Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871–1918 9783486842142, 9783486429015


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Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871–1918
 9783486842142, 9783486429015

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Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871 — 1 9 1 8

Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts Abhandlung der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität Köln Band I

»Neunzehntes Jahrhundert« Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen-Stiftung

Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871—1918

Elisabeth Fehrenbach

R. O L D E N B O U R G . M Ü N C H E N - W I E N

1969

© 1969» R- Oldenbourg, München Cesamtherstcllung: R. Oldenbourg, Graph. Betriebe, München

Geleitwort von Theodor Schieder

Im Rahmen der von der Fritz-Thyssen-Stiftung in großzügiger Weise geförderten Forschungen zum 19. Jahrhundert beginnt mit diesem Band eine Veröffentlidiungsreihe, die Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte umfassen soll. Damit soll neben der Geschichte des geistigen Lebens, der Kunst und Kultur auch die politische Geschichte zu ihrem Recht kommen, wobei unter ihr nicht im engsten Sinne nur Staatsgeschichte, sondern auch Geschichte der politischen Bewegungen und Ideen, der gesellschaftlichen Kräfte und Institutionen verstanden werden soll. Auf allen diesen Gebieten ist die Bedeutung des 19. Jahrhunderts für die Entstehung der modernen Welt fundamental. Die Ausbreitung Europas über die ganze Welt und damit verbunden die zivilisatorische Europäisierung der Welt, die Durchsetzung der Demokratie, der Sieg des Nationalstaatsprinzips - all das sind Phänomene, die das 19. Jahrhundert als die große Epoche des Durchgangs zu neuen Formen, zu neuen Dimensionen der Geschichte erscheinen lassen, auch wenn seine Bahnen längst verlassen und seine Werke und Anschauungen zum großen Teil überwunden sind. Die vorgesehene Reihe wird mit einem Bande eröffnet, der sich mit der Problematik der deutschen Nationalstaatsgründung befaßt. Er ist aus den Arbeiten der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln hervorgegangen und gehört in den Zusammenhang allgemeinerer Forschungen dieser Abteilung über die Probleme der europäischen Nationalstaatsbewegung, die als eine universalgeschichtliche Erscheinung verstanden und mit den Methoden vergleichender Geschichtsbetrachtung behandelt werden soll. Wenn hier ein Generalthema vorliegt, zu dessen Untersuchung diese Reihe Beiträge aus der Geschichte verschiedener europäischer Länder liefern soll, so ist das 19. Jahrhundert reich an Stoffen und Problemen genug, um auch noch anderen Fragestellungen Raum zu lassen. Das Wesentliche soll aber immer der innere Zusammenhang aller Einzelforschungen mit der allgemeinen Problematik des Jahrhunderts sein, die Einzeluntersuchung ist niemals Selbstzweck, sondern immer ein Beitrag zu umfassenderen Problemen. In diesem Sinne will die Reihe mehr sein als eine zufällige Folge unverbundener Teile, sie gründet sich auf das Zusammenwirken einer auf ein gemeinsames Ziel gerichteten Arbeitsgemeinschaft und erstrebt, aus dem Einzelnen ein Ganzes, eine abgerundete Anschauung der Geschichte des 19. Jahrhunderts erstehen zu lassen. Theodor Sdiieder

Inhalt

Geleitwort von Theodor Schieder Vorwort I. Zur Fragestellung II. Der preußische Charakter des Kaisertums von

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1. Die geistigen Voraussetzungen Das Verblassen des universalen Kaisergedankens S. 14 - Die nationale Monarchie S. 27 - Die monarchische Tradition Preußens und das Kaisertum von 1848 S.40 2. Die politische Gestaltung und ihre verfassungsmäßigen Möglichkeiten Kaiserpläne 1866/67 und im Frühjahr 1870 S.52 - Auffassungen der Kronprinzenpartei, Wilhelms I. und Bismarcks während des deutsch-französischen Krieges S. 64 - Die Präsidialstellung des Kaisers und die Verschleierung der Souveränität im monarchischen Bundesstaat S. 81 III. Das Kaisertum, Wilhelms II. als Symbol des Nationalstaats 1. Die Überbetonung kaiserlicher Machtstellung im Reich . . . . Die Persönlichkeit des Kaisers S. 89 - Die Fiktion vom persönlichen Regiment S. 95 - Der Prioritätsstreit als Nachspiel zur Kaiserdiskussion von 1870/71 S. 104 - Das Fortwirken der historischen Kaiseridee S. 107 — Das Fortwirken der preußischen Tradition S. 116 - Die unitarisdie Entwicklung der Reichsverfassung S. 124 - Die parlamentarische Kritik am persönlichen Regiment S. 151 - Der Reichsmonarch und die Bundesfürsten S. 143 2. Die imperiale Übersteigerung Kaiseridee und Imperialismus S. 158 - Der Weltreichsgedanke Wilhelms II. S. 164 - Flotte, Heer, monarchisches Prestigedenken S. 170 - »Führer der Nation« und Volkskaiser S. 177 IV. Demokratie

und Kaisertum

1. Das Experiment des sozialen Kaisertums Kaisertum und Gesellschaft S. 184 - Die patrimoniale Tradition S. 187 - Das Programm Wilhelms II. S. 191 - Das Scheitern der Sozialreform S. 195

2. Die cäsaristischen und imperialen Vorstellungen Friedrich Naumanns Diktatur des Industrialismus S. 200 - Übernahme des bonapartistisdien Systems S. 202 — Kaisertum und Parlamentarismus S. 205 - Naumanns Kaiserbild im Spiegel der Kritik S. 2 1 1 Das Scheitern des Volkskaisertums im Ersten Weltkrieg S. 216 V. Zusammenfassung 1. Die historische Kaiseridee S. 221 — 2. Die preußisch-konservative Kaiseridee S. 223 — 3. Die föderalistisch-partikularistische Kaiseridee S. 224 - 4. Die unitarisch-nationalstaatliche Kaiseridee S. 226 5. Die imperiale Kaiseridee S. 227 - 6. Das Volkskaisertum S. 228 Literaturverzeichnis Namenregister

Vorwort

Die Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit ist willkommener Anlaß, f ü r die mir vielfältig zuteil gewordenen Hilfen herzlich zu danken. Vor allem gebührt mein aufrichtiger Dank meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Sdiieder, der diese Untersuchung anregte, mir die Mitarbeit in der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität Köln ermöglichte und meine Studien in jeder Weise förderte. Besonders erfreut bin ich über die Aufnahme meines Buches in die von ihm neu herausgegebene Reihe. Danken möchte ich sodann d?r Studienstiftung des Deutschen Volkes f ü r mehrjährige Förderung, den Archiven in München, Karlsruhe und Stuttgart sowie der Universitätsbibliothek Köln für alle zuvorkommend erwiesenen Hilfen. In gleicher Weise danke ich der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Förderung dieser Arbeit. Ich widme dieses Buch meinen Eltern. Köln, im Juli 1968

Elisabeth Fehrenbadi

I. Z u r Fragestellung

In einer kritischen Bilanz des ersten Jahrzehnts wilhelminischer Regierung erklärte Friedrich von Holstein um die Jahrhundertwende die Machtentfaltung des Kaisers »für das größte Phänomen der Gegenwart« 1 . U m die gleiche Zeit erschien Friedrich Naumanns programmatische Schrift: »Demokratie und Kaisertum«*, welche den nationalen Imperator feierte, den Führer des werdenden Volksstaates im Zeitalter des Industrialismus und der Weltpolitik. Unter dem Eindruck des persönlichen Regiments Wilhelms II. konnte Naumann von einem neuen »Kaiseramt« sprechen, das sich als eine dritte Größe neben Bundesrat und Reichstag gebildet habe, eine nodi unformulierte politische Gewalt, die jedoch mit jedem Jahr wachse und die feste einheitliche Grundlage für die nationale Weltmachtpolitik biete9. Dergleichen zeitgenössische Urteile spiegeln aus unmittelbarer Erfahrung die Wandlungen des Kaisergedankens. Die Dynamik des imperialistischen Zeitalters überträgt sich auf das Kaisertum, das zu einem Symbol und Prüfstein der nationalen Entwicklung wird. Aus historischer Sicht hingegen verlor der Kaisergedanke sehr bald seine ausgezeichnete Bedeutung. Im Bann der Kriegsschulddiskussion wurde das persönliche Regiment Wilhelms II. polemisch kritisiert oder im Stile höfischer Geschichtsschreibung gerechtfertigt, am Ende jedoch als eine bloße Fiktion entlarvt 4 . Von einer tatsächlichen Selbstregierung des Kaisers konnte bei näherer Überprüfung nicht die Rede sein. Es blieb die psychologische Erklärung des persönlichen Regiments - man ging so weit, über pathologische Anlagen Wilhelms II. zu sprechen® - oder aber der Versuch einer verfassungsTelegrammentwurf Holsteins an Bülow (30. 7.1900), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, hrsg. von N. Rieh und M. H. Fisher, deutsche Ausgabe von Werner Frauendienst, Göttingen 1956 ff., Bd. 4, S. 170. * Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, Berlin 1900, Werke, Politische Schriften, hrsg. v. Theodor Schieder, Bd. 2: Schriften zur Verfassungspolitik, bearb. v. Wolfgang Mommsen, Köln 1964, S. 1 ff. ' Flotte und Reaktion, Vortrag, Berlin 1899. 4 Walter Goetz, Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Geschichtsschreibung, in: Histor. Zeitschr. 179 (1955), S. 21 ff. Der schärfste Angriff auf die Person Wilhelms II. erschien nach dem 2. Weltkrieg: Erich Eydc, Das persönliche Regiment Wilhelms II., Zürich 1948. Hierzu Fritz Härtung, Das persönliche Regiment Wilhelms II., in: Sitzungsberichte der Dt. Ak. d. Wiss. zu Berlin, Klasse für Gesellschaftswissenschaften 1952, Nr. 3. Und: Ernst Rudolf Huber, Das persönliche Regiment Wilhelms II., in: Zeitschr. f. Religion u. Geistesgesch. 3 (1951), S. 134 fr. Den Stil kaiserfreundlicher »höfischer« Literatur setzte fort: Hans Helfritz, Wilhelm II. als Kaiser und König, Zürich 1954. ' Hermann Lutz, Wilhelm II. periodisch geisteskrank, Leipzig 1919, und: Franz Kleinschrod, Die Geisteskrankheit Wilhelms II., Wörishofen 1919. Hierzu: Goetz, S. 42 f. 1

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geschichtlichen Eingliederung. Damit wurde die Schwäche des Reiches nicht mehr allein in der Person des Kaisers, sondern in der persönlichen, auf Bismarck zugeschnittenen Struktur der Reichsverfassung gesucht, die nach 1890 eine Krise der politischen Führungsordnimg hervorgerufen habe'. Der vieldeutige symbolische Gehalt der Kaiseridee wurde übergangen. Freilich war Friedrich Naumanns Programm eine Täuschung oder bestenfalls ein Wunschbild. Auch stieß die Selbsterhöhung des Kaisertums schon in wilhelminischer Zeit auf kritische Ablehnimg, und Holstein konnte bereits 1895 von einem Aufzehren des »royalistischen Kapitals« sprechen7. Dennoch fragt es sich, ob Gottesgnadentum und Neuabsolutismus nicht aus dem Bewußtsein kaiserlicher Machtstellung herrühren, wie es nicht allein psychologisch erklärbar aus dem Geltungsdrang Wilhelms II. erwuchs, sondern aus der hervorragenden Bedeutung, die das »Kaiseramt« als Symbol des Nationalstaats besaß8. Um so gewichtiger bleibt das Problem, ob das wilhelminische Kaisertum nur eine Scheinwelt errichtete und in seiner Machtübersteigerung gerade seine innere Substanzlosigkeit offenbarte. Von hier aus stellt sich die nicht allein auf das wilhelminische Zeitalter zu begrenzende Frage nach der Tradition und der tragenden geistigen Begründung des Kaisertums überhaupt. Die Darstellung des Kaisergedankens und seiner Wandlungen als Beitrag zum nationalstaatlichen Bewußtsein im Kaiserreich von 1871 stößt auf eine Vielzahl methodischer Schwierigkeiten. Die nationalpolitische Publizistik liefert zwar ein reichhaltiges Quellenmaterial, aber nur selten gelingt es festzustellen, ob die ausgewerteten Ergebnisse wirklich als repräsentativ für die Bewußtseinshaltung der Epoche angesehen werden können. Die Breitenwirkung einer Flugschrift, der Grad der Allgemeingültigkeit patriotischer Reden, Aufsätze und Gelegenheitsschriften ist oft schwer abzuschätzen. Selbst die Meinungsbildung wichtiger Zeitschriften erreicht doch immer nur einen kleinen ausgewählten Leserkreis. Das Kaiserbild im Selbstverständnis seiner Zeit kann darum lediglich aus Teilaspekten nachgezeichnet werden, wobei es sich oft nicht vermeiden läßt, daß Quellenbelege von unterschiedlichem geistigem und politischem Gewicht nebeneinander stehen. Die Spannweite reicht von offiziellen und privaten Äußerungen der verantwortlichen Politiker bis hinab zu Ansprachen in Bürgervereinen und Schulen bei Jubiläumsanlässen und Kaisers Geburtstag. Die Publizistik bildet allerdings nicht die einzige Quellengrundlage der vorliegenden Arbeit. Die Wandlungen des Kaisergedankens sind nicht zu trennen von der politischen Gestaltung des Kaisertums. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf dem Verfassungswandel vom Bundespräsidium zur Reichsmonarchie, eine Entwicklung, die in den zahlreichen, bisher noch wenig beachteten staatsrechtlichen Untersuchungen der wilhelminischen Zeit ausführlich kommentiert 4

Härtung, S. 16 ff. Ernst Rudolf Huber, Verfassungskrisen des 2. Reiches, Leipziger Universitätsreden, Heft 1,1940, S. 12 ff. Holstein an Philipp Eulenburg (1.1.1895). Zitiert bei Johannes Haller, Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg, Berlin 1924, S. 176. 8 Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgem. f. Forschung des Landes NordrheinWestfalen, Bd. 20,1961, S. 72 ff. 7

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wird*. In diesem Zusammenhang gewinnt das Verhältnis der Bundesfürsten zum Kaiser ein besonderes Interesse, nicht erst für die Zeit nach 1890, sondern audi schon bei den Kaiserplänen von 1866/67 un< ^ 1870. Nach Möglichkeit wurde für diesen Themenkreis auch unveröffentlichtes Quellenmaterial aus den Archiven in Karlsruhe, München und Stuttgart herangezogen. * Zur »institutionellen und verfassungsrechtlichen Seite« des Kaiser-Problems, vergl. ebd., S. 82 f.

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II. Der preußische Charakter des Kaisertums von i87i

i. Die geistigen Voraussetzungen Nadi Bismarcks klassischer Definition war das Kaisertum von 1871 ein »werbendes Element für Einheit und Zentralisation« 1 , mithin ein Losungswort, das die partikularistisdien Interessen mit der preußischen Staatsüberlieferung und dem Einheitsstreben der Paulskirdie verband. Die Kaiserproklamation von Versailles ließ den Appell an das historische Empfinden anklingen, der diesem Losungswort seinen romantischen Zauber verlieh: sie sprach von der Herstellung des Deutschen Reiches und der erneuerten, seit sechzig Jahren ruhenden Deutschen Kaiserwürde1. Daraus ergibt sich die Frage, wieweit der Kaisername von einem besonderen Traditionsbewußtsein getragen wurde und das universale Kaisertum vergangener Zeiten als Erbe übernahm. Das Bemühen um geschichtliche Legitimierung erwuchs aus dem eigentümlichen Historismus des 19. Jahrhunderts, der in einer Epoche sozialer, wirtschaftlicher und geistiger Revolutionen den Bruch mit der Vergangenheit durch einen bewußten Rückgriff in ferner gelegene, von der Gegenwartskritik unberührte Zeiten zu überbrücken suchte. Die nationaldeutsche Kaiseridee entstand so aus der doppelten Konfrontation mit dem modernen, aus der Revolution geborenen Kaisertum Napoleons einerseits, das unter dem dritten Bonaparte das traditionelle Gewand der abendländischen Universalmonardiie abstreifte und die persönliche Herrschaft auf das Plebiszit des Volkes gründete, und dem mittelalterlich-theokratischen Kaisertum andererseits, dessen universaler Charakter mehr und mehr zugunsten einer nationalen Umdeutung verblaßte. Schon zur Zeit der Befreiungskriege entzündete sich der Reichspatriotismus kaum an Idee und Tradition des 1806 niedergegangenen Kaisertums, sondern an der durch die Romantik bewirkten Rückwendung zur mittelalterlichen Kaiserzeit, die im Lichte der seit der Französischen Revolution in Europa wirksamen neuen Ideen national verklärt wurde. Der Kaiserherold Max von Schenkendorf, Arndts politische Lyrik, Rückerts Barbarossalied, die Begeisterung für die Stauferzeit erweckten jene Einheitssehnsucht nach Kaiser und Reich, die unentwirrbar einging in die Geistesfülle der nationalen Bewegung. Karl der Große und Barbarossa wurden an Stelle des abgetretenen habsburgischen Kaisers zu Widersachern Napoleons, dessen tyrannische Universalmonarchie als Gegensatz empfunden wurde zum Reichsuniversalismus der mittelalterlichen Herrscher, welche die freiheitliche und individuelle Entwicklung der Nationen in Europa gewährt und beschützt hätten. Friedrich Schlegel

Otto von Bismarck, Erinnerung und Gedanke, hrsg. von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann, GW 15, S. 324. * Text der Proklamation Kaiser Wilhelms I. an das deutsche Volk: Dokumente zur deutschen Verfassungsgesdiidite, hrsg. von Ernst Rudolf Huber, Bd. 2, Stuttgart 1964, Nr. 2166, S. 285.

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demonstrierte zum erstenmal in seinen Wiener Vorlesungen von 1810/11 am geschichtlichen Beispiel das aktuelle Problem des Verhältnisses zwischen Nation und überstaatlicher Organisation, das politisch mehr faszinierte als die sakrale Bedeutung des mittelalterlichen Kaisertums3. Zwischen romantischer Reichsgesinnung, die die verklärte Vergangenheit für die Gegenwart herbeisehnte, und politischer Zielsetzung, die ungleich nüchterner neuzeitliche Gegebenheiten einschloß, ergab sich dabei ein breiter Spielraum. Wenn die berühmte Septemberdenkschrift des Freiherrn vom Stein von 1 8 1 2 ein idealisiertes Bild vom Mittelalter entwarf oder die Kalischer Proklamation die »Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches« verhieß, so ging es nicht um wirklichkeitsfremdes Wunschdenken, sondern um das politische Programm, das Deutschland von 1806 wiederherzustellen in einer Weise, für welche die ottonische und salische Kaiserzeit ein Vorbild geben konnte. Für Stein war die reichsständische Tradition und das starke Kaisertum des Mittelalters Gleichnis und Beispiel, das er dem zerrissenen Deutschland seiner Zeit vorhielt4. Der Rüdegriff auf »Kaiser und Reich« diente aber schon beim Kaiserplan Steins auf dem Wiener Kongreß einem doppelten politischen Interesse. Er lieferte nicht allein die Parole für die nationale Bewegung, sondern ließ auch den Reichstraditionalismus der süd- und westdeutschen Mittel- und Kleinstaaten wirksam werden. Dieser Reichstraditionalismus wurde seit dem 17. und 18. Jahrhundert von den Reichsjuristen und -publizisten vornehmlich in jenen rheinischen, fränkischen und schwäbischen Kreisen gepflegt, die ihre Existenz neben den aufstrebenden mächtigen Nachbarn allein der bewahrenden Tradition des Kaisertums verdankten, weshalb man sie auch im Unterschied zum übrigen Deutschland das Reich per excellentiam nannte. Trotz der Zerstörung des alten Reichskörpers durch Napoleon und seiner geistigen Überwindung durch Hegels Kritik blieb der föderalistisch-partikularistische Reichs- und Kaisergedanke lebendig und prägte, einfließend in die romantische Kaiserverherrlichung, gleichfalls die Einheitsbewegung, obgleich er seiner Herkunft nach im Widerspruch stand zur Nationalstaatsidee5. Von Anfang an überschnitten sich die Traditionslinien der gegensätzlich motivierten Kaiseridee, auf die sidi Freund und Feind beriefen, die Unitarier, weil sie die Einheit der Nation, die Partikularisten, weil sie die Libertät der Territorien in ihr verbürgt sahen. Hinzu kam der Einfluß der am romantischen Mittelalterbild konzipierten theokratischen Kaiseridee, deren Erneuerung durch ein wiedererrichtetes habsburgisches Kaisertum von der katholischen Bewegung um Joseph Görres erstrebt wurde. Der Wortführer der Spätromantik verteidigte noch einmal den * Friedrich SAlegel, Über die neuere Geschichte (1810/11), sechste und siebte Vorlesung: Vom deutschen Kaisertum, in: Friedrich Schlegel, Studien zur Politik und Geschichte, hrsg. von Ernst Behler, Kritische Friedrich-Sdilegel-Ausgabe, Bd. 7, München, Paderborn, Wien 1966, S. 200 ff. 4 Arnold Berney, Reidistradition und Nationalstaatsgedanke (1789-1815), in: Histor. Zeitschr. 140 (1929), S. 74ff. Wilhelm Mommsen, Zur Bedeutung des Reichsgedankens, in: Histor. Zeitschr. 174 (1952), S. 389®. ' Gerhard Masur, Deutsches Reich und deutsche Nation im 18. Jahrhundert, in: Preußische Jahrbücher 229 (1932), S. 1 ff.

Gedanken der Europa-Ecclesia und erwartete vom katholischen Kaiser, daß er als »Schirmherr der Christenheit« »die freie Genossenschaft der Völker« leiten und das Kirchenleben des Mittelalters mit allgemeinen Versammlungen unter seinem Vorsitz in Gemeinschaft mit dem Papst erneuern werde: »Wie das Weltliche seinen Teil erhalten, so wird dann auch das Geistliche wieder zu Recht und Ordnung gelangen, und das zerstörte Gebäude der europäischen Verfassung sich wieder in sich schließen und ergänzen6.« Trotz der starken Betonung des Restaurationskatholizismus erkannte jedoch Görres auch die nationale Bedeutung des neuen Kaisertums, das die Kluft zwischen Österreich und Preußen überbrücken und »gänzlich erfrischt und verjüngt« 7 ein »Bild« f ü r die Einigkeit und Liebe »zum gemeinen Vaterlande« werden sollte8. Auf eigenartige Weise verbindet sich die Vorstellung von einer geistlich-weltlichen Universalmacht mit dem zukunftsträchtigen nationalen Kaisersymbol. Die Frankfurter Paulskirchenverfassung überholte 1848 die gescheiterten Kaiserentwürfe und -hoffnungen vor und nach dem Wiener Kongreß. Mit der kleindeutschen Lösung wurde die Tradition des universalen Kaisertums abgebrochen, das nur noch seinen klangvollen Namen der neuen Zentralgewalt des Bundesstaats weitergab. Der entsprechende Abschnitt der Reichsverfassung handelte vom »Reichsoberhaupt«, und der Titel »Kaiser der Deutschen«, dem französischen »Empereur des Français« nachgebildet, wurde nach dem Bericht des Verfassungsausschusses gewählt »teils mit Rücksicht auf die Machtstellung des Reichs, teils aus dem Grunde, weil die königliche Würde schon f ü r die Beherrscher der größeren Einzelstaaten gilt«'. Die Romantik der Kyffhäusersage, wie sie 1849 erneut in den Kaiserliedern und der Publizistik aufklang 10 , läßt sich in diesen nüchternen Formulierungen nirgends wiederfinden. Wenn • Joseph von Görres, Der Kaiser und das Reidi. Ein Gesprädi. Politische Schriften, hrsg. von Marie Görres, Bd. 2, München 1854, S. 390. Zum katholischen Reichsuniversalismus und zur Vorstellung der Europa-Ecclesia vgl. Heinz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beitr. z. deutschen Geistesgesdiichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, 2. Aufl., München 1964. 'Ebd., S. 559. »Ebd., S.589. • Sten. Berichte der Frankf. Nationalversammlung vom 15.1.1849, Bd. 6, S. 4679. 10 z. B. Ernst Moritz Arndts Gedicht: »Die deutsche Kaiserfahrt« zur Kaiserdeputation, dessen zwei letzte Strophen lauten: »Kaiserschein, du höchster Schein, Bleibst du denn in Staub begraben? Schrein umsonst Prophetenraben Um den Barbarossastein? Nein! und nein und aber nein! Nein! KyfFhäusers Fels wird springen, Durch die Lande wird es klingen: Frankfurt holt den Kaiser ein.« Weitere Beispiele: Friedrich Stieve, Die deutsche Kaiseridee. Quellen und Äußerungen aus der deutschen Geschichte, München 1915, S. 75 ff. Typische Beispiele einer romantischen Begrüßung des neuen deutschen Kaisers aus der Flugschriftenliteratur u. a.: Lorenz Frei, Der deutsche Kaiser. Zeitgedanken, Dresden und Leipzig 1848, und Karl von Steinbach, Das Kaisertum des deutschen Volkes, Leipzig 1848. Vgl.: Paul Wentzcke, Kritische Bibliographie der Flugschriften zur deutschen Verfassungsfrage 1848-1851, Halle a. S. 1911. 16

von den Erbkaiserlidien die Begeisterung für Kaiser und Reich zitiert wurde, so meist nur als Beleg für die Undurchführbarkeit der Direktoriumspläne, die am wenigsten geeignet schienen, die Kyffhäuserträume der Nation zu erfüllen 11 . Das offene Bekenntnis zur Revolution erübrigte die Absicherung durch historische Legitimation. Sehr deutlich zeigte sich in den Debatten, daß es bei der Diskussion über das Erbkaisertum nicht um traditionelle Anknüpfung, sondern um die zukünftige »Machtstellung des Reidis« ging, durch die allein die auf den mäditigen Staat bezogene Freiheitsidee des Liberalismus verwirklicht werden konnte: »Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gährenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, der sich bisher selbst nicht erkannt hat«, sagte Dahlmann am 22. Januar 184g. »Deutschland muß als solches endlich in die Reihe der politischen Großmächte des Weltteils eintreten. Das kann nur durch Preußen geschehen, und weder Preußen kann ohne Deutschland, noch Deutschland ohne Preußen genesen12.« Die »große historische Reminiszenz« in Görres' Losungswort »Kaiser und Reidi« auf dem Titelblatt des »Rheinischen Merkur«, die Ernst von Lasaulx, führendes Mitglied der katholisch-konservativen Gruppe, zugunsten des österreichischen Kaisertums in Erinnerung rief", bot kein wirksames Gegenargument mehr. Sein Münchner Professorenkollege George Philipps erhob vergeblich den Vorwurf, daß ein traditionsloses »mechanisches« Kaisertum den Weg zur Republik ebne14. Auf die Frage, ob nicht ein preußisches Kaisertum ungeschichtlich sei, bekräftigte der Abgeordnete Ostendorf die »Kontinuität des staatsbildenden Liberalismus« 15 : er sehe in der preußischen Geschichte etwas Höheres als die Vernichtung von Kaiser und Reich, nämlich »das Entstehen eines neuen Deutschlands«1'. Ein einziges Mal während der Januardebatten meldete sich ein Bedenken aus der Casinopartei gegen die Wahl des traditionellen Kaisertitels für die neue Zentralgewalt. Waitz schlug statt dessen den Titel »König der Deutschen« vor, der ihm passender schien als der fremde Kaisername, an den sich wohl »große, aber auch unglückliche Erinnerungen« knüpften. »Der Name König der Deutschen geht in alte Zeiten der deutschen Geschichte zurück, und wenn er jetzt wieder hervorgezogen wird, so scheint er wohl mit einer Würde verbunden werden zu können, die auf Grund-

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Falk: » N u r diejenige Staatsform ist an sich gut, für die man sich begeistern kann. N u n glaube ich, daß man sich für die Republik begeistern kann. Ich weiß, daß die Herzen höher schlagen bei dem Gedanken: ein Kaiser, ein Reich! Aber, meine Herren, daß in den Zeiten der Not, in der Schlacht durch das Feldgeschrei: >Fünf Stellvertreter des Reichsdirektoriums und ein Deutsdiland< sich auch nur ein Krieger begeistern könnte, das glaube ich nimmermehr. (Bravo auf der Rechten und im Centrum)«, Sten. Ber., Bd. 6, S. 4679. 11 Sten. Ber. der Frankf. Nationalvers, vom 1 9 . 1 . 1849, Bd. 7, S. 4 8 2 1 . V g l . hierzu Sdiieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1 8 7 1 als Nationalstaat, S. 10 f., weitere Literatur ebd., S. 164, Anm. 1 1 . " Sten. Ber. v. 1 8 . 1 . 1 8 4 9 , Bd. 6, S. 4 7 7 4 f. 14 1 6 . 1 . 1849, ebd., S. 4725. 15 Hellmut Seier, Sybels Vorlesung über Politik und die Kontinuität des staatsbildenden Liberalismus, in: Histor. Zeitschr. 187 (1959), S. 90 ff. u 1 6 . 1 . 1 8 4 9 , Bd. 6, S. 4742. 17

lagen beruht, weldie mit den zuletzt vergangenen Zeiten wenig oder nichts gemein haben, an die sich aber die Hoffnung einer kräftigen, selbständigen, durch keinen fremden Einfluß gestörten Entwicklung für das deutsche Vaterland knüpft17.« Dieser Vorschlag, der bei den preußischen Liberalen zwei Jahrzehnte später wieder auftauchte, wurde damals nicht weiter verfolgt; der Kaisername blieb ein Titelformalität. Bezeichnenderweise findet man in dem repräsentativen Staatslexikon von Rotteck und Welcker eine Erläuterung über das Kaisertum lediglich unter dem Stichwort »Titulatur« 18 . Nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung erhielt mit dem Sieg der Reaktion der Reichstraditionalismus, der die revolutionären Momente der deutschen Einigungsbewegung wieder verdeckte, neue Auftriebe. Gleichzeitig aber gewann während der vergeblichen Bemühungen um eine Bundesreform zunehmend bis in die Reihen des Konservativismus und des politischen Katholizismus das nationale cäsaristische Kaisertum Napoleons III. 1 ' Einfluß auf die Diskussion über das deutsche Kaisertum, sei es als Herausforderung, eine Gegenkonzeption zu entwickeln, sei es als Anreiz, das Experiment einer propagandistischen und agitatorischen Herrschaftsform wenn nicht nachzuahmen, so doch der eigenen Schwäche vorbildhaft entgegenzusetzen. Napoleon III., der als Vollender, aber auch Oberwinder der Revolution mit dem plebiszitären Prinzip Demokratie und autoritäre monarchische Macht in einer Synthese verband, drohte das österreichische Kaisertum in den Schatten zu stellen, um so mehr, als der Anspruch Napoleons I., die abendländisdi-karolingische Tradition fortzuführen, nachwirkte und die Rivalität bestärkte. In einer 1852 anonym erschienenen Schrift des jungen Constantin Frantz über »Louis Napoleon« wurde der Bonapartismus zwar als ein gefährliches, auf keinem traditionellen Rechte ruhendes Prinzip gesehen, aber zugleich als ein belebendes, anregendes Element in den politischen Systemen Europas begrüßt10. »Es scheint wohl, das alte Europa bedarf eines solchen Prinzips in seiner Mitte, um nicht zu stagnieren.« Den »tausend kleinlichen Bedenken« des Legitimismus hält Frantz »das Prinzip der Aktivität und Personalität« entgegen, die »Heiligkeit des Willens«, der allein die Demagogie bezwinge und sich nicht bei restaurativen Tendenzen aufhalte: »Auch der deutsche Volkskörper hat mit dem Untergang des Kaisertums sein früheres Einheitsprinzip verloren, unwiderbringlich verloren. Und sowenig wie das deutsche Kaisertum, sowenig ist das französische Königtum zu restaurieren81.« Die These von der Widerlegung der Restauration durch Napoleon reizte zum Widerspruch 0 .1855 erschienen in den »Historisch-Politischen Blättern für 17

Motive zu dem Minoritäts-Eraditen III, zu. A r t . I § l a »das Reichsoberhaupt«, ebd., S. 4685. 18 Carl von Rotteck und Carl Welcker, Staatslexikon, Bd. 8, 1847, S. 46. " Heinz Gollwitzer, Der Cäsarismus Napoleons III. im Widerhall der öffentlichen Meinung Deutschlands, in: Histor. Zeitsdir. 1 7 3 (1952), S. 28 ff. 20 Constantin Frantz, Louis Napoleon, erstmalig anonym erschienen 1 8 5 2 »Von dem Verfasser Unserer Politik«. Neudrude: Darmstadt i960. » Ebd., S. 69, 6 1 , 56. ät In späterer Zeit zählte Constantin Frantz selbst im Zuge seiner Föderalismusthesen zu den schärfsten Gegnern des napoleonischen Systems. V g l . : Untersuchungen zur Geschichte des europäischen Gleichgewichts, 1859. Hierzu auch Gollwitzer, S. 3 5 .

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das katholisdie Deutschland« Ignaz Döllingers und George Philipps kritische Aufsätze über das napoleonische Kaisertum8®. An die Frage der damals in Aussicht genommenen Kaiserkrönung Napoleons III. knüpfte Döllinger eine grundsätzliche Erörterung über Sinn und Aufgabe des universalen Kaisertums, das für ihn unlösbar verbunden bleibt mit der Schutzherrschaft über das Papsttum und die abendländische Christenheit. Schon die Krönung des ersten Bonaparte im Beisein des Papstes am 25. Dezember 1804, dem Erinnerungstag der Kaiserkrönung Karls des Großen, habe die Frage aufgeworfen, ob es hier lediglich um eine Zeremonie und Prachtentfaltung kirchlicher Symbole gegangen sei oder aber - nach Thiers kritischer Formulierung - um die »idée vague de retablir un jour l'empire d'Occident«". Thiers, der liberale Historiker des Empire, so führt Döllinger aus, sah im Kaisertitel keine einmalig verpflichtende Auszeichnung, sondern einen fürstlichen Ehrennamen, den schon der Zar von Rußland mit dem österreichischen Kaiser teile. Andererseits sei aber durch die karolingische Reminiszenz und die Anwesenheit des Papstes bei der Krönung die universale Tradition angedeutet worden. Philipps warnt seinerseits Pius I X . vor einer Wiederholung der gefährlichen Sanktionierung des napoleonischen Systems, das auf dem Prinzip der Revolution beruhe85. Die geschichtlich legitimierte Schutzherrsdiaft der Christenheit bleibe dem österreichischen Kaisertum vorbehalten, das seine universale Weltstellung zwar aufgegeben, seine universalen Pflichten der Kirche gegenüber jedoch bewahrt habe16. Das mittelalterliche Schema der Zweigewaltenlehre wird bei Philipps getreu der Görresschen Tradition erneut bekräftigt als »ein durch das Christentum der menschlichen Gesellschaft als Grundlage gegebenes Prinzip«87. Philipps und Döllingers Proteste gegen den Cäsarismus spiegeln noch einmal beispielhaft die Haltung des politischen Katholizismus, der in der Bewahrung des österreichischen Kaisertums ein Fundament christlicher Weltordnung sah. Der päpstlichen Diplomatie galt allerdings die Kaiserkrönung, die zur selben Zeit auch von Österreich angestrebt wurde, als Mittel zum Zweck18. Von Pius I X . um Rat gefragt, meinte der französische Prälat de Ségur über die auszuhandelnden Bedingungen: die Reise nach Frankreich würde die Reste des Gallikanismus ausmerzen, die Reise nach Wien wäre ein tödlicher Streich für den Protestantismus19. Der katholische Historiker Pierre de L a Gorce hob dann 23

Betrachtungen über die Frage der Kaiserkrönung, in: Historisch-Politische Blätter für das katholisdie Deutschland 3 1 (1853), S. 42g ff. Die Autorschaft des anonym erschienenen Artikels nach: J . Friedrich, Ignaz Döllinger, 3.Teil, München 1901, S. 1 1 5 . U n d : W a s ist das Kaisertum, ebd., S. 665 fr. Abgedruckt in: George Philipps: V e r mischte Schriften, Bd. 2, W i e n 1856, S. 4 3 4 ff. u Ebd., S. 436, nach Louis Adolphe Thiers, Histoire du Consulat et de l'Empire, Brüssel 1 8 4 5 - 1 8 6 9 , Bd. 4, S. 67. " Ebd., S. 702. Ebd., S. 702, vgl. S. 693 f. " Ebd., S. 700. !e Z u r Planung der österreichischen Kaiserkrönung vgl. die vermutlich 1 8 5 4 ausgearbeiteten »Punktationen, die Kaiserkrönung betreffend« des österr. Innenministers Alezander Bach. Textausschnitt bei Heinrich Friedjung, Die österreichische Kaiserkrone, in: Historische Aufsätze, Stuttgart und Berlin 1 9 1 9 , S. a o - 2 3 . M Nach den Denkwürdigkeiten Ségurs, aufgeführt bei Pierre de L a Gorce, Histoire du second empire (7 Bde., Paris 1 7 9 4 - 1 9 0 5 , Bd. 2, S. 4 7 ff). Hierzu Friedjung, S. 18 f. 19

auch in seinem Kommentar warnend hervor, daß selbst die erhabensten Zeremonien durch Wiederholung ihren Glanz verlieren könnten. Mit der Verfestigung der Maditstellung Napoleons III. nach dem Krimkrieg und der wachsenden Anziehungskraft der kleindeutschen Kaiseridee rückte auch der Kreis um die »Historisch-Politischen Blätter« von dem nicht mehr realisierbaren Plan einer Restauration des Kaisertums als geistlich-weltlicher Universalmacht ab. Die »großdeutsdie Kaiseridee« als Ausdrude der geeinigten deutschen Maditstellung in Mitteleuropa, wie sie Edmund Jörg im Anschluß an Julius Fideer vertrat®0, ist nicht mehr identisch mit der theokratisdien Kaiseridee Görres' und Philipps*. In einer Rezension über die 1862 in München erschienene Abhandlung »Rom und Deutschland« von Friedrich Ludwig von Bernhard lehnt Jörg, der Herausgeber der »Blätter«, die These des Verfassers ab, Rom sei das Zentrum der Gesamtgewalt, von Rom stammten die beiden Schwerter für die zwei Häupter der Christenheit: » . . . für uns Katholiken wäre die Wiedergeburt des Reiches an sich sdion eine Genugtuung. Aber wir verlangen sie ausschließlich aus politischen Gründen, erstens als eine deutsche Notwendigkeit, zweitens als ein europäisches Bedürfnis 51 .« Jörg versucht die konfessionelle Frage möglichst zu entschärfen. Da er das Verhältnis des Staates Osterreich zur römischen Kirche als ein solches der »rechtlichen Auseinandersetzung« begreift und die Abhängigkeit des Kaisertums vom Papsttum ablehnt, kommt er zu der 1862 sehr modern klingenden Überzeugung, Österreich sei keine katholische, sondern eine »paritätische« Großmacht82. Nach dem preußisch-österreichischen Krieg polemisiert er ausdrücklich gegen die vom Protestantismus geschürte konfessionelle Interpretation der Ereignisse von 1866. Die Historisch-Politischen Blätter dagegen hätten sich gehütet, den deutsch-nationalen Standpunkt mit dem exklusiv katholischen zu verwechseln und dem Reichsgedanken den »geweihten Mantel des heiligen römischen Reichs umzuhängen«". Er wisse, schrieb Jörg 1868 in den »Zeitläuften«, was von dem Begriff des katholischen Österreich in der realen Wirklichkeit zu halten sei: »All dieser Staats-Katholizismus wog federleicht auf meiner politischen Waage, und zwar nicht erst seit dem Bruch des österreichischen Konkordats'4.« Eine solche Einsicht schließt allerdings nicht aus, daß Jörg »eine Art von universaler Aufgabe« 85 dem erneuerten deutschen Kaisertum vorbehält. Wie sein Mitarbeiter, der großdeutsche Historiker Onno Klopp, versteht er darunter

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V g l . Jörgs Auseinandersetzung mit dem »deutschen Streit auf dem Gebiete der Geschichtsforschung« und der Ausgestaltung der großdeutschen Kaiseridee bei Ficker: Hist.-Polit. Bl. 49 (1862), S. 9 8 7 0 . , besonders S. 1005. V g l . unten, S. 27. Baron Bernhard über die großdeutsdie Kaiseridee, Zeitläufte, 10. 10. 1862, Hist.Polit. Bl. 50 (1862), S. 677. Ebd., S. 676. Der Ausdrude »das paritätische Kaisertum« fällt auch in Jörgs Wiedergabe der Sybel-Fideer-Kontroverse, Hist.-Polit. Bl. 49 (1862), S. 1005. Die Vorstellung eines protestantischen Kaisers wird von den Blättern selbstverständlich abgelehnt. V g l . : Briefe eines alten Soldaten. Hist.-Polit. Bl. 50 (1862), S. 1 6 5 f. Zeitläufte, Hist.-Polit. Bl. 58 (1866), S. 781 f. Hist.-Polit. Bl. 62 (1868), S. 79. Zeitläufte, Hist.-Polit. Bl. 50 (1862), S. 677.

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im Ansdiluß an Leibniz einen sogenannten »christlichen Europäismus«", nach dem Theoretiker des Föderalismus, Constantin Frantz, auch »germanische Weltordnung«®7 benannt. Der Kaiser soll in Europa die Säule des Rechts und der natürliche Anwalt der Legitimität in aller Welt sein. Allein in diesem Sinn will Jörg es verstanden wissen, »daß die Kirche des Reichs bedarf«®8. Die Berufung auf Leibniz ist dabei sehr bezeichnend, nicht allein, weil Leibniz schon im 17. Jahrhundert den kirchlichen Ursprung des Kaisertums ablehnte und die geistige Einheit Europas rein weltlich verstand, sondern auch, weil die politische Situation ähnlich lag: Der Imperialismus Ludwigs X I V . erschien analog der Universalgewalt Napoleons als Verzerrung der mittelalterlichen Kaiseridee". Noch in einer anderen Beziehung sieht Jörg das Erbe des universalen Kaisertums bewahrt, nämlich in der Notwendigkeit, daß das Reich »auch eine italienische Macht« sein müsse: »Überhaupt darf man nicht außer Acht lassen, daß ein deutsches Kaisertum immer nur dadurch seinen Wert und seine rechte Bedeutung erhält, daß es nicht in die engsten vier Pfähle deutscher Zunge eingepfercht ist, sondern auch über fremde Nationen, und zwar die hülflosesten, das Szepter führt. Das >reindeutsche< Kaisertum der Gothaer ist daher im Grunde eine enorme Lächerlichkeit40.« Die Gegnerschaft einmal gegen das kleindeutsche nationale Kaisertum der »Gothaer«, zum anderen gegen die süddeutsche Triasidee und die Direktoriumspläne der sechziger Jahre führte schließlich doch wieder zu einer starken Betonung geschichtlicher Kontinuität und Rechtfertigung der habsburgischen Monarchie. Obgleich Jörg den »geweihten Mantel des heiligen römischen Reichs« vom Reichsgedanken abstreifen wollte und Onno Klopp zugab, daß man die Krone Rudolfs von Habsburg nicht so ohne weiteres erneuern könne, wird dennoch das »ideale Recht« der Nation auf den Kaiser, das sich in der Barbarossasage ausdrücke, auf die tausendjährige Geschichte der Kaiseridee gestützt41. Als 1866 Königgrätz die alte Ordnung zu zerstören drohte, beklagte Jörg den Untergang eines Reichsgedankens, der nicht von 1806 oder 1 8 1 5 her datiert, sondern bis auf Karl den Großen zurückgeführt wird. Mit Anspielung auf die »norddeutsche Monarchie« meint er: »Die Reichs-Idee ist gefallen und begraben; und wird das deutsche Volk je wieder in einem Reiche vereiniget werden, so wird es ein Reich sein, das nicht eine tausendjährige, sondern nur eine dreihundertjährige Geschichte hinter sich hat44.« Das romantische Traditionsbewußtsein schloß doch wieder bei aller grundsätzlichen Einsicht in die Unmöglichkeit der Restauration zumindest restaurative Tendenzen mit ein, so

»•Zu Onno Klopps Leibnizedition: Hist.-Polit. Bl. 54 (1864), S. 593ff. und S. 729ff. " Hist.-Polit. Bl. 50 (1862), S. 678. »«Ebd., S. 676. '•Hierzu: Walter Sdiieblidi, Die Auffassung des mittelalterlidien Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebredit, Diss. Leipzig 1932, S. 18 ff. 40 Hist.-Polit. Bl. 50 (1862), S. 677. 41 (Onno Klopp), Die deutsche Nation und der rechte deutsche Kaiser, Freiburg i. Br. 1862, S. 10 f. 41 Zeitläufte, August 1866, Hist.-Polit. Bl. 58 (1866), S. 314.

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besonders in der Vorstellung von den Mittelstaaten als den Erben der alten sieben Kurfürsten, die durch die Kaiserwahl das »Interregnum« beenden sollten4*: »Der Nationalverein will eine Einrichtung, welche nie dagewesen, wir wollen ein alt ehrwürdiges Institut verjüngt wiederherstellen. Der Nationalverein verleugnet unsere Geschichte, wir wollen in der Geschichte unseren Boden gewinnen. Wir müssen weiter als bis zu dem Wiener Congreß, wir müssen weiter als bis zu den Conferenzen von Prag und von Kaiisch, wir müssen noch vor das Jahr 1806 zurückgehen. Wir sollen eigentlich denken, das heilige römische Reich deutscher Nation sei gar nicht aufgelöst gewesen; wir sollen denken, Deutschland befinde sich in einem Interregnum, welchem die Fürsten ein Ende machen müßten, wie sie im Jahre 1275 durch die Wahl des Grafen von Habsburg demselben auch ein Ende gemacht haben . . .**.« Das eigenartig gebrochene Verhältnis zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, wie es sich in den sechziger Jahren in der Auseinandersetzung mit dem modernen Staat herausbildete, komplizierte sich noch durch die Frontstellung gegen den dritten Bonaparte, der, obgleich er das verhaßte revolutionäre Kaisertum aus der Mischung von Absolutismus und Demokratie verkörperte, doch in Europa jene außenpolitischen Aufgaben ergriff, die man dem neuen deutschen Kaiser zugedacht hatte. Im Zerrbild des Usurpators spiegelte sich die Möglichkeit, das alte universale Kaisertum durch eine umgedeutete moderne Zielsetzung zu erneuern. Jörg stimmte 1862 dem oben schon zitierten Freiherrn von Bernhard zu, der in Napoleons Krimkriegspolitik die Forderung des Mittelalterhistorikers Johannes von Müller erfüllt sah: wie der Papst die Konzilien, so solle ein europäischer Kaiser die Reichstage der weltlichen Herrscher einberufen: »Nun, das war der Gedanke Napoleons I I I . . . . als er 1856 den europäischen Areopag zu Paris unter seiner Direktion versammelte. Soll das eine ständige Institution sein? Es kommt auf uns an45.« Jörg muß anerkennen, daß Napoleon eine notwendige Funktion erfüllte, als er die »Zentralgewalt in Europa« besetzte, die der österreichische Kaiser aufgegeben hatte. »Seitdem das künstliche Gleichgewicht von 1815 zerstört ist, strebt die europäische Lage nun einmal und unaufhaltsam nach einem einheitlichen, sozusagen persönlichen Mittelpunkte. Deutschland hat die Wahl, selber wieder einen solchen Macht-Mittelpunkt abzugeben oder definitiv zum Planeten des fremden Fixsterns herabzusinken46.« Jörg beurteilt die europäische Rolle Napoleons III. noch ganz unter dem Aspekt der Universalmonarchie, der tatsächlich weniger auf den dritten als auf den ersten Bonaparte zutrifft. Zugleich aber erkennt er richtig die Neuartigkeit des persönlichen Herrschaftsstils und überträgt ihn auf die deutschen

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Mittelstaatliche Politik und großdeutsdie Kaiseridee, Zeitläufte, 22. Mai 1862, Hist.Polit. Bl. 49 (1862), S. 9 2 5 ff. V g l . Zeitläufte, Hist.-Polit. Bl. 50 (1862), S. 1 7 0 ff. D a s Zitat stammt nicht von Jörg, sondern aus den »Briefen des alten Soldaten«, deren Verfasser nicht ausfindig gemacht werden konnte. Hist.-Polit. Bl. 50 (1862), S. 164. Ähnlich: (Onno Klopp), Die deutsche Nation und der rechte deutsche Kaiser, S. 1 1 , und E . Frhr. von Linden, Kaiser und Reich. Politische Erörterungen, Augsburg und München 1862, S. 28 f. Hist.-Polit. Bl. 50 (1862), S. 679. Ebd., S. 678.

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Verhältnisse. Die Wertschätzung der Persönlichkeit als »Symbol und sichtbares Zeichen«47 des Reichs erinnert bei aller Ablehnung des Einheitsstaats doch an die Begründung des modernen Nationalkaisertums. Jörg glaubt während der Frankfurter Fürstenkonferenz 1865 an das Programm »einer einfachen, auf das Prinzip der Persönlichkeit gegründeten Bundesreform«48 und triumphiert allzu frühzeitig, wie sich herausstellen sollte — darüber, daß der Kaiser »mit seiner Person« einen Erfolg errungen und bei Fürsten und Volk eine »populäre Aufnahme« 4 ' gefunden habe: »Der Reichssinn der Deutschen ist da glänzend zum Durchbruch gekommen, und er hat sich vor Allem auf die Person des Kaisers konzentriert. Denn auf die Persönlichkeit kommt heutzutage Alles an, und mit seiner Persönlichkeit hat der Kaiser splendid bezahlt60.« Einer solchen Interpretation folgend, konnte Bismarck während der Auseinandersetzungen über den Kaisertitel 1870/71 feststellen, daß auch der Verfassungsentwurf Österreichs auf dem Frankfurter Fürstentag »etwas ähnliches« propagiert habe wie die von ihm vertretene Politik, nämlich die Repräsentation der nationalen Interessen in der Person des Kaisers 51 . Man weiß, daß Jörg gegen das preußisch-deutsche Kaisertum von 1871 den Vorwurf des Bonapartismus erhob Les extrêmes se touchent. Die faszinierende Wirkung Napoleons auf seine großdeutschen Gegner erreichte ihren Höhepunkt im Krieg von 1866. Der Sieg Preußens über Österreich, so lautet der Kommentar der Historisch-Politischen Blätter, diente dazu, die Geschäfte Napoleons zu besorgen, von dem Jörg annimmt, daß er sich nach Beseitigung des letzten Hindernisses als neuer Charlemagne vom Papst zum römischen Kaiser krönen lassen werde58. Der Bonaparte wird endgültig zum Usurpator der römisch-deutschen Kaiseridee, während Österreich vor der Aufgabe kapituliert habe, ein »konservatives« Kaisertum »zum Schutz gegen die Revolution« zu schaffen. In den »Zeitläuften« schreibt Jörg am 12. Juli 1866 mit düsterer Ironie: »Ich habe mich dreizehn Jahre lang mit Umschreibungen beholfen in Bezug auf Ihn, weil ich den Kaiser-Namen keinem geben wollte als Dem, der ihn von den alten Oberhäuptern des Reiches zu Erbe trug. Jetzt 47

Zeitläufte v. 24. 8.1863, Hist.-Polit. Bl. 52 (1863), S. 479. Ebd., S. 480. 4t Ebd., S. 474; die Popularisierung der großdeutschen Kaiseridee wird auch in Jörgs Rezension der oben zitierten Schrift des Frhr. von Linden gefordert, »um Preußen in Verlegenheit zu bringen« - z. B. in der Krise von 1862: »Kaiser und Reich< könnten von drückender Militärlast befreien . . . « (Hist.-Polit. Bl. 50, 1862, S. 173 und S. 179). 50 Hist.-Polit. Bl. 52 (1863), S. 474. 51 Zu dieser Auslegung des Kaisertums durch Bismarck vgl.: Die Kaiserfrage und Geffdcens Tagebudiblätter, in: Die Grenzboten 48 (1889), S. 350 (halboffiziöser, von Bismarck beeinflußter Artikel). Hierzu auch: August Eigenbrodt, Bismarck und der Kronprinz in der Kaiserfrage, Cassel 1901, S. 3. 51 »Das Reich ist von uns genommen, und die Besiegelung dieser Tatsache wird nicht auf sich warten lassen. Österreich hat den letzten Rest der alten Kaiserstellung in Italien aufgegeben; mit dem Aufgegebenen wird der Imperator für den reducierten Besitz des hl. Stuhls neue Garantien zu schaffen wissen, und wie könnte der greise Papst Pius sich endlich noch weigern dem neuen Charlemagne den Willen zu tun und ihn zum römischen Kaiser zu krönen? Seit dem 4. Juli ist Er'sl« (Zeitläufte v. 12. 7.1866, Hist.-Polit. Bl. 57,1866, S. 160.) 48

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werde ich midi bescheiden, ehe die hohe Politik midi eines Bessern belehrt und ehe der Mann zu einem nodi hohem Titel aufsteigt. Ich sage also zum Schluß: später wird freilich ein noch Stärkerer kommen, nämlich die Revolution; für jetzt aber ist der große deutsche Reformer Se. Majestät der Kaiser der Franzosen53.« Es ist auffallend, daß Jörg hier nicht den preußischen Kaiser voraussieht, obgleich er einst sehr aufmerksam Bismarcks Wort von »Blut und Eisen« auf die Lösung der deutschen Krise bezogen hatte54. Die Übertragung der universalen Aufgaben des geschichtlich legitimierten österreichischen Kaisertums auf Preußen war für Jörg ausgeschlossen. Das Abrücken von der theokratischen Kaiseridee und die rein politische Interpretation der Universalmonardiie bereiteten aber die Möglichkeit vor, das Kaisertum nicht mehr als historische Idee, sondern als geschichtlich bedeutsames Symbol zu verstehen, das die Zukunftsprogramme auch der kleindeutschen Partei versinnbildlichen konnte. Im Staatswörterbuch von Bluntschli und Brater, das in den sechziger Jahren in Stuttgart und Leipzig erschien, wird das mittelalterlich-theokratische Kaisertum als vergangen abgelehnt. Nach Ansicht des liberalen Staats- und Völkerrechtlers Bluntschli ist das nationale Kaisertum eine rein »weltlichpolitische Autorität«, losgelöst von allen religiösen Aufgaben. Die mächtigsten Monarchen Europas führen den Kaisertitel »als den vornehmsten monarchischen Namen«, und auch England darf als Weltmacht seinen Königstitel kaiserlichem Range gleichsetzen: »Das moderne Staatsgefühl konnte sich unmöglich an dem Kaisertum erwärmen, noch auf dasselbe stützen. Die Kaiser waren gleichsam zu Wächtern geworden der Gräber der Vergangenheit, sie waren nicht die Häupter und Lenker des neuen nationalen Lebens, noch die universellen Förderer der europäischen Zivilisation. Das heilige römische Reich deutscher Nation mußte, angeweht von dem Lufthauch einer neuen Zeit, auseinanderfallen und aufgelöst werden, und es fiel in Staub wie ein faules morsches Gezimmer, von wenigen beklagt, ohne Ruhm. Die Welt merkte kaum auf bei seinem Fall. Ihre Blicke waren der neuen Erscheinung eines neuen Kaisertums zugewendet.« Es folgt keine Würdigung des bonapartistisdien Systems, wie man erwarten könnte, vielmehr beschwört Bluntschli trotz aller Absage an das Mittelalter die »Erinnerung an eine größere Bedeutung«, die seither im Kaisernamen fortwirke. Die universalen Aufgaben werden säkularisiert, die Kaiser zu universellen Förderern der europäischen Zivilisation 55 . Ähnlich sieht der - allerdings dem romantischen Mittelalterbild näherstehende - Verfasser des Artikels »Römisches Reich deutscher Nation«, Karl Ludwig Aegidi, »eine geschichtliche Sendung zum Heil der Menschheit« in den Begriffen »Kaiser und Reich« ausgedrückt, die zwar national verstanden nicht das Programm einer an Rom gebundenen Restauration des alten Reichs bedeuten könnten, wohl aber die Bewahrung jener völkerverbindenden Ein54 54

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Ebd., S. 160. »Darum kehren wir stets zu unserer alten Rede zurück: Die deutsche Frage sei eine W e l t f r a g e und nur durch eine gewaltige Krisis (>Blut und EisenStaaten< handelt182.« In der schon zitierten kleinen Flugschrift von Johann Bettziech wird die zugleich traditionalistisdie und moderne Zielsetzung in die Formel gefaßt: nicht »Wiederherstellung« des Mittelalters, sondern »Weiterentwicklung des historisch Gegebenen und Errungenen für den Inhalt, die Wünsche und die Bestrebungen der neuen Zeit« 1 ". Im Anschluß an Hegel erläutert Bettziech die Kontinuität vom alten zum neuen Reich: »Der Inhalt des alten Reichs will, zu einem höheren Leben verklärt, in der Gegenwart >aufgehoben< (um diesen Ausdruck in seinem schönen Hegeischen Doppelsinne zu gebrauchen), das neue Deutschland im Zusammenhange mit dem alten zu einer höheren Würde und Kraft gestalten und erweitern. Der Hauptcharakter des alten Reiches bestand in der Zusammenwirkung staats- und völkerrechtlicher Verhältnisse. Darin liegt zugleich die wahre Eigentümlichkeit Deutschlands, die Hoffnung auf seine schönere Zukunft, der Zug und die Befriedigung seines kosmopolitischen Werdens und Wirkens 1 ".« Die Schlußsätze deuten auf die Gefährlichkeit des Entwicklungsdenkens, dem die Versuchung naheliegt, den Geschichtslauf mit dem Zauberlicht universaler Gewißheit zu überglänzen125. Die liberale Kulturidee schafft sich in der Vergangenheit die Voraussetzung und den Beweis für ihren Sendungsauftrag. Die Entwicklungsprojektion kann so weit gehen, daß mit ihrer Hilfe die Notwendigkeit eines politischen Programms nachgewiesen wird. Wilhelm Lang fordert in einem Aufsatz der Preußischen Jahrbücher aus der Verwandtschaft der deutschen und italienischen Geschichte seit den Zeiten des mittelalterlichen Kaisertums die »Führerrolle« des deutschen Volkes in der Mitte Europas, der auch Italien sich unterordnen wird, das für seine Zukunft »keine

ia Vgl. Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, S. 80. 121 Oskar von Wydenbrugk, Der Krieg und die deutsche Frage, in: Ergänzungsblätter zur Kenntnis der Gegenwart II, 1870, Bd. 6, S. 22g. 123 Beta (= Bettziech), S. 7, vgl. oben S. 26. »» Ebd., S. 14. 115 Reinhard Wittrain, Das Reich als Vergangenheit, in: Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, S. 105 fr. 37

stärkere Garantie hat als die Existenz des deutschen Kaiserstaates« 1 ". Der Sturz des weltlichen Papsttums durch die Italiener und die unmittelbar darauffolgende Errichtung des deutsdien Kaisertums erscheinen als »weltgeschichtliche Sühne« für die Vernichtung der Staufer durch die mittelalterlichen Päpste, gleichwie »vor drei Jahrhunderten der deutsche Geist zuerst die Allmacht Roms erschütterte187.« Die mittelalterliche Kaisermission und der reformatorische Neuansatz verbinden sich zu einem »ähnlichen Beruf« des neuen Kaisertums, »wie ihn das alte nur gleichsam mit dem Ungestüm jugendlicher Unreife geltend zu machen versuchte«118. Aus der modernen Interpretation mittelalterlicher Italienpolitik, deren »Römerzüge« und »Weltherrschaftsgelüste« auch Lang mit Sybel ablehnt"', wird die historische Legitimierung des späteren Dreibundes vorweggenommen: »Nicht umsonst heißt Deutschland das Herz Europas. Indem die stärkste Nation in der Mitte Europas ihre natürliche Stellung, die volle Freiheit ihrer Bewegung erhält, übt sie durch sich selbst, durch ihre bloße Schwerkraft, einen moderierenden Einfluß auf den Weltteil aus . . . Erst in Zukunft wird sich die volle Wirkung davon äußern180.« Der liberal-fortsdirittlichen Kaiseridee verwandt, orientierte sich auch die nationalstaatliche Kaiseridee, wie sie vor allem von Heinrich von Treitschke vertreten wurde, am Kontinuitätsmodell. Die Wandlungen in Treitsdhkes Beurteilung der Kaiserfrage spiegeln den Prozeß der allmählichen Anerkennung des Kaisertums, das schließlich mit der nationalen Monarchie identifiziert wurde1®1. Treitschkes politisches Wunschbild in den sechziger Jahren war der preußisch deutsche Einheitsstaat mit monarchischer Spitze, ein Ideal, das aus der Kritik am Bundesstaat von 1848 erwuchs. Die Idee der Föderation ist nach Treitschke ein wesentlich republikanischer Gedanke, verwirklicht in den demokratischen Staatengebilden Amerikas und der Schweiz, während ein zahlreiches und gebildetes Kulturvolk die »anspruchsvolle Staatsform« der Monarchie verlangt, die ein starkes Beamtentum und eine vielseitige Staatstätigkeit garantiert132. Unschwer läßt sich in Treitschkes Hochschätzung der konstitutionellen Monarchie das idealistische Erbe preußischen Staatsdenkens erkennen 1 ". Für

i!« Wilhelm L a n g , Deutsche und italienische Einheit, in: Preuß. Jahrb. 2 7 (1871), S. 220. 127 128 12t 130

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Ebd., S. 2 1 7 . Ebd., S. 220. Ebd., S. 219. Ebd., S. 220. V g l . auch Treitschkes ähnliche Anschauung: »Eine wunderbare Sdiicksalsgemeinschaft waltet über den beiden großen Völkern Mitteleuropas. Das eine rühmt sich der Reformation, das andere hat jenen Priesterstaat zerstört, der allzu lange den Namen der Christenheit schändete.« (Italien und der souveräne Papst, in: Preuß. Jahrb. 37, 1876, S. 33.) V g l . hierzu: W a l t e r Bussmann, Treitschke, Sein W e l t - und Geschichtsbild, Göttingen 1952, S. 276 ff. Bussmann untersucht Übereinstimmung und allmähliches A b rücken Treitschkes von den Anschauungen Gustav Freytags und Parallelen zur »Geschichte des Heiligen Römischen Reiches« von James Bryce, die 1 8 7 3 ins Deutsche übersetzt wurde. Bundesstaat und Einheitsstaat (1864), in: Histor. und polit. Aufs., Bd. 2, 5. Aufl., Leipzig 1886, S. 1 3 4 , S. 149 und S. 1 5 1 Bussmann, S. 2 1 9 ff.

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»reidbspatriotische Redensarten«1*4 hatte der Verfasser eines Pufendorf-Essays mit Einsicht in die »Monstrosität des heiligen Reichs« wenig Sinn, und die Kyffhäusergedanken galten ihm damals noch als ein Zeichen süddeutscher politischer Unreife 1 * 5 . Er zog »die derbe Prosa des konstitutionellen Staates« 1 " der romantischen Kaiserschwärmerei vor; denn allein ein »fester rechtschaffener König« 1 " könne die deutsche Frage lösen. Schon 1867 erwartete Treitschke »das große Wort deutsches KönigtumVive l'Empereur de la Confédération du NordBundeskrone< des frei geeinigten Deutschlands« - der von Geizer geschickt gewählte, dem Föderalisten schmeichelnde Ausdruck wird freundlich aufgenommen und zitiert - »um eine selbständig neue Schöpfung« handle, die dem Vorschlag des Kaiserbriefs vom 30. November an den König von Preußen entspreche, »die Ausübung der Bundespräsidialrechte. mit. der Führung des Titels eines deutschen Kaisers verbinden zu wollen«**. Damit wird der Kaisertitel wieder auf seine bundesstaatlich verfassungspolitische Bestimmung reduziert. W i e sich der traditionelle Neubeginn, die Vollendung des »mehrhundertjährigen Neubaues« nach Geizers seltsamem Oxymoron, das die Schwierigkeiten der zugleich traditionellen und doch in modernem Geiste umgestalteten Kaiseridee schon im sprachlichen Ausdruck einschließt, in äußeren Formen darstellen sollte und ob dies überhaupt möglich war, darüber gingen die Meinungen weit auseinander. Besonders der Kronprinz bemühte sich, wenn auch nicht ohne Schwankungen in seinem Urteil, die Kontinuität vom alten zum neuen Reich durch einen erneuerten altdeutschen Stil sichtbar zu machen; so vor allem durch eine Kaiserkrönung mit den »in Wien diebisch zurückgehaltenen Reichskleinodien«100. A l s Romantiker im Kreis der Liberalen, von preußischem Machtbewußtsein erfüllt, aber zugleich der föderalistischen Kaiseridee und dem Staatenhausplan der befreundeten Fürsten zustimmend101, nahm Friedrich Wilhelm eine eigenreizendes Spiel des Geschicksmachtpolitisch< im Interesse der Krone motivierten« Reichstagsauflösung241; die deutsche Nation werde im Ausland mit Redit verachtet, schrieb Max Weber darüber an Friedrich Naumann, weil sie sich »dieses Regime dieses Mannes« gefallen lasse. Wo eine »reale Macht der Volksvertretung« und »eine starke offene parlamentarische Verwaltungskontrolle« gefordert wurde, konnte wohl das harte Urteil vom »Sdieinkonstitutionalismus« fallen242, das freilich weder der legislativen Leistung des Reichstags gerecht wurde noch der immerhin beträchtlichen Opposition gegen die innen- und außenpolitischen Mißgriffe Wilhelms II. Eine andere Frage ist es, ob die parlamentarische Kritik am persönlichen Regiment immer den Kern der Sache traf und ob sie stark genug war, dem Übel abzuhelfen. In der Novemberkrise 1908 waren sich die Parteien nur in dem einig, was sie verneinten, nicht in dem, was sie wünschten, so daß der Plan einer gemein-

" » Siehe unten S. 1 7 6 f. Sten. Ber., Reichstag, vom 19. 2. 1907, S. 1. Über die Krise von 1906/07 vgl. die Texte bei Huber, Dokumente, Bd. 2, Absch. I X , N r . 2 9 1 - 2 9 4 , S. 4 3 5 ff. 241 M a x W e b e r an Friedrich Naumann, 14. 12. 1906, Politische Schriften, München 1 9 2 1 , S. 4 5 1 . V g l . W o l f g a n g J . Mommsen, M a x W e b e r und die deutsche Politik 1 8 9 0 - 1 9 2 0 , Tübingen 1959, S. 162 f. 242 W e b e r polemisierte gegen Naumanns Parole in der »Hilfe« vom 30. 1 2 . 1 9 0 6 : »Die Zukunft heißt entweder >Der Zentrumskaiser« oder >Demokratie und Kaisertum«.« Weber schrieb, die Parole müsse lauten: »Gegen das Zentrum als Partei des Scheinkonstitutionalismus, als die Partei, welche nicht reale Macht der Volksvertretung gegenüber der Krone, sondern persönliche Bonbons aus den Händen der Krone erstrebt« und »für eine starke offene parlamentarische Verwaltungskontrolle, welche dann auch den Sdimutz der >Nebenregierungen< aus seinen geheimen Winkeln fege. A b e r um Gottes Willen jedes >Vertrauensvotum< für den Kaiser, und seine Art, Politik zu machen, aus dem Spiel!« 240

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samen Reichstagsadresse an den Kaiser scheiterte. Einigkeit herrschte darüber, daß sich ein ähnlicher Vorfall wie das Kaiserinterview im Daily-Telegraph mit seinen inhaltlichen Entgleisungen nidit noch einmal wiederholen dürfte. Da die Vorgeschichte des Interviews im Dunkel blieb, vor allem die Tatsache, daß Bülow das ihm zur Prüfung übersandte Manuskript gar nicht gelesen und mit höchst ungenauen Anweisungen an das Auswärtige Amt weitergeleitet hatte44', vermischte sich auch in diesem Fall berechtigte und unberechtigte Kritik. Die Vorwürfe liefen in zwei Richtungen auseinander. Sie trafen zunächst die vermeintlich eigenmächtige Einmischung des Kaisers in die Englandpolitik, die als Beweis für das persönliche Regiment angesehen wurde. Alle Parteien, auch die Konservativen, forderten die Einhaltung einer echt konstitutionellen Regierungsweise. Die eigentliche »Kaiserkrisis«244 entzündete sich aber erst an den außenpolitischen Horrenda des Interviews845, die Wilhelms II. dilettantische Ansichten über die deutsch-englischen Beziehungen offenkundig werden ließen. Der Kaiser hatte erklärt, er sei im Gegensatz zur öffentlichen Meinung Deutschlands ein Freund Englands, er habe im Burenkrieg eine Kontinentalliga gegen England verhindert und der Königin Victoria einen Feldzugsplan gesandt, der genau mit dem Plan übereingestimmt habe, der dann zur Besiegung der Buren geführt hätte. Die Entrüstung über diesen Affront, der England, Frankreich und Rußland gleicherweise vor den Kopf stieß, bewirkte, daß sich die Angriffe ganz auf die Person des Kaisers konzentrierten, so daß in der Presse246 und in Diplomatenkreisen247 seine Abdankung erörtert wurde. Um die Diskussion auf die verfassungsmäßigen Zustände zurückzulenken, ergriff daraufhin im Reichstag paradoxerweise der Sozialdemokrat Singer die Verteidigung Wilhelms II.: » . . . die Schäden liegen doch nur zum Teil in den Personen, sie liegen im System848.«

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Zur Entstehungsgeschichte des Interviews und zur Rolle Bülows: W i l h e l m Schüssler, Die Daily-Telegraph-Affaire. Fürst Bülow, Kaiser Wilhelm II. und die Krise des Zweiten Reiches 1908, Göttingen 1952 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft Bd. 9), und Friedrich Frhr. Hiller v . Gaertringen, Fürst Bülows Denkwürdigkeiten, Tübingen 1956 (Tübinger Studien zur Gesch. u. Pol., Nr. 5), S. 80 ff., ebd., S. 1 1 9 f. die ältere Literatur. Nach Maximilian Harden, der am 7. November in der Zukunft schrieb: »Die Kaiserkrisis ist allen sichtbar geworden. Daß einer sich so um allen Glauben an seiner Eignung f ü r die einfachsten Aufgaben der Politik gebracht hat, ist ohne Beispiel in der neueren Geschichte . . . « (Gegen den Kaiser, Zukunft 65 (1908), S. 207 ff., vgl. S. 245 ff. und S. 285 ff.) Bassermann stellte zu Beginn der Novemberdebatte im Reichstag fest: »Der Schwerpunkt liegt in den Gesprächen, nidit in der Tatsache, daß diese Gespräche durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen zur Veröffentlichung gelangt sind.« (Sten. Ber. vom 1 0 . 1 1 . 1 9 0 8 , S. 5376.) Herling stimmte zu, »daß gegenüber dem Gewicht der veröffentlichten Tatsachen die Tatsache der Veröffentlichung in den Hintergrund tritt.« (Ebd., S. 5397.) So Harden in dem erwähnten (Anm. 244) Zukunftsartikel. Erstmals in Hardens öffentlichem Vortrag im Berliner Mozartsaal vom 6. 11. 1908, dazu: Rogge, Holstein und Harden, S. 374 f. Vgl. unten S. 150. Singer lehnte die Abdankung mit dieser Begründung ab. Sten. Ber. vom 10. 11. 1908, S. 5391-

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Zwiespältig blieb die Haltung der Konservativen und der Zentrumspartei24®. Das Zentrum zerfiel in einen rechten und einen linken Flügel, so daß Hertling anfangs, zwischen den Meinungsverschiedenheiten lavierend, kein klares Programm vorlegen konnte. Nachdem er zunächst den Eindruck erweckt hatte, eine gesetzliche Fixierung der Ministerverantwortlichkeit sei von seiner Partei nicht erwünscht, wurde zwei Tage später doch noch das Verantwortlichkeitsgesetz beantragt150. Die Übereinkunft mit den Linksparteien stand den parteipolitischen Interessen entgegen, die eher nach rechts tendierten mit dem Ziel, den Bülowblock durch eine erneute schwarzblaue Koalition zu sprengen. Aus diesem Zusammenhang würde sich jedenfalls die spätere Beteiligung Erzbergers an der konservativen Hofclique erklären, die in einem Nachspiel zur Daily-Telegraph-Affäre die Apologetik Wilhelms II. kontra Bülow betrieb und damit den Sturz des Blockkanzlers vorbereitete251. Die Konservativen trennten zwischen der Kritik an dem persönlichen Versagen Wilhelms II. und der Kritik am »System«, die letztere sie abzuwenden suchten. Die aufgestauten Spannungen in dem nie ungetrübten Verhältnis der Partei zu Wilhelm II. entluden sich nicht nur in einer sehr scharfen Rede Heydebrands im Reichstag852, sondern auch in einer Erklärung des Parteivorstandes vom 5. November, die in ehrfurchtsvollem Ton aber doch unmißverständlich forderte, der Kaiser möge in seinen Äußerungen über die auswärtige Politik künftig »eine größere Zurückhaltung« beobachten25®. Wilhelm II. hat den Konservativen diesen »Verrat«, wie er es nannte, nie verziehen. Noch im April 1910 verlangte er über Bethmann Hollweg eine offizielle Entschuldigung, die mit einer sehr glatten Erläuterung der Motive von 1908 verweigert wurde: »Um die Spannungen in konservativen Kreisen zu lösen, dem parlamentarischen Vorgehen und den fortgesetzten unwürdigen 248

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Eine eingehende Darstellung des parteipolitischen Hintergrundes der Daily-Teleg r a p h - A f f ä r e fehlt. Margarete Schlegelmilch (Die Stellung der Parteien des Deutschen Reichstages zur sogenannten Daily-Telegraph-Affaire und ihre innenpolitische Nachwirkung, Diss., Halle 1936) beschränkt sich auf eine knappe A n a l y s e der Reichstagsdebatten. Hertling hatte in der Debatte am 1 0 . 1 1 . 1 9 0 8 festgestellt, »auf den Höhen, wo es sich um das Verhältnis zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler handelt«, gehe es nicht um Paragraphen, »sondern um das Verhältnis von Person zu Person« (Sten. Ber., S. 5401. Dazu auch Schlegelmilch, S. 37). Der Zentrumspolitiker besprach im » T a g « vom 22. 12. 1908 die byzantinistische Verteidigungsschrift Adolf Steins über Wilhelm II. positiv - sie gefalle im Interesse der Erhaltung des monarchischen Gedankens. D e r Hauptschuldige der Krise, meinte auch Erzberger, sei Bülow. Die Vossische Zeitung persiflierte den »Ritt Erzbergers an des Kaisers Hoflager« und schrieb ironisch, Wilhelm II. sei nun wohl überzeugt, daß das Zentrum die einzige Partei sei, die für ihn eintrete. Bülow beschwerte sich über das Vorgehen Erzbergers bei dem regierungsfreundlichen Kardinal Kopp in Breslau. (Rogge, Holstein und Harden, S. 427, zur konservativen Hofclique - von Eckardstein, Rudolf Martin, Graf OppersdorfF, Theodor Schiemann Rogge, S. 4 2 5 f-) » M a n muß es ganz offen aussprechen, daß es sich hier um eine Summe von Sorgen, von Bedenken und, man kann wohl auch sagen, von Unmut handelt, der sich seit Jahren angesammelt hat, angesammelt hat auch in Kreisen, an deren Treue zu Kaiser und Reich bisher noch niemand gezweifelt h a t . . . « T e x t : Graf Westarp, Konservative Politik, Bd. 1, S. 4 1 . 137

Angriffen der Presse die Spitze abzubredien und einem drohenden schweren Konflikt zwischen Krone und Reichstag vorzubeugen, der eine Verschiebung der verfassungsmäßigen Stellung der Krone hätte zur Folge haben können, hielt der Vorstand sich verpflichtet, mit jener Erklärung hervorzutreten154.« Hier wird einseitig nur noch der zweite Effekt der auch taktisdi bedingten Erklärung hervorgehoben, die, obgleich sie den Anschein einmütiger Kritik bis in die Reihen erklärter Verteidiger des monarchischen Prinzips erweckte, gerade eine geschlossene Reichstagsopposition verhindern sollte. Hans Delbrück bescheinigte schon in den Novembertagen den Konservativen ein »außerordentliches politisches Geschick« in der Annahme, sie beabsichtigten mit der Erklärung der geplanten Reichstagsadresse zuvorzukommen855, und sein Gegenspieler Harden konstatierte vorsichtig, das Vorgehen der monarchischen Partei sei zwar ohne Beispiel in Preußens Geschichte, aber man könne trotzdem die Konservativen nur »cum clausulo« loben166. Holstein begrüßte in einem Brief an Bülow vom 6. November 1908 die Erklärung, da es »im Interesse der Mäßigung« wünschenswert sei, »daß die Konservativen sich nicht von den anderen Parteien trennen, weil letztere sonst ohne die Konservativen sehr viel schärfer vorgehen«857. Jedenfalls bedeutete die Erklärung nicht, daß der Reichstag nun endgültig zum stärkeren Faktor geworden war458. Vielmehr kommentierte die Kreuzzeitung, die Interviewangelegenheit dürfe auf keinen Fall »zu einer Machtfrage zwischen Krone und Parlament« werden"*. Unter diesen Voraussetzungen fanden die Änderungsvorschläge der Linken für die demokratische Fortentwicklung der Verfassung nur teilweise eine bedingte Zustimmung beim Zentrum. Die Nationalliberalen wünschten zwar »sichere Garantien«, aber sie blieben durch Blockrücksichten an die Konservativen gebunden. Alle weiteren Forderungen kristallisierten sich mehr oder weniger klar heraus: verantwortliches kollegiales Reichsministerium, gesetzlich fixierte Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, die Möglichkeit der Ministeranklage, die Aufsicht von Regierungsbehörden über Zivil- und Militärkabinett, eine wirksamere Kontrolle durch den Bundesratsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten, mehr Macht dem Reichstag durch Mitbestimmungsrecht bei der Ernennung des Kanzlers und Mitentscheidung über Krieg und Frieden. Volle Unterstützung fanden die Anträge nur bei der Sozialdemokratie; bereits im Freisinn, der sich ebenfalls noch halb der Blockpolitik ver-

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Ebd., S. 49 f. Politische Korrespondenz: Die Krise des persönlichen Regiments, Preuß. Jahrb. 1 3 4 (1908), S. 573. 466 Rogge, Holstein und Harden, S. 375. 857 Ebd., S. 376. 258 So Schüssler; Bülow habe bis zur Erklärung der Konservativen noch den Kaiser für den stärkeren Faktor gehalten und eine Verteidigungsrede für den Kaiser im Reichstag vorbereitet. Nach der Erklärung habe er sich auf die stärkere Seite geschlagen (S. 42t.). Ähnlich Sydows Beitrag in »Front wider Bülow«, hrsg. von Friedrich Thimme, München 1 9 3 1 , S. 1 1 9 , und Theodor Eschenburg, Die D a i l y Telegraph-Affaire, in: Preuß. Jahrb. 2 1 4 (1928), S. 199 ff., ablehnend G r a f Westarp, Konservative Politik, Bd. 1, S. 42.

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**• Westarp, S. 43, Kreuzzeitung vom 7. 1 1 . 1908. 158

pflichtet fühlte" 4 , waren die Ansichten über eine Verfassungsänderung geteilt. W i e m e r kündigte sie vorsichtig an 141 , Haußmann lehnte sie ab261, Schräder brachte sogar föderative Bedenken gegen verantwortliche Reichsminister26® vor. Die Kompliziertheit des Problems, eine Parlamentarisierung für eine bundesstaatliche Verfassung durchzuführen, wurde jetzt erst sichtbar. Nur wenige hatten überhaupt Lösungen bereit, so M a x Weber, der die effektive Verantwortlichkeit des leitenden Staatsmannes, ein weitgehendes Enquete-Recht des Parlaments als Korrektiv der kontrollfreien bürokratischen Herrschaft und als Zwischenstufe - die Parlamentarisierung des Bundesrats verlangte" 4 . In den Verfassungsdebatten im Dezember über ein Ergänzungsgesetz zum Artikel 17, das auch vom Zentrum gefordert wurde, zeigte sich, wie schwierig es war, zunächst einmal über Begriffe und Definitionen Klarheit zu gewinnen. Friedrich Naumann kritisierte mit Recht die Unterscheidung seines Fraktionskollegen, des freisinnigen Abgeordneten Müller-Meiningen, zwischen der »staatsrechtlich-juristischen Verantwortlichkeit« mit Ministeranklage und der bisher geltenden »moralischen Verantwortlichkeit« 165 . Dieser juristische Schematismus sei längst veraltet, meinte Naumann, und rechne noch mit den Verhältnissen des dualistischen Ständestaats, wo es galt, den parlamentsfeindlichen feudalen Minister anzuklagen: »Der Kern der Ministerverantwortlichkeit f ü r uns ist die Real Verantwortlichkeit für die politische Führung selbst; darauf kommt es an*66!« Die Diskussion drehte sich jedoch weiter ergebnislos um den U m f a n g der Haftung, der im Gesetzentwurf mit der sehr dehnbaren Formel umrissen war, der Minister werde zur Verantwortung gezogen, »wenn die Sicherheit oder die Wohlfahrt des Reiches durch pflichtwidrige Handlungen oder Unterlassung gefährdet ist«867. Schließlich unternahm die Linke den verzweifelten Versuch, die Reichsverfassung mit Hilfe der Geschäftsordnung zu korrigieren, um dem Parlamentarismus wenigstens eine Hintertür offenzuhalten: nach jeder Interpellation sollten die Abgeordneten künftig ihre Stellungnahme sofort anbringen können, ein Mißtrauensvotum also, aber ohne die Möglichkeit, den Kanzler zu stürzen. In den Kommissionen wurde der A n t r a g noch bis 1912 beraten, bis endlich der Fall Zabern die Probe aufs Exempel brachte. Im Zusammenhang mit Artikel 17 klangen auch die Probleme der Kaiserstellung im Reich erneut an: die Souveränitätsfrage, die Frage nach dem unitarischen oder föderativen Charakter des Kaisertums, das Verhältnis von Kaisertum und persönlichem Regiment. Die Diskussion litt auch hier an der Verwirrung staatsrechtlicher Begriffe, die stets mit dem Kaiserthema auf-

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Vgl. Singers Vorwurf, die freisinnige Partei betreibe weiterhin Blockpolitik und habe sich »der Reaktion in die Arme geworfen«. (Sten. Ber. v. 3. 12. 1908, S.5950 f.) 2 , 1 Sten. Ber. vom 10. 11.1908, S. 5384. 262 Sten. Ber. vom 11. 11.1908, S. 5424. 298 Ebd., S. 5415, Haußmann versuchte die Ablehnung später wieder abzuschwächen, S. 5424. 2 , 4 Mommsen, Max Weber, S. 198 ff. 1 , 8 Sten. Ber. vom 2.12. 1908, S. 5905. 246 Sten. Ber. vom 3. 12. 1908, S. 5949. 297 Sten. Ber. vom 3. 12. 1908, S. 5958 (Dietrich).

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zu tauchen pflegte. In der Novemberdebatte meldete Zimmermann von der extrem rechts stehenden Deutschen Reformpartei föderative Bedenken gegen das persönliche Regiment des Kaisers an, der trotz der verfassungsmäßigen Instanzen Bundesrat und Reichstag im Reich den Eindruck erwecke, als bestimme seine Person allein über die Politik: »In Wirklichkeit verkörpert aber doch der Bundesrat eigentlich die Summe landesherrlicher Souveränität. Der Kaiser ist ja gewissermaßen nur primus inter pares !67 \« Ausführlich kam dann Müller-Meiningen in der Verfassungsdebatte im Dezember auf das Problem zurück, das er von der sakrosankten Stellung des Monarchen her aufrollte, die einzuhalten für den »Repräsentatiwertreter« an der Spitze des Bundesstaats doppelt geboten sei. »Es muß immer wieder festgehalten werden«, betonte auch er, »der Deutsche Kaiser ist nach der deutschen Reichs Verfassung nicht der Souverän von Deutschland, er ist primus inter pares, er besitzt die Präsidialgewalt, er ist der Vorsitzende des Bundes4"8.« Der nachfolgende Redner, der Zentrumsabgeordnete Spahn, vertrat die gegenteilige staatsrechtliche These von der Eigenständigkeit des Präsidiums als »Organ des Reichs«. Er mißbilligte unter dem Beifall der Mitte den Ausdruck »primus inter pares« und wies unter dem Beifall von rechts auf die selbständigen Befugnisse des Kaisers auf völkerrechtlichem Gebiet168. Die dritte preußenfeindliche Version über die Kaiserstellung grifF der Sozialdemokrat Ledebour aüf: das Kaisertum sei in Wahrheit identisch mit dem preußischen Königtum das nur zum Schein seine Hegemonie mit der »Maske« der »Verbündeten Regierungen« tarne. »Daß wir eine föderale Leitung der Reichsgeschäfte haben, ist auch eine Fiktion870.« Naumann schnitt schließlich die Diskussion ab, indem er der »theoretischen Streitfrage«, ob der Kaiser nun im Auftrag des Bundesrats oder außerdem noch kraft eigener kaiserlicher Rechte handele, auswich und statt dessen von »Souveränitätskollegium« und »Souveränitätssystem« gegenüber dem »Volksvertretungssystem« sprach271, ohne Versuch, Bundesrat und Kaisertum näher gegeneinander abzugrenzen. Die Widersprüche blieben ungelöst, vor allem in der Kombination der konstitutionellen mit den föderativen Wünschen. Dieselben Redner, die im Kaiser nur den »Präsidialvertreter« des Bundesstaats sehen wollten, verlangten gleichzeitig Ministerverantwortlichkeit und Reichsministerien, die umgekehrt die unitarische Entwicklung stärkten, damit die Eigenständigkeit der Zentralgewalt selbst872. Auf den Vorwurf Naumanns, die nationalliberale Partei ver2,78

Sten. Ber. vom 1 1 . 1 1 . 1908, S. 5418. V g l . audi die wiederholten Hinweise auf die bloße Präsidialstellung des Kaisers bei Harden: »Der Kaiser ist nidit Monarch. Das Reich ist Souverän; nicht der Kaiser. Der Kaiser darf das Reich nidit ohne Zustimmung Sachverständiger binden.« (Zukunft 65, 1908, S. 304, V g l . ebd., S 296.) 268 Sten. Ber. vom 2. 12. 1908, S. 5907. 169 Ebd., S. 5 9 1 1 . 270 Ebd., S. 5921 f. 271 5. 12. 1908, S. 5946. 272 V g l . hierzu eine Unterredung Bülows mit dem bayerischen Gesandten Graf Lerdienfeld: Ministerverantwortlidikeit und Reidisminister, gab BQlow dem Gesandten zu, bedeuteten nach italienischem und französischem Muster den Einheitsstaat. (Bericht Lerdienfelds vom 19. 1 1 . 1908, Geh. Staatsarch. München, M A 1936, Nr. 95142.)

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leugne mit ihrer Ablehnung der Reichsministerien das Erbe Bennigsens, konnte der Abgeordnete Junck sogar behaupten, es sei j a bei den gleichlautenden Anträgen von 1867 primär darum gegangen, die unitarisdie Tendenz gegen das föderalistisdie Element im Bundesrat zu stärken. Er trennte damit die nationalen von den freiheitlichen Idealen seiner Partei und stellte in seinem unverbindlichen Schlußwort fest, daß die nationale Monarchie durch die Entwicklung seit 1871 längst erreicht sei: »Wir werden aber - und, meine Herren, wir sind immer Unitarier gewesen und werden es auch bleiben - darüber wachen, daß eines nicht Schaden leide, unser deutsches Kaisertum, das erhaben über der Erscheinungen Flucht stehen soll175.« Die Daily-Telegraph-Affäre zerstörte die »Fiktion« vom »herrlichen Kaiser« 174 ; sie verstärkte die Tendenz zur »Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus«"5, ohne jedoch eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwischen Reichstag und Kaisertum herbeigeführt zu haben. Zum ersten Mal wich Wilhelm II. vor der Kritik der Reichstagsfraktionen zurück und gab ein öffentliches Versprechen in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung«, künftig »die Stetigkeit und Politik des Reichs unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern«, aber auch jetzt noch wurde der Passus mit der von Bülow entworfenen Kompromißformel eingeleitet, der Kaiser erkläre dies »unbeirrt durch die von Ihm als ungerecht empfundenen Übertreibungen der öffentlichen Kritik« 176 . Die Schockwirkung der Novemberkrise auf das Selbstbewußtsein Wilhelms II. ist oft beschrieben worden. Nach dem Nervenzusammenbruch des Kaisers, meinte der Kabinettschef Valentini, sei »ein gutes Stüde der alten Lebensaktivität« verloren gewesen und nur »müde Resignation« übriggeblieben177. Die Folge war aber nicht Einsicht in die eigenen Schwächen. Die von der Affäre wenig berührte Volksstimmung im Lande 178 und die im Byzantinis875

Sten. Ber. vom 2. 12. 1908. S. 5926. Formulierung nach der Reichstagsrede Heines, 1 1 . 1 1 . 1908, S. 5432. t7S W e r n e r Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II., Zeitsdlr. für die ges. Staatswissensch. 1 1 3 (1957), S. 7 2 1 ff. Ders., Der Reidistag im Zeitalter des persönlichen Regiments Wilhelms II. 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , in: Der Reidistag, Aufsätze, Protokolle und Darstellungen zur Geschichte der parlamentarischen Vertretung des deutschen Volkes. 1 8 7 1 - 1 9 3 3 , hrsg. von Ernst Deuerlein, Frankfurt 1963, S. 59 ff. "•Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 17. 1 1 . 1908, Schultheß, Europäischer G e sdiiditskalender, Bd. 49, 1908, S. 201. 177 Sdiwertfeger, Kaiser und Kabinettschef, S. 105. " « D a r ü b e r der Briefwechsel Bülows mit Holstein. Bülow schrieb am 16. 1 1 . 1908: »Aus Hunderten von Zuschriften ersehe ich, daß die Stimmung im Lande anders ist als bei den Intellektuellen in Berlin. Das L a n d will, daß der Kaiser sich ändert, es will aber nicht, daß ihm was geschieht.« (Rogge, Holstein und Harden, S. 5 8 7 f.) V g l . auch das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, die am 15. November von »einer völligen Wendung im Empfinden der Nation« spricht und am 2 1 . November feststellt, es sei »merkwürdig rasch wieder Windstille eingetreten« (S. 492 f.). Z u Kaisers Geburtstag am 27. 1. 1909 schrieb sie: » E s ist entschieden eine A r t Reaktion der Gesinnung im Volke zu seinen Gunsten erfolgt, teils weil er wirklich >geschwiegen< hat seit der Katastrophe, teils den Menschen doch manche Ungerechtigkeit, manche Übertreibung zum Bewußtsein kam, die in der B e - und Verurteilung des Kaisers lag.« (S. 499.) 174

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mus geübte Hofgesellschaft 17 * bewirkten, daß sich Wilhelm II. sehr bald in die Rolle des schuldlos »verratenen« Monarchen fügte280. So war das Ergebnis eher negativ: die unkontrollierbare, ungesdiützte Macht des Kaisers wurde zur Last, die Scheu, Verantwortung zu tragen, nahm zu - bis zur völligen Passivität im Krieg. Vom persönlichen Regiment war unter Bethmann Hollweg kaum noch die Rede. Das vielberufene Gottesgnadentum, mit dem Wilhelm II. noch einmal seine kaiserliche Stellung zu rechtfertigen suchte, konnte in einer gewandelten Zeit und Gesellschaft die Autorität des Monarchen nicht wirksam stützen. A l s der Kaiser zwei Jahre nach der Daily-Telegraph-Affäre abermals verkündete: »Als Instrument des Herrn Mich betrachtend, ohne Rücksichten auf Tagesansichten und -Meinungen gehe Ich Meinen W e g . . .« isl erhob sich in der sozialdemokratischen und liberalen Presse erneut ein Sturm der Entrüstung. »Die Kluft, die in den Novembertagen sichtbar ward, ist wahrlich nie überbrückt worden«, schrieb der sozialdemokratische »Vorwärts«: »Sie ist heute breiter und tiefer als je zuvor.« Die »Auffassung des asiatischen Despotismus« sei gleichermaßen abzulehnen wie der »mystische Gedanke« des Gottesgnadentums, der die Erkenntnis der Wirklichkeit überschatte288. Auch die linksliberale »Frankfurter Zeitung« glaubte, daß die »Verkündigung solcher Anschauungen über das persönliche Regiment von Gottes Gnaden« unvereinbar sei mit den Einrichtungen und Notwendigkeiten eines konstitutionellen Staates283. Schärfer noch heißt es in der Freisinnigen Zeitung: der Kaiser verliere den Boden der Wirklichkeit und schwebe »in Regionen, die sich mit den Anschauungen der heutigen Zeit kaum in Einklang bringen lassen«. Der Artikel schloß mit der Aufforderung: »Nach dem Kaiser hat nun Herr von Bethmann Hollweg das Wort 284 .« Der Reichskanzler stellte sich jedoch anders als sein Vorgänger 1908 schützend vor den Kaiser. Die amtliche Erklärung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung nannte die Königsberger Rede ein »persönliches Bekenntnis«285 des Monarchen, und im Reichstag beantwortete Bethmann Hollweg die Interpellation der Sozialdemokraten mit den Worten: »Persönliche Unverantwortlidikeit des Königs, Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des monarchischen Rechts, das sind Grundlagen des preußischen Staatslebens, die auch in der Periode konstitutioneller Entwicklung lebendig geblieben sind. Gibt ihnen 278

Typisches Beispiel: die Verteidigungsschrift von Adolf Stein, Wilhelm II., Leipzig

19°9Zedlitz schrieb, der Kaiser habe sich von den Ereignissen »eine Schilderung zurechtgemacht, nach der man ihn für den größten Märtyrer seiner Zeit halten kann.« (Zwölf Jahre am deutschen Kaiserhof, S. 198.) 281 Trinkspruch vom 25. 8. 1910, bei der T a f e l für die Provinz Ostpreußen, Johannes Hohlfeld, Dokumente der deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Bd. 2, 0. J., Nr. 160, S. 450 f. 281 Ausschnitte aus Pressestimmen: J. B. Kraus, Das Königtum von Gottesgnaden? Zur Diskussion über die letzten Kaiserreden und zur innenpolitischen Lage, Wiesbaden 1910, S. 23f. Deutscher Geschichtskalender, 1910, Bd. 2, S. 7 ff. »» Ebd., S. 25. 284 Ebd., S. 22. 285 Auslassung der Nordd. A l l g . Ztg. vom 29. 8.1910, Hohlfeld, S. 450. 280

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der König von Preußen in der alten preußischen Krönungsstadt in der durch die Tradition geheiligten Formel: >von Gottes Gnaden< Ausdruck, beruft er sich im Gegensatz zu Tagesmeinungen auf sein Gewissen als auf die Richtschnur seines Handelns, so geschieht dies in dem Bewußtsein der Fülle seines Rechts und seiner Pflichten. In dieser Auffassung von der Stellung des Kaisers und Königs stehe ich auf verfassungsmäßigem Boden286.« Eine derartige Verteidigung barg jedoch in der Art ihrer Richtigstellungen fast ein Dementi. Die Formel von Gottes Gnaden wird auf das preußische Königtum beschränkt und streng christlich im Sinne eines »persönlichen Bekenntnisses« ausgelegt. Gottesgnadentum bedeutet hier lediglich eine religiöse Gesinnung in der rein menschlich persönlichen Sphäre, aber keineswegs mehr die politisch wirksame Betonung der Fürstensouveränität287. Der Vorrang von Monarchie, Regierung, Verwaltung und Militär vor der Volksvertretung wurde nur noch mit den historischen Leistungen der Hohenzollern für Kaiser und Reich begründet. Mit der ständig wachsenden Zahl der Sozialdemokraten, die 1912 die größte Partei im Reichstag stellten, wurde jedoch die Notwendigkeit immer zwingender, den bloß »historischen Rechtstitel der Monarchie«188 durch die Bewährung in der Gegenwart zu ersetzen. Aber erst die revolutionierende Gewalt des Krieges, die das starre gesellschaftliche Gefüge durchbrach, beendete den Stillstand in den Wandlungen des Kaisertums. A l s Bethmann Hollweg nun mit der preußischen Wahlrechtsreform ein soziales freiheitliches »Volkskaisertum« verkündete28', war es jedoch bereits zu spät. Wilhelm II. verdankte es zu einem guten Teil der loyalen Reichsgesinnung der Bundesfürsten, daß die traditionelle Autorität des Kaisers so lange im Kern bewahrt blieb28'*. Obgleich es im gemeinsamen Interesse von Reichstag und Bundesrat lag, den Souveränitätsanspruch des persönlichen Regiments abzuwehren, war an eine solche gemeinsame Opposition nicht zu denken. Die Ebd., S. 452 f. (Hervorhebung vom Verfasser). Die Marienburger Rede des Kaisers, vier Tage nadi Königsberg, hielt sich an diese Auslegung. Mit Bezug auf den Deutschen Orden heißt es dort: »Was sollen wir daraus lernen? Daß dies eine Illustration für das Wort ist, was ich neulich in Königsberg gesprochen habe: so wie mein seliger Großvater und wie Ich Uns unter des Höchsten Obhut und dem höchsten Auftrage unseres Herrn und Gottes arbeitend dargestellt haben, so nehme Ich das von einem jeden ehrlichen Christen an, wer es auch sei. ..« Reden, Bd. 4, S. 211 f. 288 Vgl. den oben (Anm. 22) schon zitierten Aufsatz über das monarchische Prinzip von Otto Hintze: »Tatsächlich beruht auch seine (des Kaisers) Kraft... nicht auf der religiösen, sondern auf einer rein politischen Grundlage. Sie beruht auf der historischen Tatsache, daß es die Hohenzollernschen Fürsten gewesen sind, die den preußischen Staat überhaupt geschaffen haben... Nur durch die monarchische Initiative ist es gelungen, auf deutscher Erde ein Machtzentrum herzustellen, von dem in unseren Tagen die Regeneration des deutschen Nationalstaats ausgehen konnte. Das ist der eigentlich historische Rechtstitel der Monarchie bei uns.« (S. 411.) Vgl. unten S. 218. 28** Eine eingehende Darstellung über das Verhältnis des Kaisers zu den Bundesfürsten fehlt. Die Dissertation von Ingeborg Koch, Die Bundesfürsten und die Reichspolitik in der Zeit Wilhelms II., München 1961, ist unergiebig. 287

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Furcht vor einer Demokratisierung im Reich überwog das Mißtrauen gegen die Person Wilhelms II. und seine cäsaristisch-unitarisdien Ambitionen. D a der Prestigeverlust des Kaisers zugunsten der Volksvertretung nicht ohne Rückwirkungen auf die Einzelstaaten bleiben konnte, war es im Gegenteil notwendig, die kaiserliche Autorität möglichst zu stützen. Hinzu kam, daß die Auslandspresse, besonders in Frankreich, aus jedem Anzeichen, das auf eine Verschlechterung der Beziehungen zur Berliner Regierung schließen ließ, Kapital schlug, indem sie vorgab, die nationale Einheit sei erschüttert durch »das Fortwirken des partikularistisdien Geistes«280. Die Gefahr, sich mit jeder offenen Kritik sofort dem Vorwurf der Reichsfeindschaft auszusetzen, zeigt indirekt, wie unangreifbar das Kaisertum als Nationalsymbol bereits geworden war. Tatsächlich sind die gelegentlichen Mißstimmungen weniger ein Symptom für das schwindende Zugehörigkeitsgefühl zum Reich, wie etwa die Bismarckpresse behauptete291, als ein Zeichen für die wachsende Empfindlichkeit, mit der auf beiden Seiten reagiert wurde, und die Unsicherheit, die sich vor allem in Süddeutschland über die unstabilen Zustände ausbreitete 2 ". Latente Spannungen konnten nicht ausbleiben, denn das erstrebte persönliche-Regiment verletzte das föderalistische Prinzip brüskierte dieEürsten und ignorierte den diplomatischen Vermittlungsstil der Bismarckzeit2*3. Nachdem sich die Fürsten 1890 überraschend schnell auf die Seite Wilhelms II. geschlagen hatten - an Bismarcks Sturz waren zumindest der König von Sachsen, der 280

So in: Le Matin vom 12. 6. i8g6 über die unten erwähnte Moskauer Rede des Prinzen Ludwig, dazu die Berichte des bayerischen Gesandten in Paris, Frhr. von und zu Tann, vom 1 1 . und 13. 6. 1896, Geh. Staatsardi. Mündjen, M A 98531. Ähnlich die Pariser Presse über die Entlassung des württembergisdien Gesandten Moser, Presseausschnitte und Kommentare, Generallandesarch. Karlsruhe 49, Nr. 2025. 2,1 Darunter auch die »Zukunft«, vgl. z. B. »Die Stimmung in Württemberg«, 5 (1893), S. 592ff. und »Kaisermanöver« 21 (1897/98), S. i45ff. ' " V g l . den Silvesterberidit des badischen Gesandten in Berlin, Brauer, an Großherzog Friedrich von Baden vom 31. 12. 1892: »Es sind keine erfreulichen Zeichen, unter denen das Jahr zu Ende geht. Wohl noch niemals seit Gründung des Reiches hat eine so weit verbreitete und tief gewurzelte Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen geherrscht und - was noch schlimmer ist - eine solche allgemeine Mutlosigkeit. Welche Summe an monarchischer Gesinnung, an nationalen Gefühlen, an objektiver ruhiger Urteilskraft, an Liebe zu Kaiser und Reich in den letzten zwei Jahren zu Grunde gegangen ist, werden erst die folgenden Geschlechter voll und ganz würdigen können.« (Generallandesarch. Karlsruhe, Großh. Familienarchiv 13, Nr. 329.) Vgl. auch die bekannte Flugschrift zur »Reichsverdrossenheit« in Süddeutschland: Unser Kaiser und sein Volk. Deutsche Sorgen eines Schwarzsehers, 4. Aufl., Freiburg und Leipzig 1906, besonders: S. 177ff. Dazu den Kommentar der Baronin Spitzemberg, Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, S. 467 fif. 2,3 Vgl. Holsteins Brief an Eulenburg vom 3. 2. 1897: »Wer, glauben Sie, wird dabei (bei einem Staatsstreich) von den deutschen Fürsten mit dem Kaiser gehen; nachdem dieselben seit dem vorigen Herbst zufällig oder systematisch von kaiserlicher Seite brüskiert worden sind? Beim Manöver wurden die Sachsen so gemißhandelt, daß Prinz Georg weder den formalen Abschluß des Manövers abwartete, noch jetzt zu Kaisers Geburtstag erschienen ist. Die Bayern und selbst der sanfte Großherzog von Baden sind empört über die Art und Form, wie der preußische Kriegsminister in Sachen der Militär-Strafprozeßordnung und der Kokarde ihnen von sich aus Direktiven schickte unter gänzlicher Ignorierung der diplomatischen Zwischenstationen.« (Die geheimen Papiere, Bd. 4, S. 9.)

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Großherzog von Baden und der Großherzog von Sachsen-Weimar aktiv beteiligt2®4 - erhob sidh sehr bald ein Klagelied über den Kaiser, dem Übergriffe in die »vertragsmäßige Stellung« der Einzelstaaten zugetraut wurden, und über seine neue Regierung, die nicht mehr im selben Maße wie die alte die »absolute Vertragstreue« garantierte295. Eine Zeitlang fürchtete Wilhelm II. sogar, die Fürsten könnten sich hinter seinem Rücken erneut mit Bismarck verständigen 296 . W i e gering das in ihn gesetzte Vertrauen war, beweist die deutliche Sprache des Königs von Sachsen, der die Staatsstreichpläne mit der Begründung ablehnte: »diesem Kaiser würden die deutschen Fürsten keinesfalls in eine Konfliktskampagne folgen, denn sie riskierten, daß der Herr mitten drin abschwenkt; er sei zu wenig stabil297.« Anläßlich des Lippischen Thronfolgestreits schrieb Holstein, der Kaiser verfüge über Bundesgebiet »wie Karl der Große über vakante Lehen«. Bei derartiger Behandlung müsse den Fürsten das »Gefühl der Rechtssicherheit« verlorengehen298. Der Protest des Prinzen Ludwig von Bayern bei einem Festbankett der Moskauer Deutschen Reidisvereine: »Wir sind nicht Vasallen, sondern Verbündete des Deutschen Kaisers«, rief bei Wilhelm II. Erstaunen und Ärger hervor, und der befohlene Besuch des Prinzen nach Berlin - der »Gang nach Canossa« - endete mit der charakteristischen Belehrung: er, der Kaiser, sei Kriegsherr des gemeinsamen Reichsheeres und personifiziere das Deutsche Reich299. Gewöhnlich endeten die Zwischenfälle, die das getrübte Verhältnis zu den Bundesfürsten sichtbar werden ließen, mit einer versöhnlichen Geste und dem Bekenntnis zur Reichstreue. In einem nicht veröffentlichten Entschuldigungstelegramm bedauerte Prinz Ludwig, daß er sich zu der »ungeschickten ÄußeDazu ein Gespräch Bismarcks mit Lerdienfeld: Er, Bismarck, habe sich als Anwalt der Bundesstaaten und Fürsten bisher behaupten können. Nun seien eine Reihe deutscher Fürsten, Sachsen, Baden, Weimar mit seinem kaiserlichen Herrn gegen ihn vorgegangen. »Seine Lage sei unhaltbar . . . « (Konzept eines Gesandtschaftsberidits vom 30. 1. 1890. Geh. Staatsarch. München, Gesandtschaft Berlin, Nr. 39). Vgl. auch den Bericht vom 16.1.1890 (Konzept) über das Zusammengehen des Kaisers mit dem König von Sachsen und dem Großherzog von Baden. 295 Klagen der Bayer. Regierung, nach dem Bericht Brauers an Turban vom 16. 3. 1892, Generallandesardi. Karlsruhe 49, Nr. 2033. 294 Der Kaiser beobachtete mit Mißtrauen Bismarcks Reise durch Süddeutschland im Juni 1892. Sie habe den Zweck, die Verbündeten gegen ihn auszuspielen. Darüber Brauer an Turban, 14. 6. 1892. Vgl. auch Presseausschnitte über angebliche Unterredungen der Könige von Sachsen und Württemberg und des Großherzogs von Baden über die Kluft zwischen dem Kaiser und Bismarck, Ders. an Dens. 20. 11. 1892, Generallandesardi. Karlsruhe 49, Nr. 2023. 297 Holstein an Graf Hatzfeld, 14. 4. 1897, Die geheimen Papiere, Bd. 4. S. 23. 198 Holstein an Eulenburg, 5. 5. 1896, ebd., Bd. 3, S. 548. 299 Darüber Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, S. 236f., ebd.: das Telegramm des Kaisers über den Besuch des Prinzen (30.6. 1896), S. 238 fr. Es beginnt mit den Worten: »Prinz Ludwig hat gestern seinen Gang nach Canossa a u s g e f ü h r t . . . « Ähnliche Argumentation in der National-Zeitung, Abendausgabe vom 9. 6. 1896, Nr. 365: Die Rede des Prinzen habe im Ausland den falschen Eindruck hervorgerufen, »daß das Gefüge des deutschen Reiches bereits wieder durch den Partikularismus gelockert sei.« Es handle sich um eine »falsche Vorstellung von einem bloß völkerrechtlichen Verhältnis«, die dem »einheitlichen Heer« des Reichs und dem »ewigen Bund« widerspreche. Der Kaiser erkläre im Namen des Reiches den Krieg, im Falle des Angriffs ohne Beschluß des Bundesrats usw. 2,4

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rung« habe »hinreißen« lassen, zumal im Ausland, »wo auch jeder Schein unbewältigten Partikularismus vermieden werden« müßte'00. Wilhelm II., der mündlich versicherte, der Prinz habe mit seiner Rede eine bestimmte, gegen Kaiser und Reich gerichtete Absicht verfolgt® 01 , bescheinigte telegraphisdi, es habe der klärenden Worte nicht bedurft, da die »treue Reichsgesinnung« Ludwigs ihm bekannt sei304. Entsprechend beschönigte die offiziöse Presse305. Die Swinemünder Angelegenheit 303 " wurde durch einen freundlichen Depeschenwechsel der Souveräne untereinander bereinigt304. Oft war der Anlaß zu kritischen Situationen ganz unbedeutend. So entzündete sich der württembergisdie Streitfall 1894 an der leidigen Frage der Kaisermanöver, die audi in Bayern den meisten Unfrieden stiftete305, weil in militärischen Angelegenheiten besonders streng auf die Einhaltung der Reservatrechte gepocht wurde. A l s die württembergische Regierung Mittnacht die Einschränkung der Manöver verlangte, sprach man in Berlin von einem »bundesfeindlichen Vorstoß« gegen Caprivi und den »neuen Kurs« und wollte ein Exempel statuieren, »das dem Einreißen von Unabhängigkeitsgelüsten steuern und die gelockerte Disziplin im Bundesrat festigen sollte . . .«306. G e reizt überdies durch Mittnachts Besuch bei Bismarck, forderte Wilhelm II. die Entlassung Mosers, des württembergischen Gesandten in Berlin 307 . Solcherart hochgespielt, endete die Krise aber sdiließlich sehr friedlich. Es wurde Moser nahegelegt, aus gesundheitlichen Gründen seinen Abschied einzureichen308. Die Regierungen waren überhaupt bemüht, Differenzen nicht in die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Gerüchte über Verstimmungen am bayerischen und

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Das Telegramm wurde gemeinsam mit Prinz Heinrich, dem Bruder des Kaisers, aufgesetzt. Rudolf von Gasser an das Bayer. Staatsminist., 8. 6. 1896, Geh. Staatsarchiv München, MA 98531. 301 So in einem Gespräch mit dem bayerischen Militärbevollmächtigten in Berlin, von Reichlin, vgl. Bericht Lerdienfelds vom 9.6. 1896, ebd., M A 98531. 304 Abschrift, ebd., M A 98531. 303 Münchner Neueste Nachrichten vom 1 . 7 . 1 8 9 6 (Vorabendblatt) über den Besuch des Prinzen beim Kaiser. Die Reise dokumentiere die guten Beziehungen zwischen Hohenzollern und Wittelsbach »zum allseitigen Nutzen, zur Ehre und Wahrung des Deutschen Reichs«. sos» j ) j e v o m Zentrum beherrschte Mehrheit der Bayerischen Abgeordnetenkammer hatte im Sommer 1902 mehrere Abstriche am Kulturetat verlangt, darunter die Streichung von 100000 Mark, die zum Ankauf von Kunstwerken bestimmt waren. In einem in der Presse veröffentlichten Telegramm an den Prinzregenten sprach der Kaiser seine »Empörung . . . über die schnöde Undankbarkeit« aus mit dem Angebot, die Summe persönlich zur Verfügung zu stellen - ein Eingriff in die Finanzen eines Bundesstaates und eine Mißachtung des Budgetrechts der Kammer! 304 Geh. Staatsarch. München, Gesandtsch. Berlin, Nr. 229. Vgl. Bülows Erläuterung im Reichstag, Sten. Ber. vom 1 9 . 1 . 1903, S. 7410. so« Y g j Kaiserliche Regierung - Kaiserlich deutsche Regierung - deutsche Reichsregierung - Kaiserliche Politik< usw. bei offiziellen Reden und in amtlichen Aktenstücken. 1880/1909.« Geh. Staatsarch. München, M A 1936, Nr. 95 534. 841 Vgl. Presseausschnitte, ebd., Augsburger Post vom 21. 1. 1909 und 15. 5. 1894. Das Bayerische Vaterland, Januar 1903, Nr. 23 und Nr. 29, 3.4. 1909, Nr. 75, Bayer. Kurier, 30. 3. 1909, Nr. 89, Entgegnung der National-Zeitung auf die »klerikale« Presse, 22. 5. 1894, Nr. 314. 848 Sten. Ber. vom 11. 12. 1908, S. 6172. 844 Vgl. den Briefwechsel Holstein-Harden über dieses Thema. Harden monierte mehrmals den Ausdruck »Kaiserliche Regierung« in der »Zukunft«; zum ersten Mal nach dem Rundschreiben Bülows an die verbündeten Regierungen über die Chinawirren. (Notizbuch, Zukunft 32, igoo, S. I78f.; vgl. auch S. i85f.) Holstein kritisierte den Passus: »Die >Kaiserliche< Regierung (von der, als sei der ewige Bund deutscher Fürsten zur Monarchie geworden, im Amtsstil, jetzt immer geredet wird) . . . « (Zukunft 64, 1908, S. 395). Er schrieb: »Die Gänsefüßchen, bei >Kaiserliche< Re838

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stellen fiel es darum leicht, den Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen: Der Staatssekretär des Äußern, Schoen, konnte im Reichstag Erzberger auf die Vertragstexte der Bismarckzeit verweisen848, und die Norddeutsche A l l gemeine Zeitung zitierte in einer Entgegnung auf die Kölnische Volkszeitung Bismarcks Rede vom 28. März 1881, in der es hieß, der Ausdrude »Reidisregierung« für den »Stab des Präsidiums« sei zwar nicht seiner logisdien Richtigkeit, wohl aber seiner Kürze wegen zu akzeptieren®46. Damit konnte die an sich berechtigte Frage nach dem wachsenden Einfluß der Präsidialmacht als Formsache erledigt und abgewiesen werden. Die bayerische Regierung hielt sich zurück, nicht ohne wohlwollende Neutralität für das Zentrum in dieser Frage. Die in der Presse monierten Ausdrücke wurden in den Akten angestrichen und mit mißbilligenden Marginalien versehen' 47 , aber nicht weiter beanstandet348. Ein in den bayerischen Ministerien ausgearbeitetes Gutachten über den »Gebrauch des Ausdrucks k a i s e r liche Regierung* in amtlichen Drucksachen des Reichstags« ergab, daß ein prinzipieller Gebrauch der Titulatur nicht nachweisbar war, jedenfalls nicht für das Reichsamt des Innern. Der Sachbearbeiter konnte im übrigen über dasselbe Thema einen Schriftwechsel mit dem Sekretär des Königs vom Jahre 1880 beifügen, der bewies, daß es sich hierbei um eine alte juristische Streitfrage und nicht um eine neuartige Terminologie mit unitarischer Tendenz handelte' 4 '. So aber verfehlte die Diskussion ihren Gegenstand und endete in einer Sackgasse. Lerchenfeld empfahl für den Bundesrat, die »Formfrage« zwar immer wieder zu betonen, aber »ohne die Dinge auf die Spitze zu treiben«'50. Als in einer Ausschußsitzung 1902 die Vertragsunterschrift »Kaiserlich deutsche Regierung« vom Referenten als »verfassungsrechtlich falsch und ungebräuchlich« beanstandet wurde, einigten sich die Ausschußmitglieder, die Frage weder zu

gierung haben midi betrübt, hätten mich bei Erzberger und Payer nicht verwundert . . . W i e glauben Sie, daß Bismarck gesagt hätte? >Kaiserliche Post, nicht Kaiserlich-deutsche Post< hörte ich ihn selbst befehlen . . . W a s er nicht wollte, war >ReichsregierungHier hat der Kaiser nichts zu sagenNach Außen hin begrenzt, im Innern unbegrenzt«. Der Geltungsanspruch des »Arbiter mundi« stützte sich auf die Gewißheit, daß der deutsche Kaiser durch geschichtlichen Auftrag dazu berufen sei, den Frieden zu sichern. Schon Anfang der neunziger Jahre hatte der Kaiser verkündet, das Deutsche Volk stehe »wie einst jener alte Götterheld Heimdali, wachend über den Frieden der Erde, am Tor des Tempels des Friedens nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt 55 .« Es konnte nicht ausbleiben, daß die verschwommene Weltreichsutopie Wilhelms II. auf viele Mißverständnisse stieß und bald als unerträgliche Heraus-

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Trinkspruch beim Festbankett am 18. 1. 1896, Reden, Bd. 2, S. 9 f. So in der Bremer Rede, Reden, Bd. 3, S. 242. Das von Eugen Richter zitierte Gegenbeispiel vom vorbildhaften römischen Weltreich (siehe oben S. 159) bei der Limesfeier auf der Saalburg w a r sicherlich vom genius loci inspiriert, zeigt aber auch das schwankende Urteil des Kaisers, der häufig seine eigenen Grundsätze wieder in den W i n d schlug. Reden, Bd. 3 , S. 2 1 (Bonn, 2 4 . 4 . 1901). V g l . Reden, Bd. 3, S. 98 (Görlitz, 29. 1 1 . 1 9 0 2 ) und S. 98 (Aachen, 19. 6. 1902) u. a. Ebd., in der Görlitzer und Aachener Rede. Das folgende Zitat aus der Bremer Rede, Reden, Bd. 3 , S. 242 (22. 3. 1905). Reden, Bd. 1, S. 250 ( 1 1 . 9. 1893), hierzu auch die Kritik Hardens: »HohenzollernWeltherrschaft«, in: Zukunft 5 1 (1905), S. 8. V g l . auch die Kaiserrede in Düsseldorf: »Ich wollte nur, der europäische Friede läge allein in Meiner Hand . . . « Reden, Bd. 1, S. 1 7 7 (4. 5 . 1 8 9 1 ) .

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forderung, bald als pazifistische Schwäche empfunden wurde. Bisweilen finden sidi beide Vorwürfe sogar bei ein und demselben Kritiker. Maximilian Harden warnte in der »Zukunft« vor dem Projekt eines »werdenden Weltkaiserreichs«. »Die Welt duldet Universalherrschaftspläne heute noch weniger als zur Zeit Bonapartes und gegen einen allerletzten Imperator würde sidi ein Völkerbund bilden, dem der Stärkste selbst machtlos unterliegen müßte58.« Andererseits vermißt er in der Bremer Rede des Kaisers über das Hohenzollernweltreich, das nach der Intention Wilhelms II. »vom Vertrauen der Völker als ein Sdhiedsgerichtshof göttlicher Institution anerkannt« werden sollte, die »kriegerische Kraft«, die allein einem »Imperium« Bestand verleihen könnte. Wilhelm II. träume noch einmal »den Traum aus Dantes Paradies, den Traum von einem in erhabener Gerechtigkeit alle menschlichen Geschäfte ordnenden Weltkaiserreich, auf dessen höchster, von Adlern umkreisten Spitze ein Friedensrichter der Menschheit thront«87. Der Einfluß der wilhelminischen Weltreichspläne auf die »Diplomatie der Weltpolitik«58 war gering. Deutschlands »Engagement auf dem ganzen Erdball«59 bot kaum das Bild friedlichen Wetteifers mit den anderen Nationen, sondern führte überall zu Konflikten mit den schon etablierten Weltmächten England und Rußland. Die französisch-russische Militärkonvention 1892, die Entente cordiale 1904, das englisch-russische Abkommen von 1907 brachten die Isolierung Deutschlands, das sidi seinerseits vergeblich bemühte, den Dreibund zu stärken und über den Umweg der Marokkopolitik die »Einkreisung« durdi das Ententesystem zu sprengen. Der Bau der Schlachtflotte brachte schließlich den unmittelbaren Gegensatz zu England. Welche Mission blieb da dem Kaisertum? Die Versuche Wilhelms II., sich als Beschützer für die Unabhängigkeit der Staaten gegen jeglichen Suprematsanspruch einzusetzen, verliefen wenig glücklich. Das Krügertelegramm von 1896, das dem Präsidenten der Burenrepublik anläßlich der erfolgreichen Abwehr des Jameson-Einfalls in Transvaal zur wiederhergestellten »Unabhängigkeit« seines Landes gratulierte80, erregte starke Verstimmung in England, ohne der deutschen Politik irgendwie zu nutzen. In Damaskus forderte der Kaiser die Engländer heraus, als er sich zum Schutzherrn von dreihundert Millionen Mohammedanern aufwarf 6 1 , und in Tanger provozierte er die Franzosen, als er den marokkanischen Sultan sehr betont als Herrscher eines freien und selbständigen, keiner fremden Souveränität unterworfenen Reiches anerkannte88. Die Bremer Rede des Kaisers, die zur Einleitung der Marokkopolitik von allen Weltherrschaftsplänen abgerückt war, und die beabsichtigte »Kulturmission«, »vermöge welcher mohammedanische Reiche der europäischen Kultur geöffnet und zugänglich gemacht

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Das deutsche Reidi, in: Zukunft 14 (1896), S. 105 und S. 108. Hohenzollern-Weltherrschaft, S. 7 f. 58 Fischer, Griff nadi der Weltmacht, S. 28. 5 » Ebd., S. 29. 60 Eydc, Das persönliche Regiment Wilhelms II., S. 134. 61 Ebd., S. 239 f. 82 Ebd., S. 39557

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werden« sollten6*, erschienen dem Ausland nur als Deckmantel einer aggressiven Expansionspolitik. Zeitweilig lief die von Holstein inspirierte offizielle Regierungspolitik Bülows den Ansichten des Kaisers entgegen, der schon gelegentlich der deutschenglischen Bündnisgespräche 1901 dem Londoner Botschafter, Graf Metternich, zu verstehen gab, er, der Kaiser, könne doch nicht immer zwischen Russen und Engländern schwanken; er würde sich dann schließlich zwischen zwei Stühle setzen*4. Solche Einsicht schloß nicht aus, daß er in den Londoner Verhandlungen als »Arbiter mundi« auftrat 65 und dem englischen Außenminister Lansdowne erklärte, die alte englische Politik der Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichts, wo der eine gegen den anderen ausgespielt würde, sei »exploded«. Darauf falle niemand mehr auf dem Kontinent herein. Die balance of power in Europa sei der deutsche Kaiser66. Um die gleiche Zeit machte Wilhelm II. dem französischen Botschafter in London, Paul Cambon, die erstaunliche Eröffnung, er wünsche sich ein starkes Frankreich, und wenn es Schwierigkeiten habe, könne es auf ihn rechnen; er werde ihm helfen. Cambon erwiderte kühl, Frankreich habe nur den einen Wunsch, in Frieden zu leben, und er hoffe, es werde niemals der Hilfe Seiner Majestät bedürfen67. Der riskanten Marokkopolitik Holsteins 1905/06, die selbst die Fortsetzung mit kriegerischen Mitteln nicht ausschloß, um Frankreich die politische Nutzlosigkeit der Entente vor Augen zu führen68, hat Wilhelm II. nur zögernd, gegen seine eigenen in diesem Falle besseren Einsichten zugestimmt6'. Der Kaiser suchte seinerseits auf friedlichem Weg den erstrebten Kontinentalblock zwischen Frankreich, Deutschland und Rußland herbeizuführen. Die dabei angewandte Diplomatie zeigt eine für Wilhelm II. typische Vermischung alter, längst überholter Ansichten mit den überspannten Ideen seiner Zeit, die immer stärker von einem rassenpolitischen Denken durchsetzt wurden. Der Beteuerung des nicht mehr geglaubten Gottesgnadentums entsprach die Vorstellung einer monarchischen Solidarität und dynastischen Politik nach außen, für die es angesichts der modernen Zeitströmungen in Europa keinen Raum mehr gab. Das nicht sehr erfolgreiche Werben um den russischen Zaren Nikolaus II., den Wilhelm II. immer wieder auf die »heilige Pflicht« hinwies, 83

So beschrieb Delbrück die Intentionen der Damaskus-Rede und der Marokkopolitik in der »Politischen Korrespondenz«, in: Preuß. Jahrb. 120 (1905), S. 383. 64 Eydc, Das persönliche Regiment Wilhelms II., S. 286. 68 Nach dem Ausspruch des Kaisers in London: »Jetzt bin ich der Arbiter mundi!« Der Ausdruck war von Bülow inspiriert worden, vgl. das Telegramm v. 24. 8. 1898, Eydc, S. 228 und S. 286. 66 Eydc, S. 285 f. 67 Ebd., S. 286. Auf die Vorstellung vom »Arbiter mundi« führte Cambon auch nach Algeciras die Nervosität Wilhelms II. zurück. In einem Gespräch mit dem englischen König meinte Cambon, der Kaiser fürchte, die Rolle des obersten Schiedsrichters in Europa einzubüßen. »Gewiß«, erwiderte Eduard V I I . ironisch, »er liebt es sehr, daß man von ihm spricht. E r ist enttäuscht, daß wir uns ohne seine Erlaubnis und sein Zutun verständigt haben. E r fühlt sich isoliert.« (Eydc, S. 383.) 48 Nach Fischer w a r es Holsteins Ziel, Frankreich mit Gewalt aus der Entente zu lösen (Griff nach der Weltmacht, S. 29). '» Eydc, S. 392.

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den Grundsatz von »Gottes Gnaden« gegen die französische Republik zu verteidigen70, konnte keinen Ausgleich zur Ententepolitik schaffen. Das von der russischen Regierung abgelehnte Verteidigungsbündnis von Bjoerkoe (1905), das Wilhelm II. persönlich mit dem Zaren abgeschlossen hatte, bewies endgültig, daß das Zeitalter dynastischer Außenpolitik vorbei war. Ebenso scheiterte 1912/15 die Hohenzollernsdie Familienpolitik auf dem Balkan 71 . Phantasterei und politisches Kalkül mischten sich auf eigenartige Weise in dem Versuch, die Friedenswächterrolle des deutschen Kaisers durch eine allen Kontinentalmächten gemeinsame europäische Parole zu unterstützen. Wilhelm II. verfiel auf die fixe Idee, Europa werde von der »gelben Gefahr« Asiens bedroht. Während des chinesisch-japanischen Krieges entwarf er ein allegorisches Gemälde, das den Erzengel Michael, den Patron der Deutschen, als Schützer und Mahner einer Gruppe Frauen in Walkürenrüstung darstellte. Die Heroinnen sollten die europäischen Nationen symbolisieren, die dem Ansturm der Asiaten bewaffnet entgegensahen. »Völker Europas,bewahrt Eure heiligsten Güter!«, lautete der bekannte Wahlspruch. Wilhelm II. übersandte die Zeichnung an Monarchen und Staatsoberhäupter, auch an deutsche Staatsmänner wie Bismarck und Kiderlen-Waechter; Moltke überreichte sie dem Zaren; in Heliogravüren der deutschen Reichsanstalt wurde sie der deutschen Öffentlichkeit bekanntgemacht71. Um die gleiche Zeit verbreitete die französische Zeitung »La Patrie«, der Kaiser habe in einer Besprechung mit Herbette eine Karte vorgelegt, welche die künftige Gestaltung Europas veranschaulichte: Rußland, Frankreich und Deutschland teilten »als Wächter des ewigen Friedens« das Festland untereinander - ein Symbol des Kontinentalblockgedankens7®. Nach Ausbruch des russisch-japanischen Krieges feierte Wilhelm II. den Zaren als Vorkämpfer in einem Kreuzzug für die weiße Rasse, die England durch sein Bündnis mit Japan (1902) verraten habe. In phantastischer Erweiterung der Perspektiven zog er zugleich Amerika in die Kombination der Rassenkämpfe mit ein. Er bestürmte Roosevelt mit »Tatarennadirichten« über eine angebliche englisch-japanische Verschwörung gegen Amerika, die so verworren klang, daß der Präsident ernsthafte Bedenken über die Geistesverfassung des Kaisers äußerte74. In Wirklichkeit sah Wilhelm II. im Schlagwort der gelben Gefahr lediglich ein propagandistisches Experiment, dessen Inhalt beliebig auswechselbar war78. Bei veränderter Situation stellte er seine eigenen Bündnisvorschläge wieder auf den Kopf und sprach von einer Liga zwischen Deutschland, Amerika und Japan als Gegengewicht zur russisdi-französisch-

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Briefe Wilhelms II. an den Zaren 1894-1914, hrsg. von Walter Goetz, z. B. S. 24 ff. (Brief vom 25. 10. 1895). 71 Fischer, S. 53. " H e i n z Gollwitzer, Die gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagwortes. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962, S. 206 ff. 73 Darüber: Bjönstjerne Björnson, Zukunftsbilder, in: Zukunft 14 (1896), S. 314. " H o w a r d Beale, Theodor Roosevelt, Wilhelm II. und die deutsch-amerikanischen Beziehungen, in: Welt als Geschichte 1 5 (1955), S. 183 ff. 76 Dazu Gollwitzer, S. 218.

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englischen Gruppierung 7 *. Noch im Oktober 1 9 1 8 entwarf der Kaiser in seinen kühnen Zukunftsbildern Pläne für eine Verständigung mit Japan und sogar England, um Europa von den Amerikanern zu befreien 77 . Die rassenpolitisdien Tendenzen verschärften sich mit dem wachsenden Pessimismus über die Stellung Deutschlands in Europa 78 . Nach Algeciras sprach der Kaiser von den »jämmerlichen verkommenen lateinischen V ö l kern«7*, und zur Zeit der Balkankrisen prophezeite er den unausweichlichen »Endkampf der Slaven und Germanen« 80 - ein Schlagwort, das in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auch in diplomatischen und militärischen Kreisen kursierte81. Um dem Drude zu begegnen, gab Wilhelm II. abermals eine neue Parole aus: »Daher Zusammenschluß der Germanen und Angelsachsen mit evtl. den Galliern 88 !« Die aufgeführten Beispiele, die eins dem anderen widersprechen, lassen es zweifelhaft erscheinen, ob Marginalien und Äußerungen des Kaisers als zureichende historische Quelle betrachtet werden können, wie es in der jüngsten Diskussion über die Kriegszielpolitik 1 9 1 4 / 1 8 mehrfach wieder geschah. Viele der weltpolitischen Spekulationen, die Wilhelm II. ersann, geben eher ein Beispiel für die als Realpolitik empfundene überreizte Ideenwelt des Imperialismus als für eine gradlinig in den Ersten Weltkrieg mündende Hegemonialpolitik mit festen Annexions- und wirtschaftspolitischen Zielen 88 . Die gelegentlich auftrumpfenden Aussprüche des Kaisers, die für seine zwischen Depression und Euphorie schwankende Stimmung bezeichnend sind, liefern noch keinen »ein78

Vgl. zu dieser »Liga«, G P 19, Nr. 6095, S. 272 (14. 2.1905). Vgl. audi die Pläne um die sog. Zimmermanndepesche 1917, die eine Zusammenarbeit Mexikos, Japans und Deutschlands vorsahen, Gollwitzer, S. 218. 77 Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marine-Kabinetts Admiral Georg Alexander von Müller 1914-1918, hrsg. von Walter Görlitz, Göttingen 1959, S. 441 (29. 10. 1918). 78 Vgl. die Zusammenstellung der rassenpolitischen Ideen bei Lydia Franke, Die Randbemerkungen Wilhelms II. in den Akten der auswärtigen Politik als historische und psychologische Quelle. Sammlung Heitz, Reihe 5, Bd. 1, Leipzig, Straßburg und Zürich 1934, S. 86 ff. 78 G P 21, Nr. 7082, S. 268 (9. 3.1906). 80 Dazu Franke, S. 92, und Fischer, S. 40 f. 81 So gebrauchte Pourtalis, der deutsche Botschafter in Petersburg, das Schlagwort vom »großen Kampf zwischen Slaventum und Germanentum«. Der Kaiser kommentierte: »Wie werden sich die Gelben freuen!« (GP 26, Nr. 9501, S. 737 [1.4. 1909].) Gleichfalls Moltke, vgl. Fischer, S. 41. 81 G P 26, S. 568 (2. 3 . 1909). 84 Nach den Thesen Fischers über die Kriegszielpolitik 1914/1918. Bei Fischer erscheint der »Gedanke des unvermeidlichen Rassenkampfes« als Beleg für den »unvermeidlichen Krieg« (S. 41). Rathenaus Notiz zu einer Unterredung mit dem Kaiser über die amerikanischen Hochschutzzoll-Repressalien »Sein Plan, Vereinigte Staaten von Europa gegen Amerika« soll die Bereitschaft Wilhelms II. zum mitteleuropäischen Wirtschaftsverein beweisen (S. 36); mit den Marginalien zum Telegramm des deutschen Botschafters in Petersburg, Graf Pourtalis, vom 30. 7 . 1 9 1 4 , stützt Fischer wesentlich seine Interpretation der Julikrise. Zustimmend zu Fischers Bewertung der Marginalien: Fritz T. Epstein, Die deutsche Ostpolitik im ersten Weltkrieg, in: Deutsche Kriegsziele 1914-1918, hrsg. von Ernst W. Graf Lynar, Berlin 1964, S. 164 f. 84 Fischer, S. 34.

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deutigen« Beleg für seine Kriegsbereitschaft, etwa: »Meine und des deutschen Volkes Geduld ist zu Ende« am 5. März 1911 zur Haldane-Mission 84 oder 1907 zu einem Bericht über die bedrohliche Konkurrenz Frankreichs auf dem Orient: »Das sind vitale Interessen, bei deren Verteidigung es aufs Ganze geht. Dafür sdilage ich midi eventuell 85 !« Das von Gefühlspolitik stark beeinflußte Verhältnis des Kaisers zu England 86 läßt es vollends fraglich erscheinen, ob Wilhelm II. tatsächlich für den Kriegsfall auf die Karte der englischen Neutralität setzte87. Die Gefahr einer imperialen Übersteigerung seines Kaisertums hat Wilhelm II. wenigstens zeitweilig klar erkannt. Der Ausbruch des Krieges besiegelte auch das Scheitern seiner Mission als friedenstiftender »Arbiter mundi«. »Leichtsinn und Schwäche sollen die Welt in den furchtbarsten Krieg stürzen, der auf den Untergang Deutschlands schließlich abzielt«, schrieb er am 50. Juli 1914 und »Mein Amt ist aus!«88. Je mehr der Einfluß des Kaisers auf den Gang der Ereignisse schwand, desto stärker podite er auf die Grundlagen seiner Macht: auf die Kommandogewalt und Militärhoheit. Die gesteigerte Unruhe bei Herannahen des Weltkrieges schlug sidi immer häufiger in Wendungen nieder wie: » . . . ich verlange, daß in Zukunft . . . kein Schritt ohne midi getan wird« 89 , und: Grey - der englische Außenminister — hat wohl keine Ahnung »wer hier eigentlich Herr ist und daß ich herrsche90«, nämlich »als Kaiser und oberster Kriegsherr - in Vertretung der Wehrhaftigkeit und Verteidigungsfähigkeit meines Volkes 91 «. Da die politischen Erfolge der »Weltpolitik«, gemessen am Geltungsanspruch, ausblieben, konzentrierten sich die Hoffnungen vor allem auf die deutsche Flotte, als deren Protektor und Förderer Wilhelm II. dem Kaisertum die größte Popularität seit 1871 zu verschaffen wußte. Die Flotte sollte den deutschen Handel schützen, Gleichberechtigung, »Bündnisfähigkeit« und Freundschaft Fischer, S. 57, ähnlich zu Conrad, dem österreichisch-ungarischen Generalstabsdief 1913, ebd., S. 51. Für die These, Wilhelm II. habe sein Regierungsjubiläum 1913 zur »propagandistischen Mobilisierung« des Volkes für den Krieg benutzt, liefert Fischer keinen Beleg, vgl. S. 42. 88 Vgl. die Marginalien über Eduard VII. bei Franke, S. 70 ff. 87 Fischer, S. 57 f. Zur Widersprüchlidikeit der Bündnispläne mit England vgl. etwa Theodor Sdiiemanns Tagebucheintragungen von 1910: 14. 6. 1910: »Der Kaiser tritt für die deutsdi-amerikanisdi-englisdie Verständigung ein . . . « Juni und Juli 1910: »Allianz mit Rußland gegen England.« 5.8. 1910: » . . . mit England gegen das mit Japan verbündete Rußland . . . « 30. 10.1910: »Als ich sagte, ich sei überzeugt, daß England zu einem Angriffskrieg gegen uns entschlossen sei, sagte S. M. mit großer Bestimmtheit: Sie werden niemals einen Krieg gegen uns führen, sie fürchten sich.« (Hervorh. v. Verf.) Klaus Meyer, Theodor Schiemann als politischer Publizist, Frankfurt a. M., Hamburg 1956, S. 254. 88 Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914, Bd. 2, Nr. 401, S. 120 und Nr. 390, S. 111. (Die Schlußbemerkung stammt aus einem Kommentar zum Brief des Zaren vom 30. 7. 1914: »Ich kann midi nicht auf Mediation mehr einlassen, da der Zar der sie angriff zugleich heimlich mobil gemacht hat, hinter meinem Rücken. Es ist nur ein Manöver, um uns hinzuhalten und den sdion gewonnenen Vorsprung zu vergrößern. Mein Amt ist aus!«) 89 G P 31, N r . 11383, S. 153 (Telegramm an Bethmann Hollweg, 4. 3. 1912). 90 G P 31, N r . 11403, S. 183 (17. 3.1912). 91 G P 31, N r . 11 422, S. 208 (28. 3.1912).

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mit England erzwingen und dadurdi Deutschland eine ausschlaggebende Stellung im Machtverhältnis der Großmächte sichern. Die Flottenpropaganda verknüpfte sich von Anfang an eng mit dem Kaiserund Reichsgedanken. Auch hier war es das Jubiläumsjahr 1896, das Wilhelm II. zu einer ersten Initiative inspirierte. Hohenlohe berichtete Mitte Januar dem Kaiser, er habe bei den Reidistagsfraktionen vorgefühlt, ob sie bereit seien »in patriotischem Aufschwung und in Erinnerung an die vor 25 Jahren erfolgte Begründung des deutschen Reiches«*® einer Flottenvorlage zuzustimmen. Bei der zweiten Lesung des Marineetats 1897 verkündete er dann im Reichstag: »Die Flotte ist das Ergebnis der politischen Entwicklung Deutschlands. Die Gründung des Reiches mußte die Schaffung einer Flotte zur Folge haben*®.« Auch Tirpitz berief sich, als er dem Kaiser 1898 seine Vorschläge unterbreitete, auf die Reichsgründungsfeier und Wilhelms II. Festrede: »Eure Majestät haben bei der Erinnerungsfeier der Neubegründung des deutschen Reiches am 18. Januar 1896 das deutsche Volk darauf hingewiesen, daß aus dem deutschen Reich ein Weltreich geworden i s t . . .*4.« Die Flottenrüstung war freilich ein allgemeines Phänomen des Imperialismus, und die Tirpitzsche Konzeption vom modernen Seekrieg stimmte mit den Gedanken Mahans in Amerika und Fishers in England überein. Grundsatz des neuen ^.yalismus war die kriegsgeschichtlich begründete These Mahans, daß Weltmacht Herrschaft über die Meere bedeute. Nichts hat darum den Kaiser der Nation so fortschrittlich erscheinen lassen, wie seine moderne Aufgeschlossenheit für die neue Kriegsflotte. Zudem kam es den spezifisch deutschen Verhältnissen zugute, daß die »Kaiserliche Marine« anders als das Heer zu den Reichsinstitutionen zählte und sich schon durch ihre Entstehungsgeschichte, besonders in Erinnerung an 1848, zum Nationalsymbol geradezu anbot. Bülows propagandistischem Geschick gelang es in einer Rede, den Flottengedanken fast mit allen historisch wichtigen Daten der deutschen Einheitsbewegung zu verknüpfen: »Der erste Antrag auf Ausrüstung eines deutschen Kriegsschiffes wurde gestellt in Baden in demselben Jahr 1817, wo die Wartburgfeier stattfand. Als 1840 das Lied vom freien deutschen Rhein ertönte, trat der Vorkämpfer für deutsche Seemacht, Friedrich List, in die publizistischen Schranken. 1848 flammte der Einheits- und Flottengedanke gleichzeitig auf . . . Im Jahre 1867 wurden gleichzeitig der Norddeutsche Reichstag und die norddeutsche Marine geboren, die sich vier Jahre später in den Deutschen Reichstag und die deutsche Flotte verwandelten. Sie sehen also, daß im Grunde der Reichstag und die Flotte Geschwister sind*".« In Verbindung mit dem Kaisergedanken rückte die Flotte trotz ihrer Modernität in eine romantische Beleuchtung. Die alte Hanseherrlichkeit wurde erneut beschworen, die neben der Kyffhäusersage das romantische Mittelalterbild des 19. Jahrhunderts bestimmt hatte. Auch hier galt es nun, das alte 82

Hohenlohe an den Kaiser, 14. 1. 1896, Entwurf in den »Denkwürdigkeiten«, S. 157. »s Ebd., S. 520. M Tirpitz an den Kaiser, 24.4. 1898, Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, S. 441. *5 Rede bei der Taufe des Schnelldampfers »Deutschland« (10. 1. 1900). Reden, Bd. 1, S. 136.

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Kaisertum zu übertreffen und sein »Versagen« wettzumachen. Die Hanse, so heißt es in vielen Kaiserreden, mußte zerfallen, weil ihr »die belebende und schützende Kraft des Kaisertums«" fehlte: »Jetzt ist es anders geworden, die erste Vorbedingung: das Deutsche Reich ist geschaffen, die zweite Vorbedingung: der deutsche Handel blüht und entwickelt sich . . ,'7.« So lautet schließlich die deutsche Variante der Mahanschen These: »Reichsgewalt bedeutet Seegewalt, und Seegewalt und Reichsgewalt bedingen sich gegenseitig, so daß die eine ohne die andere nicht bestehen kann' 8 .« In der populären Historiographie und Flottenpublizistik wurde unter diesem Gesichtspunkt das Geschichtsbild der borussisdien Geschichtsschreibung abermals variiert. Karl der Große und Heinrich VI. erschienen als Vertreter des »universalmonarchischen Gedankens nicht nur zu Lande, sondern auch zur See«89; das Verhältnis der Hanse zum Kaisertum wurde untersucht und schließlich die Bedeutung Preußens für die wiedererrichtete Reichs- und Seegewalt gewürdigt, vor allem unter dem Großen Kurfürsten, der bereits den Seehandel und maritime Unternehmungen »klug« und »weitsichtig« gefördert habe100. Die Lehre aus der Geschichte sollte den wilhelminischen Weltreichsgedanken bestätigen, nämlich die »Erhaltung der Friedenspolitik in Mitteleuropa«, »denn Deutschland tritt nicht auf mit Prätentionen der Universalmonarchie, wohl aber mit dem Willen zu einem Condominium maris, bei welchem sein Wort und Wille nicht minder sorgfältig beachtet wird, als das Verlangen irgendeiner Nation, deren Weg auf die Mitbenutzung der See gewiesen ist. Nachdem eine starke Flotte geschaffen, kann diese ein wertvoller Bundesgenosse in jener internationalen Hanse der Zukunft sein, welche allein die Gewähr bieten wird, daß die von unserer Zeit erstrebten Fortschritte des Völkerrechts zu einem gesicherten Schutz der Nationen und das alte Ideal des Holländers Grotius vom >mare liberum< zu einer unerschütterlichen Wahrheit werden101.« Nirgends hat Wilhelm II. seinen persönlichen Einsatz so weit vorangetrieben wie in der Flottenpolitik. Er definierte die Flottenrüstung als eine »Frage von Sein oder Nichtsein« für das deutsche Reich und verglich seine kaiserliche Aufgabe mit der Wilhelms I. im preußischen Verfassungskonflikt: »In dieser Frage gibt es für Mich ebensowenig ein Zurück wie für Meinen hochseligen M

Rede bei der Regatta auf der Unterelbe, 18. 6. 1901, Reden, Bd. 3, S. 33. Audi Bülow pries in diesem Sinne das Kaisertum als Rückhalt der Flotte: Reden, Bd. 1, S- 133"Abschiedsrede für Prinz Heinrich vor der Ostasienexpedition, 15. 12. 1897, Reden, Bd. 2, S. 79. Vgl. Rede vom 11. 8.1899, Reden, Bd. 2, S. 161. • 8 Reden, Bd. 2, S. 79. •• Ernst von Halle, Die Seemacht in der deutschen Geschichte, Leipzig 1907, S. 15. Im Anschluß an Ranke wurde der Niedergang des Karolingischen Reiches damit begründet, »daß ihm die Hälfte der Madit, die Seemacht, fehlte«. So Delbrück in der »Politischen Korrespondenz«, in: Preuß. Jahrb. 83 (1896), S. 403. 100 Georg Wislicenus, Deutschlands Seemacht sonst und jetzt, 2. Aufl., Leipzig 1901, S. 74. Die Darstellung des Kapitänleutnants Wislicenus fand die besondere Zustimmung des Kaisers, der das Buch für die Schuljugend bestimmte und bei besonderen Anlässen verteilen ließ. Ähnlich Halle, S. 57 ff., und Dietrich Schäfer, Deutschland zur See. Eine historisdipolitische Betrachtung, Jena 1897, ebd., weitere Literatur. 101 Halle, S. 14g.

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Herrn Großvater in der Frage der Armee-Reorganisation 101 .« Auf Eingriffe in das »Kaiserliche Hoheitsrecht des Oberbefehls über die Kriegsmarine« reagierte Wilhelm II. besonders empfindlich; sogar die bis 1908 selbständige Agitation des Flottenvereins, die allerdings unter der Leitung von General Keim über die von Tirpitz gesetzten Ziele hinausging, hat er hauptsächlich aus diesem Grunde abgelehnt104. Der Flottenverein wurde dann der staatlichen Aufsicht des Reichsmarineamts unterstellt. Mochte die ausschlaggebende Rolle in den kaiserlichen Flottenplänen dem agitatorisch geschickten und technisch hochbegabten Staatssekretär des Reidismarineamts Tirpitz zufallen - vor der Öffentlichkeit galt doch Wilhelm II. als »Flottenkaiser« schlechthin. 1900 schrieb Hans Delbrück in den »Preußischen Jahrbüchern«: »Ganz allein seiner impulsiven Kraft verdankt Deutschland die Erhebung zur Seemacht und den Übergang von der Kontinentalpolitik zur Weltpolitik104.« Selbst in kritischen Kommentaren zur Diplomatie Wilhelms II. wurde daran festgehalten, »der Kaiser habe eben doch die neue Phase der Weltpolitik inauguriert, und die Unvollkommenheiten und die Unsicherheit rührten eben von der Neuheit der Ideen und Ziele her«105. Dem rückblickenden Historiker freilich wird die Geschichte der deutschen Flotte zur »Tragödie der Lieblingsillusion eines machtvoll aufstrebenden Volkes«106, das sich über die Grenzen des Erreichbaren verhängnisvoll täuschte. Der Tirpitzsche Risikogedanke, der die englische Abwehrkraft besonders nach der Ententepolitik weit unterschätzte, führte lediglich in den circulus vitiosus des Wettrüstens. Englands Gegnerschaft und das Fiasko der deutschen Flotte im Ersten Weltkrieg bewiesen, daß auch hier der kaiserliche Einsatz verspielt war. Stärker als die Flotte blieb das Herr zunächst noch der altpreußisch-konservativen Tradition verhaftet, schon weil es strittig war, ob die Reichsverfassung ein einheitliches Reichsheer überhaupt kannte. Sie sprach zwar vom »Kriegswesen des Reichs« (Art. 58), vom »deutschen Heer« (Art. 60, 61, 62, 65) und »einheitlichen Heer« (Art. 63,1), sogar vom »Reichsheer« (Art. 63,4), aber andererseits finden sich Wendungen wie »preußisches Heer« (Art. 63,3) und gliedstaatliche »Kontingente« (Art. 63, 64), für die der Ausdruck »Reichsheer« nur als Kollektivbezeichnung gelten konnte107. Laband vertrat darum die vorherrschende Auffassung: »Es gibt kein Heer des Reiches, sondern nur Kontin108

Telegramm an Hohenlohe vom 29. 1 1 . 1899, Denkwürdigkeiten, S. 547. Schon i8g7 hatte der Kaiser Hohenlohe vorgeschlagen, die Flotte ohne Reichstag zu bauen und die Rechnung demselben später vorzulegen, worauf ihn Hohenlohe auf den Unterschied zwischen dem Preußen von 1862 und der deutschen Reichsverfassung aufmerksam machen mußte. Vgl. das Journal Hohenlohes vom 7.3. 1897, Denkwürdigkeiten, S. 31 x. 10 * Varnbüler, württemb. Gesandter in Berlin, an Staatsminister von Soden, 23. 5. 1905, Bericht über Konflikte zwischen Wilhelm II. und dem Präsidium des Flottenvereins, Württ. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 46-48, Nr. 328. 114 In: Preuß. Jahrb. 101 (1900), S. 567. 105 So Miquel in einem Gespräch mit der Baronin Spitzemberg, die zustimmte. Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, S. 399 (9.7. 1900). 100 Herzfeld, Die moderne Welt, Teil 2, S. 38. 107 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 992 ff.

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gente der Einzelstaaten« 108 , während sich z.B. Haenel vergeblidi auf die gegenteiligen Artikel der Verfassung berief 10 ®. Wilhelm I. hatte sich 1871 ausdrücklich ein »Kaiserliches Heer« verbeten, da er seine preußische Armee davor bewahren wollte, »daß die Truppen gar >deutsche< Namen und Bezeichnungen sidi gefallen lassen müßten« 110 . Seitdem hatte sich die starre Entgegensetzung von preußisch und deutsch, konservativ und national weitgehend aufgelockert. Mit dem Wandel des Nationalbegriffs, der in den Machtstaatsgedanken eingeschmolzen wurde, näherten sich preußisches und nationalstaatliches Denken 111 . Auch Bismarck verteidigte 1887 im Reichstag den Ausdruck »Kaiserliches Heer« gegen die verfassungsrechtlichen Bedenken Windthorsts, allerdings nur »der sprachlichen Kürze wegen« 1 ". Wilhelm II. nannte die Armee eine »nationale Einrichtung« und eine »großartige Schule zur Erziehung unserer Jugend im nationalen Sinne« 11 '. Mit dem Blute der Armee sei der deutsche Bund gekittet und das Heer »ein Feld, auf dem Deutschlands Macht und Größe ruht« 114 . Die Einführung der deutschen Kokarde zum hundertjährigen Geburtstag Wilhelms I. zeigt, daß seinem Enkel der Wunsch eines kaiserlichen Heeres nicht mehr so fern lag, obgleich er sich des Wandels der Auffassungen wenig bewußt war, so daß er auch hier ein traditionelles Anliegen vorzutragen glaubte. Nach dem üblichen panegyrischen Lob auf Wilhelm I. heißt es in dem Erlaß »An Mein Heer«: » . . . die auf Frankreichs Schlachtfeldern mit Strömen von Heldenblut besiegelte Waffenbrüderschaft der deutschen Heere ward der Eckstein des neuen Reiches, des die Fürsten und Völker Deutschlands unauflöslich umschließenden B u n d e s . . . Eine besondere Weihe will Ich diesem Jubeltage dadurch geben, daß Mein Heer von nun an auch die Farben des gemeinsamen Vaterlandes anlegt; das Wahrzeichen der errungenen Einheit, die deutsche Kokarde . . . 113 .« Die altpreußischen Konservativen 1 1 0 und die deutschen Fürsten 117 , besonders der Prinzregent von Bayern 1 1 8 , gaben allerdings ihre föderalistischen Vor108

Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 4, S. 5. Haenel, Deutsches Staatsrecht, Bd. 1, Leipzig 1892, S. 494£F. Weitere Literatur und Darstellung der Kontroverse: A. Arndt, Der Rechtscharakter des deutschen Heeres, in: Preuß. Jahrb. 109 (1902), S. 253 ff. 110 Kaiser Friedrich III., Kriegstagebuch, S. 337 (17. 1. 1871). 111 Schieder, Das Deutsche Kaiserreich, S. 12 f. 111 Reichstagsrede vom 12. 1. 1887, GW Bd. 13, S. 237. 11S Reden, Bd. 3, S. 162 (29. 5. 1903, in Döberitz). 114 Erlaß an das Heer (1. 1.1900), Reden, Bd. 2, S. 185. 115 Reden, Bd. 2, S. 42 (22. 3. 1897). 116 Brief Hutten-Czapskis an Hohenlohe: »Die Einführung der deutschen Kokarde ist wohl die einschneidendste Maßregel, welche seit 1870 auf militärisch-politischem Gebiet getroffen worden ist. In sogenannten >altpreußischen< Kreisen gefällt sie nicht, doch bin ich überzeugt, daß sie eine ausgezeichnete Wirkung haben wird.« (22.3.1897), Bogdan Graf v. Hutten-Czapski, Sechzig Jahre Politik und Gesellschaft, Bd. 1, Berlin 1936, S. 315. 117 Ygj. etwa die Verärgerung der badisdien Regierung über die eigenmächtige Ordre des preußischen Kriegsministers, Brauer an Jagemann, 5. 3. 1897, Generallandesarchiv Karlsruhe 49, Nr. 2030. 118 Vgl d a s Journal Hohenlohes: »Über die Kokarde war er (der Prinzregent von Bayern) wenig erbaut und sagte, dies sei seine letzte Konzession an das Reidi«, Denkwürdigkeiten, S. 321 (24. 3. 1897). m

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behalte nur ungern auf. Sdion 1894 bei der Einführung der Schützenabzeichen und Feldbinden war es zu Spannungen gekommen, weil Bayern die Landesfarben befürwortete" 9 . Er wolle »aus bundesfreundlicher Rücksicht dieses Opfer bringen«, ließ Luitpold dem Kaiser über die Kokarde melden, aber er hoffe, daß »weitere Zumutungen« nicht gestellt würden180. Audi Bayern mußte sich der Tatsache beugen, daß die Armee mit dem Kaisertum längst zu einem Integrationsfaktor des Nationalstaats geworden war. Trotz der Proteste und der »Berge von Akten«, die über dieses Thema entstanden, so schrieb der Diplomat Hutten Czapski, dauerte es gar nicht lange, »da waren die schwarzweißroten Kokarden über die Landeskokarde eine Selbstverständlichkeit und ein Imponderabile des Reichsgedankens, das nicht zu missen war« 141 . Der Kaiser konnte mit der für ihn typischen Vermischung preußischer Tradition mit nationalem Denken sogar behaupten: »Nicht die verschiedenen Einrichtungen sind es, die Konstitution, die öffentliche Meinung, die den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Teilen des Reiches bilden und dessen Kraft verbürgen, sondern das Heer ist es 12i .« Die nationale Verbundenheit, die der Kaiser als »oberster Kriegsherr« personifizierte 1 ", entschied schließlich auch über die Begriffe des Staatsrechts. Anläßlich der Chinaexpedition forderte der badische Jurist Otto Bielefeld 1901 in seiner Studie »Das Kaiserliche Heer« die Einführung des Reichsheeres und des Reichskriegsamtes, weil die Verfassungsentwicklung in Deutschland diesen Schritt dringend erfordere. Er tadelte das Streben nach »partikularistischem Sonderruhm« und die »Verkennung der staatsrechtlichen Verhältnisse« mit dem bezeichnenden Argument: »Das deutsche Einheitsgefühl geht sogar über die Verfassung hinaus: Der Kaiser erscheint Millionen von Volksgenossen, besonders im warmherzigen Süden, als der Monarch aller Deutschen124.« Aufs engste verknüpfte sich das Prestige der Nation mit dem Kaisertum selbst. Für den persönlichen Einfluß Wilhelms II. auf die Außenpolitik galt allerdings dasselbe wie im Innern des Reiches. Die anspruchsvolle u

* Typische Argumentation des Kaisers in der Unterredung mit dem bayerischen Militärbevollmächtigten Ritter von Haag: »Ein besonderer politischer Charakter« sollte damit nicht verbunden werden, aber, so fährt er fort, »es wäre mir lieb gewesen, wenn man auf Meinen Wunsch eingegangen wäre«, »übrigens sind wir j a doch Deutsche und brauchen uns nicht zu schämen, unsere Farben zu tragen«. (Bericht vom 3. 5. 1894, München, Kriegsardiiv, M. K. 43.) 120 Anweisung über den Frhr. von Zoller an den Kriegsminister Frhr. von Asch, a8. I i . 1896, München, Kriegsarchiv, Mkr. 5091. m Hutten-Czapski, Sechzig Jahre Politik und Gesellschaft, Bd. 1, S. 315. 111 Reden, Bd. 2, S. 41. m H a n s Delbrüdc, Der oberste Kriegsherr, in: Preuß. Jahrb. 152 (1913), S. 209 £f. Vgl. auch Hermann Rehm, Oberbefehl und Staatsrecht, Straßburg 1913, S. 4. 1X4 Otto Bielefeld, Das Kaiserliche Heer, Studie zur Geschichte der Verfassungsentwicklung in Deutschland, in: Archiv f. öffentl. Recht 16 (1901), S. 305. Ähnlich die Argumentation Arndts: » . . . das Heer ist die Schule der ganzen Nation für den Krieg, es kann aber, auch für Bayern, keinen anderen Krieg geben, als einen Reidiskrieg; in diesem stehen alle deutschen Truppen für einander ein unter einem Oberbefehl, dem des Kaisers. Und so laßt uns sagen und so es behaupten, wenn audi an der Militärgesetzgebung alle deutschen Staaten, an der Ausübung der Reichs-Militärverwaltung alle Königreiche, aus eigenem Rechte Anteil haben, so

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Behauptung in einem Sdireiben an Eduard VII.: »I am the sole arbiter and master (sie!) German Foreign Policy; the Government and Country must follow me«123, wurde kaum realisiert; vielmehr suchten die Minister die plötzlichen Initiativen und Eingriffe des Kaisers in die Außenpolitik möglichst abzufangen. Andererseits brachten es aber Prestigepolitik und Rücksicht auf die öffentliche Meinung mit sich, daß das Kaisertum auch wiederum vom Auswärtigen Amt bewußt in Szene gesetzt wurde. Auch Bülow nannte die Chinaexpedition eine »nationale Ehrensache von Kaiser und Reich«"®. Besonders in der Türkei wußte man das persönliche Prestige des Kaisers geschickt auszuspielen. Um einem eventuellen Einspruch Englands gegen das Projekt der Bagdadbahn vorzugreifen, ließ der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Marschall, 1893 in London erklären, der Kaiser habe sich auf Wunsch des Sultans persönlich für den Bahnbau eingesetzt, und eine Nichterteilung der Konzession bedeute »eine Bloßstellung der Person Sr. Majestät« 127 . Gleichzeitig warnte der Botschafter in Konstantinopel, Fürst Radolin, den Sultan vor einer »Beleidigung des Kaisers«188. Stärker noch spielten solche Beweggründe in der Marokkopolitik eine Rolle. Die »Scheu« vor der »unerschrockenen Tatkraft« des Kaisers, so schrieb damals Bülow über die verzögerte Tangerlandung an den deutschen Gesandten in Lissabon, sei bisher ein Hauptfaktor für die »friedliche Erhaltung der Machtstellung Deutschlands« gewesen: »Wenn das Prestige der allerhöchsten Person litte, würde das Benehmen des Auslandes uns gegenüber ein anderes werden .. .12*.« Bülow erreichte allerdings, anders als er es selbst erwartet hatte, eben dieses Resultat. Die Prestigeniederlage von Algeciras schädigte das kaiserliche Ansehen nicht nur im Ausland, sondern auch in der öffentlichen Meinung Deutschlands. Es lag nahe, den Mißerfolg mit der unmittelbaren Beteiligung des Kaisers zu identifizieren und die Schuld dem dynastischen Einfluß oder aber der Eitelkeit des Monarchen zuzuschreiben, der zwar den Schein der Macht liebe, aber vor den Konsequenzen zurückweiche. Die zweite Marokkokrise, die mit den hitzigen Reichstagsdebatten im November 1 9 1 1 und der heftigen Opposition der Alldeutschen, des Flottenvereins und der Kolonialgesellschaft endete, bestärkte diesen Eindruck, so daß man wohl überspitzt gesagt hat, es habe sich damals gegen das Nachgeben des Kaisers »etwas wie eine nationale Revolution«130 erhoben. Die Folge war, daß der Blick für die wirklichen Fehler der Außenpolitik sich weitgehend trübte. In seiner Abrechnung mit dem persönlichen Regiment

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haben wir doch, wie ein Deutsches Reich, keinen bloß völkerrechtlichen Verein, einen Bundesstaat und keinen bloßen Bund, ein Deutsches Reich mit eigener Rechtspersönlichkeit, eigener Verfassung, eigener Gesetzgebung, eigener Verwaltung, so auch ein einheitliches, nicht bloß durch politische und militärische, sondern zugleich durch Rechtsbande jetzt und immerdar unauflöslich zusammengeschmiedetes deutsches Reichsheer.« (Der Rechtscharakter des deutschen Heeres, S. 285.)

GP »» GP 127 GP 128 GP »» GP 1S0

17, Nr. 5029, S. 1 1 1 (30. 12. 1901). 16, Nr. 4570, S. 55 (16. 7- 1900). 14, Nr. 3965, S. 452 (6-1.1893). 14, Nr. 3970, S. 459 (9. 1. 1893). 20,1, Nr. 6583, S. 282 (29. 3.1905).

Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 33.

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beschrieb Max Weber 1917 in einer Artikelfolge der Frankfurter Zeitung im Grunde die Folgen einer verfehlten Prestigepolitik, für welche der Kaiser nur seinen Namen geliehen hatte: »Die Ehre der Nation, hieß es, sei durch das Wort des Monarchen für den marokkanischen Sultan engagiert, den wir nun nicht >im Stich lassen dürften«. Krieg zu führen war aber gleichwohl nicht die Absicht. Die Folge war: die Niederlage von Algeciras, dann die >PantherAus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden . . .< Am 2. März 1898 hatte er den Marinerekruten bei der Beeidigung zugerufen: >Wo ein deutscher Mann, in treuer Pflichterfüllung für sein Vaterland gefallen, begraben liegt und wo der deutsche Aar seine Fänge in ein Land eingeschlagen hat: das Land ist deutsch und wird deutsch bleibenWittelsbach< in Anspruch: >Ohne das Deutsche Reich und ohne den deutschen Kaiser darf keine große Entscheidung mehr fallen.« Am 5. August sprach er in Bielefeld aus, er sei überzeugt, daß dem deutschen Volk bei richtiger Erkenntnis seiner Verantwortung noch große Tage bevorstehen. Das waren fürwahr stolze Worte Worte, die uns Kunde geben von den hohen Zielen und Absichten, von denen die Seele des Kaisers erfüllt i s t . . . Wo zeigt sich die Morgenröte der großen Tage, denen wir entgegengeführt werden sollen134?« Gegen die hochgespannten Erwartungen der Alldeutschen war das persönliche Regiment Wilhelms II. nur ein schwacher zögernder Ansatz, der die Macht des Kaisertums noch kaum

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13!

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Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: M a x Weber, G e sammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes Windcelmann, Tübingen 1958, S. 2 9 4 - 4 3 1 (Zitat S. 362). Diese Wendung war allgemein üblich; z. B. auch bei Bülow, Reden, Bd. 1, S. 134. Siehe auch oben S. go ff. Heinrich Class, Die Bilanz des Neuen Kurses, Berlin 1903. Heinrich Class (Hrsg.), Zwanzig J a h r e Alldeutscher Kämpfe, Leipzig 1910, S. 1 7 7 f. Zitiert bei A l f r e d Krude, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1 8 9 0 - 1 9 3 9 , W i e s baden 1954, S. 46 f.

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entfaltete. Das von Class entworfene Zukunftsbild des besten Herrschers - in seiner Schrift »Wenn ich der Kaiser war'« 135 - zeigt im Extrem, wie sich der Kaisergedanke im Machtrausch der imperialistischen Ära weit über den wilhelminischen Neuabsolutismus hinaus in ein Führerideal verwandeln konnte, das uns heute an die Diktaturen des 20- Jahrhunderts erinnert. Staatsstreich nach innen und ein »heiliger Krieg« nach außen leiten das alldeutsche Programm einer neuen Herrschaft ein, die Kaiser und Volk zu gemeinsamer nationaler Politik verbinden soll. Der Kaiser als »der wirkliche alleinige Träger« 1 " des deutschen Schicksals ist der »Erste im Volke« 187 , beraten durch einen Reichsrat aus den Besten des Volkes, legitimiert einzig durch seine Leistung. »Die Krone ist die geborene Führerin in diesem Daseinskampfe« 1 ' 8 , so lautet die Parole, die Class mit dem Schimmer germanischen Heldentums und der Erinnerung an das Schildkönigtum und Herzogsamt kriegerischer Vorzeiten verklärt. So gewinnt er das halb romantische, halb revolutionäre Bild vom deutschen Volkskaiser: »Das Bedürfnis lebt heute noch in den Besten unseres Volkes, einem starken, tüchtigen Führer zu folgen; alle, die unverführt geblieben sind von den Lehren undeutscher Demokratie, sehnen sich danach, nicht weil sie knechtisch gesinnt wären oder charakterschwach, sondern weil sie wissen, daß Großes nur bewirkt werden kann durch die Zusammenfassung der Einzelkräfte, was sich wiederum nur durch die Unterordnung unter einen Führer erreichen läßt. Ein Glück für unser Volk, wenn in dem Träger der Krone dieser Führer ihm erstünde189.« Houston Stewart Chamberlain, ein Bewunderer des Kaisers, hat diese cäsaristisch-imperiale Konzeption 1900 noch einmal in einem Aufsatz der Münchner Jugend auf den »neuen Kurs« Wilhelms II. zu deuten versucht. Das Schlagwort bezeichnet nach Chamberlain einen weltgeschichtlich bedeutsamen »historischen Wendepunkt«, der erst die Voraussetzung schafft, »die Idee eines echten deutschen Kaisertums« zu verwirklichen, d. h. einen »Imperialismus« »in der neuen Herrlichkeit des Reiches«. Der alte romantische Reichstraditionalismus, »diese ganze Vorstellung eines wieder ins Leben gerufenen, früheren schon dagewesenen deutschen Reiches« wird als »grundfalsch« und hinderlich für das Verständnis der Gegenwart abgelehnt. Wilhelm II. erscheint als Revolutionär, der nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft lebt, der sich aus den Fesseln des Wahlrechts zu lösen sucht und - einem Cromwell (!) vergleichbar - Deutschland auf die Bahn der Weltpolitik führt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist er darum »überhaupt der erste deutsche Kaiser«140. Geprägt wurde dieser neue Reichs- und Kaisergedanke von den pangermanischen Ideologien Chamberlains, von einem »starken Gegenwarts- und 188

186 187 188 18e 140

Diese Schrift erschien unter dem Pseudonym: Daniel Frymann: >Wenn ich der Kaiser wärDemokratie< in Anspruch zu nehmen. Als >rois des gueuxJedem das SeineJedem das Gleiche< verspricht".« Aber schon Meinecke hat 1917 mit Recht darauf hingewiesen, daß die organisatorische Planung der Sozialpolitik ihrerseits wiederum anregte, über die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher, politischer und sittlicher Welt weiter nachzusinnen25. Auch der Reformkonservatismus führte im Bunde mit christlich-sozialen Ideen zum Plan eines sozialen Königtums und weckte jene Hoffnungen, die sich schließlich an die Februarerlasse Wilhelms II. knüpften. Wenn auch die verschiedenartigen Überzeugungen, die sidi 1890 hinter dem Schlagwort vom sozialen Kaisertum verbargen, politisch und weltanschaulich durdi eine breite Kluft getrennt blieben, so sahen sich nach außen die sozialkonservativen und revolutionären Programme oft zum Verwechseln ähnlich. Sozialismus, meinte Theobald Ziegler in seiner mehrfach aufgelegten Schrift »Die soziale Frage, eine sittliche Frage« 18 , bedeute immer noch Republik und somit Gefahr für das feste Gefüge der Monarchie. Der »sozialistische« König und Arbeiterfürst dürfe nicht den Verlockungen des Zauberlehrlings erliegen, der die Geister herbeirufe, sie aber am Ende aus eigener Kraft nicht mehr zu bändigen wisse. Trotz dieser Warnung entwirft jedoch Ziegler seinerseits - ausgehend von den Thesen der Kathedersozialisten87 - ein recht gewagtes Zukunftsbild, das den Lassallschen Vorstellungen immerhin nahekommt. Seine Forderung nach einem »König von industriellem Typus«, der als »Hauptmann der Industrie« an der Spitze eines »nationalen Sozialistenstaates« die nötigen Reformen einleiten soll88, klingt bereits nadi gesellschaftlichem Umsturz. Entsprechend reagierte die Kölnische Zeitung und schrieb nach dem ersten Erscheinen des Buches: »Es gibt sozusagen höfische Sozialdemokraten, die den deutschen Kaiser am liebsten zum sozialistischen Imperator degradieren möchten, der das Bürgertum niederdrückt, indem er sich auf die Massen stützt. In dieser Entwicklung, in der Ansteckungskraft der Lehre vom sozialistischen Nirgendheim, liegt recht eigentlich die Gefahr, die uns bedroht84.« Auf ähnliche Weise sympathisierten die christlichen Soziallehren 1890 mit den Ideen des sozialen Kaisertums. In der katholischen Presse wurden die Februarerlasse als »rettende Tat« 50 gepriesen, und die Anerkennung der Monarchie von Gottes Gnaden, wie sie z. B. Edmund Jörg in den HistorischPolitischen Blättern vertrat, erinnerte an die einst von Lassalle erstrebte Kampfgemeinschaft gegen das Bürgerkönigtum®1. Grundlegend galt auch hier

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Konservatives Handbuch, 3. Aufl., Berlin 1898, S. 385. Friedrich Meinedce, Reich und Nation seit 1 8 7 1 , in: Internat. Monatssdir. f. Wissenschaft, Kunst und Technik n ( 1 9 1 7 ) , S. 922 f. 81 Theobald Ziegler, Die soziale Frage, eine sittliche Frage, Stuttgart 1891 (6. Aufl. 1899). 87 Ziegler zitiert eingangs Gustav Schmoller und beruft sich auf Rodbertus. « E b d . , S. 1 0 5 f. 19 Köln. Zeitung vom 2 1 . 6 . 1 8 9 1 , zitiert bei Frohme, S. 305. 80 V g l . die Auswahl der katholischen Pressestimmen bei Reichsfrhr. von FechenbadiLaudenbach, Die Kaiserlichen Erlasse vom 4. 2. 1890, Frankfurt 1890, S. 8 ff. 31 V g l . besonders die Zeitläufte vom 23. 2. 1890: Kaiser Wilhelm's Sozial-Erlasse, in: Histor.-Polit. Blätter, Bd. 1, 1890, S. 3 8 1 - 3 9 2 .

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die patrimoniale Tradition, d. h. die Vorstellung von der verpflichtenden Fürsorge des gerediten, ausgleichenden und stets versöhnenden Monarchen. Der katholische Sozialpolitiker von Fedienbach-Laudenbadi faßte »die ganze Bedeutung, die der christlich-soziale König für sein von Gott anvertrautes Volk besitzt«, in die seiner Ansicht nach »schönen und klaren« Worte »der Landesvater«. Dieses eine Wort bezeichne die Aufgabe, deren sorgfältige Erfüllung die soziale Frage bald lösen werde®2. Derartige Äußerungen hinderten ihn jedoch nicht, an anderer Stelle in moderner Klassenkampfterminologie den kapitalistischen König zu verwerfen, den er einen gekrönten »Ausbeuter und Volksfeind« nennt, während das soziale Königtum dazu berufen sei, die Madit des Kapitalismus zu brechen3*. Kampf gegen den Umsturz und Kampf gegen die »absterbende Dynastie von Manchester«, so lautete auch die Losung des protestantischen Hofpredigers und Gründers des christlidisozialen Vereins Adolf Stöcker, der dem jungen Prinzen Wilhelm die ersten Vorstellungen vom sozialen Königtum vermittelte. Einigermaßen vieldeutig beruft sich das Stöckersche Programm gleicherweise auf Lassalle, die Kathedersozialisten und die vorbildlich sozial eingestellten Herrscher Preußens vom Großen Kurfürsten bis zu Friedrich dem Großen84. Abermals erweist sich das Stichwort »Sozialmonarchie« als ein sehr dehnbarer Begriff. Untersucht man im einzelnen die Definitionen, so bleibt vom Erbe Lassalles wenig übrig. Obgleich sich Stöcker der Lassallschen Formulierungen bedient und scheinbar demokratisch vom »Königtum des Sozialismus«®5 spricht, das sich auf den Trümmern des absterbenden Bürgerstaates erheben werde, versteht er darunter keineswegs ein Paktieren mit der Sozialdemokratie. Im Gegenteil: Sozialismus meint nicht in erster Linie das Anliegen der Arbeiterklasse, ihre wirtschaftliche und politische Gleichberechtigung, sondern »die überwiegende Geistesrichtung aller Klassen und Stände«®6. »Der wahre Sozialismus ist die Befreiung von Egoismus und die Sorge für das Gemeinwohl57«, mithin eine christliche Gesinnung, die den Kampf gegen den ökonomischen Liberalismus aus sittlicher Entrüstung aufnimmt. Schon in seinen ersten längeren Arbeiten über die soziale Frage in der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung 1869 stellte Stöcker die These auf, die »Arbeiterfrage« könne nui auf dem Weg der Opferwilligkeit und der Liebe gelöst werden: »Die großen Besitzer müssen für das leibliche, geistige und geistliche Wohl ihrer Arbeit« Opfer bringen, damit sich zwischen beiden die Liebe bilde, die alle Furcht austreibt, damit das Vertrauen, welches der Egoismus negiert, wieder die Brücke schlage zwischen reich und arm, damit das geistige Ehrgefühl, welches durch den Materialismus des Erwerbens und Genießens erstorben ist, wieder

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Reichsfrhr. von Fedienbach-Laudenbadi, Denkschrift über die Arbeiterfrage, Frankfurt a. M. 1888, S. 78. 58 Ders.: Soll man die Sozialdemokratie zur akuten Revolution, zu Straßenkämpfen zwingen? Berlin und Leipzig 1896, S. 1 1 . 34 Adolf Stöcker, Sozialdemokratie und Sozialmonardiie, Evangelisch-soziale Zeitfragen I, 5 Leipzig 1891, S. 19 ff. 85 Ebd., S. 4. »«Ebd., S.4. 37 Reden und Aufsätze, hrsg. von Reinhold Seeberg, Leipzig 1913, S. 266.

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aufwacht durch die Kraft des Vorbildes38.« Soziales Königtum bedeutet praktische Verwirklichung des Christentums, soziale Reform und Sorge für die »Arbeiterbewegung«, die Stöcker durchaus nicht mit Sozialdemokratie zu identifizieren wünschte". In Anlehnung an patrimoniale Traditionen und Lassallsche Terminologie versuchte Stöcker eine theologische Lösung des Klassenkampfes. In dem Gedanken, die Arbeiterschaft erneut für das Christentum, d. h. für die evangelische Landeskirche und ihren Summus Episkopus, zurückzugewinnen, lag zudem ein besonderer politischer Zündstoff. Das Bündnis von Arbeiterschaft und Kirche richtete sich in einem doppelten Angriff gegen den Bismarckschen Staat der Kulturkampfzeit und der Sozialistengesetze. Daher rührt die Gegnerschaft und der energische Entschluß Bismarcks, den Prinzen Wilhelm aus den christlich-sozialen Zirkeln herauszureißen. Der aufschlußreiche, in den Gedanken und Erinnerungen veröffentlichte Briefwechsel über Stöckers Stadtmission zwischen dem Kanzler und dem späteren Kaiser zeigt allerdings deutlich, daß der von Friedrich dem Großen schwärmende Prinz die politischen Hintergründe gar nicht begriff. Mit Recht deckte Bismarck den Widerspruch auf: »Es lag nicht in der Art des großen Königs, sein Vertrauen auf Elemente wie das der Inneren Mission zu setzen«, schrieb er, denn: »Zum positiven Schaffen und Erhalten lebensfähiger Reformen ist bei uns nur der König an der Spitze der Staatsgewalt auf dem Wege der Gesetzgebung befähigt40.« Fraglos konnte das Experiment des sozialen Kaisertums durch die Verwechslung der Begriffe dann gefährlich werden, wenn es falsche Hoffnungen bzw. Mißtrauen erweckte. Die Geschichte der Februarerlasse Wilhelms II. sollte hierfür ein Beispiel geben. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes zu Beginn des Neuen Kurses und die Ankündigung einer umfangreichen Arbeiterschutzgesetzgebung 1890 beendigten die Bismardcsdie Repressivpolitik und wiesen neue Wege, die drohende Staats- und Gesellschaftskrise durch eine Politik der Versöhnung abzuwenden. Die besonders von Berlepsch, dem späteren Handelsminister, beeinflußte Denkschrift des Kaisers für die Kronratssitzung am 24. Januar und die feierlich verkündeten Februarerlasse an den Kanzler und an den Minister für Handel und Gewerbe enthielten umfangreiche Direktiven für eine über die Sozialversicherung hinausführende Reform. Unter Berufung auf christliche Grundsätze und Gebote der Menschlichkeit verlangte der Kaiser den Schutz der Arbeiter vor Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, soweit es die Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage der Industrie irgend zuließ. Im einzelnen forderte Wilhelm II. die Regelung der Arbeitszeit für Frauen und Kinder, das Verbot der Sonntagsarbeit, Einführung von Arbeiterordnungen in den Betrieben, 38

Neue Evangelische Kirchenzeitung, 1869, Sp. 561 ff. Vgl. Robert Stupperich, Adolf Stödcers Anfänge, in: Histor. Zeitsdlr. 202 (1966), S. 509ff. " »Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie und soziale Reform sind himmelweite Unterschiede, die nidit vermisdit werden dürfen.« (Ebd., S. 268.) «Erinnerung und Gedanke, S.460ff. Vgl. zur Interpretation des Briefwechsels: Karl Buchheim, Geschichte der christlichen Parteien in Deutschland, München 1953, S. 272 ff. 191

beratende Arbeiterausschüsse in Verbindung mit staatlichen Fabrikinspektoren, Ausbau von Arbeitsgerichten, Arbeitsvermittlung, Schlichtungswesen und anderes mehr. Eine internationale Arbeiterschutzkonferenz sollte über dieses Programm beraten und weitere Reformvorsdiläge ausarbeiten41. Nodi heute schwankt das Urteil über die Motive und Antriebe Wilhelms II. zur Sozialpolitik und die Wirksamkeit seiner Vorschläge beträchtlich. Selbst kritische Forscher billigen dem Kaiser hier ein bleibendes Verdienst zu und glauben an eine »politische wie menschliche Selbstverwirklichung« des jungen Herrschers in der Auseinandersetzung mit dem reaktionären Kanzler42. Die Wendung von 1894 und der erneut einsetzende Kampf gegen den Umsturz erscheinen dann als Schwäche und trübe Resignation, als ein Versagen der ohnehin sprunghaften und stets unentschieden schwankenden Person des Monarchen, der »zu wenig Tatmensch«4* war, um seine Ideale gegen die Widerstände der Zeit durchzusetzen. Dagegen wendet sich die schroffe Feststellung, Wilhelm II. sei nie ein »sozialer Kaiser« gewesen und habe das soziale Problem in seinen Konsequenzen gar nicht begriffen, wenn er auch im einzelnen über die Methode des Vorgehens gegen die Sozialdemokratie - und das nur 1890! - anderer Meinung gewesen sei als sein ungleich einsichtigerer, wiewohl reaktionär denkender Kanzler44. Zweifellos dachte Wilhelm II. nicht daran, soziale Reformen durchzuführen, die mit den Interessen der Staatssouveränität und der historisch legitimierten preußischen Monarchie unvereinbar waren. Gewagte Experimente im Stile Lassalles lagen seiner im Grunde unschöpferischen Denkart ganz fern, während die scheinbar ungefährlichen, traditionell christlichen Ideale Stöckers seinem leicht entzündbaren Enthusiasmus eher entsprachen. Jedenfalls haben die Gedanken und Pläne über ein soziales Königtum im Sinne Stöckers den jungen Herrscher stark beeinflußt, ganz im Gegensatz zu Bismarck, der darin nur eine törichte, weil unbeabsichtigte Ermutigung der Sozialdemokratie erblicken konnte. Gewiß nicht ganz zu Unrecht, denn nach außen ließ sich die Trennung von »Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung«45, die Wilhelm II. keineswegs gewillt war aufzugeben4®, kaum erkennen. Übertriebene Hoffnungen 41

Ausarbeitungen Kaiser Wilhelms II. zur Arbeiterfrage ( 2 2 . 1 . 1 8 9 0 ) . Johannes Hohlfeld, Dokumente der deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Bd. 1, N r . 69, S. 2 2 5 ff. Protokoll der Kronratssitzung vom 0 4 . 1 . 1890, ebd., Nr. 70, S. 230 ff. 41 W i l l y Real, Die Sozialpolitik des Neuen Kurses, in: Z u r Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, Berlin 1 9 5 7 (S. 4 4 1 - 4 5 7 ) , S. 441. A u f die völlig unwissenschaftlichen Glorifizierungen Wilhelms II. zum sozialen Kaiser im Gefolge der zahlreichen »Rettungsversuche« in der kaiserfreundlichen Literatur braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. V g l . hierzu W a l t e r Goetz, Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Geschichtsschreibung, in: Histor. Zeitsdir. 179 (1955), S. 2 1 ff. «Real, S.455. 44 Born, S. 20 ff. 45 V g l . das Zitat Stöckers oben Anm. 39. 46 Der Wunsch Wilhelms II., die Erlasse in »warmer und begeisterter Sprache« abzufassen, harmoniert wenig mit der Forderung, zum Schluß die Erinnerung an die gesetzlichen Pflichten verbunden mit Strafandrohung gegen »jede Ausschreitung« folgen zu lassen. Hohlfeld, Bd. 1, N r . 69, S. 229. V g l . auch die Rede Wilhelms II.

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auf der einen und mangelnde Kompromißbereitsdiaft auf der anderen Seite bargen aber nur neue Konflikte. Bismarcks Redaktion der Februarerlasse, diedas sehr gemäßigte Programm des Kaisers stark aufbauschte und die Aussicht auf weitestgehende Zugeständnisse an die Industriearbeiter durchsdieinen ließ (gesetzliche Arbeitervertretungen, Normalarbeitstag u. a.), bezweckte vielleicht sogar, das Mißverständnis zwischen öffentlicher Meinung und Regierung herausfordernd 4 ', ein warnendes Exempel und schob jedenfalls die lästige Rolle des Mahners den Ratgebern des Kaisers zu, die vor den solcherart bewiesenen Konsequenzen einer arbeiterfreundlichen Politik nun doch zurückschreckten48. Die Februarerlasse waren ein zögernder Versuch in Richtung einer Reform, deren Ausmaß, Folgen und Ziele von Wilhelm II. noch kaum ernsthaft durchdacht worden waren. Dennoch erschöpft sich die Bedeutung des kaiserlichen Programms durchaus nicht nur, wie Bismarck meinte, in der Proklamation »volksbeglückender Redensarten« 4 "; vielmehr bezeugt die Denkschrift von 1890 darüber hinaus ein Gefühl für die Bedürfnisse und Anliegen des Industriezeitalters und ein Interesse an der alltäglichen Welt des Arbeiters, das der Generation Bismarcks noch fremd war. Wenn irgend, so zeigt sich hier ein positives Ergebnis der nicht ganz vergeblichen Bemühungen von Lorenz von Stein bis Adolf Stöcker. Mit dem richtigen Gespür f ü r die Aktualität der sozialen Frage nutzte Wilhelm II. zugleich die Gunst der Stunde, hier seinen persönlichen Einfluß auf die Politik richtungsweisend voranzutreiben und mit populären Maßnahmen die kaiserliche Initiative sichtbar darzustellen. Die Notwendigkeit einer versöhnenden Sozialpolitik wies ein dankbares Wirkungsfeld f ü r das persönliche Regiment. Bismarck hat das System, welches Wilhelm II. 1890 vorschwebte, treffend einen populären Absolutismus genannt 50 , ohne jedes Verständnis freilich f ü r diese A r t des kaiserlichen Machtstrebens. Erst Naumanns Kaiserbild vom nationalen Imperator verwandelte das noch traditionsbefangene und zögernde Sympathisieren Wilhelms II. mit cäsaristisdhen Herrschaftsmethoden in ein positives Zukunftsprogramm. Z u diesem Zeitpunkt allerdings war der Kaiser bereits in die alten Bahnen Bismarckscher Repressivpolitik zurückgekehrt. Weit entfernt vom sozialistischen Imperator Lassalles, hielt sich Wilhelm II. an den von Stöcker proklamierten »persönlichen Fürstendie Arbeiter während des Bergarbeiterstreiks 188g: » . . . für Mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind.« (Reden, Bd. 1, S. 54-) 47 Auch Naumann interpretiert die Erlasse als Zugeständnis an die Sozialdemokratie: »Während nämlich die Bismardcsche Sozialreform Vorschläge brachte, die an sich gut, aber nicht im Gedankengang der sozialistischen Bewegung enthalten waren, stellt sich der Vorschlag Kaiser Wilhelms II. als direktes Eingehen auf Ideen dar, die in der Sozialdemokratie gepflegt worden waren . . . « (Demokratie und Kaisertum, S. 355.) 48 Bora interpretiert die Februarerlasse als ein taktisches Manöver Bismarcks (S. 20). Vgl. auch das von Born bearbeitete Kapitel: Von der Reichsgründung bis zum ersten Weltkrieg, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 3, 49

8. Aufl., Stuttgart i960, S. 194-254.

Erinnerung und Gedanke, S. 491. 80 Ebd., S. 495.

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dienst von Gottes Gnaden am Wohl des Staates«51 - eine charakteristische Formulierung, die undeutlich zwischen der cäsaristisdi klingenden Betonung des persönlichen Fürstendienstes und der althergebrachten patrimonialen Tradition des Gottesgnadentums schwankt51. Das zunädhst unbeabsichtigte Ergebnis der Popularitätsbemühungen war schließlich die Anerkennung der Katholiken, die sidi in der wilhelminischen Ä r a Kaiser und Reich weit mehr verbunden fühlten als zuvor dem protestantischen Präsidialstaat Preußen. Die Audienz Wilhelms II. bei dem Sozialpapst Leo X I I I . 1893 und die gegenseitig bezeugte Hochschätzung58 förderten die Annäherung, zumal der Kaiser bei vielen Gelegenheiten den Grundsatz der Parität entschieden vertreten hatte54. Offizielle Vertreter der katholischen Kirche, der Erzbischof von Köln und der Fürstbischof von Breslau, waren Mitglieder des preußischen Herrenhauses. Die soziale Fürsorge des Monarchen von Gottes Gnaden ließ auf einen christlichen Herrsdier hoffen, der um das Wohl aller Untertanen, gleich welchen Standes oder welcher Konfession, bemüht war 55 . Selbst Windthorst, der über Hammerstein mit dem christlichsozialen Flügel der Konservativen in Verbindung stand, hoffte nach Bismarcks Sturz auf eine christliche Kultur- und Sozialpolitik. In einem Interview, das er wenige T a g e nach dem Sturz des Kanzlers einem amerikanischen Journalisten gab, stellte er sich bedingungslos hinter das Programm Wilhelms II.: »Wenn andere Parteien den Kaiser nicht unterstützen, wir werden es. Sozialreform ist eine Politik, die wir immer unterstützt haben. Sie ist die wichtigste Frage am Ende unseres Jahrhunderts, wie die Frage des bürgerlichen Rechts es war am Ausgang des vorigen Jahrhunderts . . . Der Kaiser trägt das Banner, wir marschieren hinter ihm54.« Auf der 57. Generalversammlung der Katholiken in Koblenz im August 1890 herrschte eine ähnlich optimistische Stimmung, j a sogar die Hoffnung auf ein Bündnis zwischen Kaiser und Papst in der Arbeiterfürsorge. Der badische Pfarrer Theodor Wacker, später ein bekannter Zen-

Sozialdemokratie und Sozialmonardiie, S. 25. Vgl. hierzu die anonym 1892 in Zürich erschienene Flugschrift mit dem bezeichnenden Titel: Wilhelm II., Romantiker oder Sozialist? Der Verfasser kommt zu dem Schluß, Wilhelm II. sei der »vollendetste, interessanteste Typus dieser Übergangszeit: Romantiker und Sozialist, beide in Einem und Keines von beiden ganz« (S. 9). 5 1 Vgl. die Aachener Rede des Kaisers vom 19. 6. 1902, Reden, Bd. 3, S. 98 f. 54 Schon in der ersten Thronrede im preußischen Landtag hieß es, der Kaiser habe mit »besonderer Befriedigung« empfunden, daß die neuere kirdienpolitische Gesetzgebung dazu geführt habe, die »Beziehungen des Staates zu der katholischen Kirche und deren geistigem Oberhaupte in einer für beide Teile annehmbaren Weise zu gestalten«. Reden, Bd. 1, S. 16 f. Vgl. M a x Buchner, Kaiser Wilhelm II., seine Weltanschauung und die deutschen Katholiken, Leipzig 1929, S. 109 ff. 55 Vgl. die Dankrede des Erzbischofs von Köln in Anwesenheit des Kaisers am 11.5.1903. In Anspielung auf die Aachener Rede des Kaisers heißt es: »Die erhebenden Worte, an denkwürdiger Stätte vorgebracht, haben weithin, namentlich in unserem rheinischen Volke, jubelnden Beifall gefunden und helle Begeisterung wachgerufen für unseres erhabenen Kaisers Majestät von Gottes Gnaden.« (Reden, Bd. 3, S. 150 f.) " Zitat nach: Karl Buchheim, Ultramontanismus und Demokratie. Der W e g der deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963, S. 345.

51 5i

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trumsführer, erklärte: »Hat das soziale Kaisertum, von dem man spricht, einmal Gestalt und Leben angenommen, dann wird nichts naturgemäßer sein, als daß der soziale Kaiser und der katholische Papst sich zusammenfinden und zusammenschließen57.« In der Folgezeit unterlag das Verhältnis des Zentrums zur kaiserlichen Regierung mancherlei Schwankungen; so opponierte die Partei gegen die Zedlitzsche Schulpolitik, gegen Caprivis Militärvorlage, gegen die Ausnahmegesetze der Regierung Hohenlohe und gegen Bülows Blockpolitik. Die Entwicklung des Zentrums zu einer nationalen Partei, die loyal zu Kaiser und Reich stand, war dennoch nicht zu übersehen58. Die Sozialgesetzgebung bis zum Ende der Ära Posadowski wurde dann auch vorwiegend mit der parlamentarischen Unterstützung des Zentrums ins Werk gesetzt. Die neue nationale Reichsgesinnung, die mit dem Glauben an ein soziales Kaisertum eng zusammenhing, überdauerte noch die Zerreißprobe des ersten Weltkriegs. Im Oktober 1918, als die Öffentlichkeit die Abdankung Wilhelms II. diskutierte, war es die katholische Presse, die am eindringlichsten an die Bedeutung des Kaisersymbols für das deutsche Reich erinnerte". Wenige Tage vor dem Sturz der Monarchie veröffentlichte die »Germania« ein Telegramm der christlichen Gewerkschaften an den Kaiser, das noch einmal die moralische Eroberung der Katholiken und ihre im Vergleich zu 1871 gänzlich veränderte Haltung zum deutschen Kaiserreich sichtbar werden ließ. »Unabhängig von Gunst und Ungunst der Verhältnisse, in Glück und Unglück stehen wir in Treue zu Eurer Majestät. Seit den Tagen, wo das heilige römische Reich deutscher Nation zerfallen, ging eine heiße Sehnsucht durch das deutsche Volk, unter einem deutschen Kaiser wieder geeinigt zu werden. Unter unsäglichen Mühen ist die Einigung gelungen. Sie hat dem deutschen Volke eine neue Lebensblüte gebracht. Mit der vorbildlich gewordenen deutschen Sozialpolitik hat sich das deutsche Kaisertum ein unvergängliches Denkmal in den Herzen der deutschen Arbeiterschaft gesetzt. Wir leben der Überzeugung, daß das deutsche Volk auch unter den veränderten Verhältnissen sich erneut zu einer Achtung gebietenden Stellung emporarbeiten wird. Auf dieses hohe Ziel soll die Tätigkeit der christlich nationalen Arbeiterschaft immerdar eingestellt sein'0.« Die praktischen Ergebnisse der Sozialreform waren dennoch im Vergleich zu dem gesteckten Ziel einer Aussöhnung der Arbeiterschaft mit dem Staate für beide Seiten enttäuschend. Zwar realisierte die Gewerbeordnungsnovelle von 1891 die Vorschläge des Kaisers für den Arbeiterschutz, zwar folgten auch nach der Wende von 1894 schätzenswerte Fortschritte in der Sozialversicherung, in der Frage der Gewerbegeridite, der Berufung von Arbeiterausschüssen und der Förderung des Arbeiterwohnungsbaues, aber an eine wirtschaftliche und " Ebd., S. 337. 88 Vgl. oben S. 154 f. " V g l . die Ausschnitte aus »Germania« und »Kölnischer Volkszeitung«, bei: Adolf Stutzenberger, Die Abdankung Wilhelms II. Die Entstehung und Entwicklung der Kaiserfrage und die Haltung der Presse, Berlin 1937 (Historische Studien, Heft 312.) 10 Germania, 3 0 . 1 0 . 1 9 1 8 , Nr. 510, zitiert nach Stutzenberger, S. 101 f. 195

politische Gleichberechtigung der Arbeiter war nicht zu denken' 1 . Die Diskussion über das Koalitionsrecht, welches auch 1890 nidit vorbehaltlos anerkannt worden war 61 , zeigt, wie wenig die Regierung bereit war, das Risiko eines demokratischeren Weges aufzunehmen und die freie Interessenvertretung der Arbeiter zu garantieren. Andererseits reichten die bestehenden Strafbestimmungen für den sogen. Koalitionszwang bei Streiks nicht aus, um die häufigen Lohn- und Arbeitskämpfe zu steuern und die Entscheidungsfreiheit der Arbeiter wie der Unternehmer sicherzustellen. Wilhelm II. vergriff sich in der Wahl der Mittel, als er in Königsberg 1894 den Kampf für Sitte, Ordnung und Religion gegen die Parteien des Umsturzes63 ankündigte und Pläne einer Ausnahmegesetzgebung zum »Schutz der nationalen Arbeit aller produktiven Stände« aufnahm. Die vom Kaiser 1898 in Oeynhausen angekündigte »Zuchthausvorlage«64 besiegelte das Ende des sozialen Kaisertums. Die Ablehnung des Gesetzentwurfs durch die überwiegende Mehrheit des Parlaments - für den Zuchthausparagraphen stimmte nicht einmal die konservative Partei — war die schwerste Niederlage, die Wilhelm II. in der Innenpolitik hat hinnehmen müssen. Sie bewies deutlich die Isolierung der kaiserlichen Regierung, der eine Umformung des politischen Willens in dem aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Reichstag nicht mehr gelang. Da andererseits kein Gesetz gegen Kaiser und Bundesrat durchgesetzt werden konnte, stockte die Sozialreform. Die Umorientierung auf eine Mittelstandspolitik, welche die Forderungen des Handwerks und der Landwirtschaft auf die Tagesordnung setzte, konnte kaum die Tatsache verdecken, daß die ungelöste soziale Frage der Zeit eine Arbeiterfrage war65. Die gleichbleibend konservativ autoritäre Gesinnung des Kaisers, bestärkt durch die ungünstigen Erfahrungen mit der widerstandskräftigen, nicht leicht zu gewinnenden Sozialdemokratie, paßte 41

Z u r Enttäuschung über das Erreichte vgl. Georg Vollmar, Ober die nächsten A u f gaben der deutschen Sozialdemokratie. Z w e i Reden, München 1 8 9 1 : »Gewiß ist ein himmelweiter trauriger Abstand zwischen den schönen Versprechen in der kaiserlichen Botschaft und der Gewerbenovelle, wie sie von der Regierung vorgelegt und vom Reichstag schließlich angenommen worden ist. Der mit Hochdrudc arbeitende Einfluß des Kapitalismus und die Kommandiersudit der Bürokratie, Eigennutz und Unkenntnis des Volkslebens haben das, was an gutem Willen vorhanden war, fast bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet.« (Ebd., S. 6.) Ferner das kritische Resümee des Handelsministers von Berlepsch, des Initiators des neuen Kurses: »Und wirksame Sozialreform, d. h. eine solche, die nicht nur die materielle L a g e der Arbeiter bessert, sondern auch den Haß, das Mißtrauen, die Unversöhnlichkeit aus ihren Herzen nimmt, die die in vielen Herzen abgebrochenen Brücken zwischen ihnen und ihren Mitbürgern, dem Staat, der Nation, dem Vaterland, der Kirche wiederherstellt, kann nur unter dem Zeichen der Anerkennung der Gleichberechtigung der Arbeiter betrieben werden, wie sie der Allerhöchste Erlaß vom Februar 1890 verheißt.« (Soziale Entwicklung im ersten Jahrzehnt nach Aufhebung des Sozialistengesetzes, Vortrag auf dem 12. Evang.-soz. Kongreß am 30. 5. 1901 in Braunschweig, Göttingen 1901, S. 30 f.) « 2 Real, S. 144 f. 63

Reden, Bd. 1, S. 276. Reden, Bd. 2, S. 1 1 1 ff., der »Gesetzentwurf zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses« wurde am 26. 5. 1899 dem Reichstag vorgelegt und richtete sich gegen den Koalitionszwang. « Born, S. 169. 64

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sich dem Kurswechsel ohne innere Erschütterungen an. Die Weigerung Wilhelms II., das den veränderten Verhältnissen entsprechende Entlassungsgesuch Berlepschs anzunehmen, läßt sogar bezweifeln, ob er sich über die entscheidende Wende ganz klar wurde. Nach seinen eigenen Worten zu urteilen, glaubte er nur an ein »langsameres Tempo« der Reform zum Schutz der Industrie6'. Die Tarnung des Rückzugsgefechts mit industriellen Interessen lieferte freilich der Sozialdemokratie nur den Beweis, daß die Regierung eine einseitige Unternehmerpolitik in einem kapitalistisch gewordenen Staat trieb. Die vom Staatssekretär des Innern Posadowski fortgeführte Sozialpolitik stand unter anderen Vorzeichen als die optimistischen Kundgebungen von 1890. Posadowski glaubte nicht mehr daran, die Industriebevölkerung für die Monarchie gewinnen zu können. Wenn er auch die Pläne für eine Ausnahmegesetzgebung aufgab und schließlich wieder an die Reformvorschläge Berlepschs anknüpfte, so wandelte sich doch kaum seine resignierende Einsicht in den unversöhnlichen Gegensatz von Monarchie und Sozialdemokratie. Die einzige Möglichkeit einer gesellschaftlichen Eingliederung der Arbeiterschaft in den Staat sah er in den Versuchen meinungsbildender Beeinflussung und geistiger Auseinandersetzung mit den Arbeitern, etwa durch die Förderung der christlichen und der liberalen Hirsch-Dundkersdien Gewerkschaften. Friedrich Naumann nannte Posadowskis Vorgehen in der »Hilfe« kritisch »eine peinlich ausgearbeitete Sozialpolitik der Bevormundung«67. Allein die pessimistische Einschätzung der Lage entsprach den tatsächlichen politischen Verhältnissen. Die Reformfreude und der soziale Eifer des Kaisers hatten merklich nachgelassen. Während die Denkschrift von 1890 noch eine Ahnung von den Möglichkeiten kluger Sozialpolitik bewiesen hatte - z. B. in dem Vorschlag, die Arbeiter in den staatlichen Bergwerken des Westens zu Beamten des Reiches zu machen, damit auch sie der staatlichen Ordnung verpflichtet würden68 - schloß Wilhelm II. nun die Sozialdemokratie bewußt aus der nationalen Gemeinschaft aus. Zu den Reichsgründungsfeiern und Sedantagen nutzte er die patriotische Begeisterung zur Propaganda gegen die »Vaterlandsfeinde«6® - ohne jeden Versuch, an Lassallsche Staatsgesinnung zu appellieren. Unter dem Einfluß des Großindustriellen Stumm-Halberg verschärfte sich die militante Haltung des Kaisers, der nationale Gesinnung mit blinder Gefolgschaft verwechselte: » . . . dem Parteigeist entsagend, einheitlich und geschlossen hinter seinem Fürsten und seinem Kaiser stehend« sollte das 66

Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, S. 75. Vgl. das Telegramm des Kaisers an Berlepsch, ebd., S. 86 f. " Zur Charakteristik Posadowskis vgl. Born, S. 1 7 1 . 68 Hohlfeld, Dokumente, Bd. 1, Nr. 69, S. 227. 6 * Vgl. die Rede Wilhelms II. bei der Parade zur 25jährigen Wiederkehr des Sedantages in Berlin am 2. 9. 1895: » . . . eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen . . . « (Reden, Bd. 1, S. 315.) Vgl. auch das Telegramm Wilhelms II. an Hohenlohe vom 18. 8. 1895: »Mit dem Stichwort >für das geheiligte Andenken an die Person Wilhelms des Großen« vereinigen wir jetzt in diesem Sommer das Volk hinter uns wie mit einem Zauberwort . . . Also Losung >für die Beschützung des Andenkens des großen Kaisers« frisch ans Werk und feste auf die Sozialdemokratie losgeschrien und gedonnert.« (Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, S. g2.) 197

deutsche Volk seine Vaterlandsliebe beweisen70. Während der Marokkokrise 1905/06 ließ sich der Kaiser in der Diskussion über einen eventuellen Präventivkrieg zu der Äußerung hinreißen: »Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nadi Außen; aber nicht vorher und nicht ä tempo71.« Für ein freies Spiel der Kräfte im wirtschaftlichen und politischen Leben blieb in solchen Vorstellungen kein Raum. Die Ideologie des Kaiserreichs besaß letzten Endes keinen Platz für den Arbeiter. Sie bewegte sich um nationale Begriffe, die der militärisch feudalen Welt des alten Preußen oder dem modernen großbürgerlichen Industriestaat entnommen waren. Sie sprach von Krone, Beamtentum und Heer, von Flotte und Kolonien; sie rühmte die Leistungen der Hohenzollernfürsten, die Tapferkeit der Armee, die Pflichttreue der Beamten, den Bürgerfleiß und schließlich den Unternehmergeist, aber sie erwähnte nirgends den Arbeiter. Das Mißverständnis über das soziale Kaisertum bewies, daß es keine gemeinsame Sprache mehr zwischen Monarchie und Arbeiterschaft gab. Der Versuch Stumm-Halbergs, militärische Maßstäbe in die Fabriken zu verpflanzen78, mußte vollends fehlschlagen. 1898 stellte Hohenlohe resigniert fest: »Die große Masse des Volkes ist politisch gleichgültig7*.« Der Gegensatz von Demokratie und Kaisertum fand in dem konstitutionell, nicht parlamentarisch regierten deutschen Reich, das seine nationale Behauptung in einer starken Militärmonarchie, verbunden mit den konservativ beharrenden Kräften in Heer und Beamtentum, gesichert sah, keine Lösung74. Eine politisch-soziale Emanzipation der Arbeiter ließ sich von der Basis des historischen preußischen Staates aus nidit gestalten. Die Kluft zwischen politischer und gesellschaftlicher Verfassung war so der tiefere Grund für das Scheitern der konservativen Sozialreform Wilhelms II. Es blieb die Frage, ob der »populäre Absolutismus« des Herrschers, bestärkt durch die wachsende Bedeutung kaiserlicher Macht im Reich, gefördert durch die beweglichere und wandlungsfähigere Stellung des Kaisertums in der unitarisch sich entwickelnden Reichsverfassung, die Möglichkeit ergriff, die Spannungen des sich wandelnden Nationalstaats, losgelöst vom traditionell preußischen Königtum, auszutragen. Friedrich Naumann sah darin überhaupt 70

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75 74

Rede beim Stapellauf des Linienschiffes »Kaiser Karl der Große« am 18. 10. 1899, Reden, Bd. 2, S. 178. Brief Wilhelms II. vom 3 1 . 12. 1905 an Bülow, Auszug Bülows in: Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , hrsg. von Peter Rassow und Karl Erich Born, Wiesbaden 1959, S. 246. Bei der Bemerkung ist zu berücksichtigen, daß Wilhelm II. entschiedener Gegner eines Präventivkriegs w a r ! V g l . Stumms Direktive: » W e n n ein Fabrikunternehmen gedeihen soll, so muß es militärisch, nicht parlamentarisch organisiert sein.« (Born, S. 67.) Denkwürdigkeiten, S. 4,53. Born, S. 1 5 7 : »Die soziale Frage war eben auch eine Verfassungsfrage. N u r ein parlamentarischer Staat konnte einer Massenbewegung mit radikalen Zielen Gleichberechtigung und Freiheit im wirtschaftlichen und politischen Interessenkampf gewähren. Nur in einem Staat, der auf dem freien Spiel der politischen Kräfte beruhte, w a r die Lösung der sozialen Frage, die in erster Linie eine Freiheitsfrage war, möglich.«

198

erst die eigentliche Begründung des modernen Kaisergedankens: »Die Politik des alten deutschen Agrarvolkes war das Königtum und die Politik des kommenden Industrievolkes ist das Kaisertum75.« " Friedrich Naumann, Die Politik Kaiser Wilhelms II., Vortrag, München 1905, S. 3.

199

2. Die cäsaristisdien

und imperialen

Vorstellungen

Friedrich

Naumanns

Naumanns Generation genügte das Kaisertum nidit mehr als Symbol nationalstaatlicher Einigung: sie suchte darüber hinaus, geschult in ökonomischer und gesellschaftskritischer Betrachtungsweise, eine Überwindung der politisdisozialen Zerrissenheit der Nation; denn, so glaubte man, allein die geballte Volkseinheit unter einem starken Führer verlieh einer aktiven Machtpolitik die notwendige Stoßkraft nach außen. Die Wandlung Naumanns von den diristlich-sozialen Ideen Stöckers zur Anerkennung des autonomen Macht- und Nationalstaats unter dem Einfluß von Max Weber kennzeichnet die veränderte Problemstellung des politischen Denkens. Nationalismus als Machterweiterung, Sozialismus als nationalpolitische Forderung, darin lag der neue Ansatz einer »nationalsozialen« Politik, wie sie Naumann vom Kaisertum der Zukunft und vom neudeutschen Industrievolk verlangte 1 . Zugleich setzte er seine Hoffnungen auf die revisionistische Strömung innerhalb der Sozialdemokratie, welche den Übergang von einer bloß negativ zersetzenden zu einer nationalen Politik vorbereiten sollte, d. h. zu einer unsystematischen, den materiellen Bedürfnissen der Arbeiterschaft angepaßten Wirtschafts- und Außenpolitik*. Ohne sich auf eine prinzipielle theoretische Auseinandersetzung über die Utopie der klassenlosen Gesellschaft einzulassen, appellierte Naumann an das opportunistische Denken und die praktische Erfahrung, daß Umsturz und Revolution zwar in einem schwachen Staate, aber keineswegs in dem machtvoll aufstrebenden deutschen Reiche auf Erfolg rechnen könne: »Staatenbildend ist in unserer Geschichtsperiode nicht der Sozialismus, sondern der Nationalismus; innerhalb kräftiger nationaler Staaten aber sind allein soziale Fortschritte erreichbar8.« Die Durchdringung des vierten Standes mit dem nationalen, d. h. imperialen Gedanken 4 , ist die Voraussetzung des sozialen Kaisertums, das seinerseits von der Masse des Volkes und der »industriellen Aristokratie« zur Führung der Weltpolitik berufen wird. Der Kaiser an der Spitze des imperialen Machtstaates überwindet die inneren Spannungen der gesellschaftlichen Umschichtung, die soziale Reform ist abhängig von der wirtschaftlichen und politischen Machtentfaltung der deutschen Nation. Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, Das Werk, Die Zeit, 2. Aufl., Stuttgart und Tübingen 1949. Richard Nürnberger, Imperialismus, Sozialismus und Christentum bei Friedrich Naumann, in: Histor. Zeitschrift 1 7 0 (1950), S. 525-548. Werner Conze, Friedrich Naumann, Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der national-sozialen Zeit (1895-1903), in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit, Festschrift für Siegfried A. Kaehler, Düsseldorf 1950, S. 355-386. William O. Shanahan, Liberalism and Foreign Affairs: Naumann and the Prewar German View. The Review of Politics 2 1 (1959), S. 188 ff. Vgl. auch das Vorwort Theodor Schieders und die Einleitung Wolfgang Mommsens zu: Friedrich Naumann, Werke, Politische Schriften, Bd. 2: Schriften zur Verfassungspolitik, Köln 1964, S. I X ff. und X X X I V ff. 1 Der soziale Kaiser, in: Die Hilfe 3 (1897), Nr. 4, S. 3 ff. » Die Hilfe 5 (1899), Nr. 3, S. 2. 4 Vgl. die Definition im National-sozialen Katechismus: »Was ist das Nationale Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluß auf der Erdkugel auszudehnen.« (National-sozialer Katechismus. Erklärungen der Grundlinien des NationalSozialen Vereins, Berlin und Leipzig 1897, § 1, 2.) 1

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Ansätze seines nationalsozialen Programms sah Naumann in der persönlichen Politik Wilhelms II. bereits verwirklicht. Das propagierte persönliche Regiment war ihm Beweis für die richtige Erkenntnis Wilhelms II., daß sich das Kaisertum nicht länger in den engen Rahmen einer Präsidialmacht pressen ließ: »Wir stehen heute vor der Tatsache, daß wir einen deutschen Kaiser haben, der nicht eine präsidiale Stellung vertritt, sondern eine persönliche Auffassung seiner Macht hat5.« Vor allem bestärkte die Flotten- und Weltpolitik des Kaisers Naumann in dem Glauben, Wilhelm II. sei als Führerpersönlichkeit geeignet, die neuen sozialen und imperialen Aufgaben zu erfüllen: »Bei dem Gedanken von dem größeren Deutschland, den unser Kaiser vertritt - schärfer als die meisten Volksgenossen . . . - , handelt es sidi schließlich um den Kampf großer Organisationen und Nationalitäten um die Verteilung der Erdkugel, um die Frage, ob wir in der Zukunft eine Dependenz des Engländertums werden, oder aber, ob wir mit allen Muskeln und Sehnen uns in die Zukunft einen Weg bahnen, koste es, was es wolle. In dieser letzteren Hinsicht hat unser Kaiser seine Aufgabe e r f a ß t . . .6.« Naumann war optimistisch genug, die innenpolitische Wende von 1894 in diese Gedankengänge einzuordnen. Er brachte die Umsturz- und Zuchthausvorlage - als vorübergehende Zugeständnisse an die konservative Partei - in Zusammenhang mit den Flottenplänen Wilhelms II. und erblickte in der angeblichen Reaktion doch audi einen Fortschritt vom sozialen Kaisertum konservativer Prägung zum Industrie- und Flottenkaiser der modernen Zeit 7 . Seiner Überzeugung nach denke Wilhelm II., wie die Februarerlasse, Handelsverträge, Flotte und Kanalbauvorlage bewiesen, »großindustriell« in richtiger Erkenntnis, daß die soziale Frage zunächst ein Problem des Handels darstelle8. Die Sozialdemokratie werde auf die Dauer zu der Einsicht gezwungen, daß materielle Bereicherung allein über den Fortschritt der modernen Gesamtentwicklung zu gewinnen sei nach dem Grundsatz: »Der Kapitalismus muß gefördert werden, damit er beerbt werden kann'.« Die dünne Schicht des industriellen Unternehmertums ist ihrerseits auf das »wachsende Massenvolk« angewiesen, da sie ohne parteipolitischen Anhang gegen die geschickt »agitierende Aristokratie« der Konservativen machtlos ist10. Die Auseinandersetzung zwischen den drei Aristokratien - agrarische, industrielle und klerikale - , die sich wiederum zu dem ausschlaggebenden Interessenkampf zwischen den beiden sozialen Gruppen und Parteiblöcken - ostelbischer Großgrundbesitz und Konservative auf der einen, Unternehmertum, »Gebildete« und Liberale 5

Protokoll über die Verhandlungen des National-sozialen Vereins, 3. Vertretertag zu Darmstadt 1898, Berlin 1898, S. 58. •Ebd., S. 65f. 7 Die Politik der Gegenwart. Wissenschaftliche Vorträge, Hamburg und Berlin 1905, in: Werke, Polit. Sehr., hrsg. von Theodor Sdiieder, Bd. 4: Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem, bearbeitet von Thomas Nipperdey und Wolfgang Sdiieder, Köln 1964, S. 45. 8 Ebd., S. 44, vgl.: Weltpolitik und Sozialreform, Vortrag, Hamburg 1899, S. 16. • Demokratie und Kaisertum (im folgenden zitiert nach: Friedrich Naumann, Werke, Politische Schriften, hrsg. von Theodor Sdiieder, Bd. 2: Schriften zur Verfassungspolitik, bearbeitet von Wolfgang Mommsen, Köln 1964, S. 1 ff.), S. 145. w Ebd., S. 193ff.und S. 152. 201

auf der anderen Seite - zuspitzt, füllt den politischen Spielraum zwischen Demokratie und Kaisertum und zwingt beide vor eine Entscheidung. Der dynamische Prozeß der Umschichtung, die Fortschritte in Technik, Handel und Verkehr weisen das Kaisertum an die Seite des siegreichen Industrialismus: »Solange aber der deutsche Imperator sich als gegebenen Führer zur weiteren Entwicklung darstellt, hat er eine Macht, die unerschütterlich ist, denn niemand garantiert so gut wie er die Verteidigung des deutschen Lebens nach außen11.« Das starke Kaisertum und die wirtschaftliche Expansion, »Weltmacht und Weltmarkt« 12 , bedingen sich gegenseitig. Beide brauchen, um wirksam zu sein, die Demokratie, denn die Masse des Volkes bringt »Heer, Flotte, Geld und Macht«13. So lautet die logische Schlußfolgerung: »Es zeigt sich, daß im Grunde Kaisertum, industrielle Aristokratie, Demokratie drei Erscheinungsformen ein und derselben Sache sind. Sie sind drei Folgen des Aufwachsens des neuen volkreichen gewerblidien Deutschland auf dem alten agrarischen Boden14.« Gleich Marx vertraute Naumann auf die umgestaltende Macht der ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Nach seiner Prognose ist die Zeit zwar noch nicht reif für eine Diktatur des Proletariats, die den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus einleitet, wohl aber für die »Diktatur des Industrialismus«, welche, die agrarische Herrschaft und das alte preußische Königtum überwindend, das soziale Kaisertum der Zukunft vorbereitet15. Das Muster einer Verbindung von Kaisertum und Masse fand Naumann im plebiszitären Cäsarismus Frankreichs, in der staatsrechtlich vom Volke konzedierten Einzeldiktatur: Die Volkssouveränität wird theoretisch anerkannt und kraft des demokratischen Prozesses der Wahl auf den Herrscher übertragen und von ihm ausgeübt. Mit Naumanns Worten: »Die Basis für das Regiment ist der Wille der Masse. Der Imperator ist Verkörperung des nationalen Gesamtwillens, er gründet sein Recht darauf, daß die Nation ihn braucht, und daß er das Heer hat16.« Schon Napoleon I. wird zum Vorläufer Wilhelms II., der mit ihm vor den gleichen Geschichtsproblemen steht: »das römische Kaiserproblem und das moderne Weltmachtproblem«17. Gestützt auf die Massen habe Bonaparte den »Purpurmantel Karls des Großen« nur als »dekorative Ausstattung« benutzt und sein eigentliches Lebensziel dem Kampf um die moderne Weltherrschaft geweiht, dem »Kampf der Romanen gegen die Angelsachsen um die Beherrschung des Weltmeeres«. Audi der französische Cäsarismus hatte nach Naumanns Geschichtsinterpretation seinen Schwerpunkt in der Außenpolitik. Napoleon wird »unter dem Gesichtspunkte der Weltpolitik« beurteilt. Eine Möglichkeit, das napoleonische System in Deutschland zu verwirklichen, sah Naumann nicht in einem Verfassungswandel, sondern in der 11 18 13 14 15 18 17

Ebd., S. 267. Die Politik der Gegenwart, S. 42. National-sozialer Katechismus, § 1, 4. Demokratie und Kaisertum, S. 272. Ebd., S. 272. Ebd., S. 267. Demokratie und Kaisertum, S. 265. Napoleon I., in: Die Hilfe 1 2 (1906), Nr. 47, S. 2 ff.

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enormen technischen Steigerung der psychologischen und sachlichen Herrschaftsmittel »im Zeitalter des Verkehrs«18. »Die Geschichtslage, das moderne Leben, die öffentliche Meinung und die Person des jetzigen Kaisers helfen dazu, die Fülle kaiserlicher Tatwirkung zu steigern. Es ist ein Faktor unter anderen, aber allerdings er ist der erste.« Der Charakter und der Rhythmus der Macht ändern sich, wo das Tempo, die Meisterung des technischen Apparates, die Impulsivität des Herrschers und die Schnelligkeit seines Handelns das politische Leben regulieren und bestimmen. So erklärt sich nach Naumann über die staatsrechtlichen Paragraphen hinweg die Entwicklung von der Institution des Bundespräsidiums, das nach der Verfassung lediglich an der Spitze eines, wenn auch von Preußen maßgeblich beeinflußten und beherrschten Kollegiums, des Bundesrates, stand, zu einem neuen eigenständigen »Amt zentraler Gewalt«. Die Entstehung der öffentlichen Meinung, welche einen unmittelbaren Kontakt zwischen Herrscher und Masse ermöglicht über Presse, Ansprachen, Rundreisen und dergleichen mehr, schafft eine Art »modernes Personalverhältnis zur kaiserlichen Zentralperson« 1 '. Es ist dieser neue Regierungsstil, der dem Imperator in der Übergangsperiode der Diktatur des Industrialismus erlaubt, selbst »Partei« zu ergreifen, seine persönliche Willensenergie und individuelle Tatkraft, gestützt auf die Militärgewalt, als Ersatz für die fehlendeMadit einer regierungsfähigen Aristokratie einzusetzen. In diesem Sinne will Naumann den Neuabsolutismus Wilhelms II. verstanden wissen, nicht als Rückfall in die unbeschränkte Fürstensouveränität von Gottes Gnaden, sondern als moderne Herrschaftsmethode und unmittelbare Teilnahme des Cäsars am politischen Kampf, als Protest der modernen Willensperson gegen staatsrechtliche Theorien oder praktische Versuche, den Fürsten zum bloßen Beauftragten anderer politischer Faktoren herabzudrücken20. Dieses einseitig voluntaristisch gesehene Kaiserbild überschlägt die komplizierten Verfassungsprobleme des Reiches. Die »umständlichen« Auseinandersetzungen der Staatsrechtslehre über die Souveränitätsfrage und die Kompetenzentrennung von Oberbefehlshaber, Bundespräsidium und Preußenkönig ersetzt Naumann durch das soziologischen Analogien entliehene Bild, er, der Kaiser, arbeite mit »zwei Maschinen unterschiedlicher Bauart«, als »Bewohner zweier Welten« verfüge er über zwei Beamtenkörper aus verschiedenen Entstehungsperioden und vereinige im »Doppelamt«81 des Kaisers und Königs am »Schalthebel der großen Dynamomaschine des Deutschtums«22 in seiner Person die alte und neue Tradition: »Als Preußenkönig hat er das Erbe der alten Tradition übernommen, als Kaiser ist er nationaler Imperator, Verkörperung des Gesamtwillens, persönlicher Führer aus einer alten in eine neue Zeit28.« Entsprechend wandelt sich der staatsrechtliche Begriff des monarchischen Bundesstaates in das Programm des »werdenden Volksstaates«, welcher 18

Ebd., S. 261 (nach einem Kaiserwort: »wir leben im Zeitalter des Verkehrs«). Ebd., S. 263. Vgl. auch: Auf dem Wege zum Bonapartismus, in: Die Zeit, Nationalsoziale Wochenschrift 2 (1902), Nr. 20, S. 626ff. 20 Ebd., S. 277 ff. 21 Die Politik Kaiser Wilhelms II., München 1903, S. 5. 22 Ebd., S. 9. 28 Demokratie und Kaisertum, S. 266.

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das Einheitsideal Treitsdikes von gänzlich anderen Voraussetzungen aus erneuert. Die imperialistische Herrschaftserweiterung, getragen von einem einheitlichen Militär- und Wirtschaftsvolk, zentralisiert die Nation und vertilgt ihre einzelstaatlidien Züge, auch die des agrarischen Preußen. Auf eine kurze Formel gebracht charakterisiert Naumann die Machterweiterung von Preußen ins Reich dahin, »daß Wilhelm I. König von Preußen war und im Nebenamte deutscher Kaiser, und daß Wilhelm II. Deutscher Kaiser ist und im Nebenamte König von Preußen«24. Losgelöst von den föderalistischen Verfassungsgrundlagen des Reiches und der bislang vorherrschenden Tradition des preußischen Staates, gründet das cäsaristisdie Kaisertum an der Spitze des nationalen Volksstaates allein in der Person des Cäsars. Naumanns utopisch klingender Entwurf einer Verbindung von Demokratie und Kaisertum, der verfassungspolitisch noch ganz ungenügend durchdacht war, verfiel hierin einer ähnlichen Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit wie die Versammlung der Paulskirche 1848 in ihrem Bemühen, die natürlichen Gegensätze von Erbmonarchie und Volkssouveränität theoretisch zu einer Einheit zu zwingen. Im Rausch des machtpolitischen und wirtschaftlichen Fortschritts glaubte Naumann, daß sich Wilhelm II. zwangsläufig der ihm gestellten Aufgabe nicht werde entziehen können. Darum begnügte er sich nicht mit einer gesellschaftskritischen Analyse, sondern suchte darüber hinaus einen entwicklungsgeschichtlichen, weniger auf Marx als auf Darwin gestützten Beweis für die Richtigkeit seiner Zukunftsprognose. Schon Bismarck wird zum Begründer des cäsaristischen Kaisertums, nicht mehr der preußisch-konservative Staatsmann, den wiederzuentdecken erst unserer Zeit vorbehalten blieb, sondern der »rücksichtslose Revolutionär«, der als Schüler des dritten Napoleon die einzelstaatlichen Monarchien vernichtete und die Einheit der Nation »durch Blut und Annektierung« erzwang*5. Im Bunde mit der demokratisch nationalen Bewegung, der er in Analogie zum Plebiszit des Cäsars das allgemeine Wahlrecht zusicherte26, hat Bismarck den »legitimistischen Nebel« zerblasen", die »Mystik der Könige« entschleiert und das neue militärische Kaisertum im deutschen Machtstaat errichtet28. Weder die Vorgeschichte der preußischen Monarchie im Sinne der borussischen Geschichtsschreibung2' noch die traditionelle Kaiseridee führten zur Einigung des Reiches, sondern allein »ein absoluter Machtinstinkt«, der keine »innere Scheu vor dem Heiligtum der Majestät« besaß. »Er (Bismarck) hatte die Pietätlosigkeit Napoleons und übertrug sie auf preußisch-deutsche Verhältnisse'0.« Kaisertum bedeutet das Gegenteil von Monarchie, die ihrerseits nur noch als militärische Macht beerbt wird 31 . Ebenso wird die alte Kaiseridee von 1871, die »unklarste« 24

Die Politik Kaiser Wilhelms II., S. 12. Demokratie und Kaisertum, S. 22. 2 « Ebd., S. 265. 27 Ebd., S. 252. " Ebd., S. 255. » V g l . ebd., S. 249 f. Ebd., S. 252. 81 Der Gegensatz von Monarchie und Kaisertum wird besonders scharf herausgearbeitet in der Broschüre »Der Kaiser im Volksstaat« von 1 9 1 7 , Werke, Polit. Sehr., Bd. 2, S. 474: » V o n ihm (Bismarck) an mußte in Deutschland die Monarchie entweder eine 29

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und »umstrittenste« Idee in der Fülle gärender Gedanken", von Naumann als »eine Erbsdiaft mittelalterlichen Denkens und Fuhlens«*8 abgelehnt: »Im Wort >Kaiser< lagen glänzende und beschämende Erlebnisse der deutschen Gesdiidite nahe beieinander, und wer damals vom Kaiser sprach, mußte ohne weiteres an die Entwicklung des habsburgischen Kaiserhauses denken. Man fühlte dem Wort etwas vom Hauche des Mittelalters an, von Romantik, Kreuzfahrt, Alpenzug, aber auch von Interregnum, Canossa und Finanznot... Was damals weit stärker war als die Kaiseridee, war der Gedanke der politischen und wirtschaftlichen Einheit an sich, und zwar der Wirtschaftseinheit im Sinne der gewerblichen, finanziellen und industriellen Entwicklung34.« So wird das Reich aus Naumanns Sicht zu einer antikonservativen, militärisch-kapitalistischen Gründung". Schon Bismarck, selbst der Prototyp des imperialistischen Machtpolitikers, berief den deutschen Kaiser zum Imperator des Nationalstaats. Eine solcherart auf die Vergangenheit projizierte Utopie, verquickt mit naturalistischer Geschichtsdeutung, liefert keine Legitimierung der neuen Ordnung durch eine echte historische Rechtfertigung, sie schafft vielmehr eine falsche Voraussetzung und verschleiert die wirkliche Problemlage. Werner Conze hat Naumanns optimistische Zukunftsgläubigkeit an den gradlinigen historischen Prozeß kritisch abwertend dem tapferen Pessimismus Max Webers entgegengestellt, der in wunschfreier Analyse den Inhalt dessen, was er politisch wollte, von dem, was politische Wirklichkeit war, zu trennen wußte: »Bei Naumann fehlte die Schärfe des wissenschaftlichen Geistes und die Größe zum Ertragen einer solchen Spannung8*.« Dennoch bleibt es ein Verdienst Naumanns, daß er in seiner Gegenwartsanalyse entscheidende Probleme des Kaiserreichs klar erkannt hat. Seiner Forderung nach einem nationalen Imperator, der sich aus der Umklammerung der konservativ beharrenden Kräfte löst und den Bund mit der industriellen Revolution eingeht, lag die richtige Einsicht zugrunde, daß andernfalls das der sozialen Wirklichkeit entfremdete Kaisertum für den werdenden Industriestaat verloren war87. Der Ausweg in eine parlamentarische Monarchie, der uns heute so viel einsichtiger erscheint als die gefährliche, weil den liberalen Verfassungsstaat verleugnende Diktatur des Cäsars, schien damals unter dem Aspekt des natio-

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neue Begründung erhalten oder konnte als lebendige Macht nicht mehr angesehen werden. Und in der T a t gelang ihm die neue Begründung. E r machte den Unterschied zwischen den überkommenen Monarchen im ganzen, die er Bundesfürsten nannte, und einem Volksoberhaupt, für das der N a m e Kaiser bereitlag.« Demokratie und Kaisertum, S. 238. Der Kaiser im Volksstaat, S. 465. V g l . ebd.: » U n d als der Preußenkönig Wilhelm I. zum Kaiser des Deutschen Reiches ausgerufen wurde, umschwebten noch immer die Wolken der karolingisdien Periode den feierlichen Vorgang. Die Könige beugten sich vor dem K a i s e r . . . « Demokratie und Kaisertum, S. 258. Ebd., S. 243. Conze, Friedrich Naumann, S. 358. Z u r Auseinandersetzung mit Conze vgl.: Theodor Schieder, Friedrich Naumann als politischer Schriftsteller, Vorwort, Werke, Polit. Sehr., Bd. 2, S. X I V ff.

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nalen Maditstaates und Primates der Außenpolitik38 nodi versperrt. Jedenfalls sah Naumann um die Jahrhundertwende keine Möglichkeit einer parlamentarischen Majoritätsbildung »auf vaterländischer Grundlage«8*. Da der Reichstag auch die Gesetzesvorlagen der kaiserlichen Regierung überließ, erblickte er in ihm nur noch einen »beratenden Körper«40 und »fleißigen Hilfsapparat der nationalen Alltagsarbeit« 41 gegenüber dieser eigentlichen Initiative. 1899 schrieb er in der »Hilfe«: »Wer macht unsere große Politik? Nicht das Parlament, sondern der Kaiser 41 .« Auf die Frage, »Sind wir eigentlich ein Volk, das sich ohne Cäsar selbst regieren kann?«, findet Naumann nur die skeptische Antwort: der neudeutsche Cäsarismus sei nicht ein »geschichtlicher Irrtum«, sondern »eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit«4®. Die negative Beurteilung der Parteienkonstellation teilte Naumann mit den meisten seiner Zeitgenossen. Als »Bismarcks Größe den Liberalismus zerdrückte«44, verging die Hoffnung auf eine geschlossene nationale Partei der bürgerlichen Mitte. Die in sich uneinige Linke versagte zunächst vor der A u f gabe des industriellen Sozialismus und fand nicht zu einer gemeinsamen Front gegen das Agrariertum. So dominierte nach 1890 im Reichstag das Zentrum, während der moderne Industriekaiser - eine »Ironie in der Geschichte«45 sich einzig auf eine konservativ klerikale Majorität verlassen konnte. Eine parlamentarische Regierung keineswegs grundsätzlich ablehnend, mußte Naumann bekennen: »Aber noch ist die große politische Retorte voll und übervoll von vorübergehenden kleineren Zentren, von unaufgelöstem politischen Rohstoff, von unbestimmbaren Zwischenbildungen. Auch dem kühnsten politischen Träumer kann es nicht einfallen, an ein baldiges fertiges Resultat unserer parteipolitischen Entwicklungen zu glauben. Es fragt sich sogar, ob wir bei der eigenartigen konfessionellen Zusammensetzung Deutschlands jemals zu einem reinlichen Zweiparteiensystem gelangen werden . . . Man kann also im Prinzip der denkbar reinste Demokrat sein und muß doch zugeben, daß in der gegenwärtigen Epoche die reine demokratische Formel für Deutschland eine geschichtliche Unmöglichkeit ist48.« So verschob sich die Alternative: parlamentarische Monarchie oder cäsaristisdies Kaisertum in die engere, leicht zu entscheidende Wahlparole von 1906: »Zentrum oder Cäsar47.« Die Schwäche der Naumannschen Position, abgesehen von dem allzu leichtgläubigen Vertrauen in die Person Wilhelms II., lag darin, daß er in seinem 98

Audi in »Demokratie und Kaisertum«, dem »Handbuch für innere Politik«, heißt es: »Die äußere Politik ist wichtiger und folgenschwerer als die innere.« (S. 268.) »»Ebd., S. 260. 40 Die Politik Kaiser Wilhelms II., S. 9. 41 So in der Reidistagsrede zur Daily-Telegraph-Affäre, Sten. Ber. vom 3. 12. 1908, S. 5946. « Die Hilfe 5 (1899), Nr. 50, S. 1. *» Im Zeitalter Wilhelms II., in: Die Zeit 1 (1901), Nr. 1, S. 9 f. 44 Die politische Mattigkeit der Gebildeten (1904), Werke, Bd. 4, S. 206. 45 Demokratie und Kaisertum, S. 233 f. Vgl. auch die sdiarfe Zentrumspolemik in der 3. Aufl. von »Demokratie und Kaisertum«, Anmerkungsapparat, S. 190 ff. 46 Ebd., S. 78. " D i e Hilfe 12 (1906), Nr. 52. Vgl. auch: Die Politik der Gegenwart, Werke, Bd.4, S. 56 ff.

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Kaiserbuch an konkrete Verfassungsvorsdiläge zur Erhöhung des parlamentarischen Einflusses noch gar nicht dachte. Auch der liberale Politiker und Parlamentarier war bereit, mit Lassalle den naturrechtlichen Demokratiebegriff als bloße Theorie abzulehnen und mit Darwin Politik als Kampf ums Dasein anzuerkennen, in dem Verfassungsfragen und politische Prinzipien keine ausschlaggebende Rolle spielen48. »Rechte entstehen nur im Lauf der Geschichte, und ihre Grundlage ist Macht4*.« Monarchie und Demokratie werden »im Großbetrieb der Politik«50 wesentlich technisch gesehen. »Demokratie als politische Idee«, wie das fünfte Kapitel von »Demokratie und Kaisertum« lautet, bedeutet in erster Linie politisches Zahlenprinzip: »Wir werden Millionen! Das ist der Grundgedanke der Politik des Industrievolkes... Es lebe die Zahl!« Nach Lassalles Trennung von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit vertritt Naumann die Auffassung, daß die konstitutionelle Monarchie nur einen Kompromiß zwischen demokratischem Stimmrecht und monarchisch militärischer Führung im praktischen politischen Leben darstellt51. Politische Reformen werden deshalb nicht in erster Linie durch Gesetzgebung und Fortentwicklung der Verfassung erreicht. Schon in der 1904 erschienenen dritten Auflage von »Demokratie und Kaisertum« nimmt Naumann die sdiarfe Polemik gegen das Naturrecht und das unbedingte Bekenntnis zum Machtkampf als Wesen des Politischen zurück. Mit der allmählichen Abkehr von der Illusion des plebiszitären Volkskaisertums treten die verfassungspolitischen Probleme immer stärker in den Vordergrund 51 . Wilhelm II. und seine Reden gegen den »inneren Feind« werden kritischer beurteilt5', und die Schuld am Scheitern des sozialen Kaisertums wird nicht mehr allein der Sozialdemokratie zugeschoben. In der »Hilfe« wandte sich Naumann mit aller Schärfe gegen die »sozialpolitische Sterilität« der Ära Posadowski54. »Von der Sozialpolitik zur Verfassungspolitik«, so bezeichnet er selbst die veränderte Problemstellung: »Die Gewinnung der industriellen Masse für eine deutsche Staatsgesinnung kann gar nicht anders vor sich gehen als auf dem Wege der Vermehrung des politischen Einflusses der Volksvertretung55.« Nicht mehr der französische Bonapartismus, sondern das englische System wird nun zum Modell für die deutsche Verfassungsentwicklung. Besonders in den Parlamentsreden und den verfassungspolitischen Schriften nach 48

Vgl. u. a. Demokratie und Kaisertum, S. 81 ff. Ebd., S. 69. 50 Die Politik Kaiser Wilhelms II., S. 7. 51 Demokratie und Kaisertum, S. 80 f. 51 Zu den verschiedenen Phasen in Naumanns verfassungspolitischen Schriften vgl. die Einleitung Wolfgang Mommsens, Werke, Polit. Sdir., Bd. 2, S. X L I V f f . " »Die Reden des Kaisers vom inneren Feind und vom Schießen auf Vater und Mutter haben tiefe Furchen im Volksbewußtsein gegraben. Das Heer wird als Zwangseinrichtung für Untertänigkeit empfunden. Es muß aber feststehen, daß der äußere Feind Gegenstand des Waffenkampfes sein soll . . . « (Demokratie und Kaisertum, Anmerkungsapparat, S. 317.) Zum Vergleich der Ausgaben siehe auch Mommsens Vorbemerkung zu Demokratie und Kaisertum, S. 1 f. 54 Der Kaiser und die Sozialreform, Die Hilfe 12 (1906), Nr. 47, S. 1. 55 Die Umgestaltung der deutschen Reichs Verfassung (1908), Werke, Polit. Sdir., Bd. 2, S. 365. 48

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der Daily-Telegraph-Affäre, die endgültig bewies, daß Wilhelm II. die ihm zugedachte Rolle des demokratischen Casars nicht erfüllen konnte, forderte Naumann entschieden die Parlamentarisierung. In weitaus nüchternerer Betrachtung des wilhelminischen Regierungssystems suchte er über jene Probleme Klarheit zu gewinnen, die in »Demokratie und Kaisertum« nodi vernachlässigt worden waren5*: die Rolle des Verwaltungsapparats im modernen Herrsdiaftsprozeß, die Formen der politischen Willensbildung, der Wahlvorgang, die Bedeutung der staatlichen Bürokratien für die politischen Entscheidungen. »Man kann ganz allgemein sagen«, lautete die Schlußfolgerung, »daß wir regiert werden durch heimliche Einverständnisse zwischen den Spitzen des Beamtenkörpers und den Spitzen starker Interessenten57.« Allein die positive Machtsteigerung des Parlaments garantiere eine Kontrolle der mitregierenden Interessenten, ein Korrektiv der kontrollfreien Beamtenherrschaft und die A b lösung der unter dem Einfluß der Hofgesellschaft stehenden Personalpolitik Wilhelms II. Obgleich Naumann die Möglichkeit einer Regierungsmajorität seit Bülows Blockpolitik günstiger beurteilte58, hielt er andererseits daran fest, daß die komplizierte Verfassungsstruktur des Reiches eine einfache Übernahme des englischen Systems verhinderte. Seine Darstellung des »monarchischen Labyrinths« umriß noch einmal die schwierige Stellung von Kaiser und Kanzler im Regierungsmechanismus und die unübersichtliche Verflechtung der Kompetenzen, deren Beschreibung er in »Demokratie und Kaisertum« bewußt beiseite gelassen hatte. »Als Militärfürst ist er (der Kaiser) souverän durch Verträge, als Zivilkaiser aber ist er Beauftragter des Bundesrates, dessen erster Teilnehmer er ist, als Finanzoberhaupt ist er abhängig vom Reichstage59.« Ebenso schillernd und unbestimmt ist das Verhältnis der Volksvertreter zum Reichskanzler: »Wen hat man denn vor sich, wenn man den Reichskanzler vor sich hat? Ist das der Beauftragte des Kaisers oder des Bundesrates, ist er der preußische Ministerpräsident, ist er der Diener der Dreiklassenregierung oder was ist er sonst? Er kann sehr verschiedene Röcke anziehen, nur einen hat er nicht: Beauftragter der Mehrheit zu sein"0.« Das deutsche Reich schließlich hat drei Vertretungen, in denen Parteitendenzen gegeneinander kämpfen: Reichstag, Bundesrat und die »unorganisierte Gemeinschaft der Minister und Staatssekretäre«. »Dieser Zustand ist das Ende aller politischen Handlungen 61 .« Im Namen der von Naumann vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zur Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts, zur Einsdiiebung parlamentarischer Kräfte in Ministerien und Reichsämter, zur Abhängigkeit des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers von der parlamentarischen Mehrheit wurde es notwendig, das Ideal vom plebiszitären Volkskaisertum kritisch zu Vgl. Mommsen, Einleitung, Werke, Bd. 2, S. X L V I I I ff. V o n wem werden wir regiert? (1909), Werke, Polit. Sdir., Bd. 2, S. 403. Vgl. auch: Wandlungen im Wesen des Staates (1905), ebd., S. 353 ff. 88 Der Parlamentskanzler, Die Hilfe 13 (1907), Nr. 50. Die Umgestaltung der deutschen Reichsverfassung, Werke, Bd. 2, S. 389. 69 Demokratie und Monarchie (1912), Werke, Bd. 2, S. 441. m Ebd., S. 442. 61 Die Umgestaltung der deutschen Reichsverfassung, S. 384. 56

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überprüfen und neu zu begründen. Die Abhandlung »Das Königtum«, die Naumann unter dem unmittelbaren Eindruck der Daily-Telegraph-Affäre schrieb, brachte die längst fällige Revision der Zukunftsträume vom nationalen »Imperator« Wilhelm II. 6! . Das persönliche Regiment ablehnend, fordert Naumann eine »Dezentralisation monarchischer Leistungen«63, die »Entpersönlichung des Monarchen«64, »kollegialisdi« nicht »autoritär« gefaßte Entschlüsse45 und das Zurücktreten des Herrschers hinter den verantwortlichen »Stellvertreter« 6 '. »Vom Absolutismus zum englischen System! Das ist das Ziel der deutschen Entwicklung67.« Eine grundsätzliche Anerkennung cäsaristischer Herrschaftsformen schließt Naumann auch jetzt nicht aus: »Noch heute kann es Cäsaren geben, aber es gehört dazu eben Cäsar68.« Den Beweis findet er in der gesellschaftlichen und industriellen Entwicklung, die nach monarchischen, d. h. cäsaristischen Lösungen verlangt. Die »neuen Könige« sind »Organisatoren großen Stils«, die Diktatoren der Parteien, Gewerkschaften, Großindustrien und Banken, die im Prozeß der Mechanisierung und Demokratisierung der Gesellschaft über die Masse aufsteigen, weil die Technik zur Einheit und einheitlichen Leitung drängt. »Die Zauberworte der Modernität sind Großbetrieb, Organisation, Disziplin6*.« Der Kaiser wird zum Repräsentanten des »neuen Monarchismus«, »ein Herrscher ohne langen Geschichtshintergrund, der Überwinder der Altertümlichkeiten, ein Präsident des Deutschtums ohne Ahnen«70. Die Legitimation des Monarchen, der sich insofern vom republikanischen Präsidenten nicht mehr unterscheidet, liegt einzig und allein in seiner Leistung. Die Tradition hingegen, die einst nur dazu diente, die Nützlichkeitserwägungen zu verschleiern, hat ihre Rolle ausgespielt. »Hinweg mit aller falschen Romantik! Sie verschleiert nur die eine Tatsache, die viel größer ist als Gold und Purpur, die Tatsache, daß ein Mensch von Fleisch und Blut uns führen muß, wenn wir um Tod und Leben kämpfen. Wer ist dieser Mann und was kann er71?« Dennoch bleibt auch das parlamentarische Volkskaisertum im Gegensatz zur Republik in emotionalen Schichten verwurzelt, in der »nationalen Seelenstimmung«, wie es Naumann in der kleinen Schrift »Der Kaiser im Volksstaat« ausdrückt74. Allein die rein gefühlsmäßig begriffenen Ziele der Nation ergeben 61

Vgl. Mommsen, Einleitung, S. X L I X . Das Königtum (1909), Werke, Polit. Sehr., Bd. 2, S. 436. " E b d . , S.435. « Ebd., S. 418. •»Ebd., S . 4 1 9 . Ebd., S. 408. 68 Ebd., S. 438. 6 * Ebd., S . 4 1 5 . 70 Ebd., S. 423; gelegentlich hat Naumann auch noch nach 1908 versucht, Wilhelm II. mit diesem neuen Monardientyp zu identifizieren. In der 1909 erschienenen Schrift »Form und Farbe« verehrt er Wilhelm II. noch einmal als einen Kaiser, »der die Amerikaner liebt und der gesagt hat, er möchte Direktor der Allgemeinen Elektrizitätsgesellsdhaft sein, wenn er nicht der Kaiser wäre« (Form und Farbe, Berlin 1909, S. 193). 71 Das Königtum, S. 419. n Der Kaiser im Volksstaat, Werke, Bd. 2, S. 483.

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einen Maßstab für die richtige Verteilung der Macht zwischen Demokratie und Kaisertum: »Ob Republik oder Monarchie wird nicht nach formalen Begriffen entschieden, sondern nach den Geschichtsgefühlen, die wir für das Kommende und Notwendige in uns haben für unser Volk und seine weltgeschichtliche A u f gabe. Unsere Seele fragt nicht nur nach einem Recht für Volks- oder Herrschersouveränität, sondern stellt den ganzen Rechtsstreit des vorigen und vorvorigen Jahrhunderts unter den höheren Gesichtspunkt: WelcheArt der Staatseinrichtung ist wirksamer für die Ziele der Nation 73 ?« Unter diesem Aspekt gibt die militärische Macht des Kaisertums für die nationale Behauptung den Ausschlag. Schon in »Demokratie und Kaisertum« hieß es: »Unsere ganze militärische Vergangenheit läßt für unser Volk gar keine andere Möglichkeit offen, als einen kaiserlichen Kriegsherrn zu haben, wenn wir auf geeinte deutsche Waffenkraft Anspruch erheben . . . « , denn »Diplomatie und Heeresleitung sind . . . nicht die starken Seiten der Demokratie und des Parlamentarismus74.« Der Krieg wird solcherart zur Bewährungsprobe für die Monarchie. Bereits 1909 schrieb Naumann: »Die monarchische Person wird voraussichtlich solange an der Spitze der deutschen Reichsverwaltung stehen, als sie einen ehrenhaften Frieden zu garantieren in der Lage ist oder sich im Kriege bewährt78.« W o aus staatstechnischen und funktionalistischen Erwägungen die Zweckmäßigkeit der Monarchie erörtert wird, ist jedoch die alte charismatische Kraft der einst aus dem Kriegsfürstentum erwachsenen Erbmonarchie längst erschüttert7'. Die Beteuerung royalistischer Gesinnung gleitet dann allzu leicht in eine vage Gefühlsangelegenheit oder in patriotische Proklamationen ab. Die während des Ersten Weltkrieges erschienene Broschüre »Der Kaiser im Volksstaat« gerät, schwankend zwischen soziologischem Tatbestand und monarchischer Ideologie, in eben dieses Dilemma. So analysiert Naumann in der Begriffssprache Max Webers die technischen Vorzüge der Erbmonarchie - »ein

Ebd., S. 484 f. Demokratie und Kaisertum, Werke, Bd. 2, S. 269 und S. 270 f. Vgl. die Verteidigung monarchischer Institutionen durch Max Weber auf einem Kongreß in St. Louis: »Wenn in einem alten Kulturland wie Deutschland sich die Notwendigkeit einer starken Armee erhebt, die Deutschland benötigt, um seine Unabhängigkeit zu bewahren, so bedeutet das für die politischen Institutionen Unterstützung einer erblidien Monarchie. Auch ein entschiedener Anhänger demokratischer Einrichtungen, wie ich es bin, kann nicht wünschen, sie zu beseitigen, wo sie sich erhalten hat. Denn in Militärstaaten ist es, wenn nicht die einzige, so doch die historisch bestverbürgte Form - weil die Dynastie ein persönliches Interesse an der Erhaltung von Gesetz und Recht hat - in der die cäsaristische Säbelherrschaft militärischer Parvenüs vermieden werden kann, die in Frankreich immer wieder droht. Die erbliche Monarchie - man mag theoretisch über sie urteilen wie man will — gewährleistet in einem Staate, der gezwungen ist, Militärstaat zu sein, die größte Freiheit der Bürger - so groß sie halt in einer Monarchie sein kann.« (Kapitalismus und AgrarVerfassung, Vortrag von 1904, rüdeübersetzt von H. Gerth, in: Zeitsdlr. für d. gesam. Staatswissenschaft 108, 1952, zitiert bei W o l f g a n g J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1959, S. 286.) ' 5 Das Königtum, S. 450. 76 V g l . hierzu: Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: Forschungen und Vorträge 5, 1956, S. 279 ff. 78

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höchst wertvolles Element der Sicherheit des masdiinellen Ganges«" - und vergleicht den Kaiser mit einem Großunternehmer, seine Beamtenschaft mit den Angestellten eines Betriebes: »Der alte Zauber ist gebrodien, die Könige sind Mensdien geworden, und ihre Zweckmäßigkeit wird erörtert78!« Jedoch steht die soziologische Analyse in merkwürdigem Kontrast zu der vorherrschenden patriotischen Verehrung für das »wunderbare Amt« des Kaisers, das ins »Übersinnliche« und »Unausdenkliche« hineinragt, »ein Symbol wie ein altes Heiligtum«7®. Der organologische Volksbegriff und die Rechtfertigung des deutschen Kaisertums als »gewachsenes und gewordenes« Produkt der deutschen Geschichte geraten in Widerspruch zu der rein pragmatischen Begründung der Monarchie. Wenn Naumann einerseits den Königsglauben als »Illusion« entlarvt und im gleichen Augenblick die Blindheit des Naturalismus gegen alle »Ideenverkörperung« anprangert80, so spiegelt dieser Zwiespalt beispielhaft die Schwierigkeit, die Legitimierung der Monarchie in den modernen Verwaltungsstaat hinüberzuretten. Das Symbol als »notwendige Illusion« wird zu einem sozialpsydiologisdien Phänomen, das den irrationalen Bedürfnissen der modernen Massengesellschaft Rechnung trägt81. »Die Menschheit will Repräsentanten haben, Signalpersonen, Präsidenten, mögen diese nun Bebel heißen oder Tolstoi, Ballin oder Kirdorf, Mendelssohn oder Kanitz, Röntgen oder Zeppelin, Roosevelt oder Wilhelm II. 81 .« Es konnte nicht ausbleiben, daß Naumanns Ideal vom Volkskaisertum bei den Zeitgenossen auf viele Mißverständnisse stieß. Besonders das Kaiserbuch von 1900 verleitete zu der falschen Hoffnung, daß der nationale Gedanke die sozialen Probleme lösen und zur spannungslosen Harmonie der Volksgemeinschaft führen würde. So erschien nun etwa der Flottenbau als »die einzige natürliche Lösung der sozialen Frage«8*, und die »Schöpfung des nationalen Staates, der dem Sohne des deutschen Volkes Schutz und Sicherheit verleiht«, berechtigte bereits, vom Erfolg des sozialen Königtums zu sprechen84. Andererseits bewies der schroffe und unversöhnliche Gegensatz der Kritiker von links und rechts über das Verbindende der Naumannschen Vorstellungen hinweg nur zu deutlich die Realität der Klassengegensätze und die Spannung von Staat 17

Der Kaiser im Volksstaat, S. 491. Ebd., S. 4 7 1 . " E b d . , S.498. 80 »Alles Heilige und Symbolische sieht in der N ä h e gelegentlich sehr menschlich aus . . . Das bedarf keiner Verheimlichung, denn wir alle sind realistisch und naturalistisch erzogen und wollen keine ungebrochene Illusion. N u r soll man sich wehren gegen die Alltagsklugheit, die aus naturalistischen Gewöhnlidhkeitsgründen für alle Ideenverkörperung blind wird. A u d i die exakteste Demokratie braucht und verwendet ihre notwendigen Illusionen, indem sie an den Geist der Masse glaubt.« (Ebd., S. 498.) 81 Z u r Funktion der nationalen Symbole im modernen Staat vgl. Sdiieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1 8 7 1 , S. 72, weitere Literaturangaben ebd., S. 1 7 3 , Anm. 135. 81 Das Königtum, S. 4 1 6 . 88 So in der 1901 erschienenen 2. Auflage von: Georg Wislicenus, Deutschlands Seemacht sonst und jetzt (1. Aufl., Leipzig 1895), S. 284. 84 Paul Liman, Hohenzollern, Berlin 1905, S. 1 7 6 f. 78

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und Gesellschaft im wilhelminischen Kaiserreich. Hier die legitime Obrigkeit von Gottes Gnaden 85 , dort das persönliche Regiment als Repräsentant des junkerlichen Adels 88 , so traten sich erneut die Auffassungen über Monarchie und Kaisertum entgegen. Dazwischen stand die resignierende Einsicht der Frankfurter Zeitung: »Wenn es einen Ausgleich in den >nationalen< Fragen gibt, so macht ihn die Regierung selbst durch ihre reaktionär allgemeine Haltung unmöglich87.« Während die konservative Parteipresse den demokratischen Kaiser, der einem Präsidenten der Republik gleichkäme, unwillig ablehnte88, berief sich der »aufgeklärte Konservatismus«89 trotz vorsichtigen Lobs für die »programmatische Arbeit« und den »bedeutenden Propheten und Führer in das gelobte Land einer besseren sozialen Zukunft«' 0 entschieden auf die schiedsrichterliche Obergewalt der über den Klassen und Parteien stehenden Krone. Naumann unterschätze die Macht der Monarchie, schrieb Delbrück in den Preußischen Jahrbüchern; nur die Autorität des Kaisertums über den Minoritätsparteien des Reichstags bewahre das staatliche Gleichgewicht. In einem Aufsatz über die revisionistischen Tendenzen in der Sozialdemokratie stellte sein Mitarbeiter an den Jahrbüchern, Max Lorenz, sehr viel pessimistischer als Naumann fest, daß sich nicht der Gehalt und Sinn des Kampfes um die Herrschaft der »absoluten Demokratie«, sondern nur die Taktik des nadi wie vor marxistischen Sozialismus geändert habe. Lorenz hob ausdrücklich das Kaisertum gegen Imperialismus und Cäsarismus ab und identifizierte es erneut mit dem monarchischen Prinzip: »Das auf der Grundlage des Preußentums ruhende deutsche Kaisertum wird der Felsen sein, an dem die demokratische Brandung zügelloser Massengelüste sich zerschlagen wird 91 .« Der bestehende Beamten- und Militärstaat, so pflichtete Gustav Schmoller bei, werde allein Herr über die Kartelle und Arbeiterorganisationen 98 . Das von Naumann erstrebte Endziel eines parlamentarischen Zweiparteiensystems wird aus Furcht vor einem mög-

Die beiden wichtigsten Kritiken dieser Richtung: Hans Delbrück, Politische Korrespondenz, in: Preuß. Jahrb. 100 (1900), S-373ff. Und: Gustav Sdimoller, Demokratie und soziale Zukunft, in: Zwanzig Jahre deutscher Politik (1897-1917), München und Leipzig 1926, S. 103-112. 88 Vgl. bes. die beiden Rezensionen von sozialdemokratischer Seite: Eduard Bernstein, Sozialdemokratie und Imperialismus, in: Sozialistische Monatshefte 4 (1900), S. 238 ff. Franz Mehring, Demokratie und Kaisertum, in: Die Neue Zeit 18,2 (1899/ 1900), S. 65 ff. 87 Teilabdruck der Kritik in der »Hilfe« 6 (1900), Nr. 20, S. 4 f . Vgl. Theodor Barths Besprechung in der »Nation«: »Aber in der Politik kann etwas längst veraltet sein und lebt doch zähe weiter. Das sehen wir an unseren alten Parteien, die sich sämtlich mehr oder weniger überlebt haben; das sehen wir vor allem an der zäh aufrecht erhaltenen politischen Machtstellung des preußischen Junkertums, für die es in unserer modernen industriellen Entwicklung längst keine innere Berechtigung mehr gibt.« (Die Hilfe 6,1900, Nr. 20, S. 4.) 88 So der »Reidisbote«: »Ein Demokrat als Kaiser ist ein Unsinn . . . « Die Hilfe 6 (1900), Nr. 19, S. 6. 89 So Delbrück, S. 377. 90 Ebd., S. 373, Schmoller, S. 112. 91 M a x Lorenz, V o n der Utopie zur Praxis, in: Preuß. Jahrb. 105 (1901), S. 123. 91 Schmoller, S. 109.

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liehen Dualismus in Erinnerung an den preußischen Verfassungskonflikt abgelehnt: »Ohne die Augen zu verschließen vor den inneren Mängeln, die auch unserm Regierungssystem anhaften, muß ich dodi sagen, daß ich in ihm eine weit höhere und bessere Form der politischen Gestaltung sehe als in irgendeinem anderen Staate der Gegenwart«, bekannte Delbrück noch 1914. »Der Kaiser mit den Bundesfürsten repräsentiert eine in sich selbst ruhende, historische Gewalt, die legitime Obrigkeit, die Obrigkeit >von Gottes Gnaden«, ausgewirkt zu dem regierenden Organismus des Beamtentums und des Offizierskorps, und neben dieser spezifischen, organisierten Regierungsgewalt steht als überaus mächtiges Organ der Kontrolle und der Kritik, dessen Zustimmung nicht zu entbehren ist, die Volksvertretung, der Reichstag93.« Für den industriellen Sozialismus und die nationale Demokratie bleibt in diesen Rezensionen wenig Raum. Schmollers Staatsethos widerstrebte einer Auffassung, die den Staat als »Großgeschäft« zur Erzeugung »einiger Imponderabilien« wie Heer, Verfassung, Recht ansieht94, während Delbrück die Wichtigkeit des Agrariertums für die innere Politik, die Struktur der Nation, die Gesundheit und Allseitigkeit ihres Daseins hervorhebt98. Von der Bejahung nationaler Politik sei die Sozialdemokratie noch weit entfernt: »Daß ihre eigene wirtschaftliche Existenz an der Weltpolitik hängt wie die Gondel am Luftballon, davon hat diese Arbeiterschaft noch nicht die entfernteste Vorstellung, und ehe sie diese nicht hat, kann Deutschland keine demokratische Politik machen96.« Eduard Bernstein in seiner Besprechung des Naumannschen Kaiserbuches in den Sozialistischen Monatsheften erwartete seinerseits den Gesinnungswechsel vom Gegner und vertauschte die Delbrücksche Forderung - erst national, dann demokratisch - mit der umgekehrten Reihenfolge: »Solange das deutsche Kaisertum, in dessen Händen die Vertretung der Nation nach außen ruht, in seinem ganzen Wesen undemokratisch bleibt, heißt nationale Politik in dem Sinne, wie Naumann sie versteht, Preisgabe der Demokratie um möglicher, aber nidit einmal sicherer kleiner Vorteile willen97.« Die Naumannsche Synthese von Sozialismus und Kapitalismus war für den Marxisten undenkbar: »Parteien sind keine Kindergesellschaften, die man an den Kaffeetisch setzt, damit sie sich wieder vertragen. Sie sind notwendige Produkte der in der Gesellschaft vorhandenen ökonomischen und ideologischen Gegensätze, ihr Kampf zwecknotwendiges Ferment der gesellschaftlichen Entwicklung98.« Es zeigt sich, wie kompliziert in der Praxis der Politik ein Revidieren der Programme im Sinne des Naumannschen »nationalsozial« durch die Erstarrung der Fronten bereits geworden war. Bernstein ist nicht bereit, die Flotte als notwendige Bedingung des Welthandels oder gar als »demokratisches Institut« anzuerkennen. Die Flotte ist 95

Regierung und Volkswille. Eine akademische Vorlesung, Berlin 1914, S. 186. Sdimoller, S. 108. 95 Delbrück, Politische Korrespondenz, S. 377. M Ebd., S. 376. 97 Bernstein, S. 251. 98 Eduard Bernstein, Kaiserhodi und Verwandtes, in: Sozialist. Monatshefte 16 (1912), S. 72394

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auf Entfaltung von Madit ausgeriditet und stärker noch als das Heer den persönlichen Dispositionen des obersten Kriegsherrn unterworfen, d. h. jeder demokratischen Kontrolle entzogen. Auch der Begründer der revisionistischen Bewegung innerhalb der Sozialdemokratie vertrat den Standpunkt: »Nein, unter den heutigen politischen Verhältnissen Deutschlands kann die Sozialdemokratie nicht mit den kapitalistischen und Grundbesitzparteien im Bewilligen von Militär und Flotte konkurrieren. Dem Imperialismus in Deutschland fehlt das Stüde Demokratie, das dem heutigen englischen Imperialismus innewohnt...".« Die Flotte ist somit nur Stütze des deutschen »Halbabsolutismus«, aber nicht, wie in England, Schutz wirtschaftlicher Expansion unter parlamentarischer Kontrolle. Schärfer und kompromißloser als Bernstein lehnte Franz Mehring in der »Neuen Zeit« überhaupt jede Form von Imperialismus gemäß der kommunistischen These von der Weltpolitik des sterbenden Kapitalismus als »reaktionäre Wirtschaftspolitik« ab. »Die Eroberung des Weltmarktes durch die arbeitende Hand oder durch die gepanzerte Faust sind zwei total verschiedene Dinge . . .10°.« An die schiedsrichterliche Obergewalt der Krone oder an die uneigennützige Parteinahme der Person Wilhelms II. durch das von Naumann geforderte eigenständige »Kaiseramt« glaubten weder Bernstein noch Mehring. In Anlehnung an die Bonapartismuskritik von Marx und Engels heißt es in den Sozialistischen Monatsheften: »Er steht nicht als vom Himmel geschneiter Fürst über den Parteien, über den Klassen. Er gehört selbst einer Klasse an, er repräsentiert die Tradition einer Klasse, und diese Klasse ist mit keiner intimer verwandt, als mit den ostelbischen J u n k e r n . . . Seine Erlasse, seine Reden, seine Mottos sprechen es deutlich aus, er ist als Hohenzoller zuerst Vertreter des persönlichen Regiments, Standesherr, vornehmster Repräsentant des hohen, junkerlichen Adels 101 .« Der Kaiser kann darum auch nicht als Symbol des Reiches die Einheit der Nation verkörpern. Die Idee, daß man im Kaiser »den Führer der Nation« zu feiern habe, ist für Bernstein nur ein Rückfall in die Feudalzeit und ein Ausdruck für die politischen Tendenzen des persönlichen Regiments. Die Ansicht »Das Reich ist der Kaiser« erinnert ihn an das bekannte Diktum Ludwigs XIV. 1 0 i . Naumanns geistreiche Konstruktion einer Versöhnung von Demokratie und Kaisertum liefert so im Spiegel der widerstreitenden Kritiken zugleich einen Beweis für die unlösbare Spannung zwischen konstitutioneller Monarchie und Sozialdemokratie. Erst seine verfassungspolitisdien Schriften zum parlamentarischen Volkskaisertum nach 1908 fanden zumindest auf dem revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie ein günstigeres Echo. Die Möglichkeit, Nationalismus und Demokratie, Monarchie und Republik einander anzuM 104 101

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Bernstein, Sozialdemokratie und Imperialismus, S. 248. Mehring, S. 67. Bernstein, S. 247. V g l . die Kritik im Volksblatt für Anhalt: »Das Kaisertum wird immer nur der Führer und Repräsentant der herrschenden Klassen oder doch einer derselben sein oder es wird nichts sein . . . Das Kaisertum ist nicht wie die Sozialdemokratie eine selbständige Macht. E s ist nur durch andere Mächte, die hinter ihm stehen, mächtig.« (Teilabdruck in: Die Hilfe 6, 1900, Nr. 26, S. 5 ff.) Kaiserhoch und Verwandtes, S. 7 2 3 f.

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nähern, wurde für das parlamentarische System nidit ausgeschlossen. In der Entwicklung zum Parlamentarismus fiel dem Nationalismus sogar eine entscheidende Rolle zu. Die »nationale Selbstvergötterung«, meinte Karl Leuthner in den Sozialistischen Monatsheften10®, verdränge das monarchische Gefühl und die Königstreue - selbst bei den Konservativen, wie ihre Kritik am persönlichen Regiment beweise: »In gewissem Sinn sind wir heute alle Republikaner104.« Der Konflikt zwischen Kaiser und Nation in der Daily-TelegraphAffäre erscheint ihm symptomatisch für das Scheitern der dynastischen Politik und die Unfähigkeit der Monarchie, die Kräfte des Volkes zu organisieren und mit den Staatszwecken zu verbinden. Wenn sich aber der Mittelpunkt des staatlichen Lebens in die Nation verlegt, so ist sie Zweck des Staates, das heißt, die »Majestät« liegt beim Volke, und der König ist »nur Repräsentant«, die Monarchie »zum Schatten herabgesunken«105. Die von Naumann propagierte Aufhebung der Gegensätze von Monarchie und Republik in der Praxis des politischen Lebens wurde von dem dialektisch gespannten Entwicklungsdenken der Revisionisten bestätigt. »Durch das parlamentarische System wird die Monarchie eben derart umgestaltet, daß sie sich ihrem Wesen nach von einer monarchischen Republik nur noch darin unterscheidet, daß das Staatsoberhaupt einen monarchischen Titel zu führen berechtigt ist«, schrieb Ludwig Quessel 1912 in einem Aufsatz über »Sozialdemokratie und Monarchie«106. A m Beispiel der Verfassung Belgiens erklärt er, man könne im Hinblick auf die staatsrechtlichen Funktionen ebensogut von dem »Präsidenten einer republikanischen Monarchie« wie von dem »König einer monarchischen Republik« sprechen: »Sobald in einem Staate das parlamentarische Regierungssystem einmal durchgeführt ist, ist aber auch durch den Gang der historischen Entwicklung der prinzipielle Gegensatz zwischen Monarchie und Republik aufgehoben1".« Die Monarchie sei nach den Gesetzen historischer Evolution kein fester Kristall, sondern ein in ständiger Umwandlung begriffener Organismus108. Die staatsrechtliche Stellung des Kaisers im Reich, die mit der des »Bundespräsidenten« identifiziert wurde, erleichterte die republikanische Interpretation. A l s Oberhaupt des Reiches seiWilhelmll. nach dem Wortlaut der bundesstaatlichen Verfassung nichts anderes als der »Präsident des deutschen Staatenbundes (!), der den monarchischen Titel Deutscher Kaiser führt«, heißt es bei Quessel108. Die nüchterne Besinnung auf die Funktionen des »Bundespräsidenten«, die ganz im Sinne Naumanns die monarchische Tradition Preußens ebenso ausklammerte wie die Romantik der Kaiseridee, ermöglichte eine A r t

Karl Leuthner, Das Königtum und die Wahlreform, in: Sozialistische Monatshefte 14 (1910), S. 92 ff. 104 Ebd., S. 94 f. 105 Karl Leuthner, Monarchismus und die Macht des Reiches, in: Sozialist. Monatshefte 12 (1908), S. 1507 ff. 1M In: Sozialist. Monatshefte 16 (1912), S. 272. 107 Ebd., S. 275. 108 Ebd., S. 271. , M Ebd., S. 275. Ähnlich: Bernstein, Kaiserhoch und Verwandtes, S. 723. 1M

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stillschweigende Anerkennung der Monarchie, ohne daß die grundsätzliche Gegnerschaft aufgehoben wurde 110 . Die Radikalisierung nach links und rechts im Ersten Weltkrieg ließ die beiden möglichen Realisierungen des Volkskaisertums auseinanderbrechen: in die Militärdiktatur Hindenburgs und Ludendorffs und in die zu spät und auf den Druck von außen erfolgte Errichtung der parlamentarischen Monarchie, deren Autorität bereits erschüttert war. Unfähig zur politischen und militärischen Führung oder auch nur zur Vermittlung zwischen der OHL und der Zivilregierung wurde der Kaiser zu den wichtigen Entscheidungen des Krieges mehr gezwungen, als daß er sie selbst herbeigeführt hätte. »Er ist nachgerade völlig ausgeschaltet«, notierte sein Kabinettschef Georg von Müller, »nicht weil er auf Rechte, sondern weil er auf Pflichten verzichtet hat 111 .« Die Augenblicke der Selbsttäuschung und der Illusion, die ihn erneut in die Hybris zurückfallen ließen, als ob er in der Rolle des Oberbefehlshabers die Geschicke des Krieges bestimmte, wechselten mit der resignierenden Einsicht: »Wenn man sich in Deutschland einbildet, daß ich das Heer führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den Herren beliebt.. , 111 .« In der Atmosphäre eines erschreckend banalen und inhaltslosen Lebens im Großen Hauptquartier verlor der Kaiser weitgehend den Bezug zur Realität, sei es, daß er die Erfolge in der Pose des Siegers überschätzte11®, sei es, daß er stark deprimiert bei jedem Fehlschlag die nahende Katastrophe prophezeite114. Der Kaiser, stellte Müller im Juni 1918 fest, »habe völlig den Boden unter den Füßen verloren« 115 . Bei einer Zusammenkunft mit Parlamentariern anläßlich der Friedensresolution - eine der wenigen Gelegenheiten, die Wilhelm II. in Berührung mit der Außenwelt 119

V g l . die Diskussion über die Beteiligung sozialdemokratischer Abgeordneter am Kaiserhoch im Parlament und über den »Hofgang« des Reidistagspräsidenten, ein A m t , das 1 9 1 2 Scheidemann übertragen werden sollte. Hierzu schrieb W o l f g a n g Heine in den Sozialistischen Monatsheften: »Dieser Besudh (bei Hofe) fällt ganz in den Rahmen der staatsrechtlichen Stellung des Reichstages und des Kaisers; in seiner Eigenschaft als Bundespräsident und in keiner anderen empfängt er die Reidistagspräsidenten.« (Präsidentenwahl, Hofgang, Kaiserhodi, in: Sozialist. Monatshefte 16, 1 9 1 2 , S. 337.) 111 Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marine-Kabinetts Admiral Georg Alexander von Müller 1 9 1 4 - 1 9 1 8 , hrsg. von W a l t e r Görlitz, Göttingen 1959, S. 3 1 7 (16. 8. 1 9 1 7 ) . 111 Ebd., S. 6 8 ( 6 . 1 1 . 1 9 1 4 ) . 11S A u f der Höhe des Ostfeldzugs von 1 9 1 5 will der Kaiser ganz Polen behalten und Flandern niemals herausgeben. Die Skagerrakschladit feiert er als großen Sieg, der noch T r a f a l g a r in den Schatten stelle (ebd., S. 189), im Dezember 1 9 1 7 nennt er die noch gar nicht beendete Flandernschlacht, die nur mühsam die Abwehr behauptete, »die größte Schlacht aller Zeiten«, deren Ruhm Napoleon und Friedrich den Großen übertreffe. (Ebd., S. 338.) 114 Schon am 18. 10. 1 9 1 4 , nach den Rückschlägen in Polen und Ypern: »Es kommt uns niemand zu Hilfe. W i r stehen ganz allein und müssen eben mit Anstand untergehen.« (Ebd., S. 67.) V g l . auch etwa den Ausruf bei der Nachricht über die Kriegserklärung Rumäniens: »Das ist das Ende des Krieges.« (27. 8. 1 9 1 6 , ebd., S. 216.) » « 30. 6. 1 9 1 8 , ebd., S. 389.

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brachten - waren die beteiligten Abgeordneten übereinstimmend so entsetzt über die »wahnwitzigen« Reden und Monologe des Kaisers, daß sie an seiner Geistesverfassung zweifelten 116 . Die von Wilhelm II. vorgenommene Verschiebung von der institutionellen zur personalen Autorität des Kaisertums wirkte sich durch die Kriegsumstände doppelt verhängnisvoll aus. Z w a r hatten im Mai 1 9 1 6 hohe Offiziere und Beamte noch einmal den Versuch unternommen, das Ansehen der Monarchie wieder zu befestigen, sogar durch Propagandafilme »über die in harter Pflichterfüllung geleistete Arbeit des Monarchen und der Mitglieder seines Hauses, über Einfachheit ihrer Lebensweise, Leistungen vor dem Feinde, Verluste . . . « m , aber der Widerspruch zwischen Schein und Sein ließ sich auf die Dauer nicht verdecken. Der Niedergang des Royalismus war im Kriege nicht mehr aufzuhalten 118 . »Krieg drängt nach Diktatur«, schrieb Bethmann Hollweg später rückblickend in seinen Memoiren, »und wenn keine obere Stelle in voller Freiheit der Entschließung die an sich unvermeidlichen Reibungen zwischen militärischer und politischer Führung aufzuhalten vermag, werden militärische Prätentionen nicht ausbleiben 11 '.« W i e gründlich die Fiktion vom »Führer der Nation« zerbrach, bewies die Befragung der Stabsoffiziere beim Ausbruch der Novemberrevolution, die zu dem Ergebnis führte, der Schattenkaiser sei den kriegsmüden Truppen »eigentlich ganz gleichgültig«. Der Fahneneid, meinte Groener, bedeute nur noch eine »Idee«, die nicht mehr erfüllt würde 120 . Ebensowenig hätte der von einer kleinen Gruppe von jungen Offizieren geplante Fronttod des Kaisers noch eine Symbolkraft besessen121. »Er redete unausgesetzt«, schrieb Sdieidemann über die Unterhaltung, »von einem zum andern überspringend, als befürchte er direkt, daß einer eine Bemerkung machen könne.« Über eine Stunde sprach der Kaiser über einen Kontinentalblock gegen England, einen »zweiten punischen Krieg« unter seiner Führung, und provozierte die Abgeordneten mit törichten Äußerungen, wie »wo die Garde auftritt, da gibt es keine Demokratie« usw. (Philipp Sdieidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Dresden 1928; vgl. die Schilderungen bei: Matthias Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart und Berlin 1920, S. 52 ff. und: Friedrich Payer, Von Bethmann Hollweg bis Ebert, Frankfurt a. M. 1925, S. 179 ff. 117 Ursachen des deutschen Zusammenbruchs 1918, 4. Reihe, 1925 ff., Bd. 5, S. 130 f. Hierzu: Karl Heinz Janssen, Der Untergang der Monarchie, in: Weltwende 1917, hrsg. von Helmut Rößler, Göttingen 1965, S. 94 f. 118 Vgl. Bethmann Hollwegs scharfes Urteil über den Niedergang des monarchischen Gefühls bei den Konservativen: »der Kaiser habe das deutsche Volk in den letzten zwanzig Jahren von Grund aus verdorben und Eitelkeit und Chauvinismus großgezogen. Nur die unteren Schichten des Volkes seien wirklich deutsch geblieben. Der Kaiser habe sein und der Dynastie Ansehen schwer geschädigt, so weitgehend, daß der Freund des Kaisers, Herr v. Buch . . . erklärt habe, unter diesem Kaiser nähme er kein Amt an.«( Regierte der Kaiser?, S. 243, 9. 1. 1917.) 111 Theodor von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, 2. Teil: Während des Krieges, Berlin 1921, S. 48. 120 Siegfried A. Kaehler, Vier quellenkritische Untersuchungen zum Kriegsende 1918, in: Studien zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Aufsätze und Vorträge, Göttingen 1961, S. 283 ff. Vgl. Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen, hrsg. von Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 457. m Wilhelm Michaelis, Zum Problem des Königstodes am Ende der Hohenzollernmonarchie, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13 (1962), S. 695 ff. (Mit Beiträgen von Paul Sethe und Siegfried A. Kaehler.)

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Die Hoffnung, daß der von den Massen geführte moderne Volkskrieg zu einer politischen und gesellschaftlichen Umschichtung führen würde, scheiterte an der Radikalisierung der demokratischen Kräfte und dem drohenden »Staatsstreich von rechts«114. Der Krieg übersteigerte die Gegensätze zwischen demokratischer und konservativ-autoritärer »Weltanschauung« ins Maßlose, die sich nun mit den außenpolitischen Zielen — hier Verständigungsfriede, dort Kriegsannexionismus — verquickten. Im Entscheidungsjahr 1917 versuchte Bethmann Hollweg vergeblich, mit Naumanns nationaler Sammlungsparole vom sozialen Kaisertum seine Politik der »Neuorientierung« zu stützen 1 ". Die Osterbotschaft über die in Aussicht gestellte preußische Wahlrechtsreform, so meinte er, habe die Krone noch einmal zur Führerin gemacht"4; aber die tiefe Enttäuschung, die das halbe Zugeständnis der nur direkten und geheimen, nicht gleichen Wahl auf der Linken hervorrief, und die Unnachgiebigkeit des preußischen Abgeordnetenhauses kündigten eher die Gefahr an, daß die Monarchie zwischen den divergierenden Lagern zerrieben würde. Die Denkschrift desOberstenBauer für Ludendorff tadelte schroff, daß die Regierung der Volksstimmung nachgebe, statt einen »starken Staat« und einen »starken Willen« zu demonstrieren 1 ". Der Reichskanzler, sekundierte Oberst von Seeckt, sei kein »moderner Bismarck«, wie man ihn jetzt für die Gründung eines mitteleuropäischen Herrschaftsgebietes »vom Atlantischen Ozean bis Persien« brauchen würde. Dafür sei allein ein »Führer« berufen »mit kühlem Kopf und innerem Feuer, ein Mann von Glauben an sich und sein Volk und Schwert; kann es heute ein anderer als Soldat sein?«"'. Als im Juli 1 9 1 7 die OHL den Kaiser mit der Drohung ihres Rüdetritts zur Entlassung Bethmann Hollwegs zwang, soll Wilhelm II. in klarer Erkenntnis, daß auch seine Krone auf dem Spiele stand, geäußert haben: »Dann kann ich ja gleich abdizieren127.« Bereits beim Wechsel der OHL im Juli 1916, als Falkenhayn gegen den Willen des Kaisers abgelöst wurde, hatte Wilhelm II. sehr richtig festgestellt, das bedeute eine Abdankung

12t

Hans Delbrüdc, Die preußische Wahlreform - Die Bedrohung der Monarchie, in: Krieg und Politik, Bd. 3, Berlin 1919, S. 1 ff. i a Bei der Wiederbelebung des Volkskaisergedankens w a r sicherlich audi Taktik gegenüber Wilhelm II. im Spiel. Vgl. Valentinis Schilderung über ein Gespräch zwischen Kaiser und Kanzler am 10. 7. 1 9 1 7 : » W a s er (Bethmann Hollweg) sagte, w a r das großartigste Plädoyer über das Thema >Der Kaiser im Volksstaat