch die geschmolzene Mittagspause ist jetzt ein Problem. Wer donnerstags in der 8. Stunde eine Mathe-Z-Stunde leitet, wird schnell merken, welchen Effekt die »Rhythmisierung« des Tagesablaufs eingebracht hat. Er wird unweigerlich pädagogische Maßnahmen ergreifen, z. B. eine halbe Stunde auf dem betonierten Schulhof frische Luft schnappen lassen, damit er dann vielleicht noch 15 Minuten etwas Fachgebundenes machen kann. Oder er zieht sein Pensum durch, und in der Kunststunde um 15:15 Uhr geht dann gar nichts mehr. Es spricht manches dafür, einfach das Pensum durchzuziehen, auch wenn das den Bedürfnissen der Kinder keineswegs entgegenkommt. Aber mit zwei Z-Stunden pro Woche muss sich die Mathelehrkraft sputen, durch den Stoff zu kommen. Sie soll keinerlei Hausaufgaben mehr aufgeben, hat gleichzeitig im Unterricht viel mehr Alltagskleinkram zu managen, auf dem Gang vergessene Jacken, ausgelaufene Trinkflaschen, Prügeleien, Unaufmerksamkeit, Kopfschmerzen, Zahnarztbesuche usw. Die Erfahrung zeigt, dass eine Z-Stunde im Nebenfach und zwei im Hauptfach keineswegs Garant dafür sind, dass die GTSKlasse nicht ins Hintertreffen gerät gegenüber einer HTS-Klasse. Verkehrte Welt? Wieso ins Hintertreffen geraten? Man verspricht sich doch von der Ganztagsschule eine Leistungsverbesserung? Und was ist eigentlich mit all den schönen Kompetenzen, die man fördern wollte? Wo sind sie im Plan geblieben? Wo ist die individuelle Förderung, wenn der Fachlehrer in allen Stunden 25 bis 30 Kinder gleichzeitig vor sich hat? Realisierbar ist dieser »Horrorplan« in der Praxis ohnehin nur unvollkommen, denn es lässt sich hier kein unqualifiziertes Personal einsetzen. Das treibt die Kosten in die Höhe. Für externe Partner ist kein Platz mehr. Vielfach klagen Lehrer, dass die Schüler verlernen, selbstständig zu arbeiten, da sie keine Hausaufgaben mehr anfertigen. Andere fordern mehr Bewegung, wieder andere Projekte für soziales Lernen, die Musikvereine fürchten um ihren Nachwuchs genauso wie die Sportclubs. Die Kirchen fühlen sich brüskiert, und von anderer Seite werden Rufe laut nach der Förderung alltagsrelevanter Fähigkeiten: Wann lernen die Kinder einkaufen, kochen und die Regeln des Straßenverkehrs? Wo bleibt die Sucht- und die Gewaltprävention? Erziehung zu demokratischer Selbstbestimmung, zu Toleranz und interkultureller Kompetenz? Für jedes Arbeitsfeld gibt es irgendein Projekt, ein neu erfundenes Unterrichtsfach, ein pädagogisch professionell begleitetes Schul-
43
Die Quadratur des Kreises
projekt14. Stellen wir einen neuen Stundenplan zusammen, der die Kompetenzentwicklung einmal konsequent in den Vordergrund rückt:
7:50–9:25
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Klassenleiterstunde
Freie Projektarbeit
PROJEKT Selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten
Rückenschule
PROJEKT Entdecke deine Stadt
Klassenrat
Drogenprävention
Gewalt prävention
Kochkurs
9:25–9:40 9:40–11:15
PAUSE Gesundheits- Anti-Mobbing- Bewegte erziehung Training Schule
11:15–11:30 11:30–13:05
PAUSE PROJEKT Soziales Lernen
13:05–14:00
Freifläche für Kirchen, Vereine, Musikschulen
Methodentraining
Mittagessen und PAUSE
frei
14:00–15:00
Bewegte Schule
Anti-StressTraining
PROJEKT Soziales Lernen
Methoden training
frei
15:00–16:00
PROJEKT Natur und Umwelt
Medienkompetenz und Internetführerschein
Freifläche für Kirchen, Vereine, Musikschulen
Stillarbeit
frei
Hier gibt es einen organischen Wechsel zwischen eher inhaltlich-orientierten Sachkompetenzen, Methoden-, Sozial-, Kommunikations-, Selbst- und Lebenskompetenzen. Außerdem ist Platz für Bewegung und geleitetes Spiel. Nicht alle Wünsche konnten erfüllt werden: Es fehlen z. B. die künstlerische Bewegungserziehung, das kreative Gestalten, das transkulturelle Toleranztraining, der Öko-Führerschein, die Bläserklasse, die »Basiskompetenz Wirtschaft« und das Gender-Training. In Rostock, wo gerade an sieben Schulen im Fach »Hansa und ich« gelernt werden kann, ein guter Fußballfan zu werden, müsste man jetzt nochmal umplanen. Ganztagsschulforscherin Regina Soremski hat bereits 14 Wer sich einen Überblick über die Fülle an Ideen, Projekten und Konzepten in diesem Bereich verschaffen will, findet auf der offiziellen Ganztagsschul-Seite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (www.ganztagsschulen.org) und auf der Seite der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gGmbH (www.ganztaegig-lernen.de) eine kaum noch überschaubare Fülle an Projektfeldern in den Bereichen »Gesunde Schule«, »Berufsorientierung«, »Partizipation«, »Medienerziehung«, »Soziales Miteinander«, »Kooperation mit außerschulischen Partnern«, »Lernorganisation«, »Inklusion«, »Kulturelle Bildung« u.v.m.
44
Die Quadratur des Kreises
weitere Aufgabenfelder im Visier. Da in verschiedenen Studien gezeigt wurde, dass sich Jugendliche durch den Besuch der Ganztagsschule vielfach in ihrer freien Zeit beschnitten fühlen, müssten sie durch die Schule in ihrer selbstbestimmten und altersgemäßen Freizeitgestaltung und Lebensführung gefördert und darin angeleitet werden, mit den eigenen Ressourcen bewusst umzugehen: »Wenn also Freizeit mit freier Zeit konkurriert, dann brauchen Jugendliche ein kompetentes Freizeitmanagement«15 Eine Herausforderung seien für jugendliche Ganztagsschülerinnen und -schüler weniger die verlängerten Schulzeiten. Vielmehr komme es auf die Koordination der Aktivitäten und der Freizeit an, erklärt die Wissenschaftlerin. Man könnte auch sagen: Wenn die Ganztagsschule schon einen Großteil der Freizeit auffrisst, dann sollte man ihr gleich auch noch einen indirekten Zugriff auf den verbleibenden Rest einräumen, damit nur ja kein Teil des Lebens dem schulischen Zugriff entzogen bleibt. Wer jetzt noch moniert, es fehlten die regulären Schulstunden, dem sei der nächste Plan anempfohlen: Mo
Di
Mi
Do
Fr
7:50–8:35
Klassenleiterstunde
Englisch 1. FS
Deutsch
Rückenschule
Mathe
8:40–9:25
Mathe
Englisch 1. FS
Deutsch-Z
Kochkurs
Religion/ Ethik
9:25–9:40
PAUSE
9:40–10:25
Gesundheits Freifläche erziehung für Kirchen, Vereine, Musikschulen
Sport
Deutsch
Englisch 1. FS
10:30–11.15
Gesundheitserziehung
Sport-Z
Sport
Deutsch
Naturwissenschaft
11:30–12:15
Englisch 1. FS-Z
Projektarbeit
Selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten
Englisch 1. FS
Deutsch
12:20–13:05
Bewegte Schule
Projektarbeit
Selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten
Deutsch-Z
Musik
11:15–11:30
13:05–13:35
PAUSE
Mittagessen und PAUSE
15 Regina Soremski: Keine Zeit für Freizeit? Ganztagsschule im Alltag Jugendlicher. Gießen 2013, S. 23.
45
Die Quadratur des Kreises
Mo
Di
Mi
Do
Fr
13:35–14:20
Bildende Kunst
Deutsch-Z
Religion/ Ethik-Z
Erdkunde
PROJEKT Entdecke deine Stadt
14:25–15:10
Bildende Kunst-Z
Musik
Englisch 1. FS
Mathe-Z
PROJEKT Entdecke deine Stadt
15:15–16:00
Sport
Musik-Z
Mathe
Bildende Kunst
Klassenrat
16:00–16:30
PAUSE
16:30–17:15
Naturwissenschaft-Z
Erdkunde
Freifläche für Kirchen, Vereine, Musikschulen
Naturwissenschaft
Drogenprävention
17:20–18:05
Deutsch
Naturwissenschaft
Verkehrserziehung
Mathe-Z
Drogenprävention
18:05–18:35
Abendessen und PAUSE
18:35–19:20
PROJEKT Soziales Lernen
Anti-Mobbing- MethodenTraining training
Methodentraining
frei
19:25–20:10
PROJEKT Soziales Lernen
Anti-StressTraining
Mathe
Methodentraining
frei
20:15–21:00
Religion/ Ethik
Mathe
Englisch 1. FS-Z
Gewaltprävention
frei
frei
Wie gesagt, ein paar Wünsche sind immer noch offen. Sollte ein Kind gern Ballett, Theater oder Schach lernen, bliebe ja noch das Wochenende. Sollte sich die Meinung durchsetzen, dass es wertvoll sei, dass die Kinder auch Erfahrungen mit jüngeren Kindern, Erwachsenen oder Senioren sammeln, wird es bestimmt demnächst Schulstunden zum intergenerationellen Lernen geben. Und wer meint, 21:00 Uhr sei doch etwas spät, für den ließe sich alternativ ein Modell kreieren, das die Wochenenden mit einbezieht und manche Elemente als Blockseminare in die Ferien legt. Das käme auch den Bedürfnissen der Eltern entgegen, die ja teilweise am Wochenende arbeiten müssen und in den Schulferien ohnehin. Polemik? Eigentlich schon, aber erschreckend ist doch, dass ein Stundenplan wie der auf S. 41, den man noch vor wenigen Jahren ebenso für Polemik gehalten hätte, heute teilweise schon Realität ist. Es ist noch nicht lange her, da galt in deutschen Lehrerzimmern die sechste Stunde als weitgehend verlorene Unterrichtszeit in den jüngeren Klassen. Bis zur vierten Stunde lief es rund, danach ging die Konzentration merklich herunter. Heute muten wir gleichalt-
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Die Quadratur des Kreises
rigen Kindern nachmittags um vier Uhr noch zu, konzentriert dem Unterricht zu folgen. Haben sich die Kinder denn so geändert? Polemik ist unsere Schilderung auch insofern nicht, als hinter jedem einzelnen Projekt ein berechtigtes Anliegen steht. Kinder müssen eben nicht nur Deutsch und Mathe lernen, sondern auch miteinander umzugehen, sich im Straßenverkehr zurechtzufinden, zu kommunizieren und sich darzustellen, sie müssen ihre Umgebung kennenlernen und brauchen Zeit für freie Beschäftigung und sportliche Betätigung. Sie sollen lernen, am gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben teilzunehmen. Will Schule all diese Aufgaben gewissenhaft wahrnehmen, verlangt sie sich selbst mehr ab als einen Spagat: Entweder muss sie Abstriche machen an der regulären schulfachlichen Bildung oder sie muss die nicht fachlichen Kompetenzbereiche vernachlässigen. Die meisten Ganztagsschulen versuchen einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, indem sie die Modelle mixen: Ein paar Z-Stunden, ein paar Stillarbeitsphasen, ein paar Projekte und ein wenig Freizeitaktivität. Aber gemessen an der Erwartungshaltung können diese Konzepte nicht erfolgreich sein. Wer einen Schwerpunkt bildet mit Kochkurs und Gesundheitsschule, der kann nicht gleichzeitig die Methoden- und Sozialkompetenzen im Plan verankern und umgekehrt. Legt eine Schule Wert auf musikalisch-künstlerische Bildung, kann sie nicht gleichzeitig den Sport intensiv fördern. Je mehr Einzelelemente unter einen Hut gepackt werden, desto weniger nachhaltig wirken sie. Wer aber inhaltlich stimmige Schwerpunkte setzt, kann eben nur Teile des gesamten Spektrums abdecken. Aber im Prinzip müsste das gesamte Spektrum abgedeckt werden, wenn man ganzheitliche Bildung tatsächlich zum Maßstab machen möchte. Warum
Die Quadratur des Kreises
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gelingt dies in der Familie erfolgreicher als in den obigen Plänen? Die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Schulische Bildung bedarf der formalisierten Zielbestimmung und des konzeptionell durchgestalteten Lernwegs. Für schulische Erziehungsziele werden Programme und Konzepte ersonnen, die weitgehend unabhängig vom jeweiligen Lehrer umgesetzt werden können. Bildung und Erziehung funktionieren in der Schule eben nicht vorwiegend informell, sondern bedürfen des ausdrücklichen Auftrags, des formalen Rahmens aus Ort, Zeit, Ziel, Personen, Medien, Sozialformen usw. Eltern gehen mit ihren Kindern über die Straße und merken, welche Verkehrsregeln die Kinder verinnerlicht haben. Sie können »en passant« auf die Defizite eingehen, die gerade sichtbar werden, ohne eine ausdrückliche Verkehrserziehung durchzuführen. Vielleicht merken sie auch, dass sich ihr Kind bereits sehr geschickt im Verkehr verhält und brauchen gar nicht zu reagieren. Kein Lehrer spürt »en passant« die Verkehrskompetenz seiner 30 Schüler, und selbst wenn er es könnte: Schule erfordert ein deskriptiv normiertes Verfahren, das gewährleistet, dass alle nachher alle Regeln anwenden können, oder zumindest, dass sich niemand mit Hilfe eines Anwalts gegen angebliche Versäumnisse in der Verkehrserziehung zur Wehr setzt, wenn es doch einmal zu einem Unfall kommt. »En passant« lernt niemand in der Schule zu kochen, seine Umgebung zu erkunden usw. Alle Aktivitäten müssen erst einmal explizit ausformuliert und gerastert werden. Wer will, dass Kinder auf Bäume klettern, kann sie nicht einfach auf den Schulhof schicken. Er muss zunächst geeignete Bäume suchen, die TÜV-geprüft sind für Kinderklettern. Anschließend muss er mit den Kindern ein Kletter-Sicherheitstraining durchführen. Bevor der erste Baum bestiegen wird, braucht er die schriftliche Einverständniserklärung aller Eltern. Selbstverständlich müssen die Kinder Helm, Kletterschuhe und geeignete Kleidung tragen. Abstehende Kleidungsstücke stellen ein Unfallrisiko dar. Außerdem ist es wichtig, dass immer nur ein Kind pro Aufsichtsführendem klettert. Würde man also das Baumklettern im Stundenplan mit einer Wochenstunde einarbeiten, bliebe vermutlich pro Kind als Netto-Kletterzeit im Baum eine halbe Stunde pro Schuljahr. Natürlich ließe sich das Verfahren mit viel Mühe ein wenig optimieren, aber Fakt bleibt immer, dass der schulische Rahmen ein gewaltiges Drumherum erzeugt. Zu Hause entscheiden Eltern selbst, wie viel Baumklettern sie ihrem Nachwuchs zugestehen und unter welchen Rahmenbedingungen. Das Fehlen der vermeintlich professionellen Anleitung erweist sich im Endeffekt als Vorteil. Dies gilt für die allermeisten nicht fachgebundenen Kompetenzen. Selbst die dem klassischen Fachlernen noch am nächsten stehenden Methodenkompetenzen entwickeln sich viel eher in einem günstigen Umfeld von allein, als dass sie gemäß einem vorstrukturierten Modell von außen beigebracht werden.
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Die Quadratur des Kreises
Noch viel schwieriger gestaltet sich das Unterrichten von sozialen und kommunikativen Kompetenzen in der »professionell« geleiteten Großgruppe. Rollenspiele zur Verbesserung des sozialen Miteinanders sind zwar unter Umständen fruchtbare Lernfelder, aber sie bleiben eben Spiele. Demgegenüber erlebt das Kind, das ohne professionelle Leitung mit Geschwistern oder Freunden spielt, den sozialen Aspekt des Spiels durchaus als Ernst. Es lernt die »Sozialkompetenz« aus der »echten« Situation heraus. Dies ist natürlich viel effektiver, wenngleich dem direkten Einfluss der Erwachsenen entzogen. Es ist auch insofern keine »Kompetenz« im strengen Sinne, als sie sich vorformulierten Standards weitgehend entzieht. Eltern beobachten dadurch, dass sie ihre Kinder genau kennen, sehr präzise Stärken und Schwächen und können ganz gezielt gegensteuern, wenn sie z. B. merken, dass das Kind sich nicht gut konzentrieren kann, dass es zu wenig Bewegung hat, dass es sich schwertut, Kontakte zu knüpfen, dass es zu dominant auftritt, dass es zu aggressivem Verhalten neigt, dass ihm die intellektuellen oder vielleicht die künstlerischen Anregungen fehlen usw. Gewiss gibt es unterschiedlich aufmerksame Eltern, und gewiss werden hier auch viele Erziehungsfehler begangen. Aber der reflexartige Ruf nach professioneller Erziehung durch die Schule ignoriert, dass auch die beste Schule den Anforderungen unmöglich gerecht werden kann. Eltern können mit kleinen Maßnahmen, vielleicht auch einer kurzen verbalen Rückmeldung mehr erreichen als professionelle Programme, die für eine bunt gemischte Großgruppe konzipiert wurden. Die Schule von morgen – und insbesondere die Ganztagsschule – müsste Wege finden, wie sie klassische Erziehungsaufgaben mit dem Fachunterricht verknüpfen kann: Die Quadratur des Kreises im runden Quadrat.
6. Unternehmergeist
Unter Wirtschaftswissenschaftlern gilt als unzweifelhaft, dass die Stärke der deutschen Industrie nicht in den Großunternehmen, sondern im Mittelstand zu suchen sei. »Hidden Champions« nennt der Ökonom Hermann Simon die mittelständischen Weltmarktführer, von denen er inzwischen 2.734 auf einer globalen Liste gesammelt hat16. Von diesen Unternehmen stammten allein 1.307 aus Deutschland und diese stünden für ca. ein Viertel der deutschen Exporte. Ein Rekordwert auch im Verhältnis zur Einwohnerzahl: Deutschland habe 16 Hidden Champions auf eine Million Einwohner, in anderen großen Industriestaaten sind es signifikant weniger, in Frankreich z. B. 1,1, in den Vereinigten Staaten 1,2, in Japan 1,7. Diese Staaten hätten demgegenüber deutlich mehr Großunternehmen als Deutschland. Der Forscher glaubt, dreizehn Gründe für diese Ausnahmestellung Deutschlands gefunden zu haben, u. a. historische wie z. B. die Kleinstaaterei Deutschlands im 19. Jahrhundert. Er nennt das Beibehalten einer industriellen Produktionsbasis gegenüber anderen hoch entwickelten Staaten, die sich stark bzw. zu stark auf den Dienstleistungssektor konzentriert hätten. Er lobt die niedrigen Lohnstückkosten und die scharfe Konkurrenz, er erklärt das Phänomen anhand von Industrieclustern und Unternehmensclustern und führt geostrategische und mentale Ursachen an. Unter den Bildungsfaktoren zählt er die duale Berufsausbildung auf: »Dieses in der Welt einmalige System wird regelmäßig als eine der wichtigsten Ursachen der deutschen Wettbewerbsstärke genannt – mit Recht.« Ganz sicherlich liegt Simon mit seiner Beobachtung nicht falsch. Etwas unbefriedigend bzw. vordergründig scheint aber die Ursachenanalyse, etwa wenn er die »herausragende Innovationskraft« als einen der dreizehn Gründe ausmacht. Die Zahl der vom Europäischen Patentamt gewährten Patente pro Kopf sei in Deutschland auffallend hoch, viel höher als in Frankreich, Italien usw. Das stimmt wohl, aber ist das nicht ein Ergebnis, das zur Zahl der Hid16 Hermann Simon: Deutschlands Stärke hat 13 Gründe. In: FAZ vom 14. 10. 2012.
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den Champions einfach passt? Zu suchen wäre doch die gemeinsame Ursache für beide Phänomene. Wir können nicht das eine aus dem anderen erklären. Wir müssen vielmehr fragen, warum gerade in Deutschland innovatives Denken und erfolgreiches unternehmerisches Handeln so stark ausgebildet sind. Beides setzt ja in erster Linie Selbstständigkeit und Eigenverantwortung voraus. Wer ein mittelständisches Unternehmen leitet, trägt höhere Verantwortung und muss eigenständiger entscheiden, als derjenige, der in einem Großunternehmen eine vergleichbar große Abteilung leitet. Wer ein neues Produkt entwickelt, braucht Fantasie und einen langen Atem, eine spezifische Form des Selbstbewusstseins, die den Spagat zwischen Träumerei und realistischer Selbsteinschätzung leistet, die Fähigkeit eben, bodenständig visionär zu sein. In unseren Köpfen geistert noch das Bild des weltfremden, menschenscheuen Genies, ein etwas grüblerischer und skurriler Kauz, der tagein tagaus in seiner Werkstatt bei Kerzenschein vor sich hin brütet, besessen von einer fixen Idee, in deren Realisierung er seinen Lebensinhalt sucht, hoch verschuldet und immer auf der Suche nach einem Mäzen, der an ihn glaubt, so wie er selbst es tut. Solcherlei romantisierende Bilder vom Erfinder sind in Bezug auf die heutige Gesellschaft anachronistisch. Wahrscheinlich stimmen sie nicht einmal in Bezug auf die großen Erfindergestalten des 19. Jahrhunderts, die der Menschheit das Auto, das Flugzeug, das U-Boot oder den Kunstdünger geschenkt haben. Ein Funken Wahrheit ist im Klischee aber doch enthalten. Innovationskraft erfordert zumindest die Fähigkeit, sich ganz zu fokussieren, auszublenden, sich an einem Problem festzubeißen, ein Anti-ADS-Syndrom. Klar ist, dass solche Persönlichkeitsstrukturen nicht nach Plan gezüchtet werden können. Ob Projekte wie »Forscher-Zwerge« oder »Schüler-Uni« eher förderlich oder eher kontraproduktiv sind, mag dahingestellt bleiben. Neugierde und Forschergeist sind bei Kindern ohnehin vorhanden und müssen nicht erzeugt werden. Vielmehr gilt es, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, dass außergewöhnliche Neigungen und Begabungen auch ausgelebt werden können. Hier muss die Ganztagsschule fast notwendigerweise versagen. Schon etablierte Projekte wie »Jugend forscht« und »Schüler experimentieren« lassen sich in einen GTS-Alltag schwer integrieren. Trafen sich in der klassischen Halbtagsschule nachmittags Kinder und Lehrer zu gemeinsamen Forschungsprojekten nach freiem Entschluss, ohne festen Zeitrahmen und häufig mit einer großen Portion Idealismus bei allen Beteiligten, so zwingt die Ganztagsbetreuung automatisch zu größeren Gruppen, verbindlichen und engen Zeitrastern und zu niederschwelligen Angeboten. Der Betreuungsaspekt dominiert zwangsläufig. Einzelwege sind nicht vorgesehen und stören den Gesamtablauf.
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Die pädagogisch sinnvollste Art des Forschens und Entwickelns, nämlich die ganz ohne äußeren Impuls und didaktische Anleitung, ist in der Schule komplett unmöglich, die GTS engt den hierfür erforderlichen zeitlichen Freiraum weiter ein. Gewiss ist es ohnehin nur eine kleine Gruppe von Kindern, die nachmittags am liebsten Fahrzeuge konstruieren, Schaltkreise löten oder einen Roboter programmieren, aber wir brauchen ja auch kein Millionenheer von Forschern. Für die Gesellschaft – und insbesondere für unsere Gesellschaft – ist wichtig, dass diejenigen, bei denen sich eine entsprechende Neigung und Begabung findet, nicht in nivellierender Nachmittagsbetreuung zermürbt werden, bis aller Forschergeist abgestorben ist. Was soll es in der Schule groß zu forschen, zu entdecken geben? Alle Materialien sind vorsortiert, auf ihre Schultauglichkeit hin dreifach getestet. Absurd schon die Vorstellung, man könne sich einfach im Schulkeller ein paar Bretter und Nägel holen und ausprobieren, etwas daraus zu bauen. Woher das Werkzeug nehmen? Verletzungsgefahr! Aufsichtspflicht! 45-Minuten-Takt! Man kann nun lamentieren über die Unbeweglichkeit der Institution Schule, die Freiräume nicht einrichten kann. Man kann träumen, dass sich die Ganztagsschulen bald verwandeln werden und auf wunderbare Weise ausgedehnte Frei- und Lernräume schaffen. Statt nach modernen »Lernwerkstätten« zu rufen, sollte man besser realistisch sehen, dass ernst gemeinte Forscherfreiheit im Grundsatz einfach schwer kompatibel ist mit Schule, die nun einmal auf eine gänzlich andere Form des Lernens ausgerichtet ist. Viele große Forscher haben in der Schule versagt oder sind dort zumindest nicht positiv aufgefallen. Das darf nicht nur als Kritik an der Schule gedeutet werden, das kann auch positiv interpretiert werden: Auch wer in der Schulwelt nicht geglänzt hat, kann es im Leben zu etwas bringen. Ähnlich verhält es sich mit jenen Fähigkeiten, die man braucht, um ein Unternehmen erfolgreich zu führen: Unbestritten ist hierbei eine fachliche Qualifikation vonnöten, und in diesem Feld ist Schule in jedem Fall gefordert. Darüber hinaus bedarf es aber eines Bündels an Eigenschaften, die sich schwerlich nach Lehrplan antrainieren lassen. Initiativkraft und Verantwortung sind die Schlüssel, um einen Betrieb aufzubauen und erfolgreich zu managen, ebenso die Bereitschaft zum Risiko. Wer ein Unternehmen führt, und sei es auch nur ein kleines Handwerksunternehmen, trifft täglich unzählige Entscheidungen, die keine andere Instanz mehr verantwortet oder korrigiert. Ein BWL-Studium mag fachliche Grundlagen vermitteln, aber gewisse charakterliche Eigenschaften können nicht schulisch oder universitär gelehrt und schon gar nicht abgeprüft werden. Marion Gräfin Dönhoff, die nach einer spektakulären Flucht 1945 aus ihrer Heimat Ostpreußen in Hamburg die Wochenzeitschrift »DIE ZEIT« mit auf-
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baute, erzählt in ihrer Autobiografie Kindheit in Ostpreußen17 von den Lebensumständen in ihrer alten Heimat. In mancherlei Hinsicht kann ihre Kindheit auf Schloss Friedrichstein nicht gerade als typisch für ihre Generation gelten, die zwei Weltkriege, die Krisen der Weimarer Zeit, die NS-Diktatur und das Chaos der Nachkriegszeit miterleben musste. Aber gewisse Grundhaltungen waren doch für größere Bevölkerungsgruppen und einen längeren Zeitraum symptomatisch, weit über das »gräfliche« Umfeld hinaus: Verantwortung zu tragen, das wurde uns nicht gepredigt, das ergab sich einfach in der Gemeinschaft. Unsere Spielgefährten waren die Dorfkinder, und es war klar, dass wir es waren, die für zerbrochene Fensterscheiben oder abhanden gekommenes Werkzeug die Schelte bekamen – dafür sorgten schon die Handwerker, die keineswegs glimpflich mit uns umgingen. Petzen, sich drücken, einwenden, das waren nicht wir, das war der und der, das wäre ganz gegen unsere an Karl May geschulten Begriffe von Edelmut und Fairness gewesen. Wir waren es, und damit basta. Und da einer von uns auch meist der Anführer war, verstand sich das von selbst18. Auffallend, dass sich die sozialen Schichten, die ja damals schärfer ausgeprägt waren als heute, in der Lebenswelt der Kinder verwischen. Auffallend auch, dass Eltern, Erwachsene, Schule unsichtbar sind: Wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen, dass ich weder von den Eltern noch von den häufig wechselnden Erzieherinnen Wesentliches gelernt habe, sondern eigentlich nur durch die Atmosphäre des Hauses und auch von den Leuten, zwischen denen sich unser Leben abspielte; denn natürlich entwischten wir unseren Aufsehern, sobald sich das irgend machen ließ, und liefen in die Tischlerei, den Pferdestall oder die Gärtnerei, wo es viel interessanter war als im Schloss19. Bezeichnend, dass die Kinder ihrer Erzählung immer wieder aus der unmittelbaren Aufsicht der Erziehungsverantwortlichen ausbrechen, um entweder allein unter sich zu sein, oder um Kontakt aufzunehmen mit der ungefilterten Welt des Dorfes, mit der Arbeitswelt, mit der Natur. Man liest von nächtlichen Pferdeausritten oder von »Einbrüchen« im Gewächshaus, alles natürlich ohne Wissen bzw. 17 Marion Gräfin Dönhoff: Kindheit in Ostpreußen. Berlin 21991. 18 Ebd., S. 75. 19 Ebd., S. 76.
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gegen die ausdrückliche Anweisung der Erwachsenen. Als Leser von heute findet man sich selbst mit seiner eigenen Kindheit sofort in den Geschichten wieder, auch wenn man nicht in einem Schloss geboren wurde. Das Verbindende ist der ganz normale kindliche Impuls, die Welt selbst zu entdecken und zu erforschen. Dass dabei auch die ein oder andere Gefahrensituation entsteht (bei Marion Dönhoff etwa löst sich beim »Spiel« mit einem Gewehr einmal gefährlich ein Schuss), stärkt das Selbstbewusstsein von Kindern insofern, als sie deutlich merken, wie sich ihr Verhalten auswirkt bzw. auswirken kann. In dem Moment, wo sie der Aufsicht entzogen sind, müssen sie selbst entscheiden, was sie tun, und auch selbst Verantwortung dafür tragen, so wie sie auch selbst die moralischen Normen setzen, die für ihr Tun von Bedeutung sind. Ganz selbstverständlich gestalten die Kinder ihre Zeit in Eigeninitiative, immer auf der Suche nach der Grenze, die ihnen von Erwachsenenseite aus gesetzt wird. Es gibt kein pädagogisches Programm oder Kompetenzentwicklungskonzept, das ihnen übergestülpt wird. Vermutlich war es u. a. auch diese Kindheit, die die Gutsbesitzerin nach Krieg, Flucht und Heimatverlust dazu befähigte, ganz neu anzufangen: als Journalistin, Publizistin, Herausgeberin. Ähnlich wie Marion Dönhoff wurde eine ganze Generation durch Krieg, Zerstörung und Vertreibung in völlig neue Lebenszusammenhänge und Aufgaben hineingestoßen. Symptomatisch sind die Trümmerfrauen, die – im völligen Kontrast zum damaligen Rollenklischee – nach 1945 Deutschland buchstäblich wieder aufbauten. Genauso kann man die Klein- und Kleinstunternehmer nennen, die in den sogenannten Wirtschaftswunderjahren nach 1945 einen Anfang wagten. Wo kamen sie alle her, die Unternehmer und Erfinder, die kaum eine ordentliche Schulzeit hinter sich hatten, geschweige denn eine richtige Berufsausbildung oder ein Hochschulstudium? Sie waren keine Forscher-Zwerge und besuchten nicht die »Kinder-Uni«. Sie genossen kein Methoden-, Sozial- oder Selbstkompetenztraining. Im Endeffekt ruht noch die heutige Gesellschaft auf dem ökonomischen Fundament, das damals gelegt wurde. Es spricht vieles dafür, dass der Zusammenhang zwischen einer vergleichsweise großen Portion Freiheit und Verantwortung im Kindesalter und einem an den Idealen Selbstständigkeit, Unternehmertum, Innovation ausgerichteten Wirtschaftsklima nicht zufällig sind. Hermann Simon, der Erforscher der »Hidden Champions«, konstatiert für Österreich ähnliche Rekordwerte wie für Deutschland. In beiden Ländern aber waren Ganztagsschulen bis vor wenigen Jahren Randphänomene. Kindheit gestaltete sich lange Jahre sehr ähnlich wie zu Marion Dönhoffs Zeiten mit strengen, aber meist abwesenden Autoritäten in Elternhaus, Schule, Kirche. Sie schauten nicht zu, wenn Kinder sich ihre Welt eroberten.
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Ein erster größerer Umbruch bezüglich der Freiheit kindlicher Lebenswelten kommt ausgerechnet in jenen Jahren, in denen die äußeren Autoritäten allmählich bröckeln, also ab den späten 1960er-Jahren. Je unverbindlicher der moralische Rahmen wurde, je liberaler die Gesellschaft wurde, desto stärker – so könnte man folgern, auch wenn es widersprüchlich scheint – wurde das Bedürfnis nach Kontrolle der Heranwachsenden. An die Stelle von freiem Spiel und unverplanter Zeit traten allmählich gezielte Förderung, »sinnvolle« Freizeitgestaltung, gelenkte Kontakte. Die Terminkalender der Kinder wurden voller, der effektive Freiraum wurde geringer. Diese zunächst noch sehr zaghaft wirksamen Verschiebungen bekommen jetzt durch die Ganztagsschulbewegung noch einmal eine völlig neue Qualität. Die Rundumbetreuung erstickt kindlichen Forscherund Unternehmergeist. Sie lähmt die Eigeninitiative und die Neugierde auf die Welt. Wird die heute in staatlichen Einrichtungen heranwachsende Generation genauso in der Lage sein, das eigene Leben in die Hand zu nehmen wie die Generationen davor? Passt nicht zu einer Kinderwelt, die in Ganztagsbetreuung von Krippe, Kindergarten und Schule durchgehend fremdgesteuert wird, auch ein Wirtschaftsklima, das in Großunternehmen Freiheit und Verantwortung immer nur scheibchenweise einräumt? Passt zur sozialisierten Kindheit nicht im Endeffekt die planwirtschaftliche Staatswirtschaft, der unternehmerisches Denken und Handeln suspekt ist und die das Individuum normiert? Interessant ist die Beobachtung, dass Österreich wie Deutschland zu den großen PISA-Verlierern zählen. Warum schneiden jene Länder bei PISA vergleichsweise schlecht ab, deren Innovationskraft im außerschulischen Bereich, also im »echten« Wirtschaftsleben, so exzellent abschneidet? Wurde da vielleicht bei PISA etwas gemessen, das für den tatsächlichen Erfolg der Jugendlichen im späteren Berufsleben gar nicht zentral ist? Unter Bildungsforschern macht sich vermehrt Kritik an den Aufgabenformaten von PISA breit, die zwar vorgeben, problemorientiertes Denken zu messen, aber offenbar doch vor allem jene prämiieren, die besonders gut trainiert sind, bestimmte Aufgabentypen zu lösen. Der perfekte Aufgabenlöser ist aber keineswegs der perfekte Unternehmer, zu dessen Selbstverständnis es gehört, dass es niemanden gibt, der ihm die Aufgaben stellt. So gesehen lässt der Zustand unserer Schulen durchaus hoffen. Erich Sixt, einer der erfolgreichsten Unternehmer Deutschlands, äußert sich im FOCUS kritisch zum Bildungssystem20. Frage: »Gibt es in Ihrem Unternehmen Leute, die Ihnen sagen können, dass Sie falsch liegen?« Antwort Erich Sixt: 20 FOCUS Magazin Nr. 44 (2010) vom 30. 10. 2010: »No Risk, no Fun!« Deutschlands Autovermieter-König Erich Sixt über die neue Wirtschaftseuphorie, fehlgeschlagene Geldanlagen und warum er die Erziehung in Kindergärten als Affenzirkus sieht.
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»Natürlich. Ich würde mir aber viel mehr solche Menschen wünschen. Wir haben jedoch in Deutschland das Problem, dass wir erzogen werden zu funktionieren. Wir werden vom Kindergarten an dressiert wie die Affen. Wir sollen Gemeinschaftswesen sein, uns eingliedern und bloß nicht rebellisch werden. […] Wer noch nicht im Kindergarten weichgekocht wurde, wird es in der Schule oder spätestens an der Uni.« Sixt selbst hat sein BWL-Studium nach vier Semestern abgebrochen, das väterliche Kleinunternehmen übernommen und innerhalb weniger Jahre zu einem der größten Autovermieter der Welt aufgebaut. Er hat etwas aufgebaut und weiterentwickelt auf der Basis der eigenen Unternehmerpersönlichkeit, nicht auf der Basis antrainierter Kompetenzen. Zur Selbstständigkeit gehört vor allem die Freiheit. Freiheit lässt sich nicht antrainieren. Zur Freiheit gehört auch die Risikofreude oder – wie Erich Sixt es sagt – die »Abenteuerlust«. Kinder werden ihn verstehen, zumindest diejenigen, die noch ihre Freiheit genießen können. In der vergleichsweise großen Freiheit der Kinder liegt ein wichtiger Grund für den vergleichsweise großen Erfolg des Mittelstandes hierzulande. Denkt man die Kritik von Erich Sixt am deutschen Schulsystem konsequent weiter, müsste man fordern: Weniger Schule statt Ganztagsschule! Interessant in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung, dass Frankreich (anfangs übrigens einer der PISA-Gewinner) in der Liste der Hidden Champions weit abgeschlagen hinter Deutschland und Österreich liegt. Die traditionell tief verwurzelte Ganztagsschule unseres westlichen Nachbarn korrespondiert offensichtlich mit einer anders gearteten Unternehmenskultur: viele sehr große Betriebe, häufig staatsnah in der Wirtschaftsweise, strenge Hierarchien und wenig Innovationskraft. Kein Wunder, mag man denken: Wer in Kindheit und Jugend beständig aufgefordert wird, sich zu assimilieren, in der Gruppe zu »funktionieren«, gestellte Aufgaben zu bewältigen, der wird auch später eher einen Arbeitsplatz wählen, in dem er in einem klar umrissenen Aufgabenfeld und in geregelter Arbeitszeit vordefinierte Aufgaben erledigt. Ab einer gewissen Größe nähern sich Unternehmen in ihrer Betriebskultur planwirtschaftlich arbeitenden Organisationen an, nicht nur in Frankreich. Je mehr hierarchische Ebenen vorhanden sind, desto stärker schwinden in der Mitte des Betriebes Verantwortungsgefühl und Unternehmergeist. Querdenker und Sonderlinge werden als störend wahrgenommen, herausragend gute ebenso wie herausragend schlechte Mitarbeiter. Und ähnlich funktioniert es ja auch in der Schule.
7. Schule als Medienwelt
Die »Medienwelt« dient in der Pädagogik traditionell als Sündenbock. Prinzipiell wird ihr Einfluss auf die körperliche, geistige und emotionale Entwicklung als negativ bewertet. Manche Kinder sitzen den ganzen Tag vor Fernseher und PC. Ihnen fehlt nicht nur Bewegung. Sie tauchen tief ein in künstliche Scheinwelten, bis sie nicht mehr zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden wissen. Sie setzen sich negativen Einflüssen aus, seien sie gewaltverherrlichend, pornografisch oder politisch-extremistisch. Bei jedem Amoklauf suchen ausgerechnet die Medien reflexartig nach negativen Medieneinflüssen beim Täter: Welche PC-Spiele hatte er auf dem Rechner, welche Filme hat er angeschaut, welche Musik hat er gehört? Zum Amokläufer wird man nicht geboren, auch nicht zum Drogendealer, Neonazi und Gewaltverbrecher. Woher also kommen die negativen Einflüsse, wenn nicht aus den Medien? Auch minder schwere Laster und Unarten werden den Medien zugeschrieben. Unerwünschte Vorurteile und Stereotype reproduzieren sich im Werbefernsehen, in Vorabendserien und scheinbar harmlosen Videoclips. Ob Machogehabe, unangemessener Kleidungs- und Sprachstil, Essstörung, Kaugummikauen usw.: Was ließe sich nicht alles den Medien anhängen, die mit schlechten Vorbildern die junge Generation verderben. So nachvollziehbar die Argumente im Einzelfall sein mögen, so problematisch ist gerade aus Schulsicht heraus eine allgemeine Medienschelte, ist Schule doch letztlich selbst nichts anderes als ein ein Medium bzw. Medienpaket. Dies gilt für die im Unterricht eingesetzten Medien selbst, wie z. B. Tafel, Projektor, PC, Whiteboard, Plakate, Bilder, Filmausschnitte, Hörbeispiele usw. Es ist gedanklich zu trennen, ob nur die Inhalte bestimmter Medien (so genannten Ballerspiele, Castingshows, pornografische Websites …) oder der mediale Vermittlungsweg an sich zu kritisieren sind. Da die Inhalte in der Schule sorgfältig auf ihre Korrektheit in jeglicher Hinsicht geprüft werden, müsste die Frage also verstärkt das Mediale selbst in den Blick nehmen: Ist der Einsatz eines Mediums positiv, neutral oder negativ zu bewerten? Grundsätzlich wäre dann zu fragen, welchen Unterschied es eigentlich ausmacht, an einer Sache direkt zu lernen, also medienfrei, oder über die Sache, also durch Medien. Wird bei-
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spielsweise die Schnecke im Biologieunterricht thematisiert, wäre zu überlegen, ob jeder Schüler eine Schnecke selbst mit allen Sinnen untersuchen darf: Er darf ihr zuschauen, ihr zuhören, er darf sie anfassen, an ihr riechen und er darf sie schmecken. Nein! Das geht wohl zu weit, oder nicht? Man stelle sich das Geschrei vor, wenn einer wirklich zubeißen würde. Dazu kommen die praktischen Probleme: Wo sollen die ganzen Schnecken überhaupt herkommen? Und wo sollen sie nach der Biostunde hinkommen? Was machen mit all dem Schneckenschleim auf den Bänken. Dafür müssen auf jeden Fall ein paar Minuten Unterrichtszeit eingeplant werden. Besser schon, es gibt nur eine einzige Schnecke vorne auf dem Lehrerpult. Jetzt kann kontrolliert werden, welche Sinneswahrnehmung erwünscht ist und welche nicht. Die meisten Biostunden über die Schnecke kommen ohne echte Schnecke aus, allein schon, weil es weniger umständlich ist. Fotos, Filmsequenzen, Texte und Schaubilder sind nicht nur pflegeleichter, sie haben außerdem den Vorteil, dass sie genau jene Informationen liefern, die aus fachlicher Perspektive wichtig sind. Den Muskelaufbau und die Fortbewegung kann ich bei sehr guter Beobachtung der lebenden Schnecke vielleicht noch erahnen. Wie ist es aber mit den Verdauungsorganen und der Fortpflanzung? Der Lehrer kann schlecht so lange warten, bis seine Schnecken beginnen, sich zu paaren. Ein Unterricht konsequent ohne Medien ist eigentlich kaum denkbar. Was bei der Schnecke vielleicht noch realisierbar scheint, scheitert spätestens beim Krokodil. Oder man stelle sich einen Geschichtsunterricht vor, der die athenische Demokratie aus originalen Quellen rekonstruieren wollte, oder einen Erdkundeunterricht, der ohne Medien die Ozonschicht, die Plattentektonik oder die Klimazonen darzustellen versucht. Nichtsdestotrotz bleibt die vage pädagogische Forderung im Raum stehen, möglichst viele originale Sinneseindrücke zu ermöglichen: Eine einzelne echte Schnecke sei immer noch besser als gar keine. Ein Quellentext in Geschichte gilt – auch wenn er transkribiert, übersetzt und neu formatiert ist – immer noch als pädagogisch wertvoller gegenüber einem darstellenden Text des Schulbuchautors. Kinder und Jugendliche – so das landläufige Credo – brauchen möglichst viele direkte Lernerfahrungen, reale Sinneseindrücke, von Medien unverzerrte Bilder, Geräusche und Gerüche. Aus diesem Grund werden in den Naturwissenschaften Experimente durchgeführt, machen Sprachlehrer Exkursionen in die jeweiligen Länder, besuchen Sozialkundelehrer eine Parlamentssitzung, ein Verwaltungsgericht oder ein Gefängnis. Dennoch ist die Primärerfahrung im schulischen Kontext fast immer als Sonderfall zu werten, der vom Lehrer einen weitaus höheren Vorbereitungsaufwand erfordert, der Verzögerungen auf dem Weg zum Lernziel beinhaltet, der für Motivation, aber auch für Unruhe und Zeitverlust sorgt. Schule ist eigent-
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lich ein Ort, der für mediales Lernen wie geschaffen scheint. Schon die alten Klosterschulen verfügten über veranschaulichende Hilfsmittel wie die Guidonische Hand, ein Hilfsmittel zur Orientierung im Tonsystem und beim Erlernen von Chorälen. Jedes Schulmuseum zeigt alte Wandkarten und -tafeln, auf denen Ländergrenzen oder heimische Waldtiere dargestellt sind. Schulbücher – im Endeffekt nichts anderes als große Mediensammlungen – lassen sich kaum wegdenken aus dem Unterricht. Schule steht also im Spagat zwischen der Forderung nach Medienverzicht oder Medienreduktion auf der einen Seite und dem hilfreichen bzw. unentbehrlichen Nutzen gezielten Medieneinsatzes im Dienste des schnellen Lernerfolgs. Medienverzicht stößt nicht nur an praktische Grenzen, sondern auch an eine entscheidende theoretische Hürde: Selbst wenn es dem Lehrer gelingen würde, 30 Schnecken in seinem Unterricht kriechen zu lassen, wäre der Lernraum Schule immer noch als Medium anzusehen. Wie ein Programmleiter im Fernsehen entscheidet die Institution Schule darüber, womit sich die Kinder wann auseinanderzusetzen haben. Sie will festlegen, welche Erfahrungen wesentlich und wünschenswert sind und welche besser nicht gemacht werden. Das »Medium« (lat. »Mitte«, »Mittelpunkt«) steht zwischen dem Gegenstand und dem Rezipienten »in der Mitte«, es schiebt sich dazwischen und steuert den Informationsfluss. Das Medium filtert, kanalisiert, fokussiert bestimmte Teilphänomene, auf die es ankommt. Dadurch entsteht eine Abhängigkeit des Rezipienten vom Medium. Wer etwas über das Verdauungssystem der Schnecke erfahren will, studiert das Schaubild oder liest einen Text, oder er lässt es sich vom Lehrer erklären. Der Lehrer ist dann selbst das Medium, ob er will oder nicht. Kein Schüler hat eine realistische Chance, selbst aufgrund seiner Beobachtung am lebenden Tier das alles herauszufinden. Daraus ergibt sich, dass medial vermitteltes Wissen grundsätzlich noch kein Negativum darstellt. Im Lernraum Schule gilt sogar im Gegenteil, dass mediales Lernen notwendigerweise den Kern des Lernens ausmacht. Ein Unterricht ganz ohne Medien ist theoretisch wie praktisch eine Illusion und zudem nicht wünschenswert. Eine bewusste Reduktion des Medieneinsatzes kann unter Umständen sinnvoll erscheinen, ist aber mit erhöhtem Aufwand und geringerem Lernertrag verbunden. Zum Problem wird der mediale Charakter der Schule erst durch die Ganztagsschule. Jetzt spielt sich nahezu der gesamte Tagesablauf in der medialen Cyberworld Schule ab. Kinder spüren intuitiv, dass die Erfahrungen im Klassenraum keine »echten« Lebenserfahrungen sind. Auch das sinnenreichste Experiment stellt eine inszenierte Wirklichkeit dar: intentional hergestellte Realität im Dienste des Lernfortschritts. Im erlebnispädagogisch gestalteten Umfeld wird
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dieser Inszenierungscharakter etwas vertuscht, aber Schule bleibt eine Inszenierung, so wie eine Talk- oder Realityshow im Fernsehen eine Show bleibt, auch wenn sie als »Realität« erscheinen möchte. Kinder spüren den Unterschied zwischen der »echten Welt« und der »Schulwelt«. Als Erleichterung empfinden sie es, wenn die »echte« Wirklichkeit sich unerwartet bemerkbar macht. Wer einmal das Glück hatte, eine Schulklasse zu beobachten, wenn ungeplant eine Schnecke im Klassenraum sitzt, versteht leicht den Sinn dieser Aussage. Wenn vor dem Fenster ein großer Kran aufgebaut wird, ein Schwarm Wildgänse vorbeizieht oder ein Unfall passiert, bringt selbst der strengste Lehrer keine Disziplin in die Gruppe. Die Wirklichkeit streckt ihre starken Hände in den Klassenraum, und keiner kann sich ihrer Kraft entziehen. Das Schreien eines Babys im Kinderwagen draußen vermag die Aufmerksamkeit mehr zu fesseln als der Verwandtenmord im Drama von Sophokles oder die Kesselschlacht von Stalingrad. Für Kinder findet das »echte Leben« außerhalb der Schule statt. Das gilt in gewisser Weise auch für ihr soziales Verhalten, das unter der Aufsicht der Erziehungsanstalt anderen Regeln gehorcht als denen außerhalb der Schule. Schule greift extrem in das Leben der Kinder und Jugendlichen ein, schon allein indem sie die sozialen Gruppen, die Schulklassen, nach Alter, Leistungsstand und darüber hinaus noch nach zufälligen Faktoren vorsortiert. Wer sitzenbleibt, gehört nicht mehr dazu. Wer in Klasse a eingeschult ist, kann den Tag nicht mit Kindern aus Klasse b verbringen. Hinzu kommt die Sitzordnung im Klassenraum, die nur sporadisch aufgelöst wird. Die Entscheidung, wer wann mit wem zu tun hat, trifft nicht das Kind, sondern das schulische Umfeld. Auch während des Unterrichts wird festgelegt, ob eine Arbeit allein, als Partnerarbeit oder in der Gruppe zu erledigen ist. Schule strukturiert die sozialen Kontakte äußerlich, formal und auch inhaltlich, soweit sie es eben hinbekommt. Sie zwingt zur Zusammenarbeit, erlaubt oder verbietet verbalen Austausch und andere Kommunikation, schlichtet Streit, sorgt im Einzelfall auch für Distanz. Zusammengefasst: Sie wirkt als Mittler des sozialen Miteinanders, also als Medium. Das ist kein Mangel oder Fehler. Im klassischen Halbtagsschulwesen beginnt mittags die Zeit, in der das Kind selbst wählen kann, ob es allein bleiben will oder sich mit einem oder mehreren anderen trifft. Jetzt entstehen ganz andere soziale Gruppierungen, die die Kinder selbst organisieren müssen und deren Relevanz in den allermeisten Fällen als sehr viel höher erlebt wird. Sozialwissenschaftler sprechen hier von Peergroups. Freundschaften werden vielfach in der Schule angeknüpft, aber so richtig entwickeln sie sich erst außerhalb. Altersgrenzen werden teilweise überwunden, ebenso auch Fragen der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Die soziale Interaktion findet unter Ausschluss ordnender Instanzen statt. Dadurch erst
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kann sich echte Verantwortung für das eigene Tun entwickeln. In der Schule gibt es ständig einen Schiedsrichter, eine letzte Instanz, die moralisch und auch formal die Verantwortung für das Ganze trägt. In ihrer freien und unbeaufsichtigten Zeit sind die Kinder selbst verantwortlich. Hier müssen sie allein ihre Konflikte managen. Hier müssen sie selbst das Urteil über richtiges und falsches Verhalten fällen. In Bezug auf die Lern- und Sinneserfahrungen in der Zeit außerhalb der Schule gilt dasselbe wie für die sozialen Kontakte. Erst durch die unverstellte Begegnung mit den Phänomenen des Lebens erhalten diese ihre Relevanz. Der Biologieunterricht vermittelt vielleicht die genaue Kenntnis des Verdauungssystems einer Schnecke, aber die »echte« Schnecke trifft man nachmittags im Garten oder im Park. Niemand gibt mehr vor, welche Aspekte der Schnecke wichtig sind, auch nicht die Sinneswahrnehmungen, die erlaubt sind. Interessant wird die Schnecke nicht als Gegenstand des Unterrichts, sondern aufgrund der Primärerfahrungen. Vielleicht ist im Garten der Salat angefressen, oder der Anblick der vielen Schnecken auf regennassem Boden erzeugt einen gewissen Ekel. Wer Lust verspürt, die Schnecke herunterzuschlucken, hat die Freiheit es zu tun. Nicht wenige Erwachsene erinnern sich zumindest an herunterge-
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schluckte Regenwürmer. Die einen taten es aus Neugierde, andere als Mutprobe, andere für eine Mark oder einen Euro. Sind das pädagogisch wertvolle Erfahrungen? Sie sind es dadurch, dass sich in der Freiheit der Entscheidung zugleich der Wille manifestiert, die Konsequenzen für das eigene Tun zu übernehmen. Die »echte« Umwelt reagiert sofort auf das Verhalten des Kindes, sowohl die tote Materie als auch die Natur und erst recht die Mitmenschen, mit denen die Kinder zu tun haben. So baut sich Schritt für Schritt das kindliche Realitätsempfinden auf. Die eigene Person wird als agierende Kraft erlebbar. Weniger harmlos als Schnecken und Regenwürmer sind beim Verschlucken Tollkirschen, Eibensamen oder Putzmittel. Aus gutem Grund findet man keinen Tollkirschenbaum auf einem Schulhof. Der Hausmeister tut gut daran, seine Reinigungsmittel sicher zu verstauen. Gefahrenvermeidung in der Schule geht so weit, dass Mobiliar und weitere Einrichtungsgegenstände einer noch strengeren Sicherheitskontrolle ausgesetzt werden, als dies in der industriellen Produktion ohnehin schon geschieht. Kippsicherheit, Bruchfestigkeit, abgerundete Kanten überall. Auch die Fenster lassen sich in der Regel nur so weit öffnen, dass niemand aus Versehen herausfallen kann. Der »Lebensraum« Schule wird so gründlich wie möglich von allen Lebensrisiken befreit. Das ist auch völlig verständlich. Die jugendliche Freude an Gefahr und Risiko kann dadurch aber nicht erstickt werden. Es gibt einen gewissen Reiz, eine Tollkirsche in den Mund zu nehmen und wieder auszuspucken, ein Geldstück vor dem heranbrausenden Zug auf die Schienen zu legen, um es im plattgefahrenen Zustand als Beweis des eigenen Mutes herumzuzeigen, mit dem Fahrrad freihändig einen Berg herunterzufahren: Alles pädagogisch fragwürdige Verhaltensweisen, die kein Lehrer der Welt seinen Schülern auftragen würde. Aber dennoch gehörten oder gehören sie zu einer gesunden Entwicklung mit dazu. Ihr Wert erschließt sich aus der Tatsache, dass sich in der Auseinandersetzung mit der Gefahr ein realistisches, weil an der Realität ausgebildetes Selbst- und Weltkonzept entwickelt. Demgegenüber finden die schaumstoffgepolsterten Wände so manch einer Kita ihre Fortsetzung in gefahr- und keimfreien Kunstwelten von Schule und Schulhof: Eine durchdesignte Lernlandschaft bis in die sozialen Kontakte hinein. Je mehr Schule die Erlebniswelt der Kinder und Jugendlichen in brauchbare und unbrauchbare Erfahrungen sortiert, desto mehr wird sie zum Medium zwischen Kindern und Welt. Sie wird zur Kunstwelt, in die die Kinder eintauchen. Und im schlimmsten Fall können sie nicht mehr unterscheiden zwischen der virtuellen Schul-Welt und der echten Welt. Eine Schule, die von den Kindern als Lebenswelt akzeptiert wird, mag für manchen Pädagogen ein Traum sein, aber eher ist sie wohl ein Albtraum.
8. Leben im »Ghetto«
Wenn Schule sich als Lebenswelt zwischen die Kinder und die Realität schiebt, erzeugt das im Umkehrschluss die Situation, dass der ursprünglichen Lebenswelt mehr und mehr die Kinder entzogen werden. Dass Kinder zunehmend aus dem Straßenbild und dem alltäglichen Leben verschwinden, hat allerdings noch weitere Ursachen. Zum einen spielt die demografische Situation eine große Rolle. Je weniger Kinder es gibt, desto geringer muss notgedrungen ihr Anteil am alltäglichen Mix der Generationen sein. Zum anderen treten Kinder heute wesentlich seltener im öffentlichen Raum auf, da die Bedingungen sich sehr verändert haben. Nicht nur Fernseher, PC, PlayStation usw. stehen zur Verfügung. Auch das Platzangebot zu Hause hat sich zumindest im Durchschnitt sehr ausgeweitet. Früher gingen Kinder auch deshalb auf die Straße, weil man sich im Haus nicht gut aufhalten konnte. Draußen hatte man Raum, seine Ruhe und seine Freunde. Zum dritten verstärkt sich zunehmend eine Haltung bei Eltern, ihre Kinder nicht unbeaufsichtigt in der Öffentlichkeit zu lassen. Diese Tendenz ist zum großen Teil einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis geschuldet. Es ist schwer zu beurteilen, ob Kinder heute tatsächlich größeren Gefahren ausgesetzt sind als früher oder ob die Gefahren einfach stärker wahrgenommen werden. In jedem Fall ist der Aktionsradius von Kindern heute im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich eingeschränkt. Ab welchem Alter dürfen Kinder heute allein zu Freunden gehen, mit dem Fahrrad fahren, einkaufen gehen usw.? Im Schnitt jedenfalls deutlich später als noch vor einigen Jahrzehnten. Selbst auf dem Schulweg werden viele Kinder heutzutage komplett von ihren Eltern begleitet, manche gar mit dem Auto von Haustür zu Schultür gebracht. Die Gesellschaft wird auf diese Weise schleichend »entkindlicht«. Der fehlende Kontakt zwischen der nachwachsenden Generation und der umgebenden Welt ist dabei nicht nur ein Problem für die Kinder selbst, sondern auch eines für die Gesellschaft: Die Erwachsenenwelt verliert zunehmend die Fähigkeit, normal und angemessen mit Kindern umzugehen. Sie schwankt zwischen übertriebener Rücksicht, unangemessenem Argwohn, völliger Laissez-FaireHaltung und absolutem Unverständnis.
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Beispiel Einkauf: Ein Kind quengelt an der Kasse, weil es eine Süßigkeit will, weil es nicht länger warten will, weil ihm zu heiß ist, weil es auf Klo muss oder weshalb auch immer. Ist das kindgerechtes Verhalten oder ein Indiz für schlechte Erziehung? Hier kann man merkwürdige Situationen erleben. Wenn Kleinkinder quengeln, weil die Eltern nichts Süßes kaufen, nimmt man vielfach vorwurfsvolles Kopfschütteln wahr. Das Kind sei verwöhnt, sonst würde es ja erst gar nicht nach Süßkram schreien. Oder gerade umgekehrt: »Wie kann man nur so hartherzig sein? Das arme Kind muss so lange an der Kasse warten.« Jeder weiß es besser. Beispiel Straße: Zwei Kinder zanken sich und werden dabei handgreiflich. Brutale Aggression oder harmlose Rauferei? Wieder hängt es von der konkreten Situation ab. Auch hier fehlt den meisten »Augenzeugen« heute das rechte Maß, wann es an der Zeit ist, auch als Unbeteiligter einzugreifen. Viele gehen vorüber und trauen sich nicht, die Kinder anzusprechen. Sie könnten aus den Reaktionen ohnehin nicht rückschließen, wann die Situation ernst und wann sie eher Spaß ist. Sie verfügen auch nicht über das Selbstbewusstsein, die Kinder einfach anzusprechen. Welcher Tonfall ist angebracht? Wie nehme ich Blickkontakt auf? Kann ich ein fremdes Kind im Ernstfall auch einmal festhalten oder wegziehen? Beispiel Zug: Ältere Kinder oder Jugendliche sind ungestüm, brüllen herum, hören laut Musik, während Erwachsene im Wagen vielleicht lesen oder schlafen wollen. Wie spricht man die Jugendlichen an? Sagt man überhaupt etwas oder klagt man im Anschluss an die Zugfahrt sein Leid über die »Jugend von heute«? Manch einer wendet sich an den Schaffner mit der Bitte, dass der doch handeln solle. Er verfügt qua Amt über eine Art Lizenz einzugreifen. Er weiß, was angebracht ist, was erlaubt ist, wie man eingreifen kann. Er ist schließlich der Schaffner. Die Befangenheit im Umgang ähnelt der, mit der üblicherweise auch andere Personengruppen konfrontiert werden, die aus dem Rahmen fallen. Wenn sich die Wege kreuzen zwischen »Gesellschaft« (also den »normalen« Erwachsenen) und irgendeiner anderen Bevölkerungsgruppe, dann sollen gefälligst professionelle Vermittler den erzwungenen Kontakt managen: Pfleger, Betreuer, Polizisten, Schaffner, Lehrer. Dass auch Kinder und Jugendliche zu solchen »nicht gesellschaftsfähigen« Randgruppen gehören, ist eine recht neue Entwicklung. Vor wenigen Jahrzehnten war es noch weitaus selbstverständlicher, dass fremde Erwachsene sich erzieherisch in Situationen einmischten, vor allem wenn klar war, dass die Eltern nicht in der Nähe waren. Es gab eine Art automatische Verantwortlichkeit der gerade anwesenden Erwachsenen für die Kinder und Jugendlichen. Spontane Hilfe, freundliche Ermahnungen oder auch Beschimpfungen Kindern gegen-
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über waren an der Tagesordnung. Auch wenn die Erwachsenen unterschiedlich mit »fremder Leut’s Kindern« umgingen, war ihnen doch das Selbstbewusstsein gemeinsam, mit dem sie es taten. Dieses Selbstbewusstsein hat sich weitgehend verflüchtigt. Der Begriff »Distanz« beschreibt insgesamt am besten das Verhältnis der heutigen Gesellschaft zu ihren Kindern. Vor allem entsteht diese Distanz durch die räumliche Trennung der Lebenswelten. Für die Gesellschaft bedeutet dies, dass Jahrhunderte lang tradiertes Erfahrungswissen über Kinder und den Umgang mit ihnen verlorengeht bzw. verloren gehen wird. Dieser Umstand wird kaum beachtet, wenn heute über Kinderbetreuungseinrichtungen gesprochen wird, seien es Krippen, Kindergärten oder Ganztagsschulen. Früher lernte man bereits als Kind und Jugendlicher im alltäglichen Leben, wie man mit jüngeren Geschwistern, Nachbarskindern, Freunden usw. umgehen musste. Zusätzlich zu den automatischen Kontakten wirkten bewusste Impulse der Erwachsenen, sich um die Kleineren zu kümmern, sie selbstständig zu beaufsichtigen, zu beschäftigen, sie »mütterlich« zu umsorgen. Gleichzeitig mit dem Erfahrungswissen über den Umgang mit Kindern wurden auf diese Weise – bewusst wie unbewusst – Rollenklischees tradiert. Dieser Umstand stellt für die heutige Generation eine große Herausforderung dar. Die Mädchen wurden von klein auf an ihre als selbstverständlich betrachtete spätere Aufgabe als Mutter herangeführt: zunächst noch mit Puppen, aber sehr früh schon mit »echten« kleineren Kindern, die ja überall verfügbar waren. Mütter achteten bei ihren Töchtern früh darauf, solche Situationen herbeizuführen und sie an eine begrenzte Verantwortlichkeit zu gewöhnen. Im Jugendalter kamen vielfach schon institutionalisierte Erziehungs- und Betreuungsaufgaben hinzu: Babysitting, die Leitung einer Gruppenstunde, Betreuung und Aufsicht bei Zeltlagern und Kinderfreizeiten, Training oder Ausbildung in Sport- oder Musikverein usw. Einige dieser Tätigkeiten konnten zwar durchaus auch von Jungen oder Männern ausgeführt werden. Insgesamt war die Kinderbetreuung aber vorwiegend Mädchensache. Wir geben uns heute in der Erziehung große Mühe, diese tradierten Rollenbilder zu überwinden. Mädchen sollen schon als Kind merken, dass sie später im Berufsleben genauso bestehen können wie die Jungen. Sie sollen nicht nur mit Puppen, sondern auch mit der Eisenbahn spielen. Sie sollen in der Schule und später in Ausbildung, Uni und Beruf Karriere machen. Kein Schulbuch, das heute eine staatliche Zulassung erhalten will, darf schablonenhaft traditionelle Rollenbilder reproduzieren. Deshalb schmiert im Englischbuch beim Thema »Essen und Trinken« der Vater morgens die Brote. Oder es ruft die gestresste Mutter aus dem Büro an, wenn es um das Thema »Telefonieren« geht. Das ist
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die Welt der gendersensiblen Pädagogik und in Teilen auch die alltägliche Erziehungswelt der heutigen Erwachsenengeneration. Aus Angst vor Rollenkonditionierung im traditionellen Sinne werden die »mütterlichen« Betätigungen für Mädchen, die noch vor einer Generation bewusst herbeigeführt wurden, reflexartig ausgeklammert. In der Frage nach gendersensibler, genderneutraler oder gendergerechter Erziehung müsste aber mitbedacht werden, wer denn in Zukunft die pflegerischen, erzieherischen und pädagogischen Aufgaben in unserer Gesellschaft wahrnehmen soll: in der Familie wie im Berufsleben. Es reicht nicht aus, Gleichheit zwischen den Geschlechtern dadurch herzustellen, dass Mädchen wie Jungen auf ein Erwerbsarbeitsleben vorbereitet werden. Es müsste konsequenterweise auch eine bewusste Hinführung der Jungen zu den vormals »mütterlichen« Aufgaben geben. Hier kann man bestenfalls zarte Ansätze erkennen. Ob dies aber ausreicht, um den gesellschaftlichen Bedarf an »Mütterlichkeit« zu decken? Der Kern des Problems liegt in erster Linie darin, dass sich die beiden beschriebenen Effekte in unseliger Weise gegenseitig stützen: Zum einen die Ghettoisierung der Kinder in weitgehend altersgleichen Gruppen in der Obhut professioneller, erwachsener Fachkräfte, zum anderen die Erziehung der Kinder nach der Maxime, bloß keine Rollenklischees zu tradieren. Daraus resultiert dann im Endergebnis eine Gesellschaft, in der viele Kinder und Jugend-
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liche aufwachsen, ohne überhaupt Erfahrung mit kleineren Kindern gemacht zu haben, für sie zu sorgen, für sie Verantwortung zu übernehmen, bis eines Tages schließlich die eigenen Kinder da sind. Wird diese Generation dann nicht als Eltern auch eher gewillt und geneigt sein, ihrerseits die Kinder wieder in »professionelle« Hände abzugeben, also in Krippe, Ganztags-Kita und Ganztagsschule? So wird das pädagogische Alltags- und Erfahrungswissen der Gesellschaft zusehends abgelöst durch das in Ausbildung vermittelte Professionswissen von Erziehern und Lehrern. Hier schließt sich jetzt ein weiterer Teufelskreislauf, denn junge Erwachsene, die sich für einen pädagogischen Beruf entscheiden, müssten idealerweise bereits in ihrer Jugend Erfahrungen auf diesem Feld sammeln können. Stattdessen erleben wir heute jedoch eine vorwiegend gegenläufige Entwicklung. Vertiefte pädagogische Erfahrungen können infolge der Ghettoisierung der Kinder oft erst im Rahmen der Ausbildung gesammelt werden und dann nicht im Sinne von Alltags- und Erfahrungswissen, sondern bereits unter der Ägide wissenschaftlich-kategorialen Denkens und Handelns. Dieser Effekt wird dadurch weiter verstärkt, dass ehemals pädagogische Ausbildungsberufe peu a peu akademisiert werden. Innerhalb der Lehrerausbildung gewinnen die theoretisch-bildungswissenschaftlichen Anteile immer mehr Gewicht. Das praxisorientierte Referendariat wird gleichzeitig vielerorts abgeschmolzen. Mehr pädagogische Wissenschaft, weniger pädagogische Praxis: so der aktuelle Mainstream. Betrachtet man alle genannten Entwicklungen in der Zusammenschau, ergibt sich für die Zukunft eine düstere Prognose: Kinder und Jugendliche – zahlenmäßig ohnehin eine Randgruppe, sorgfältig separiert vom Rest der Gesellschaft in professionellen Institutionen – werden zunehmend zu unbekannten Wesen, deren Verhalten von niemandem mehr verstanden wird, außer von »Experten«. So wie wir heute bei Magenverstimmung nicht mehr in den Garten gehen und uns ein paar Kräuter sammeln, sondern einen Mediziner fragen, so werden wir wohl in Zukunft auch in pädagogischen Fragen stetig die entsprechenden Fachleute zurate ziehen müssen. Im Unterschied zur Medizin vermag die Pädagogik allerdings keine leicht anwendbaren, wirkungsvollen Rezepte auszustellen. Ohne Erfahrungswissen werden die wissenschaftlich fundierten Bildungs- und Erziehungsrezepte schlussendlich im luftleeren Raum schweben. Das Leben unserer Gesellschaft entfaltete sich jahrhundertelang als Interaktion der Generationen. Daraus bezog sie ihre Lebendigkeit und ihren Fortschritt. Kinder und Jugendliche brachten und bringen stetig eine neue Sicht auf die bestehende Welt ein, auf die die übrigen Generationen reagieren. Lebendiger Austausch zwischen Menschen verschiedener Lebensalter ist Voraussetzung dafür, dass sich die verschiedenen generationstypischen Qualitäten gegenseitig
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befruchten und ergänzen können. Erst in der direkten Interaktion geschieht es, dass die Generationen ihre je eigene Sicht infrage stellen. Aus diesem Prozess, der sich fast ohne aktives Zutun von selbst einstellte, bezogen letztlich alle Generationen Impulse für das eigene Leben. Zurzeit sind wir jedoch auf dem besten Weg zu einer Art inzestuöser Dauerbeschränkung innerhalb der Altersgruppen, ja sogar innerhalb der einzelnen Jahrgänge, in der wir letztlich verarmen und erstarren. Es zählt nur die Gruppe derer, die am Sozialprodukt mitarbeiten. Die übrigen Gruppen sollen betreut und störungsfrei in ihren Ghettos bleiben. Menschliche Vielfalt erlischt. Aus einer Gesellschaft mit gelebter Verantwortlichkeit der Generationen zueinander entwickelt sich allmählich eine nach Altersklassen separierte Glasglockenkultur, in der die jeweiligen Teilgruppen weitgehend kontakt- und impulslos nebeneinander existieren, in der nur noch professionelle Mittler als Kontaktfenster fungieren – ein wahres Gruselkabinett, in dem die Ganztagsschule ein tragendes Element unter vielen ist. Kritik an der Ganztagsschule – so viel steht fest – muss auch den größeren gesellschaftlichen Kontext miteinbeziehen. Alternativideen können nicht bei der reinen Schulstrukturfrage stehenbleiben.
9. Die »neue Lernkultur«
Die kleinen Mädchen aus der Vorstadt Tragen heute Nasenringe aus Phosphor. Die Lippen sind blau, die Haare grün […] Das ist neu, das ist neu, Hurra, hurra, die Schule brennt. Der Songtext von Extrabreit aus dem Jahr 1980 fasste überpointiert die Einstellung vieler Jugendlicher zusammen: Es ging nicht nur um die Schule selbst. Sie stand als Symbol für die Erwachsenenwelt insgesamt mit ihrer Moral und ihren Normen. Diese Welt wird abgelehnt, bekämpft, abgebrannt. Die »kleinen Mädchen«, nicht brav und angepasst, wie das Klischee es will, werden zu Brandstifterinnen auch im übertragenen Sinne. Kindlich naiv nur noch das vergnügte Jubeln: »Hurra, hurra, das ist neu!« So neu war es auch wieder nicht: In »Hurra, die Schule brennt« ist es der höchst unkonventionelle Lehrer Dr. Bach, der sich mit seinen Schülern solidarisiert und das verhasste Gebäude abbrennen lässt. Er gibt ihnen schulfrei, wenn sie keine Lust zum Lernen haben, lädt sie ins Weinlokal ein, lässt sie ihre Arbeiten selbst korrigieren und gibt zu, selbst auch nicht gern zur Schule zu gehen. Die Komödie versprüht wenig revolutionäre oder anarchistische Energie. Eher spiegelt sie ein schwärmerisches Träumen von einer vollständigen Umkehrung der Verhältnisse in der Schule, eine Art Karneval, wo all das möglich wird, wovon Kinderherzen an langen Schulvormittagen nur träumen konnten. Song und Motto durften zwar jahrelang auf keiner Abiturfeier fehlen, aber in aller Regel überwogen auch nach Ausgabe der begehrten Urkunden eher die kleineren und harmloseren Schläge, mit denen sich die Gequälten an ihren Peinigern rächten. Die allerwenigsten, die begeistert den Song mitgegrölt haben, hätten ihre Schule tatsächlich gern brennen sehen. Trotzdem bringt die Phrase eine bestimmte Grundhaltung gegenüber der Schule auf den Punkt, die damals noch charakteristisch war: Die Schule war der erklärte Feind. Als Fest im tristen Alltag wurden da schon vermeintliche Kleinigkeiten erlebt, z. B. wenn einmal
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die letzte Stunde ausfiel, oder besser noch: die erste. Hitzefrei und Glatteisfrei waren echte Höhepunkte im Schuljahr. Schon die Ansage, dass man in der letzten Stunde fünf Minuten früher entlassen würde, gab zu Jubelorgien Anlass. Zu den Privilegierten gehörte, wer während der Stunde Kreide holen oder einen Mitschüler mit Kopfschmerzen auf den Hof begleiten durfte. Dem Unterricht zu entkommen, war eine Gnade. Die Schule selbst war eine Art Gefängnis. Sie war nicht eigentlich Teil des Lebens bzw. sie war es nur zwangsweise. Erst am Nachmittag gehörten sich die Kinder selbst. Schule war Teil der Erwachsenenwelt. Das bezog sich auf die Fachinhalte. Wenig von dem, was behandelt wurde, war Gegenstand ursprünglichen kindlichen Interesses: Grammatik, Mathematik, Literatur. Selbst in Musik, Kunst und Sport war klar, dass »Sinnvolles«, »Wertvolles«, »Anspruchsvolles« zu erarbeiten war. Auch die Formen des schulischen Unterrichtens waren alles andere als kindgerecht. Als Lehrer war man »der Pauker«, selbst wenn der Unterricht sich nicht in stumpfsinnigem Einpauken erschöpfte. Man hatte die undankbare Aufgabe, denjenigen etwas »einzupauken«, die das eigentlich gar nicht wissen wollten. Die Fronten waren klar abgesteckt und beide Seiten wussten es. Lernen und Lehren hatte etwas mit dem Brechen von Widerständen zu tun. Neben Inhalten und Methoden war auch das Schulleben erwachsenenorientiert. Feierte die Schule etwa ihren 250. Geburtstag, so bestand das Festprogramm aus langen Reden, Dankesworten, der Vorstellung einer wissenschaftlichen Schulbiografie. Den Festakt prägten Landräte, Dezernenten, Krawatten, vielleicht noch ein klassisches Musikstück »zur Auflockerung«. Für die Schüler hieß es stillsitzen, zuhören, leise sein. Den Aufsichtführenden war klar, dass es Knochenarbeit würde, den Hühnerstall ruhig zu halten. Den Hühnern war klar, dass es schwer würde, aus dem Stall auszubrechen. Eine Art Spiel, in dem jede Seite für sich das Recht reklamierte, auch mit der einen oder anderen gezinkten Karte zu spielen. Auch das von den Kindern geforderte Verhalten spiegelte die Vorstellungen der Erzieher und war alles andere als an deren Bedürfnissen orientiert: Sprachlicher Ausdruck, Körperhaltung, Sitzordnung im Klassenraum, Kleidung unterlagen strenger Disziplin und waren gleichzeitig Mittel der Disziplinierung. Verstöße gegen die Disziplin wurden als Provokation erlebt. Im Bewusstsein der »alten Schule« kam das Kind als wildes Wesen, das durch die Schule der Erwachsenenwelt gefügig zu machen war. Schule war Zwang, Appell, Forderung, ohne dass dies als Fehler oder Mangel empfunden worden wäre. Der ›Hass‹ der Kinder auf die Institution Schule war systemimmanent, quasi gottgegeben, und selbst für die Lehrer eine Selbstverständlichkeit. Niemand erwartete, dass Schule geliebt würde.
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Eine solche Schule alter Prägung, als Ganztagsschule gedacht, kann niemand ernsthaft wünschen. Erst durch den freien Nachmittag wurde die Paukschule erträglich. Mit der Klingel zum Mittag endete die Quälerei, der Tag konnte beginnen. Quälerei den ganzen Tag? Eine solche Ganztagsschule wäre indiskutabel. Dementsprechend wundert es nicht, dass die Ganztagsschulbewegung von vornherein mit dem Ziel einer neuen Unterrichtskultur verbunden war. Die Plakatkampagne der Bundesregierung 2003 etwa zeigt eine Schulklasse, in der der Lehrer von hinten aufmerksam den Vortrag einer Schülerin verfolgt, die vorn am Lehrerpult den Unterricht leitet. Der Lehrer nicht in der Rolle des Paukers, sondern als ermutigender Wegbegleiter eines selbstgesteuerten Lernprozesses. Er ist Beobachter, Ratgeber, Arrangeur der Lernsituation – Schülerzentrierung im wahrsten Sinn des Wortes. Gerade auf Elternseite verknüpfte sich mit dem Begriff der Ganztagsschule vielfach ein weites Wunschfeld, wie eine andere Schule aussehen könnte, eine Schule, in die die Kinder gern gehen, eine Schule, die ganz anders ist als die, die man selbst einmal besucht hat. Auf einem anderen Plakat werden zwei Kinder mit Instrumenten dargestellt. Lehrpersonen sind gar nicht sichtbar. Schule wird hier als Lebensraum dargestellt, in dem Kinder ganz selbsttätig ihre Lernerfahrungen sammeln. Der damalige Slogan »Zeit für mehr« unterstützte genau die im Bild eingefangene implizite Erwartungshaltung der Eltern: Kein Eintrichtern toten Wissens im 45-Minuten-Takt mehr! Zeit für kreative, künstlerische Betätigung, Zeit für neue Lernwege, Zeit für ein neues Miteinander in der Schule. Auch der Ganztagsschulkongress 2010 in Berlin griff die Thematik auf. Das Motto »Zeit für eine neue Lernkultur« macht den Anspruch der Ganztagsbewegung deutlich, Pionierleistungen zu erbringen. »›Nach der großen Bauphase geht es nun darum, an den Konzepten für Ganztagsschulen zu arbeiten‹, so die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan (CDU), in ihrer Eröffnungsrede.«21 Hier muss man stutzig werden: Wurde da nicht die Reihenfolge vertauscht? Erst die Ganztagsschulen einrichten, danach die passenden Programme und Konzepte entwickeln? Woher eigentlich kam die Gewissheit, dass mit der Ausdehnung der Schulzeit in den Nachmittag hinein automatisch eine neue Lernkultur einziehen würde? Umgekehrt ist zu fragen, ob diese »neue Lernkultur« denn überhaupt ganztagsexklusiv sein solle. Warum denn keine »neue Lernkultur« für die klassische Halbtagsschule, wo sie noch vorhanden ist, wenn die alte Lernkultur doch überholt ist? Oder soll die Halbtagsschule »Paukschule« bleiben, weil weniger Freiraum vorhanden ist? Das würde aber bedeuten, dass die »Paukkultur« überlegen wäre, denn mit 21 Zitiert nach http://www.ganztagsschulen.org/archiv/12930.php (Oktober 2015).
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ihr würde man am halben Tag erreichen, was mit der »neuen Lernkultur« nur ganztags möglich wäre. Hier bildet sich gleich ein ganzes Bündel komplexer Problemfelder, die zunächst getrennt werden sollten, anstatt wie auf den Plakaten des damaligen Bildungsministeriums unreflektiert vermischt zu werden: Es muss getrennt gefragt werden, ob die »neue Lernkultur« spezifisch an der Ganztagsschule wachsen soll, und es muss gefragt werden, welchen Effekt diese Lernkultur zeitigen wird. Zum dritten muss gefragt werden, was denn getan wurde und wird, um ebendiese Lernkultur zu implementieren. Wer diese Felder miteinander vermischt, setzt sich dem Verdacht aus, Wünsche und Träume der Eltern gewinnbringend für seine Zwecke einsetzen zu wollen. Zunächst zur Lernkultur selbst: Bereits in den reformpädagogischen Konzepten des frühen 20. Jahrhunderts begegnet die Idealvorstellung, dass der Unterricht vom Kind und seinen Bedürfnissen her zu denken sei und nicht aus der Perspektive der Erwachsenenwelt. In dieser Zeit formulierten einzelne Pädagogen Ideen, die völlig konträr zur damals in Blüte stehenden Paukschule standen. Der Gegensatz konnte kaum gravierender sein, und in der Praxis spielten diese Gedankenmodelle eine relativ geringe Rolle, zumindest quantitativ gesehen. Erst nach 1945 wurde mit größerer Eindringlichkeit diskutiert, ob der Untertanengeist der alten Schule mitverantwortlich war für die Irrwege der deutschen Geschichte, insbesondere die von 1933–1945. Echte Breitenwirkung erzielte diese Denkweise allerdings erst im Zuge der 68erBewegung, als ganz allgemein die Frage der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland eine tiefere und grundsätzlichere Dimension annahm. Der Demokratisierung der deutschen Verfassung sollte die innere Demokratisierung der Gesellschaft folgen. Im Zentrum der Debatte musste zwangsläufig die Schule stehen, die ja selbst als Institution herrschenden Strukturen folgt und gleichzeitig zukunftsweisend die Entwicklung der Gesellschaft vorwegnehmen muss. Welche Schule für ein demokratisches, bürgerliches Selbstverständnis die angemessene sei, war jetzt nicht mehr nur Thema für ein Häuflein Intellektueller und linker Träumer. Reformpädagogische Ansätze schwappten als Welle in weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft und damit verbunden auch in die Schulen selbst hinein. In den folgenden Jahrzehnten hat sich allgemein eine Idealvorstellung von Schule in Deutschland durchgesetzt, in der Schlagwörter wie »Schülerorientierung«, »Schülerzentrierung«, »Offener Unterricht«, »Soziales Lernen«, »Handlungsorientierung« oder »Erlebnispädagogik« allmählich Fuß fassten und zum selbstverständlichen Wortschatz aller am Bildungsprozess Beteiligten geworden sind. Unterstützt von Studien der empirischen Wissenschaften gilt mittlerweile
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nach fast allgemeinem Einverständnis ein Unterricht dann als gut, wenn er den Schülern Handlungsspielräume eröffnet, wenn er zu eigener Aktivität ermuntert, wenn er selbstständiges Lernen fördert, wenn er zur Reflexion der eigenen Lernprozesse und zur Schüler-Schüler-Interaktion anregt, wenn er methodisch variabel angelegt wird, wenn er Vorwissen, Erfahrungshorizont und Erlebniswelt der Kinder berücksichtigt, wenn er medial abwechslungsreich und motivierend gestaltet ist, wenn er auf Heterogenität der Lerngruppe Rücksicht nimmt, kurz: wenn er schülerorientiert ist. Vor allem in den Grundschulen hat sich zumindest im Vokabular der Qualitätsprogramme, der Zeugnisse und Schulhomepages ein »kompetenzorientiertes« Denken durchgesetzt, das neben den Fachkompetenzen gleichberechtigt Methodenkompetenzen, Sozialkompetenzen und Personalkompetenzen berücksichtigt: Marie blieb in ihrem Verhalten ihren Mitschülern gegenüber ausgeglichen und freundlich. Sie war in der Lage, gut mit anderen zusammenzuarbeiten. Sie muss jedoch noch lernen, dass das Einhalten bestimmter Regeln notwendig ist, um erfolgreich miteinander umgehen zu können. Simon akzeptiert Verhalten und Meinungen anderer. Meistens entwickelt er auch gute Ideen zur Konfliktlösung. Vanessa begegnet ihren Mitschülern offen und klar. Gern arbeitet sie mit anderen zusammen und reagiert vermittelnd und ausgleichend in Konfliktsituationen. Die Regeln des Schulalltags kann sie stets befolgen. So und so ähnlich klingen vielerorts heutige Zeugnisse in der Primarstufe. Dass für die Versetzung nach wie vor allein die Fachkompetenzen von Bedeutung sind, dass die weiterführenden Schulen nach wie vor auf ihren Zeugnissen meist nur die Fachendnoten ausweisen, dass in Klassen- und Zeugniskonferenzen nach wie vor die meiste Zeit über Fachkompetenzen gesprochen wird, all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ganz unabhängig von der Frage der Ganztagsschule eine »neue Lernkultur« ausgebreitet hat, in der das Lernen als ein komplexes Verhalten des Schülers gesehen wird, das weit mehr beinhaltet als das Pauken von Fachinhalten, ein Lernen, das nicht vom Lehrer frontal eingepaukt wird, sondern im Sinne eines »Lernarrangements« vorstrukturiert, begleitet und professionell diagnostiziert wird. Die Zeit für eine »neue Lernkultur« ist also längst angebrochen, egal ob Ganztagsschule oder Halbtagsschule.
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Das zweite Fragen- und Argumentationsfeld hängt mit dem ersten direkt zusammen: Welche Effekte können wir uns von der neuen Lernkultur versprechen? Erstaunlicherweise gehen die Kinder und Jugendlichen immer noch ohne übersprudelnde Begeisterung zur Schule. Sie jubeln immer noch, wenn eine Stunde ausfällt und nicht, wenn sie stattfindet. Sie freuen sich, wenn sie in der Aula Stühle für eine Veranstaltung stellen dürfen, statt im Klassenraum ihr Lernarrangement zu bearbeiten. Glaubt man den Statistiken, so hat die Schulangst in den letzten Jahrzehnten sogar zugenommen22. Auch in den Ganztagsschulen, so hat es die 2010 erschienene STEG-Studie feststellen müssen, ist die Schulfreude nicht signifikant gewachsen23. Ist das nicht eine völlig widersprüchliche Entwicklung? Verschiedene Erklärungsversuche können vielleicht den scheinbaren Widerspruch aufheben: Zunächst sollte bemerkt werden, dass die »neue Lernkultur« schneller auf Papieren manifestierbar ist als im Klassenzimmer. Selbstverständlich stellen Lehrerinnen und Lehrer mit jahrzehntelanger Berufserfahrung nicht ständig ihre Methoden und Bewertungsmaßstäbe auf den Prüfstand. Wer die Unterrichtskultur nachhaltig verändern will, muss zwangsläufig bei der Ausbildung ansetzen. Bis sich neue Impulse durchgesetzt haben, dauert es mehrere Lehrergenerationen. Reformer brauchen langen Atem. Dennoch zählt das Argument wenig, denn insgesamt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten doch sehr viel bewegt. Der Umgangston in den Schulen ist sehr viel partnerschaftlicher geworden, auch den Eltern gegenüber. Gruppenarbeit, Freiarbeitsphasen, Methodenlernen, Soziales Lernen, Programme zur Gewaltprävention und vieles mehr sind inzwischen fest in den Schulalltag integriert. Die Schule von heute ist definitiv nicht mehr die autoritäre Paukschule des Kaiserreichs, der NS-Zeit oder der 50er- und 60er-Jahre. Aber als Lebensraum wird sie von den Schülerinnen und Schülern dennoch nicht wahrgenommen. Warum? Ein zweiter Erklärungsansatz kann in der Schülerzentrierung selbst gefunden werden. Nimmt der Druck vonseiten der Lehrer ab, entspannt sich zwar das Lehrer-Schüler-Verhältnis deutlich. Gleichzeitig aber wächst die Spannung zwischen den Kindern und Jugendlichen innerhalb der Lerngruppe. »Mobbing« ist nicht einfach ein Modebegriff für ein Phänomen, das immer schon da war, aber nie diskutiert wurde. Mobbing ist insofern eine typische Zeiterscheinung, als sich die Hauptkonfliktlinie im heutigen Klassenraum nicht mehr zwischen Lehrperson und Schülern ziehen lässt. Viele der heutigen Erwachsenen blicken 22 Der Berufsverband für Kinder- und Jugendärzte schätzt, dass jedes fünfte Kind unter einer »ausgeprägten Form von Schulangst« leidet, allerdings nicht gleichzeitig, sondern jeweils einmal im Laufe ihrer Schulkarriere (Badische Zeitung vom 7. April 2014). 23 Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkungen, S. 16.
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auf ihre eigene Schulklasse voll Wehmut zurück. Sie erinnern sich an eine verschworene Gemeinschaft, zusammengeschweißt auch durch den Druck von oben, durch den gemeinsamen Feind. Fehlt der äußere Feind, beginnen die inneren Konflikte. Das ist eine alte Wahrheit, die nicht nur in der Schule gilt. Sollen wir also den Pauker wieder ausgraben, damit sich die Kinder untereinander besser solidarisieren? Gönnen wir ihnen ihren Feind? Nein. Der Weg zurück ist nicht nur verbaut, er ist mit der Gesellschaft von heute einfach nicht mehr kompatibel. Die Paukschule ist Geschichte und darf auch nicht nostalgisch verklärt werden. Aber umgekehrt soll sich auch niemand der Illusion hingeben, die »neue Lernkultur« würde alle Probleme lösen, würde aus der Schule eine Heimat für die Kinder machen, einen Lebensraum, vergleichbar dem einst freien nachmittäglichen Spiel- und Lebensraum. Dies kann auch deshalb nicht gelingen, weil Schule nach wie vor ein Ort ist, der von Erwachsenen strukturiert und gesteuert wird. »Schülerorientierung« bleibt immer relativ, solange sie von Erwachsenen geplant wird. Machen wir uns nichts vor: Auch die kindgerechteste Mathestunde bleibt eine Mathestunde. Fachinhalte und Lernziele sind nach wie vor abgeleitet aus der Welt der Erwachsenen. Sprechen wir von Methoden- und Sozialkompetenzen, dann sprechen wir die Sprache der Erwachsenenwelt. Wir tragen unsere erzieherischen Zielvorstellungen genauso wie früher in die Schule hinein, nur verstecken wir sie eben etwas geschickter und verpacken sie mit allerlei Motivations- und Kompetenzpapieren. In diesem Punkt war die Paukschule ehrlicher. Sie stellte sich quasi nackt vor den Schüler und sagte: Schau her, so bin ich, so musst du mich nehmen und akzeptieren. Und wenn du nicht magst, dann wirst du sehen, dass ich stärker bin als du. Die Schule von heute stellt sich neben den Schüler und sagt: Ich nehme dich an der Hand, damit du aus eigenem Willen so wirst, wie wir dich haben wollen. Und wenn du anders willst, dann liegt eben etwas vor, eine Persönlichkeitsstörung, eine Krankheit, ein Mangel an Kompetenz, den auszugleichen wir dir helfen wollen. Wir sind dein Partner und Helfer, nicht dein Feind. Die Kompetenzschule in Reinform bietet keine Angriffsfläche mehr für Widerstand und Protest, aber sie bleibt eine Erwachsenenschule. Die ehemalige nordrheinwestfälische Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD) geht in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT (Nr. 39/2010) noch einen Schritt weiter. Sie wendet sich vehement gegen einen geistigen Führungsanspruch der Reformpädagogik innerhalb der Pädagogik. Als Anknüpfungspunkt dient ihr der Missbrauchsskandal in der reformpädagogisch ausgerichteten Odenwaldschule. Dieser sei nicht als Einzelfall, als »Betriebsunfall« abzutun, sondern müsse auch systembedingt betrachtet werden:
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Die Schule [gemeint ist die reformpädagogische] wird dann allumfassend, das Leben der Einzelnen findet in Gänze hier statt, formell und informell bilden die Mitglieder im Alltag eine Gemeinschaft, und wer sich ihr nicht einordnet, der wird sofort in eine selbstzweiflerische Position gebracht, der zahlt den Preis der persönlichen Ausgrenzung. […] Das Überwältigungsverbot als Kern verantwortungsvollen pädagogischen Handelns reicht weit über die Päderastie hinaus. Überwältigung des Denkens, Fühlens und Handelns kann libertär oder autoritär verkleidet werden. In der Verwechslung von libertärer Überwältigung und Empathie liegt ein Grundproblem reformpädagogischen Handelns. Schule dürfe nicht zum »Krake« werden, sagt Gabriele Behler. »Jeglicher Totalanspruch der Schule ist zurückzuweisen […] Schule darf die Unterscheidung von Privatheit und öffentlicher Institution nicht aufheben.« Sie spricht nicht über Halb- oder Ganztagsschulen. Ihr Angriff auf die vermeintlichen Heilslehren der Reformpädagogik sollte jedoch nachdenklich stimmen, wenn die Ganztagsschulbewegung Schule als Lebensraum glorifiziert, in dem der ganze Mensch gebildet werde. Schüler haben das Recht, ihre Lehrer nicht zu lieben, sie haben auch das Recht, den einen oder die andere ›blöd‹ zu finden und dabei zu lernen, trotzdem mit ihnen zurechtzukommen. Diese Forderung lässt sich übertragen: Schüler haben das Recht, die Schule ›blöd‹ zu finden, egal ob Ganz- oder Halbtagsschule. Und sie machen täglich von diesem Recht Gebrauch. »Hurra, hurra, die Schule brennt.«
10. Macht Ganztagsschule krank?
Gesundheit gilt heutzutage als das höchste Gut. Alle Eltern wünschen sich, dass ihr Kind gesund aufwachsen kann. Dementsprechend ist die Forderung an die Institution Schule klar: Sie soll ein gesundes Umfeld bieten und optimale Bedingungen schaffen, dass sich Kinder körperlich und seelisch gesund entwickeln können. Aufgrund der äußeren Umstände ist dies jedoch keineswegs automatisch gewährleistet. Es gibt zahlreiche Aspekte des Schulalltags, die diesem Wunsch zuwider laufen. Am stärksten im Bewusstsein ist inzwischen das Problem des Bewegungsmangels. Langes Stillsitzen widerspricht dem normalen kindlichen Bewegungsbedürfnis und ist aus orthopädischer Sicht eindeutig ungesund. Schon in der klassischen Halbtagsschule wurde gegengesteuert, indem Pausen zwischen die Unterrichtsstunden geschaltet wurden. Ebenso spielte der Sportunterricht eine wichtige Rolle. Aufgrund der langen freien Nachmittage konnte die Hauptverantwortung für ausreichende Bewegung aber an die Familie delegiert werden. Es war breiter Konsens, dass die Kinder nach einem bewegungsarmen Vormittag in der Schule nachmittags an der Luft zu spielen und zu toben hatten. Der Begriff des Stubenhockers als Antileitbild bzw. als Symbolfigur bewegungspädagogischer Fehlentwicklung verdeutlicht, dass im Regelfall Kinder nachmittags an die Luft geschickt wurden, wenn sie nicht ohnehin freiwillig nach draußen gingen. Frische Luft und Bewegung gehörten zusammen. Beides fehlte in der Schule. Das war vielleicht beklagenswert, aber bekannt und quasi naturgesetzlich. Also diente der freie Nachmittag als Kompensation. Ganztagsschulen stehen vor der großen Herausforderung und Verantwortung, diese im System Schule angelegte Problematik unter erschwerten Bedingungen zu lösen. Das ist nicht ganz einfach, schon weil das Bewegungsbedürfnis der Kinder sehr unterschiedlich hoch ist. Auch Aufsichtsgründe engen den Spielraum der Verantwortlichen stark ein, insbesondere wenn spontane Lösungen gefordert wären. Mit Ideen und Projekten wie z. B. der »bewegten Schule«, zusätzlichen Sportstunden oder AGs versuchen viele Ganztagsschulen gegenzusteuern. Positiv festzustellen ist, dass die Problematik wenigstens bewusst ist. Inwieweit die Konzepte tatsächlich fruchten, muss konkret vor Ort geprüft werden. Grundsätzlich bleibt eine gewisse Skepsis angebracht: Dafür
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sorgen die meist eng getakteten Stundenpläne, zugepflasterte Schulhöfe, bauliche Enge. Sie führen insbesondere an weiterführenden Schulen dazu, dass GTS-Gruppen in unmittelbarer Nachbarschaft zu regulären Lerngruppen im Nachmittagsunterricht beaufsichtigt werden. Hier sind der Bewegungsfreiheit enge Grenzen gesetzt. Wenig gesundheitsförderlich ist zumeist auch das Kantinenessen, das gereicht wird. Das wird besonders deutlich, wenn die wenigen rühmlichen Ausnahmen in der Öffentlichkeit von großem Medieninteresse begleitet werden. Es müsste doch eigentlich selbstverständlich sein, dass Mahlzeiten frisch zubereitet werden, dass hochwertige Lebensmittel verwendet werden, dass auf individuelle Ernährungsbedürfnisse wenigstens in Teilen Rücksicht genommen wird. Stattdessen erhalten jene Küchen den Zuschlag, die die besten Preise bieten. Die Kommunen sind jedoch gezwungen, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten, denn sie zahlen die Mahlzeiten für die sozial Schwächeren. Ein Großbetrieb beliefert dann vielfach ein ganzes Bündel an Ganztagseinrichtungen innerhalb der Stadt oder des Landkreises. Lange Warmhaltezeiten, Essen in Aluschalen, niedrige Lebensmittelqualität, fehlende Esskultur sind die Folge. Die größeren Skandale im Zusammenhang mit Krankheitserregern oder Hygienemängeln sind statistisch betrachtet noch das geringste Problem. Im Zusammenhang mit der Schulverpflegung ist die öffentliche Hand – wie so oft, wenn es um Ganztagsschulen geht – in der Zwickmühle zwischen Qualität und Kosteneffizienz: Ist es nicht ohnehin schon eine grobe Ungerechtigkeit, dass der Staat mit riesigen Summen das Mittagessen derjenigen Kinder subventioniert, die das GTS-Angebot wahrnehmen? Die Mahlzeiten der Halbtagskinder, die zu Hause essen, werden nicht bezuschusst. Da ist es natürlich schwer vermittelbar, dass das GTS-Essen teurer wird als unbedingt notwendig. So entsteht eine argumentative Sackgasse: Würde das GTS-Essen qualitativ besser, also auch teurer werden, müssten die öffentlichen Kassen sich noch mehr an den Kosten beteiligen. Die problematische Schere in puncto Kostengerechtigkeit zwischen Ganz- und Halbtagskindern ginge noch weiter auseinander. Weit weniger im Bewusstsein als Bewegung und Ernährung ist der Aspekt der Lärmbelastung in der Schule. Für manche Lehrkräfte, die schon lange an der Schule tätig sind, bekommt das Thema konkrete Bedeutung. In Bezug auf die Kinder, die einen immer größeren Teil ihrer Zeit dort verbringen, wird die Lärmfrage aber quasi ausgeblendet. Das mag daran liegen, dass Hörschäden erst zeitversetzt wirksam werden. Wer als Kind den ganzen Tag größerem Lärm ausgesetzt wird, leidet vielleicht als Erwachsener früher an Schwerhörigkeit. Der Kausalzusammenhang lässt sich aber im Einzelfall kaum definitiv belegen. Insofern sind Befürchtungen, es könne zu Klagen vor Gericht kommen, wenig
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realistisch. Dadurch wird das Problem an sich jedoch nicht kleiner. Öffentliche Schulträger zeigen wenig Interesse an der Thematik, denn ansonsten stünden teure Baumaßnahmen an. Die allerwenigsten Schulgebäude berücksichtigen Fragen der Raumakustik ausreichend. Bei Lärmpegelmessungen werden vor allem in Fluren, Treppenhäusern und Turnhallen regelmäßig selbst die in der Industrie verbindlichen Grenzwerte weit überschritten24. Auch in den regulären Klassenräumen beeinflusst Experten zufolge ein zu hoher Lärmpegel die Speicherkapazität des Hirns und das Kurzzeitgedächtnis negativ. Informationen werden nur unvollständig aufgenommen und die Konzentrationsfähigkeit leidet. Lärmbelastung erzeugt dann in hohem Maße Stress. Steigt die Lautstärke, steigt auch der Blutdruck. Stresshormone setzen vorübergehend Energie frei. Das führt häufig zu neuer Lärmbelästigung, weil noch lauter gesprochen oder geschrien wird, weil mehr Bewegung entsteht, weil die Kinder leichter die Kontrolle verlieren und infolgedessen auch unbeabsichtigte Geräusche vermehrt auftreten: wackelnde Stühle, herunterfallende Stifte usw. Ein Teufelskreis setzt sich in Gang, der dann krank machen kann, wenn der akustische Stress zur Dauerbelastung wird. Viele Kinder reagieren mit Bauchschmerzen oder anderen Symptomen, die sich auch als psychosomatische Beschwerden deuten lassen: Stress resultiert ja gerade in der Schule häufig aus einem Mix aus realen Faktoren wie z. B. einem Lärmpegel, der sich exakt in Dezibel messen lässt, und anderen Faktoren, die stark von der individuellen Wahrnehmung des Einzelnen abhängen, z. B. von Leistungsdruck oder dem sozialen Miteinander in der Gruppe bzw. mit den Erwachsenen. Für das Wohlbefinden des Kindes in der Schule spielt es im Endeffekt eine geringere Rolle, woraus die Stresssymptome resultieren. Fakt ist in jedem Fall, dass ein nicht unerheblicher Anteil an Kindern gerade im Ganztagsschulbereich chronisch gestresst ist. Aus der konkreten Erfahrung des Schulalltags bestätigen viele Lehrer, dass der Anteil an Kindern, die unter Unwohlsein leiden, die im Unterricht über Kopf- oder Bauchschmerzen klagen, die eine kurze Auszeit auf dem Schulhof benötigen, um vieles höher ist als in Halbtagsklassen. Zusammenhänge ließen sich statistisch sicherlich leicht ermitteln. Die inzwischen in der empirischen Bildungswissenschaft fest etablierte Ganztagsschulforschung geht aber einen anderen Weg. So erstellten Peter Paulus und Kevin Dadaczynski 2010 eine Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit zur »psychischen Gesund-
24 Siehe Adolf Stock: Lärmen oder lernen? Akustik im Klassenzimmer. Manuskript zur Radiosendung »SWR 2 – Wissen« vom 20. 1. 2007.
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heit in der Ganztagsschule«25. Sie präsentieren darin eine Art Checkliste, wie Ganztagsschulen aktiv etwas für die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler tun können. Wesentliche Punkte sind dabei ein passendes »Zeitstrukturkonzept«, »Raumkonzept«, »Ernährungskonzept«, »Personalkonzept«, »Konzept von Kooperation und Schulöffnung« usw. Alles wichtige Aspekte, gewiss! Und in den Detailausführungen finden sich wichtige Anregungen, wie ein Ganztagskonzept idealerweise gestaltet sein sollte. Auf logische Abwege kommt die Experise aber in ihren Kernbehauptungen: »Wenden wir uns der Ebene der Ganztagsschule zu, so ist die Frage zu beantworten, ob die ganztägig geführte Schule im Vergleich zur bislang dominierenden Halbtagsschule ein erweiterter Rahmen für die psychische Gesundheits- und Entwicklungsförderung darstellt. Dieser Hypothese ist u. E. eindeutig zuzustimmen, womit Ganztagsschulen ein grundlegendes Potential zugesprochen werden kann. Die Ausweitung eines an fachlichen Leistungen orientierten Bildungsverständnisses um überfachliche Fertigkeiten wie sozial-personale Kompetenzen ist sicherlich auch für ein psychisch gesundes Aufwachsen höchst dienlich. Ebenso soll Ganztagsschule im Zuge der Verminderung sozialer Kontakt- und Interaktionsmöglichkeiten als stabiler sozialer Anker fungieren, der es den Heranwachsenden erlaubt, sinnstiftende und somit entwicklungsfördernde Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwachsenen einzugehen.«26 Die Autoren vergleichen ein Leben in einer Ganztagsschule mit einem Leben in der Halbtagsschule und ignorieren dabei, dass die Halbtagskinder noch einen Nachmittag außerhalb der Schule für ihre »psychisch gesunde Entwicklung« haben. Oder aber – wie es unterschwellig mitschwingt – sie unterstellen dem außerschulischen Lebensumfeld a priori eine defizitäre Qualität. Derselbe Denkweg (oder sollte man nicht besser von einem »Denkfehler« sprechen?) durchzieht die Expertise wie ein roter Faden. So heißt es weiter unten: »Weitere Vorzüge liegen in der Möglichkeit der flexiblen und den Entwicklungsbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler angepassten Strukturierung des Schultages sowie auch in der Erweiterung des inhaltlichen Spektrums durch außerunterrichtliche Angebote.«27 25 Peter Paulus & Kevin Dadaczynski: Psychische Gesundheit in der Ganztagsschule. Lüneburg 2010. 26 Ebd., S. 42. 27 Ebd., S. 43.
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Als wäre dies im Kontext der familiären Betreuung grundsätzlich nicht gegeben! Es ist nur nicht durch die Schule gesteuert, sondern durch die Eltern, denen offenbar massives Misstrauen entgegen gebracht wird. An den Rand des Absurden gerät die Argumentation, wenn behauptet wird, der … »zunehmende Bedarf an Kooperation sowie die Öffnung von Schule zur Lebenswelt gegenüber der Halbtagsschule [sei] ein struktureller Vorteil, denn die sozial-gesellschaftliche Ebene hat einen hohen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. […] Im Gegensatz dazu ist Halbtagsschule stärker als geschlossene Einheit mit geringeren Bezügen zur Umwelt und anderen Professionen organisiert.«28 Die Autoren erkennen zwar den schulischen Mangel an Lebensweltbezug, der eine Öffnung im Sinne von Kompensation notwendig erscheinen lässt. Daraus leiten sie wiederum einen vermeintlichen Vorteil der Ganztagsschule ab, die den Kindern versucht das, was sie ihnen vorher entzogen hat, ein Stück weit wieder zu geben. Mit derselben Logik könnte man folgern, dass ein Dieb, der die Hälfte seiner Beute wieder zurückgibt, in der Summe seinem Opfer etwas Gutes getan habe, bzw. dass der Bestohlene ein gutes Geschäft gemacht habe. In Anlehnung an die modellhaften Idealformulierungen stellen Paulus und Dadaczynski im Rahmen ihrer Expertise auch einen Modellversuch vor, der mithilfe vorwiegend quantitativ-empirischer Verfahren als »Machbarkeitsstudie zur psychischen Gesundheit in der Ganztagsschule« gedacht war. Anstatt aber z. B. den tatsächlichen Stress der Ganztagskinder in den ausgewählten Schulen zu testen, wird mittels Fragebogen erhoben, welche der von den Autoren genannten Kriterien in den Augen des Schulpersonals Erfolg versprechen, welche sich umsetzen lassen und ob ganz allgemein der Frage der psychischen Gesundheit eine hohe Bedeutung zugemessen werden sollte. Der Leser wird wenig überrascht sein, dass quasi alle Lehrkräfte dies bejahen. Zufrieden schlussfolgern die Autoren: »Die Machbarkeit der erarbeiteten Gestaltungsaspekte zur Förderung der psychischen Gesundheit in der Ganztagsschule kann auf Grundlage der Ergebnisbefunde als gegeben betrachtet werden.«29 Die Auftraggeber derartiger Studien haben in der Regel kein Interesse daran, Probleme im System aufzudecken. In diesem Fall ist es die Bundesregierung, 28 Ebd., S. 27. 29 Ebd., S. 81.
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die wenige Jahre zuvor die Ganztagsschulbewegung ins Rollen gebracht hatte. Eine passende wissenschaftliche Expertise kann als Argument verwendet werden und gleichzeitig auch als Alibi, um Verantwortung partiell weiter zu schieben. Wer will sich schon gern nachsagen lassen, nicht genug für die psychische Gesundheit der Kinder getan zu haben? Aber kann eine solche Untersuchung beweisenden Charakter für sich beanspruchen? Was sagt die Expertise aus über die tatsächliche Stresssituation an unseren Ganztagsschulen? Nicht wenige Kinder fühlen sich bereits durch die Gruppengröße ihrer Schulklasse unbewusst herausgefordert. Man sollte sich bewusst machen, dass das Zusammensein von ca. 30 gleichaltrigen Kindern ja keineswegs den natürlichen Lebensumständen des Menschen entspricht. Vielfach steigert sich in der Großgruppe der Konkurrenzdruck, was sich sehr unterschiedlich bemerkbar macht. Manche Kinder drehen chronisch auf und stehen deutlich sichtbar unter Dauerspannung. Andere reagieren eher mit Rückzugstechniken. Beide Verhaltensweisen können als »ungesund« angesehen werden, vor allem wenn sie den größten Teil des Tages andauern. Belastend wirken bisweilen auch die Räume, die Flure, die Schulhöfe. Da es im Umfeld der Schule zumeist an individuellen Rückzugsmöglichkeiten für die Kinder mangelt, bleibt ein angestrebter Wechsel von Spannung und Entspannung vielfach frommes Wunschdenken: Wo sollen die Kinder auch echte Ruhe finden? Sensiblere Naturen sind oft überfordert mit der äußeren Situation und stecken die Belastung nicht einfach weg. Wenn Eltern den Eindruck gewinnen, dass ihr Kind sich in der Acht-StundenSchule nicht gesund entwickeln kann, bleibt in vielen Bundesländern nur der Weg zum Arzt, um das Kind im laufenden Schuljahr aus dem GTS-Betrieb mittels Attest abzumelden. Welche Diagnose im Einzelfall herhalten muss, ist dann eher Formsache. Besonders schwer haben es jene Kinder, deren Verhalten per se schon wenig gruppenkompatibel ist. Dauerermahnungen führen zu Frustration, die sich in weiteren Störungen des Unterrichts oder des sozialen Miteinanders Luft machen. Sanktion reiht sich an Sanktion. So entstehen Rollenmuster, die bereits im Halbtagsschulbereich schwer zu durchbrechen sind. Gerade das vielfach ungelernte Nachmittagspersonal ist mit solchen Situationen überfordert, zumal sich durch die Ausdehnung der Aufenthaltsdauer in der Schule die Probleme exponentiell vervielfachen. Bei Halbtagskindern stellt man häufig fest, dass häusliches und schulisches Verhalten weit auseinander driften: Stille und zurückhaltende Schüler kommen zu Hause in Fahrt bzw. blühen auf. Im familiären und vertrauten Umfeld zwischen Eltern, Geschwistern und Freunden legen sie ihre Scheu ab und zeigen sich von einer temperamentvolleren Seite. Genauso findet man umgekehrt
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Fälle, in denen rüpelhafte Draufgängertypen sich zu Hause von ihrer umgänglichen und kooperativen Seite präsentieren. Eltern sind dann überrascht, wenn aus der Schule Klagen kommen. Unter dem Gesichtspunkt der psychischen Gesundheit ist ein rhythmischer Wechsel des Lebensumfeldes in jedem Fall als förderlich zu betrachten, da sich problematische Verhaltensansätze weniger stark verfestigen. Dies gilt umso mehr, als die verschiedenen Umfelder in der Regel zu unterschiedlichen Reaktionen neigen, sobald Problemverhalten sichtbar wird. Das professionelle Umfeld der Schule tendiert stärker zur Pathologisierung, allein schon, weil Begrifflichkeiten zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe Erklärungsmuster und Lösungsansätze in Form von Kategorien nutzbar gemacht werden können. Auf Elternseite dominiert üblicherweise das Bedürfnis, das eigene Kind als »normal« zu betrachten. Die Toleranz gegenüber Auffälligkeiten ist zunächst meist größer. Kommen jedoch Klagen aus der Schule, ändert sich dieser Umstand in vielen Fällen schlagartig. Gerade verunsicherte Eltern sehen die Chance, über eine medizinische oder psychologische Diagnose das Verhalten des Kindes nach außen hin zu legitimieren. Die Frage sei gestellt, ob diesen Kindern mit dem Stempel einer Krankheit immer geholfen ist. Am deutlichsten lässt sich diese Wirkungskette am Beispiel des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADS) zeigen. Dieses Krankheitsbild, das in der öffentlichen Diskussion wie auch unter Medizinern und Psychologen höchst umstritten ist, hat in den vergangenen Jahren signifikant und fast epidemieartig um sich gegriffen. Umstritten ist, ob die Krankheit zunimmt oder ob sie nur häufiger diagnostiziert wird. Der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, der als »Erfinder« der Krankheit gilt, zog kurz vor seinem Tod in der Öffentlichkeit seine eigenen Diagnosen in Zweifel und ging so weit zu behaupten, dass ADS ein »Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung« sei30. Nicht selten sind Kinder von der Diagnose betroffen, die im häuslichen Umfeld zunächst noch keine deutlichen Symptome zeigen. Erst in der Schule werden Probleme sichtbar: Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsschwäche, unkoordiniertes Verhalten, häufig noch in Verbindung mit Hyperaktivität und Auffälligkeiten im Sozialverhalten. Eine ADS-Diagnose kann jetzt u. U. insofern entlastend wirken, als Eltern nicht mehr selbstkritisch nach Erziehungsfehlern suchen müssen und die Kinder sich nicht mehr voll verantwortlich für ihr eigenes Verhalten fühlen. Das Etikett ADS hat zwar auf der einen Seite eine stigmatisierende Wirkung, auf der anderen Seite aber ist es auch als Entschuldigung oder Freifahrtschein einsetzbar. 30 Siehe Christiane Hoffmann und Antje Schmelcher: »Wo die wilden Kerle wohnten«. Ritalin gegen ADHS. In: FAZ vom 16. 2. 2012.
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Im Ganztagsschulbereich verknüpfen sich jetzt in unheilvoller Weise verschiedene Problemkonstellationen: Zum einen tritt hier vergleichbares Problemverhalten deutlicher zutage. Kinder, deren Verhalten im Halbtagsbereich vielleicht noch als anstrengend, aber tolerierbar akzeptiert worden wäre, geraten sehr viel stärker in eine Mühle. Der Punkt, an dem sich die Verantwortlichen zum Handeln gezwungen sehen, kommt sehr viel früher. Zum anderen lastet auf Ganztagskindern ein höherer Druck, im System zu funktionieren. Der GTS-Besuch geht ja häufig einher mit einer fehlenden häuslichen Betreuungsmöglichkeit. Die Schule dient dann nicht nur als Lernort, sondern auch als Aufbewahrungsstelle. Stößt das Verhalten an eine Grenze des Zumutbaren, ist der Weg zu medikamentösen Lösungen bzw. Scheinlösungen oft vorprogrammiert. Das Kind muss in seinem Verhalten an die Erfordernisse der Gruppe angepasst werden. Die Toleranzschwelle, die in einem häuslichen Umfeld möglich wäre, schwindet. Gunther Moll, Kinder- und Jugendpsychiater aus Erlangen, bezeichnet ADHS in der Tageszeitung Die Welt evolutionsbiologisch als ein »menschliches Verhaltensmuster«, das »notwendig« sei. Über 80.000 Generationen habe es ADHS gegeben, aber erst seit acht, neun Generation gebe es die Schule. Während man früher »die ganze Bandbreite an menschlichen Typen« gebraucht habe, »sucht man heute den normierten Schüler, der in einer Klasse von 25 bis 30 Mitschülern über sechs, inzwischen auch zehn bis zwölf Stunden funktioniert«. Den gestiegenen Medikamentenabsatz erklärt er auch mit verlängerten Schultagen. Den ADHS-Kindern müssen an Ganztagsschulen höhere Dosen verschrieben werden, damit sie den langen Tag samt Hausaufgaben überstehen. »Vor 50 Jahren war ADHS kein Thema, weil die Halbtagsschule uns den Nachmittag zum Austoben ließ«, sagt Moll31. Dementsprechend nimmt der Anteil der Kinder, die chronisch unter Medikamenteneinfluss in die Schule kommen, gerade im Ganztagsbereich kontinuierlich zu. Ein Umstand, der von der empirischen Ganztagsschulforschung in der Regel ausgeklammert wird. Kritiker bezeichnen die inzwischen weit verbreiteten Ritalin-Präparate als drogenartig und gefährlich. Die Frage des Suchtpotenzials wird unterschiedlich bewertet. Es treten Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur auf, die Liste der Nebenwirkungen ist umfangreich. Langzeitfolgen sind noch nicht hinreichend erforscht. Kann man es als normal ansehen, dass in vielen Industrieländern mit Ganztagsschulsystemen inzwischen der Anteil der ADS-Kinder bei 10–20 % eines Jahrgangs liegt? Hier muss die Frage gestellt werden, ob es die betroffenen Kinder sind, die als »krank« einzuschätzen sind, oder aber etwas im Erziehungssystem nicht stimmt. 31 DIE WELT vom 21. 9. 2009.
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Die Tatsache, dass in Deutschland Schätzungen zufolge »nur« 5 % der Kinder unter ADS leiden, sollte zum Schluss führen, dass hierzulande die Lebensumstände offenbar noch nicht ganz so krankheitsfördernd sind wie in anderen Staaten. Dass aber auch hierzulande der Druck auf die Kinder rasant zunimmt, im staatlichen Betreuungssystem geräuschfrei durchzurutschen, belegt der allgemein stark zunehmende Konsum von leichten und schwereren Psychopharmaka bereits im Kindesalter. Aufputschmittel, Schlafmittel und Antidepressiva sind inzwischen zum täglichen Wegbegleiter vieler Kinder und Jugendlicher geworden. Nach einem Bericht des SPIEGELS werden »Deutschlands Kindern und Jugendlichen immer mehr Psychopharmaka verschrieben. […] Von 2005 bis 2012, so das Ergebnis einer Auswertung […] stieg der Anteil jener jungen Patienten, die zur Behandlung ihrer Symptome mindestens ein Neuroleptikum erhielten, um 41,2 Prozent. Neuroleptika, auch Antipsychotika genannt, sind
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Arzneistoffe aus der Gruppe der Psychopharmaka, die ursprünglich zur Behandlung von psychischen Störungen bei Erwachsenen wie etwa Schizophrenie oder bei Halluzinationen eingesetzt wurden.«32 Die Ganztagsschulbewegung wird vermutlich dafür sorgen, dass dieser Trend sich verstetigen wird. Demgegenüber kann man es fast schon als harmlos bezeichnen, dass auch der Einsatz von Antibiotika, fiebersenkenden Mitteln und anderen klassischen Arzneimitteln durch die Ganztagsbetreuung weiter zunimmt. Stellt sich eine Familie erst einmal darauf ein, dass das Kind in einer Einrichtung versorgt ist, werden parallel in der Regel die häuslichen Ressourcen abgebaut. Wozu auch sollte ein Erwachsener zu Hause bleiben, wenn das Kind ohnehin in der Schule betreut ist? Zum Problem wird dieser Umstand im Krankheitsfall. Auch wenn es gesetzlich garantierte Möglichkeiten gibt, in solchen Fällen Sonderurlaub in Anspruch zu nehmen, so stellen sich in der konkreten Situation doch häufig Schwierigkeiten ein, z. B. wenn der Arbeitgeber keine flexiblen Ersatzlösungen hat oder wenn das gesetzliche Kontingent bereits ausgeschöpft ist. Viele Erwerbstätige sind einfach im Betrieb unersetzlich bzw. sie fühlen sich unersetzlich. In jedem Fall ist das gesellschaftliche Bewusstsein für familiäre Problemsituationen infolge erkrankter Kinder wenig ausgeprägt. Also steigt umgekehrt die Bereitschaft, harmlosere Erkrankungen schnell und radikal medikamentös zu behandeln. Die negativen Folgen von starkem Antibiotikum-Einsatz sind hinreichend bekannt. Die fehlenden Möglichkeiten, eine Krankheit in Ruhe zu Hause auszukurieren, führen im Endeffekt dazu, dass sich viele Kinder halb krank in die Schule quälen. Macht Schule also krank? In dieser pauschalisierenden Frage schwingt natürlich auch ein Vorwurf mit, der sowohl an die Adresse der Eltern wie an die Adresse der Schulen ungerecht ist. Beide Seiten sind ja in aller Regel ehrlich um das Kindeswohl bemüht. Die Eigendynamik des Systems Ganztagsschule aber erzeugt komplexe Problemsituationen, die selten in den Blick genommen werden. Gleichwohl ist übertriebene Panik nicht angebracht, denn viele Schülerinnen und Schüler verkraften auch eine Ganztagsschule weitgehend schädigungsfrei. Dass aber deren Einflüsse insgesamt gesehen gesundheitsbeeinträchtigend sind, steht wohl außer Frage. Dagegen hilft auch nicht das dauerhafte »Gesundbeten« der Ganztagsschule in der öffentlichen Diskussion.
32 DER SPIEGEL vom 23. 1. 2014.
11. Wo ist Bullerbü?
Es war schön, dort [in Näs] Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. Astrid Lindgren: Das entschwundene Land In ihren eigenen Kindheitserinnerungen kehrt die bekannte schwedische Kinderbuchautorin zu ihren Ursprüngen im småländischen Hochland zurück, die sie vorher schon literarisch in vielen ihrer Geschichten verarbeitet hatte. Ihre eigene Kindheit spiegelte sie vor allem in den Bullerbü-Bänden wider. Die konkreten Geschichten sind zwar nicht eins zu eins der Realität entnommen, aber viele Einzelepisoden dieser und anderer Bücher sind streng genommen nicht erfunden, sondern dem wahren Leben kunstvoll nacherzählt. Mehr aber noch als die konkrete Handlung lässt sich die Grundstimmung vieler ihrer Bücher, namentlich der Bullerbü-Bände, als autobiografisch deuten. So heißt es im »entschwundenen Land« weiter: »In unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, so dass es das reine Wunder ist, dass wir uns nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, dass unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluss, lange bevor wir schwimmen konnten.« »Geborgenheit und Freiheit« bilden tatsächlich das Grundgerüst auch der Bullerbü-Geschichten, die so wenig spektakulär sind und dennoch geradezu Synonym einer idealen Kindheit geworden sind: Bullerbü-Welt = heile Welt = Kindheitsidylle – frei von großen Sorgen, größtmögliche Freiheit innerhalb einer behüteten Umwelt.
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Diese Freiheit war nicht frei von Pflichten: Auf die kleine Kerstin aufpassen, einkaufen gehen, beim Schuster die Schuhe abholen usw. Über ihre eigene Kindheit schreibt Astrid Lindgren weiter: »Dass wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache der Welt. Schon mit sechs Jahren mussten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen.« Es handelt sich um die konkret anfallenden Arbeiten auf dem elterlichen Bauernhof. Erstaunlich, dass die Autorin, die von ihren kreativen Einfällen lebte, ausgerechnet diese doch vergleichsweise monotonen Tätigkeiten als wichtig für ihr späteres berufliches Leben herausstellt: »Ich glaube, es war eine nützliche Lehre, die einem später im Leben half, auch mit eintöniger Arbeit ohne allzu viel Gestöhne und Gejammer fertig zu werden.« Das Kreative wurde nicht von den Erwachsenen gefördert, das kam von allein. Eltern, Lehrer und andere Erwachsene hatten andere Rollen. Was sie einforderten, entsprach nicht den Wünschen der Kinder. Erziehung bedeutete Zwang, Pflichten, Aufgaben. Diese waren sehr konkret und deutlich spürbar. Sie entsprangen meist tatsächlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten und wirkten gerade dadurch prägend. Aber sie erfassten nicht den ganzen Tag. Die meiste Zeit des Tages konnten die Kinder frei gestalten. Drei wesentliche Elemente prägen also die Kinder-Idylle sowohl der Bullerbü-Welt als auch der realen Kindheit ihrer Erfinderin: Reale Pflichten, große Freiheit und die Geborgenheit in sicheren familiären und gesellschaftlichen Strukturen. Keines dieser drei Elemente kann Ganztagsschule wirklich bieten: Auch wenn sie sich in ihren Strukturen um Verlässlichkeit bemüht, kann sie nicht Geborgenheit herstellen. Schule ist nicht der Schutzraum, den Kinder brauchen, um sich sicher zu fühlen. Lehrer und Erzieher können empathisch handeln, aber sie behalten ein distanziertes, professionelles Verhältnis zu den ihnen anvertrauten Schülern. Freiheit zu gewährleisten, ist schier unmöglich. Gerade das freie Spiel, das nicht auf bestimmte Zwecke gerichtet ist, das der Fantasie der Kinder direkt entspringt und nicht von Erwachsenen gelenkt wird, kann in Ganztagsschulen keine angemessene Berücksichtigung finden. Es wäre an der Zeit, dieses freie Spiel als zentrales Element kindlicher Entwicklung auch bei Kindern, die der Kita bereits entwachsen sind, viel stärker zu würdigen. Als erschreckende Anmaßung muss es gewertet werden, wenn geleitete, vorprogrammierte Beschäftigung höher gewertet wird. Nur im freien Spiel kann sich der kindliche Fantasiereichtum wirklich entfalten. Es müssen also Räume geschaffen bzw. erhalten werden, in denen das freie Spiel Platz finden kann.
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Andernfalls entwickelt sich auch keine freie und selbstbestimmte Persönlichkeit. Und »echte« Aufgaben kann es in einer Institution, die ja für die Betreuung von Kindern entwickelt wurde, schwerlich geben. »Schulaufgaben« sind keine »echten Aufgaben«. Sie werden erfunden, um gelöst zu werden, damit anschließend neue Aufgaben gestellt werden können. Alle Versuche, aus einer Schule eine Bullerbü-Idylle zu machen, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn aber Schule schon nicht ideale Lebenswelt für Kinder sein kann, wie sieht es mit den Familien aus? Ist es in der Familie heute (noch) möglich, Kindern einen Aktionsradius einzuräumen, in dem sie eigene Erfahrungen sammeln können, ihnen einen Rahmen zu schaffen, in dem sie sich sicher und aufgehoben fühlen können, ihnen mit häuslichen und familiären Pflichten einen realen Zugang zur Welt der Arbeit, Verantwortung und aktiven Lebensgestaltung zu schaffen? Warum nicht! Gewiss ist es heute schwieriger als vor 100 Jahren, zumal in einem städtischen Umfeld, in dem nur wenige Nachbarskinder wohnen, wo reger Autoverkehr auf den Straßen herrscht und wo es weitere Gefahrenquellen gibt, die man sich in Astrid Lindgrens Kindertagen noch nicht ausmalen konnte. Die insgesamt unstetere Lebensweise der Erwachsenengeneration wirkt unweigerlich auch auf die Kinder weiter. Unsere Lebensumstände können nicht mehr die gleiche Stabilität und innere Geschlossenheit ausstrahlen
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wie die dörflich-ländlichen des letzten Jahrhunderts. »Entschwundenes Land« also, wie Astrid Lindgren es nennt? Nein: Die wesentlichen Möglichkeiten, um im familiären Rahmen eine »Bullerbü-Welt« zu schaffen, liegen nach wie vor in unseren Händen. Wir müssen sie nur nutzen. Nach wie vor finden sich unsere Kinder mit ihrem eigenen Leben in den Bullerbü-Geschichten des »entschwundenen Landes« wieder. Sie fahren zwar nicht mit dem Ochsenkarren zur Mühle, aber wenn sie mit dem Fahrrad eine Erledigung machen, passieren ihnen ganz ähnliche Sachen. Auch heute werden hier und da noch Schuhe zum Reparieren weggebracht und abgeholt. Auch heute noch gibt es Nachbarhäuser, wo man sich vor dem Hund in Acht nehmen muss. Auch heute noch gibt es Familien, wo die kleineren Geschwister versorgt werden müssen. Man schläft in einer heißen Sommernacht nicht mehr auf dem Heuboden, aber stattdessen vielleicht im Gartenschuppen oder im Zelt usw. Unsere Kinder spüren beim Lesen oder Zuhören, dass die Bullerbü-Kinder eigentlich ganz »normale« Kinder sind mit »normalen« Erlebnissen aus einer ganz »normalen« Welt. Überall ist Bullerbü.
12. Empirische Bildungsforschung und Ganztagsschule
Empirische Forschung war lange Zeit ein Stiefkind in der deutschen Bildungsund Erziehungswissenschaft. Spätestens seit der PISA-Studie hat sich dieser Umstand in sein Gegenteil verkehrt. An jeder Diskussionsecke sprießen statistische Erhebungen wie Unkraut aus dem Boden. Es wird gemessen und getestet. In den allermeisten Fällen wird »befragt«, also mit Hilfe von Fragebögen statistisch auswertbares Material gesammelt, auf das sich die Ergebnisse stützen. Es bleibt zu hoffen, dass der plötzliche Hype bald wieder verebben wird. Wer heute in der Bildungslandschaft etwas bewegen will, benötigt Zahlenmaterial, mit dem er seine Thesen untermauern kann. Dieses liefern quasi auf Bestellung jene Studien und Untersuchungen, die aufgrund der Messbarkeit ihrer Ergebnisse besonders wissenschaftlich daherkommen. Sie umgeben sich mit einer Fülle von Zahlen, Kurven und Koordinaten und erwecken dabei den Anschein, als würden sie mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit sichere Analysen und Prognosen herstellen. Gegen Zahlen gibt es keine Argumente! In den Naturwissenschaften gilt eine These als erwiesen, wenn sie jederzeit von jedem und überall nachgeprüft werden kann. Wichtigstes Instrument dafür ist das Experiment. Dabei werden möglichst viele Faktoren ausgeschaltet, damit die wenigen Faktoren, die gerade von Interesse sind, auch in ihrer Wirksamkeit erkannt werden können. Will ich herausfinden, wie Wasserstoff mit Sauerstoff reagiert, dann muss ich darauf achten, dass außer diesen beiden Elementen keine weiteren mehr am Prozess beteiligt sind. Prüft ein anderer Wissenschaftler die Ergebnisse nach, muss er zu denselben Ergebnissen kommen. Unter Umständen zeigt sich aber, dass z. B. Temperatur, Druck oder Mischungsverhältnis das Messergebnis beeinflussen können. Bereits die einfache pauschale Aussage, dass Wasser entsteht, wenn Wasserstoff und Sauerstoff aufeinander treffen, kann nicht ohne weiteres generalisiert werden. Ein wissenschaftlich sauber durchgeführter Versuch muss also, um als allgemeingültig anerkannt zu werden, so viele Bedingungen wie möglich definieren. Im Umkehrschluss kann festgehalten werden, dass das Untersuchungsergebnis eben nur unter bestimmten Rahmenbedingungen verallgemeinert werden kann. Eine Bildungsstudie, die auf naturwissenschaftlichem Niveau Ergebnisse
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produzieren soll, müsste sich dasselbe enge Korsett anlegen. Will ich herausfinden, ob deutsche oder russische Zweitklässler besser lesen können, muss ich zunächst genau definieren, was denn »besser lesen« bedeutet. Geht es um schnelleres Lesen, fehlerfreies Lesen oder geht es um richtige Betonung? Schnelligkeit kann mit der Uhr gestoppt werden, Fehler können gezählt werden, aber wie soll die Betonung quantifiziert werden? Wer genauer hinsieht, wird feststellen, dass auch das vermeintlich einfache Fehlerzählen seine Tücken hat, denn ohne Gewichtung nach Fehlerarten macht das reine Zählen keinen Sinn. Der erste Reflex der empirischen Bildungsforschung besteht in der Regel darin, gezielt nach jenen Kriterien zu suchen, die am einfachsten messbar sind. In diesem Fall wäre es vielleicht die Geschwindigkeit. Will ich die beiden anderen Kriterien messen, bin ich automatisch gezwungen, individuelle Maßstäbe zu definieren, die ein anderer Wissenschaftler nach anderen Wertentscheidungen anders setzen würde. Er würde dementsprechend auch zu anderen Ergebnissen kommen. Vergleichende Leistungstests stehen immer im Spagat zwischen klaren Messergebnissen auf der einen Seite und Tragweite der Ergebnisse auf der anderen Seite. Messe ich nur die Geschwindigkeit, dann erhalte ich im Endeffekt kein Ergebnis über die Leseleistung, sondern eben nur über das Lesetempo. Messe ich auch die anderen Faktoren, begebe ich mich in einen Bereich, der sich klarer Nachprüfbarkeit entzieht. Damit ist die Problematik empirischen Arbeitens in der Bildungsforschung bei Weitem noch nicht beschrieben. Im vorliegenden Fall müsste z. B. noch gefragt werden, wie das Tempo genau gemessen werden kann. Da die Kinder ja unterschiedliche Sprachen lesen, müssen logischerweise zwei verschiedene Texte, ein russischer und ein deutscher, gewählt werden. Geht es dann um die Anzahl der Wörter, der Silben oder der Buchstaben? Für jede der drei Varianten ließen sich Argumente finden. Da die beiden Sprachen verschiedene Buchstaben verwenden, müsste auch danach gefragt werden, ob vielleicht eine der Schriften schwerer gelesen werden kann als die andere, z. B. weil es mehr Buchstaben gibt oder weil Verwechslungen leichter möglich sind. Gleiches gilt auch für die Sprachen, die gelesen werden: Eine Sprache mit wenigen Lauten liest sich vermutlich leichter als eine solche mit vielen und komplexen. Von Bedeutung ist auch die Frage, wie klar sich aus den Buchstaben der Laut ableiten lässt. In manchen Sprachen wird quasi das gelesen, was notiert ist (z. B. im Lateinischen), in anderen Sprachen werden Buchstabenkombinationen in bestimmten Zusammenhängen anders gesprochen (z. B. das Schluss-S im Französischen), wieder andere Sprachen scheinen fast ganz ohne Regelwerk zu funktionieren, was den Zusammenhang zwischen Schriftbild und Lautbildung angeht (z. B. engl.: steak oder teak). Derartige Faktoren müssten zunächst genau analysiert
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werden. Danach könnte erst entschieden werden, wie man die Leseleistung vergleicht, um einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen. Auch müssten weitere Faktoren berücksichtigt werden: In welchem Alter werden die Kinder eingeschult? Kommen sie erst spät ins erste Schuljahr, dann werden sie vermutlich dafür etwas schneller lernen und sind im zweiten Schuljahr schon weiter, dafür sind sie aber auch etwas älter. Gerade dieser Punkt sorgt in internationalen Studien oft für Verwirrung. Geht man vom Schuljahr aus oder vom Alter? Beide Vorgehensweisen verzerren das Messergebnis. Bliebe noch die Frage, wie man die Vergleichsgruppen genau auswählt. Man müsste versuchen, Kinder aus vergleichbaren Gesellschaftsschichten zu testen. Und schon wieder lauert der Teufel im Detail. Bezieht man z. B. den Begriff »Mittelschicht« rein einkommensabhängig auf eine im jeweiligen Land durchschnittliche Einkommensgruppe oder vergleicht man Familien in absolut gesehen ähnlichen materiellen Verhältnissen? Rechnet man nach Familieneinkommen oder Pro-Kopf-Einkommen? Noch komplizierter wird die Auswahl, wenn schwammige Begriffe wie »Bildungsnähe und -ferne« berücksichtigt werden sollen. Jeder einzelne Begriff, der von statistischer Relevanz sein soll, muss vorher operationalisierbar gemacht werden. Hunderte von Definitionen und Vorentscheidungen der Forscher beeinflussen die Ergebnisse. Verschiedene Forscher würden verschiedenartige Versuchsreihen durchführen und höchstwahrscheinlich auch zu verschiedenen Endergebnissen kommen. Naturwissenschaftliche Genauigkeit und Nachprüfbarkeit sieht jedenfalls anders aus. Jetzt kann man den Forschern zugutehalten, dass sie sich der Problematik durchaus bewusst sind. In ihren Studien formulieren sie teilweise sehr vorsichtig und beschreiben sorgfältig ihre Datenbasis. Problematisch jedoch wird die Rezeption der Ergebnisse in der öffentlichen Diskussion, in den Medien und durch die Bildungspolitik. Wenn in der Zeitung zu lesen stünde, dass russische Grundschüler doppelt so gut lesen wie deutsche, wer fragte dann danach, was genau untersucht wurde, was denn »doppelt so gut« bedeuten soll, und ob nicht wieder einmal Äpfel mit Birnen verglichen wurden? Allzu häufig drängt sich der Verdacht auf, dass Ergebnisse von vornherein bewusst produziert werden – sei es, um größere Aufmerksamkeit für die eigene Arbeit zu gewinnen, sei es, um bestimmte bildungspolitische Zielvorstellungen endlich empirisch »beweisen« zu können, sei es, um einen Auftraggeber zufriedenzustellen. Die so genannten StEG-Studie ist die bislang aufwändigste empirische Studie zur Ganztagsschule. »Studie zur Entwicklungen von Ganztagsschulen« nennt sich das gigantische Projekt, in dem zwischen 2005 und 2010 ca. 300 Ganztags-
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schulen evaluiert wurden33. Befragt wurden in drei Wellen jeweils Schulleitungen, außerschulische Kooperationspartner, Tausende Lehrer, weiteres pädagogisches Personal, ca. 20.000 Eltern, 30.000 Schüler. Mehrere Millionen Daten wurden erhoben und ausgewertet und zurechtgerechnet, bis in den Tageszeitungen das verkürzte Fazit nachgelesen werden konnte, dass die Einführung der Ganztagsschule ein voller Erfolg gewesen sei und dass dies nun auch endlich wissenschaftlich belegt sei. Was steckt aber genau hinter der Studie? Diese Frage wurde gar nicht gestellt, waren es doch namhafte Wissenschaftler und seriöse Institutionen, die die Verantwortung trugen. Blicken wir also jetzt in die Details und stellen wir Fragen, auf die es vermutlich keine schlüssigen Antworten geben wird. Zunächst muss befremden, dass nur Ganztagsschulen evaluiert wurden. Wer also einen Vergleich zwischen Halb- und Ganztagsschulen erwartet, wird enttäuscht. Welchen Sinn aber macht dann die Studie überhaupt? Wenn ich etwas über die Qualität eines Stromanbieters, eines Computers oder eines Fußballspielers wissen möchte, vergleiche ich mit Konkurrenten. Sonst entsteht keine tragfähige Aussage. In StEG werden die an den GTS-Angeboten teilnehmenden Schüler mit den übrigen Schülern derselben Schule verglichen – sofern überhaupt Vergleiche gezogen werden. Ein Großteil der Untersuchung beschäftigt sich überhaupt nicht mit der Frage nach Ganz- oder Halbtagsschule. Die evaluierten Schulen mit verpflichtender GTS erlauben ohnehin gar keine Gegenüberstellung. An Schulen mit kompletten GTS-Klassen ist fraglich, ob die Halbtagsklassen den Fragebogen überhaupt erhalten haben. Die entscheidende Frage, ob nämlich eine Halb- oder eine Ganztagsschule im Endeffekt bessere Ergebnisse erzielt, wird erst gar nicht gestellt. In StEG gilt als GTS-Teilnehmer, wer mindestens einmal in der Woche am GTS-Angebot teilnimmt. Das kann im Extremfall ein klassischer Halbtagsschüler sein, der mittwochs um 14.30 Uhr die Basketball-AG besucht, sofern diese AG im Plan der GTS vertaktet ist. Ein nächstes großes Manko der Studie ist die Datenbasis, denn sie wurde ausschließlich über Fragebögen erzeugt. Schülerleistungen wurden nirgends gemessen. Anders als z. B. bei PISA gab es keinerlei Prüfung oder Test, also ist auch eine Aussage in Bezug auf schulische Leistungen auf Basis der Studie quasi unmöglich. StEG versucht diese Lücke zu schließen, indem z. B. nach Versetzung und Nichtversetzung gefragt wird. Aber selbst hier werden keine verlässlichen Daten aus der Schulstatistik erhoben, sondern es wird auf Befragungs33 Internetauftritt: www.projekt-steg.de. Im Mai 2015 wurde die zweite Befragungsrunde abgeschlossen, bei der ab 2012 rund 2000 GTS befragt wurden. Das Ergebnis stand zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches noch aus.
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bögen zurückgegriffen. Es muss dazu gesagt werden, dass die Teilnahme an der Befragung freiwillig war und dass die Schulen vor Ort selbst die Details der Befragung organisiert haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Das meistzitierte Teilergebnis der Studie, »dass der Besuch einer vollgebundenen Ganztagsschule das Risiko reduziert, in der Sekundarstufe I eine Klasse wiederholen zu müssen«, erstrahlt jetzt in sehr diffusem Licht: Die »vollgebundenen« GTSFormen, also solche mit verpflichtender Teilnahme am Ganztag im Klassenverband, sind zurzeit noch in der absoluten Minderheit. Meist sind es Schulen mit besonderem Profil, oftmals Privatschulen. Und in der Masse der verschiedenen GTS-Formen gilt die Beobachtung also offenbar nicht mehr. Nur wer die Studie aufmerksam studiert hat, versteht, dass hier nicht Ganztags- mit Halbtagsschulen verglichen werden, sondern Ganztagsschultypen untereinander. Welche Tragweite also hat dieses Ergebnis, das in der Presse so gern zitiert wird? Bezeichnend auch viele Formulierungen in den Erhebungsbögen selbst34: So sollten Lehrer beispielsweise auf die Frage »Wie wichtig sind für Sie folgende Aspekte, wenn Sie an eine Ganztagsschule denken?« verschiedene Optionen (z. B. Individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler, Verlässliche Betreuungszeiten, Förderung von Selbstständigkeit, Neue Formen für Unterricht und Lernen usw.) auf einer vierstufigen Skala gewichten (Gar nicht wichtig, Eher nicht wichtig, Eher wichtig, Sehr wichtig). Warum wurde nicht direkt gefragt, ob die bestehende Ganztagsschule z. B. einen positiven Beitrag zur individuellen Förderung, zur Förderung der Selbstständigkeit usw. leistet? Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Immer wieder gehen die Macher der Studie den Gretchenfragen der Ganztagsschule aus dem Wege. So fragen sie z. B. »Wie zufrieden sind Sie mit …« (Frage 12). Es folgen jetzt Einzelaspekte zur konkreten Umsetzung des Ganztags vor Ort, aber nicht zur allgemeinen Einschätzung des Ganztagskonzepts. Fürchten die Autoren etwa, dass sich Lehrkräfte hier grundsätzlich ablehnend äußern könnten? Geschickt wird darauf geachtet, eine solche Äußerung erst gar nicht auftauchen zu lassen. Lieber fragt man nach Verbesserungsmöglichkeiten (Frage 13): »Welche Veränderungen sind Ihrer Meinung nach nötig, um den Ganztagsbetrieb zu optimieren?« Diese Methode gipfelt in Frage Nr. 14: »Bei wie vielen Schülerinnen und Schülern, die am Ganztagsbetrieb teilnehmen, haben sich in Ihrer Wahrnehmung die folgenden Punkte positiv verändert?« Aufgelistet werden jetzt »Fachliche Leistungen«, »Lernverhalten«, »Selbstständigkeit«, »Fähigkeit zur Gruppenarbeit« usw. Warum wurden negative Veränderungen als Rückmeldung von 34 Die Fragebögen sind veröffentlicht bei Peter Furthmüller: Codebuch Lehrkräfte. Dokumentation der Fragebögen 2005 bis 2009 im Rahmen der StEG-Studie. München 2014, S. 30 ff.
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vornherein ausgeschlossen? Die Frage hätte korrekt lauten müssen: »Wie haben sich bei Schülerinnen und Schülern, die am Ganztagsbetrieb teilnehmen, in Ihrer Wahrnehmung die folgenden Punkte verändert?« Stattdessen werden die Ausfüllenden eng an der Hand geführt: Nur positive Veränderungen dürfen wahrgenommen werden. Was in der pädagogischen Fachsprache als »gelenkte Wahrnehmung« bezeichnet wird, hat in einer wissenschaftlichen Erhebung aber nichts zu suchen. Dabei hält man sich formal an die üblichen Formen quantitativer Forschung, in der dem einzelnen Item nur positive Werte zugeordnet werden dürfen (z. B. eine Skala von 1 bis 4). Es erhärtet sich der Verdacht, dass die Studie von Anfang an mit dem Ziel erarbeitet wurde, ein positives Bild der Ganztagsschule zu zeichnen. Ein genauerer Blick auf die Auftraggeber der Studie kann diesen Vorverdacht bestätigen: »Finanziell gefördert wird StEG aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sowie des Europäischen Sozialfonds (ESF), dem zentralen arbeitsmarktpolitischen Förderinstrument der Europäischen Union«, heißt es lapidar im Einleitungstext der Ergebnisbroschüre35. Welche Ziele das Ministerium verfolgt, ist insofern leicht zu erraten, als es selbst erst wenige Jahre vorher die große Ganztagsoffensive unter dem Motto »Zeit für mehr« angestoßen hatte. Es setzt sich darin ein bedenklicher Trend fort, größere Vorhaben behördlicherseits selbst empirisch zu begleiten, sei es auch nur als Auftraggeber. Parallel zum eigentlichen Prozess werden sofort Argumente quasi nach Auftragslage produziert, die das Projekt stützen sollen – und das alles »streng wissenschaftlich«, wie sich versteht. Die Interessenlage des »arbeitsmarktpolitischen Förderinstruments der Europäischen Union« klärt sich insoweit sehr einfach, als hier der Fokus eben auf arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen liegt. Dem drohenden Fachkräftemangel in der nahen Zukunft begegnet man am einfachsten, indem Betreuungsangebote bereitgestellt und beworben werden. Solange sich deutsche Eltern weiter selbst um ihre Kinder zu Hause kümmern, fehlen dem Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit dringend benötigte Kräfte. Da passt es natürlich perfekt ins Konzept, wenn eine deutschlandweit anerkannte Studie den Nutzen der Ganztagsschule schlüssig erweisen kann, am besten nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Schließlich soll die Hemmschwelle fallen, Kinder ganztägig betreuen zu lassen. Es hat den Anschein, als sollten die in StEG hervorgebrachten pseudopädagogischen Argumente als Feigenblatt dienen, um die handfesten ökonomischen Interessen zu kaschieren, die hinter den Befürwortern der GTS-Bewegung stehen. 35 Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkungen, S. 5.
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Bei detaillierter Durchsicht der Studie zeigt sich, dass auch die Bundesländer eng in den Forschungsprozess eingebunden waren. Offen wird zugegeben, dass sie teilweise sehr direkt auf methodische Details Einfluss nehmen konnten. Dies war insofern einfach, als bei der Durchführung der Studie die Zusammenarbeit mit den Kultusministerien der Länder unabdingbar war. Aus Sicht der Auftraggeber war dies allerdings wenig nachteilig, liegen doch die Länderinteressen weitgehend auf einer Linie mit denen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Wer eine GTS-Welle in Gang gesetzt hat, möchte gern nachlesen können, wie richtig, wichtig und nachhaltig sie war. Kaum vorstellbar, wie Bund, Länder und Europäischer Sozialfond reagiert hätten, wenn über StEG erwiesen worden wäre, dass die Ganztagsschule ein Flop sei! »Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing«, sagten sich schon die fahrenden Sänger des Mittelalters. Umso mehr erwies es sich als »Glücksgriff«, dass man mit Prof. Eckhard Klieme einen erklärten Freund der Ganztagsschule als Kapitän ins Boot holen konnte. Bei der Vorstellung der StEG-Studie auf dem Ganztagsschulkongress 2011 in Berlin erklärte Klieme freimütig: »Ich freue mich, Ihnen heute von den Ergebnissen dieser Studie, die ja auch Teil der [Ganztagsschul-]Bewegung ist, berichten zu dürfen. Wir haben uns als Team immer verstanden als ein Teil der Ganztagsschulbewegung.«36 Diese Aussage ist höchst bemerkenswert: Ein Team, das sich als Teil einer Bewegung definiert, wird damit beauftragt, über den pädagogischen und gesamtgesellschaftlichen Wert derselben Bewegung zu forschen. Früher lernten an den Universitäten die Erstsemestler noch in einer Veranstaltung, die sich »Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten« nannte, dass zur Forschung notwendigerweise die Unabhängigkeit des Forschers gehöre. Seit den Zeiten Humboldts galt die Distanz des Wissenschaftlers zum Gegenstand als oberstes Gebot akademischer Integrität. Kein Physiker würde die Gesetze der Schwerkraft erforschen wollen, während er sich selbst im Fall befindet. Wer als Hohenzoller geboren ist, sollte nicht unbedingt eine historische Studie über den Hochadel im deutschen Kaiserreich in Angriff nehmen. Gleiches muss umso mehr für die Sozialwissenschaften gelten. Oder wollen wir in Zukunft Börsenhändler mit einer Studie über die Ethik des Finanzmarktes beauftragen, oder McDonalds zu Ernährungsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen und die Mafia zum Thema Innere Sicherheit in Großstädten? Wer sich selbst als Teil einer Bewegung betrachtet 36 Als Audio-File veröffentlicht unter http://www.ganztaegig-lernen.de/steg-studie-ganztagsschulen-machen-sinn.
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und damit bereits ideologisch klar positioniert hat, kann nicht in Anspruch nehmen, wissenschaftlich darüber arbeiten zu können. Umso erstaunlicher und umso aussagekräftiger ist es nun, dass es der StEGStudie in vielen Fällen dennoch nicht gelungen ist, positive Befunde zu produzieren. So wird beispielsweise zugegeben: »Hatten sich in den Daten aus den ersten beiden Erhebungswellen noch leicht positive Effekte der Ganztagsteilnahme auf die Entwicklung der Noten in Deutsch und Mathematik gezeigt, so wirkt sich die bloße Teilnahme langfristig nicht mehr aus. Der ursprünglich festgestellte Vorteil der Ganztagsschülerinnen und -schüler gegenüber den nicht teilnehmenden Jugendlichen ist also nicht nachhaltig.«37 Auch das gern vorgebrachte Argument eines Ausgleichs sozialer Benachteiligung durch die Ganztagsschule konnte nicht erwiesen werden: »Auch für Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen nachweisen – es liegt in dieser Hinsicht also kein kompensatorischer Effekt für bildungsbenachteiligte Schülergruppen vor.«38 Obwohl alle Voreinstellungen in eine bestimmte Richtung gingen und obwohl alle Verantwortlichen in dieselbe Richtung wollten, blieben viele Untersuchungswünsche unerfüllt. Prof. Klieme drückt den traurigen Umstand so aus: »Viele haben sich erwartet – ich selbst eingeschlossen –, dass die Ganztagsschulen dazu beitragen können, Schulleistungen zu verbessern, speziell auch schwächere Schüler zu fördern, Lernmotivation zu steigern, Schulfreude zu steigern. Und da müssen wir sagen: So wie Ganztagsschulen derzeit aussehen, finden wir keinen generellen Effekt in diese Richtung. Hier reicht das, was Ganztagsschule in der Breite bietet, noch nicht aus.«39 Auf die Idee, daraus zu folgern, dass das Grundkonzept der Ganztagsschule eben falsch sei, kommt er erst gar nicht. Die Betonung liegt ja auf »noch«. »Noch« 37 Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkungen, S. 17. 38 Ebd., S. 17. 39 Audio-File unter http://www.ganztaegig-lernen.de/steg-studie-ganztagsschulen-machen-sinn.
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reicht es nicht aus. Positive bzw. vermeintlich positive Befunde schreibt er der Schulform an sich zu. Negative Befunde werden als Startschwierigkeiten, Kinderkrankheiten des Systems gewertet, als qualitative Unvollkommenheit der Schulen vor Ort. Ein bezeichnendes Licht auf die Arbeitsweise des »Teams« wirft ein weiteres Zitat Kliemes. Im Zusammenhang mit den Auswirkungen von Angebotsvielfalt an Ganztagsschulen stellt er ernüchtert fest: »Wir sehen leider, dass wir keine Auswirkungen der Angebotsvielfalt nachweisen können. Wir haben danach gesucht. Wir haben gesagt, es müsse doch einen Effekt haben, wie breit die Angebotspalette in einer Schule ist. Aber wir sehen sie nicht.«40 So redet kein Wissenschaftler, sondern ein Jünger, derjenige, der vom Glauben an eine Sache geleitet ist, und – wie er selbst einräumt – bestimmte Dinge gern sehen möchte, auch wenn sie »noch« unsichtbar sind. In der Ergebnisbroschüre zu StEG liest man: »Dass die statistisch identifizierbaren Effekte recht schwach sind, weist darauf hin, dass in Praxis und Forschung weiteres Potenzial vorhanden ist.«41 Warum bitte weist es nicht darauf hin, dass die positiven Effekte der Ganztagsschule schwach sind bzw. dass die Ganztagsschulbewegung auf dem falschen Weg ist? Nein, empirische Bildungsforschung im Sinne von StEG bedeutet: Es wird geforscht, um bestimmte Ergebnisse zu erhalten, und wenn dies nicht gelingt, dann liegt es eben daran, dass die Untersuchungsmethoden noch falsch waren. Soviel steht fest: Bei der nächsten Untersuchung werden diese »Fehler« nicht mehr auftreten. Man weiß ja jetzt, wo die Problemstellen liegen und wird sie dann elegant umschiffen. Eines der Forschungsergebnisse, das in den Augen der Autoren von StEG als Erfolg gewertet wird, sei die Förderung der sozialen Entwicklung durch die Teilnahme am Ganztagsangebot. »So etwas überhaupt festzustellen in der Schulforschung, ist ziemlich schwierig. Und ich bin froh, dass wir das zeigen konnten«42, lobt sich Klieme im Interview. Wieso ist er denn froh? Er könnte sich doch genauso freuen, wenn er »gezeigt« hätte, dass sich die Halbtagsschüler besser entwickelt hätten. Als objektiver Forscher müsste er versuchen, seine eigenen Emotionen ganz aus dem Forschungsprozess herauszuhalten. Schauen wir aber noch genauer hin, was er eigentlich »zeigen« konnte: StEG definiert 40 Ebd. 41 Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkungen, S. 3. 42 Audio-File unter http://www.ganztaegig-lernen.de/steg-studie-ganztagsschulen-machen-sinn.
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soziales Lernen mit Hilfe einer Handvoll Fragen, unter anderem über »Störungen im Unterricht«. Im Bogen sollen sich die Befragten selbst einschätzen: »Ich habe … bei Klassenarbeiten erheblich gemogelt … den Unterricht erheblich gestört … einen Lehrer oder eine Lehrerin geärgert oder provoziert.« Bei den GTS-Teilnehmern nimmt der Wert laut Skala vom 5. bis zum 9. Schuljahr ab, nachdem er auf höherem Niveau gestartet war, während er bei den NichtGTS-Teilnehmern zunimmt. Dies werten die Autoren als Beleg dafür, dass sich »über die Zeit hinweg das Sozialverhalten der regelmäßigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer positiver als das ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden entwickle«.43 Abgesehen davon, dass diese Folgerung wiederum nur auf Fragebögen und der Selbsteinschätzung der Befragten beruhen, und dass der schillernde Begriff des »sozialen Lernens« hier wiederum in wenigen Einzelaspekten statistisch eingefangen wurde: Ist das denn nicht ein sehr befremdender Befund, der allen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen wie auch dem Alltagswissen diametral entgegen steht: Fünftklässler im Alter von zehn bis elf Jahren verhalten sich im Unterricht undisziplinierter und unangepasster als voll pubertierende Neuntklässler, und dies nicht nur von außen betrachtet, sondern auch in der eigenen Selbsteinschätzung? Dies sollte doch eher als alarmierendes Zeichen gedeutet werden, dass in der Schulform Ganztagsschule etwas schief läuft. Betrachten Jugendliche an Ganztagsschulen ihr Umfeld möglicherweise gar nicht mehr als Reibungsfläche, haben sie sich so sehr an das System gewöhnt, oder sind sie vielleicht einfach müde und abgestumpft gegenüber einer Einrichtung, in der sie inzwischen so viele Stunden ihres Lebens zugebracht haben? So wie man bei älteren Wellensittichen beobachten kann, dass sie den Käfig nicht mehr verlassen, wenn man die Tür öffnet, weil ihr Freiheitsdrang inzwischen eingeschlafen ist? In den Augen der StEG-Autoren würde das Verhalten des Vogels als »sozial-kompetent« gewertet werden. Er hat sich seinem Lebensumfeld soweit angepasst, dass er nicht mehr ausbrechen will. Ist unser Idealbild von jugendlicher Entwicklung wirklich auf den Aspekt der Angepasstheit, der Stromlinienförmigkeit, der Einordnung in die Gruppe reduziert? Als Kernergebnis der Studie formuliert StEG: »Der Besuch des Ganztags wirkt sich positiv auf die Entwicklung des Sozialverhaltens, der Motivation sowie der schulischen Leistungen aus, wenn er dauerhaft und regelmäßig erfolgt und zudem die Qualität der Angebote hoch ist.«44 43 Entwicklungen und Wirkungen, S. 15. 44 Ebd., S. 14.
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So ähnlich äußern sich ansonsten nur Politiker nach verlorenen Wahlen. Die Wahrheit wird so dick verpackt, dass die unbedarften Leser – und mit ihnen auch leider die meisten Redakteure in den Medien – darüber hinweglesen. Man muss schon aufmerksam sein, um die Tragweite der Einschränkung zu verstehen: Nicht der Ganztag an sich bringt positive Effekte, sondern die »Qualität der Angebote«, was auch immer darunter zu verstehen ist. Man kann das Ergebnis der millionenschweren Studie auch so zusammenfassen: Eine Schule, die dem vordefinierten Qualitätskriterienkatalog der Autoren entspricht, macht dadurch ein qualitativ hochwertiges Ganztagsangebot, das positive Einflüsse zeigt, indem sie eben den genannten Kriterienkatalog erfüllt. In den Worten der Autoren heißt es blumig: »Der Ganztag hat das Potenzial, die individuelle Entwicklung von Schülerinnen und Schülern positiv zu beeinflussen. Dass StEG in diesem Bereich nur vergleichsweise kleine Effekte ermittelt, zeigt aber auch: Nicht alle Schulen schöpfen ihre Möglichkeiten heute schon voll aus.«45 Mit anderen Worten: Ganztagsschulen sind eigentlich gut, allerdings gilt das nur für gute Ganztagsschulen. Wann erleben wir eine vergleichbare Studie zur Halbtagsschule? Das Kernergebnis könnte man schon einmal formulieren: »Dass noch nicht alle Halbtagsschulen schlechte Befunde liefern, liegt nur daran, dass sie ihr negatives Potenzial noch nicht voll ausschöpfen.« Wer sich eingehender mit der StEG-Studie befasst, muss zu dem Urteil kommen, dass Bildungsforschung, die als Wissenschaft ernst genommen werden will, anders aussehen müsste. Wer noch genauer hinsieht, wird merken, dass die StEG-Studie indirekt auch die PISA-Studie in ein bedenkliches Licht rückt, ist doch die personelle Verflechtung augenfällig. Einer der Chefs von PISA-Deutschland ist gleichzeitig der Kopf des StEG-Teams. War der damalige Schock vielleicht auch inszeniert? Er passte perfekt in eine allgemeine Stimmungslage, die geprägt war von der Grundüberzeugung, dass Deutschland der »kranke Mann« Europas sei: Hohe Arbeitslosigkeit, hohe Staatsschulden, niedrige Produktivität, hohe Lohnstückkosten. Ganze Industriezweige sah man in einer großen Abwanderungswelle nach Osten entschwinden. Als dann der PISA-Schock die Gesellschaft weiter verunsicherte, standen die GTS-Aktivisten schon bereit. Seither werden PISA und Ganztagsschule ständig in einem Atemzug genannt, so als sei klar, dass das eine die Medizin gegen das andere sei. Deutschland brauchte vermutlich den Schock, um sich vom etablierten und kulturell verankerten Halbtagsmodell zu lösen. Jetzt sind wir mehr als zehn 45 Ebd.
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Jahre weiter und sehen, dass der Schock selbst vielleicht mehr eingebildet als echt war. Wir fragen, ob die PISA-Studie vielleicht ähnlich interessengeleitet war wie die StEG-Studie heute. Es fällt zumindest auf, dass alle Versuche, aus der PISA-Studie konkrete Handlungsanweisungen für den Umbau des Bildungssystems abzuleiten, unmöglich waren. Dennoch wurde allerorten kräftig umgebaut. Und jeder fand die Argumente, die er brauchte: Die einen forderten mehr Leistungsorientierung, die anderen weniger Druck, die einen wollten zentrale Prüfungen, die anderen wollten die Noten ganz abschaffen, die einen forderten »länger gemeinsam lernen«, die anderen sahen die Gliederung des Schulwesens als Krönung des Bildungssystems bestätigt. Jeder machte sich seine eigene PISAStudie. Nur auf dem Feld der Ganztagsschulbewegung erstickte sehr bald die Diskussion, aber nicht, weil die Argumente ausgingen, sondern weil die GTSLobby sehr schnell größer wurde. Ihre Mitglieder werden von unterschiedlichsten Interessen geleitet, die wenigsten von pädagogischen. Das ist ihr gutes Recht. Dass sie nun mit der StEG-Studie eine weitere argumentative Waffe vonseiten der sogenannten Bildungswissenschaften geliefert bekamen, ist jedoch fatal. Inzwischen hat sich an den deutschen Hochschulen im Umkreis der StEGStudie eine regelrechte GTS-Forschungsindustrie entwickelt, finanziert vorwiegend von den zuständigen Bundes- und Landesministerien in Verbindung mit dem bereits genannten Europäischen Sozialfonds (ESF), locker koordiniert vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS), das mit der IGLU- und der TIMSS-Studie die zwei neben PISA prominentesten Schulleistungstests betreut und auch an der StEG-Studie direkt beteiligt war. Inhaltlich sind die Forschungsprojekte in aller Regel so ausgerichtet, dass eine dezidierte Antwort auf die Erfolgsfrage der Ganztagsschulform umgangen werden kann. Hier eine kleine Auswahl an Forschungsprojekten: ȤȤ Evaluation des Programms »Ideen für mehr! Ganztägig lernen« der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), ȤȤ QUIGS – Qualitätsentwicklung in Ganztagsschulen, ȤȤ Formen der Lehrerkooperation und Beanspruchungserleben an Ganztagsschulen, ȤȤ Individuelle Förderung in Ganztagsschulen, ȤȤ Förderung von Ausbildungsfähigkeit und Berufsfindungsprozessen in Ganztagsschulen (FABIG), ȤȤ Lokale Bildungslandschaften in Kooperation von Ganztagsschule und Jugendhilfe, ȤȤ Ganztagsschule und Integrationsprozesse bei Migranten, ȤȤ MUKUS – Studie zur musisch-kulturellen Bildung an GTS, ȤȤ …
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Die Titel suggerieren z. T., dass eine Art wertende Bestandsaufnahme geleistet wird über Vorzüge und Nachteile von Ganztagsschulen. Methodisches Vorgehen und Ergebnis der inzwischen an die 150 Studien sind jedoch grundsätzlich so gehalten, dass ein konkreter Vergleich zwischen Halb- und Ganztagsschule ausgeschlossen wird. Diesbezügliche Daten erhalten wir nur aus den allgemeinen Schulleistungstests, z. B. IGLU und TIMSS, wo der Ganztagsaspekt nebenbei mit erfasst wird. Inzwischen steht offenbar fest, dass Ganztagsschulen weder hinsichtlich Leistungsförderung noch hinsichtlich Chancenausgleich die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen konnten. So formuliert z. B. das Gutachten »Zwischenbilanz Ganztagsgrundschulen: Betreuung oder Rhythmisierung?« im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.: »Auch wenn im Rahmen der Forschung zu ganztägiger Bildung und Betreuung in den vergangenen Jahren eine Reihe von Arbeiten vorgelegt wurden, steht der empirische Nachweis für den Beitrag von Ganztagsschule hinsichtlich der zentralen Zieldimensionen Leistungsförderung und Kompensation sozialer Benachteiligung bislang aus.«46 In Bezug auf die genannten Schulleistungstests heißt es: »In einem Systemvergleich der Leistungen von Grundschulkindern an Schulen mit und ohne Ganztagsangebot finden sich für die Lesekompetenz von Grundschülerinnen und -schülern auf Bundesebene keine Hinweise auf einen Fördereffekt zugunsten der Ganztagsschule.«47 Ähnliches gelte für die Frage der »Chancengerechtigkeit im Bildungssystem. Vor dem Hintergrund des Ziels der Entkopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft ist es wünschenswert, dass Ganztagsschulen mit ihren Angeboten diejenigen Schülerinnen und Schüler erreichen, die unter benachteiligenden und/oder belastenden Bedingungen aufwachsen. Forschungsbefunde, die den Ausbaustand an Schulen zur Mitte des letzten Jahrzehnts reflektieren, zeigen deutlich, dass die Erreichung dieses Ziels den Ganztagsgrundschulen bis dato nur zum Teil gelang.«48 46 Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. (Hg.): Zwischenbilanz Ganztagsgrundschulen: Betreuung oder Rhythmisierung? Münster 2013, S. 58. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 62.
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Das zitierte Gutachten basiert nicht auf eigenen Forschungen, sondern fasst den aktuellen Stand aus der Perspektive von Wirtschaftsvertretern zusammen, die daraus Handlungsempfehlungen an die Kultusministerkonferenz ableiten. An die Öffentlichkeit richten sie sich mit ihrem Papier nicht, sie stehen dem neuen Schultyp ja grundsätzlich positiv gegenüber. Etwas aus diesem Rahmen fällt das Forschungsprojekt »Explorative Wirkungsuntersuchung an Ganztagsschulen im Vergleich zu Halbtagsschulen im Bereich Nordbaden«. Hier wird im Titel vollmundig und dezidiert ein Vergleich zu halbtagsschulischem Unterricht angekündigt. In der Projektbeschreibung heißt es: »Mit Hilfe der Längsschnittstudie wurde vergleichend an Halb- und Ganztagsschulen untersucht, welche Wirkungen die ganztägige Schulorganisation auf die Schulzufriedenheit, das Sozialverhalten und auf die Schulleistungen der Schüler/innen haben.« 2007 wurde die Untersuchung der Uni Karlsruhe abgeschlossen. Die Ergebnisse sind sieben Jahre später noch nicht veröffentlicht. Wurde etwa ein »falsches« Ergebnis erzielt, das man der Öffentlichkeit nicht gern präsentieren möchte? Zahlreiche kleine Indizien lassen genau dies vermuten. Interessant ist
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z. B. die Historie des Internetauftritts. 2014 sprach man dort von einer »vergleichenden Untersuchung zu Wirkung ganztägiger Schulorganisation auf die Entwicklung der Schüler/innen in den drei Bereichen Schulzufriedenheit, Sozialverhalten.« Wo war nur Nummer drei hingekommen? Ein reiner Tippfehler, dass die »Schulleistungen« verloren gegangen sind? Man hätte sich doch wenigstens die Mühe machen können, den Satzbau zu glätten. 2015 ist die Seite schließlich ganz vom Server und aus dem Gedächtnis der Ganztagsschulforschung herausgenommen worden. Auf Email-Nachfrage antwortet zunächst das Sekretariat: »Die Forschungsergebnisse wurden nie offiziell veröffentlicht und sind nicht zugänglich.« Nach weiteren Rückfragen schreibt ein Mitarbeiter des Instituts »Wie Sie schon recherchiert haben, kam es leider aus Zeitgründen in der Tat zu keiner Publikation, wir hatten lediglich Präsentationen im Rahmen von Veranstaltungen, zu denen Politik, Schullandschaft und weitere Interessierte geladen waren […] Bei den Schülerinnen und Schülern haben wir im Großen und Ganzen keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Besuch von Halb- und Ganztagesschulen festgestellt.« So funktioniert heute offenbar Bildungsforschung: Die Ergebnisse stehen quasi im Voraus fest. Wenn doch andere Ergebnisse erbracht werden, bleibt das Papier in der Schublade. Insider in Politik und Schullandschaft wissen aber Bescheid. Gehörten zu diesen auch die StEG-Autoren? Die »wissenschaftlich« formulierten Ergebnisse solcher Studien sind ohnehin kaum ins Hochdeutsche übersetzbar. Besonders nachteilig auf die öffentliche GTS-Diskussion, sofern man von einer solchen überhaupt zu sprechen wagt, ist der Umstand, dass die Forschungsprojekte indirekt in die universitäre Lehre ausstrahlen und damit an einer wichtigen Schnittstelle im Bildungssystem ansetzen. Welcher Lehrstuhl würde in seinen Lehrveranstaltungen eine GTS-kritische Auffassung vertreten, während er parallel ein vom Bildungsministerium und vom ESF finanziertes Projekt betreut? »Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’«. Die Streuung von zahllosen weitgehend wirkungslosen Studien bewirkt so indirekt, dass die Generation der heutigen Lehramtsstudenten in einem GTS-freundlichen Umfeld beständig mit Argumenten gefüttert wird. Was konkret geforscht wird, interessiert eigentlich nicht. Wichtig ist, dass die Hochschulen elegant auf Linie gebracht werden.
13. Die Ganztagsschul-Lobby
»Gut« fuhr der graue Herr fort, »das wäre also dreihundertfünfzehnmillionendreihundertsechzigtausend mal sieben. Das ergibt zweimilliarden zweihundertsiebenmillionenfünfh undertzwanzigtausend Sekunden.« Und er schrieb diese Zahl groß auf den Spiegel: 2 207 520 000 Sekunden. Dann unterstrich er sie mehrmals und erklärte: »Das also, Herr Fusi, ist das Vermögen, das Ihnen zur Verfügung steht.« Michael Ende, Momo Schon ein oberflächlicher Blick auf die Bildungsdiskussion zeigt, dass die Ganztagsschule zurzeit eine »gute Lobby« hat, obwohl es der Bildungsforschung nicht gelingen will, belastbare positive Resultate zutage zu fördern. Die Gründe für eine deutliche Voreingenommenheit pro Ganztagsschule differieren wohl von Einzelfall zu Einzelfall. Erstaunlich aber ist die Beobachtung, dass gerade unter den größten Kritikern des gegenwärtigen Schulsystems die Sympathie für die Ganztagsschule besonders stark ausgeprägt ist. Beispielhaft zu nennen wäre hier der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck, dessen Thesen seit vielen Jahren als eine Art Speerspitze »moderner« Pädagogik gegen angeblich verkrustete Strukturen fungieren. Aus Schulen sollen »Lerndörfer« werden, aus Schulklassen »Lernfamilien«, aus Lehrern »Lernberater«. Aus »Belehrungsanstalten« sollen »Lernwerkstätten« werden, die Lebensmittelpunkt und Identifikationsraum für Kinder und Jugendliche in einem sind, »was Halbtagsschulen nie sein können«, so Struck. Eine gute Schule sei immer Ganztagsschule49. Ins gleiche Horn bläst der selbsternannte Bildungsexperte Richard David Precht50, dessen reißerische Thesen (»Stellt die Schule auf den Kopf«) in den Medien gern weitergetragen werden. Es müsse darum gehen, das individuelle Potenzial aller Kinder dadurch zu fördern, dass man den natürlichen Lerneifer 49 Peter Struck: Die 15 Gebote des Lernens. Wie Kinder lernen – Schule zwischen PISA. In: Qualifikation als Standortfaktor. Ausbildung im erweiterten Europa. Hg. v. Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung. Bonn 2006, S. 15 f. 50 Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. München 2013.
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aufgreife und unterstütze, statt ihn – wie zurzeit üblich – zu ersticken. Schulfächer, Stundenpläne, Lehrpläne und Noten gehörten abgeschafft. Lernteams, emotionale Beziehungen, Identifikation, anregende Lernumfelder, individuelle Förderung seien die Ansatzpunkte, mit denen man die Schule »auf den Kopf stellen« müsse. Zu seinem euphorisch gepriesenen Bildungsparadies gehört auch die Idee, ganztägig zu lernen: »Lasst ganztägig lernen! Die Schule der Zukunft kümmert sich um die ganze Lernbiografie, statt sie, wie bisher, zu einem erheblichen Teil der Willkür, dem Vermögen und dem Unvermögen von Elternhäusern zu überlassen.« Zur pauschalen Ablehnung des bestehenden Bildungssystems gesellt sich also bei Precht – wie bei vielen anderen Bildungsutopisten – ein starkes Misstrauen gegenüber den Familien. Der Staat möge sich doch bitte möglichst umfassend um die Bildung der Kinder kümmern. Precht: »Die organisatorischen Strukturen einer solchen Zukunftsschule sehen wie folgt aus: ein flächendeckendes Kita-Angebot für alle Kinder in Deutschland vom zweiten Lebensjahr an. Eine gemeinsame Schule für alle bis einschließlich zehntes Schuljahr. Eine Auflösung der Jahrgangsklassen nach dem vierten oder sechsten Schuljahr. Ein Abenteuerprojektjahr im achten Schuljahr […]«51 Früh und umfassend also möge der Staat die Erziehung in die Hand nehmen, aber bitte nach völlig anderen Grundsätzen, als dies zurzeit geschieht. In sich widersprüchlich erscheinen viele der Ideen bereits beim ersten Hinsehen (z. B. Auflösung der Jahrgangsklassen, aber ein Ende der gemeinsamen Schulzeit nach dem zehnten Schuljahr). Kaum auszudenken, wie ein »Abenteuerprojektjahr« für einen kompletten Schuljahrgang von mehreren hunderttausend 13–14-jährigen Kindern realisiert würde. Wer dabei an Nordpolexpeditionen, Kaukasusüberquerungen und Sozialprojekte im Jemen denkt, sollte sich zunächst informieren, welche aufsichts- und versicherungsrechtlichen Auflagen bereits für einen gewöhnlichen Wandertag gelten. Ein solches staatlich dekretiertes »Abenteuerprojekt« würde im Endeffekt wohl darauf hinauslaufen, dass spezialisierte Unternehmen ihre durchdesignten, TÜV- und GS-geprüften und zertifizierten Beschäftigungstherapien im Wettbewerb anbieten würden. Das würde vermutlich ein gigantischer neuer Markt werden. Aber solcherlei Skepsis kennt der Autor nicht, auch nicht die Angst vor egalitärer Nivellierung und staatlicher Indoktrination in seiner allumfassenden Idealschule. Hier liegt der wesentliche innere Widerspruch seines Konzepts: 51 Ders.: Schule kann mehr. In: DIE ZEIT Nr. 16/2013.
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Während die heutige Schule in Bausch und Bogen verdammt wird, ist in der Zukunftsschule alles perfekt, obwohl sie als staatliche Schule doch im Endeffekt von denselben Bildungspolitikern und Schulbehörden geplant würde und allein aus Gründen der Praktikabilität mit denselben Lehrpersonen arbeiten müsste. Dem Glauben an die Kraft des perfekten Systems ist mit Argumenten nicht beizukommen. Von solcherlei Heilsutopie hin zu einer sozialistischen Erziehungsdiktatur ist es nur ein kleiner Schritt. Da Precht keinen klaren Weg aufzeigt, wie er das Bildungssystem umwandeln möchte, bleibt auch offen, ob er zuerst die Schulen und Kitas innerlich reformieren möchte, um danach alle Kinder umfassend und ganztägig darin zu beglücken, oder ob er erst die äußeren Strukturen schaffen möchte und anschließend die innere Ausgestaltung verändern. Dadurch wird sein Ansatz leicht instrumentalisierbar. Wer möchte, kann behaupten, »dass ja auch die progressiven Bildungstheoretiker die Einführung der verpflichtenden Ganztagsschule fordern.« Wer das bestehende Schulsystem so grundsätzlich infrage stellt wie Struck oder Precht, müsste doch zuerst den Schluss ziehen, dass der Einfluss der Schule bzw. des staatlichen Bildungssystems insgesamt zurückgedrängt werden müsse. Stattdessen werden illusorische Szenarien entworfen, wie eine perfekte Schule der Zukunft auszusehen habe: Luftschlösser, die nicht nur unfinanzierbar wären, sondern eine quasi vollständige Auswechslung des pädagogischen Personals, der Schulbehörden und eigentlich auch der Schülerschaft erfordern. Am besten, wir erfinden gleich die ganze Welt neu! Diese Art von unrealistischer Bildungsheilslehre zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Ganztagsschulgeschichte. Als »graue Herren« lassen sich die Strucks und Prechts jedoch kaum bezeichnen. Sie glühen für eine Sache, die sie selbst für gut befinden. Ein aufrichtiges Bemühen um die Entwicklung der heutigen Kinder- und Jugendgeneration kann unterstellt werden, auch wenn die Gedanken teils abwegig, teils auch bedenklich sind. Fatal ist aber vor allem, dass die Argumentation dieser Idealisten immer wieder punktuell aufgegriffen wird, um sie für andere Zwecke zu instrumentalisieren. So nehmen inzwischen auch die Empiriker, allen voran die deutschen PISA-Chefs, für sich in Anspruch, den Finger beständig in die offenen Wunden des Schulsystems zu legen. Dabei spielen sie virtuos auf verschiedenen Klaviaturen. Geht es der einen Stimme darum, die fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen der jungen Generation ganztägig und systematisch zu stärken, so singt die andere Stimme das Hohelied der Bildungsgerechtigkeit und verweist auf bessere Bildungschancen für Migranten und die sogenannten »Bildungsfernen«. Als Kontrapunkt vernimmt man den Demografie-Blues, der uns vorgaukelt,
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mit besseren Betreuungsmöglichkeiten würde auch die Geburtenrate wieder steigen. Beständig klingt aber als Ostinato das stetige Schreien nach der »stillen Reserve«. So nennt man in den Sozialwissenschaften jene Bevölkerungsgruppen, die im Prinzip dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen könnten, aber aufgrund äußerer Umstände nur eingeschränkt oder gar nicht Erwerbsarbeit leisten. Wer in der Kakophonie der dissonanten Argumente, die so gar nicht zusammenpassen wollen, das alles verklammernde Leitmotiv sucht, wird immer wieder auf eben jene »stille Reserve« stoßen. In erster Linie rekrutiert sich diese imaginäre Bevölkerungsgruppe aus Frauen, die aus Gründen der Kindererziehung Teilzeit arbeiten oder ganz zu Hause bleiben. Je stärker sich die Ganztagsschule in der Gesellschaft verankert – so die Rechnung der Bildungsökonomen – desto größer wird der Anreiz bzw. auch der Druck für diese Bevölkerungsgruppe, am Erwerbsarbeitsleben teilzunehmen. Seit der einstmals nur drohende Fach- und Arbeitskräftemangel zur Gewissheit geworden ist, locken und ziehen starke Kräfte diese »Reserve« mit Zuckerbrot und Peitsche weg von Heim und Herd. Als »Zuckerbrot« sollen in erster Linie die staatlichen Betreuungseinrichtungen dienen, also Ganztagsschule und Kita. Als Peitsche werden verschiedene Gesetzesänderungen stetig eingefordert, die einen ansteigenden Druck erzeugen: Für Alleinerziehende ist bereits jetzt Erwerbsarbeit verpflichtend, sofern öffentliche Betreuungsangebote wie Ganztagsschulen zur Verfügung stehen. Eine autonome Entscheidung, die Kinder selbst zu erziehen, ist dann z. B. nicht mehr möglich. In der Diskussion steht auch die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Streichung der kostenfreien Mitversicherung und die Kürzung des Kindergelds52. Alle diese Ideen laufen darauf hinaus, das Modell der Alleinverdienerfamilie zum Auslaufmodell zu machen. Genauso wirksam ist der subtile moralische Druck, der immer deutlicher denjenigen entgegenschlägt, die sich entscheiden, ihre Kinder möglichst viel zu Hause zu erziehen und nicht in Betreuungseinrichtungen zu geben. Mussten doppelverdienende Elternpaare noch vor wenigen Jahrzehnten unter dem Stigma der Rabeneltern und Sozialschmarotzer leiden, so hat sich inzwischen die öffentliche Meinung fast ins Gegenteil gedreht: »Dein Kind ist schon ein Jahr alt und du arbeitest noch nicht wieder?« oder »Wieso liegst du zu Hause auf der faulen Haut? Wir zahlen für dein Ehegattensplitting und Kindergeld unsere Steuern.« Als Sozialschmarotzer gilt heute, wer nicht aktiv am Sozialprodukt und am Steueraufkommen mitwirkt. Als Arbeit anerkannt wird nur die Erwerbsarbeit. 52 Medienwirksam hatten beispielsweise 2010 zahlreiche Sozialdemokraten gefordert, das Kindergeld um je 30,– € zu senken, um damit Kitas und Ganztagsschulen zu finanzieren (s. DER SPIEGEL vom 07. 12. 2010). Ähnliche Ideen wurden auch von Politikern anderer Parteien ins Spiel gebracht, so z. B. Cornelia Pieper (FDP) 2013.
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Diese allgemeine Stimmungslage, vielleicht etwas überspitzt formuliert, kommt nicht von ungefähr. Wer aber sind die Kräfte, die die allgemeine Stimmungslage »pro Kleinkindbetreuung« und »pro Ganztagsschule« unterstützen und befeuern? Wer sind die Kräfte, die eher verdeckt auf die Bildungs- und Familienpolitik einwirken, die »grauen Herren«, die versuchen jegliche Ressource ökonomisch neu zu definieren und den letzten Rest an Luft aus dem gesellschaftlichen System herauszuziehen? Unter den supranationalen Institutionen nimmt die OECD in Schulfragen einen herausgehobenen Platz ein, wurde doch durch die PISA-Studie und den wohlinszenierten PISA-Schock nicht nur ein neues Bildungskonzept den Staaten indirekt aufoktroyiert. Gleichzeitig brach vor allem in Deutschland und in Österreich eine Schulstrukturdebatte aus, die nicht dem leistungsdifferenzierten Schulsystem, sondern dem System der Halbtagsschule galt. Die schlechten PISA-Ergebnisse seien Resultat des Halbtagsunterrichts. Oder umgekehrt: Durch ganztägiges Lernen würden bessere Ergebnisse erzielt. Dies freilich klingt auf den ersten Blick so einleuchtend, dass in den Folgejahren die Ganztagsschulprogramme des Bundes wie der Länder immer im selben Atemzug mit der PISAStudie genannt wurden. Auch vonseiten der Medien wurde der Bezug nicht infrage gestellt, sondern wie ein ansteckender Virus immer weiter getragen. Dass die OECD keine Bildungs-, sondern eine Wirtschaftsorganisation ist, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Es hat gar den Anschein, als würde sich das bildungsökonomische Denken immer tiefer in die Gesellschaft hineinfressen. Wer über Bildung redet, redet über PISA, redet über Zukunftschancen, globalen Wettbewerb, Anpassungsdruck, über »Return on Investment«. Welche Investitionen ins Bildungssystem sind mittel- oder langfristig rentabel, da sie indirekt Profit erzeugen? Welche Instrumente machen das System noch rentabler? Welche Synergieeffekte können ausgenutzt werden, um die Investitionen zu optimieren? Hier ist Schule besonders gefährdet, in ihrer Funktion als Bildungseinrichtung missbraucht zu werden. Denn der wesentliche Effekt der Ganztagsschule wird ja von den internationalen Wirtschaftsinstitutionen nicht im eigentlichen Bildungsbereich gesehen. Es geht in erster Linie um die Freisetzung von brachliegender Arbeitskraft bzw. um Freisetzung von Humankapital. »Return on Investment« bezieht sich weniger auf einen später zu erzielenden Profit durch bessere Bildung der heutigen Kinder und Jugendlichen. Es geht vielmehr um die kurzfristigen Effekte am Arbeitsmarkt, eben um die »stille Reserve«. Dieses Kalkül wird besonders deutlich, wenn man die europäischen Institutionen in den Blick nimmt, die die deutsche Ganztagsschule beständig voranzutreiben suchen. An erster Stelle zu nennen der Europäische Sozialfonds (ESF),
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ein in der Öffentlichkeit wenig bekanntes, aber wirkungsmächtiges Instrument der EU, das »Sozialpolitik« vorwiegend im Sinne von Beschäftigungspolitik versteht. Wikipedia nennt den ESF »das wichtigste Finanzierungsinstrument der Europäischen Union zur Unterstützung von Beschäftigungsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten sowie zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion.« Rund 10 % des EU-Gesamthaushalts fließen in den ESF. Mit diesen Geldern finanziert er u. a. einen Großteil der deutschen Ganztagsschulforschung mit – wie z. B. auch die groß angelegte und teure StEG-Studie. Ob vor diesem Hintergrund von »unabhängiger Forschung« gesprochen werden kann, ist höchst fraglich, legt sich doch der ESF programmatisch klar pro Ganztagsschule fest. Welche Hochschule würde mit ESF-Geldern ein empirisches Ergebnis produzieren, das den Effekt der Ganztagsschule infrage stellt? Dass die EU nicht irgendeine unter vielen Institutionen ist, die Einfluss auf die deutsche Bildungspolitik zu nehmen versucht, wird aus den jährlichen länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission deutlich, die ausgesprochen werden. Hier wird unter anderem auch Bezug genommen auf frühere Empfehlungen. Diese werden mit konkreten »Fortschritten« verglichen und ggf. mit eindringlichen Aufforderungen erneut eingeschärft. Auf ihrer Homepage dokumentiert die EU den Weg von den ersten Empfehlungen bis hin zu den konkreten Maßnahmen auf nationaler Ebene. Der Einzelstaat erscheint in der Rolle der Exekutive, der die Empfehlungen aus Brüssel umsetzen soll. Aus dem Sprachduktus erschließt sich bereits das Selbstverständnis der EU-Autoren: Die »fiskalischen Fehlanreize für Zweitverdiener« müssten abgeschafft werden (gemeint ist das Ehegattensplitting) und es müsste »die Zahl der Ganztagskindertagesstätten und -schulen erhöht werden«. Durch den inhaltlichen Zusammenhang wird klar, dass nicht von Bildung die Rede ist, sondern von Arbeitsmarktpolitik. Ausführlich kommentiert man in Brüssel die deutschen Rahmenbedingungen: »Die Lage am Arbeitsmarkt ist derzeit günstig, Deutschland muss jedoch aufgrund der Abnahme der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter mittelfristig mit Engpässen insbesondere bei qualifizierten Arbeitskräften rechnen. Deutschland muss die Vollzeitbeschäftigung von Frauen ausbauen […] Problematisch ist der geringe Frauenanteil unter den Vollzeitbeschäftigten. Der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigten unter den Frauen und andere Faktoren wie geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Berufswahl und bei den Arbeitsmodellen sind mitverantwortlich für die starke Entgeltungleichheit in Deutschland. Es fehlen in Deutschland wegen der gemeinsamen steuerlichen
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Veranlagung von Ehegatten (Ehegattensplitting) im progressiven Steuersystem auch steuerliche Anreize für Zweitverdiener. Darüber hinaus werden nicht erwerbstätige Ehefrauen durch die kostenlose Mitversicherung in der Krankenkasse des Ehegatten davon abgehalten, eine Tätigkeit aufzunehmen oder ihre Arbeitszeit aufzustocken. Obwohl im Konzept Fachkräftesicherung festgestellt wird, dass Frauen die Gruppe mit dem größten Potenzial zur Steigerung der Erwerbsbeteiligung sind, enthält es keine Maßnahmen, um das Problem der fehlenden steuerlichen Erwerbsanreize für Zweitverdiener anzugehen. Das Fehlen von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen ist ebenfalls ein Hindernis für eine stärkere Erwerbsbeteiligung und hält speziell Frauen mit Kindern davon ab, Vollzeit zu arbeiten. Laut Nationalem Reformprogramm wollen Bund und Länder bis 2013 Betreuungseinrichtungen für mindestens 35 % aller Kinder unter drei Jahren bereitstellen und Kindern zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr ab August 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz einräumen. Diese Selbstverpflichtungen sind zwar wichtig, aber noch nicht ausreichend, weshalb die Entscheidungsträger auf allen staatlichen Ebenen und speziell in den alten Bundesländern ihre Anstrengungen verstärken müssen. Neben der Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Kinderbetreuungsplätzen würden längere und flexiblere Betreuungszeiten und längere Schultage den Eltern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestatten.«53 Der Gesamtzusammenhang lässt erkennen, dass die Ganztagsschulfrage in keiner Weise vor einem pädagogischen Hintergrund betrachtet wird. Wie lange der Schultag dauert, soll sich an den geforderten Betreuungszeiten bemessen und nicht an den Bedürfnissen der Kinder und auch nicht an den Erfordernissen der Bildung. Es geht einzig um die Frage des Arbeitsmarktes. Die nationale Politik steht wie der kleine Schuljunge da, der seine Hausaufgaben vorzeigen muss. Wir diskutieren in Deutschland auf nationalstaatlicher und auf Länderebene über bildungspolitische Fragen, aber die eigentlichen Leitlinien werden offenbar an anderer Stelle entworfen. Welches Interesse haben OECD und EU aber an diesen Fragen? Wer sind die »grauen Herren«, die hinter den Ideen und Forderungen stecken? Der Bildungswissenschaftler und PISA-Kritiker Jochen 53 Länderspezifische Empfehlung der EU für Deutschland 2012. Zitiert unter dem Titel: ARBEITSUNTERLAGE DER KOMMISSIONSDIENSTSTELLEN Bewertung des Nationalen Reformprogramms 2012 und des Stabilitätsprogramms DEUTSCHLANDS Begleitunterlage zur Empfehlung für eine EMPFEHLUNG DES RATES zum Nationalen Reformprogramm Deutschlands 2012 und Stellungnahme zum Stabilitätsprogramm Deutschlands für den Zeitraum 2012–2016 unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/NOT/?uri=CELEX:52012SC0305.
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Krautz analysiert die Intentionen der supranationalen Bildungsinitiativen mit drastischen Worten: »Auch das PISA-Testsystem dient ausdrücklich dazu, nicht legitimierten Einfluss auf die Selbstbestimmung der Staaten auszuüben. Dazu dient […] die altbekannte Pranger-Methode: Wer den Test-Vorgaben nicht entspricht, wird öffentlich angeprangert, so dass Druck aufgebaut wird, Bildung so umzustellen, wie es in das Konzept der OECD passt. So wird die Bildungssouveränität der Staaten bzw. ihrer Bürger langsam ausgehöhlt und durch die Hintertür ein neues, eigenes Konzept von ›Bildung‹ eingeführt und verbindlich gemacht.«54 Aus der OECD-Politik ergeben sich direkte und tiefgreifende Eingriffe in das Bildungsverständnis der Staaten: »Bildung ist hier also eine Anpassungsleistung an ökonomische Erfordernisse bzw. an das, was die OECD dafür hält. Anpassung war jedoch gerade nicht das Ziel eines humanistischen Bildungskonzepts, sondern Mitmenschlichkeit, Vernunftfähigkeit, Kritikfähigkeit. Der Eindruck, dass das Bildungswesen zunehmend einer ökonomischen Logik unterworfen wird, ist also keineswegs nur eine übliche Klage unverbesserlicher Althumanisten, sondern schlicht reales politisches Programm: Die ›Kompetenzentwicklungssysteme‹ und die darin zu formenden jungen Menschen sollen schlicht und wirksam angepasst werden an die Imperative der globalen Ökonomie.«55 Der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin bringt denselben Gedanken auf eine prägnante Formel: »Schüler sollen nach PISA nicht lernen, nach dem Sinn des Lernens zu fragen, sondern sie sollen Aufgaben lösen, gleichgültig welche. Der von PISA als kompetent Geprüfte soll später einmal ebenso Babynahrung produzieren können wie Landminen. Angesichts der Kriterien von PISA (und einer auf PISA ausgerichteten Schule) sind beide Aufgaben gleich gültig. Und sie bedürfen der gleichen Kompetenzen.«56 54 Jochen Krautz: Die Kompetenz des homo oeconomicus. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 3 (2010) S. 332–345. 55 Ebd. 56 Volker Ladenthin im Interview mit der Neuen Ruhr Zeitung vom 18. 11. 2007.
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Nach der Einschätzung von Jochen Krautz steht hinter PISA und vielen anderen Impulsen auf den Bildungsbereich der »European Round Table of Industrialists« (ERT). Im Gegensatz zu EU-Kommission und ESF handelt es sich um keine reguläre Institution der EU, sondern um eine klassische Lobbygruppe. Versammelt sind in diesem Gremium die größten Industrieunternehmen Europas, die einen dauerhaften Draht zu den wesentlichen politischen Institutionen pflegen und deren Empfehlungen häufig unmittelbar umgesetzt werden. Das Konzeptpapier des ERT »Education for Europeans – Towards the Learning Society«57 von 1994 formuliert in frappierender Deckungsgleichheit bereits jene Ideen und Programme, die im Zuge der PISA-Welle einige Jahre später umgesetzt wurden: so genannte Kompetenzorientierung, dauerhafte Evaluation des Bildungssystems auf allen Ebenen, Fokussierung der Bildung auf Textverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften, Kohäsion der nationalstaatlichen Systeme, Ökonomisierung der Schulen und schließlich Ausbau der staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen. In einem Zeitraum von 20 Jahren haben die Lobbyisten ihre ehrgeizigen Ziele schon weitgehend erreicht. Den ERT zieht es mit seinen Empfehlungen und Konzeptpapieren nicht primär in die öffentliche Diskussion, wo diese Fragen eigentlich hingehörten. Lieber arbeitet er direkt auf höchster Ebene mit den Institutionen zusammen. Mit großer Regelmäßigkeit äußert er sich zu Fragen der Bildungs- und Beschäftigungspolitik (was ja quasi als gleichbedeutend gesehen wird) und tritt für eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in Europa ein58. Kulturelle Besonderheiten werden klar als Manko gebrandmarkt. Kohäsion im Sinne des ERT bedeutet, dass sich die Staaten in jeweils die Richtung hin vereinheitlichen mögen, die den Bedürfnissen der Industrie am meisten gerecht werden. Vereinheitlichung nicht nur der Maße, Münzen und Gewichte, der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, sondern auch der Bildungssysteme, der Bildungsinhalte, der Mentalitäten. Anpassen sollen sich Arbeitsmarkt und Bildungssysteme an die Bedürfnisse der Industrie, nicht umgekehrt59. ERT, ESF und OECD sind in ihren bildungspolitischen Zielen und Initiativen kaum mehr auseinanderdividierbar. Die PISA-Studie war offenbar ein sehr bewusst eingesetztes Instrument, um unerwünschte kulturelle Differenzen zu nivellieren. Kohäsion bedeutet hier Vereinheitlichung der Schulbildung euro57 The European Round Table of Industrialists: Education for Europeans – Towards the Learning Society. Brüssel 1994. 58 The European Round Table of Industrialists: Flexibility and Employability. Brüssel 2011. 59 Offener Brief des European Round Table of Industrialists an an Herman Van Rompuy, President of the European Council vom 4. Juni 2013 »Industry must be involved in the education and training systems at aIl levels.« (http://ertdrupal.lin3.nucleus.be/issue/education).
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paweit bzw. weltweit: Internationale Kompetenzstandards, Kulturfeindlichkeit im weitesten Sinne, Identitätslösung: Der Mensch soll sich primär über seine Erwerbsarbeit definieren. Vor diesem Hintergrund ist die Ganztagsschule doppelt dienlich: Sie entbindet nicht nur die Eltern von Teilen ihrer Erziehungsaufgaben und setzt ihre Arbeitskraft am Markt frei. Sie sorgt auch gleichzeitig dafür, dass der private und familiäre Einfluss auf die Kinder zurückgedrängt wird gegenüber dem staatlichen. Eine kompetenzorientierte, internationalisierte Bildung scheint das Ziel, möglichst frei von Inhalten, frei von Traditionen, erst recht frei von religiösen Vorstellungen. So wird das Individuum zum »Unternehmer seiner selbst«, wie es der ERT formuliert, der sich voll den Kräften des Marktes unterwirft: mobil, transkulturell, erfolgsorientiert und anpassungsfähig. In dieser Welt ist für Kinder natürlich kein angemessener Platz. Zu dumm, dass es sie gibt. Aber zur Reproduktion von Arbeitskraft sind sie im Endeffekt unerlässlich. Also muss versucht werden, Kindheit, soweit möglich, in dieses bildungsökonomische System hineinzupressen. Friedbert Rüb von der Bertelsmann-Stiftung erläutert aus der Perspektive des Lobbyisten die Zusammenhänge hinter den so genannten Bildungsreformen der vergangenen Jahre, wobei ein gewisser Stolz mitschwingt: »Die tiefgreifenden Reformmaßnahmen, die in den letzten Jahren begonnen worden sind, wären ohne die großen internationalen Untersuchungen zum Vergleich der Schulleistungen und ohne den auf die Veröffentlichung der Ergebnisse folgenden ›PISA-Schock‹ nicht oder wenigstens nicht so schnell und im gleichen Umfang möglich gewesen. Ob einem der Gedanke zusagt oder nicht: Der Tanker Schulwesen und sein Lotsenboot Schulpolitik (…) sind nicht zuletzt durch den ›hohen (medialen) Außendruck‹ auf ihren neuen Kurs gebracht worden.«60 Was bedeutet »auf Kurs bringen«? Auf wessen Kurs wurde die Bildungspolitik gebracht? In einer Art Gebrauchsanweisung für Politiker führt er aus, wie »strategisches Reformieren« auch gegen den Willen der Bevölkerung durchgedrückt werden könne. Entscheidend sei, die Kontrolle in der Phase des »Agenda-Settings« nicht aus den Händen zu geben, eine Kunst, die die Bertelsmann-Stiftung offenbar virtuos beherrscht. Aus der Perspektive des Kölner Bildungsphilosophen und Bertelsmann-Kritikers Matthias Burchardt liest sich derselbe Zusammenhang so: 60 Friedbert Rüb: Die Kunst des Reformierens. Konzeptionelle Überlegungen zu einer erfolgreichen Regierungsstrategie. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Zukunft Regieren, Gütersloh (Beiträge für eine gestaltungsfähige Politik 3/2009).
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»Die genannten Strategien dienen nicht der machiavellistischen Ermächtigung der Politiker, denn auch diese sind in der Perspektive der Stiftung keine gestaltungsfähigen Akteure, sondern lediglich Erfüllungsgehilfen der marktinduzierten Sachzwänge. […] Die Funktion der Regierenden besteht im Vollzug einer Anpassungsleistung, der politische Gestaltungsanspruch wird entsprechend reaktiv verkürzt; Bezugspunkt ist nicht der Wille des Souveräns, sondern der extern produzierte Reformzwang. Vor diesem Hintergrund wird auch die zunehmende Indifferenz der Parteien nachvollziehbar. In letzter Konsequenz handelt es sich nur noch um konkurrierende Teams, die allein darum wetteifern, wer als Wahlsieger den Sachzwang exekutieren darf.«61 »Graue Herren«? In Michael Endes Momo stöbern sie überall nach freier Zeit, die noch nutzbar gemacht werden könnte, bis im Endeffekt niemand mehr Zeit für irgendetwas hat, am allerwenigsten für die Kinder der fiktiven Gesellschaft, die in seelenlosen Institutionen verwahrt werden, um nicht im Weg zu stehen. Die kleine Momo, die in Michael Endes Roman schließlich die Welt retten wird, trifft eines Tages, am Tiefpunkt der Erzählung, auf ein paar Kinder, mit denen sie früher nachmittags immer gespielt hatte: »Ach, kommt doch wieder!« bat Momo. »Früher seid ihr doch immer gekommen.« »Früher!« antwortete Paolo. »Aber jetzt ist alles anders. Wir dürfen unsere Zeit jetzt nicht mehr nutzlos vertun.« »Das haben wir doch nie getan«, meinte Momo. »Ja, es war schön«, sagte Maria, »aber darauf kommt es nicht an.« Die drei Kinder gingen eilig weiter. Momo lief neben ihnen her. »Wo geht ihr denn jetzt hin?«, wollte sie wissen. »In die Spielstunde«, antwortete Franco. »Da lernen wir spielen.« »Was denn?«, fragte Momo. »Heute spielen wir Lochkarten«, erklärte Paolo, »das ist sehr nützlich, aber man muss höllisch aufpassen.« »Und wie geht das?« »Jeder von uns stellt eine Lochkarte dar. Jede Lochkarte enthält eine Menge verschiedener Angaben: wie groß, wie alt, wie schwer und so weiter. Aber 61 Matthias Burchardt: Liebesgrüße aus Gütersloh. Postdemokratie am Beispiel der Bertelsmannn Stiftung. In: Ursula Frost u. a. (Hg.): Demokratie setzt aus: Gegen die sanfte Liquidation einer politischen Lebensform. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Sonderheft. S. 65–77.
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natürlich nie das, was man wirklich ist, sonst wäre es ja zu einfach. Manchmal sind wir auch nur lange Zahlen, MUX/763/y zum Beispiel. Dann werden wir gemischt und kommen in eine Kartei. Und dann muss einer von uns eine bestimmte Karte herausfinden. Er muss Fragen stellen, und zwar so, dass er alle anderen Karten aussondert und nur die eine zum Schluss übrig bleibt. Wer es am schnellsten kann, hat gewonnen.« »Und das macht Spaß?«, fragte Momo etwas zweifelnd. »Darauf kommt es nicht an«, sagte Maria ängstlich, »so darf man nicht reden.« »Aber worauf kommt es denn an?«, wollte Momo wissen. »Darauf«, antwortete Paolo, »dass es nützlich für die Zukunft ist.« Inzwischen waren sie vor dem Tor eines großen grauen Hauses angekommen. »Kinder-Depot« stand über der Tür. In mancherlei Hinsicht hat sich die als düstere Apokalypse gedachte Erzählung längst bewahrheitet. Die letzten Produktivitätsreserven werden aus der Gesellschaft herausgepresst. Nach dem Raubbau an Natur und Bodenschätzen beginnt der Raubbau am wichtigsten Rohstoff der Zukunft, wie es immer heißt, der Raubbau am Humankapital auf Kosten der Lebensqualität, vor allem der Lebensqualität derer, die nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen können und auf Betreuung oder Pflege angewiesen sind, also der Kinder und der Alten. Gleichzeitig geht es aber auch auf Kosten der Arbeitenden, die aus den sozialen Zusammenhängen immer stärker herausgelöst werden, um sich ganz dem Arbeitsmarkt auszuliefern. Sie haben entweder keine Kinder oder lassen sie in staatlichen Einrichtungen betreuen. Ihre Eltern übergeben sie im Pflegefall an ein Heim oder an einen Sozialdienst. Hier wie dort übernehmen in der durchökonomisierten Gesellschaft professionelle Dienstleister gegen Bezahlung die vormals familiären Aufgaben. Diese Art von Lebensgestaltung zum Idealbild zu erheben und mit flankierenden gesetzlichen Maßnahmen gesellschaftlich durchzusetzen ist wesentliche Lobbytätigkleit der »grauen Herren« – in Michael Endes Momo wie in der heutigen Realität. Längst hat sich auch in Deutschland eine breite Front von Interessenverbänden und Institutionen aufgebaut, die aus dem Blickwinkel der Bildungsökonomie für die Ganztagsschule trommelt. Sie sind gut vernetzt in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, und auch untereinander zitieren sie sich gern, wenn es um ein großes Ziel wie den Umbau des deutschen Schulsystems geht. Beispielhaft zu nennen wäre das IFO-Institut, das neben dem regelmäßig erstellten Geschäftsklimaindex auch themenbezogen empirische wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung mit dem Ziel der Politikberatung betreibt. Unter
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der Überschrift »Bildung macht die Menschen produktiver«62 kommuniziert das Institut etwa seine arbeitsmarktpolitischen Ideen der interessierten Öffentlichkeit: Der Staat müsse mehr in Vor- und Ganztagsschulen investieren, weil das die Basis für die Weiterbildung von Erwachsenen sei. Bei dieser Aussage müsste wohl gefragt werden, warum denn ausgerechnet diese beiden Felder genannt werden und nicht etwa die Unterrichtsqualität oder die Lehrerausbildung. Ohne weiteres Drumherumreden wird bald deutlich, dass es wieder einmal nicht um Bildung, sondern um die weibliche Arbeitsmarktbeteiligung geht. Das Institut hat bereits errechnet, dass sich die staatlich geförderte Kinderbetreuung durch die Zunahme der Erwerbstätigkeit der Mütter weitgehend selbst finanziert. Durch höhere Einnahmen bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen würden zwischen 65 und 100 Prozent der laufenden Kosten der Betreuung in Ganztagsschulen gedeckt. Ins gleiche Horn bläst der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK): Der Ausbau der Ganztagsschulen müsse deutlich forciert werden. Derzeit könnten »nicht einmal« ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen eine Ganztagsschule besuchen. Die laufenden Kosten für den Ganztagsbetrieb würden sich 62 Interview mit dem Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik Ludger Wößmann in der Süddeutschen Zeitung vom 19. 11. 2013.
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infolge des Ausbaus bis 2020 schrittweise auf bis zu 7,9 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen (derzeit 3,6 Mrd.). Durch die besseren Betreuungsvoraussetzungen sei allerdings mit einer steigenden Erwerbsbeteiligung insbesondere von Frauen zu rechnen. Die dadurch ausgelösten Steuermehreinnahmen würden diese Mehrkosten weitgehend decken – eine also auch fiskalisch lohnende Investition – so der DIHK. In einer eigenen Broschüre wird der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz eingefordert. Fast schon rhetorisch darin die Frage, warum wir denn mehr Ganztagsschulen brauchen: »Das größte Potenzial zur Fachkräftesicherung liegt in einer stärkeren Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen. Die Frauenerwerbsquote in Deutschland liegt mit etwa 71 Prozent zwar schon heute in den Top 5 der EU. Allerdings arbeitet fast die Hälfte der Frauen hierzulande in Teilzeit – und das mit nur rd. 18 Wochenstunden im Durchschnitt. Ein zentraler Hebel, um hier zusätzliches Arbeitszeitpotenzial zu erschließen und den Arbeitszeitwünschen der Menschen sowie dem Bedarf der Betriebe entgegen zu kommen, ist eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Während die Kita-Betreuung durch verlässliche Öffnungszeiten den Familien inzwischen oftmals relative Planungssicherheit bietet, entsteht für berufstätige Eltern häufig ein Problem, wenn die Kinder eingeschult werden. Durch Unterrichtsausfall und fehlende Mittagsverpflegung wird die Erwerbstätigkeit von Eltern erschwert, besonders dann, wenn seitens der Schule oder der Kommune keine verlässliche Betreuung angeboten wird. Für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist es daher notwendig, besonders die Grundschulen zu Ganztagsschulen auszubauen.«63 Schule wird vom DIHK also vorwiegend als Institution verstanden, die den Eltern volle und ungehinderte Berufstätigkeit erlaubt. Das finanzielle Engagement des Staates im Bereich der Schule soll zunächst den arbeitsmarktbezogenen Interessen der Betriebe dienen. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) betrachtet in seinen Veröffentlichungen stets Bildung und Familie im Kontext miteinander. In einer eigenen Studie64 geht das Institut der Frage nach, welche sozialen Schichten die GTS besuchen. Arbeitsmarktpolitisch von besonderer Bedeutung sind ja 63 Deutscher Industrie- und Handelskammertag: Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz. Positionspapier vom 30. 11. 2013 (http://www.dihk.de/themenfelder/wirtschaftspolitik/arbeitsmarkt-soziales/vereinbarkeit-familie-und-beruf/positionen/ganztagsschulen). 64 Jan Marcus, Janina Nemitz und C. Katharina Spieß: Ausbau der Ganztagsschule: Kinder aus einkommensschwachen Haushalten im Westen nutzen Angebote verstärkt. DIW Wochenbericht 27/2013.
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vorwiegend jene Teile der gehobenen Mittelschicht, die mit reduziertem Familieneinkommen gut über die Runden kommen, in denen die Frauen aber über ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau verfügen, das sie dem Arbeitsmarkt einfach vorenthalten, wenn sie sich zu Hause um ihre Kinder kümmern. Jene Schichten gilt es für die Ganztagsidee zu gewinnen, denn gerade hier schlummern ja besonders wertvolle Ressourcen. Schon dem Namen nach leicht zu verwechseln ist das DIW mit dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), das seit einiger Zeit in Verbindung mit der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« INSM, mit der es im Übrigen auch institutionell eng verbunden ist, einen »Bildungsmonitor« herausbringt, in dem die Bildungssituation in Gesamtdeutschland analysiert und die Bildungssysteme der 16 Länder nach verschiedenen Kriterien verglichen werden. Im Bericht für 2012 liest man beispielsweise: In den kommenden Jahren solle in Deutschland die Infrastruktur durch zusätzliche Plätze an Kindertagesstätten und Ganztagsschulen flächendeckend ausgebaut werden. Hierdurch könnten mehr als 110.000 Alleinerziehende zusätzlich ihre Erwerbswünsche realisieren und die Armutsgefährdung von Alleinerziehenden könne reduziert werden. Die zusätzliche Infrastruktur verbessere für Kinder von Alleinerziehenden und Migranten den Zugang zu Bildung. »Durch einen Ausbau der Ganztagsinfrastruktur für ein- bis zwölfjährige Kinder […] würde die Wachstumsrate langfristig um mehr als 0,33 Prozentpunkte steigen. Im Jahr 2050 würde das BIP hierdurch um mehr als 221 Milliarden Euro zunehmen«65. Im Bildungsmonitor 2014 heißt es: »Studien für Deutschland belegen, dass […] die Verfügbarkeit von Ganztagsschulen auch auf die Arbeitszeiten der Mütter auswirkt. […] Das derzeit unausgeschöpfte Arbeitskräftepotenzial bei Müttern mit Schulkindern wird auf insgesamt etwa 763.000 Vollzeitäquivalente geschätzt.«66 Die inhaltliche Ausrichtung der Institute und Lobbygruppen ist nahezu identisch. Die INSM ist eine Art Ableger des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, gleichzeitig aber auch in den Medien bestens vernetzt. Dort werden Studien wie der »Bildungsmonitor« meist kritiklos als wissenschaftliche Erkenntnis publiziert, ohne auf die Interessen der Autoren und ihrer Hintermänner und -frauen zu schauen. Dass das Institut ausgerechnet den Begriff »Soziale Marktwirtschaft« im Namen trägt, obgleich es dezidiert neoliberale Positionen durchzusetzen bestrebt ist, kann wohl am ehesten als Verpackungstrick gedeu65 Christina Anger, Ina Esselmann, Mira Fischer, Axel Plünnecke: Bildungsmonitor 2012. Infrastruktur verbessern – Teilhabe sichern – Wachstumskräfte stärken. Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Köln 2012, S. 205. 66 Dies.: Bildungsmonitor 2014. Die richtigen Prioritäten setzen. Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Köln 2014, S. 31.
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tet werden, so wie sich ja auch hinter dem sogenannten »Aktionsrat Bildung« eine Lobbygruppe bayerischer Unternehmer verbirgt, die im November 2013 in einem eigenen Gutachten versucht hat, eine positive »Zwischenbilanz«67 zur zehnjährigen Ganztagsschul-Offensive im Grundschulbereich zu ziehen. Gerade in Bayern fühlt sich die Industrie durch die noch stark verankerte Halbtagsschule besonders unter Zugzwang. Noch dichter an der Welt der Medien dran als die INSM ist wohl nur noch die bereits genannte Bertelsmann-Stiftung, die das Ganztagsschulthema bereits seit vielen Jahren ganz oben auf der Prioritätenliste hat und nicht müde wird, ihr selbst produziertes Zahlenmaterial wie ein Mantra herunterzubeten. 2010 hatte sie in Zusammenarbeit mit Infratest dimap ermittelt, dass »rund zwei Drittel« der Eltern für ihr Kind eine Ganztagsschule wünschen68. Beharrlich verschwiegen wird dabei, dass nur 25 % eine gebundene Ganztagsschule wählen würden. Die übrigen 38 % angeblicher Ganztagsbefürworter (zusammen mit der ersten Gruppe also 63 %) sprachen sich für freiwillige Betreuungsangebote aus. Unklar blieb, ob sie selbst diese Angebote in Anspruch nehmen wollten69. Seither wurden die Zahlen von 2010 in mehreren Folgebefragungen70 weitgehend bestätigt. In der Presse wie auch in den »wissenschaftlichen« Studien von Bertelsmann heißt es aber in der Regel stark verkürzt: »Umfragen zufolge wünschen sich nämlich schon jetzt 70 Prozent aller Eltern in Deutschland einen Ganztagsplatz für ihr Kind«71. Misstrauisch an all diesen Zahlen mag stimmen, dass z. B. in baden-württembergischen Elternbefragungen zur Bedarfsermittlung die Zahlen der Halbtagsschulbefürworter durchweg deutlich höher waren, v. a. wenn man die Eltern dazurechnet, die lediglich flexible Betreuungsangebote wünschen72. Gleichwohl wird weiterhin die 70 %-Zahl politisch ausgeschlachtet, um weiteren GTS-Ausbau zu legitimieren. Dabei wird sie einerseits als Indikator verstanden, wieweit die Stimmungsmache des vergangenen Jahrzehnts bei Eltern schon angeschlagen hat. Andererseits dient sie ihrerseits wiederum als Stim67 Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. (Hg.): Zwischenbilanz Ganztagsgrundschulen: Betreuung oder Rhythmisierung? Gutachten. Münster 2013. 68 http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/mehrheit-der-eltern-fuer-ganztagsschule. 69 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/164178/umfrage/umfrage-von-eltern-bevorzugtesschulmodell/. 70 Siehe die beiden Jako-o-Studien von 2012 und 2014 (http://www.jako-o.de/medias/sys_master/ 8808453308446.pdf und http://www.jako-o.de/engagement-aktionen-fuer-kinder-freundlichkeitbildungsstudie-3-jako-o-bildungsstudie—00127000/). 71 Z. B. Klaus Klemm: Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt. Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Gütersloh 2014, S. 4. 72 Siehe eine Zusammenstellung unter http://www.initiative-gute-grundschule.de/?page_id=158.
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mungsmacher: Wer sein Kind an eine Halbtagsschule schicken möchte, muss merken, dass er einer Minderheit angehört. Wer modern ist in Gesellschaft, Wissenschaft, Medien und Politik, ist Anhänger der Ganztagsschule. So funktioniert »Agenda-Setting«. Die Bertelsmann-Stiftung, die von Lehrerverbänden wie der GEW73 und dem Philologenverband74 häufig wegen ihrer pseudowissenschaftlichen Arbeitsweise und ihrer verdeckten Lobbyarbeit für das Medienimperium im Hintergrund der Stiftung kritisiert wird, setzt sich klar für eine Pflichtganztagsschule für alle ein: »Die flächendeckende Ausweitung des gebundenen Ganztags für alle Schüler auf acht Stunden an allen fünf Schultagen, die nach Überzeugung der Bertelsmann Stiftung den besten Rahmen für individuelle Förderung darstellen würde, erfordert die Bereitstellung umfassenderer Mittel von knapp acht Milliarden Euro für qualifizierte Pädagogen im Jahr. Hinzu kommen außerdem einmalige Investitionskosten für den Umbau von Schulen auf den Ganztagsbetrieb, die – je nach Ausbauvariante – zwischen acht und 17 Milliarden Euro betragen«75. Zwei Jahre zuvor hatte man bereits 9–9,5 Milliarden Euro jährliche Mehrkosten bei einer 100 %-Quote errechnet.76 Bei ca. 120 Milliarden Euro Gesamtbildungsausgaben pro Jahr entspräche dies einem Zuwachs von ca. 8 %. Einsparungen durch die sinkenden Schülerzahlen infolge der demografischen Entwicklung sind bereits eingerechnet, sonst wäre die Zahl deutlich höher. »Return on Investment« bedeutet aus der Perspektive eines Medienunternehmens, das sich gerade strategisch sehr stark auf den Didaktik-Markt ausrichtet, auch die Erschließung neuer Einnahmefelder. Gleichzeitig wird hier eine neue Runde im Ganztagsschulausbau eingeläutet. Es geht jetzt nicht mehr um Angebote, sondern um ein flächendeckendes und verpflichtendes GTS-System, etwa nach französischem Vorbild. Im Grundsatz kann man den Wirtschaftsverbänden und den ihnen nahestehenden Stiftungen und Institutionen keinen Vorwurf machen. Sie setzen sich als Lobbygruppen für spezifische Interessen ein und nutzen dazu die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Die bundesrepublikanische Politik und Gesellschaft baut darauf auf, dass Individuen und Interessengruppen ihre Ziele in 73 Siehe z. B. Rudolph Bauer: Vorsicht Bertelsmann! (http://www.gew-hb.de/aktuelles/detailseite/ neuigkeiten/vorsicht-bertelsmann/). 74 Siehe z. B. Deutscher Philologen Verband: Neue Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Chancengerechtigkeit: Nur ein Recycling bereits altbekannter Daten! (http://www.dphv.de/aktuell/archiv/ news-archiv-liste/article/neue-studie-der-bertelsmann-stiftung-zur-chancengerechtigkeit.html). 75 Klaus Klemm: Ganztagsschulen in Deutschland, S. 6. 76 Ders.: Was kostet der gebundene Ganztag? Berechnungen zusätzlicher Ausgaben für die Einführung eines flächendeckenden Ganztagsangebots in Deutschland. Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Gütersloh 2014, S. 31.
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der Öffentlichkeit frei verfolgen können. Im Endeffekt bleibt es Aufgabe der Politik, aus den verschiedenen Interessen einen in der Gesellschaft mehrheitsfähigen Konsens zu formulieren. Daher müssten Lobbyinteressen u. U. auch zurückgewiesen werden. In der Ganztagsschulfrage gestaltet sich dies besonders schwer, da auch aus einem ganz anderen Lager in die gleiche Stoßrichtung gearbeitet wird: Gewerkschaften, die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, Frauenrechtlerinnen und ganz allgemein jene Kräfte, die sich als »links« verstehen, gehen in der Ganztagsschulfrage eine ungewohnte Zweckpartnerschaft mit den Wirtschaftslobbyisten ein, auch wenn die Motivation nicht dieselbe ist. Ihnen geht es vorrangig um das Ziel der Gleichstellung zwischen Frau und Mann, das sich im Endeffekt nur durch wirtschaftliche Unabhängigkeit, also durch Erwerbsarbeit, erreichen lasse. Stellvertretend für diese Gruppe kann der »Verband berufstätiger Mütter« (VBM) angeführt werden, der ein Positionspapier zur Ganztagsschulfrage vorgelegt hat, das von zahlreichen weiteren Verbänden und Interessengruppen mit unterzeichnet wurde, die sich den Zielen und den Ideen der »berufstätigen Mütter« verbunden fühlen, z. B. der Gewerkschaft Ver.di und der Partei Bündnis 90/ Grüne77. Sie fordern eine »zeitnahe, bundesweite, flächendeckende Einführung gebundener, rhythmisierter Ganztagsschulen für alle Schulformen.« Dabei beten sie quasi alle Forderungen der »progressiven« Bildungstheoretiker herunter und formulieren noch einige Wünsche dazu: »das Modell des LehrerInnen- bzw. SozialpädagogInnen/ErzieherInnen-Tandems«, »Auflösung des 45-Minuten-Taktes« und »Rhythmisierung des Unterrichts«, »hochwertiges Mittagessen«, »deutlich verstärkte Schulsozialarbeit und Einbeziehung von SchulpsychologInnen«, »Hausaufgaben als Teil des Unterrichts«, »Integration der Programme anderer Träger« usw. Sie erwarten sich davon »endlich Fördermöglichkeiten mit individueller Ausrichtung«, »deutlich bessere Vermittlung von Sozialkompetenz sowie unterstützender Anleitung zu gesunder Selbstverantwortung«, »soziale (Bildungs-)Gerechtigkeit und Chancengerechtigkeit«, »positive Wirkung auf das Familienleben durch den strukturierten Familienalltag« usw. »Mittels eines durchgängigen, modernen Konzeptes, beständig weitergebildeten LehrerInnen wie auch unterstützenden, pädagogischen Kräften gelingt es, in der gemeinsamen Schulzeit die Schule als Lebensraum, als sicheres ›Dorf‹ und überschaubare Gemeinschaft zu gestalten, im Nebenmodell zur zunehmenden Vereinzelung der Familien und Kinder dieser Zeit.« 77 http://vbm-online.de/wp-content/uploads/2015/06/VBM-Positionspapier-Ganztagsschule4-2012.pdf.
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In dieser Neudefinition von Schule werden traditionell familiäre Aufgaben ausgelagert. Was in diesem Kontext »Nebenmodell« bedeutet, bleibt offen, denn die Ganztagsschule soll ja flächendeckend und verbindlich sein. Davon verspricht sich der VBM positive Rückwirkungen auf das Familienleben. Eltern, die sich nachmittags nicht mit den Hausaufgaben ihrer Kinder herumplagen müssten, würden ein besseres Verhältnis zu ihnen aufbauen, weil ein großes Konfliktfeld entfalle78. Es findet hier nebenbei auch eine Neudefinition von Familie statt. Sie wird in dieser Sichtweise zu einer Art Wellness- oder Freizeitraum, in dem abgearbeitete Eltern und Kinder gemeinsam den Feierabend genießen. Die eigentliche Erziehungs-Arbeit wird outgesourct. Dass Konfliktfähigkeit und Streitkultur in der Ganztagsschule nicht hinreichend eingeübt werden können, wurde weiter oben bereits ausführlich dargelegt. Wer das VBM-Papier intensiver durcharbeitet, wird merken, dass die pädagogischen Argumente ohnehin vorgeschoben sind. Wären sie so stichhaltig wie behauptet, müsste man sich fragen, warum denn die »berufstätigen« Mütter mit jenen Ideen kommen und nicht genauso die Hausfrau-Mütter oder gar die berufstätigen Väter bzw. die Hausmann-Väter. In pädagogischen Fragen müsste der eigene Standort zunächst einmal unerheblich sein. Ob der 45-Minuten-Takt oder dessen Auflösung pädagogisch besser ist, entscheidet sich unabhängig von der Frage, ob die Mutter berufstätig ist. Ehrlicher wäre es, der VBM würde sich auf sein Kernanliegen beschränken. Die für ihn entscheidenden Forderungen werden mit den pseudopädagogischen Argumenten vermischt und gleichmäßig über das Positionspapier verteilt. Man kann sie aber leicht wieder herausfiltern: Es geht um verlässliche Betreuungszeiten von morgens bis abends, damit Eltern ungestört ihrer Erwerbsarbeit nachgehen können. Ausgeweitet werden soll das Betreuungsangebot durch zusätzliche Früh- und Spätangebote (bis 18.00/19.00 Uhr) und durch Ferienbetreuung. Wollte man dies verwirklichen, müsste der zurzeit gültige Faktor von ca. 30 % Mehrkosten für einen Ganztagsplatz deutlich angehoben werden. Wollte man darüber hinaus noch die pädagogischen Forderungen des VBM, also z. B. Schulsozialarbeit, Tandem-Unterricht, Schulneubauten bzw. -umbauten usw. verwirklichen, müsste noch einmal kräftig draufgesattelt werden. »Ein architektonisches Umdenken im Hinblick auf die Gestaltung der Schulen, von den aktuell überwiegend grauen, geraden Gebäude-Komplexen hin zu den dem Lehren und Lernen, dem Studieren und Probieren lebendig begegnenden und die Gemeinschaft in sich aufnehmenden 78 S. VBM-Vorstandsmitglied Cornelia Spachtholz am 2. 11. 2013 im Deutschlandfunk (http://www. deutschlandfunk.de/schwerpunktthema-beschult-und-beschallt-von-morgens-bis.1180.de. html?dram:article_id=267340).
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hellen, wie gesunden Lebensräumen betrachten wir als einen weiteren entscheidenden Aspekt.« Jetzt sind wir wieder bei den Bildungsutopisten des Kapitelanfangs angekommen. Verbindend zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Neoliberalen und Linken, zwischen Wirtschaftsbossen und Feministinnen ist, dass die Interessen der Kinder keine relevante Rolle spielen. Schule wird gesehen als Betätigungsfeld, um primär pädagogikfremde Interessen durchzusetzen. Die heutigen Kinder und Jugendlichen werden in 20 bis 40 Jahren selbst Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft übernehmen müssen. Bis dahin hat die Industrie Gelegenheit genug zu überlegen, wo sie produzieren will. Sollte sie merken, dass das »frische Humankapital«, das ganz nach den eigenen Vorstellungen in Krippe, Hort und Ganztagsschule planmäßig aufgezogen wurde, doch nicht den eigenen Qualitätsstandards entspricht, wird sie wohl Mittel und Wege finden, um dorthin abzuwandern, wo es besser und billiger geht. Die Verantwortung für die Entwicklungen von morgen werden aber letztlich jene tragen müssen, die die Entscheidungen von heute gefällt haben. Oder gibt es in der »postdemokratischen Gesellschaft« gar kein politisches Entscheiden mehr?
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Die systemerhaltende Macht der Disziplinar- und Industriegesellschaft war repressiv. Fabrikarbeiter wurden durch Fabrikeigentümer brutal ausgebeutet. So führte die gewaltsame Fremd-Ausbeutung der Fabrikarbeiter zu Protesten und Widerständen. Möglich war hier eine Revolution, die das herrschende Produktionsverhältnis umstürzen würde. In diesem repressiven System sind sowohl die Unterdrückung als auch die Unterdrücker sichtbar. Es gibt ein konkretes Gegenüber, einen sichtbaren Feind, dem der Widerstand gilt. Das neoliberale Herrschaftssystem ist ganz anders strukturiert. Hier ist die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt, verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime. Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre. Die systemerhaltende Macht nimmt heute eine smarte, freundliche Form an und macht sich dadurch unsichtbar und unangreifbar. Das unterworfene Subjekt ist sich hier nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Es wähnt sich in Freiheit.79 Byung-Chul Han Lobby-Gruppen gehören zur Demokratie dazu. Wir vertrauen, wenn wir unsere Interessen durchsetzen möchten, nicht allein dem Ergebnis demokratischer Wahlen. Wir wollen auch die öffentliche Meinung beeinflussen, Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen richten, Einfluss auf verschiedenen Kanälen nehmen. In quasi allen Politikfeldern gibt es Lobby-Gruppen, die unterschiedliche bzw. konträre Positionen vertreten: Arbeitgeber gegen Gewerkschaften, Krankenkassen gegen kassenärztliche Vereinigung, Umweltverbände gegen Kraftwerksbetreiber usw. Wie ist es also im Feld der Ganztagsschuldebatte? Welche Institutionen, Verbände und Interessengruppen kämen infrage, eine Gegenposition zu formulieren? Wo ist die Lobby der Kinder, die keine Ganztagsschule besuchen 79 Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt a. M. 2014.
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wollen? Wo ist die Lobby der Familien, die ihre Kinder nicht fremdbetreuen lassen möchten? Wer kann als »Verlierer« der Ganztagsbewegung angesehen werden? Wer müsste versuchen zu intervenieren? Diese Fragen sind zunächst leicht zu beantworten: Als »natürliche Gegner« der GTS kommen alle infrage, die bislang außerhalb der Unterrichtszeit Angebote für Kinder und Jugendliche gemacht haben, seien sie nun kommerziell oder ideell. Unter den kommerziellen waren es zunächst die Nachhilfeinstitute, die ihre Existenz in Gefahr sahen. GTS-Befürworter warben immer wieder mit der Behauptung, dass ihr neuer Schultyp die Nachhilfe überflüssig mache. Da sich diese Behauptung längst als leeres Versprechen erwiesen hat und die Nachfrage nach Nachhilfestunden durch Ganztagsschulen keineswegs rückläufig ist, kommen die Kinder jetzt einfach zu späteren Uhrzeiten. Das Geschäft brummt wie eh.80 Ohnehin sind die Nachhilfeinstitute institutionell nicht sehr stark vernetzt und ihr Einfluss auf die öffentliche Stimmungslage ist äußerst gering. Gegenüber den Nachhilfeinstituten stehen die Kirchen besser da. Es gibt hier teilweise große Vorbehalte, nicht nur weil der nachmittägliche Kommunion-, Firm- oder Konfirmationsunterricht, die Messdienerstunden und sonstige kirchliche Jugendgruppen betroffen sind. Es gibt Stimmen, die den dominierenden Einfluss wirtschaftlicher Interessen anprangern und eine Perspektive anmahnen, die das Kindeswohl und die elterliche Erziehungsautonomie in den Mittelpunkt der Diskussion rücken möchten. So sagt 2012 der damalige Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, im Interview: »Es gibt doch zwei zentrale politische Triebfedern für die Förderung und den Ausbau von Ganztagsschulen im großen Stil. Zum einen sollen die Chancen für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche erhöht werden. Diese Kinder können in der Tat von guten Angeboten profitieren. Zum anderen sollen Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe entlastet werden, um ihnen eine volle Erwerbstätigkeit zu erleichtern. Eine Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder kann ich dabei nicht vorrangig erkennen.«81 Er macht sich stark für Wahlfreiheit der Eltern zwischen Ganz- und Halbtagsschulen und beklagt, dass es immer schwieriger würde, »mit Kindern und 80 S. Arnd Zickgraf: Trotz Ganztagsschule besteht Bedarf an Nachhilfe. Ganztagsschulen sollen Schüler individuell fördern. Doch den Ansturm auf private Nachhilfeinstitute hat die Schulform bisher nicht gestoppt. In: Die ZEIT vom 21. April 2011. 81 Stephan Lüke: Interview mit Dr. Robert Zollitsch: »Ganztagsschule braucht Mitwirkung der Eltern«. (http://www.ganztagsschulen.org/de/1689.php).
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Jugendlichen nach möglichen Terminen für Angebote in der Jugendarbeit zu suchen.« Schlussendlich bricht er noch eine Lanze für die Erziehungsarbeit der Familien: »Ich glaube, dass der Beitrag, den ungezählt viele Eltern zum Bildungserfolg ihrer Kinder leisten, völlig unterschätzt wird. Und die Gesellschaft tut sich am Ende keinen Gefallen, wenn sie versucht, den positiven Einfluss dieser Eltern auf den Bildungserfolg ihrer Kinder zu minimieren, indem sie Erziehung und Bildung immer weiter professionalisiert und institutionalisiert. Die Schule ergänzt den Erziehungsbeitrag der Eltern, kann ihn aber nicht ersetzen.«82 Obwohl die Ganztagsschulbewegung sowohl den Interessen als auch der Einstellung vieler Verantwortlicher in den Kirchen zuwider läuft, vernimmt man in der öffentlichen Diskussion die kirchliche Stimme nur äußerst verhalten. Dies liegt gewiss auch daran, dass den Kirchen in Fragen der Familien- und Geschlechtermoral der Wind ohnehin schon kräftig ins Gesicht bläst. Da das Betreuungsthema schon lange frauenpolitisch besetzt ist, würden sie hier eine weitere Angriffsfläche bieten. Die Reaktionskette wäre absehbar wie das Amen in der Kirche: Ein etwaiger kirchlicher Vorstoß gegen die Ganztagsschule würde mit dem Hinweis gekontert, dass die Frauen wieder mal an den Herd gefesselt werden sollten und dass alte kinderlose Männer ihr überlebtes Frauen- und Familienbild der Gesellschaft aufzwingen wollten. Auf solche Diskussionen können die Kirchen in Zeiten wie den jetzigen wohl verzichten. Hinzu kommt, dass Kirchen als Schulträger eng mit den Kultusministerien und Schulbehörden zusammenarbeiten müssen. Ähnliches gilt für die zahlreichen Kindergärten und -krippen, die in kirchlicher Regie betrieben, aber vorwiegend mit Steuergeldern finanziert werden. Gerade in einer Zeit, in der viele den Einfluss der Kirchen aus dem Bildungsbereich insgesamt gern zurückgedrängt sehen würden, brauchen diese einen möglichst engen Schulterschluss mit den staatlichen Behörden. Auch wenn der Prozentsatz an Ganztagseinrichtungen im kirchlichen Bereich vergleichsweise gering ist, gibt es dennoch keine allgemeine Linie in dieser Frage. Einige Schulen versuchen sich gerade als katholische oder evangelische Privatschule mit gebundenem Ganztagskonzept auf dem Bildungsmarkt zu profilieren. Dabei nehmen sie natürlich auch die üblichen staatlichen Förderungen in Anspruch. In solch einem verminten Gelände verbieten sich laute Töne und ungestümer Protest gegen die Ganztagsschule von allein. 82 Ebd.
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In einer vergleichbaren Position wie die Kirchen befinden sich die Lehrerverbände, deren Aussagen in der öffentlichen Debatte vielfach ebenfalls mit einer gewissen Skepsis zur Kenntnis genommen werden. Schon sehr früh hieß es, »die Lehrer« seien eher gegen die Ganztagsschule, weil sie dann auch nachmittags arbeiten müssten. Ein Argument, das so von den Lehrerverbänden natürlich nie vorgebracht wurde. Es entbehrt ohnehin jeder Logik, denn an der Gesamtunterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte hat sich durch die Einführung von Ganztagsschulen allenfalls indirekt etwas geändert. »Faule-Säcke«Attacken, wie noch vor einigen Jahren gebräuchlich, sind inzwischen aus der Mode gekommen, zumal sich herumgesprochen hat, dass die Gesamtarbeitszeiten bei Lehrern eher überdurchschnittlich sind, völlig unabhängig von der Frage, ob Ganz- oder Halbtagsschule. Dennoch spielte die pauschalisierende Unterstellung, es ginge den Lehrerverbänden um den freien Nachmittag, den GTS-Befürwortern in die Hände: Es war jetzt nämlich unerheblich, welche Argumente von Lehrerseite für oder wider die Ganztagsschule erhoben wurden. Man wusste ja, dass es eigentlich nur um die Rettung des freien Nachmittags ging. Mit solch einfachen Methoden gelang es, eine in der Diskussion wesentliche Berufsgruppe quasi mundtot zu machen. In der Tat positionierte sich der Deutsche Lehrerverband in einer Denkschrift 2001 insgesamt kritisch zur Ganztagsschulfrage: »Ganztagsbetreuung und die Ganztagsschule werden in ihrer gesellschaftspolitischen Wirksamkeit vielfach überschätzt. Weder Ganztagsbetreuung noch Ganztagsschule sind – entgegen anders lautenden Beteuerungen der Politik – in der Lage, das erzieherische Bewusstsein der Eltern zu fördern; eher fördern sie die Bereitschaft der Eltern, immer mehr originäre erzieherische Aufgaben an den Staat zu delegieren. Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule sind auch allenfalls begrenzt in der Lage, dem Arbeitsmarkt mehr qualifiziertes Personal zuzuführen oder die Qualifikations- und Beschäftigungsprobleme junger Frauen bzw. Mütter zu lösen.«83 Es werden in dem Papier verschiedene Gedanken formuliert, die wesentliche Problemstellen der Ganztagsschulfrage ansprechen: »Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann nicht nur eine Frage der Schule sein […] Zentrale Aufgaben der Schule sind Bildung und 83 Deutscher Lehrerverband: Ganztagsschule und schulische Ganztagsbetreuung. Denkschrift vom Juli 2001 (http://www.lehrerverband.de/memganz.htm).
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Unterrichtung; Betreuung und Sozialerziehung sind implizit Charakteristikum von Schule, aber nicht deren vorrangiger Zweck. […] Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule sind gegenüber einer familiären Betreuung der Kinder am Nachmittag und gegenüber außerschulischen Erfahrungsfeldern nur die zweitbeste Lösung […] Mit anderen Worten: Schule kann kein ErsatzElternhaus sein. Im Erzieherischen hat Schule allenfalls subsidiäre Aufgaben, sonst aber primär die Aufgabe des Unterrichtens. […] Eine flächendeckende Einführung einer Ganztagsbetreuung oder der Ganztagsschule ist allein mit öffentlichen Mitteln nicht finanzierbar. Ihr Mehrbedarf an Raum, Ausstattung und Personal beziffert sich auf dreißig bis vierzig Prozent im Vergleich zu den Halbtagsregelschulen. Kein Land in Deutschland vermag diese Mehrkosten von rund einem Drittel aufzubringen, selbst wenn Eltern teilweise zur Kasse gebeten werden.«84 Trotz der vielen kritischen Anmerkungen verzichtete der Deutsche Lehrerverband auf eine abschließende Gesamtaussage. Er versuchte – vermutlich auch aus taktischen Erwägungen– ein eher differenziertes Gesamturteil zu entwickeln, auch wenn im ganzen Papier keine wirklichen Pro-Argumente begegnen. Es mag dabei die Hoffnung mitgespielt haben, auf diese Weise eher Gehör zu finden, als wenn man sich in eine offene Antihaltung begeben hätte. Klare Positionen laufen schnell Gefahr, als undifferenzierte Polemik gebrandmarkt zu werden. Der vergleichsweise umgängliche Tonfall hat allerdings wenig genutzt. In der öffentlichen Debatte spielten die Argumente keine nennenswerte Rolle. In der öffentlichen Debatte hieß es weiterhin, die Lehrer wollten den freien Nachmittag nicht opfern und wären deshalb gegen die Ganztagsschule. Mit ihren tatsächlichen Argumenten brauchte man sich nicht mehr auseinanderzusetzen. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, die Diskussion mit einem etwas provokanten Statement wieder aufgegriffen. Ganztagsschuleltern würden ihre Kinder abends »ohne Konflikte, ohne Hausaufgaben, nur noch zum Kuscheln« abholen85. Der Deutschlandfunk nahm den Ball auf und initiierte eine Mini-Debatte zum Thema, in der Kraus Gelegenheit bekam, seine These genauer auszuführen. Insgesamt bestätigt er hier die Position des Deutschen Lehrerverbands von 2001. In der Radiodiskussion vertritt er die Meinung, dass Ganztagsschulen die an sie gestellten Anforderungen in toto nicht erfüllen könnten: »Ich wünsche mir die Vielfalt an Anregungen, die es außerhalb von 84 Ebd. 85 In: Florentine Fritzen: Die Kindheit wird verschult. FAS vom 20. 10. 2013.
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Schule gibt […] Die Pluralität, die das Leben bietet, kann eine Ganztagsschule gar nicht leisten.« Als problematisch stuft er Tendenzen in der Gesellschaft ein, Erziehungsverantwortung von den Familien auf die staatlichen Institutionen zu verlagern. Er mahnt zur »Rückbesinnung auf Artikel 6« unserer Verfassung, in dem die Erziehungsverantwortung der Eltern grundgelegt ist: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht.« Daraus leitet er ab, dass der Staat (bzw. die Schule) die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung entlassen dürfe. Ganztagsschulen sieht er in diesem Zusammenhang als Teil einer problematischen Gesamtentwicklung hin zu immer mehr staatlichem Einfluss bzw. Eingriff in die elterliche Erziehungsautonomie. Er versucht, die Thematik aus der Perspektive der Schüler zu betrachten und macht sich dabei zum »Anwalt der Kinder« und fordert, dass es auch ein »Leben außerhalb der Schule« geben müsse86. Zahlreiche Radiohörer melden sich in der Sendung zu Wort. Die meisten unterstützen die Ansichten, die Kraus vertritt. Dennoch gelingt es nicht, eine breite öffentliche Debatte loszutreten. Die Provokation zündet in den übrigen Medien nicht. Es bleibt windstill im »Blätterwald«. Als »Anwalt des Kindes« wird in Rheinland-Pfalz ein von der Politik beauftragtes Expertengremium bezeichnet, das zu konkreten Fragen und Problemstellungen aus verschiedenen Perspektiven Stellung beziehen soll. Neben Pädagogen kommen z. B. auch Mediziner und Psychologen zu Wort. Kurz bevor die Ganztagsschulwelle der 2000er-Jahre weitgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit vorbereitet wurde, erstellte dieses informelle Gremium 1992 auf Anfrage ein Positionspapier mit dem Titel Ganztagsschule – Notwendigkeit oder Risiko?87 Das Thema wird multiperspektivisch angegangen und es werden zahlreiche Pro- und Contra-Argumente zusammengetragen. Aus dem Abstand von mehr als 20 Jahren lässt sich konstatieren, dass quasi alle Warnungen von damals in den Wind gesprochen waren. Viele davon haben sich inzwischen bewahrheitet. Hingewiesen wurde beispielsweise auf die Gefahr einer »Verschulung« des Lebens mit den negativen Folgen, dass die Grenzen der »zeitlichen und körperlichen Belastbarkeit des Kindes« übersehen würden. Ebenso stünde »mangelnde Berücksichtigung des individuellen Biorhythmus« zu befürchten. »Eine zu lange Verweildauer in der Schule kann Aggressionen und Tendenzen zur Ausübung von Gewalt schaffen und zur Schulmüdigkeit bis hin zur Schulverdrossenheit 86 Interview in PISAplus im Deutschlandfunk: http://www.deutschlandfunk.de/schwerpunktthemabeschult-und-beschallt-von-morgens-bis.1180.de.html?dram:article_id=267340). 87 Kommission »Anwalt des Kindes«: Empfehlung 16. Ganztagsschule – Notwendigkeit oder Risiko? Im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung Rheinland-Pfalz. 1992.
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führen« – eine Befürchtung, die von der SteG-Studie zumindest in Teilen bestätigt wurde. Im Bereich der individuellen Persönlichkeitsentwicklung befürchten die Autoren, dass »ständige Fremdbestimmung und -kontrolle zur Gängelung führen und Unselbständigkeit begünstigen« würde. Dies könne zur »Verminderung der Eigeninitiative« oder zur »Begrenzung und Einschränkung auf das Schulangebot (Lehrerabhängigkeit)« führen. Noch viele weitere Argumente werden vom »Anwalt des Kindes« vorgebracht, darunter auch einige, die im Rahmen dieses Buches genauer ausgeführt wurden. Warum nur wurden die Gedanken nicht in die öffentliche Debatte aufgenommen? Warum wurden die Empfehlungen nicht beherzigt, die Mahnungen nicht ernst genommen? Warum kam es erst gar nicht zur breiten Diskussion dieser Fragen? Vermutlich lag es daran, dass der »Anwalt des Kindes« – ähnlich wie manch andere Expertenstimme – über zu wenig »Lobby« verfügt. Es fehlt der »Investor« im Rücken, der das Projekt in die erste Reihe schiebt. Die Politik hat den Expertenrat bestellt und kann ihn dann nach eigenem Gutdünken berücksichtigen oder eben auch nicht. Es fehlt aber der außerpolitische verlängerte Arm, der etwas bewegen könnte, der das Thema notfalls auch gegen Widerstände durchdrücken könnte. Der »Anwalt des Kindes« ist zu schwach, um als »Lobby des Kindes« gelten zu können, um selbst »Agenda-setting« zu betreiben. Er bleibt eine punktuelle Einzelstimme, die bei Bedarf einmal angehört wird, die aber keinen gestaltenden Einfluss auf das Verfahren nehmen kann. Gegenüber dem »Anwalt des Kindes« trägt das »Heidelberger Büro für Familienfragen«88 (HBF) stärker den Charakter einer Lobbygruppe. Ohne staatliche Beauftragung haben sich familienpolitisch Interessierte mit einem wissenschaftlichen Anspruch unter diesem Dach zusammengeschlossen und eine Gegenposition zum Mainstream der familienpolitischen Debatte entwickelt. Schwerpunkt der Arbeit ist die Kritik an der derzeitigen Tendenz hin zu frühkindlicher Krippenbetreuung. Die Ganztagsschulfrage ist mit diesem Themenfeld eng verzahnt und wird regelmäßig in Statements und Positionen mit berührt. Aus der Grundüberzeugung heraus, dass es zurzeit geboten sei, die Familien in ihrer Erziehungs- und Betreuungsfunktion zu stärken, anstatt alle Eltern ausnahmslos in Berufstätigkeit zu drängen, äußern sich die Mitarbeiter des HBF grundsätzlich skeptisch bis ablehnend gegenüber Ganztagsschulen. Ähnlich wie die Heidelberger argumentiert die »Initiative Familienschutz«, eine von Einzelpersonen getragene Bürgerbewegung, die sich als »unabhängige, überparteiliche und nichtstaatliche Initiative« versteht, die »die Interessen der Familien gegenüber Politik, Wirtschaft und Medien« vertritt. Sie fordert eine 88 http://www.heidelberger-familienbuero.de/.
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finanzielle Besserstellung von Familien z. B. durch Steuererleichterungen oder direkte Transferleistungen wie z. B. eine Erhöhung des Kindergelds. Dadurch würde Familien die Möglichkeit eröffnet, die Kinder selbst zu erziehen, statt sie in Krippen und Ganztagsschulen fremdbetreuen zu lassen. In einem Aufruf an Familienministerin Schwesig von 2013 heißt es z. B.: »Setzen Sie sich dafür ein, dass Familien echte, also finanzielle Wahlfreiheit bei der Kinderbetreuung erhalten. Verringern Sie den politischen und wirtschaftlichen Druck auf Mütter, ihre Kinder in Krippe und Ganztagsschule abzugeben.«89 Organisatorisch etwas dichter scheint das so genannte »Familiennetzwerk«90 aufgestellt zu sein, das wie die »Initiative Familienschutz« vor dem massiven Ausbau frühkindlicher Krippenbetreuung warnt und eine stärkere Förderung von Familien mit Kindern fordert: »Weniger Staat – mehr Eltern« lautet die knappe Formel. Einige prominente Unterstützer und Mitarbeiter sind im »Netzwerk« mit dabei. Es werden regelmäßig Tagungen und Kongresse veranstaltet. Mit Thesenpapieren wie dem Frankfurter Appell zum Kindeswohl und Fachvorträgen versucht der Verein, Resonanz in der Öffentlichkeit herzustellen. Schwerpunktmäßig geht es wiederum um frühkindliche Betreuung und Bildung, das Thema Bindung, Familienmodelle, Rollenbilder, Gendermainstreaming usw. In Baden-Württemberg haben sich Eltern zur »Initiative Gute Grundschule« zusammengeschlossen, um die Ganztagsschuloffensive der Landesregierung zu bremsen. Vorrangiges Ziel sei es, die Wahlfreiheit der Familien zwischen Ganzund Halbtagsschulen sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass »beide Schulformen gleichwertig finanziell und tatsächlich gefördert und weiterentwickelt werden«91. Sie wünschen flexible Betreuungsangebote statt flächendeckender Ganztagsschule und ehrliche Information für die Betroffenen. All diesen genannten Institutionen und Initiativen, die sich als »Lobbygruppen« für Kinder und Familien sehen, ist gemeinsam, dass sie unter Berufung auf § 6 des Grundgesetzes grundsätzlich die familiäre Betreuung von Kindern gegenüber einer wie auch immer gearteten öffentlichen Betreuung in Krippen und Ganztagsschulen favorisieren. Sie argumentieren medizinisch, psychologisch, pädagogisch und auch gesellschaftlich. Sie fordern bessere Rahmenbedingungen für Familien mit Kindern. Dabei greifen sie das Primat der »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« als illusionär und unaufrichtig an und fordern stattdessen, den Fokus stärker auf eine direkte Unterstützung der Familien zu setzen: Thesen, die dem gegenwärtigen Mainstream entgegenlaufen. Allen die89 http://www.familien-schutz.de/wp-content/uploads/2013/12/Petition_Schwesig.pdf. 90 http://www.familie-ist-zukunft.de. 91 http://www.initiative-gute-grundschule.de.
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sen »Lobbygruppen« gemeinsam ist auch, dass sie vorwiegend von Personen getragen werden, die sich aus einer inhaltlichen Überzeugung und ehrenamtlich für ihr Thema stark machen. In der öffentlichen Debatte sind sie dadurch im Nachteil gegenüber jenen Lobbygruppen, die von einflussreichen und finanzkräftigen Verbänden getragen werden, die über professionelle Strukturen verfügen und die ohnehin schon vielfältig in Politik und Medienlandschaft vernetzt sind. Dies ist vermutlich der Hauptgrund, warum ihre Stimme nur so schwach zu hören ist, obgleich die Argumente kaum zu widerlegen sind. Traurig, aber wahr: In Deutschland haben Familien und Kinder wenig Lobby. In der Formulierung von Positionen freier als die Kirchen und Lehrerverbände und in ihrer Wirkungsmacht stärker als die »Familienlobby« sind vor allem die Dachorganisationen von Sportvereinen und kulturellen Vereinen und Institutionen. Ihre Interessen werden durch die nachmittäglichen Betreuungsangebote massiv tangiert, teilweise fühlen sie sich gar existenziell bedroht. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten, in denen Ganztagsschulen seit Langem etabliert sind, haben sich bei uns kulturelle Traditionen entwickelt, die sehr stark auf dem freien Vereinsleben aufbauen. Gerade in dörflichen Gegenden erfüllen die Vereine nicht nur die Funktion, eine »sinnvolle« Freizeitaktivität für die Kinder und Jugendlichen anzubieten. Sie sind auch im gesamten kulturellen und sozialen Leben der Gemeinschaft die wesentlichen Pfeiler, sei es beim Dorffest, beim Karneval, am Volkstrauertag usw. Die Vereine unterhalten Sporthallen und -plätze, Vereinshäuser mit Bühne und Technik für Vorstellungen und Feste. Sie setzen den Rahmen für öffentliche Veranstaltungen und stellen soziale Kontakte her. Diese spezifische Tradition ist im besten Sinne als »bürgerlich« zu betrachten: Nicht der Staat organisiert das Leben der Menschen, sondern sie nehmen es selbst in die Hand und gestalten es nach weitgehend demokratischen Spielregeln in eigener Verantwortung. Sie sorgen für kulturelle Veranstaltungen und kulturelle Betätigung, ebenso für körperliche Bewegung und fairen Wettkampf. Sie entdecken Talente und lassen gleichzeitig die Breitenförderung nicht aus dem Blickfeld. Sie wirken als Identitätsanker der Einwohner und gleichzeitig Integrationsmotor für Zugezogene. Besucher aus dem Ausland nehmen diese hoch entwickelte Vereinskultur oftmals mit einer gewissen Bewunderung als »typisch deutsch« wahr. Das Vereinswesen entspricht in gewisser Hinsicht auch unserem Verständnis und unserer Tradition von Wirtschaft. Das verantwortliche Unternehmerische im Kleinen ist ein Charakteristikum unserer Gesellschaft in den verschiedensten Bereichen, nicht nur im Ökonomischen. Dass die Tradition der Halbtagsschule mit der Tradition des Vereinswesen untrennbar verknüpft ist, war vielen von Beginn der Ganztagsschulbewegung
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an klar. Von hier wurde der stärkste Widerstand befürchtet. Hier musste für Akzeptanz geworben werden. Schon früh suchten also vor allem die Bildungsministerien den Austausch und Kontakt mit den entsprechenden Verbänden. So wurden Rahmenverträge geschlossen, die es den Vereinen erlauben sollten, an den Schulen eigene Angebote zu formulieren. Man wollte diejenigen mit ins Boot holen, die ansonsten von außen gefeuert hätten. Diese Taktik ist offenbar aufgegangen. Aus der Perspektive der Verbände waren die frühen Grundsatzentscheidungen Anfang der 2000er-Jahre in erster Linie taktisch gedacht. So formulierte der Deutsche Musikrat 2004 beispielsweise: »Der Deutsche Musikrat begrüßt den bildungspolitischen Willen, das System Ganztagsschule einzuführen. Diese Bestrebungen sind zu sehen vor dem Hintergrund des in den letzten Jahrzehnten eingetretenen gesellschaftlichen Wandels (Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen, der Arbeitsmarktsituation, des sozialen Gefüges, der zunehmenden kulturellen Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland).«92 Der Dachverband der Musikverbände redet also nicht von musikalischen oder musikpädagogischen Zielen, die er in der Ganztagsschule verfolgen will. Es geht – wieder einmal – um Familien- und Beschäftigungspolitik. Dafür ist er zwar nicht zuständig, aber er muss auf die Entwicklungen reagieren. Die Motivlage ist klar. Die Richtung der Schulpolitik ist von außen vorgegeben. Die Messe ist schon gelesen. Es geht nur noch um die Frage, ob man noch einen Fuß in die Tür bekommt, ob man noch ein paar Pfründe retten kann. Man steht quasi vor folgender Alternative: Wenn man protestiert, wird man von der Bewegung überrollt. Wenn man weiterleben will, muss man mitmachen, am besten applaudieren. Im weiteren Verlauf des Grundsatzpapiers werden dann noch »Forderungen« gestellt, wie denn kulturelle Bildung in der Ganztagsschule zu verankern sei, wie die Qualität der musikalischen Angebote sicherzustellen sei. Intern heißt es, dass man »mitgestalten« müsse, wenn man sich nicht überflüssig machen wolle. Visionäre Gedanken machen die Runde: »Die Ganztagsschule wird neue Lern- und Lehrformen in das System Schule einbringen u. a. auch dadurch, dass bisher in der Schule nicht vertretene, 92 Deutscher Musikrat: Musik in der Ganztagsschule. Positionspapier vom Mai 2004 in Königstein (http://www.musikrat.de/fileadmin/Musikpolitik/Musik_in_der_Ganztagsschule/DMR_ Positionspapier_Ganztagsschule_220504.pdf).
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jedoch unabdingbar notwendige ästhetische und pädagogische Perspektiven durch die Einbeziehung von unterschiedlichen Kooperationspartnern zur Geltung kommen.«93 Man solle nicht auf die Gefahren, sondern auf die Chancen schauen, die sich für die musikalische Bildung ergeben. Ein Hinweis, der auch dem Kaninchen nichts nutzen würde, das gerade vor der Schlange in Schockstarre verfallen ist. Gestalte dein Ende konstruktiv mit. Sprich mit der Schlange, ob sie dich besser von vorne nach hinten oder von hinten nach vorne verschlingen soll. Der zynische Vergleich ist insofern angebracht, als die Ganztagsschulbewegung, oder zumindest viele treibende Kräfte, von Anfang an kaum Interesse an der inhaltlichen Ausgestaltung der Nachmittagsaktivitäten an den Tag legten. Es ging darum, dass die Kinder bis 16.00 Uhr oder länger betreut sind. Punkt. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchte man das Placet möglichst vieler Institutionen. Entscheidend war der Satz »Der Deutsche Musikrat begrüßt den bildungspolitischen Willen, das System Ganztagsschule einzuführen.« Alles was danach folgte, wurde ohnehin nicht mehr gelesen. In der Diskussion z. B. zwischen einem Schulträger und einer Musikschule konnte man jetzt sagen: »Auch der Deutsche Musikrat befürwortet die Ganztagsschule«. Darauf kam es an, und genau das spürten auch die Verbände. Als man im Deutschen Musikrat in der Folgezeit die Situation mit etwas klareren Augen zu analysieren begann und zunehmend kritische Nebentöne in die Positionspapiere mischte, wurde der Grundkonsens jedoch nicht mehr infrage gestellt. Der Glaube daran, dass Ganztagsschulen die hohen Anfangserwartungen einlösen könnten, verflüchtigte sich. Aber man rang sich nicht dazu durch zu sagen: »Der Deutsche Musikrat lehnt einen weiteren Ausbau schulischer Ganztagsbetreuung ab.« Gegen den Strom zu schwimmen, ist gefährlich, zumal für einen Dachverband, der einige Millionen Menschen vertritt, der wie eine große Volkspartei »mehrheitsfähig« sein muss. Offenbar traut sich der Deutsche Musikrat selbst nicht zu, durch seine Stellungnahme die Wahrnehmung von Ganztagsschulen in der Öffentlichkeit entscheidend beeinflussen zu können. Vermutlich liegt der Verband mit dieser Einschätzung richtig. Und er kann glauben, er habe »mitgestaltet«. Bislang lag musikalische Bildung zu einem großen Teil im Zuständigkeitsbereich des Elternhauses. Zumindest wurde hier der organisatorische Rahmen gesetzt. Kinder aus bürgerlichen Familien spielten Violine oder sangen im Chor. Sie waren privilegiert, wenn man es so ausdrücken möchte. Durch die Ganz93 Ebd.
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tagsschule werden die sozialen Differenzen begradigt, allerdings auf sehr niederem Niveau. Das kann man »Bildungsgerechtigkeit« nennen. Größeren Einfluss als die Musikverbände hat der Deutsche Sportbund, der nach eigenen Angaben fast 28 Millionen Menschen in Deutschland vertritt. Ein gewaltiger Machtfaktor, sollte er seine Muskeln tatsächlich spielen lassen. Kein Wunder also, dass die Sportvereine und -verbände besonders hofiert wurden, als die Ganztagsschulwelle angestoßen wurde. Fast wortgleich zu den Kollegen aus der Musik liefern sie in einem Grundsatzpapier 2003 das gewünschte Bekenntnis: »Als wesentliches Element der bildungspolitischen Konsequenzen aus den Ergebnissen der PISA-Studie hat sich die Forderung nach einer vermehrten Einrichtung von Ganztagsschulen ergeben. Für den deutschen Sport stellt die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen eine große Chance dar, die Erziehung und Bildung durch Sport angemessen zu platzieren.«94 Chancen nutzen, mitgestalten, auf Augenhöhe kooperieren usw. Als Begründung dient den Sportfunktionären PISA. Sie kommen nicht von sich aus auf die Idee, nach der Ganztagsschule zu rufen. Jetzt aber, wo sie in der Tür steht, will man sie herzlich willkommen heißen, gute Miene machen zum bösen Spiel. Man will nicht als Verlierer dastehen. Man stimmt ein in den Fangesang, den die Verbandsfreunde von der Musik bereits singen. Man schwingt auch fast gleichlautend in der La-ola-Welle mit ihnen weiter durch das erste Ganztagsjahrzehnt. Auch die Probleme, die aufkommen, sind ähnliche. Der Ton wird ein wenig schärfer, die Euphorie ist verflogen. Aber Fundamentalkritik wird nicht erhoben. An der »heiligen Kuh« darf nicht gezweifelt werden. Allenfalls Details stehen zur Debatte. Auf einer 2011 von der Sporthochschule Köln veranstalteten Podiumsdiskussion heißt es z. B.: »Vor allem jüngere Kinder würden nach der Schule nicht mehr zu einem Vereinstraining kommen, das erst am späteren Nachmittag beginnen kann […] Für größere Vereine mit hauptamtlichen Führungsstrukturen ist es einfacher, sich der Schulentwicklung anzupassen. Kleine Vereine, die das für den deutschen Sport typische breite Sportangebot repräsentieren, haben Probleme. Eine Talentförderung findet im Ganztagsschulbetrieb nicht statt. 94 Deutscher Sportbund: Positionspapier zu den Ergebnissen der PISA-Studie, den Perspektiven der Ganztagsschule und den möglichen Konsequenzen für den deutschen Sport. Frankfurt/M. 2003.
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Viele Vereine, vor allem wenn sie leistungsorientiert sind, klagen über starken Rückgang an sportartspezifisch interessierten Nachwuchssportlern, die nach der Schule für den Vereinssport zu müde sind.«95 Bezeichnend aber wiederum, dass im Fazit der Veranstaltung die Kurve genommen wird. Mitgestalten, positiv denken, konstruktiv handeln: »Wir wollen Sport in die Ganztagsschulen einbringen.« Insgesamt gesehen steht der Sport gegenüber den musikalischen und sonstigen kulturell arbeitenden Vereinen tatsächlich etwas besser da: Viele Sportarten sind mit schulischen Großgruppen kompatibel und lassen sich deshalb leichter im Ganztagsschulbereich einarbeiten. Außerdem sind die Trainer und Übungsleiter in den Vereinen gewohnt, mit Gruppen zu arbeiten. Gegenüber Instrumentallehrern sind sie also besser qualifiziert und erfahrener, was den Umgang mit der Schulsituation angeht. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass es Kindern leichter fällt, nach Unterrichtsende ins Training zu gehen, auch wenn sie müde und ausgelaugt sind, als sich jetzt noch ans Instrument zu setzen oder eine Probe zu besuchen. Dennoch stellt die Ganztagsschule für die Sportverbände in der Summe der Aspekte zumindest eine Beeinträchtigung, teilweise auch eine ernsthafte Bedrohung dar. Aufgrund seiner Mitgliederstärke kann der Sport eigene Untersuchungen anstoßen, um den Wirkungszusammenhang zwischen Sport und Ganztagsschule zu erforschen. 2012 wurde bereits das dritte »Expertenhearing« zum Thema Sport in der Ganztagsschule vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) und dem Deutschen Sportlehrerverband (DSLV) veranstaltet. Die wissenschaftlichen Untersuchungen, die vorgestellt werden, sind häufig in Kooperation mit den zuständigen Ministerien durchgeführt worden. Das ist aus praktischen Gründen notwendig, denn ansonsten könnte gar keine Datenerhebung an den Schulen stattfinden. Problematisch ist die Verbindung aber dadurch, dass die Länder naturgemäß wenig Interesse daran haben, ihre Ganztagsschulprogramme in der Öffentlichkeit kritisiert zu sehen. Eine Win-Win-Situation entsteht dadurch, dass dem Sport die Möglichkeit gegeben wird, seine Interessen zu artikulieren und dieser im Gegenzug auf Fundamentalkritik verzichtet. Professor Lutz Thieme von der Fachhochschule Koblenz hat beispielsweise in Zusammenarbeit mit dem Land Rheinland-Pfalz eine groß angelegte Studie 95 Hanspeter Detmer: »Wir wollen Sport in die Ganztagsschulen einbringen.« Podiumsdiskussion an der Deutschen Sporthochschule Köln. In: Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Frankfurt/M. 2011, S. 9 f.
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zur Kooperation von Sportvereinen und Ganztagsschulen erarbeitet96. Darin kommt zum Ausdruck, dass bei den Vereinen die Meinung überwiegt, das Sportangebot für die Kinder habe sich durch die GTS verschlechtert, dass die Vereine von der Zusammenarbeit nicht profitieren und dass die Kinder weniger Zeit für den Vereinssport haben. Gewisse Unterschiede in den Beurteilungen sind festzustellen zwischen solchen Vereinen, die mit Ganztagsschulen kooperieren, und denen, die nicht kooperieren. Die negativsten Beurteilungen kommen von jenen Vereinen, die eine Kooperation beendet haben – ein nicht sehr erstaunlicher Befund. Aber auch jene Vereine, die kooperieren, sehen die Entwicklung insgesamt negativ. Einigkeit herrscht in der Meinung, dass die Entwicklung sportlicher Talente in der Ganztagsschule nicht hinreichend gefördert wird. Erstaunlich, dass in der Gesamtauswertung herauskommt, dass die Sportvereine die Kooperation mit den Ganztagsschulen positiv bewerten. Die meisten zeigten sich »zufrieden«. Wie passen die Befunde zusammen? Der Deutschlandfunk berichtete über die Studie unter der Überschrift »Sportvereine gegen Ganztagsschulen«. Damit bezog er sich inhaltlich korrekt auf ihre Teilergebnisse. Im Wortbeitrag werden die Zahlen in einfache und verständliche Inhaltszusammenhänge übersetzt: »Und dann muss man auch sagen, viele Vereine glauben auch nicht, dass die Kooperation mit den Ganztagsschulen ihnen weiterhilft, zum Beispiel Talente zu finden, die dann wirklich noch nachmittags in den Verein gehen. Sie haben es angesprochen, oft sind die Kinder dann auch müde, wenn sie um 17 Uhr nach Hause kommen. Und deswegen versprechen sich die Vereine offenbar auch nicht so viel von der Kooperation mit den Schulen für ihre eigene Sportentwicklung.«97 Dass aber weder die einzelnen Sportvereine noch die Dachverbände die Problematik zuspitzen und sich für den Erhalt der Halbtagsschule positionieren, liegt wohl an der unausgesprochenen Stillhaltetaktik, einer Art »Burgfriede« zwischen Bildungspolitik und Verbänden.
96 Lutz Thieme: Ganztagsschule und Sportvereine in Rheinland-Pfalz. Zentrale Ergebnisse der Bestandsaufnahme 2012. Ableitung von Handlungsempfehlungen. Mainz, 2012 (http://www.lsb-rlp. de/images/stories/sportwelten/schulsport/2012_folien_studie_ganztagsschule_sportverein.pdf). 97 Ludger Fittkau: Sportvereine gegen Ganztagsschulen. Studie der rheinland-pfälzischen Landesregierung untersucht Vereinbarkeit von Ganztagsunterricht und Vereinssport. Deutschlandfunk vom 17. 9. 2012 (http://www.deutschlandfunk.de/sportvereine-gegen-ganztagsschulen. 680.de.html?dram:article_id=221291).
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Es ist schwer, den Dachverbänden zu einer neuen Taktik zu raten. Die Gefahr besteht jederzeit, dass sie sich angesichts der öffentlichen Debatte selbst ins Abseits schieben. Ausgerechnet die eigene Mitgliederstärke wird dann zum Problem. Eine Riesenorganisation, die einen großen Querschnitt der Bevölkerung repräsentiert, neigt naturgemäß zu einem Mainstream-Verhalten. Gegenpositionen sind automatisch auch Positionen gegen die eigenen Mitglieder. Politiker aller Couleur sitzen ja auch in den Vereinen, oftmals in herausgehobenen und verantwortlichen Positionen. Es ist kaum anzunehmen, dass sie abends das Gegenteil von dem fordern, was sie morgens beschlossen haben. Dennoch müssen sich die Vereine und Verbände ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden. Wer, wenn nicht sie, sollte angesichts des dramatischen Wandels, der dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland bevorsteht, seine Stimme erheben und sich klar positionieren? Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist es geradezu die Pflicht des Sportbundes wie auch des Deutschen Musikrats, darauf hinzuweisen, dass wir gerade dabei sind, unser kulturelles Leben tiefgreifend umzugestalten – und zwar nicht nach frei gewählten Überzeugungen, schon gar nicht nach kulturellen Gesichtspunkten, sondern als Getriebene einer Welle, die über uns zu rollen beginnt und die große Teile der gewachsenen Kulturtraditionen mit sich reißen wird.
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Vielfach argumentieren Ganztagsschulbefürworter damit, dass eine hohe Nachfrage nach GTS-Plätzen schon lange bestanden habe und diese jetzt endlich gedeckt werde. Der Staat erfülle nur die Wünsche seiner Bürger. Ähnlich argumentieren vielleicht auch Coca Cola, McDonalds oder Brauereien: Würde niemand Cola, Burger oder Bier konsumieren, würden sie natürlich auch nichts produzieren und nichts verkaufen – oder doch? Wer marktwirtschaftlich argumentieren möchte, muss berücksichtigen, dass Produkte und Dienstleistungen nicht einfach für einen bestehenden Markt produziert werden, sondern dass Märkte vielfach erst geschaffen werden. Will ein Produzent ein neuartiges Getränk vermarkten, sagen wir Gänseblümchenbrause mit 5 % Alkoholgehalt, dann muss er den potenziellen Kunden erst einmal begreiflich machen, dass sie genau auf dieses Getränk schon seit Jahren gewartet haben. Wer am Markt erfolgreich sein will, darf nicht nur Produkte produzieren, für die es Nachfrage gibt. Er muss auch die Nachfrage nach seinen Produkten produzieren. In Bezug auf das Wirtschaftsleben handelt es sich um eine Binsenweisheit. In Bezug auf Bildungseinrichtungen ist dieses Denken aber ungewohnt, da diese ja bisher außerhalb der marktwirtschaftlichen Kräfte lagen. Dort liegen sie im Prinzip immer noch. Nichtsdestotrotz haben sich zahlreiche Bildungspolitiker der gängigen Marktmechanismen bedient, um ihr neues Produkt »Ganztagsschule« im deutschen Bildungsmarkt zu positionieren. Es musste also Nachfrage erzeugt werden. Damit sind Politiker vertraut, denn als gewählte Volksvertreter unterliegen sie selbst einem dauerhaften Marktmechanismus. So wie Brauereien ihr Bier vermarkten, so müssen Politiker ihre Ideen und auch sich selbst vermarkten. Das ist Teil unserer politischen Kultur und braucht auch nicht bejammert zu werden. Warum aber Politiker so beständig ihre Ganztagsschulen vermarkten wie Unternehmen ihre Produkte, ist leicht erklärt: Es sind Investitionen, die sich im Endeffekt dadurch amortisieren sollen, dass durch die Freisetzung von Humankapital indirekt die Steuereinnahmen steigen und die staatlichen Sozialsysteme entlastet werden. Die Politik denkt in der Ganztagsschulfrage vorwiegend wie
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die Wirtschaftslobbyisten. Sie sieht kein Langfristinvestment, in die »Generation Zukunft«, sondern ein Mittelfristinvestment, dessen Effekte innerhalb weniger Jahre in der Staatskasse und in den Sozialversicherungen spürbar werden sollen. Es geht um die Generation der heutigen Eltern, die dem Arbeitsmarkt jetzt und in den kommenden Jahren möglichst vollständig zur Verfügung stehen soll. Es geht um Liquidität der öffentlichen Kassen in den unmittelbar kommenden Jahren. In solchen Zyklen müssen Politiker rechnen, denn ihre Legislaturperioden sind nun einmal auf wenige Jahre angelegt. Die Sorge um den Arbeitsmarkt, die Sozialkassen und die Staatsfinanzen sind ja im Grundsatz keine »bösen« Ziele. Sie werden aber dennoch nicht offen benannt, sondern es wird ein ganz anderer Weg gewählt. Gerade zu Beginn der Ganztagswelle, als Anschubaktionen notwendig waren, um den Karren ins Rollen zu bringen, wurden regelrechte Werbekampagnen gefahren, um das neue Produkt einzuführen. Wie in der Branche üblich, liefen diese nicht mittels Information (obwohl der Steuerzahler die Kampagne letztlich als »Information des Bundesministeriums« finanziert), sondern mittels Emotion. Ganz Deutschland wurde mit Plakaten zugepflastert. Zu sehen sind schnappschussartige Großaufnahmen von glücklich dreinschauenden Kindern, mal mit Musikinstrumenten, mal mit farbverschmierten Händen, mal experimentierend, jeweils ganz ohne Lehrperson – Informationsgehalt null, idealisierte Situation, von der vielleicht manch ein Elternteil träumt – dazu der Slogan »Zeit für mehr«. Es sind die typischen Mechanismen: Alte Träume werden mit neuen Produkten so zusammengeführt, dass die angesprochene Zielgruppe möglichst unterbewusst die Verknüpfung herstellt. Keines der Plakate zeigt eine Szene, die für eine »echte«
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Ganztagsschule typisch wäre. Auch ein passender Werbefilm wurde produziert.98 Warum aber transportiert die Politik das Thema nicht so in die Öffentlichkeit, wie es gedacht ist? Zweite Säule der Großkampagne war die Instrumentalisierung des PISA-Schocks. Edelgard Bulmahn, ehemalige Bundesbildungsministerin, erklärt rückblickend im Jahr 2012: »Wir haben schon 1999, also zwei Jahre vor PISA, das Forum Bildung eingesetzt und schon vor der Studie Verbesserungen im deutschen Schulwesen angemahnt. Dazu zählte auch der flächendeckende Ausbau der Ganztagsschulen. PISA hat aber geholfen, die anderthalbjährige Blockade einiger Länder zu überwinden.«99 Gebetsmühlenartig wurden die beiden Begriffe in einem Atemzug genannt. Dass die Werbekampagne mit der ersten PISA-Erhebung quasi zeitlich zusammenfiel, kann wohl nicht als purer Zufall angesehen werden. Der Schock war außerordent lich hilfreich, um Bereitschaft herzustellen für Veränderungen, die zunächst wenig populär waren. Jetzt hatten alle den Eindruck: Es muss etwas geschehen! Und dann war »ganz plötzlich« die Idee da, wie das Problem zu lösen sei. Wie aus dem Nichts, scheinbar zufällig genau in dem Moment, als die Bildungsmisere am intensivsten präsent war. War die ganze Bildungsmisere vielleicht nur eingeredet? Eine geschickt getimte Inszenierung, um ein neues Produkt am Markt durchzudrücken? Viele sind damals mit Hurra aufgesprungen auf den vermeintlich rettenden Zug »Ganztagsschule«. Viele haben es vielleicht wirklich ernst gemeint mit Bildungsgerechtigkeit, individueller Förderung und »neuer Lernkultur«. Ins Rollen gebracht wurde der Zug aber aus anderer Motivation heraus: Auch die Deutschen sollten gefälligst ihr Familienleben dem Berufsleben anpassen. »Vereinbarkeit« von Familie und Beruf wird es genannt und in der Perlenkette der Argumente für Ganztagsbetreuung – sei es in der Schule, sei es in der Kita – immer schön ganz ans Ende gesetzt. Niemand soll den Eindruck bekommen, dies wäre der Hauptaspekt. Es soll so rüberkommen, als wäre es eher eine Art positiver Nebeneffekt. Wieso aber die Unaufrichtigkeit in der Diskussion? Wieso nicht einfach reinen Wein einschenken? Jeder versteht doch, dass es Fachkräftemangel gibt. Jeder versteht, dass angesichts sinkender Bevölkerungszahlen die Sozialkassen mehr Einzahlende benötigen. Die Antwort ist einfach: Weil niemand sein Kind aus dieser Motivation heraus in eine Ganztagsschule geben würde. Niemand will 98 http://zeitfuermehr-derfilm.de/. 99 Edelgard Buhlmann gegenüber www.ganztagsschulen.org: Stephan Lüke: 10 Jahre nach der 1. PISA-Studie vom 5. 12. 2011 (http://www.ganztagsschulen.org/archiv/13831.php).
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»Rabenvater« oder »Rabenmutter« sein und den eigenen Nachwuchs in eine Einrichtung abschieben, um die öffentlichen Kassen zu sanieren. Wer sein Kind abgibt, will das gute Gefühl dabei haben, dass er damit das Beste nicht nur will, sondern auch erreicht. Es musste also auf eine Weise Akzeptanz geschaffen werden, die genau dieser Bedürfnislage Rechnung trägt. Insofern muss man mit einer gewissen Bewunderung registrieren, wie geschickt es damals angestellt wurde, die Nachfrage nach Ganztagsschulplätzen zu befeuern. Es ging ja nicht einfach nur um eine neue Getränkemarke. Es ging ja auch um ein Familienmodell, das geändert werden sollte. Das sind sehr dicke Bretter gewesen, die gebohrt wurden, denn familiäre Ideale und Rollenbilder werden von Generation zu Generation sehr unterschwellig und nachhaltig weitergereicht. Dementsprechend wurde aus allen Kanälen gefeuert: Zunächst die Plakate und PISA-Parolen, dann kamen die empirischen Studien wie die SteG-Studie. An den Hochschulen wurde das Thema mit gezielten Forschungsaufträgen reingedrückt. In die interessierten Schulen wurden Milliardensummen gepumpt. Das erzeugte natürlich auch eine große Nachfrage, nämlich bei den Schulen selbst, die ja bekanntlich seit Menschengedenken finanziell auf dem Trockenen sitzen. Eine neue Mensa? Neue Turnhalle? PC-Ausstattung? Alles gab es plötzlich, nur eben im Tausch für die Bereitschaft, ein Ganztagsangebot zu formulieren. In den Kollegien wurde die Ganztagsschule vielfach eher kritisch gesehen, aber das finanzielle Argument schlägt schließlich die übrigen. Und wenn ein Angebot erst einmal da ist, kann man es natürlich auch nicht schlecht reden. Welche Schule würde sagen: Wir haben ein GTS-Angebot, aber bitte nehmt es im Interesse eurer Kinder nicht wahr! Also haben die Schulen selbst fleißig Nachfrage erzeugt. Sie wurden zum verlängerten Arm der »Bewegung«. Nach innen konnte man sich rechtfertigen: Wenn die Gesellschaft eine Ganztagsschule fordert, darf sich die Schule dem nicht verschließen. Nach außen hin erzeugte das Vorhandensein der Ganztagsschule vielerorts erst die Nachfrage. Skurrile Einzelfälle, die der Realität entnommen sind, können das verdeutlichen. Erstes Beispiel: Eine zweizügige Grundschule in einem Neubaugebiet platzt aus allen Nähten. Die Eltern haben Angst, dass ein Teil der Kinder demnächst morgens mit dem Schulbus an die Nachbarschule gebracht wird, wo die Schülerzahlen rückläufig sind. Die Schulbehörde signalisiert deutlich, dass kein Geld für einen Anbau zur Verfügung steht. Einziger Ausweg: Die Eltern mögen sich für eine Ganztagsschule entscheiden. Dann würde Geld für Ausbaumaßnahmen bereitgestellt. Die Eltern – obwohl sie in der überwiegenden Mehrzahl eine Halbtagsschule wünschen – fühlen sich auf der Elternversammlung unter Druck gesetzt. Schließlich unterschreibt eine entsprechend große Zahl den Vordruck. In der Statistik werden sie in der Rubrik GTS-Nachfrage gezählt.
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Zweites Beispiel: In einem sozial problematischen Wohnviertel versuchen bestimmte Eltern Wege zu finden, dass ihr Kind nicht die Gebiets-Grundschule besuchen muss. Ein wenig erfreulicher, aber alltäglicher und – aus der Perspektive der Eltern – teils auch nachvollziehbarer Schritt. Im staatlichen Schulwesen bleibt jetzt u. U. folgender Ausweg für die Eltern: Sie melden für ihr Kind den Bedarf nach Ganztagsbetreuung an (sofern die Gebiets-Grundschule noch kein solches Angebot hat), und damit können sie an einer anderen Grundschule unterkommen. Die Ganztagsbetreuung müssen sie halt in Kauf nehmen. In der Statistik werden sie in der Rubrik GTS-Nachfrage gezählt. Dritter Fall: Ein vierzügiges Gymnasium bietet verschiedene Fremdsprachen in Klasse 5 an, z. B. Englisch und Französisch. Es gibt in jeder Fremdsprache jeweils eine Halbtags- und eine Ganztagsklasse. Da mehr Eltern einen Halbtagsplatz bevorzugen, besteht die Gefahr, dass ihre Kinder evtl. keinen Platz bekommen und einer anderen Schule zugewiesen werden. Es wird signalisiert, dass bei der Anmeldung für die Ganztagsklasse der Schulplatz sicher sei. Dementsprechend lassen sich einige »überzeugen«, das Kreuz an der »richtigen Stelle« zu machen. In der Statistik werden sie in der Rubrik GTS-Nachfrage gezählt. Vierter Fall: Die Schulqualitätskontrollbehörde eines Bundeslandes misst mittels Fragebogen die Zufriedenheit ihrer Schülerschaft. Im Fragebogen kann unter Nummer 37 angekreuzt werden: a) Ich besuche die Ganztagsschule. b) Ich besuche die Halbtagsschule. c) Ich besuche die Halbtagsschule, würde aber lieber die Ganztagsschule besuchen. d) Ich besuche die Ganztagsschule, würde aber lieber die Halbtagsschule besuchen. In der Statistik werden die wenigen, die c) ankreuzen, in der Rubrik GTS-Nachfrage gezählt. Im Fragebogen ist es nicht möglich, ein Kreuz bei d) zu machen: Auf dem Fragebogen gibt es kein d), sondern nur a), b) und c). So und ähnlich kann man künstlich Nachfrage erzeugen. Die Einzelbeispiele ließen sich vervielfachen. Fakt ist, dass der einmal angestoßene Schneeball immer mehr Masse um sich sammelt und stetig wächst und durch das stetige Wachstum seinerseits neue Anziehungskraft erzeugt – eine Art Automatismus, der ab und an auch in der kommerziellen Werbebranche glückt. Dann ist das ein absoluter Volltreffer für die Agentur. Aber die Ganztagsschule ist kein Volltreffer für die betroffenen Kinder. Es wäre zu diskutieren, ob es Aufgabe der Politik ist, das Volk auf diese Weise zu beeinflussen bzw. zu erziehen. Nach dem Selbstverständnis unseres liberalen Rechtsstaates ist es Aufgabe der Parteien, an der Meinungsbildung mitzuarbeiten. Das ist aber wohl doch etwas anderes als die »Meinungsmache« in Sachen Ganztagsschule seit der Jahrtausendwende.
16. Familienpolitik und Ganztagsschulfrage
In den vergangenen Jahren wurde immer deutlicher, dass die hochgesteckten Erwartungen in Ganztagsschulen hinsichtlich Leistungssteigerung und Chancenausgleich sich nicht erfüllten. Selbst Befürworter in exponierter Position, wie Bildungsforscher Ekkehard Klieme, räumen das inzwischen ein und versuchen, andere Begründungszusammenhänge herzustellen. In einem Interview 2012 wird der Leiter des StEG-Teams gefragt: »Als eine Reaktion auf die PISA-Studie von 2000 schob die Bundesregierung vor fast zehn Jahren das IZBB [Investitionsprogramm ›Zukunft Bildung und Betreuung‹] an. Kann man aus PISA die Ganztagsschule als Antwort herauslesen?« »Nein, das kann man nicht. […] Das politische Handlungsfeld war gesetzt, wobei es zunächst vor allem um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ging. Dieses Motiv mischte sich dann im Anschluss an die TIMSS- und PISA-Studien mit der Suche nach Merkmalen erfolgreicher Bildungssysteme. Viele meinten, das Ganztagsschulsystem sei ein Schlüssel zum Erfolg. Tatsächlich aber gibt es keinen Beleg, dass der Faktor Ganztag auf der Systemebene entscheidend ist.«100 Die Ganztagsschulidee entspringt nach Klieme also primär einem familienpolitischen Konzept – ein klares Bekenntnis gleich im Einleitungstext einer offiziellen Broschüre zur Ganztagsschulforschung des Bundesbildungsministeriums in Kooperation mit dem ESF! Hase: Wie rechtfertigen sich eigentlich die erhöhten Aufwendungen des Staates für die Ganztagsschulen? Igel: Es handelt sich um Investitionen in Zukunft. Hase: Es gibt keine Belege dafür, dass sich durch die Ganztagsschule die Bildungsqualität verbessert, eher sogar Anzeichen für das Gegenteil. 100 Bundesministerium für Bildung und Forschung: Ganztägig bilden. Eine Forschungsbilanz. Rostock 2012, S. 3.
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Igel: Wir müssen aber berücksichtigen, dass heute viele Familien nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre Kinder selbst zu Hause zu erziehen. Diese Kinder kann der Staat doch nicht der Verwahrlosung preisgeben. Hase: Also eine Ganztagsschule für Kinder aus problematischen Familienverhältnissen? Darüber ließe sich diskutieren … Igel: Wir haben das Betreuungsproblem doch mittlerweile in quasi allen Gesellschaftsschichten. Auch oder gerade bei Akademikern wächst der Wunsch beider Eltern, sich im Beruf zu verwirklichen. Der Staat muss etwas für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie tun, damit überhaupt noch Eltern Kinder in die Welt setzen. Eine kinderfreundliche Gesellschaft definiert sich heutzutage an der Betreuungsquote. (Frei nach den Gebrüdern Grimm)
Betrachten wir, um diese Argumente zu durchleuchten, einmal verschiedene Familienmodelle gesondert. Es geht dabei einzig um die Frage, ob in der jeweiligen Familie durch die Fremdbetreuung der Kinder die Eltern profitieren können und inwieweit sie von ihrer Betreuungsfunktion entlastet werden. Andere wichtige Fragen bleiben hier ausgeklammert, um die Diskussionsfelder nicht zu vermischen. Da jede Familie ein individueller Fall für sich ist, muss die Kategorisierung notwendigerweise Schubladen erzeugen, in die der Einzelfall nicht immer hineinpasst. Es geht um die groben Linien: Welchem Familienmodell nutzt die Ganztagsschule am meisten? Fall 1: Gut situierte Familie, ein Elternteil voll erwerbstätig, das andere bleibt zu Hause oder arbeitet Teilzeit, mehrere Kinder. Für diesen Familientyp bräuchte keine GTS erfunden zu werden, sofern beide Elternteile mit der internen Aufgabenverteilung zufrieden sind. Das sagen vielfach auch GTS-Befürworter. Angeblich ist dieser Familientyp vom Aussterben bedroht. Zudem steht er den Interessen der Industrie, der Sozialkassen und der Arbeitsmarktpolitik entgegen, da Arbeitskraft »ungenutzt« verloren geht. Fall 2: Gleiche Familiensituation, nur im Bereich Industriearbeit, Handwerk, einfache Angestelltenverhältnisse und Niedriglohnsektor. In Bezug auf diese Gruppe wird vielfach argumentiert, dass ein Einkommen nicht (mehr) ausreiche, um damit eine Familie zu ernähren. Durch GTS-Betreuung wäre jetzt also doppelte Vollzeit möglich. So das Versprechen. Zwei große Haken bleiben: Rechnet man die Kosten für die GTS-Betreuung gegen das höhere Familieneinkommen, das jetzt erzielt wird, schmilzt die Summe merklich zusammen. Für die Familie lohnt es sich finanziell natürlich dennoch, denn die GTS-Kosten trägt ja in den meisten Bundesländern die Gesamtheit der Steuerzahlenden. Würde man aber
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dieses Geld der Familie nicht besser direkt zur Verfügung stellen? Das würde die Entscheidung in einigen Fällen sicherlich beeinflussen. Nur wäre genau dieser Effekt unerwünscht: Er schadet dem Arbeitsmarkt, den Sozialkassen usw. und außerdem fessele es mal wieder die Frauen an den Herd und zerstöre weibliche Karrieren (wobei zu fragen wäre, ob es sich typischerweise um »Karriereberufe« handelt, in denen es primär um die Frage der Selbstverwirklichung geht). Damit aber erweist sich die GTS weniger als familienpolitisches Instrument, sondern wiederum als indirekte Arbeitsmarkt- und Genderpolitik. Der zweite Haken betrifft den Alltag einer solchen Familie. Bei doppelter Vollzeit werden die Eltern auch bei voller GTS-Betreuung dauerhaft bis an ihre Belastungsgrenze ausgezehrt: Ein Großteil der Hausarbeit verschwindet ja nicht durch die GTS-Betreuung. Alles muss jetzt nach Feierabend erledigt werden. Alle kindbezogenen Termine – und das summiert sich schnell – werden auf den Freitagnachmittag und aufs Wochenende geschoben: Impfungen, Zahnarzt und Kieferorthopäde, Kleider kaufen, Utensilien für die Schule besorgen, Behördengänge, Kuchen backen für das Schulfest, Kindergeburtstage usw. Viele Kinder haben Sondertermine: Logopädie, Krankengymnastik, Nachhilfe, Therapie usw. Die Eltern ebenfalls. Von Klavierstunden und Fußballverein gar nicht zu reden. Das alles miteinander zu koordinieren, gleicht dem Bau eines sensiblen Kartenhauses, das beim kleinsten Windstoß einstürzen muss: Wenn Schulferien sind, wenn die Schule punktuell ausfällt, wenn Kinder oder ein Eltern- oder Großelternteil krank sind, wenn besondere Situationen eintreten, wenn das Auto kaputt geht. Sollten die Eltern selbst keine geregelten Arbeitszeiten haben, z. B. durch Überstunden, Schichtdienst oder Wochenendarbeit (was ja gerade in den unteren Einkommensgruppen sehr häufig der Fall ist), kann man vor der Umsetzung dieses Familienmodells nur eindringlich warnen. Mit einem Kind ist es vielleicht noch gut organisierbar, mit zweien wird es bereits grenzwertig, ab dem dritten Kind aufwärts muss es die Hölle sein. Viele GTS-Befürworter wollen hier jetzt eine zweite Stufe der GTS einläuten: Betreuung auch noch nach 16.00 Uhr, Betreuung auch an den Wochenenden, Betreuung auch in den Ferien. Wer einmal die Betreuungskarte spielt, muss immer neue nachlegen, um die einmal gestellten Ansprüche auch einlösen zu können. Aber selbst die 24-Stunden-Ganzjahresbetreuung schafft nicht, was diese Eltern eigentlich bräuchten: Ausreichend Zeit im Alltag, um wenigstens etwas Spielraum für die individuelle Lebensgestaltung retten zu können. Was fehlt, ist die Luft im System. Am deutlichsten wird es, wenn ein Kind krank wird. Meist folgen die Geschwister zeitversetzt nach. Allen gesetzlichen Rahmenregelungen zum Trotz, mit denen Eltern notfalls Betreuungstage einklagen könnten: In solchen Situationen erweist sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Illusion. Wie viele Beschäf-
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tigungsverhältnisse gibt es, in denen man einfach mal eben zu Hause bleiben kann, ohne von Kollegen und Vorgesetzten zumindest schief angeschaut zu werden! Es sind ja auch konkrete Problemsituationen, die auftreten, wenn plötzlich beim Friseur gebuchte Termine abgesagt werden müssen, wenn auf einer Station im Krankenhaus schon wieder die Bereitschaft einspringen muss (sofern eine solche überhaupt da ist), wenn in der Kita die Gruppenleiterin morgens fehlt und der ohnehin schon enge Betreuungsschlüssel wieder unterschritten wird. Dass die übrigen Erzieherinnen an solchen Tagen nicht wissen, wann sie noch zur Toilette gehen können, ohne ihre Aufsichtspflicht zu verletzen, ist ja beileibe kein erfundener Extremfall. Es ist ein symptomatisches Beispiel dafür, dass unser Arbeitsleben und vor allem die damit verbundene Arbeitskultur auf solche Situationen nicht eingestellt ist. Das mag in anderen Ländern besser funktionieren, wo angeblich auch die Chefmanager sich morgens spontan abmelden, weil sie ihr krankes Kind zu Hause nicht allein lassen können. In Deutschland gelten jedoch andere ungeschriebene Gesetze. Der moralische Druck liegt auf den berufstätigen Eltern. Das Versprechen der Betreuungsbefürworter, dass Kita und Ganztagsschule die Eltern entlasten würden, ist nur vordergründig richtig. Der größere gesellschaftliche Kontext, der immer selbstverständlicher davon ausgeht, dass beide Elternteile grundsätzlich Vollzeit zu arbeiten haben, erzeugt einen enormen Druck auf die Familien, gerade auf die weniger finanzstarken. Die staatlich geschaffenen Betreuungsmöglichkeiten bieten hier nur einen begrenzten Druckausgleich. In der Summe ist die Belastung für die Familie gestiegen. Zu fragen ist vor diesem Hintergrund auch, warum in früheren Jahrzehnten ein ungelernter Industriearbeiter, ein Krankenpfleger, ein Verwaltungsangestellter oder ein Handwerker allein eine Familie ernähren konnte und heute nicht, obwohl doch laut Statistik die Löhne und Gehälter seither stetig gestiegen sind. Monokausale Erklärungen verbieten sich. Natürlich sind die Ansprüche an den eigenen Lebensstandard ebenfalls gestiegen. Gerade im Kontext mit der Frage nach der Kinderzahl wird immer wieder das Argument bemüht, man könne doch nur Kinder in die Welt setzen, wenn man ihnen auch einen angemessenen Lebensstandard zu bieten habe. Hier war man in früheren Zeiten zweifellos weniger vorsichtig, zumal in Zeiten, als die Familienplanung noch schwieriger zu bewerkstelligen war als heute. Es muss aber auch parallel genau geschaut werden, in welcher Weise sich reale Familienkosten und Einkommensverhältnisse zueinander verändert haben, z. B. Mietpreise für eine größere Wohnung, Lebensmittelpreise, Energie und alle anderen Kosten, die in besonderer Weise von der Familiengröße abhängen. In diesem Kontext kann man durchaus argumentieren, dass staatlich finanzierte Betreuungsplätze für Kinder im Endeffekt
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mit dazu beitragen, dass die Löhne und Gehälter am unteren Ende der Einkommensskala immer weiter gedrückt werden können. Lebte eine Alleinverdiener-Arbeiterfamilie früher sehr bescheiden, so lebt heute eine vergleichbare Alleinverdiener-Arbeiterfamilie vielleicht schon unter Hartz IV-Bedingungen. Heute lebt die doppelt verdienende Arbeiterfamilie vergleichsweise bescheiden, obwohl sie die Betreuungsplätze kostenfrei bzw. im Kita-Bereich hoch subventioniert in Anspruch nehmen kann. Fall 3: Die alleinerziehende Mutter bzw. der alleinerziehende Vater. Lieblingsbeispiel der GTS-Befürworter, um die Notwendigkeit staatlicher Betreuungssysteme zu belegen. Aber hier muss sorgfältig differenziert werden, wie die Situation sich konkret gestaltet: Geht der alleinerziehende Elternteil aufgrund der Ganztagsbetreuung wieder voll arbeiten, zeigen sich ähnliche Probleme wie oben: Ständige Überlastung, Zeitmangel, Angst vor jedweder Sondersituation. Bei mehreren Kindern erfordert es extreme Leistungen, um chaotische Zustände zu verhindern. Selbst bei Teilzeitjobs bleibt immer noch ein enormer Druck. Finanziell kann es dennoch sehr übel aussehen. Arbeitet man beispielsweise als einziger Ernährer im Niedriglohnbereich für sich und zwei Kinder, wird der Abstand zum Existenzminimum gering ausfallen. Es ergibt sich u. U. kaum ein finanzieller Vorteil gegenüber demjenigen, der nur Sozialleistungen empfängt. Das ist insofern sehr ungerecht, als der Erwerbstätige für seinen Lebensunterhalt im Endeffekt wesentlich mehr Geld benötigt als derjenige, der genügend Zeit hat, Angebote zu vergleichen, Mahlzeiten selbst in Ruhe zuzubereiten, Kleidung intensiver zu pflegen, Geräte zu warten usw. Fatal ist in diesem Zusammenhang die derzeitige gesetzliche Situation, dass alleinerziehende Elternteile je nach Betreuungsangebot eine Erwerbstätigkeit nicht ablehnen können. Sie werden also durch die GTS-Angebote in die Berufstätigkeit hineingezwungen – auf Kosten der Kinder, auf Kosten der eigenen Zeit und Gesundheit und letztlich auf Kosten der Steuerzahler, die zwar Sozialausgaben sparen, aber dafür Betreuungsangebote finanzieren. Die Ganztagsschule subventioniert wiederum indirekt Jobs im Niedriglohnsektor. Fall 4: Alleinerziehender Elternteil mit hohem Einkommen. Für einen Richter oder eine Unternehmensberaterin rechnet es sich natürlich, die eigenen Kinder fremdbetreuen zu lassen und gleichzeitig selbst arbeiten zu gehen, auch wenn dadurch im eigenen Haushalt vielleicht noch eine Haushaltshilfe eingestellt werden muss. Es würde sich auch noch rechnen, wenn statt einer kostenfreien Ganztagsschule eine bezahlte individuelle Kraft die Aufgabe übernehmen würde. Insofern wird hier die Ganztagsschule nicht gebraucht. Im Übrigen bleibt es
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aber auch bei alleinerziehenden Spitzenverdienern dabei: Das Hauptproblem ist die fehlende Zeit und der Druck, alle Aufgaben unter einen Hut zu bekommen: Beruf, Elternsein, Haushalt: Das ist eine riesige Herausforderung, auch für vordergründig privilegierte Schichten. Einen spürbaren finanziellen Vorteil durch die GTS-Betreuung wird es nur dort geben, wo das Gehalt leicht überdurchschnittlich ist, wo also das erzielte Einkommen einen materiell gesehen guten Lebensstil ermöglicht, wo aber der Aspekt der Kostenfreiheit der GTSBetreuung immer noch ins Gewicht fällt. Fall 5: Die kinderreiche Familie: Ab einer gewissen Kinderzahl (drei oder vier) macht Fremdbetreuung in der Regel keinen Sinn. Es gibt einfach immer etwas Wichtiges zu Hause zu tun. In diesen Familien verbringen Eltern ihre Zeit mit den Kindern nicht im Sinne einer Betreuung oder Beschäftigung. Eher gibt es ein Nebeneinander von Hausarbeit und paralleler Beaufsichtigung. Die Kinder müssen sich selbst beschäftigen, während die erwachsene Bezugsperson erreichbar ist, z. B. im Zimmer, im Haus oder in der Nähe. Bei vielen Geschwisterkindern ist die Beschäftigung der Kinder ohnehin nicht das primäre Problem. Dementsprechend bietet eine Ganztagsbetreuung in der Schule auch wenig Entlastung. Ständig ist eines krank, hat einen Termin oder es gibt sonstige Koordinationsaufgaben, die im Endeffekt ein »hauptberufliches« Familienmanagement erfordern. Allein schon die verschiedenen Öffnungs- und Unterrichtszeiten verschiedener Schulen und Kitas müssen abgestimmt werden. An der einen Schule ist Lehrerfortbildung und unterrichtsfrei, ein paar Tage später hat die Kita Betriebsausflug. Vollerwerbstätigkeit für beide Elternteile ist unrealistisch, selbst wenn die Kinder bereits ein Alter erreicht haben, wo man sie zeitweise allein lassen könnte. Für kinderreiche Familien ist die Ganztagsschule keine sehr spürbare Entlastung, denn sie beherrschen notwendigerweise die »Kunst« zu arbeiten und gleichzeitig für die Kinder da zu sein. Dementsprechend enttarnt sich hier auch die Behauptung als vorgeschoben, Ganztagsschulen würden helfen, die demografische Wende herbeizuführen. Gerade jene Familien, die mit vielen Kindern nicht im Trend liegen, profitieren am allerwenigsten. Geben sie ihre Kinder dennoch in Ganztagsbetreuung, was ihnen ja niemand verwehren kann, erzeugt dies natürlich hohe Kosten für die Gesellschaft: Summiert man z. B. die staatlichen Aufwendungen für einen U3-Platz, einen Ganztagskindergartenplatz und zwei GTS-Plätze (Vierkindfamilie), entstünden dem Steuerzahler ca. 2.000,– bis 3.000,– € monatlich an Mehrkosten, ohne dass daraus für beide Elternteile die Möglichkeit erwachsen würde, wieder Vollzeit arbeiten zu gehen. Worin soll der volkswirtschaftliche Nutzen einer solchen »Investition in die Zukunft« gesehen werden?
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Fall 6: Das Gegenbild zeigt die Einkindfamilie. Hier macht doppelte Vollerwerbstätigkeit am meisten Sinn. Hier lassen sich auch am ehesten Gründe für die Fremdbetreuung des Kindes finden: Für ein einzelnes Kind lohnt es weniger, den kompletten Haushalt und Alltag umzustellen. Es fällt auch viel weniger an konkreten Arbeiten an. Gleichzeitig ist die Betreuung an sich intensiver, denn es gibt ja keine Geschwisterkinder, die einfach da sind und mit denen sich das Kind beschäftigen könnte. Also beansprucht das Kind den Erwachsenen notgedrungen stärker für sich. Die Termine und Probleme, die ein einzelnes Kind mit sich bringt, werden bei doppelter Vollzeittätigkeit immer noch spürbar den Feierabend prägen, aber sie lassen sich im Normalfall gut bewältigen, zumal, wenn zwei komplette Gehälter für drei Personen zur Verfügung stehen. Da kann man bei Zeitnot auch eher mal den Pizza-Service anrufen oder beim Schuhkauf das erste Modell nehmen, das passt und gefällt, auch wenn es vielleicht nicht das günstigste ist. Dieser Familientyp profitiert vom GTS-Angebot mit Abstand am meisten. Aber ist es wirklich die Aufgabe der Gesellschaft, dieses Familienmodell mithilfe von Steuergeldern stärker als andere zu subventionieren, obwohl die materiellen Zwänge hier im Durchschnitt am geringsten sind? Der Begriff ›Subvention‹ ist in der öffentlichen Diskussion meist negativ besetzt, obgleich unser Wirtschaftssystem stark von Subventionen geprägt ist, z. B. in der Landwirtschaft: Ohne finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Kassen wären viele Höfe nicht mehr rentabel zu bewirtschaften. Da die Subventionen aus Steuergeldern finanziert werden, muss ein öffentliches Interesse vorliegen, um sie politisch zu legitimieren. In der Landwirtschaft wären das z. B. Aspekte wie Landschaftspflege, Strukturhilfen für ländliche Wirtschaftsräume, ökologische Standards oder der Gedanke einer rudimentären Autarkie des Landes im Krisenfall. Welchen Rang die Argumente haben, ist heftig umstritten. Weitgehend unumstritten aber ist die Tatsache, dass diese Argumente im Grundsatz eine Berechtigung haben. Anders liegt der Fall im Zusammenhang der staatlichen Kinderbetreuungsoffensive, die im Endeffekt eine Subvention für Familien mit nur einem oder zwei Kindern ist. Wäre dieser Familientyp ohne staatliche Unterstützung »unrentabel«? Liegt ein besonderes gesamtgesellschaftliches Interesse speziell an diesem Familientyp vor? Wieso kommen die freien Ressourcen stattdessen nicht in Form von Geld oder in Form von Zeit bei jenen an, die sie am dringendsten bräuchten? Werden nicht genau die falschen Akzente und Anreize gesetzt? Hinter der Betreuungsoffensive steht letztlich die Idee des »aktivierenden Sozialstaats«: Sozial- und Familienleistungen werden als Anreiz betrachtet, Menschen (wieder) schnell in Erwerbsarbeit zu bringen, um damit indirekt Sozial-
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ausgaben zu sparen und öffentliche Einnahmen bei Steuern und Sozialkassen zu generieren. Keine schlechte Idee, wenn man den Staat selbst als unternehmerische Gesellschaft betrachtet, als »Deutschland GmbH«. Folglich werden jene Familienmodelle staatlich subventioniert, die – fiskalisch betrachtet – den höchsten Mehrwert versprechen. Ob diese Familienmodelle unter anderen Gesichtspunkten zukunftsweisend sind, spielt zunächst keine Rolle. Erstaunlich im Kontext der vom Staat bevorzugten Familienmodelle ist die Tatsache, dass Familien, die sich für die Aufnahme eines Pflegekindes entscheiden, den Jugendämtern gegenüber eine ausreichende Erziehungs- und Betreuungskapazität belegen müssen. Mindestens ein Elternteil muss während der Eingewöhnungszeit zu Hause sein, als Hausfrau oder Hausmann. Alternativ können beide Teilzeit arbeiten, so dass immer einer zu Hause ist. Dadurch erklärt der Staat indirekt, dass Kinder, die als Pflegekinder in Betracht kommen, nicht in Strukturen kommen sollen, die für die übrigen Kinder erstrebenswert sind, also öffentliche Ganztagskitas und Ganztagsschulen! Oder aus der Perspektive der Familien gedacht: Für ein Pflegekind muss ganztags eine familiäre Bezugsperson verfügbar sein, die eigenen Kinder jedoch können bedenkenlos in Institutionen gegeben werden, als gäbe es hier keine problematischen Phasen, wo Eltern flexibel reagieren müssten. Im ersten Fall denkt der Staat aus der Perspektive der Kinder, in Bezug auf die Mehrzahl der Kinder aber spielt diese Perspektive keine Rolle. Hase: Wie rechtfertigen sich eigentlich die erhöhten Aufwendungen des Staates für die Ganztagsschulen? Die verschiedenen Familientypen profitieren doch sehr unterschiedlich von der staatlich finanzierten Betreuung? Igel: Allen Kindern steht die GTS grundsätzlich offen. Gerechter geht es doch gar nicht. Hase: Aber bestimmte Familienformen profitieren finanziell betrachtet deutlich, andere kaum oder gar nicht. Igel: Wir müssen als Staat aber auch lenkend eingreifen … Hase: … z. B. durch die Subventionierung des Familienmodells »Einkindfamilie mit doppelt berufstätigen Eltern«? Igel: Moment mal: Jeder Bürger hat doch ein Recht darauf, sein familiäres Ideal selbst zu wählen. Wir dürfen doch nicht die Eltern von Einzelkindern beschimpfen, nur weil sie nur ein Kind haben! Hase: Es geht hier nicht um die Diskriminierung bestimmter Familientypen. Es geht um die Frage der ungleichen Verteilung staatlicher Förderung. Das Lebensmodell der Einzelkindfamilie wird von allen, also auch von den Kinderreichen, mithilfe der Ganztagsschule quersubventioniert. Das kann wohl nur derjenige gerechtfertigt nennen, der dieses Familienmodell als besonders förderungswürdig betrachtet. (Frei nach den Gebrüdern Grimm)
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Die Sorge um die demografische Entwicklung wird aus zwei sehr unterschiedlichen Denkweisen gespeist. Ökonomisch betrachtet wirft der Geburtenrückgang die Frage auf, wie sich in Zukunft die Sozialsysteme finanzieren lassen, wenn immer mehr Alte von immer weniger Jungen versorgt werden sollen. Ganz unabhängig davon kann man bedauernd zur Kenntnis nehmen, dass eine Gesellschaft mit wenigen Kindern ihre Lebendigkeit und ihre Wandlungsfähigkeit verliert. Manch einer sagt, dies sei eine »Gesellschaft ohne Zukunft«. Andere wollen die Problemlage mittels Zuzug und Produktivitätsfortschritt bewältigen. Im Grundsatz könnte man es ja auch gutheißen, dass in absehbarer Zukunft weniger Menschen hier leben werden. Umwelt-, Verkehrs-, und Wohnraumprobleme würden von allein abnehmen. Für die Länge dieses Kapitels nehmen wir jedoch einmal an, dass das Problem tatsächlich ein dringliches wird, denn der demografische Aspekt wird in der Ganztagsschuldiskussion immer wieder als Begründung bemüht. Hase: Welchen Einfluss soll die Durchsetzung des Ganztagsschulsystems eigentlich auf die Bevölkerungsentwicklung nehmen? Igel: Ganz einfach: Junge Erwachsene merken: In unserem Staat sind Beruf und Familie endlich vereinbar. Wir können uns für ein Kind entscheiden, ohne Gefahr laufen zu müssen, in Armut zu enden. Hase: Gesetzt den Fall, sie entscheiden sich vielleicht tatsächlich genau deshalb für ein Kind. Wir bräuchten aber im Durchschnitt mehr als zwei Kinder pro Familie, um den Bevölkerungsstand zu halten bzw. aufgrund der bereits eingetretenen demografischen Veränderungen sogar deutlich mehr als zwei Kinder pro Familie. Igel: Es nimmt diesen Eltern, die einmal mit dem Kinderkriegen angefangen haben, niemand die Möglichkeit, weitere Kinder in die Welt zu setzen. Im Gegenteil: Wer kein erstes Kind hat, kann auch kein zweites oder drittes zur Welt bringen. Hase: Die Ganztagsschule wie auch die Kitas unterstützen doch Eltern darin, sich in Beruf und Familie gleichzeitig zu verwirklichen. Mit vielen Kindern funktioniert das nicht mehr. Igel: Wenn jemand neunzehn Kinder hat, bekommt er ohnehin so viel Kindergeld, dass sich das Arbeiten kaum mehr lohnt.
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Hase: Lassen wir doch bitte die Polemik und bleiben wir bei realistischen Beispielen: Eine Familie mit drei Kindern etwa könnte ein familienpolitisches Ideal sein, wenn man wirklich demografisch denkt. Igel: Aber was spricht denn dagegen, drei Kinder in die Welt zu setzen? Hase: Der Staat und viele Wirtschaftsverbände predigen tagaus tagein die »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« … Igel: Ja prima! Darum geht es doch genau! Hase: Wenn ich vielleicht aussprechen dürfte: … Sie predigen tagaus, tagein die »Vereinbarkeit von Familie und Beruf«, aber für die Familien, die wir aus demografischen Gründen dringend bräuchten, nämlich die Dreikindfamilien oder auch die noch größeren, für die ist dieser Ansatz völlig unattraktiv. Igel: Ja aber vielleicht wollen sich in diesen Familien die Eltern doch auch gern im Berufsleben verwirklichen. Wieso sollen diese Familien denn nicht von der Ganztagsschule profitieren? Hase: Sie verweigern einfach die Diskussion! In kinderreichen Familien funktioniert die sogenannte Vereinbarkeit einfach nicht: Wer es mit einem Kind erprobt hat, merkt, dass der Spagat bei weiteren Kindern nicht mehr leistbar ist, auch nicht mit Ganztagsbetreuung der Kinder.
Dass das demografische Argument nicht richtig zieht, um die Einrichtung von Ganztagsbetreuungsplätzen zu legitimieren, haben inzwischen viele bemerkt. Die statistischen Daten belegen zumindest, dass seit vielen Jahren kein bzw. kein signifikanter Anstieg der Geburtenraten zu beobachten ist. Sobald ein minimaler Ausschlag nach oben gemeldet wird, schreien alle Protagonisten auf und reklamieren den »großartigen Erfolg« für sich. Sobald der Ausschlag nach unten kommt, zeigen sie mit dem Finger auf andere und sagen »Wir wollten ja schon immer, dass mehr für die Vereinbarkeit unternommen wird«. Darauf läuft es meistens hinaus: Wenn das ›Mehr an Vereinbarkeit‹ nicht geholfen hat, muss ein ›Noch Mehr!‹ hinterhergeschoben werden usw. »Die Gesellschaft muss kinderfreundlicher werden!« heißt dann: »Wir brauchen mehr Krippen, mehr Ganztagsplätze im Kindergarten, mehr Ganztagsschulen.« Wollten wir ernsthaft den demografischen Trend brechen, bräuchten wir eine Hinwendung zur Drei- und Mehrkindfamilie. In der jetzigen Situation, wo die geburtenschwachen Jahrgänge in der Phase der Familiengründung angekommen sind, reichen zwei Kinder schon nicht mehr. Geht man davon aus, dass das ›Familienmodell‹ des kinderlosen Paares oder des Singlelebens weiterhin eine große Attraktivität behält, müssten diejenigen, die sich überhaupt zur Familiengründung durchringen, im Durchschnitt deutlich mehr als zwei Kinder bekommen, um wenigstens den Bevölkerungsrückgang aufzuhalten. Die derzeitigen
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familienpolitischen Leistungen, die vorwiegend die Vereinbarkeit von Familie und Beruf herstellen wollen, gehen aber gerade an dieser Zielgruppe vorbei. Sie unterstützen im Endeffekt eine späte Familiengründung aus der festen Berufstätigkeit heraus. Und sie unterstützen vor allem die Einkindfamilien. Übersehen wird, dass die stetige Betreuungsdebatte überhaupt erst den Fokus auf das Vereinbarkeitsthema gerichtet hat. Mit deutscher Gründlichkeit zoomen wir es jetzt immer größer heran und verlieren dabei völlig den Weitwinkel: Gibt es nicht auch noch andere Faktoren für die demografische Entwicklung? Wirkt die Diskussion nicht gar kontraproduktiv? Wenn wir jungen Erwachsenen ständig bewusst machen, wie wichtig der berufliche Erfolg ist, wie gefährlich Familiengründung ohne abgesicherte doppelte Berufstätigkeit ist, wie karrierekillend Kinder sein können, dann brauchen wir uns vielleicht nicht zu wundern, wenn das Vereinbarkeitsargument eher abschreckend wirkt. Derlei Gedanken sind aber zurzeit in der öffentlichen Diskussion tabu. Immer lauter wird der Chor derer, die die staatlichen Familienleistungen umschichten wollen: Weniger direkte Geldzahlungen, also weniger Kindergeld, dafür aber mehr familienbezogene Infrastrukturen des Staates, also Kitas und Ganztagsschulen. Nachteilig würde dies natürlich für Familien mit älteren Kindern wirken, aber die sind demografisch betrachtet uninteressant, denn sie haben ja schon ihr Kinderpensum erreicht. Wenn Kinder zwischen 15 und 25 am meisten kosten, planen deren Eltern in der Regel keinen weiteren Nachwuchs. Es müsste auch bewusster wahrgenommen werden, wie sensibel das Gebiet der Demografiepolitik ist. Dies gilt besonders, wenn man speziell die häufigen Klagen über den Schwund an Akademikerkindern betrachtet. So fragt der STERN provokant: »Stirbt die Intelligenz aus, weil Akademiker deutlich weniger Kinder bekommen als Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen?«101 Ex-FDP-Vorstandsmitglied Daniel Bahr beklagt: »Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen.«102 Ganztagsschulen würden helfen, so der allgemeine Tenor, jenen Frauen den Weg zum Kind zu ebnen, denen das berufliche Fortkommen wichtig ist, die eine qualifizierte Ausbildung abgeschlossen haben, denen die Türen zu Karriere und Erfolg offen stehen, die nicht am Herd versumpfen möchten, wo ihre Qualifikation angeblich keine Rolle spielte. Wenn sich diese Frauen gegen Kinder entschieden, was offenbar immer häufiger der Fall sei, würde folgerichtig auch der Anteil an Akademikerkindern innerhalb der Kindergeneration zurückgehen, so die Argumentation.
101 STERN 48 (2004) vom 10. 12. 2004. 102 BILD am Sonntag vom 23. 1. 2005.
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Kinderreiche Familien seien ja eher anzutreffen unter (meist gering qualifizierten) Migranten und überhaupt im Prekariat. Thilo Sarrazins heiß diskutiertes Pamphlet Deutschland schafft sich ab argumentiert in einem Kausalitätsgefüge von staatlichen Transferleistungen, Migration, Bildungsferne, Armut, Demografie und staatlicher Betreuungsinfrastruktur: »Aufgrund der üppigen Zahlungen des deutschen Sozialstaats ziehen wir eine negative Auslese von Zuwanderern an. Das Transfersystem setzt auf deren Fruchtbarkeit hohe Prämien aus und zieht so die migrantische Unterschicht von morgen heran.«103 Noch etwas provokanter heißt es: »Nicht Kinder produzieren Armut, sondern Transferempfänger produzieren Kinder.«104 In Bezug auf die Akademiker schreibt der ehemalige Bundesbanker: »Unabhängig vom Thema Zuwanderung haben wir das Problem, dass die gebildeten Schichten in Deutschland unterdurchschnittlich wenig Kinder bekommen.«105 Um die Problemlage zu lösen, empfiehlt er Krippen für die Kleinsten, eine Kitapflicht ab dem dritten, spätestens vierten Lebensjahr, verpflichtende Ganztagsschulen für alle Kinder, größere Kinder sollten nur das Wochenende und den Feierabend zu Hause verbringen.106 Auch wenn man die Zitate im größeren Zusammenhang liest, schockiert die Parallele zu Zeiten, die wir längst hinter uns geglaubt hatten. Wenn 1941 der sich offenbar völlig mit dem Nationalsozialismus identifizierende Mediziner Martin Staemmler über Deutsche Rassenpflege reflektiert, begegnen ihm demografische Probleme, die an die Analyse Sarrazins erinnern: »Ungenügende Geburtenzahl, Aussterben der Begabten und Tüchtigen durch Verzicht auf Nachkommenschaft; dagegen hohe Geburtenziffern bei Arbeitsscheuen, Gemeinschaftsunfähigen, den Asozialen, das waren und sind die Kennzeichen des Untergangs […] Der Geburtenrückgang ist das Kernproblem, ist derjenige Punkt, an dem es sich entscheiden wird, ob Deutschland noch eine Zukunft hat oder nicht.«107 Zu den Ursachen des Geburtenrückgangs schreibt Staemmler: »Er fing nicht dort an, wo sechs Menschen in einem Zimmer schliefen und höchstens für je zwei Personen ein Bett vorhanden war, sondern er fing 103 Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab, München, 132010, S. 308. 104 Ebd., S. 123. 105 Ebd., S. 378. 106 Siehe ebd., Kapitel »Bildung und Gerechtigkeit«. 107 Martin Staemmler: Deutsche Rassenpflege. Tornisterschrift des Oberkommandos der Wehrmacht Abteilung Inland. O.O. 1941, S. 30.
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dort an, wo die größten Wohnungen, helle Zimmer, schöne geheizte Räume Licht und Kraft und Wärme und Pflege zu geben versprachen, wo die Kinder gepflegt und gehegt und behütet aufwachsen konnten. Da hat er eingesetzt, der Geburtenrückgang […] Und wenn wir in großen und kleinen Städten einmal in Schulen Nachfrage halten, welche Kinder die meisten Geschwister haben, so werden wir immer dasselbe Ergebnis finden. Die dummen, die schlechtesten Schüler hatten im Durchschnitt ungefähr doppelt so viel Geschwister wie die besseren. […] Wenn man in Schwachsinnigenanstalten die Frage nachprüft, immer findet man, dass die geistig Minderwertigen sich doppelt so stark vermehren wie die Vollwertigen. Dasselbe gilt von den moralisch Minderwertigen, den Triebkranken, Willensschwachen, Verantwortungslosen, Arbeitsscheuen, dem ganzen Heer der wertlosen Asozialen.« Migranten spielten 1941 keine nennenswerte Rolle. Ansonsten gleichen sich Problemanalyse und Argumentation auffallend. Gewiss repräsentiert Sarrazin nicht den Mainstream der deutschen Demografiedebatte. Er bekam ja auch reichlich Gegenwind. Gewiss werden viele Leser der 1,5 Millionen verkauften Buchexemplare innerlich widersprochen haben. Aber wir müssen auch selbstkritisch nachfragen: Enthält die Debatte, die heute fast ausschließlich von bildungsbürgerlichen Protagonisten dominiert wird, in ihrem Kern nicht oftmals eine arrogante und selbstgerechte Nebennote gegenüber jener kinderreichen Minderheit, die heutzutage zwar mit freundlicheren Begriffen charakterisiert wird als 1941, deren Anwachsen aber dennoch mit großer Sorge und Skepsis betrachtet wird – nicht nur bei Sarrazin und einigen Ewiggestrigen. Müssen wir nicht auch sehr genau unser eigenes Werteraster prüfen? Wenn gepoltert wird »Deutschland schafft sich ab«, dann beunruhigt ja nicht nur die national genährte Angst vor Überfremdung, die vielleicht nur für einen kleineren Teil der Gesellschaft relevant ist. Der zweite Aspekt ist die Angst vor sozialem Abstieg der gesamten Gesellschaft, Angst, dass »bildungsferne Schichten« allmählich aufgrund ihrer zahlenmäßigen Entwicklung den Ton angeben werden. Vor diesem Hintergrund kann man die Familienpolitik der vergangenen Jahre auch als besserwisserische und scheinbar weltverbessernde Erziehungsmaßnahme der Gesellschaft durch das Bildungsbürgertum interpretieren: Die eigene Klientel soll dazu gebracht werden, sich stärker zu reproduzieren, um nicht unterzugehen. Dazu wird permanent das Vereinbarkeitsargument bemüht. Betreuungsangebote in Kitas wie Ganztagsschulen sind Klientelpolitik, die ganz gezielt karriereorientierte Akademiker(innen) bedienen will. Gleichzeitig geht es auch darum, wenigstens teilweise Kontrolle über jene Schichten zu bekommen, die im Denken des Bürgertums weniger Anteil am Zustandekommen der gesellschaftlichen Wohlfahrt
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haben. Dies bezieht sich nicht nur auf Arbeitskraft, Steuerlast und Sozialabgaben. Dies bezieht sich auch auf immaterielle Aspekte wie Einstellungen, religiöse und weltanschauliche Orientierungen, kulturelle Sozialisation, Geschlechterrollen usw. Die Kinderreicheren – so die Unterstellung Sarrazins – seien doch meist die schwer Integrierbaren, die Leistungen beziehen, statt Steuern zu zahlen, deren Wertesystem mit der modernen Gesellschaft kollidiere, die überholte Moralvorstellungen tradierten. Insofern werden die staatlichen Betreuungseinrichtungen auch als mögliches Vehikel verstanden, um deren Kindergeneration schleichend von den ›negativen‹ Einflüssen ihrer eigenen Eltern zu befreien. Da diese Schichten Bildungseinrichtungen nicht von selbst aufsuchten, müssten zur Not Zwangsmaßnahmen greifen: Kita-Pflicht, verpflichtende Ganztagsschule ab dem ersten Schuljahr usw. Es gehe darum, »Bildungschancen zu eröffnen«. So wird es formuliert. Gemeint ist aber auch, die Kinder aus den Strukturen und Weltanschauungen ihrer Herkunftsfamilien zu lösen, um sie der modernen Gesellschaft besser anzupassen. Der Staat gewinnt so peu a peu Kontrolle über die Familien. Um die Fertilitätsrate gebildeter Frauen zu erhöhen, will Sarrazin auch monetäre Anreize gesetzt sehen. Eine Prämie von 50.000 € wird ins Spiel gebracht für »jedes Kind, das vor Vollendung des 30. Lebensjahres der Mutter geboren wird […] Die Prämie – und das wird die politische Klippe sein – dürfte allerdings nur selektiv eingesetzt werden, nämlich für jene Gruppen, bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist.«108 Wer soll denn beurteilen, ob die »sozioökonomische Qualität der Geburtenstruktur erwünscht ist« und nach welchen Kriterien? Ganz sicher sollen die 50.000 € nicht bei jenem angeblichen Migranten-Normalhaushalt ankommen, »der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert«109. Liegt dem nicht ein totalitärer Denkansatz zugrunde, ein umfassender Anspruch der säkularisierten und offenen Gesellschaft auf das Individuum? Der Einzelne wird hier primär in seiner Nützlichkeit für die Gesamtgesellschaft gesehen. Das ist ein im Kern kollektivistisches Denken, das die Bedürfnisse bzw. die scheinbaren Bedürfnisse der Gemeinschaft über die Interessen des Individuums stellt. Es ist ein Denken, dem das Fremdartige suspekt ist, das familiäre, religiöse und kulturelle Bindungen am liebsten aufgebrochen sieht, denn diese können in der Tat hinderlich sein bei der Erzeugung einer homogenen Gesellschaft. 108 Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab, S. 389 f. 109 Gespräch mit Thilo Sarrazin in der Zeitschrift: Lettre International, Berlinheft 86 vom 30. September 2009.
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Wie viel Sarrazin steckt heute unterschwellig in der Debatte drin? Werden Einzelglieder seiner Argumentationskette nicht von Protagonisten unterschiedlichster politischer Couleur heute wie selbstverständlich in die Diskussion gemischt? Sind nicht schon längst kollektivistische Denkmuster in die Debatte eingesickert, auch wenn im Gegensatz zu Sarrazin auf nationalistische und latent rassistische Gedanken verzichtet wird? Anpassung an die Bedürfnisse der Gesellschaft scheint heute der Leitgedanke von Bildung und Erziehung zu sein. So sind »Heterogenität« und »Vielfalt« im pädagogischen Sprachgebrauch zwar Modewörter geworden. Aber hinter den bloßen Begriffen steckt vielfach eine gegenteilige Denkweise: Trotz Unterschieden hinsichtlich Leistungsvermögen, Lernvoraussetzung und Prägung soll jedes Kind an denselben Benchmarks und Kompetenzrastern gemessen werden. Die Standardisierung und Normierung greift immer tiefer in die persönlichen Biografien ein: angefangen beim Kopfumfang des Neugeborenen über den Wortschatz des Kleinkindes bis hin zur völligen Standardisierung der Schulbildung im Zuge der PISA-Reformen – alles soll vermessen und normiert werden, nicht nur Fachkompetenz, sondern auch Sozial-, Kommunikations- und Motivationsverhalten. Fast alle Dimensionen menschlichen Verhaltens werden als »Kompetenz« formuliert und damit (der Idee nach) trainierbar und messbar bis hin zur »Religionskompetenz«. Das Berufswahl- und Kompetenzportfolio soll dem Säugling am besten bereits in die Wiege gelegt werden, auf dass er sich und seine Leistungsfähigkeit bis zur Bahre durch lebenslanges Lernen stetig selbst optimiere. In der Wirtschaftstheorie diente der Homo oeconomicus, dessen Lebensinhalt Nutzenmaximierung sei, zunächst als Denkmodell, um ökonomische Prozesse zu klären. Nach und nach gewinnt das Modell jedoch den Charakter eines allgemeinen Leitbildes, eines Prototyps der modernen Gesellschaft, der in allen Entscheidungen seinen persönlichen Vorteil sucht. Die Idee der Anpassungsfähigkeit an die Umwelt – zunächst der darwinistischen Evolutionstheorie entnommen – begegnet in ihrer neuen Form nicht mehr als Rassenwahn, sondern als individuelles Merkmal von Lebens- und Überlebensfähigkeit in der modernen Welt, der globalisierten Wildnis. Die OECD definiert im Kontext der PISAStudie Schlüsselkompetenzen als Befähigungen »sich an eine durch Wandel, Komplexität und wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt anzupassen.«110 Anpassungsfähigkeit wird zur höchsten Maxime erhoben, sowohl im Bildungsbereich im engeren Sinne, wo Kinder und Jugendliche lernen sollen, sich den Gegebenheiten des globalen Marktes anzupassen, als auch in Bezug 110 OECD: Definition und Auswahl von Schlüsselqualifikationen. Zusammenfassung von 2005 (http://www.oecd.org/pisa/35693281.pdf).
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auf die Erwachsenengeneration, die lernen soll, ihre familiären Strukturen dem Arbeitsleben unterzuordnen, als auch in Bezug auf die verschiedenen sozialen Schichten, deren ›Problemzonen‹, die so genannten bildungsfernen Schichten, der modernen Welt anzupassen seien. Demografiepolitik, so lässt es sich verallgemeinern, scheint grundsätzlich ein problematisches Feld zu sein, in dem die Grenzen zwischen dezenter Steuerung und totalitärem Eingreifen in elementare Persönlichkeitsrechte schnell verschwimmen. Wie weit soll sich der Staat in die Frage der individuellen Familienplanung einmischen? Wie weit soll die Erziehung der Bürger gehen? In der heutigen Debatte hat es häufig den Anschein, als würde kaum jemand ernsthaft an die demografischen Wirkungen von bestimmten Maßnahmen glauben. Wenn es aber in Wahrheit um andere Ziele als die demografischen geht, wenn die Kinderzahlen als Argument nur vorgeschoben werden: Welche Ideen, Ziele und Visionen haben denn dann die OECD, die Wirtschaftsinstitute, die Bertelsmann-Stiftung usw. für die alternde deutsche Gesellschaft der Zukunft? Vermutlich haben sie keine.
18. Gärtnernde Köche verderben den Brei
Es war einmal ein König, der lebte in einem prächtigen Schloss mit prächtigen Gärten, fleißigen Dienern und zufriedenen Untertanen. Eines Tages stellte die Strukturund Qualitätskommission des Königs fest, dass die königliche Suppe nicht mehr so gut schmecke wie gefordert. Der König selbst hatte es gar nicht bemerkt, vielleicht hatte er es manchmal irgendwie geahnt. Jetzt im Nachhinein, wo das Ergebnis der Kommission vorlag, wusste er selbst nicht mehr so recht, wie er die Suppe eigentlich fand. Jedenfalls musste gehandelt werden. Die Kommission schlug vor, den Koch nicht einfach vor die Tür zu setzen. Sie erarbeitete ein komplexes Konzept, das eines Königs würdig war, und dem der kluge König aufgrund seiner Weisheit in allen Punkten folgte. Dieses Suppenqualitätskonzept sah Folgendes vor: Der Koch sollte fortan nicht mehr in der Küche arbeiten, sondern im Garten, denn aus dem Garten kamen ja die meisten Zutaten für seine Suppe. So nur könne die Qualität der Zutaten in Zukunft garantiert werden. Der Gärtner sollte sich den Aufgaben des königlichen Oberförsters widmen, denn aus den Wäldern wurde regelmäßig frischer Humusboden in die königlichen Gärten geliefert. Als Gärtner müsse er über die Qualität der Erde im Bilde sein. Der Oberförster wiederum wurde mit den Tätigkeiten des Kriegsministers betraut. Dies sei Grundvoraussetzung für den Zugewinn von fruchtbaren Forsten für die Zukunft. Der Kriegsminister sollte als Schatzmeister wirken, denn nichts ist so teuer wie der Krieg. Das weiß jedes Kind. Der Schatzmeister wiederum arbeitete fortan als Hofkoch, damit er direkt im Suppentopf merke, welche fatalen Folgen staatliche Misswirtschaft zeitigen könne. Manche wollten ihn zum Mundschenk machen, damit er die Suppen auslöffele, die er anderen eingebrockt habe, aber diese Idee setzte sich nicht durch, da so der Kreislauf nicht geschlossen gewesen wäre. Dies war aber absolut notwendig, damit im Abstand von einigen Wochen jeder Hofbeamte eine Stelle weiter rutschen konnte. So wurde jeder irgendwann Hofkoch, Gärtner, Schatzmeister. Am Ende, so der weise Ratschlag, würden alle Beamten alle Posten gleichzeitig ausfüllen und es gäbe eigentlich gar keinen Hofkoch mehr, bzw. es wären alle gleichzeitig Hofkoch. Der weise Plan wurde in die Tat umgesetzt und alle waren begeistert über die neuen Erfahrungen und über die neue Verantwortung, die sie übernehmen konnten. Gewiss, ab und zu schmeckte jetzt die Suppe richtig
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angebrannt. Auch mit dem Krieg ging es nicht recht voran, der Garten verwilderte und die Staatsfinanzen gerieten aus dem Lot. Aber das erklärte die Kommission für eine völlig normale Anpassungsschwierigkeit des Systems. Wenn erst einmal jeder an jeder Stelle gearbeitet hätte, würde sich alles wieder einrenken …
Verlassen wir an dieser Stelle unseres Märchens besser das königliche Schloss und kommen wir auf den prosaischen Boden der heutigen Regierungen mit ihren Ministerien zurück: Für welches Ressort ist heute eigentlich ein Bildungsminister bzw. eine Bildungsministerin zuständig? Wenn er oder sie Ganztags-
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schulen einführt, wird damit indirekte Familienpolitik betrieben. Die eigentliche Familienpolitik, die sich auch um Kinderbetreuungseinrichtungen bemüht, betreibt damit indirekt Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. So ausdrücklich hatte es beispielsweise Ursula von der Leyen in ihrer Zeit als Familienministerin stets formuliert. Dies wiederum kann als Sozialpolitik gelten, da durch Beschäftigung die Sozialkassen gefüllt werden und bei den Leistungen gespart werden kann. Es werden zusätzliche Arbeitskräfte frei, die im Idealfall wieder Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung leisten. Und da so natürlich auch die Steuern reicher sprudeln, gehören all diese Projekte im Endeffekt dann doch wieder ins Finanzministerium. Alles halb so schlimm, mag man denken. In Zeiten der Schuldenbremse muss nicht nur Kosteneffizienz überall einkehren. Es muss auch überall bedacht werden, welche Folgeeffekte bestimmte Maßnahmen auf anderen Feldern erzielen. Problematisch an dieser Denkweise ist allein, dass im Endeffekt dann niemand mehr für die eigentlichen Bildungsfragen zuständig ist. Wer gestaltet denn überhaupt noch diesen Politikbereich, wenn die großen Projekte der letzten Jahre – U3-Betreuung und Ganztagsschule – im Kern familien- und beschäftigungspolitischen Zielen dienten? Die kleineren Ziele, z. B. G8, Absenkung des Einschulungsalters, Kompetenzorientierung usw. waren ja auch keine genuinen Ziele der Bildungspolitik, sondern wurden ebenfalls aus primär bildungsfremden Interessenlagen in die Schulpolitik hineingedrückt. Ein Blick in frühere Zeiten der deutschen Bildungspolitik mag als Vergleich dienen: Im 19. Jahrhundert wurde in den meisten Teilen Deutschlands Schritt für Schritt die Unterrichts- oder Schulpflicht durchgesetzt. Hier und da gab es in protestantischen Regionen schon zuvor die Idee, dass alle Kinder in die Lage versetzt werden sollten, die Bibel lesen zu können. Theorie und Wirklichkeit klafften jedoch meist weit auseinander. Preußen setzte bereits im 18. Jahrhundert gesetzlich die Unterrichtspflicht ein, zum flächendeckenden Durchbruch gelangte sie jedoch erst hundert Jahre später. Dass ausgerechnet in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Durchbruch kam, ist insofern erstaunlich, als durch die Industrialisierung sowohl die arbeitsmarktpolitischen als auch die familienpolitischen Argumente eindeutig gegen die Schule sprachen: Kinder waren in Fabriken und vor allem in den Bergwerken als billige Arbeitskraft willkommen. Bestimmte Aufgaben waren typische Kinderarbeiten, z. B. weil kleine Hände vonnöten waren oder weil die zu grabenden Schächte dann kleiner sein durften. Das sparte unter Tage Zeit und Geld. Für die Familien waren die Kinder wichtige Zuverdiener zum gemeinsamen Haushaltseinkommen, auf die nur schwer zu verzichten war. Dementsprechend stieß die Durchsetzung der Schulpflicht bei Arbeitern wie bei Arbeitge-
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bern auf Widerstand. In der Landwirtschaft galt dies ohnehin. Dennoch setzte der preußische Staat und später das Kaiserreich die Schulpflicht rigoros durch und weitete sie Stück für Stück aus. Es waren in der damaligen Zeit vorwiegend Bildungspolitiker am Werk, die in der Nachfolge Wilhelm von Humboldts das Bildungswesen aus äußeren Zwängen zu befreien suchten. Für diesen, wie für die übrigen Reformer von 1806, stand die Idee im Vordergrund, Preußen zu modernisieren. Dazu mussten Aufstiegschancen geschaffen werden, die es in dieser Form in der Ständegesellschaft noch nie gegeben hatte. Völlige Gleichberechtigung war dadurch noch nicht erreicht, aber es war ein erster wichtiger Schritt. Die sprichwörtliche Freiheit von Lehre und Forschung, die damals den deutschen Hochschulen zu Weltruhm verhalf, ist das bedeutendste Erbe dieser Zeit. Aber nicht nur im universitären Bereich herrschte der Gedanke der Eigenwertigkeit von Bildung. Die Idee, dass Bildungsinhalte zunächst nicht einem primitiven Nützlichkeitszwang zu unterwerfen seien und dass Bildungseinrichtungen nicht primär bildungsfremden Interessen zu dienen hätten, dass nicht nur das gelernt werden möge, was die Wirtschaft nachher braucht, diese Idee war jahrzehntelang Kernüberzeugung deutscher Bildungspolitik und sicherte das vergleichsweise hohe Bildungsniveau. Gerade weil man sich nicht blindlings den Empfehlungen derer auslieferte, die billige Arbeitskräfte im Sinn hatten, wenn sie über »Bildung« sprachen, konnte man schlussendlich die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft und damit auch der Wirtschaft steigern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde England als führende europäische Industrienation abgelöst und Frankreich weit abgehängt. »Made in Germany« wurde weltweit zum Qualitätssiegel, obgleich es von den Engländern ursprünglich als Warnhinweis vor minderwertiger Ware gedacht war. Neben anderen Faktoren, die sicherlich auch eine Rolle spielten, wurde und wird das einst vorbildliche deutsche Bildungssystem immer wieder als Ursache der deutschen Erfolgsgeschichte genannt. Mit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht wurden auch damals indirekte Effekte im Bereich der Familien- und Arbeitsmarktpolitik erzielt. Im Unterschied zu heute freilich waren diese Effekte nicht der Kerninhalt der Bildungsbemühungen, sondern tatsächlich eher unbeabsichtigte Folgewirkung. Es lohnt im Übrigen ein Blick auf diese Wirkungen: Für die Kinder bedeutete es den schrittweisen Ausstieg aus der Kinderarbeit. Das Bildungsniveau stieg stetig an, Aufstiegschancen ergaben sich auch für Kinder aus unterprivilegierten Schichten. Erstaunlicherweise ging es den Familien Ende des Jahrhunderts materiell immer besser, obwohl doch Arbeitskräfte verloren gingen: Löhne und Arbeitsbedingungen verbesserten sich in der Arbeiterschicht stetig, auch Sozialversicherungen griffen allmählich flächendeckend. Oder ökonomisch
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gesprochen: Der Faktor ›Arbeitskraft‹ wurde knapper und im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage teurer. Es profitierte im Endeffekt die Arbeitnehmerseite. So konnten sich viele Arbeiterfamilien allmählich eine Art kleinbürgerlicher Existenz aufbauen. Sobald die materiellen Voraussetzungen es zuließen, gaben die Frauen ihre Berufstätigkeit – offenbar ohne Reue – auf, und die Männer wurden Alleinverdiener. Das Ideal einer Alleinverdiener-Familie war fest in allen gesellschaftlichen Schichten verankert. Wo beide Elternteile arbeiten gingen, wurde dies als Mangel empfunden und keineswegs als emanzipatorische Errungenschaft111. Die Menschen der damaligen Zeit haben die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung als großen Fortschritt ihrer Lebensverhältnisse empfunden. Das Kriegsbeil im jahrzehntelangen Klassenkampf wurde begraben, die Gesellschaft innerlich befriedet. Das ist jetzt freilich sehr vereinfacht. Ohnehin lässt sich eine Situation der Vergangenheit nur sehr bedingt in die Gegenwart projizieren. Es soll auch keiner rückwärtsgewandten Idealisierung der »guten alten Zeit« das Wort geredet werden. Nostalgie verbietet sich allein schon wegen der insgesamt eher kritischen Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Verhältnisse unserer Vergangenheit. Dennoch können wir eine wichtige Lektion für heute lernen: Wenn wir etwas für die Bildung der folgenden Generation tun wollen, dann müssen wir wieder lernen, bildungspolitisch zu denken; dann müssen wir die Stärke zeigen, notfalls gegen familienpolitische oder vordergründige arbeitsmarktpolitische Interessen das durchzusetzen, was uns bildungspolitisch sinnvoll erscheint. Mit der allgemeinen Schulpflicht wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der den Staat in Erziehungs- und Bildungsfragen zunehmend in die Verantwortung nahm und damit den Einfluss der Familien zurückdrängte. Das war gewollt, und auch heute spielt dieser Gedanke bei einem Teil der Ganztagsschulbewegung eine tragende Rolle. Mehr staatlich organisierte Betreuung bedeutet mehr Nivellierung der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Die individuellen Bedingungen, die die einzelnen Familien schaffen, werden in ihrer Wirksamkeit beschnitten. Allgemeine Standards und Maßstäbe bestimmen dann stärker Bildung und Erziehung. Wollen wir das? Eine Entscheidung von solcher Tragweite darf nicht als Nebeneffekt arbeitsmarktpolitischer Strukturpolitik fallen, sondern als Ergebnis einer spezifisch bildungspolitisch geführten Diskussion in der Gesellschaft. Wir brauchen endlich eine solche Diskussion, die den Blick auf die relevanten Ebenen wirft. Wir brauchen den Suppenkoch in der Suppenküche und nicht auf dem Gemüsefeld. 111 Siehe Jürgen Schmidt: Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisation. Frankfurt/M. 2015, S. 84 f.
19. 25 Thesen – vier Modelle
Igel: So langsam könnte mal Schluss sein. Bei Beethoven merkt man das intuitiv: Gleich ist es geschafft. Die Pauke wirbelt, die Trompeten geben eine Fanfare, das Tempo zieht an. Hase: Hier im Buch kannst du einfach blättern, um zu sehen, wann Schluss ist. Das hat der kluge Leser vielleicht schon längst gemacht. Igel: Glaubst Du etwa, dass sich überhaupt einer bis hierher vorgearbeitet hat? Der musste schon die ein oder andere schwer eingängige Stelle verarbeitet haben. Hase: Genau wie bei Beethoven: Themenverarbeitung, Durchführung, entwickelnde Variation usw. Igel: Wie bitte? Hase: Der gute Hörer verfolgt aufmerksam, wie die Motive und Themen verarbeitet werden: Abspaltungen, Variationen, Neukombinationen, Weiterentwicklungen, manchmal geht es zu alten Gedanken zurück, die im neuen Licht erstrahlen. Dann kommen plötzlich ganz neue Ideen, die mit den vorherigen wieder verknüpft werden müssen. Igel: Mit einem Unterschied zu hier: Wenn in der Sinfonie endlich der grandiose Schluss kommt, ist alle Mühe und Qual vergessen. Hase: Nicht ganz: bei Beethoven wird der Hörer noch einmal etwas hingehalten. Bevor wir mit »Freude schöner Götterfunke« aus dem Konzertsaal gefegt werden, lässt er noch einmal kurz die Themen und Motive der ersten Sätze an uns vorbeimarschieren. Igel: Nein bitte nicht nochmal! Ich hab‘ schon genug vom dem, was ich bis hierher alles lesen musste. Hase: Wenn dir das zu redundant oder langatmig wird, kannst du die 25 Thesen auch überschlagen. Es kommt jetzt erst mal nichts Neues. Reine Reprise. Aber vielleicht freut sich auch manch einer, die Gedanken der vergangenen Kapitel hier noch einmal pointiert aufgereiht zu bekommen. Jetzt also der erste Paukenwirbel für das Resümee:
25 Thesen – vier Modelle
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25 Thesen 1. Die Ganztagsschulbewegung laviert in ihrer Argumentation beständig hin und her zwischen pädagogischen und familienpolitischen Begründungen. Dadurch entzieht sie sich im Endeffekt auf beiden Diskussionsfeldern einer konsequenten Debatte. 2. Ganztagsschulen verbrauchen Ressourcen in exorbitanter Höhe. Diese werden in erster Linie innerhalb des Bildungssektors durch Einsparungen erwirtschaftet, denn die Gesamtbildungsausgaben haben sich, preisbereinigt betrachtet, seit Beginn der Ganztagsschuloffensive nicht erhöht. Die Einrichtung von Ganztagsschulen geht zulasten der Unterrichtsqualität. 3. Die Forderungen nach weiterem Ausbau der Ganztagsschulen, nach einer Pflichtganztagsschule oder nach qualitativen Verbesserungen der bestehenden Ganztagsschulen beinhalten eine weitere Verstärkung dieser problematischen Umverteilungstendenz. 4. Ganztagsschulen sind nur sehr begrenzt in der Lage, Kinder und Jugendliche individuell zu fördern. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu einer außerschulischen Förderung und auch im Vergleich zum eigenen Anspruch der Ganztagsschulbewegung. 5. Die Verlagerung von Hausaufgaben in den Kontext der Schule führt – weitgehend unabhängig von der spezifischen Form der Umsetzung in den verschiedenen GTS-Modellen – zu einem Verlust an Selbstverantwortung und individueller Arbeitstechnik bei Kindern und Jugendlichen. 6. Ganztagsschulen müssten als »Familienersatz« ein großes Bündel an Kompetenzen und Qualifikationen vermitteln, die weit über das Fachliche hinausgehen. In dieser Funktion ist Schule notgedrungen überfordert. Es kann allenfalls ein kleiner Ausschnitt des Wünschenswerten, Erstrebenswerten, Notwendigen geleistet werden. 7. In Schulen erleben sich Kinder und Jugendliche vorwiegend als ›zu Betreuende‹. Sie treten primär nicht aktiv mit ihrer Umwelt in Kontakt, sondern sie werden beschäftigt. Dadurch wird der freiheitliche, spielerische Impuls, den Kinder automatisch mitbringen, erstickt. 8. Dieser Grundimpuls ist gleichzeitig Basis unternehmerischen Denkens und Handelns im späteren Leben. Unsere heutige Gesellschaft baut in hohem Maße auf diesem »Unternehmergeist« auf. Im Wirtschaftlichen spielen kleinere und mittlere Unternehmen mit großer Innovationskraft eine zentrale Rolle. Gesellschaftlich prägt bürgerschaftliches Engagement, z. B. in Vereinen, unser Leben. Beide Säulen der »alten Bundesrepublik« werden durch die Ganztagsschule schwer angegriffen. Wollen wir diese tiefgrei-
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25 Thesen – vier Modelle
fenden Veränderungen einfach als Nebeneffekt einer anderen Entwicklung hinnehmen? 9. In Schulen werden Kinder und Jugendliche weitgehend vorgefilterten und didaktisch intendierten Welterfahrungsmöglichkeiten ausgesetzt. Eine Ausweitung der »Kunstwelt Schule« auf den Ganztag beeinflusst in bedenklicher Weise ihr Selbstbild, ihre Selbststeuerung und Wirklichkeitsempfinden. 10. Wenn Kinder und Jugendliche in Krippe, Hort und Ganztagsschule »professionell«, aber isoliert betreut werden, fehlt in der Gesellschaft der freie, ungezwungene und natürliche Kontakt zwischen »Jung« und »Alt«. Dies führt letztlich zu einer Ghettoisierung der Generationen. 11. Ganztagsschule nimmt für sich in Anspruch, Lebenswelt zu sein. Dies erfordert eine »neue Lernkultur«. Ein Großteil der Versprechen, die mit diesem Begriff einhergehen, entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als unseriös und unrealistisch. Gleichzeitig muss misstrauisch machen, dass der ganzheitliche Bildungsanspruch der »neuen Lernkultur« – wenn er denn gelänge – einen massiven Eingriff in die Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Der so genannte ganzheitliche Anspruch staatlicher Erziehungssysteme müsste in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft zurückgewiesen werden. 12. Ganztagsschulen sind der Gesundheit nicht förderlich. Zu den direkten negativen Effekten durch ungesunde Kantinen-Ernährung, Bewegungsmangel und Lärmbelastung gesellen sich die indirekten: Psychischer Druck durch den gesellschaftlichen Anspruch, dass die Kinder im System funktionieren müssen. Mit einer Zunahme psychischer Erkrankungen und entsprechenden Medikationen muss gerechnet werden. 13. Wesentliches Grundelement eines entwicklungsförderlichen Umfelds ist ein großes Maß an Freiheit. Dies kann Ganztagsschule nicht leisten 14. Zweites Grundelement ist ein großes Maß an Geborgenheit. Dies kann Ganztagsschule ebenfalls nicht leisten. 15. Der empirischen Bildungsforschung ist es nicht gelungen, positive Effekte von Ganztagsschule in den Kernfeldern Schulleistung und Chancengerechtigkeit zu belegen. Insgesamt deuten die bisherigen Ergebnisse darauf hin, dass vom Gegenteil ausgegangen werden muss. 16. Dennoch gibt es in weiten Teilen der Wissenschaft eine stark ausgeprägte Voreingenommenheit pro Ganztagsschule. Dies beeinflusst z. B. die Forschungen und Forschungsmethoden. Dies beeinflusst auch die Art und Weise, wie Ergebnisse in der Öffentlichkeit präsentiert werden. 17. Die PISA-Studie wurde jahrelang im Sinne der Ganztagsschulbewegung umgedeutet. Erst jetzt, wo der Ganztagsschulausbau genügend Eigendyna-
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mik gewonnen hat, räumen wichtige Protagonisten der Bewegung ein, dass der Zusammenhang keineswegs signifikant ist. Offenbar hat man zunächst dieses »Missverständnis« in der öffentlichen Debatte bewusst unkorrigiert stehen lassen. 18. Mächtige Interessengruppen versuchen seit vielen Jahren, das Ganztagsschulsystem gegen die hierzulande bestehenden Traditionen durchzusetzen. Dazu gehören internationale Institutionen wie der Europäische Sozialfonds ESF, die OECD sowie Lobbygruppen aus Industrie und Wirtschaft. Sie nehmen auf verschiedenen Wegen offen und versteckt Einfluss auf die Bildungspolitik. Vorrangig geht es um beschäftigungspolitische Interessen: Die gesamte Erwachsenengeneration soll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. 19. Auch in der Frauenbewegung gibt es starke Tendenzen, Gleichstellungsziele mittels Ganztagsschule zu erreichen. Es darf aber nicht primäre Aufgabe der Schule sein, bildungsfremde Interessen durchzusetzen. 20. Institutionen und Verbände, die als »Lobbygruppen« für die Halbtagsschule infrage kämen, sind offenbar zu schwach, um klare Positionen zu vertreten, oder finden kein Gehör. 21. Als Betreuungseinrichtung erfüllt die Ganztagsschule nur bedingt die Erwartungen, die an sie gestellt werden. Am frühen Morgen, am Abend, am Wochenende, in den Ferien oder bei Krankheit stellen sich die alten Probleme. Dies wird fast zwangsläufig dazu führen, dass die Betreuungszeiten weiter ausgeweitet werden. Das »Mehr« an Schule erzeugt in Konsequenz ein »Noch Mehr«. 22. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Ganztagsschule systematisch vermarktet. Es wurde nicht primär auf eine bestehende Nachfrage reagiert, sondern es wurde Nachfrage künstlich erzeugt. 23. Familienpolitisch betrachtet unterstützen staatliche Kinderbetreuungseinrichtungen wie die Ganztagsschule vorrangig bestimmte Familien, vor allem gut verdienende Doppelverdiener-Eltern mit einem oder zwei Kindern. Für kinderreiche Familien sind Ganztagsbetreuungseinrichtungen meist weniger attraktiv. 24. Positive Einflüsse auf die demografische Entwicklung dürfen nicht erwartet werden. 25. Erfolgreiche Bildungspolitik muss sich von arbeitsmarkt-, familien-, gender-, demografie- und finanzpolitischen Zielen zunächst lösen und die tatsächlich bildungspolitischen Fragen in den Fokus rücken.
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Igel: So. Jetzt können wir aber endlich Schluss machen. Hase: Nicht so hastig, noch ein paar Akkorde! Igel: Wir haben genug gehört. Hase: Bei Beethoven kommt jetzt noch die Stelle, wo alle schon den Schlussakkord hören, nur das Fagott quietscht noch einmal hinterher, so als hätte es nicht richtig aufgepasst. Und dann müssen alle Instrumente doch nochmal weiterspielen, weil man so nicht aufhören kann. Igel: Und was hat das hier mit uns zu tun? Hase: Wir müssen jetzt noch Lösungen liefern. Auf nach C-Dur! Ein wenig Pathos dazu: Hier kommen vier verschiedene Modelle, wie die Welt auch ohne Ganztagsschule funktionieren kann, mit allen Vor- und Nachteilen. Igel: Also doch noch etwas Moll?
Vier Modelle 1. Der »konservative« Ansatz Kinder gehen in die Halbtagsschule. Am Nachmittag sind die Eltern verantwortlich für individuelle Förderung, individuelle Erziehung und einen geeigneten Rahmen für freies Spiel. Zugrunde liegt diesem Ansatz im Kern noch das Modell einer Alleinverdiener-Ehe. Der Partner, der vorwiegend für Haushalt und Kinder zuständig ist, kann bei geschickter Einteilung und je nach Zahl und Alter der Kinder durchaus 25–50 % berufstätig sein, ohne dass das Familiensystem zusammenbricht. Wenn sich Schulkinder nebenbei daran gewöhnen, hier und da auch einmal einige Stunden unbeaufsichtigt zu bleiben, kann das durchaus als Gewinn betrachtet werden. In den meisten Familien ist ein Auskommen mit insgesamt 120–150 % an Gehalt unter rein finanziellen Gesichtspunkten durchaus möglich, zumal die Phase der Kindererziehung und Betreuung ja nur einen Teil der Lebensarbeitszeit ausmacht. Vorteil: Dieses Modell ist in der Tradition unserer Gesellschaft noch in gewisser Weise verankert. Es ist in der Durchführung vergleichsweise unproblematisch, sofern man nicht im Niedriglohnsektor oder in Berufen arbeitet, in denen Teilzeit nicht realisierbar ist. Für die Kinder gibt es einfache und klare Strukturen, in denen sie gut aufwachsen können. Es entsteht eine gewisse »Luft im System«, da ein Teil der Erwachsenengeneration nicht automatisch durch Erwerbsarbeit gebunden ist und somit u. U. auch andere wichtige Aufgaben im Sozialen wahrnehmen kann. Nachteil: Das Familienmodell steht trotz oder wegen seiner Tradition in der Kritik: Es schade den Interessen der Wirtschaft und sei frauenfeindlich (sofern
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es die Frau ist, die zu Hause arbeitet). Im Falle einer Trennung der Eltern und im Rentenalter ergeben sich Benachteiligungen, denn die geleistete Arbeit innerhalb der Familie wird gesamtgesellschaftlich nicht ausreichend honoriert. Auch die Bezeichnung »konservativ« schadet diesem Familienmodell, da sich viele jüngere Familien mit dem Begriff nicht identifizieren möchten. Wenn es der Vater ist, der halbtags für die Kinder da ist, wäre dieser Einwand entkräftet. Gleiches gilt, wenn sich die Eltern in ihren Erziehungs- und Erwerbsarbeiten abwechseln würden. Dies verhindert auf längere Sicht hin auch finanzielle Abhängigkeiten innerhalb der Partnerschaft. 2. Der »modifizierte konservative« Ansatz Er bietet eine Variante zum ersten Modell. Es engagieren sich beide Partner gleich oder ähnlich viel im Bereich der Erwerbsarbeit, ebenso im Bereich der Familienarbeit. Insgesamt orientieren sie sich an derselben Gesamtbelastung von ca. 120– 150 %. Für den Einzelnen bedeutet dies dann eine Erwerbsarbeit von ca. 60–75 %. Vorteil: Das kritikbehaftete Etikett »konservativ« greift nicht mehr. Es können positive und kreative Impulse für das Zusammenleben der Geschlechter und für Rollenklischees erwartet werden. Das Modell ist »politisch korrekt« und steht nicht im Widerspruch zu aktuellen Tendenzen der Familienpolitik wie z. B. den »Vätermonaten« im Erziehungsgeld. Beide Partner lernen, die Arbeit des anderen besser zu schätzen. Im Fall einer Trennung stehen beide ähnlich da. Beide Partner verlieren nicht den Anschluss im Berufsleben. Nachteil: In der konkreten Organisation gibt es Schwierigkeiten, die gema nagt werden müssen – in der Familie wie im Erwerbsleben, allein schon weil eine Teilzeitstelle üblicherweise einen höheren zeitlichen wie gedanklichen Einsatz beinhaltet, als der Zahlenwert erwarten ließe. In einigen Berufsfeldern ist Teilzeitarbeitszeit nach wie vor schwer realisierbar. Beide Partner »verzichten« im Gegensatz zu Modell 1 auf die große Karriere, denn Karriere ist in den meisten Berufen (noch immer) an die Idee der Vollzeitstelle geknüpft. Dieser Umstand kann allerdings auch zum Vorteil mutieren. Würde sich Modell B etablieren, könnte der Automatismus vielleicht durchbrochen werden, dass auf gesellschaftliche Anerkennung verzichtet, wer auf berufliche Karriere verzichtet. Modell eins wie Modell zwei werden trotz Ganztagsschulbewegung von einem recht großen Teil der Elternschaft zurzeit praktiziert. Bei den ca. 70 % Kindern, die zurzeit eine Halbtagsschule besuchen, ist es vermutlich sogar die Mehrheit der Familien. Die beiden Modelle kranken aber daran, dass sie für einen Teil der Eltern kaum oder nicht realisierbar sind: Alleinerziehende, Arbeitnehmer
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im Niedriglohnsektor, Beschäftigte in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Dadurch erleben wir bereits ein zunehmendes Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse unserer Kinder: Hier die behüteten Wohlstandskinder in den Halbtagsklassen. Dort die Kinder aus schwierigerem Umfeld in den Ganztagsklassen, die auch dadurch häufig zu Problemklassen werden. Gerade solche Bildungsungerechtigkeit sollte doch ursprünglich durch die Ganztagsschule bekämpft werden. Insofern lösen Modell 1 und 2 das gesamtgesellschaftliche Problem nicht. 3. Das Modell des »Erziehungsgehalts« Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen und erziehen, sollen dafür ein Gehalt vom Staat erhalten. Das Betreuungsgeld war der Idee nach ein solches Erziehungsgehalt, wenn auch in stark abgespeckter Form. 150,- € können kaum als »Gehalt« angesehen werden. Das Betreuungsgeld wurde auch nicht für Schulkinder gezahlt. Es endete mit dem dritten Geburtstag. Vom Konzept her müsste ein »Erziehungsgehalt«, das diesen Namen verdient, an einem durchschnittlichen Gehalt orientiert sein. Es müsste auch sozialversicherungsmäßig wirksam werden, z. B. durch Beiträge in die Rentenkassen, aus denen dann auch Ansprüche erwachsen. Vorteil: Die Idee des Erziehungsgehalts trägt der allgemeinen Tendenz Rechnung, nur noch Erwerbsarbeit als Arbeit gelten zu lassen. Es ermöglicht Hausfrauen wie Hausmännern ein auskömmliches Leben und gleichzeitig eine gesellschaftliche Anerkennung, die in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte häufig vermisst wird. Es würde sich darüber hinaus auch eine logische Lücke in den Gesetzen schließen: Durch die Einführung von Kinderkrippen und Ganztagsschulen übernimmt der Staat quasi die Verantwortlichkeit für die Kinderbetreuung. Das Signal lautet: »Wer Kinder bekommt, braucht sich nicht zu sorgen: Der Staat sorgt für die Betreuung«. Der Staat ist ja im Prinzip die Gesamtgesellschaft. Nicht mehr der Einzelne ist für seine Kinder verantwortlich, sondern es ist eine Aufgabe der Gemeinschaft geworden. Zurzeit übernimmt der Staat bzw. die Gesamtgesellschaft diese Selbstverpflichtung nur für jene Kinder, die auch die staatlichen Angebote nutzen. Für die Betreuung der übrigen wird keine adäquate Verantwortung übernommen. Diese Lücke müsste geschlossen werden, sei es durch verpflichtende Ganztagskita- und GTS-Besuch – der worst case –, sei es durch eine Neubewertung von familienbezogener Arbeit. Der Staat könnte für die als gesamtgesellschaftlich notwendig betrachtete Erziehungsarbeit fixe Summen zahlen. Die Familie selbst entscheidet, ob sie diese Arbeit selbst erledigt oder an Institutionen auslagert, die dann nicht mehr kostenfrei wären. Nachteil: Das Modell steht im offenen Widerspruch zur Mainstream-Meinung, wie sie besonders pointiert von Wirtschafts- und Frauenverbänden vorge-
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tragen wird. Von »Fehlanreizen« ist die Rede. Frauen würden von Erwerbsarbeit abgehalten, die Abhängigkeit innerhalb der Partnerschaft würde bestehen bleiben. Vor allem bildungsferne Schichten würden ermuntert, Kinder in die Welt zu setzen. Die Diskussion wird vorwiegend in politischen Bereichen geführt, die mit Bildungsfragen kaum etwas zu tun haben. Wirtschafts-, finanz- und geschlechterpolitische Interessen stehen im Vordergrund. Ein weiteres Problemfeld wiegt schwerer: Der Idee des Erziehungsgehalts liegt – ähnlich der Idee der Krippe und der Ganztagsschule – ein ökonomisiertes Verständnis von Erziehungsarbeit und Familie zugrunde. Der Nutzen für die Gesamtgesellschaft wird – soweit machbar – durchgerechnet und der Bürger für seine Leistung dem Staat bzw. der Gesellschaft gegenüber entlohnt. Das Grundprinzip unserer Wirtschaft und Gesellschaft eben: Leistung gegen Bezahlung. Im Umkehrschluss stünde zu befürchten, dass der Staat notgedrungen mehr Einfluss auf die Familien nehmen wird. Zwei einfache Beispiele können das zeigen: Was soll mit Eltern passieren, die ihre Kinder verwahrlosen lassen? Wenn diese ihren Leistungsanspruch verlieren sollen, was ja anders kaum denkbar ist, dann müssen auch stärkere Kontrollen greifen. Dann brauchen wir eine Art Familien-TÜV, einen Qualitäts-Check, der die Erziehungsarbeit der Familien überwacht und honoriert. Anders herum könnte es ja auch Familien geben, die ihre Aufgaben herausragend gut erfüllen. Müsste es da nicht auch Prämien geben oder Beförderungsmöglichkeiten? Wie sieht es aus mit geregelter Ausbildung und Weiterbildung? Irgendwann kommt vielleicht der Meisterbrief oder gar die Promotion zum Dr. Hausfrau bzw. Dr. Hausmann. Das würde den Beruf dann endlich als »Karriereberuf« ausweisen. Solcherlei Unsinn kann natürlich niemand ernsthaft wünschen, aber er ist im Modell keimhaft enthalten. Im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Leistungslogik wäre es vielmehr wünschenswert, wenn sich der Staat aus der Familienrolle, die er in Krippe und Ganztagsschule übernimmt, wieder Stück für Stück herauszieht. Die Verantwortungsbereiche sollten klarer geregelt werden. »Erziehungspartnerschaft« darf nicht bedeuten, dass der Staat den Familien ihre im Grundgesetz verankerte Aufgabe abnimmt: In Artikel 6.2 heißt es: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Damit sind die Rollen eigentlich klar verteilt. 4. Der innovative Ansatz Dieser müsste dringend entwickelt werden: Welche Aspekte der traditionellen Familie wollen wir für die Zukunft erhalten? Welche Kernelemente der traditionellen Schule möchten wir beibehalten? Was möchten wir ändern? In wel-
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ches Verhältnis sollen Individuum und Gesellschaft zueinander treten? Wir müssen das Kunststück fertig bringen, all dies neu zu denken, ohne unrealistische Luftschlösser zu bauen und ohne in die Falle zu tappen, mal wieder den »idealen Staat« erfinden zu wollen. Ein wesentliches Kernelement müssten dezentrale Strukturen sein: Wer kann subsidiär die Familien unterstützen, vor allem, wenn klassische Alleinverdiener-Ehen immer seltener werden? Wenn es nicht der Staat leisten soll, weil er dafür ungeeignet ist, müssten es andere tun. Neue Ideen sind hier und da modellhaft bereits entwickelt worden. Statt über die Rente mit 65, mit 67 oder mit 70 zu streiten, wäre es auch vorstellbar, neue Konzepte für den Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand zu entwickeln und gleichzeitig die Generationenfrage neu zu justieren. Nicht wenige Arbeitnehmer kommen im höheren Alter im Erwerbsleben an Belastungsgrenzen, könnten aber im Betreuungs- und Erziehungsbereich gesamtgesellschaftlich nützliche Arbeit leisten. Dies liefe dann auf eine Art »Tagesoma-« oder »Tagesopa«-Modell für Schulkinder hinaus. Die Idee der Lese- und Lernpaten, die an vielen Orten in Deutschland bereits erfolgreich erprobt wird, geht in eine ähnliche Richtung. Die Schulen dienen als Koordinierungsstelle, die Arbeit an sich geschieht aus freiem Engagement, aber im öffentlichen Raum. Im Vordergrund steht der Förderaspekt. Hier könnte eine Weiterentwicklung ansetzen, um auch dem Betreuungsaspekt Rechnung zu tragen. Vorteil: Die Kinderbetreuungsfrage wird in einen größeren Kontext eingebettet. Beim »Tagesoma-« oder »Tagesopa«-Modell z. B. könnten ältere Arbeitnehmer individuell den Übergang in den Ruhestand gestalten. Es gibt eine Zwischenphase zwischen Erwerbsarbeit und Rentenalter. Die Lebens- und Erziehungserfahrung dieser Generation käme den Jüngeren zugute. Dadurch ließe sich indirekt auch der Ghettoisierung der verschiedenen Gesellschaftsschichten entgegenwirken. Es müssen dafür kleinräumige und unbürokratische Strukturen geschaffen werden, die die individuellen Lebensverhältnisse der Menschen berücksichtigen. Vergleichbare Betreuungsformen ließen sich vielerorts auch auf nachbarschaftlicher Ebene etablieren, sei es, dass einzelne Väter und Mütter ihren primären Wirkungsbereich in die Betreuung und Erziehung der eigenen Kinder legen und dann parallel fremde Kinder aus dem näheren Umfeld mitbetreuen, sei es, dass sich mehrere Eltern zusammentun und sich mit dieser Aufgabe abwechseln. Nachteil: Das Modell ist nicht ausgearbeitet. Ein solcher Ansatz müsste im Detail diskutiert werden und bräuchte eine starke Lobby aus der Gesellschaft heraus. Wir müssen versuchen, kreativer in die Zukunft zu blicken und uns von vordergründig schlüssigen Konzepten wie der Ganztagsschulidee zu lösen. Aber der Weg dahin scheint noch weit. Würden wir die Ressourcen und die
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Energie, die wir derzeit in den Ganztagsschulbereich stecken, in zukunftsweisendere Ansätze umlenken, ließe sich sehr viel bewegen. Denn nicht primär die Schule muss neu erfunden werden, sondern wir müssen für die Zukunft Arbeitsund Lebensmodelle (er)finden, in denen auch Kinder, Alte und Kranke einen Platz haben. Dabei ist es dringend erforderlich, den Themenkomplex »Bildung – Erziehung – Betreuung« aus den polaren Zuweisungen »konservativ – modern«, »links – rechts«, »frauenfeindlich – emanzipatorisch« usw. herauszuführen, denn dort gehört er nicht hin. Es muss uns gelingen, über Parteigrenzen und Ideologien hinweg und unabhängig vom Einfluss bildungsferner Lobbygruppen das Thema zu diskutieren. Wir müssen herauskommen aus der Betreuungs-Sackgasse, denn es geht auch um unsere Freiheit. Der technologische Fortschritt der vergangenen 200 Jahre hat uns aus zahlreichen ökonomischen Zwängen befreit. Die demokratische Verfassung hat uns vor 65 Jahren politische Freiheiten beschert. Die emanzipatorischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben uns geholfen, Freiheit über Lebensentwürfe und Rollenklischees zu erlangen. Statt die Früchte jetzt zu ernten, sind wir auf dem besten Weg, uns neuen Zwängen und neuen Rollenmustern unterzuordnen. Wir verschlafen die Chance, gänzlich neue Formen und Strukturen zu finden, wie unsere Gesellschaft die Frage der Erwerbsarbeit und der Kinderbetreuung organisieren will. Solange die Ganztagsschule als solcher Rahmen nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, sondern immer nur Qualitätsverbesserungen angemahnt werden, wird sich an der Misere einer zunehmend verschulten Kindheit wenig ändern. Ratschläge, wie sich Ganztagsschulen verbessern ließen, gibt es bereits viele, und wer das Buch aufmerksam gelesen hat, wird indirekt den einen oder anderen Denkansatz in diese Richtung finden. Sie beantworten aber die Grundfrage nicht. Echte Freiräume, die für eine gesunde Entwicklung vonnöten sind, entstehen nicht in staatlichen Institutionen, die sich notgedrungen räumlichen, curricularen, aufsichtsrechtlichen, strukturellen und ressourcenabhängigen Erfordernissen anpassen müssen. Schulen sind nicht als Orte der freien Persönlichkeitsentwicklung konzipiert worden und werden sich auch nicht zu solchen umbauen lassen. Wir brauchen als Gesamtgesellschaft Energie und Kreativität, um Kindern angemessene Lebens- und Erfahrungsräume angesichts einer sich verändernden Familien- und Arbeitswelt zu erhalten. Wir brauchen eine tiefergehende Debatte über die Ganztagsschulfrage!
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Igel: Sollte das jetzt der bombastische Beethovenschluss gewesen sein? Hase: Vielleicht ein bisschen wenig »freudetrunken«, aber begeisterter Applaus wäre doch allemal angesagt. Igel: Ich möchte lieber Buh-Rufe abgeben. Die Musiker haben die Partitur nicht verstanden. Lauter Dissonanzen! Hase: Nur zu, nur zu! Dann bekommen wir morgen einen schönen Artikel in die Zeitung: »Publikum zerfleischt sich nach der Aufführung.« Igel: Nein bloß kein Skandal! Besser, es steht gar nichts in der Zeitung. Ich tue so, als hätte ich es gar nicht bemerkt, dass schon Schluss ist und schleiche mich einfach raus. Hauptsache, das Ganztagsschulthema ist jetzt ein für allemal ausdiskutiert. Es gibt jetzt nichts mehr zu sagen. Ohren zu und durch! Hase: Wir wollten doch weiter diskutieren? Igel: Wollten wir das? So liefen Hase und Igel dreiundsiebzigmal. Und jedes Mal, wenn einer dachte, dass er am Ziel angekommen wäre … (Frei nach den Gebrüdern Grimm)