Warum Musik in unseren Genen liegt 3662673746, 9783662673744, 9783662673751

Wussten Sie, warum Johann Sebastian Bach ganz legal lange Finger machte? Und was Sie alles mit einer Haarlocke Mozarts a

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German Pages 250 Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Interkulturelle Ähnlichkeiten
Säuglingsreaktionen
Neurale Reaktionen
Musikalische Talente
Evolutionsgeschichte
Danksagung
Prolog
Die Suche beginnt. Eine Reise nach Neapel
Inhaltsverzeichnis
1: Montag – Geschichten
Wo man singt, da lass dich bloß nicht ruhig nieder: Circes Warnung vor den Sirenen
Alles beginnt bei Neapel
Von komischen Vögeln zu attraktiven Meerjungfrauen mutiert: Die Sirenen – Evolution eines Mythos
„Sein sanftes Trauerlied, sein banger Klaggesang weckt unser Mitgefühl, stimmet uns mild für ihn, hat uns besiegt“ – Orpheus rührt mit seinem Gesang sogar die Furien der Unterwelt
Orpheus und Eurydike: Stoff nicht nur für eine Oper
Harmonie und Romantik als Erfolgsrezept?
2: Dienstag – Sinne
Musik – Versuch einer Definition. Was und wie gesendet wird: Von Tönen, Klängen und Geräuschen. Die menschliche Stimme und die Tastatur des Klaviers
Schallwellen und ein bisschen Physik. Wie ein Ton zum Klang wird und was beide vom Geräusch unterscheidet
„Wenn es nicht wahr ist, ist’s doch gut erfunden“: Die Lüge von Pythagoras in der Schmiede
Musik trifft Mensch: Was mit den Klängen auf ihrem Weg ins Gehirn passiert
Von der Physik direkt zur Biologie. Schwingungen von außen nach innen: Der Weg durchs Ohr und wie es von da weitergeht
Schnelle erste Reaktionen
Arbeitsteilung im Gehirn und ein raffiniertes Belohnungssystem
Was es mit dem Dopamin auf sich hat und warum Odysseus eine Apotheke geholfen hätte, um sirenenresistent zu werden. Anatomie und Befunde aus der Hirnforschung
Neurotransmitter: Kommunikation zwischen Nervenzellen. Die Pille gegen Musikgenuss
Warum manche Nachfrage überflüssig ist – das Gehirn als modularer Speicher
Gene, die die Freude an Musik nehmen – gibt’s das wirklich?
3: Mittwoch – Vererbung
Sender oder Empfänger mit besonderen Talenten: Die Vererbung von Musikalität
Wenn Musikalität durch die Familie „mendelt“. Johann Sebastian Bachs Söhne: Gute Gene oder doch ehrgeiziger Vater?
Auf der Suche nach Musikalitätsgenen
Zurück in den Biokurs: Über Gene und Genome. Was uns Zwillinge verraten und was genomweite Assoziationsstudien sind
Die meisten Manhattan-Plots entstehen nicht in New York
Was es mit der Signifikanz auf sich hat
Viele Gene – viele Begabungen
Taktgefühl: Genetisch und musikalisch gesehen
Genomics ist kein Humangenetiker aus dem kleinen gallischen Dorf
Das absolute Gehör: musikalischer Ritterschlag oder nur nice to have?
Ist Musikalität gleichmäßig auf unsere Chromosomen verteilt?
Welche Schlüsse die herausragende Rolle von Chromosom 4 zulässt und welche nicht
Wie alles beginnt: Die Entstehung der Hardware des Musikempfindens. Anlage von Ohr und Hörsinn. Ein Ausflug in die Embryonalzeit
Am Anfang ist die Eizelle
Woher ein Gen weiß, ob es aktiv sein muss
Entwicklung gesteuert von Genen. Exkurs über die Entwicklung unseres Hörsystems beginnend mit der Embryonalzeit
Wie man Proteine sehen kann
Genetisch bedingte Störungen des Hörsinnes
4: Donnerstag – Tiere
Wem sonst noch die Musik in der DNA liegt: Singvögel
Picasso: „Jeder will Kunst verstehen. Warum versucht man nicht, die Lieder eines Vogels zu verstehen?“
Syrinx – nicht nur eine Nymphe
Gesangsunterricht bei Familie Zebrafink – warum wir die Lieder eines Vogels verstehen wollen
Welche Gene für den Vogelgesang wichtig sind und wie man sie erkennt
Konvergente Entwicklung oder gemeinsame Grundlage?
Singende Wale und die Milch der Kühe
Ansätze von Musikalität auch bei anderen Tieren – die Berichte füllen Bände
Musik als Kommunikationsmittel über Artgrenzen hinweg?
5: Freitag – Geschmack
Klingt nur unschön oder kommt direkt vom Teufel?
Musik, die vom Teufel stammt? Der Tritonus oder diabolus in musica.
Können Zellen und Gene hören?
Liegt Musik auch im Blut? Spannendes nicht nur in Ohr und Gehirn. Auch Immunzellen sind beteiligt
Mozarts Violinkonzert Nr. 3 und die Genexpression. Welche Gene besonders gut „auf Musik hören“
Die spannende Frage, ob Immunzellen hören können
Wer hört wie?
Womit hängt es zusammen, welche Musik wir mögen? Persönlichkeit zählt, ist aber nicht alles
Wiedererkennung, Assoziation mit Ereignissen oder Eindrücken
Genetik meets Umwelt: Was unseren Musikgeschmack prägt
Gibt es universelle Maßstäbe für Musikgeschmack? Was wir von den Tsimane’ lernen können
Alte und neue Musik – alter und neuer Geschmack?
Original und Cover, die Evolution von Musik
Cantometrics und ähnliche Methoden – Grand Prix der Volksmusik wissenschaftlich betrachtet
Wenn Musik versteinert
Musik und Architektur
6: Samstag – Gefühle
Sex sells, aber bitte mit Musik
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann fischen sie noch immer: die Capri-Fischer
„Je t’aime … moi non plus“
Bellini, seine „tre Giuditte“ und anderer Tratsch aus der Musikszene
Wo man singt …: Musik als Signal für Zusammengehörigkeit
Dinner for more than two: „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder …“ – stimmt das überhaupt?
Lullabys: Musik, die beruhigt und Vertrauen schafft
Wen(n) Musik das Fürchten lehrt
Man hört sie nicht jeden Tag und manche meinen, das sei auch gut so: Pharao Tutanchamuns Trompeten
Trompeten mit Schweineköpfen und Musik, die Mauern zum Einsturz bringt. Die Posaunen von Jericho
Der Einfluss von Stimmungen und Verknüpfungen
Musik und Politik
„Udo rockt für den Weltfrieden“
Mit Musik geht alles besser – stimmt das?
Musik im Büro – Traum oder Alptraum für Arbeitgeber?
Shantys: Musik zwischen Kitsch und Traditionspflege
Musik und Therapie – eine uralte Allianz
David und Saul – Musik und Depressionen
Beethovens Herzrhythmusstörungen
Musik als Therapieergänzung bei Covid-19 und Long Covid
7: Sonntag – Erhabenheit
Die Magie der Musik im Spiegel von Märchen und Sagen
Magische Musikinstrumente und deren Herkunft
Manipulation durch Flötentöne
So will ich mit meiner Geige anfangen und dich wieder lebendig geigen – die Geige als magisches Musikinstrument
Magie funktioniert auch mit anderen Instrumenten
Vom Zauber der Musik: Steht die Lösung eines alten Rätsels bevor?
Was es mit der Musik und der Erhabenheit auf sich hat
Musik als Gabe der Götter?
Tote Zeugen lügen nicht – Gedenken an Caruso
Musikgenuss nüchtern erklärt – geht das denn?
Sonaversum statt Sphärenklänge?
Wenn unsere Tomaten jammern und wir sie nicht hören
„Wir vergessen die Zeit, den Zweck, wir vergessen für ein, zwei Stunden unsere Sterblichkeit“
Epilog
Einen Monat später
Tabelle zu Videos von Musikbeispielen etc. mit Shortlinks
Glossar
Stichwortverzeichnis
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Warum Musik in unseren Genen liegt
 3662673746, 9783662673744, 9783662673751

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Jörn Bullerdiek Christine Süßmuth

Warum Musik in unseren Genen liegt

Warum Musik in unseren Genen liegt

Jörn Bullerdiek • Christine Süßmuth

Warum Musik in unseren Genen liegt Mit einem Vorwort von Dietrich Grönemeyer

Jörn Bullerdiek Bremen und Rostock, Deutschland

Christine Süßmuth Bremen, Deutschland

ISBN 978-3-662-67374-4    ISBN 978-3-662-67375-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67375-1  

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Hintergrund: © Ivana / Stock.adobe.com, Noten: © zaie / Stock.adobe.com Planung/Lektorat: Stefanie Wolf Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Widmung Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die die Kultur und das Leben genießen. Für die anderen konnten wir diesmal leider nichts tun.

Vorwort

Warum Musik uns glücklich macht? Ist die Musik genau das, was uns einen Moment unsere Sterblichkeit vergessen lässt? Ist Musik ein integraler Bestandteil der menschlichen Kultur oder sogar des Kosmos? Sozusagen ein musikalisch-­harmonischer Raum sonarer Unendlichkeit seit Anbeginn? Der Einfluss von Musik ist im Laufe der Geschichte in allen Zivilisationen zu beobachten. Musik tief in unseren Genen verankert ist, ist ein faszinierendes Thema, das Wissenschaftler und Forscher seit vielen Jahren beschäftigt. So auch die beiden Musikforscher Christine Süßmuth und Jörn Bullerdiek. Während sie sich in die genauen Gründe für dieses Phänomen eindrucksvoll vertiefen, mehren sich die Indizien, dass Musik in unserer DNA verwurzelt sein könnte. Befördert hat die Liebe zur Musik möglicherweise deren Nützlichkeit bei sozialen Interaktionen und Kommunikation entwickelt hat. Musik wird seit Jahrtausenden in allen Kulturen als Ausdrucksform, zum Geschichtenerzählen und als Mittel zur Schaffung von sozialem Zusammenhalt verwendet. Die Fähigkeit, Musik zu genießen, zu kreieren, zu singen oder Instrumente zu spielen könnte daher eine bedeutende Rolle in der Evolution des menschlichen Sozialverhaltens gespielt haben. Eine weitere Erklärung ist, dass die Wirkung von Musik auf unsere Emotionen und Nervenbahnen eine angeborene Eigenschaft unserer Gene sein könnte. Es hat sich gezeigt, dass Musik die Freisetzung von Dopamin – dem Glückshormon – stimuliert, das für Gefühle von Freude und Belohnung verantwortlich ist. Immer mehr Studien weisen darauf hin, dass ein Gen aus dem Belohnungssystem – das Alpha-Synuclein-Gen (SNCA) –, wenn es verletzt wird und mutiert, nicht nur Parkinson, sondern vor allem Alzheimer auslösen kann. Vielleicht liegt hier ein bedeutsamer Schlüssel für die Medizin. Nicht VII

VIII Vorwort

nur für das Verständnis vom Prozess der Vergesslichkeit, von Konzentrationsstörungen und anderen neurologischen Störungen wie Bewegungsveränderungen, sondern auch der Therapie. Vielleicht sogar mit Musik. Demenz-Patienten entspannen sich und werden fröhlich unter Musik und bewegen sich leichter, am besten beim Tanzen. Außerdem haben Studien herausgefunden, dass bestimmte Musikmuster bestimmte Bereiche des Gehirns aktivieren können, was zu einer Reihe von emotionalen Reaktionen wie erhöhter Entspannung und verminderter Angst führt. All diese Effekte habe ich als Sohn, Enkel und Neffe in der leidvollen Geschichte meiner Familie in zwei Generationen selbst erlebt und als Arzt u. a. therapeutisch jahrzehntelang mit Begeisterung genutzt. Schließlich ist die Universalität der Musik in allen menschlichen Kulturen wiederzufinden. Immer mehr Studien deuten darauf hin, dass sie in unserer Genetik verwurzelt ist. Ebenso bei Tieren wie den Singvögeln. Hier scheinen Gemeinsamkeiten zu bestehen. Trotz sprachlicher und kultureller Unterschiede ist Musik ein gemeinsames Erlebnis, das uns grundlegend verbindet. Die uns alle motivierende Existenz einer universellen Fähigkeit, Musik zu genießen und zu nutzen, legt nahe, dass es sich um eine angeborene menschliche Eigenschaft handelt, die durch unsere Gene weitergegeben wird. Unklar ist aber nach wie vor, ob Musikalität oder das absolute Gehör sich vererben können wie in der Familie von Johann Sebastian Bach, in der weit verzweigt viele Musiker und Musikerinnen geboren wurden. Oder das immerwährende tagtägliche Üben und Leben mit Musik prägend wirkt. Vieles weist auf einen noch lange nicht verstandenen sehr komplexen Zustand hin. Auch in unserer Familie wurde und wird nachweislich mütterlicherseits seit Generationen intensiv musiziert. Auch wir drei Brüder mussten Instrumente erlernen, haben mit Inbrunst und Freude im Chor gesungen und zu dritt begeistert eine Brüder-Hausband geformt. Eine 2015  in der Zeitschrift Nature Neuroscience veröffentlichte Studie ergab beispielsweise, dass eine Variante eines Gens namens GATA2 in finnischen Familien mit musikalischer Begabung in Verbindung gebracht wird. Eine andere Studie, die 2018  in derselben Zeitschrift veröffentlicht wurde, ergab, dass eine genetische Variante, die mit besseren Sprachkenntnissen verbunden ist, auch mit besseren musikalischen Fähigkeiten wie dem Wiedererkennen von Melodien korreliert. In einer weiteren Studie aus demselben Jahr mit der Suche nach vererbten genetischen Markern musikalischer Eignung wurden Gene wie das Alpha-Synuclein-Gen (SNCA), das in Nervenzellen des Gehirns vorkommt, identifiziert, die die Entwicklung des Innenohrs und die Gehirnfunktion beeinflussen. Es wurde als bedeutsam beim Hören und Aufführen von Musik identifiziert.

 Vorwort 

IX

Andere Studien haben sich mit den genetischen Grundlagen bestimmter musikalischer Fähigkeiten beschäftigt, wie zum Beispiel dem absoluten Gehör oder der Fähigkeit, Melodien zu erkennen und sich daran zu erinnern. Die Gründe dafür, dass Musik tief in unseren Genen zu finden ist, sind komplex und viel Forschung ist erforderlich, um dieses Phänomen vollständig zu verstehen. Es ist jedoch klar, dass Musik weit mehr als nur eine Form der Unterhaltung ist – sie ist ein mächtiges Werkzeug, das eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung der menschlichen Kultur und des sozialen Verhaltens gespielt hat und weiterhin spielt. Dass Musik genetisch in uns Menschen eingebettet sein könnte, darauf weisen fünf Fakten hin:

Interkulturelle Ähnlichkeiten Trotz kultureller Unterschiede gibt es Ähnlichkeiten in der Art und Weise, wie Musik in verschiedenen Kulturen wahrgenommen und geschaffen wird, was darauf hindeutet, dass es möglicherweise eine biologische Grundlage für musikalisches Verhalten gibt.

Säuglingsreaktionen Säuglinge bevorzugen früh musikalische Klänge gegenüber nicht musikalischen Klängen, was darauf hindeutet, dass sie eine angeborene Sensibilität für die tonalen und rhythmischen Elemente der Musik haben.

Neurale Reaktionen Studien haben gezeigt, dass das Hören von Musik mehrere Bereiche des Gehirns aktiviert, von denen viele an der emotionalen Verarbeitung und Belohnung beteiligt sind. Dies deutet darauf hin, dass Musik angeborene Mechanismen nutzen kann, die sich entwickelt haben, um soziale Bindungen und Kommunikation zu fördern.

Musikalische Talente Einige Personen haben eine bemerkenswerte Fähigkeit, Musik zu spielen, zu komponieren oder auswendig zu lernen, selbst ohne formale Ausbildung. Obwohl die Ursprünge dieser Fähigkeiten nicht vollständig verstanden werden,

X Vorwort

können sie mit Unterschieden in der Gehirnstruktur oder -funktion zusammenhängen, die teilweise genetisch bedingt sind.

Evolutionsgeschichte Musik hat möglicherweise eine Rolle in der menschlichen Evolution gespielt, indem sie dazu beigetragen hat, soziale Bindungen zu stärken und die Zusammenarbeit zu erleichtern. Wenn dies der Fall ist, dann könnten einige Aspekte des musikalischen Verhaltens und der Wahrnehmung genetisch kodierte Anpassungen sein, die durch natürliche Selektion geformt wurden. Es gibt kein einzelnes Gen oder keine genetische Variation, die schlüssig mit musikalischen Talenten oder Fähigkeiten in Verbindung gebracht wurde. Es gibt jedoch Studien, die darauf hindeuten, dass genetische Faktoren wesentlich an der musikalischen Fähigkeit beteiligt sind. Auch gibt es erste Studien, die darauf hinweisen, dass Zellen – wie die Immunzellen – auf Musik positiv oder negativ reagieren. All diese Forschungen weisen darauf hin, dass sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung der musikalischen Fähigkeiten eines Individuums spielen. Umweltfaktoren, wie die Exposition mit Musik, die formale Musikausbildung und kulturelle Einflüsse, können einen erheblichen Einfluss auf die musikalischen Fähigkeiten einer Person, Familien und Kultur haben. Dieses Buch ist eine wundervolle Entdeckungs- und Forschungsreise eines ungewöhnlichen Forscherpaares, einer Musikerin und eines Wissenschaftlers. Geschrieben in einem faszinierenden Dialogstil während einer gemeinsamen Reise zu einigen geschichtlich beschriebenen Ursprüngen der Musik. Ein Muss für jeden Menschen, der ebenso wie die beiden Forschenden Musik als Lebenselixier fühlt und begreift, sowie für diejenigen, die schon immer an die Universalität der Musik und der Gene glauben oder die noch überzeugt werden müssen. Die wesentliche Forschung hierzu steckt erst in den Anfängen und wird sicherlich durch dieses Werk ganz besonders stimuliert. Ich bin total glücklich, an dem großen Wissensschatz der beiden Autoren teilhaben zu können. Ihr Wissen für jeden Menschen verständlich zu erklären ist ein großes Verdienst. Ich bin total begeistert von ihrem großartigen Werk und empfehle es dringendst. Bochum, Deutschland Mai 2023

Dietrich Grönemeyer

Danksagung

Wir alle stehen als Zwerge auf den Schultern von Riesen, derjenigen Menschen nämlich, die sich vor uns mit einem Thema beschäftigt haben und auf deren Gedanken und Erkenntnissen wir aufbauen. So entsteht nach Bernhard von Chartres (Anfang des 12. Jahrhunderts) Fortschritt, indem kleine Erkenntnisse dem bereits Bestehenden und Bekannten hinzugefügt werden. In diesem Sinne haben auch wir uns auf die Schultern von Riesen gestellt, um unsere Gedanken und Ideen zu Musik und Genetik in diesem Buch zusammenzufassen. Damit sind schon gleich die genannt, denen unser erster Dank gilt: denjenigen nämlich, die sich vor uns mit ähnlichen Themen beschäftigt haben, teilweise allein gedanklich und teilweise durch experimentelle Studien. Wir haben einige ihrer Namen und Werke genannt. All denen, die wir nicht namentlich genannt haben, gilt unser Dank aber in gleicher Weise. Wenn wir diese Personen nicht erwähnt haben, so bedeutet das keinesfalls, dass ihre Arbeiten in irgendeiner Weise von geringerer Bedeutung sind als die anderen, von uns zitierten. Nun aber wieder der Reihe nach: Um die Schultern der Riesen zu erklimmen, haben wir Hilfe benötigt und zum Glück auch bekommen. Das waren alle diejenigen, die von Anfang an an unser Projekt geglaubt und uns Mut gemacht haben, überhaupt einmal zu beginnen. Zu nennen sind hier Dr. Sabine Bartnitzke, Lisa, Nina und Moritz Bullerdiek und Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, der zusätzlich auch noch so freundlich war, ein Vorwort zu schreiben. Einmal auf den Schultern unserer „Vorarbeiter“ angekommen, mussten wir uns zunächst an die raue Höhenluft gewöhnen. Außerdem galt es, dort die Balance zu bewahren, eine weitere unerlässliche Voraussetzung für den XI

XII Danksagung

Projektfortschritt und das Gelingen der Unternehmung insgesamt. Neben bereits genannten Personen haben uns viele in dieser Phase geduldig mit Einschätzungen und Informationen versorgt. Prof. Dr. Andreas Otte half uns durch die Bereitstellung von Materialien insbesondere zur Anatomie Johann Sebastian Bachs, und Ismail Mohamed verdanken wir interessante Gespräche über Musik im alten Ägypten sowie die Anregung, die Geschichte von Tutanchamuns Trompeten in das Buch aufzunehmen. Wir danken weiterhin allen Personen und Institutionen, die entweder direkt oder durch entsprechende Lizenzen Abbildungen für dieses Buch zugänglich gemacht haben, im Speziellen Scott Murphy, dem Focke Museum Bremen und dem Bundesarchiv für die Stasi-Unterlagen in Berlin. Mit dem Fortschritt des Buches entstanden auch zahlreiche inhaltliche und logistische Herausforderungen, die wir mit Hilfe von Frau Stefanie Wolf und Frau Dr. Meike Barth vom Springer-Verlag und Philipp von Schönfels erfolgreich meistern konnten. So ist es uns überhaupt nur gelungen, uns auf den Schultern der Riesen zu halten.

Prolog

Abb. 1  Cumae, Blick von der Terrasse des Apollon-Tempels auf das Mittelmeer. Apollon war der griechische Gott der Musik.

XIII

XIV Prolog

Eine Sängerin und ein Genetiker sind auf dem Flug nach Neapel. Die Wetter-App verheißt für Süditalien schöne Frühsommertage, die wir für eine Exkursion nutzen wollen, um dem Mysterium Musik näherzukommen. Die Wahl ist dabei nicht zufällig auf Neapel gefallen. Die Stadt war nicht nur Schauplatz antiker Dramen um Musik, sondern in der Neuzeit auch jahrhundertelang deren unbestrittene Welthauptstadt. Wenn es den viel beschworenen Genius Loci, den Geist des Ortes wirklich gibt, so wartet er hier auf uns, wo angeblich sogar die Alltagsgeräusche die Tendenz haben, zu Musik zu werden. Sieben Tage wollen wir bleiben. „As neither the enjoyment nor the capacity of producing musical notes are faculties of the least use to man in reference to his daily habits of life, they must be ranked amongst the most mysterious with which he is endowed.“ „Da weder die Freude an dem Hervorbringen musikalischer Töne noch die Fähigkeit hierzu von dem geringsten Nutzen für den Menschen in Beziehung zu seinen gewöhnlichen Lebensverrichtungen sind, so müssen sie unter die mysteriösesten gerechnet werden, mit welchen er versehen ist.“

Charles Darwin 1871  in „The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex“.

Die Suche beginnt. Eine Reise nach Neapel Dies nennt man dann wohl ein Vorwort. Vorwort für ein Buch, mit dem es jetzt ernst wird. Die Idee dazu und zu unserer Forschungsreise ist irgendwo auf der Autobahn zwischen Bremen und Hamburg entstanden, als sie, die Sängerin, mir, dem Genetiker, von Wolfsquinten und dem pythagoreischen Komma erzählte. Anfangs habe ich fast nichts davon verstanden, mich aber mit der Erwähnung genomweiter Assoziationsstudien revanchiert und von dem mutmaßlichen Grund für Paganinis lange Finger berichtet. Und damit begann der zugegebenermaßen etwas unkonventionelle Versuch einer Sopranistin und eines Humangenetikers, gemeinsam einem Geheimnis auf die Spur zu kommen: Musik zu hören bereitet den meisten Menschen Freude, und das fängt schon deutlich vor der Geburt an. Ungeborene fühlen sich anscheinend besonders wohl, wenn ihre Mutter Mozart oder Bach hört. Und durch Musik werden sogar Genaktivitäten beeinflusst. Musik liegt also offenbar buchstäblich in unserer DNA, in unseren Genen. Das gilt sowohl für das Hören von Musik, auf das die meisten von uns mit ihren Genen bestens vorbereitet sind, als auch besonders für eigenes Singen und Musizieren. Aber

 Prolog 

XV

warum ist das so? Hat die Evolution hier in großem Maße Ressourcen verschwendet, um etwas zwar sehr Schönes, aber ansonsten ganz und gar Nutzloses in unserer DNA zu fixieren? Oder hat die menschliche Freude an Musik einen praktischen Nutzen, ähnlich wie der Vogelgesang, und wo könnte er liegen? Szenenwechsel: Wir sitzen im Flieger nach Neapel. Die Flugbegleiterin hat inzwischen die Sicherheitseinweisung absolviert und schiebt geduldig fragend ihren Getränkewagen durch den Gang, während sich unter uns die Nachmittagssonne im Chiemsee spiegelt und die Alpen in Sicht kommen. Wir wollen durch die Reise nach Neapel Antworten bekommen auf die Frage nach dem Sinn von Musik, eine Reise in die Heimat der Sirenen der antiken Mythologie und die einstige Welthauptstadt der Musik. In der ursprünglich griechischen Stadtsiedlung wurde die Sirene Parthenope verehrt und nicht weit entfernt liegt der Ort, an dem der Legende nach der Star der antiken Sänger, Orpheus, die Unterwelt wieder verlassen hat. Zuvor hatte er seinen wohl größten musikalischen Triumph gefeiert und mit seiner Kunst die finsteren Geschöpfe der Unterwelt gnädig gestimmt, die daraufhin Eurydike, seine Frau, freigaben. Die Oberwelt erreicht er dann allerdings wieder ohne seine Eurydike, denn er hatte sich unerlaubterweise nach ihr umgedreht, bevor er wieder der Unterwelt entstiegen war: „Wende er nicht zurück den Blick bis dass er gelangt sei aus dem avernischen Tal …“ Viel später dann lässt Mozart seine Oper Così fan tutte in einem Kaffeehaus in Neapel beginnen, am Teatro di San Carlo feiern berühmte Komponisten wie Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti und Gioachino Rossini Triumphe, und hier beginnt und endet das Leben des berühmten Tenors Enrico Caruso. Eine würdige Welthauptstadt der Musik eben, und vor welcher Kulisse lässt sich besser über Musik diskutieren? Wo sonst kommt man der Faszination der Musik so nahe? Hat die Legende von den Sirenen vielleicht sogar einen realen Kern, dem man sich hier naturwissenschaftlich am besten annähern kann? Glaubt man ihr, so konnte mit einer Ausnahme niemand so mit Gesang faszinieren wie diese am Golf von Neapel beheimateten Hybridwesen aus Mensch und Vogel. Die einzige Ausnahme ist Orpheus, der mit seinem Gesang sogar die Unterwelt mit ihren finsteren Bewohnern besänftigte. Kein Wunder, dass die Sirenen und Orpheus auch so etwas wie die heimlichen Protagonisten dieses Buches sind. Aber keine Angst vor der Lektüre, wir werden nicht versuchen zu beweisen, dass in irgendeinem versteckten Winkel der Blauen Grotte von Capri bis heute Sirenen überlebt haben. Genauso wenig werden wir Indizien dafür präsentieren, dass der Mythos von den Sirenen auf besonders sangesfreudige Außerirdische zurückgeht, die in alten Zeiten die Erde besucht haben. Und

XVI Prolog

schließlich wollen wir auch nicht der Tradition mancher Italienreisender folgen und im Teatro di San Carlo in Neapel geheime Notenarchive nach Botschaften von Illuminaten durchsuchen. Unser Ansatz wird sich dem Thema aus wissenschaftlicher Perspektive und in Form von Dialogen nähern. Natürlich können wir dennoch nicht voraussehen, ob am Ende unseres Buches die Leser1 von den Antworten, die wir geben werden, überzeugt sind. Wir können aber versprechen, dass wir auf hoffentlich unterhaltsame Weise interessante Einblicke in Musik und Genetik vermitteln. Während sie aus dem Fenster schaut, lese ich ein bisschen über das Ziel unserer Reise. Neapel ist wie das nahe gelegene Cumae ursprünglich eine griechische Siedlung. Vermutet wird auch eine Art Sirenenkult in dieser frühen Zeit. Ein Heiligtum der Sirene Parthenope soll sich auf dem direkt am Mittelmeer gelegenen Hügel Pizzofalcone befunden haben. Neapel gehörte über viele Jahrhunderte mit Paris und Byzanz zu den drei bedeutendsten Städten der Welt und war im 16. Jahrhundert zweitgrößte Stadt Europas nach Paris. Beginnend schon in der Renaissance und im folgenden Barock fand sich hier eine sehr aktive Musikszene, von der Impulse nach ganz Europa ausgingen. Vom 18. Jahrhundert bis heute ist der Golf von Neapel auch ein Sehnsuchtsort des europäischen Bürgertums, allerdings weniger aus Interesse an der Stadt selbst, sondern vornehmlich wegen der antiken Städte Pompeji und Herculaneum und der Inseln, allen voran Capri. In Baedekers „Italien – Von den Alpen bis Neapel“ von 1903 heißt es: Neapel, italienisch Napoli, die Hauptstadt des ehemaligen Königreichs Neapel, […] mit 547.500 Einwohnern die volkreichste Stadt Italiens, liegt unter 40° 51′ nördlicher Breite an der Nordseite des gleichnamigen Golfs, am Fuß und den Abhang mehrere Hügel, vom Meere aus amphitheatralisch ansteigend. Seine Umgebung ist eine der schönsten der Erde … Sieh Neapel und dann stirb! Sagt ein altes Wort, das auch der geringste Neapolitaner gern im Munde führt. In geschichtlicher und künstlerischer Beziehung steht Neapel hinter den mittelund oberitalienischen Städten zurück; nur die herrlichen Funde aus Pompeji und Herculaneum, welche die Erkenntnis des antiken Lebens von einer neuen Seite erschließen, vermögen hier dauernd zu fesseln.2

Die Beschreibung wird Neapel schon damals nicht gerecht geworden sein und verkannt wird es auch heute noch oft. Ganze Ströme von Touristen nutzen die Stadt selbst oft nur zum Transit, als Umstieg vom Flieger für die Fähren nach Capri, Ischia oder an die Amalfiküste, und verpassen die besondere Stimmung der süditalienischen Metropole. Der deutsche Komponist Hans Werner Henze, der lange in Neapel lebte, beschreibt seine akustischen Eindrücke so: „Die Stadt ist seit eh und je von geheimnisvollen Geräuschen erfüllt, von

 Prolog 

XVII

gellendem Lärm und von beunruhigenden Lauten, und es scheint, dass alles mit Singen zu tun hat, vom Singen herkommt und im Singen endet. Aber es fängt an mit dem Sprechen, nicht Sprechen im europäischen Sinne, es ist ein Durchlaufen aller erdenklichen Klangfarben, immer mit der Tendenz, in Gesang zu münden.“ „Ob da wohl die Sirene Parthenope mit ihrer geheimnisvollen Stimme noch ein wenig mitsummt“, wie Rolf Legler im DuMont Kunst-Reiseführer über den Golf von Neapel fragt? Wir wollen ihrem Summen lauschen und uns genau hier auf die Suche nach den Spuren der Sirenen machen in der Hoffnung, damit auch Antworten auf unsere Fragen nach dem Sinn von Musik zu bekommen. Das Pling beim Aufleuchten der Anschnallzeichen reißt meine Nachbarin aus ihren Gedanken. Der Kapitän kündigt schon den Sinkflug an. Ich glaube, wir freuen uns beide auf die Tage, die vor uns liegen. Allein schon die Ankunft auf dem Flughafen mit dem wohlklingenden Namen Aeroporto di Napoli-­ Capodichino weckt Vorfreude auf eine schöne Zeit in Süditalien. Zum Glück kommen wir schnell an unser Gepäck und nach ein paar vergeblichen Versuchen ist auch ein freies Taxi gefunden, also schnell den Flughafen verlassen. Bei der Fahrt durch den obligatorischen Stau dringen die allgegenwärtigen Hupgeräusche durch die geöffneten Autofenster, aus den Fenstern eines grauen BMW wummern die Bässe und überall das Knattern der Vespas, aber mit etwas Fantasie auch schon der Geruch von Pizza Margherita. Endlich dann die abendliche Ankunft im Hotel. Same procedure as last year? Gepäck abstellen und vor dem Essen ein kurzer Besuch der Dachterrasse, einem idealen Ort, um die Aussicht auf den Golf von Neapel zu genießen. Wir beschließen, unser Thema ein bisschen zu strukturieren, um auch ein Gerüst für die kommenden Tage zu haben, das uns neben der Arbeit Zeit lässt, unseren Aufenthalt zu genießen. Sieben Tage, sieben Themen, die da lauten: Geschichten, Sinne, Vererbung, Tiere, Geschmack, Gefühl und Erhabenheit.

Anmerkungen 1. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit gelten im weiteren Text sämtliche Personenbezeichnungen gleichermaßen für alle Geschlechter. Auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers wird daher verzichtet. 2. Baedekers „Italien – Von den Alpen bis Neapel“, 1903.

Inhaltsverzeichnis

1 Montag – Geschichten  1 2 Dienstag – Sinne 19 3 Mittwoch – Vererbung 53 4 Donnerstag – Tiere 95 5 Freitag – Geschmack115 6 Samstag – Gefühle149 7 Sonntag – Erhabenheit191 Epilog221 Tabelle zu Videos von Musikbeispielen etc. mit Shortlinks225 Glossar227 Stichwortverzeichnis231

XIX

1 Montag – Geschichten

Neapel. Castel dell´Ovo. Im Hintergrund die Insel Capri.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Bullerdiek, C. Süßmuth, Warum Musik in unseren Genen liegt, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67375-1_1

1

2 

J. Bullerdiek und C. Süßmuth

Zusammenfassung  Geschichten haben wir als Titel für den ersten Tag unserer Reise gewählt. Geschichten bezieht sich dabei auf Erzählungen der antiken Mythologie, die eng mit Musik verbunden sind. Orpheus verdankt seinen unsterblichen Ruhm der Kraft seiner Gesänge und konnte damit nicht nur den Gott der Unterwelt beeindrucken, sondern auch selbst zum Helden nahezu unzähliger Opern aufsteigen. Weniger erfreuliche Zeitgenossinnen waren da schon die Sirenen, die unvorsichtigen Seeleuten ein vorzeitiges Ende bereiteten, indem sie sie durch ihre Lieder anlockten. Später wurden sie dann rehabilitiert, stiegen zu Urheberinnen der Sphärenklänge auf und avancierten sogar zu einer Art Kernfiguren eines kosmischen Ordnungsprinzips auf der Basis antiker Harmonielehre. Orpheus und die Sirenen sind Kronzeugen für die Macht der Musik, deren Faszination uns ebenso offensichtlich wie unerklärlich ist. Aber ist sie tatsächlich so unerklärlich oder fehlten uns bisher lediglich die geeigneten Methoden, um hinter die Geheimnisse eines der letzten großen Mysterien zu kommen? Romantisieren wir die Musik und alles hat eine nüchterne wissenschaftliche Erklärung? Oder kann Musik uns mit etwas ergreifen, das rational nicht fassbar ist? Wir sind gespannt, ob wir einer Lösung näherkommen werden. Wir sitzen jetzt im Hotelrestaurant, Caruso Roof Garden heißt es, benannt nach dem Startenor Enrico Caruso, der in diesem Hotel 1921 starb, und schauen auf die Heimat der legendären Sirenen. Die Inselgruppe Li Galli, auf deutsch die Hähne und in der Antike Sirenusen genannt, die Punta Campanella an der Südspitze der Halbinsel von Sorrent oder der Scoglio delle Sirene an der Südküste Capris – irgendwo im Golf von Neapel oder jedenfalls in der Nähe lag der Legende nach ein Felsen mit Bewohnerinnen, deren Gesänge ebenso schön wie gefährlich und sogar tödlich waren (Abb. 1.1). Wer auch immer darauf hereinfiel, wurde zu ihrem Opfer: Die Rede ist von den Sirenen der antiken Mythologie, halb Mensch, halb Vogel. Lebensgefährliche Sucht nach Musik, das schafft heute zum Glück nicht einmal Helene Fischer. Keine Gestalt der antiken Mythologie verkörpert deutlicher die Macht der Musik als die Chimärenwesen der Sirenen und der Sänger Orpheus, beide mit großem Nachhall bis in heutige Zeit. Der Blick von der Terrasse des Restaurants auf das Castel dell’Ovo, den Golf und das lebhafte Treiben auf der Via Partenope ist atemberaubend. Vom wuchtigen, in der Dämmerung schon angestrahlten Castel reicht er nach Osten zum Vesuv und in Richtung Süden bis zu den Lichtern von Capri. Dazwischen irgendwo schiebt sich die Halbinsel von Sorrent in das Panorama und im Westen begrenzt die felsige Küste des Posilippo den Blick. Wie eine gigantische Freilichtbühne öffnet sich so vor uns der Golf von Neapel. Unten von der Via Partenope dringen die Geräusche

1  Montag – Geschichten 

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Abb. 1.1  Einige der Orte, die mit Leben und Sterben der Sirenen in Verbindung gebracht werden. 1: die Inselgruppe Li Galli, deutsch die Hähne, 2: Punta Campanella, die Südspitze der Halbinsel von Sorrent, 3: Scoglio delle Sirene, Capri. 4: Neapel mit vergrößertem Ausschnitt oben links: Stadtgebiet und Castel dell’Ovo. (Karte Golf von Neapel, 1828. Contributor Westphal, Giovanni Enrico. Created/Published [Rome : s.n., 1828], Library of Congress, Washington, USA.)

nur noch sehr gedämpft nach oben. Wir erinnern uns an das Zitat Hans Werner Henzes über die Tendenz der Klangfarben, in Gesang zu münden, allemal nach einem Glas Falanghina. Hungrig denkt es sich nicht besonders gut, aber das Essen ist jetzt bestellt. Komplettes Programm, nur die Pasta wird geteilt. Selbst während des Essens ist es schwer, sich der Romantik des Anblicks zu entziehen. Wir diskutieren über das Plädoyer des deutschen Philosophen Novalis für die Romantik: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

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Ist Musik womöglich eine Art romantisierter Sprache, die wir als Kom­ munikationsform nutzen oder zumindest wahrnehmen können? Sind diese Fähigkeiten letztlich von unseren Genen gesteuert? Vor uns liegen sieben Tage in Neapel, an denen wir darüber nachdenken wollen. Ich versuche, mich aus lange zurückliegenden Schulzeiten an die Geschichte von den Sirenen zu erinnern.

 o man singt, da lass dich bloß nicht ruhig W nieder: Circes Warnung vor den Sirenen Alles beginnt bei Neapel Er:

Sie:

Die Geschichte von den Sirenen stammt von Homer aus der Odyssee, oder? Odysseus muss auf dem Rückweg von Troja in seine Heimat Ithaka allerlei Gefahren bestehen und dazu gehört auch die Fahrt vorbei am Wohnort der Sirenen, der hier in der Gegend gewesen sein soll (Abb. 1.1). Wo auch immer genau dieser Ort war, Circe hatte Odysseus, glaube ich, vorher sehr eindringlich vor den drohenden Gefahren gewarnt. Warte, das ist doch zwischen Antipasti und Pasta schnell mal gegoogelt. Hier, ich hab’s schon. Die Zauberin Circe berät Odysseus für seinen weiteren Weg und warnt besonders vor den Sirenen, denn sie: bezaubern alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret. Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt, und der Sirenen Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen. Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen, die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.

Diese Warnung ist so schon eindringlich genug, aber netterweise belässt es Circe nicht dabei, sondern gibt sogar zusätzliche Hinweise, wie Odysseus und seine Gefährten der Gefahr entgehen können: Aber du steure vorbei, und verkleibe die Ohren der Freunde mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, dass niemand von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören;

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siehe dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe, aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen: dass du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest. Flehst du die Freunde nun an, und befiehlst die Seile zu lösen; eilend fessle man dich mit mehreren Banden noch stärker!1

Ah, geht sogar noch weiter. Odysseus ist vernünftig genug, Circes Ratschlägen zu folgen, und kann daher nach erfolgreich bestandenem Abenteuer selbst über seine Erfahrungen berichten: Aber ich schnitt mit dem Schwert’ aus der großen Scheibe des Wachses Kleine Kugeln, knetete sie mit nervichten Händen; Und bald weichte das Wachs, vom starken Drucke bezwungen, Und dem Strahle des hochhinwandelnden Sonnenbeherrschers. Hierauf ging ich umher, und verkleibte die Ohren der Freunde. Jene banden mich jetzo an Händen und Füßen im Schiffe, Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen; Setzten sich dann, und schlugen die graue Woge mit Rudern. Als wir jetzo so weit, wie die Stimme des Rufenden schallet, Kamen im eilenden Lauf, da erblickten jene das nahe Meerdurchgleitende Schiff, und huben den hellen Gesang an: Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm der Achaier! Lenke dein Schiff ans Land, und horche unserer Stimme. Denn hier steurte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber, Eh’ er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet;… Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen Fühlt’ ich weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle, Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese. Und … legten noch mehrere Fesseln mir an, und banden mich stärker. Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser, Immer leiser, verhallte der Singenden Lied und Stimme. Eilend nahmen sich nun die teuren Genossen des Schiffes Von den Ohren das Wachs, und lösten mich wieder vorn Mastbaum.

So berichtet Homer von der Anziehungskraft der Gesänge der Sirenen und der schauerlichen Umgebung inmitten der Gebeine ihrer Opfer. Mit einem menschlichen Kopf, aber Flügeln und dem Unterkörper eines Vogels werden die Sirenen dargestellt, in der Antike offenbar ein beliebtes Bildmotiv. Hyginus berichtet, deren oberer Körperteil gliche einer Frau, der untere aber einem Huhn (…, quae partem superiorem muliebrem habebant, inferiorem autem gallinaceam) (Abb.  1.2). Aber weder umherliegende Leichen noch ihr abschreckendes Äußeres zählten etwas, verglichen mit ihrem betörenden Ge-

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Abb. 1.2  Nur gefesselt kann Odysseus den Lockungen der Sirenen widerstehen, von denen Hyginus Mythographus berichtet, „ihr oberer Körperteil gliche einer Frau, der untere aber einem Huhn“. Griechischer Stamnos, 480–470 v. Chr., Britisches Museum, London (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Siren_Painter_ARV_289_1_Odysseus_ and_the_Sirens_-­_three_erotes_(02).jpg)

sang. Die musikalischen Fähigkeiten der Sirenen müssen schon durchaus beachtlich gewesen sein, Wohlklang schlug Vorsicht. Aber auch wenn es nicht ganz fair zuging: Nachdem Odysseus ihren Verführungsgesängen nicht erliegt, verlieren die Sirenen abrupt das Zutrauen in ihren Gesang und stürzen sich verzweifelt ins Meer. Zu ergänzen ist noch, dass die Sirenen zuvor bereits einmal in einer Auseinandersetzung den Kürzeren gezogen hatten. Orpheus, der andere große Gesangsstar der Antike, hatte, anders als der listige Odysseus, die Sirenen in einem rein sportlichen Wettbewerb bezwungen. Doch dazu später. Nach einigen Diskussionen über Homer und das Leben an sich sind wir inzwischen beim Dolce angelangt. Und dann noch due caffè, per favore. Immerhin habe ich einigermaßen richtig den Espresso bestellt, sie kritisiert allerdings zu Recht die Aussprache. Caffè ist mit offenem „e“. Von Homer werden seine beiden Sirenen übrigens noch nicht mit Namen genannt, sondern solche finden sich erst in späteren Schriften. Eine der Sirenen hieß danach Parthenope, wohl abgeleitet von griechisch parthenos (Jung-

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frau) und ops (Auge). Wie auch immer, Parthenope wurde der Legende nach am Strand des heutigen Neapel angetrieben und begraben, etwa dort, wo heute das Castel dell’Ovo aufragt. Nach Parthenope wird irgendwann im 8. oder 9. Jahrhundert vor Christus auch die auf dem Pizzofalcone gegründete Stadt benannt und dort, an ihrer Grabstelle, sollen in antiker Zeit zu ihren Ehren jährlich Tieropfer und Fackelumzüge stattgefunden haben. Später wurde dann weiter landeinwärts eine zweite griechische Siedlung, die neue Stadt (= Neapolis), gegründet. Als sich beide Städte vereinigten, verschwand Parthenope als Stadtname. Ihr Name allerdings ist bis heute in der Stadt allgegenwärtig. Bestes Beispiel ist die Via Partenope beim Castel dell’Ovo.

 on komischen Vögeln zu attraktiven Meerjungfrauen V mutiert: Die Sirenen – Evolution eines Mythos So buchstäblich sang- und klanglos sterben lässt indes schon die antike Welt die frustrierten Sirenen nicht: Der Philosoph Platon gehört zu der Gruppe griechischer Philosophen, die ihnen zu einem grandiosen Comeback verhelfen, indem sie nicht nur ihre Zahl auf acht aufstocken, sondern sie auch zu den Hauptverantwortlichen für die Harmonie des Universums machen. Gleichzeitig tritt die Ambivalenz der Sirenen zu Tage: Ursprünglich skrupellose Monster, bekommen sie nun eine verantwortungsvolle Aufgabe innerhalb eines harmonikalen Weltbildes zugewiesen. „Auf den Kreisen derselben [das heißt der Himmelkörper, Anmerkung der Autorinnen] aber säßen oben auf jeglichem eine mitumschwingende Sirene, eine Stimme von sich gebend, jede immer den nämlichen Ton, aus allen achten aber insgesamt klänge dann ein Wohllaut zusammen.“2

Dieser Wohllaut sind die seither viel zitierten Sphärenklänge. Er: Sie: Er: Sie:

Ein echter Chor der Sirenen also! Na ja, so ganz korrekt ist das nicht. Was jetzt? Hier von einem Chor zu sprechen. Chor ist klar definiert als Gruppe von Sängern und/oder Sängerinnen, in der jede Stimmlage mehrfach besetzt ist, und das haben wir hier ja gerade nicht. Der richtige Terminus wäre stattdessen Vokalensemble. Also das Vokalensemble der Sirenen produziert die Sphärenklänge, und wer wäre auch eher für harmonische Töne prädestiniert als die Sirenen mit ihren verlockenden Gesängen.

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Er: Sie:

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Was hat es denn mit diesen Sphärenklängen nun auf sich? Pythagoras von Samos3 (ja, der mit dem Dreieck) und seine Anhänger, die Pythagoreer, nahmen an, dass Sonne, Mond und die damals bekannten fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn bei ihrem Kreisen um die Erde an konzentrischen Sphären fixiert seien. An einer weiteren Sphäre, der äußersten, seien die Fixsterne fixiert. Bei der Bewegung der Sphären beziehungsweise der Himmelskörper käme es durch Reibung zu Klängen, eben den Sphärenklängen, die von den Sirenen herbeigeführt würden. Jedem Himmelskörper beziehungsweise seiner Sphäre sei dabei eine bestimmte Sirene zugeordnet. Die über der Erde thronenden Sirenen tauchen im Bühnenbild zum ersten Intermedium der Komödie La Pellegrina auf (Abb. 1.3).4

Das „Sirenenmotiv“ jedenfalls ist seit der Antike bis in jüngste Zeit immer präsent geblieben, wenn auch natürlich mit zahlreichen Variationen. Der

Abb. 1.3  La Pellegrina, Bühnenbild zum ersten Intermedium. Oben in der Bildmitte sieht man die Göttin der Notwendigkeit mit der Schicksalsspindel, direkt unter ihr die drei Schicksalsgöttinnen (Parzen). Rechts und links davon sitzend die acht Sirenen (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8d/La_pellegrina_1589_-­_ Intermedio_1_-­_L%27armonia_delle_sfere.jpg)

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b­ erühmteste Beleg aus dem Mittelalter stammt wohl von Dante aus seiner Göttlichen Komödie, in der er den Traum von der Begegnung mit einer Sirene beschreibt: „Ich bin,“ war ihr Gesang, „ich bin die süße Sirene, die auf hoher See die Schiffer Verlockt, so voll der Lust bin ich dem Hörer. Ich zog Ulyssen ab von seinem Irrpfad Durch meinen Sang, und wer sich mir gesellet, Trennt kaum sich mehr, so ganz wird er begnüget.“

Er:

Sie:

Das klingt in Dantes mittelalterlicher Dichtung ja längst nicht mehr so gefährlich wie die antiken Beschreibungen. Sirenen light sozusagen. Aber lass mich nochmal auf die Sphärenklänge zurückkommen. Hat nicht später auch Kepler etwas dazu geschrieben? Stimmt, so wie viele andere ebenso. Die antiken Vorstellungen von harmonischen Sphärenklängen und einer harmonikalen Grundordnung wurden bis zur Renaissance und besonders dem Barock immer wieder aufgenommen, unter anderem von Kepler, der die Idee allerdings an ein heliozentrisches Weltbild, in dem nun die Sonne im Mittelpunkt steht, anpasst. Jedenfalls trug die Idee von den Sphärenklängen erheblich zu den Musikvorstellungen des Barocks bei, Musikklänge überirdischen Ursprungs, die von menschlicher Musik lediglich nachgeahmt werden. Die Vorstellung von Sphärenklängen beeinflusst die Musik aber sogar bis heute.

Gustav Mahler schreibt zur Vollendung seiner 8. Symphonie: „Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht. Und so eigentlich in Inhalt und Form, dass sich darüber gar nicht schreiben lässt. Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen.“

Auch danach noch wird das Thema Sphärenklänge immer wieder in der Musik aufgegriffen. So veröffentlicht im März 2008 der britische Musiker Mike Oldfield ein Album mit dem Titel Music of the Spheres. In der Antike jedenfalls wurde die Fähigkeit zu solcher überirdischen Musik neben den Sirenen nur einem einzelnen Sänger, nämlich Orpheus, zugeschrieben. Damit kommen wir jetzt zu dem anderen musikalischen Superstar der antiken Mythologie – Orpheus.

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„ Sein sanftes Trauerlied, sein banger Klaggesang weckt unser Mitgefühl, stimmet uns mild für ihn, hat uns besiegt“ – Orpheus rührt mit seinem Gesang sogar die Furien der Unterwelt Orpheus und Eurydike: Stoff nicht nur für eine Oper Den meisten Überlieferungen zufolge war Orpheus ein Sohn des Apollon, der seinerseits als Gott unter anderem für die Musik zuständig war. Als Orpheus’ Mutter gilt Kalliope, Muse unter anderem des Saitenspiels. Mit Kalliope hatte Apollon noch einen weiteren Sohn, Linos, der ebenfalls ein begnadeter Sänger gewesen sein soll. Auch wenn nicht überliefert ist, dass sich die vier je zu gemeinsamer Hausmusik zusammengefunden haben, sollte die Freude an der Kunst also schon mal in der Familie liegen, die musikalischen Äpfel sind also nicht weit vom Stamm gefallen. Ganz klar scheinen die Elternverhältnisse allerdings nicht, wie wir das durchaus auch aus anderen Familien in der griechischen Mythologie kennen. So nennen andere Quellen den thrakischen König Oiagros als Vater des Orpheus. Aber lassen wir unklare Vaterschaften einmal beiseite und beschäftigen uns mit den Taten des Orpheus. Sein Ausflug in die Unterwelt ist sicher das bekannteste Beispiel für die Macht seines Gesanges. Was war passiert? Orpheus’ jungvermählte Frau Eurydike war beim ausgelassenen Tanzen auf eine Giftschlange getreten, die, so bedroht, zugebissen hatte. Eurydike war an diesem Schlangenbiss gestorben und anschließend, wie es sich damals gehörte, als Schatten in die Unterwelt, den Hades, geschickt worden. Das wiederum möchte Orpheus verständlicherweise nicht widerstandslos hinnehmen, zumal alles andere als klar ist, ob in der Unterwelt das paradiesische Elysium Eurydikes zukünftiger Aufenthaltsort sein wird oder sie auf ewige Zeiten dort unten als freudloser Schatten herumirren muss. Also besinnt er sich rechtzeitig seiner besonderen Fähigkeiten. Er wagt es, in einem letzten verzweifelten Befreiungsversuch in die Unterwelt zu steigen, und trifft dort den finsteren Pluto, den König der Unterwelt, der bei den Schatten waltet im freudlosen Reich, sowie dessen Gemahlin Persephone. Als Orpheus zu singen beginnt, können weder Pluto noch Persephone seiner Bitte widerstehen und rufen Eurydike herbei. Die hält sich zum Glück noch bei den neu in die Unterwelt eingelieferten Schatten auf und kommt mit verzögertem Schritt, von der Wunde gehindert, herbei. Orpheus bekommt seine Gemahlin schließlich zurück unter der Bedingung, dass er zurück nicht wende den Blick, bis dass er gelangt sei aus dem avernischen Tal; sonst wär’ er der Gabe verlustig, d. h., Eurydike müsse wieder zurück in die Unter-

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welt. Aufwärts steigen sie jetzt durch schweigende Öde den Fußpfad, schroff, voll düsteren Grauns und umstarrt von finsterem Dunkel. Nicht mehr waren sie fern vom Rande der oberen Erde, als Orpheus sich nicht mehr beherrschen kann und sich liebend umschaut. Sofort passiert, was für diesen Fall angedroht war: Zurück gleich ist sie gesunken. Sehnlich die Arme gestreckt, auf dass er sie fasse und selber werde gefasst, hascht nichts denn weichende Lüfte der Arme. Eurydike, so wird ausdrücklich vermerkt, beklagt sich unterdessen nicht über ihren Gatten, denn was auch war zu beklagen für sie, als dass sie geliebt war? Scheidenden Gruß, den kaum sein Ohr noch konnte vernehmen, rief sie ihm zu und wurde gerafft zu der vorigen Stätte. Orpheus aber ist starr von dem zwiefachen Tode der Gattin. Beschrieben hat die Geschichte Ovid in seinen Metamorphosen, einer Art Yellow Press der antiken Mythologie. Die traurige Geschichte steht später im Mittelpunkt diverser Opern, denen sogar eine eigene Wikipedia-Seite gewidmet ist („Orpheusopern“).5 Besonders beliebt war das Thema im Barock. So behandelt sogar die älteste Oper, deren Musik noch bekannt ist, Euridice von Jacopo Peri (Uraufführung 1600 in Florenz), die Geschichte des Orpheus und seiner Gemahlin. Die drei bekanntesten Opern dieser Gruppe stammen aber wohl von Claudio Monteverdi (L’Orfeo, Uraufführung 1607  in Mantua), Christoph Willibald Gluck (Orfeo ed Euridice, Uraufführung 1769 in Parma) sowie Jacques Offenbach (Orphée aux enfers, Uraufführung 1858 in Paris). Teilweise erstaunlich geringe Werktreue in Bezug auf Ovids Dichtung zeigen die Librettisten der Werke, insbesondere was den Showdown angeht. Schon in Peris Oper Euridice gelingt es Orpheus entgegen der antiken Vorlage, Eurydike wohlbehalten an die Oberfläche zu bringen, und beide dürfen in der letzten Szene ihr zweites Leben feiern. Monteverdis L’Orfeo entspricht dagegen von den genannten am ehesten der Handlung aus Ovids Metamorphosen. Es gelingt Orpheus, in die Unterwelt zu gelangen, und Pluto gibt unter dem Eindruck des Gesanges Eurydike frei, verknüpft mit der schon bekannten Bedingung: „Gegen den Willen des Schicksals soll Orpheus seine geliebte Eurydike wiederfinden; doch bevor sein Fuß nicht diese Abgründe verlassen hat, darf er seinen verlangenden Blick nicht nach ihr wenden, denn durch nur einen einzigen Blick wird sie für immer verloren sein.“ Orpheus gibt aber auf dem Rückweg seinem Verlangen nach, wendet sich um und verliert Eurydike damit ein zweites Mal. Nachdem der Chor der Geister Orpheus mangelnde Selbstbeherrschung vorgehalten hat, versucht sein vom Himmel herabsteigender Vater Apollon ihn zu trösten; die Oper endet in einem Pseudo-Happy-End. Apollon und Orpheus schweben gemeinsam gen Himmel: „Singend steigen wir zum Himmel empor, wo die wahre Tugend den ihr gebührenden Preis erhält: Freude und Frieden.“ Nach der armen

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Eurydike wird indes nicht mehr viel gefragt, nachdem einer der anwesenden Geister ihr zuvor alle Hoffnung genommen hatte: „Kehre zurück zu den Schatten des Todes, unglückliche Eurydike; hoffe nie mehr, die Sterne wiederzusehen, denn die Hölle wird taub für deine Bitten sein.“ Deutlich besser mit Orpheus meinen es dann wieder Gluck und sein Li­ brettist Ranieri de’ Calzabigi in Orfeo ed Euridice (Abb. 1.4). In der Unterwelt lassen sich die Furien und Geister zunächst überhaupt nicht erweichen und verweigern ihm den Eintritt: „Misero giovane, che vuoi, che mediti …“  – „Jammernder Sterblicher, was willst, was suchst du hier? Dunkel und Mitternacht, Ächzen und Winseln wohnt in diesen schrecklichen, traurigen Kreisen! Was willst, was suchst du hier, jammernder Sterblicher? Was?“ Schließlich gelingt es

Abb. 1.4  Kostümentwürfe für Glucks „Orpheus und Eurydike“: Orpheus und eine Chorsängerin. Jeweils oben links gestempelt A. Uzel & Sohn (K. u. K. Kammer u. Hoflieferant), Feder, Tusche, Aquarell, Deckweiß, in mit gedruckter Bordüre versehenem Karton, 34  x  20  cm, Wien, ca.  1910. (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/80/Uzel_Kostüm-­entwurf_Orpheus_für_Orpheus_und_Eurydike.jpg; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f8/Uzel_Kostümentwurf_Chor_für_Orpheus_und_Eurydike.jpg)

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Orpheus dann aber doch, sie mit seinem Gesang zu besänftigen: „Sein sanftes Trauerlied, sein banger Klaggesang weckt unser Mitgefühl, stimmet uns mild für ihn, hat uns besiegt. Öffnet, ihr ewigen, ehernen Pforten, euch! Lasst in die Unterwelt ruhig den Helden ziehn, der uns bezwang!“ Es gelingt ihm so, Eurydike zu befreien und mit ihr den Weg nach oben anzutreten. Unterwegs dreht sich Orpheus aber wie gehabt nach Eurydike um, um sie zu beruhigen. Als er sie dadurch scheinbar schon endgültig verloren hat, greift in diesem Fall Gott Amor in das Geschehen ein: „So zweifelt nie an meiner Macht! Kommt mit zur Oberwelt aus diesem Ort der Nacht und genießt dort auf ewig der Liebe Seligkeit.“ So darf sich Eurydike weiter mit Orpheus ihres Lebens freuen – „Trionfi Amore“. Jacques Offenbach schließlich zeigt mit Orpheus in der Unterwelt (Orphée aux enfers) (Abb. 1.5) so gar kein Einfühlungsvermögen in antike Gefühlswelten und liefert entsprechend eine vollkommen respektlose Persiflage der Ovid’schen Dichtung ab. Das beginnt schon damit, dass Eurydike nicht in die Ferse gebissen wird und dementsprechend auch die Schlange fehlt. Stattdessen ist es in guter Dracula-Art Pluto selbst, der Eurydike in den Hals beißt, nachdem sie sich zuvor einem Abenteuer nicht abgeneigt gezeigt hatte. Durch seinen Biss ist sie nun endgültig ihm und der Unterwelt verfallen. Oder jedenfalls stellt er sich das zunächst so vor, zumal auch Orpheus das Ganze gar nicht sonderlich traurig stimmt, weil er schon seit Längerem mit Nymphe Chloé herumturtelt. Erst die öffentliche Meinung veranlasst ihn schließlich zu seinem Ausflug in die Unterwelt: „Du musst diesen Schritt tun zur Erbauung der Nachwelt, damit diese wenigstens einen Gatten nenne, der seine Frau, die unter der Erde war, wieder auf der Erde sehen wollte. Gewöhnlich ist das Umgekehrte der Fall. Dafür versprech’ ich dir aber auch, dass dein Name im Konversations-Lexikon prangen wird.“

Das mit dem Lexikon hat ja geklappt, denn, ob gewollt oder eher nicht („Aber ich liebe sie ja nicht“), Orpheus macht sich nach einigem Hin und Her schließlich auf in die Unterwelt. Auch Offenbachs Oper folgt an dieser Stelle insofern der Ovid’schen Vorlage, als Orpheus Eurydike zunächst erfolgreich aus der Unterwelt befreien kann. Schließlich missgönnt Jupiter aber Orpheus die Angetraute. Er schleudert kurz vor der rettenden Oberfläche einen Blitz, woraufhin sich Orpheus mit den schon bekannten Folgen umdreht. Jupiter ist allerdings immer noch nicht zufrieden und missgönnt nun auch seinem Bruder Pluto die Eurydike. Sein Entschluss: „Nein, eine Bacchantin mach’ ich jetzt aus ihr.“ Man ahnt, dass die Handlung reichlich gesellschaftskritische Anspielungen enthält. Kaiser Napoleon III., obwohl selbst Ziel solcher An-

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Abb. 1.5  Poster zu Jacques Offenbachs „Orphée aux enfers“ (Orpheus in der Unterwelt). Lithografie (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1878_poster_for_Jacques_ Offenbach%27s_Orphée_aux_enfers.jpg)

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spielungen, soll dennoch mit großem Vergnügen die Vorstellung besucht haben. Jedenfalls ist Offenbachs Operette ein ziemlich munter-freches Werk. Dazu passt, dass er auch noch eine Arie aus Glucks Orfeo ed Euridice musikalisch zitiert: „Che farò senza Euridice“ (Ach, ich habe sie verloren). Insgesamt gibt es fast 70 Opern, die sich dem Thema Orpheus widmen, vom frühen 17. Jahrhundert bis in unsere heutige Zeit. Das ist als Opernmotiv mindestens rekordverdächtig. Viel seltener dagegen sind übrigens Opern über die Sirenen, die allerdings, anders als Orpheus, auch mit sehr viel gutem Willen kaum als echte Sympathieträgerinnen herhalten können. Dennoch haben sogar sie einige Male den Stoff für Opern geboten, ein zeitgenössisches Beispiel ist die Oper Sirenen – Bilder des Begehrens und des Vernichtens von Rolf Riehm, in der der sterbende Odysseus versucht, über die Sirenen Einblicke in den Sinn des Lebens zu erhalten. Eine andere Oper aus neuester Zeit handelt sogar vom einzigen aus der griechischen Mythologie überlieferten Zusammentreffen von Orpheus mit den Sirenen. Die hatten nämlich vor ihrer Begegnung mit Odysseus bereits eine herbe Niederlage einstecken müssen. In einem durchaus sportlichen Wettkampf zogen sie den Kürzeren gegen den anderen großen Gesangsstar der antiken Mythologie. Orpheus hatte als Crewmitglied auf einem Beutezug mit den Argonauten ebenfalls den Felsen der Sirenen passieren müssen und es gelang ihm allein mit seinem Gesang, die Kameraden von den Sirenen abzulenken. Vermischt mit Motiven der Odyssee ist dies der Inhalt der Oper Argo von José María Sánchez Verdú.6

Harmonie und Romantik als Erfolgsrezept? Alle Opern haben jedenfalls gemeinsam, dass Orpheus zunächst mit seinem Gesang erfolgreich ist. Aber was machte seinen Gesang, ebenso wie den der Sirenen, so unwiderstehlich und Orpheus damit auch über das Konversationslexikon hinaus unsterblich? Beide Motive, die Sirenen und Orpheus, werden sogar regelmäßig in der darstellenden Kunst aufgenommen und bearbeitet. Zu den berühmtesten Beispielen gehören Marc Chagalls zwei Wandgemälde für die Metropolitan Opera in New York, The Triumphs of Music (Abb. 1.6) und The Sources of Music, mit denen er gleich beide Motive aufnimmt. In beiden Fällen, nämlich bei Orpheus und den Sirenen, haben wir es im Grunde mit Interaktionen von Sender und Empfänger zu tun. Als primäre Botschaft wird dabei die Schönheit des Gesanges hervorgehoben, nicht der Liedtext und nicht die Instrumentalbegleitung. Zwar haben die Sender, Orpheus und die Sirenen, jeweils unbestritten besondere Fähigkeiten, die ihnen

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Abb. 1.6  Marc Chagall: The Triumphs of Music, Wandgemälde, Metropolitan Opera, New York City

aber nicht helfen würden, gäbe es nicht auf Seiten der Empfänger die entsprechenden Zielstrukturen, um die suggestive Botschaft aufzunehmen. Beides ist potenziell genetisch hinterlegt. Doch kommen wir zunächst noch ein-

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mal zu den besonderen gesanglichen Fähigkeiten der Protagonisten. Warum konnten sie mit ihren Gesängen so faszinieren oder warum wurde in den Mythen dem Gesang der Sirenen und des Orpheus so viel manipulative Kraft zugeschrieben? Er: Sie: Er: Sie:

Er:

Liegt die Faszination in der perfekten Harmonie? Die perfekte Harmonie gibt es nicht. Kann es auch gar nicht geben. Kann es nicht geben, weil ihr Perfektionisten seid? Oder kann es nicht geben, weil es sie wirklich nicht geben kann? Kann es nicht geben, weil es sie nicht geben kann. Aber dazu müsste ich jetzt etwas ausholen. Darüber, wie und ob sich Musik definieren lässt. Und dass es keineswegs immer nur die Wohlklänge sind, die faszinierende Musik ausmachen. Aber vielleicht kommen wir mit Plato weiter, der sagt: „Darum ist die Musik der wichtigste Teil der Erziehung. Rhythmen und Töne dringen am tiefsten in die Seele und erschüttern sie am gewaltigsten.“ Könnte die Musik Botschaften im Sinne von Novalis „romantisieren“, weil sie im Gehirn für zusätzliche Verknüpfungen mit anderen Sinneseindrücken sorgt, Romantisieren durch Musik also? Ich fürchte, da kann ich heute Abend nicht mehr so gut folgen. Das Essen, der Wein, schon fast Mitternacht, meine Kapazität für so komplexe Fragen ist erschöpft.

Da außerdem ein anstrengender Reisetag hinter uns liegt, schlägt sie vor, uns auf morgen zu vertagen, und ich stimme dem Vorschlag gerne zu, zumal bei mir die Wirkung des Espresso schon wieder allmählich nachlässt.

Anmerkungen 1. Homer, Odyssee, 12. Gesang. 2. Platon, Politeia. Platon (428/427 bis 348/347 vor Christus) war ein antiker griechischer Philosoph. 3. Pythagoras, griechischer Philosoph, ca. 570 bis ca. 495 vor Christus. 4. Musik: ▶ sn.pub/8FLyGY. 5. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Orphean_operas, dazu ▶ sn.pub/5PooY5. 6. Libretto Gerhard Falkner, Uraufführung 2018, Rokokotheater Schwetzingen.

2 Dienstag – Sinne

Neapel. Piazza Bellini.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Bullerdiek, C. Süßmuth, Warum Musik in unseren Genen liegt, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67375-1_2

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Zusammenfassung  Sinne sind das Thema unseres zweiten Tages, an dem wir uns damit beschäftigen wollen, welche Stationen Schallwellen im Ohr passieren und wie sie von Station zu Station weitergeleitet werden. Mittelohr, Innenohr, Amboss, Hammer, Steigbügel und Schnecke sind Begriffe, an die wir uns noch aus der Schulzeit mehr oder weniger vage erinnern, aber ein bisschen Wiederholung kann ja nicht schaden. Außerdem geht es noch um die Frage, wie aus Schallwellen Nervenimpulse werden, die schließlich das Ohr in Richtung Gehirn verlassen. Und auch damit sind weder wir noch die Schallwellen schon am Ende. Weiterhin warten zum Beispiel Antworten auf die Frage nach dem Wie und Wo der Verarbeitung und Speicherung von Geräuschereignissen im Gehirn. Damit die Erinnerung an die Schule noch weiter intensiviert wird, wollen wir schließlich auch die Physik der Schallwellen nicht vergessen. Wir fragen, was der Unterschied zwischen Tönen, Klängen und Geräuschen ist, und haben am Ende dann unser Wissen über den Gehörsinn ein bisschen aufgefrischt. Am nächsten Morgen sind wir nach einem späten Frühstück aus dem Hotel aufgebrochen. Ich finde die Temperatur noch sehr angenehm. Die Restaurants an den Straßen bereiten bereits alles für die Mittagsgäste vor und wir genießen das Flair Neapels. Sie schlägt vor, als Nächstes die Piazza Bellini anzusteuern, für uns beide einer der schönsten Plätze Neapels und gleichzeitig beliebter Treffpunkt für Studierende des nahen Konservatoriums. Wir finden auf dem Platz ein nettes Café, unter uns die Reste der ausgegrabenen Stadtmauer der antiken Neapolis, nach Parthenope der zweiten griechischen Siedlung im Stadtgebiet des heutigen Neapels. Wir nehmen unser gestriges Thema wieder auf, während sich auf seinem Sockel unterdessen der versteinerte Namensgeber des Platzes, Vincenzo Bellini, weigert, in unsere Richtung zu schauen. Was mich angeht, so hat er für seine Verachtung auch allen Grund, denn außer dass er Komponist war, weiß ich praktisch gar nichts über ihn.

2  Dienstag – Sinne 

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 usik – Versuch einer Definition. Was und wie M gesendet wird: Von Tönen, Klängen und Geräuschen. Die menschliche Stimme und die Tastatur des Klaviers  challwellen und ein bisschen Physik. Wie ein Ton zum S Klang wird und was beide vom Geräusch unterscheidet Er: Sie: Er: Sie:

Willst du uns den Namensgeber dieses Platzes nicht vorstellen? Warum ich? Dein Kollege, wenn auch ein paar Generationen älter. Na gut. Bellini, Vincenzo Bellini, bedeutender italienischer Komponist mit der Lizenz zur Oper (Abb.  2.1). Anfang 19. Jahrhundert. Bekannteste Oper ist Norma. So viel mehr weiß ich aber auch nicht. Ich schau mal nach. Italien hat sein Bild sowohl für eine Banknote als auch für eine Briefmarke aufleben lassen. Er lebte von 1801 bis 1835 und gilt als wichtiger Vertreter des italienischen Belcanto. Bellini ist auf Sizilien geboren und zog

Abb. 2.1  „Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll, das gab es lange vor den Rolling Stones: Vincenzo Bellini würde heute mindestens als Superstar firmieren.“ (Meißner T, 2016: Vincenzo Bellini. Heilberufe 68, 74 (2016). https://doi.org/10.1007/s00058-­016-­2186-­4): Vincenzo Bellini, um 1830. Anonym, Gouache. (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/9/90/Vincenzo_Bellini_%281801_-­1835%29%2C_by_Anonymous.jpg)

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Er: Sie:

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1819 zum Studium nach Neapel, wo er bis zum Ende der 1820erJahre überwiegend auch arbeitete. Und stammt aus einer Musikerfamilie. Vater und Großvater waren Kirchenmusiker. Der Bellini Cocktail ist übrigens nicht nach ihm benannt. Trotzdem ziemlich jung gestorben. Bei Wikipedia steht, es gäbe sogar den Verdacht, er sei vergiftet worden. Ansonsten sollten wir bestellen, der Espresso ist bestimmt nicht vergiftet.

Wieder „Prendiamo due caffè, per favore“. Diesmal aber mit offenem „e“. Nach der lauten Via Toledo genießen wir die Stille der Piazza Bellini, von den Nebentischen erreicht uns nur leises Gemurmel. Dann hören wir tatsächlich Gesang: „Vissi d’arte, vissi d’amore“, die berühmte Arie der Tosca aus Puccinis gleichnamiger Oper.1 Ganz in unserer Nähe liegt das berühmte Conservatorio San Pietro a Majella, eine der traditionsreichsten musikalischen Ausbildungsstätten der Welt. Hervorgegangen ist es aus vier einzelnen Konservatorien, über die Neapel noch im 17. und 18. Jahrhundert verfügte. Sie haben schon in der Renaissance und dann besonders im Barock wesentlich zum Ruf Neapels als Hauptstadt der musikalischen Welt beigetragen. Dort entwickelte sich im 18. Jahrhundert mit der sogenannten Neapolitanischen Schule eine eigene Opernstilrichtung, die auch die Musik Bachs und Händels beeinflusste. An den neapolitanischen Konservatorien lehrten später unter anderem Gioachino Rossini und Gaetano Donizetti und auch der schon erwähnte Bellini studierte dort. Vielleicht hilft ja der Genius Loci ein bisschen bei unseren Überlegungen. Gestern waren wir bei der faszinierenden Musik der Sirenen und des Orpheus stehen geblieben. Dem Mythos folgend lösten sie allein durch ihre Gesänge unvergleichliche Wohlgefühle aus, die ihre Zuhörer im Falle der Sirenen sogar alle Vorsicht vergessen ließen. Erst in der Neuzeit scheinen zunehmend Zweifel aufzukommen, ob die Anziehungskraft der Sirenen allein auf ihrem Gesang beruht, und die Sirenen beginnen zu mutieren. Insbesondere erotische Reize werden in den künstlerischen Darstellungen betont, während eher abschreckende Attribute wie die Vogelbeine gleichzeitig ersetzt werden. Die Sirenen erinnern so an Meerjungfrauen (Abb. 2.2). Wie auch immer verfügten sie ebenso wie Orpheus über die außerordentliche Fähigkeit, durch ihren Gesang zu faszinieren. Eine Fähigkeit allerdings, die sich immer nur in der Interaktion von Sender und Empfänger entfalten kann. Die Faszination, die vom Gesang ausgeht, kann sich ja nur dadurch manifestieren, dass der Empfänger über die geeigneten „Strukturen“ verfügt, um sich bewusst oder unbewusst daran zu erfreuen. Beides müssen wir im

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Abb. 2.2  In neuzeitlichen Darstellungen verlassen die Sirenen sich nicht mehr allein auf ihre Sangeskünste. Im gezeigten Beispiel mutieren sie durch erotische Darstellung sowie den Verlust von Vogelbeinen und Flügeln. Odysseus und die Sirenen. Öl auf Leinwand. Herbert James Draper, 1909. (https://en.wikipedia.org/wiki/Ulysses_and_the_Sirens_(Draper)#/media/File:Ulysses_and_the_Sirens_by_H.J._Draper.jpg)

Blick behalten, wenn wir versuchen wollen, Musik aus dem Blickwinkel der Genetik zu verstehen. Und auch wenn die Faszination in der Regel nicht so extrem ausgeprägt ist wie beim Gesang Orpheus’ und der Sirenen, so haben Menschen kulturübergreifend und durch alle Zeiten der Menschheitsgeschichte Freude daran empfunden, Musik zu hören. Musik wurde in den antiken Hochkulturen als Gabe der Götter angesehen. Charles Darwin nennt sie 1871 das größte Mysterium, mit dem der Mensch ausgestattet ist, und noch zu Anfang des 20.  Jahrhunderts spricht der Psychologe und Musikforscher Friedrich Carl Stumpf von der Musik als göttlichem Funken in der menschlichen Seele. Die Freude an der Musik ist anscheinend auch schon bei Ungeborenen vorhanden und uns damit quasi in die DNA gelegt. Viel zitiert wird jedenfalls eine Studie, bei der es um den vorgeburtlichen Einfluss von Musik geht. Kontrovers diskutieren dagegen Kognitionswissenschaftler/-innen die Annahme, dass Musizieren die kognitiven Leistungen fördere. Wir wollen beides später noch ausführlicher diskutieren. Vorerst sind grundsätzlichere Fragen zu klären. Zum Beispiel, was da überhaupt gesendet wird.

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Was ist denn überhaupt Musik? Oha, jetzt wird es aber wirklich grundsätzlich. So ganz einfach lässt sich Musik nicht definieren. Ich erinnere mich an eine ältere Version bei Wikipedia. Danach ist Musik eine Kunstgattung, deren Werke aus organisierten Schallereignissen bestehen, deren Sinn und Zweck das Hervorrufen einer Empfindung ist. Zu ihrer Erzeugung wird akustisches Material, wie Töne, Klänge und Geräusche, innerhalb des für Menschen hörbaren Bereichs geordnet. Auch hier wieder die Dualität von Sender und Empfänger. Aktiv sind die Sender. Sie schaffen bewusst, nämlich mit dem Ziel, beim Empfänger eine ästhetische Empfindung auszulösen, organisierte Schallereignisse. Aber ich schlage vor, wir gehen einige der Begriffe der Reihe nach durch. Das würde es mir leichter machen. Können wir dann später bei der Genetik natürlich umgekehrt auch machen. Ja, einige Grundlagen können nicht schaden. Hier sind es ein paar Kenntnisse über die Physik von Tönen und Klängen, Frequenzen, Timbre, Intervalle, Oktaven, Quinten, Stimmungen … Ziemlich viele Begriffe. Entschuldige, aber du guckst auch etwas leer. Ich glaube, ein bisschen Wiederholung und Vertiefung könnte mir in der Tat helfen. Reste sind ja vielleicht doch noch vorhanden. Und außerdem festigt Wiederholung. Fangen wir mal auf der Empfängerseite mit dem sogenannten Hörfeld an, das angibt, in welchen Bereichen wir als Menschen Töne hören. Neben der Frequenz des jeweiligen Tones hängt das auch noch von der Lautstärke ab. Damit lässt sich das Hörfeld in ein Koordinatensystem eintragen. Eine Achse bildet dabei die Frequenz der Schwingung, die andere Achse die Lautstärke (Abb. 2.3).

Nun kommen wir zur Sender-Seite. Dort werden also Schallereignisse, meistens Töne, hervorgerufen, sei es mit Hilfe der eigenen Stimme oder mit Hilfe von Musikinstrumenten, z. B. einem Klavier. Töne, auch Sinustöne genannt, sind Schwingungen. Deren Frequenz wird in Hertz, abgekürzt Hz, also Schwingungen pro Sekunde, angegeben. Je höher die Frequenz, umso höher ist auch der Ton und umgekehrt. Reine Töne können allerdings nur elektronisch erzeugt werden. Zeichnet man einen Sinuston im Oszillogramm auf, so bekommt man eine periodische Kurve mit einer Schwingung (Abb. 2.4). Al-

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Abb. 2.3  Hörfläche des (normalhörenden) Menschen als Schalldruckpegel (Dezibel, y-Achse) in Abhängigkeit von der Frequenz (Hertz, x-Achse). Die gestrichelte Linie beschreibt eine mögliche Hörkurvenveränderung durch übermäßige Hörbelastung (z. B. laute Musik). (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hörfläche.svg)

Sinuston

Klang

Geräusch

Abb. 2.4  Oszillogramme von Ton, Klang und Geräusch. Die Kurven von reinem Sinuston und die überlagernden Töne von Klängen bilden periodische Kurven, bei den Geräuschen ist das nicht der Fall. Hier sind die Schwingungen nicht periodisch. (https:// de.wikipedia.org/wiki/Klang; https://de.wikipedia.org/wiki/Geräusch)

lerdings produzieren weder Musikinstrumente noch die Stimme im strengen Sinne Töne, sondern immer einen Klang, bei dem neben dem Grundton mehrere weitere Töne mitschwingen. Diese Obertöne sind bei den meisten Musikinstrumenten und der menschlichen Stimme Schwingungen mit ganzzahligen Vielfachen der Frequenz des Grundtones. Das heißt, zum Beispiel

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bei einem angenommenen Grundton von 100 Hz schwingen Obertöne mit Frequenzen von 200 Hz, 300 Hz, 400 Hz, 500 Hz, 600 Hz und so weiter mit. Die Einzeltöne aus Grundton und Obertönen überlagern sich im Oszillogramm zu einer komplexen Kurve, die aber periodisch bleibt. Man spricht auch davon, dass solche Teiltöne harmonisch sind. Die Zusammensetzung der Klänge erzeugt dann übrigens die Klangfarbe oder das Timbre. Im Gegensatz zu Tönen und Klängen sind Geräusche nicht periodisch, wie man ebenfalls im Oszillogramm gut sieht (Abb. 2.4).

Sie:

Halt, kurze Pause und nochmal zurück: Heißt das, wenn ich auf dem Klavier eine Taste anschlage, erzeuge ich gar keinen Ton, sondern einen Klang? Genau so ist es. Und apropos Klavier. An der Tastatur kann man noch ein paar andere Sachen ziemlich gut veranschaulichen, zum Beispiel die Intervalle und die Lage der Töne. Das Klavier gehört zu den Musikinstrumenten mit dem größten Tonumfang. Seine Tastatur deckt tatsächlich den überwiegenden Teil des musikalisch relevanten Bereiches ab. Es hat dazu 52 weiße und 36 schwarze Tasten, zusammen also 88 Tasten (Abb.  2.5). Die zugehörigen Töne werden von links nach rechts höher, das heißt,

AH C D E F G A H C D E F G A H C D E F G A H C D E F G

1760

880

440

220

110

hoch 55

tief Frequenz (Hertz)

3520

Er:

HC D E F G A H C D E F G A HC D E F G A H C

Kammerton A

Geige Cello E-Gitarre Horn in F Trompete in B Harfe

Abb. 2.5  Die Tastatur des Klaviers, verändert aus (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a6/Cartoon_Piano_Keyboard.jpg?uselang=de), und die Tonumfänge einzelner Musikinstrumente. (Michels U, Vogel G, 2020: DTV Atlas Musik. 6. Auflage, München.)

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Er: Sie: Er:

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ihre Frequenz nimmt zu. Die Tastatur umfasst siebeneinviertel Oktaven, jeweils bestehend aus acht Ganz- beziehungsweise Halbtönen der Tonleiter. Die C-Tasten zum Beispiel findet man ganz schnell, wenn man sich an den schwarzen Tasten orientiert, bei denen sich Zweier- mit Dreierblöcken abwechseln. Sie liegen immer links vor dem Beginn eines Zweierblocks und sind „zuständig“ für die C-Töne. Welcher Frequenz die Tasten entsprechen, hängt grundsätzlich davon ab, wie das Klavier gestimmt ist. Nach einer theoretisch international gültigen Übereinkunft ist der Kammerton A auf 440 Hz festgelegt oder zumindest hat man sich 1939 darauf geeinigt, dass das so sein soll. Was noch lange nicht heißt, dass es auch immer so ist. In manchen Ländern und von manchen Dirigenten wird eine andere Stimmung des ­Kammertons A bevorzugt. Dann „bewegen“ sich die anderen Frequenzen natürlich mit. Alles eine Frage der Stimmung also. Warum heißt der eigentlich Kammerton? Früher hat man zwischen Kammertönen, den Tönen für die Musikräume des Adels, und dem Kirchenton, auch Orgel- oder Chorton, unterschieden. Das führt uns aber wieder etwas weg. Aber es bleibt bei Tönen, die eigentlich Klänge sind, oder?

„ Wenn es nicht wahr ist, ist’s doch gut erfunden“: Die Lüge von Pythagoras in der Schmiede Sie:

Das ist jetzt Besserwisserei, um nicht ein schlimmeres Wort zu verwenden. Ganz korrekt meine ich natürlich Grundtöne. Aber jetzt lass mich erstmal zu Ende erklären. Angeblich hat Pythagoras als Erster beschrieben, dass zusammen erklingende Töne konsonant oder dissonant sein können, also gut oder nicht gut miteinander klingen. Einer sehr weit verbreiteten Anekdote nach soll er beim Besuch einer Schmiede festgestellt haben, dass gleichzeitige Hammerschläge nicht immer gut zusammenklingende Töne erzeugten, sondern nur dann, wenn die Gewichte der Hämmer zueinander in Verhältnissen standen, die mit niedrigen ganzen Zahlen zu beschreiben sind (Abb. 2.6). Die Anekdote ist weit verbreitet, aber das macht sie nicht richtiger. Die Tonhöhe beim Hämmern hängt nämlich kaum vom Gewicht des Hammers ab und außerdem sind dabei die Schwingungen des Hammerkopfes selbst praktisch unhörbar. „Wenn es nicht wahr ist, ist’s doch gut erfunden (Se non è vero, è molto ben trovato)“ – das Zitat von Giordano Bruno passt auch hier.

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Abb. 2.6  „Kunst kompt von klugen Leuten“ – Kupferstich von Eberhard Kieser, 1628. Vor dem Hintergrund der Stadtansicht von Dünkirchen lauscht Pythagoras (links im Bild) hier dem Klang dreier unterschiedlich großer Hämmer. Offenbar bleibt das nicht ohne Ergebnis, denn: „Pythagoras hie die Music findt, das hett kein Eselskopff gekönt“, klärt uns die Bildunterschrift auf



Er: Sie:

Zum gleichen Thema gibt es auch eine Variante der Geschichte, diesmal mit Hauptfiguren aus der Bibel, nämlich Jubal, der als Vorfahre der Musiker gilt, und sein Bruder, der Schmied Thubalkain. Genetisch sehr interessant. Von der Verwandtschaft mit den Musikern habe ich ja noch gar nichts gehört. Wo steht das denn? Warte bitte kurz, ich such das mal. Hier ist es, Altes Testament, 1. Buch Moses. Schon praktisch mit dem Handy: „Lamech aber nahm zwei Weiber; eine hieß Ada, die andere Zilla. Und Ada gebar Jabal; von dem sind hergekommen, die in Hütten wohnten und Vieh zogen. Und sein Bruder hieß Jubal; von dem sind hergekommen die Geiger und Pfeifer. Die Zilla aber gebar auch, nämlich den Thubalkain, den Meister in allerlei Erz- und Eisenwerk.“

Er:

Beachtlich, der Urahn aller Geiger und Pfeifer. Ahnenforschung in der Bibel. Und auf alle Fälle eine schöne Geschichte: Jubal besucht seinen Bruder in dessen Schmiede und entdeckt bei den Hammerschlägen zufällig die konsonanten Intervalle (Abb. 2.7).

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Abb. 2.7  Jubal (Mitte) und sein Bruder Thubalkain (links) in der Schmiede. Rechts eine mit Pacholek bezeichnete Person, also wohl ein Gehilfe. Aus dem Heilsspiegel („Speculum humanae salvationis“), einem Buch des späten Mittelalters, das in zahlreichen Auflagen verbreitet war und auf der Bibelauslegung der sogenannten Präfiguration (Typologie) beruhte. Die Präfiguration lehrt, dass bereits das Alte Testament zahlreiche Hinweise (Typoi) auf die Ankunft Jesu enthält. In der hier gezeigten Ausgabe ist eine kolorierte Federzeichnung mit einem jeweils fünfundzwanzigzeiligen Text versehen. (Speculum humanae salvationis, Nürnberg 1456.)

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Nochmal zu Jubal. Händel hat ihn in seinem Oratorium „Joshua“ erwähnt. „Oh hätt’ ich Jubals Harf“, wünscht sich die Achsah in ihrer Arie.2 Wie auch immer, noch heute gelten in der Musik die Regeln von konsonanten und dissonanten Intervallen. Intervalle sind die Abstände zwischen zwei Tonhöhen, und die können eben in unserer Empfindung zu Konsonanzen oder Dissonanzen führen. Halt mal eben: Sind konsonant und harmonisch dann dasselbe? Nein, Harmonie ist ein nicht besonders gut definierter Begriff. Wird oft lediglich als Synonym für Mehrklang verwendet. Als konsonant und dissonant wird dagegen der Zusammenklang von Tönen miteinander bezeichnet und ob sie das eine oder andere sind, hängt von den Intervallen ab, das heißt von der Zahl der Tonstufen, die sie trennen. Bekanntestes Intervall ist wohl die Oktave. Eine Oktave reicht zum Beispiel vom C beziehungsweise einem anderen Ton der einen Tonleiter, also C–D–E–F–G–A–H, bis zum C der nächsten; das Intervall umfasst acht Tonstufen der Tonleiter. Das heißt, beim gleichen C endet die eine Oktave und beginnt gleichzeitig die nächste. Liegt zwischen zwei Tonstufen ein bestimmtes Intervall, dann stehen deren Schwingungen auch immer in einem festen Verhältnis zueinander. Im Fall der Oktave ist das Verhältnis des hohen zum tiefen Ton zum Beispiel 2:1, bei der Quinte 3:2 und bei der Quarte 4:3. Niedrig-ganzzahlige Verhältnisse der ein Intervall begrenzenden Töne wie bei den eben genannten Intervallen werden als konsonant empfunden, die anderen als dissonant. Damit hat die Konsonanz wahrscheinlich damit zu tun, dass sich dann die zugehörigen Obertöne „treffen“, verschiedene Grundtöne also teilweise gleiche Obertöne haben. Wichtig dabei: Konsonant und dissonant sind keine Markenzeichen guter oder schlechter Musik. Musik ohne Dissonanzen kann eher langweilig sein, weil die Dissonanzen auch eine gewisse Spannung in die Musik bringen. Ein Streichquartett von Mozart ist sogar nach den Dissonanzen benannt: das Dissonanzenquartett.3 Für seine Zeitgenossen war das wegen der Dissonanzen am Beginn zunächst wohl ziemlich gewöhnungsbedürftige Musik, die nicht wenige Irritationen auslöste. Immerhin habe ich jetzt ein bisschen mehr verstanden. Aber warum ist das denn so? Warum bestimmen die Intervalle, wie wir den Zusammenklang empfinden? Und warum fällt das ausgerechnet mit bestimmten Schwingungsverhältnissen zusammen? Ist das tatsächlich naturgegeben?

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Sie:

Sicher nicht ausschließlich, der Musikgeschmack wandelt sich mit den Zeiten. Das mit dem Übereinanderfallen der Obertöne hatte ich ja schon versucht zu erklären. Es gibt auch Möglichkeiten, sich das direkt anzuschauen. Töne, die man sehen kann, sozusagen. Weißt du, was Spektrogramme sind? Ja, grundsätzlich schon. Das sind Frequenzspektren von Signalen, die im zeitlichen Verlauf aufgezeichnet werden. Worauf willst du hinaus? Zur Aufzeichnung von Schallwellen und damit auch Musik kann man spezielle Spektrogramme, die Sonagramme, benutzen. Sonagramme sind gut geeignet, um Obertonreihen beziehungsweise Klänge darzustellen und zu analysieren. Man sieht den Grundton und die zugehörigen Obertöne. Ich zeig das mal am Beispiel des Klaviers (Abb. 2.8) und eines Orgelchorals Johann Sebastian Bachs (Abb. 2.9). Jedenfalls solltest theoretisch selbst du mit diesen Informationen jetzt in der Lage sein, einzuschätzen, was du physikalisch anrichtest, wenn du Hänschen klein auf dem Klavier spielst.

Er: Sie:

Sie:

a 20kHz 10kHz 5kHz 2kHz 1kHz 500Hz 0

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b

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sec

Abb. 2.8  Gezeigt sind hier (a) Sonagramme für alle 88 Klaviertasten, die innerhalb von 48  s (x-Achse) nacheinander von links nach rechts angeschlagen wurden. Die y-Achse zeigt die Frequenzen des jeweiligen Grundtons, das heißt des tiefsten Tons, und seiner zugehörigen Obertöne. In (b) findet sich eine vergrößerte Ansicht der Sonagramme im Bereich der mittleren Tasten. TonsYPiano: Steinway S (New York), Microphone: Sony ECM-MS957, Digital Recorder: Roland R-26, Software: iZotope RX 4. Das Bildmaterial für die Abbildung wurde freundlicherweise von Scott Murphy überlassen. (https://www.youtube.com/watch?v=3Bbka9T9Cto)

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Abb. 2.9  Visualisierte Musik: Sonagramm für einen Teil eines Orgelchorals Johann Sebastian Bachs. Die y-Achse gibt die Frequenz in Hertz an, die x-Achse in Zeit. Grundtöne und eine Vielzahl von Obertönen erklingen zusammen. (https://commons.m.wikimedia. org/wiki/File:Spectrogram_of_Bach%27s_Chorales_for_Organ.jpg)

Er:

Wenn du dann wenigstens auch ergriffen lauschst …! Aber im Ernst, so weit bin ich noch mitgekommen. Die Töne und Klänge sind jetzt unterwegs. Und treffen irgendwann auf hoffentlich interessierte Ohren.

 usik trifft Mensch: Was mit den Klängen auf M ihrem Weg ins Gehirn passiert  on der Physik direkt zur Biologie. Schwingungen von V außen nach innen: Der Weg durchs Ohr und wie es von da weitergeht Während wir weiter auf der Piazza Bellini sitzen, treffen schon von vorhin vertraute Klänge auf unsere Ohren: „Vissi d’arte, vissi d’amore, non feci mai male ad anima viva!“ („Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe, nie tat ich einer lebenden Seele weh!“). Tosca beklagt erneut ihr Schicksal. Die Mittagspause scheint zu Ende. Nur Bellini zeigt sich auf seinem Sockel weiterhin unbeeindruckt und verweigert jeden Blickkontakt. Sie:

Gehör und Gehirn auf der Empfängerseite sind jetzt deine Teile. Ich lausche.

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Er: Sie: Er:

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Akzeptiert. Innenohr, Mittelohr, Labyrinth, Haarzellen, Hörnerv … Möchtest du auch eine Wiederholung? Vielleicht nicht ganz so dringend nötig wie vorhin bei dir, aber schaden kann es bestimmt nicht. Also nur zu! Nachdem die Schallwellen eine Weile durch die Luft unterwegs waren bis zu Odysseus an seinem Mast oder zu uns auf der Piazza Bellini, treffen sie auf das Außenohr mit der Ohrmuschel und finden schließlich ihren Weg durch den äußeren Gehörgang, dem sie nun bis zur Grenze des Mittelohrs, dem Trommelfell, folgen (Abb.  2.10). Der äußere Gehörgang ist kein einfaches Rohr, sondern hat einen wichtigen Anteil an unserer Schallwahrnehmung. Er kann durch seine Eigenresonanz nämlich Schall im Bereich von 2000 bis 4000 Hz verstärken. Deshalb nehmen Menschen Frequenzen in diesem Bereich auch besonders gut wahr (s. Abb. 2.3) und empfinden Lautstärken abhängig von deren Frequenz.4 Von dort wird die Schwingung dann über die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel an das mit Flüssigkeit gefüllte Innenohr übertragen, und zwar folgendermaßen: Der mit dem Trommelfell verwachsene und so mitschwingende Hammer trifft den Amboss, der wiederum mit dem Steigbügel verbunden ist.

Amboss Hammer

Steigbügel

Gehirn äußerer Gehörgang Schnecke Trommelfell

Abb. 2.10  Anatomie des Ohres mit Außenohr (braun), Mittelohr (rot) und Innenohr (lila). (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/e/ee/Anatomy_ of_the_Human_Ear_blank.svg/2560px-­Anatomy_of_the_Human_Ear_blank.svg.png)

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Sie: Er:

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Der „klopft“ dann an das ovale Fenster, die Grenze zum Innenohr. Diesen Weg über das Mittelohr nehmen allerdings nur Töne mit einer Frequenz bis etwa 2000 Hz, höhere Töne gelangen durch Knochenschwingungen ins Innenohr. Generell können Menschen Töne etwa im Bereich zwischen 16 und 20.000  Hz hören, abhängig allerdings auch davon, wie laut der Ton erklingt. Das sogenannte Hörfeld wird damit sowohl von Frequenz als auch von der Lautstärke bestimmt. Bisher haben wir ja über die Weiterleitung dieser Schwingungen gesprochen. Die Art der Weiterleitung ändert sich nun im Innenohr. Dort werden die ankommenden Schwingungen in elektrische Impulse umgewandelt. Eine wesentliche Rolle dabei spielen die Haarzellen in der Schnecke, der sogenannten Cochlea, des Innenohres. Ich denke, die genauen Mechanismen sind allerdings an dieser Stelle nicht so wichtig, wenn ich nur eine kurze Zusammenfassung geben soll. Also, was auch immer im Detail passiert, zusammengefasst kann man sagen, dass im Innenohr die mechanischen Reize der Schwingungen in elektrische Impulse umgesetzt werden. Das bewerkstelligen die Haarzellen, die auf ihrer Zelloberfläche über sogenannte Mechanorezeptoren verfügen, dazu gehören eben die „Haare“. Die Mechanorezeptoren der Haarzellen sind mit Abstand die empfindlichsten des menschlichen Körpers. Schon kleinste durch Schallwellen verursachte Auslenkungen der Rezeptoren können wahrgenommen werden. Der mechanische Reiz wird so mit hoher Empfindlichkeit aufgenommen und dann in elektrische Impulse umgesetzt. Und die werden dann über den Hörnerv in Richtung Gehirn transportiert und lösen letztlich unser Hörempfinden aus. Indem die Musik daraufhin spezielle Veränderungen im Gehirn auslöst, richtig? Nicht nur die Musik, auch andere Schallwellen, aber stimmt, und ist in vielen Studien belegt: Unser Gehirn zeigt gut darstell- und messbare Reaktionen auf Musik. Aber am besten werfen wir jetzt erstmal einen Blick auf den Gehirnaufbau. Wie der Name sagt, wird der größte Teil vom sogenannten Großhirn eingenommen. Abhängig von der Lage werden beim Großhirn verschiedene Lappen unterschieden. Unter dem Großhirn liegen die entwicklungsgeschichtlich älteren Teile des Gehirns, das sind Kleinhirn und Stammhirn (Abb. 2.11). Und dann ist das Gehirn natürlich paarig angelegt, sodass wir die linke und die rechte Hälfte, die beiden Hemisphären, voneinander unterscheiden können (Abb.  2.12). Beide Hemisphären sind über den so-

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Parietallappen Frontallappen

Okzipitallappen

Temporallappen

Kleinhirn Stammhirn

Abb. 2.11  Anatomie des menschlichen Gehirns in der Seitenansicht. (https://de.wikipedia.org/wiki/Gehirn#/media/Datei:Gehirn,_lateral_-­_Lobi_+_Stammhirn_+_Cerebellum_deu.svg). Man schaut hier quasi von außen auf das menschliche Gehirn und sieht dabei vor allem die Großhirnrinde mit ihren vier Lappen. Was das Gehirn so ein bisschen wie eine überdimensionierte Walnuss aussehen lässt, ist der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil des Gehirns. Darunter liegen die älteren Teile Kleinhirn und Stammhirn

Frontallappen

Temporallappen

Kleinhirn Okzipitallappen Stammhirn

Abb. 2.12  Menschliches Gehirn in der Ansicht von unten. Wir sehen von hier nur drei der vier Lappen des Großhirns, können aber jetzt gut erkennen, dass das Gehirn aus zwei Hälften, der linken und der rechten Hemisphäre, besteht

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Sie: Er:

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genannten Corpus callosum miteinander verbunden und agieren so nicht unabhängig voneinander. Die Oberfläche des Gehirns wird von der Großhirnrinde bedeckt; die Verarbeitung unterschiedlicher Sinneseindrücke lässt sich verschiedenen Bereichen der Rinde zuordnen. Das Sehzentrum zum Beispiel ist auf den Okzipitallappen verortet, während die Verarbeitung von Tönen, Klängen und Geräuschen den Temporallappen zugeordnet ist. Das heißt, die Klänge und Töne werden im Gehirn an die richtige Stelle weitergeleitet? Genau, der Impuls von den Haarzellen des Innenohres kommt ursprünglich im Hirnstamm an, ist uns dabei aber noch nicht bewusst. Das ändert sich erst bei der Weiterleitung im Gehirn. Veränderte Hirnaktivitäten als Reaktion auf Musik lassen sich per Bildgebung nachweisen und finden sich in verschiedenen Hirnarealen. Wichtige Hirnareale für die Verarbeitung von Tönen, Klängen und Geräuschen sind dabei, wie gesagt, auf den Temporallappen lokalisiert, nämlich im Broca- und Wernicke-Areal und dem dazwischen liegenden Hörzentrum (Abb. 2.13). Diesen Bereich der Hirnrinde bezeichnet man auch als auditiven Cortex.

Schnelle erste Reaktionen Sie: Er:

Ich habe gelesen, dass wir in weniger als einer Zehntelsekunde eine erste körperlich messbare Reaktion auf Musik zeigen. Das scheint wirklich so schnell zu funktionieren. Habe ich bei unseren Recherchen auch gelesen (Abb. 2.14).5 Und dem BrocaAreal kommt dabei eine große Bedeutung zu, obwohl die Reaktion auch an vielen anderen Stellen im Gehirn messbar ist.

 rbeitsteilung im Gehirn und ein raffiniertes A Belohnungssystem Er:

Im Broca-Areal werden übrigens diejenigen Sprachen gebildet, die man bis zu einem Lebensalter von circa drei Jahren erlernt. Lernt man eine Sprache später, verlagert sich das etwas. Grundsätzlich besteht im Gehirn zwischen der linken und der rechten Hemisphäre dabei eine gewisse „Arbeitsteilung“: Die linke Seite ist mehr für Sprache zuständig, die rechte für Musik. Auf weitere Details will ich hier aber auch gar nicht eingehen, zumal das für mich dann auch vom Wissen her zu dünnes Eis

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Primäres motorisches Rindenfeld

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Primäres sensorisches Rindenfeld

Prämotorische Rinde

Hintere Parietalrinde

Präfrontalhirn Sekundäre und tertiäre Sehrinde

Broca-Zentrum Primäre Sehrinde

Sekundäres Hörzentrum

Wernicke-Zentrum

Primäres Hörzentrum

Amplitude (mV)

Abb. 2.13  Nach ihrer Arbeitsteilung lassen sich bestimmte Bereiche der Großhirnrinde (Cortex) unterscheiden. Neben den verschiedenen motorischen und sensorischen Bereichen sieht man die Lage von Broca- und Wernicke-Areal und das Hörzentrum im Bereich des Temporallappens (s. Abb. 2.10). Aus (Blausen.com staff (2014). „Medical gallery of Blausen Medical 2014”. WikiJournal of Medicine 1 (2). DOI:10.15347/wjm/2014.010. ISSN 2002-4436. (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Blausen_0102_Brain_Motor&Sensory.png), „Blausen 0102 Brain Motor & Sensory“, übersetzt von Kevin Wilke, https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode; geänderte Beschriftung.)

Anhaltende Antwort

Zeit (Sekunden)

Abb. 2.14  Reaktionen des Gehirns (EEG = Elektroenzephalogramm) auf Musikschnipsel erfolgen in sehr kurzer Zeit von deutlich unter einer Sekunde. Jede Linie repräsentiert den Durchschnittswert mehrerer Probanden, der an einer bestimmten Stelle des Kopfes gemessen wurde. P1: erster Peak, P2: zweiter Peak

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Sie: Er:

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wird. Bei dem, was wir hier diskutieren, finde ich auf alle Fälle noch den Nucleus accumbens interessant. Er liegt im unteren Vorderhirn. Kommt es hier zur Ausschüttung des Neuro­ ­ transmitters, also Botenstoffes, Dopamin, fühlen wir uns besonders wohl. Der Nucleus accumbens ist wichtiger Teil des sogenannten mesolimbischen Systems, des Belohnungszentrums unseres Gehirns. Zu den Möglichkeiten, die DopaminAusschüttung in diesem Bereich zu fördern, gehört auch Musik, jedenfalls, wenn sie uns gefällt. Es kommt dann zu einer koordinierten Aktivität von Hörzentrum und dem Nucleus accumbens. Das im Hörzentrum initial verarbeitete Signal wird dabei an den Nucleus accumbens weitergegeben und kann dann dort zur Dopamin-­ Ausschüttung beitragen. Dadurch werden Glücksgefühle ausgelöst. Du meinst, unser Gehirn belohnt uns dafür, dass wir Musik hören? Und könnte es sein, dass wir schon in Erwartung dieser Belohnung Musik hören oder machen? Darauf deutet vieles hin, jedenfalls spielt das Belohnungszentrum wohl eine wichtige Rolle und dort wieder das Dopamin. Umgekehrt kann man nämlich durch bestimmte Medikamente auch Dopamin gezielt hemmen, und in Versuchen ließ dann auch die Freude an Musik deutlich nach.

 as es mit dem Dopamin auf sich hat und warum W Odysseus eine Apotheke geholfen hätte, um sirenenresistent zu werden. Anatomie und Befunde aus der Hirnforschung  eurotransmitter: Kommunikation zwischen N Nervenzellen. Die Pille gegen Musikgenuss Sie: Er:

Halt mal. Hab’ ich das jetzt wirklich richtig verstanden? Es gibt Medikamente, mit denen man Menschen die Freude an Musik nehmen kann? Genau so ist es. Mit den sogenannten Dopamin-Antagonisten, also quasi Gegenspielern von Dopamin. Dopamin gehört zu den Neurotransmittern, das sind Überträger von Signalen zwischen Nervenzellen oder auch anderen Zellen. Für das Dopamin gibt es demnach Sender- und Empfänger- oder Zielzellen. Es wirkt

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durch Bindung an spezielle Stellen auf der Oberfläche der Empfänger- oder Zielzelle, die als Dopamin-Rezeptoren bezeichnet werden. Dopamin-Antagonisten blockieren diese Rezeptoren für das Dopamin, sodass es nicht mehr oder wenigstens nur noch reduziert wirken kann. Die Antagonisten werden therapeutisch unter anderem zur Behandlung bestimmter Psychosen eingesetzt. Für die Versuche mit Musik haben Freiwillige Dopamin-­Antagonisten eingenommen, aber ich schau mal eben genau, wie die Versuche abgelaufen sind. So, da hab’ ich es schon gefunden. Open-Access-Publikationen sind eine gute Sache. 2019 ist die Studie erschienen.6 Ich hatte gedacht, sie sei schon älter. Aber egal, schau dir das doch mal an. Ich denke, du verstehst schneller, was die gemacht haben. Unser Aufenthalt auf der Piazza Bellini verlängert sich weiter, während sie die Studie liest (Abb. 2.15). Untersucht wurden 27 Freiwillige. Alle mussten 15 Musikstücke hören, nämlich zehn für alle gleiche populäre Popsongs und fünf Lieblingsstücke nach eigener Wahl. Während des gesamten Hörens mussten die Probanden einen von vier Knöpfen gedrückt halten, die für die unterschiedlichen Empfindungen beim Musikhören standen. Im Angebot waren die Kategorien „keine Freude“, „geringe Freude“, „große Freude“ und „Gänsehautmoment“. Sobald die Probanden merkten, dass sich die Empfindung ändert, sollten sie auch einen entsprechend anderen Knopf drücken. Außerdem wurde während der Tests die elektrodermale Aktivität, kurz EDA, ein Maß für die Veränderung des elektrischen Leitungswiderstandes der Haut, bestimmt. Gut geeignet für die Bestimmung der EDA sind Handfläche und Fußsohle. Man legt dazu Elektroden an, zwischen denen die elektrische Leitfähigkeit der Epidermis, also der obersten Hautschicht, gemessen wird. Diese Leitfähigkeit hängt hauptsächlich von der Aktivität der Schweißdrüsen in der Haut ab und ändert sich daher unter anderem abhängig von Emotionen (emotionales Schwitzen). Alle Testpersonen mussten an drei Sitzungen teilnehmen, vor denen sie entweder einen Stoff zur Verstärkung der Dopamin-Ausschüttung oder den Antagonisten zur Hemmung der Dopamin-Wirkung oder einen unwirksamen Stoff, ein sogenanntes Placebo, bekamen, ohne dass sie wussten, was sie bekommen hatten. Die Einzelperson hörte also in drei verschiedenen Sitzungen jeweils dieselbe Musik, sodass die Reaktionen auf die Musik in den drei Sitzungen auch individuell verglichen werden konnten. Es zeigte sich, dass der Dopamin-Verstärker die Freude an der Musik steigerte, während mit dem Antagonisten das Gegenteil eintrat, nämlich eine deutlich reduzierte

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Einschätzung

Messung

Chills

EDA High pleasure

Low pleasure

Low pleasure

Abb. 2.15  Design der Studie von Ferreri und Kolleg/-innen. Die Proband/-innen mussten in drei Sitzungen jeweils dieselben 15 Musikstücke hören (zehn für alle gleiche populäre Popsongs sowie fünf Lieblingsstücke nach eigener Wahl). Während des gesamten Hörens mussten die Probanden einen von vier Knöpfen mit den Kategorien „keine Freude“ (no pleasure), „geringe Freude“ (low pleasure), „große Freude“ (high pleasure) und „Gänsehautmoment“ (chills) gedrückt halten. Bei Änderung der Empfindung sollte ein entsprechend anderer Knopf gedrückt werden. Außerdem wurde während der Tests die elektrodermale Aktivität (EDA) bestimmt. Vor den drei Sitzungen bekamen sie entweder einen Stoff zur Verstärkung der Dopamin-­Ausschüttung oder den Antagonisten zur Hemmung der Dopamin-Wirkung oder einen unwirksamen Stoff, ein sogenanntes Placebo, ohne zu wissen, was sie jeweils erhalten hatten

Freude, jeweils verglichen mit den Empfindungen, die nach Placeboeinnahme berichtet wurden. Sie:

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Diese Dopamin-Antagonisten wären für Odysseus und seine Gefährten demnach ja eine coole Alternative zum Fesseln und zu  den Wachskügelchen gewesen. Medikamentös ausgelöste Sirenenresistenz oder so. Stimmt, originelle Idee. Leider war die Bordapotheke aber wohl nicht entsprechend gut ausgerüstet. Und Homer hätte DopaminAntagonist in Hexameter7 bringen müssen. Und all das, um die Freude an Musik zu nehmen!

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Freude an Musik ist ein gutes Stichwort. Es scheint ja, als ob die Freude besonders groß ist, wenn man etwas erneut hört, das einem ursprünglich gefallen hat. Wie sieht es denn mit der Speicherung von Musik oder grundsätzlich akustischer Ereignisse im Gehirn aus?

 arum manche Nachfrage überflüssig ist – das Gehirn als W modularer Speicher Er:

Soweit ich weiß, bildet dazu das Modell von Atkinson & Shiffrin eine immer noch aktuelle Vorstellung. Publiziert haben das die beiden in Grundzügen 1968.8 Danach ist unser Gedächtnis modular aufgebaut mit im Wesentlichen drei Modulgruppen (Abb. 2.16). Ankommende akustische Stimuli werden zunächst Input

Sensorische Register Haptisch

Kurzzeitgedächtnis Arbeitsgedächtnis

Langzeitgedächtnis

Ikonisch

Echoisch

wird übernommen

zerfällt

wird übernommen

zerfällt

Abb. 2.16  Modulares Gedächtnismodell von Atkinson & Shiffrin. Ankommende akustische Stimuli werden zunächst im sogenannten echoischen Gedächtnis abgelegt, einer „Unterabteilung“ des sensorischen Gedächtnisses. Im Gegensatz zu optischen Erinnerungen im ikonischen Gedächtnis, die nach Bruchteilen von Sekunden wieder zerfallen, bleiben die akustischen Erinnerungen im echoischen Gedächtnis für einige Sekunden erhalten. Danach zerfallen sie oder werden ins Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis übernommen. Gedächtnisinhalte sind aber auch hier nur sehr flüchtig und zerfallen ebenfalls nach kurzer Zeit wieder, wenn sie nicht ins Langzeitgedächtnis hinübergerettet werden. Das wiederum wird noch einmal grob unterteilt in ein deklaratives (explizites) und ein nicht deklaratives (implizites) Langzeitgedächtnis

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im sogenannten echoischen Gedächtnis abgelegt, das eine Unterabteilung des sensorischen Gedächtnisses bildet. Dort bleiben die akustischen Erinnerungen für immerhin einige Sekunden erhalten. Das heißt, sie können in diesem Zeitraum auch wieder abgespielt werden. Erinnerungen im ikonischen Gedächtnis, zuständig für visuelle Wahrnehmungen, zerfallen dagegen bereits nach Bruchteilen von Sekunden wieder. Danach können sie nur durch Übernahme ins Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis weiter erhalten werden. Gedächtnisinhalte zerfallen aber auch hier nach kurzer Zeit wieder, wenn sie nicht ins Langzeitgedächtnis hinübergerettet werden. Wenn du also eine Opernarie wiedererkennst, dann wird sie zu ­Vergleichszwecken aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen und mit dem aktuell Gehörten verglichen. Letztendlich muss unser Gehirn dann ja zu Referenzzwecken eine Unmenge von Klängen und Geräuschen gespeichert haben, richtig? Ja, genau, und diese Fähigkeit zur Einordnung von Geräuschen kann unter Umständen überlebenswichtig sein. Wenn es zum Beispiel um die Frage geht, ob da gerade in der Ferne ein Löwe gebrüllt oder man einen Windstoß gehört hat. Ebenso kann es sehr wichtig sein, ein einmaliges Geräusch noch einmal anhören zu können, und dafür haben wir das echoische Gedächtnis. Manchmal beantwortet man doch eine Frage erst nach Zeitverzögerung, etwa wenn man unkonzentriert war und vielleicht sogar, nachdem man schon nachgefragt hat. Hat das auch etwas mit dem echoischen Gedächtnis zu tun? Perfekt mitgedacht. Ja, das ist echoisches Gedächtnis at work. Jemand hat dich etwas gefragt. Du hast in dem Moment auch die Frage gehört, aber nicht inhaltlich zur Kenntnis genommen. Höflich fragst du nach, aber gleichzeitig spielt dir dein Gedächtnis die Frage noch einmal vor, ohne dass du auf die Beantwortung deiner Nachfrage warten musst. Schon genial eingerichtet. Entschuldige, was hast du gesagt? Ach so, ja, genial eingerichtet. Und wie ist das mit dem Langzeitgedächtnis? Wir müssen darin doch eigentlich eine Unmenge verschiedener Geräusche und Klänge zu Referenzzwecken gespeichert haben. Und werden die an den gleichen Stellen im Gehirn gespeichert wie andere Sinneseindrücke, Bilder zum Beispiel?

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Das mesolimbische System ist zunächst mit dafür verantwortlich, ob etwas tatsächlich in das Langzeitgedächtnis kommt, also wert ist, gespeichert zu werden. Und da sind dann Inhalte, die unser Interesse finden, klar im Vorteil. Außerdem vermutet man, dass es auch verschiedene „Unterabteilungen“ unseres Langzeitgedächtnisses gibt. Okay, wir diskutieren jetzt also darüber, wie wir Erinnerungen an Musik konservieren können. Und wo im Gehirn steckt die gespeicherte Musik? Früher dachte man, Inhalte des Langzeitgedächtnisses seien nur in einer bestimmten Gehirnregion gespeichert, die Hippocampus heißt und tief unter den Temporallappen liegt. Heute wird das allerdings nicht mehr ganz so gesehen. Tatsächlich werden verknüpfte Erinnerungen im H ­ ippocampus gespeichert, die zugehörigen Einzelfragmente aber nicht dort, sondern sie können an diversen Stellen im Gehirn „stecken“. Interessanterweise gibt es auch einige Indizien dafür, dass Musik im Gedächtnis separat von anderen Informationen gespeichert ist, obwohl das letztlich umstritten ist. Bekannt geworden ist der Fall des Cellisten, der aufgrund einer Virusinfektion an einer Amnesie, also einem Gedächtnisverlust, litt. So war er zum Beispiel weder in der Lage, den Namen irgendeines deutschen Flusses noch eines deutschen Bundeskanzlers zu benennen. Ebenso wenig konnte er sich an Vorkommnisse aus seiner eigenen Biografie erinnern. Dagegen war er weiterhin in der Lage, Cello zu spielen, und eine ganze Reihe ebenfalls durchgeführter Tests zu seinem Musikgedächtnis ergaben keine Unterschiede im Vergleich zu Kontrollgruppen professioneller Musiker (Berliner Philharmoniker, Streichinstrumente) oder aktiver Amateurmusiker.9 Daraus wurde der Schluss gezogen, dass bei dem Patienten trotz genereller Amnesie das Musikgedächtnis erhalten geblieben ist und daher einen separaten Speicherort haben muss. Eine Insel der Erinnerung im weiten Ozean des Vergessens. Sehr poetisch ausgedrückt. Aber wo ist sie denn jetzt, diese Insel? Das wäre ja dann auch die ökologische Nische, in der sich die Ohrwürmer tummeln, oder? Ja, so gesehen hast du recht und allemal eine lustige Vorstellung. Puh, die Frage, wo sie ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. 2005 hat ein Artikel in der hoch angesehenen Zeitschrift Nature für Furore gesorgt. „Sound of silence activates auditory cortex“

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haben englische Forscher eine Studie genannt, in der sie untersuchten, wo im Gehirn beim Musikhören Aktivität festgestellt werden kann. Verblüffenderweise blieb diese Region auch dann aktiv, wenn die Musikstücke durch Ruheintervalle unterbrochen wurden.10 Wir kennen alle das Phänomen, dass, auch wenn ein Musikstück nur angespielt wird, wir eine Fortsetzung „hören“, nachdem die Musik aufgehört hat. Klar, kenn ich auch. Nennt man auf Englisch, glaube ich, auditory imagery. Wenn wir bekannte Musik hören, dann erkennt unser Musikspeicher sie und setzt sie sogar fort, selbst wenn die Musik aufgehört hat. Der sound of silence eben. Die Gehirnaktivität findet sich dann während der Musik und in der folgenden Ruhephase an der gleichen Stelle? Ganz genau. Und sie trat unabhängig davon auf, ob die Songs mit (zum Beispiel Satisfaction, Rolling Stones) oder ohne Text (zum Beispiel Thema von The Pink Panther) waren. Dabei war bei unbekannten Songs eine ausgedehntere Aktivität festzustellen als bei bekannten. Und dort irgendwo hätte auch Odysseus’ Wunderpille gegen die Sirenen gewirkt. Wenn er sie denn gehabt hätte.

 ene, die die Freude an Musik nehmen – gibt’s G das wirklich? Er:

Ähnliche Effekte wie bei der Antimusikpille gibt es übrigens u. a. auch nach Unfällen. Eine Störung des Musikempfindens, die musikalische Anhedonie heißt. Anhedonie kommt aus dem Griechischen und bezeichnet die Unfähigkeit, Lust und Freude zu empfinden. Musikalische Anhedonie ist also eine Freudlosigkeit gegenüber Musik. Erstmals beschrieben hat das wohl Carl Stumpf in den 1920er-Jahren. Der gleiche Stumpf, der vorher auch schon den Begriff „absolutes Gehör“ geprägt hatte. Vielleicht ist es sinnvoll, mal in die Beschreibung Stumpfs ­reinzulesen11:

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Total interessant und passt ja perfekt zu unserem Thema. Weiß man, wie musikalische Anhedonie zustande kommt? Stumpf hätte gesagt, es fehlt die mit der Tonempfindung verknüpfte rein sinnliche Annehmlichkeit. Anscheinend wurden die neurologischen Grundlagen erst in den letzten Jahren zunehmend beforscht. Musikalische Anhedonie kann entweder Folge von Hirnschädigungen sein oder einfach so vorkommen und betrifft wohl immerhin drei bis fünf Prozent aller Menschen. Bei den Betroffenen kann man tatsächlich messen, dass beim Musikhören keine koordinierte Verbindung zwischen auditivem Cortex und dem Nucleus accumbens zustande kommt.12 Die Belohnung bleibt aus, weil die Dopamin-Ausschüttung fehlt? So sieht es aus. Und zwar fehlt die nur beim Musikhören. Die anderen Belohnungen werden wie üblich ausgeschüttet. Als entsprechende Kontrolle werden häufig Spiele eingesetzt, bei denen es Geld als Belohnung gibt. Das Gewinnen löst dann ebenfalls Dopamin-­Ausschüttung aus. Also ist bei den Menschen mit musikalischer Anhedonie nicht das Dopamin-Belohnungssystem generell gestört, sondern nur der Teil, der als Reaktion auf Musik erfolgt, oder? Ja, so sieht es aus. Und ich hatte noch vergessen zu erwähnen, dass nicht jede Musik im Gehirn gleiche Aktivitätsmuster auslöst. Zum Beispiel macht es anscheinend einen großen Unterschied, ob einem die Musik vertraut ist oder nicht. Würde man wohl auch so erwarten. Andere Unterschiede finden sich abhängig davon, wie intensiv sich jemand mit Musik beschäftigt. Gehirne von Musikern, seien es Berufsmusikerinnen und Berufsmusiker oder musikalische Laien, reagieren deutlich anders auf Musik als die von Menschen, die keine Musik machen. Solche Unterschiede zwischen Musikern und Nichtmusikern sind ja schon interessant. Welche sind das denn genau? Oh, da gibt es wohl tatsächlich so einiges. Anscheinend wird zum Beispiel beim Musikhören deutlich, dass bei musikalisch aktiven Menschen viel mehr Verknüpfungen im Gehirn aktiviert sind als bei Menschen, die keine Musik machen. Das gilt sowohl für Verknüpfungen innerhalb einer Hemisphäre als auch besonders für Verknüpfungen über die Hemisphären hinweg. Irgendwie scheint es für Musiker wichtig zu sein, dass die beiden Hemisphären besonders gut miteinander vernetzt sind. Untersucht worden ist das vor Kurzem an 103 Musikern und

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Musikerinnen und 50 Kontrollpersonen, die nach eigenen Angaben mindestens während der vergangenen fünf Jahre nicht musiziert hatten.13 In ähnliche Richtung geht eine Studie, in der gezeigt werden konnte, dass ausübende Musiker eher in der Lage sind, erwartbare ­ Fortsetzungen von Musikstücken zu anti14 zipieren. Etwas anderes finde ich aber mindestens genauso interessant: Bei Musikern führt Musikhören im Sehzentrum des Okzipitallappens zu erhöhter Aktivität, die man bei Nichtmusikern nicht erkennt. Willst du damit sagen, wir können Musik auch sehen, während ihr sie nur hört? Könnte man vielleicht so sagen, ja. Gibt es da einen Zusammenhang mit der Synästhesie? Was ist das? Synästheten sind Menschen, bei denen nach Erregung eines Sinnesorgans mindestens ein weiteres, nicht primär zugehöriges Areal im Gehirn miterregt wird. Die so zum Beispiel immer eine bestimmte Farbe sehen, wenn sie einen definierten Ton oder Klang hören. Findet man gehäuft bei Menschen mit absolutem Gehör und ich habe gehört, dass Synästhesie familiär gehäuft auftritt. Das sagt mir was. Ja, ich glaube, auch dazu hat es genetische Studien gegeben. Und tatsächlich auch in irgendeinem Zusammenhang mit absolutem Gehör, aber das muss ich nochmal in Ruhe nachlesen, bevor ich dazu mehr sagen kann. Okay, dann lass uns mal den roten Faden nicht ganz verlieren. Unterschiede im Gehirn von Musikern und Nichtmusikern. Wie kommt das zustande? Ist das nicht wieder eine klassische „Huhn oder Ei“-Frage? Werden die Gehirne anders durch die Beschäftigung mit Musik oder sind Menschen unterschiedlich musikalisch begabt, weil die Gehirne sich schon unterscheiden? Und hängt das eventuell mit ererbten Eigenschaften zusammen? Ja, eigentlich sogar zwei Fragen: Lässt sich unterschiedliche musikalische Begabung auch auf individuelle Unterschiede in unseren Genen zurückführen, also ist Musikalität erblich? Und zweitens die mehr auf das Kollektiv ausgerichtete Frage, ob und gegebenenfalls warum uns Menschen die Freude am Musikhören und -machen in das Genom gelegt ist. Also eigentlich unsere Kernfragen, auf die wir hier wieder stoßen.

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Zusätzlich zu den beiden Fragen werfe ich noch eine dritte auf, nämlich ob wir etwas essen wollen. Inzwischen ist es kurz nach drei. Uns ist beiden nach einer frittierten Kleinigkeit, die schnell bestellt und ebenso schnell gegessen ist. Trotz weiterem Espresso greift folgerichtig nach dem Essen eine gewisse Müdigkeit um sich und glücklicherweise geht es nicht nur mir so. Wir überzeugen uns in Rekordzeit gegenseitig davon, dass eine Mittagspause im Hotel jetzt das Richtige wäre, um dann den Frühsommerabend am Mittelmeer genießen zu können.

Anmerkungen 1. sn.pub/L9FCSm. 2. Im englischen Text: „Oh had I Jubal’s lyre.“: ▶ sn.pub/zdo1hy. 3. sn.pub/uLayA3. 4. https://de.wikipedia.org/wiki/Äußerer_Gehörgang. 5. Jagiello R et al., 2019: Rapid brain responses to familiar vs. unfamiliar music – an EEG and pupillometry study. Sci Rep 9, 15570. https://doi.org/10.1038/ s41598-­019-­51759-­9. 6. Ferreri L et al., 2019: Dopamine modulates the reward experiences elicited by music. Proc Natl Acad Sci USA 116, 3793–3798. https://doi.org/10.1073/ pnas.1811878116. 7. Hexameter: Versmaß der Odyssee. 8. Atkinson RC & Shiffrin RM, 1968: Human memory: A proposed system and its control processes. In K.W. Spence (ed.), The psychology of learning and motivation: advances in research and theory 2, 89–195. New York. 9. Finke C et al., 2012: Preservation of musical memory in an amnesic professional cellist. Current biology 22, PR591-R592. https://doi.org/10.1016/j. cub.2012.05.041. 10. Kraemer D et al., 2005: Sound of silence activates auditory cortex. Nature 434, 158. https://doi.org/10.1038/434158a. 11. Aus: https://digitalesammlungen.uni-­weimar.de/viewer/image/lit38518/3/#topDocAnchor. 12. Martínez-Molina N et al., 2016: Neural correlates of specific musical anhedonia. Proc Natl Acad Sci U S A. 113:E7337-E7345. doi: 10.1073/pnas.1611211113. 13. Leipold S et  al., 2021: Musical expertise shapes functional and structural brain networks independent of absolute pitch ability. J Neuroscience 41, 2496–2511. https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.1985-­20.2020. 14. Kim CH et al., 2019: Change in left inferior frontal connectivity with less unexpected harmonic cadence by musical expertise. https://doi.org/10.1371/ journal.pone.0223283.

3 Mittwoch – Vererbung

Neapel. Teatro di San Carlo. In wenigen Minuten wird sich der Vorhang für Puccinis Tosca heben.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Bullerdiek, C. Süßmuth, Warum Musik in unseren Genen liegt, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67375-1_3

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Zusammenfassung  Egal, was wir an diesem Mittwoch unternehmen, wir werden nicht alleine sein. Der Tag steht unter dem Titel Vererbung und so wird uns Altgenetiker Gregor Mendel heute interessiert über die Schulter blicken. Abends wird er jedenfalls nicht sagen können, die Genetik habe seit seiner Zeit keine Fortschritte mehr gemacht. Wir wollen über die Struktur von DNA diskutieren, den Aufbau des menschlichen Genoms aus Genen und Chromosomen und darüber, wie verschiedene Zellen entstehen und in einem vielzelligen arbeitsteiligen Organismus ihre Aufgaben erfüllen können. Dann wird es etwas detektivisch: Unbestreitbar wirken bei der Entstehung musikalischer Begabungen Vererbung und Umwelt zusammen. Wie lässt sich erforschen, wie dabei die Anteile verteilt sind und zu welchem Prozentsatz zum Beispiel eine frühe Förderung durch Musikunterricht zur Entfaltung entsprechender Talente beitragen kann? Wir werden auch über eine zentrale Methode der Genetik, die genomweite Assoziationsstudie, sprechen, mit der man Gene finden kann, die mit untersuchten Eigenschaften in Verbindung stehen. Insgesamt jedenfalls ein umfangreiches Programm für einen Tag. Nach einem langen Abend darf es sich am Morgen ruhig ein bisschen nach dolce far niente anfühlen. Das ohnehin wieder späte Frühstück hat sich fast bis mittags hingezogen. Nach einem kleinen Spaziergang sind wir im Café Gambrinus gelandet. Diesmal möchte ich es trotz des noch nicht so lange zurückliegenden Frühstücks nicht bei der Bestellung von Café mit offenem E belassen. An der Straßenecke übertönt unterdessen ein neapolitanischer Klassiker die Verkehrsgeräusche, Funiculì, funiculà,… Besungen wird in dem Lied die heute nicht mehr bestehende Standseilbahn auf den Vesuv. Wir wollen den Tag unter anderem nutzen, um zu diskutieren, warum Musikalität buchstäblich in der DNA mancher Familien zu liegen scheint. Und ob das tatsächlich auf angeborene Begabungen hinweist oder nicht stattdessen Ergebnis früher und intensiver Förderung ist. Bevor es so weit ist, unternehme ich aber einen Vorstoß, um mir eine kleine Stärkung zu verschaffen. Schließlich ist auch schon fast wieder Mittagszeit.

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 ender oder Empfänger mit besonderen Talenten: S Die Vererbung von Musikalität  enn Musikalität durch die Familie „mendelt“. Johann W Sebastian Bachs Söhne: Gute Gene oder doch ehrgeiziger Vater? Er:

So ein ganz kleines Stück Babà1 soll bei der Wärme gesund sein. Sie: Haha. Hast du nicht gerade gefrühstückt? Er: Gefühlt ziemlich lange her. Bestimmt schon vor mehr als einer Stunde. Sie, kurz danach: Ich probier ein ganz kleines Stück bei dir. Der Blick fällt auf das Teatro di San Carlo (Abb.  3.1), ältestes Opernhaus Europas, gegründet weit vor der Mailänder Scala und dem Teatro La Fenice in Venedig.

Abb. 3.1  Teatro di San Carlo, Stereo-Ansichtskarte. Um 1900 erfreuten sich solche Ansichtskarten zur räumlichen Darstellung von Bildmotiven großer Beliebtheit. Um den Eindruck eines dreidimensionalen Bildmotivs zu erwecken, zeigt die Ansichtskarte zwei Bilder desselben Motivs nebeneinander. Für das Betrachten solcher Ansichtskarten gab es die sogenannten Stereoskope. Stereo-Ansichtskarten lassen sich aber auch ohne Stereoskop betrachten, indem man den Blick ohne Objektfokussierung auf den vor einem liegenden Raum richtet. Wenn man dann die Karte im Blickfeld langsam vor- oder zurückbewegt, stellt sich der Effekt ein (Text nach Ansichtskartenversand Bartko-Reher.)

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Wusstest du, dass hier 1761/62 Johann Christian Bach, jüngster Sohn von Johann Sebastian und seiner Frau, der Opernsängerin Anna Magdalena, wirkte? Außerdem ist das San Carlo laut meinem Baedeker 1903 … Was hast du da? Das ist jetzt nicht wahr, oder? Du hast nicht ernstlich die ganze Zeit diesen ollen Baedeker mit dir rumgeschleppt? Doch, hab’ ich. Oder woher soll ich ihn sonst so plötzlich haben. Ist doch klein und handlich. Du hast außerdem bis eben überhaupt nicht gemerkt, dass ich den in der Jackentasche hatte. Als Kontrapunkt zu Wikipedia ist das schließlich ganz interessant. Jedenfalls heißt es da: „Die Nordseite des königlichen Schlosses steht mit dem 1737 erbauten, 1816 erneuerten Teatro S. Carlo, einem der größten Theater Europas, in Verbindung.“ Erneuert, weil es abgebrannt war, hatte ich irgendwo anders gelesen. Was wolltest du mir jetzt eigentlich über Johann Christian Bach sagen? Das war doch der Mailänder Bach. Auch Londoner Bach genannt. Und trotzdem in Neapel gewesen. Jüngster Sohn von Johann Sebastian Bach, war erst 14, als sein berühmter Vater starb. Als Spross einer durch und durch musikalischen Familie war er aber auch selbst einer der bekanntesten Komponisten seiner Zeit. Er hat für das San Carlo sogar zwei Opern komponiert, Catone in Utica wurde 1761 uraufgeführt und Alessandro nell’Indie 1762. Außerdem gilt er als einer der Ersten, die Abonnementskonzerte veranstaltet haben. Das war später, in seiner Londoner Zeit zusammen mit Christian Ferdinand Abel. Insgesamt gilt Johann Christian aber als der Paradiesvogel unter den Bach-Söhnen und folgerichtig auch als der Bach-Sohn mit der interessantesten Biografie. Aber die Musik war ihm ja auch in die DNA gelegt. Sagt man doch so, oder? Die Familie von Johann Sebastian Bach wird ohnehin dauernd erwähnt, wenn es um Vererbung von Musikalität geht. Musikalisches Talent pur und das gleich über mindestens fünf Generationen (Abb.  3.2). Aber kann so eine familiäre Häufung von musikalischem Talent nicht auch durch das häusliche Umfeld erklärt werden, Frühförderung oder frühe Strenge? Johann Sebastian Bach soll seinen jüngsten Sohn jedenfalls auch schon mal geohrfeigt haben, wenn er beim Improvisieren am Cembalo den väterlichen Erwartungen nicht entsprach. Kann man also den Einfluss der Familie vom ererbten Talent unter-

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Veit B. (1619) Johannes B. I. (1580–1626) Johann B. (1604–1673)

Heinrich B. (1615–1692)

Johann Aegidius B. (1645–1716)

Johann Christoph B. (1642–1703)

Johann Bernhard B. (1676–1749)

Johann Nicolaus B. (1669–1753)

Johann Ernst B. (1722–1777) Johann Georg B. (1751–1797)

Philippus B. (1590–1620) Christoph B. (1613–1661)

Johann Michael B. (1648–1694)

Wilhelm Friedemann B. (1710–1784)

Georg Christoph B. (1642–1697)

Maria Barbara B. (1684–1720)

Carl Philipp Emanuel B. (1714–1788) Johann Sebastian B. (1748–1778)

Johann Ambrosius B. (1645–1695) Johann Sebastian Bach (1685–1750) Gottfried Heinrich B. (1724–1763)

Wendel B. (1619–1682) Johann Christoph B. (1645–1693) Anna Magdalena Wilcke (1701–1760)

Johann Christoph Friedrich B. (1732–1795)

Jacob B. (1655–1718)

Johann Ludwig B. (1677–1731)

Johann Christian B. (1735–1782)

Wilhelm Friedrich Ernst B. (1759–1845)

Abb. 3.2  Musikalität in der Bach-Familie, unvollständiger Stammbaum überwiegend der väterlichen Linie. Musiker und Komponisten sind durch rote Schatten markiert (aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Bach_family, verändert). Die Ehe von J. S. Bach mit Maria Barbara Bach war eine Ehe unter Verwandten, denn beide hatten gemeinsame Urgroßeltern. Dementsprechend hatten ihre hier gezeigten Söhne Wilhelm Friedemann Bach und Carl Philipp Emanuel Bach nur 14 statt üblicherweise 16 Ururgroßeltern

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scheiden? War Orpheus das Talent in die Wiege gelegt, vielleicht von seinem Vater Apollon, in dessen olympischen Geschäftsbereich ja immerhin auch die Musik fiel? Der Apfel fällt nicht weit vom musikalischen Stamm? Das ist genau der Punkt. Grundsätzlich muss eine familiäre Häufung nicht für Vererbung sprechen. Man kann allerdings schon versuchen, beides ein bisschen voneinander zu trennen, ohne aber die Unschärfe so ganz zu beseitigen. Familiäre Häufung von Musikprofis findet man ja bei vielen Komponisten, die Familien von Puccini und Bellini gehören dazu, aber übrigens zum Beispiel auch bei Geigenbauern. Da wir in Neapel sind: Hier hat sich besonders die Familie Gagliano hervorgetan. Oder meinst du, bei Geigenbauern ist es, wenn ererbt, dann handwerkliche Geschicklichkeit? Schwer zu sagen. Klänge sollten Geigenbauer natürlich auch gut beurteilen können. Allemal wenn sie so erfolgreich sind. Vielleicht

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reden wir auch von verschiedenen Fähigkeiten und Talenten und sie brauchen beides, handwerkliches Können und Musikalität. Ich glaube auch, dass anatomische Besonderheiten bei der Frage nach Musikalität indirekt eine Rolle spielen können. Über den Einfluss des Baues der Ohren ist schon im ausgehenden 19. Jahrhundert ausführlich spekuliert worden. Johann Sebastian Bach zum Beispiel soll im Verhältnis zu seiner Größe auch außergewöhnlich große Hände gehabt haben, die zu seinem virtuosen Cembalo- und Orgelspiel beigetragen haben könnten. Und von Franz Liszt zum Beispiel gibt es eine bekannte Karikatur, die ihn mit sehr großen, „biegsamen“ Händen darstellt. Wirklich auch Bach? Wie hat man das herausgefunden? Bei Bach? Soweit ich weiß, existiert ein altes Foto vom Ende des 19. Jahrhunderts, das sein Skelett zeigen soll (Abb. 3.3). Die linke Hand war anscheinend gut erhalten und so konnte anhand dieses Fotos Andreas Otte, ein Nuklearmediziner, unter anderem die Handgröße bestimmen.2 Bei einer Größe von 21,5 Zentimetern vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen konnte er damit ungefähr 26 cm überbrücken. Auch für heutige Hände eine beachtliche Spannbreite.

Abb. 3.3  Teil der Aufnahme des mutmaßlichen Skeletts Johann Sebastian Bachs. Gut erhalten ist nur die linke Hand, aus deren Größe aber Rückschlüsse auf die Größe der rechten Hand möglich sind. (https://digital.slub-­dresden.de/werkansicht/dlf/773/1)

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Und von Liszt (Abb. 3.4) wurde ebenfalls vermutet, dass eine außergewöhnliche Handgröße zu seinem herausragenden Klavierspiel beigetragen hat. Dazu gibt es sogar eine zeitgenössische Karikatur. Allerdings wurde im Fall von Liszt zusätzlich eine besondere Beweglichkeit der Fingergelenke diskutiert. Weil du jetzt Liszt sagst, erinnere ich mich gelesen zu haben, er hätte ein Marfan-Syndrom gehabt. Würde auch zu den überstreckbaren (hyperelastischen) Gelenken passen. Marfan-Syndrom, was ist das? Eine seltene vererbbare Erkrankung beziehungsweise besser gesagt ein seltenes vererbbares Syndrom. Im Gegensatz zu einer Krankheit versteht man unter einem Syndrom das in der Kombination typische Zusammentreffen von Symptomen. Das Marfan-Syndrom betrifft das Bindegewebe und kann bei Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Sie fallen unter

Abb. 3.4  Karikatur des klavierspielenden Liszt im Konzertsaal von T.  Hosemann (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Liszt_koncertteremben_Theodor_Hosemann_1842.jpg). Beachtlich die großen Hände und die überstreckbaren Gelenke. Zum Marfan-Syndrom würde zudem der Körperbau passen

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anderem durch einen langen schmalen Körperbau, Probleme mit den Blutgefäßen und eben überdehnbare Gelenke auf. Der Geiger Niccolò Paganini (Abb.  3.5) mit einer Reichweite von drei Oktaven auf der Geige soll es übrigens auch gehabt haben.3 Ein anderer betroffener Prominenter war wohl Abraham Lincoln.

Abb. 3.5  Der Geiger Paganini, hier auf einem Werbeblatt aus dem Jahre 1831 als „moderner Orpheus“ dargestellt. Auch Paganini soll vom Marfan-Syndrom betroffen gewesen sein. Typische Merkmale (langer schmaler Körperbau, lange Finger mit beweglichen elastischen Gelenken) sind auch auf dieser Zeichnung zu erkennen. (https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f4/Nicolo_Paganini_by_Richard_James_ Lane.jpg)

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Solche anatomischen oder genetischen Besonderheiten mögen ja das Spielen eines Instrumentes fördern, aber als genetische Veranlagung zur Musikalität im engeren Sinne kann man das doch nicht ansehen, oder? Stimmt, würde ich auch nicht so sehen. Ist eher die anatomische Hardware. Und gerade deshalb muss man klären, was Musikalität denn überhaupt ist, bevor genetische Tests zum Zuge kommen. Beziehungsweise welche Art von Musikalität jeweils gemeint ist. Welche Zusammenhänge mit der Genetik würdest du denn konkret prüfen?

Auf der Suche nach Musikalitätsgenen Sie:

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Gute Frage. Fähigkeiten, ein Instrument gut zu beherrschen, vielleicht. Takt- und Rhythmusgefühl, die Fähigkeit, falsche Töne zu erkennen. Außerdem Ton-­Präzision beim Singen und das Chorsingen mit seinen besonderen Anforderungen nochmal speziell. Absolutes Gehör ist auch sicher etwas Besonderes. Das sind alles Beispiele, aber bestimmt fällt mir bei Nachdenken noch mehr ein. Und grundsätzlich spielt natürlich noch die Unterscheidung zwischen selbst Musik machen und Musik hören eine Rolle. Ein Test auf Musikalität ist ja offenbar viel zu allgemein und existiert so pauschal daher auch nicht. Voraussetzung für weitergehende Tests ist daher, dass man erst einmal festlegt, was genau getestet werden soll, über welche Art von Musikalität gesprochen wird. Und dann kann es direkt weitergehen. Familienun­ tersuchungen sind hilfreich, denn sicher zeigt sich bei einer genetischen Disposition auch eine familiäre Häufung. Die kann aber auch mit besonders intensiver Förderung in den betreffenden Familien zusammenhängen. Um diese Unschärfe zu vermeiden, sind Klassiker der Genetik, wenn man einen Einfluss der Vererbung vermutet, Zwillingsuntersuchungen. Dabei geht es um den Vergleich von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen. Eineiige Zwillinge entstehen aus einer einzigen befruchteten Eizelle und haben damit im Wesentlichen die gleiche genetische Information, während zweieiige Zwillinge auf zwei verschiedene Eizellen zurückgehen und damit genetisch nicht näher verwandt sind als andere Geschwister. Wenn eineiige Zwillinge bezüglich

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eines Merkmals ähnlicher sind als zweieiige, ist das somit ein Hinweis auf eine erbliche Komponente. Sie: Gib doch mal ein Beispiel, wie solche Studien aussehen. Er: In einer ziemlich bekannten von Dennis Drayna geleiteten Studie wurden 136 eineiige mit 148 zweieiigen Zwillingen verglichen und daraufhin untersucht, wie gut sie falsche Töne in populären Melodien erkennen konnten.4 Dazu wurden allen Teilnehmenden insgesamt 26 Melodien mit Längen von 12 bis 26 Tönen vorgespielt. Von diesen waren neun korrekt und in 17 waren Fehler eingebaut. Die Getesteten mussten sagen, ob ihnen die jeweilige Melodie vertraut war und ob sie nach ihrer Meinung falsche Töne enthalten hatte oder nicht. Ausgewertet wurde dann, ob die eineiigen Zwillingspärchen in ihrer Einschätzung näher aneinander lagen als die zweieiigen. Sie: Und? Er: Eindeutig höhere Übereinstimmung bei den Eineiigen und damit der Schluss, dass zumindest dieser Teil musikalischer Begabung zu einem großen Teil vererbt wird. Sie: Die Zwillingsergebnisse zeigen also, dass bei den untersuchten Eigenschaften tatsächlich Vererbung im Spiel zu sein scheint, sagen aber doch noch nichts über beteiligte Gene, oder? Er: Genau, die Studien liefern nur eine Einschätzung, ob die Vererbung eine Rolle spielen könnte, mehr nicht. Sie: Wie kann man denn jetzt konkreter nach solchen Musika­ litätsgenen suchen?

 urück in den Biokurs: Über Gene und Genome. Was uns Z Zwillinge verraten und was genomweite Assoziationsstudien sind Er:

Ausgangspunkt ist die Frage, ob irgendwelche der genannten Fähigkeiten oder Talente vererbt werden können und damit irgendwo in unseren Genen, unserem Genom, fixiert sind. Und das „Irgendwo“ kann man in der Tat auch konkreter erfassen, wenn eine genetische Komponente wahrscheinlich erscheint. Genom ist die Summe der genetischen Information einer Zelle, eines Individuums oder auch einer Art. Du und ich haben gemeinsam, dass wir beide in unseren Zellen grundsätzlich das gleiche Genom haben, das ganz überwiegend im Zellkern gespeichert

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ist. Der Durchmesser eines Zellkerns beträgt etwa ein hundertstel Millimeter. Speichermedium ist die Desoxyribonukleinsäure (DNA). DNA liegt in der Regel als Doppelstrang vor, den man sich wie eine gedrehte Strickleiter vorstellen kann (Abb.  3.6). Informationstragend sind die Sprossen der Leiter, die DNA-­ Basen, von denen es vier gibt: Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin. Jede Sprosse ist aus einem Basenpaar zusammengesetzt. Dabei liegen sich entweder Guanin und Cytosin oder Adenin und Thymin gegenüber. Die Information wird jeweils vom einen oder anderen Einzelstrang abgelesen. In den Zellkernen unserer normalen Körperzellen sind etwa 6 Mrd. Basenpaare gespeichert. Wenn man einem Basenpaar 2 Bit Informationsgehalt zuschreibt und in Byte umrechnet, so entspricht das grob einem Informationsgehalt von 750.000.000 Byte. Wie viel Information da wirklich auf sehr, sehr kleinem Raum gespeichert ist, lässt sich am besten mit einem Vergleich deutlich machen: „Harry Potter

„Grundgerüst“ aus Zucker und Phosphat-Resten DNA-Basenpaar aus Adenin und Thymin (A-T)

DNA-Basenpaar aus Guanin und Cytosin (G-C)

Abb. 3.6  Aufbau der DNA aus zwei Einzelsträngen. Die Verbindung bilden die DNA-­ Basen, die der eigentlich informationstragende Teil der DNA sind. Jede Sprosse ist aus zwei Basen, einem Basenpaar, zusammengesetzt. Der hier gezeigte Ausschnitt umfasst 14 Basenpaare. Zellkerne menschlicher Körperzellen enthalten etwa 6  Mrd. ­solcher DNA-Basenpaare. (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/e/ e7/DNA_simple. svg/2000px-DNA_simple.svg.png, Beschriftung verändert.)

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und der Stein der Weisen“ ist der deutsche Titel des ersten HarryPotter-Bandes. Es beginnt mit den Sätzen: „Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nr. 4 waren sehr stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken.“ Und es endet mit Harrys Worten: „Ich werde diesen Sommer viel Spaß haben mit Dudley.“ Zwischen diesen Sätzen lernen die Leserinnen und Leser das Zauberinternat Hogwarts kennen, erfahren das erste Mal von Harrys gefährlicher Konfrontation mit dem düsteren Lord Voldemort und werden überhaupt spannend unterhalten. Die Geschichte nimmt eine Dateigröße von 449.000 Bytes ein. Wenn man das umrechnet, passt in einen menschlichen Zellkern der Informationsgehalt von 1670 Exemplaren des Buches. In eine kleine Kugel, die wir mit bloßem Auge nicht einmal sehen können. Ziemlich hohe Zahlen. Und die DNA steckt dann in den Chromosomen, richtig? Genau. Dieses Genom ist sozusagen auf einzelne Pakete verteilt, das sind im Regelfall 46 Chromosomen, von denen 22 paarweise vorhanden sind, hinzu kommen die Geschlechtschromosomen, nämlich das bei der Frau ebenfalls paarweise vorhandene X-Chromosom beziehungsweise je ein X- und ein Y-Chromosom beim Mann. Vergleicht man aber unsere beiden Genome jetzt näher, so wird man an sehr vielen Stellen kleine Unterschiede finden, die einen Teil unserer Individualität ausmachen. Der andere Teil ist dann auf unterschiedliche Erziehung etc., also auf Unterschiede in der Umwelt im weiteren Sinne, zurückzuführen. Die Unterschiede im Genom können mit weiterführenden Methoden aufgefunden und näher untersucht werden. Besonders  gebräuchlich sind dabei sogenannte genomweite Assoziationsstudien, kurz GWAS. Vereinfacht kann man sagen, dass mit GWAS Gruppen miteinander verglichen werden, die sich bezüglich eines Merkmals oder einer Erkrankung voneinander unterscheiden (Abb. 3.7). Also erkrankte Menschen von nicht erkrankten oder musikalische von nicht musikalischen, richtig? Wobei wir ja gesagt hatten, dass man musikalisch vorher genauer definieren muss.

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AA AG

AG GG

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AG

Betroffene

AA

AA AA

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Kontrollgruppe Zwei Gruppen

DNA-Isolierung

Genetische Untersuchung

Vergleich

Abb. 3.7  Schema zur Durchführung einer sogenannten genomweiten Assoziationsstudie (GWAS). Mittels GWAS werden Gruppen von Menschen untersucht, die sich hinsichtlich eines bestimmten Merkmals oder einer Erkrankung voneinander unterscheiden. Im hier gezeigten Beispiel sind die Betroffenen blau und die Nichtbetroffenen orange dargestellt. Von Menschen beider Gruppen wird dann DNA untersucht. Am Beispiel einer DNA-Base (grün) ist hier die entsprechende genetische Konstellation bei beiden Gruppen gezeigt. An der entsprechenden Stelle findet sich entweder ein A (Adenin) oder ein G (Guanin), das heißt, an der gleichen Stelle können Menschen unterschiedliche Marker aufweisen. Man nennt das auch einen Polymorphismus. Da in unserem Beispiel das Gen auf einem Nicht-Geschlechtschromosom liegt, ist es doppelt vorhanden. An der betreffenden Stelle kann sich entsprechend auf beiden Chromosomen ein A oder auf einem ein A und auf dem anderen ein G oder auf beiden ein G befinden. Betrachten wir dann die genetischen Unterschiede der beiden Gruppen an einer bestimmten Stelle im Genom, so fällt auf, dass in der Gruppe der Betroffenen G an der betreffenden Stelle deutlich häufiger vorkommt als in der Kontrollgruppe. Das ist dann eine Assoziation

Die meisten Manhattan-Plots entstehen nicht in New York Er:

Ja, das ist genau das Prinzip. Und dann schaut man, ob und wie stark sich diese beiden Gruppen hinsichtlich bestimmter kleiner genetischer Veränderungen unterscheiden. Wenn man dann zuordnet, auf welchem Chromosom und wo darauf die unterschiedlichen Stellen liegen, dann hat man so verdächtige Gebiete auf den Chromosomen eingegrenzt. Die Ergebnisse werden meistens als sogenannte Manhattan-Plots dargestellt. Die entstehen, indem man die Chromosomen waagerecht aneinanderlegt, wie in

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Abb. 3.8  Menschliche Chromosomen und Manhattan-Plots. Oben: Schema der menschlichen Chromosomen in Form eines sogenannten Ideogramms. Mit speziellen Färbeverfahren lassen sich Banden auf den Chromosomen darstellen, die hier überwiegend durch unterschiedliche Grautöne wiedergegeben sind. Die Gesamtheit der genetischen Information in einer menschlichen Körperzelle ist im Regelfall auf 46 Chromosomen verteilt. Die Chromosomen 1–22 sind paarweise vorhanden, hinzu kommen die Geschlechtschromosomen, nämlich das bei der Frau ebenfalls paarweise vorhandene X-Chromosom beziehungsweise je ein X- und ein Y-Chromosom beim Mann. Für die auf den einzelnen Chromosomen unterscheidbaren Banden gibt es international verbindliche Nummerierungen (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/45/Human_genome_idiogram.svg/2560px-­Human_genome_idiogram. svg.png). Unten: So könnte zum Beispiel ein Manhattan-Plot für die Chromosomen 1 bis 4 aussehen: Die gestrichelte Linie steht für einen Grenzwert, mit dem eine Assoziation angenommen wird: Nur bei Überschreiten dieses Grenzwertes (wie im Beispiel für einen Bereich jeweils des Chromosoms 2 und 4) kann man mit hinreichender Sicherheit von einer Assoziation ausgehen

Abb. 3.8 erklärt. Über diesen Chromosomen baut sich, abhängig von den Versuchsergebnissen, dann eine Darstellung auf, die an eine Skyline erinnert. Vereinfacht gesagt zeigen besonders hohe „Wolkenkratzer“ auf einem Chromosomenbereich, dass sich in diesem Bereich genetische Information befindet, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem jeweils untersuchten Merkmal in Zusammenhang steht. Da kommt nun die sogenannte Signifikanz ins Spiel. Ein ziemlich zentraler Begriff bei Experimenten und Studien in Naturwis­ senschaften und Medizin.

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Was es mit der Signifikanz auf sich hat Sie: Er:

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Habe ich schon oft gehört im Zusammenhang mit Medikamenten. Wirkstoff Soundso führt zu einer signifikanten Verkürzung der Erkrankungsdauer und Ähnliches. Sagt man doch so, oder? Absolut richtig. Als Fachbegriff sagt die Signifikanz kurz gesagt etwas darüber aus, wie oft man sich irrt, wenn man eine bestimmte Aussage trifft. In Biologie und Medizin werden als Schwellenwerte für die Signifikanz gerne Irrtumswahrscheinlich­ keiten, abgekürzt p-Werte, von 5 %, 1 % oder 0,1 % festgelegt. Und ebenfalls wichtig ist natürlich noch die Auswahl einer sinnvollen Kontrollgruppe. Verstehe. Wenn eine Aussage mit einem p-Wert von 5 % signifikant ist, dann bedeutet das, ich kann ein Experiment 100-mal wiederholen und nur 5-mal davon bekomme ich ein Resultat, das von meiner Aussage abweicht. Richtig? Ja, genau richtig. Und bei unseren Manhattan-Plots zeigen hohe „Gebäude“ eben Bereiche des Genoms, für die die Wahrscheinlichkeit einer Assoziation entsprechend besonders hoch ist. Und was die Darstellung der Ergebnisse angeht, finde ich den Vergleich mit der Skyline von Manhattan recht anschaulich (Abb. 3.9). Aber keine Angst, wenn du jetzt nicht so schnell mitgekommen bist. Wir sprechen gleich über Beispiele und da wird es dann klarer. Anschließend wird nach Genen um solche Stellen herum gesucht und geprüft, ob diese Gene von ihrer Funktion her geeignete Kandidaten für das gesuchte Merkmal oder die Erkrankung wären. Auf diese Weise findet man, wenn alles planmäßig verläuft, Gene beziehungsweise Genvarianten, die zu diesen gesuchten Eigenschaften in direktem Bezug stehen. Ziemlich abstrakt, aber geht dir wahrscheinlich bei der Musik manchmal ähnlich. Und haben diese GWAS die Wissenschaft weitergebracht? Ich meine, welche Gene sind es denn, in denen die Musikalität liegt? Ein konkretes Beispiel würde mir bestimmt helfen zu verstehen, was ihr da macht. Wie gesagt, die Gene existieren in verschiedenen Varianten, und einige davon können dann in Bezug zu Musikalität stehen. Die meisten Gene, die als Kandidaten in Frage kommen, sind solche, die im engeren oder weiteren Sinne etwas mit der Geräuschverarbeitung im Gehirn zu tun haben. Dazu komme ich gleich etwas näher. Bevor ich das weiter erkläre, würde ich nur

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Abb. 3.9  Skyline von Manhattan in der Abenddämmerung. Aufgenommen von Roosevelt Island, im Vordergrund der East River. Nach der Skyline von Manhattan werden die üblichen Darstellungen der Ergebnisse genomweiter Assoziationsstudien als Manhattan-Plots benannt. Dabei entsprechen die Wolkenkratzer jeweils einzelnen Chromosomenabschnitten und es gilt: Umso höher, umso wahrscheinlicher ist eine Assoziation zwischen dem gesuchten Merkmal und dem betreffenden Bereich

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gerne erst noch die Amusie erwähnen, denn auch davon gibt es eine vererbte Form. Was ist Amusie? Warte, Wikipedia hilft mit einer Kurzdefinition: „Amusie („tone deafness“) ist die Unfähigkeit, trotz intakter Sinnesorgane Tonfolgen und/oder Rhythmen zu erkennen und diese vokal oder instrumental wiederzugeben.“ Wird wie die musikalische Anhedonie zu den musical disorders gezählt. Lange hat man angenommen, sie entstünden nahezu ausschließlich infolge von Gehirnschäden, also z. B. nach Schlaganfällen. Es gibt aber auch – und damit sind wir dann beim Thema – Amusien, die anscheinend angeboren sind und familiär gehäuft auftreten können.5 Che Guevara soll ein prominenter Betroffener gewesen sein, ebenso wie der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt. Von Che Guevara wird die Anekdote berichtet, er habe einmal mit seiner

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Partnerin einen Tango getanzt, während alle anderen auf der Tanzfläche Mambo tanzten. Nicht überliefert ist, warum die Partnerin nicht protestiert hat. Vielleicht war es die Begeisterung für den charismatischen Revolutionär oder sie hatte ebenfalls eine Amusie. Nach neueren Arbeiten ist das nämlich gar nicht so selten, wie man früher dachte. Isabelle Peretz und Dominique Vuvan haben 20.000 Menschen auf solche angeborene Amusie getestet und die Ergebnisse 2017 veröffentlicht.6 Die Testergebnisse zeigen, dass davon etwa 1,5 % eine Amusie hatten. Diese war auch durch Musikunterricht nicht zu „beheben“. Halt mal eben. Wie denn getestet? Und müssten Betroffene nicht auch Schwierigkeiten mit dem Singen haben? Ja, das haben sie wohl auch deutlich.7 Und auf Amusie untersucht wird üblicherweise mit Tests, bei denen es darum geht, bestimmte Veränderungen einer Melodie zu erkennen. Ah, ich sehe schon und kann das eben an einem Beispiel aufschreiben (Abb.  3.10). Unterbrechung oder bestimmte Veränderung eines Tons: Das könnten Unterschiede sein, die es zu hören gilt. Und die amusischen Testpersonen unterscheiden sich dann eindeutig von den anderen? Ja, aber es gibt auch innerhalb der Gruppe der Menschen mit Amusie Unterschiede. So waren deutlich mehr Studienteilnehmende in der Lage, den Fehler im Tonveränderungstest zu erkennen als den im Off-Beat-Test. Das heißt, es gibt anscheinend mehrere Unterformen der Amusie beziehungsweise mehr oder weniger ausgedehnte

Abb. 3.10  Beispiel aus einem Test auf Amusie („tone deafness“). Es geht dabei darum, ob Testpersonen Veränderungen einer Melodie erkennen können. a: ursprüngliche, unveränderte Melodie. b: Melodie mit einer Unterbrechung von weniger als einer Sekunde (357 msec, off-beat test). c: Melodie mit Veränderung eines Tones (violation). Nach (Siehe 6.)

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Amusie. Selten ist übrigens auch die sogenannte musische Agnosie, eine Art fehlendes Musikgedächtnis, die zusammen mit der Amusie auftreten kann. Damit haben wir über drei wichtige Störungen des „Musikempfindens“ gesprochen: musikalische Anhedonie, Amusie und musische Agnosie (music agnosia). Mindestens die ersten beiden können auch familiär gehäuft auftreten und die Amusie wird oft als eine Unterform der musischen Agnosie angesehen. Davon zu unterscheiden ist die auditive Agnosie, bei der ganz allgemein Alltagsgeräusche nicht adäquat erkannt werden. Womit wir wieder bei den Genen wären. Mach’s nicht so spannend. Welche Gene sind denn nun an der Entwicklung von Musikalität beteiligt und welche am Gegenteil, oder hat bei der Amusie noch niemand geschaut? Und vielleicht auch bei der musikalischen Anhedonie? Um es vorher noch ganz kompliziert zu machen: Es gibt auch die reine Geräuschagnosie, bei der die Betroffenen Sprache erkennen, aber ganz normale Alltagsgeräusche nicht korrekt identifizieren können. Nur so als Nebenbemerkung: Aus deiner kurzen Pause im Gambrinus sind schon wieder anderthalb Stunden geworden. Heute haben wir eben ein umfangreiches Programm zu diskutieren. Das heißt weniger touristische Aktivitäten und mehr im Café sitzen. Im Übrigen brauchen wir ja auch Zeit, weil du so viel wissen willst. Ich sehe schon voraus, dass dein genetisches Wissen sich abrunden und mein Musikwissen mangelhaft bleiben wird, wenn es so weitergeht. Du Armer! Aber ein bisschen Entwicklungspotenzial sehe ich bei dir auch noch. Sobald sich mein Mitleid gelegt hat, könntest du aber trotzdem ein Beispiel für Genetik und Musikalität geben. Klar, wie lange muss ich denn warten? Äh, warten? Worauf? Bis das Mitleid mit mir dich nicht mehr am Zuhören hindert. Um ehrlich zu sein, … Okay, Botschaft verstanden. Kommen wir zu einem konkreten Beispiel. In einer kürzlich publizierten, sehr umfangreichen GWAS wurde nämlich untersucht, ob bei Erkennung von Rhythmus und Takt genetische Faktoren eine Rolle spielen (Abb. 3.11). An der Studie teilgenommen haben über 600.000 Menschen. Bei solchen Zahlen kann man dann schon ziemlich fundierte Aussagen erwarten. Die Ergebnisse der Studie, zu-

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Experiment 1

Ist der 3. Rhythmus der gleiche wie 1 und 2? gleich

ungleich

Experiment 2

Tippen Sie im Takt mit der Musik!

Abb. 3.11  Design einer GWAS zur Erkennung von Rhythmus und Takt. Durchgeführt wurde die Studie mit 606.825 Teilnehmer/-innen, die zwei Aufgaben (= Experiment 1 und Experiment 2) lösen mussten. In Aufgabe 1 ging es um Rhythmuserkennung, in Aufgabe 2 um die Fähigkeit, im Takt einer vorgegebenen Musik zu tippen. Testdurchführung und Ergebnisübermittlung oblagen den Probanden und Probandinnen selbst. (Aus Niarchou M et al., 2022: Genome-wide association study of musical beat synchronization demonstrates high polygenicity. Nat Hum Behav 6, 1292–1309. https://doi. org/10.1038/s41562-­022-­01359-­x.)

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sammengefasst in einem Manhattan-Plot, wie es sich für eine GWAS gehört, zeigen über 60 verschiedene „verdächtige“ Stellen im Genom, teilweise sehr nahe an Genen (Abb. 3.12). Wenn ich richtig verstanden habe, ohne dass dies aber dann notwendigerweise schon die gesuchten Musikalitätsgene sind? Genau so ist es. Diese Gene stehen lediglich damit in Verdacht, dass sie in Bezug zu den geprüften Fähigkeiten stehen, sodass die Ergebnisse für eine sogenannte polygene Vererbung sprechen: Takt- und Rhythmusgefühl werden vermutlich durch das Zusammenspiel sehr vieler v­erschiedener Gene vermittelt. Jedenfalls finden sich bei dem Test signifikante Ausschläge in der Nähe vieler Gene.

Signifikanz für die getesteten Marker

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Abb. 3.12  „Manhattan-Plot“ der GWAS zur Erkennung von Rhythmus und Takt. Auf der x-Achse sind die einzelnen Chromosomen ihrer Länge nach angeordnet, Ausnahme bilden X- und Y-Chromosom (immer ganz rechts, Y-Chromosom fehlt hier). Der jeweils einem Chromosom zugeordnete Teil der Skyline des Genoms ist unterschiedlich farbig dargestellt. Mit kursiven Großbuchstaben oberhalb der „Skyline“ sind Kandidatengene bezeichnet. In der insgesamt 606.825 Probanden umfassenden Studie hatten aufgrund ihrer Ergebnisse 555.660 Probanden mit „ja“ auf die Frage geantwortet, ob sie im Takt der Musik klatschen können, 51.165 hatten das verneint

Viele Gene – viele Begabungen Taktgefühl: Genetisch und musikalisch gesehen Sie: Er:

Wie muss ich mir die Nähe zu Genen eigentlich vorstellen? Sind denn nicht überall auf der DNAGene? Tatsächlich nicht; nur ein ziemlich kleiner Teil des Genoms enthält Gene. Der Rest ist genlose DNA. Die Gene sind ein bisschen wie Oasen in der Wüste und die Stellen im Genom, die wir als Marker für die GWAS nehmen, können durchaus ziemlich weit vom nächsten Gen entfernt sein. Bisher haben wir daher mit gutem Grund über die Identifizierung von Kandidatengenen gesprochen. Und das ist wörtlich gemeint. Ein kausaler Zusammenhang zwischen einem Gen und dem u ­ ntersuchten Merkmal kann durch eine GWAS nämlich nicht bewiesen werden. Dazu schaut man sich die so einem Marker nahe liegenden Gene beziehungsweise deren Funktion dann im nächsten Schritt näher an.

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Heißt das, wenn man verdächtige Stellen identifiziert hat, fängt die echte Arbeit erst an, weil man schauen muss, welche Gene wirklich die richtigen sind? Echte Arbeit ist das vorher auch schon, aber du hast völlig recht, dass es ab dann erst wirklich spannend wird. Die GWAS-Methode sagt nur etwas darüber aus, welche Gene in Frage kommen könnten. Aber lass uns mal bezahlen und aufbrechen, wir können ja auch bei einem kleinen Stadtbummel weiterreden. Ich würde gerne noch was zum VRK2-Gen8 und zum GMP6A-Gen9 sagen, die beide in der GWAS zu Takt und Rhythmus sehr auffällig assoziiert waren, weil bei ihnen der höchste Ausschlag regis­ triert wurde. Wenn es nicht allzu lange dauert, dann erkläre das doch jetzt noch mal eben. VRK2 ist ein Gen auf Chromosom 2. Bestimmte Varianten von VRK2 sind mit einem erhöhten Schizophrenie-­Risiko assoziiert. Das Protein des VRK2 ist in mehreren Hirnarealen aktiv und vermittelt dort Signalübertragungswege. Ebenso wie beim VRK2 gehen auch bestimmte GMP6A-Varianten mit einem erhöhten Schizophrenie-­Risiko einher. Bei Ratten führt pränataler Stress im Bereich des präfrontalen Cortex und des Hippocampus (Hirnareal unter den Temporallappen, s. Abb. 2.11 und 2.12) zu erhöhter Expression des GMP6A-Proteins.10 Im präfrontalen Cortex werden sensorische Eindrücke mit gespeicherten Inhalten abgeglichen und zu Handlungen umgesetzt. Dieser Bereich wird deswegen auch als der Regisseur des Gehirns bezeichnet. Es ist wohl kaum zufällig, dass zwei Gene, die mit Rhythmus und Takt assoziiert sind, wichtige Funktionen im Gehirn erfüllen. Spannend. Aber habe ich einen falschen Eindruck oder gibt es von den Funktionen dieser beiden Gene noch nicht so richtig viel gesichertes Wissen? Erwischt. Du hast völlig recht. Das gilt allerdings für sehr viele andere Gene ebenso und ist nicht typisch für „Musikalitätsgene“.

Unser zweiter Versuch, zu bezahlen und aufzustehen, gelingt dann. Wir verbinden einen Stadtspaziergang durch das noble Chiaia-Viertel mit der Fortsetzung unseres Gespräches über die sogenannte funktionelle Annotation von Genen. Was so kompliziert klingt, steht eigentlich nur für die Beschreibung der Funktion eines Genproduktes. In unseren Zellen wird in einem komple-

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xen Vorgang die Information eines Gens in Genprodukt umgesetzt. Das einzelne Gen ist nämlich so etwas wie ein Bauplan. Obwohl aber im Wesentlichen die Ausstattung an Genen in allen Zellen gleich ist, werden nicht alle Baupläne in allen Zellen und in allen Situationen benutzt, sondern jeweils nur ein kleiner Teil, abhängig unter anderem von der Art der jeweiligen Zelle und ihren „Lebensumständen“. Am besten lässt sich das mit einem Vergleich verdeutlichen. Uns umgibt hier eine Fülle kleiner Lebensmittelläden mit leckeren Angeboten von Wurst, Käse bis zu Schokolade. Das inspiriert zu einem Beispiel aus diesem Bereich. Wir stellen uns vor, dass wir in der Küche zu irgendeinem Anlass ein themenbezogenes, zum Beispiel italienisches Menü zubereiten wollen. Wir sind dazu auf Bibliotheksbestände von Kochbüchern, die dem Genom entsprechen, angewiesen. In der Bibliothek steht ganz altmodisch ein Regal, auf dem wir in zahlreichen Bänden von Kochbüchern mit noch wesentlich zahlreicheren alphabetisch sortierten Rezepten die einzelnen Teile unseres Menüs finden können. In diesem Vergleich entspricht das Regal dem Genom, die einzelnen Bände des Kochbuches sind die Chromosomen und die Rezepte die Gene, vielleicht finden sich auch an einigen Stellen der Kochbücher Lesezeichen, die besonders häufig verwendete Rezepte markieren. Für unser geplantes Menü müssen wir uns zunächst entscheiden, wie wir welche Gänge aussuchen und kombinieren wollen, dann die Auswahl treffen und die Rezepte abschreiben, damit wir sie dann in die Küche mitnehmen können. Die Kochbücher müssen nämlich in der Bibliothek bleiben. In der Zelle entstehen so von der Vorlage des Genoms die Transkripte, also Abschriften. In der Zelle bildet ein Molekül die Abschrift, das RNA heißt. Davon haben wir alle im Zusammenhang mit Coronaimpfstoffen gehört. Schließlich werden wir dann den Rezepten folgend die Gerichte zubereiten. In der Zelle werden entsprechend von den RNA-Transkripten Proteine hergestellt, indem die RNA-Sequenz in eine Proteinsequenz übersetzt, translatiert, wird (s. Abb. 3.13). Die Rezepte eines einzelnen Gens können natürlich mehr oder weniger individuell variieren, aber es können auch Seiten im Kochbuch fehlen. Sie: Er:

Das heißt, ein ganzes Gen fehlt in der Zelle oder dem Menschen? Was passiert dann? Das ist erst einmal nicht so schlimm, wie es sich anhört, weil grundsätzlich alle Chromosomen doppelt vorhanden sind bis auf das X- und Y-Chromosom beim Mann. Dadurch sind die allermeisten Gene auch in zwei Ausfertigungen vorhanden und eine intakte Version eines Gens reicht meistens aus, um die Funktion des Gens beziehungsweise seines Proteins aufrechtzuerhalten. Es

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DNA

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Genomics

Transkription

RNA

Transcriptomics

Translation

Protein

Proteomics

Abb. 3.13  Wie ein Protein entsteht: Von der DNA wird zunächst eine Abschrift in Form eines RNA-Moleküls erstellt. Die Basen eines Teilstranges der doppelsträngigen DNA werden dabei in die Basen der einzelsträngigen RNA umgeschrieben. Diesen Vorgang nennt man Transkription. Das Transkript, also das RNA-Molekül, verlässt dann den Zellkern und außerhalb wird die Basensequenz der RNA in die Aminosäurensequenz des betreffenden Proteins übersetzt (Translation). (Teile der Abbildung aus Nakata et al., 2022: Transcription Dynamics: Cellular Automaton Model of Polymerase Dynamics for Eukaryotes. https://link. springer.com/chapter/10.1007/978-­981-­16-­7132-­6_1.)

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gibt eben dann nur ein Lasagne-Rezept statt zwei. Kritisch kann es werden, wenn dieses eine Rezept nicht ausreicht, um pro Zeiteinheit mehrere Abschriften vom Rezept zu erstellen, damit genügend Lasagne, also Protein, hergestellt werden kann. Und Probleme drohen natürlich sowieso, wenn beide Versionen beschädigt sind oder fehlen. Und wenn das eintritt, können die Zellen überhaupt nicht leben oder der Mensch leidet unter Entwicklungsstörungen? Beides kann passieren, wenn essenzielle Gene betroffen sind. Manchmal ist es aber auch so, dass dann andere, ähnliche Gene beziehungsweise Proteine die Funktion des fehlenden übernehmen und es statt Lasagne dann andere Pasta gibt. Aber um die Auswirkungen genau voraussagen zu können, muss man das betroffene Gen kennen.

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Verstehe. Und sehe ich das richtig, dass ihr Männer von der Evolution ein bisschen schlecht behandelt worden seid, weil ihr einige Gene nur in einfacher Ausfertigung abbekommen habt? Ja, diejenigen, die auf dem X-Chromosom und dem Y-Chromosom liegen, um es genau zu sagen. Wobei auf dem X sogar ziemlich viele Gene liegen. Die Gene für Farbsehen gehören zum Beispiel dazu und das ist der Grund, warum so viel mehr Männer Farbsehschwächen haben als Frauen. Und der Vollständigkeit halber: Die Y-Chromosom-spezifischen Gene haben nur Männer. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass das ziemlich wenige Gene sind. Und dass die Erfahrung von rund 50 % der Menschheit zeigt, dass man auf die offenbar ganz gut verzichten kann. Interessante Perspektive jedenfalls und mag noch so einiges andere erklären.

 enomics ist kein Humangenetiker aus dem kleinen G gallischen Dorf Er:

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Bevor du jetzt in den Bereich unwissenschaftlicher Spekulationen eintauchst, lass mich schnell was zum Annotieren ergänzen. Wenn wir ein Gen funktionell annotieren, so bedeutet das jedenfalls nichts anderes, als dass wir eine Vorstellung gewinnen, wie sein Genprodukt wirkt. Natürlich spielen die Varianten dabei die größte Rolle, aber Nuancen in einem Rezept können ja auch großen Einfluss auf dessen Geschmack haben. Die einzelnen Schritte bei der Umsetzung von Genen in Genprodukt werden heute sehr intensiv beforscht und analysiert. Entsprechend hat sich der Name der OMICS-­Wissenschaften etabliert, die sich wiederum immer mehr zu essenziellen Teilen der modernen Biowissenschaften und Medizin etablieren. Im Einzelnen sind das Genomics, Epigenomics, Transcriptomics und Proteomics, vielleicht schon mal gehört? Genomics ja und Epigenomics auch, aber erklär besser trotzdem noch einmal kurz. Epigenomics möchte ich erstmal auslassen; dazu kommen wir später. Starten wir also mit Genomics (Abb.  3.13). Das ist der Bereich, der sich mit der DNA, dem Genom und drum herum beschäftigt. Wir hatten ja vorhin über die genomweiten Assoziationsstudien gesprochen. Die gehören natürlich in den

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Bereich der Genomics. Das Nächste sind dann die Transcriptomics, also die Beschäftigung mit den RNAs. Nicht jede Zelle „benutzt“ jedes Gen zu jeder Zeit und schon gar nicht gleich intensiv. Diese Unterschiede sagen ganz viel über Art und Funktionszustand von Zellen aus und entsprechende Fragestellungen stehen im Fokus der Transcriptomics. Wir kommen bestimmt noch zu solchen Studien. Und dann sind wir auch schon bei den Proteomics. Da ist der Name Programm, denn es geht um die Proteine. Unter anderem auch wieder darum, welche und wie viele in Zellen vorkommen und wie sich das ändert, aber natürlich auch um die Funktion der Proteine. Damit sind wir dann wieder beim Annotieren, oder? Was gibt es denn dazu nun zu berichten?

 as absolute Gehör: musikalischer Ritterschlag oder nur D nice to have? Er:

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Okay, nehmen wir uns vielleicht exemplarisch das absolute Gehör vor. Bach und Mozart sollen es gehabt haben. Aber ich habe zuerst eine Rückfrage: Mit absolutem Gehör ausgestattete Menschen können einen Ton, den sie hören, sofort bestimmen, richtig? Jedenfalls nicht ganz falsch, wenn man alle Augen zudrückt. Die Betonung darf allerdings nicht auf sofort liegen. Entscheidend ist, dass sie einen Ton recht genau bestimmen können, ohne zuvor einen Referenzton gehört zu haben. Und einige können auch ohne Referenzton einen beliebigen Ton singen. Insgesamt ist das sehr selten, in Mitteleuropa etwa bei einem von 10.000 Menschen zu finden. Häufiger ist es bei Menschen, die tonale Sprachen sprechen. Das sind Sprachen, bei denen die Tonhöhe mit der Wortbedeutung zu tun hat, Mandarin gehört zum Beispiel dazu. Und Menschen mit absolutem Gehör findet man auch deutlich häufiger unter professionellen Musikern und Musikerinnen. Ist das also der Ritterschlag in Sachen Musikalität? Nein, eindeutig nicht. Eher eine musikalische Sonderbegabung, die in manchen Situationen hilfreich sein kann und vielleicht daher bei Profimusikern und -musikerinnen häufiger vorkommt. Ein relatives Gehör zu haben, das heißt Töne nach einem Referenzton gut einordnen zu können, ist dagegen für Musikausübende viel wichtiger. Ich habe mich schon länger ge-

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fragt, was bei dem absoluten Gehör wirklich dahintersteckt. Wo ist die Besonderheit? Hat ja wahrscheinlich eher etwas mit der Fähigkeit zu tun, Töne durch Vergleich einordnen zu können, indem der Referenzton quasi im Gehirn gespeichert ist und zum Vergleich jederzeit abgerufen werden kann. So ähnlich hat das wohl Stumpf auch schon gesehen. Stumpf ist wer? Nicht gut aufgepasst, Stumpf hatten wir schon im Zusammenhang mit der musikalischen Anhedonie kennengelernt. Der Psychologe und Musikforscher Friedrich Carl Stumpf (1848–1936) gilt aber auch als Erstbeschreiber des absoluten Gehörs und hat diese Fähigkeit zunächst als absolutes Tongedächtnis bezeichnet. Der Begriff „absolutes Gehör“ ist dann später entstanden. Stumpf schreibt 1883:

„Aber auch ohne jegliches Intervallurteil ist es möglich, die absolute Höhe eines gegebenen Tones zu bestimmen und denselben zu benennen: durch einfache, sei es überlegende oder reflektionslose, Vergleichung mit den im Gedächtnis reproducirten früher gehörten Tönen, deren Benennung bekannt ist.“11

In die gleiche Richtung geht auch der englische Begriff für absolutes Gehör: absolute pitch, verkürzt für absolute pitch recognition. Er: Sie:

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Also doch eher eine Gehirnleistung als ein per se verfeinertes Hörempfinden? Ja, eindeutig eher Gehirn als Ohr; insofern war Stumpf mit seiner Einschätzung schon ziemlich modern. Und ich glaube, es gibt durchaus auch Studien, die zeigen, dass das absolute Gehör nicht im Sinne einer „Alles oder nichts“-Entscheidung vorhanden ist oder fehlt.12 Vielmehr könnte es da eher fließende Übergänge geben (Abb. 3.14). Hältst du das für wahrscheinlich? Ja, natürlich, solch eine Verteilung passt zu dem, was wir in der Genetik von sogenannten multifaktoriellen Erbgängen kennen, bei denen neben genetischen auch andere Faktoren zur Merkmalsausprägung beitragen. Damit sind wir auch schon wieder bei der Genetik, den GWAS und dem Annotieren. Das absolute Gehör ist insofern ein recht gutes Beispiel, weil es sicherlich eine genetische, also vererbbare Komponente hat, ohne dass damit die Entstehung des absoluten Gehörs komplett erklärt ist. Übrigens zeigt eine neuere Studie, über die wir schon sprachen,

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Anzahl der Probanden

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Genauigkeit in Prozent Abb. 3.14  Absolutes Gehör: Gibt es nur Ja oder Nein? Ergebnisse einer Untersuchung an Personen, die nach eigener Angabe entweder über ein absolutes Gehör verfügten oder nicht. Die Testpersonen hatten fünf Sekunden Zeit, um per Tastendruck den Ton korrekt zu identifizieren. Danach wurde die Erkennung als Fehlversuch gewertet („time out“). Für den Test wurden etwa gleiche Gruppengrößen ausgewählt. Die Ergebnisse zur Genauigkeit der Tonerkennung legen nahe, dass es nicht eine eindeutige Unterscheidung von zwei Gruppen gibt, und sprechen damit eher für einen multifaktoriellen Erbgang des absoluten Gehörs (Siehe 12.)

Sie:

dass die Verknüpfungen im Gehirn bei absolut hörenden nicht anders sind als bei nicht absolut hörenden Musikern.13 Also die Verknüpfung ist es nicht generell. Es sind jedenfalls viele Familien beschrieben, in denen es bedeutend häufiger auftritt, als man es mit reinem Zufall erklären könnte (Abb.  3.15). Und auch Befunde aus der Zwillingsforschung lassen eine deutliche genetische Komponente vermuten. Eineiige Zwillinge zeigen bezüglich des Merkmals klar höhere Übereinstimmungswerte als zweieiige. Insgesamt ist das absolute Gehör damit eine erfolgversprechende Eigenschaft für eine GWAS.  Tatsächlich gibt es entsprechende GWAS auch; die ersten Ergebnisse zu dem Thema sind auch schon deutlich über zehn Jahre alt. Die Ergebnisse zeigen recht deutliche Assoziationen zu vier Chromosomenabschnitten, teilweise allerdings abhängig von der geografischen Herkunft der untersuchten Absoluthörenden.14 Könnte ja vielleicht damit zu tun haben, dass bei Menschen, die tonale Sprachen sprechen, der Prozentsatz von Absoluthörenden ohnehin deutlich höher ist.

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Abb. 3.15  Über drei Generationen reichender Stammbaum einer Familie, in der häufig absolutes Gehör auftritt. Die Darstellung folgt der Übereinkunft zur Darstellung von Stammbäumen, die in der Humangenetik allgemein anerkannt ist. Danach werden Männer mit quadratischen und Frauen mit kreisförmigen Symbolen dargestellt. Von „alt nach jung“ werden die Generationen von oben nach unten angeordnet und mit römischen Zahlen bezeichnet. I ist also die Generation der Großeltern, II die der Kinder und III die der Enkelkinder. Grau ausgefüllte Symbole stehen für Familienmitglieder, die positiv auf absolutes Gehör getestet wurden, die mit Rautenmuster für selbst angegebenes absolutes Gehör. Durchgestrichen sind zum Zeitpunkt der Analyse verstorbene Familienangehörige. (Baharloo S et al. 1998: Absolute pitch: an approach for identification of genetic and nongenetic components. Am J Hum Genet. 62, 224–31. doi: 10.1086/301704. PMID: 9463312; PMCID: PMC1376881, verändert.)

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So wird das auch diskutiert. Bei Menschen aus Ostasien zum Beispiel zeigt von den vier Stellen nur eine Signifikanz. Dort scheinen die genetischen Grundlagen für absolutes Gehör also anders verteilt zu sein. Aber zu den GWAS. Es ist dann also so, dass mehrere Gene beziehungsweise deren spezielle „Ausfertigungen“ zum absoluten Gehör beitragen, aber auch wenn man sie hat, gehört man noch nicht sicher zu den 0,1 Promille der Glücklichen? Hab’ ich das richtig verstanden. Ja, genau so ist es. Insgesamt ergibt sich das folgende Bild: Es gibt nicht das eine Gen für absolutes Gehör, sondern ob jemand es hat oder nicht, hängt wahrscheinlich von verschiedenen Fak­ toren ab, zu denen eben auch die Information bestimmter Kandidatengene beziehungsweise deren Varianten beitragen. Insgesamt scheinen aber deutlich weniger Gene dabei im Spiel zu sein als bei Takt- und Rhythmusgefühl, über das wir vorhin ge-

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sprochen hatten. Andere Faktoren, die zum absoluten Gehör beitragen, sind zum Beispiel Art und Ausmaß der frühen Förderung. Fehlt die, ist die Wahrscheinlichkeit, dennoch ein absolutes Gehör zu haben, deutlich geringer. Aber nun zur lange erwarteten Annotation der Gene. Die auffälligste Assoziation mit dem absoluten Gehör findet sich bei einer Stelle auf dem Chromosom 8. In der Nähe sind vier Gene, besonders heißer Kandidat ist für mich dabei das sogenannte ADCY8-Gen, die Abkürzung steht für Adenylat Cyclase 8. Warum ist das ein besonders heißer Kandidat im Zusammenhang mit absolutem Gehör? Wie so viele andere Gene hat das ADCY8 Funktionen in verschiedenen Zellen. Hier interessant ist die Funktion seines Proteins im Gehirn. Dort steht sie in Zusammenhang mit der Plastizität von Nervenzellen und der Funktion des Lang­ zeitgedächtnisses. Antrag zur Geschäftsordnung. Das Thema wird allmählich zu schwierig, um es im Laufen weiter zu diskutieren. Lass uns den Rest des Nachmittages ohne Genetik genießen und heute Abend bei einem Glas Wein erzählst du mir weiter über Kandidatengene, einverstanden? Ich hätte den Antrag nicht besser formulieren können.

Ist Musikalität gleichmäßig auf unsere Chromosomen verteilt? Wir haben nach einem abendlichen Spaziergang am Mittelmeer und am Park der Villa Comunale entlang in einer kleinen Sushi- und Weinbar sehr gut gegessen, als unserem ursprünglichen Plan entsprechend das Thema der Musikgene wieder aufkommt. Sie:

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Wie viele Gene gibt es eigentlich ungefähr, die in den verschiedenen Studien mit besonderen musikalischen Leistungen, welcher Art auch immer, in Verbindung gebracht werden? Dazu zähle ich auch besondere Freude an Musik und Ähnliches. Auf alle Fälle ziemlich viele. Wie du schon sagst, es gibt nicht die eine Musikalität, sondern viele verschiedene musikalische Begabungen, die sich von der Genetik her wohl nur teilweise überlappen. Und es ist auch keine ganz einfache „Ja/nein“-Ent-

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nicht musikalische Kreativität

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Abb. 3.16  Unterschiedliche musikalische Begabungen haben unterschiedliche genetische Grundlagen, hier gezeigt an den entsprechenden Manhattan-Plots für die vollständigen Plots mit allen Chromosomen. Hotspot-Bereiche des Genoms für die einzelnen Fähigkeiten (jeweils höchste Assoziation) sind hervorgehoben. Für Arrangieren ist das ein Bereich von Chromosom 16, für Komponieren von Chromosom 4, für Musikalität ohne Aktivitäten im Bereich von Arrangieren oder Komponieren von Chromosom 18 und für Kreativität außerhalb der Musik das X-Chromosom

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scheidung, denn einige Genvarianten haben größeren Einfluss als andere. Entsprechend sehen die Manhattan-Plots für unterschiedliche musikalische Begabungen auch durchaus anders aus. Ganz anschaulich ist das, wenn man Daten einer Studie von 2016 zu Kreativität in der Musik anschaut (Abb. 3.16).15 Das leuchtet schon ein, wenn man verschiedene Arten von musikalischer Begabung vermutet, dann wird ja auch deren genetische Grundlage teilweise unterschiedlich sein. Was eine Übersicht über die Gene angeht, so ist da schließlich auch noch die Frage, ob man Daten zu „musikalischen Tieren“ wie Singvögeln hinzunimmt, denn wir haben sehr viele ähnliche Gene. Also sind die Angaben insgesamt recht grob. Wenn ich aber die Zahl der „heißesten Kandidaten“ überschlage, sind das etwa 50–80 proteinkodierende Gene. Hinzu kommen dann noch

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einige, bei denen das endgültige Genprodukt bereits die RNA ist, die also keine Proteinbaupläne sind. Gut, bleiben wir bei den proteinkodierenden. 50–80 von wie viel, nur um einen Eindruck zu bekommen? Von etwa 19.000. Bei denen dann aber natürlich praktisch nie die alleinige Funktion ist, uns die Begabung zum Musikmachen oder Freude am Hören zu vermitteln. Auffällig viele davon sind übrigens auf Chromosom 4 lokalisiert. Warum ausgerechnet Chromosom 4? Schwer zu sagen. Von einer finnischen Arbeitsgruppe wurden 2016 über 30 Top-Gene identifiziert, die zu diesem Zeitpunkt mit Musikalität bei Menschen und Tieren, unter anderem Singvögeln, in Verbindung gebracht wurden. Die kürzlich identifizierten Gene für Rhythmus und Takt sind dabei natürlich noch nicht enthalten. Jedenfalls entfielen von diesen 30 Top-Genen immerhin sieben auf das menschliche Chromosom 4, also ungefähr ein Viertel (Abb.  3.17). Das ist eine außergewöhnliche Häufung, wenn man die Größe des Chromosoms 4 im Vergleich zum gesamten Genom berücksichtigt, die etwa 6 % beträgt. Auf Chromosom 4 drängeln sich die Musikalitätsgene also nur so. Das kann Zufall sein, es kann aber auch mehr dahinterstecken. Aber man sieht auch, dass diese Häufung nur für bestimmte Fähigkeiten besonders ins Auge fällt. Da muss ich direkt nachfragen: Was zum Beispiel?

 elche Schlüsse die herausragende Rolle von W Chromosom 4 zulässt und welche nicht Er:

Wie alle Chromosomen haben sich auch die der Tiere im Laufe der Evolution verändert. Es könnte sein, dass der betreffende Bereich von Chromosom 4 bei den meisten Arten der Säugetiere dabei quasi im Stück erhalten geblieben ist (Abb. 3.18). Das heißt natürlich nicht, dass wir ihn dann identisch überall wiederfinden, aber dass wesentliche Gene darin in einer festen Reihenfolge verblieben sind. Und in der Tat weist das menschliche ­ Chromosom 4 solche Teile auf. Vergleicht man die Daten allerdings mit denen anderer Chromosomen, ist das nicht sonderlich auffällig, weil auch bei denen oft entsprechende Bereiche existieren.

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Abb. 3.17  Kandidatengene für Musikalität. Kreisförmig angeordnet die menschlichen Chromosomen von 1 bis 22. Neben jedem Chromosom die Größenangaben zu seiner DNA-Länge sowie die auf diesem Chromosom identifizierten Kandidatengene. (Geändert, nach: Oikkonen J. et al. 2016: Convergent evidence for the molecular basis of musical traits. Sci. Rep. 6, 39707. doi: 10.1038/srep39707.). Copyright Springer

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Aber heißt das, Pferde und Hühner sind weniger musikalisch als die anderen untersuchten Tiere? Nein, das heißt es nicht. Die Gene sind ja in der Regel trotzdem vorhanden, nur eben nicht in der Anordnung, die wir vom menschlichen Chromosom 4 kennen. Mit welchen Arten von Musikalität sind die betreffenden Gene von Chromosom 4 denn assoziiert? Grundsätzlich mit unterschiedlichen. Allerdings gibt es auch Gene, die bei Tests auf gleich mehrere verschiedene Arten von Musikalität aufgefallen sind. Ein gutes Beispiel für solche mehr-

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Abb. 3.18  Homologe Abschnitte des menschlichen Chromosoms 4 zu den Chromosomen sieben anderer Säugetiere und des Huhns. Homologe Abschnitte, auf denen sich die gleichen Gene finden, sind mit senkrechten roten (Säugetiere) beziehungsweise (Fortsetzung)

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Abb. 3.18  (Fortsetzung) schwarzen (Huhn) Balken gekennzeichnet. Im „musikalischen Bereich“ des Chromosoms zwischen q21 und q24 finden sich umfangreiche Homologien bei sechs der untersuchten anderen Säugetiere und deutlich weniger ausgedehnte Homologien bei Pferd und Huhn. Die Skala links neben dem Chromosom bezieht sich auf dessen Größe in Millionen Basenpaaren (Mb), rechts daneben die Bezeichnung der Banden. Supplement zu (Ruiz-Herrera A et  al. 2006: Is mammalian chromosomal evolution driven by regions of genome fragility? Genome Biol 7, R115. https://doi.org/10.1186/gb-­2006-­7-­12-­r115.)

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fach auffälligen Gene ist das Synuclein-­Alpha-­Gen, abgekürzt SNCA. Es enthält die Bauanleitung für ein gleichnamiges Protein, das mit der Parkinson-Erkrankung in Zusammenhang steht und daher besonders intensiv beforscht wird. Ein Gen ist für Parkinson verantwortlich? Genauer gesagt dessen Protein. Ja, in den Vorstellungen zur Entstehung der Parkinsonkrankheit spielt dieses eine Protein eine große Rolle, weil man vermutet, dass seine Verklumpungen für Parkinson und andere neurodegenerative Erkrankungen ursächlich sind. Und gleichzeitig kann man es wohl ohne Übertreibung als eines der Top-­Musikalitätsgene bezeichnen.16 Was macht sein Protein denn genau? Gute Frage, so ganz genau weiß man das bis heute nicht. Es kommt überwiegend im Gehirn vor und soll dort an der Regulation der Ausschüttung von Dopamin beteiligt sein. Es gehört so gesehen zu den Proteinen, die zum Funktionieren unseres Belohnungssystems, des mesolimbischen Systems, im Gehirn beitragen. Ohnehin fällt bei der Gruppe der „Musikalitätsgene“ etwas auf. Die allermeisten hängen nämlich entweder mit dem Belohnungssystem zusammen und/oder mit Lernen beziehungsweise Erinnern. Dagegen gibt es kaum „Musikalitätsgene“, deren Funktionen mit der Hardware des Hörens oder motorischen Fähigkeiten in Zusammenhang stehen. Diese Hardware wäre dann ja der Aufbau des Ohres und in Bezug auf das Musizieren vielleicht die anatomischen Besonderheiten, über die wir sprachen. Stichwort Bachs Hände. Vielleicht führt eine herausragende Funktion in diesem Bereich aber gar nicht zu den Sonderleistungen, die wir hier meinen. Und der im Alter ertaubte Beethoven war ja sogar noch in der Lage, zu komponieren. Ist das eine besondere Leistung des Tongedächtnisses?

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Auf alle Fälle denkbar. Abruf aus dem Langzeitgedächtnis. Die Absoluthörer müssen den fiktiven Referenzton ja ebenfalls irgendwie abrufen können. Meinst du, der Musikgeschmack hat auch etwas damit zu tun? Also mit dem Tongedächtnis? Aber bevor wir über den Geschmack sprechen: Mir ist noch nicht so recht klar, wie die vielen verschiedenen Zellen, aus denen unser Körper besteht, überhaupt entstehen. Die haben ja alle die gleichen Gene. Ich muss gestehen, dass mir ein ­bisschen mehr Information über Genetik und menschliche Entwicklung helfen würde, um die Welt der Gene noch ein bisschen besser zu verstehen. Lässt sich das machen? Puh, so spät am Abend nochmal einen kleinen Ausflug in die Entwicklungsgenetik? Das ist wahrer Enthusiasmus. Ich erzähl mal in Kurzform, was ich dazu beitragen kann. Ist auch eigentlich nicht so kompliziert.

 ie alles beginnt: Die Entstehung der Hardware W des Musikempfindens. Anlage von Ohr und Hörsinn. Ein Ausflug in die Embryonalzeit Am Anfang ist die Eizelle Eizelle und Spermium bringen für die Befruchtung in ihren Zellkernen jeweils einen einzelnen Chromosomensatz mit (s. Abb. 3.18). Im Regelfall sind das von der Eizelle 23 Chromosomen, von denen 22 mit Zahlen bezeichnet werden, und zusätzlich ein X-Chromosom. Vom Spermium sind es ebenfalls 23, wobei darin entweder ein X- oder ein Y-Chromosom enthalten ist. Das Geschlecht des Kindes hängt also davon ab, ob bei der Befruchtung ein X-Spermium oder ein Y-Spermium „das Rennen macht“. Sie: Er:

Wirklich ein Wettrennen, welches Spermium als erstes die Eizelle erreicht? Im Grunde schon. Um die Eizelle herum herrscht ein ziemliches Gedränge und die Entscheidung fällt grundsätzlich nach der Regel First come  – first serve. Um zu verhindern, dass mehrere Spermien eine Eizelle befruchten, wird nach Eindringen eines Spermiums normalerweise der Eintritt für alle weiteren versperrt (Abb. 3.19a). Der Großteil der genetischen Information von den

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Abb. 3.19  Genetik der Befruchtung. a: Eindringen eines Spermiums in die Eizelle. b: Nach der Befruchtung liegen die beiden Zellkerne von Eizelle und Spermium zunächst noch getrennt vor. Sie verschmelzen erst bei der ersten Zellteilung der befruchteten Zelle. Abkürzungen: Ez: Eizelle, Sp: Spermium, ZKEz: Zellkern der Eizelle, ZKSp: Zellkern des Spermiums, MtEz: Mitochondrien der Eizelle, MtSp: Mitochondrien des Spermiums, mVK: mütterlicher Vorkern, vVK: väterlicher Vorkern

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Eltern ist dann auch in diesen zweimal 23 Chromosomen gespeichert, die zunächst bis zur ersten Teilung der nun befruchteten Eizelle noch je in einem mütterlichen und einem väterlichen Vorkern liegen (Abb. 3.19b). Vergleichsweise sehr kleine DNAMengen finden sich daneben zusätzlich in den Kraftwerken der Zellen, den Mitochondrien. Die im heranwachsenden Embryo später nachweisbare DNA der Mitochondrien stammt nahezu ausschließlich von der Mutter. Hat diese mitochondriale DNA denn überhaupt eine Funktion oder ist die einfach nur da? Auch wenn es tatsächlich, gemessen an DNA-Basen und der Zahl der Gene, eine vergleichsweise kleine Menge ist, hat sie durchaus wichtige Funktionen. Veränderungen einiger mitochondrialer Gene führen zum Beispiel zu angeborener Taubheit.17 Aber nun weiter in der Embryonalentwicklung. Zunächst sind die Zellen des heranwachsenden Embryos noch alle gleich, das ändert sich aber bald. Mit der Zeit entstehen viele unterschiedliche Zelltypen mit unterschiedlichen Aufgaben.

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Wie kommt denn diese Differenzierung der Zellen zustande? Alle haben doch die gleichen Gene. Wieso können sie dann so verschieden sein?

Woher ein Gen weiß, ob es aktiv sein muss Er:

Erinnerst du dich noch an meinen Vergleich mit den Kochbüchern? Bald nach Befruchtung der Eizelle bilden sich im frühen Embryo verschiedene Zelltypen und die ersten Organanlagen entstehen, weil die Zellen beginnen, sich in den Genen, die sie benutzen, zu unterscheiden. Im Prinzip haben alle Gene An- und Ausschalter, die sie steuern. Das sind DNA-Sequenzen vor oder auch hinter den Genen, an denen wiederum spezielle Proteine ansetzen. Diese Regulationsnetzwerke sind oft im Einzelnen noch wenig verstanden, führen aber jedenfalls dazu, dass Gene zelltyp- und situationsbedingt an- und abgeschaltet werden. Weitere Möglichkeiten der Kontrolle der Genaktivität bieten epigenetische Veränderungen der DNA im Bereich der Schalter. Die ursprüngliche DNA-Sequenz ist dabei erhalten, wird aber modifiziert.

 ntwicklung gesteuert von Genen. Exkurs über die E Entwicklung unseres Hörsystems beginnend mit der Embryonalzeit Die anatomischen und physiologischen Eigenschaften, die uns ermöglichen, Musik zu hören und darauf zu reagieren, sind damit letztendlich Folge der Aktivität von Genprodukten. Dies gilt unter anderem für die äußerst filigranen Strukturen von Ohr und Gehirn, zu deren Aufbau die qualitative und quantitative Koordination der sogenannten Genexpression, also der Umsetzung von Genen, erforderlich ist. Um diese Prozesse zu analysieren, kommt die Gruppe der schon beschriebenen OMICS-Wissenschaften zum Zuge. Unterschiede in der Genexpression fallen dabei in den Bereich der Transcriptomics. Will man wissen, welche Gene in welchen Zellen in welchem Ausmaß aktiv sind, so wird aus diesen Zellen die RNA isoliert. Über ihre Sequenz kann man die einzelnen RNA-Moleküle dann den Genen zuordnen, von denen die RNA-Moleküle ja nur Blaupausen sind. Für die Bestimmung von Genaktivitäten hat aber auch der Werkzeugkasten der Proteomics gute Me-

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thoden parat. So kann man zum Beispiel durch verschiedenfarbig markierte Antikörper direkt die Proteine sichtbar machen, gegen die sich der jeweilige Antikörper richtet. Sie:

Stopp mal, das Letzte war mir jetzt deutlich zu schnell.

Wie man Proteine sehen kann Er:

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Sorry. Man kann gegen Proteine Antikörper herstellen, die selektiv an das jeweilige Zielprotein binden. Und diese Antikörper wiederum kannst du farblich markieren. Auf diese Weise siehst du, wo sich die Proteine, an denen du interessiert bist, in einem Gewebe „aufhalten“. Weil man für diese Art der Analyse Antikörper verwendet, spricht man von einer Immunfärbung. Ich zeige dir das an einem Beispiel zur frühen Entwicklung des Gehörsinnes bei der Maus. Es geht bei der Studie18 hauptsächlich um die Rolle eines bestimmten Proteins bei der Entwicklung der Schnecke im Innenohr (vgl. Abb.  2.10). Das Protein heißt HMGA2; die Abkürzung steht für High Mobility Group Protein A2, eines meiner „Haustiere“. Jetzt wird es skurril: Du hast Proteine als Haustiere? Seltsame Vorstellung. Nicht wirklich natürlich. Ich hätte auch sagen können, eines meiner Lieblingsproteine. Bevor du jetzt fragst warum, auch gleich die Antwort. Wir haben das Gen beim Menschen an einer bestimmten Stelle von Chromosom 12 gefunden, an der wir ein Gen vermuteten, das für die Entstehung häufiger Tumoren verantwortlich ist.19 Natürlich haben wir keine Gene, damit sie bei uns Tumoren machen, sondern das passiert im Falle des HMGA2, wenn durch eine Mutation sein Schalter verändert wird. Normalerweise spielen das Gen und dessen Protein eine wichtige Rolle in der Embryonalentwicklung und kurz danach.20 Ich freue mich immer noch über dein „Haustier“. Schon seltsame Menschen, ihr Genetiker. Aber weiter. Ich sehe bunte Bilder. Genau. Viermal der gleiche Ausschnitt aus der Schnecke, der Cochlea, der neugeborenen Maus, angeschaut unter einem Spezialmikroskop (Abb. 3.20a–d). Das Bild zeigt das Vorkommen von drei verschiedenen Proteinen, nämlich Phalloidin in blauer Färbung, Sox2 in grüner und HMGA2 in roter. Phalloidin ist

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Abb. 3.20  Proteinexpression von HMGA2 in der Schnecke des Innenohrs bei einer neugeborenen Maus. Immunfärbung auf die drei Proteine Phalloidin (A, blau), Sox2 (B, grün) und HMGA2 (C, rot). In Bild D sind die verschiedenen Bilder übereinandergelegt (= merge). Der Balken rechts unten in d hat die Größe von 20 Mikrometern. Aus: (Siehe 18.)

eine Membranfärbung für die Haarzellen, markiert also deren äußere Umrisse. Die Proteine sind durch Umsetzung des Bauplans von drei zugehörigen Genen entstanden, wie wir das diskutiert haben. Im mittleren Teil des Ausschnittes sehen wir eine Schicht aus zwei Zellenarten (Bereich mit Pfeilen in Abb.  3.20). Blau die Haarzellen und darunter die Unterstützerzellen. Durch Übereinanderlegen der Farben lässt sich gut erkennen, dass Sox2 nur in den Zellkernen der Unterstützerzellen vorkommt, während sich HMGA2  in diesem Entwicklungsstadium in den Zellkernen sowohl der Unterstützerzellen (Mischfarbe Gelb aus Rot und Grün) als auch der Haarzellen (nur Rot) findet. Untersuchungen dieser Art liefern wichtige Informationen darüber, welche Proteine in welchen Zellen und Entwicklungsstadien von ihren Genen abgerufen werden und welche Rolle sie dann spielen, auch in Zusammenarbeit mit anderen Proteinen wie hier im Beispiel HMGA2 mit Sox2. Die genannten drei Proteine kommen in dem Beispiel in einem unterschiedlichen Muster vor und zeigen, dass deren Gene auch entsprechend unterschiedlich aktiv sind.

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Insgesamt wirkt das auf mich wie riesige Puzzles, an denen ihr arbeitet. Absolut richtig und natürlich können wir das hier nicht vertiefen, aber vielleicht wird an dem Beispiel etwas klarer, wie man Stück für Stück Transcriptomics und Proteomics nutzt, um Zusammenspiel und Funktion von Genen zu entschlüsseln. Schließlich versteht man dann etwa besser, wie während unserer frühen Entwicklung die Hardware vorbereitet wird, die uns überhaupt erst befähigt zu hören. Und diese Prozesse können an diversen Stellen gestört sein, sodass es dann zu Hörproblemen oder sogar angeborener Taubheit kommt.

Genetisch bedingte Störungen des Hörsinnes Ausbildung und Erhalt des menschlichen Hörsinnes sind komplexe Prozesse, bei denen eine Störung an vielen Stellen zu schwerwiegenden Einschränkungen des Hörens oder einem Hörverlust führen kann. Dabei beruht dies zu etwa 80 % auf angeborenen Genveränderungen. Die betroffenen Gene sind überwiegend im Zellkern lokalisiert, einige wenige Gene der Mitochondrien können allerdings ebenfalls betroffen sein. Die meisten Formen treten auf, ohne dass dabei gleichzeitig andere Gewebe oder Organe von Veränderungen betroffen sind, man spricht dann von nicht syndromischen Hörminderungen. Sie: Er:

Darunter finden sich kaum Musikalitätsgene, wenn ich das vorhin richtig verstanden habe? Jedenfalls sind das alles Gene, die eher mit der „Hardware des Hörvermögens“ zu tun haben, also damit, dass in der frühen Entwicklung die entsprechenden anatomischen Strukturen in Ohr und Gehirn gebildet werden. Ich würde diese Gene im ­engeren Sinne nicht der Kategorie Musikalitätsgene zuordnen. Darüber sprachen wir ja schon. Eher bilden sie in der Regel eine Voraussetzung für Musikalität.

Ich gebe vorsichtig zu bedenken, dass bei so viel Diskussion über Musik die Programmplanung für morgen zu kurz gekommen ist. Spontan kommt bei uns beiden auf dem Rückweg von der Sushibar zum Hotel der Gedanke, den nächsten Tag mit der Besichtigung Pompejis zu verbringen. Der freundliche Concierge in der Hotellobby wirkt für die Tages- oder besser Nachtzeit noch sehr munter. Wir fragen ihn nach den besten Möglichkeiten, Pompeji zu er-

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reichen, und entscheiden uns schließlich für den Zug, vielleicht eine ganz gute Gelegenheit, um bei der Fahrt ein bisschen was von der Umgebung zu sehen. Zu spät sollten wir die Ausgrabungsstätte nicht erreichen, daher wollen wir spätestens um 9.00 Uhr frühstücken. Es bleibt bis dahin nur noch eine kurze Nacht.

Anmerkungen 1. Hefegebäck, oft getränkt, zum Beispiel mit Rum. 2. Otte A, 2018: Johann Sebastian Bachs sterbliche Überreste  – Teil I: Das Gesamtskelett. Archiv für Kriminologie 242, 48–55: „In der vorliegenden Arbeit wurde die von Wilhelm His Sr. angefertigte und im Jahr 1895 publizierte Fotografie des mutmaßlichen Skeletts von Johann Sebastian Bach auf ihre Abbildungsqualität untersucht. Dies erfolgte durch direkte Messungen an einem digitalen Scan der Fotografie. Dabei wurde der von His der Fotografie beigelegte Lineal-Maßstab in mehrere 10-cm-Stücke unterteilt und die Länge dieser Abschnitte im Digitalisat mit dem Messinstrument von Adobe Acrobat ausgemessen. Die Daten lassen den Schluss zu, dass die Oben-/ Unten-Verzerrung sowie die Rechts-/Links-Verzerrung nicht nennenswert sind und das von His angefertigte Foto mit einer hohen Genauigkeit der Abbildungsqualität und des Linsenapparats der Kamera angefertigt wurde, die es ermöglicht, bestimmte Skelettanteile aussagekräftig zu beurteilen und auszumessen.“. 3. Otte A, 2017: Was erzählt uns Paganinis Bogenhand? MMW – Fortschritte der Medizin, 8/2017; Schoenfeld MR 1978: Nicolo Paganini. Musical magician and Marfan mutant? JAMA 239: 40–42. doi: 10.1001/jama.239.1.40. 4. Drayna D et al., 2001: Genetic Correlates of Musical Pitch Recognition in Humans. Science 291, 1969–1972. 5. Peretz I et  al., 2007: The genetics of congenital amusia (tone deafness): a family-­ aggregation study. Am J Hum Genet. 81, 582–588. doi: 10.1086/521337. 6. Peretz I & Vuvan D, 2017: Prevalence of congenital amusia. Eur J Hum Genet 25, 625–630. https://doi.org/10.1038/ejhg.2017.15. 7. Ein Beispiel für die Schwierigkeit, die Menschen mit Amusie mit dem Singen haben: ▶ sn.pub/ZL09CA. 8. Li M & Yue W, 2018: VRK2, a Candidate Gene for Psychiatric and Neurological Disorders. Mol Neuropsychiatry 4, 119–133. doi: 10.1159/000493941. 9. Monteleone MC 2014: Prenatal stress changes the glycoprotein GPM6A gene expression and induces epigenetic changes in rat offspring brain. Epigenetics 9, 152–160. doi: 10.4161/epi.25925. 10. Siehe 9.

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11. Stumpf, C 1883: Tonpsychologie, Leipzig, Hirzel, Vol. 1, S. 139–40, 280–81, 286–87, 305–13; Vol. 2: S. 380, 553–556. 12. Van Hedger SC et al., 2020: Revisiting discrete versus continuous models of human behavior: The case of absolute pitch. PLoS ONE 15: e0244308. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0244308. 13. Leipold S et  al., 2021: Musical expertise shapes functional and structural brain networks independent of absolute pitch ability. J Neuroscience 41, 2496–2511. https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.1985-­20.2020. 14. Theusch E et al., 2009: Genome-wide study of families with absolute pitch reveals linkage to 8q24.21 and locus heterogeneity. Am Hum Genet 85, 112–119. https://doi.org/10.1016/j.ajhg.2009.06.010. 15. Oikkonen J et al. 2016: Creative Activities in Music – A genome-wide linkage analysis. PLoS ONE 11: e0148679. https://doi.org/10.1371/journal. pone.0148679. 16. Siehe z. B. Pulli K et al. 2008: Genome-wide linkage scan for loci of musical aptitude in Finnish families: evidence for a major locus at 4q22. J Med Genet 45, 451–456. doi: 10.1136/jmg.2007.056366 PMID: 18424507; Oikkonen J et al. 2016: Creative Activities in Music – A genome-wide linkage analysis. PLoS ONE 11: e0148679. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0148679. 17. Usami S et al., Initial Posting: October 22, 2004; Last Update: June 14, 2018.: Nonsyndromic Hearing Loss and Deafness, Mitochondrial. Gene reviews [internet]. 18. Smeti I et al., 2014: HMGA2, the architectural transcription factor high mobility group, is expressed in the developing and mature mouse cochlea. PLoS One 9(2): e88757. doi: 10.1371/journal.pone.0088757. 19. Schoenmakers E et al., 1995: Recurrent rearrangements in the high mobility group protein gene, HMGI-C, in benign mesenchymal tumours. Nat Genet 10, 436–444. https://doi.org/10.1038/ng0895-­436. 20. Rogalla P et al, 1996: HMGI-C expression patterns in human tissues. Implications for the genesis of frequent mesenchymal tumors. Am J Pathol 149:775-9.

4 Donnerstag – Tiere

Pompeji Ausschnitt aus einem Fresko aus dem Haus des Goldenen Armbands (Casa del Bracciale dʼOro). ­(https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/77/Pompeii_-­_ Casa_del_Bracciale_d%27Oro_-­_Garden_Room_1.jpg)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Bullerdiek, C. Süßmuth, Warum Musik in unseren Genen liegt, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67375-1_4

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Zusammenfassung  Sind wir Menschen die einzigen Lebewesen, die Freude an Musik empfinden? Auf den ersten Blick scheinen insbesondere die Singvögel diese Annahme deutlich zu widerlegen. Aber ist es wirklich Musik, was die Vögel machen? Tiere stehen heute auf unserer Tagesordnung und wir werden unter anderem untersuchen, wie Vögel ihre Songs lernen oder ob sie bereits mit der Fähigkeit zum Singen aus dem Ei schlüpfen. Weiter geht es dann mit der Frage, wie es um die musikalischen Fähigkeiten anderer Tiere bestellt ist. Zu diesem Thema werfen wir zusätzlich einen Blick ins Märchenbuch und beleuchten arbeitsrechtliche Aspekte der Tätigkeit der Bremer Stadtmusikanten. Bei der Gelegenheit werden wir auch ganz nebenher beweisen, dass es sie wirklich gab. Und ganz zum Schluss sind wir noch zu Besuch bei Bauer Hartmut, der kein Glück mit Gluck hat. Nächster Morgen. Wir hatten beschlossen, zum Bahnhof zu laufen, um mit dem Zug nach Pompeji zu fahren, merken jetzt aber doch, dass die Zeit zu knapp wird, um rechtzeitig am Bahnhof anzukommen. Ein Zug später ist allerdings keine gute Alternative, nachdem wir einmal so früh aufgestanden sind. Zudem würde die Mittagshitze die Besichtigung nicht zur reinen Freude machen. Zum Glück können wir schnell ein Taxi heranwinken und uns nach kurzem Handeln auch über den Preis einigen. Der Wagen hat, wie wir schnell merken, offenbar einige Jahre auf der Achse. Zu sagen, die Stoßdämpfer hätten schon bessere Zeiten gesehen, wäre eine krasse Untertreibung. Bereits eine kurze Fahrt hätte wahrscheinlich selbst die tote Parthenope wieder zum Leben erweckt. Der freundliche Fahrer tut dann allerdings sein Bestes, um uns so gut es geht von diesem Missstand abzulenken. Dank lauter neapolitanischer Musik fühlen wir die Unebenheiten der Straße nur noch, aber hören sie nicht mehr. Nach einer Dreiviertelstunde ungefähr haben wir dann schließlich halbwegs unversehrt unser Ziel erreicht und halten nach anschließendem einstündigen Schlangestehen auch endlich unsere Eintrittskarten in der Hand. Durch die Porta di Marina betreten wir in der inzwischen aufkommenden Mittagshitze eine der berühmtesten Ruinenstädte der Welt. Trotz der großen Besucherströme finden sich einige erstaunlich ruhige und vor allem auch schattige Plätze. Eine Bank mit Blick auf das Amphitheater bietet sich für eine erste Rast an und offenbar hatten wir beide gleichzeitig diesen Gedanken. Sowohl durch unser Programm als auch durch die Naturlaute um uns herum inspiriert nutzen wir zudem diese erste Besichtigungspause, um über „natürliche Musik“ zu sprechen.

4  Donnerstag – Tiere 

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 em sonst noch die Musik in der DNA W liegt: Singvögel  icasso: „Jeder will Kunst verstehen. Warum versucht P man nicht, die Lieder eines Vogels zu verstehen?“ Sie: Er: Sie:

Er:

Sie: Er:

„Jeder will Kunst verstehen. Warum versucht man nicht, die Lieder eines Vogels zu verstehen?“ Sagst du oder ist das ein Zitat? Sagt Picasso 1935, als er genervt ist von Bitten, seine Kunst zu erklären. Und keine musikähnliche Lautäußerung eines Tieres wird so häufig mit menschlichem Gesang verglichen wie die Gesänge der Singvögel. Aber was wissen wir denn genau über diese Gesänge? Heute könnte Picasso das so nicht mehr fragen, denn inzwischen gibt es sehr viele Studien mit dem Ziel, den Gesang von Vögeln wissenschaftlich zu analysieren. Es würde allerdings den Rahmen sprengen, die entsprechenden Ergebnisse auch nur halbwegs vollständig zusammenzufassen. Daher müssen wir uns auf ein paar Aspekte dessen beschränken, was wir als Gesang der Vögel bezeichnen. Unzweifelhaft räumen wir ja allein sprachlich schon mit dem Wort „Gesang“ ihren Klängen den Charakter von Musik ein. Auch der Mythos von den Sirenen rückt den Vogelgesang in die Nähe menschlicher Musik und schließlich gibt es Hinweise, dass der Mythos von Odysseus ursprünglich auf eine kleinasiatische Vogelgottheit zurückgeht. Aber ist Vogelgesang wirklich menschlichem Gesang vergleichbar? Als Biologe kannst du mir doch erstmal die Frage beantworten, warum Vögel überhaupt singen. Und tun das mehr oder weniger alle Vögel? Ich würde noch etwas weiter vorne beginnen, nämlich mit der Anatomie.

Syrinx – nicht nur eine Nymphe Sie: Er:

Haben Vögel überhaupt einen Kehlkopf oder nicht alle? Doch schon, aber dann wird es etwas anders als bei uns. Es singen auch nicht alle Vögel, auch wenn alle in der Lage sind, Geräusche

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zu produzieren. Und während Menschen zum Singen die Stimmlippen (Stimmbänder) ihres Kehlkopfes (Larynx) benutzen, erzeugen Singvögel mit einer anderen anatomischen Struktur die Töne, nämlich mit der sogenannten Syrinx, deutsch Stimmkopf. Die Syrinx ist nach einer griechischen Nymphe benannt und Teil des Kehlkopfes. Sie liegt an dessen unterem, also der Lunge zugewandten Ende an der Mündung der Bronchien („unterer Kehlkopf“, Abb. 4.1).1 Bei einigen Vogelarten gibt es deutliche Unterschiede in der Größe der Syrinx zwischen Männchen und Weibchen, und ob Vogelarten überhaupt singen können, hängt davon ab, ob die Syrinx entsprechend aufgebaut ist. Heute kennt man etwa 10.000 Vogelarten. Davon singen bei etwa 4000, also 40%, entweder nur die Männchen oder Männchen und Weibchen. Sie singen dabei aus verschiedenen Gründen (Abb. 4.2): Zur Markierung ihres Reviers oder zum Anlocken, der Stimulation oder Bindung ihres Sexualpartners.2 Sie:

Nun frage ich mich natürlich, was ausgerechnet 40 % der Vögel veranlasst haben mag, das Singen anzufangen. Für Picasso scheint es ja damals ein einigermaßen absurder Gedanke gewesen zu sein, dass man den Vogelgesang verstehen will. Warum ist denn inzwischen das Interesse daran so groß? Zungenbein

Letzter freier Knochenring der Luftröhre

Epiglottis Tympanum

Membrana thyrohyoidea Falsche Stimmlippen Stimmband

Schildknorpel

Ventrikel

Vordere Gruppe der Syrinxringe

Pessulus

Stimmmuskel

Ringknorpel

Luftröhre

Hintere Gruppe der Syrinxringe

Membrana tympaniformis lateralis

Membrana t. medialis

Abb. 4.1  (a) Schema eines menschlichen Kehlkopfes (https://commons.wikimedia.org/ wiki/Category:Larynx?uselang=de#/media/File:Anatomytool_larynx_and_vocal_cords_ English.jpg). (b) Schemazeichnung einer Vogel-Syrinx. (https://en.wikipedia.org/wiki/ Syrinx_(bird_anatomy).)

4  Donnerstag – Tiere 

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Verteidigung des Territoriums

Anlocken des Partners

Stimulation des Partners

Erhaltung der Paarbeziehung

Abb. 4.2  Vogelgesang kann verschiedene Funktionen haben

 esangsunterricht bei Familie Zebrafink – warum G wir die Lieder eines Vogels verstehen wollen Er:

Sie:

Er:

So ganz gut kann ich das auch nicht erklären. Du hast jedenfalls recht, dass daran ziemlich viel geforscht wird und das wissenschaftliche Interesse der Verhaltensbiologie groß ist. Und ich denke auch, Vogelgesang hat einiges, was unter Tieren zumindest ungewöhnlich, wenn nicht sogar einmalig ist. Das ist für die Kognitionswissenschaften interessant und vielleicht ein wichtiges Modell, um die Neurobiologie von Lernvorgängen zu verstehen. Die Gesänge können ziemlich einfach sein (Abb. 4.3), teilweise tragen Singvögel allerdings auch recht komplexe Songs vor (Abb.  4.4). Ich habe gelesen, sie erkennen Gesänge allerdings wohl an etwas anderen Eigenschaften als wir,3 können aber ihre Songs lernen und sogar komponieren. Ja, das können sie wohl. Gut untersucht unter anderem an Zebrafinken (Abb. 4.5). Sie lernen vorzugsweise vom Vorbild der sogenannten Tutoren – das sind in der Regel ihre Väter, und sie lernen eben nicht nur, deren Song zu imitieren, sondern die Lernphase schließt auch ein, dass sie dann selbst quasi kompositorisch tätig werden können (Abb. 4.6).4 Es wird sogar vermutet, dass Unterschiede im Gesang innerhalb einer Vogelart so etwas wie Persönlichkeit der betreffenden Tiere reflektieren.5 Und saisonale Unterschiede im Gesang gibt es auch.6

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Abb. 4.3  Kohlmeise Parus major (a) (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d2/Parus_major_Luc_Viatour.jpg). Das Sonagramm zum Gesang der Kohlmeise (b) (Frequenz in Kilohertz, Zeit in Sekunden) (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Parus_major_sonagram.jpg) zeigt einen relativ einfachen, wenig komplexen Gesang

Sie: Er:

Sie: Er:

Spannend finde ich das mit dem Lernen. Weiß man Genaueres darüber? Ja, weiß man. Um da in die Tiefe zu gehen, müsste ich mich allerdings belesen. Auch dabei spielt das Dopamin wieder eine Rolle. Ich erinnere mich nämlich, dass Zebrafinken nach Injektion eines Dopamin-­Verstärkers ein ausgeprägteres Lernver­ halten zeigten. Generell nähern sie sich ihrem Tutor zum Lernen an und diese Annäherung findet in einem bestimmten Lebensabschnitt (Abb. 4.7) und auch nach Gabe des DopaminVerstärkers besonders häufig statt. Sie gehen praktisch zur Schule oder, besser gesagt, zum Privatunterricht. Und das Dopamin macht sie zu Strebern. Könnte man so ausdrücken. In der Nähe des Tutors kommt es dann zu einer Art Wechselgesang. Der Tutor singt und die Lernenden sind still (Abb. 4.8). Sie setzen erst dann wieder mit

Frequenz (kHz) Frequenz (kHz)

Komplexität des Sozialverhaltens ansteigend

4  Donnerstag – Tiere 

Zebrafink

Zeit (sec)

Schwirrammer

Zeit (sec)

101

Star

Zeit (sec)

Sprosser

Zeit (sec)

Liedkomplexität ansteigend

Abb. 4.4  Sonagramme der erlernten Lieder von vier verschiedenen Vogelarten: Zebrafink, Star, Schwirrammer und Sprosser (eine Nachtigallenart). Die Lieder sind hier nach ihrer Komplexität und der Komplexität des Sozialverhaltens der betreffenden Arten angeordnet. Aus Hyland Bruno et al., 2021. Annu. Rev. Linguist. 2021. 7:449–72. https:// www.annualreviews.org/doi/10.1146/annurev-­linguistics-­090420-­121034

Abb. 4.5  Die in Australien und Indonesien beheimateten Zebrafinken gehören zu den Singvögeln, deren Gesang am besten untersucht wurde. Bildquelle: (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/da/2014-­0 8-­1 9_Zebra_Finch%2C_Sumba%2C_Nusa_Tenggara_Timur%2C_Indonesia_1.jpg)

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10.7 kHz

a 350 Hz 10,7 kHz

b 350 Hz 0,25 s Abb. 4.6  Auch vom Vogelgesang können Sonagramme aufgezeichnet werden, aus denen sich unter anderem Periodizität und Komplexität des jeweiligen Songs ableiten lassen. Bei den hier gezeigten zwei Beispielen (a, b) handelt es sich um Gesänge von zwei erwachsenen Zebrafinken, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Sich wiederholende Motive sind jeweils durch blaue Linien unter dem entsprechenden Songteil gekennzeichnet, einführende Motive und Pausen mit gestrichelten roten beziehungsweise gelben Linien. Aus: (Wellock CD & Reeke GN, 2012: Quantitative tools for examining the vocalizations of juvenile songbirds. Computational intelligence and neuroscience. Volume 2012, article ID 261010. doi:10.1155/2012/261010.)

Annäherungsrate

0,6

0,4

0,2

0

Alter der Vögel (dph)

Abb. 4.7  Um ihre gesanglichen Fähigkeiten zu entwickeln, lernen Zebrafinken von Tutoren, deren Nähe sie in einer bestimmten Entwicklungsphase um den 50. Lebenstag herum besonders intensiv suchen. Altersabhängige Annäherung an den Tutor bei Zebrafinken. dph: Tage nach Schlüpfen. Die blauen Säulen bezeichnen die mittlere Annäherungsrate von 33 beobachteten Vögeln an den angegebenen Tagen. Die Kreise stehen jeweils für die einzelnen Vögel an dem betreffenden Tag (Siehe 4.)

4  Donnerstag – Tiere 

Jungtier: Schweigen

Amplitude (dB)

Jungtier: Song

103

Tutor: Song Zeit (sec) Abb. 4.8  Nach Annäherung an den Tutor kommt es im Wechsel zu Gesang des Jungtiers und dessen Tutors

ihrer Kopie des Gesangs ein, wenn der Tutor eine Pause macht. Wie es sich gehört: Lehrende werden nicht unterbrochen. Wichtig noch: Es gibt Singvögel, die ihr Leben lang lernen und auch im Erwachsenenalter ihre Songs noch „umkomponieren“, die Kanarienvögel gehören dazu. Da gilt eben überhaupt nicht der Spruch „Was Hänschen nicht singt, singt Hans nimmermehr“. Die Kanarienvögel sind damit Beispiele für lebenslanges erfolgreiches Lernen. Erkennbar ist das daran, dass auch im Erwachsenenalter noch Phasen auftreten, in denen sogenannte plastische, also noch veränderliche, Songs gesungen werden; man könnte diese Phasen als Übungen für neue Kompositionen bezeichnen. Zebrafinken hingegen durchlaufen die Phase der plastischen Songs nur einmal im Leben im jugendlichen Alter. Danach steht nur noch ein kristallines Repertoire an Songs zur Verfügung, das bedeutet, die Songs können nicht mehr verändert werden (Abb.  4.9). Übrigens lautet der wissenschaftliche Name des Kanarienvogels Serinus canaria forma domestica und Serinus leitet sich wahrscheinlich vom lateinischen Wort für Sirenen ab. Eine kleine Sirene ist dieser Vogel also, wenn man seinem Namen folgt. Eine Sirene, der man bedenkenlos lauschen kann, ohne wie bei ihren Namensgeberinnen das Leben zu riskieren, und von der wir vielleicht einiges über das Lernen lernen können.

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Zebrafink Subsong

plastischer Song

kristalliner Song

Kanarienvogel Herbst, 1. Jahr

Frühling, 2. Jahr

Subsong

plastischer S.

Herbst, 2. Jahr

kristalliner S.

Abb. 4.9  Von wegen „Was Hänschen nicht singt, singt Hans nimmermehr“. Für Kanarienvögel ist das ein typischer Zebrafinkenspruch, denn Kanarienvögel lernen ihr Leben lang neue Songs, während für Zebrafinken Gesänge nur einmalig in einer kurzen Phase ihres Lebens gelernt werden. S.: Song. Abbildung bearbeitet aus (Siehe 6.)

 elche Gene für den Vogelgesang wichtig sind W und wie man sie erkennt Sie: Er:

Sie:

Ist es denn nun Musik, was die gefiederten Sänger machen? Keine einfache Frage, obwohl manchmal einfache Antworten gegeben werden. Es gibt natürlich neben allen Gemeinsamkeiten auch deutliche Unterschiede in der Klangerkennung. Stare etwa können die gleiche Melodie, um eine Oktave verschoben, nicht mehr erkennen und das ist ja etwas, das uns keine Probleme bereitet.7 Und auch insgesamt ist es tatsächlich eine schwierige Frage, ob die Federtiere wirklich Musik machen. Die eine Herangehensweise ist eher philosophisch: Wenn es Voraussetzung für Musikmachen ist, eine Art Bewusstsein zu haben, das unserem ähnlich ist, dann machen sie keine Musik. Als Genetiker sehe ich das aber ein bisschen anders. Ich glaube, dass sich menschliche Musik und Vogelgesang aufgrund einer gemeinsamen Notwendigkeit und letztlich auch unter Benutzung ähnlicher Gene entwickelt haben. Man hat sich das Transkriptom singender Vögel angeschaut und mit Zeiten des Schweigens verglichen und kann daraus interessante Schlüsse ziehen. Wenn ich mir das richtig gemerkt habe, dann gibt das Transkriptom doch die Information darüber, welche Gene zu einem bestimmten Zeitpunkt in bestimmten Zellen überhaupt benutzt werden, richtig?

4  Donnerstag – Tiere 

Er:

Sie: Er:

Sie: Er:

Sie: Er:

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Genau richtig, ja. Und bei den meisten Studien, die zu Genen und Vogelgesang durchgeführt worden sind, sind die Tran­ skriptionsmuster im Gehirn von Vögeln während des Singens und während sie nicht sangen, verglichen worden. Das Ergebnis ist ziemlich verblüffend und hat mich an die Mengenlehre und die Schulzeit erinnert. Was hat denn die Mengenlehre mit den Vogelgenen zu tun? Direkt nichts, aber man kann ja die während des Singens aktiven Vogelgene mit Genen vergleichen, die bei Menschen mit Musikalität in Verbindung gebracht werden. Oder eben auch mit den „hörenden Genen“, über die wir bei den Immunzellen diskutiert hatten. Und was ist dann so verblüffend und erinnert an die Mengenlehre? Die Schnittmenge. Es gibt erstaunlich viele menschliche Musikalitätsgene, deren entsprechende Gene beim Vogelgesang eine Rolle spielen. Erinnerst du dich an das SNCA-Gen? Stichwort Parkinson. Das gehört auch dazu. Und sonst? Was kann man über die Gene sagen, die für den Vogelgesang wichtig sind? Es sind überwiegend Gene, die eine wichtige Rolle im Gehirn spielen und da wiederum häufig bei der Neurotransmission. Über SNCA hatten wir ja schon gesprochen und das ist, wie gesagt, auch hier ganz vorne mit dabei. Ein anderes interessantes Gen ist das FOS. Nicht abgekürzt hört es auf den sperrigen Namen „FBJ Murine Osteosarcoma Viral Oncogene Homolog“ und ist unter anderem wichtig für die Kontrolle der Transkription von Genen im Zentralnervensystem. Es spielt offenbar eine wichtige Rolle bei Lern- und Gedächtnisprozessen und dem Abruf gespeicherter Informationen (sogenannte memory engrams).8 Ich wage zu behaupten, dass es uns auch in anderem Zusammenhang noch einmal begegnen wird.

 onvergente Entwicklung oder K gemeinsame Grundlage? Sie:

Okay, also sind, wenn Menschen musizieren und Vögel singen, in ihren Gehirnen wahrscheinlich die gleichen Gene aktiv. Bedeutet das denn auch, dass es dafür in der Evolution eine gemeinsame Grundlage gibt?

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Er:

Sie:

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Sie:

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Eine solche gemeinsame Grundlage würde bedeuten, dass sich beide Fähigkeiten auf einen gemeinsamen Bauplan zurückführen lassen. Das trifft hier allerdings nicht zu. Vielmehr handelt es sich um eine sogenannte konvergente Entwicklung . Das bedeutet, diejenigen Merkmale, die zum Singen befähigen, haben sich parallel unter dem Einfluss ähnlicher Umweltbedingungen entwickelt. Es gab dafür jedoch keinen gemeinsamen Ursprung, den beide teilten und bei dem man in der Biologie von Konvergenz spricht. Im Gegensatz dazu stehen Merkmale, die auf der Variation bei einem gemeinsamen Vorfahren beruhen. Viel erwähntes Beispiel für Konvergenz sind die Fischflossen und die Flossen bei Walen und Delphinen. Beides Ergebnisse analoger Entwicklungspfade. Ich verstehe. Analog und damit konvergent allein schon deshalb, weil sich die Fähigkeiten bei beiden Gruppen aus etwas unterschiedlichen anatomischen Strukturen entwickelt haben, richtig? Richtig. Und auch was die Funktion angeht, so gibt es deutliche Unterschiede. Im Fall der singenden Vögel ist es doch auch eher eine überlebenswichtige Kommunikationsform, die man vielleicht mit unserer Sprache vergleichen könnte, was man bei unserem Gesang bei allem Wohlwollen doch nicht sagen kann. Du wärst auch ziemlich arm dran, wenn die Fähigkeit, zu singen, lebensnotwendig wäre. Aber der Vergleich mit Sprache ist schon ein überlegenswerter Aspekt. Stimmt. Bei den Vögeln ersetzt der Gesang ja tatsächlich die nicht vorhandene Sprache. Darüber habe ich zwei interessante Artikel gelesen, in denen auch diskutiert wurde, ob Vogelgesang einschließlich der Lernphasen als Beginn einer Sprachentwicklung aufgefasst werden kann.9 Das ist dann anscheinend ein weiterer ziemlich grundlegender Unterschied zwischen der angeblichen Musik der Vögel und unserer Musik, bei der das eigentlich Verblüffende ja die auf den ersten Blick gänzlich nutzlose Eigenschaft ist, Spaß am Musizieren und Musikhören zu empfinden. Stimmt. Außerdem ist die Absicht des Gesanges bei den Vögeln ja auch nicht, bei den Zuhörenden Freude oder Gefühle auszulösen. Aber wie sieht es denn mit Musik von anderen Tieren aus. Nehmen wir zum Beispiel die Walgesänge.

4  Donnerstag – Tiere 

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Singende Wale und die Milch der Kühe  nsätze von Musikalität auch bei anderen Tieren – die A Berichte füllen Bände „Weißt du was“, sprach der Esel, „ich gehe nach Bremen und werde dort Stadtmusikant, geh mit und lass dich auch bei der Musik annehmen. Ich spiele die Laute, und du schlägst die Pauken.“10 Heute hätte er Social-Media-­ Kanäle mit einplanen und hinzusetzen können, dass Tiervideos immer eine gute Chance haben, viral zu gehen. Aber auch so ist das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten recht bekannt und seine Helden sind oft abgebildet. Gelegentlich haben sie dabei sogar die Instrumente gewechselt (Abb. 4.10).

Abb. 4.10  Die Brüder Grimm haben den Stadtmusikanten andere Instrumente zugedacht als auf dieser Postkarte gezeigt, aber können Tiere überhaupt Musik machen?

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Sie:

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Was im Märchen der Brüder Grimm (Abb. 4.10) so einfach klingt, ist es bei näherer Betrachtung nicht. Es hätte sich arbeitsrechtlich zum interessanten Problem entwickeln können, wenn die Stadtmusikanten überhaupt nach Bremen gekommen wären und „bei der Musik“ nach Anstellung gefragt hätten. Mit der „Musik“ sind ziemlich sicher die mehr oder weniger fest angestellten Bremer Stadtmusikanten gemeint. Zur Entstehungszeit des Märchens sollen es zwischen vier und acht gewesen sein (Abb. 4.11). Vier davon hätten also durch ihre Kollegen vom neuen Team aus Esel, Hund, Katze und Hahn erst einmal verdrängt werden müssen. Und damit wären die Probleme nicht zu Ende gewesen. Hätten die vier ihren Vertrag mit der Stadt oder dem Land überhaupt erfüllen können? Hätte der zukünftige Arbeitgeber nicht auch selbst Zweifel daran haben müssen, ob seine Arbeitnehmer überhaupt zur Ausübung von Musik in der Lage wären? Wie auch immer, ich werde wieder ernst. Tiere und Musik, das ist ein interessantes, aber auch nahezu unerschöpfliches Thema. Der Begriff Walgesänge zum Beispiel wertet die entsprechenden Laute ja schon eindeutig. Und wer kennt nicht irgendeine Variante der alten Geschichte, dass Kühe mehr Milch geben, wenn sie Musik hören, oder Affen im Takt zu Helene Fischer schunkeln. Das Thema beschäftigt die Menschen und Vorstellungen von Musik hörenden Katzen und

Abb. 4.11  Die echten Bremer Stadtmusikanten (links am Bildrand) begleiten 1618 einen Bremer Hochzeitszug. Die Altstadt von Bremen bildet den Hintergrund des Bildes und ist auf der gegenüberliegenden Weser-Seite zu erkennen

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im Takt bellenden Hunden haben doch auch etwas Niedliches. Aber wie viel ist an diesen Berichten wirklich dran? Sind Menschen und Singvögel die einzigen Tiere, die Musik empfinden und produzieren können? Was ist denn nun mit den Gesängen der Wale. Da hast du ein geeignetes Beispiel erwischt. Buckelwale „singen“ anscheinend besonders gut und der biologische Sinn ist wohl ähnlich wie beim Vogelgesang. Vermutet wird jedenfalls eine Funktion sowohl bei der Partnerwahl als auch bei der Distanzmessung. Aber was sagt denn die Fachfrau zu den Sonagrammen der Buckelwale (Abb. 4.12)? Ohne Zweifel sind die Laute recht komplex und sie sind auch periodisch. Damit kommen sie dem sehr nahe, was wir von Vögeln kennen. Außerdem fällt auf, dass die Buckelwale sehr ausdauernde Sänger sind. Darin unterscheiden sie sich von den Vögeln. Charles Darwin hat vermutet, dass eigentlich alle Tiere, gemeint hat er das wahrscheinlich allerdings nur in Bezug auf die Wirbeltiere, in der Lage seien, Melodie und Rhythmus zu erkennen und daran auch Freude zu haben. Das wäre natürlich ein deutlicher Hinweis, dass sich die Wahrnehmung von Musik als etwas Positives in der Evolution schon lange vor der Entstehung der menschlichen Arten herausgebildet hat. Aber unklar ist zum einen, ob das wirklich so

Er:

Sie:

Frequenz (kHz)

Er:

Zeit (min)

Abb. 4.12  Sonagramme von neun aufeinanderfolgenden Gesängen eines Buckelwals. (Mercado E, 2022: Intra-individual variation in the songs of humpback whales suggests they are sonically searching for conspecifics. Learn Behav 50, 456–481. https://doi. org/10.3758/s13420-­021-­00495-­0.)

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Sie:

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stimmt, und zum anderen, ob das, was da an Klängen und Geräuschen produziert und gehört wird, auch wirklich Musik in einem engeren Sinne ist. Du hattest ja gestern oder vorgestern die Musik-Definition von Wikipedia ins Spiel gebracht, nach der Musik machen ein bewusster Vorgang ist, wenn ich mich richtig erinnere. Genau, organisierte Schallereignisse zum Sinn und Zweck des Hervorrufens einer Empfindung oder so ähnlich. Du meinst, das setzt Bewusstsein voraus? Verstehe ich so, ja. Und es führt zur schwierigen Frage, ob und in welchem Ausmaß Tiere ein entsprechendes Bewusstsein haben. Darüber ist wenig Gesichertes bekannt und Bewusstsein ist ja auch eher eine philosophische Kategorie. Daher glaube ich nicht, dass uns die Definition so viel weiter bringt. Es macht eher Sinn, zu prüfen, welcher Art die musikähnlichen Lautäußerungen von Tieren sind und was sie damit jeweils bewirken. Schon die Singvögel zeigen ja zum Beispiel, dass ihr Gesang nicht nur dem Fortpflanzungstrieb dient. Aber was auch immer sie damit bezwecken könnten, scheinen tierische Kompositionen weit ab von dem zu sein, was menschliches Musizieren ausmacht. Dann hätten sich die Bremer Stadtmusikanten ja ziemlich sinnlos auf den Weg gemacht. Aber ernste Antwort: Ich habe ein bisschen nachgelesen. Von der Geschichte mit den Kühen, die bei MozartMusik mehr Milch geben, existieren nahezu unzählige Varianten. Meistens mit dem Untertitel „Bauer sucht Song“. Zwei der Artikel habe ich mir näher angesehen. Insgesamt ist die Datenlage ziemlich dürftig und zum Teil sind die Daten widersprüchlich,11 aber generell verspricht die Kombination Tiere und Musik immer gutes mediales Interesse.12 So wie Katzenvideos bei Facebook. Allerdings müssen die Schlagzeilen schon positiv sein. Einen Artikel mit dem Titel „Kein Glück mit Gluck  – Bauer Hartmut enttäuscht über Milchproduktion“ will doch ernstlich niemand lesen.

 usik als Kommunikationsmittel über M Artgrenzen hinweg? Er:

Gibt es denn überhaupt sichere Hinweise, dass musikalische Kommunikation über Artgrenzen hinweg funktioniert? Ich meine mal abgesehen von Orpheus, der auch Tiere mit seiner Musik beeindrucken konnte (Abb.  4.13). Können Tiere auf

Abb. 4.13  Der Mythos von Orpheus, der mit seinem Gesang auch Tiere erreicht. Zu der Frage, ob menschliche Musik Tieren tatsächlich Freude bereiten kann, gibt es keine eindeutigen Daten. Liebig Sammelbilder

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Sie:

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menschliche Musik reagieren, indem sie Freude empfinden? Und können wir auf die tierischen Äquivalente von Musik mit Dopamin-Ausschüttung reagieren? Soweit ich gelesen habe, kann menschliche Musik auf Tiere vielleicht entspannend wirken oder, je nach Musik, auch erschreckend. Es gibt immerhin die Hypothese, dass Musik auf Tiere besonders dann beruhigend wirkt, wenn sie Ähnlichkeit (Frequenz, Tempo) mit vertrauten Geräuschen der natürlichen Umgebungskommunikation hat.13 Ich denke aber, das ist kein Musikgenuss in unserem Sinne. Umgekehrt vielleicht schon eher. Zum Beispiel können wir doch durchaus mit Genuss dem Gesang einer Nachtigall oder eines Kanarienvogels zuhören. Das ist ja letztlich auch der Grund, weswegen in manchen Teilen Deutschlands auf die Haltung dieser Vögel Steuern erhoben wurden. Im Großherzogtum Hessen zum Beispiel war von 1853 bis 1918 eine Nachtigallensteuer zu entrichten, wenn man eine Nachtigall halten wollte.14 Am Ende bringt uns das jedenfalls wieder zurück zum Klanggedächtnis und zu den speziellen Verknüpfungen, die mit den betreffenden Klängen verbunden sind. Aber bevor wir unseren Ausflug in den Zoo beenden, wie sieht es eigentlich mit der Musikalität bei Affen aus? Die stehen uns doch in der Evolution schließlich am nächsten. Oh, stimmt. Da hätten wir fast ein wichtiges Thema ausgelassen. Es gibt die recht bekannte Studie an einem fünf Monate alten, von Menschen aufgezogenen Schimpansen, der konsonante gegenüber dissonanten Intervallen bevorzugte.15 In einer anderen Studie an nicht humanen Primaten war gezeigt worden, dass diese Ruhe gegenüber der für die Studie ausgewählten Musik bevorzugten, wobei zu den Musikstücken auch Schlaflieder gehörten, die umgekehrt bei Menschen gegenüber der Ruhe vorgezogen wurden. Daraus ist der Schluss ­gezogen worden, die Motivation zum Musikhören sei letztlich etwas typisch Menschliches.16 Wenn ich das höre, so scheint sich insgesamt aus den Studien kein einheitliches Bild zu ergeben, was den Musikgeschmack unserer näheren Verwandtschaft ergibt. Ja, sehe ich auch so, zumal außerdem die Art, wie die Vorliebe oder Abneigung gemessen wurde, zwischen den Studien nicht die gleiche war. Sehr unterschiedlich war zum Beispiel die Zeit, wie lange ein Musikstück gehört wurde, aber auch die räumliche Entfernung von der Schallquelle.

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Sie weist mich darauf hin, dass wir jetzt lange genug über tierische Gesänge diskutiert haben und es Zeit wird, noch etwas von Pompeji zu sehen. Also setzen wir unsere Besichtigungstour der Ruinenstadt fort. Ich bin das zweite Mal hier, aber es kommt mir vor, als wenn ich erst diesmal die ganze Ausdehnung Pompejis erfasse, von dem weite Teile noch nicht einmal ausgegraben wurden, um sie nicht der Verwitterung preiszugeben. Für die Rückfahrt vertrauen wir uns der Circumvesuviana an, die zwischen den Vesuvstädten und Neapel verkehrt, und haben diesmal eine deutlich erschütterungsfreiere Fahrt als auf dem Hinweg mit dem Taxi. Fast immer in Sichtweite ist der Vesuv, dem wir dieses so gut konservierte Stück antiken Alltags verdanken. „Grey clouds roll over the hills, bringing darkness from above“, heißt es in dem Song Pompeii der britischen Rock-Pop-Band Bastille. Wieder im Hotel angekommen gönnen wir uns eine verspätete Mittagspause, die für mich mit einigen Seiten Krimilektüre beginnt. Dann starten wir zum Abendessen.

Anmerkungen 1. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Syrinx.jpg. 2. Naguib M & Riebel K, 2014: Singing in Space and Time: The Biology of Birdsong. In: G. Witzany (ed.), Biocommunication of Animals, Dordrecht. DOI 10.1007/978-94-007-7414-8_13, 233. 3. Bregman MR et al., 2016: Songbirds use spectral shape, not pitch, for sound pattern recognition113. Proc Natl Acad Sci 113, 1666–1671. https://doi. org/10.1073/pnas.1515380113. 4. Liu W et al., 2021: A memory-driven auditory program ensures selective and precise vocal imitation in zebra finches. Commun Biol 4, 1065. https://doi. org/10.1038/s42003-­021-­02601-­4. 5. Garamszegi LZ et  al., 2008: Birds Reveal their Personality when Singing. PLoS ONE 3: e2647. doi:10.1371/journal.pone.0002647. 6. Hayase S et al., 2021: Seasonal regulation of singing-driven gene expression associated with song plasticity in the canary, an open-ended vocal learner. Mol Brain 14, 160. https://doi.org/10.1186/s13041-­021-­00869-­5. 7. Siehe 3. 8. https://www.nature.com/articles/s41467-­022-­29384-­4. 9. Mason B, 2022: Do Birds Have Language? – In the cheeps, trills and tweets of birdsong, scientists find some parallels with human speech. Knowable Magazine from Annual Reviews. https://www.smithsonianmag.com/science-­ nature/do-­birds-­have-­language-­180979629/. 10. https://www.goethe.de/lrn/prj/mlg/mad/gri/de9114374.htm.

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11. Kochewad SA et al., 2022: Effect of milking environment enrichment through music on production performance and behaviour in cattle. Trop Anim Health Prod 54: 219. doi: 10.1007/s11250-022-03217-4. 12. Humorvoll nähern sich dem Thema Kommentare unter https://www.welt-­ sichten.org/artikel/40604/kuehe-­und-­musik und https://www.tagesspiegel. de/ kultur/muuuhsik-3639907.html an. 13. Snowdon D et  al. 2015: Cats prefer species-appropriate music. Applied ­Animal Behaviour Science 166, 106–111. 14. Sahm R 2022: Von Nachtigallensteuer bis Nachtsteuer. In: Von der Aufruhrsteuer bis zum Zehnten. Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-­3-­658-­ ­39378-­6_14. 15. Sugimoto T et  al., 2010: Preference for consonant music over dissonant music by an infant chimpanzee. Primates 51, 7–12. https://doi.org/10.1007/ s10329-­009-­0160-­3. 16. McDermott JH & Hauser MD, 2007: Nonhuman primates prefer slow tempos but dislike music overall. Cognition 104, 654–668.

5 Freitag – Geschmack

Neapel. Nächtlicher Blick auf das Castel dell’Ovo.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Bullerdiek, C. Süßmuth, Warum Musik in unseren Genen liegt, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67375-1_5

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Zusammenfassung  Was kann man eigentlich von einem Tag erwarten, der um Mitternacht mit Gedanken an den Teufel und seine Musik begonnen hatte? Für uns jedenfalls nichts Schlechtes, denn mit dem Teufelstriton, dem Diabolus in Musica, hat ein Tag begonnen, der uns auf die Insel Capri führt. Ein Tag, an dem wir uns mit Geschmack beschäftigen werden. Unser Gehirn ist in weniger als einer Sekunde in der Lage, bekannte von unbekannter Musik zu unterscheiden, aber was bestimmt die Playlist unserer Lieblingsmusik? Sind es Hörgewohnheiten seit frühester Kindheit oder gibt es universelle Muster von Musik, die sich immer und für alle Menschen harmonisch anhören? Dazu werden wir unter anderem sprechen über die indigene Bevölkerungsgruppe der Tsimane’ im Amazonasgebiet, die bisher noch kaum mit westlicher Musik in Berührung kamen und tatsächlich unsere Unterscheidung konsonanter und dissonanter Intervalle nicht nachvollziehen können. Ein starkes Indiz dafür, dass in hohem Maße Hörgewohnheiten zu unserem Musikgeschmack beitragen. Veränderte Hörgewohnheiten scheinen auch zu einer Art Zeitgeist des Musikgeschmacks beizutragen, den wir beim Vergleich von Original und Coverversionen hoffentlich aufspüren können. Über Geschmack lässt sich eben nicht gut streiten, sprechen aber schon. Über einem langen Abendessen nach unserem Pompeji-Ausflug ist es Mitternacht geworden und die Geisterstunde angebrochen. Wir verlassen die kleine Bar an der Villa Comunale. Der Rückweg am Mittelmeer entlang führt uns direkt am nächtlich beleuchteten Castel dell´Ovo vorbei. Hier, wo einst die tote Parthenope an Land gespült wurde, ist es inzwischen still, nur leise hört man die Wellen, die sich am mächtigen Mauerwerk der mittelalterlichen Festung brechen. Deren schieres Alter reicht für einen Gänsehautmoment schon mehr als aus. Sie weist darauf hin, dass ein Tritonus jetzt perfekt zur Stimmung passen würde. Ich muss gestehen, dass ich den Begriff nicht kenne, und mich damit einmal mehr als musikalischen Banausen outen.

 lingt nur unschön oder kommt direkt K vom Teufel?  usik, die vom Teufel stammt? Der Tritonus oder diabolus M in musica. Er: Sie:

Was ist denn bitte ein Tritonus? Eigentlich genau das, was es sagt, nämlich ein in Tonintervall von drei Ganztönen beziehungsweise sechs Halbtönen. Dabei ist es unerheblich, ob die Töne, die das Intervall bilden, gleichzeitig

5  Freitag – Geschmack 

Er: Sie:

Er: Sie:

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oder nacheinander erklingen. Bekannt auch als das Teufelsintervall oder „diabolus in musica“. Von der Konsonanz bei niedrig-­ ganzzahligen Schwingungsverhältnissen kann beim Tritonus mit 45:32 nun auch wirklich nicht die Rede sein. Nur wenig steht jedenfalls besser für die Ambivalenz von Musik als all die Mythen um dieses spezielle Intervall. Teufel und Mythen klingt schon mal spannend. Lass mich doch bitte ein bisschen an deinen Gruselgeschichten teilnehmen. Es ist damit wie mit Pythagoras und den Schmieden: „Wenn es nicht wahr ist, ist’s doch gut erfunden.“ Also: Angeblich hat die Kirche im Mittelalter Komponisten bei Androhung strenger Strafen verboten, den Tritonus für ihre Kompositionen zu verwenden, weil das den Teufel beschwöre oder er sich wenigstens dadurch bemerkbar mache. Gut erfunden, wie gesagt, aber es gibt keine Quellenbelege dafür. Für das Verbot nicht und auch nicht für die mittelalterliche Abneigung. Soweit ich weiß, ist es nämlich erst der Musiktheoretiker Johann Joseph Fux, der 1725 in seinem Buch Gradus ad parnassum gesichert den Begriff verwendet. Übersetzt werden kann Gradus ad Parnassum mit Stufen zum Parnass, das ist ein griechischer Berg, der in der Antike als Sitz der Musen galt. In dem Buch heißt es über den Tritonus: „mi contra fa, est diabolus in Musica“ („mi wider fa, ist der Teufel in der Musica“).1 Zeitentsprechend vom Generalbass ausgehend beschäftigt sich das Buch mit der Harmonielehre. Es ist verfasst in Form von Dialogen zwischen dem Schüler Joseph, Fux selber, und dessen Lehrer Aloys, dem Komponisten Giovanni Pietro Aloisio Sante da Palestrina. Die Verbindung zwischen dem Tritonus und dem Teufel ist also erstmals aus dem Barock überliefert und nicht aus dem Mittelalter, wobei Fux sich damit allerdings auf andere, uns heute nicht mehr überlieferte Quellen bezieht, denn er schreibt von dem „bekannten Sprichwort“ (Abb. 5.1). Haben sich die Menschen denn wenigstens an das wahrscheinlich nie bestehende Verbot gehalten? Taucht der Tritonus in Kompositionen nicht auf? Doch, doch, Bach etwa hat ihn öfter verwendet, zum Beispiel um den Auftritt des Teufels oder des Judas zu markieren, und auch andere Komponisten der Barockmusik, meist als Ausdruck von Leid und Verzweiflung und zur Betonung dramatischer Textstellen. Verwendet wird er aber auch später, so in Mendelssohns Elias: „Der Fluch ist über uns gekommen.“ Am bekanntesten und zur

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Abb. 5.1  Faksimile-Abbildung von zwei Doppelseiten aus Johann Joseph Fux‘ Werk Gradus at parnassum (1625) über Harmonielehre mit der ersten bekannten Erwähnung des Tritonus oder des diabolus in musica: „mi contra fa, est diabolus in Musica“ (S.51, (Fortsetzung)

5  Freitag – Geschmack 

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Abb. 5.1  (Fortsetzung) beginnend mit der vierten Zeile von unten). In der deutschen Übersetzung von Lorenz Christoph Mizler heißt es dazu: „Ich zweifle nicht, dass du das bekandte Sprüchwort gehöret habest: mi wider fa, ist der Teufel in der Musica, welches du gemachet hast,

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Abb. 5.1  (Fortsetzung) indem du von der sechsten Note fa, zur siebenden mi, durch den Sprung der großen Quarte oder des Tritonus, welcher schwer zu singen, auch übel klinget und dahero im Contrapunct zu gebrauchen verboten ist“

5  Freitag – Geschmack 

Abb. 5.1  (Fortsetzung)

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Abb. 5.2  Und wieder eine Stereokarte, diesmal mit einer Szene aus der Oper Der Freischütz von Carl Maria von Weber. In der Wolfsschlucht, 2. Akt, 4. Szene. Les théatres de Paris 1870er-Jahre. Die Farben werden sichtbar durch eine Lichtquelle, die die Karte von hinten beleuchtet

Er: Sie:

Romantik passend ist dann aber die Verwendung in der Wolfsschlucht-Szene von Webers Freischütz, einer romantischen Oper (Abb. 5.2). Später findet sich der Tritonus zum Beispiel im Musical West Side Story, der Song Maria2 ist ja bekannt. Singen lässt sich der Tritonus auch nicht ganz einfach; vielleicht einer der Gründe, weshalb er in Verruf geraten ist. Das demonstrierst du lieber jetzt nicht. Wer weiß, was für ein Mephisto in den alten Gemäuern um diese Zeit unterwegs ist oder ob die tote Parthenope am Ende hier noch ihr Unwesen treibt. Wie auch immer wärest du eher gefährdet. Wenn ich Goethes Faust richtig verstanden habe, dann sind Mephistos bevorzugte Zielgruppe Gelehrte und Angehörige ähnlicher Berufe, von Sopranistinnen war da nicht die Rede. Und schließlich lässt Goethe doch im zweiten Teil des Faust in Anwesenheit des Teufels durch seinen Gehilfen Wagner ein kleines Menschlein, einen Homunculus, erschaffen: „Nun läßt sich wirklich hoffen, dass, wenn wir aus viel hundert Stoffen durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an – den Menschenstoff gemächlich komponieren, in einen Kolben verlutieren und ihn gehörig kohobieren,

5  Freitag – Geschmack 

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so ist das Werk im stillen abgetan. Es wird! die Masse regt sich klarer!“

Er:

Sie:

Regt sich klarer, weil eine menschliche Gestalt erscheint. Der Begriff Menschenstoff sagt es doch deutlich. Das kann nur DNA gewesen sein, also war es Humangenetik. Ich kann mich auch an die Stelle im Faust zwei erinnern, aber das macht Faust nicht zu einem Humangenetiker. Und dass es DNA war, bestreite ich mit Nichtwissen oder wie auch immer das juristisch heißen mag. Die Verse rücken mich also keinesfalls in die Gruppe der Mephisto-Gefährdeten. Okay, die Klügere gibt nach. Ich glaube, heute Nacht sind wir beide vor Mephisto und ähnlichen Gestalten sicher.

Mit einem Blick auf den nächtlichen Golf endet der Abend und vom Teufel fehlt die ganze Nacht über zum Glück jede Spur. Allerdings haben wir ihm ja auch keine Veranlassung dazu gegeben, in Erscheinung zu treten. Die Nacht war kurz, wir wollen heute nach Capri. Um 6.30 Uhr schaue ich aus dem Hotelzimmer auf die Via Partenope. In der Morgendämmerung ist noch alles ganz ruhig, nicht einmal das Geräusch eines knatternden Rollers. Nur ein Paar Möwen kreischen jetzt für einige Minuten um die Wette. Der frühe Blick vom Hotelbalkon zeigt, was André Gide damit meinte, Capri treibe geheimnisvoll auf den durchsichtigen Wassern. Wir waren jedenfalls beide noch nicht auf Capri und sind gespannt auf unser heutiges Ziel. Vorher bleibt aber Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Nach dem nächtlichen Gespräch über Teufelstritoni und deren schauerliche Wirkung weckt die morgendliche Sonne im Frühstücksraum wieder alle guten Geister. Das amerikanische Pärchen neben uns mit unverkennbar New Yorker Dialekt plant für heute einen Ausflug nach Pompeji und lässt uns ungewollt an den Planungen teilnehmen. Auch die beiden wollen ein Taxi zur Ausgrabungsstätte nehmen. Wir verzichten auf die Empfehlung eines vorherigen Stoßdämpferchecks und nehmen stattdessen unseren nächtlichen Gesprächsfaden wieder auf. Es ging um Dr. Faust und seinen Homunculus und die Humangenetik. Irgendwie will sich aber die rechte Konzentration noch nicht einstellen. Vielleicht können wir uns auf Capri inspirieren lassen. Nun wird es zeitlich doch eng, aber mit etwas Mühe erreichen wir noch die nächste Schnellfähre. Eine knappe Stunde bis Capri, das Vergnügen an der Seereise hält sich allerdings in Grenzen. Aufhalten darf man sich nur unter Deck und die Scheiben sind vom getrockneten Spritzwasser mit einer Salzkruste überzogen. Also keine Ablenkung durch den Blick auf den Golf und das heranrückende Capri. Nicht

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schön aber ideal, um unsere Diskussion mit einem abstrakten Thema weiterzuführen.

Können Zellen und Gene hören? L iegt Musik auch im Blut? Spannendes nicht nur in Ohr und Gehirn. Auch Immunzellen sind beteiligt Sie:

Er:

Bisher haben wir über die Effekte von Musik gesprochen, die uns auf dem „klassischen Wege“, also über Ohr und Gehirn, erreichen. So wie Liebe durch den Magen geht, so geht Musik durch die Ohren. Aber ist das alles? Hältst du andere Auswirkungen für möglich? Auch Musik ist ja im Grunde nichts anderes als Schallwellen. Können die nicht auch direkt andere Körperzellen zum Mitschwingen bringen und dadurch Effekte haben? Und kann unser Musikgeschmack nicht wesentlich dadurch geprägt sein, dass wir auf diese Weise positive oder negative Klangerlebnisse hatten? Hhm …, du meinst, die Klänge wirken ohne Vermittlung des Gehirns, seiner Botenstoffe und so weiter? Jedenfalls ist es so, dass das Transkriptom auch von Zellen außerhalb des Gehirns, zum Beispiel Immunzellen, durch Musik verändert werden kann. Allerdings geht man dabei davon aus, dass es auf sekundären Effekten beruht, die über Hörsinn und Gehirn getriggert werden. Es gibt zu dem Thema eine sehr interessante Studie, auch wieder aus Finnland. Teilgenommen haben zehn professionelle Instrumentalist/-innen (drei Männer und sieben Frauen, neun Streichinstrumente, eine Flöte) des finnischen Kammerorchesters Tapiola Sinfonietta. Jeweils vor und direkt nach einem zweistündigen Konzert3 wurde allen Teilnehmenden Blut abgenommen. Als Kontrollgruppe diente eine andere Gruppe professioneller Musiker, denen vor und nach einem zweistündigen Zeitraum „musikalischer Abstinenz“ ebenfalls Blutproben abgenommen wurden. Während der zweistündigen Wartezeit konnten die Teilnehmenden der Kontrollgruppe entweder einen Spaziergang machen oder einem Vortrag lauschen. Aus jeder der 40 Blutproben wurde dann RNA der Immunzellen isoliert und daraus das Transkriptom bestimmt. Du erinnerst dich? Über das Transkriptom bekommt man einen Überblick über die Aktivität aller Gene. Die spannende Frage war nun, ob sich das Transkriptom durch die musikalische Betätigung ändert.

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Sie:

Er:

Sie: Er:

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Nur ein kurzer Einwurf. Wir haben jetzt eine knappe Stunde Überfahrt. Wenn du so gründlich weiter erklären willst, hätten wir doch eher die Fähre nach Sizilien nehmen sollen. Vielleicht kannst du etwas Gas geben. Spannend ist es ja und betrifft mich sogar selbst. Sind dabei tatsächlich Unterschiede beobachtet worden? Okay, ich verspreche, mich ab jetzt kurz zu fassen. Ja, es gab in der Tat Unterschiede. Zwar hat man bei solchen Experimenten auch immer zufällige Schwankungen, die Unterschiede waren aber teilweise überraschend deutlich und jedenfalls zu deutlich, um mit solchen Schwankungen erklärbar zu sein. Hier kommt dann wieder die Signifikanz ins Spiel. Zur Angabe, dass etwas signifikant ist, gehört immer auch eine Aussage zur Irrtumswahrscheinlichkeit. Hier zum Beispiel, dass die Expression eines bestimmten Gens nach einem Konzert signifikant erhöht ist. Wenn wir die Ergebnisse der Studie näher anschauen, so sieht das auf den ersten Blick etwas verwirrend aus. Wir nennen das eine Heatmap (Abb.  5.3). Die Farben stehen dabei für unterschiedlich starke Genexpression, von Rot für schwach bis Grün für stark. Mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von kleiner 5 % fanden sich immerhin 73 Gene, deren Expression vor beziehungsweise nach dem Konzert signifikant verändert war. Bei 51 davon war sie heraufreguliert und bei 22 herunterreguliert. Darunter sind durchaus auch diesmal wieder ein paar alte Bekannte, die in den entsprechenden GWAS mit besonderen musikalischen Fähigkeiten assoziiert waren oder sich als wichtig für den Vogelgesang erwiesen hatten. Allen voran wieder das SNCA, aber auch erneut das FOS (Abb. 5.3). Ich erwarte nun eigentlich, dass du wieder ein bisschen funktionell annotierst. Klingt ein wenig, als ob ich unter irgendeiner komplizierten Störung leiden würde. Auch wenn ich ganz sicher bin, dass du äußerst vorsorglich genau diesen Eindruck vermeiden möchtest. Wie auch immer, hatte ich tatsächlich gerade vor, wenigstens ein bisschen funktionell zu annotieren. Die meisten Spuren führen wieder ins Gehirn und ­wiederum mit Schnittmengen mit den für Vogelgesang wichtigen Genen (Abb. 5.4). Neben den beiden eben genannten ist weiterhin auch das DUSP1, auch bekannt als MKP1 interessant. Es gehört zu einer Gruppe von Genen, die die, Baupläne für sogenannte Proteinphosphatasen bereitstellen.

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a

heraufreguliert P, prä P, post K, prä K, post

b

herunterreguliert P, prä P, post K, prä K, post

Abb. 5.3  Heatmap mit den Ergebnissen der Studie zum Transkriptom von Immunzellen professioneller Musiker vor und nach einem Konzert. Das Beispiel zeigt 15 he­ rauf- (a) und 15 herunterregulierte (b) Gene. Die Farben zeigen dabei die Stärke der Genexpression an, von Dunkelgrün für hoch bis Dunkelrot für niedrig. Dabei begegnen uns wieder alte Bekannte, auffällig in der Gruppe der heraufregulierten Gene unter anderem SNCA und FOS. P: Proband/-innen, K: Kontrollen

Abb. 5.4  Direkte Überlappungen (SNCA, FOS, DUSP1) und ähnliche Funktion bei Vergleich von für den Vogelgesang wichtigen Genen (links) und Genen, die in menschlichen Immunzellen durch Musik beeinflusst werden (rechts). Die Daten beruhen jeweils auf Transkriptomanalysen, aus3

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Sie: Er:

Sie: Er: Sie: Er:

Sie:

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Gleich weiß ich nicht mehr, was mich seekrank macht. Dieser angeblich wie ein Brett im Wasser liegende Katamaran oder deine seltsamen Proteinnamen. Wir sind gleich da, dann können es nur noch die Proteinnamen sein. Ist aber gar nicht so kompliziert. Letztlich sind das Proteine, die andere Proteine und dadurch deren Aktivität in bestimmter Weise verändern können. Erhöhte Expression dieses Gens findet sich bei einem Depressionsmodell der Maus sowie bei depressiven Menschen.4 Und hängt weiterhin mit unserer Stressresistenz zusammen. Die Expression ist bei erhöhtem Stress nämlich ebenfalls erhöht. Was muss ich mir unter einem Depressionsmodell der Maus vorstellen? Klingt komisch, heißt aber so. Das sind Mäusestämme, die Verhaltensänderungen aufweisen, die an menschliche Depressionen erinnern. Okay, danke. Aber nun nochmal zu der Studie mit der geänderten Genexpression nach Musizieren. Sind die Daten denn sicher? Kann man das glauben? Gesunde Skepsis ist in der Wissenschaft immer angebracht. So weit macht die Studie aber einen soliden Eindruck. Und die Gene, die auffällig sind, sind auch irgendwie plausibel. Mir stellt sich trotzdem die Frage, ob nach einem zweistündigen Konzert nicht auch andere Gründe für die Änderungen der Transkriptionsmuster verantwortlich sein könnten. Die körperliche Anstrengung könnte dazugehören. Wie auch immer, die Ergebnisse passen insofern gut, als die Genprodukte unter anderem in Prozesse im Zusammenhang mit Transport und Regulation von Neuro­ transmittern, Dopamin-Haushalt, Erinnerung, assoziativem Lernen, aber auch motorischen Fähigkeiten eingebunden sind. Das bildet ja tatsächlich einiges von den Fähigkeiten ab, die wir  im Zusammenhang mit Musikalität diskutiert haben. Neurotransmitter und Dopamin beim Belohnungssystem, Erinnerung und assoziatives Lernen bei Geräusch- und Klangerkennung und motorische Fähigkeiten müssen natürlich während des Konzertes abgerufen werden. Höchst interessant also. Musikmachen ändert tatsächlich unsere Immunzellen? Kann man das so sagen?

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 ozarts Violinkonzert Nr. 3 und die M Genexpression. Welche Gene besonders gut „auf Musik hören“ Er:

Sie: Er:

Das ist ein bisschen übertrieben ausgedrückt. Nicht in dem Sinne, dass aus einer Zelle eine andere wird. Aber das meinst du ja wahrscheinlich auch nicht. Zumindest kann man aber sagen, dass sich nach dem Musizieren bei professionellen Musikern und Musikerinnen für eine gewisse Zeit der Funktionszustand der Immunzellen ändert. Um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen, kann man daraus allerdings nicht schließen, dass die Änderungen direkt auf einen Effekt der Schallwellen auf die Immunzellen zurückzuführen sind. Eher ist wahrscheinlich, dass das Gehirn mit Hilfe von Botenstoffen Signale an die Immunzellen aussendet, die die Änderungen hervorrufen. Wir hatten ja gesehen, dass das Gehirn grundsätzlich sehr schnell auf Musik ­„reagiert“ (s. Abb. 2.13). Bleiben die Fragen, ob das auch für musikalische Laien zutrifft und ob auch das reine Anhören von Musik ähnliche Effekte hat. Wie der Zufall es will, gibt es von der gleichen Arbeitsgruppe auch dazu eine Studie.5 Musikalisch im Mittelpunkt steht dabei Mozarts Violinkonzert Nummer 3, G-Dur, Köchelverzeichnis 216.6 Es wurde für 20 min Probanden vorgespielt, die, ganz grob gesagt, entweder musikerfahren waren oder nicht. Jeweils unmittelbar vor und nach dem Hören wurde den Probanden Blut abgenommen. Zur Bestimmung des Transkriptoms der Immunzellen wurde dann genauso verfahren wie ich eben bei der anderen Studie erklärt habe. So ließ sich dann auch hier bestimmen, welche Gene in welchem Ausmaß aktiv waren. Das Verfahren kennst du ja schon. Fazit ist, dass sich die Musiker von den Nichtmusikern auch hier deutlich unterschieden haben. Und auch bei den in dieser Studie signifikant unterschiedlich exprimierten Genen spielen wieder solche eine große Rolle, die ihren großen Auftritt im Gehirn haben – funktionell annotiert besonders im Zusammenhang mit dem Dopamin. Du darfst auch einmal raten, was dabei ist. Bei einmal raten sage ich SNCA. Treffer, war aber leider nur die 250-€-Frage.

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 ie spannende Frage, ob Immunzellen D hören können Sie: Er:

Sie:

Er:

Sie: Er: Sie:

Wie muss ich mir das mit den hörenden Genen denn genau vorstellen? Die hören ja nicht wirklich. Die gängige Vorstellung ist jedenfalls, dass die Immunzellen aus dem Gehirn Botenstoffe empfangen, die ihrerseits Einfluss auf die Genexpression nehmen. Bei den Zeiten, die jeweils zwischen Musik und Blutentnahme lagen, erscheint das auch durchaus realistisch. Da muss ich aber doch noch einmal nachfragen. Mir ist schon klar, dass auch die Zellen nicht wirklich hören können, aber könnten sie nicht vielleicht doch die Schwingungen der Musik direkt aufnehmen? Ist die Frage zu naiv? Nein, gar nicht. Die Idee, dass Immunzellen direkt Schwingungen aufnehmen können, wäre allerdings ziemlich revolutionär. Strukturen auf der Zelloberfläche, die so etwas können, gehören zur Gruppe der sogenannten Mechanorezeptoren. Allerdings bin ich nicht sicher, ob Immunzellen darüber verfügen. Und falls ja, ob das dann die richtigen wären, um solche Schwingungen aufzunehmen, so wie es bei den Haarzellen im Innenohr funktioniert, die Schwingungen aufnehmen. Wie gesagt, ziemlich kühn als Hypothese, aber in Forschung steckt ja auch forsch. Du versuchst mir jetzt gerade höflich beizubringen, dass das eigentlich doch eine ziemlich dumme Frage war, oder? Nein, so höflich bin ich nicht. Ich schaue mir mal an, ob es dazu überhaupt irgendwelche Hinweise aus der Literatur gibt. Mache ich in Ruhe heute Abend, wenn du also etwas Geduld hast … Habe ich. Ich werde dann irgendwann aber auch mit einer ausführlichen Antwort rechnen. Aber wie auch immer, die Fähre kommt bald an und wir wissen noch immer nicht, was unseren Musikgeschmack prägt. Alle Erfahrung zeigt ja, dass die Geschmäcker bei der Musik sehr verschieden sind. Von daher finde ich es auch einleuchtend, dass Persönlichkeitsmerkmale den Musikgeschmack mitprägen. Dazu habe ich erst vor Kurzem eine ausführliche Studie gelesen.7

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Wer hört wie?  omit hängt es zusammen, welche Musik wir mögen? W Persönlichkeit zählt, ist aber nicht alles Er:

Sie:

Er: Sie:

Er:

Ich erinnere mich, hattest du mir gezeigt. Die Autoren hatten ihre „Versuchspersonen“ unter anderem nach einer Art Empathieindex eingeteilt und der wiederum hatte anscheinend Einfluss auf den Musikgeschmack. Das kann doch aber nicht alles sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass individuelle Erfahrungen beziehungsweise Assoziationen mit bestimmter Musik auch eine große Rolle spielen. Weiter werden bestimmt soziokulturelle Faktoren von Bedeutung sein. Arabische oder noch mehr ostasiatische Musik klingt für uns schon recht fremd. Aber dann, ganz am Ende, bleibt vielleicht doch noch etwas übrig, was generell harmonische Musik prägt. Egal, in welcher Umgebung wir aufgewachsen sind und welche individuellen Musikerfahrungen wir gemacht haben. Ah, da sind sie wieder, die Sphärenklänge. Das nicht gerade, aber vielleicht schon so etwas wie natürlicherweise konsonante Intervalle oder Ähnliches. Wie auch immer, sehr beeindruckend finde ich, wie schnell wir bekannte von nicht bekannter Musik unterscheiden können. Bei der Studie, über die wir vorhin sprachen, ist Mozarts Violinkonzert Nr. 3 ja nicht zufällig genommen worden, sondern weil es ziemlich bekannt und damit wohl auch beliebt ist. Wir kennen es und die meisten reagieren positiv. Mindestens teilweise, wenn nicht sogar überwiegend, scheint es tatsächlich von unserem Musikgedächtnis und den dort verknüpften Erfahrungen abzuhängen, ob wir eine Musik mögen oder nicht. Hatte ich dir die PDF-Datei zur Wiedererkennung von Musik geschickt? Ja, ich glaube, wir meinen die gleiche Studie. In der anhand von EEG-­Mustern getestet wurde, nach welcher Zeit unser Gehirn zwischen bekannten und unbekannten Musikstücken unterscheidet, oder?

5  Freitag – Geschmack 

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 iedererkennung, Assoziation mit Ereignissen W oder Eindrücken Sie:

Richtig, wir meinen wohl dieselbe Studie. Ich habe gelesen, dass wir beginnend ab etwa 0,4 differenzieren können, ob uns ein Musikstück bekannt ist (Abb. 5.5). Was muss da alles passieren? Wir müssen ein sehr kurzes Schnipselchen von der Musik wahrnehmen, dann bewerten, ob es von einem bekannten Musikstück stammt, und schließlich muss in der gleichen Zeit auch noch diese erste Reaktion erfolgen.

Hauptgruppe

Links, parietal bekannt

Kontrollgruppe

Amplitude (mV)

unbekannt

Amplitude (mV)

Rechts, fronto-temporal

Zeit (Sekunden)

Zeit (Sekunden)

Abb. 5.5  Hirnströme zeigen die Reaktion auf Musik. Es zeigt sich dabei ein Unterschied zwischen bekannter (linker Teil der Abbildung, blaue Kurve) und unbekannter Musik (rechter Teil der Abbildung). Schon ab etwa 0,4 s kann das Gehirn dabei entsprechend signifikant differenzieren, die Kurven laufen deutlich auseinander (jeweils grau hinterlegte Kurvenbereiche). Bei Kontrollprobanden, denen beide Musikstücke unbekannt waren, bleibt diese Differenzierung zwischen beiden Stücken aus (rechter Teil der Abbildung). (Jagiello et al. 2019: Rapid Brain Responses to Familiar vs. Unfamiliar Music  – an EEG and Pupillometry study. Sci Rep 9, 15570 (2019). https://doi. org/10.1038/s41598-­019-­51759-­9)

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Er:

Sie:

Er:

Sie:

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Allein das Bewerten ist ja ein ziemlich komplexer Vorgang. Du erinnerst dich sicher an das Modell zu den verschiedenen Gedächtnissen (s. Abb.  2.15). Wenn man es darauf herunterbricht, dann erfolgt der Input in das echoische Gedächtnis durch das kurze Anspielen der Melodie und dann deren Überführung in das Arbeitsgedächtnis. Fast gleichzeitig werden Referenzmelodien aus dem Langzeitgedächtnis ebenfalls ins Arbeitsgedächtnis abgerufen und dann dort die Informationen d ­ araufhin überprüft, ob die Melodie mit einer bekannten übereinstimmt. Ist dies der Fall, so wird die Reaktion ausgelöst. Und alles im Bruchteil einer Sekunde, sehr beeindruckend. Soweit ich weiß, schlägt das von der Antwortzeit deutlich alle Apps, die in dem Bereich Musikerkennung „unterwegs“ sind. Auch wenn der Vergleich vielleicht etwas hinkt, schneidet unser Gehirn dabei also sehr gut ab. Und das alles funktioniert ja ansatzweise auch im Schlaf. Input bleibt auf alle Fälle erhalten. Anders als unsere Augen schließen wir ja unsere Ohren im Schlaf nicht. Außer mit Ohropax, aber das ist gemessen an der Evolution des Menschen eine recht späte Erfindung. Beim Ohropax schließt sich ein Kreis zu Odysseus. Erinnere dich an den Ratschlag, den Circe ihm gegeben hatte: „Verkleibe die Ohren der Freunde mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben.“ Aber wieder zum Schlaf: Tatsächlich gibt es seit einigen Jahren eine Reihe überzeugender Hinweise, dass unser Gehirn während der meisten Zeit, in der wir schlafen, sehr wohl eingehende akustische Signale noch bearbeitet, also etwa auf potenzielle Gefahr hin untersucht beziehungsweise auch Entwarnung gibt, wenn ein Geräusch nicht auf eine bevorstehende Gefahr hindeutet.8

 enetik meets Umwelt: Was unseren G Musikgeschmack prägt Inzwischen hat unsere Fähre Capri erreicht und wir haben uns mit der Standseilbahn zur Piazza Umberto aufgemacht. Von dort erreichen wir nach einem langen Spaziergang über die Insel ganz in der Nähe des Arco Naturale ein klei-

5  Freitag – Geschmack 

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nes Restaurant mit Blick auf das Mittelmeer und die Amalfiküste. Dort nehmen wir unseren Gesprächsfaden wieder auf.

 ibt es universelle Maßstäbe für Musikgeschmack? G Was wir von den Tsimane’ lernen können Über konsonante und dissonante Intervalle hatten wir schon gesprochen. Und auch über den „furchterregenden“ Tritonus. Für unsere Ohren gibt es ohne Zweifel angenehme und weniger angenehme Zusammenklänge. Aber geht das Menschen aller Kulturen genauso? Gibt es eventuell sogar Naturgesetze, die darüber bestimmen, wie wir Klänge empfinden, und die für alle Menschen und vielleicht sogar Tiere „verbindlich“ sind? So gehen wir ja im Allgemeinen davon aus, dass uns Töne mit niedrig-ganzzahligen Frequenzverhältnissen konsonant erscheinen, weil sie mehr Schnittpunkte der Wellen im Obertonbereich haben als solche, bei denen die Verhältnisse sich nur mit höheren ganzen Zahlen ausdrücken lassen. „Die auffallende Sicherheit, mit welcher Geübte die Tonintervalle erkennen, indem bei zwei consonierenden Tönen, auch wenn sie nacheinanderklingen, ein eigenthümliches Gefühl von Befriedigung auftritt, ein Lustgefühl, welches bei Dissonanzen fehlt, hat trotz einer mehrtausendjährigen praktischen Bedeutung zwar umfangreiche Speculationen, aber bisher nur wenige experimentelle Prüfungen veranlasst.“ So schreibt 1876 der Physiologe William Thierry Preyer in seinem Buch mit dem Titel „Über die Grenzen der Tonwahrnehmung“, einem Klassiker der Musikliteratur.9 Wir diskutieren, wie man das Thema ungefähr 150 Jahre nach Preyers Statement einordnen kann. Er: Sie:

Du hattest ja die konsonanten Intervalle mit dem Zusammenfallen von Tönen innerhalb der Obertonreihen begründet. Ist das die gesuchte Erklärung? Zumindest ist das eine häufige Erklärung. Das Phänomen hat bereits Pythagoras beschrieben, auch wenn das Schlüsselerlebnis in der Schmiede frei erfunden ist. Es gibt aber auch kritische Stimmen. Ich erinnere mich an einen Artikel in Nature, sechs oder sieben Jahre alt, der das in Frage stellt. Die Ergebnisse sind einigermaßen spektakulär und wurden daher auch außerhalb der Fachmedien intensiv diskutiert, jedenfalls im Feuilleton. Die Studie10 wurde unter Mitwirkung von Angehörigen des Stammes der Tsimane’ durchgeführt, einer in Bolivien beheimateten indigenen Bevölkerungsgruppe (Abb. 5.6a), die bisher nur minimalen Kontakt mit westlicher Kultur hatte. Und gemessen wurde in der Studie,

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J. Bullerdiek und C. Süßmuth

Abb. 5.6  (a) Karte der Orte, aus denen die bolivianischen Studienteilnehmer stammten. Die Größe der Ortssymbole ist proportional zur Einwohnerzahl. Die Farben stehen für unterschiedliche Höhen der betreffenden Gebiete. (b) Durchschnittliche Bewertung der von einem professionellen Sänger gesungenen Intervalle und Akkorde durch fünf Bevölkerungsgruppen, nämlich US-Musiker (Kriterium: Spielen eines Instrumentes), US-Nichtmusiker, Bolivianer aus der Hauptstadt La Paz, Bolivianer aus der Provinzstadt San Borja, die außerhalb der Trockenheit fast nur per Flugzeug erreichbar ist, und Tsimane’ aus der kleinen Ortschaft Santa Maria, die ganzjährig nur per Kanu erreicht werden kann. Die gesungenen Intervalle und Akkorde waren entweder konsonant (große Terz, reine Quarte, reine Quinte und Dur-Dreiklang) oder dissonant (kleine Sekunde, große Sekunde, Tritonus, große Septime und übermäßiger Dreiklang). Die Anzahl der jeweiligen Sterne zeigt an, auf welchem Signifikanzniveau die Werte der einzelnen Gruppen verschieden waren: **P